Festschrift für Rainer Hamm zum 65. Geburtstag am 24. Februar 2008
Herausgegeben von Regina Michalke et al.
De Gruyter Recht
Festschrift für Rainer Hamm zum 65. Geburtstag
Festschrift für
RAINER HAMM zum 65. Geburtstag am 24. Februar 2008 herausgegeben von
Regina Michalke Wolfgang Köberer Jürgen Pauly Stefan Kirsch
De Gruyter Recht · Berlin
∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-89949-435-8 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
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Rainer Hamm zum 24. Februar 2008 Peter-Alexis Albrecht Werner Beulke Hans Dahs Rüdiger Deckers Thomas Fischer Klaus Foerster Rudolf Gerhardt Thomas Giesen Gina Greeve Bernhard Haffke Nikolas Hamm Winfried Hassemer Jochen Heidemeier Felix Herzog Alexander Ignor Gabriele Jansen Walter Kargl Eberhard Kempf Stefan Kirsch Claudia Koch Wolfgang Köberer Stefan König Daniel M. Krause Detlef Krauss Christoph Krehl Christoph Kulenkampff Werner Leitner Klaus Lüderssen Lutz Meyer-Gossner
Regina Michalke Jenny Miller-Hamm Egon Müller Wolfgang Naucke Norbert Nedopil Ulfrid Neumann Martin Niemöller Jürgen Pauly Cornelius Prittwitz Christian Richter II Franz Salditt Alexander Sättele Heide Sandkuhl Gerhard Schäfer Hans-Christoph Schaefer Reinhold Schlothauer Klaus Schroth Bernd Schünemann Lothar Senge Bettina Sokol Rainer Spatscheck Jürgen Taschke Sven Thomas Günter Tondorf Klaus Volk Hermann Weber Kristiane Weber-Hassemer Edda Wesslau
Inhalt Peter-Alexis Albrecht In Treue gegen die Untreue – Rainer Hamm und sein steter Versuch, die Rechtsprechung zur verfassungsrechtlichen Präzisierung des § 266 StGB anzuhalten – .
1
Werner Beulke Kleider machen Strafverteidiger!? – oder: sitzungspolizeiliche Maßnahmen und die Mär vom „T-Shirt-Verteidiger“ . . . . . . . .
21
Hans Dahs Die „Plausibilitätsrüge“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
41
Rüdiger Deckers Aussage gegen Aussage – zur Entwicklung der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung und der Aussagepsychologie . . . . . . . .
53
Thomas Fischer Strafrechtswissenschaft und strafrechtliche Rechtsprechung – Fremde seltsame Welten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
Klaus Foerster Der sog. „erweiterte Suizid“ – ein problematischer Begriff? . . . .
83
Rudolf Gerhardt Auf dem Weg zum Jüngsten Gericht Wie Engel mit Schuld und Sühne umgehen . . . . . . . . . . . . . .
101
Thomas Giesen Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt Die Erhebung und Verarbeitung körperbezogener Daten im Strafprozessrecht und der freie Wille des Betroffenen. Ein Versuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
107
Gina Greeve Kann der Verstoß gegen die VOB/B eine Untreue sein? Strafbare Untreue aufgrund der Nichteinzahlung eines Sicherheitseinbehaltes auf ein Sperrkonto gemäß § 17 Nr. 6 Abs. 1 Satz 2 VOB/B? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
121
VIII
Inhalt
Bernhard Haffke Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die Entziehung der Fahrerlaubnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
137
Nikolas Hamm Ästhetische Bildung als Prävention? Über einen theaterpädagogischen Beitrag zur Gewaltprävention für Schulklassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
159
Winfried Hassemer Konsens im Strafprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
171
Jochen Heidemeier Das Auto im Garten und § 142 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . .
191
Felix Herzog Bloß nicht aus der Rolle fallen … Miszellen zum Strafprozess als Inszenierung und Rollenspiel . . .
203
Alexander Ignor, Alexander Sättele Pflichtwidrigkeit und Vorsatz bei der Untreue (§ 266 StGB) am Beispiel der sog. Kredituntreue – Zugleich ein Beitrag zum Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG – . . . . . . . . . . . .
211
Gabriele Jansen Und es (ver)lockt die Beschuldigung . . . . . . . . . . . . . . . . .
227
Walter Kargl Das Unrecht der Strafvereitelung – insbesondere zu den strafrechtlichen Grenzen der Strafverteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . .
235
Eberhard Kempf Bestechende Untreue? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
255
Stefan Kirsch Zweierlei Unrecht – Zum Begehungszusammenhang der Verbrechen gegen die Menschlichkeit – . . . . . . . . . . . . . . .
269
Claudia Koch Zum Akteneinsichtsrecht Privater nach § 475 StPO . . . . . . . . .
289
Wolfgang Köberer Zur Rechtsfolgenfestsetzungskompetenz des Revisionsgerichts . .
303
Inhalt
IX
Stefan König Der Datenschutzbeauftragte als Hilfsbeamter der Staatsanwaltschaft? Zu den Kompetenzen des Datenschutzbeauftragten gegenüber dem Strafverteidiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Daniel M. Krause Zur Vermögensbetreuungspflicht entsandter Aufsichtsratsmitglieder (§ 101 Abs. 2 AktG) gegenüber dem Entsendenden . . . . . . . . . 341 Detlef Krauss Der Fall Havemann Auf den Spuren einer Rechtsbeugung . . . . . . . . . . . . . . . .
357
Christoph Krehl Die Revisionsbegründung zu Protokoll der Geschäftsstelle und effektiver Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
383
Christoph Kulenkampff Der „Frankfurter Arbeitskreis Strafrecht“ Ein Rückblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
397
Werner Leitner Das Protokoll im Strafverfahren Eine wechselvolle Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
405
Klaus Lüderssen Verständigung im Strafverfahren Das Modell und seine Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . .
419
Lutz Meyer-Gossner Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und Rechtsmittel . . . . .
443
Regina Michalke Abgeordnetenbestechung (§ 108e StGB) Plädoyer gegen die Erweiterung einer ohnehin zu weiten Vorschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
459
Jenny Miller-Hamm Zur Kontinuität des Antisemitismus der Schuldabwehr . . . . . .
477
Egon Müller Gedanken zum letzten Wort des Angeklagten . . . . . . . . . . . .
489
X
Inhalt
Wolfgang Naucke Die Erzeugung prozessualer Gewalt durch die Auslegung materiellen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
497
Norbert Nedopil Fort- und Weiterbildung in Forensischer Psychiatrie Eine interdisziplinäre Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
515
Ulfrid Neumann Die Katze im Bier oder: die Abgrenzung von Tatfrage und Rechtsfrage im strafprozessualen Revisionsrecht . . . . . . . . . .
525
Martin Niemöller Der Kontinuitätsgrundsatz – ein unentdecktes Prinzip des Beweisantragsrechts Zur Eigenart der beweisthemabezogenen Ablehnungsgründe (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
537
Jürgen Pauly Mündlichkeit der Hauptverhandlung und Revisionsrecht Zu den Grenzen des Rekonstruktionsverbots . . . . . . . . . . . .
557
Cornelius Prittwitz Kriminalpolitik in der Mediengesellschaft – Eine Skizze – . . . . .
575
Christian Richter II Marginalien zum Ablehnungsrecht – Zur Dienstlichen Äußerung des abgelehnten Richters – . . . . .
587
Franz Salditt Bruchstellen eines Menschenrechts: Schweigen gefährdet . . . . .
595
Heide Sandkuhl Die Befugnisse von Nachrichtendiensten und Polizei – faktischer Tod dem Trennungsgebot? . . . . . . . . . . . . . . . . .
615
Gerhard Schäfer Eine erfolgreiche Beschwerde des Rechtsanwalts Professor Dr. H..
629
Hans-Christoph Schaefer Die Staatsanwaltschaft – ein politisches Instrument? . . . . . . . .
643
Inhalt
XI
Reinhold Schlothauer Zur Immunisierung tatrichterlicher Urteile gegen verfahrensrechtlich begründete Revisionen Zum Vorlagebeschluß des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 23.8.2006 – 1 StR 466/05 und zum Urteil des 3. Strafsenats vom 11.8.2006 – 3 StR 284/05 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
655
Klaus Schroth Der Täter-Opfer-Ausgleich Eine Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
677
Bernd Schünemann Der Ausbau der Opferstellung im Strafprozeß – Fluch oder Segen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
687
Lothar Senge Zur Zulässigkeit staatsanwaltschaftlicher Vorermittlungen . . . . .
701
Bettina Sokol Auf der Rutschbahn in die Überwachbarkeit Das Beispiel der Online-Durchsuchungen . . . . . . . . . . . . . .
719
Rainer Spatscheck Beschlagnahme von Computerdaten und E-Mails beim Berater . .
733
Jürgen Taschke Zum Beschlagnahmeschutz der Handakten des Unternehmensanwalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
751
Sven Thomas Das allgemeine Schädigungsverbot des § 266 Abs. 1 StGB . . . . .
767
Günter Tondorf Neuregelungen der Maßregeln der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt in Bund und Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
783
Klaus Volk Untreue und Gesellschaftsrecht Ein Dschungelbuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
803
Hermann Weber Rainer Hamm und das Strafrecht in der NJW . . . . . . . . . . . .
815
XII
Inhalt
Kristiane Weber-Hassemer Menschliche Gattung als Rechtsgut? Menschenbilder im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
829
Edda Wesslau Regelungsdefizite und Regelungspannen im Achten Buch der Strafprozessordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
841
Verzeichnis der Schriften von Rainer Hamm . . . . . . . . . . . . . .
851
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
867
Vorwort Am 24. Februar 2008 vollendet Rainer Hamm sein 65. Lebensjahr. Dass aus ihm einmal ein Jurist und Strafverteidiger werden würde, war – wie er selbst gerne erzählt – „Zufall“. Nach einem juristischen Studium stand ihm nämlich so gar nicht der Sinn, als er im Sommersemester 1964 den Campus der Universität des Saarlandes in Saarbrücken betrat. Mit der ihm eigenen Unbefangenheit und Neugier geriet er allerdings gleich am ersten Tag in eine Vorlesung von Werner Maihofer, die ihn in den Bann schlug. Man mag verschiedener Meinung sein, ob ihm Maihofer damals erstmals den Sinn rechtsstaatlicher Positionen nahebrachte, oder ob er einfach in diesen Positionen wiedererkannte, was ihm als Beruf(ung) von Temperament und Wesensart ohnehin entsprach, jedenfalls schrieb Rainer Hamm sich entgegen allen ursprünglichen Plänen für das Studium der Rechtswissenschaften ein – und blieb dabei. 1965 wechselte er an die FU Berlin und von dort an die JohannWolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main, der Stadt, in der er 1972 seine juristische Ausbildung abschloss, und in der er sich seitdem heimisch fühlt. Die Semester in Berlin wirkten allerdings gleich auf zweierlei Weise fort: Bei Heinitz – seinem Strafrechtslehrer in Berlin – promovierte er 1974 mit der Dissertation „Der gesetzliche Richter und die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit unter besonderer Berücksichtigung des Strafverfahrens“. Und er hatte in Berlin Werner Sarstedt kennengelernt, der damals Vorsitzender des 5. Strafsenats des Bundesgerichtshofs war. Mit ihm eröffnete er 1979 – nach dessen altersbedingtem Ausscheiden aus der Justiz – in Frankfurt eine eigene Praxis, und Sarstedts Standardwerk „Die Revision in Strafsachen“ führt er seit der 5. Auflage – dort noch gemeinsam mit Werner Sarstedt – fort. Die Gründung der eigenen Kanzlei fiel zeitlich mit dem – in den 70er Jahren begonnenen und ihren politischen Strafprozessen verbundenen – Wandel des Verständnisses der Strafverteidigung zusammen. Das Bild des Strafverteidigers, das in den Jahrzehnten zuvor noch geprägt war durch einige wenige herausragende Einzelpersönlichkeiten, veränderte sich: Strafverteidigung war nicht mehr nur die Sache weniger oder eine bloße Nebenbeschäftigung von Allround-Anwälten, sondern wurde von spezialisierten, ihren professionellen Rollenträgern bei der Staatsanwaltschaft und bei Gericht an Kenntnissen und Fähigkeiten zumindest ebenbürtigen Rechtsanwälten wahrgenommen. Augenfälliger Ausdruck dieses gewandelten Selbstverständnisses war die Gründung des „STRAFVERTEIDIGER“, einer Zeitschrift für Rechtsanwälte, die sich der Verteidigung als spezieller Aufgabe bewusst verschrieben
XIV
Vorwort
hatten und deren Informationsbedürfnisse von den vorhandenen juristischen Zeitschriften nicht abgedeckt wurden. Rainer Hamm war – es erübrigt sich fast, dies zu sagen – als einer der Gründungsherausgeber dabei. Und die Provokation des „STRAFVERTEIDIGER“ brachte bald auch andere juristische Verlage dazu, das Straf- und Strafverfahrensrecht in den Mittelpunkt stellende Zeitschriften auf den Markt zu bringen. Für sein eigenes Büro hatte Rainer Hamm auch von Anfang an eine andere Vorstellung als die des in den Medien präsenten Einzel-„Staranwalts“. Er hat konsequent seine Idee verfolgt, im Team mit mehreren innerhalb des Strafrechts (unterschiedlich) spezialisierten Verteidiger-Kollegen eine größere strafrechtliche Praxis aufzubauen. Er hat damit kreiert, was Jahre später als „Strafrechts-Boutique“ – im Gegensatz zu den „Zivilrechts-Fabriken“ – seinen Einzug in das Branchenvokabular gefunden hat. Dass diese Idee zukunftsträchtig war, zeigt schon die Tatsache, dass in den letzten 10 Jahren eine Reihe weiterer ausschließlich mit Strafrecht befasster Kanzleien gegründet wurde. Dass es Rainer Hamm bei der „Zusammensetzung“ seiner eigenen Praxis ein Anliegen ist, dass kontinuierlich junge Kolleginnen und Kollegen aufgenommen werden, zeigt seine Aufgeschlossenheit, aber auch, wie sehr ihm an einem Wissens- und Erfahrungsaustausch gerade mit der jüngeren Juristengeneration gelegen ist. Mit seinen Fähigkeiten und Erfolgen zu „geizen“, ist seine Sache nicht. Es ist nicht nötig, die aufsehenerregenden Verfahren aufzuzählen, in denen Rainer Hamm in den letzten 30 Jahren als Verteidiger – aber auch als Nebenklägervertreter – fungiert hat; wer dies nachvollziehen will, muss nur die Archive der Tagespresse aufsuchen. Er hat seine Verteidigungsziele trotz genauer Vorbereitung und großem Einsatz nicht immer erreicht, aber das unterscheidet ihn nicht von anderen engagierten Verteidigern: In seinen Lehrveranstaltungen hat er jungen Anwälten stets gesagt, wenn sie sich gerne mit Strafrecht befassten, aber nicht verlieren könnten, sollten sie sich auf eine Stelle als Staatsanwalt bewerben. Neben seiner Tätigkeit als Strafverteidiger hat er noch eine ansehnliche Zahl weiterer Funktionen ausgefüllt, die schon allein und einzeln einem Anwalt neben seiner beruflichen Tätigkeit genug zu tun geben würden: Von 1979 bis 1991 war er ehrenamtlicher Richter in der Anwaltsgerichtsbarkeit. Seit Anfang der 80er Jahre gibt er sein berufliches Wissen in der anwaltlichen Fortbildung weiter, zunächst im Rahmen des Münchener Anwaltsinstituts, bei den Fortbildungsveranstaltungen des Deutschen Anwaltsvereins und – insofern in die Fußstapfen Werner Sarstedts tretend – bei den Sommerlehrgängen der „Deutschen Strafverteidiger“. Außerdem ist er seit 1983 Mitglied des Strafrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins. Er hat in dieser Funktion zahlreiche Stellungnahmen verfasst und sich unzählige Male als Sachverständiger in Rechtsausschüssen geäußert. Wenig Wunder, dass der Fachbereich Rechtwissenschaft der Johann-Wolfgang-Goethe Universität in
Vorwort
XV
Frankfurt ihn dann im Jahre 1991 zum Honorarprofessor ernannte. Seit 1987 gehört er zu den Herausgebern der Neuen Juristischen Wochenschrift. Die Idee schließlich, dass die Vertreter der strafjuristischen Berufsgruppen unter Austausch und Nutzen ihrer unterschiedlichen rollenspezifischen Perspektiven über gemeinsame rechtspolitische Grundpositionen diskutieren, hat Rainer Hamm als Mitgründer des „Frankfurter Arbeitskreis Strafrecht“, der in den 90er Jahren mit Thesenpapieren an die Öffentlichkeit trat, verwirklicht. Rainer Hamm war stets stolz auf die strafrechtliche Bibliothek der Praxis, die in ihren ältesten Beständen noch auf Werner Sarstedt zurückgeht. Dies hat ihn freilich nicht gehindert, sich mit den rasanten technischen Entwicklungen der Kommunikationsbranche im letzten Jahrzehnt auseinanderzusetzen und sich vor allem die „Gerätschaften“, die diese hervorbrachten, nutzbar zu machen. Sein virtuoser Umgang mit elektronischen Publikationen und Datenbanken und die Unbekümmertheit, mit der er sich den Techniken der elektronischen Datenverarbeitung und den neuen Medien näherte, verstellte dennoch nicht seinen Blick für die Gefahren, die aus ihnen erwachsen können. Dieser Sensibilität neben seiner Aufgeschlossenheit für neue Entwicklungen war es wahrscheinlich zu verdanken, dass er, als ihm dieses Amt angetragen wurde, mit hohem Einsatz in den Jahren 1996 bis 1999 als Hessischer Datenschutzbeauftragter fungierte. Dass er dabei die Fußstapfen so profilierter Vorgänger wie Spiros Simitis und Winfried Hassemer ausfüllen konnte und sich nicht auf die Funktion einer Beschwerdestelle zurückzog, zeigen beispielhaft die Symposien zu Kryptographie und Sicherheit im elektronischen Datenverkehr, die unter seiner Ägide von seiner Behörde durchgeführt wurden, und die immer auch Bezüge zum Straf- und Strafverfahrensrecht und dessen sich schon damals abzeichnenden Bestrebungen, sich diese neue Datenwelt für eigene Zwecke zu eigen zu machen, aufwiesen. Wie hoch man seinen Sachverstand auf dem Gebiet der neuen Technologien schätzt, zeigt nicht zuletzt der Umstand, dass der Deutsche Anwaltverein ihn in die beiden kürzlich gegründeten Ausschüsse für Informationsrecht und Gefahrenabwehrrecht berufen hat. Sieht man sich das Verzeichnis seiner Schriften an, so fällt die Bandbreite der Themen auf, mit denen er sich im Laufe der letzten 35 Jahre beschäftigt hat: Natürlich stehen – beginnend mit der Dissertation und seinen revisionsrechtlichen Publikationen – strafprozessuale Probleme im Vordergrund. Anlass hierzu geben ihm immer wieder aktuell die fortdauernden Bemühungen des Gesetzgebers, den Strafprozess den angeblichen Bedingungen der heutigen Rechtswirklichkeit anzupassen und dabei faktisch die Rechte des Beschuldigten und der Verteidigung immer mehr zu beschränken. Daneben hat sich Rainer Hamm aber immer auch mit Problemen angestrebter Reformen des materiellen Strafrechts befasst – etwa mit der Reform des Demonstrationsstrafrechts, dem „Graffitti“- und „Stalking“-Gesetz und immer wie-
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Vorwort
der mit dem Umweltstrafrecht, gegen dessen uferlose Ausweitung er sich in einem wegweisenden Referat auf dem 57. Deutschen Juristentag in Mainz aussprach. Seine Diagnose, dass die viel beklagte Überlastung der Justiz, die zu immer weiteren Einschränkungen der Beschuldigtenrechte und Einbußen an Rechtsstaatlichkeit führt, letzten Endes einer Hypertrophie des materiellen Strafrechts geschuldet ist, zieht sich als roter Faden durch seine Arbeiten. Hierin zeigt er sich bei aller Aufgeschlossenheit gegenüber neuen Entwicklungen in dem Sinne „konservativ“, als er „radikal“ den liberal und rechtsstaatlich verfassten und ausgestalteten Strafprozesses verteidigt, der seine Aufgabe auch erfüllen kann, weil das materielle Strafrecht nicht dafür herhalten muss, alles zu sanktionieren, was gerade gesellschaftlich unerwünscht ist. Die Beiträge dieses Bandes nehmen diese Themen auf, vielfach im direkten Bezug auf Publikationen und Thesen Rainer Hamms. Nicht alle Autoren sind jeweils seiner Meinung, aber sie kommen nicht an seinen Positionen vorbei. Die Herausgeber und Autoren wünschen ihm, dass er in diesem Sinne weiter so erfrischend neugierig, interessiert und fachkundig auch künftig die Geschicke der Strafjustiz und unserer gemeinsamen Praxis begleitet. Die Herausgeber
In Treue gegen die Untreue – Rainer Hamm und sein steter Versuch, die Rechtsprechung zur verfassungsrechtlichen Präzisierung des § 266 StGB anzuhalten – Peter-Alexis Albrecht
I. Zum Mängelprofil einer Norm-Ruine Rainer Hamm hat einen großen Teil seines Verteidigerlebens damit verbracht, die Rechtsanwendung zu einer restriktiven Handhabung und Interpretation der Untreue-Vorschriften anzuhalten – das war und ist ein ständiger Kampf mit den normativen und systemischen Widersprüchen des § 266 StGB. Begriffliche Unbestimmtheit und strukturelle Unschärfen durchdringen den gesamten Untreuetatbestand. Insbesondere die Formulierung der Anforderung an die den Untreuetäter qualifizierende „Pflicht fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen“ sowie die Umschreibung der Treubruchhandlung als bloße Verletzung dieser Pflichtenposition sind von uferloser Weite. Das Hauptaugenmerk von Rechtsprechung und Strafrechtswissenschaft ist seit der Novellierung des § 266 StGB im Jahr 1933 darauf gerichtet, die Norm mit einem Geflecht einer kaum noch überschaubaren Vielzahl von ungeschriebenen Tatbestandsmerkmalen zu versehen. Damit wurde der Versuch „interpretatorischer“ Bestimmtheit unternommen. So muss nach der herrschenden Auffassung die dem Untreuetäter innewohnende Vermögensbetreuungspflicht Hauptpflicht bzw. wesentlicher Inhalt der Pflichtenstellung des Täters sein und sich durch ein gewisses Maß an Fremdnützigkeit, Selbständigkeit, Bedeutung, Dauer und Umfang auszeichnen.1 Die Verletzung dieser Pflicht muss in einem funktionalen Zusammenhang mit Vermögensschutz stehen und in Einzelfällen anhand einer Gesamtschau außerstrafrechtlicher Kriterien als „gravierend“ einzustufen sein.2 Die Offenheit des Untreuetatbestandes wird besonders in der Treubruchvariante deutlich. Diese beschreibt im Wesentlichen keine Tathandlung, sondern ganz im Geiste ihrer Entstehungszeit eine Pflichtverletzung. Angesichts 1 Siehe ausführlich zu den Eingrenzungsversuchen im Bereich des Täterkreises Kargl ZStW 113 (2000) 565 (583). 2 Zu dem Erfordernis der gravierenden Pflichtverletzung siehe BGHSt 47, 148ff (184ff).
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Peter-Alexis Albrecht
der Offenheit des Tatbestandes fragte Hamm erst kürzlich ironisierend, ob nicht bereits der Verstoß gegen Treu und Glauben zu einer Strafbarkeit nach § 266 StGB führen könne.3 Welche Voraussetzungen im Einzelnen an den Inhalt der zu verletzenden Pflicht und an die Intensität der Verletzungshandlung zu stellen sind, kann dem Tatbestand des § 266 StGB schlechterdings nicht entnommen werden. Die Handlungsvoraussetzungen müssen oftmals akzessorisch aus den das Verhältnis zwischen Treugeber und Treunehmer begründenden zivil- oder öffentlichrechtlichen Vorschriften hergeleitet werden. Dies ist mit Blick auf Gesetzlichkeitsprinzip und Bestimmtheitsgebot vor allem deshalb bedenklich, weil die außerstrafrechtlichen Normen selbst Generalklauseln oder unbestimmte Rechtsbegriffe enthalten. In diesem Fall birgt die akzessorische Bestimmung des Pflichteninhalts die Gefahr, dass nichtvermögensbezogene Schutzzwecke Zugriff auf das Strafrecht erhalten und genuin außerstrafrechtliche Streitigkeiten in das Strafrecht hineingetragen werden und den Untreuetatbestand zusätzlich verwässern 4 – worin man Rainer Hamm nur zustimmen kann. Hinsichtlich des Taterfolges tendiert die Rechtsprechung in Fällen, in denen die Tathandlung wie bei Schmiergeldzahlungen oder der Bildung sog. Schwarzer Kassen Züge des Unredlichen oder Verbotenen aufweist, zum einen dazu, die Kompensationsfähigkeit zugleich erlangter Vermögensvorteile bei der Gesamtsaldierung im Tatsächlichen zu ignorieren, wie es im Hartz-Verfahren dank der geheimen Regie des Deals beobachtbar war.5 Auf der anderen Seite führt die in der Norm angelegte krasse Aufrechenbarkeit von ökonomischem Nutzen und Schaden (Saldierungstheorie) zu einer derartig überspitzten ökonomischen Betrachtungsweise, dass über die reine Zufälligkeit von Schaden oder Nutzen die Legitimation der Kriminalisierung dieser Norm herbeigeführt wird, was nicht vermittelbar ist: So wird z.B. die Welt des Sports auf den Kopf gestellt, wenn aus der Sicht des Bundesgerichtshofs der Verbleib in der Bundesliga als vermögenswerter Vorteil gegenüber der korruptiven Bezahlung von Spielern einer gegnerischen Mannschaft als aufrechenbar gilt.6 Ferner führt die einseitige Übertragung der im Rahmen der Betrugsdogmatik entwickelten weiten Auslegungsansätze des Begriffs des Vermögensschadens auf die Untreue – Stichwort: schadensgleiche Vermögensgefährdung oder personaler Schadenseinschlag – zu einer Ausdehnung des Untreuestrafrechts contra legem, die den ausschließlichen Vermögensschutz-
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Hamm Kann der Verstoß gegen Treu und Glauben strafbar sein? NJW 2005, 1993ff. Siehe zur materiellen Entformalisierung durch Blankettnormen allgemein Hamm Ist die Entformalisierung des Strafrechts und des Strafprozessrechts unaufhaltsam? Frankfurter Kriminalwissenschaftliche Studien, Bd. 100, S. 521 (533 ff). 5 Siehe zuletzt Urteil des LG Braunschweig v. 27.2.2007 – 6 KLs 48/06 – in der Strafsache Peter Hartz. 6 BGH NJW 1975, 1234 ff. 4
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zweck des § 266 StGB nur zu leicht aus dem Blick verliert.7 Die Adaption der Rechtsprechung zur schadensgleichen Vermögensgefährdung aus der Betrugsrechtsprechung auf § 266 StGB bedingt ferner eine faktische Pönalisierung des Untreueversuchs – ebenfalls contra legem. Das strukturelle Defizit des § 266 StGB in Form der engen Verknüpfung von Tathandlung und Taterfolg hat zur Folge, dass beide Prüfungspunkte häufig miteinander vermischt werden und bei der Normanwendung von einem Vermögensschaden auf eine Pflichtverletzung oder umgekehrt von einer Pflichtverletzung auf einen Vermögensschaden geschlossen wird. Dies birgt im ersten Falle bei Risikogeschäften die Gefahr einer Funktionalisierung des Untreuestrafrechts zu einer „Misserfolgshaftung“ für wirtschaftliche Wagnisse: Der Unrechtsvorwurf wird davon abhängig gemacht, ob die unternehmerische Entscheidung wirtschaftlichen Erfolg nach sich zieht oder nicht. Die Gefahr eines Rückschlusses von der Tathandlung auf den Taterfolg besteht immer dann, wenn der Taterfolg wie bei der Haushaltsuntreue wirtschaftlich nicht „fassbar“ ist, das Verhalten des Täters aber einen formellen oder materiellen Pflichtenverstoß darstellt.8 Ist allein darin schon ein Vermögensschaden i.S.d. § 266 StGB zu sehen, dass die „Dispositionsfähigkeit des Haushaltsgebers“ in schwerwiegender Weise beeinträchtigt ist und dieser in seiner „politischen Gestaltungsbefugnis“ beschnitten wird, dann fragt man sich, warum in Zukunft nicht der Staatsanwalt den Wähler ersetzen soll. Öffentliche Aufklärung, selbst fachliche, ist schwierig. Es geht um eine normative Präzisierung des § 266 StGB und einen zeitangemessenen normativen Zugriff, aber das vor dem Hintergrund scharfer moralischer Brüche einer Gesellschaftsordnung, der das Strafrecht auch nicht mehr helfen kann. Gleichwohl gibt es in einer rechtsstaatlichen Rechtspraxis nur die Möglichkeit restriktiver Normanwendung. Der richtige Weg wäre eine normative Entkriminalisierung unter gleichzeitiger Verlagerung in zivil- und öffentlichrechtliche Bereiche, in denen die gesellschaftlichen Anliegen durch den Gesetzgeber erst regelungsfähig werden, z.B. im Parteiengesetz und im Aktiengesetz. Moralische strafrechtliche Kreuzzüge helfen hier wenig, zumal sie ein Unverständnis der durch Globalisierung erzeugten ökonomischen und juristischen Systembrüche anzeigen, die letztlich nur politisch zu beseitigen wären. Mit Rainer Hamm verbindet den Verfasser die Verbitterung, dass die massive Kritik an den strukturellen Defiziten des § 266 StGB sich weder rechtsdogmatisch noch kriminalpolitisch in relevanter Form niederschlägt.
7 Vgl. Saliger HRRS 2006, S. 10 (12ff). Zur Ausdehnung der Untreuestrafbarkeit auf bloße Gefährdungslagen siehe auch Hamm Kann der Verstoß gegen Treu und Glauben strafbar sein? NJW 2005, S. 1993 ff (1994). 8 Vgl. zur Haushaltsuntreue BGHSt 43, 293 (299).
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Das liegt nicht zuletzt auch an der Vielschichtigkeit des Gegenstandes, der keine öffentliche Wahrnehmung erfährt, sondern nur anlässlich medialer Spektakel ein häufig völlig verzerrtes Interesse findet.
II. Zum Mängelprofil einer Prozessgeschichte („Mannesmann“-Verfahren) Ein Beispiel, in dem all diese Problemlagen – wie durch ein Brennglas – gespiegelt werden, ist der „Mannesmann“-Fall. Hier ging es um Anerkennungsprämien und Pensionsabfindungen im Fall einer Unternehmensübernahme (Mannesmann durch Vodafone). Nachdem die Staatsanwaltschaft in einem ersten Anlauf noch nicht einmal anklagen wollte, nahm die bizarre Prozessgeschichte ihren Lauf und fand nach einer Medienaufmerksamkeit ohne gleichen mit einer Einstellung durch das Landgericht Düsseldorf ein in der Sache ungeklärtes Ende: Keine unabhängige Schuld- oder UnschuldFeststellung durch die Dritte Gewalt, sondern eine Verfahrenseinstellung gegen Geldzahlung. Zum Prozessverlauf sei im Einzelnen erinnert: 19. September 2003: Das LG Düsseldorf eröffnet das Verfahren gegen die sechs Angeklagten Ackermann, Droste, Esser, Funk, Ladberg und Zwickel; 21. Januar 2004: Vor dem LG Düsseldorf beginnt der sog. „Mannesmann-Prozess“; 22. Juli 2004: Die Angeklagten werden vom Vorwurf der Untreue freigesprochen. Nach Auffassung des Gerichts ist die Gewährung vertraglich nicht vereinbarter Anerkennungsprämien, sog. appreciation awards, durch den prominent besetzen Präsidialausschuss des Aufsichtsrats der Mannesmann AG zwar gesellschaftsrechtlich pflichtwidrig, strafrechtlich dagegen nicht als „gravierend“ anzusehen. Angesichts der Ertragslage des Unternehmens seien die gezahlten Prämien zum Zeitpunkt der fehlerhaften Entscheidung nicht sonderlich ins Gewicht gefallen.9 21. Dezember 2005: Aufhebung des Freispruchs durch das Revisionsurteil des BGH und Zurückverweisung der Sache durch den 3. Strafsenat an eine andere Strafkammer des LG Düsseldorf.10 Von der harschen öffentlichen Kritik am erstinstanzlichen Urteil des LG Düsseldorf offensichtlich nicht ganz unbeeindruckt, entschloss sich der Senat zu dem für ein Revisionsgericht ungewöhnlichen Hinweis, dass die bisherigen Feststellungen, die den objektiven Tatbestand des § 266 StGB trügen, wahrscheinlich auch ein vorsätzliches und schuldhaftes Handeln der Angeklagten ausreichend begründen könnten.11 Inhaltlich vermied es der 3. Straf9
LG Düsseldorf Urt. v. 22.7.2004 – XIV 5/03, NJW 2004, 3275 ff. BGHSt 50, 331ff, Urt. v. 21.12.2005 – 3 StR 470/04 (LG Düsseldorf) = BGH NJW 2006, 522 ff. 11 BGH NJW 2006, 522 (531). 10
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senat jedoch, näher auf das durch die Rechtsprechung des 1. Strafsenats entwickelte Einschränkungskriterium der „gravierenden“ Pflichtverletzung einzugehen. So wird im Revisionsurteil schlicht festgestellt, die Gewährung von Anerkennungsprämien stelle – im Unterschied zur Vergabe von Krediten bzw. Unternehmensspenden – keine unternehmerische Risikoentscheidung dar, weil es sich hierbei um eine retrospektive Belohnung bereits geleisteter Dienste handle.12 Die Beantwortung der Frage, inwieweit dem Unternehmer bei Risikoentscheidungen ein weiter Ermessensspielraum zukomme, könne mangels Vergleichbarkeit der Fälle daher dahinstehen. Gleichwohl verdeutlichte der 3. Strafsenat, dass er die vom 1. Strafsenat entwickelten, restriktiven Kriterien als wenig „hilfreich“ erachtet, ohne dabei aber auf die Gründe seiner Geringschätzung einzugehen.13 Was bleibt, ist die Ungewissheit, an welchen konkreten Kriterien unternehmerische Risikoentscheidungen vor dem Hintergrund des § 266 StGB zu messen sind.14 Schließlich der 29. November 2006: Einstellung des Verfahrens durch das LG Düsseldorf gemäß § 153a Abs. 2 StPO. Gegen eine Geldauflage in Höhe von 5,8 Mio. Euro wird das Verfahren auf Grund eines Antrags der Verteidiger, dem die Staatsanwaltschaft zustimmte, (vorläufig) eingestellt.15
III. Zum Mängelprofil einer Aufklärung in der veröffentlichten Meinung 1. Der Versuch einer Aufklärung Erster Teil: Die juristische Ebene Im Zuge des Prozessverlaufs schlugen die medialen Wellen hoch, juristisch gesehen schwappten sie in einem Beitrag eines pensionierten Staatsanwalts, des Lehrbeauftragen Walter Grasnick aus Marburg, über – und zwar direkt hinein in das Feuilleton der FAZ vom 9. Januar 2006. Sein Entzücken über die Aufhebung des freisprechenden Urteils des Landgerichts Düsseldorf durch den Bundesgerichtshof war nahezu grenzenlos:
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BGH StV 2006, 301 (305) mit Anm. Krause. BGH StV 2006, 301 (305) mit Anm. Krause. 14 BGH StV 2006, 301 (308) mit Anm. Krause, dieser vertritt die Auffassung, es müsse mangels konstruktiver Kritik des 1. Strafsenats des BGH bis auf Weiteres gelten, dass mit Risiken verbundene, von der Einschätzung und Prognose abhängige Entscheidungen an den vom 1. Strafsenat entwickelten Grundsätzen zu messen sind. 15 Vgl. Pressemitteilung Nr. 9/2006 vom 29.11.2006 (unter ›www.lg-duesseldorf.nrw.de/ presse/dokument/09-06.pdf‹). – 3,2 Mio. Euro der Gesamtsumme entfallen auf Ackermann 1,5 Mio. Euro auf Esser, der ehemalige Aufsichtsratsvorsitzende Funk soll eine Million Euro und Ex-IG-Metall-Chef Zwickel 60.000 Euro zahlen. Für Betriebsratschef Jürgen Ladberg legt das Gericht eine Geldauflage in Höhe von 12.500 Euro fest und für den Manager Droste in Höhe von 30.000 Euro. 13
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„Nach Gutsherrenart verteilt – Nach guter Rechtstradition beurteilt: Karlsruhe sei Dank für die Revision im Mannesmann-Prozeß: Es war eine gute Nachricht zum Ausklang des vergangenen Jahres: Der Düsseldorfer Mannesmann-Prozeß muß wieder aufgerollt werden. Der Bundesgerichtshof hat damit dem Ansehen des Landes genutzt – auch wenn jetzt aus der Schweiz harsche Kritik kommt. Dem Himmel sei Dank. Und den Richtern des 3. Strafsenats beim Bundesgerichtshof. Sie haben die vermeintliche Wahrheit Lügen gestraft, vor Gericht wie auf hoher See seien wir alle allein in Gottes Hand. Die Angeklagten im Mannesmann-Verfahren werden das noch immer so sehen. Aber der rechtstreue Bürger weiß: Auf Richter, die ihr Handwerk verstehen, ist Verlaß. Wozu vorrangig zählt, daß sie lebensnah entscheiden. Lebensklug. In Karlsruhe ist das soeben geschehen. In Düsseldorf vor zwei Jahren nicht. Dort fällten die Richter ein auffallend falsches Urteil. (…)“16 Dem musste – aus rechtsstaatlicher Sicht – öffentlich erwidert werden. Ein Versuch wurde über die Feuilleton-Redaktion der FAZ gestartet, der im Folgenden dokumentiert wird:
Betreff: Von: Datum: To:
Zum Mängelprofil des § 266 StGB „Prof. Dr. Peter-Alexis Albrecht“ Mi, 11. Januar 2006 15:15 „Bahners, Patrick“
Sehr geehrter Herr Bahners, die stammtischähnlichen Eruptionen des pensionierten Marburger Staatsanwaltes Grasnick hauen einen rechtsstaatlich orientierten Strafrechtler um. Der Fairnessaspekt, nämlich auf am Boden Liegenden nicht herumzutrampeln, ist nur ein Empörungsmerkmal. Das Schlimme an dem Artikel ist, dass er sämtliche strukturelle, d.h. gesellschaftliche und rechtsstaatliche Problemlagen ausblendet bzw. unterschlägt. Selbst der unvoreingenommene Leser wird derart desorientiert und am Neidgefühl gepackt, dass man aus meiner Sicht eine rechtsstaatliche Antwort zwingend dem ungewöhnlichen Grasnick-Artikel entgegensetzen muss. Ich habe einen Entwurf mit einem Mängelprofil erstellt, den ich auch kürzen bzw. ergänzen könnte. Ich bitte höflich in der Redaktion des Feuilleton meine konstruktive Erschütterung in irgendeiner Form zeitnah zu publizieren. Ich denke, dem Rechtsstaat ist man eine Aufklärung der Leserschaft schuldig. Mit besten Grüßen Ihr Peter-Alexis Albrecht Anhang: Word-Datei: Untreue-Paragraph (01.2006)
16 Walter Grasnick Nach Gutsherrenart verteilt – Nach guter Rechtstradition beurteilt: Karlsruhe sei Dank für die Revision im Mannesmann-Prozeß, FAZ v. 9.1.2006, S. 33.
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Der Untreue-Paragraph: Eine Ruine des Rechtsstaats Selten hat der Bundesgerichtshof in einer „mündlichen Urteilsverkündung“ so deutlich und fragwürdig in tatrichterliche Beurteilungsspielräume eingegriffen wie in der Weihnachtsentscheidung zum goldenen MannesmannHandschlag. Eine (Vor-)Verurteilung wahrlich nach Gutsherrenart. Die übliche Zurückhaltung in Wertungsfragen, die einer Rechtsfehlerinstanz angemessen ist, hat noch nicht einmal vor der Wortwahl halt gemacht. In „Gutsherrenart“ hätten die Angeklagten Geld verteilt, dabei wären sie doch nur „(Guts-)Verwalter“: also Untreue! Eine eindeutigere Anlehnung an feudalistische Irrationalitäten ist kaum noch vorstellbar. Und genau das ist der Punkt, der dem Untreue-Tatbestand des Paragraphen 266 Strafgesetzbuch leider zu eigen ist. Diese „bemerkenswerte Vorschrift“ ist höchst reformbedürftig. Sie ist in ihrem strafjustiziellen Zugriff nicht mehr kompatibel mit den komplizierten Zusammenhängen einer globalisierten Wirtschafts- und Kapitalordnung. Wolfgang Naucke schrieb schon früh in dieser Zeitung, sie sei sogar Beleg für den „heillosen Zustand“ des Strafrechts insgesamt. Das Dilemma einer diffusen Norm Schon vom Wortlaut her ist diese Norm unscharf und überkommen. Sie ist für eine ordentliche Judikatur unbrauchbar, weil zu weit und nicht hinreichend bestimmbar. Der Tatbestand lebt seit jeher von „ungeschriebenen“ Merkmalen, z.B. einer „ominösen Hauptpflicht der Vermögensbetreuung“ oder einer „selbstständigen Vermögensbetreuungspflicht“. Die Pflichtverletzung liegt im „Bruch der Treue“ gegenüber einem Prinzipal. Die Verletzung der Pflicht muss – aus der Sicht des 1. Strafsenats – sogar „gravierend“ sein. Auskunft über die Einzelheiten sollen die „tatsächlichen Verhältnisse“ geben. Die Tatgerichte sollen die konkreten Verhältnisse des Einzelfalles aufklären „mit ihren Übungen und Bräuchen im täglichen Leben“ – wie das Reichsgericht noch 1934 judizierte. Genau das hat die Düsseldorfer Wirtschaftsstrafkammer monatelang getan – ohne freilich bezüglich der Rechtsfragen den Beifall des 3. Strafsenats zu finden. Angesichts der evidenten Verschwommenheit und Begriffsunschärfe der Pflichtverletzung ist die Notwendigkeit einer gesetzlichen Reform überdeutlich. Angemessen wäre eine normative Präzisierung und Begrenzung strafwürdiger Pflichtverletzungen, welche zentrales Unrecht darstellen und vom Kernstrafrecht zu erfassen sind. Es ist die genuine Aufgabe des Gesetzgebers, diese Pflichtverletzungen zeitgemäß zu fassen und zu beschließen. Die Unbestimmtheit des Paragraphen 266 findet ihre Steigerung im Tatbestandsmerkmal des „Schadens“. Allein in der fremdnützigen Vermögensschädigung soll sich der Unwertgehalt des Deliktes der Untreue erschöpfen.
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Ausreichen soll nach einer immer extensiveren Rechtsprechung bereits die „Gefährdung“ fremden Vermögens. Die Ermittler wollen auf den Eintritt des Schadens nicht erst warten müssen, zumal die schlichte Gefährdung fremden Vermögens den Einsatz staatlicher Ermittlungsschritte bereits sehr früh – die Juristen sprechen vom Vorfeld – möglich macht. Gefährdungsdelikte sind zudem simpler zu judizieren: für Gefährdungen reichen Mutmaßungen. Die dubiose Ausrichtung der Untreue-Norm erreicht erst bei den sogenannten Risikogeschäften den Höhepunkt. Jeder Geschäftsführer einer GmbH, ja jeder Vorsitzende eines Kaninchenzüchter-Vereins steht unter Strafdrohung, wenn er Risikogeschäfte betreibt. Läuft das Geschäft gut, gibt es Anerkennung. Läuft das Geschäft schlecht, droht der strafrechtliche Zugriff. Keine guten Aussichten für eine auf Wachstum verpflichtete Wirtschaft! Freilich auch nicht für öffentliche Haushalte: neben den deklaratorischen Rechnungshöfen drohen im öffentlichen Dienst immer mehr kriminalisierende Staatsanwälte einzugreifen. Wen wundert es bei alledem, wenn neben jeder betriebswirtschaftlich riskanten Entscheidung stets vorab ein strafrechtlicher Rat eingeholt wird – der indes auch nur selten weiterhilft. Schlägt man zum Beispiel in der Rechtsprechung des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofs nach, erfährt man, dass selbst die Bestechung von Spielern eines gegnerischen Vereins mit den Geldern eines Bundesligavereins keineswegs ein Schaden im Sinne des Paragraphen 266 Strafgesetzbuch sein muss. Warum? Die durch Bestechung erreichte Chance, in den oberen Spielklassen zu bleiben, ist nach dem Urteil des 4. Strafsenats wirtschaftlich wertvoller als das hingegebene Bestechungsgeld (BGH, Neue Juristische Wochenschrift 1975, S. 1234 ff.). Also, keine Untreue. Wem will man das erklären? Das Dilemma für die Gerechtigkeit Die beschriebene Diffusität und Ausfransung von Tatbestandsmerkmalen führt denn auch zwangsläufig zu Einbrüchen in das Gleichheitsprinzip und zu deutlichen Einbußen an Gerechtigkeit. So konnte für nahezu ein und denselben Sachverhalt der ehemalige Bundeskanzler Kohl eine Verfahrenseinstellung entgegennehmen, der andernorts verfolgte ehemalige Bundesinnenminister Kanther hingegen eine Freiheitsstrafe als Quittung für die Sorge um seine Partei. Unabhängig davon wie der Bundesgerichtshof die Kanther-Revision beurteilen wird, ist die in der evident ungleichen Behandlung gleicher Lebenssachverhalte liegende Ungerechtigkeit die merkwürdige Konsequenz dieser unbestimmten Norm des Strafgesetzbuches. Nicht Paragraph 266 kann Maßstäbe für die Einnahmen-, Verbuchungs- und Ausgabenpraxis von Spenden für politische Parteien setzen, sondern dafür ist allein das Parteiengesetz zuständig. Der Gesetzgeber muss sich hierfür stets die Zeit und Sorgfalt für sachgerechte, aktuelle Regelungen nehmen. Das gleiche gilt für die überfällige Reform des Aktiengesetzes. Das, was das Parteien- und
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das Aktiengesetz derzeit nicht leisten können, kann der antiquierte Paragraph 266 des Strafgesetzbuches nicht auffangen. Wenngleich danach gerichtet wird, führt das zwangsläufig in die Ungerechtigkeit hinein. Das Dilemma der Rechtstreue Dem Gutsherren ist Willkür, natürlich wohlmeinende, zu eigen. Es sei daher erlaubt, auf einen anderen Nachbarsenat, den 1. Strafsenat, zu verweisen. Im Bemühen um Eingrenzung der ganz evidenten Normschwäche hat dieser Senat ein Korsett an Leitlinien für die Rechtspraxis eingezogen. Das war dankenswert und diente der Rechtssicherheit – jedenfalls bislang. Ob eine Pflichtverletzung im Sinne der Untreue als „gravierend“ anzusehen ist, bestimmt sich nach dieser obersten Rechsprechung „aufgrund einer Gesamtschau insbesondere der gesellschaftsrechtlichen Kriterien. Bedeutsam sind dabei: Fehlende Nähe zum Unternehmensgegenstand, Unangemessenheit im Hinblick auf die Ertrags- und Vermögenslage, fehlende innerbetriebliche Transparenz sowie Vorliegen sachwidriger Motive“ (Bundesgerichtshof, Band 47 für Strafsachen, S. 188). All das hat das Landgericht Düsseldorf in Bezug auf die Angeklagten weitgehend rechtstreu abgewogen. Aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung hat die Strafkammer die Überzeugung geschöpft, eine Untreue läge nicht vor. Nur am Rande: Setzt man die an den Vorstandsvorsitzenden der Mannesmann-AG geleistete Gesamtzahlung in Relation zu dem Bilanzgewinn von Mannesmann im Jahre 2000 (rund 5,7 Milliarden Euro), oder gar in Relation zu dem Gesamtwert des Übernahmegeschäfts von Vodafone Airtouch (ca. 178 Milliarden Euro), dann ergibt sich für den Angeklagten Esser ein prozentualer Anteil von 0,52 Prozent bzw. 0,0017 Prozent. In absoluten Zahlen verschlägt das den Zeitgenossen zwar den Atem, in der Logik globalisierter Übernahmen nimmt sich das gleichwohl eher bescheiden aus. Man kann es auch anders ausdrücken: Wer bei der Globalisierung A sagt, muss bei der Entlohnung möglicherweise zwangsläufig B sagen. Jedenfalls ist das ein gesellschaftspolitisches Thema von unmittelbarem Regelungsbedarf. Freilich nicht durch das untaugliche und unzuständige Strafrecht, sondern durch mutige Strukturpolitik. Hatte die 14. große Wirtschaftsstrafkammer des Landgerichts Düsseldorf das möglicherweise alles im Blick, wird das vom 3. Strafsenat für diesen Fall vermutlich als irrelevant angesehen. Dem unter Juristen bekannten Satz: „Über dem BGH leuchtet nur der blaue Himmel“ wurde damit eindrucksvoll entsprochen. Das Dilemma des Gesetzgebers Wem schadet die bisherige Konfusion wohl am meisten? Mit den Angeklagten des weiterzuführenden Verfahrens wird sich das Mitleid in Grenzen halten. So hält das die Gesellschaft mit den Sonnenkindern. Es wäre aber eine
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sachgerechte, mutige und überfällige Entscheidung des Gesetzgebers, das Aktienrecht auf ihm angemessen erscheinende Be- und Entlohnung für Vorstände genauer zu justieren. Im Blick des öffentlichen Interesses muss indes das Kriminaljustizsystem selbst stehen. Eine antiquierte, unscharfe, nicht kompatible Norm raubt der Rechtsprechung die Legitimation, die das Rechtssystem so bitter nötig hat: die Zustimmung der Bevölkerung. Die Reform des erodierten Paragraphen 266 ist deshalb eine dringende Aufgabe des Gesetzgebers. Dabei sind zentrale Regelungen ausschließlich dem Zivilrecht und dem Öffentlichen Recht zuzuweisen. Hier muss der Gesetzgeber Farbe bekennen, deutlich sagen, was im Parteien- und Aktienrecht erlaubt sein soll und was nicht. Das Herumstochern im Nebel des strafrechtlichen Untreue-Paragraphen wäre dann überflüssig. Vermutlich kommt dem Gesetzgeber dieser Nebel aber gerade recht. Erübrigt er doch den politischen Mut für überfällige Strukturentscheidungen in wirtschafts- und gesellschaftsrechtlichen Bereichen. Ist der globale Aufkauf ganzer Branchen zu Lasten ganzer Länder angemessen? Ist die ausschließliche Orientierung am Shareholder-Value-Prinzip, also das ausschließliche Aktionärsinteresse, angemessen? Sollen Vorstandsvergütungen ausschließlich am Aktienwert oder nicht auch an der „Treue“ zur Mitarbeiterschaft bemessen werden? Alles offene Fragen, denen der Gesetzgeber nicht durch den Nebel der strafrechtlichen Verschwommenheit entkommen sollte. Aber: welche Koalition will sich mit diesen Mächten schon anlegen? Aus dieser Sicht könnten der Politik die Dilemmata des Untreue-Tatbestandes sogar recht sein: der strafjuristische Zugriff bewirkt nämlich einen Ausblendungs- und Verschleierungsmechanismus, durch den gesellschaftliche Strukturprobleme personalisiert werden. Zugleich entgehen diese dadurch einer politischen Zurechnung. Die Auseinandersetzung wird systematisch auf Nebenschauplätze verlagert. Vom Kern des Problems wird abgelenkt. Das Herausgreifen „schwarzer Schafe“ reinigt die Herde. Da freut sich die politische Klasse. Das Strafrecht – und das ist sein erodierendes rechtsstaatliches Schicksal – verkommt zum politischen Kommunikationsmedium. Damit lassen sich sogar Wahlen gewinnen. Das Dilemma für den Rechtsstaat Trotz dieses wenig Hoffnung vermittelnden Ausblicks noch ein letztes. Ermunternde Gutsherrentöne – von woher auch immer – in Richtung auf das neue Düsseldorfer Tatgericht („Nun haut mal ordentlich drauf!“) werden den Anforderungen einer rechtsstaatlichen Perspektive und einer globalisierten Ökonomie jedenfalls nicht gerecht. Ein Grundprinzip unserer Rechtsordnung ist die Unschuldsvermutung. Diese leitet sich unter anderem aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ab und besitzt Verfassungsrang.
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Sie besagt: „Bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld wird vermutet, dass der wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte unschuldig ist.“ Daraus ergibt sich auch ein Anspruch auf Unvoreingenommenheit der nunmehr zuständigen Richter in Düsseldorf. Man muss Respekt vor dieser Herkulesaufgabe haben. Die neue Strafkammer hat jedenfalls – anders als der BGH – die tatrichterliche Beurteilungshoheit über die Feststellung von Tatsachen. Und auf diese wird es auch in der weiteren Runde zuallererst ankommen.
Betreff: Von: Datum: To:
AW: Zum Mängelprofil des § 266 StGB „Bahners, Patrick“ Mo, 16. Januar 2006 15:04 „Prof. Dr. Peter-Alexis Albrecht“
Sehr geehrter Herr Professor Albrecht, haben Sie besten Dank auf die erfrischend offene Kritik an Herrn Grasnick, der selbst ja auch kein Mann des undeutlichen Wortes ist, und für die uns angebotene Gesetzeskritik. Wir gehen gerne auf das Angebot ein, möchten Sie aber bitten, eine Straffung des Textes vorzunehmen, so daß 8 000 bis 9 000 Anschläge (inklusive Leerschritte) herauskämen. Das Entfallen einiger kleinerer Redundanzen dürfte die Verständlichkeit wohl nicht beeinträchtigen. Bitte adressieren Sie das Manuskript an meinen Vertreter Andreas Platthaus, da ich in den kommenden drei Wochen in Urlaub sein werde. Besten Dank und Gruß Ihr P. Bahners
Betreff: Von: Datum: To:
Untreue – Ruine „Prof. Dr. Peter-Alexis Albrecht“ Di, 13. Juni 2006 13:10 „Bahners, Patrick“
Sehr geehrter Herr Bahners, am 16.1.2006 hatten Sie freundlicherweise mein Angebot angenommen, einen Beitrag zum Mannesmann-Verfahren (Replik auf Grasnick) zu drucken. Ihre Straffungshinweise hatte ich vollzogen und den Beitrag am 18.1.2006 Herrn Platthaus übermittelt. In der letzten Woche ist für Ende Oktober die Terminierung der zweiten Runde in Düsseldorf verfügt worden. Vielleicht ist diese Ankündigung der Neuauflage des Prozesses es wert, meine Kommentierung zu erfahren. Der Beitrag ist aus meiner Sicht nach wie vor aktuell. Mit besten Grüßen Ihr P.-A. Albrecht
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Betreff: Von Datum: To: Cc:
AW: Untreue – Ruine „Bahners, Patrick“ Mo, 19. Jun 2006 14:48 „Prof. Dr. Peter-Alexis Albrecht“ „Linek, Anja“
Sehr geehrter Herr Professor Albrecht, es tut mir wie auch Herrn Platthaus sehr leid, daß Ihre Sendung vom 18. Januar offenbar auf dem Elektropostweg verlorengegangen ist. Wir können keinen Eingang feststellen – welches Vertrauen Ihrerseits, daß Sie offenkundig immer noch auf einen Abdruck gewartet haben. Dafür besonders herzlichen Dank! Für den Kontext einer Tageszeitung ist nun leider der aktuelle Bezug Ihres Artikels abhanden gekommen. Nach fünf Monaten ist es zu spät für eine Replik. Wir schlagen daher vor, daß Sie nach oder zum Beginn der zweiten Runde noch einmal auf das Thema zurückkommen, ggf. unter Aufnahme der Fachdiskussion. Mit freundlichen Grüßen Ihr Patrick Bahners
2. Der Versuch einer Aufklärung Zweiter Teil: Die Systemebene Betreff: Von: Datum: To:
Untreue „Prof. Dr. Peter-Alexis Albrecht“ Mi, 18. Okt 2006 12:13 „Bahners, Patrick“
Sehr geehrter Herr Bahners, am 26. Oktober beginnt die zweite Runde im Mannesmann-Prozess. Nach drei Anläufen waren Sie so freundlich, mir noch einen vierten zu ermöglichen. Diesen habe ich systemtheoretisch eingekleidet und denke, dass der Zugriff auf die Problematik so am verständlichsten ist. Der Ausweg in die Schizophrenie gibt doch jedem Hoffnung! Mit bestem Gruß Ihr P.-A. Albrecht Anhang: Word-Datei: Subsysteme (17.10.2006)
Tanz der Subsysteme: Recht und Ökonomie in schizophrener Verklammerung – Die neue Runde der Banker, Manager und Gewerkschaftler mit der Strafjustiz – Großbanken und Gewerkschaften auf der einen Seite sehen sich den Großen der Justiz, dem Bundesgerichtshof, auf der anderen Seite erneut konfrontiert. Das Landgericht Düsseldorf hat im Auftrag des Bundesgerichtshofs wieder
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zu richten, was letztlich gar nicht richtbar ist. Die Systemtheorie hilft bei der Erkenntnis dieses auf den ersten Blick nicht leichten Gedankens. Recht und Ökonomie haben sich in der globalisierten Welt zu nicht-staatlichen transnationalen Ordnungen entwickelt. Im Zuge nachlassender Regulierungskraft des Staates entfalten Subsysteme eine entfesselte Eigendynamik. Sie entwickeln anonyme Kommunikationsprozesse, die es für die gefährdete Gesellschaft und die Menschen in ihr erst noch zu identifizieren gilt. Die Systemtheorie sieht den Menschen als Opfer im Sinne einer Bedrohung seiner Integrität. Bedroht wird er unter anderem durch Subsysteme wie Naturwissenschaften, Wirtschaft, Technologie, Medizin und Medien. Die kommunikativen Eigenwelten grenzen sich gegenüber der Politik und der Gesellschaft in Autonomieräumen ab. In jeder Subgesellschaft herrschen eigene Gesetzmäßigkeiten. Zwei herausragende kommunikative Eigenwelten unserer Tage sind das Recht und die Ökonomie. Diese Subsysteme sind aber nicht mehr aufeinander bezogen, sondern ihre Dynamik lässt sie auseinanderdriften: Das Rechtssystem orientiert sich an den Kategorien „Recht versus Unrecht“ und rekurriert dabei auf Normenkataloge traditioneller Art. Das Ökonomiesystem folgt dagegen ausschließlich der Logik „Kosten versus Nutzen“ – in einer ungebremsten Globalisierung. Das Subsystem Recht Der Bundesgerichtshof hatte im Dezember letzten Jahres das freisprechende Urteil des Landgerichts Düsseldorf aufgehoben. Die übliche Zurückhaltung in Wertungsfragen, die einer Rechtsfehlerinstanz normalerweise zu eigen ist, hatte noch nicht einmal vor der Wortwahl halt gemacht. In „Gutsherrenart“ hätten die Angeklagten Geld verteilt, dabei wären sie doch nur „(Guts-)Verwalter“ gewesen: also Untreue! Diese Metapher eröffnet neue Irrationalitäten, die überkommen und feudalistisch anmuten. Und genau das ist der Punkt, der dem Untreue-Tatbestand des Paragraphen 266 Strafgesetzbuch zu eigen ist. Er ist in seinem strafjustiziellen Zugriff nicht mehr kompatibel mit den komplizierten Zusammenhängen einer globalisierten Wirtschafts- und Kapitalordnung. Notwendig wäre eine normative Präzisierung und Begrenzung strafwürdiger Pflichtverletzungen, weil nur elementares Unrecht vom rechtsstaatlichen Kernstrafrecht zu erfassen ist. Schon vom Wortlaut her ist diese Norm unscharf und überkommen. Sie ist für eine ordentliche Rechtsprechung unbrauchbar, weil zu weit und nicht hinreichend bestimmbar. Im Bemühen um Eingrenzung der ganz evidenten Normschwäche hatte der 1. Senat des Bundesgerichtshofs im Jahr 2001 ein Korsett an Leitlinien für die Rechtspraxis eingezogen. Das war dankenswert und diente der Rechtssicherheit – jedenfalls bislang. Ob eine Pflichtverletzung im Sinne der Untreue als „gravierend“ anzusehen ist,
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bestimmt sich danach „aufgrund einer Gesamtschau insbesondere der gesellschaftsrechtlichen Kriterien“. All das hatte das Landgericht Düsseldorf im ersten Anlauf hinsichtlich der Angeklagten weitgehend rechtstreu abgewogen. Aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung hat die Strafkammer die Überzeugung geschöpft, eine Untreue läge nicht vor: Die freiwilligen Sonderzahlungen zeigten Nähe zum Unternehmensgegenstand und seien angemessen im Hinblick auf die Ertrags- und Vermögenslage der wirtschaftlich Beteiligten. Auch innerbetriebliche Transparenz sei gegeben und das Vorliegen sachwidriger Motive nicht ersichtlich. April! April!, sagte der 3. Senat in seiner Dezemberentscheidung. Dieses restriktive Korsett solle ausschließlich für „Risikogeschäfte“ gelten, zum Beispiel ungesicherte Kreditvergaben durch Banken. Das Gegenteil hätte sich die Rechtspraxis gewünscht. Gefragt ist eine eingrenzende Rechtsprechung für den gesamten Untreuetatbestand. Das ist nun – nach der aktuellen Rechtsprechung dieses Senates – leider nicht so. Die Bundesrichter bejahen einen Schaden der Mannesmann AG, weil die zugewendeten freiwilligen Anerkennungsprämien und Pensionsabfindungen lediglich kompensationslos seien, also belohnenden Charakter und dieser Gesellschaft keinen zukunftsbezogenen Nutzen gebracht hätten. Das betrachtet der Bundesgerichtshof – in echtem Gutsherrenton – als „treupflichtwidrige Verschwendung des anvertrauten Gesellschaftsvermögens“. Das Subsystem Ökonomie Das Präsidium der Mannesmann AG, im April 2000 mittlerweile beschickt mit dem „Chief Executive Officer“ von Vodafone als neuem Aufsichtsratsvorsitzenden, sah das ganz anders: Im Beschlussprotokoll wurden die Zuwendungen als Honorar für wirtschaftlichen Erfolg und Steigerung des Unternehmenswertes den beteiligten Mannesmännern rückwirkend ausgelobt. Zweifellos war das eine unternehmerische Führungs- und Gestaltungsaufgabe, für die im Aktienrecht in der Regel auch ein weiter Beurteilungsund Ermessensspielraum eröffnet ist. Diese Sicht wird gestützt durch eine breite aktienrechtliche Literatur. Zahlreiche renommierte Wissenschaftler erachten freiwillige Sonderzahlungen zur Belohnung in der Vergangenheit erbrachter besonderer Leistungen generell für zulässig. Und letzteres sogar unabhängig von einer Anreizwirkung oder einem sonstigen für die Gesellschaft eintretenden Vorteil. All das hat den Bundesgerichtshof nicht überzeugen können. Die fünf Richter in roten Roben hängen an dem Bild, dass Präsidiumsmitglieder keine Einzelunternehmer seien. Nur letzteren sei es unbenommen, verdiente Mitarbeiter aus dem Betriebsvermögen mit Sonderzahlungen zu belohnen, auch wenn dadurch dem Unternehmen kein Vorteil erwächst. Jenseits der formal-juristisch korrekten Konstruktion, dass Mannesmann
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solange die strafrechtlich bewehrte Treue zu halten ist, bis sie von der übernehmenden Vodafone geschluckt ward, findet dieses harte Verdikt des strafrechtlichen Zugriffs in der wirtschaftlichen Realität aber keine Entsprechung. Die übernehmende Vodafone hatte die wertmäßige Minderung des zu schluckenden Partners nämlich mit ihrem ausdrücklichen Einverständnis versehen. Wenn überhaupt hatte also sie einen Schaden wegen des geminderten Unternehmensgewinnes von Mannesmann. Sie war frei in dessen Akzeptanz: eine genuine unternehmerische Alleinkompetenz. Im Ergebnis führt allein der zu frühe Zeitpunkt der Zustimmung des Übernehmenden zur harschen Kriminalisierung eines Aufsichtsrates des Übernommenen, der faktisch schon keiner mehr war: Die Krone des Vorsitzes trug bereits Sir Gent von Vodafone. Was folgt daraus? Jedenfalls die Erkenntnis, dass Strafrecht und Wirtschaft sich zu gesellschaftlichen Subsystemen entwickelt haben, die wie Feuer und Wasser aufeinander reagieren. Die Wahrnehmung ökonomischer Realitäten der Globalisierung erzwingt nicht nur eine normative Modifizierung strafrechtlicher Kategorien wie ‚Risiko‘, ‚Gefährdung‘, ‚Schaden‘, sondern auch ein Umdenken bei den Gewinn- und Honorar-Dimensionen. In absoluten Zahlen verschlägt das den Zeitgenossen zwar den Atem. In der Logik globalisierter Übernahmen nimmt sich das gleichwohl eher bescheiden aus – Honorar Esser: 0,0017 % von 178 Mrd. Euro = Gesamtwert des Übernahmegeschäfts von Vodafone Airtouch. Man kann es auch anders ausdrücken: Wer bei der Globalisierung A sagt, muss bei der Entlohnung zwangsläufig B sagen. Das mag moralisch und ethisch mit guten Gründen zu kritisieren sein, aber an dieser Stelle ist aus – möglicherweise berechtigter – Empörung nicht nach dem Strafrecht zu rufen. Es ist das falsche Beil auf dem falschen Klotz. Das, was wirtschaftlich unbillig erscheint, muss am Ort seiner Entstehung geregelt werden. Zuständig ist hier das Aktiengesetz. Hier muss der Gesetzgeber Klartext sprechen, was gesamtgesellschaftlich gewollt und nicht gewollt ist. Schaut der Rechtsanwender im Aktienrecht nach, kommt er ins Schwimmen. Überzeugende Maßstäbe, die für freiwillige Sonderzahlungen unabdingbar sind, sucht er vergebens. Ist der globale Aufkauf ganzer Branchen zu Lasten ganzer Regionen angemessen? Sollen Vorstandsvergütungen ausschließlich am Aktien- und Unternehmenswert oder nicht auch an der „Treue“ zur Mitarbeiterschaft bemessen werden? Alles offene Fragen, denen der Gesetzgeber nicht durch den Nebel der strafrechtlichen Verschwommenheit entkommen sollte. Aber: welche Koalition will sich mit diesen Mächten schon anlegen? Vermutlich kommt dem Gesetzgeber dieser Nebel gerade recht. Erübrigt er doch den politischen Mut für überfällige Strukturentscheidungen in wirtschafts- und gesellschaftsrechtlichen Bereichen. Der strafjuristische Zugriff bewirkt nämlich einen Ausblendungs- und Verschleierungsmechanismus, durch den gesellschaftliche Strukturprobleme personalisiert werden. Zugleich
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entgehen letztere dadurch einer politischen Zurechnung. Die Auseinandersetzung wird systematisch auf Nebenschauplätze verlagert. Vom Kern des Problems wird abgelenkt. Das Herausgreifen „schwarzer Schafe“ reinigt die Herde. Da freut sich die politische Klasse. Das Strafrecht – und das ist sein erodierendes rechtsstaatliches Schicksal – verkommt zum politischen Kommunikationsmedium. Damit lassen sich sogar Wahlen gewinnen. Konsequenz: Schizophrenie Was die Systemtheorie in trockene Kategorien kleidet (vom Mars also die Erde beobachtend), kann die Wissenschaft der Medizin in psychiatrische Kategorien fassen. Der Mensch, der derartigen Spannungen in einer Person ausgesetzt ist, muss zwangsläufig in der schizophrenen Verspannung landen. Wie soll er bereichsspezifische Ethiken und Moralen ausgleichen? Für den Einzelnen mag es hierfür Medikamente geben, für die Gesellschaft sicher nicht. Noch ein letztes. Wenigstens eines ist man den angeklagten ehemaligen Mannesmännern, Deutschbankern und Gewerkschaftlern schuldig: die Unvoreingenommenheit der nunmehr zuständigen Richter in Düsseldorf. Man muss Respekt vor dieser Herkulesaufgabe haben. Die neue Strafkammer hat jedenfalls – anders als der BGH – die tatrichterliche Beurteilungshoheit über die Feststellung der objektiven und subjektiven Tatseite. Es wird präzise zu prüfen sein, ob die übernehmende Vodafone, deren Einverständnis für die Geldzahlungen und Prämien ausdrücklich vorlag, willkürlich reine Geschenke verteilen wollte oder ob nicht doch globalisierte Gegenleistungen und Gegenerwartungen, also Anreizwirkungen für die Zukunft, den Ausschlag für die Generosität der Millionen-Ausschüttung gaben. Hard to believe, wenn es im Subsystem Ökonomie anders zugegangen wäre. Auf die tatrichterliche Feststellungshoheit wird es nun auch in der weiteren Runde zuallererst ankommen.
Betreff: Von: Datum: To:
AW: Untreue Bahners, Patrick Fri, 20. Oct 2006 17:37:26 “Prof. Dr. Peter-Alexis Albrecht”
Sehr geehrter Herr Professor Albrecht, Ihr Beitrag erscheint mir weder sprachlich noch sachlich für einen Abdruck in unserem Feuilleton geeignet. Sprachlich wimmelt er von Klischees (rote Roben, April! April!), die zwar durch Redigat zu beseitigen wären, aber den Stil einer Argumentation durchaus widerspiegeln, die mit den denkbar größten Pinseln hantiert. Sie bemühen, auf Feuilletonaffinität bedacht, eine simple Version der
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Systemtheorie, um dann munter über tiefenpsychologische Motive „des“ Gesetzgebers zu spekulieren. Ich bin kein Jurist, aber offen gesagt irritiert über den Ton, in dem Sie als Superrevisionsrichter auftreten und jeden herabsetzen, der sich nicht von der „breiten Literatur“ hat überzeugen lassen, daß Ihre Meinung die richtige ist. Als Resümee der gerade in unserer Zeitung geführten Debatte erschiene mir ein Druck Ihres Artikels gegenüber Ihren Kollegen nachgerade unfair. Mit freundlichen Grüßen Patrick Bahners
Betreff: Von Datum: To:
AW: Untreue „Prof. Dr. Peter-Alexis Albrecht“ Mo, 23. Oct 2006 20:10 “Bahners, Patrick”
Sehr geehrter Herr Bahners, Sie schreiben selbst, Sie seien kein Jurist, deshalb können wir auf Argumente verzichten. Mir hingegen erschließen sich die Feuilleton-Umgangsformen nicht. Am 16. Januar 2006 hatten Sie mir für meine „erfrischend offene Kritik an Herrn Grasnick, der selbst ja auch kein Mann des undeutlichen Wortes ist, und für die uns angebotene Gesetzeskritik“ „besten Dank“ vermittelt und mein Druckangebot angenommen. Der damalige Artikel war in vielen Passagen textgleich, gleich auch in Duktus und Ton, nur im Zugriff etwas anders, damals dogmatisch, diesmal systemisch. Die „tiefenpsychologischen Motive ‚des’ Gesetzgebers“ waren damals durch Ihre Zensur gerutscht, diesmal zeihen Sie mich der Spekulation. Eine Zweitfassung ist – wie Sie am 19. Juni 2006 schrieben – „auf dem Elektropostweg verloren gegangen“. Die am 13. Juni 2006 von mir übersandte Grasnick-Replik, die mit meiner aktuellen Drittfassung nahezu identisch ist, fand damals Ihr Missfallen nicht, sondern Sie schlugen mir sogar vor, „zum Beginn der zweiten Runde noch einmal auf das Thema zurückzukommen.“ Nichts anderes habe ich in Inhalt, Stil und Form jetzt getan. Also kurzum: Ich verstehe nicht, mir mit ein und demselben Gegenstand zweimal eine Druckeinladung auszusprechen und mich nunmehr – weil „nachgerade unfair“ – wieder auszuladen. Wie gesagt: Es geht jetzt nur um die Umgangsformen. Das beziehe ich nicht auf meine Person, ich bin Kriminologe und Strafrechtler und habe kein Problem damit, von Ihnen aus Feuilleton-Sicht kritisiert zu werden. Zur „Feuilletonaffinität“ höchstens eine Anmerkung: Wenn man Ihren „Pinsel“ in Sachen Hassemer-Kritik vom 20. Oktober 2006 zum Vergleich nimmt, dann dürfte das gerade der Ton sein, den Sie bei mir anzutreffen glauben. Aber nun zu Ihrem juristischen Interpretations-Versuch „nachgerade unfair“: Unfair ist es, auf am Boden liegenden Verurteilten herumzutrampeln. Herrn Grasnick das zuzugestehen, war sich das Feuilleton Ihrer Zeitung nicht unfein genug. Mein bescheidener Appell an die „tatrichterliche Feststellungshoheit“ der neuen Düsseldorfer Kammer ist Ihnen dagegen kein Gebot der Fairness. Mit freundlichem Gruß Albrecht
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Peter-Alexis Albrecht
AW: Untreue „Bahners, Patrick“ Di, 24. Oct 2006 12:49 “Prof. Dr. Peter-Alexis Albrecht” „Linek, Anja“, „Platthaus, Andreas“
Sehr geehrter Herr Professor Albrecht, unterstellen wir einmal, daß Nichtjuristen juristische Argumente tatsächlich nicht verstehen (und lassen wir die Frage beiseite, warum Sie dann Ihre Urteilskritik an unser Laienpublikum adressieren wollten) – damit löst sich das von Ihnen beschriebene Rätsel der Aufeinanderfolge meiner Stellungnahmen von selber auf: Ihre dogmatische Kritik mußte ich verständnislos hinnehmen, erst Ihre Übersetzung in die nichtjuristische Terminologie der Systemtheorie erschloß mir, wie fragwürdig Ihr Ansatz und wie zweifelhaft Ihr Ton ist. Insbesondere die Naivität der Gesetzgeberkritik ist erst durch den trivialen sog. systemtheoretischen Rahmen hervorgetreten. Wir haben nie eine Druckeinladung ausgesprochen, sondern Sie lediglich zweimal um ein (überarbeitetes) Manuskript gebeten. Ob ein solches Manuskript tatsächlich gedruckt werden kann, ist naturgemäß erst zu entscheiden, wenn die Fassung letzter Hand vorliegt. Ich hatte Ihnen im Juni vorgeschlagen, „ggf. unter Aufnahme der Fachdiskussion“ auf das Thema zurückzukommen. Sie haben davon abgesehen, diese Anregung aufzunehmen, sondern eine andere Überarbeitung vorgenommen, die von uns darauf zu prüfen war. Zum gegebenen, fortgeschrittenen Zeitpunkt der Diskussion fällt die Kontextlosigkeit Ihres Angriffs auf Richter und Kollegen stärker ins Gewicht als unmittelbar nach dem Urteilsspruch. Mit freundlichen Grüßen Ihr Patrick Bahners
IV. Zum traurigen Ende verpasster Chancen für die Entwicklung von Gesellschaft und Recht Die Verfahrenseinstellung im Mannesmann-Prozess war die schlimmste aller Möglichkeiten, jedenfalls für das Recht und seine Legitimationsgrundlagen: Der Fall ist formal-juristisch zwar beendet, im Sinne des materiellen Rechtsstaates aber nur verdrängt (= Einstellung), das Justizsystem hat durch gedealte Informalisierung sein Gesicht gewahrt (= 5,8 Mio. Euro für die Staatskasse) und der Gesetzgeber scheint vom Handlungszwang befreit (= Handlungsfähigkeit der Kriminaljustiz bestätigt). Für einen Verteidiger indes ist vor dem Hintergrund einer Rechts- und Medienschlacht eine Verfahrenseinstellung das Optimum! Rainer Hamm versteht etwas von diesem harten Geschäft. Für den Rechtsstaat hingegen sind Verfahrenseinstellungen wie im Mannesmann-Prozess, wie im Untreue-Verfahren gegen Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl und im einstellungsanalogen Zwei-Tage-Blitz-Deal-Verfahren gegen
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Peter Hartz eine normative und legitimatorische Katastrophe. Das Recht verliert in den Augen einer kritischen Öffentlichkeit seine Geltungskraft, weil der öffentliche Strafprozess zum Mauschel-Verfahren denaturiert und durch Geldzahlung ein „öffentliches Interesse“ wegdefiniert wird, obwohl es größer nicht sein könnte. Der Politik wird die gesetzgeberische Handlungspflicht, der Öffentlichkeit die berechtigte Aufklärung sowie Transparenz genommen und damit der Gesellschaft die Erkenntnisbasis vorenthalten, aus moralischen Systembrüchen politische Konsequenzen ziehen zu können. Nur durch letzteres wäre die Empörung über soziale Ungerechtigkeiten in eine informierte, demokratisch verfasste Erwiderung zu kleiden, zumindest in einen Versuch derselben: eine Abwahl der ungerecht Herrschenden. Die Frage dürfte allerdings sein, welches herrschende Subsystem an einer Aufklärung jener Zusammenhänge ein tatsächliches Interesse haben könnte. So ist die Verfahrenseinstellung im Mannesmann-Prozess ein symbolisches Schlusswort für einen politischen Diskurs, dessen Kommunikation durch eine informelle Justiz verhindert worden ist. Das Individuum spielt in den Kommunikationsprozessen der gesellschaftlichen Subsysteme von Wirtschaft und Justiz keine Rolle mehr.17 Es passt mit seinen Bedürfnissen nach individueller Freiheit und Gerechtigkeit nicht mehr in die politischen und ökonomischen Zwänge einer globalisierten Welt.
17 Vgl. weiterführend aus systemtheoretischer Perspektive eindrucksvoll Gunther Teubner Die anonyme Matrix: Zu Menschenrechtsverletzungen durch „private“ transnationale Akteure, Der Staat 45 (2006) 161 ff.
Kleider machen Strafverteidiger!? – oder: sitzungspolizeiliche Maßnahmen und die Mär vom „T-Shirt-Verteidiger“ Werner Beulke I. Es war einmal … … ein „T-Shirt-Verteidiger“,1 der erschien anno 2006 lediglich in weißem T-Shirt statt Hemd und Krawatte unter der offenen Robe vor einem bayrischen Strafgericht. Er weigerte sich trotz Abmahnung durch den Vorsitzenden und Hinweis auf die Folgen, mit Hemd und Krawatte aufzutreten. So wurde er als Wahlverteidiger an allen Sitzungstagen der Verhandlung gem. § 176 GVG zurückgewiesen und ein Pflichtverteidiger daneben bestellt. Die Beschwerden des T-Shirt-Verteidigers gegen beide Maßnahmen blieben ohne Erfolg. Ein Auftritt mit T-Shirt vor einer Großen Strafkammer sei unter keinem Gesichtspunkt hinnehmbar.2 Angesichts der Schwere der Verstöße und der zur Grundsatzfrage erhobenen Weigerung, die den ordnungsgemäßen Ablauf des Verfahrens ernsthaft in Frage stellten,3 habe auch ein wichtiger Grund vorgelegen, der die Bestellung eines Pflichtverteidigers neben dem Wahlverteidiger rechtfertige … Dieser Beschluss des OLG München illustriert, wie schnell ein zunächst rein äußerlicher Anlass als Auslöser für sitzungspolizeiliche Maßnahmen 4 erhebliche Auswirkungen auf das Verfahrensgeschehen, sowie auf Verteidigerund Mandantenrechte haben kann. Zwar untersteht der Verteidiger fraglos der sitzungspolizeilichen Gewalt des Vorsitzenden gem. § 176 GVG, denn sie erstreckt sich auf alle Anwesenden.5 Das im Grundsatz anzustrebende Ver-
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Vgl. Überschrift in NJW 2006, 3079 zum Beschluss des OLG München v. 14.7.2006 – 2 Ws 679/06 u. 2 Ws 684/06. 2 OLG München NJW 2006, 3079 (3080) = StV 2007, 27. 3 OLG München NJW 2006, 3079 (3080). 4 Im Beschluss wird ausdrücklich auf § 176 GVG als Rechtsgrundlage für die Zurückweisung Bezug genommen, vgl. dort II. 1. a) und II. 2. a). 5 BVerfGE 48, 118 (123); Beulke Der Verteidiger im Strafverfahren, 1980, S. 221; LöweRosenberg-Wickern 25. Aufl. 2002, § 176 GVG Rn 38 f; Meyer-Goßner Strafprozessordnung, 50. Aufl. 2007, § 176 GVG Rn 10.
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fahrensziel der Waffengleichheit 6 und die Stellung des Verteidigers als Organ der Rechtspflege 7 müssen jedoch bei der Ausübung der sitzungspolizeilichen Gewalt entsprechend berücksichtigt werden, so dass ein Vorsitzender beim Verteidiger dann doch wiederum schnell an seine Grenzen stößt.8 Dieses dem vorliegenden Beschluss immanente Spannungsverhältnis gibt aktuellen Anlass, sich auch heute noch mit der Pflicht des Verteidigers, in Amtstracht vor Gericht aufzutreten, und mit den Rechtsfolgen eines Verstoßes hiergegen auseinanderzusetzen.
II. Von der Pflicht, eine Amtstracht zu tragen 1. Die Frage nach der Rechtsgrundlage Die Pflicht, in Amtstracht vor Gericht aufzutreten, stellt einen – wenn auch nur geringfügigen9 – Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit dar, Art. 12 Abs. 1 GG. Demnach bedarf es zu seiner Rechtfertigung einer Rechtsgrundlage. Diese gilt es zu ermitteln. a) Gewohnheitsrecht vs. § 20 BORA Ursprünglich geht die Pflicht zum Tragen der Berufstracht auf die bekannte Kabinettsorder von König Friedrich Wilhelm I. von Preußen vom 15.12.1726 zurück: „Wir ordnen und befehlen hiermit allen Ernstes, dass die Advocati wollene schwarze Mäntel, welche bis unter das Knie gehen, unserer Verordnung gemäß zu tragen haben, damit man diese Spitzbuben schon von weitem erkennen und sich vor ihnen hüten kann.“ 10 Die kuriose Formulierung lässt darauf schließen, dass die Robe in rechtshistorischer Sicht nicht unbedingt eine Ehrung des Trägers bezweckte. Heute sehen wir das alles ganz anders und viele sind auf das Kleidungsstück fast so stolz wie Jurastudenten des ersten Semesters auf ihren roten Schönfelder. So war es nur folgerichtig, dass BVerfGE 28, 21 (32) feststellte, die Robe mache die Stellung der Rechtsanwälte als unabhängiges Organ der Rechtspflege sichtbar und diene so zumindest mittelbar der Rechts- und Wahrheitsfindung
6 BVerfGE 63, 45 (61); Beulke Strafprozessrecht, 9. Aufl. 2006, Rn 148 mwN; Safferling NStZ 2004, 181. 7 Vgl. hierzu Beulke Der Verteidiger (Fn 5) S. 163 ff. 8 Löwe-Rosenberg-Wickern (Fn 5) § 176 GVG Rn 39. 9 So BVerfGE 28, 21 (32). 10 Zitiert nach Hartung-Scharmer Anwaltliche Berufsordnung, 3. Aufl. 2006, § 20 BORA Rn 1.
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im Prozess. Als Rechtsgrundlage für die Verpflichtung, vor Gericht Amtstracht zu tragen, zog das Bundesverfassungsgericht für die Länder, die keine gesetzliche Regelung erlassen hatten,11 vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht heran. Bereits in früheren Entscheidungen 12 war vorkonstitutionelles 13 Gewohnheitsrecht als grundsätzlich geeignet bezeichnet worden, die Berufsausübungsfreiheit in zulässiger Weise zu beschränken. Dieses sei bzgl. der Pflicht zur Amtstracht durch längere tatsächliche Übung entstanden, die dauernd, ständig, gleichmäßig und allgemein war und von den beteiligten Rechtsgenossen als verbindliche Rechtsnormen anerkannt wurde.14 Andererseits hat es immer Anwälte gegeben, denen diese Sichtweise gar nicht passte. Es wurde vor allem bemängelt, das BVerfG habe die wichtige Frage, ob die Berufsfreiheit durch vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht überhaupt eingeschränkt werden könne, zu leichtfertig entschieden und sei eine eingehende und sorgfältige Begründung schuldig geblieben.15 In heutiger Zeit, d.h. vor allem nach Einführung des § 20 BORA im Jahre 1997, werden in der Hauptsache zwei Ansätze zur Verortung der Robenpflicht vertreten. Während in der Rechtsprechung 16 und Teilen der Literatur 17 differenziert wird zwischen einer Berufspflicht der Rechtsanwälte, die sich aus § 20 BORA ergebe, und einer gerichtsverfassungsrechtlichen Pflicht, die weiterhin aus vorkonstitutionellem Gewohnheitsrecht folge, rekurriert eine vor allem in der Anwaltsliteratur dominierende Ansicht 18 nunmehr vollständig auf § 20 BORA: „Der Rechtsanwalt trägt vor Gericht als Berufstracht die Robe, soweit das üblich ist. Eine Berufspflicht zum Erscheinen in Robe besteht beim Amtsgericht in Zivilsachen nicht.“ Der Beschluss des BVerfG vom 18.2.1970 – und somit der Rückgriff auf vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht als Rechtsgrundlage der Pflicht zur 11 Z.B. in Baden-Württemberg (§ 21 AGGVG) und Berlin (§ 89 PreußAGGVG) wurde die Pflicht normiert. 12 BVerfGE 15, 226 (232); BVerfGE 22, 114 (121). 13 Anders als nachkonstitutionelles Gewohnheitsrecht, da der Regelungsvorbehalt des Art. 12 Abs. 1 Satz 2 grds. eine durch einen förmlichen Rechtssetzungsakt geschaffene Rechtsnorm voraussetzt. 14 BVerfGE 28, 21 (28 f). 15 Hartung-Scharmer (Fn 10) § 20 BORA Rn 28 mwN. 16 OLG München NJW 2006, 3079 nach Erlass des § 20 BORA; OLG Braunschweig NJW 1995, 2113 (2114 f) nach Erlass des § 59b Abs. 2 Nr. 6c BRAO; so bereits BVerfGE 28, 21 (34 f). 17 Kerstin Gröner Strafverteidiger und Sitzungspolizei, 1998, S. 119f; Karlsruher Kommentar Strafprozeßordnung-Mayr 5. Aufl. 2003, § 176 Rn 4; Müller NJW 1979, 22. 18 Danners Sicherung des Verfahrensablaufs durch sitzungspolizeiliche Befugnisse im Strafprozess, 1999, S. 128 f; Henssler/Prütting Bundesrechtsanwaltsordnung, 2. Aufl. 2004, § 20 BORA Rn 8; Feuerich/Weyland Bundesrechtsanwaltsordnung, 6. Aufl. 2006, § 20 BORA Rn 2; Weihrauch StV 2007, 28 mwN.
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Amtstracht – ist letzterer Ansicht zu Folge endgültig überholt, und zwar zum einen durch Zeitablauf und zum anderen durch die Kodifizierung der Problematik in Form des § 20 BORA.19 Die für vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht geltende Ausnahme bzgl. des formellen Regelungsvorbehalts in Art. 12 Abs. 1 GG sei heute, über 50 Jahre nach Erlass des Grundgesetzes, nicht mehr aktuell, zumal dieses vorkonstitutionelle mittlerweile zu nachkonstitutionellem Gewohnheitsrecht mutiert sei und folglich den dafür geltenden Vorgaben unterliege.20 Daneben wird darauf verwiesen, dass der Bundesgesetzgeber durch die geschaffene Satzungsermächtigung in § 59 b Abs. 2 Nr. 6 c BRAO die Frage der Amtstracht aus dem Regelungskomplex „Gerichtsverfassung und gerichtliches Verfahren“ herausgelöst und im Regelungskomplex „Recht der Rechtsanwaltschaft“ verankert habe.21 Das daraufhin durch die bei der Bundesrechtsanwaltskammer angesiedelte Satzungsversammlung erlassene Berufsrecht sperre also gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 iVm Art. 72 Abs. 1 GG nicht nur frühere landesgesetzliche Bestimmungen,22 sondern auch den „versuchten Rekurs auf ein angeblich bestehendes vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht – trotz fehlender Gewohnheit“.23 Die Neuregelung in der Berufsordnung schütze Rechtsanwälte so vor „willkürlichen Kleiderordnungen“.24 Nach der Gegenauffassung ist die Pflicht, vor Gericht in Amtstracht aufzutreten, als doppelte iSe standesrechtlichen und einer verfahrensrechtlichen Pflicht zu betrachten, welche unabhängig von einander gelten. Mithin läge gem. § 20 BORA nur in berufsrechtlicher Hinsicht eine abschließende Regelung vor. Für die verfahrensrechtliche Seite und das Gebiet der Gerichtsverfassung könne die Regelung hingegen keinerlei Sperrwirkung entfalten.25 Die bereits erwähnte zentrale Entscheidung des BVerfG zur Robenpflicht der Rechtsanwälte ist wohl auch im Sinne eines derartigen Dualismus zu interpretieren: „(…) die Pflicht der Rechtsanwälte, zum Erscheinen vor Gericht in Amtstracht [ist] keine ausschließlich eigene Angelegenheit des Berufsstandes (…) und [unterliegt] mithin im Falle der Zuwiderhandlung nicht allein der Beurteilung und Ahndung durch die berufsständische Ehrengerichtsbarkeit (…). Diese ist zwar auch zuständig, soweit der Aspekt des berufspflichtgemäßen Verhaltens angesprochen ist (…). Daneben besteht aber, 19
Weihrauch StV 2007, 28. Jarass/Pieroth Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland – Kommentar, 7. Aufl. 2004, Vorb. vor Art. 1 GG Rn 43, Art. 12 GG Rn 21, Art. 123 GG Rn 7. 21 Weihrauch StV 2007, 28. 22 Vgl. Fn 11. 23 Kleine-Cosack NJW 1997, 1257 (1260). 24 Kleine-Cosack NJW 1997, 1257 (1260). 25 Gröner Strafverteidiger (Fn 17) S. 121. 20
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soweit es sich um den „gerichtsrechtlichen“ Aspekt des anwaltlichen Verhaltens handelt, Befugnis und Pflicht des Prozessgerichts (…) [die] Durchführung des Verfahrens zu sichern.“26 Der Umstand, dass die Praxis bei Verstößen gegen die Robenpflicht den Weg über die Festsetzung sitzungspolizeilicher Maßnahmen durch den Vorsitzenden sucht, spricht dafür, dass zumindest die Rechtsprechung bis heute eine Separierung von berufsrechtlicher und verfahrensrechtlicher Pflicht annimmt. Denn eine verfahrensrechtliche Konsequenz, ausgesprochen durch den Gerichtsvorsitzenden, aus einem Verstoß gegen eine satzungsmäßig erlassene Berufsordnung ziehen zu wollen, erscheint befremdlich. Ganz in diesem Sinne schließt deshalb Gröner 27 aufgrund der Rechtsnatur der Berufsordnung als Satzung eine solche Außenwirkung des § 20 BORA zwischen Anwälten und Gericht aus. Es läge sonst in der Hand der Satzungsversammlung, zu entscheiden, unter welchen Voraussetzungen das Gericht sitzungspolizeiliche Maßnahmen gegen einen Rechtsanwalt treffen könne. Andere haben hier weniger „systematische Bauchschmerzen“. Nach Weihrauch 28 impliziert der Wortlaut der Satzungsermächtigung in § 59 b Abs. 2 Nr. 6 BRAO 29 („gegenüber den Gerichten“) eindeutig eine Außenwirkung. Wollte man der letzteren Position Folge leisten, so stellte sich natürlich die (dem Verfasser) nahe liegende Frage, ob die Robenpflicht eines Hochschulprofessors, der gem. § 138 Abs. 1 StPO als Verteidiger tätig werden darf, ebenfalls aus § 20 der Berufsordnung für Rechtsanwälte folgen soll. Zumindest insoweit ist augenscheinlich doch auf (vorkonstitutionelles) Gewohnheitsrecht zurückzugreifen. Letztendlich kann die dogmatische Frage nach der Rechtsgrundlage jedoch für den weiteren Fortgang der Betrachtung dahinstehen, soweit sich in beiden Fällen derselbe Pflichteninhalt ergibt. b) Inhalt der Pflicht Vertreter der Auffassung, § 20 BORA regle die Pflicht zum Tragen einer Amtstracht abschließend, genießen bei der Auslegung des Pflichteninhalts den Vorteil einer ausdrücklichen Kodifizierung. Expressis verbis wird hier die Pflicht zum Tragen einer Robe vor Gericht festgestellt. Einschränkungen ergeben sich jedoch sowohl bei Vertretung vor dem AG in Zivilsachen (§ 20 Satz 2 BORA) als auch aus der „Üblichkeit“ (vgl. § 20 Satz 1 Halbsatz 2 BORA). Letztere wird teilweise als Ausnahme für Fälle besonderer Ver-
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BVerfGE 28, 21 (34 f). Gröner Strafverteidiger (Fn 17) S. 121. 28 Weihrauch StV 2007, 28. 29 „Die Berufsordnung kann im Rahmen der Vorschriften dieses Gesetzes näher regeln (…) Nr. 6 Die besonderen Berufspflichten gegenüber Gerichten.“ – gleichzeitig ist jedoch die Rede von einer Berufspflicht … 27
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fahrensgestaltung und besonderer Verfahrensabschnitte verstanden,30 teilweise als Bezug auf eine bisherige „üblicherweise“ Handhabung vor einem Gericht, die fortgelten soll,31 oder darauf, „ob Rechtsanwälte vor diesem Gericht eher mit Robe auftreten als ohne“.32 Bereits diese Konkretisierungsversuche der „Üblichkeit“ zeigen, dass letztendlich auf die bisherige Praxis abgestellt wird, die schließlich auch Grundlage der Pflichtableitung aus dem Gewohnheitsrecht ist. Abweichende Ergebnisse sind insoweit kaum zu erwarten. Vor allem, da auch das BVerfG die Pflicht aus vorkonstitutionellem Gewohnheitsrecht auf öffentliche Verhandlungen „jedenfalls der Landgerichte und der ihnen im Rang entsprechenden sowie der im Instanzenzug höheren Gerichte“ beschränkt. Eine generelle Pflicht zur Amtstracht vor dem AG wird also auch hier nicht angenommen.33 Während somit jedenfalls in Strafsachen das Tragen einer (üblichen) 34 Robe sowohl aufgrund des § 20 BORA als auch nach gewohnheitsrechtlichen Maßstäben als Pflicht des Verteidigers eingestuft werden kann, besteht hinsichtlich weiterer Kleidungspflichten wie Hemd und Krawatte nach wie vor eine erstaunliche Unklarheit. Hier finden wir die Quelle für die Schlachten der Gegenwart. Aus dem Schweigen des § 20 BORA bzgl. dieser Attribute schließen die Befürworter des Rückgriffs allein auf diese Vorschrift, dass angesichts der ausdrücklichen Regelung der Robenpflicht e contrario gerade keine weiteren Kleidungspflichten bestehen.35 Gebe der Gesetzgeber der Satzungsversammlung die Kompetenz zur Regelung der Amtstracht, dann sei damit die gesamte Amtstracht gemeint; wenn dann die Satzungsversammlung expressis verbis lediglich die Frage des Tragens der Robe regele, müsse daraus folgen, dass es weiterer Vorschriften nicht bedurfte.36 Wie eingangs dargestellt, beurteilte das OLG München auf der Grundlage einer gewohnheitsrechtlichen Herleitung der Pflicht, vor Gericht in Amtstracht aufzutreten, diese wichtige Frage anders. Da das Gewohnheitsrecht nicht anwaltliches Standesrecht, sondern Gerichtsverfassungs- und Verfahrensrecht regle, komme es insbesondere auch auf die Erwartungen und Vorstellungen der Gerichte an. Hiernach könne es keinem Zweifel unterliegen, dass das Tragen von Hemd und Krawatte vor Gericht weiterhin einem breiten Konsens begegne. Dabei stützt sich das Gericht im Wesentlichen auf die bayrische Bekanntmachung über die Amtstracht der Rechtspflegeorgane 30
Feuerich-Weyland (Fn 18) § 20 BORA Rn 5. Danners Sicherung des Verfahrensablaufs, 1999, S. 129. 32 Henssler/Prütting (Fn 18) § 20 BORA Rn 4. 33 BVerfGE 28, 21 (28). 34 Prütting bezieht die „Üblichkeit“ auch auf die Gestaltung der Robe, vgl. Henssler/ Prütting (Fn 18) § 20 BORA Rn 5. 35 Henssler/Prütting (Fn 18) § 20 BORA Rn 5; Kleine-Cosack Bundesrechtsanwaltsordnung, 4. Aufl. 2003, § 20 BORA Rn 4; Weihrauch, StV 2007, 28 (29) mwN. 36 Weihrauch StV 2007, 28 (29). 31
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vom 16.10.1956, welche als Verwaltungsvorschrift gegenüber den Rechtsanwälten zwar keine unmittelbare Bindungswirkung zeitige, aber über das Gewohnheitsrecht doch immerhin mittelbare Rechtswirkungen entfalten könne. Somit bestehe die Amtstracht der Rechtspflegeorgane aus einer Robe in schwarzer Farbe, zu der eine weiße Halsbinde zu tragen sei. Dass hierzu ein weißes Hemd gehöre, ergebe sich zweifelsfrei aus dem Gesamtzusammenhang der Regelung. Somit überträgt das Gericht einfach den Pflichteninhalt der Rechtspflegeorgane im Staatsdienst über das Einfallstor des Gewohnheitsrechts auf Rechtsanwälte. Dabei wäre eigentlich zu ermitteln, welche Amtstracht sich aufgrund gewohnheitsrechtlicher Übung bei Rechtsanwälten etabliert hat. An anderer Stelle gesteht das Gericht dann auch eine differenzierte Entwicklung ein, die dazu geführt habe, dass bei Rechtsanwälten (im Gegensatz zu Richtern und Staatsanwälten) inzwischen auch farbige Hemden und Krawatten in dezenter Ausführung als angemessen angesehen würden.37 Doch selbst in der Rechtsprechung besteht bzgl. dieser Feststellung kein so „breiter Konsens“,38 wie das OLG München den Leser glauben machen will. Zwar findet sich ein Beschluss des KG vom 19.1.1977,39 in dem die Pflicht eines Rechtsanwalts zum Tragen einer weißen Krawatte festgestellt wurde; das KG stützte sich in seiner Einschätzung jedoch auf eine insoweit eindeutige landesrechtliche Regelung (§ 89 PreußAGGVG iVm Gem. Allg. Verf. 24.9.1968). Auf eine gewohnheitsrechtliche Pflicht lässt sich daraus nicht unmittelbar schließen. Das BVerfG nahm nun wiederum die Verfassungsbeschwerde eines Rechtsanwalts, der aufgrund einer Krawatte mit breiten weißen und blassrosa Streifen in einer mündlichen Verhandlung vor einem LG zurückgewiesen worden war, nicht zur Entscheidung an.40 Die Frage, ob Rechtsanwälte zum Tragen einer Amtstracht verpflichtet seien, sei durch BVerfGE 28, 21 entschieden worden. Allerdings legte sich das BVerfG ausdrücklich nicht darauf fest, dass zu dieser Amtstracht auch ein weißer Langbinder gehört; dies sei eine Frage, die – wenn nötig – im standesrechtlichen Verfahren geklärt werden könne. All das klingt nicht nach einer „keinem Zweifel unterliegenden“ 41 gewohnheitsrechtlichen Maßgabe. Vielmehr kommt hierin eigentlich nur zum Ausdruck, dass der Inhalt der Amtstracht aufgrund der anwaltlichen Übung zu bestimmen ist. Das OLG Zweibrücken hatte 1987 über die Zulässigkeit der Bestellung eines Pflichtverteidigers neben einem (Wahl-)Verteidiger zu entscheiden, bei dem aufgrund eines Pullovers über dem Hemd nicht zu erkennen war, ob er 37 38 39 40 41
OLG München NJW 2006, 3079 (3080). OLG München NJW 2006, 3079 (3080). KG JR 1977, 172. BVerfGE 34, 138 f. OLG München NJW 2006, 3079 (3080).
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unter der Robe einen weißen Langbinder trug. Das OLG verneinte hier jedenfalls das Vorliegen eines für die zusätzliche Bestellung des Pflichtverteidigers erforderlichen wichtigen Grundes. In einem obiter dictum stellte es darüber hinaus fest, dass bereits zweifelhaft sei, ob die – hinsichtlich der Robe zu bejahende – einheitliche Rechtsübung und -überzeugung in gleicher Weise bezüglich der Frage bestehe, ob Rechtsanwälte in den Sitzungen weiße Krawatten zu tragen hätten, die nicht durch Pullover verdeckt sein dürften.42 Zwei Beschlüsse 43 des OLG Celle aus dem Jahr 2002 bestätigen diese Tendenz. Beide Male hatte sich ein Verteidiger geweigert, eine Krawatte anzulegen. Die jeweiligen Beschwerden gegen seine Zurückweisung bzw. seinen Ausschluss hatten Erfolg. Als Ergebnis der dargestellten Rechtsprechung lässt sich also festhalten, dass keineswegs davon die Rede sein kann, eine Pflicht hinsichtlich des Tragens „von Hemd und Krawatte [begegne] vor Gericht weiterhin einem breiten Konsens“.44 Sollte vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht diesen Pflichteninhalt einmal begründet haben, so hat sich dieser offenbar mit der Gewohnheit verändert.45 Unabhängig davon, ob man die Pflicht, vor Gericht in Amtstracht aufzutreten, über § 20 BORA oder über (vorkonstitutionelles) Gewohnheitsrecht herleitet, muss also der Pflichteninhalt derart konkretisiert (herabgeschraubt!) werden, dass für Verteidiger zwar eine Pflicht zur Robe besteht, darüber hinaus jedoch keine weiteren Kleidungspflichten angenommen werden können. Die hier vertretene ablehnende Haltung bzgl. einer gewohnheitsrechtlich verankerten Krawattenpflicht lässt sich m.E. nahezu zwangsläufig auch aus Art. 3 Abs. 2 Satz 1 iVm Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG folgern. Haben sich unsere Gerichte eigentlich klar gemacht, dass sie sich angesichts der geforderten Gleichstellung von Mann und Frau in schier unlösbare Probleme hineinmanövrieren? Aus dem Verbot geschlechtsspezifischer Benachteiligung, bei Bejahung einer Pflicht zu Hemd und Quer- oder Langbinder ergäbe sich das Folgeproblem, worin das Äquivalent für weibliche Strafverteidiger gesehen werden muss, um ihre männlichen Kollegen nicht ohne sachlichen Grund zu benachteiligen. Auch eine moderne, aufgeklärte Juristin dürfte es eher zornig machen, wenn sie insoweit nur auf den wenig sensiblen Vorschlag stößt, sie solle ein weißes Halstuch 46 bzw. eine weiße Schleife tragen. Allein der Hinweis darauf, die Etikette sähe bei Frauen eben keine vergleichbare Kleidungspflicht vor, vermag als sachlicher Grund für die diskriminierende Auferlegung einer Kleidungspflicht über die Robenpflicht hinaus für männliche Anwälte nicht 42 43 44 45 46
OLG Zweibrücken NStZ 1988, 144 (145). OLG Celle StraFo 2002, 301 und 355. OLG München NJW 2006, 3079 (3080). Greiser/Artkämper Die gestörte Hauptverhandlung, 3. Aufl. 2001, Rn 133. Dahs Handbuch des Strafverteidigers, 7. Aufl. 2005, Rn 502.
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zu befriedigen. Fälle, in denen Rechtsanwältinnen aufgrund fehlenden Halstuches als Verteidiger zurückgewiesen wurden, sind – soweit ersichtlich – glücklicherweise noch nicht bekannt; was in Anbetracht der geringen Verbreitung dieses Accessoires bei Verteidigerinnen eigentlich erstaunt … 2. Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in die Berufsausübung Um die Betrachtungen zur Amtstracht abzurunden, sei abschließend auf die Verhältnismäßigkeit eines derartigen Eingriffs in die Berufsausübungsfreiheit eingegangen. Hierbei gilt es „vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls“ 47 zu ermitteln, welche die Auferlegung einer Robenpflicht für Anwälte rechtfertigen. Im Kern ist also nach dem (heutigen) Sinn und Zweck der Robe zu fragen. Als Vertreter der Pflichtadressaten äußerte sich die Bundesrechtsanwaltskammer in ihrer Stellungnahme vor dem BVerfG 1970 dahingehend, dass die Robe „sinnfällig die Funktion der gleichgeordneten Teilhabe [der Rechtsanwälte] an der Rechtspflege zum Ausdruck“ 48 bringe. Gemäß der ihnen im Verfahren zukommenden Stellung würden Träger einer Amtstracht aus dem Kreis der Beteiligten hervorgehoben; die mit der Amtstracht verbundene Institutionalisierung trage dazu bei, die für eine objektive Entscheidung notwendige persönliche Distanz zu dem zu beurteilenden Geschehen zu gewinnen. Vor allem dieser letzte Aspekt der „Institutionalisierung“ der Person des Rechtsanwalts als Rechtspflegeorgan klingt auch in der Entscheidung des BVerfG 49 an, wenn dieses auf den mittelbaren Nutzen der Robe für Rechts- und Wahrheitsfindung im Prozess verweist. Die Robe fördere die Übersichtlichkeit der Situation im Verhandlungsraum und leiste zugleich einen Beitrag zur Schaffung jener Atmosphäre der Ausgeglichenheit und Objektivität, in der allein Rechtsprechung sich in angemessener Form darstellen könne. Auch wenn dem OLG Braunschweig 50 25 Jahre später die Ordnungsfunktion der Robe ebenso wie eine durch selbige bewirkte Standesprivilegierung der Rechtsanwälte anzweifelbar erschien, hielt es doch daran fest, dass sie Richter wie Rechtsanwälte als Organe der Rechtspflege kenntlich mache (Art. 92 GG bzw. § 1 BRAO) und so die Person hinter dem Dienst an Gesetz und Recht zurücktreten lasse. Nimmt man die relativ geringe Eingriffsintensität der Robenpflicht – als rein formelle Ausübungsregelung ohne inhaltliche Regelungsqualität hinsichtlich der Mandatsausübung – hinzu, so ist festzuhalten, dass die Pflicht des Rechtsanwalts, vor Gericht in Robe aufzutreten, nicht außer Verhältnis steht zu dem damit verfolgten Zweck. 47 48 49 50
BVerfGE 65, 116 (125); Jarass/Pieroth (Fn 20) Art. 12 GG Rn 32. Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer in BVerfGE 28, 21 (26). BVerfGE 28, 21 (32). OLG Braunschweig NJW 1995, 2113 (2114).
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Weniger Gnade findet hingegen m.E. die Pflicht des Krawattentragens. Insoweit ist es nicht nur die völlige Unbestimmtheit, die mich zu einer Ablehnung derartiger Pflichten motiviert,51 vielmehr sehe ich auch unlösbare Probleme, solche den Anwalt belastenden Maßnahmen irgendwie sinnvoll zu begründen. Die dargestellten Erwägungen zur Visualisierung der Organstellung und Institutionalisierung des Rechtsanwaltes halte ich in Bezug auf die Robe für zwar grenzwertig, aber immerhin für noch vertretbar. Einen „zumindest mittelbaren Nutzen für Rechts- und Wahrheitsfindung“ 52 aus der Pflicht zum Tragen von Hemd und Krawatte herleiten zu wollen, erscheint mir jedoch völlig absurd. Mangels anderweitiger plausibler „Erwägungen des Gemeinwohls“, die eine Hemd- und Krawattenpflicht zu rechtfertigen vermögen, wäre die Auferlegung einer solchen Pflicht ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit der Rechtsanwälte.
III. Rechtsfolge des Verstoßes: die sog. „Zurückweisung“ Wie in dem eingangs dargestellten Sachverhalt, der dem OLG München zur Entscheidung vorlag, wird auch in den meisten vergleichbaren Situationen 53 auf den Verstoß gegen die Pflicht zur Amtstracht (Robe und Krawatte) von richterlicher Seite mit einer „Zurückweisung“ des Anwalts reagiert. Zwar findet sich die Rechtsfolge der „Zurückweisung“ für Verteidiger bzw. Anwälte z.B. in § 146a StPO und § 156 Abs. 2 BRAO; in diesen Vorschriften wird jedoch nicht direkt an das Verhalten des Rechtsanwalts in der Sitzung angeknüpft. Vielmehr setzt § 156 Abs. 2 BRAO bereits die Verhängung eines Berufs- oder Vertretungsverbots nach §§ 150 ff BRAO voraus, während sich § 146a StPO zur Durchsetzung des Verbots der Mehrfachverteidigung und des Verbots der Vertretung durch mehr als drei Wahlverteidiger nur an der Verteidiger- bzw. Mandantenzahl orientiert. Auf diese Normen kann somit hinsichtlich der Zurückweisung eines Verteidigers ohne Robe durch den Gerichtsvorsitzenden unmöglich zurückgegriffen werden. Folglich stellt sich wiederum zunächst die Frage nach der Rechtsgrundlage einer „Zurückweisung“, bevor ihre Rechtmäßigkeit im Einzelfall beurteilt werden kann. Hierzu empfiehlt es sich, in einem ersten Schritt den inhaltlichen Umfang der Maßnahme anhand der gerichtlichen Praxis in Abgrenzung zu vergleichbaren Maßnahmen der StPO und des GVG zu bestimmen. Auf dieser Basis lassen sich dann Rechtsgrundlage und Grenzen der „Zurückweisung“ ermitteln. 51
OLG Braunschweig NJW 1995, 2113 (2114). BVerfGE 28, 21 (32). 53 Vgl. z.B. die den folgenden Entscheidungen zugrunde liegenden Sachverhalte: BVerfGE 28, 21 ff; 34, 138 f; BGHSt 27, 34 ff; OLG Celle StraFO 2002, 355; KG JR 1977, 172; OLG Karlsruhe NJW 1977, 309. 52
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1. Inhaltliche Annäherung an die „Zurückweisung“ Obwohl sich das BVerfG in der oben bereits erwähnten Leitentscheidung vom 18.2.1970 54 sehr eingehend mit der Herleitung der Pflicht zur Amtstracht befasst, beschäftigt es sich nur ansatzweise mit den daraufhin verhängten Maßnahmen. Insoweit stellt es im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung lediglich fest, die Berufsausübung des Beschwerdeführers außerhalb der Gerichtssitzung würde nicht berührt. Im Übrigen bliebe es dem Rechtsanwalt unbenommen, durch Änderung seines Verhaltens jede weitere Maßnahme dieser Art entbehrlich zu machen.55 Aus diesen Ausführungen lassen sich mittelbar Schlüsse über die Natur der Zurückweisung ziehen: Anders als der Verteidigerausschluss nach § 138a ff StPO, der zur Aufhebung der Verteidigerstellung für das gesamte weitere Verfahren führt,56 bleibt der zurückgewiesene Anwalt offenbar Verteidiger und kann außerhalb der Gerichtssitzung (z.B. in Schriftsätzen) auch ohne Robe als solcher weiter tätig werden. Ebenso argumentiert das OLG Karlsruhe,57 wenn es darauf hinweist, dass es sich um keine Ausschließung des Verteidigers handele und dass der Rechtsanwalt durch die Zurückweisung keineswegs seine Stellung als Verteidiger des Angeklagten verloren habe. Zutreffend können wir daraus entnehmen, dass für den Verteidiger im laufenden Verfahren jederzeit die Möglichkeit besteht, wieder in der Hauptverhandlung aufzutreten, sofern er die erforderliche Kleidung trägt – und zwar ohne dass dafür wie bei § 138a Abs. 3 StPO ein Beschluss erforderlich wäre. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass eine Zurückweisung als Prozessbevollmächtigter nur für einen einzelnen Verhandlungstermin erfolgt. Somit gehen die Wirkungen der Zurückweisung deutlich weniger weit als die des Ausschlusses. Fraglich bleibt jedoch noch der Status des Verteidigers während des Verhandlungstermins, für den er zurückgewiesen wurde. Insoweit kann u.U. ein Beschluss des KG Aufschluss bringen, welcher – soweit ersichtlich – die erste veröffentlichte Entscheidung auf dem Gebiet der Maßnahmen gegen Verteidiger ohne Robe darstellt. Zwar ist hier noch nicht ausdrücklich von einer „Zurückweisung“ die Rede, die Umschreibung als „Nichtzulassung des Rechtsanwalts als Verteidiger in den öffentlichen Sitzungen des Gerichts“,58 der die Verteidigung außerhalb der Hauptverhandlung durchaus weiterführen könne und dem die Teilnahme an den zukünftigen Sitzungen als Verteidiger offen bleibe, sofern er sich entschließe, die Robe anzulegen, lässt jedoch stark vermuten, dass es sich inhaltlich um eine „Zurückweisung“ handelt. Nach der Zurückweisung – so erörtert das KG – könne das Gericht 54 55 56 57 58
BVerfGE 28, 21 ff. BVerfGE 28, 21 (35). Karlsruher Kommentar-Laufhütte (Fn 17) § 138a Rn 4 f. OLG Karlsruhe NJW 1977, 309. KG NJW 1970, 482 (484).
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dem Rechtsanwalt nicht nur verbieten, Erklärungen abzugeben und Fragen zu stellen. Der Verteidiger sei vielmehr lediglich noch Zuhörer, der der Verhandlung nur als solcher beiwohnen dürfe. Störe er die weitere Verhandlung, so könnten gegen ihn Maßnahmen nach §§ 177, 178 StPO ergriffen werden.59 D.h. der Verteidiger verliert im Rahmen einer Zurückweisung das Recht, in der Verhandlung für den Mandanten zu sprechen und wohnt der weiteren Sitzung lediglich noch als Zuhörer bei. Diese Lösung wirft nun aber neue Probleme auf. Wenn wir zu Recht davon ausgehen, dass der Verteidiger – wie dargestellt – durch die Zurückweisung seine eigentliche Verteidigerstellung gerade nicht verliert, sondern dass er für die Dauer seiner Weigerung nur verhindert ist, als Prozessbevollmächtigter aufzutreten, so gilt auch für ihn das, was wir heute nicht mehr in Frage stellen sollten und was spätestens mit dem Aufsehen erregenden Beschluss des OLG Hamm 60 aus dem Jahre 2003 endgültig in das Allgemeinbewusstsein übergegangen sein dürfte, dass nämlich die Festsetzung von Ordnungsmitteln gegen einen Verteidiger nach den §§ 177, 178 GVG unzulässig ist. Damit wurde der früher teilweise vertretenen Gegenansicht,61 die eine Verwirkung der Verteidigerrechte bei extremem Fehlverhalten annahm, und in diesem Fall eine (gewaltsame) Entfernung aus dem Sitzungssaal gem. § 177 GVG befürwortete, endgültig eine Absage erteilt. Nichts anderes kann jedoch für einen vorübergehend „zurückgewiesenen“ Verteidiger gelten, solange er die Verteidigerstellung als solche noch innehat. Sieht man also von demnach unzulässigen Anschlussmaßnahmen nach §§ 177, 178 GVG ab, so lässt sich die „Zurückweisung“ als Maßnahme definieren, die den Verteidiger für die Dauer seiner Weigerung, vor Gericht in Robe aufzutreten, als Prozessbevollmächtigten von der Hauptverhandlung ausschließt. Selbiger darf der Verteidiger weiterhin als Zuhörer beiwohnen. Außerhalb der Sitzung ist er durch die Zurückweisung nicht in seiner Stellung als Verteidiger beeinträchtigt. 2. Die Frage nach Rechtsgrundlage und Verhältnismäßigkeit der Maßnahme Nachdem wir uns also inhaltlich zugunsten einer Maßnahme ausgesprochen haben, die man am besten als „Zurückweisung“ charakterisieren sollte, müssen wir nunmehr noch nach der eigentlichen Rechtsgrundlage forschen. Eine solche ist schon deshalb erforderlich, weil die Maßnahme 59 KG NJW 1970, 482 (484); so auch Greiser/Artkämper Die gestörte Hauptverhandlung (Fn 45) Rn 132. 60 OLG Hamm JZ 2004, 205 ff mit Anm. Jahn: Hier wurde die gewaltsame Entfernung eines Verteidigers aus dem Sitzungssaal (§ 177 GVG) die Verhängung einer Ordnungshaft von einem Tag gegen selbigen (§ 188 GVG) für unzulässig erklärt. Vgl. auch den Bericht des betroffenen Strafverteidigers Nobis StraFO 2003, 257 f. 61 BGH NJW 1977, 437; OLG Hamm JMBl. NW 1980, 215; Malmendier NJW 1997, 227 (232 ff).
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sowohl in die Berufsausübungsfreiheit des Verteidigers (während der Sitzung) eingreift als auch in das Recht des Beschuldigten 62 auf ein rechtsstaatliches, faires Verfahren. Dieser verfassungsmäßig verbürgte Anspruch umfasst nämlich das Beschuldigtenrecht, sich im Strafverfahren von einem Rechtsanwalt seines Vertrauens verteidigen zu lassen.63 § 137 Abs. 1 Satz 1 StPO muss insoweit als Konkretisierung des Art. 6 Abs. 3c) 2. Halbsatz EMRK verstanden werden.64 Ein Rückgriff auf vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht als Rechtsgrundlage – wie bei der Amtstracht – bleibt in diesem Fall jedenfalls verwehrt: Zwar lässt das BVerfG in seiner Leitentscheidung 65 zur Robenpflicht die Frage der Rechtsgrundlage einer Zurückweisung offen. Dennoch findet sich in der Entscheidung die Bemerkung, dass ein mit gleicher Bestimmtheit präzisierter Satz des Gewohnheitsrechts (wie iRd Amtstracht), für die Frage, mit welchen Reaktionen das Prozessgericht einer Nichtbefolgung zu begegnen habe, nicht festzustellen sei.66 Die „Unterschlagung“ einer anderweitigen Rechtsgrundlage durch das BVerfG erstaunt, weil sich die hierzu eingeholten Stellungnahmen des Bundesjustizministeriums 67 und der Bundesrechtsanwaltskammer 68 beide eingehend mit der vom OLG Karlsruhe in der Vorinstanz angegebenen Rechtsgrundlage auseinandersetzen. Gestützt wurde das Vorgehen auf § 176 GVG, wonach die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung dem Vorsitzenden obliegt. Auch im überwiegenden Teil der Literatur 69 und sonstigen Rechtsprechung 70 wird im Zusammenhang mit einer Zurückweisung auf diese Norm verwiesen. Ihre Heranziehung für den Fall eines Verteidigers, der sich weigert, vor Gericht mit Amtstracht aufzutreten, ist jedoch nicht unumstritten 71 und muss folglich hinterfragt werden. 62 Bezogen auf das Zivilverfahren kommt eine Beschränkung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) der betroffenen Partei in Betracht. 63 BVerGE 66, 313 (319); 68, 237 (255); Löwe-Rosenberg-Lüderssen (Fn 5) § 137 StPO Rn 2. 64 Löwe-Rosenberg-Lüderssen (Fn 5) § 137 StPO Rn 2. 65 BVerfGE 28, 21 ff. 66 BVerfGE 28, 21 (35). 67 BVerfGE 28, 21 (24). 68 BVerfGE 28, 21 (27). 69 Burhoff Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 5. Aufl. 2007, Rn 865; Eric Danners Sicherung des Verfahrensablaufs, 1999, S. 132 ff; Greiser/Artkämper Die gestörte Hauptverhandlung (Fn 45) Rn 132; Karlsruher Kommentar-Diemer (Fn 17) § 176 GVG Rn 4; Meyer-Goßner (Fn 5) § 176 GVG Rn 11; Pfeiffer Strafprozessordnung, 5. Aufl. 2005, § 176 GVG Rn 1. 70 OLG Braunschweig NJW 1995, 2113; OLG Karlruhe NJW 1977, 309; OLG München NJW 2006, 3079 f. 71 Zweifelnd z.B. Gröner Strafverteidiger (Fn 17) S. 129 ff, Kissel/Mayer Gerichtsverfassungsgesetz, 4. Aufl. 2005, § 176 GVG Rn 20; Sören Kramer Zurückweisung von Rechtsanwälten, 2000, S. 122 ff; Löwe-Rosenberg-Wickern (Fn 5) § 176 GVG Rn 17; Münchner Kommentar zur ZPO-Wolf, 2. Aufl. 2001, § 176 GVG Rn 12.
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a) Zurückweisung nach § 176 GVG § 176 GVG enthält nicht nur eine Zuständigkeitsvorschrift, sondern die Rechtsgrundlage für die Sitzungspolizei. Sie bezweckt die Wahrung der Ordnung in der Sitzung und ermächtigt zu den Maßnahmen, die erforderlich sind, um den störungsfreien und gesetzmäßigen Ablauf der Sitzung zu sichern. Die in Betracht kommenden und zulässigen Anordnungen sind vielgestaltig und ergeben sich aus der jeweiligen Situation.72 Erster Ansatzpunkt der Kritiker einer Lösung über § 176 GVG ist bereits das Fehlen der dafür erforderlichen „Störung der äußeren Sitzungsordnung“. Schließlich handle es sich lediglich um einen Verteidiger ohne Amtstracht. Kissel/Mayer 73 zufolge gehört die Pflicht zum Tragen der Robe allein dem Standesrecht und nicht dem Verfahrensrecht an. Ihre Erfüllung habe deshalb auf die Ordnungsgemäßheit der Verhandlung im originären Sinne keinen unmittelbaren Einfluss. Ähnlich lässt sich die Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer 74 vor dem BVerfG verstehen, dass das bloße Auftreten ohne Robe den geordneten Verfahrensablauf nicht hindere. Es handle sich lediglich um einen vom Ehrengericht zu ahndenden Verstoß gegen eine Berufspflicht. Das Prozessgericht sei daher nicht einmal befugt, ein Verhalten des Rechtsanwaltes im Prozess als standeswidrig zu rügen. Betrachtet man hingegen den im Rahmen der Verhältnismäßigkeit ermittelten Sinn und Zweck der Robenpflicht, deren Existenz sich überhaupt nur aus verfahrensrechtlichen Gesichtpunkten rechtfertigen lässt, kann jedoch mit ebenso guten Argumenten ein verfahrensrechtlicher Bezug zur Sitzungsordnung hergestellt werden. Es entfiele mit der Weigerung, eine Robe zu tragen, deren „mittelbarer Beitrag zur Rechts- und Wahrheitsfindung“ im Prozess. Jedenfalls würde die Weigerung einen Verstoß gegen geltendes (Verfahrens-)Recht darstellen.75 Folgt man diesem Gedanken, so müsste zumindest eine auf § 176 GVG gestützte Rüge bzw. Ermahnung durch den Vorsitzenden bezüglich der fehlenden Robe als zulässig erachtet werden. Kramer 76 nimmt bzgl. des Störungsbegriffs iRd § 176 GVG eine differenzierende Position ein: Um die äußere Ordnung der Sitzung zu stören, sei zumindest ein Verhalten des Rechtsanwalts notwendig, das die Verständigung innerhalb der Verhandlung zu vereiteln geeignet sei oder die Ausübung einer ungestörten Rechtspflege hindere. Entscheidend könne demzufolge nicht sein, ob die Robe als Symbol der verfahrensrechtlichen Funktion in ordnungsgemäßer Weise geführt werde. Vielmehr komme es darauf an, ob die Funktion
72 73 74 75 76
Karlsruher Kommentar-Diemer (Fn 17) § 176 GVG Rn 1. Kissel/Mayer Gerichtsverfassungsgesetz (Fn 70) § 176 GVG Rn 20. BVerfGE 28, 21 (27). Danners Sicherung des Verfahrensablaufs (Fn 31) S. 130 f. Kramer Zurückweisung von Rechtsanwälten (Fn 70) 2000, S. 124 f.
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selber ihrem Inhalt nach wahrgenommen werde. Insoweit müsste also auf den Einzelfall abgestellt werden. Allein die Weigerung des Anwalts, in Robe zu verhandeln, könne jedoch keine Zurückweisung begründen.77 Hingegen kann die formale Kritik, es handle sich bei der Zurückweisung schon um keine Maßnahme nach § 176 GVG, weil in den meisten Fällen ein Gerichtsbeschluss statt einer Verfügung des Vorsitzenden vorliege,78 nicht greifen. Insoweit wird ganz herrschend vertreten, dass es auf die Gültigkeit der Maßnahmen nicht von Einfluss sei, wenn statt des Vorsitzenden das ganze Kollegialgericht gehandelt habe.79 Schließlich wird der Beschluss des Kollegiums durch die Stimme des Vorsitzenden mitgetragen. Außerdem soll die vorgenommene Zuständigkeitsaufteilung in § 176 GVG nur eine Erleichterung der Ausübung der Sitzungspolizei bewirken. §§ 177, 178 GVG zeigen, dass sensiblere Entscheidungen in diesem Bereich gerade vom Kollegialorgan getroffen werden. Gröner 80 weist in diesem Zusammenhang noch auf den praktischen Aspekt hin, dass sich der Vorsitzende bei einer Entscheidung dieser Dimension natürlich gerne durch einen Beschluss des gesamten Kollegiums absichern möchte. Folglich kann diese Kritik die Heranziehung des § 176 GVG zur Zurückweisung eines Verteidigers ohne Robe nicht disqualifizieren. Als sehr viel gewichtiger ist der Einwand zu beurteilen, der Rückgriff auf § 176 GVG sei durch andere Normen gesperrt, die insoweit eine abschließende Regelung darstellten. In erster Linie wird hier auf §§ 177, 178 GVG verwiesen.81 Zwar ist den Verfechtern der Anwendung von § 176 GVG zuzugeben, dass eine Zurückweisung offensichtlich einen weniger tief greifenden Eingriff als insbesondere die Entfernung aus dem Sitzungssaal darstellt. Dient die Zurückweisung – wie nach der bereits 82 dargelegten Rechtsprechung des KG – jedoch dazu, den Verteidiger auf Umwegen doch den §§ 177, 178 GVG iRv Anschlussmaßnahmen zu unterwerfen, so liegt hierin eine klare Umgehung des Verbots, §§ 177, 178 GVG auf Rechtsanwälte anzuwenden. Dieses besteht nicht erst seit das OLG Hamm 83 entsprechende Maßnahmen für unzulässig erklärte, sondern muss seit Streichung des § 180 GVG a.F., der die Ahndung einer Ungebühr vor Gericht speziell für Rechtsanwälte vorsah, im Jahr 1921 aus der Nichterwähnung des Anwalts in den §§ 177, 178 GVG geschlossen werden.84 77
So auch im Ergebnis: Beulke Der Verteidiger (Fn 5) S. 232. Sälzer JZ 1970, 572. 79 Karlsruher Kommentar-Diemer (Fn 17) § 176 GVG Rn 6; Kissel/Meyer (Fn 70) § 176 GVG Rn 6; Müko-Wolf (Fn 70) § 176 GVG Rn 2; OLG Karlsruhe NJW 1977, 309 (311). 80 Gröner Strafverteidiger (Fn 17) S. 123 f. 81 Gröner Strafverteidiger (Fn 17) S. 129 f; Müko-Wolf (Fn 70) § 176 GVG Rn 12 aE; Sälzer JZ 1970, 572. 82 KG NJW 1970, 482. 83 JZ 2004, 205 ff mit Anm. Jahn. 84 Vgl. hierzu Beulke Der Verteidiger (Fn 5) S. 221 f; Jahn NStZ 1998, 389 (391 f). 78
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Doch auch, wenn man entsprechende Anschlussmaßnahmen außer Betracht lässt, und sich allein auf die Maßnahme der „Zurückweisung“ konzentriert, bleibt ihre Nähe zum Vorgehen nach §§ 177, 178 GVG insofern bestehen, als sie einen „Ungehorsam“ des Rechtsanwalts ahnden will. Dies erkannte auch das OLG Celle in seinem Beschluss 85 vom 19.7.2002. Hier hatte der die Zurückweisung vornehmende Bußgeldrichter keine Rechtsgrundlage für sein Handeln genannt. Das OLG las jedoch in der Begründung der Maßnahme, im unterbliebenen Anlegen einer Krawatte sei ein ungebührliches Auftreten vor Gericht zu sehen, eine Bezugnahme auf § 178 GVG – nicht auf § 176 GVG. Denn § 178 GVG stelle die Rechtsgrundlage für die Ahndung ungebührlichen Verhaltens in der Hauptverhandlung dar.86 Dementsprechend erklärte es die Maßnahme für unzulässig. In einem vorangegangenen Beschluss in derselben Sache hatte der Bußgeldrichter sogar eine „Missachtung der Würde des Gerichts“ für eine Zurückweisung herangezogen. Hieraus wird ersichtlich, wie gefährlich nahe die Maßnahme der Zurückweisung der dem deutschen Recht fremden „contempt-of-court“Doktrin des anglo-amerikanischen Rechtsraums kommt.87 Neben §§ 177, 178 GVG wird auch eine mögliche Sperrwirkung der §§ 138a ff StPO, die den Verteidigerausschluss normieren, diskutiert. Zwar geht die „Zurückweisung“ in ihrer Wirkung – wie bereits festgestellt wurde – deutlich weniger weit als ein Ausschluss. Zumindest hinsichtlich der mündlichen Verhandlung sind die Folgen beider Maßnahmen aber de facto gleich. Diese Problematik eröffnete sich scheinbar auch dem OLG Karlsruhe 88 bei der Beurteilung einer Beschwerde gegen eine Verteidiger-Zurückweisung. Das Gericht löste die Frage wenig überzeugend mit dem Hinweis, es sei nicht entscheidend auf die „Zurückweisung“ zurückzuführen, dass es dem Angeklagten tatsächlich unmöglich gemacht werde, sich von dem gewählten Rechtsanwalt verteidigen zu lassen, sondern auf die Weigerung des Rechtsanwalts, in Amtstracht aufzutreten. Ebenso gut könnte man sagen, nicht der Ausschluss nach §§ 138a ff StPO sei Grund dafür, dass der Verteidiger nicht mehr als solcher für den Mandanten handeln dürfe, sondern dessen den Ausschluss nach § 138a Abs. 1, 2 StPO begründendes Verhalten. Es handelt sich insoweit offensichtlich um ein Scheinargument. Im Ergebnis reicht die Zurückweisung zwar weniger weit als der Ausschluss; Regelungsbereich und Rechtsfolgen weisen jedoch erhebliche Überschneidungen auf. Bedenkt man nun die hohen Hürden, die für ein Aus-
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StraFo 2002, 355. Vgl. auch Sälzer JZ 1970, 572, wonach Maßnahmen nach § 176 GVG objektbezogen auf Beseitigung einer Störung gerichtet seien, während §§ 177, 178 GVG zu personenbezogenen Maßnahmen ermächtigten. 87 Vgl. hierzu näher Beulke Der Verteidiger (Fn 5) S. 220 ff. 88 NJW 1977, 309 (311). 86
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schlussverfahren in Form des abschließenden Katalogs des § 138a Abs. 1 StPO gesetzt werden sowie die besondere Regelung der Zuständigkeit eines Oberlandesgerichts oder sogar des BGH nach § 138c Abs. 1 StPO, so muss im Hinblick auf den krassen Gegensatz zu gänzlich unbestimmten Voraussetzungen einer Zurückweisung durch den Vorsitzenden angenommen werden, dass bereits die teilweise Übereinstimmung der Regelungsbereiche den Rückgriff auf § 176 GVG verbietet, um der Umgehungsgefahr der hohen Anforderungen in §§ 138a ff StPO vorzubeugen.89 b) Verhältnismäßigkeit der Zurückweisung bei Verstoß gegen die Robenpflicht Sollte man demgegenüber trotz all dieser Einwände zu dem Ergebnis kommen, dass § 176 GVG grundsätzlich doch noch geeignet ist, die Zurückweisung eines Verteidigers ohne Amtstracht zu rechtfertigen, so stellt sich die Maßnahme m.E. jedenfalls als unverhältnismäßig dar. Das Missverhältnis zwischen Anlass (Verweigerung der Amtstracht) und Folgen (Verlust des Rechts, als Prozessbevollmächtigter vor Gericht auftreten zu dürfen) ist evident. Darüber kann auch die Erwägung des BVerfG 90 nicht hinwegtäuschen, dass die Berufsausübung der zurückgewiesenen Rechtsanwälte außerhalb der Gerichtssitzung nicht berührt würde. Gerade für Strafverteidiger bildet die mündliche Verhandlung einen elementaren Bereich ihrer anwaltlichen Tätigkeit. Ebenso wenig vermag der weitere Versuch zur Abschwächung des Eingriffs zu überzeugen, es bliebe dem Rechtsanwalt ja unbenommen, durch Änderung seines Verhaltens jede weitere Maßnahme dieser Art entbehrlich zu machen. Zu Recht kommentiert Sälzer dieses Argument folgendermaßen: „Wollte man mit der Einstellung, die sich hinter der Aufforderung verbirgt, Ernst machen, so würde man zweckmäßigerweise uneinsichtigen, eine Änderung ihres Verhaltens ablehnenden Personen keine Rechtsmittel zur Verfügung stellen, sondern gegen sie mit willensbeugenden Maßnahmen vorgehen.“ 91 Nur weil ein unzulässiger Eingriff durch pflichtgemäßes Verhalten abgewendet werden kann, wird er hierdurch nicht weniger unzulässig. Es darf nicht aus dem Blickfeld geraten, dass nicht nur die Berufsausübungsfreiheit des Anwalts beeinträchtigt wird, sondern auch das aus Art. 20 Abs. 3 und Art. 103 Abs. 1 GG folgende Recht des Beschuldigten, „jederzeit die Möglichkeit einer geordneten und effektiven Verteidigung“ 92 zu haben. Der Mandant wird u.U. überraschend damit konfrontiert, dass sein Verteidiger nicht für ihn sprechen kann, und er muss sich im Falle einer notwendigen 89 90 91 92
Vgl. hierzu ausführlich Gröner Strafverteidiger (Fn 17) S. 130 f. BVerfGE 28, 21 (35). Sälzer JZ 1970, 572 (573). BGHSt 44, 46 (49).
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Verteidigung stattdessen einen daneben bestellten (vielleicht unvorbereiteten) Pflichtverteidiger gefallen lassen oder er bleibt, wenn keine notwendige Verteidigung vorliegt und die Verhandlung nicht unterbrochen wird, sogar ohne postulationsfähigen Rechtsbeistand. Wollen die Gerichte wirklich allen Ernstes behaupten, dass diese Folgen der Zurückweisung wirklich noch in einem angemessenen Verhältnis zum Zweck der Maßnahme, der Durchsetzung der Robenpflicht stehen? Das BVerfG 93 bejahte diese Frage. Es sei dem Gericht aufgetragen, einen dem geltenden Recht entsprechenden Ablauf der Gerichtsverhandlung sicher zu stellen. Folglich müsse es das Verhalten des Beschwerdeführers nicht reaktionslos hinnehmen. Ein weniger einschneidendes Mittel habe dem Landgericht nicht zu Gebote gestanden. Dem Verweis auf ein standesrechtliches Verfahren wird das Beschleunigungsgebot entgegengehalten, das schließlich im Interesse aller Beteiligten läge. Auch Danners 94 hält die Zurückweisung des Verteidigers für geeignet und vor allem erforderlich, weil nur so die Robenpflicht effektiv durchzusetzen sei. Dem ist zunächst entsprechend der geläufigen Redensart entgegenzuhalten, dass der Zweck allein die Mittel nicht heiligt. Selbst bei Erforderlichkeit der Maßnahme, d.h. wenn kein milderes, gleich effektives Mittel existierte, bliebe immer noch abschließend zu klären, ob die erforderliche Maßnahme auch angemessen ist (Verhältnismäßigkeit i.e.S.). Insoweit fragt es sich, ob eine Rüge bzw. Ermahnung durch den Vorsitzenden und dessen Anregung berufsrechtlicher Sanktionen gegen den Rechtsanwalt als milderes Mittel nicht ausreichend wäre, um der Robenpflicht genüge zu tun.95 Schließlich identifiziert sich die Mehrheit der Rechtsanwälte noch mit der Robe und dem dahinter stehenden Ideal des „mittelbaren Nutzens zur Rechts- und Wahrheitsfindung“. Dieser breite Konsens wurde in all den Jahren nur von einigen wenigen in Frage gestellt, indem sie das Tragen der Robe verweigerten. Im Übrigen wird aufgrund der Rüge durch den Vorsitzenden wenn nicht der Verteidiger, so doch in vielen Fällen der Mandant aufhorchen. Ein Konfliktkurs schon bevor es tatsächlich um die Sache des Beschuldigten geht, kann nicht in seinem Interesse sein. Folglich wird er den Verteidiger in den meisten Fällen schnell zum Einlenken bewegen oder das Mandat entziehen, sofern es sich (wie größtenteils) um einen Wahlverteidiger handelt.96 Zu einer erheb93
BVerfGE 28, 21 (35). Danners Sicherung des Verfahrensablaufs (Fn 31) S. 133 f. 95 Ebenso: Stellungnahme des Bundesjustizministers in BVerfGE 28, 21 (23); Kissel/Meyer (Fn 70) § 176 GVG Rn 20; Kramer Zurückweisung von Rechtsanwälten (Fn 70) S. 125. 96 Vgl. z.B. den Sachverhalt zu KG NJW 1970, 482 ff: Als die Nebenklägerin erfuhr, dass ihr Prozessbevollmächtigter aufgrund seiner Weigerung, ohne Robe zu erscheinen, gerügt und eine Zurückweisung angedroht worden war, entzog sie ihm postwendend das Mandat und forderte später – als derselbe Rechtsanwalt als Prozessbevollmächtigter eines weiteren Nebenklägers vom Vorsitzenden wiederum mangels Robe zurückgewiesen worden war – sogar seinen Ausschluss, um den ungestörten Fortgang der Verhandlung zu gewährleisten. 94
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lichen Verzögerung, die dem Beschleunigungsgebot zuwiderliefe, käme es schließlich nur, wenn man das Hauptverfahren aussetzen würde, um das Ergebnis eines standesrechtlichen Verfahrens abzuwarten. Solange aber die Verteidigung inhaltlich nicht zu beanstanden ist, so dass dem Beschuldigten keine Beeinträchtigung seiner Rechte durch die Fortführung des Verfahrens droht, erscheint eine Aussetzung desselben jedoch nicht zwingend. Ich bin also der Ansicht, der Verteidiger sollte weiter agieren dürfen und es bleibt dem Gericht unbenommen, die Einleitung standesrechtlicher Maßnahmen bei der Rechtsanwaltskammer einzuleiten. Für die seltenen Fälle der Verteidigung des Beschuldigten durch Hochschullehrer bliebe sogar nur der Appell an die Vernunft des Verteidigers. Ich kann die damit sichtbar werdende Lücke in der Allmacht des Vorsitzenden so dramatisch nicht finden. Gewiss würde der Verteidiger dann de facto in diesem Verfahren ohne Robe bzw. ohne Langbinder verhandeln; d.h. die Robenpflicht mutierte zur nicht erzwingbaren Obliegenheit, deren Befolgung durch den Verteidiger hauptsächlich Gebot des eigenen Interesses wäre – um standesrechtliche Ahndung zu vermeiden. Inzwischen wird aber auch gelegentlich von Richtern berichtet, die ohne Robe verhandeln.97 Kissel/Mayer 98 geben insofern zu bedenken, dass niemand vor einem (pflichtwidrig) ohne Robe erscheinenden Richter die Einlassung verweigern kann; folglich könne eine gleichartige Pflichtwidrigkeit anderer Verfahrensbeteiligter keine qualitativ anderen Folgen haben. Bezüglich des Richters dürfte das wohl unbestreitbar sein. Warum fällt es den Gerichten so schwer, für den Verteidiger Gleiches gelten zu lassen?
IV. Die Lehr von der Geschicht’: Die Robe braucht man – den Langbinder nicht! Und was die „Zurückweisung“ angeht, so sollte eingehend dargestellt worden sein, dass diese im Rahmen der Robenverweigerung – sei es, dass überhaupt jede Robe abgelehnt wird, sei es, dass nur der Langbinder fehlt – kein adäquates Mittel darstellt. Ob es jedoch klug ist und zum Wohl des Mandanten gereicht, den „favor judicis“ 99 leichtfertig bereits bei Wahl der (Berufs-)Kleidung zu verspielen, steht auf einem anderen Blatt geschrieben. Kluge Verteidiger werden sich auch in Zukunft nicht über Robe und Langbinder, sondern über Qualität und Engagement profilieren. Ich bin sicher, dass auch unser Jubilar, dem ich mich über Jahrzehnte – trotz mancher wissenschaftlicher Kontroversen – in höchstem Maße verbunden fühle, zumindest dieser letzten Aussage uneingeschränkt zustimmen wird. Ich wünsche ihm ein langes Leben in ungebrochener Schaffenskraft! 97 98 99
Löwe-Rosenberg-Wickern (Fn 5) § 176 GVG, Rn 17 mwN. Kissel/Meyer (Fn 70) § 176 GVG, Rn 20. Dahs Handbuch (Fn 46) Rn 192 f.
Die „Plausibilitätsrüge“ Hans Dahs I. Die Revision ist für Rainer Hamm immer „ein Thema gewesen“, insbesondere in dem großartigen Werk „Die Revision in Strafsachen“,1 das dem Ziel verpflichtet ist, revisionsrichterliches Denken und Entscheiden (Sarstedt) und Verteidigerkampf gegen tatrichterliche Urteile einer Art revisionsrechtlicher „Kernfusion“ zuzuführen. Eine für alle Zukunft unverändert nutzbare strafprozessuale Energiequelle im Sinne eines definitiven Konsenses konnte daraus aber schon wegen eines beruflichen Charakterzuges nicht werden, den der Verfasser dieser Zeilen bei Rainer Hamm schon sehr früh 2 und später in seiner großen Verteidigerlaufbahn immer wieder bewundert und fasziniert hat: Die mutige, manchmal sogar etwas verschmitzt wirkende Originalität, mit der Rainer Hamm immer bereit und in der Lage war, unkonventionelle, ja provozierende neue Ideen, Thesen und Anträge zu entwickeln und pointiert in die Praxis des Strafprozesses einzuführen. Daran erinnert die Buchpassage, in der er unter dem Aspekt der Leistungsmethode der Revision zwar mit Elementen der Verschmelzung von Revision und Berufung „kokettiert“3 und die „Neigung“ von Revisionsgerichten ausmacht, bei „schwerwiegenden Bedenken“ über die Sachrüge eine problematische Abhilfe zu schaffen.4 Dabei erkennt er durchaus, daß auch die sog. erweiterte Revision letztlich eine Plausibilitätskontrolle in der Art einer „ganzheitlichen Richtigkeitskontrolle mit Rekonstruktionsverbot“ sein könnte.5 Zur Lösung des ihm rechtlich offenbar unbehaglichen Zustandes von Leistungstiefe und Leistungsbreite der Sachrüge entwickelt er ein neues Verständnis der „Unterscheidung zwischen Verfahrensmängeln und sachlich-rechtlichen Fehlern“.6 Wenn diese These bis heute auch noch nicht herrschende Meinung geworden ist, so soll, aufbauend auf seinen Grund-
1 2 3 4 5 6
6. Aufl. 1998 und neuestens NJW 2006, 2084. Vgl. dazu Hamm NJW 2005, 3198. Vgl. Rn 7–10, insbesondere 494. Rn 13, 89. Rn 494, 1153. Rn 15 ff et passim, 272 f.
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überlegungen, hier ein Denkansatz aufgegriffen werden, der mit dem Begriff „Plausibilitätsrüge“ sicher ebenso rechtlich anfechtbar wie praktisch-plastisch richtig verstanden werden kann.
II. Ein notwendig nur sehr kursorischer, exemplarisch-skizzenhafter Blick auf die Entwicklung der Sachrüge in der Revision mag das Anliegen der Abhandlung verdeutlichen und soll erhellen, daß aus einer lange geübten rechtlichen Askese inzwischen ein durchaus wohlgeformter Organismus im revisionsrechtlichen Rechtsleben geworden ist.* Nimmt man – pars pro toto – nur die Kommentierung des § 337 im altehrwürdigen Großkommentar zur StPO von Löwe-Rosenberg in den Blick, sollte das hier verfolgte Anliegen beispielhaft deutlich werden: In der 19.7 und 20. Auflage 8 (1934 und 1958) heißt es zur Sachrüge noch ebenso klar wie apodiktisch, daß die … Würdigung der Beweise „von der Tätigkeit des höheren Richters ausgeschlossen ist“ und die Revision „keinen Raum für einen Angriff auf die Beweiswürdigung“ biete, soweit sie mit der allgemeinen Lebenserfahrung, einem Denk- oder Sprachgesetz oder einer feststehenden Auslegungsregel vereinbar ist. Auf dieser Linie liegt auch die Kommentierung der 21. Aufl. (1963) durch Jagusch,9 wonach … innerhalb jener Grenzen die tatrichterliche Beweiswürdigung „unangreifbar“ ist und „dem Revisionsgericht eigene tatrichterliche Würdigung oder Aktenverwertung untersagt“ ist. K. H. Meyer konzediert dagegen in der 22. Aufl. (1973),10 daß es dem Revisionsgericht zwar verwehrt sei, die Beweiswürdigung des Tatrichters durch seine eigene zu ersetzen, jedoch könne er nachprüfen, „ob der Tatrichter die ihm bei der Beweiswürdigung gesetzten Grenzen erkannt und die Beweisumstände, die er in das Urteil aufgenommen hat, rechtsfehlerfrei gewürdigt“ habe.
* Für ihre wertvolle Mitarbeit danke ich Frau Silvia Reichelt sehr herzlich! 7 § 337 unter 1. 8 Vor § 333. 9 § 337 unter A 1 und G a). 10 § 337 V 2 b.
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Ohne Aufgabe des Ur-Axioms „Nach den Motiven ist diese Würdigung dem Richter erster Instanz ausschließlich überlassen“, macht K. H. Meyer freilich in der 23. Aufl. (1978)11 eine erste vorsichtige Konzession an eine faktische Erweiterung der revisionsrechtlichen Prüfung: „Daß die Revisionsgerichte es nicht mehr … hinnehmen, … macht die Revision übrigens nicht zu einer vom Gesetzgeber nur noch zu legitimierenden ‚erweiterten Revision‘ (wie Fezer – Legitimierung – 55 meint). … Von einer Verselbständigung der ‚Darstellungsprüfung‘, die man neuerdings im Schrifttum feststellen zu können glaubt (Fezer aaO 9; Rieß JR 1976, 311), kann ebenfalls keine Rede sein.“ Unter Bezugnahme auf BGHSt 10, 208, 210 (1957) heißt es 12 zur „Ersetzung“ der Beweiswürdigung: „Die Beweiswürdigung fällt in den Verantwortungsbereich des Tatrichters und kann von dem Revisionsgericht nur in bestimmten Grenzen nachgeprüft werden. … Dem Revisionsgericht ist es verwehrt, auf diese Weise die Beweiswürdigung des Tatrichters durch seine eigene zu ersetzen.“ Es ist wohl das Verdienst von Hanack in der 24. Aufl. (1988),13 die Weiterentwicklung der Prüfungsintensität des Revisionsgerichts14 deutlich und wegweisend angesprochen zu haben. Zwar bestätigt auch er, daß nach den Motiven des Gesetzes die Würdigung der Beweise dem Richter erster Instanz ausschließlich überlassen sei, konstatiert jedoch eine „Intensivierung dieser Prüfungsmethode in der neueren Rechtsprechung, die sehr weit geht“. …15 „Die Ansicht, daß sich so etwas wie eine ‚erweiterte Revision‘ gar nicht entwickelt habe, … wird heute nur noch selten vertreten und erscheint auch nicht mehr überzeugend“.16 Weitergehend erkennt Hanack „das Phänomen als eine richterrechtlich entwickelte zusätzliche Tatsachenrüge eigenständigen Charakters“17
11 12 13 14 15 16 17
§ 337 Rn 100. Vor § 333 Rn 107, 108. Vor § 333 Rn 4. Auch in Anerkennung und Fortführung monographischer Vorarbeiten. AaO Rn 4. AaO Rn 10. AaO.
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und „daß die Beweiswürdigung vornehmlich in den Verantwortungsbereich des Tatrichters fällt und vom Revisionsgericht nur in Grenzen nachgeprüft werden könne, wird von der Rechtsprechung immer wieder betont. Unbeschadet dieses Grundsatzes … hat jedoch die Rechtsprechung die Revisibilität der Beweiswürdigung im Wege der Sachrüge … stark ausgebaut und intensiviert …“.18 Zwar hielten sich die Revisionsgerichte nach wie vor grundsätzlich nicht für berechtigt, die Beweiswürdigung des Tatrichters durch ihre eigene zu „ersetzen“, aber „die so intensiv gewordenen Anforderungen an die Pflicht des Tatrichters, nachprüfbar darzutun, daß eine Beweiswürdigung auf tragfähigen Grundlagen beruht, dürften freilich nur zu oft dazu führen, daß das Revisionsgericht … in Wahrheit doch seine eigene Überzeugung von der richtigen Beweiswürdigung einsetzt. … Die Formulierung von der ‚alleinigen‘ oder ‚ureigenen‘ Aufgabe des Tatrichters wirkt dadurch manchmal reichlich akademisch oder gar widersprüchlich“.19 Daran hat Hanack auch in der 25. Aufl. (2003) festgehalten 20 und ist in der Sache bei seiner schon in der Festschrift für Dünnebier sehr pointierten Formulierung geblieben: „So lesen sich manche Revisionsentscheidungen – bei aller gedrängten Kürze – heute nicht selten wie tatrichterliche Reflektionen über einen vom Vorderrichter festgestellten Sachverhalt.“ 21 In ähnlichem Sinne äußern sich im monographischen Schrifttum auch Jähnke 22 und Rieß 23. Barton spricht 24 von einem „Wandel der Revisionsrechtsprechung“, indem die revisionsrechtliche Kontrolle auf die tatrichterlichen Sachverhaltsfeststellungen ausgedehnt worden sei: „Der Zugriff auf die Beweiswürdigung erfolgt dabei über die sog. Darstellungs- oder Feststellungsrüge“. Weitgehend ist auch die Feststellung von Fezer, 25 des „Vaters“ der „erweiterten Revision“ (1974), der konstatiert, daß sich die Revisionsgerichte mit 18 19 20 21 22 23 24 25
§ 337 Rn 144. AaO Rn 147. Vor § 333 Rn 1 ff, 10 sowie § 337 Rn 147 ff. FS Dünnebier, 1982, S. 301 (304). FS Hanack, 1999, S. 355 ff. FS Hanack, 1999, S. 397 ff. StV 2004, 332 (333). StV 2007, 40.
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der Darstellungsprüfung ein Instrumentarium geschaffen haben, das ihnen eine „umfassende Beurteilung der tatsächlichen Urteilsgründe ermöglicht, (sich) ‚die vom BGH praktizierte Methode der Darstellungsprüfung einer gesetzlichen Erfassung entzieht (und) ‚allgemein verbindliche Maßstäbe für die Anforderungen an die Darstellung der tatsächlichen Feststellungen der Beweiswürdigung nicht entwickelt werden können.“ Diese „allgemein verbindlichen Maßstäbe“ hat in neuerer Zeit vor allem Nack in seiner umfassenden und eindrucksvollen Abhandlung „Revisibilität der Beweiswürdigung“ 26 aufgegriffen und ebenso systematisch wie detailliert auf einer vollständigen Rechtsprechungs-Basis das gesamte Instrumentarium dargestellt, mit dem der Revisionsrichter die Beweiswürdigung in den Urteilsgründen im einzelnen und in ihrer Gesamtheit überprüfen kann – und deshalb auch muß. Der heutige Rechtszustand der revisionsrichterlichen Überprüfung wird naturgemäß primär durch eine Vielzahl von Entscheidungen der Strafsenate des BGH geprägt, die hier i.e. nicht gewürdigt werden können. Deshalb sollen im folgenden auch nur einige neuere, besonders plastisch und beispielhaft erscheinende Judikate in ihren wesentlichen einschlägigen Passagen herausgestellt werden, welche die revisionsrechtliche Hinwendung und Exekutierung der tatrichterlichen Beweiswürdigung anschaulich machen: – BGH, Urt. v. 6.11.1998 – 2 StR 636/97 –: 27 „Die Urteilsgründe sind in diesem Punkt widersprüchlich.“ „… ist zu besorgen, daß das Landgericht dabei von einem unrichtigen Maßstab ausgegangen ist.“ „Bedenken unterliegt die Beweiswürdigung auch insoweit, als das Landgericht meint, … die Strafkammer hat insoweit schon versäumt, die Aussagen der Eheleute F. zusammen mit den Bekundungen der weiteren Zeugen zu würdigen …“ „Die Kammer hat jedoch nicht erwogen, ob …“ „Nicht bedacht ist, daß …“ „Das Gegenteil ist vielmehr der Fall.“ „Vor allem … deuten auf …“ „Gegen … spricht auch, daß …“ 26 27
StV 2002, 510 und StV 2002, 558. StV 1999, 5.
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– BGH, Urt. v. 15.9.2004 – 2 StR 242/04 –: 28 „Das Landgericht hat bei seiner Beweiswürdigung die Anforderungen an die richterliche Überzeugungsbildung überspannt.“ „Die vom Landgericht gezogene Schlußfolgerung, … findet in den festgestellten Indizien keine Stütze.“ „Die Schlußfolgerung beruht mithin nicht auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage; sie erweist sich damit als Annahme oder als bloße Vermutung.“ „Ein solches Verhalten ist bei natürlicher Betrachtungsweise … aber so fernliegend, daß es für eine entsprechende Feststellung konkreter Anknüpfungstatsachen bedurft hätte.“ „Für eine längere Anwesenheit des Angeklagten am späteren Fundort der Leiche spricht zudem, daß …“ „Dies nimmt dem Umstand aber nicht seine in einer Gesamtwürdigung zu berücksichtigende Indizfunktion.“ „Der Umstand, daß die Messerverletzungen mit direktem Tötungsvorsatz und nicht mehr nur mit bedingtem beigebracht wurden, ist entgegen der Auffassung des Landgerichts für die Frage, ob sie noch vom Willen des Angeklagten umfaßt waren, ohne Bedeutung.“ – BGH, Beschl. v. 11.10.2005 – 5 StR 65/05 –: 29 „… hat das Landgericht bei seiner Gesamtwürdigung … nicht hinreichend in den Blick genommen und sich daher wesentlichen Indizien, die gegen ein faktisches Treuhandverhältnis sprechen könnten, verschlossen.“ „Entgegen diesem Ansatz muß vielmehr …“ „Der Senat merkt in diesem Zusammenhang an, daß sich aus Beweisanzeichen, welche durch zulässige Verfahrensrügen ins Revisionsverfahren eingeführt worden sind, sogar Indizien gegen ein den Anforderungen aus BGHSt 49, 317, 337 ff genügendes Treuhandverhältnis herleiten lassen.“ „Diese Wahrunterstellungen und Beweisergebnisse stehen ohne nähere Erörterung im Widerspruch zu der Feststellung einer faktisch vollzogenen Vereinbarungstreuhand und entziehen der dahingehenden Schlußfolgerung des Landgerichts den Boden.“ „Das … versteht sich nicht etwa von selbst.“ 28 NStZ 2002, 261; BGH wistra 2004, 432; zur Abgrenzung von Vermutung und Überzeugung BGH StV 2002, 235 m. N. 29 NStZ 2006, 635 ff.; zur völligen Lösung des Tatrichters von Tatsachen BGH StraFo 2007, 120.
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„Das Landgericht setzt sich mit dieser Frage überhaupt nicht auseinander.“ „Denkbar wäre aber auch …“ „Das bisherige Beweisergebnis läßt den Schluß auf … aber nicht ohne weiteres zu.“ „Das Hauptargument des Landgerichts … ist für sich nicht tragfähig.“ „… beruht dies durchweg auf der Auswertung ganz schwacher Indizien oder gar auf überhaupt nicht belegten Behauptungen.“ „Nicht ausreichend bedacht hat das Landgericht …“ „Es verbietet sich indes, …“ „Zu diesem Punkt beschränkt sich das Landgericht im hier angefochtenen Urteil lediglich auf tatsächlich nicht fundierte Mutmaßungen.“ „… fehlt es an gewichtigen eigenständigen Indizien.“ „Die mangelnde Tragfähigkeit des Rückschlusses auf … wird vor diesem Hintergrund besonders deutlich.“ – BGH, Urt. v. 28.9.2006 – 5 StR 140/06 – (Aufhebung eines Freispruchs): 30 „… muß der Tatrichter im Urteil zunächst diejenigen Tatsachen bezeichnen, die er für erwiesen hält, bevor er in der Beweiswürdigung dartut, aus welchem Grund die Feststellungen nicht ausreichen. Dies hat … so vollständig und genau zu geschehen, daß das Revisionsgericht in der Lage ist nachzuprüfen, ob der Freispruch auf rechtlich bedenkenfreien Erwägungen beruht …“ „Die danach mögliche und gebotene Kontrolle hätte aber eine aus sich heraus verständliche Darstellung … erfordert“ „… Einlassungen des Angeklagten zur Widerlegung von Belastungsindizien ohne kritische Prüfung und ohne jeden Anhaltspunkt aus dem erlangten, auch den Inhalt der Einlassungen betreffenden Beweisergebnis gefolgt“ „… objektive Indizien entgegenstanden“ „… allein der Einlassung des Angeklagten folgend …“ „Diese Häufung von Besonderheiten hätte mit der dazu durchgeführten Beweisaufnahme abgeglichen werden müssen.“ 30
Unv.; vgl. auch BGH NStZ 2007, 538 m. N.
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„Das Landgericht hat bei der Würdigung … nicht bedacht, daß …“ (es folgen Erwägungen des BGH über die fachliche Qualifikation des Angeklagten) „… fehlt es … an der unerläßlichen Gesamtwürdigung“ „Es erscheint indes wenig plausibel, daß … eine derartige Häufung wäre jedenfalls in einem Maße außergewöhnlich, daß solches besonders kritischer Begründung bedürfte.“ Diese wenigen, durchaus selektiven Beispiele mögen belegen, daß der BGH nach seinem heutigen Verständnis der revisionsrechtlichen Kontrolle nicht nur die Vollständigkeit und Fehlerfreiheit der getroffenen Tatsachenfeststellungen überprüft, sondern sich darüber hinaus explizit im einzelnen und in einer Gesamtschau mit der Beweiswürdigung des Tatrichters befaßt und dabei deutlich auch eigene Erwägungen, Argumente und sogar würdigende Überlegungen zur Beurteilung von Beweisergebnissen und Indizien einbringt. Damit „ersetzt“ er zwar nicht die Beweiswürdigung des Tatrichters, führt aber in z.T. erheblichem Maße eigene Würdigungs-Argumente in die „Diskussion“ mit den tatrichterlichen Bewertungen ein, wenn die Ausdeutung der in der Urteilsurkunde niedergelegten Feststellungen ihm nicht überzeugend erscheint.
III. Es ist ein besonderes revisionsrechtliches Phänomen, daß sich die Institution der Verfahrensrüge und der Sachrüge im Laufe der Rechtsgeschichte nahezu gegenläufig entwickelt haben. Während der Weg zur erfolgreichen Verfahrensrüge trotz in vielen Fällen eindeutigen Gesetzeswortlauts durch richterrechtliche Gestaltung immer enger und „steiniger“ geworden ist,31 hat sich die Rechtsprechung zur Sachrüge zu dem an sich wenig aussagestarken § 337 („… daß das Urteil auf einer Verletzung des Gesetzes beruhe.“) immer weiterreichende Kontroll-Strukturen und -Kriterien geschaffen.32 Es ist nicht anzunehmen, daß diese Entwicklung auf Zufällen beruht. Sucht man indes nach einer für diesen Rechts-Wandel maßgebenden fundamentalen rechtsintellektuellen Maxime, so könnte sie vielleicht in folgendem Denkansatz gefunden werden: Der Betroffene soll sein Recht prinzipiell 31 Vgl. dazu Mehle FS Dahs, 2005, S. 381 und als signifikante Beispiele die sog. „Widerspruchslösung“, die Probleme der Urkundenverlesung und ihrer Surrogate, § 257, § 265 – dazu Meyer-Goßner Rn 46 ff –; neuerdings sogar § 268 Abs. 3 Nr. 2 – BGH NStZ 2007, 235 u. NJW 2007, 96 – dies alles in Verbindung mit der „unheiligen Allianz“ zwischen § 344 Abs. 2 S. 2 und der immer weiter ausziselierten Prüfung der Beruhensfrage; i.e. SK-Frisch Vor § 333 Rn 11 ff. 32 Wie insbesondere Nack aaO, nachgewiesen hat.
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vor den Tatgerichten suchen! Dort ist das gesetzliche Plenum, alles an verfahrensrechtlichen und sachlich-rechtlichen Argumenten gegen die Anklage anzubringen und das Gericht auch argumentativ zu überzeugen. Der auf uneingeschränkte Objektivität und den Zweifelssatz in der Sache eingeschworene Richter hat – ausschließlich der Sache verpflichtet – mit intellektueller juristischer Strenge zu urteilen, auch wenn „sein (Bauch-)Gefühl“ oder seine „Erfahrung“ ihm etwas anderes nahelegt.33 Bei keinem Beweisergebnis, keinem Indiz und keiner rechtlichen Frage darf er dem „Ich will aber nicht“ oder „Ich will aber anders“ den Vorzug vor einer ihm vielleicht zu Recht unbehaglichen Beweiswürdigung oder einem Urteil geben, an dem er zwar nach dem objektivierten Ergebnis der Beweisaufnahme nicht vorbeikommt, das ihm aber sozusagen „gegen den Strich“ geht. Entsprechendes gilt auch für jede Verfahrensfrage, z.B. der Unverwertbarkeit einer Aussage, einer Urkunde usw. An diesem vom Gesamtbild des Strafprozesses durchaus getragenen Ideal-Bild des Tat-Richters muß sich dann auch die richtig verstandene Revision orientieren: Sie folgt der Maxime, nur dann einzugreifen, wenn der Tatrichter „urteils-nachweislich“ von den rechtlichen Grund-Vorgaben abgewichen ist. Soweit das „Ich will aber anders“ an die Stelle des Objektiven gesetzt worden ist, drängt es sich auf, das richterliche Verhalten als (objektiv) willkürlich zu kennzeichnen – ein dem Revisionsrecht geläufiger Begriff,34 den die Rechtsprechung zum Verfahrensrecht zu vielen Fragen angesprochen hat.35 Im sachlichen Recht kann es entsprechend der einheitlichen Logik des Rechtssystems nicht anders sein: Rechtsfehlerhaft ist jede Wertung, die nicht durch Tatsachenfeststellungen lückenlos und somit auch einwandfrei abgedeckt ist, sondern z.B. bei genauem Hinsehen auf Vermutungen oder Verdacht beruht oder gegen die eigentlichen (auch rechtlichen) Gesetze der Logik verstößt, z.B. bei Widerspruch, naturwissenschaftlichen Erkenntnissen usw. In summa: Die Revisionsinstanz prüft, ob der Tatrichter von dem vorausgesetzten Bild des (auch gegen sich selbst) streng objektiven Aufklärers und Rechtsanwenders ohne von Rechts wegen anzuerkennenden (und dokumentierten) Grund – mithin „willkürlich“ – abgewichen ist. Darin liegt dann der Rechtsfehler, der revisionsrechtlich nicht (mehr) hingenommen wird. Der Makel der objektiven Willkür wird im Judikat sachlich-rechtlich dadurch offenbar, daß die Urteilsgründe – en gros oder en detail – für den rechtskritischen Leser nicht überzeugend/einleuchtend sind.
33 Treffend Hanack LR25 § 337 Rn 159 mN: „So reicht als Grundlage der Verurteilung nicht, was nur möglich oder naheliegend ist oder seine Grundlage allein im ‚Glauben‘ des Richters hat.“ 34 Vgl. nur die Rechtsprechung zu § 338 Nr. 1. 35 Z.B. BGH StV 2007, 119.
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IV. Die Sachrüge hat sich also von ihrem ursprünglichen Gehalt – der Kontrolle, ob der festgestellte Sachverhalt unter das angewendete Gesetz rechtlich zutreffend subsumiert ist, außerordentlich weit fortentwickelt. Zwar gehört auch die „reine Rechtskontrolle“ nach wie vor zur Aufgabe des Revisionsgerichts, jedoch ist ihr Stellenwert quantitativ gegenüber den Kontrollsystemen für die Tatsachenfeststellungen und die Beweiswürdigung/richterliche Überzeugungsbildung in der Praxis der Rechtsprechung weit zurückgetreten. Die Aufhebung von Urteilen im Schuldspruch beruht heute in größtem Umfang auf der Beanstandung von Rechtsfehlern im Gebäude der Tatsachenfeststellungen und ihrer Bewertung in der Beweiswürdigung = Überzeugungsbildung des Tatrichters. In diesem Prüfungsprozeß „ersetzt“ der Revisionsrichter freilich keineswegs die Würdigung der Beweise des Tatrichters durch eine eigene Beurteilung. Dies ist ihm schon deshalb gar nicht möglich, weil ihm die Beweise nicht realiter „vorgeführt“ werden, sondern er auf ihre schriftliche Darstellung durch den Tatrichter angewiesen ist. Von dieser schriftlichen Darstellung – die für die revisionsrechtliche Kontrolle sozusagen an die Stelle der mündlichen Beweisaufnahme vor dem Tatgericht tritt – wird aber verlangt, daß sie den Revisionsrichter intersubjektiv zu dem Ergebnis führt: „Ja, so kann (– nicht: muß –) man die Ergebnisse der Hauptverhandlung durchaus „nachvollziehbar“ und intellektuell einleuchtend bewerten“.36 Jenseits des ausziselierten Instrumentariums, das der Revision für diese Kontrolle i.e. zur Verfügung steht und von Nack logisch-zwingend zusammengefaßt ist,37 drängt es den um Verständlichkeit und Akzeptanz Bemühten (bei bewußter Zurückhaltung dogmatischen Anspruchs), für die teilweise intellektuell hochkomplizierten Prüfungsmechanismen und die beschriebenen Kontrollinstitutionen einen zusammenfassend-übergeordneten Begriff zu finden, der diesen Kernbereich revisionsrichterlicher Sach-Prüfung komprimiert, veranschaulicht und ungeachtet der gebotenen Untergliederung sein Verständnis (auch für den juristischen Laien) erleichtert. Ist nicht das von Hanack so bezeichnete „Phänomen einer richterrechtlich entwickelten Tatsachenrüge eigenständigen Charakters“ schlicht die „Plausibilität“ der Beweiswürdigung? 38 Ähnlich hat es auch Meyer-Goßner 39 ausgesprochen:
36
Vgl. z.B. BGH NStZ-RR 1999, 301. StV 2002, 510 u. 2002, 558. 38 In dieser Richtung auch Jähnke FS Hanack, 1999, S. 355 ff sowie Rieß FS Hanack, S. 397 (406). 39 StPO, 50. Aufl. 2006, § 337 Rn 26. 37
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„Die Revisionsgerichte haben … in neuerer Zeit ihre Prüfungsbefugnis dahin ausgeweitet, ob die Beweiswürdigung des Tatrichters plausibel – d.h. für das Revisionsgericht nachvollziehbar ist. …“ 40 Auch Meyer-Goßner will also die mangelnde Plausibilität im Interesse der Einzelfallgerechtigkeit ebenfalls als Maßstab für die sachlich-rechtliche Kontrolle ansehen. Mängel in der schriftlichen Dokumentation der Überlegungen des Tatrichters sind Indizien für Würdigungsmängel.41 Daß jedenfalls insoweit die Revision nicht mehr vorrangig zur Wahrung der Rechtsprechungseinheit dient, sondern gleichrangig Mittel zur Garantie einer gerechten Einzelfallentscheidung entsprechend der „Leistungsmethode“ ist, hat Hanack bereits 1982 42 bestätigt und erscheint auch heute dogmatisch „verkraftbar“. Ein solches Bekenntnis zur „Plausibilitätskontrolle“ hat seine ausdrückliche „richterliche Weihe“ schließlich in einer neueren Entscheidung des 5. Strafsenats vom 25.1.2006 43 besonders deutlich gefunden. Es heißt dort: „Diese Variante der Tatbegehung forderte jedoch eine zusätzliche, in die Gesamtwürdigung einzustellende Prüfung heraus, ob es plausibel – oder hingegen eher fernliegend – erscheint, daß sich der Angeklagte …“. Und weiter hebt er ausdrücklich darauf ab, daß die von ihm aufgezeigten „mangelnde(n) Feststellungen für eine Plausibilitätskontrolle“ so relevant waren, daß sie bei der gegebenen sehr problematischen Beweissituation allein zur Aufhebung des Urteils führen mußten. Interessant, daß der Senat dies alles unter den Obersatz stellt, daß „die Prüfung möglicher Entlastungsindizien lückenhaft“ war, obwohl das Landgericht an sich zutreffend eine „Gesamtschau“ des Indizienmaterials vorgenommen hatte. Diese Ausführungen illustrieren in augenfälliger Weise, wie „tief“ das Revisionsgericht zur Kontrolle des Einzelfalls in die Beweiswürdigung „einzusteigen“ bereit ist. Der Oberbegriff „Plausibilität“ (plausibel etymologisch = einleuchtend, begreiflich, Beifall/Zustimmung verdienend) könnte damit bis zu einem gewissen Grade für die Rechtspraxis verständlich als Beschreibung und Klammerbegriff für die vielen Varianten der Einzelprüfung von Beweiswürdigungen dienen. Er enthält bei zutreffendem Verständnis auch die Beschränkung des revisionsrechtlichen „So jedenfalls nicht …“ und reicht nicht in den
40 41 42 43
Vgl. dazu als krasses Beispiel OLG Karlsruhe NStZ-RR 2007, 90. Frisch SK-StPO, 31. Aufl. 2003, § 333 Rn 21. FS Dünnebier, S. 301 (304). NStZ-RR 2006, 212.
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der Revision verschlossenen Bereich hinein, in dem Argumente der Beweiswürdigung des Tatrichters als unplausibel verworfen und durch eine eigene des Revisionsgerichts ersetzt werden (vulgo: „… Der Tatrichter hätte dem Zeugen also glauben müssen“).
V. Es konnte nicht das Anliegen dieser Gedankenskizze sein, die richterrechtlich entwickelte Kontrollbefugnis der Revisionsgerichte in der Sache „voranzubringen“. Das Bemühen galt deshalb nur einer weiteren Verdeutlichung und dem Versuch einer sinngerecht beschreibenden Zusammenfassung und Begrifflichkeit eines zuweilen sehr hochdifferenzierten, filigranen Prüfungssystems. Deshalb mag es auch dahinstehen, ob der Sammelbegriff richtigerweise etwa hätte „Implausibilitätsrüge“ heißen müssen. Die Hauptsache ist, daß keiner unserer Strafverteidiger-Kollegen jetzt auf die Idee kommt, den revisionsrechtlichen Aufhebungsantrag schlicht mit dem Satz zu begründen: „Es wird die Plausibilitätsrüge erhoben“! Das Wohlwollen eines Senats müßte wohl schon sehr groß sein, um darin eine ordnungsgemäß ausgeführte Rüge der Verletzung sachlichen Rechts zu erkennen! Ungeachtet dessen gilt aber: Leges ab omnibus intellegi debent! 44
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„Die Gesetze müssen von allen verstanden werden“ – ein Anliegen, das auch bei vielen prozessualen Publikationen Rainer Hamms durchscheint.
Aussage gegen Aussage – zur Entwicklung der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung und der Aussagepsychologie Rüdiger Deckers I. Einleitung Als Rainer Hamm auf dem VIII. Frühjahrssymposion der Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des DAV seinen Vortrag „Zur Revisibilität der Beweiswürdigung in Fällen von ‚Aussage gegen Aussage‘“ hielt,1 lagen zwei neue Entscheidungen des 1. Strafsenats des BGH 2 vor, die in die amtliche Sammlung aufgenommen waren und nicht zuletzt deshalb hoffen ließen, dass dem Zeugenbeweis allgemein, namentlich aber in besonderen Fallkonstellationen – Aussage gegen Aussage – Teilweise Falschbelastung durch die Justiz kritischer, unparteilicher und mit der notwendigen Skepsis begegnet werde, die als Konsequenz aus empirischen Erkenntnissen – namentlich der Aussagepsychologie – folgt.3 Bender/Wartemann 4 hatten schon 1992 den „Ist-Zustand“ charakterisiert: „Mehr als die Hälfte aller Aussagen ist unzuverlässig. Gefühlsmäßig ist man geneigt, Aussagen – abgesehen von denen des Beschuldigten und der von ihm abhängigen Entlastungszeugen – grundsätzlich für eher zuverlässig zu halten, wenn man keine handfesten Anhaltspunkte dafür hat, dass sie nicht stimmen können. Empirische Untersuchungen und zahllose Tests legen indessen die Vermutung nahe, dass zuverlässige Aussagen eher die Ausnahme sind als die Regel.“ Dass die Erkenntnisse aus der Empirie weiteren Einfluss auf richterliche Beweiswürdigung gewinnen, durfte gerade wegen der schon im Vortrag von
1 Abgedruckt in: StraFo 2000, 253; vgl. zum Thema: Maul StraFo 2000, 257; Sander StV 2000, 45; Maier NStZ 2005, 246; Eisenberg/Zötsch NJW 2003, 3676. 2 BGHSt 44, 153 und 256. 3 Vgl. dazu: Schünemann in: FS Meyer-Goßner, 2001, S. 385. 4 Vernehmung in: Kube/Störzer/Timm (Hrsg.) Kriminalistik Band 1, S. 551 Rn 224.
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Hamm erwähnten Entscheidung des 1. Strafsenats zu den wissenschaftlichen Anforderungen an aussagepsychologische Begutachtungen (Glaubhaftigkeitsgutachten) 5 erwartet werden. Nack 6 hat diese Interdependenz in verschiedenen Publikationen aufgezeigt. Auch die höchstrichterliche Rechtsprechung hat den eingeschlagenen Weg weiter beschritten, ohne allerdings die Qualität einer „Beweisregel“ zu erreichen, wie Hamm sie – als Vision – und möglichen Wortlaut eines § 261 Abs. 2 StPO formuliert hat: „Die Tatsachen, in denen die gesetzlichen Merkmale der Straftat gefunden werden, dürfen so lange nicht als erwiesen festgestellt werden, wie sie nur von einem Zeugen oder einem Mitangeklagten bekundet wurden und keine mindestens indizielle Bestätigung durch andere Beweismittel erfahren haben.“ 7
II. Zur Integration aussagepsychologischer Erkenntnisse in die richterliche Beweiswürdigung Wir können auf eine Vielzahl höchstrichterlicher Entscheidungen zurückblicken, die ganz offensichtlich grundlegende Erkenntnisse der Aussagepsychologie in die richterliche Beweiswürdigung integrieren und Tatgerichte dazu verpflichten, solches zu tun. Beispielhaft sei eine Entscheidung des 5. Strafsenats 8 angeführt: „Von zentraler Bedeutung war, ob das Landgericht die Hypothese ausschließen konnte, dass S. zwar durchaus detailreich ein sonst reales Geschehen schilderte, allerdings mit Details, die er genauso gut als tatsächlich erlebt wiedergeben konnte, wenn A. überhaupt nicht oder anders beteiligt war. Dazu hätte es einer Aussageanalyse bedurft (dazu eingehend BGH StV 1999, 473 mwN) insbesondere im Hinblick auf die Aussageentstehung und die Verflechtung originärer Details gerade mit Handlungen des A.“ Was bedeutet das Erfordernis einer Aussageanalyse für die Gegenüberstellung zweier kontradiktorischer Aussagen? 1. a) Eine Belastungsaussage hat nicht schon deshalb mehr Gewicht, weil sie als Zeugenaussage der strafbewehrten Wahrheitspflicht unterliegt.9 Es 5
BGHSt 45, 164. StraFo 2001, 1; StV 2002, 510 und 558. 7 Hamm aaO S. 257. 8 StV 2000, 243; vgl. dazu auch: BGH StV 2006, 683 – 1 StR 90/06, Belastungszeuge als möglicher Haupttäter. 9 BGH NStZ 2004, 635. 6
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kommt nicht auf formale, sondern auf inhaltliche (aussageanalytische) Prüfkriterien an.10 b) Umgekehrt hat die Aussage des bestreitenden Angeklagten nicht schon wegen dieser formalen Position weniger Gewicht, die es ihm gestattet, die Aussage – auch wahrheitswidrig – zu seinem Vorteil zu gestalten.11 Dabei sind stets seine – in der Konstellation Aussage gegen Aussage – eingeschränkten Verteidigungsmöglichkeiten zu berücksichtigen.12 2. Die inhaltliche Bewertung (Glaubhaftigkeitsbeurteilung) der Aussage hat anhand der methodischen Kriterien der aussagepsychologischen Aussageanalyse stattzufinden, die der Tatrichter kennen und beherrschen muss. Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit einer Aussage mag – in diesem Sinne – ureigene Aufgabe des Strafrichters sein 13 und bleiben, aber die Methode hat sich an den Vorgaben zu orientieren, die die wegleitenden höchstrichterlichen Entscheidungen vorgeben; 14 die wissenschaftlichen Anforderungen an aussagepsychologische Begutachtungen spiegeln sich – sachnotwendig – in den Anforderungen an die Beweiswürdigung zum nämlichen Bewertungsobjekt wider. 3. Wenn auf diese Weise die richterliche Beweiswürdigung die Prüfschritte der wissenschaftlichen Aussageanalyse nachvollziehen muss, bleibt zwar die Möglichkeit erhalten, dass ein Belastungszeuge (Anzeigeerstatter) mit seiner Aussage selbst den Beweis über eine behauptete Straftat führt – was Hamm offensichtlich beklagt 15 –, aber der Beweis kann nur dann aus der Aussage selbst als erbracht angesehen werden, wenn ihr ein – und zwar das untersuchungsgegenständliche – Erlebnisfundament unter Überwindung der Nullund Alternativhypothesen bescheinigt werden kann und ihr weder Fehlerquellen mangelnder Aussagefähigkeit, Autosuggestion, Pseudoerinnerungen, Fremdsuggestionen anhaften. In diesem Sinne rekonstituiert (nur) die wissenschaftliche Aussageanalyse die Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. II MRK.16 Der Nachweis über das behauptete Geschehen kann demnach erst dann als geführt angesehen werden, wenn die Belastungsaussage nach den Kriterien der wissenschaftlichen Aussageanalyse 17 als erlebnisfundiert anzusehen ist und 10 Vgl. BGH StV 1997, 172; Sander aaO S. 46; LR-Gollwitzer § 261 Rn 71; BGH NStZRR 2004, 88. 11 BGH NStZ-RR 2005, 45; 1998, 16; 2000, 334; 2003, 271. 12 BGH StV 2002, 470. 13 BGHSt 3, 52 (53); 8, 130 (131); vgl. Kett-Straub ZStW 117 (2005) 354 (355). 14 BGHSt 45, 164; vgl. auch Maier aaO S. 250; Nack Aussagebeurteilung in: Widmaier (Hrsg.) Strafverteidigung, 2006, S. 1295, 1297; BGH 1 StR 46/02; NStZ 1999, 45. 15 StraFo 2000, 255. 16 Vgl. Volbert/Steller Die Begutachtung der Glaubhaftigkeit, in: Venzlaff/Foerster (Hrsg.) Psychiatrische Begutachtung, 2004, S. 693 (724). 17 Vgl. dazu: Köhnken Glaubwürdigkeitsbegutachtung, in: Widmaier (Hrsg.) Strafverteidigung, 2006, S. 2267, 2273 u. 2281.
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eine höhere Plausibilität, Konsistenz und Schlüssigkeit als die bestreitende Erklärung des Angeklagten für sich reklamieren kann.18 Es erscheint tolerabel, unter diesen Bedingungen auf die Notwendigkeit einer externen Bestätigung der (Belastungs-)aussage zu verzichten.19 4. Allerdings gilt es dabei Folgendes zu bedenken: Die – kunstgerechte – aussagepsychologische Expertise prüft unter der Leitfrage „Könnte dieser Zeuge mit den gegebenen individuellen Voraussetzungen unter den gegebenen Befragungsumständen und unter Berücksichtigung der im konkreten Fall möglichen Einflüsse Dritter diese spezifische Aussage ohne realen Erlebnishintergrund erstatten?“ die Aussagekompetenz der Auskunftsperson einerseits und die Qualität der Aussage andererseits. Unter der Aussagekompetenz werden a) die allgemeine geistige Ausstattung b) die spezifischen Vorkenntnisse (aus Vorerleben, Medien, Erzählungen) über Vorgänge gleicher oder ähnlicher Art wie die untersuchungsgegenständlichen verstanden. Die Qualität der Aussage wird anhand der Realitätskriterien (Realkennzeichen) gemessen, die sich nach Inhalt, Struktur und Konstanz einteilen, wobei ihr Detailreichtum als das wichtigste inhaltliche Kriterium anzusehen ist (farbig, unmittelbar, lebendig, konkret und konsistent).20 Beide Seiten (Kompetenz und Qualität) werden sodann miteinander abgeglichen. Im Grundsatz muss – will der Aussagepsychologe einer Aussage ein Erlebnisfundament zuerkennen – die Qualität der Aussage die Kompetenz der Auskunftsperson übertreffen; denn nur dann kann die Leitfrage hinsichtlich des Erlebnisfundaments positiv beantwortet werden. Die Vernehmung des Zeugen – in foro – zur Sache (§ 69 StPO) erhebt zwar regelmäßig das Aussagematerial und lässt damit eine Bewertung der Qualität zu, aber die dahinter liegende Kompetenz der Auskunftsperson bleibt – im wissenschaftlichen Sinne – regelmäßig verborgen. Dem Richter fehlt also für die Aussageanalyse de lege artis ein wichtiger – oft entscheidender – Parameter. Bei allem Fortschritt, dass die Aussagebeurteilung in der Beweiswürdigung die Methoden und Erkenntnisse der Aussagepsychologie anwenden soll, bleibt dieses Defizit, das sich als fataler beim erwachsenen als beim kindlichen Zeugen erweist.
18 19 20
Vgl. zum Prüfungssatz: Eisenberg JR 2004, 358. Entgegen Hamm aaO. Köhnken aaO.
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Letzteres liegt an der Struktur des aussagepsychologischen Prüfsystems: die kindliche Aussageperson verfügt regelmäßig über eine – relativ – geringe Aussagekompetenz, so dass – bei Erlebnishintergrund – sich die überragenden Qualitätsmerkmale der Aussage leicht finden lassen, hingegen ist beim erwachsenen Zeugen im allgemeinen von einer höheren Aussagekompetenz auszugehen. Die große Zurückhaltung der Tatgerichte, aussagepsychologische Sachverständige überhaupt und insbesondere bei erwachsenen Zeugen heranzuziehen,21 ist daher überdenkenswürdig.22
III. Zur Konstellation „Aussage gegen Aussage“ 1. Die Rechtsprechung zur Konstellation „Aussage gegen Aussage“ kann im Grundsatz als gefestigt angesehen werden. Unter dieser Konstellation sind die Fallgestaltungen zu betrachten, in denen der Darstellung des Tatablaufs durch den Angeklagten eine davon im Kern abweichende Schilderung durch eine andere Aussageperson gegenübersteht, ohne dass ergänzend auf unmittelbar tatbezogene Beweismittel, etwa belastende Indizien zurückgegriffen werden kann.23 In diesen Fällen muss der Tatrichter – im Rahmen einer Gesamtwürdigung – alle Umstände, die die Entscheidung zu beeinflussen geeignet sind, erkennen und in seine Überlegungen einbeziehen. Es besteht eine erhöhte Aufklärungspflicht 24 und die Beweiswürdigung muss besonders sorgfältig ausfallen.25 Schließlich sind an die Darlegung der Urteilsgründe besondere Anforderungen gestellt.26 2. Die Konstellation wird auch als gegeben angesehen, wenn der Angeklagte schweigt 27 – so hat es jedenfalls der 2. Senat judiziert, ohne an das Schweigen weitere Bedingungen zu knüpfen. Der 5. Senat hat das bestätigt,28 allerdings in einem Fall, in dem der Angeklagte „die Tat früher bestritten 21 Vgl. BGH St 45, 164 (182) „Hält der Tatrichter ausnahmsweise die Einholung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens für erforderlich …“. 22 Vgl. zu den empfohlenen Ausnahmen Nack Aussagebeurteilung Rn 24: Suggestive Befragung, divergierende Aussagen, anderweitige Falschbelastung, unterdurchschnittliche Intelligenz, auffällig karge Aussage, mit Rechtsprechungsnachweisen, vgl. auch OLG München StV 2006, 464. 23 Vgl. Sander StV 2000, 45 (46); vgl. BGH StV 2002, 469. 24 BGH NStZ-RR 2003, 205; StV 2002, 350; 2004, 58. 25 BGH NStZ-RR 2003, 49; NStZ 2003, 165. 26 Vgl. nur: BGH StraFo 2005, 510; Sander StV 2000, 45 (47); BVerfG NStZ-RR 2003, 299; Bespr. Herdegen NJW 2003, 3513. 27 Sander aaO S. 46; BGH StV 1998, 250 – 2 StR 591/07. 28 BGH StV 2004, 59 – 5 StR 39/03.
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hat“. Der 3. Strafsenat hat sich gegen das Vorliegen der Konstellation ausgesprochen in einem Fall, in dem der in der Hauptverhandlung schweigende Angeklagte nur im Rahmen einer Exploration bei einem Sachverständigen (§§ 20, 21 StGB) eine bestreitende Erklärung abgegeben hat 29 und Zweifel angemeldet, wenn der Angeklagte in der Hauptverhandlung die bestreitende Erklärung durch den Verteidiger abgeben lässt, die er sich zueigen macht, sie erst im Laufe des 2. Hauptverhandlungstages in Kenntnis des wesentlichen Teils des Beweisergebnisses abgibt, ein Teilgeständnis ablegt und die Belastungsaussage anderweitig zu Teilen Bestätigung erfahren hat.30 In dieser Entscheidung des 3. Senats wird zutreffend darauf abgestellt, dass die Belastungsaussage „in ihrer Gesamtheit“ in den Blick zu nehmen sei, und es versteht sich auch von selbst, dass teilweise geständige Erklärungen des Angeklagten eine externe Bestätigung der Belastungsaussage darstellen. Dass in dieser Entscheidung der vom Verteidiger abgegebenen Erklärung ein geringer Beweiswert beigemessen wird, erscheint allerdings problematisch.31 3. Eine ähnliche Einschränkung, die besonderen Voraussetzungen der Konstellation „Aussage gegen Aussage“ anzunehmen, ist zwei Entscheidungen des 1.32 und des 2.33 Strafsenats zu entnehmen. a) Die Entscheidung des 1. Strafsenats formuliert: „Eine vom Fehlen sonstiger Erkenntnisse gekennzeichnete Konstellation ‚Aussage gegen Aussage‘ (BGH NStZ 2004, 635, 636) liegt nicht vor. Es gibt nämlich eine Reihe von Indizien, die die Kammer in die Würdigung der zentralen Aussage der Geschädigten einbeziehen konnte, wie ihre früheren Offenbarungen gegenüber Dritten, der psychische und physische Zustand der Geschädigten in den Tatzeiträumen und danach sowie die Selbstverletzungen. Dies sind objektive Umstände von Gewicht, die die Kammer für die Richtigkeit der Darstellung des Opfers herangezogen hat. Gleichwohl hat sie die Prüfungskriterien aus der Entscheidung BGHSt 45, 164 angewandt. Sie hat eine umfassende Beweiswürdigung vor genommen.“ Bedenklich ist, dass Indizien, die nicht notwendig unmittelbaren Tatbezug haben, herangezogen werden, um das Vorliegen der besonderen Fallkonstellation abzulehnen. b) So liegt es auch bei dem vom 2. Senat entschiedenen Fall, in dem ergänzend zur einzigen Belastungsaussage lediglich die Schwester der Zeugin „in Randbereichen“ die Aussage „bestätigt“.34 29 30 31 32 33 34
BGH v. 22.3.2005 – 3 StR 47/05. BGH NStZ 2003, 498 – 3 StR 181/02. Vgl. dazu: Eisenberg/Pincus JZ 2003, 397. 1 StR 499/04. NStZ-RR 2003, 268 – 2 StR 486/02. NStZ-RR 2003, 268 (269).
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Der Randbereich bezieht sich – im entschiedenen Fall – darauf, dass die Schwester eine Weile vor der Tat mehrfach vom Angeklagten angerufen worden war und er sich nach der Rückkehr der Zeugin von einer Reise erkundigte und dass die Zeugin unmittelbar nach dem fraglichen Tatgeschehen ihrer Schwester davon berichtete und diese ihr zur Anzeige riet. Die Schwester der Zeugin ist keine Tatzeugin, sie war auch nicht in der Nähe des Tatorts, sie ist – bezogen auf das unmittelbare Tatgeschehen – lediglich Zeugin vom Hörensagen. Nach der Definition von Sander ist die Konstellation „Aussage gegen Aussage“ durch deren Angaben nicht aufgehoben.35 Es versteht sich dabei von selbst, dass der Spontanbericht des fraglichen Opfers nach dem zur Untersuchung stehenden Geschehen für die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage – auch aus aussagepsychologischer Sicht – hochrelevant ist. Es handelt sich offenbar um die Geburtsstunde der Aussage.36 Darin liegt der Stellenwert der Aussage der Zeugin, die den Bericht über das fragliche Geschehen entgegennimmt. Die Annahme der Konstellation „Aussage gegen Aussage“ bleibt davon – nach der Definition – unberührt. Dabei müssen die Aussagen beider Zeuginnen über den Erzählungsinhalt sorgfältig erhoben und miteinander abgeglichen werden. Diese Entscheidungen bemühen sich nicht um Restriktion des Anwendungsbereichs der Konstellation „Aussage gegen Aussage“,37 sondern sie verfehlen die Definition. c) Zutreffend hat der 1. Strafsenat in einer Entscheidung das Vorliegen der Konstellation „Aussage gegen Aussage“ verneint, weil andere – objektive – Indizien (Spermaspur, Zettel mit einer auf die Belastungszeugin bezogenen Notiz des Angeklagten und eine Narbe am Körper der Belastungszeugin, die der Angeklagte nicht kannte, obwohl er eine intime Beziehung mit der Zeugin behauptete) die Belastungsaussage stützten.38 d) In einer Entscheidung des OLG Karlsruhe wurden die besonderen Anforderungen an die Beweiswürdigung auch bejaht, wenn belastende Aussagen einem „Lager“ zuzurechnen sind 39 und die Ausgangslage deshalb der Beweiskonstellation „Aussage gegen Aussage“ nahe kommt. In casu lag das deshalb nahe, weil das Gericht – offensichtlich bei beiden Belastungszeuginnen – von der Unwahrheit eines wesentlichen Aussageteils ausging und deshalb nur unter besonderen Voraussetzungen den Angaben im Übrigen hätte folgen dürfen.40
35
So auch Eisenberg/Zötsch NJW 2003, 3676 (3678). Vgl. dazu schon: BGH StV 1995, 451 u. 563. 37 So aber Maier NStZ 2005, 246 mit Hinweis auf BGH NStZ 2003, 498; NStZ 2004, 635 (636); BGH 2 StR 378/03. 38 BGH NJW 2005, 1519 – 1 StR 498/04. 39 OLG Karlsruhe StraFo 2005, 250. 40 Vgl. BGHSt 44, 153. 36
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IV. Das Erfordernis der äußeren Homogenität (corroboration requirement)41 der Aussage bei „teilweiser Falschbelastung“ Auch die Rechtsprechung zum Erfordernis der äußeren Homogenität der Belastungsaussage, wenn eine teilweise Falschbelastung 42 vorliegt, hat sich gefestigt. Allerdings handelt es sich bei diesen Judikaten – fast ausnahmslos – um solche des 1. Strafsenats. Nur der 2. Strafsenat hat sich – im Grundsatz – diesen Entscheidungen angeschlossen,43 allerdings in einem Fall, in dem er einen „außerhalb der Aussage liegenden gewichtigen Grund“ angenommen hat, der Belastungsaussage trotz teilweiser Falschbelastung zu folgen. Der 2. Senat hob das freisprechende Urteil des Tatgerichts auf die Revision der Staatsanwaltschaft auf, weil es das aussagepsychologische Gutachten, das in der Beweisaufnahme erhoben worden war, nicht als Indiz außerhalb der Aussage der Nebenklägerin gewertet hatte. Soweit der 2. Senat kritisiert, das Tatgericht habe es rechtsfehlerhaft unterlassen, sich mit den vom Sachverständigen aufgezeigten Kriterien zu befassen, die für die Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage der Nebenklägerin sprechen und dem Tatgericht vorhält, es habe „die Funktion des Glaubwürdigkeitsgutachtens verkannt“,44 scheint die Argumentation nicht frei von Tautologie zu sein. Ein aussagepsychologisches Gutachten befasst sich stets – und ausschließlich – mit der aussageimmanenten Glaubhaftigkeitsprüfung. Nur das Aussagematerial der explorierten Aussageperson selbst ist Gegenstand der Untersuchung des Sachverständigen. Wenn der Sachverständige nun in dieser Aussage Glaubhaftigkeitskriterien ausmacht, können diese schwerlich als externe Bestätigung im Sinne von außerhalb der Aussage liegenden gewichtigen Umständen gewertet werden. Es bleibt zu hoffen, dass die Rechtsprechungslinie des 1. Senats, an deren Ursprung Hamms Vortrag angesetzt hat, auch bei den anderen Senaten des Bundesgerichtshofs aufgenommen wird. Eine differenzierte Behandlung der Frage, welche Merkmale die äußere Homogenität der einzigen Belastungsaussage zu tragen geeignet sind, wäre dabei angezeigt. Nimmt man die Kriterien aus der Entscheidung des 1. Strafsenats zu Rate, mit denen dieser das Vorliegen der Konstellation „Aussage gegen Aussage“
41 42 43 44
Vgl. dazu: Denny ZStW 103 (1991) 269 (294). BGH NStZ 2000, 496; 2001, 161; 2003, 164 = StV 2004, 59; NStZ-RR 2004, 87. NStZ-RR 2004, 87. AaO S. 88.
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zutreffend verneint hat,45 weil objektive unmittelbar tatbezogene anderweitige Beweismittel zur Verfügung standen, so zeigt sich, dass die außerhalb der Aussage liegenden gewichtigen Umstände an der die Konstellation „Aussage gegen Aussage“ konstellierenden Definition von Sander 46 zu messen sind. Im Ergebnis bedeutet dies, dass nur solche – unmittelbar tatbezogenen – Indizien eine Belastungsaussage, die zu teilweiser Falschbelastung gegriffen hat, noch zu stützen vermögen, die – begrifflich – die Konstellation „Aussage gegen Aussage“ aufheben.47 Nack hat bei den „Kriterien der Bestätigung“ das aus der Aussagepsychologie bekannte Verflechtungskriterium herausgehoben.48 Damit sei gemeint, dass die Angaben der Auskunftsperson in mehreren signifikanten Details mit anderen zuverlässigen Beweismitteln wenigstens in Teilbereichen so verflochten sind, dass sie zusammen mit den anderen Beweismitteln ein stimmiges Ganzes ergeben. Das von Nack in seiner Abhandlung angeführte Beispiel belegt, dass die externe Bestätigung im Sinne des Verflechtungskriteriums unmittelbar bezogen auf das Kerngeschehen sein muss.49 Für die Aussageanalyse bei teilweiser Falschbelastung (Beweiswürdigungsbegriff) oder unzutreffender Mehrbelastung (aussagepsychologischer Begriff) muss Folgendes gelten: Das Aussagematerial bezogen auf den (erwiesenen oder selbst eingestandenen) Teil der Falschbelastung muss auf seine (Pseudo-) Realitätskriterien hin untersucht und qualifiziert werden. Nun liegt – bezogen auf die Aussage im Übrigen – wertvolles Vergleichsmaterial vor, das in seiner Struktur mit dem Aussagematerial zu anderen Tatvorwürfen abgeglichen werden kann (sog. Strukturvergleich). Im Material der Falschaussage spiegelt sich die (Falsch-)Aussagekompetenz 50 des Belastungszeugen wider. Nun müssen – erhebliche – Qualitätsmerkmale in der übrigen Aussage zu finden sein, um ein Erlebnisfundament annehmen zu können.51
V. Fazit Folgt man der Methode der aussagepsychologischen Glaubhaftigkeitsprüfung, so ist – ausgehend von der Annahme, die Aussage sei unwahr – die Qualität des Aussagematerials darauf zu sichten und zu bewerten, ob es Kriterien erfüllt, die es erlauben, die Unwahrhypothese als widerlegt anzusehen. 45
BGH NJW 2005, 1519; siehe auch die Entscheidung des 3. Senats BGH NStZ 2003,
498. 46
AaO. Vgl. zu diesen Kriterien für die Bestätigung schon Nack Kriminalistik 1999, 171 (172), zur Rechtsprechung beim Zeugen vom Hörensagen. 48 Bender/Nack Tatsachenfeststellung vor Gericht, 1995, Bd. 1, Rn 271. 49 Nack Kriminalistik 1999, 171 (173). 50 Vgl. zur unbewussten Falschaussage BGH StV 2004, 521. 51 Vgl. dazu: BGH NStZ 2005, 161. 47
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In diesem Prüfungsprozess sind zugleich jene – nahe liegenden – Alternativhypothesen 52 abzuhandeln, die ein Zustandekommen der Aussage – „Quellen der Erinnerung“ – jenseits eines Erlebnishintergrundes erklären könnten. Alle sich aus den Angaben des bestreitenden Beschuldigten, dem Akteneinhalt, der Aussage des Belastungszeugen ergebenden Alternativhypothesen müssen generiert und geprüft werden. Nur, wenn sie allesamt verworfen werden können – mit einer intersubjektiv nachvollziehbaren Begründung – kann die Unwahrhypothese als widerlegt angesehen werden. Weitere Voraussetzung für die positive Annahme des Erlebnisfundaments der Aussage ist, dass die Auskunftsperson aussagefähig ist und das Aussagematerial nicht lediglich das Niveau ihrer Aussagekompetenz widerspiegelt oder sogar unterbietet. Schließlich sind mögliche Fehlerquellen in der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Aussage zu berücksichtigen. Kann auf diesem Boden einer wissenschaftlich fundierten Prüfung des Aussagematerials ein Erlebnisfundament angenommen werden, ist es mit der Maxime der Unschuldsvermutung vereinbar, dass Sachverhaltsfeststellungen als Grundlage einer Verurteilung gegen einen bestreitenden Angeklagten auch mit einer einzigen Belastungsaussage getroffen werden.53 Die Unwahrhypothese korreliert mit der Unschuldsvermutung. Die von der höchstrichterlichen Rechtsprechung in zahlreichen Entscheidungen postulierten besonderen Anforderungen an die Konstellation „Aussage gegen Aussage“ tragen dem Umstand Rechnung, dass je weniger objektive Beweismittel, je weniger Belastungszeugen dem Gericht zur Verfügung stehen und je weniger die Erklärung des Angeklagten mit dem Tatvorwurf übereinstimmt, die Anforderungen an die Beweiswürdigung und ihre Darlegung in den Urteilsgründen wachsen.54 Die höchstrichterliche Rechtsprechung sollte um genaue Grenzlinien bemüht sein. Die Definition von Sander zur Konstellation „Aussage gegen Aussage“ stellt eine gute Basis bereit. Sie dient zugleich dazu, bei den zusätzlichen Anforderungen an die Belastungsaussage, die den Makel unzutreffender Mehr- oder Falschbelastung mit sich trägt, die validen von den irrelevanten Umständen zu differenzieren.
52
Vgl. Köhnken Glaubwürdigkeitsbegutachtung, S. 2275, 2277. Dies gilt nicht, wenn es sich um eine Hörensagen-Aussage handelt; BGHSt 49, 112; StV 2001, 387; NJW 2000, 1661; NStZ 2000, 265 u. 607; und auch nicht, wenn eine kontradiktorische Befragung der einzigen Auskunftsperson im gesamten Verfahren nicht möglich war BGHSt 46, 93; StV 2007, 66. 54 Vgl. Maier NStZ 2005, 246 (251). 53
Strafrechtswissenschaft und strafrechtliche Rechtsprechung – Fremde seltsame Welten Thomas Fischer
Rainer Hamm steht als Strafverteidiger, Autor und Rechtslehrer an einer Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis. Ich hoffe daher, mit einigen Anmerkungen zum Verhältnis von Strafrechtswissenschaft und Strafrechtspraxis sein Interesse zu finden.1
1. Schon die Oberfläche des Verhältnisses von Strafrechtswissenschaft und Strafrechtspraxis2 zeigt einige Auffälligkeiten: In seiner Darstellung bietet sich ein Bild des Kommunikationswillens, der wechselseitigen Durchdringung und des Austausches: Die strafrechtliche Kommentar- und Handbuchliteratur ist in weiterem Umfang als je zuvor in der Hand von sog. Praktikern. Das gilt nicht als Nachteil, sondern als besonderes Qualitätsmerkmal, auf welches in der Werbung hingewiesen wird: Das Werk komme „ohne überflüssigen Theorienstreit“ sogleich aufs Wesentliche, d.h. Praktische. Der Schwerpunkt kommentatorischer und „praxis-orientierter“ Autorenschaft hat sich seit den 60er Jahren von Ministerial-Beamten weg zu Richtern und Staatsanwälten verschoben; Rechtsanwälte tauchen seltener auf.3 Die Anzahl der Honorarprofessoren und Lehrbeauftragen aus der Rechtsprechung an den strafrechtswissenschaftlichen Universitätsinstituten war nie so groß wie heute. Auch die Zahl der strafrechtlichen Lehrveranstaltungen mit thematischer Ausrichtung auf so genannte „Praxisrelevanz“ ist an allen Fakultäten erstaunlich groß. Die Zahl praxisorientierter Fachzeitschrif1 Der Beitrag beruht auf einem Vortrag, den der Verf. am 16. Januar 2007 im „Dienstagsseminar“ des Instituts für Kriminalwissenschaften der J.-W. von Goethe-Universität Frankfurt gehalten hat. Die Titel-Ähnlichkeit mit dem Thema des „1. Karlsruher Strafrechtsdialogs“ am 15. Juni 2007 („Strafprozessrechtspraxis und Rechtswissenschaft – getrennte Welten?“) ist zufällig; es bestehen keine Zusammenhänge. Die zeitliche Nähe mag aber die Annahme der Aktualität des Themas stützen. Der Beitrag von Radtke, ZStW 119 (2007), 69, ist erst nach Ablieferung des Manuskripts dieses Beitrags erschienen. 2 Der Begriff wird hier durchweg synonym mit „Rechtsprechungs-Praxis“ gebraucht. 3 Rainer Hamm ist auch insoweit eine bemerkenswerte Ausnahme.
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ten, in denen auch Wissenschaftler veröffentlichen, ist hoch wie nie. Praktikern der Rechtsprechung werden zum Ausscheiden aus dem aktiven Dienst vermehrt Festschriften gewidmet, deren Autoren-Listen und Themenspektren Querschnitte durch die „gesamte Strafrechtswissenschaft“ bieten. Zahlreiche Strafrechtslehrer üben im Nebenamt eine richterliche Tätigkeit aus, überwiegend in Strafsenaten von OLGen. Auch die Zahl der Strafverteidigungen durch Hochschullehrer sowie die Zahl der von Strafrechtslehrern im Auftrag von Verteidigern verfassten Revisionsbegründungen ist gewachsen. Umgekehrt zeigt sich in der Rechtsprechung des BGH und der Oberlandesgerichte eine Hinwendung zur wissenschaftlichen Form, die in früheren Jahrzehnten kaum vorkam. Urteile, nicht nur solche zu grundsätzlichen Fragen, nähern sich in ihrer äußeren Form nicht selten wissenschaftlichen Abhandlungen. Sie erörtern in beträchtlicher Breite so genannte „Theorien“, wägen Auslegungsmethoden, Rechtsgutsbestimmungen und Rechtsbegriffe ab, bevor sie zur Lösung des konkreten Falls gelangen – des Öfteren mit dem Bemerken, die wissenschaftliche Streitfrage könne dahinstehen. Hinzuweisen ist auch auf eine Vielzahl von Tagungen, deren Referentenliste sowohl (Revisions-)Richter als auch Hochschullehrer aufführen. All dies deutet auf eine Praxisorientierung der Wissenschaft hin und belegt eine jedenfalls äußere Wissenschaftsorientierung der Rechtsprechungspraxis. Dieses Bild von Vertrautheit und kreativem Austausch zeigt aber Risse. Die Bekundungen der Wertschätzung sind nicht stets von lauterer Wahrheit. Intra muros der Rechtsprechung gelten Strafrechtslehrer nicht ganz selten als eher eitle Besserwisser, die zur Lösung der wirklichen Probleme 4 nicht viel beizutragen in der Lage seien. Umgekehrt gelten Strafrichter in der Wissenschaft ebenso oft als recht beschränkte Rechthaber, die vom eigentlichen 4 Gern wird in diesem Zusammenhang von „Problemen an der Front“ gesprochen. Die Vorstellung, (Straf-)Richter und Staatsanwälte seien von Person und Tätigkeit in ganz besonderem Maße dem wirklichen Leben verbunden und aufgeschlossen, ist eines der Phänomene in der Wahrnehmung des Berufs. Unter den Berufsangehörigen gilt dies als selbstverständlich, im Rest der Bevölkerung eher als fern liegend. Das Selbstbild führt gelegentlich zur sprachlich-habituellen Anbiederung an die verachtete Klientel und erlaubt dann, die recht verbreitete Theorie- und Intellektualitäts-Feindlichkeit unverdächtig auszuleben. Im Übrigen ist der Anspruch der Rechtsprechung, „die Praxis des Strafrechts“ darzustellen und damit insoweit einen umfassenden, weit gespannten Blick auf die gesellschaftliche Wirklichkeit zu haben, durchaus problematisch: Nur wenige Strafrichter interessieren sich z.B. für die tatsächlichen Probleme der Kriminalitätsprävention, des Straf- und Maßregelvollzugs oder der Bewährungshilfe. Kenntnisse, welche die Mehrheit der Bevölkerung bei Strafrichtern als selbstverständlich voraussetzen würde, etwa über die Wirklichkeit der Drogen-Subkultur, Suchtprävention und Suchttherapie, über aktuelle soziokulturelle Entwicklungen, Inhalt und Formen moderner Sozialarbeit usw., sind wenig verbreitet; sie werden auch nicht systematisch vermittelt. Das Niveau der soziologischen und psychologischen Alltagstheorien, die im Bereich der Justiz über die Kriminalität, ihre Verhinderung und Verfolgung vertreten werden, unterscheidet sich von dem der übrigen Gesellschaft nicht.
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Strafrecht wenig wissen; die dogmatischen Erwägungen der BGH-Senate erscheinen manchem Strafrechtslehrer als theoriefrei eklektischer Graus. Wechselseitige Kritik trifft auf ganz unterschiedliche Empfindsamkeiten: Die Berufslaufbahn des Richters vollzieht sich, insoweit nah der Beamten-Karriere, im Wissen um die Möglichkeit, von „Oben“ aufgehoben zu werden, d.h. öffentlich die Bescheinigung zu erhalten, die eigenen Bemühungen seien unbrauchbar gewesen. Das führt zu spezifischen, gelegentlich bedenklichen Formen der emotionalen Verarbeitung; diese müssen aber, und sei es auch nur nach außen, zumindest die Möglichkeit einsichtiger Bescheidenheit offen lassen, um nicht als sozial auffällig zu gelten.5 Strafrechtslehrern stellt sich diese Aufgabe nicht. Bei ihnen ereignet sich, meist kurz nach der Berufung auf die erste C 3/W 2-Stelle, ein dramatischer Durchbruch, indem aus der Larve eines Schülers 6 ein leibhaftiger deutscher Professor springt, dem Fehler fortan nur noch als Denkfehler der Anderen begegnen.7 Wahr ist: Der ganz überwiegende Teil strafrechtswissenschaftlicher Veröffentlichungen bleibt in der Strafrechtspraxis nicht nur unbeachtet, sondern schon ungelesen. Die Rezeption beschränkt sich, auch an Revisionsgerichten, in der Regel auf wenige Beiträge. Dogmatik-orientierte Zeitschriften wie ZStW oder GA werden nur vereinzelt, Theorie-Zeitschriften sowie Zeitschriften in den Bereichen Kriminologie, Psychowissenschaften oder gar Rechtssoziologie praktisch gar nicht gelesen. Die Existenz von Monographien wird gelegentlich wahrgenommen; gelesen werden sie nicht. Das gilt insb. auch hinsichtlich der Habilitationsschriften, welche die Autoren in eine Prüfung eigener Leidensfähigkeit und fast obligatorisch an die äußersten Grenzen des Fachs,8 den Leser in Betrachtungen über die Grenzen seiner Erkenntnisfähigkeit treiben. Festschriften scheitern an der Anforderung „praktischer Verwendbarkeit“.9 Auch Lehrbücher spielen für die Praxis
5 Zwar gibt es Richter, die sich Zeit ihres Berufslebens ausschließlich Dummköpfen ausgeliefert sehen, welche sich immer gerade in dem zuständigen Spruchkörper des jeweils zuständigen Obergerichts versammelt haben. Die Schilderungen dieser misslichen Lage gelten aber auch unter Kollegen auf Dauer als nicht wirklich amüsant. 6 Ein schöner Name für Nachwuchs-Wissenschaftler in ihrem vierten Lebensjahrzehnt. 7 Für Entscheidungen, durch welche Revisionen verworfen werden, die von dilettierenden Strafrechtsprofessoren verfasst oder „vorbegutachtet“ wurden, darf der Revisionsrichter nicht auf Gnade hoffen. Die rezidivierende Entlarvung ihrer Unvertretbarkeit kann sich über Jahre erstrecken. 8 Weniger als die „Neubegründung“ einer Groß-Theorie oder Denkmethode pflegt in Vorworten und Klappentexten nicht versprochen zu werden. 9 Ausgenommen natürlich Beiträge von Richtern. Da Revisionsrichter in der Regel sicher sind, die Einzelheiten der Rechtsprechung sowie alle dogmatischen Folgerungen bereits qua Amtes zu kennen, können eigene Veröffentlichungen, anders als bei Strafrechtslehrern, nie zur Belehrung der Kollegen und daher – zum Glück – umgekehrt kollegiale Veröffentlichungen auch nie zur eigenen Belehrung dienen. Beide zielen vielmehr auf Dritte ab, damit diese in die Lage gesetzt werden, es zukünftig richtig zu machen.
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keine Rolle. Das gilt selbst für die Krönung der strafrechtswissenschaftlichen Literatur in Deutschland, das „Lehrbuch zum Allgemeinen Teil“.10 Studenten bevorzugen „Skripten“ 11; Richter, Staatsanwälte und Strafverteidiger lesen Lehrbücher nicht, da sie „ihren“ Fall dort nicht finden und für Weiteres – tatsächlich oder angeblich – keine Zeit haben. Einzig sichere Exegeten sind daher die Autoren der Konkurrenz-Lehrbücher, die Kommentatoren, die sie „auswerten“ und so als Casting-Agenturen der „herrschenden Meinung“ wirken, sowie die sog. „Schüler“. Soweit strafgerichtliche Entscheidungen wissenschaftlich anmutende Argumentationen verwenden, hat das nicht selten eher formale Funktionen. Da die Methode der Entscheidungsfindung in der Rechtspraxis die der Analogie ist, kommt es für sie auf wissenschaftliche Systematik nämlich kaum an. Daher werden die Ergebnisse jedenfalls nicht vordringlich aus wissenschaftlichen Argumentationen entwickelt, sondern mit ihnen unterfüttert, soweit eine der sog. „Theorien“ 12 das Ergebnis trägt. Das hat den Vorteil argumentativer Flexibilität: Es können Figuren und Symbole der wissenschaftlichen Kommunikation genutzt werden, ohne deren inhaltlicher Zielsetzung zu nahe kommen zu müssen. Soweit Kritik aus der Wissenschaft zur Kenntnis genommen wird, geschieht das oft in recht stereotypen Kategorisierungen: Kritische Besprechungen eigener Entscheidungen werden als Beispiele unsachlichen Profilierungsstrebens oder praxis-ferner Verschrobenheit abgetan; eine inhaltliche Diskussion externer Kritik, wie sie sich die Verfasser in der Regel wünschen, findet selten statt.13 Der unvoreingenommenen Erkenntnis hinderlich ist auch ein gelegentlich14 vorkommendes rechts-politisches Lager-Denken.
10
Derzeit dürften in Deutschland etwa 30 aktuelle AT-Lehrbücher konkurrieren. Was ihnen binnen 8 Semestern Studium an „Pflicht“-Lektüre, „notwendiger“ Vertiefungs-Literatur, „examensrelevanten“ Literaturhinweisen und „grundlegenden Entscheidungen“ zur intensiven, möglichst wiederholten Lektüre angeraten wird, würden auch Volljuristen nur mit Mühe bewältigen können. So lernen sie von Beginn an, dass das ganze Recht ihnen für immer ein Geheimnis bleiben werde. 12 Als „Theorie“ wird in der (Straf-)Rechtslehre bekanntlich schon jeder Lösungsvorschlag zu einem noch so kleinen Problem bezeichnet. Hierin zeigt sich eine erstaunliche Kleinräumigkeit des Denkens und eine Geringschätzung des wissenschaftlichen TheorieBegriffs im Grundsatz. Schon Studenten (ab dem 3. Semester) reproduzieren dies unter Anleitung ihrer Repetitoren, indem sie in Klausuren wahllos angebliche „Theorien“ zu referieren vorgeben, bevor sie sich zur Lösung der Fall-Frage der „mittleren Theorie“ anschließen, welche alsdann ebenso wahllos als „hM“ bezeichnet wird. Euphemistisch mag man dies als frühe Einübung in Mäßigung und Ausgewogenheit ansehen. Der Pessimist wird es eher als intellektuelles Reduktions-Modell betrachten. 13 Kritik wird freilich – ähnlich wie bei Wissenschaftlern die Nuancen kollegialer Rezensionen – individuell genau und mit hoher Sensibilität wahrgenommen und kann, wie dort, emotionale Weichen für viele Jahre stellen. 14 Im Bereich der Ordentlichen Justiz aber wohl seltener als gemeinhin vermutet. 11
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Umgekehrt hat eine Vielzahl von Strafrechtswissenschaftlern von den Abläufen und Regelmäßigkeiten der Rechtsprechungspraxis wenig Kenntnisse und bisweilen erstaunlich laienhafte Vorstellungen. Genese und Inhalt von Entscheidungen werden ausschließlich nach Maßgabe wissenschaftsimmanenter Systematik erfasst, denn Wissenschaft kann sich das Leben außerhalb ihrer selbst nur als „unermesslichen Strom“ chaotischen Geschehens (Max Weber) denken, d.h. nur als Vorstufe. Die Rechtspraxis gilt unter Strafrechtswissenschaftlern daher als theoriefern, unsystematisch, argumentativ schlampig, dezisionistisch, ungebildet, überheblich und unbelehrbar. „Die Praxis“, namentlich der BGH, dient Strafrechtslehrern gern als Objekt des Humors, namentlich zur Verbreitung intellektuellen Frohsinns in Vorlesungen und Vorträgen. Beispielhaft zu erwähnende Schulen bilden etwa Hochschullehrer, die es sich zur Aufgabe gemacht haben zu enthüllen, dass praktisch alle wichtigeren Entscheidungen des BGH traurige Elaborate dogmatischer Kenntnislosigkeit seien;15 oder solche Strafrechtslehrer, die zwar literarisch die Qualität der BGH-Entscheidungen loben und allenfalls „geringfügige“ systematische Ergänzungen anregen, in Vorlesungen aber anhand derselben Entscheidungen um so lebhafter die notorische Niveaulosigkeit der Rechtsprechung vorführen.16 Die Honorarprofessoren und Lehrbeauftragten aus der Strafrechtspraxis führen an den meisten rechtswissenschaftlichen Fakultäten ein recht kümmerliches akademisches Leben. Die Themen ihrer Lehrveranstaltungen liegen im Umkreis von „Besprechung aktueller Entscheidungen“. Sie dienen durchweg als Lehrpersonal für Gesetzeskunde, nicht für Wissenschaft, denn dass nicht-habilitierte Personen, die niemandes „Schüler“ sind, in der Lage sein könnten, Studenten den Unterschied zwischen Tatbestands- und Verbotsirrtum zutreffend zu erklären, wird kaum ernsthaft für möglich gehalten. Das Engagement der lehrenden Praktiker tendiert daher mittelfristig in der Regel nach unten.17
2. Inhaltlich liegen dem verbreiteten Unverständnis freilich weniger (sozial)psychologische Gegebenheiten und menschliche Schwächen als strukturelle Differenzen zugrunde. Die gängige Vorstellung, die Praxis „vollziehe“ Wis15
Man könnte dies, zur Unterscheidung, vielleicht als „Bonner Theorie“ bezeichnen. Diese Diskussionsform könnte man probehalber als „Münchener Theorie“ bezeichnen. 17 Ihre Stunde schlägt aber wieder im Rahmen der Staatsprüfungen. Dort wird nicht selten gnadenlos herunter-gepunktet, was man selbst kaum besser könnte, und in den Kommissionen zur mündlichen Prüfung wird gern mit den Hochschullehrern kollegialiter über den allgemeinen Verfall der Bildung des Nachwuchses geklagt. 16
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senschaft, sei also eine Form angewandter Rechtslehre; die Wissenschaft dagegen entwerfe Regeln dieser Tätigkeit, mag in der unlösbaren Verbindung empirischer und normativer Anteile im Gegenstand der Rechtswissenschaft wurzeln. Wie der Rechtswissenschaftler von sich behauptet, er könnte praktische Rechtsfälle, wenn sie sich ihm nur stellten, „richtig“ lösen, so behauptet der Richter, er betreibe „Wissenschaft“, wenn er eine Vermögensgefährdung für einen Schaden hält, obgleich davon im Gesetz nichts steht. Beides ist nicht zutreffend. Der strafrechtlichen Praxis dient Dogmatik im Wesentlichen als Argumentationshilfe, wird aber auch insoweit nicht regelhaft eingesetzt.18 Da die Entscheidungsfindung im Einzelfall sich im Wege der Analogiebildung vollzieht, also durch Vergleichen der Ähnlichkeit symbolischer Figuren in einem Raum sich kommunikativ verändernder Begriffe, werden Erkenntnis wie Fortentwicklung des Rechts als Prozess probabilistischer Anpassung verstanden. Daneben steht gelegentlich unvermittelt eine begriffs-jurisprudentische ScheinSystematik, welche die Begriffe für die Wirklichkeit nimmt. Aus dem Bereich des materiellen Strafrechts kann beispielhaft die Auseinandersetzung zwischen den Strafsenaten des BGH um den Begriff des gefährlichen Werkzeugs angeführt werden.19 Sie zeigt die Tendenz der Rechtsprechung, systematische Probleme durch Minimallösungen auf kleinstem gemeinsamem Nenner zu bewältigen. Bei der Bestimmung des „gefährlichen Werkzeugs“ 20 hat dies zu der 21 Entscheidung des großen Senats geführt, es werde „für die geladene Schreckschusspistole am Begriff der Waffe nicht festgehalten“.22 Sie spiegelt
18 Auch methodisch schwer miteinander vereinbare Begründungen in Einzelfragen bestehen nebeneinander. So kann etwa das der Umstand, dass ein Begriff gleichlautend in verschiedenen Vorschriften oder in verschiedenen Absätzen derselben Vorschrift verwendet wird, sowohl zu der Schlussfolgerung führen, er „müsse“ jeweils dieselbe Bedeutung haben (z.B. der Begriff „die Tat“ in den Subsidiaritätsklauseln der §§ 125 Abs. 1 und 246 Abs. 1 StGB; vgl. BGHSt 47, 237 [243]), als auch zu dem gerade entgegen gesetzten Ergebnis, derselbe Begriff „müsse“ jeweils spezifisch ausgelegt werden und daher sogar innerhalb derselben Vorschrift ganz unterschiedliche Bedeutungen haben (z.B. der Begriff der Gefährlichkeit des „gefährliches Werkzeugs“ in § 177 Abs. 3 Nr. 1 [abstrakt] und Abs. 4 Nr. 1 [konkret]). Ähnliches gilt auch für andere Auslegungsmethoden: So kann, je nach gewünschtem Ergebnis, aus dem Umstand, dass eine Vorschrift trotz (sonstiger) Gesetzesänderungen unverändert geblieben ist, sowohl geschlossen werden, der Gesetzgeber habe ein Problem nicht gesehen oder jedenfalls der Rechtsfortbildung des Gerichtshofs überlassen (so etwa BGHSt 46, 321 [330] [zum Begriff der „Bande“], als auch im Gegenteil, der Gesetzgeber habe jede Änderung bewusst ausschließen wollen (so etwa BGHSt 46, 176 [177] [zum Begriff des „Beischlafs“]). 19 Angefangen mit dem Anfragebeschluss des 2. Strafsenats und endend mit dem Beschluss des Großen Senats für Strafsachen vom 4. Februar 2003 (BGHSt 48, 197). 20 Im Sinne von § 177 Abs. 3 Nr. 1, Abs. 4 Nr. 1, § 224 Abs. 1 Nr. 2, § 244 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a, § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a, Abs. 2 Nr. 1 StGB. 21 Von Erb JZ 2004, 653 (655) als „Chaotisierung des Rechts“ bezeichneten. 22 BGHSt 48, 197 (201).
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das Bemühen wider, dem vorgelegten dogmatischen Problem auszuweichen, beeindruckt aber vor allem durch die unzutreffende Vorstellung davon, wie dies möglich sei.23 Erstaunlich ist, dass das Problem für die Rechtspraxis gleichwohl als „gelöst“ gilt, weil sie die Entscheidung so interpretiert, als sei das Gesetz um eine selbständige Werkzeug-Gruppe namens „geladene Schreckschusspistolen“ ergänzt worden. Eine systematisch stimmige Klärung ist somit durch das Bemühen um möglichst kleinräumige Reparatur erschwert, wenn nicht nachhaltig verhindert worden.24 Diese Methode der Entscheidungsfindung führt dazu, dass die Anzahl möglicher Konflikte innerhalb des Gerichts und die Anzahl sog. „grundlegender“ Neuerungen gering gehalten werden; dies sind für die Verlässlichkeit und Voraussehbarkeit der Rechtsprechung sehr wichtige Ziele. Sie bringt aber andererseits mit sich, dass kontinuierlich Bugwellen systematischer Unklarheiten aufgetürmt und neue „Lücken“ produziert werden, welche früher oder später Not-Operationen erforderlich machen. Als Beispiel hierfür kann die Abschaffung der sog. „Fortgesetzten Handlung“ durch den Großen Senat für Strafsachen 25 gelten, die nach einer bis zur Beliebigkeit fortgeführten „Entwicklung“ immer neuer, fallspezifischer und Fallgruppenorientierter angeblicher Regeln,26 einem Befreiungsschlag gleich, das ganze Phänomen 27 abschaffte, welches mehr als 100 Jahre lang als unabdingbare Voraussetzung der „Bewältigung“ des Fallmaterials gegolten hatte. Seither hat freilich, unter dem Deckel der Begriffe „Handlungseinheit“ und „Bewertungseinheit“, ein neuer Druck-Aufbau begonnen: In immer ziselierteren, tatbestands- und fallgruppen-spezifischen Wendungen hat die BGH-Rechtsprechung Regeln für die Erkenntnis von Zäsuren und raum-zeitlichen Zusammenhängen, „Silo-Theorien“, Zurechnungsfiguren, Beteiligungs- und Konkurrenz-Regeln entworfen. Für den Fall, dass die tatrichterliche Praxis dem nicht folgen kann, steht nun die Theorie zur Verfügung, es komme auf die Konkurrenz im Ergebnis gar nicht an, weil der Unrechtsgehalt strafbaren 23 Wenn das Gesetz das Halten von „Hunden und anderen gefährlichen Tieren“ unter Strafe stellte, könnte man auf die Frage, ob auch schwarze Katzen „andere gefährliche Tiere“ seien, nicht antworten, „für schwarze Katzen“ werde, im Hinblick auf die Gefährlichkeit ihrer Krallen, „am Begriff des Hundes nicht festgehalten“. 24 Die Rechtslehre hat allerdings ihrerseits nur eine Vielzahl komplizierter, oft nur in Nuancen verschiedener, fast durchweg für die praktische Feststellung untauglicher dogmatischer Vorschläge zur Auslegung des – unstreitig! – verfehlten Gesetzestexts vorgelegt. Der Gesetzgeber, der all das (ersichtlich irrtümlich) angerichtet hat, schweigt dazu seit zehn Jahren. 25 Beschluss v. 3.5.1994, BGHSt 40, 138. 26 Zur Regel-losigkeit der BGHSt 40, 138 vorangehenden Rechtsprechung vgl. Fischer NStZ 1992, 415 ff. 27 Im Ergebnis also die Erlaubnis an die Tatsachengerichte, in bestimmten Fallgruppen festgestellte Tatsachen nach vereinfachenden Rechtsregeln zu behandeln oder auf die Feststellung von Tatsachen in bestimmten Fallgruppen zu verzichten.
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Handelns von der Frage, ob eine oder mehrere Taten vorliegen, nicht berührt werde. Dies mag praktisch nahe liegen, weil die einschlägigen Tatbestände inzwischen meist mit Strafrahmen vom Minimum bis zum Maximum ausgerüstet wurden.28 Gleichwohl erscheinen die Theoriebildung und das Ergebnis nicht unbedenklich. Freilich geht es der Rechtsprechung nicht vordringlich um dogmatische Schlüssigkeit. Vielmehr wird unmerklich die Einheitsstrafe eingeführt – zugleich aber die Möglichkeit erhalten, im Einzelfall auf die „strengen Regeln“ der §§ 52 ff StGB zurückgreifen zu können. Ein anderes, aktuelles Beispiel betrifft das Maßregelrecht: Es ist bisher nicht gelungen, den Begriff des „Hangs zu erheblichen Straftaten“ im Sinne von § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB von den Kriterien der für die Maßregelanordnung vorausgesetzten Gefährlichkeit systematisch zu unterscheiden. Aus dem Umstand, dass im Wortlaut des § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB die Wörter „Hang“ und „Gefährlich(keit)“ verwendet werden, leitet die Rechtsprechung ab, ein begrifflicher Unterschied müsse bestehen; der Annahme des Gesetzgebers der §§ 66a, 66b StGB, die Feststellung eines „Hangs“ sei nicht erforderlich, ist der BGH daher entgegen getreten, weil strafrechtliche Rechtsfolgen nicht allein auf das Bestehen von Gefährlichkeit gestützt werden dürfen.29 Dass der Inhalt des Unterschieds bislang nicht genau beschrieben werden kann, hat den BGH zugleich zu der These veranlasst, er spiele „in der Praxis keine Rolle“. Dass ein Umstand, der keine Rolle spielt, zugleich von ausschlaggebender Bedeutung sein soll, erscheint zwar widersprüchlich; trotzdem wird beides vom BGH gleichzeitig vertreten. Das Problem hat seine Wurzel in der Legitimationsgrundlage der Sicherungsverwahrung: Der „Maßnahmen“-Gesetzgeber des Jahres 1933, der den Schuldgrundsatz nicht zu den Leitprinzipien des Strafrechts rechnete,30 hat bei der Einführung des § 66 den Hang zu Straftaten als psychischen „Zustand“ (vgl. § 246a StPO) behandelt und so im Wege des Etikettenschwindels Polizei- und Strafrecht in eins gesetzt. Dies kann durch rechtsstaatliche Begriffs-Konstruktionen kaum 28 Beispiele: Handeltreiben mit Betäubungsmitteln: 5 Tagessätze zu je 1 Euro bis 15 Jahre Freiheitsstrafe; sexueller Missbrauch von Kindern: 3 Monate bis 15 Jahre; Betrug und Untreue: 5 Tagessätze bis 10 Jahre. Vgl. dazu u. a. Hettinger in FS Küper, 2007, 95 ff. 29 Vgl. BGHSt 50, 121 (132); 50, 373 (381 f). Das BVerfG (NJW 2006, 3483) hat sich diesem Argument erstaunlicherweise nicht angeschlossen, sondern entschieden, weil (!) Hang und Gefährlichkeit nicht identisch seien, könne in § 66b Abs. 2 StGB auf ersteren verzichtet werden; dies werde durch die höheren Anforderungen an die Ausgangsverurteilung „kompensiert“ (zur Kritik vgl. Fischer StGB 55. Aufl. § 66b Rn 35). 30 „Soll die Volksgemeinschaft wirksam geschützt werden, so (…) muss auch die Möglichkeit geschaffen werden, auf den Täter einzuwirken ohne Rücksicht auf eine Schuld“ (Rietzsch in: Gürtner [Hrsg.], Das kommende deutsche Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1935, 119). Die Einführung einer Sicherungs-Strafe wurde damals abgelehnt, weil es die Richter als ungerecht empfinden würden, bei geringer Schuld langjährige Strafen zu verhängen (ebd. S. 151 f). Dieses praktische (!) Problem wurde gelöst, indem man behauptete, die Gewohnheit, Straftaten zu begehen, habe mit der Schuld nichts zu tun.
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kompensiert werden. Was hier den Wissenschaftler beunruhigen mag, lässt die Rechtsprechung freilich ungerührt: Sie gibt sich mit der Existenz der Begriffe zufrieden und folgt den Konjunkturen des guten oder schlechten Gewissens von der „Gewohnheitsverbrecher“-Ideologie der 50er über die „ultima ratio“-Bedenken der 70er Jahre bis zur „Wegsperren-für-immer“Mentalität der modernen Zeit. Symptomatisch für die eher auf Typen und Ähnlichkeiten abstellende Methodik der Rechtsprechungspraxis ist die Figur der Gesamtwürdigung. Ursprünglich diente der Begriff dem BGH 31 zur Beschreibung eines negativen Kriteriums bei der Identifikation von Rechtsfehlern, welche darauf beruhen, dass das Verhältnis einzelner Wertungs-Elemente zueinander nicht hinreichend beachtet wird. Im Fortgang der Rechtsprechung ist die Figur aber hierüber hinaus zu einer eigenständigen positiven Anforderung formuliert worden. „Gesamtwürdigung“ bezeichnet daher nun den Prozess einer gerade nicht mehr im Einzelnen nachvollziehbaren, eher intuitiven Bewertung einer in Anzahl und Gewicht offenen Mehrzahl von Kriterien ohne Zugrundelegen sog. „normativer Mittelwerte“. Wie das gerechte Strafmaß in einem offenen System ohne Normalwert durch Gesamtwürdigung z.B. von Anzahl der Vorstrafen, Höhe der Tatbeute und Ausdruck von Reue des Täters gefunden werden soll, so sollen etwa die Fragen, ob ein Tatbeteiligter als Täter oder Teilnehmer zu bestrafen ist, ob einer Tötung ein niedriger Beweggrund zugrunde lag oder ob eine Person eine Garantenstellung oder eine Vermögensbetreuungspflicht hat, durch „Gesamtwürdigung“ nicht abschließend beschreibbarer Kriterien entschieden werden. Die „Gesamtwürdigung“ ist damit zur vorherrschenden Methode der Feststellung von Rechtsmerkmalen, auch von Tatbestandsvoraussetzungen, in der Rechtsprechung des BGH geworden. Dass damit Grenzen fraglich oder unsicher werden, liegt nahe. Nicht zufällig ist mit der Anzahl der Rechtsfragen, die einer Gesamtschau anheim gegeben werden, die Anzahl der Hinweise des BGH gestiegen, diese verlange „eine strenge Prüfung“ und müsse „besonders sorgfältig“ vorgenommen werden. Solche Appelle gehen aber ins Leere, wenn Kriterien der Strenge gerade dem Einzelfall zugewiesen werden.
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Der Begriff kommt auch im Gesetz vor: §§ 56 Abs. 2, 57 Abs. 2, 63, 66 Abs. 1 Nr. 3, 66a Abs. 1, 66b StGB, jeweils im Zusammenhang mit einer Rechtsfolgen-Entscheidung. Als methodische Anleitung dürfte er aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts stammen. Er zielt dort auf eine „Abwägung“ des an sich Unabwägbaren, etwa der Meinungsfreiheit gegen die Ehre; des Lebensrechts des einen gegen das Selbstbestimmungsrecht des anderen; usw. Das setzt die Rückführung auf ein gemeinsames drittes Kriterium voraus, welches das BVerfG durch eine Gesamtauslegung der „Werteordnung“ des GG gewinnt und als Verhältnismäßigkeit, d.h. als rechtes Maß von Freiheit und Unfreiheit bestimmt. Diesem Kriterium wird die Kraft zur Lösung jedes Konflikts zwischen Freiheitsanspruch und Freiheitsbeschränkung zugeschrieben; so zuletzt etwa wieder zur Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit nachträglicher Sicherungsverwahrung (vgl. BVerfG NJW 2006, 3483).
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Aus dem Prozessrecht kann beispielhaft auf die Rechtssprechung zur so genannten Absprache im Strafprozess hingewiesen werden.32 Der Große Senat für Strafsachen hat in seiner Entscheidung vom 3. März 2005 33 zutreffend dargelegt, die StPO „kenne diese Erledigungsart nicht“,34 enthalte für sie keine Regelungen und sei „im Grundsatz vergleichsfeindlich ausgestaltet“; 35 für ein Abspracheverfahren könnten der StPO auch „keine Maßstäbe entnommen werden“.36 Er hat aber angenommen, der BGH sei trotzdem zu „freierer Handhabung“ berechtigt und zu „schöpferischer Rechtsfindung“ berufen, weil „das geschriebene Gesetz (…) seine Funktion nicht mehr erfüllt“.37 Das Grundgesetz verlange keinen „engen Gesetzespositivismus“,38 und wenn „die Bedürfnisse des Rechtsverkehrs sich ändern, folgt (hieraus) die Zulässigkeit einer richterrechtlichen Anpassung des Rechts.“ 39 Im Jahr 1981 hatte der Große Senat als Voraussetzung für eine richterliche Rechtsfortbildung noch eine vom BVerfG festgestellte planwidrige Regelungslücke angesehen.40 Diese Legitimation stand im Jahr 2005 nicht zur Verfügung. Seine „Schöpfung“ einer richterrechtlichen Verfahrensordnung gegen den Plan des Gesetzes und ohne jede Gesetzeslücke hat der BGH daher auf das einzig denkbare Argument gestützt, das hierfür in Betracht kam, nämlich auf die Feststellung eines Staatsnotstands: Die geltenden Gesetze seien nicht mehr in der Lage, das unabdingbare Minimum rechtsstaatlicher Strafverfolgung, der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens zu gewährleisten.41 Damit hat sich der Große Senat die Kompetenz 32 Zusammenstellung und Nachweise etwa bei Meyer-Goßner StPO 50. Aufl. Einl. Rn 119 ff und vor § 213 Rn 8 ff; krit. z.B. Fischer aaO § 46 Rn 107 ff; ders. NStZ 2007, 433 ff mwN. 33 BGHSt 50, 40. 34 Ebd. S. 46. 35 So auch schon BGHSt 43, 195 (203). 36 BGHSt 50, 40 (51 f). 37 Ebd. S. 52. Zur zunehmenden „Durchlöcherung“ tragender Prinzipien der StPO vgl. Kühne in Löwe-Rosenberg 26. Aufl., Einl. F Rn 192 f mwN. Der Begriff des Gesetzesvorbehalts kommt in der Entscheidung des Großen Senats gar nicht vor (vgl. zum Gesetzesvorbehalt im Strafprozessrecht Lüderssen/Jahn in Löwe-Rosenberg, StPO 26. Aufl., Einleitung M Rn 47 ff mwN). 38 Dies hatte allerdings auch niemand behauptet (vgl. schon BVerfGE 11, 237). Seit jeher dienen tendenziöse Beschreibungen einer von nicht genannten, rückständigen Kräften angeblich vertretenen Methode blinder „Buchstaben“-Gläubigkeit dazu, die „moderne“, an Gemeinschafts-Zielen und gerechten Ergebnissen orientierte Methode der Analogie zu rechtfertigen. Dass dies besonders eindrucksvoll schon Karl Schäfer in Gürtner (Hrsg.) Das Kommende Deutsche Strafrecht, AT, 1935, S. 200 ff (dort auch S. 215 der Regelungs-Vorschlag der Gürtner/Freisler-Kommission: „Der Richter darf nicht am Wortlaut des Gesetzes haften“) getan hat, sollte zur Vorsicht mahnen. 39 BGHSt 50, 40 (53). 40 BGHSt 30, 105 (121 f) („Rechtsfolgenlösung“ beim Heimtückemord). 41 „Der Rechtsstaat kann sich nur verwirklichen, wenn sichergestellt ist, dass Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze (sic!) verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestra-
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eines Notverordnungs-Gebers zum Zweck der Rettung der zusammenbrechenden Strafjustiz zuerkannt. Die Dramatik dieser Begründung kontrastiert bemerkenswert mit der Gemächlichkeit der alsbald danach wieder eingekehrten gewöhnlichen Überlastung, die vor wie nach dem Beschluss des Großen Senats Gegenstand beständiger Klage ist.42 Aus Sicht des BGH gelten die drängendsten Probleme aber als gelöst, weil die revisionsrechtlichen Fragen der Rügeobliegenheit und des Rechtsmittelverzichts geklärt sind.43 Ob überhaupt noch eine gesetzliche „Schöpfung“ erforderlich ist, ist trotz des Appells des Großen Senats 44 inzwischen wieder umstritten.45 In seiner Entscheidung ist der Große Senat ohne wissenschaftliche Argumente ausgekommen; insb. wurden keine empirischen Belege für die Behauptung der Funktionsuntüchtigkeit der Strafrechtspflege angeführt; auch nicht rechtsvergleichende Untersuchungen für die Prognose der Wirksamkeit von Abspracheverfahren. Auch prozess-theoretische Äußerungen sowie eine Auseinandersetzung mit den Einwänden finden sich in den Beschlussgründen nicht.46 Wenn man bedenkt, dass der Große Senat hier eine über zwei Jahrhunderte gewachsene Prozessrechtskultur stellvertretend für den Gesetzgeber zu Grabe getragen hat, ist dieses Schweigen frappierend. Es deutet darauf hin, dass einer Diskussion mit der Rechtswissenschaft auch in zentralen Fragen keine wesentliche praktische Bedeutung mehr beigemessen wird.
fung zugeführt werden. Diesen Anforderungen können die Organe der Strafrechtspflege unter den gegebenen – rechtlichen wie tatsächlichen – Bedingungen (…) nicht mehr gerecht werden (…). Die Funktionstüchtigkeit der Justiz (könnte) nicht gewährleistet werden, wenn es den Gerichten generell untersagt wäre, sich über den Inhalt des zu verkündenden Urteils mit den Beteiligten abzusprechen“ (BGHSt 50, 40 [53 f]). 42 Eine Zeit, in welcher die Strafjustiz nach ihrer Selbstbeschreibung nicht „am Rande ihrer Belastbarkeit“ arbeitete und nur gerade so eben noch die Flut der Kriminalität im Zaume hielt, ist während der letzten 50 Jahre nicht erinnerlich. 43 Nur hierüber war zu entscheiden. Über Notwendigkeit und Zulässigkeit der Absprache war als Vorfrage zu befinden (BGHSt 50, 40 [46]). Zum Regelungsinteresse des BGH vgl. schon Kuckein/Pfister FS BGH, 2000, S. 641 ff mwN; näher auch BGHSt 50, 40 (47 ff). 44 BGHSt 50, 40 (64): „Der Große Senat für Strafsachen appelliert an den Gesetzgeber, die Zulässigkeit und, bejahendenfalls, die wesentlichen rechtlichen Voraussetzungen und Begrenzungen von Urteilsabsprachen gesetzlich zu regeln.“ Dieser Appell ist sprachlich ambivalent: Die Aufforderung, „die Zulässigkeit … zu regeln“, passt mit „bejahendenfalls“ nicht zusammen, denn verneinendenfalls bedürfte es einer „Regelung der Unzulässigkeit“ ja nicht: Es gälte dann weiter die StPO. Man wird also wohl mit der hM annehmen dürfen, dass der Große Senat den Gesetzgeber nicht zu einer ergebnisoffenen Prüfung auffordern wollte. Aus Sicht des Notverordnungsgebers lag das zwar nahe; aus der Funktion des Revisionsgerichts erscheint es voreilig. 45 Vgl. dazu Meyer-Goßner StPO 50. Aufl. Einl. Rn 119h mwN; Fischer NStZ 2007, 433 ff. 46 Die insgesamt vier vom Großen Senat zitierten Literaturstellen (BGHSt 50, 40 [60]) stammen von Strafrechtspraktikern (anders insoweit aber BGHSt 43, 195 ff).
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Ein derart eingeschränkter Blickwinkel war der rechtspolitischen Bedeutung der Sache, aber auch des Gesetzes-Ungehorsams von Teilen der gerichtlichen und staatsanwaltlichen Praxis nicht angemessen.47
3. Wissenschaft bildet somit nicht die wichtigste Grundlage der Entscheidungspraxis. Damit enttäuscht die Strafrechtsprechung Erwartungen an systematische Durchdringung und Folgerichtigkeit, an prinzipien-geleitete Legitimation und kritische Reflexion, wie sie von der Strafrechts-Wissenschaft an sie herangetragen werden. Aber auch umgekehrt bestehen Enttäuschungen. Die Strafrechtswissenschaft kann mit den intuitiven Entscheidungsmethoden der Rechtsprechung nur wenig anfangen. Teilweise berührt sie sich mit der Praxis nicht; teilweise nimmt sie sie nicht wahr; soweit dies – retrospektiv – geschieht, ist ihr Einfluss gering.48 Im Mittelpunkt wissenschaftlicher Beschäftigung stehen dogmatisch-systematische Grundsatzfragen; 49 der Kanon der Themenschwerpunkte ist überschaubar: Handlungstheorie, Beteiligungslehre, Rechtfertigung, Fahrlässigkeit, Zurechnung, Versuch. Dabei betreffen viele Veröffentlichungen Gegenstände, für welche es schwer fällt, eine praktische Bedeutung zu postulieren. Das ist verwunderlich, weil einer Dogmatik ohne Bezug zur Wirklichkeit von vornherein Kraft und Reiz fehlen. Erstaunlich oft bestätigt wird der alte Vorwurf, die Strafrechtswissenschaft befasse sich in zu großem Umfang mit praxisferner „Lehrbuch-Kriminalität“ und nutzloser Glasperlen-Spielerei. Beispielhaft: In der breiten Diskussion über den Fall Gäfgen/Daschner um die Zulässigkeit sog. „Rettungsfolter“ ist die Ansicht vertreten worden, von § 32 StGB gedeckt sei zwar nicht die Anwendung der Folter, wohl aber ihre Androhung.50 Das ist ein Beispiel folgenloser Dogmatik, denn es ist ausgeschlossen, dass dieser Vorschlag
47 Die Prozessform des Aushandelns des Verfahrensergebnisses gilt als „unvermeidbar“, weil (!) sie sich contra legem (nicht, wie gern behauptet wird, praeter legem) „in der Praxis durchgesetzt“ hat und weil (!) man die deutschen Richter und Staatsanwälte nicht dazu veranlassen könne, sich an die Vorschriften der StPO zu halten (vgl. etwa Schmitt GA 2001, 411 ff). 48 Zu bedenken ist hierbei, dass sich die Wissenschaft vom (Straf-)Recht heute allgemein in einer deprimierenden Lage öffentlicher Abwesenheit befindet, die um so erstaunlicher wirkt, als das durch Massenmedien konstruierte Eigenbild der Gesellschaft weithin von Inszenierungen des Strafens geprägt ist. 49 Vgl. Roxin Die Strafrechtswissenschaft vor den Aufgaben der Zukunft, in: Eser/Hassemer/Burkhardt (Hrsg.) Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, Rückbesinnung und Ausblick, 2000, S. 369. 50 Herzberg JZ 2005, 321 (327 f).
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praktische Relevanz entfalten könnte: Der Mensch fürchtet sich nicht vor Drohungen, sondern vor deren Verwirklichung. Die genannte Ansicht könnte daher nur dann Wirksamkeit entfalten, wenn sie vor denen, die sie betrifft, geheim gehalten würde. Rechtswissenschaft für geheime Dienstanweisungen ist aber ein Widerspruch in sich. Als Beispiel für die bisweilen erstaunliche Selbstbezogenheit der Dogmatik kann ein Streit über eine Neubestimmung des Fahrlässigkeits-Begriffs gelten, der vor kurzem in einer Monographie, mehreren Aufsätzen,51 Rezensionen, Repliken und Kommentierungen zwischen zwei Strafrechtslehrern geführt wurde.52 Irgendein Einfluss dieser Schlacht auf die Entscheidung von Strafrechtsfällen mit FahrlässigkeitsBezug ist nicht ersichtlich. Ein argumentatives Verfehlen der anderen Seite ist nicht selten selbst da feststellbar, wo sich die Strafrechtswissenschaft ausdrücklich mit der Tätigkeit der Rechtsprechung befasst. Sie nähert sich Entscheidungen nicht aus dem Blickwinkel einer Gesamtwissenschaft vom (Straf-)Recht,53 sondern allein mit dogmatischen Fragestellungen. Dabei bleiben etwa die Geschichte von Entscheidungen ebenso wie die Struktur der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung bei dem Revisionsgericht unberücksichtigt, weil sie für die Dogmatik irrelevant sind. Das macht es Strafrichtern recht leicht, wissenschaftliche Kritik abzuwehren: Im Zweifel irrt der Kritiker schon deshalb, weil er „den konkreten Fall“ nicht kennt, nicht die Vergleichsfälle, die diffizilen Abgrenzungen zu anderen Senaten, die informellen Regeln, nach denen sich das als zumutbar angesehene Maß von „Problematisierungen“ bestimmt, die bisweilen komplizierten gruppendynamischen Prozesse in den Strafsenaten. Eine Vorstellung hiervon erlangen Strafrechtslehrer, die im Nebenamt richterlich tätig sind und sich dann meist erstaunlich „praxisorientiert“ (und, ohne pejorativen Unterton: angepasst) verhalten. Die Abschleifungen der Praxis erweisen sich als äußerst wirkmächtig. Der geringe Einfluss der Wissenschaft auf die Praxis der Strafrechtspflege trotz unablässig noch steigender Menge wissenschaftlicher Veröffentlichungen 54 mag durch die offenbar strukturelle Schwäche der Strafrechts-Wissenschaft mitverursacht sein, auf wichtige aktuelle Fragen der Strafrechtsentwicklung adäquate, nach eigenen Maßstäben gehaltvolle und die Wirklichkeit erreichende Antworten und Anleitungen zu geben. So hat etwa die sog. 51
In einer Praktiker-Zeitschrift! Vgl. zuletzt Herzberg NStZ 2004, 593 ff (660 ff); Duttge NStZ 2005, 243 ff, jew. mwN. 53 „Die selbständige Wissenschaft vom Rechte, die nicht praktischen Zwecken dienen will, sondern reiner Erkenntnis, die nicht von Worten handelt, sondern von Tatsachen, ist die Rechtssoziologie“ (Eugen Ehrlich). 54 Hierzu im Einzelnen und mit zahlreichen Nachweisen auch Burckhardt Geglückte und folgenlose Strafrechtsdogmatik, in: Eser/Hassemer/Burckhardt (Hrsg.) Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 111 (129 ff). 52
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„strafrechtliche Aufarbeitung des DDR-Unrechts“ weit gehend unter SelbstAusschluss der deutschen Strafrechts-Wissenschaft stattgefunden. Die Grundlagen-Fragen sind von den Strafsenaten des BGH geklärt worden; 55 große Teile der deutschen Strafrechtswissenschaft schwiegen in den Jahren nach 1989 anhaltend. Mit der Europäisierung des Strafrechts hat sich die deutsche Strafrechtswissenschaft erst sehr verspätet zu befassen begonnen. Auch überschaubarere, für die Strafrechtsgeltung wichtige dogmatische Probleme hat sie teilweise nur mit distanziertem Unverständnis begleitet oder mit langem zeitlichem Abstand nachträglich systematisiert. Auch die kritische Begleitung der gesetzlichen Rechtsentwicklung durch die Strafrechtswissenschaft verharrt oft im Kleinräumig-Systematischen. Beispielhaft für eine weithin folgenlose Theoriebildung kann auf die RechtsgutsDiskussion hingewiesen werden: Erörterungen zum Rechtsguts-Begriff und über seine Kraft zur Einlösung liberal-rechtsstaatlicher Legitimitäts-Postulate füllen unverändert Dissertationen, Sammelbände und Festschriften. Ob die Konzeption materielle Kriterien der Legitimität von Strafrecht liefern kann, ist streitig geblieben. Es ist vor allem nicht gelungen, sie in operationalisierbarer Weise mit empirischen Erkenntnissen zur Normentstehung und -wirkung zu verbinden.56 Eben dies wäre aber wichtig, um einen praktisch wirksamen Diskussionsprozess überhaupt zu ermöglichen. Hier ist freilich auch die fast schon demütigende Behandlung zu berücksichtigen, welche die Strafrechtswissenschaft inzwischen durch den Gesetzgeber erfährt.57 Mit wenigen Ausnahmen 58 wird wissenschaftliche Beratung in Fragen der Strafgesetzgebung nicht mehr ernsthaft eingeholt. Sachverständigen-Anhörungen des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestags
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Bezeichnenderweise unter Rückgriff auf Jahrzehnte alte Begründungen, die in der Strafrechtswissenschaft weithin als „überholt“ galten (Stichwort: Radbruch’sche Formel). 56 Weiterhin richtungweisend hierzu Amelung Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, 1972; Hassemer Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1972. Zum Diskussionsstand vgl. auch Lagodny Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, 1996; Hefendehl Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002; Hefendehl u.a. (Hrsg.) Die Rechtsgutstheorie, Legitimationsbasis des Strafrechts oder dogmatisches Glasperlenspiel? 2003; Murmann Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht, 2005. Die „Anwendung“ der Systemtheorie auf das Strafrecht hingegen hat dazu recht wenig geleistet und außer einer Durchdringung der Alltags-Sprache des Strafrechts mit Begriffen des Funktionalismus sowie am Ende einem „modernisierten“ Konzept des Feind-Strafrechts (dazu auch Fischer StGB 55. Aufl. Einl. Rn 12a mwN) bisher nicht viel bewirkt. 57 Umso verdienstvoller daher der Versuch einer Gruppe von Strafrechtslehrern im Jahr 1997, dem seinem Ziel entgegenrasenden Entwurf des 6. StrRG (nach vier Monaten Frist zur Stellungnahme) noch einen wissenschaftlichen Rat beizufügen (Freund ZStW 109 [1997] 455 ff). 58 Hervorzuheben: Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems (Schlussbericht: Hettinger [Hrsg.], Reform des Sanktionenrechts, Bd. I, II, 2001).
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etwa dienen so offensichtlich parteipolitischen Interessen, dass die Gutachtenserstattung – in „Meinungsgruppen“ nach Maßgabe des Parteienproporzes – inhaltlich oft überflüssig ist.59 Der Wissenschaft vom Strafprozess wird oft nur eine „unselbständig“ genannte Funktion zugeschrieben. Kommentierungen werden meist Praktikern überlassen; wissenschaftliche Vertiefung findet überwiegend in Dissertationen statt, die ein ums andere Mal die Wirklichkeit als bedenklich entlarven und oft schon bei Erscheinen von den raschen Gesetzesänderungen überholt sind. Übersehen wird, dass die Bedeutung der materiellen Strafrechtsdogmatik in dem Maß verfällt, in welchem sich der Prozess auflöst, in dem sie in die Wirklichkeit treten könnte: Wenn die Feststellung von Täterschaft oder Teilnahme Gegenstand euphemistisch als „Absprache“ bezeichneter gegenseitiger Drohungen mit empfindlichen Übeln ist 60 oder der Inhalt angeblicher Irrtümer des Täters mit dem Ziel ausgehandelt wird, einen minder schweren Fall „hinzukriegen“, werden Theorien über die Tatherrschaft oder die Irrtumslehre zur belächelten Verzierung. Die Strafrechtswissenschaft hat kein Instrumentarium und keine inhaltliche Autorität entwickelt, welche es ihr möglich machten, Entwicklungen des Prozessrechts mit zu gestalten und Fehlentwicklungen gegenzusteuern. Das öffentliche Bild davon, was Strafprozessrecht sei oder zu sein habe, bestimmen heute – bei optimistischer Beurteilung 61 – der EGMR, der zweite Senat des BVerfG, die Strafsenate des BGH sowie sog. Sicherheits-Experten, nicht aber Lehrer des Strafprozessrechts.
4. Die Tendenz zunehmender Fremdheit 62 hat eine Vielzahl ineinander verschränkter Ursachen. Im Grundsatz ist auf Folgendes hinzuweisen: Die genannten Beispiele deuten darauf hin, dass die Rechtsprechung aufgrund der Struktur ihrer Wahrnehmung nur wenig Widerstandskraft gegen Ent59 Beispielhaft: Gesetz zur Reform der Führungsaufsicht und der nachträglichen Sicherungsverwahrung v. 12.4.2007 (BGBl. I S. 513): Sachverständigenanhörung am 19.3.2007, Verbreitung des Abschlussberichts am 20.3. (BT-Drs. 16/4740), Gesetzesbeschluss am 22.3., Beschluss des Bundesrats-Plenums am 30.3. (BR-Drs. 192/07). Hier mag man sich fragen, welchem inhaltlichen Zweck die Anhörung der Sachverständigen wohl noch gedient haben könnte; erst recht, wenn man weiß, dass zeitgleich schon der nächste Referentenentwurf zur Ausweitung der Sicherungsverwahrung fertig gestellt wurde. 60 Einerseits: Hohe Strafe; andererseits: Langer Prozess; viel Arbeit. 61 Viel spricht dafür, dass die bei weitem bedeutendste und einflussreichste Informationsquelle über den Strafprozess die amerikanische Filmindustrie ist. 62 Bei aller Skepsis gegenüber dem Kritikmuster, wonach alles immer schlimmer werde, ist doch festzustellen, dass die Begründungen von Strafrechtswissenschaft und -praxis in der Tendenz weniger als früher aufeinander bezogen sind.
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wicklungen „untergründiger“ Begründungs-Strömungen, rechtspolitischer und sozialer Bedeutungswandlungen aufbringt. Sie öffnet sich ihnen vielmehr teils bewusst, teils unwillkürlich, weil sie auf diese Weise entstehende Probleme der Strafrechts-Geltung auffangen kann, gegebenenfalls um den Preis, deren Zerfall damit gerade zu beschleunigen. So ist auch der rechtspolitische Stimmungs-Umschwung von einer angeblich „gescheiterten“ Kriminalpolitik spezialpräventiver Ausrichtung 63 zum Siegeszug generalpräventiven Sicherheits-Denkens 64 ohne nennenswerten Widerstand in der Rechtsprechung durchgeschlagen und längst auch bei den Revisionsgerichten angekommen. Rechtsprechung tendiert zu Argumenten der Sachgerechtigkeit und der Einzelfallsbeurteilung. Begründungsmodelle, welche dies fördern oder erlauben, werden regelmäßig vorgezogen und erweisen sich so als „praxistauglich“. Beispielhaft hierfür ist die – extrem erfolgreiche – Tatherrschaftslehre: Dass über Beteiligungsformen und damit über Strafbegründungen und Strafrahmen nach Maßgabe einzelfallsbezogener „Gesamtwürdigungen“ entschieden werden soll, macht diese Lehre per se zum Königsweg für die Rechtsprechung. Ihre Orientierung auf akzeptable Ergebnisse 65 schützt die Rechtsprechung vor unsinniger Prinzipien-Reiterei, u.U. auch vor systematisch begründeter Ideologisierung. Sie erlaubt aber gerade hierdurch den Modellen der Sachgerechtigkeit auch, sich unreflektiert auszubreiten und ganze Bereiche der Rechtsprechung so zu durchdringen, dass limitierende Prinzipien nicht mehr als Teil gemeinsamer „Praxis“ identifiziert werden können. Grundsatz-geleitete Mahnungen oder gar Zurechtweisungen aus der Wissenschaft 66 werden dann als „Außeneingriff“, nicht als Teil gemeinsamen Bemühens verstanden; sie führen zu reflexhafter Abwehr.
63 Dass diese „euphorisch“, unrealistisch, „überzogen“ und jedenfalls „gescheitert“ sei, gehört zur Basisausstattung moderner rechtpolitischer Analysen. Wenn freilich tatsächlich der empirisch messbare Erfolg das Kriterium zur Beurteilung der Kriminalpolitik wäre, müssten sich das „Bekämpfungs“-Strafrecht und die generalpräventiven Konzepte erst recht und schon lange verabschieden. Geht man der Kritik an den vergangenen ReformKonzepten (die ja überwiegend gerade nicht verwirklicht wurden; vgl. etwa das schmähliche Ende der Sozialtherapeutischen Anstalt) nach, so stößt man auf Anhaltspunkte für die Gültigkeit der Regel: „Die schärfsten Kritiker der Elche …“. 64 Dies als „Theorie“ und die kriminalpolitischen Konjunkturen daher als Ausdruck wissenschaftlichen Ringens zu verstehen, wie es in Lehrbüchern zum Allgemeinen Teil und wissenschaftlichen Selbst-Beschreibungen meist geschieht, erscheint nicht angemessen. Gerade der Funktionalismus wird immer wieder vom affirmativen Gehalt der eigenen Analysen hinterrücks überwältigt, so dass er die eigene Rationalität für den Motor der Weltgeschichte hält. 65 Die Übereinstimmung mit dem Common Sense ist der Rechtsprechung um so wichtiger geworden, je mehr sie die frühere Gewissheit verloren hat, im autoritären Grundkonsens verwirkliche sich ohne Weiteres schon der relevante Durchschnitt des Billigen und Gerechten. 66 Für solche durch das Bundesverfassungsgericht gelten eigene komplizierte Regeln.
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Der gesetzlichen Ausweitung von Tatbestandsgrenzen als Symptom einer Entformalisierung des Strafrechts setzt die Rechtsprechung nur wenig Widerstand entgegen; 67 oft betreibt sie selbst eine nurmehr von Kriterien der Verhältnismäßigkeit geleitete Entgrenzung des materiellen Rechts, welche ihre Entsprechung in der grundlegenden Veränderung des Strafprozesses durch Absprachenpraxis und Verlagerung des Verfahrensschwerpunkts auf das (polizeilich dominierte) Vorverfahren findet. Grundlage hierfür ist, neben anderem, auch die Veränderung des Blickwinkels des Revisionsgerichts, das sich inzwischen einen weit reichenden, recht frei einsetzbaren Zugriff auf die Tatsachen geschaffen hat und sich in den kritischen Grenz-Fällen viel eher darum bemüht, im Einzelfall keinen „Täter“ ungeschoren zu lassen, als darum, aus Anlass des Einzelfalls die Grenze der Straflosigkeit zu bestimmen. Gesichtspunkte der Sachgerechtigkeit nehmen in den Begründungen zunehmendes Gewicht ein; § 354 Abs. 1a StPO hat dem Revisionsgericht, mit dem Argument der Verfahrensökonomie, das Tor zur tatrichterlichen EinzelfallsBeurteilung weit geöffnet.68 All dies sind Symptome einer Flexibilisierung des materiellen und formellen Strafrechts, die Teil einer Entwicklung ist, welche am Ende der 60er Jahre begonnen hat und deren Ende, vor dem Hintergrund fortschreitender Internationalisierung,69 derzeit kaum absehbar ist. Die Strafrechtswissenschaft verfehlt diese Probleme oft, indem sie tut, was sie kann: Beschreiben und Systematisieren. Dabei konnte die unter dem meist abwertend gemeinten Begriff „Flexibilisierung“ umschriebene Entwicklung sich zunächst auch auf vielfältige Forderungen aus der Wissenschaft stützen. Das Konzept „Gerechtigkeit durch Strafrecht“, das ja nur eine andere Seite der Medaille „Sicherheit durch Strafrecht“ ist, ist hier vorbereitet und im Sinne überfälliger Modernisierung gefordert worden. Beispielhaft zu nennen sind etwa die Korruptions-Verfolgung, die Lösung des Strafrechts von dem einseitigen Blick auf die Kriminalität unterer Bevölkerungsschichten; die „Bekämpfung“ sozialer Missstände, etwa der Umweltzerstörung, des Drogenmissbrauchs, des sexuellen Missbrauchs von Kindern, des Eindringens
67 Zuletzt versuchte dies allerdings der BGH bei der Eingrenzung des Anwendungsbereichs der nachträglichen Sicherungsverwahrung (vgl. u.a. BGHSt 50, 121; 50, 275; 50, 284; 50, 373; 51, 25; BGH 3 StR 396/06. Der Gesetzgeber hat die auf Verfassungsgrundsätze gestützte restriktive Handhabung binnen kürzester Zeit als „Irrtum“ erkannt und alsbald korrigierend eingegriffen (vgl. u.a. BR-Drs. 876/05, 50/06, 181/06, 911/06; BT-Drs. 16/4740). 68 Die quantitative Verteilung zwischen den Möglichkeiten des § 354 Abs. 1a StPO zeigt, wie vorauszusehen war, einen nur sehr geringen Anteil von Straf-Senkungen auf Antrag der Staatsanwaltschaft. In den weitaus meisten Fällen wird vom Revisionsgericht die verhängte Strafe bestätigt, weil sie trotz beschwerender Rechtsfehler „angemessen“ erscheine. § 354 Abs. 1a StPO wirkt sich praktisch somit meist zu Lasten der Angeklagten aus. 69 Vielleicht eher: Amerikanisierung, jedenfalls des Strafprozesses.
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fremder Kriminalität 70 in die deutschen Sozialstrukturen. Auch das heute rechtspolitisch dominierende Opfer-Dogma, wonach die Aufmerksamkeit des Strafrechts-Systems angeblich zu sehr auf die Täter von Straftaten ausgerichtet sei, kaum aber auf die Opfer, ist durch die Wissenschaft befördert und selten kritisch hinterfragt worden.71 In Rechtsprechung und Strafrechtswissenschaft sind Instrumentarien, mit denen der Wert der Leistungen und die Bedeutung des jeweils anderen Systems zutreffend erkannt und gegebenenfalls aufgenommen werden können, nicht (mehr) hinreichend entwickelt. Die Rechtsprechung ist überdies strukturell nicht in der Lage, in hinreichendem Maße aus sich selbst heraus Distanz für kritische Selbstreflexion zu gewinnen und inhaltliche Leitkriterien hierfür zu entwickeln. Die Strafrechtswissenschaft andererseits erstarrt in Selbstbetrachtung und Geschwätzigkeit, wenn sie ihren Gegenstand gar nicht mehr in der Wirklichkeit sucht. Dieser Zustand mindert die Leistungsfähigkeit des Strafrechts-Systems insgesamt. Die großen Herausforderungen, welche diesem für die Strukturierung sozialer Ordnung in Europa in der Zukunft aufgegeben sind, können so nicht adäquat bestanden werden. Abhilfe müsste an den Ursachen ansetzen; dies muss über das übliche „Miteinander-Reden“ hinausgehen. Die Fremdheit beider Welten 72 erschwert freilich auch diese Kommunikation. Vertretern der Wissenschaft fällt es in der Regel schwer, die eingefahrenen Bahnen wortreicher Sprachlosigkeit zu verlassen: Auf Kritik an ihrer Methode reagieren sie mit verstärkter (wissenschaftlicher) Anstrengung, bestenfalls mit Metakritik in neuen Abstraktionsschleifen.73 Das liegt in der Natur der Sache, denn aus Sicht einer nach oben
70 Stichwort: Organisierte Kriminalität, die von Anfang an als von außen nach Deutschland eindringendes Phänomen und als daher besonders gefährlich beschrieben wurde. „Organisiert“ sind noch immer bevorzugt türkische und ghanaische Rauschgifthändler, polnische und rumänische Diebe, italienische und chinesische Schutzgelderpresser. 71 Die These ist zu bezweifeln, jedenfalls aber ergänzungsbedürftig. Die Identifizierung als „Opfer“ ist in der deutschen Gesellschaft zum wichtigsten Ansatzpunkt für das Erreichen von Aufmerksamkeit, sozialer und auch materieller Zuwendung geworden. Die Massenmedien veranstalten ein permanentes Spektakel um immer neue „Opfer“-Gruppen; es fällt schwer, nicht mindestens zwei Opfer-Gruppen anzugehören. Die hinter dieser allgemeinen Opfer-Inszenierung im Einzelfall zurückbleibenden psychologischen und sozialen Betreuungs-Angebote an Geschädigte von Straftaten als Argument für Straf-Verschärfungen, Einschränkung von prozessualen Beschuldigten-Rechten und Abkehr von Resozialisierungs-Konzepten zu benutzen, ist abermals irrational. 72 Der Titel knüpft an ein programmatisches Zitat des amerikanischen Filmregisseurs David Lynch an. „Fremde Welt“ ist dort eine gewalttätige, unbewusste Gegenwelt, deren verstörende Symbole durch allfällige Risse in der Oberfläche dringen; analog dem Schichtenmodell der Psychoanalyse. 73 Treffend hierzu Burkhardt Geglückte und folgenlose Strafrechtsdogmatik, in: Eser/ Hassemer/Burkhardt (Hrsg.) Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, 111 (131).
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offenen Skala des Verstehens ist Kritik nur der Hinweis darauf, noch nicht genug verstanden zu haben. Die Rechtsprechung ist grundsätzlich offener für kritische Einwände im Einzelnen, jedoch methodisch unbeweglich und fixiert auf ihre „praktischen“ Ergebnisse; dies birgt mit der Möglichkeit auch die Gefahr, zwischen systematischen und einzelfalls-bezogenen Erwägungen fast nach Belieben zu wechseln. Man wird sich dem Problem, jenseits der wichtigen Ebene der Empathie und unter der Voraussetzung beiderseits deutlich gesteigerter Bereitschaft zur Offenheit auch gegenüber den tatsächlichen und angeblichen Überlegenheiten der jeweils anderen Seite, nur so nähern können, dass man die Aufmerksamkeit auf das Gemeinsame beider Welten richtet, also auf das Recht. Was banal klingt, ist schwierig, denn es geht um mehr als die Akzeptanz der jeweiligen Bearbeitung dieses Gegenstands – auf der einen Seite fallbezogen, auf der anderen theoriebezogen. Aus der Sicht des Rechts geht es, empirisch wie normativ, um Folgen-Verantwortung: Die Strafrechtsprechung muss sich damit auseinandersetzen, dass und warum sie fast unreflektiert die Tendenzen der sog. modernen Strafgesetzgebung zur Auflösung von Grenzen zwischen straflosem und strafbarem Handeln, Gefahr-Bekämpfung und individueller Zurechnung übernimmt und vorantreibt. Die Strafrechtswissenschaft muss sich der Erkenntnis stellen, dass erhebliche Teile ihrer Dogmatik rationale Folgen zwar noch in der Binnenstruktur der scientific community haben mögen, außerhalb von deren Systemgrenzen aber weithin als überflüssiges spectaculum gelten. Die Themen, anhand derer solches Bemühen überprüfbar und wirksam sein könnte, ergeben sich nicht aus den Aufgabenstellungen der Dogmatik, sondern aus dem Stoff selbst. Ob man sie, beispielsweise, Rechtsguts-Diskussion nennt oder Bestimmung des Fahrlässigkeits-Begriffs, ist eher sekundär; eine Sinn-volle und folgenreiche Vermittlung kann nur gelingen, wenn sie auf die Diskussionsgrundlage einer gemeinsamen Vorstellung vom Verhältnis normativer und empirischer Anteile an der Strafrechts-Geltung gerichtet ist.
Der sog. „erweiterte Suizid“ – ein problematischer Begriff? Klaus Foerster Einleitung Suizide und Suizidversuche sind gravierende Ereignisse, oft in tragische Lebenssituationen der Handelnden und deren Familien eingebettet. Dies gilt in besonderem Maße für jene meist überaus dramatischen Ereignisse, die mit den Begriffen erweiterter Suizid oder Mitnahmesuizid beschrieben werden. Neben den menschlichen Problemen können Suizide, Suizidversuche und erweiterte Suizide schwierige Fragen bei der Beurteilung in unterschiedlichen Wissensgebieten aufwerfen. Genannt seien religions- wie rechtsphilosophische Erörterungen, die sich wesentlich um das kontroverse Thema der Freiverantwortlichkeit des Suizides drehen, das abschließend wohl kaum beantwortbar ist (Gropp 1996, Pohlmeier 1996). Darüber hinaus ergeben sich vielfältige juristische Probleme in ganz unterschiedlichen, nachfolgend kurz zu skizzierenden Rechtsgebieten. Ferner zu erörtern sind kriminologische Fragen, Probleme der forensisch-psychiatrischen Beurteilung, der psychiatrischen Therapiemöglichkeiten und der Verläufe nach Suizidversuchen. Geht es um rechtliche Fragen bei der Beurteilung von Suiziden, erweiterten Suiziden und Suizidversuchen, so sind die zur Entscheidung berufenen Juristen in der Regel auf die Zusammenarbeit mit dem psychiatrischen Sachverständigen angewiesen. Bei allen Beurteilungen geht es dabei im Kern um die persönliche Verantwortung der Handelnden und gegebenenfalls deren Einschränkung aus psychopathologischen Gründen. Auch wenn der suizidal handelnde Mensch einen Suizidversuch überlebt hat, so ist die retrospektive Einschätzung der konkreten Situation für den psychiatrischen Sachverständigen häufig schwierig genug. Ungleich problematischer stellt sich die gutachtliche Situation dar, wenn der Handelnde verstorben ist. Hier ergeben sich alle methodischen Probleme einer Einschätzung eines Menschen ohne persönliche Untersuchung, vor der die psychiatrischen Sachverständigen bei der retrospektiven Beurteilung der Geschäfts- bzw. Testierfähigkeit verstorbener Probanden stehen (Foerster 2004).
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Überblick über forensisch-psychiatrische Fragestellungen Nachfolgend nenne ich ohne Anspruch auf Vollständigkeit kurz die wesentlichen Fragestellungen, mit denen der psychiatrische Sachverständige in unterschiedlichen Rechtsgebieten konfrontiert werden kann. Strafrechtliche Fragen Auch wenn Suizid und Suizidversuche keine Straftatbestände sind und dementsprechend auch die Beihilfe zum Suizid und Suizidversuch straflos ist, kann aufgrund der Garantenstellung des Arztes bei ambulant oder stationär behandelten Patienten der Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung, der fahrlässigen Tötung oder der fahrlässigen Körperverletzung erhoben werden, wenn eine Suizidhandlung bzw. ein Suizidversuch nicht verhindert wurde (Schöch 1996). Ganz neue Aktualität haben diese Probleme bei der brisanten Erörterung um die sogenannte „Sterbehilfe“ gewonnen. Die hierzu aus juristischer Sicht gemachten Vorschläge (Schöch und Verrel 2005) haben zu einer kontroversen Diskussion geführt (Beckmann 2005, Pfäfflin 2006, Sahm 2006), wobei an dieser Stelle auf die Problematik, die einer eingehenden Erörterung auch aus psychiatrischer Sicht bedarf, nur hingewiesen werden soll. Zivilrechtliche Fragen Im Versicherungsrecht kann sich die Frage stellen, ob ein Suizid, der innerhalb der Karenzzeit von 3 Jahren nach Abschluss einer Lebensversicherung erfolgte, frei verantwortlich oder psychopathologisch determiniert war. Zu beantworten ist dann die Frage, ob der Suizid in einem Zustand erfolgte, der die freie Willensbestimmung aufgrund einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit ausschließt (Venzlaff 2004). Bei Haftungsproblemen können sich gemäß § 823 BGB Schadensersatzansprüche auf die Frage der Nicht-Verhinderung eines Suizides beziehen wie auch auf die Einschätzung gegebenenfalls bleibender gesundheitlicher Schäden eines Suizidversuches. Dabei können sich überaus komplizierte rechtliche Probleme ergeben (Fuellmich 1996, Venzlaff 1996, 2004). Bei suizidalem Handeln, insbesondere bei einem konkreten Suizidversuch, muss die Frage geprüft werden, ob eine öffentlich-rechtliche Unterbringung bzw. eine zivilrechtliche Unterbringung – sofern eine Betreuung besteht – erforderlich ist, wobei die Einschätzung der Suizidalität zu den schwierigsten psychiatrischen Aufgaben gehören kann, vor allem bei chronischer Suizidalität.
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Sozialrechtliche Fragen Es kann die Frage entstehen, ob ein Suizid bzw. ein Suizidversuch am Arbeitsplatz als Arbeitsunfall zu werten ist (Erlenkämper 2004, Venzlaff 2004). In diesem Zusammenhang kann auch die Frage aufgeworfen werden, ob ein Autounfall im Rahmen eines Wegeunfalls möglicherweise als „getarnte“ Suizidhandlung anzusehen ist. Arbeitsrechtliche Fragen Hier kann sich das Problem ergeben, ob nach einem Suizidversuch Anspruch auf Lohnfortzahlung besteht. Dies ist dann der Fall, wenn der Suizidversuch und seine Folgen als Krankheit oder als Symptom einer Krankheit einzustufen sind (Erlenkämper 2004). Verwaltungsrechtliche Fragen Schwierige Fragen können sich ergeben bei der Einschätzung der Suizidgefahr bei Asylbewerbern, vor allem wenn es um die Frage einer eventuellen Abschiebung geht. Methodisch geht es hier um die Vorhersage eines seltenen Ereignisses unter Einwirkung einer unklaren Zahl zukünftiger Variablen für einen unbestimmten Zeitraum – eine offenkundig methodisch kaum zu leistende Aufgabe.
Erweiterter Suizid – Überblick über die Probleme Die Beurteilung suizidalen Handelns ist für den psychiatrischen Sachverständigen häufig außerordentlich schwierig. Diese Schwierigkeiten können sich vervielfachen, wenn in suizidalen Geschehen nicht nur ein Mensch betroffen ist, sondern wenn in dieses Handeln eine oder mehrere andere Personen mit einbezogen sind. Solche Handlungen werden in der psychiatrischen Literatur mit dem Begriff erweiterter Suizid beschrieben, während in juristischen Publikationen vom Mitnahmesuizid gesprochen wird. Der psychiatrische Begriff ist seit 100 Jahren in die Diskussion eingeführt. Dennoch finden sich immer wieder kontroverse Erörterungen und es ist daher zu fragen, ob es sich um einen zumindestens in der Psychiatrie wohl etablierten, eindeutig formulierten Begriff handelt, oder ob sich hinter der scheinbar klaren Nomenklatur unterschiedliche Einschätzungen verbergen. Zu bedenken ist die historische Entwicklung des Begriffes, die Begriffsbildung und Nomenklatur, die Häufigkeit derartiger Handlungen, juristische Aspekte und psychiatrische bzw. forensisch-psychiatrische Aspekte.
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Historische Aspekte Seit den Anfängen der wissenschaftlich betriebenen Psychiatrie finden sich immer wieder spektakuläre Berichte über Tötungen von Familienangehörigen (Bien 1984). Diese Fälle wurden anfangs meist mit dem Begriff des Familienmordes beschrieben, so auch durch v. Muralt (1905/06), wobei dieser Autor die von ihm beschriebenen Fälle differenziert von Tötungen von Familienangehörigen, die von Paranoikern, Epileptikern oder Alkoholdeliranten ausgeführt wurden. Dieses Thema war offenbar Anfang des 20. Jahrhunderts so aktuell und brisant, dass es als psychiatrisches Rahmenthema auf der 3. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Gerichtliche Medizin im Jahr 1907 behandelt wurde und zwar noch unter dem Thema „Familienmord“. Auf dieser Tagung wurde zunächst der Terminus kombinierter Suizid vorgeschlagen, woraus sich in der Diskussion der Begriff des erweiterten Suizids herauskristallisierte (Bien 1984, Geiger 1991), wobei entsprechend der damaligen Nomenklatur die Taten noch als „Selbstmord“ benannt wurden (Naecke und Strassman 1908). War der Begriff damit in die Fachliteratur eingeführt, so zeigten sich in den Publikationen der folgenden Jahre Erweiterungen des Begriffs sowie Überschneidungen und Überlappungen mit ähnlichen Formulierungen. Zu nennen sind neben dem bereits erwähnten Begriff kombinierter Suizid weitere Formulierungen wie komplizierter Suizid, Doppelsuizid, Familiensuizid und gemeinschaftlicher Suizid (Horn 1996). Dabei ergibt sich eine erhebliche begriffliche Unschärfe da diese Begriffe teilweise gleichgesetzt wurden, ohne auf die begrifflichen Unterschiede einzugehen (Ghysbrecht 1967, Mende 1967). Diese Unklarheiten in der begrifflichen Zuordnung können dann zu ganz unterschiedlichen Interpretationen und Feststellungen führen. Dies zeigt sich an der Darstellung eines historisch berühmten Falles, nämlich des Todes von Heinrich von Kleist und der Henriette Vogel. Dieser wird einerseits als erweiterter Suizid (Riße und Weiler 1999), andererseits als Doppelsuizid (Schmücker 1998) beschrieben, wobei auf die unterschiedliche Begriffsbildung nicht näher eingegangen wird. Allerdings handelt es sich hier keineswegs um ein historisches Problem, wie sich daran zeigt, dass seitens des Bundesgerichtshofes 1994 die kategorial unterschiedlichen Begriffe erweiterter Suizid und Doppelsuizid verwechselt wurden (Winckler und Foerster 1996). Um der begrifflichen Klarheit Willen ist es daher sinnvoll, Begriffe wie Nomenklatur auf den Prüfstand zu stellen. Begriffsbildung und Nomenklatur Eine aktuelle Definition gibt Pollak (2005) aus rechtsmedizinischer Sicht. „Ein erweiterter Suizid (Mitnahmesuizid, „homicide suicide“) liegt vor, wenn eine zur Selbsttötung entschlossene Person einen (oder mehr)
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Menschen ohne dessen/deren Einverständnis oder gegen dessen/deren Willen in die Tötungshandlung einbezieht; meist handelt es sich bei den Betroffenen um nahe stehende Angehörige (Familienmitglieder, Intimpartner). Ausgenommen sind gemeinschaftliche Suizide mit einvernehmlicher Partnertötung. Nicht zu den erweiterten Suiziden gehören jene Selbsttötungen, die im Anschluss an einen als Reaktion auf diesen verübt werden und von Reue, Schuldgefühl und Furcht vor Strafe bestimmt sind. Ein wichtiges Merkmal des erweiterten Suizids ist die rasche Aufeinanderfolge von Fremd- und Selbsttötung. Männliche Täter führen die Tötungshandlungen mehrheitlich mit Schusswaffen, seltener durch einen komprimierenden Halsangriff oder durch scharfe Gewalt aus; bevorzugte Methoden der anschließenden Selbsttötung sind Erschießen und Erhängen. Homicide und Suizid werden meist am selben Ort oder in räumlicher Nähe begangen.“ Aus dieser Definition können sich prinzipiell vier unterschiedliche Folgekonstellationen ergeben: Sowohl Täter als Opfer sind tot Sowohl Täter als Opfer haben überlebt Der Täter ist tot, das Opfer hat überlebt Der Täter hat überlebt, das Opfer ist tot Ist der handelnde Täter zu Tode gekommen, so wird vom vollendeten erweiterten Suizid gesprochen, wenn das Opfer ebenfalls tot ist. Andernfalls ist die Rede vom unvollendeten erweiterten Suizid, der auch als misslungener erweiterter Suizid bezeichnet wird (Lange 1964, Meier 1984). Entsprechend der genannten Definition liegt die Schwierigkeit bei der Beurteilung ganz offenbar darin einzuschätzen, ob es sich um einen Suizidbzw. Suizidversuch im Anschluss an einen Homicid aus Reue, Schuldgefühl oder Furcht gehandelt hat, oder ob eine andere Motivation handlungsdeterminierend war. Aus psychiatrischer Sicht ist dabei für die Annahme einer solchen Tatsequenz als erweiterter Suizid die prinzipielle Voraussetzung, dass das primäre Handeln auf den eigenen Suizid gerichtet war, d.h. dass die führende innere Entscheidung des Handelnden die Tendenz zur Aufgabe des eigenen Lebens war. Die Mitnahmetendenzen bezüglich anderer Menschen müssen somit sekundär aus dem primären Entschluss zum eigenen Suizid des Handelnden heraus verstanden werden. Zum Überleben der Täter kann es kommen, wenn der konkrete Suizidversuch des Handelnden scheitert oder wenn er in letzter Minute aufgefunden wird (Witter und Luthe 1996). Schließlich kann die auch die heteroaggressive Energie nach der Tötungshandlung so „erlahmen“, dass eigenes suizidales Handeln aufgrund Antriebslosigkeit nicht mehr möglich ist (Venzlaff und Schmidt-Degenhard 2004).
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Zur Anerkennung als erweiterter Suizid wird von manchen Autoren darüber hinaus eine „altruistische Haltung“ des Handelnden gegenüber den in den Tod mitgenommenen Menschen gefordert (Lange 1964, Venzlaff und Schmidt-Degenhard 2004). Hieran wurde berechtigte Kritik insofern geübt, als es kaum je gelingen dürfte, eindeutige altruistische Motive einerseits und ebenfalls zu berücksichtigende andere Affekte, beispielsweise der Wut und des Hasses eindeutig voneinander zu trennen. Gerade bei der Tötung von Kindern mit folgendem Selbsttötungsversuch oder vollendeter Selbsttötung liegt in der Regel ein Konvolut aus altruistischen, besser pseudoaltruistischen Motiven einerseits und egoistischen Motiven andererseits vor (Horn 1996). Sehr zurecht wurde auch darauf hingewiesen, dass bereits der Terminus erweiterter Suizid die Sichtweise des Handelnden spiegele, wobei dessen eigenes Sterben-Wollen im Vordergrund stehe und es insoweit eine Perspektive der Überlegenheit gegenüber den in den Suizid „mitgenommenen“ Personen bedeute. Hierdurch würden die Opfer auf ihre Beziehung zum Täter als der ohne weiteres für sie entscheidenden und handelnden Person reduziert und insofern erschienen sie weniger als Opfer eines gegen sie gerichteten Tötungsdeliktes, als vielmehr als Begleitumstand der Selbsttötung des Täters (Eisenberg 1995). Es ist sicher berechtigt zu fragen, ob es tatsächlich ein echtes altruistisches Motiv geben kann, dessen Ergebnis die Tötung eines nahen Angehörigen ist. Weitere Kritikpunkte am Terminus erweiterter Suizid sind zu nennen. Aus der Formulierung geht keineswegs eindeutig hervor, worauf sich die „Erweiterung“ eigentlich bezieht. Dies führte dazu, dass der Begriff erweiterter Suizid auch auf den „geliebten Lebensraum“ erweitert wurde, wenn durch Brandstiftung versucht wird, die Wohnung oder das Haus zu vernichten (Donalies 1949). Ein weiteres Beispiel bezüglich der Unschärfe des Wortes „Erweiterung“ sind diejenigen Fälle, in denen diskutiert wird, ob ein Autounfall mit Einbeziehen von Angehörigen eine „getarnte“ Form einer Tötung/eines Suizids gewesen sein könnte (Ringel 1985). Homicidal-suizidale Handlungen finden sich auch bei anderen dramatischen Handlungen, an die in diesem Zusammenhang meist weniger gedacht wird, nämlich bei Massensuiziden, beispielsweise ideologisch oder religiös motivierten Tötungen wie auch zu den Taten, die mit dem Begriff „Amok“ beschrieben werden. Es kann gefragt werden, ob nicht manche Formen von Amokhandlungen als monströs übersteigerte Formen eines erweiterten Suizids interpretiert werden können, da diese Täter durch eine phasenhafte, impulsive homicidal-suizidale Handlung gekennzeichnet sind (Foerster 2002, Adler et. al. 2006). Die geschilderten Unschärfen in der Nomenklatur resultieren im Wesentlichen daraus, dass bei der Begriffsbildung unterschiedliche Ebenen vermischt werden. Zum einen geht es um eine Ausweitung des Begriffes, auf der anderen
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Seite wird eine Motivanalyse in die Definition einbezogen und darüber hinaus wird gelegentlich der Standpunkt vertreten, dass aus einem lediglich phänomenologisch zu beschreibenden Handeln als erweiterter Suizid eo ipso forensisch-psychiatrische und sogar strafrechtliche Folgerungen zu ziehen seien. Ganz offenbar erfüllt somit der Begriff erweiterter Suizid nicht die Forderung nach einer klaren, abgrenzbaren nomenklatorischen Entität. Es ist daher zu fragen, ob es zukünftig besser ist, auf einen solchen Begriff, der seinerseits stets einer Erläuterung bedarf, gänzlich zu verzichten. Aus psychiatrischer Sicht ist es sinnvoller, unter rein formalen Gesichtspunkten von Tötung mit nachfolgendem Suizid bzw. von Tötung mit nachfolgendem Suizidversuch zu sprechen. Dies entspricht auch der internationalen Nomenklatur homicidesuicide bzw. homicide-suicide attempt (Buteau et al. 1993, Coid 1983). Eine solche offene Formulierung macht auch deutlich, dass aus der Tatsache „erweiterter“ Suizid keine forensisch-psychiatrischen Folgerungen resultieren. Diese müssen – wie auch sonst – in jedem Einzelfall gesondert erörtert werden. Aufgrund der eigenen Erfahrung ist eine solche offene Formulierung auch hilfreich bei der Diskussion mit Strafrechtlern, da von diesen der Begriff des erweiterten Suizids und seiner möglichen forensischen-psychiatrischen Implikationen manchmal gänzlich abgelehnt wird, sogar beim Vorliegen psychopathologischer Störungen beim Täter. Häufigkeit Die empirischen Kenntnisse über jegliche Formen von Tötung/Selbsttötung bzw. Tötung/Selbsttötungsversuch sind spärlich. Eine eigene Kategorie in der polizeilichen Kriminalitätsstatistik existiert hierfür nicht, sodass sich die Kenntnisse auf Berichte über Einzelfälle bzw. die Zusammenstellung von Einzelfällen beziehen. Informationen über die Häufigkeit resultieren aus drei Quellen: epidemiologische Studien, rechtsmedizinische Untersuchungen, Analyse begutachteter Täter nach erweiterten unvollendeten Suiziden, wobei zu berücksichtigen ist, dass Begriffe und Definitionen nicht einheitlich verwandt werden, wodurch eine Vergleichbarkeit nahezu unmöglich wird. Epidemiologische Studien Unter Anwendung der Kategorie homicide-suicide ergibt sich, dass in USA und Kanada ein relativ konstanter Anteil der Bevölkerung von 0.2 bis 0.5 pro 100.000 Einwohner homicide-suicide begeht (Buteau et al. 1993, Coid 1983). Diese Zahlen sind für den in der deutschen Literatur vorherrschenden Begriff des erweiterten Suizides nicht aussagekräftig, da in diesen Studien auch andere Kategorien wie Doppelsuizid, Mehrfachsuizid oder induzierter Suizid miterfasst wurden.
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Rechtsmedizinische Untersuchungen Pollak (1979) fand für die Sektionen des Rechtsmedizinischen Institutes in Wien in zehn Jahren zwanzig Täter. Geiger (1981) gab für die Zahl für Tübingen für einen Zeitraum von knapp einundzwanzig Jahren mit vierzig Fällen an, wobei es völlig offen ist, ob diese zahlenmäßige Übereinstimmung eine tatsächliche Häufigkeit widerspiegelt, oder ob es sich um ein zufälliges Ergebnis handelt. Entsprechend dem Zugang aus rechtsmedizinischer Sicht handelt es sich bei diesen Zahlen ausschließlich um vollendete erweiterte Suizide. Dabei wurden drei große Gruppen von Tötungshandlungen registriert: Vergiften, Erkränken und Ersticken bzw. Erhängen. Die Vergiftungen erfolgen in der Regel durch eine Kombination aus Hypnotika und Analgetika plus Alkohol oder durch sonstige zentralnervös wirksame Medikamente. Dabei kann der Fall eintreten, dass der erwachsene Täter die Intoxikation mit Hypnotika und Alkohol überlebt, während die gleiche Dosierung bei einem Kind tödlich wirkt. Bei den Täterinnen finden sich als hauptsächliche Tötungshandlungen Vergiftung oder Ertränken der Kinder, meist in der Badewanne. Alle anderen Tötungsarten kommen lediglich in Einzelfällen vor. Analyse begutachteter Täter In psychiatrischen Publikationen werden die überlebenden Täter nach unvollendetem bzw. misslungenem erweiterten Suizid beschrieben. Hierbei handelt es sich um selektierte Populationen, da es dem Zufall überlassen ist, welche Täter wo begutachtet wurden und welche Autoren diese Gutachten ausgewertet haben. Aus diesem Grund ist es nicht sinnvoll, überhaupt Zahlen anzugeben. Wichtig sind diese Publikationen jedoch für Fragen nach einer eventuellen psychopathologischen Symptomatik und der Motivanalyse (s. unten). Strafrechtliche Aspekte Beim Überleben des Täters, d.h. bei einer vollendeten Tötung eines Opfers mit nachfolgendem Suizidversuch des Täters ergibt sich die Frage, ob die Tötung als Mord, als Totschlag oder in anderer Weise zu qualifizieren ist. Ein Mord darf nur angenommen werden, wenn eines der Mordmerkmale des § 211 StGB vorliegt. Im Falle eines erweiterten Suizids kann die Frage gestellt werden, ob möglicherweise „Heimtücke“ vorgelegen hat. Nach Meinung des Bundesgerichtshofes ist eine Tat dann nicht als heimtückisch anzusehen, wenn der Täter geglaubt habe, zum Besten seines Opfers zu handeln. In einem konkreten Fall war festgestellt worden, dass es dem Täter, der seine geliebten Angehörigen in den Tod mitnahm und sich anschließend suizidieren wollte, an der feindseligen Willensrichtung gefehlt habe, die kennzeichnend sei für das Ausnutzen der Arg- oder Wehrlosigkeit der Opfer. Eine solche feindselige Willensrichtung habe deshalb gefehlt, weil der Täter gemeint
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habe, zum Besten seiner Familie zu handeln (BGH St 9, 385, 1956). Dagegen sei eine heimtückische Tötung gegeben, wenn der Täter die ohne sein Zutun vorgefundene Lage des Opfers bewusst ausnutze. In Fällen eines misslungen Mitnahmesuizides könne die Mordmerkmals-spezifische feindliche Willensrichtung nicht entfallen, wenn der Täter nicht allein zum (vermeintlich) Besten der Getöteten gehandelt habe, sondern mit der Tat auch weitergehende Ziele – etwa Rachegelüste – verfolgt habe (NStZ 2006, 338). Dabei ist die Frage, ob eine „feindselige Haltung“ fehlte bzw. ob der Täter glaubte, „zum Besten seines Opfers“ zu handeln, eindeutig Gegenstand juristischer Beweiswürdigung und nicht Gegenstand sachverständig möglicher Feststellungen, wobei sich dies auf diejenigen Fälle bezieht, in denen keine gravierende psychopathologische Symptomatik, etwa eine schwere depressive Symptomatik oder ein Wahnsyndrom vorlag (Winckler und Foerster 1996). Folgte man dem Vorschlag, derartige Handlungssequenzen besser als Tötung mit nachfolgendem Suizid bzw. als Tötung mit nachfolgendem Suizidversuch zu bezeichnen, so würde auch die Verwechslungsmöglichkeit zwischen erweitertem Suizid und Doppelsuizid entfallen (NStZ 1995, 230). Ist in diesen Fällen die Frage nach der „Täterschaft“ in der Regel eindeutig, da offenkundig ein Tötungsdelikt vorliegt, so kann sich diese Frage bei anderen Konstellationen durchaus stellen, nämlich bei einem einseitigen vollendeten Doppelsuizid bzw. bei der Mitwirkung Dritter an einem Suizid unter dem Aspekt der Beihilfe (Meier 1984). Hierbei kann es strafrechtlich um die Frage vorsätzlicher oder fahrlässiger Tötung durch Unterlassen gehen sowie um das Problem eines auf eigenverantwortlicher Willensbildung beruhenden Selbsttötungsentschlusses, wie sich an einem spektakulären Einzelfall einer Folie à deux mit gemeinsamem Suizid bzw. Suizidversuch zeigte (Stübner et al. 2006). Auf die Problematik einer möglichen strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Ärzten im Rahmen der Beihilfe zum Suizid kann an dieser Stelle nur hingewiesen werden (Schöch 1996, Schöch und Verrel 2005). Psychiatrische und forensisch-psychiatrische Aspekte Alle Kenntnisse über psychopathologische Symptome und Motive beziehen sich auf diejenigen Täter, die den Suizid überlebt haben, es sei denn, dass von verstorbenen Tätern ausführliche schriftliche Äußerungen vorliegen, etwa ein Abschiedsbrief, ein Testament oder ärztliche Unterlagen, die eine nachträgliche Einschätzung, auch eine nachträgliche Motivanalyse erlauben (Pollak 1979, Stuhr und Püschel 2005). In den psychiatrischen Publikationen standen von Anfang an die Fragen nach einer etwaigen psychopathologischen Symptomatik und die nach der Beurteilung der Motive nebeneinander. Dabei wurde teilweise den Motiven,
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die als normalpsychologisch ableitbar verstanden wurden, sogar größeres Gewicht beigemessen als den psychischen Störungen, die manchmal ausdrücklich aus der Kategorie des „Familienmordes“ ausgeschlossen wurden (v. Muralt 1905/06). Ganz erhebliches, sogar entscheidendes Gewicht erlangte die Einschätzung der Motivation bei denjenigen Autoren, die ein „altruistisches Motiv“ als konstituierend für die Annahme eines erweiterten Suizides verlangten (Lange 1964, Witter und Luthe 1966, Venzlaff und Schmidt-Degenhard 2004). Einer solchen Einschätzung wurde jedoch häufig widersprochen (Rasch und Petersen 1965, Bien 1985, Eisenberg 1995, Okumura und Kraus 1996). Mit Recht wurde darauf hingewiesen, dass das Motiv des „Altruismus“ von den Tätern, vor allem dann, wenn es sich um Täterinnen, nämlich Mütter, handelt, möglicherweise nur deshalb so oft genannt werde, weil es vielleicht noch am ehesten dazu dienen könne, die Tat zu begründen, möglicherweise zu entschuldigen. Allerdings könne ein altruistisches Motiv auch lediglich vorgegeben werden, vor allem dann, wenn es sich um Probandinnen mit einer Persönlichkeitsstörung handele (Okumura und Kraus 1996). Rasch und Petersen (1965) betonen, dass in der von ihnen untersuchten Gruppe der Mütter, die ihre Kinder töteten oder es versucht hatten, die subjektive Begründung, aus Mitleid gehandelt zu haben, völlig fehlte. Somit ist die von manchen Autoren vorgenommene Einschränkung der Kategorie erweiterter Suizid auf Fälle einer angenommenen altruistischen Motivation prinzipiell abzulehnen. Eine solche Einengung des Begriffes ist auch aus rein logischen Gründen nicht möglich, da die Handlungskette Tötung mit nachfolgendem Suizidversuch ausschließlich über den äußeren Ablauf zu erfassen ist. Ein weiterer Gegengrund ist die Tatsache, dass einer angenommenen Motivation, die lediglich aus der Deutungskunst des Untersuchers resultieren mag, keine Relevanz für die forensisch-psychiatrische bzw. strafrechtliche Folgerung zukommt, sofern es sich nicht um eine psychopathologisch determinierte Symptomatik handelt. Unter psychopathologischen Aspekten wurde der erweiterte Suizid häufig als das typische Delikt eines depressiven Menschen gesehen (Mende 1967, Harrer und Kofler-Westergren 1986), wobei sich allerdings auch stets Gegenstimmen fanden (Rasch und Petersen 1965, Rasch 1979, Eisenberg 1995, Foerster 2002). Wie wenig es möglich ist, eine solche Exklusivität der depressiven Symptomatik als Urasche für den erweiterten Suizid anzunehmen, zeigen übereinstimmend alle Untersuchungen, die sich mit der diagnostischpsychopathologischen Einschätzung der überlebenden Täter befasst haben (Bien 1984, 1985, Meier 1984, Rasch und Petersein 1965, Okumura und Kraus 1996, Horn 1996, Lange 1964, Witter und Luthe 1966, Bischof 1982). Eine unmittelbare Vergleichbarkeit der Publikationen ist aus methodischen Gründen nicht möglich. Berücksichtigt man jedoch nur die groben diagnostischen Kategorien, so zeigt sich folgendes Ergebnis: In etwa 50 bis
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60 % wurden depressive Syndrome unterschiedlichster Ätiologie diagnostiziert. Die übrigen Täterinnen und Täter erhielten die Diagnosen schizophrene Psychosen, reaktive bzw. neurotische Entwicklungen sowie Persönlichkeitsstörungen. Es liegt unmittelbar auf der Hand, dass in unterschiedlichen psychopathologisch determinierten Handlungssequenzen auch die Motivation unterschiedlich ist. Allenfalls bei den depressiv erkrankten Täterinnen und Tätern ist das altruistische, besser pseudoaltruistische, jedoch psychopathologisch determinierte, Motiv zu erörtern. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass auch der melancholische Täter sich durch seine Handlung über die wahren, über die eigentlichen Bedürfnisse des Getöteten massiv hinwegsetzt und das Handeln insofern gerade nicht als altruistisch zu werten ist. Der in diesem Zusammenhang gelegentlich kurzschlüssig verwandte Begriff der „projektiven Identifikation“ führt nach Okumura und Kraus (1996) im logischen Sinn nur dann weiter, wenn es sich tatsächlich um eine schizophren-psychotische Identifikation gehandelt habe, bei der die Tötung des anderen mit der des eigenen Selbst gleichbedeutend geworden sei. Nur dann dürfte eigentlich von einer „erweiterten Selbsttötung“ gesprochen werden. Hierin liegt ein weiteres Argument gegen die Verwendung des Begriffes „erweiterter Suizid“. Stattdessen plädieren Okumura und Kraus (1996) für die Bezeichnung Mitnahmesuizid. Allerdings führt dies in der Präzision auch nicht weiter, da eine solche Bezeichnung auf diejenigen Fälle mit tatsächlich erfolgtem Suizid des Täters beschränkt bleiben müssten, denn die Rede von einem „Mitnahmesuizidversuch“ wäre gänzlich unpräzise. Eine völlig andere Motivationslage wird deutlich bei persönlichkeitsgestörten Täterinnen bzw. Tätern, bei denen der eigenen Erfahrung nach häufig eine narzisstische Problematik vorliegt (Foerster 2002). Im Rahmen von Scheidungen und nachfolgenden Sorgerechtsverfahren kann es dann zu einer massiven narzisstischen Kränkung kommen, wenn die Verleugnung der Realität durch konkrete äußere Tatsachen nicht mehr möglich ist. Dies kann zu suizidalem Handeln führen, ggf. kombiniert mit der Tötung des Schwächsten, nämlich des Kindes oder der Kinder. Hier ist nun eindeutig kein altruistischer motivationaler Hintergrund zu benennen, sondern die Motive sind von Hass- und Rachegefühlen bestimmt in dem Sinne, dass es nicht ertragen werden kann, dass das Sorgerecht dem geschiedenen Partner zugesprochen wird. Bezüglich der diagnostischen Einschätzung entspricht die eigene Erfahrung den Ergebnissen der Literatur. Neben persönlichkeitsgestörten Tätern, bei denen die Männer überwogen, habe ich depressive Täter gesehen, hier mit einem Überwiegen der Frauen sowie in Einzelfällen schizophrene Täterinnen, bei denen die Tötungshandlung entweder unmittelbar wahndeterminiert war oder imperativen Stimmen folgte (Foerster 2002). Es ist somit festzuhalten, dass es bei Handlungssequenzen, die als erweiterter Suizid bezeichnet werden, keine spezifische Symptomatik gibt, keinen übergreifenden psychodynamischen Hintergrund und auch keine für alle
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Fälle zutreffende Motivation – ein weiteres Argument gegen die Verwendung einer als einheitlich zu verstehenden Kategorie erweiterter Suizid. Die forensisch-psychiatrische Beurteilung erfolgt wie auch sonst unter Berücksichtigung des psychopathologischen Referenzsystems. Entscheidend für die Beurteilung ist dabei Grad und Ausmaß einer gegebenenfalls vorliegenden konkreten psychopathologischen Symptomatik zum Tatzeitpunkt, wobei sich hier die auch sonst geläufigen Probleme einer retrospektiven Beurteilung ergeben. Für die Einschätzung der Schuldfähigkeit ist die psychodynamische Interpretation einer möglichen „projektiven Identifikation“ oder die Annahme einer „altruistischen“ Motivation irrelevant. Erfolgte die Tötungshandlung wahndeterminiert, sei es im Rahmen einer schwer ausgeprägten depressiven Symptomatik oder im Rahmen einer schizophrenen Erkrankung, so liegen die Voraussetzungen vor, eine Aufhebung der Steuerungsfähigkeit i.S. des § 20 StGB anzunehmen. Inwieweit in solchen Fällen möglicherweise wegen der Wahnsymptomatik bereits die Einsichtsfähigkeit aufgehoben war, ist eine hoch interessante, bislang jedoch nicht abschließend geklärte Frage im interdisziplinären Diskurs. Es lassen sich durchaus Argumente dafür benennen, dass bei Wahnsyndromen nicht nur das voluntative Element, sondern bereits das kognitive Element im Rahmen der Realitätsverkennung so gestört war, dass von einer Aufhebung der Einsichtsfähigkeit gesprochen werden kann. Dieses in den Augen mancher vielleicht abstrakte Problem wird in foro kaum je diskutiert, da letztlich die Folgen bezüglich der Zuerkennung des § 20 StGB unerheblich sind. Handelt es sich um eine schwer ausgeprägte depressive Symptomatik, so können die Voraussetzungen der aufgehobenen Steuerungsfähigkeit auch dann vorliegen, wenn keine zusätzliche Wahnsymptomatik bei der depressiven Erkrankung vorliegt. Ist die psychopathologische Symptomatik nach Art und Ausmaß geringer ausgeprägt, wobei diese Beurteilung unter Berücksichtigung quantifizierender Methoden in der Psychopathologie zu erfolgen hat, so können auch die Voraussetzungen des § 21 StGB diskutiert werden. Bei persönlichkeitsgestörten Tätern stellt sich ausschließlich die Frage nach einer eventuellen Einschränkung der Steuerungsfähigkeit, da die Einsichtsfähigkeit bei diesen Tätern prinzipiell nicht gestört ist. Liegt eine schwer ausgeprägte Persönlichkeitsstörung vor, gegebenenfalls in Kombination mit zusätzlichen tatkonstellierenden Faktoren, können in seltenen Fällen die Voraussetzungen einer erheblich eingeschränkten Steuerungsfähigkeit i.S. des § 21 StGB diskutiert werden. Die Voraussetzungen einer aufgehobenen Steuerungsfähigkeit lassen sich bei persönlichkeitsgestörten Tätern in der Regel nicht belegen. Bei den männlichen Tätern mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung konnte ich in drei Fällen gleichartige psychodynamische Konstella-
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tionen beobachten. Versteht man Suizid bzw. Suizidversuch als narzisstische Krise (Henseler 1974), so kann es zu suizidalem Handeln kommen, wenn ein narzisstisch strukturierter Mensch bzw. ein Mensch mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung die bei diesen Störungen bestehende Spaltung zwischen den eigenen grandiosen Vorstellungen und Phantasien und der Realität nicht länger aufrechterhalten kann. Besteht dann eine äußere Konstellation mit einer zusätzlichen narzisstischen Kränkung, beispielsweise mit einem für den späteren Täter negativ entschiedenen Rechtsstreit, so kann das zunächst autoaggressive, suizidale Handeln umschlagen in heteroaggressives Tötungshandeln, vorzugsweise zum Nachteil der Kinder. Ein solches Motiv hat ausschließlich narzisstisch-egozentrische Wurzeln. In solchen Fällen ist keine Einschränkung der Steuerungsfähigkeit anzunehmen, selbst dann nicht, wenn die Persönlichkeitsstörung so ausgeprägt wäre, dass diese der Merkmalskategorie „schwere andere seelische Abartigkeit“ der §§ 20/21 StGB zuzuordnen wäre. Lag zum Tatzeitpunkt eine gravierende psychopathologische Symptomatik vor, so ergibt sich für den psychiatrischen Sachverständigen immer die Frage nach der Prognose. Hierbei handelt es sich keineswegs um ein abstraktes Problem. Besteht beispielsweise eine schwere depressive Symptomatik oder eine noch floride schizophrene Symptomatik, so können durchaus die Voraussetzungen für eine Unterbringung gemäß § 63 StGB vorliegen, wenn die psychopathologische Symptomatik mit suizidaler Dynamik weiterbesteht und wenn weitere potentielle Opfer leben. Hierzu konnte ich zwei besonders tragische Fälle beobachten. In beiden Fällen hatten schwer depressive Mütter ihre Kinder getötet. Im einen Fall erstreckte sich der Tötungsversuch auf zwei neugeborene Zwillinge, von denen ein Zwilling überlebte. Bei der Täterin, die die Tat im Rahmen einer schweren depressiven Symptomatik im Wochenbett, die in der zuständigen gynäkologischen Abteilung nicht erkannt worden war, begangen hatte, lag auch nach der Tat weiterhin eine schwerst ausgeprägte depressive Symptomatik vor. Prinzipiell lagen somit auch die Voraussetzungen des § 63 StGB vor. In diesem Fall wurde jedoch im Einvernehmen mit der zuständigen Staatsanwaltschaft eine andere Lösung gefunden. Die Patientin wurde im Rahmen des baden-württembergischen Unterbringungsgesetzes untergebracht und die Staatsanwaltschaft setzte für diese Zeit den Haftbefehl außer Vollzug. Nach der außerordentlich schwierigen und langfristigen Behandlung konnte auf weitere Unterbringungsmaßnahmen verzichtet werden. Auch der zweite Fall beleuchtet dieses Problem: Eine ebenfalls schwer depressive Mutter tötete eines von zwei Kindern und wurde – in der damaligen DDR – gerichtlich untergebracht. Einige Zeit nach Remission der Symptomatik wurde die Patientin entlassen. Sie erkrankte unerkannt erneut und es kam zur Tötung des zweiten Kindes, was zu einer erneuten, nunmehr langfristigen Unterbringung führte.
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In der Literatur wird die Frage nach der Prognose äußerst rudimentär behandelt. Sie wird in kursorischer Weise meist auf eine depressive Störung bezogen mit dem Hinweis, dass eine Unterbringung nach § 63 StGB nicht erforderlich sei, da es meist genüge, die depressive Symptomatik des Täters im Rahmen einer stationären Therapie auf freiwilliger Basis zu behandeln. Wie dargelegt, können jedoch durchaus die Voraussetzungen des § 63 StGB vorliegen. Ist die Schuldfähigkeit eines Täters nicht eingeschränkt bzw. erheblich vermindert ohne das gleichzeitige Bestehen einer weiteren Störung, so erfolgt die Verurteilung zu einer Haftstrafe. In einem einzigen Fall, den ich beobachtete, kam es zu keinen juristischen Folgen, weder zu einer Unterbringung im Maßregelvollzug noch zu einer Haftstrafe. Der Täter hatte im Rahmen einer schweren depressiven Symptomatik seine Mutter getötet und anschließend einen eigenen schweren Suizidversuch verübt. Aufgrund der schweren Symptomatik war ich zum Ergebnis gekommen, dass die Voraussetzungen des § 20 StGB vorlagen. Gleichzeitig hatte ich den Standpunkt vertreten, dass – nach Abklingen der depressiven Symptomatik – weder eine weiterbestehende Erkrankung noch eine weiterbestehende Gefährlichkeit festzustellen sei, womit ich die Voraussetzungen des § 63 StGB verneint hatte. Von der Staatsanwaltschaft wurde der Fall daraufhin eingestellt. Es liegt auf der Hand, dass bei der Beurteilung der Prognose und des Verlaufes auch die Schwierigkeiten therapeutischen Vorgehens zu berücksichtigen sind. Hierbei geht es um die Bearbeitung der Schuldproblematik und eine nach Abklingen einer schweren depressiven Symptomatik regelhaft auftretende erneute depressive Entwicklung, nunmehr i.S. einer depressiven Reaktion, wobei diese in Anbetracht der Tat wiederum mit Suizidtendenzen verknüpft sein kann. Die Schuldgefühle können über viele Jahre, sogar Jahrzehnte anhalten. Dementsprechend ist die Behandlung schwierig, häufig problematisch und in aller Regel außerordentlich langdauernd. Diese Einschätzung bezieht sich auch auf die Betreuung als voll schuldfähig angesehener Täter im Rahmen des Strafvollzuges. Erstaunlicherweise existieren bislang zu diesen Fragen keine publizierten systematischen Katamnesen. Die Berichte, die es über das weitere Schicksal der Täter gibt, beziehen sich – wie auch meine Erfahrungen – auf Einzelfälle, wobei berichtet wird, dass sich manche Täter später suizidierten (Bien 1985). In einer eigenen Beobachtung suizidierte sich ein Täter während der Untersuchungshaft unmittelbar vor der Hauptverhandlung.
Zusammenfassende Überlegungen Anlass für die vorgestellten Überlegungen war die Frage, inwieweit der seit 100 Jahren in der psychiatrischen Literatur etablierte Begriff „erweiterter Suizid“ (Naecke und Strassmann 1908) tatsächlich eine eindeutige Kategorie ist oder ob es sich – wie aufgrund häufiger kontroverser Diskussionen zu ver-
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muten – um eine interpretationsbedürftige Kategorie handelt. Bei differenzierter Betrachtung ergibt sich eindeutig, dass mit der Formulierung „erweiterter Suizid“ mehr Fragen als Antworten verknüpft sind. Die Probleme beziehen sich auf den Begriff, auf die Definition, auf die Nomenklatur, auf die forensischpsychiatrische Beurteilung und auf die strafrechtlichen Folgen. All dies ist nicht verwunderlich, da sich bei genauer Analyse zeigt, dass die Unterschiede der einzelnen Fälle größer sind als die anfänglich vermuteten Gemeinsamkeiten. Die von Anfang an bestehenden Probleme mit der begrifflichen Unschärfe ziehen sich bis in die Gegenwart, was sich an zahlreichen Missverständnissen und Verwechslungsmöglichkeiten zeigt. Es wird immer noch ungenügend differenziert zwischen erweitertem Suizid, Doppelsuizid, kombiniertem Suizid und weiteren ähnlichen Begriffen. Von manchen Autoren wird die Motivbeurteilung in die Definition einbezogen, von anderen nicht. Einerseits wird als unabdingbar ein sog. altruistisches oder besser gesagt pseudoaltruistisches Motiv gefordert, was andererseits genau so deutlich verworfen wird. Neben der Kontroverse um die Definition ist ebenfalls offen, was mit der Rede von der „Erweiterung“ eigentlich gemeint ist. Manche Autoren plädieren für die Beschränkung dieses Begriffes auf nahe Familienangehörige, manchmal sogar auf unter 7jährige Kinder, andere wollen den Begriff auf die Tötung von Beziehungspartnern einengen. Andererseits wird verlangt, die Brandstiftung oder das Herbeiführen von Gasunfällen mit der tatsächlichen oder potentiellen Gefahr der Tötung anderer Menschen in den Begriff mit einzubeziehen. Somit ist das Unbehagen mancher Strafjuristen an diesem schillernden Begriff durchaus nachzuvollziehen, vor allem dann, wenn aus der Definition einer Tatsequenz als „erweiterter Suizid“ sogar – selbstverständlich fälschlich – unmittelbar forensisch-psychiatrische Folgerungen abgeleitet werden. Wie sich aus den vorstehenden Überlegungen ergibt, kranken alle bisherigen Definitionsversuche daran, dass die Beurteilungsebenen vermischt werden, nämlich der äußere Ablauf, die psychopathologische Symptomatik, Motivationsanalyse und letztlich die forensisch-psychiatrische Beurteilung. Ein Begriff, der sich nicht aus sich selbst heraus versteht, sondern der bei der jeweiligen Verwendung mehr oder weniger ausführlichen Erläuterungen bedarf, erscheint nicht zweckmäßig. Somit liegt die Schlussfolgerung nahe, auf diesen uneindeutigen Begriff zu verzichten. Entsprechende Handlungen sollten nach rein formalen Kriterien beschrieben werden als Tötung mit nachfolgendem Suizid bzw. als Tötung mit nachfolgendem Suizidversuch. Eine solche offene Formulierung erlaubt es dem psychiatrischen Sachverständigen wie dem auftraggebenden Juristen, alle für die Beurteilung notwendigen Facetten detailliert zu erfassen und darzustellen. Dabei können alle Aspekte in ihrer im Einzelfall unterschiedlichen Gewichtigkeit berücksichtigt werden: Die psychopathologische Symptomatik, die psychodynamische Interpretation, die Motivanalyse und die hierauf aufbauende forensischpsychiatrische Folgerung.
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Auf dem Weg zum Jüngsten Gericht Wie Engel mit Schuld und Sühne umgehen Rudolf Gerhardt Zwar war der Tag des „Jüngsten Gerichts“ noch fern, aber allmählich begann man sich im Himmel doch seine Gedanken zu machen. Wer da richten würde, war klar. Wer aber würde die Anklage vertreten? Zwar hatten sich schon einige Engel gemeldet, ja es hatte sogar ein kleines Gedränge gegeben, als im „Himmelsboten“ einmal eine Anzeige erschienen war. Darin war von sprachgewandten Engeln die Rede, die gesucht wurden, und die über ein „solides Unrechtsbewußtsein verfügen“ mußten. Der Text hatte einiges Aufsehen erregt: „Unrechtsbewußtsein“, und das ausgerechnet bei den Engeln im Himmel. Vor allem Engel im höheren Dienstalter konnte man dabei beobachten, wie sie sich mit kleinen Wolkenstücken die Augen rieben: Wie bitte war das zu verstehen? Die Seelen aller hier im Himmel waren doch so mit Recht ausgefüllt, daß für Unrecht dort einfach kein Platz war. Man wußte zwar, wo man sich am Anfang eines neuen Himmelsjahres ein Kleid besorgen konnte – immer im unvermeidlichen Weiß natürlich, aber wenigstens in der jeweils modischen Länge. Aber woher sollte man ein Unrechtsbewußtsein bekommen? „Ihr seid doch oft genug drunten bei den Menschen,“ sagte einer der Oberengel, wenn er auf solche Einwände stieß. „Und ihr wißt, wie es dort zugeht.“ „O je, o je!“, riefen einige der Engel. „Aber dann müßt ihr doch auch wissen, wie das mit dem Unrechtsbewußtsein gemeint ist.“ „Ach so,“ sagten dann die Engel im Halbkreis, „das ist gemeint – all die tausend Dinge, die uns da gegen den Strich gehen. Aber wir sollen mit den Menschen doch gütig umgehen, ihnen zu Seite stehen“. „Das mag für eure Arbeit auf Erden gelten,“ sagte der Oberengel. „Aber im Himmel, am Tag des Jüngsten Gerichts, gelten andere Regeln: Da geht es um Schuld und Sühne! Und da muß man einen Blick dafür haben, wer sich während seiner Bewährungszeit auf der Erde anständig verhalten hat – und wer nicht.“ Da gingen die Engel mit sich zu Rate, und dachten über die Erde nach, die da weit unter ihren Füßchen lag, mit denen sie so gerne wippten. Richtig, sie hatten sich über so manches gewundert, was sie da dauernd erlebten. Und
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sie hatten auch dumpf geahnt, daß es auf Erden nicht so zuging wie hier im Himmel. Das also war es, das Unrecht. Und das mußte gesühnt werden. Und dafür brauchte das Gericht einen Wortführer, der also Ankläger hieß. Das war doch eine Aufgabe, manche sprachen sogar von einer Herausforderung. Bisher hatten sie immer nur das Schöne und Gute gesehen, und sie hatten dabei geahnt, daß es nicht immer zugleich auch das Wahre war. Jetzt endlich ging es um den Menschen in seiner existentiellen Gesamtheit, wie einer der jüngeren Engel dies sagte, der seine Freizeit oft in entlegenen Teilen der Himmelsbibliothek verbrachte. „Und um sein Wissen von Gut und Böse“, ergänzte ein reiferer Engel, wohl um zu zeigen, daß auch er des Lesens kundig war, auch wenn er sich dabei auf die Bibel beschränkte. Um auch die Auswahl möglichst gerecht zu machen, mußten die Bewerber dann vor einer himmlischen Kommission Rede und Antwort stehen.
Gestohlen oder ausgeliehen, das ist hier die Frage „Was also ist das Unrecht an der Welt“, fragte ein Erzengel immer zur Einleitung. Aber dann verbesserte er sich schnell und sprach vom Unrecht in der Welt, um von vornherein klar zu machen, daß die Verantwortung nur dort zu suchen war. „Also, die Menschen sind nicht immer so lieb miteinander, wie wir das hier alle sind“, sagte ein ganz junger Engel. „Na, ja,“ sagte ein alter Engel, „erst neulich hast du doch meinen linken Sonntagsflügel mitgenommen ..“ „… ausgeliehen …“ „Jedenfalls war er weg, als ich zum Sonntagstreffen gehen wollte“. „Und wer von Euch hat meinen schönsten Heiligenschein gestohl … ich meine ausgeliehen, nach dem ich tagelang gesucht habe?“ „Heiligenschein?“ fragte der ältere Engel. Und dann begannen einige zu kichern, weil ein Heiligenschein heutzutage nur noch auf uralten Bildern zu sehen ist, wo gemalte Engel die Augen zum Himmel verdrehen. Hier die Engel, die im Himmel lebten, brauchten dergleichen Zierrat längst nicht mehr. „Hast du vielleicht eben ein bißchen übertrieben – ehm …, nicht die Wahrheit gesagt?“, fragte der Oberengel. Aber dann gab der Jungengel stockend zu, daß er einen alten Heiligenschein einmal stibitzt hatte und ihn manchmal vor dem Spiegel erprobte, wenn niemand zusah. „Und wie ist das mit dem Manna?“, fragte der Oberengel. „Neulich hat mir ein ziemliches Stück gefehlt, und das hatte ich mir extra aufgehoben!“
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Jetzt zuckten alle Engel mit den Achseln, nur einer wurde ein wenig rot im Gesicht. Aber das konnte auch daran gelegen haben, daß ihm, wenn er mit der Achsel zuckte, immer ein Träger seines Engelshemdes über die Schulter rutschte.
Ein himmlisches Unrechtsbewußtsein Vom Oberengel geleitet gingen nun aber alle in sich, und bald merkten sie, daß überall nicht immer alles nur mit rechten Dinggen zuging. Und siehe da, auf einmal verstanden alle, was damit gemeint war – mit dem Unrechtsbewußtsein. Aber weil nicht einfach zu klären war, wer die besten Gründe für sein Unrechtsbewußtsein hatte, setzten sie sich miteinander auf eine Wolke und knobelten. Das war zwar eigentlich auch nicht erlaubt – genau genommen, also wenn man die Dinge streng sah. Aber da in dem entsprechenden Paragraphen der Allgemeinen Himmelsordnung das Knobeln nur „grundsätzlich“ verboten war, hatten sie dabei nie ein allzu schlechtes Gewissen gehabt. Denn „grundsätzlich“, das hatten sie längst gelernt, bedeutete auf Erden, daß mancherlei Ausnahmen erlaubt waren. Und warum sollte das ausgerechnet im Himmel anders sein? Gewonnen hat beim Knobeln dann ein Engel mittleren Alters, wenn man da vom Gewinnen sprechen kann. Denn nun stand fest, daß er immerhin eine Ahnung vom Unrecht hatte deshalb mit Augenmaß die Anklage vertreten konnte. Er blickte durch, weshalb die Angeklagten dereinst vor Gericht stehen würden. „Du also kennst die Abgründe“, sagte einer der Engel eher fröhlich, als er ihm gratulierte. „Nicht alle“, protestierte der Gewinner. „Aber ich kann ja auf der Erde noch den einen oder anderen Pfarrer fragen.“ „Wie bitte,“ riefen jetzt die anderen im Chor. „Du meinst, weil die in der Beichte so alles mögliche erfahren.“ „Ja, genau,“ sagte der Gewinner. „Das glaubst du doch selbst nicht,“ sagte jetzt der alte Engel. „Einmal ist die Beichte doch ziemlich aus der Mode gekommen, und dann suchen sich die Menschen heute meist sehr genau aus, was sie beichten – so wie die Dinge da unten inzwischen laufen.“ „Und das Beichtgeheimnis!“ rief der Engel mit den Erfahrungen aus der Bibliothek. „Wie denkt ihr denn darüber? Es gibt doch inzwischen den Datenschutz und die Privatsphäre und …“ „Seit wann gilt denn das für uns,“ sagte der alte Engel. „Denk’ doch einmal nach – wo kämen wir denn da hin?“ Das sahen denn auch alle ein, und mit fröhlichem Singen klang der Tag aus, an dessen Ende der Chefankläger vor dem Jüngsten Gerichts gefunden war.
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Auf der Suche nach dem Verteidiger Was jetzt noch fehlte, waren Verteidiger. Sie aber, so ahnte man, waren viel leichter zu finden. Denn so schwierig es ist, einem Engel beizubringen, daß es an den Menschen etwas auszusetzen gibt, so einfach ist der umgekehrte Auftrag: Menschen in Schutz zu nehmen, die sich irgendwie im unübersichtlichen Wald der Gebote und Verbote verirrt hatten. „Der Mensch ist gut“, so hörten sie immer wieder in den Engelstunden, aber am Ende hieß es dann mit einem leisen Seufzer: „Leider nicht immer.“ Der Gestrauchelte war also erst dem Ankläger ausgeliefert, dann dem Gericht. Aber ihn verteidigen – welche eine Freude für die Engel! Als dem Erzengel klar wurde, daß Verteidigen für sie ein wahres Hobby wäre, kamen ihm so einige Bedenken. Zwar sollte der Verteidiger den Verirrten ein Helfer sein, aber auch für das Verteidigen gab es Grenzen, denn die Menschen waren halt nicht immer „gut“. Also wurde auch vom Verteidiger Augenmaß verlangt. Verteidigen, schön und gut, aber nicht um jeden Preis. Der Verteidiger sollte ein Organ der himmlischen Rechtsordnung sein: Ganz und gar auf der Seite des Verirrten, aber fair gegenüber dieser Ordnung. „Aber Verteidigung ist doch Kampf“, rief einer der Engel, der schon immer ein bißchen vorlaut gewesen war, „das hört man doch immer wieder. Und beim Kämpfen geht es ums Gewinnen. Fair kämpfen – ist das nicht ein bißchen viel verlangt?“ Die Engel hatten gespannt zugehört, aber jetzt schüttelten einige doch ihre Lockenköpfe. „Fair kämpfen“, riefen sie, „fair und nicht …“ Aber dann wollte ihnen partout nicht einfallen, was so etwas wäre wie das Gegenteil von fair. „Hört doch auf mit diesen Fremdwörtern“, meldete sich ein anderer Engel. „Engagiert muß man kämpfen, aber rechtsbewußt!“ „Das ist doch wieder so ein Fremdwort,“ rief ein anderer, „engagiert! Was heißt denn das schon wieder?“ „Ach, das Wort meinst du,“ antworte ihm ein anderer, der für seine kleinen Zungenbeißer bekannt war. „Und ich dachte schon, du wüßtest nicht, was ,rechtsbewußt‘ bedeuten soll.“ Der Erzengel betrachtete die Versammlung und geriet weiter ins Grübeln. Vielleicht, so dachte er, sollte man jemanden zum Verteidiger machen, der die Welt nicht immer himmelblau sah. Jemanden also, der einen Blick hatte für das Abgründige im Menschen – weil er selbst hineingeschaut hatte in solche Abgründe. Und da kam ihm jener mittelalte Engel in den Sinn, der einmal genau das gesagt hatte: „Der Mensch hat Abgründe, man kann richtig erschrecken, wenn man hineinsieht.“ Allerdings hatte er nicht gesagt, wo er diesen Satz gelesen hatte, und so waren damals alle tief beeindruckt gewesen von seinem Einfallsreichtum. Jetzt bat ihn der Erzengel vor die Versammlung.
Auf dem Weg zum Jüngsten Gericht
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Ein Zitat und seine Auslegung „Der Mensch hat Abgründe,“ das hast du einmal gesagt. „Und irgendetwas von einem Schrecken. Stammt die Idee eigentlich von dir?“ „Natürlich,“ sagte der Engel, „ich schmücke mich doch nicht mit fremden Federn.“ „Halt“, rief jetzt der Engel mit dem Wissen aus der Bibliothek, „der Satz stammt doch von … ,Moment‘ mal: Ich glaube er stammt von Georg Büchner. Und ich meine aus seinem Woyzeck“. „Stimmt das,“ fragte der Erzengel. „Ja und nein,“ antworte der Engel, „vielleicht die Grundidee. Aber ich habe den Satz doch ganz verändert – verbessert, wie ich finde.“ „Nämlich?“, fragte der Erzengel. „Also zu behaupten, daß jeder Mensch ein Abgrund ist, das geht doch wirklich zu weit. Aber daß der Mensch auch Abgründe hat, neben all seinen guten Eigenschaften, das kann man doch wohl sagen. Und darüber kann man sicher auch ,erschrecken‘. Aber ,schwindeln‘? Da muß doch einiges zusammenkommen, bis es ,einem schwindelt‘“. Der Engel straffte seine Haltung, nahm den Erzengel fest in den Blick und fuhr fort: „Den Vorwurf, ein Zitat gestohlen zu haben, lasse ich nicht auf mir sitzen. Jeder baut auf dem Gedanken, der Leistung, dem Werk des anderen auf – jedenfalls auf Erden. Und es wäre das Ende aller Kultur, wenn Gedanken, wenn Zitate, wenn Literatur gewissermaßen eingefroren würde. Einmal gesagt, und dann für immer versiegelt. Nein“, und hier hätte er um ein Haar gesagt: ,Meine Damen und Herren‘, „das Leben geht weiter, auch das geistige Leben. Auch das geistige Eigentum verpflichtet, und das heißt, daß es dem Autor nur zum Teil gehört. Der Rest gehört der Allgemeinheit, es kann weitergedacht, kann verbessert, kann verändert werden. Und wer anders darüber denkt gerät in den Verdacht, einfach neidisch zu sein.“ Und beim letzten Satz heftete er seinen Blick fest auf den Engel aus der Bibliothek.
Wie hältst du es mit der Fairness Der Erzengel hatte ihm genau zugehört, war seinen Worten gefolgt, seinem Mienenspiel, seien Bewegungen. Das, so dachte er, ist der geborene Verteidiger: Engagiert, auf der Seite des Angeschuldigten, wortreich und um keinen Einfall verlegen, der zu seiner Entlastung dienen könnte. So wollte er auch verteidigt werden, wenn er jemals in diese Rolle geraten wäre. Aber davon konnte ja nun gottlob keine Rede mehr sein. „Eine Frage noch,“ sagte der Erzengel. „Wie hältst du es mit der Fairness?“
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„Aha,“ sagte der andere Engel, „das klingt mir jetzt ein bißchen nach Faust. Wie er es mit der Religion halte, hat Gretchen ihn gefragt. Soll das also ein Zitat sein?“ „Nun,“ sagte der Erzengel ein wenig verlegen, „mir ist das einfach nur so eingefallen.“ „Aber du hast es frei variiert,“ beruhigte ihn der mittelalte Engel. „Fairness und nicht Religion. Und dann hast du gefragt: Wie hältst du es mit der Fairness? Im Original heißt es: Wie hast dus mit der Religion … Also, ein kleiner Zungenschlag. Und das ist ja dein gutes Recht – auch ohne Quellenangabe!“ „Ich frage dich: Wirst du fair umgehen mit der Himmelsordnung?“ „So wahr mir …“, wollte der Engel gerade sagen, besann sich dann aber und erklärte: „Ich werde fest auf deren Boden stehen – bei aller Verteidigung!“ „Du wirst also der Verteidiger sein“, sagte der Erzengel. „Am Tag des jüngsten Gerichts?“ „Wann ist das?“, fragte der vorwitzige Engel. „Das wird dir rechtzeitig gesagt werden“, meinte der Erzengel. Und der neu ernannte Verteidiger fragte: „Da gibt es sicher eine Ladungsfrist?“ Schon wollten sich alle zum Abendsingen zurückziehen, als dem Erzengel noch eine Frage einfiel. „Jetzt möchte ich doch wissen: Der linke Engelflügel, der Heiligenschein, von dem vorhin die Rede war: Beides wurde, wenn man’s Recht betrachtet, doch gestohlen. Oder war es wirklich nur geliehen? Wie sehen Sie das, Herr Verteidiger?“ „Also, ich sehe das so: Wenn man nur vorübergehend stiehlt, würde ich das Leihe nennen. Jedenfalls wenn man von vornherein vorhat, die Dinge wieder zurückzugeben. Bevor ich aber weiter nachdenke, hätte ich gerne eine doppelte Portion Manna. Ein Vorschuß an Honorar ist für einen Verteidiger üblich. Aber das sage ich immerhin gratis: Selbst wenn es Diebstahl gewesen wäre, wäre die Tat jedenfalls verjährt. Denn natürlich ist auch die Himmelsordnung fair – und die ganz besonders!“
Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt Die Erhebung und Verarbeitung körperbezogener Daten im Strafprozessrecht und der freie Wille des Betroffenen. Ein Versuch Thomas Giesen
Irgendwie muss man sich ja dem Jubilar nähern. Ich tue es mit einem klassischen Zitat und komme immerhin sofort nach Frankfurt. Google führt mich mit dem Erlkönigvers schon auf den ersten Seiten zu den Angeboten „Fiese Handysprüche“, „Testbericht zu Deospray“, „Der Grillkönig“, „Volle Kanne in die Fresse – wrestling special“, „Oracle vs. Peoplesoft – Zwangsehe in der Softwarebranche“. Mithin gelange ich genau zu den Dingen, die unserem Jubilar am Herzen liegen. Und ich darf dabei sein. Das Zitat mag abgegriffen sein, aber soll es deshalb nicht mehr gelten? In § 81h der Strafprozessordnung ist nun 1 das ausschließlich freiwillige Massenscreening für zulässig erklärt worden. Bei Meyer-Goßner können wir nachlesen, was mit demjenigen geschieht, der sich zu dieser Freiwilligkeit nicht versteht: „Wird die Einwilligung versagt, ist jeder Zwang ausgeschlossen. Die Verweigerung einer Speichelprobe darf nicht als ein die Täterschaft begründendes oder bestärkendes Indiz gewertet werden … Zwangsweise darf eine DNA-Analyse nach §§ 81e, 81f nur dann angeordnet werden, wenn weitere verdachtsbegründende Kriterien angeführt werden können und sich der Kreis der Verdächtigen durch die Abgabe einer Vielzahl freiwilliger Speichelproben verdichtet hat …“ 2 Das verstehe ich nicht. Darf denn der rechtsstaatlich gebundene Strafprozess die informationelle Selbstbestimmung des Einzelnen in seinen Dienst stellen?
1 Gesetz zur Novellierung der forensischen DNA-Analyse vom 12.8.2005, BGBl. I S. 2360. 2 So Meyer-Goßner StPO, 49. Aufl. 2006, § 81h Rn 15 unter Berufung auf den 1. Strafsenat des BGH in seinem Urteil vom 21.1.2004, BGHSt 49, 56 (60), seinerseits unter Berufung auf zwei Kammerbeschlüsse des BVerfG in NJW 1996, 1587 f und 3071 f.
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1. Verfassungsrechtliches Nur in seiner Verfassung, seiner Verpflichtung auf Gerechtigkeit, legitimiert sich der Staat. Ohne diese Begrenzung und Ordnung in Gerechtigkeit ist die Staatsgewalt – das wissen wir vom heiligen Augustinus – eine Horde Verbrecher,3 mit ihr ist sie eine gerechte Einrichtung. Fassung, Eindämmung und Regelhaftigkeit, also rechtsstaatliche Gesetze müssen der handelnden Staatsgewalt Grenzen setzen, die Verfassung mithin für sie bestimmende, spürbare und folgenreiche Konsequenzen haben und das Handeln des Staates prägen. Im Strafrecht begegnet uns der Staat in Uniform und mit Gewalt; das Prozessrecht muss demnach konkretisierte Verfassung sein. Weil die ausgeübte Staatsgewalt nach Art. 20 Abs. 3 GG unter dem Gesetz steht, ist sie allein von ihrer ganzen Natur aus und in allen ihren Erscheinungsformen gebunden und in nichts frei. Sie ist in Wahrheit ganz und gar eine Rechtsunterworfene. Sie hat auch nicht ansatzweise einen freien Willen, sie hat keine schöpferische Kraft aus sich selbst, also auch nicht das Recht auf Phantasie und Entfaltung. Sie kann über nichts verfügen, sie hat nur zu vollziehen, was ihr minutiös aufgetragen ist.4 Die gesetzliche Bindung kann nicht dadurch umgangen oder abgestreift werden, dass der Inhalt eines Gesetzes dem Staat voraussetzungslose Freiheit verleiht oder seine Befugnisse an die Entscheidungsfreiheit der Rechtsunterworfenen knüpft. Gesetz ist vielmehr immer Bindung bestimmter Rechtsfolgen an bestimmte Tatbestände. Sogar in der Frage ihrer Selbstorganisation ist die Staatsgewalt verfassungsrechtlich vielfach gebunden, u.a. durch das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Der Einzelne darf über seine Rechte frei verfügen, die Obrigkeit hat nichts als ihre Pflicht zu tun. Die alte, leicht dahergesagte Bezeichnung des Staates als eine juristische „Person“ ist ganz und gar verfehlt. Sie war nur ein Kunstgriff eine Zeit zu überwinden, in der der Herrscher als eine natürliche Person den Staat verkörperte, als er von Gottes Gnaden regierte und seine ebenso kühnen wie freien Ratschlüsse Gesetz waren. Schon Solon fragte nach dem Herrscher, der sich unter das Gesetz stelle. Nur um ihn der Verfassung unterstellen zu
3 „Remota itaque iustitia quid sunt regna nisi magna latrocinia.“, Aurelius Augustinus (354–430), De Civitate Dei, Liber IV. Caput 4 in initio; „…Populos sibi sola regni cupiditate conterere et subdere, quid aliud quam grande latrocinium nominandum est.“, ders. aaO Capud 6 in fine. 4 Selbst da, wo der Gesetzgeber ihr freie Hand lässt, müssen ihre Rechtsverordnungen nach Inhalt, Zweck und Ausmaß der Grundrechtseinschränkung gesetzlich gebunden bleiben (Art. 80 Abs. 1 Satz 2 GG). und ihre Verwaltungvorschriften binden nur sie selbst; dem Bürger verschaffen sie nur dann Ansprüche, wenn ihre Regeln freiheitserweiternd das behördliche Ermessen binden. Und Ermessensentscheidungen werden ihr von der Rechtsprechung wegen deren Regelhaftigkeit so schwer gemacht, dass sie in der Praxis kaum eine Rolle spielen.
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können, nannte man den Staat schließlich 1837 erstmals selbst eine Person.5 Seit der Magna Charta Libertatum 1215 hatten sich die Zweifel an der Ungebundenheit der Staatsgewalt vermehrt, und unter Tränen war aus dem Sozialvertrag die Idee von der demokratischen Alleinbestimmung geworden. „Allein der Mensch ist Person.“ 6 Nur er kann vernunftbegabt und nach eigener Einsicht sittlich handeln. Der Staat hat zu funktionieren in dem ihm gesetzten Rahmen. Ob man „persona“ nun mit „Durchtönende“ oder mit „Maske“ übersetzt, jedenfalls fehlt dem Staat alles „Aus-sich-Heraus“, alles Lebendige, Willentliche und Ursprüngliche, „Sich-aus-sich-selbst-Speisende“, sich selbst Verwirklichende, jede metaphysische Dimension. Er ist vielmehr nichts weiter als eine eigenschaftslose Abstraktion, eine Übereinkunft zum Schutz vor äußeren und inneren Feinden und zur Sicherung der einfachen Lebensgrundlagen. Indem sich in dieser Übereinkunft von Natur aus Ungleiche als Rechtsgleiche betrachten, erhöhen sie ihre individuellen Chancen und entfalten sich.7 Nur weil der Staat gänzlich gebunden ist, ist es erträglich, ihm das Gewaltmonopol zu übertragen und ihm den Strafprozess, also die Macht anhand zu geben, die Wahrheit zu ermitteln, Schuld festzustellen sowie Strafe zu verhängen und sie zu vollstrecken. Die demokratischen Normen sind für die Strafjustiz nicht disponibel; sie steht unter dem Gesetz. Um es an einem Beispiel 8 zu verdeutlichen: Der Strafjustiz ist jeder Handel mit der Wahrheit verboten. Denn „als zentrales Anliegen des Strafprozesses erweist sich die Ermittlung des wahren Sachverhalts, ohne den das materielle Schuldprinzip nicht verwirklicht werden kann“, so das Bundesverfassungsgericht.9 Das Gericht müsse sich deshalb um den besten Beweis bemühen, der für Unrechtstatbestand, Schuld und Sanktionen relevant ist. Das Strafbefehlsverfahren sei als summarisches Verfahren „seiner Natur nach mit Unzulänglichkeiten behaftet“. Im Prozess müsse deshalb das Gericht der wahren Sachlage gerecht werden und die Tat in ihrem wahren Unrechts- und Schuldgehalt ermitteln, also das öffentliche Interesse an einer gerechten Entscheidung uneingeschränkt wahren.10 Es gibt deshalb keinen Handlungsspielraum, keine gestalterische Freiheit für das Gericht. Ressourcenscho-
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Henning Uhlenbrock Der Staat als juristische Person, Berlin 2000. Klaus Stern Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, in: HStR V § 108, 3. 7 Dazu näher Hermann Lübbe Gleichheit macht frei, FAZ v. 13. Februar 2007. 8 Rainer Hamm war Berichterstatter in der Stellungnahme des Dt. Anwaltvereins zum Referentenentwurf zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren, Aug. 2006. 9 BVerfG NJW 1981, 1719 (1722). 10 BVerfG NJW 1954, 69 f. 6
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nung,11 Kommunikation 12 und Absehbarkeit einer Geständnishonorierung 13 finden als Kriterien keine Stütze in der Rechtsordnung. Vielmehr wird bei der Absprache im Strafprozess die Öffentlichkeit als Kontrollinstanz insofern ausgeschlossen, als sie nicht zu erkennen vermag, welchen Inhalt und welche Bedeutung die Akten 14 haben; sie versteht also wesentliche Teile des Geschehens nicht. Will man die Verständigung hoffähig 15 machen und sie über ein formelles Schuldinterlokut ausdehnen, so wird das Gesetz verfassungsrechtlich eine kurze Halbwertzeit haben, denn Richter haben, wie alle Amtsträger, kein Recht, sich im Beruf frei zu entfalten oder über den Prozessstoff zu verfügen.16 Diesem gesetzlich gebundenen Staat, der bei der Anwendung der Gesetze den Gleichheitssatz zu beachten hat, steht der freie Einzelne gegenüber. Beide trauen einander nicht, denn beide haben eine verfassungsrechtlich begründete Metamorphose erlitten: Der gebundene Staat hat über die Gesetze Macht erhalten und leidet unter deren Begrenztheit; für alles und jedes muss er sich rechtfertigen. Der in Freiheit geborene Einzelne darf sich zwar frei entfalten, die Schrankentrias ist ihm aber lästig und begrenzt ihn allenthalben. Er fühlt sich zu recht gesetzlich eingeschränkt und gelegentlich durch die Staatsgewalt bedroht.
11 Ein Scheinargument der Faulpelze: Seit 50 Jahren ist die Zahl der Eingänge bei den Strafkammern gleich geblieben; der Justizhaushalt der Länder liegt bei unter 2 % ihres Gesamthaushalts. 12 Sie findet unter Ungleichen, dem Machtmonopolisten und dem Beschuldigten, statt, sie ist disproportional und daher habermasianisch unmöglich; sie ist ein Dialog in der societas leonina. 13 Was soll eine anwaltlich gefilterte Prozesserklärung, die die Akteninhalte bestätigt, sein? Etwa das glaubwürdige Abrücken vom Unrecht im Sinne einer confessio? Die Strafzumessung ist – so will es § 46 StGB – kein Abhaken einer Chekliste, sondern Ergebnis mühevoller Aufklärung vieler objektiver und subjektbezogener Tatsachen. Richtige Ausführungen dazu bei Rode Das Geständnis in der Hauptverhandlung, StraFo 2007, 98 (102 f). 14 Schöffen kennen die Akten üblicherweise nicht; sie dürfen, aber müssen sie nicht kennen (Meyer-Goßner aaO § 30 GVG, Anm. 2). 15 Das ist etwas anderes als salonfähig. Der Salon war immer ein Ort der Freiheit und des Informellen, der Hof der Ort der Zeremonie und der Regelhaftigkeit. Nicht alles, was geschieht, lässt sich regeln und nicht jede Regel geschieht. Das lernt man erst, wenn Festschriften anstehen. Es ist eine Melange von furor legislativus und mangelnder Contenance, wenn das BMJ im Referentenentwurf meint, „die Verständigung im Strafprozess als abgesichertes Handlungsmodell in Ansehung der Interessen der Beteiligten einer gesetzlichen Regelung zuführen“ zu müssen. Das ist überdies ein Zirkelschluss, denn ohne gesetzliche Grundlage gibt es im Strafprozess keine Absicherung. – Im Salon mag man die prozessualen Aussichten und Vorstellungen recht gern besprechen, sollte sich dabei aber nicht binden. Ordentliche Richter, Staatsanwälte und Strafverteidiger sollten sich nicht distanzlos im Vorhinein auf ein Strafmaß festlegen, denn die Überraschungen in der Beweisaufnahme sind nicht selten groß. 16 Das mag zwar ansatzweise und in Ausnahmebedingungen unter den gesetzlichen Voraussetzungen der §§ 153 ff StPO so sein; daraus darf aber keine Regel für alle Verfahren werden.
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2. Die informationelle Selbstbestimmung Die Globalisierung ist eine Informationsglobalisierung. Das beleuchtet mehr als in der begrenzten Wahrnehmung früherer Zeiten eine Grundbefindlichkeit: Die digitale Reproduktion verbreitet Informationen – die immer auch Informationen über Menschen sind, weil der Urheber, der Botschafter, das Medium, der Rezipient und der Betroffene personal verantwortlich sind – räumlich unbegrenzt und ohne Zeit- und Qualitätsverluste und bietet fast jedem heute eine Plattform, sich informationell zu entfalten. Aber zu allen Zeiten war jeder Sozialbezug ohne Kenntnis und gedankliche Umformung sowie Verknüpfung von Informationen über den anderen undenkbar. Die Antipoden sind Kaspar Hauser und Odysseus, der eine lebensuntüchtig, der andere voll entfaltet, weil kundig und menschenklug. Will aber das Grundgesetz die freie Entfaltung, so spricht alles dafür, dass es ein Grundrecht auf ungestörten Umgang mit Informationen über Menschen gibt. Das Ur-Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG ist das Grundrecht der vita activa, der sozialen Verknüpfung, des lebendigen, heute weltweiten Konnexes unter Mitmenschen, das Grundrecht des Informationsaustauschs. Keines der Spezialgrundrechte ist ohne begründende oder begleitende Informationsverarbeitung über andere Menschen wahrnehmbar. Dafür bedarf der Einzelne keiner Gestattung. Es ist ein schwerwiegender dogmatischer Mangel des Bundesdatenschutzgesetzes, die Datenverarbeitung unter Privaten unter ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt zu stellen und sie von einer gesetzlichen Erlaubnis oder der Einwilligung des Betroffenen abhängig zu machen.17 Denn Informationen sind weder Sachen noch Rechte. Sie gehören niemandem, sondern sie sind das soziale Fluidum, in dem sich Abgebildete und Abbildende bewegen. Das BVerfG erkennt durchaus, dass Informationsverarbeitung notwendige und prägende Voraussetzung jeder Gesellschaftsordnung und jedes Sozialbezugs ist, wenn es ausführt: „Dieses Recht auf ‚informationelle Selbstbestimmung‘ ist nicht schrankenlos gewährleistet. Der Einzelne hat nicht ein Recht im Sinne einer absoluten, uneingeschränkten Herrschaft über ‚seine‘ Daten; er ist vielmehr eine sich innerhalb der sozialen Gemeinschaft entfaltende, auf Kommunikation angewiesene Persönlichkeit. Information, auch wenn sie personenbezogen ist, stellt ein Abbild sozialer Realität dar, das nicht ausschließlich dem
17 Das ist auch dann der Fall, wenn das BDSG nur die automatische und dateigestützte Verarbeitung zu geschäftlichen Zwecken regelt. Denn Art. 19 Abs. 3 GG erlaubt keine schablonenhafte Differenzierung zwischen Privatfirmen und Privathaushalten; das wäre Staatssozialismus. Zwar macht das BDSG dann die Tore in den §§ 28 bis 35 weit auf und stellt die „Interessen“ der Beteiligten, des Datenverarbeiters und des Betroffenen, gegeneinander, scheint also auf beiden Seiten Grundrechte zu unterstellen, in Wahrheit ist das aber keine dogmatische Klarheit, sondern Argumentationsnot: Das Gesetz bietet keine Maßstäbe; der von ihm vermittelte Erkenntnisgewinn ist mager.
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Betroffenen zugeordnet werden kann.“ 18 Auch der Schatz an höchstpersönlicher Privatheit ist das Resultat einer Rezeption und Umformung personenbezogener Informationen. Aus sich selbst heraus ist der Einzelne nicht lebensfähig; 19 Privatsphäre ohne eine Horrea an gesammelten Daten über andere ist eine leere Hülse. Die Begrenztheit des Menschen und seine Verengung auf das Eigene ist nicht das Menschenbild des Grundgesetzes; es „begreift den Einzelnen nicht als selbstherrliches Individuum, sondern als in der Gemeinschaft stehende und ihr vielfältig verpflichtete Persönlichkeit.“ 20 Private sind zwar berechtigt, selbst über ihren sozialen Kontext, selbst über ihre Schutzräume, die Grenzen ihrer Privatsphäre und damit über ihre Persönlichkeitsrechte zu bestimmen, allerdings mit der Konsequenz, auch selbst innerhalb dieses Raumes nicht mehr die Daten Dritter rezipieren zu können. Ohne eine solche Bestimmung und Selbstbeschränkung und ohne bewusste und erkennbare Abschirmung bleibt jeder für seinesgleichen wahrnehmbar; die Informationen über alle Einzelnen sind, soweit erfahrbar und erlebbar, Abbildung eines allgemein zugänglichen Sozialraums, den sie auch selbst datenverarbeitend, sich selbst entfaltend nutzen. Über die Grenzen freier Informationsverarbeitung unter Privaten bestimmt kein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, sondern das Persönlichkeitsrecht, wie es in der Rechtsprechung fallbezogen definiert und gesichert ist. Zur Herstellung einer praktischen Konkordanz, also weitestmöglicher Entfaltung sowohl der Grundfreiheit auf Datenverarbeitung als auch des Persönlichkeitrechts, bietet das BDSG – wie auch die EG-Datenschutzrichtlinie 95/46 – nur oberflächliches und freiheitsnegierendes, zumindest freiheitsignorierendes Argumentationsmaterial. Im Volkszählungsurteil vom 15. Dezember 1983 hat das Bundesverfassungsgericht zwar ein Grundrecht entdeckt und einer weltweiten Informationsordnung die Richtung gewiesen. Es wird von einigen datenschutzbegeisterten Kommentatoren 21 aber übersehen, dass sich das Urteil nur zu dem 18
BVerfGE 65, 1 (43, 44). And the LORD God said: „It is not good for the man to be alone“ (Genesis 2, 18). Die Urväter des Datenschutzes Samuel Warren und Louis Dembitz Brandeis The right to privacy, Boston, Harvard Law Review 193, Vol. IV, December 15, 1890 Nr. 5 kannten die Bibel, als sie The right to be let alone als bloßes Abwehrrecht – und eben nicht als soziale Einigelung im Sinne eines überzogenen Datenschutzes – formulierten. 20 BVerfGE 12, 45 (51); 28, 175 (189); 30, 1 (20). 21 Spiros Simitis in: Simitis (Hrsg.) Kommentar zum Bundesdatenschutzgesetz, 6. Aufl. 2006, § 1 Rn 48 ff und passim macht – dogmatisch frei wie ein Vögelchen – unter Hinweis auf viele andere (von denen wohl keiner nicht bei ihm gelernt hat) keinen Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft, zwischen staatlicher und privater, d.h. immer auch: geschäftlicher Datenverarbeitung. Alles ist ihm gleichermaßen bedrohlich, deshalb habe der Betroffene über jeden Datengebrauch grundsätzlich, von gesetzlichen Ausnahmen abgesehen, selbst zu entscheiden. Gola/Schomerus Kommentar zum Bundesdatenschutzgesetz, 8. Aufl. 2005, differenzieren in § 1, Anm. 12 f, meinen aber in § 29 Anm. 11, dass das BDSG davon ausgehe, jede private Datenverarbeitung greife in das Persönlichkeitsrecht ein. 19
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Verhältnis zwischen dem Staat und dem Einzelnen verhält. Denn es heißt dort: „Die Verfassungsbeschwerden geben keinen Anlass zur erschöpfenden Erörterungen des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung. Zu entscheiden ist nur über die Tragweite dieses Rechts für Eingriffe, durch welche der Staat die Angabe personenbezogener Daten vom Bürger verlangt.“ 22 Weiter heißt es: „Das Grundgesetz hat, wie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mehrfach hervorgehoben ist, die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden. Grundsätzlich muss daher der Einzelne Beschränkungen seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen. Diese Beschränkungen bedürfen nach Art. 2 Abs. 1 GG … einer (verfassungsmäßigen) gesetzlichen Grundlage, aus der sich die Voraussetzungen und der Umfang der Beschränkungen klar und für den Bürger erkennbar ergeben und die damit dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entspricht. Bei seinen Regelungen hat der Gesetzgeber ferner den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten.“ 23 Von einer Einwilligung als Rechtsgrundlage staatlicher Datenverarbeitung sagt das Volkszählungsurteil aus guten Gründen nichts. Denn der gesetzlich gebundene Staat hat alle Gleichen in gleicher Situation gleich zu behandeln. Der Gleichheitssatz hat so gesehen die notwendige Folge, dass die gesetzesunterworfenen Einzelnen weder über materielle noch formelle Rechtsinhalte, mit denen die Obrigkeit ihnen begegnet, verfügen dürfen. Nicht Disponibilität sondern gleichmäßige Bindung aller Einzelnen ist das Prinzip des Rechtsstaats. Grundrechte sind Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat und verkörpern zugleich eine allgemeine objektive Wertordnung. Das bedeutet aber nicht, dass es verfassungsdogmatisch gestattet wäre, den freien Einzelnen und den gesetzesgebundenen Staat über einen Leisten zu schlagen.24 Insbesondere darf man wegen der gesetzlichen Begrenztheit öffentlicher Stellen nicht Unfreiheit da statuieren, wo Entfaltungsfreiheit gefragt ist. Denn sie ist es, die den freiheitlichen Rechtsstaat konstituiert. Im Volkszählungsurteil heißt es: „Selbstbestimmung (ist) eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger gegründeten Gemeinwesens.“ 25 Was kann diese Selbstbestimmung anderes sein, als – noch vor dem Recht, vom Staat ungestört zu bleiben – zunächst möglichst viel frei in Erfahrung bringen zu können. Gesellschaft ist nur lebens- und entwicklungsfähig im Kontext der Beteiligten, in der wechselseitigen Verarbeitung personenbezogener Daten unter Freien. 22
BVerfGE 65, 1 (44, 45). BVerfGE 65, 1 (44). 24 Das wäre dogmatisch unsauber und eine Verzerrung des Rechtsstaats nach staatssozialistischer Manier: Staat = Gesellschaft. 25 BVerfGE 65, 1 (43). 23
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Die freiwillige Verfügung über die eigenen Daten ist folglich eine Kategorie des Informationsumgangs unter Freien, die über ihre Rechte gegenseitig verfügen. Im gesetzlich gebundenen Raum staatlicher Datenverarbeitung ist die Freiwilligkeit ein verbotener Rechtsraum, eine Tabuzone. Der Staat ist kein Handelsmann,26 der dem Rechtsunterworfenen anbieten könnte, sich ihm vertraglich zu unterwerfen oder eben auch nicht. Er – der Staat – besitzt weder Entfaltungs- noch Willensfreiheit.
3. Der freie Wille Der 2003 und 2004 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ausgetragene Diskurs über die mögliche Nichtexistenz des freien Willens,27 wie sie von Wolf Singer, Benjamin Libet und Gerhard Roth behauptet wird, hat zu viele kluge Leute beschäftigt, als dass er hier nachgezeichnet werden könnte. Unsere Kenntnisse über das menschliche Gehirn sind schwach und anfänglich. Ein tröstlicher Gedanke ist es vielleicht, dass auch für die nächsten 5768 Jahre 28 noch Erkenntnisse zu erwarten sind. Es wird aber wenig sinnvoll sein, Versuche auszuwerten, in denen ein Bereitschaftspotential aufzubauen vorgegeben ist und in denen dann gemessen wird, was der Proband selbst bewusstseinserhellt als Auslösungsmoment empfunden hat. Die Messungenauigkeit beruht dann gerade auf der Erlebbarkeit der Impulse, deren Existenz oder Nichtexistenz unabhängig von ihrer Bewusstheit (und wenn möglich: vor ihrer Bewusstheit) nachgewiesen werden soll.29 Und was beweist schon die Existenz eines Auslösungsimpulses vor seiner aktuellen Bewusstheit, wenn das unbedingte, nur kurzzeitlich variable Bereitschaftspotential versuchsgemäß vorgegeben ist? Bewusste – und zweifellos vorhandene unbewusste – Willensbildung verläuft in langen und nur selten spontanen, eben in vernünftigen Prozessen. Der in Erkenntnis eigener Unvollkommenheit auf sich selbst zurückgeworfene Mensch ist auf der Suche nach Information und zu deren kritischer, das heißt entscheidungsgrundlegender Auslese mit einem freien Willen ausgestattet. Anders ist ihm die Suche nach Transzendenz unmöglich, die allerdings nicht durch einen Irrglauben an unbegrenzte Kommunikation verschüttet werden sollte. 26
Schon wieder nicht! Zusammengefasst in Christian Geyer (Hrsg.) Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt a.M. 2004. 28 Nach der Jüdischen Tradition wird seit 5768 Jahren die Zeit gezählt; das ist der Zeitraum, auf den wir vielleicht wissenschaftsgeschichtlich zurückblicken können. 29 Wolfgang Prinz hat recht: Mehr kann man nicht messen; vgl. ders. Der Mensch ist nicht frei, in: Geyer (Fn. 27) 20 ff. Siehe auch Reinhard Olivier Wonach sollen wir suchen? Hirnforscher fragen nach ihrer Frage, in: Geyer aaO S. 153 ff. 27
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Dem Beweis des Gegenteils skeptisch und wenig hoffnungsvoll entgegensehend bleibe ich davon überzeugt, dass der gesunde Mensch einen freien Willen hat, der so stark ist, dass er sich für oder gegen die Mitwirkung an einem freiwilligen Massenscreening zu entscheiden vermag. Denn er weiß, dass er die Tat nicht begangen hat und dass keine DNA-Spur der anderen gleicht. Er weiß auch, dass nur nichtcodierende Merkmale interessieren.30 Aus guten Gründen versichert ihm die Kripo glaubhaft auf gesetzlicher Grundlage,31 dass kein anderer Zweck mit der Probe verfolgt wird und, dass seine Probe vernichtet wird, weil sie mit der Tatortspur nicht identisch ist. Müsste der Betroffene befürchten, dass seine Probe für spätere Zwecke aufbewahrt oder schon jetzt zur Aufklärung anderer, vergleichsweise harmloser Straftaten verwendet würde, wären er und eine unbestimmte Vielzahl Gleichbetroffener und Gleichgesinnter zur freiwilligen Mitarbeit durch Beteiligung am Massenscreening keineswegs mehr bereit. Folglich ist der bereite Freiwillige einer, der sich selbst bewusst aus dem Kreis der potentiell Beschuldigten ausscheidet und gleichzeitig daran mitwirkt, aus denen, die nicht bereit sind, Beschuldigte werden zu lassen. Er ist es aber nur, weil er weiß, dass er nie Beschuldigter wird.
4. Man stelle sich vor, es ist Krieg und keiner geht hin Das Kalkül, an die Freiwilligkeit zu appellieren, geht auf, solange der Appell selten erfolgt und die strikte Zweckbestimmung der Daten einschließlich ihrer unverzüglichen Löschung garantiert ist. Eine böse Überraschung erfährt aber der, der erleben muss, Beschuldigter zu werden, weil der allen unbekannte wahre Täter seine, eines Unbeteiligten, Körperzellen am Tatort oder gar am Opfer hinterlassen hat. In dem gegen ihn geführten Indizienprozess wird er unter den Augen der Öffentlichkeit Mühe haben, seine Unschuld zu beweisen, denn darauf läuft es hinaus, den gewichtigen Beweis in Form der Spur zu entkräften.32 Nach wenigen spektakulären Fällen dieser Art – nur nach gelungenem Beweis – wird die freiwillige Mithilfe der Bevölkerung rapide abnehmen. Es kann auch andere Gründe dazu geben, etwa weil Verwechslungen der Proben ruchbar werden, oder weil die Tat oder der Täter die Sympathie seiner sozialen Umgebung oder vieler Gleichgesinnter erfährt. Die freiwillige Mithilfe könnte auch darunter leiden, dass die Ermittlungsbehörden parallel zum Massenscreening dazu aufrufen, freiwillig
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Erbinformationen werden nicht offengelegt. § 81h Abs. 4 StPO. 32 Wird der Freiwillige auch darüber belehrt, dass er, wenn der Teufel es will, solche Scherereien zu erwarten hat, obwohl er nicht der Täter war? 31
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Alibis zu Tatzeitpunkten vorzulegen,33 dann aber das Screening gänzlich erfolglos bleibt und die Alibiauswertung mehrere Unbeteiligte zu Verdächtigen werden lässt. Solche Methoden führen zu Unruhe und zu Ablehnung in der Bevölkerung, etwa wenn tragische Komponenten im Spiel sind; 34 das Mittel der freiwilligen Mithilfe kann sich also verschleißen. Die gewählte rechtssystematische Konstruktion ist deshalb nicht ungefährdet. Aus der bloßen Verweigerung eines freiwilligen Tests dürfen Ermittlungsbehörden und Gericht wegen des Nemo-tenetur-Grundsatzes keine Schlüsse ziehen.35 Das tut ein kluges Gericht auch nicht; vielmehr wird es das Ausscheiden der vielen anderen Freiwilligen, deren DNA-Proben negativ waren, aus dem Kreis der potentiell Beschuldigten als Grund für eine Fokussierung auf den oder die Verweigerer als nun echten Beschuldigten heranziehen und die Entnahme nach § 81a StPO anordnen. Praktisch mögen die Unkenrufe, die Freiwilligkeit könne ihre Grenzen haben, zu widerlegen sein. Methodisch jedenfalls rüttelt die Konstruktion, um freiwillige Beteiligung zu bitten, an Säulen des Rechtsstaates: Der Staat nutzt die nur Freien im gegenseitigen Kontext zu Gebote stehende Kategorie der Freiwilligkeit eines partnerschaftlichen Verhältnisses auf dem Boden einer fingierten Gleichordnung geschickt aus, um einen Kreis Verdächtiger, nämlich im Ergebnis derjenigen, die ihren freien Willen sperrig ausleben, entstehen zu lassen. Damit arbeitet er hinter einer Maske, er macht sich schwach und rechnet mit der helfenden Zuwendung der Hilfswilligen. Das ist ein Formenmissbrauch, der auch dann kritikwürdig ist, wenn er nicht zu einem Verwertungsverbot führt. Was hindert den Gesetzgeber daran, das Verfahren nach § 81h StPO zu einer Pflichtveranstaltung zu machen? Da wird in der Literatur gerne angeführt, der Appell an die Freiwilligkeit sei ein weniger tiefer Eingriff in die Selbstbestimmung als der Zwang. Das ist nichts als Augenwischerei. Denn Unfreiwilligkeit macht den Eingriff in ein Grundrecht im Rechtsstaat nicht tiefer, sofern er auf einem ordentlichen Gesetz beruht, als dann, wenn der Betroffene freiwillig handelt. Dies nicht deshalb, weil die Freiwilligkeit aus
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So ist es wohl in dem Fall gewesen, den das BVerfG in NJW 1996, 3071 f zu bewerten
hatte. 34 Bei Satzger DNA-Massentests – kriminalistische Wunderwaffe oder ungesetzliche Ermittlungsmethode, JZ 2001, 639 f, wird auf S. 649 Fn 99 der Protest gegen ein Massenscreening an teils minderjährigen Schülerinnen nach einer Neugeborenentötung in Großbritannien erwähnt. 35 Insofern hat Meyer-Goßner in seinem Zitat zu Beginn (Fn 2) natürlich die Rechtsprechung auf seiner Seite. Von „weiteren“ verdachtsbegründenden Kriterien sollte er also nicht sprechen und dieses Wort ersatzlos streichen. Vielleicht sollte er auch so fortfahren: „… weil sich der Kreis der potentiell Verdächtigen, also noch Unverdächtigen, durch den Wegfall vieler Träger negativer Analysen auf eine so kleine Gruppe verdichtet hat, dass deren Mitglieder dadurch als verdächtig gelten.“ Über dieses „dadurch“ ist nachzudenken.
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einem Bündel von Motiven gespeist wird, zu dem auch Angst und Sorge gehören, möglichst nicht aufzufallen,36 sondern weil die Legitimation des Staates die Kategorie der Eingriffstiefe als Beurteilungskriterium entfallen lässt. Denn die Freiwilligkeit ist keine wertvollere, höherrangige oder rechtsstaatlichere Rechtfertigung als das Gesetz, dem zu dienen im demokratischen Rechtsstaat eine Ehre ist.37 Aus der Verfassungslage folgt ferner, dass der Staat nicht um freiwillige Leistungen buhlen darf, die er nicht auch zwangsweise, weil ihm zustehend, erheben dürfte. Und natürlich könnte auf gesetzlicher Grundlage auch der Nichtbeschuldigte zu Leistungen gezwungen werden, wie das etwa bei Zeugen und Opfern der Fall ist; warum nicht auch bei potentiell Verdächtigen? 38 Wirft man einen Blick auf das Verfahren nach § 81g StPO, so kann diese Kritik deutlicher werden. Dort bestimmt des Gesetz, dass verdächtigen Beschuldigten 39 mit negativer Prognose 40 ohne ihre schriftliche Einwilligung nur durch das Gericht Körperzellen entnommen und deren molekulargenetische Untersuchung angeordnet werden darf. Dort also wird um etwas gebeten, das auch befohlen werden könnte.41 Das ist in § 81h StPO aber nicht so. Amelung hat sich grundsätzlich mit der Einwilligung in strafprozessuale Grundrechtsbeeinträchtigungen befasst.42 Er löst die Problematik über eine genauere Betrachtung des Postulats der Freiwilligkeit, das die Aufgabe habe, eine gesetzliche Ermächtigung des Staates zu ersetzen. Einer gesetzlichen Grundlage aber bedürfe der Staat, „wo er zur Erreichung einer Einwilligung mit einer Maßnahme droht, die selbst bereits als Eingriff in die Rechte des
36 Das ist für Amelung Probleme der Einwilligung in strafprozessuale Grundrechtsbeeinträchtigungen, StV 1985, 257 ff entscheidend. 37 Das ist ernst gemeint! Die Lehre vom angeblich milderen Eingriff bei Freiwilligkeit überzeugt angesichts der Gemeinschaftsgebundenheit des Menschen im Rechtsstaat nicht. 38 Das in der Tat muss der Gesetzgeber sorgfältig abwägen; er darf sich nicht über ein schmierseifiges Brett auf ein angebliches Prinzip der Freiwilligkeit herabbegeben und die Gesellschaft in Staatstreue und Widerborstige aufteilen. Auch das war ein Wesensmerkmal des einheitsparteilichen Staatssozialismus. 39 Dazu gehören auch Verurteilte. 40 „… wenn wegen der Art oder der Ausführung der Tat, der Persönlichkeit des Beschuldigten oder sonstiger Erkenntnisse Grund zu der Annahme besteht, dass gegen ihn künftig Strafverfahren wegen einer Straftat von erheblicher Bedeutung zu führen sind“, so der Wortlaut der Vorschrift. 41 Die Kritik an dieser Vorschrift liegt auf einer anderen Ebene, denn Prognoseentscheidungen sind ein vermintes Gelände. Sie verlangen hohe juristische Kunst und detaillierte Aktenkenntnis; sie sollten auch deshalb dem Gericht vorbehalten werden, weil der Beschuldigte nicht selten inhaftiert ist oder unter Bewährung steht und deshalb seine Freiwilligkeit eine Farce ist. Die Entscheidung ist folgenschwer, nicht weil etwa die Erhebung der Daten ein tiefer Eingriff wäre, sondern weil die Datenspeicherung in der zentralen Datei des BKA (siehe Fn 1) den Betroffenen auf Dauer zur crème de la crème des deutschen Verbrechens zählen lässt. Das ist wirklich ein Stigma. 42 Amelung siehe Fn 36.
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Bürgers anzusehen ist.“ Wenn die Einwilligung nur deshalb erteilt werde, weil der Unverdächtige sich nicht verdächtig machen wolle, so liege keine wirkliche Freiwilligkeit vor. „Denn die Einwilligung wird hier durch die latente Drohung mit einem Eingriff in seine Rechtssphäre erzwungen.“ 43 Nur: Im Fall der verweigerten Einwilligung nach § 81h StPO wird ja gerade nichts angedroht; entsprechende Empfindungen des einen oder anderen Adressaten würde das Bundesverfassungsgericht als unbeachtliche Motive abtun.44 Die Verweigerung wird überhaupt erst zur Kenntnis genommen, wenn eine Vielzahl anderer Personen aus dem Kreis der „potentiell Verdächtigen“ ausgeschieden ist und der Verweigerer nur deshalb einem so engen Kreis von Personen angehört, dass er als Tatverdächtiger Gegenstand manifestierten Verfolgungswillens 45 und Adressat eines Beschlusses nach § 81a StPO wird. Die Kluft zwischen den potentiell Verdächtigen und dem (oder den) Beschuldigten wird über eine freiwillige und gesetzlich nicht durchsetzbare Entscheidung prozessrechtlich genau genommen völlig Unbeteiligter, deren Kreis in dem anordnenden Gerichtsbeschluss vage umrissen ist, geschlossen. Die Einwilligung ist hier keine eingriffsmildernde,46 sondern eine erst als später entstehend kalkulierte Voraussetzung für eine Zwangsmaßnahme, die in der Anordnung des Massenscreenings und der es legitimierenden Norm keine Stütze findet. „Man macht sich nicht verdächtig, sondern man gerät in Verdacht“ könnte die Formel lauten, mit der der Gesetzgeber argumentiert und rechnet. Intellektuell dünner geht’s nimmer. Er geht – wohl fälschlich – davon aus, dass ein Zwang, also der Beschluss nach § 81a StPO, gegenüber einem nur potentiell Verdächtigen unzulässig wäre, weil die Zugehörigkeit zu einer großen Gruppe, auf die nur allgemeine statistische Angaben zutreffen, angeblich keinerlei Tatverdacht begründen könne.47 Was sonst könnte den Gesetzgeber zur Konstruktion des § 81h StPO veranlasst haben? Ein für alle gültiges Verfahren darf nicht durch ein Kalkül ersetzt werden, durch ein Spiel mit der Solidarität der Bevölkerung,48 mit
43 Amelung aaO S. 261. Damit wird das Problem des nolens-volens aber nur unscharf erfasst. 44 BVerfG NJW 1996, 1587 f. 45 Zur Abgrenzung des Beschuldigtenbegriffs: Satzger aaO S. 643. 46 Nach Amelung aaO S. 261, sind Einwilligungen, die einen gesetzlich zulässigen Eingriff mildern, grundsätzlich zulässig, solange sie nicht deshalb erfolgen, um den Verdacht abzuwehren. Siehe aber Fn 37. 47 Anderer Auffassung aber offensichtlich, wenn auch zurückhaltend BVerfG NJW 1996, 3071 ff: 750 Münchner Porschefahrer waren tatverdächtig, siehe auch Satzger aaO S. 649. 48 Der Aufstand der Anständigen ist in Deutschland selten eine konsequente Erscheinung.
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dem sublimen sozialen Druck auf die potentiell Verdächtigen, die den Verfolgungsbehörden individualisierende Komponenten verschaffen sollen. Dieses Spiel ist risikoreich. Der Staat darf sich auch zur Vorbereitung einer künftigen Legitimation seines Handelns nicht auf scheinbare, nämlich nicht für alle verbindliche und nicht durchsetzbare Normen stützen. Jede freiwillige Mitwirkung des Einzelnen an einer staatlichen Veranstaltung, die zwar hoheitsrechtlich motiviert, jedoch nicht mit den Mitteln des Hoheitsrechts gegen jedermann in gleicher Weise durchsetzbar wäre, ist illegitim. Ganz einfach wäre dem abzuhelfen damit, dass der anordnende richterliche Beschluss verbindliche Wirkung für alle nicht freiwilligen Teilnehmer hätte. Mit seiner jetzigen rechtlichen Konstruktion delegitimiert der Gesetzgeber 49 leider das außerordentlich erfolgreiche und deshalb notwendige Massenscreening, das nicht nur viele alte und neue Straftaten aufklärt, sondern auch im klassischen Sinn wohl erhebliche abschreckende Wirkung entfaltet.50
Volenti fit iniuria Von Domitius Ulpianus soll die Digestenstelle stammen: „Quia nulla iniuria est, quae in volentem fiat.“ 51 Im materiellen Strafrecht und im zivilen (Delikts-)Recht mag die Einwilligung eine Rechtfertigung sein. Im Strafprozessrecht geht es aber insofern nicht um ius oder iniuria, als nicht das Rechtsverhältnis zwischen Täter und Opfer, also unter Gleichen, zur Debatte steht, sondern, ob der Staat ein ihm erlaubtes, nämlich gesetzliches, also für alle gleichmäßig gültiges Verfahren anzuwenden befugt ist, dem alle unabhängig von ihrem Willen unterworfen sind oder werden könnten. Sowenig der Angeklagte mit dem Richter eine Einigung über das Ob oder das Wie seiner Bestrafung erzielen kann,52 sowenig kann er auch über die Statthaftigkeit prozessualer Maßnahmen zur Aufklärung der gesamten Wahrheit mitbefinden. Denn der Wille des Betroffenen kann im Rechtsstaat keine staatshandelnsgrenzenbestimmende Bedeutung haben. Der verfahrensbeteiligte Bürger darf über materielle oder verfahrensmäßige Rechtsgarantien deshalb 49 Das Wort „Gesetz“ kommt von setzen, satzen, setzen, fest-setzen, durch-setzen, wider-setzen, bringt also Verbindliches, Unverrückbares, Unentrinnbares zum Ausdruck. 50 Von Strafverteidigern vom Format des Jubilars kann man lernen, dass die Rechtsordnung nicht nur um des Schutzes möglicher Opfer willen, sondern auch zum Schutz möglicher Täter vor ihrer Selbstbeschmutzung und vor ihrer dann nötigen Bestrafung besteht. 51 Dig. 47, 10, 1, 5; häufig verkürzt mit: „Volenti non fit iniuria.“ Es geht um die zivilrechtliche Frage des Verkaufs eines Sohnes mit dessen Einwilligung. 52 Davon ist die einseitige Entschließung darüber, einen anderen Richter im Rechtsmittelverfahren zu bemühen, zu unterscheiden.
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nicht disponieren, weil sie der Staat immer um seiner eigenen Legitimation willen benötigt. Denn Staat und Bürger sind keine Antipoden. Einwilligung ist eine Kategorie des Privaten, sie kann als Gerechtigkeitsprinzip nur Wirkung unter Gleichen und Willensbeherrschten entfalten. Wäre sie eine gesetzliche Kategorie, so bedürfte es keines Gesetzes, sie zu aktivieren. Ein Gesetz, dass sie nur „ins Spiel“ bringt, hat den Namen „Gesetz“ nicht verdient. Die gesetzliche Unterwerfung des Bürgers hängt allenfalls in der Intensität und Gewaltanwendung des Vollzugsverfahrens 53 von seiner Kooperation ab, weil der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gilt. Seine Gemütslage, seine Einsicht oder seine Ablehnung haben aber keine legitimierende Wirkung. Der Trick, die Fungibilität von Rechtsgütern in der Hand des Staates von dessen „Gegenüber“ 54 abhängig zu machen, hat im Rechtsstaat keinen Platz; die Etablierung von Entfaltungsfreiheit dort, wo Begrenzung und Gleichmaß zu wohnen haben, bewirkt eine Paradoxie des Rechtsstaats. Ein nichtverpflichtendes Gesetz ist ein Widerspruch in sich. Imperans und subditus 55 sind nicht etwa vertauschbare Rollen. Die Einführung eines Prinzips der allgemeinen Handlungsfreiheit im öffentlichen Recht verstieße gegen die verfassungsmäßige Ordnung. Deshalb wären auch etwa die Einwilligung in die Zugänglichkeit des eigenen Computers für staatliche Trojaner, die freiwillige Registrierung des eigenen Pkw an der Mautstelle oder die freiwillige Speicherung der eigenen DNA, am besten im Meldeamt, mit oder ohne gesetzliche Grundlage verfassungswidrig, wenn der Gesetzgeber nicht den Mut – und die verfassungsrechtlich gesicherte, legitimierende Kraft – hätte, dies für alle gleichmäßig zwangsweise anzuordnen und durchzusetzen. § 81h StPO ist eine verunglückte Norm. Von Goethe lernen wir: Nur der befehlende Staat wahrt die gebotene Distanz.
53 Auch Rudolphi SK, vor § 94 Rn 56, unterscheidet zwischen gesetzesersetzenden und vollzugserleichternden Einwilligungen. 54 Der ist ein Untendrunter. Der Staat verfolgt keine Interessen, er hat gesetzliche Zwecke mit ausschließlich gesetzlichen Mitteln zu erreichen. Der übereinstimmende demokratisch gefasste Wille aller über alle ist etwas völlig anderes als der über sich selbst verfügende Wille des Einzelnen. 55 So unterscheidet Kant Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, §§ 45 bis 49, die potestas iudicaria vom civis.
Kann der Verstoß gegen die VOB/B eine Untreue sein? Strafbare Untreue aufgrund der Nichteinzahlung eines Sicherheitseinbehaltes auf ein Sperrkonto gemäß § 17 Nr. 6 Abs. 1 Satz 2 VOB/B? Gina Greeve Der verehrte Jubilar hat im Jahr 2005 die Norm des § 266 StGB aufgrund ihrer Konturen- und Uferlosigkeit als gefährlich nahe an die Unbestimmtheit einer Generalklausel heranreichend bezeichnet und aufgezeigt, wie die Untreue als Allzweckwaffe aktiviert wird. „Kann der Verstoß gegen Treu und Glauben strafbar sein?“, so lautete die Ausgangsfrage. „Wer die Strafverfolgungspraxis gegenüber der Wirtschaft daran ausrichtet, dass jedes vermögensrelevante Handeln oder Unterlassen, über dessen Zulässigkeit oder Vertretbarkeit man streiten kann, einen Anfangsverdacht der Untreue begründet, will durch Richterrecht einen Straftatbestand der Verletzung von § 242 BGB einführen. So etwas dürfte aber noch nicht einmal der Gesetzgeber.“, – so das Fazit. Der folgende Beitrag zu einem in der Praxis relevanten Sachverhalt soll hieran anknüpfen und sei dem Jubilar als Geburtstagsgeschenk mit großer Anerkennung seiner Verteidigertätigkeit und seinem wissenschaftlichem Engagement gewidmet.
I. Einführung Werkverträgen, die Bauleistungen zum Gegenstand haben, wird in Deutschland, auch im privaten Bereich, regelmäßig die Vergabe- und Vertragsordnung für Bauleistungen, Teil B (VOB/B), zugrunde gelegt; der öffentliche Auftraggeber ist hierzu nach den anwendbaren Haushaltsordnungen verpflichtet. Hierbei handelt es sich um standardisierte Vertragsbedingungen, die nach heute fast einhelliger Meinung im Falle des „Stellens“ gemäß § 305 Abs. 1 BGB durch eine der Bauvertragsparteien Allgemeine Geschäftsbedingungen im Sinne des § 305 BGB bedeuten. Typischerweise wird in den weiteren vertraglichen Regelungen eines Bauvertrages zur Absicherung der vertragsgemäßen Ausführung der Werkleistungen bzw. etwaiger
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Mängelansprüche eine Sicherheitsleistung vereinbart. Der Auftraggeber kann sich durch Vereinbarung einer solchen Sicherheitsleistung davor schützen, dass der Auftragnehmer bei Eintritt des Vermögensverfalles leistungsunfähig wird. Auch die Regelungen der VOB/B setzen zunächst die Vereinbarung einer Sicherheitsleistung voraus. In VOB-Werkverträgen ist daher typischerweise eine Sicherheitsleistung vorgesehen, wonach der Auftraggeber – zumeist in Höhe von 5 und 10 % – Einbehalte auf Abschlags- und/oder die Schlusszahlung vornehmen kann. Neben der Hinterlegung von Geld führt § 17 Nr. 2 VOB/B als mögliche Sicherheitsleistung die Stellung einer Bürgschaft oder aber den Einbehalt von Zahlungen auf. Einzelvertraglich sind indes noch andere Arten der Sicherheitsleistung möglich, wie u.a. die Bestellung von Hypotheken oder die Verpfändung von beweglichen Sachen oder Forderungen. Im Regelfall nimmt der Auftraggeber einen Einbehalt vor, den der Auftragnehmer durch Bürgschaft ablöst. Der Auftraggeber ist jedoch nach § 17 Nr. 6 Abs. 1 Satz 2 VOB/B verpflichtet, den jeweils einbehaltenen Betrag dem Auftragnehmer mitzuteilen und binnen 18 Werktagen nach dieser Mitteilung auf ein Sperrkonto bei einem gemeinsam zu vereinbarenden Geldinstitut einzuzahlen. Der Auftragnehmer ist nach § 17 Nr. 3 VOB/B berechtigt, den Sicherheitseinbehalt durch eine andere Sicherheit, im Regelfall durch eine Vertragserfüllungsbürgschaft bzw. eine Bürgschaft zur Absicherung von Mängelansprüchen, abzulösen. In der Praxis kommt es jedoch häufig vor, dass der Auftraggeber entgegen der Regelung des § 17 Nr. 6 Abs. 1 Satz 2 VOB/B den Sicherheitseinbehalt nicht auf ein Sperrkonto einzahlt. Es stellt sich daher die Frage, ob ein Verstoß gegen § 17 Nr. 6 Abs. 1 VOB/B strafrechtlich im Sinne des Untreuetatbestandes relevant ist. Kann der Verstoß gegen die VOB/B eine Untreue sein?
II. OLG München, Beschluss vom 23.2.2006 Bis zu der Entscheidung des OLG München vom 23.2.2006 1 konnte davon ausgegangen werden, dass die unterlassene Einzahlung des Sicherheitseinbehaltes auf ein Sperrkonto keine Untreue im strafrechtlichen Sinne darstellt, da eine Vermögensbetreuungspflicht nicht angenommen wurde.2 In der Bauwirtschaft erregte daher der Beschluss des OLG München vom 23.2.2006 großes Aufsehen, wonach die Nichteinzahlung eines Sicherheitseinbehaltes auf ein Sperrkonto gemäß § 17 Nr. 6 Abs. 1 Satz 2 VOB/B den 1 2
OLG München v. 23.2.2006 – 2 Ws 22/06, BauR 2007, 130. Greeve/Müller NZBau 2000, 239 ff; LG Bonn BauR 2004, 1471.
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objektiven Tatbestand einer Untreue nach dem Treuebruchtatbestand gemäß § 266 Abs. 1, 2. Alt. StGB erfüllen soll. In dem dort entschiedenen Fall hatte ein Auftraggeber bei einem VOB/BWerkvertrag den vereinbarten Sicherheitseinbehalt für Gewährleistungsansprüche nicht auf ein Sperrkonto eingezahlt. In den Allgemeinen Geschäftsbedingungen war die Verpflichtung zur Einzahlung vertraglich ausgeschlossen worden. Das OLG München sieht zunächst den vertraglichen Ausschluss wegen Verstoßes gegen § 307 BGB n.F. als nicht wirksam an. Dies ist nach der Entscheidung des BGH vom 13.11.2003 – VII ZR 57/02 3 jedoch nicht grundsätzlich so, da ein Ausschluss der Einzahlungspflicht auf ein Sperrkonto nicht per se unwirksam ist, sondern nur dann, wenn dem Auftragnehmer im Austausch nur die Stellung einer Bürgschaft auf erstes Anfordern offen steht. Das OLG München sieht des Weiteren in der dem Auftraggeber gemäß § 17 Nr. 6 Abs. 1 Satz 2 VOB/B obliegenden Einzahlungsverpflichtung eine vertragliche Vermögensbetreuungspflicht im Sinne des § 266 Satz 2, 2. Alt. StGB. Diese wird lediglich mit dem erforderlichen fairen Interessenausgleich zwischen den Vertragsparteien angesichts des wechselseitigen Insolvenzrisikos begründet. Insoweit lässt das OLG jedoch augenscheinlich die vorstehend genannte Rechtsprechung des 7. Zivilsenates des BGH unbeachtet.4 Das OLG München weist immerhin – zutreffend – darauf hin, dass hinsichtlich des einbehaltenen Betrages keine fällige Forderung bestehe, diese vielmehr durch Vereinbarung hinausgeschoben sei. Obwohl also in Höhe des Sicherheitseinbehaltes noch gar keine fällige Forderung besteht, soll für eine solche Forderung dem Auftraggeber eine strafrechtlich relevante Vermögensbetreuungspflicht obliegen. Da im Ausgangsfall der Auftraggeber insolvent wurde, drängt sich der Gedanke auf, dass – ergebnisorientiert – wieder die Allzweckwaffe Untreue aktiviert werden musste. Ob dies überzeugen kann, lässt sich zunächst nicht ohne Rückgriff auf zivilrechtliche Vorfragen entscheiden. Denn wesentlich für das Verständnis der Untreue im Sinne des § 266 StGB ist die Akzessorität des Strafrechts zu den hier in Bezug zu nehmenden Normen des Zivilrechts. Was im Zivilrechtlich erlaubt ist, kann keine strafrechtliche Pflichtwidrigkeit im Sinne des § 266 StGB begründen. Andererseits führt nicht jeder Verstoß gegen eine gesetzliche Pflicht oder gegen eine – wie hier – vertragliche Pflicht zu einer strafrechtlich relevanten Pflichtverletzung!
3 BGH Urteil v. 13.11.2003 – VII ZR 57/02, BauR 2004, 325 = NJW 2004, 443 = MDR 2004, 273. 4 OLG München v. 23.2.2006 – 2 Ws 22/06, BauR 2007, 130.
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III. Zivilrechtliche Vorfragen 1. Arten der Sicherheitsleistungen nach § 17 VOB/B Die in § 17 VOB/B aufgeführten – im Vertrag zu vereinbarenden – Sicherheitsleistungen dienen dazu, die vertragsgemäße Ausführung und die Erfüllung von Gewährleistungsansprüchen sicherzustellen. Es handelt sich hierbei zunächst allein um Sicherheiten für den Auftraggeber. Dieser soll im Rahmen des § 17 VOB/B gegen die Gefahr, dass der Auftragnehmer vor Erfüllung seiner Leistungen in Vermögensverfall gerät und damit leistungsunfähig wird, geschützt werden. Als Sicherheitsleistung ist gemäß § 17 Nr. 2 VOB/B der Einbehalt, die Hinterlegung von Geld oder die Bürgschaft vorgesehen, wobei jedoch der Auftragnehmer gemäß § 17 Nr. 3 VOB/B berechtigt ist, eine Art der Sicherheitsleistung durch eine andere zu ersetzen. 2. Einbehalt von Zahlungen Wird die Sicherheit durch den Einbehalt von Werklohn geleistet, ist der Auftraggeber gemäß § 17 Nr. 6 Abs. 1 Satz 2 VOB/B verpflichtet, dem Auftragnehmer den jeweils einbehaltenen Betrag mitzuteilen und innerhalb von 18 Werktagen auf ein Sperrkonto bei dem vereinbarten Geldinstitut einzuzahlen. Wann die Mitteilung über den Einbehalt allerdings zu erfolgen hat, ist in § 17 Nr. 6 VOB/B nicht geregelt. Überwiegend wird insoweit angenommen, dass die Mitteilung unverzüglich vorzunehmen sei.5 Gemäß § 17 Nr. 6 Abs. 1 Satz 5 VOB/B ist § 17 Nr. 5 VOB/B entsprechend anwendbar. Nach der Regelung des § 17 Nr. 5 VOB/B – die die Sicherheitsleistung durch Hinterlegung von Geld beinhaltet – ist der Sicherheitseinbehalt bei einem gemeinsam mit dem Auftragnehmer zu vereinbarenden Geldinstitut auf ein Sperrkonto einzuzahlen, über welches der Auftraggeber und der Auftragnehmer nur gemeinsam verfügen können („Und-Konto“); etwaige Zinsen stehen dann dem Auftragnehmer zu. Die ausdrückliche Bezeichnung des Sperrkontos als ein „Und-Konto“ erfolgte aus Gründen der Klarstellung erstmals in der „VOB 2006“, welche im November 2006 in Kraft trat.6 Der Auftraggeber kann und muss die Einzahlung auf das Sperrkonto einseitig innerhalb der in § 17 Nr. 6 Abs. 1 Satz 2 VOB/B genannten Frist so vornehmen, dass die Sperrwirkung rechtzeitig auch ohne Mitwirkung des Auftragnehmers herbeigeführt wird.7 Es handelt sich hierbei um eine 5 Thierau in: Kapellmann/Messerschmidt, aaO, § 17 Rn 205; Heiermann/Riedl/Rusam VOB, Teil B, 10. Aufl. 2003, § 17 Rn 77. 6 Vgl. Beschluss des Hauptausschusses des DVA vom 27.6.2006. 7 Schmitz IBR 2002, 133.
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eigenständige, nicht von einer Aufforderung des Auftragnehmers abhängige Pflicht des Auftraggebers.8 Hervorzuheben ist allerdings, dass die Pflicht zur Einzahlung des Sicherheitseinbehaltes auf ein Sperrkonto vertraglich wirksam ausgeschlossen werden kann, wenn dem Auftragnehmer die Möglichkeit verbleibt, den Einbehalt gegen eine einfache – also keine Bürgschaft auf erstes Anfordern –, selbstschuldnerische und unbefristete Bürgschaft auszutauschen.9
IV. Strafrechtliche Folgen 1. Missbrauch, Treuebruch und Vermögensbetreuungspflicht im Sinne des § 266 Abs. 1 StGB Die in § 266 Abs. 1 StGB geregelte Untreue bedeutet die vorsätzliche Verletzung der Pflicht zur Betreuung fremder Vermögensinteressen durch Benachteiligung des zu Betreuenden. Die tatbestandliche Rechtsgutverletzung besteht darin, dass der Täter die ihm eingeräumte Dispositionsmacht zur pflichtwidrigen Schädigung fremden Vermögens ausnutzt.10 Nach § 266 Abs. 1 StGB wird bestraft, wer die ihm durch Gesetz, behördlichen Auftrag oder Rechtsgeschäft eingeräumte Befugnis, über fremdes Vermögen zu verfügen oder einen anderen zu verpflichten, missbraucht und die ihm obliegende Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen, verletzt und dadurch Nachteile zufügt. Unterschieden wird zwischen dem sog. Missbrauchs- und dem Treuebruchtatbestand. Kennzeichnend für den Missbrauchstatbestand ist, dass der Täter aufgrund einer ihm über fremdes Vermögen – im Innenverhältnis – zustehenden Verfügungsmacht ein – im Außenverhältnis – wirksames, dem Geschäftsherrn jedoch nachteiliges Verfügungsgeschäft vornimmt (§ 266 Abs. 1, 1. Alt. StGB). Hier überschreitet der Täter vorsätzlich die ihm im Innenverhältnis eingeräumte Befugnis zum Nachteil des Geschäftsherrn.11 Der Treuebruchtatbestand setzt hingegen nach dem Gesetzwortlaut des § 266 Abs. 1, 2. Alt. StGB zunächst nur voraus, dass der Täter eine ihm kraft Gesetzes, behördlichen Auftrages, Rechtsgeschäftes oder auch sonstigen Treueverhältnisses obliegende Pflicht, fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen, zum Nachteil des Betreuenden verletzt. Diese Tatbestandsalternative
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Schmitz IBR 1999, 580. BGH Urteil v. 13.11.2003 – VII ZR 57/02, BauR 2004, 325 = NJW 2004, 443 = MDR 2004, 273. 10 Dierlamm in: Münchener Kommentar, 2006, § 266 Rn 2. 11 Vgl. OLG Köln NJW 1988, S. 3219 (3220); Tröndle/Fischer StGB, 54. Aufl. 2007, § 266 Rn 9 ff; Dierlamm aaO, § 266 Rn 22. 9
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ist schon vom Wortlaut her betrachtet sehr weit geraten. Sie kennzeichnet allgemein den Pflichtverstoß bei der Betreuung fremder Vermögensinteressen. Die Bestimmung dieser Vermögensbetreuungspflicht, die als Tatbestandsmerkmal auch der 1. Alternative des § 266 Abs. 1 StGB zugrunde gelegt wird,12 bereitet erhebliche Schwierigkeiten. Es besteht zumindest Einigkeit darüber, dass es einer einschränkenden Auslegung bedarf, da anderenfalls der Untreuetatbestand Fälle erfassen würde, denen es unter Berücksichtigung des subsidiären Charakters des Strafrechts an Strafwürdigkeit und Strafbedürfnis fehlt, was unter dem Gesichtspunkt des Verfassungsprinzips der Verhältnismäßigkeit und auch gemessen an dem Bestimmtheitsgebot gemäß Art. 103 Abs. 2 GG außerordentlich fragwürdig wäre. Besonders das Merkmal der Vermögensbetreuungspflicht soll daher inhaltlich nur besonders qualifizierte Pflichten erfassen; einfache vertragliche Pflichten, das Vermögen des anderen nicht zu schädigen, begründen daher keine Vermögensbetreuungspflicht.13 Welche Kriterien jedoch im Einzelnen einschränkend heranzuziehen sind, ist umstritten. 2. Kriterien der Vermögensbetreuungspflicht Der wesentliche Inhalt des Treueverhältnisses muss – bei wirtschaftlicher Betrachtung – gerade die Wahrnehmung fremder Vermögensinteressen sein. Die Anforderungen an diese Vermögensbetreuungspflicht werden in Rechtsprechung und Lehre jedoch nicht einheitlich beurteilt. Weitgehende Übereinstimmung besteht zunächst für nur zwei Voraussetzungen. Danach muss zum einen die Vermögensbetreuungspflicht fremdnützigen Charakter aufweisen; zum anderen muss dieser Pflicht im Rahmen der vertraglichen oder gesetzlichen Rechtsverhältnisse eine gewisse Erheblichkeit zukommen. Die Vermögensbetreuungspflicht soll in diesem Sinne bei wirtschaftlicher Betrachtung den typischen und wesentlichen Inhalt des Treueverhältnisses bilden. Sie ist dessen Hauptgegenstand und daher nicht nur bloße Nebenpflicht.14 Um klare Konturen bemüht verlangt die Lehre für die Erheblichkeit der Fürsorgepflicht feste Voraussetzungen. Das Vermögensbetreuungsverhältnis müsse den Charakter einer Geschäftsbesorgung im Sinne des § 675 BGB 12
Vgl. BGHSt 22, 190; BGHSt 24, 386; BGHSt 33, 244 (250); OLG Köln NJW 1978, 713 (714); OLG Hamm NJW 1977, 1835; OLG Köln NJW 1988, 3219 (3220). 13 Siehe hierzu BGH NJW 1975, 1236ff; BGH NJW 1983, 461ff; BGH NStZ 1986, 456 ff; BGH wistra 1988, 352 ff; BGH NJW 1990, 3220 ff; BGH NJW 1991, 991 ff; Dunkel Erfordernis und Ausgestaltung des Merkmals Vermögensbetreuungspflicht im Rahmen des Missbrauchstatbestandes der Untreue, 1976, S. 215 ff (229 ff); Dierlamm NStZ 1997, 534ff; vgl. ders. aaO, § 266 Rn 142 Rn 3. 14 Siehe hierzu BGHSt 1, 186 (188ff); BGHSt 24, 386 (388); BGHSt 33, 244 (250f); BGH GA 1977, 18 (19).
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haben. Die betreuende Tätigkeit dürfe daher nicht bis ins einzelne vorgegeben sein, sondern müsse vielmehr durch Selbständigkeit und eigene Überlegung wirtschaftlicher Art kennzeichnet sein.15 Die Rechtsprechung greift hingegen zumeist auf eine Gesamtbetrachtung der Umstände des Einzelfalles zurück. Danach sind Indizien heranzuziehen, die sich auf die Art, Dauer und den Umfang der jeweiligen Tätigkeit (Rechtsverhältnisses) sowie den Grad der Selbständigkeit, Bewegungsfreiheit und Verantwortlichkeit, mithin auf den zur Verfügung stehenden Spielraum des Treuepflichtigen bei der Erfüllung seiner Obliegenheit beziehen.16 Eine solche, von der Rechtsprechung entwickelte Gesamtbetrachtung ist wenig hilfreich. Dies zeigt sich schon darin, dass die vorgenannten Erfordernisse auch nur (unverbindliche) Anhaltspunkte darstellen sollen.17 Ungeachtet dessen sind für die vorliegende Beurteilung, ob die Nichteinzahlung auf ein Sperrkonto eine Untreue darstellt, zumindest die allgemeinen Kriterien, insbesondere zur Vermögensbetreuungspflicht im Rahmen von Schuldverhältnissen, heranzuziehen. Darüber hinaus muss – auch nach der Rechtsprechung des BGH – gerade im Falle einer nur vertraglichen Pflichtverletzung ein gravierender Pflichtenverstoß vorliegen.18 Eine Entscheidung des BGH zur Frage der Nichteinzahlung auf ein Sperrkonto im Sinne der VOB/B ist bislang noch nicht ergangen. Herangezogen werden kann insoweit aber ebenfalls ein ähnlicher Sachverhalt, der in der Rechtsprechung oft diskutiert wurde: Macht sich ein Vermieter der Untreue strafbar, wenn er die ihm überlassene Mietkaution – entgegen den zivilrechtlichen Regelungen in § 550b Abs. 2, Satz 1 BGB a.F.19 bzw. einer entsprechenden vertraglichen Vereinbarung – nicht getrennt von seinem Vermögen auf ein Konto einzahlt? Die strafrechtliche Relevanz der Anlagepflicht des Vermieters war – entgegen der Nichteinzahlung auf ein Sperrkonto bei Werkverträgen – ein schon seit längerer Zeit in Rechtsprechung und Lehre heftig umstrittenes Problem. Weder in der Rechtsprechung noch in der Lehre konnte sich jedoch zunächst eine herrschende Meinung bilden, ob der Vermieter gegenüber dem Mieter eine Vermögensbetreuungspflicht hat. Der BGH hatte schließlich mit Beschluss vom 23.8.1995 20 entschieden, dass die Nichteinzahlung der Mietkaution auf ein separates Konto, mithin die bestimmungswidrige Verwen15
Siehe hierzu Lenckner in: Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl. 2006, § 266 Rn 23, 23a. Vgl. BGHSt 3, 289 (293 f); BGHSt 4, 170 (172); BGHSt 13, 315 (317); BGHSt 41, 224 (228 ff); OLG Hamm NJW 1972, 298 (301); OLG Köln NJW 1978, 713 (714); OLG Köln NJW 1988, 3219 (3220). 17 So BGHSt 1, 186 (189); BGHSt 13, 315 (317); BGHSt 33, 244 (259 f). 18 Siehe hierzu BGHSt 46, 30; BGHSt 47, 187; BGHSt 47, 148; Dierlamm StraFo 2005, 397 ff; Matt NJW 2005, 389 ff. 19 Ab dem 1.1.2001 in § 551 Abs. 3 BGB, geändert gemäß Art. 1 Nr. 3 MietRRG. 20 BGHSt 41, 224. 16
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dung der Kaution, eine Untreue darstelle. Die in diesem Zusammenhang aufgestellten Kriterien zur Vermögensbetreuungspflicht haben für die Frage, ob die Nichteinzahlung auf ein Sperrkonto strafbar ist, erhebliche Bedeutung, wie im Einzelnen aufzuzeigen ist. 3. Kriterien der Vermögensbetreuungspflicht nach dem Beschluss des BGH vom 23.8.1995(BGHSt 41, 224) Gemäß § 551 Abs. 3 BGB n.F. 21 ist der Vermieter – zivilrechtlich unabdingbar – verpflichtet, die ihm gestellte Mietkaution getrennt von seinem Vermögen bei einer öffentlichen Sparkasse oder bei einer Bank zu dem für Spareinlagen mit gesetzlicher Kündigungsfrist üblichen Zinssatz anzulegen; die Zinsen stehen den Mietern zu und erhöhen die Sicherheit. Die Anlagepflicht wird jedoch nur dann ausgelöst, wenn zuvor – vertraglich – eine Mietkautionsabrede getroffen wurde. Der BGH 22 sieht die in § 550b Abs. 2 Satz 1 BGB a.F.,23 nunmehr in § 551 Abs. 3 BGB konstituierte Anlegungspflicht als eine Vermögensbetreuungspflicht im Sinne des § 266 StGB an. Zwar hätten grundsätzlich die Mietvertragsparteien bei der Erfüllung ihrer gesetzlichen und vertraglichen Pflichten nicht gegenseitig Vermögensinteressen zu betreuen; anders würde es sich jedoch gestalten, wenn der Mieter dem Vermieter eine als Sicherheit bereitzustellende Geldsumme überließe. Die in § 550b Abs. 2 Satz 1 BGB a.F. enthaltene Regelung stelle einen Ausgleich zwischen dem Sicherungsbedürfnis des Vermieters auf der einen und dem Schutzbedürfnis des Mieters auf der anderen Seite her und soll dabei insbesondere den Rückzahlungsanspruch des Mieters im Falle der Zahlungsunfähigkeit des Vermieters vor dem Zugriff von dessen Gläubigern schützen. Deshalb sei das Geldüberlassungsverhältnis in § 550b Abs. 2 Satz 1 BGB a.F. als ein Treuhandverhältnis gestaltet. Das Sicherungsbedürfnis des Vermieters sei hierbei gleichrangig mit dem Sicherungsinteresse des Mieters. Die Anlagepflicht des Vermieters sei im Weiteren ein wesentlicher und nicht nur beiläufiger Gegenstand der gegenseitigen Rechtsbeziehungen zwischen Vermieter und Mieter. Bedeutungslos soll es sein, dass es sich zivilrechtlich hingegen nur um eine Nebenpflicht handelt, da die Einstufung in vertragliche Haupt- und Nebenpflichten ohnehin kein sicheres Erkennungszeichen für oder gegen das Vorliegen einer Vermögensbetreuungspflicht im Sinne des strafrechtlichen Treuebruchtatbestandes sei. Auch der Umstand, dass dem Vermieter für den Umgang mit der Mietkaution nach den gesetzlichen Regelungen nur ein relativ geringer Entscheidungs21 Fassung gemäß Art. 1 Nr. 3 MietRRG, in Kraft seit 1.1.2001, bis 1.1.2001 in § 550b Abs. 2 BGB. 22 BGHSt 41, 224 (228 f). 23 Ab dem 1.1.2001 in § 551 Abs. 3 BGB, geändert gemäß Art. 1 Nr. 3 MietRRG.
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spielraum zusteht, habe keine ausschlaggebende Bedeutung. Das Kriterium der eingeengten Handlungsfreiheit des Verpflichteten diene lediglich zur Abgrenzung der Vermögensbetreuung gegenüber bloßen „Diensten der Handreichung“ (z.B. Kellner, Lieferausträger, Boten). Es verböte sich jedoch, den Vermieter als treuhänderischen Verwalter der Mietkaution hiermit gleichzustellen. Im Übrigen verfüge selbst der Notar, Rechtsanwalt oder Steuerberater, der seinem Mandanten zustehendes Geld empfange und an diesen auskehre, nur über einen engen Entscheidungsspielraum beim Umgang mit diesem Geld; auch hier werde aber eine Vermögensbetreuungspflicht – ungeachtet des Umganges mit dem Geld – angenommen. 4. Vertraglich begründete Vermögensbetreuungspflicht im Falle der Sperrkontovereinbarung Unter Zugrundelegung der insoweit zur Verfügung stehenden Kriterien nach der Rechtsprechung ist zunächst Folgendes festzuhalten: Nach den Regelungen des BGB, namentlich nach § 232 ff. BGB, ist für den Fall der Durchführung eines Werkvertrages weder ein Einbehalt noch eine Verpflichtung zur Einzahlung auf ein Sperrkonto vorgesehen. Eine solche Verpflichtung ergibt sich auch nicht aus den werkvertraglichen Regelungen der §§ 631 ff BGB; diese sehen noch nicht einmal generell einen Sicherheitseinbehalt vor. Der Sicherheitseinbehalt muss daher vertraglich vereinbart werden. Wird ein Sicherheitseinbehalt im Rahmen eines Vertrages vereinbart, in welchem die VOB/B keine Gültigkeit hat, besteht – sofern keine anderweitige ausdrückliche vertragliche Vereinbarung getroffen wurde – keine Verpflichtung des Auftraggebers, den Sicherheitseinbehalt auf ein Sperrkonto einzuzahlen. Es verbleibt daher in diesem Fall bei dem vom OLG München 24 zutreffend festgestellten Insolvenzrisiko des Auftragnehmers, wenn – lediglich – die gesetzlichen Grundlagen des BGB anwendbar sind. Hervorzuheben ist im Weiteren, dass aber die Regelungen der VOB/B, die die Einzahlung auf ein Sperrkonto im Falle vereinbarter Sicherheitsleistung vorsehen, weder ein Gesetz noch eine Rechtsverordnung oder Gewohnheitsrecht oder Handelsbrauch darstellen. Bei der VOB/B handelt es sich vielmehr (nur) um Allgemeine Geschäftsbedingungen, die insbesondere nur dann der Inhaltskontrolle nach den §§ 305ff. BGB standhalten, wenn die VOB/B ohne jede vertragliche Abweichung vereinbart ist; anderenfalls ist jede einzelne Bestimmung der VOB/B nach Maßgabe der §§ 305ff. BGB zu prüfen! 25
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OLG München v. 23.2.2006 – 2 Ws 22/06, BauR 2007, 130. Siehe hierzu BGH BauR 2004, 668.
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Wenn folglich nach den Bestimmungen des § 17 VOB/B eine Sicherheitsleistung wirksam vereinbart ist, besteht dennoch keine gesetzliche Verpflichtung, ggf. fremde Vermögensinteressen wahrzunehmen. Eine im Sinne des § 266 Abs. 1 StGB ggf. bestehende Vermögensbetreuungspflicht kann daher grundsätzlich im Sinne des § 17 Nr. 6 Abs. 1 Satz 2 VOB/B nur im Rahmen des zwischen den Vertragsparteien geschlossenen Werkvertrages – also aufgrund Rechtsgeschäft – begründet sein. Diese ggf. vertragliche Pflicht muss zudem wirksam im Sinne einer AGB-Kontrolle sein. 5. Durch „Fremdnützigkeit“ typisierte Pflicht Ob die vertraglich – durch Einbeziehung der VOB/B als Vertragsgegenstand – begründete Verpflichtung zur Einzahlung des Sicherheitseinbehaltes auf ein Sperrkonto überhaupt eine fremdnützige Pflicht darstellt, hängt von der Beurteilung ab, welche Interessen im Rahmen der Sicherungsabrede beim Werkvertrag vorrangig geschützt werden und welche Funktion die Einrichtung eines Sperrkontos im Sinne des § 17 VOB/B hat. Für die strafrechtliche Beurteilung ist hierbei ebenfalls zu berücksichtigen, ob der Auftraggeber durch Einzahlung auf ein Sperrkonto für den Auftragnehmer im Sinne einer Interessensvertretung handeln muss. Die vertraglich getroffene Sicherungsabrede dient zunächst einmal den Sicherungsinteressen des Auftraggebers. Dieser hat ein berechtigtes Interesse am – teilweisen – Einbehalt an sich fälliger Werklohnforderungen (im Rahmen von Abschlagszahlungen oder bei der Schlussrechnung) sowohl im Hinblick auf die Erfüllung der Leistung wie auch im Hinblick auf Mängelansprüche nach Abnahme der Leistung. Die Erfüllungssicherung soll das Risiko der Leistungserbringung, insbesondere im Falle der Insolvenz des Auftragnehmers, sicherstellen; der Einbehalt für Mängelansprüche schützt den Auftraggeber im Hinblick auf Mängelbeseitigungen für die Zeit der Gewährleistung nach Abnahme der Leistung. Die Verpflichtung zur Einzahlung von Einbehalten auf ein Sperrkonto ist demgegenüber, isoliert betrachtet, rein fremdnützig ausgestaltet. Die Einzahlung dient ausschließlich dazu, das vom Auftraggeber ausgehende Insolvenzrisiko auszuschalten und sicherzustellen, dass der Auftraggeber seiner späteren Verpflichtung zur Werklohnzahlung nachkommen kann. Ferner soll er nicht berechtigt sein, mit dem Werklohn, wenngleich die Fälligkeit durch Sicherungsabrede in Höhe des Einbehaltes hinausgeschoben wird, wirtschaftlich zu arbeiten. Über das ihm zustehende Sicherungsrecht im Hinblick auf Vertragserfüllung und Gewährleistung sollen ihm keine wirtschaftlichen Vorteile durch Einbehalte eingeräumt werden; Sicherungsmittel sind generell zweckgebunden. Die in § 17 Nr. 6 Abs. 1 Satz 2 VOB/B getroffenen Regelungen dienen daher grundsätzlich den Interessen des Auftragnehmers an dem Erhalt des
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Restwerklohnes nach Ablauf des vereinbarten Sicherungszeitraumes. Er hat es allerdings jederzeit in der Hand, eine andere Art der Sicherheit zu wählen und die vereinbarte Sicherungsart zu ersetzen (§ 17 Nr. 3 VOB/B). Festzuhalten ist allerdings auch, dass – im Gegensatz zu der Mietkautionsregelung in § 551 Abs. 3 BGB n.F. – nicht schlichtweg nur die Einzahlung auf ein Sperrkonto vorgesehen ist. Das Regelungswerk des § 17 VOB/B enthält darüber hinaus weitere, den Interessen des Auftragnehmers dienende Bestimmungen. Grundsätzlich sind die Sicherungsmittel der Art nach begrenzt. Ferner steht dem Auftragnehmer ein Austauschrecht der Sicherheiten zu; der Auftragnehmer kann daher eine Sicherheit durch eine andere ersetzen (§ 17 Nr. 3 VOB/B). In der Praxis wird der Einbehalt als Sicherheitsleistung regelmäßig durch eine Bürgschaft ausgetauscht. Der Auftragnehmer hat es daher jederzeit in der Hand, Einbehalte abzulösen. Auch stehen dem Auftragnehmer etwaige Zinsen zu, trotz der Tatsache, dass seine Forderung noch nicht fällig ist. Wenn der Auftraggeber den einbehaltenen Betrag nicht rechtzeitig, d.h. nicht binnen 18 Werktagen nach Mitteilung des einbehaltenen Betrages, auf ein Sperrkonto einzahlt, ist der Auftragnehmer berechtigt, nach Nachfristsetzung sofortige Auszahlung des einbehaltenen Betrages zu verlangen. Damit entfällt nicht nur die Verpflichtung zur Einzahlung auf ein Sperrkonto, sondern auch zur Stellung einer Sicherheitsleistung seitens des Auftragnehmers. Im Gegensatz zu der in § 551 Abs. 3 BGB n.F. im Einzelnen vorgezeichneten Pflicht zur Anlage der Mietkaution, ist allerdings – zu keinem Zeitpunkt – ein eigenständig einklagbarer Anspruch auf Einzahlung gegeben, weil der Auftragnehmer bereits über § 17 Nr. 6 Abs. 3 VOB/B hinreichend geschützt ist. Dieses dargestellte in sich geschlossene System der VOB/B spricht schon deshalb gegen die Annahme von besonderen Treuepflichten, da es ohnehin andere Sicherungsmechanismen vorsieht und aus diesem Grund auch gar keine durchsetzbaren Rechte zur Verfügung stellt. Des Weiteren stellt – für sich genommen – die Nichtbeachtung der Einzahlung auf ein Sperrkonto nach § 17 VOB/B auch keinen Verstoß gegen ein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB dar, da es sich bei der VOB/B eben nur um Allgemeine Geschäftsbedingungen handelt. Auch hierin besteht ein wesentlicher Unterschied zu einem Anlageverstoß des Vermieters nach § 551 Abs. 3 BGB n.F. Der Auftraggeber nimmt schließlich mit Einzahlung auf ein Sperrkonto keine Leistung an den Auftragnehmer vor. Der Einbehalt durch Zahlung auf ein Sperrkonto bedeutet keine Zahlung an den Auftragnehmer zum Zwecke der endgültigen Vergütung. Ein Eigentumsübergang an den Auftragnehmer findet nicht statt. Da die Fälligkeit der Zahlungsverpflichtung vertraglich hinausgeschoben ist, hat der Auftragnehmer (zunächst) auch keinen An-
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spruch auf Auszahlung. Für den Fall des Austausches von Sicherheiten nach § 17 Nr. 3 VOB/B steht daher dem Auftragnehmer auch kein Eigentumsanspruch an der Sicherheit, sondern lediglich ein schuldrechtlicher Auszahlungsanspruch gegen den Auftraggeber zu. 6. Erheblichkeit der Fürsorgepflicht (vertragliche Haupt- oder Nebenpflicht) In seiner Entscheidung vom 23.8.1995 hat der BGH 26 hinsichtlich der nunmehr aus § 551 Abs. 3 BGB n.F. folgenden gesetzlichen Pflicht des Vermieters, eine Mietkaution auf ein besonderes Konto anzulegen, trotz ihres zivilrechtlichen Charakters als bloße Nebenpflicht, strafrechtlich eine Vermögensbetreuungspflicht angenommen. Als Begründung hat der BGH insoweit angeführt, dass aufgrund der Ausgestaltung der Mieterkautionsüberlassung als einer neuen Rechtsfigur im BGB die Pflicht zur gesetzmäßigen Anlage der Kaution durch den Gesetzgeber zu einem wesentlichen und nicht mehr nur noch beiläufigem Gegenstand der wechselseitigen Beziehungen zwischen Vermieter und Mieter geworden ist. Deshalb sei es bedeutungslos, ob die gesetzliche Anlagepflicht zivilrechtlich nur als eine Nebenpflicht des Vermieters zu qualifizieren sei, da diese Einstufung kein sicheres Erkennungszeichen darstelle. Entscheidend war für den BGH somit die „eindeutige“ Intention des Gesetzgebers, im Hinblick auf eine zivilrechtliche Nebenpflicht des Vermieters eine – unabdingbare – Vorschrift im Sinne des Mieterschutzes zu schaffen. Die Erheblichkeit der vom BGH angenommenen Fürsorgepflicht ergibt sich folglich aus einer ausdrücklichen gesetzgeberischen Wertung, die insbesondere auch in der Unabdingbarkeit gemäß § 551 Abs. 4 BGB n.F. ihren Ausdruck findet. Überträgt man diese Grundsätze – ungeachtet sämtlicher Vorbehalte, die sich im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG ergeben – auf die Regelung des § 17 Nr. 6 Abs. 1 Satz 2 VOB/B, werden die Unterschiede zur Regelung des § 551 Abs. 3 BGB n.F. offensichtlich: Hinsichtlich der Vereinbarung und Anlage von Sicherheitsleistungen im Rahmen von Werkverträgen fehlt es schon an einer gesetzlichen Regelung. Soweit vertraglich die Einzahlungsverpflichtung auf ein Sperrkonto über § 17 Nr. 6 Abs. 1 Satz 2 VOB/B geregelt ist, kann dies darüber hinaus – nach der Rechtsprechung des 7. Zivilsenats des BGH – wirksam ausgeschlossen werden.27 Im Rahmen dieser Entscheidung hat der BGH ausdrücklich betont, dass anders als im Falle einer Bürgschaft auf erstes Anfordern die Möglichkeit eines Austausches des Sicherheitseinbehaltes gegen eine selbstschuldnerische unbefristete Bürgschaft einen hinreichenden Ausgleich zu dem in der Vertragsklausel vorgesehenen Einbehalt – unter Aus26
BGHSt 41, 224. BGH Urteil v. 13.11.2003 – VII ZR 57/02, BauR 2004, 325 = NJW 2004, 443= MDR 2004, 273. 27
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schluss der Einzahlung auf ein Sperrkonto – darstellt. Die Klausel stellt den Auftragnehmer vor die Alternative, entweder für fünf Jahre auf unbestrittenen restlichen Werklohn zu verzichten, entsprechende Zinsverluste hinzunehmen und das Insolvenzrisiko des Auftraggebers zu tragen oder seine Liquidität durch Beibringung einer Bankbürgschaft zu schmälern, die regelmäßig auf Kosten der Kreditlinie geht. Außerdem sind für die Bankbürgschaft Avalzinsen zu zahlen, die wiederum einen Zinsertrag aus dem abgelösten Sicherheitseinbehalt schmälern. Die in der Zinsbelastung und dem Einfluss auf die Kreditlinie liegenden Nachteile bei Bereitstellung einer Bürgschaft erscheinen nach Ansicht des BGH, berücksichtigt man auf der anderen Seite die berechtigten Interesse des Auftraggebers, jedoch nicht als so gewichtig, dass ihretwegen die Unwirksamkeit der Klausel angenommen werden kann. Nach Ansicht des 7. Zivilsenats des BGH stellt somit die Möglichkeit des Auftragnehmers, den Sicherheitseinbehalt gegen eine selbstschuldnerische Bürgschaft austauschen zu können, einen angemessenen Ausgleich für den Ausschluss der Einzahlungspflicht des Einbehalts auf ein Sperrkonto dar. Vor diesem Hintergrund kann keine erhebliche oder qualifizierte Fürsorgepflicht im Sinne einer Vermögensbetreuungspflicht im Hinblick auf die Einzahlungspflicht gemäß § 17 Nr. 6 Abs. 1 Satz 2 VOB/B angenommen werden, da den zivilrechtlichen Parteien auch im Rahmen einer Kontrolle von Allgemeinen Geschäftsbedingungen – wiederum innerhalb des Systems der VOB/B – und nur darin befinden wir uns bei der strafrechtlichen Würdigung! – ausreichender Interessenausgleich besteht. Hierfür spricht außerdem – was häufig übersehen wird – folgender Vergleich: Der Auftraggeber kann im Falle des Vorliegens von Mängeln (ohnehin) gemäß § 641 Abs. 3 BGB die Zahlung mindestens in Höhe des Dreifachen der erforderlichen Mängelbeseitigungskosten jederzeit verweigern. In der Praxis übersteigt dieser „Druckzuschlag“ den vereinbarten Sicherheitseinbehalt oft um ein Vielfaches. Trotzdem hat der Gesetzgeber im Rahmen von § 641 BGB keine Veranlassung gesehen, eine Regelung hinsichtlich der „insolvenzfesten“ Absicherung dieser Vergütungsteile zu treffen. Im Gegensatz zur Regelung des § 551 Abs. 3 BGB n.F. fehlt es also an einer vom Gesetzgeber gewollten Absicherung des Auftragnehmers. 7. Selbständigkeit der Wahrnehmung des übertragenen Pflichtenkreises In seiner Entscheidung zur vertragswidrigen Verwendung der Mieterkaution hat der BGH klargestellt, dass das Kriterium der Selbständigkeit des Treuepflichtigen lediglich dazu diene, die Vermögensbetreuung im Sinne des Untreuetatbestandes von Diensten der Handreichung abzugrenzen.28 Damit
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hat die Rechtsprechung das Merkmal der Selbständigkeit zur Konkretisierung der Vermögensbetreuungspflicht faktisch aufgegeben. Ungeachtet dessen muss es dem Verpflichteten jedoch überhaupt möglich sein, die ihm übertragenen Pflichten selbständig erfüllen zu können. Der Auftraggeber ist aber aufgrund der Regelungen von § 17 VOB/B praktisch gar nicht in der Lage, ohne Mitwirkung des Auftragnehmers den Sicherheitseinbehalt insolvenzsicher anzulegen. Hierfür bedarf es zunächst einer Vereinbarung zwischen Auftraggeber und Auftragnehmer darüber, bei welchem Geldinstitut der Sicherheitseinbehalt einzuzahlen ist.29 Darüber hinaus ist der Sicherheitseinbehalt gemäß §§ 17 Nr. 6 i.V.m. Nr. 5 VOB/B der „VOB 2006“ zwingend auf ein sog. „Und-Konto“ einzuzahlen. Die rechtsgeschäftliche Begründung eines „Und-Kontos“ setzt jedoch voraus, dass sämtliche Berechtigten bei der Kontoeröffnung mitwirken, da sowohl der Auftraggeber als auch der Auftragnehmer eine echte Gläubigerposition an dem Konto erwerben sollen. Nur durch ein solches „UndKonto“ ist im Falle der Insolvenz des Auftraggebers ausgeschlossen, dass das Konto in die Insolvenzmasse fällt.30 Die Einrichtung eines bloßen Sperrkontos mit Sperrvermerk begründet demgegenüber lediglich einen schuldrechtlichen Anspruch, der den Auftragnehmer nicht berechtigt, eine Aboder Aussonderung nach den §§ 84, 47 InsO in der Insolvenz des Auftraggebers zu fordern.31 Auch für die „VOB 2002“ wurde insoweit angenommen, dass ein Sperrkonto im Sinne des § 17 VOB/B ein bankrechtliches „Und-Konto“ sein müsse,32 so dass sich hinsichtlich der Beurteilung des § 17 BOB/B in der unterschiedlichen Fassung der VOB 2002 und 2006 keine abweichende Beurteilung ergibt.
V. Ergebnis Die Nichteinzahlung des Sicherheitseinbehaltes gemäß § 17 Nr. 6 Abs. 1 Satz 2 VOB/B stellt keine Untreue gemäß § 266 Abs. 1 2. Alt. StGB dar. Die Sachlage bei einer durch die Vereinbarung der VOB/B begründeten Verpflichtung zur Einzahlung auf ein Sperrkonto unterscheidet sich erheblich von der gesetzlichen Regelung betreffend der Einzahlungsverpflichtung für Mietkautionen im Sinne von § 551 BGB n.F. Die Einzahlung auf das Sperrkonto im Rahmen der VOB/B erfolgt zwar im Interesse des Auftragnehmers, 29 30 31 32
Siehe Depold IBR 2002, 134. Joussen in: Ingenstau Korbion, aaO, § 17 Nr. 5 Rn 3. OLG Dresden BauR 2004, 1310. LG Leipzig BauR 2001, 1920.
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dieser hat aber die Möglichkeit, eine andere Art der Sicherheit zu wählen. Das OLG München hat in seiner Entscheidung nicht nur die Möglichkeit verkannt, dass die Einzahlungsverpflichtung wirksam ausgeschlossen werden kann, sondern auch, dass die vertragliche Regelung der VOB/B insbesondere auf Grund der fehlenden Fälligkeit der Restforderung des Auftragnehmers gerade keine Vermögensbetreuungspflicht begründet, wie dies gerade auch in anderen gesetzlichen Regelungen zu möglichen Zurückbehaltungsrechten deutlich zum Ausdruck kommt (z.B. § 641 BGB). Der inhaltlich recht kurz gefasste Beschluss des OLG München, der eine erforderliche – weil akzessorische – umfassende Diskussion und Auseinandersetzung mit den zivilrechtlichen Vorfragen vermissen lässt, kann daher nicht überzeugen. Es scheint so, als wolle das OLG München durch Richterrecht einen Straftatbestand der Verletzung von § 17 Nr. 6 Absatz 1 Satz 2 VOB/B einführen. Die Befürchtungen des Jubilars bewahrheiten sich: Die Allzweckwaffe § 266 StGB wird – wieder einmal – aktiviert.
Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die Entziehung der Fahrerlaubnis Bernhard Haffke I. Einleitung Der nachfolgende Beitrag geht der Frage nach, ob – entgegen dem durch das Gesetz (§§ 61 Nr. 5, 69–69b StGB) erzeugten Anschein, aber durchaus in Übereinstimmung mit dem einhelligen Urteil der Praxis und der Betroffenen – die Entziehung der Fahrerlaubnis in Wahrheit doch eine Strafe 1 und keine Maßregel der Besserung und Sicherung ist. Dabei knüpft er an eine merkwürdige – und dennoch wenig beachtete und diskutierte – Regelung unseres Strafgesetzbuchs an. Dieses normiert nämlich in § 62 für alle Maßregeln der Besserung und Sicherung den sog. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Danach darf eine Maßregel der Besserung und Sicherung, also auch die Entziehung der Fahrerlaubnis, nicht angeordnet werden, „wenn sie zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden Taten sowie zu dem Grad der von ihm ausgehenden Gefahr außer Verhältnis steht“. Gleichwohl heißt es in Satz 2 des § 69 Abs. 1, nachdem in Satz 1 dieser Vorschrift die Voraussetzungen für die Entziehung der Fahrerlaubnis im Einzelnen festgelegt worden sind, ganz lapidar: „Einer weiteren Prüfung nach § 62 bedarf es nicht“. Der Richter ist m.a.W. von der Verhältnismäßigkeitsprüfung, wenn er Satz 1 des § 69 Abs. 1 bejaht hat, entlastet. Zu beachten ist allerdings, dass sich demgegenüber – scil.: nur im normativen Programm! – (sozusagen) beim Vollzug dieser Anordnung, nämlich der Festlegung der Sperre für die Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69a), eine entsprechende Regelung nicht findet. Hier also hat – nach allgemeiner Ansicht 2 – sehr wohl eine Verhältnismäßigkeitsprüfung zu erfolgen. Die Suspension der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei der Anordnung der Entziehung der Fahrerlaubnis, wenn auch nicht beim „Vollzug“ dieser Anordnung, könnte ein Indiz dafür sein, dass die Entziehung der Fahrerlaubnis in Wahrheit eine 1 Vgl. vor allem wiederholt Cramer NJW 1968, 1764 ff; MDR 1972, 558 ff; DAR 1975, 228f; Unfallprophylaxe durch Strafen und Geldbußen?, 1975, 54ff; Straßenverkehrsrecht, Bd I, 2. Aufl. 1977, § 69 StGB, Rn 3ff; GS für Horst Schröder, hrsg. von Stree, Lenckner, Eser, 1978, 533 ff. Die ältere Diskussion ist in Fn 46 nachgewiesen. 2 Exemplarisch etwa: Geppert LK, 11. Aufl. 2006, § 69 Rn 67; § 69a Rn 9 ff, 24.
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Strafe ist, wäre es nicht auf der anderen Seite so, dass – unstreitig – bei der Zumessung der Strafe „die Wirkungen, die (von ihr) für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind“ (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StGB), die „persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse“ des Täters (§ 46 Abs. 2 Satz 2 StGB), kurz: seine Strafempfänglichkeit und seine Strafempfindlichkeit 3 zu berücksichtigen sind, was m.a.W. bedeutet: Die Strafzumessung ist offenbar elastischer, geschmeidiger ausgestaltet als die Maßregelzumessung. Unser Beitrag führt damit mitten hinein in zentrale sanktionstheoretische Probleme der Ein-, Zwei- und neuerdings auch der Dreispurigkeit 4 des Strafrechts sowie in klassische rechtstheoretische und rechtssoziologische Probleme des Verhältnisses von Norm und Wirklichkeit (Darf überhaupt mit einer abweichenden Praxis gegen das legislative Programm argumentiert werden?). Da, wie sich zeigen wird, eine substantielle Bestimmung dessen, was Strafe im Unterschied zur Maßregel kennzeichnet, fehlt und wohl auch in einem säkular verstandenen Schuldstrafrecht gar nicht gelingen kann, endet der Beitrag zwangsläufig aporetisch. Der Rückzug aus dem Horizont der Rechtsdogmatik, das Sich-Verweigern dem Entscheidungszwang,5 heißt aber nicht, dass man sich nicht wenigstens um eine klare und transparente Argumentation bemühen sollte. Einen „Etikettenschwindel“ 6 – so der gegen die Charakterisierung der Entziehung der Fahrerlaubnis als Maßregel der Besserung und Sicherung häufig erhobene Vorwurf – sollte sich jedenfalls die Strafrechtstheorie nicht erlauben.
II. Bestandsaufnahme 1. Um die Bedeutung des § 69 Abs. 1 Satz 2 StGB zutreffend zu erfassen, soll diese Vorschrift vorweg kurz unter sprachlich-logischen Gesichtspunkten beleuchtet werden. Wenn es dort heißt, dass es einer weiteren Prüfung der Verhältnismäßigkeit nicht bedarf, dann könnte diese Regelung ja dahingehend verstanden werden, dass sich der Richter mit der Prüfung der Voraus-
3 Vgl. zu beiden Begriffen ausführlich Bruns Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974, 497 ff. In eine nähere Diskussion dieser beiden (durchaus problematischen) Strafzumessungsaspekte können wir hier nicht eintreten (vgl. kritisch z.B. Streng Strafrechtliche Sanktionen, 2. Aufl. 2002, Rn 561 ff; Hörnle Tatproportionale Strafzumessung, 1999, 167 ff, 339 ff). 4 Vgl. Roxin Strafrecht, AT, Bd. I, 4. Aufl. 2006, 96 ff, 100 ff (speziell zur Entziehung der Fahrerlaubnis s. S. 99, Rn 69); Schüler-Springorum in: FS für Roxin, hrsg. von Schünemann u.a., 2001, 1021 ff. 5 Vgl. dazu zusammenfassend Petra Wittig Das tatbestandsmäßige Verhalten des Betrugs, 2005, 32 ff. 6 Zur Herkunft und Verwendung dieses Schlagworts Dessecker Gefährlichkeit und Verhältnismäßigkeit, 2004, 25 ff, 106 f, 131 ff, 197, 206. Vgl. ferner Cramer aaO (Fn 1); sehr prononciert in neuerer Zeit Schünemann DAR 1998, 424 ff (430).
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setzungen des Satzes 1 (i.V.m. Abs. 2) begnügen kann, aber nicht begnügen muss. So verstanden, wäre Satz 2 gar keine Dispension von Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, sondern lediglich eine Arbeitserleichterung, eine Darstellungsvereinfachung für den das Urteil verfassenden Richter, der aber dadurch nicht daran gehindert wird, unter Umständen gleichwohl in eine detailliertere Verhältnismäßigkeitsprüfung einzutreten. In diesem Sinne versteht die hL Satz 2 aber offenbar nicht; sie interpretiert ihn vielmehr teleologisch in der Weise, dass eine weitere Prüfung der Verhältnismäßigkeit verboten ist, m.a.W. die für die Verhältnismäßigkeitsprüfung maßgeblichen Gesichtspunkte durch Satz 1 (i.V.m. Abs. 2) erschöpfend erfasst sind. Dies folgt aus der (kategorischen) Begründung, mit der die abweichenden Entscheidungen des AG Bad Homburg 7 und des AG Bremen-Blumenthal 8 allgemein abgelehnt werden, nämlich dass es „rechtsfehlerhaft“ wäre, „die Entziehung der Fahrerlaubnis trotz festgestellter Ungeeignetheit etwa im Hinblick auf besondere schwerwiegende wirtschaftliche Folgen (Verlust des Arbeitsplatzes) als unverhältnismäßig abzulehnen“.9 Rechtsfehlerhaft kann aber nicht sein, wenn sich der Richter mehr Arbeit macht als nötig; die hM geht deshalb von einem Verbot der weiteren Prüfung der Verhältnismäßigkeit aus. Dieses Verständnis der Norm 10 wird den nachfolgenden Ausführungen zu Grunde gelegt. 2. Das Verbot der weiteren Prüfung der Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffs, den die Entziehung der Fahrerlaubnis nun einmal unzweifelhaft darstellt,11 ist deshalb eine so merkwürdige Regelung, weil der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (im weiteren Sinn; alias, weil klarer und deshalb besser: das Übermaßverbot) 12 mit seinen drei allgemein anerkannten Bestandteilen, nämlich der Geeignetheit (Tauglichkeit), der Erforderlichkeit (Notwendigkeit; Grundsatz des mildesten Eingriffs) und der Verhältnis-
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NJW 1984, 2840 ff. StV 2002, 372 ff. 9 Vgl. Geppert (Fn 2), 69 Rn 67. 10 Das Wortlautargument ist, wie das AG Bremen-Blumenthal (Fn 8) zutreffend herausgearbeitet hat, sicherlich unzutreffend. Allerdings trägt die historische (subjektiv-teleologische) Auslegung, wie im folgenden (II.4.1.–4.3) gezeigt werden wird, das Normverständnis der hM. 11 Den unmittelbaren Eingriff in das Grundrecht auf Mobilität (vgl. Bethge VVDStRL 57, 1998, 7 ff [22 f]; BVerfG NJW 2002, 2378 [2381]) stellt die Notwendigkeit der Erteilung einer Fahrerlaubnis dar. Die Entziehung der Fahrerlaubnis ist deshalb lediglich ein mittelbarer, nichtsdestoweniger aber ein Grundrechtseingriff. Die Problematik der Überdehnung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (vgl. BVerfGE 79, 311 ff [341]; 81, 310 ff [338]) stellt sich deshalb in unserem Zusammenhang nicht. 12 Vgl. Stern in: FS für Lerche, hrsg. von Badura/Scholz, 1993, 165 ff; Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, 761 ff. Mit Rücksicht auf die amtliche Paragraphenüberschrift bei § 62 wird auch hier an dem – freilich missverständlichen – Ausdruck „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“ festgehalten. 8
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mäßigkeit im engeren Sinn (Zumutbarkeit; Angemessenheit; Proportionalität), nach der hL und vor allem der ständigen Rspr. des BVerfG (u.a.) im Rechtsstaatsprinzip verankert ist und deshalb Verfassungsrang genießt.13 Über die nationale deutsche Rechtsordnung hinaus wird er sogar als grundlegendes Prinzip des Europarechts14 betrachtet. Sollte ein mit solcher Dignität ausgestatteter Grundsatz wirklich so ohne weiteres durch den einfachen Gesetzgeber außer Kraft gesetzt werden können bzw. dürfen? 3. Nun bestehen sicherlich keine Bedenken dagegen, wenn der einfache Gesetzgeber Verfassungsgrundsätze positiviert, wie er es z.B. in § 1 StGB bezüglich des nullum crimen, nulla poena sine lege-Satzes (Art. 103 Abs. 2 GG), in § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB bzgl. des in der Verfassungsrechtsprechung entwickelten nulla poena sine culpa-Satzes 15 und eben bezüglich des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes in § 62 StGB getan hat. Im Gegenteil: Es erscheint geradezu als sinnvoll und geboten, diese Verfassungsgrundsätze in einfachen Gesetzen zu positivieren, um ihnen auf diese Weise „besonderen Nachdruck“ 16 zu verleihen. Bedenken ruft indes der Ausschluss der Verhältnismäßigkeitskontrolle in § 69 Abs. 1 Satz 2 StGB hervor. Der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit kennt nämlich solche Ausnahmen nicht; und folgerichtig müsste (vorbehaltlich des hier nicht mehr thematisierten Problems der verfassungskonformen Auslegung) 17 das Verdikt eigentlich lauten: § 69 Abs. 1 Satz 2 StGB ist verfassungswidrig.18 4. Zu dieser Konsequenz versteht sich die hL nicht; aber – natürlich – erkennt sie durchaus das Problem. Wie geht sie mit ihm um?
13 Aus der unübersehbaren Literatur vgl. zur Orientierung nur: Stern (Fn 12). Zippelius/Würtenberger Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, 110 ff; Pieroth/Schlinck Grundrechte, Staatsrecht II, 22. Aufl. 2006, Rn 279 ff; Schulze-Fielitz in: Grundgesetz Kommentar, Bd. II, 1998, hrsg. von Dreier, Art. 20 Rn 167 ff. Speziell zu § 62 StGB vgl. Bernd Müller Anordnung und Aussetzung freiheitsentziehender Maßregeln der Besserung und Sicherung, 1981; Bae Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Maßregelrecht des StGB, 1985. 14 Vgl. etwa Herdegen Europarecht, 7. Aufl. 2005, § 9 Rn 19. 15 Grundlegend: BVerfGE 45, 187 ff (259 f); weitere Nachweise bei Leibholz/Rinck GG, Art. 20 Rn 786 ff. 16 So die Begründung zum 1. StrRG (vgl. BT-Drs. V, 4094, 17). 17 Dass der Wortlaut keine Auslegung i.S. eines Verbotes des Regresses auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erzwingt, ist schon dargetan worden (bei II.1. und Fn 10). Da aber der vom Gesetzgeber mit der Regelung des § 69 Abs. 1, Satz 2 StGB verfolgte Zweck eindeutig ist (s.u. II., 4.1.), dürfte für eine verfassungskonforme Auslegung, deren Grenzen bekanntlich sehr strittig sind, kein Platz sein (vgl. Zippelius/Würtenberger [Fn 13], 62 f), mit der Folge, dass dann der Richter, der die Norm des § 69 Abs. 1, Satz 2 für verfassungswidrig hält, ein inzidentes Normenkontrollverfahren einleiten müsste (so in anderem Zusammenhang m.E. zutreffend Kühl JR 2004, 125 ff [127]). 18 So der Sache nach Jagusch Straßenverkehrsrecht, 26. Aufl. 1981, § 69 StGB Rn 22; nicht so schneidig sein Kommentar-Nachfolger Hentschel (Nachw. in Fn 29; dort a.E. auch neuere kritische Stimmen, die sich der ursprünglichen, rigorosen Position von Jagusch wieder annähern).
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4.1. Zunächst zur Gesetzesgeschichte und zur Gesetzesbegründung. Die Regelung über den Ausschluss der Verhältnismäßigkeitskontrolle ist durch das 1. StrRG vom 25.6.1969 19 als Satz 2 in den damaligen § 42m Abs. 1 eingefügt worden; durch das 2. StrRG vom 4.7.1969 20 erhielt die Entziehung der Fahrerlaubnis ihre jetzige Paragraphennummer. In der Begründung des 1. StrRG durch den Sonderausschuss für die Strafrechtsreform ist zu lesen: 21 „Der in § 42m Abs. 1 StGB eingefügte Satz 2 besagt, daß der Richter bei der Entscheidung über die Entziehung der Fahrerlaubnis die in § 42a Abs. 2 StGB (1. StrRG) 22 vorgeschriebene Prüfung der Verhältnismäßigkeit nicht vorzunehmen braucht. Die unmittelbare Anwendung des § 42a Abs. 2 StGB (1. StrRG) kommt bei der Entziehung der Fahrerlaubnis schon nach dem Wortlaut dieser Vorschrift nicht in Betracht, weil § 42m StGB nicht auf die Gefahr weiterer Straftaten abstellt, sondern die Entziehung der Fahrerlaubnis bei allen denen vorschreibt, die sich durch ihre Tat als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen haben. Im übrigen ist die in § 42m StGB getroffene Entscheidung des Gesetzgebers dahin zu verstehen, daß mit Rücksicht auf die Größe der von ungeeigneten Fahrern ausgehenden Gefahr und angesichts des Umstandes, daß der Verlust der Fahrerlaubnis in der Regel eine wesentlich geringere Rechtseinbuße als die anderen Maßregeln der Sicherung und Besserung darstellt, die Entziehung der Fahrerlaubnis bei mangelnder Fahreignung des Verurteilten ohne weiteres dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gerecht wird. Soweit das Gericht die Dauer der Sperre gemäß § 42n Abs. 1 StGB bestimmt, hat es den allgemeinen rechtsstaatlichen Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit zu beachten; dasselbe gilt für die nachträglichen Entscheidungen nach § 42n Abs. 7 StGB.“ Derselbe Gedanke wird in der Begründung zum 2. StrRG noch einmal anders formuliert: 23 „Da als Voraussetzung für die Entziehung der Fahrerlaubnis nicht die Gefahr der Begehung weiterer Verkehrsdelikte gefordert, sondern darauf abgestellt wird, daß sich aus der Tat ergibt, daß der Täter zum Führen von 19
BGBl. I 1969 S. 645 ff. BGBl. I 1969 S. 717 ff. 21 Erster Schriftlicher Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (BT-Drs. V/4094), 24. 22 Entspricht § 62 StGB n.F. Mit dem 1. StrRG wurde erstmals auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz positiviert. In der Begründung zu § 42 a Abs. 2 StGB ist im Übrigen ausdrücklich vermerkt, dass für die Entziehung der Fahrerlaubnis eine „Ausnahme“ vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu machen ist (aaO, 17). 23 Zweiter Schriftlicher Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform (BTDrs. V/4095), 37. 20
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Kraftfahrzeugen ungeeignet ist, erscheint es schon nach dem Wortlaut des § 62 nicht unbedenklich, diese Vorschrift auf die Maßregel der Entziehung der Fahrerlaubnis anzuwenden. Zudem sollte nach der Ansicht der Mehrheit des Ausschusses die kriminalpolitische Wirkung dieser Maßregel nicht dadurch geschwächt werden, daß ihr Anwendungsbereich durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit enger begrenzt wird, als dies in § 99 E 62 24 vorgeschlagen wurde. Der Ausschuß beschloß deshalb, in Absatz 1 folgenden Satz 2 einzufügen: Einer weiteren Prüfung nach § 62 bedarf es nicht.“ 4.2. Der in den beiden zitierten Gesetzesbegründungen zunächst aufgeführte Gedanke, nämlich dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (§ 42a Abs. 2 StGB i.d.F. des 1. StrRG; § 62 StGB i.d.F. des 2. StrRG) für die Entziehung der Fahrerlaubnis eigentlich gar keine Geltung beanspruchen könne, weil § 69 – im Gegensatz zu allen anderen Maßregeln 25 – nicht auf die Gefahr der Begehung weiterer Delikte, sondern nur auf die Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen abstelle, ignoriert die gefestigte Rechtsprechung des BGH,26 wonach die Feststellung, der Täter sei ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, stets auch die Feststellung impliziert, der Täter sei, wenn ihm die Fahrerlaubnis belassen wird, in Zukunft für die Allgemeinheit gefährlich. Folgt man dieser Interpretation des Merkmals der Ungeeignetheit durch den BGH – und sie ist ja in der Tat zwingend, weil mit der Eliminierung des prognostischen Elements aus dem Begriff der Ungeeignetheit die Entziehung der Fahrerlaubnis wohl definitiv ihren Charakter als Maßregel
24 Im E 1962 (BR-Drucksache 200/62) waren weder der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz noch die Aussschlussklausel normiert (vgl. aaO, 225 ff). In der Begründung hieß es nur (S. 226): „Daß der Maßregel (der Entziehung der Fahrerlaubnis – Verf.) unter den Gesichtspunkten der Gerechtigkeit und der Verhältnismäßigkeit gewisse Grenzen gesetzt sind, gilt allgemein für das ganze Maßregelrecht und ist keine besondere Eigenart der Strafe“. Der Antipode des E 1962, der Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuchs, AT, 1966, äußert sich zu unserer Fragestellung ebenfalls nicht explizit; doch ist dem Kontext zu entnehmen, dass sowohl die Gefährlichkeitsprognose als auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz tendenziell ernster genommen worden sind als im E 1962 (vgl. §§ 2 Abs. 2, 79 AE). 25 Vgl. den abweichenden Gesetzeswortlaut in §§ 63; 64 Abs. 1; 66 Abs. 1, Nr. 3; 66 a Abs. 1, Abs. 2, S. 2; 66 b Abs. 1, Abs. 2, Abs. 3, Nr. 2; 68; 70 Abs. 1 StGB. 26 BGHSt 5, 168 ff (mit der irreführenden Formulierung, dass § 42m Abs. 1 StGB a.F. die unwiderlegliche Vermutung beinhalte, dass ein Kraftfahrer, der im Besitz der Fahrerlaubnis ist, sich aber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen hat, für die Allgemeinheit auch gefährlich ist); klargestellt i.S. des Textes durch BGHSt 7, 165 ff. Vgl. Geppert Die Bemessung der Sperrfrist bei der strafgerichtlichen Entziehung der Fahrerlaubnis, 1968, 53 f, der allerdings auf S. 65, 154 ff dann doch wieder (nämlich bei der Bemessung der Sperrfrist) eine inhaltliche Differenz zwischen den üblichen Formulierungen (s. Fn 25) und der Formulierung in §§ 42 m Abs. 1 StGB a.F., 69 Abs. 1 StGB n.F., bei denen der Gesetzgeber offenbar bewusst auf die übliche Klausel der Gefährdung der Allgemeinheit verzichtet hat (vgl. Dreher JZ 1954, 543 f), behauptet.
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der Besserung und Sicherung eingebüßt hätte –,27 dann lässt sich jedenfalls mit der anfangs wiedergegebenen Begründung der Ausschluss der Verhältnismäßigkeitskontrolle nicht legitimieren. 4.3. Damit verbleiben noch zwei weitere Grundgedanken aus der Gesetzesbegründung. Sie lauten: (1) Wenn der Täter im genannten Sinn ungeeignet ist, dann führt die Verhältnismäßigkeitsprüfung stets und immer zu dem Ergebnis, dass der Eingriff in die Rechte des Täters auch geeignet, erforderlich und angemessen ist. Der Gesetzgeber hat hier dem Richter die Subsumtion gewissermaßen abgenommen, weil das Ergebnis des Abwägungsvorgangs nach seiner Einschätzung ohnehin eindeutig ist. (2) Die „kriminalpolitische Wirkung“ der Maßregel der Besserung und Sicherung darf nicht durch eine ausufernde Verhältnismäßigkeitsprüfung „geschwächt“ werden.28 4.4 Auch die Literatur legitimiert den Ausschluss der Verhältnismäßigkeitskontrolle ganz überwiegend mit der Erwägung, „daß bei Ungeeignetheit die Maßregel stets verhältnismäßig ist“,29 m.a.W. § 69 Abs. 1 Satz 2 lediglich das ohnehin schon feststehende Ergebnis der Verhältnismäßigkeitsprüfung festschreibt, in Wahrheit also die Verhältnismäßigkeitsprüfung durch § 69 Abs. 1 Satz 2 gar nicht ausgeschlossen bzw. eingeschränkt wird.30 Allerdings 27
Insoweit zutreffend BGH (1 StR) vom 25.2.1954 (JZ 1954, 542). Vgl. Fn 23. Am Rande sei erwähnt, dass dieser Satz stark an die Kritik erinnert, die jedenfalls an der praktischen Handhabung der Verhältnismäßigkeitskontrolle im verfassungsrechtlichen Schrifttum immer wieder vorgetragen worden ist: Diese sei zu einem „Weichmacher der Rechtsordnung“ (Ausdruck in Anlehnung an einen Diskussionsbeitrag von Ossenbühl VVDStRL 39, 1981, 189) verkommen, was heißen soll, dass „eine überzogene Verhältnismäßigkeitsprüfung zur Verfassungswidrigkeit einer Vielzahl demokratisch beschlossener rechtlicher Regelungen führt“ (vgl. Zippelius/Würtenberger [Fn 13], 111f). Und zweitens sei noch hinzugefügt der Hinweis, welches Bild vom Menschen und damit der Kriminalpolitik der Gesetzgeber hat, wenn er von „kriminalpolitischer Wirkung“ spricht und damit ersichtlich meint, dass allzu weit getriebene Verhältnismäßigkeitsabwägungen offenbar diese Wirkung zu unterminieren geeignet sind. 29 So kurz und prägnant: Tröndle/Fischer StGB, 54. Aufl. 2007, § 69 Rn 49. Im gleichen Sinn: Lackner/Kühl StGB, 25. Aufl. 2004, § 69 Rn 9; Stree in: Schönke/Schröder StGB, 27. Aufl. 2006, § 69 Rn 56; Horn in: SK-StGB, § 69 Rn 15; Geppert (Fn 2) § 69 Rn 67; Athing in: MK, StGB, Bd. 2/1, 2005, § 69 Rn 89; Hentschel Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl. 2005, § 69 StGB, Rn 22; ders. Trunkenheit, Fahrerlaubnisentzug, Fahrverbot im Straf- und Ordnungwidrigkeitengesetz, 10. Aufl. 2006, Rn 650; ders. NJW 1985, 1310 ff (1320); Maurach/Gössel/Zipf Strafrecht AT, Teilband 2, 7. Aufl. 1989, 669, 696; Maurach/Zipf Strafrecht AT, Teilbd. 1, 8. Aufl. 1992, 91 f. Kritisch (allerdings ohne klare Lösung): Herzog in: NK, StGB, Bd. I, 2. Aufl. 2005, § 69 Rn 35; Kulemeier Fahrverbot (§ 44 StGB) und Entzug der Fahrerlaubnis (§ 69 ff StGB), 1991, 106 f; relativierend neuerdings auch (ab 52. Aufl.) Tröndle/Fischer aaO, Rn 50. 30 In dieser Sicht wäre die oben (II.1.) getroffene Feststellung, dass § 69 Abs. 1, Satz 2 ein Verbot der Verhältnismäßigkeitskontrolle normiert, dahingehend zu revidieren bzw. zu 28
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wird dann im Detail doch wieder darauf hingewiesen,31 dass trotz § 69 Abs. 1 Satz 2 Gesichtspunkte der Verhältnismäßigkeit keineswegs vollständig unberücksichtigt zu bleiben haben. Diese sollen vielmehr in die Geeignetheitsprüfung einfließen (was andere dann zu der Gegenkritik veranlasst hat, auf diese Weise würde die Geeignetheitsprüfung mit sachfremden Maßstäben überfrachtet);32 und schließlich wird aus der Tatsache, dass § 69a eine dem § 69 Abs. 1 Satz 2 entsprechende Regelung nicht enthält, wiederum gefolgert, dass bei der Bemessung der Dauer der Sperrfrist (§ 69a Abs. 1), der Zulassung möglicher Ausnahmen (§ 69a Abs. 2) und bei der vorzeitigen Aufhebung der Sperre (§ 69a Abs. 7) der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sehr wohl zu beachten sei.33
III. Straf- und Maßregelzumessung im Vergleich Die ganze Tragweite des Ausschlusses oder der Einschränkung der richterlichen Verhältnismäßigkeitsprüfung (bzw., wenn man den vorausgehenden Ausführungen folgt, genauer: der verbindlichen Antezipation des Resultats der – richterlichen – Verhältnismäßigkeitsprüfung durch den Gesetzgeber) erschließt sich einem jedoch erst dann, wenn man diese Regelung mit den Vorschriften kontrastiert, die für die Zumessung der Schuldstrafe gelten. Hier bietet sich als Vergleichsmaßstab das Fahrverbot (§ 44 StGB) an, das explizit als Nebenstrafe 34 konzipiert ist, und deren Zumessung dementsprechend vom Schuldgrundsatz (§ 46 Abs. 1 Satz 1 StGB) regiert wird. Als zentrales Motiv für den Ausschluss der Verhältnismäßigkeitskontrolle bei der Entziehung der Fahrerlaubnis wird angeführt, dass vor allem wirtschaftliche Nachteile (z.B. und insbesondere: der Verlust des Arbeitsplatzes) bei der Anordnung dieser Maßregel unberücksichtigt zu bleiben haben; 35 und umgekehrt wird beim Fahrverbot, dessen Verhängung – im Gegensatz zur Entziehung der Fahrerlaubnis 36 – in das Ermessen des Gerichts („kann“) gestellt ist, die Berücksichtigung solcher Umstände bei der Strafzumessung zur Pflicht gemacht (§ 46 StGB).37 Die beiden Maßstäbe, die die strafrechtpräzisieren, dass es verboten ist, andere als die in Satz 1 genannten Gesichtspunkte bei der Abwägung zu berücksichtigen, was in der Sache auf ein Untermaßverbot hinausläuft (vgl. etwa Zippelius/Würtenberger [Fn 13], 163 f). 31 Vgl. die Nachweise in Fn 29. 32 Vgl. Herzog (Fn 29) § 69 Rn 35. 33 So schon die Gesetzesbegründung (Fn 21). Vgl. im Übrigen Fn 2. 34 Vgl. die – amtliche – Überschrift von § 44 StGB. 35 Vgl. Maurach/Gössel/Zipf (Fn 29) 696; Kulemeier (Fn 29) 106, 233 f. 36 Vgl. BGHSt 5, 168 ff (176); aus der Lit. beispielhaft: Stree (Fn 29) § 69 Rn 57; Tröndle/Fischer (Fn 29) § 69 Rn 51; Kulemeier (Fn 29) 74, 198 ff. 37 Allgemeine Auffassung: vgl. nur Stree (Fn 29) § 44 Rn 15, 18a; Tröndle/Fischer (Fn 29) § 44 Rn 2 mwN. Zur hier nicht näher diskutierten Gegenposition vgl. aber die Nachw. in Fn. 3.
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lichen Sanktionen zu begrenzen haben, nämlich das Schuldprinzip bei den Strafen auf der einen und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei den Maßregeln auf der anderen Seite,38 führen also zu einem divergierenden Anwendungsprogramm und als Folge davon auch zu einer divergierenden Anwendungspraxis.39 Dieses Auseinanderdriften beider Sanktionstypen (mit der psychologisch durchaus nachvollziehbaren Folge, dass der Betroffene naheliegender Weise die Entziehung der Fahrerlaubnis als eine schwerere Strafsanktion erlebt), ist vom Reformgesetzgeber schon frühzeitig erkannt und in sein Gesetzesprogramm übernommen worden. Schon der E 1962 schreibt in seiner Begründung zu § 99:40 „Die Ausgestaltung der Entziehung als Strafe würde dazu zwingen, die Schuld zur Grundlage der Strafbemessung zu machen (§ 60 Abs. 1) 41. Das ist aber unsachgemäß, weil dann nicht die Sicherheit des Straßenverkehrs, sondern ein Bündel individueller, bei jedem Täter unterschiedlicher Umstände Maßstab für die Anordnung der Entziehung und die Dauer der ihr folgenden Sperre (§ 100) sein würde. Das kann bei der Nebenstrafe des Fahrverbots, bei der es an einem anderen brauchbaren Anknüpfungspunkt fehlt, hingenommen werden und ist dort auch wegen der Kurzfristigkeit des Eingriffs sinnvoll …“ Und umgekehrt setzen sich die Verf. des Entwurfs mit den Kritikern des von ihnen favorisierten Fahrverbots (§ 58) wie folgt auseinander: 42 „Die Gegner des Fahrverbots fürchten jedoch die naheliegende Gefahr, daß die Gerichte in einem nicht vertretbaren Umfang in die neue Nebenstrafe ausweichen könnten, wenn zwar der Eignungsmangel unter dem Gesichtspunkt der Verkehrssicherheit kaum geleugnet werden kann, die Maßregel aber mit ihrer Sperre von mindestens sechs Monaten den Täter aus wirtschaftlichen Gründen, etwa weil von der Fahrerlaubnis seine berufliche Existenz abhängt, besonders hart treffen würde. Es ist anerkannten Rechts, daß Erwägungen wirtschaftlicher Rücksichtnahme für die Frage der Eignung des Täters unbeachtlich sind. Gleichwohl wirken sie sich nach den Erfahrungen der Praxis nicht selten im Einzelfall aus, weil dem Richter der Entschluß zur Anordnung der Maßregel umso schwerer fallen wird, je tiefer sie in die Lebensstellung des Betroffenen eingreift. Solcher Rücksichtnahme, die für die Verkehrssicherheit eine schwerwiegende Gefahr ist, wird durch die Nebenstrafe des Fahrverbots zusätzlicher 38
Vgl. Roxin (Fn 4) 91 ff (96 ff); § 2 Abs. 2 AE (Fn 24) 29/31. Vgl. dazu Kulemeier (Fn 29) 198 ff zum Fahrverbot und 233 f zur Entziehung der Fahrerlaubnis. 40 Vgl. E 1962 (Fn 24) 226. 41 Entspricht § 46 StGB jetziger Fassung. 42 E 1962 (Fn 24) 176. 39
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Raum gegeben; denn sie bietet die bisweilen willkommene Möglichkeit des Ausweichens in eine mildere Maßnahme, die sich dann allerdings später oft als Fehlschlag erweisen wird. Dieser Gefahr sucht der Entwurf auf zwei Wegen entgegenzuwirken. Der wirksamere besteht darin, daß bei der Entziehung der Fahrerlaubnis eine Anzahl schwerer Verkehrszuwiderhandlungen aufgeführt wird, die kraft Gesetzes den Eignungsmangel des Täters begründen, wenn nicht besondere Umstände des Einzelfalles diese Annahme ausschließen …“ Die Schere zwischen den Sanktionstypen der Schuldstrafe auf der einen und der Maßregel der Besserung und Sicherung auf der anderen Seite ist also nicht nur frühzeitig erkannt worden, sondern auch ausdrücklich gewollt gewesen. Zusammenfassend schreibt deshalb Kulemeier 43 zutreffend: „Zudem bietet ein … Fahrverbot im Gegensatz zur verkehrsausschließenden Maßregel eine Möglichkeit, die wirtschaftliche und soziale Situation des Täters dogmatisch sauberer zu berücksichtigen. Der Berufskraftfahrer oder der beruflich auf ein Kraftfahrzeug Angewiesene ist regelmäßig härter von einem Verkehrsausschluss betroffen, als derjenige, der Kraftfahrzeuge nur privat nutzt. Darf die Sicherungsmaßregel auf Strafempfindlichkeiten keine Rücksicht nehmen, ist das bei einer Nebenstrafe anders …“
IV. Die sanktionstheoretische Einordnung der Entziehung der Fahrerlaubnis Diese Immunisierung des Maßregelrechts gegen die Berücksichtigung von Umständen, die im Rahmen der Schuldstrafzumessung Berücksichtigung finden müssten – mit der Folge, dass die strafrechtliche Lösung täterfreundlicher ist als die maßregelrechtliche –, aber wirft eine – beinahe paradox zu nennende – Anschlussfrage auf, nämlich die, ob nicht – wegen dieser Immunisierung – die Entziehung der Fahrerlaubnis in Wahrheit eine Strafe ist (denn der Norminhalt generalisiert zu stark und individualisiert zu wenig), wiewohl sie andererseits – und darin liegt das Paradoxe – aus denselben Gründen auch keine Schuldstrafe im Sinne des § 46 StGB sein kann (denn sie nimmt auf die individuelle Situation des schuldigen Täters gerade keine Rücksicht).44 Wir müssen unser Thema deshalb in einen umfassenderen Kon43
Kulemeier (Fn 29) 356. Vgl. dazu aber wiederum aus empirischer Sicht Kulemeier (Fn 29), der nachgewiesen (aaO, 233 ff) und zutreffend darauf hingewiesen hat (aaO, 277), dass dieselben tat- und täterbezogenen Merkmale, die für die Verhängung und die Dauer eines Fahrverbots maßgeblich sind, auch die maßgeblichen Kriterien für den Fahrerlaubnisentzug und die Dauer der Sperrfrist sind (vgl. dazu unten V.4.). 44
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text stellen und nach der sanktionstheoretischen Einordnung der Entziehung der Fahrerlaubnis als Maßregel oder als Strafe fragen. Dabei scheint jedoch auf den ersten Blick alles bereits durch das normative, gemeint ist: das legislative, Programm geklärt zu sein: 45 Denn der sechste Titel des Strafgesetzbuchs lautet: „Maßregeln der Besserung und Sicherung“. Darunter ist in § 61 Nr. 5 die Entziehung der Fahrerlaubnis aufgeführt; und diese hat in den §§ 69–69b eine spezielle Regelung erfahren. Doch der Schein trügt; denn es ist immer wieder behauptet worden,46 trotz dieser normativen Etikettierung sei die Entziehung der Fahrerlaubnis in Wahrheit eine Strafe, ohne dass jedoch klar gemacht wird, welche Folgerungen eigentlich aus dieser Erkenntnis zu ziehen sind. Wir wollen uns im Folgenden die wichtigsten Einwände pro und contra kurz vergegenwärtigen und diskutieren.
V. Argumentationsanalyse 1. Zuvor müssen wir allerdings das Thema noch präzisieren und d.h. eingrenzen. Insbesondere Cramer 47 hat nämlich wiederholt zutreffend darauf hingewiesen, dass bei der Entziehung der Fahrerlaubnis drei verschiedene Tätergruppen betroffen sind, nämlich erstens die Schuldunfähigen, zweitens die Täter, bei denen „die Tat körperliche oder geistige Mängel offenbart, die einen Ausschluss des Täters ohne Rücksicht auf sein Verschulden notwendig erscheinen lassen“, sowie drittens die (infolge von Charakter- oder Sozialisationsmängeln) „normalen“, schuldhaft handelnden Verkehrsstraftäter. Bei den ersten beiden Gruppen lässt sich de lege lata der Maßregelcharakter der Entziehung der Fahrerlaubnis sicherlich nicht leugnen; denn Strafen gegen Schuldunfähige (Gruppe 1) kennt das geltende Recht ebenso wenig wie die strafrechtliche Ahndung körperlicher oder geistiger Mängel (Gruppe 2). Kritisch ist aber die dritte Gruppe, auf die wir unsere Aufmerksamkeit konzentrieren wollen. Dabei gilt es, zunächst einen Fehlschuss zu vermeiden. Aus der Tatsache, dass gegen Zurechnungsunfähige die Entziehung der Fahrerlaubnis verhängt werden darf, darf nämlich nicht gefolgert werden, dass 45
Zur Gesetzesgeschichte vgl. Lackner MDR 1953, 73 ff (74). Vgl. aus der älteren, sehr intensiven Diskussion, die wir hier allerdings nicht im einzelnen dokumentieren können, vor allem: Lackner (Fn 45) sowie zu den Beratungen der Großen Strafrechtkommission zusammenfassend Ders. DAR 1958, 286 ff (287–292); von Weber DRiZ 1951, 153 ff; JZ 1960, 52 ff; Bruns GA 1954, 161 ff; ZStW 71 (1959) 247 ff; Frey ZStW 65 (1953) 6 ff; Schmidt-Leichner NJW 1953, 1850 ff; NJW 1954, 159 ff; NJW 1955, 559 ff; Hartung JR 1954, 307 ff; DRiZ 1954, 28 ff (jeweils mwN). Zu beachten ist, dass sich ein Teil der Argumente, die für den Strafcharakter der Entziehung der Fahrerlaubnis vorgetragen worden sind, zwischenzeitlich durch Kurskorrekturen bzw. – bestimmungen der höchstrichterlichen Rechtsprechung erledigt hat (vgl. unten bei V. 2. und 3.). 47 Fn 1; Zitat hier aus: Unfallprophylaxe, 54. Vgl. aus der älteren Lit. beispielsweise besonders prägnant von Weber (JZ 1960, 52 ff). 46
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deshalb die Entziehung der Fahrerlaubnis insgesamt eine Maßregel sei. Denn es ist nicht ausgeschlossen (und hier gerade unser Thema), dass bei der Anordnung einer Entziehung der Fahrerlaubnis gegen einen Schuldfähigen dieser hoheitliche Eingriff, wiewohl er noch denselben Namen trägt, in Wahrheit bereits seine Qualität als Maßregel eingebüßt hat. 2. Der Diskussionstand ist im Übrigen äußerst unklar und verworren. Anknüpfend an das, was im Vorhergehenden bereits behandelt worden ist, möchte ich dies an zwei Beispielen illustrieren: 2.1. Man kann plausibel argumentieren, der Ausschluss der Verhältnismäßigkeitsprüfung passe nicht zum Maßregelrecht (denn die umfassende Abwägung aller Umstände des konkreten, individuellen Falles im Sinne des Dreischritts von Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit kennzeichne geradezu die Maßregelzumessung) und sei deshalb Strafe.48 Damit die Verknüpfung (deshalb) stimmig ist, braucht man eine Vorstellung von Strafe, die diesem Ausschluss von Verhältnismäßigkeitskontrolle entspricht. Das ist nun zwar auf der Ebene der Strafandrohung noch überzeugend (hier stellt der Gesetzgeber generalisierend Strafrahmen zur Verfügung, an die der Richter – im Regelfall – gebunden ist),49 nicht aber, wie wir gesehen haben,50 auf der Ebene der Strafzumessung (hier muss individualisiert werden – § 46 StGB). Hinzu kommt noch, dass teilweise ein Gleichklang von Schuldprinzip und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz behauptet wird.51 Andererseits ist aber auch, wie wir ebenfalls bereits gesehen haben,52 der Ausgangspunkt der obigen Argumentation alles andere als klar: Schließt § 69 Abs. 1 Satz 2 StGB wirklich die Verhältnismäßigkeitskontrolle aus?; und selbst da, wo das behauptet wird, werden, wenn auch sehr vorsichtig und zurückhaltend Schleusen geöffnet, um diese gleichwohl zu ermöglichen.53 Nicht zuletzt zeigt man sich bei der Bemessung der Sperrfrist (i.S.d. Verhältnismäßigkeitsprüfung) elastisch, während man sich wiederum bei der Anordnung rigoros gibt – und dennoch ist man sich einig darin, dass es sich um eine einheitliche, von demselben Grundgedanken gesteuerte Normmaterie handelt.54 48
Vgl. Baumann Forensia, 1987, 49 ff; Kulemeier (Fn 29) 107. Zum Zusammenhang von gesetzlicher und richterlicher Strafzumessung vgl. Schröder in: FS für Mezger, hrsg. von Engisch und Maurach, 1954, 415 ff (426); Bruns (Fn 3) 70 ff. Die richterliche Bindung an den gesetzlichen Strafrahmen ist im Ausnahmefall des Mordes (induziert durch die Entscheidung des BVerfGE 45, 187 ff) bekanntlich durch die sog. Rechtsfolgenlösung des GrS des BGH (StE 30, 105 ff) in bedenklicher Weise gelockert worden. 50 Vgl. Fn 37. 51 Vgl. etwa Schulze-Fielitz (Fn 13) Rn 182; Leibholz/Rinck (Fn 15) Rn 787; Calliess Theorie der Strafe im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, 1974, 187; Ellscheid/Hassemer in: Civitas, Jahrbuch für Sozialwissenschaften 9 (1970) 27 ff (41 ff). 52 II.4. 53 II.4.4. 54 Zutreffend Kulemeier (Fn 29) 107. 49
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2.2 Der Gesetzgeber hat, wie oben schon aufgezeigt worden ist,55 das zusätzliche Merkmal der Gefährdung der Allgemeinheit bzw. der Gefahr der Begehung weiterer Straftaten bewusst nicht in den Gesetzestext übernommen. Das deutet, zumal auch die Gesetzesbegründung so argumentiert,56 auf den Strafcharakter der Entziehung der Fahrerlaubnis hin. Denn wäre damit wirklich das prognostische Element aus dem Begriff der Ungeeignetheit vollständig eliminiert worden, so wäre angesichts des repressiven Charakters der Strafe 57 an dem Strafcharakter nicht ernsthaft zu zweifeln; und andererseits lässt sich ohne dieses prognostische Element wiederum ein Begriff von Maßregel gar nicht sinnvoll bilden. Der BGH hat die Gefährlichkeitsprüfung jedoch in die Ungeeignetheitsprüfung integriert,58 was wiederum die Fragestellung entscheidend verschiebt: Es geht nicht mehr um die Alternative Strafe/Maßregel, sondern um den normativ unterschiedlich festgelegten Grad, die Höhe der Gefahr, die bei § 69 möglicherweise anders zu bestimmen ist als bei den übrigen Maßregeln der Besserung und Sicherung.59 3. Zwei weitere, in diesem Kontext vorgetragene Argumente seien vorweg ebenfalls noch kurz gestreift, bevor wir im Folgenden auf die m.E. entscheidenden Gesichtspunkte zu sprechen kommen. 3.1. Weder der Inhalt der Maßnahme noch die Perspektive des Betroffenen erlauben eine verlässliche Einordnung der in Rede stehenden Sanktionen als Strafe oder als Maßregel:60 Den Betroffenen schmerzt der hoheitliche Eingriff als solcher; ob er – im sanktionstheoretischen Sinn – nun Strafe oder Maßregel ist, ist ihm gleichgültig – zumeist wird ihm diese Differenzierung nicht einmal bekannt sein. Was den Inhalt der Maßnahme anbelangt, so können aus ihm ebenso wenig irgendwelche Folgerungen hergeleitet werden; denn die Strafe verfolgt im Vollzug prinzipiell keine anderen Zwecke als die Maßregel der Besserung und Sicherung.61 Bei der Entziehung der Fahrerlaubnis steht nach allgemeiner Auffassung der Sicherungszweck im Vordergrund;62 würde man, wie es der Gesetzeswortlaut nahe legt (Maßregel der Besserung und Sicherung), den Besserungszweck als essentiell für den Begriff der Maßregel erachten, wäre dies in der Tat wiederum ein Argument für den Strafcharakter der Entziehung der Fahrerlaubnis.63 Jedoch sieht dies
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II.4.2. Vgl. oben Fn 21, 23. 57 Da es nur darauf hier ankommt, kann § 46 Abs. 1, Satz 2 StGB außer Betracht bleiben. 58 Vgl. Fn 26. 59 Vgl. Dreher JZ 1954, 543; Frisch Prognoseentscheidungen im Strafrecht, 1983, 63 f. 60 Vgl. Geppert (Fn 26) 49 ff. 61 Vgl. §§ 2, 129, 136, 137 StVollzG (auf die unterschiedlichen Gewichtungen der Vollzugsziele kommt es hier nicht an). 62 Vgl. statt aller: Geppert LK (Fn 2) § 69 Rn 2; (Fn 26) 78 ff. 63 Denn von Staats wegen wird während der Sperrfrist nicht einmal der Versuch einer Besserung unternommen. Vgl. dazu Kürschner ZRP 1986, 305 ff (306). 56
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die hL64 anders, mit der Folge, dass der Umstand, dass die Entziehung der Fahrerlaubnis nur einen Sicherungszweck verfolgt, nicht gegen den Maßregelcharakter dieses hoheitlichen Eingriffs ins Feld geführt werden kann. Andererseits steht außer Streit, dass auch Strafen während ihres Vollzugs sichernden Charakter 65 haben, womit die Diskussion unter diesem Aspekt mit einem Patt endet. 3.2. Wie alle Maßregeln der Besserung und Sicherung, so verlangt auch § 69 eine Anlass-, eine Symptomtat. Es ist zweifellos richtig, dass in der Logik des Sicherheitsdenkens der Verzicht auf eine solche symptomatische Straftat nahe liegt.66 Dass gleichwohl eine solche Anlasstat verlangt wird, verdankt sich – neben der schlichten, aber bedeutungsvollen Tatsache, dass die Regelung im Strafgesetzbuch getroffen worden ist – vor allem rechtsstaatlichen Gründen der Begrenzung des hoheitlichen Eingriffs.67 Deshalb ist das Argument falsch, aus der Tatsache, dass als Anknüpfung für die Anordnung der Entziehung der Fahrerlaubnis eine Straftat verlangt wird, folge, dass es sich in Wahrheit um eine Strafe handle.68 Anders würde es sich freilich verhalten, wenn der in § 69 Abs. 1 StGB verwandte Begriff des Zusammenhangs der rechtswidrigen Tat (der Anlasstat) mit dem Führen eines Kraftfahrzeuges weit ausgelegt und darunter dann jedwede Straftat (also z.B. auch Diebstahl und Raub, Sexual- und Betäubungsmitteldelikte) verstanden werden müsste. Bei dieser Interpretation wäre der Bezug zur Verkehrssicherheit aufgelöst, das für § 69 Abs. 1 maßgebliche prognostische Element ignoriert. § 69 würde dann m.a.W. als Instrument der allgemeinen Verbrechensbekämpfung eingesetzt. Mit diesem Argument ist in der Vergangenheit zu Recht der Charakterisierung der Fahrerlaubnis als Maßregel der Besserung und Sicherung entgegengetreten worden; 69 der Große Senat des BGH ist in seinem Beschluss vom 27.4.2005 70 dieser Kritik gefolgt und hat dekretiert, dass die strafgerichtliche Entziehung der Fahrerlaubnis wegen charakterlicher Ungeeignetheit bei Taten im Zusammenhang 64
Vgl. Fn 62. Vgl. Calliess/Müller-Dietz StVollzG, 10. Aufl. 2005, § 2 Rn 6 a.E. Diese Aussage gilt unabhängig davon, ob man nun im Schutz der Allgemeinheit ein Vollzugsziel erblickt oder nicht. 66 Deshalb formuliert Kinzig in seinem Beitrag zum Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung sehr treffend, dass „der logisch nächste Schritt … nach der Absenkung von 3 auf 2 Taten (1988) sowie jetzt auf eine Tat (2004) eine Sicherungsverwahrung ohne Straftat“ wäre (NStZ 2004, 655 ff [660]; Hervorhebung von mir). 67 Vgl. zutreffend Geppert (Fn 26) 53. 68 Zutreffend Geppert (Fn 26) 52 ff. 69 Vgl. Cramer Unfallprophylaxe (Fn 1) 54 ff; zum Diskussionsstand vor der Entscheidung des BGH vgl. aus der Kommentarliteratur statt aller etwa Athing (Fn 29) § 69 Rn 3 ff mwN. 70 BGHSt 50, 93 ff mit umfassenden Nachweisen zum früheren Streitstand (vgl. daraus vor allem Herzog StV 2004, 151 ff). 65
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mit dem Führen eines Kraftfahrzeuges voraussetze, „dass die Anlasstat tragfähige Rückschlüsse darauf zulässt, dass der Täter bereit ist, die Sicherheit des Straßenverkehrs seinen eigenen kriminellen Interessen unterzuordnen“. Mit dieser Entscheidung ist dieses frühere (berechtigte) Argument nunmehr obsolet geworden.71 4. Die zentralen Argumente gegen die Einordnung der Entziehung der Fahrerlaubnis als Maßregel sind darin begründet, dass die für die Verhängung einer Maßregel erforderliche individuelle Prognose gar nicht stattfindet und auch gar nicht stattfinden kann. Der Gesetzgeber hat symbolisches Strafrecht geschaffen.72 Im Einzelnen: 4.1. Es ist nicht so sehr das für die Bemessung der Sperrfrist in der Praxis übliche Taxensystem, nach dem sich feste Sätze für die Behandlung von Ersttätern, Zweittätern und mehrfach Rückfälligen bei weiterer Differenzierung (§§ 315c, 316 StGB) und der Höhe des Schadens herausgebildet haben,73 als vielmehr der Gleichklang von Straf- und Maßregelzumessung,74 der Anlass zu der Vermutung gibt, dass jedenfalls die Praxis die Entziehung der Fahrerlaubnis nicht als Maßregel, sondern als Strafe handhabt. Denn ein solches System ist offenkundig vergangenheits- und nicht zukunftsorientiert; es ignoriert damit das für eine Maßregel unverzichtbare prognostische Element. 4.2. Anreiz für diese Praxis bietet die Regelvermutung in § 69 Abs. 2 StGB.75 Sie flankiert den bereits besprochenen § 69 Abs. 1 Satz 2 und normiert noch zusätzlich eine Beweislastumkehr. Das hat zur Folge, dass bei Vorliegen der dort bezeichneten Delikte praktisch keine Verhältnismäßigkeits – und Gefährlichkeitsprüfung mehr stattfindet. Weil die Gefährlichkeit, wenn auch widerleglich, vermutet wird, wird tendenziell einer wahrhaft indi-
71 Ob dieser Reinigungsprozess nachhaltig genug betrieben worden ist, erscheint im Hinblick auf die Alternative des § 69 Abs. 2, Nr. 3 StGB (Das unerlaubte Entfernen vom Unfallort schützt nach allgemeiner Ansicht [vgl. statt aller: Cramer/Sternberg-Lieben in: Schönke/Schröder, Fn 29, § 142 Rn 1] die Vermögensinteressen!) zweifelhaft, bleibt aber hier dahingestellt (m.E. zu Recht sehr kritisch Kulemeier [Fn 29] 298 f). 72 Vgl. Voß Symbolische Gesetzgebung, 1989; Hassemer NStZ 1989, 553 ff (jetzt wieder abgedruckt in: Strafen im Rechtsstaat, 2000, 170 ff); die Gegenkritik am symbolischen Strafrecht aufarbeitend und den Begriff präzisierend Ders. in: FS für Roxin (Fn 4) S. 1001 ff. 73 Vgl. Cramer Unfallprophylaxe (Fn 1) 54; Kulemeier (Fn 29) 243 ff; Dencker StV 1988, 454 ff. 74 Vgl. Kulemeier (Fn 29) 275 ff (277 f). Sehr prägnant dazu die – in sich allerdings widersprüchliche – Entscheidung des BGH in BGHSt 15, 393 ff (398 f); vgl. dazu kritisch Geppert (Fn 26) 65 ff. Beachte in anderem Kontext (Zulässigkeit der Rechtsmittelbeschränkung) noch BGHSt 10, 379 ff (383): „In den Fällen, in denen es nicht wegen fahrtechnischer … Ungeeignetheit eines Fahrers zur sicheren Führung eines Kraftfahrzeugs, sondern wegen charakterlicher Mängel … zum Entzug der Fahrerlaubnis kommt, sind die Umstände, welche die Maßnahme nach § 42 m StGB rechtfertigen, regelmäßig auch für das Strafmaß von ausschlaggebender Bedeutung“). 75 Vgl. Cramer Unfallprophylaxe (Fn 1) 55.
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viduellen Prognose in die Zukunft entgegengewirkt und umgekehrt eine Generalisierung der Maßstäbe der Maßregelzumessung anhand von vergangenheitsorientierten Kriterien zwangsläufig begünstigt. 4.3. Neben diese beiden sich gegenseitig kumulierenden Effekte, den Ausschluss der Verhältnismäßigkeitskontrolle auf der einen und die Regelvermutung auf der anderen Seite, tritt als drittes hinzu, dass in der Praxis der Strafgerichtsbarkeit eine seriöse Prognose zum „Ob“ 76 der Maßnahme gar nicht getroffen werden kann 77 (und, wie jeder Kundige weiß, auch gar nicht getroffen wird – § 69 Abs. 2 StGB liefert dafür wiederum die gesetzliche Legitimation). Nahezu absurd ist aber die Vorstellung – andere etwas milder gestimmte Autoren sprechen von den insoweit erforderlichen „prophetischen Gaben“ 78 des Richters –, dass der Richter die Dauer der Sperrfrist unter Sicherungsaspekten bestimmen könne. Eine Theorie, die diese Wirklichkeit nicht einmal annähernd wiedergibt und damit ignoriert, was Tag für Tag an unseren Gerichten wirklich passiert, ist ideologisch verblendet.79 4.4. Wir haben oben 80 – sozusagen selbstkritisch – einen Teil der gegen den Maßregelcharakter der Entziehung der Fahrerlaubnis vorgebrachten Argumente destruiert, können diesen Argumenten aber nunmehr am Ende bei einer Gesamtbetrachtung eine wichtige Indizfunktion mitnichten absprechen: nämlich den „Ausschluss“ der Verhältnismäßigkeitskontrolle; die „bewusste“ Streichung des Kriteriums der Gefährdung der Allgemeinheit und nicht zuletzt das kriminalpolitische Argument, mit dem die Entziehung der Fahrerlaubnis in der Gesetzesbegründung 81 legitimiert worden ist. Alles zusammen genommen, ergibt sich ein starker Hinweis darauf, dass – innerhalb der anfangs 82 gezogenen Grenzen – die Entziehung der Fahrerlaubnis eine Strafe und keine Maßregel der Besserung und Sicherung ist. 5. Geppert 83 hat aus dem Umstand, dass sich weder aus dem Inhalt der Maßnahme noch aus der subjektiven Einstellung des Betroffenen ein Argu76 Erinnert sei daran, dass im Gegensatz zum Fahrverbot bei Ungeeignetheit die Maßregel der Entziehung der Fahrerlaubnis verhängt werden muss (Fn 36) – eine Regelung, die sich, je nach dem, wie man das Verhältnis von Ungeeignetheit und Gefahrprognose bestimmt (siehe oben V.2.2.), wiederum tendenziell in Richtung einer Charakterisierung des Fahrerlaubnisentzuges als Strafe auswirkt. 77 Vgl. ausführlich Cramer in: GS für Schröder (Fn 1) 535 ff. 78 Hentschel DAR 1976, 289 ff (290). 79 Nicht näher ausgeführt, sondern nur anmerkungsweise sei zusätzlich erwähnt, dass die Argumente des weiteren gestützt werden durch die Fristen- und Anrechungsregelung des Gesetzes (vgl. Cramer aaO). Dass dieser Punkt die entscheidende Schwachstelle, die, wie er selbst schreibt, „Achillesferse“ seiner Arbeit ausmacht und seine Argumentation zum Einsturz bringt, ist Geppert (Fn 26) 84 ff wohl selbst bewusst geworden. 80 V.2. 81 Fn 24. 82 Oben bei V.1. 83 Fn 26, 48 ff mwN.
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ment gegen den Maßregelcharakter der Entziehung der Fahrerlaubnis herleiten lasse, gefolgert, dass über die Rechtsnatur einer Sanktion allein ihr Zweck entscheide. Daraus lässt sich nun ein sehr prinzipielles Gegenargument gegen unsere Argumentationskette herleiten, nämlich die Einwendung, die Praxis nehme eben die legislativen Vorgaben nicht ernst und sei deshalb gesetzeswidrig. Es gilt also – in den Worten Luhmanns 84 –, die Norm gegen die Wirklichkeit zu behaupten 85 und nicht umgekehrt den Norminhalt an eine abweichende Praxis zu adaptieren. In dieser Verschlingung von Norm und Wirklichkeit steckt ein komplexes und schwieriges rechtstheoretisches Problem, das hier natürlich nicht en passant mit erledigt werden kann.86 Ich habe aber den Eindruck, dass die (hier ohnehin nicht mögliche) Lösung dieser klassischen hermeneutischen Frage für unseren Zusammenhang in concreto auch gar nicht präjudiziell ist, weil bereits das normative Programm in sich inkonsistent ist. Dessen Analyse hat nämlich gezeigt, dass das Programm zwar vordergründig Verhältnismäßigkeit und Gefahrenprognose propagiert, dieses aber durch gegenläufige Maßnahmen konterkariert und vor allem für seine Implementation gar keine Vorsorge trifft. Das ist der Grund, weshalb am Anfang dieses Abschnittes 87 von symbolischem Strafrecht die Rede war.
VI. Rückblick und Zusammenschau Der mir zur Verfügung gestellte Raum erlaubt es mir nicht, die zahllosen aufgeworfenen Fragen im Detail zu verfolgen. Im Bewusstsein der Vorläufigkeit dieser Analyse wollen wir uns gleichwohl um ein Resümee bemühen. 1. Die Argumentation zu der Frage, ob die Entziehung der Fahrerlaubnis bei Fahrern, die aus charakterlichen Mängeln zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet sind, eine Strafe oder eine Maßregel der Besserung und Sicherung darstellt, bewegte sich zwischen Skylla und Charybdis. Auch 84
Vgl. Wittig (Fn 5) 62 ff. In diesem Sinne verfährt Geppert und – mit ihm – die hM (Fn 29). Prägnant z.B. Horn aaO: „Vielmehr geht es hier allein um die Sicherung der Allgemeinheit im Straßenverkehr vor dem gefährlichen Täter. Deshalb ist auch mit allem Nachdruck Tendenzen der Praxis entgegenzutreten, die sich verbrämt in dem Hinweis darauf äußern, dass die Fahrerlaubnisentziehung ‚kriminalistisch wünschenswerte Nebenwirkungen‘ habe … Die Auslegung einzelner Tatbestandsmerkmale … durch die Rspr. lässt aber auch sonst oft jede Besinnung darauf vermissen, dass diese Maßregel die Sicherung des Straßenverkehrs bezweckt – und sonst nichts“ (Hervorhebung im Original). Merkwürdig ambivalent gerade unter dieser Perspektive die bereits bei Fn 74 zitierte Leitentscheidung des BGH. 86 Die Lösung kann auch nicht in einer reinen konstruktivistischen Konzeption, die dem Gesetzgeber sozusagen freie Hand lässt (in diese Richtung kann Geppert aaO womöglich missverstanden werden), liegen, entzieht sie doch das legislative Programm der Wirklichkeitskontrolle (vgl. sogleich unten bei VI.1.). 87 V.4. am Anfang. 85
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wenn sich die Waagschale bei unserer Analyse deutlich auf Seiten der Strafe gesenkt hat, so ließe sich ein wirklich schlüssiger Beweis jedoch nur dann führen, wenn man die Binnenperspektive des Rechts aufgibt,88 m.a.W. metarechtlich festlegt, was unter Strafe zu verstehen ist und was nicht, und erst danach dann die Erscheinungsformen des positiven Rechts bewertet. Das dürfte aber ein ebenso vergebliches Unterfangen sein, wie die Suche nach dem „materiellen“ 89 oder dem „natürlichen“ 90 Verbrechen. Volk 91 hat vor Jahrzehnten den Versuch des BVerfG analysiert, Strafe zwar nicht metarechtlich, wohl aber auf verfassungsrechtlicher Ebene (d.h. innerhalb des Sinnverständnisses des Rechts, jedoch auf meta-positiv-rechtlicher Ebene) zu definieren, und ist dabei zu der These gelangt, „dass es ein System der ,Strafe‘ nicht gibt, in dem ihre mannigfachen Ausprägungen und Erscheinungsformen so geordnet wären, dass sich Entscheidungen daraus ableiten ließen“. Er schreibt zusammenfassend: „Das BVerfG gibt sich den Anschein, mit exakt definierten Begriffen und systematisch gebunden zu arbeiten, und es glaubt, derart über ‚Strafe‘ entscheiden zu sollen. Der Gang seiner Rechtsprechung zeigt, dass dieses Bemühen vergeblich und verfehlt ist“. Wenn es nicht gelingt, einen, sei es vorrechtlichen, sei es verfassungsrechtlich verbindlichen, substantiellen Begriff von Strafe zu finden, dann ist die Alternative allerdings nur noch, wie es scheint, die Auslieferung an die Willkür des Gesetzgebers. Das wäre im Ergebnis eine extrem konstruktivistische Position: Gesellschaft und das Recht werden normativ konstruiert, was sich dahingehend verstehen lässt, dass eben der Gesetzgeber festlegt, was Strafe oder Maßregel ist, und dass diese legislative, normative Entscheidung hinzunehmen ist. Dieses Verfahren, neuerdings z.B. bei der Begründung des Schuldprinzips praktiziert, entzieht das normative Programm der Wirklichkeitskontrolle und damit der Kritik.92 Für eine kritische Rechtswissenschaft, wie sie Rainer Hamm zeitlebens betrieben hat, sind jedoch weder die agnostische noch die konstruktivistische Position vernünftige Alternativen; die Fahrt zwischen Skylla und Charybdis muss gewagt werden.
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Vgl. Wittig (Fn 5) 17 ff. Vgl. Roxin (Fn 4) 13 ff. 90 Vgl. Schwind Kriminologie, 17. Aufl. 2007, § 1 Rn 1 ff. 91 ZStW 83 (1971) 405 ff (Zitate auf S. 433, 434). In einem brillianten, unter dem Titel „Was ist Strafe?“ im Jahre 2002 erschienenen Essay hat Jung die Frage nach dem Begriff der Strafe erneut aufgegriffen und an die Stelle einer Begriffsbestimmung, aus der sich deduktiv herleiten lässt, was nun Strafe ist oder nicht, – ähnlich wie hier – die Erörterung der (sehr verschiedenartigen) Sachprobleme gesetzt, darunter auch das des Unterschiedes zwischen Strafen und Maßregeln (aaO, 33 ff). Wegen weiterer Nachweise zum Diskussionsstand zu dieser vielschichtigen Fragestellung muss ich hier aus Raumgründen pauschal auf diese Abhandlung verweisen. 92 Vgl. zu diesem Punkt meine Würdigung Roxins in: Schünemann (Hrg.), Claus Roxin, 2003, 39 ff. 89
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2. Das beinhaltet aber zunächst einmal die Forderung,93 vor der Not und der Macht der Praxis nicht die Augen zu verschließen, sondern sie bewusst und gezielt zu erkunden und zur Kenntnis zu nehmen, sie anzunehmen und theoretisch zu reflektieren.94 Diese Forderung gilt umso mehr, wenn man verändernd auf die Praxis einwirken will; denn ohne Kenntnis der Zwänge und der Determinanten der Praxis wird die Implementation des normativen Programms nicht gelingen; es bliebe ein zahnloser Tiger. 3. Nun kann bei unvoreingenommener Beobachtung der Spruchpraxis der Instanzgerichte 95 gar nicht zweifelhaft sein, dass diese keine individuelle Prognose stellt und stellen kann, dass sie sich vielmehr bei der Maßregelzumessung an Unrechts- und Schuldgesichtspunkten orientiert und diese schematisiert (Taxensystem), dabei aber aus der Verhältnismäßigkeitsprüfung, die als der maßgebliche Begrenzungsmaßstab bei den Maßregeln der Besserung und Sicherung fungieren soll, die wirtschaftlichen und sozialen Folgen, die die Entziehung der Fahrerlaubnis für den Betroffenen hat, ausblendet. Deshalb erfüllt diese Praxis der Entziehung der Fahrerlaubnis nicht die Anforderungen, die bereits strafrechtsimmanent an Maßregeln der Besserung und Sicherung gestellt werden. Sie ist infolgedessen in dieser Sicht eher als Strafe zu charakterisieren. 4. Mutmaßlich werden die Kritiker der Auffassung, dass die Entziehung der Fahrerlaubnis eine Strafe und keine Maßregel ist, gar nicht bestreiten, dass diese soeben vorgenommene Beschreibung der Praxis zutreffend ist.96 Sie werden aber reklamieren, dass diese Praxis schlecht bzw. falsch sei und deshalb geändert werden müsse. Hierin – in der Divergenz der Auffassungen darüber, was vorzugswürdig ist: die Praxis oder das normative Programm – liegt der tiefere Grund des Streits über die dogmatische Einordnung der Entziehung der Fahrerlaubnis; ein Streit, der mit der Etablierung dieser Sanktion im Strafgesetzbuch als Maßregel durch das 1. Straßenverkehrssicherungs-
93 Das ist eine alte Forderung der Apologeten der reformierten Juristenausbildung Ende der 60er-, Anfang der 70er Jahre des vorhergehenden Jahrhunderts, die unterschiedlich firmiert gewesen ist (Theorie der Praxis; Integration von Rechts- und Sozialwissenschaften). An ihr ist festzuhalten, auch wenn die einstufige Juristenausbildung zwischenzeitlich begraben worden ist. 94 Ein gutes Beispiel für eine solche kritische Theorie der Praxis ist die ja ganz wesentlich durch den Jubilar initiierte, aktuelle Debatte über den Deal im Strafprozess. 95 V.4.; vgl. auch Cramer Unfallprophylaxe (Fn 1) 54, Fn 127. Die Gegensteuerungsmaßnahmen des BGH, auf die der Ordnung halber hinzuweisen ist (vgl. z.B. BGHSt 7, 165 ff [168]; NZV 2003, 46, 200 und die sich übrigens mit den oben bei V.2. und 3. bereits diskutierten anderweitigen Einwänden teilweise decken) haben die Spruchpraxis der Instanzgerichte offensichtlich nicht erreicht und sind deshalb deklamatorisch geblieben. Sie unterfallen deshalb ebenso dem Ideologieverdacht wie die Konzeption des Gesetzgebers und der hL. 96 Paradigmatisch etwa: Geppert (Fn 26) 87 ff.
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gesetz aus dem Jahre 195297 seinen Anfang genommen und bis heute kein Ende gefunden hat. 5. Ob die Praxis oder das normative Programm vorzugswürdig ist, ist natürlich wiederum eine normative Frage, die wir hier nicht lösen wollen, da wir, wie bereits anfangs betont, einen strafrechtstheoretischen, keinen strafrechtsdogmatischen Beitrag verfassen. Auf einen, für die Gesamtbeurteilung wichtigen, Aspekt müssen wir allerdings abschließend noch hinweisen: Es ist ja nicht böser Wille oder gar eine versteckte Revolte der Judikative gegen die Legislative, wenn jene die Entziehung der Fahrerlaubnis anders handhabt als dies nach den theoretischen Vorgaben des normativen Programms des Gesetzgebers eigentlich hätte erfolgen müssen. Denn – auch dies hat unsere Analyse gezeigt – die Weichenstellungen für die vermeintlich schlechte Praxis sind entweder im Programm ausdrücklich enthalten (nämlich der Ausschluss der Verhältnismäßigkeitskontrolle in § 69 Abs. 1, Satz 2 StGB und die Regelvermutung des § 69 Abs. 2 StGB) oder doch stillschweigend impliziert, weil die Implementation (d.h. die Problematik der Prognosestellung) nicht bedacht und geregelt worden ist. Der Gesetzgeber, der sich um den Vollzug der von ihm beschlossenen Gesetze nicht kümmert und der – darüber hinaus – falsche Wegzeichen setzt, handelt täuscherisch, wenn er nicht darüber aufklärt, dass der Zug in Wahrheit in eine andere Richtung fährt (d.h. in eine andere Richtung fahren muss) als von ihm angezeigt.98 6. Wenn man die hier vorgetragene These teilt, dass die Entziehung der Fahrerlaubnis in Wahrheit eine Strafe ist, dann hat der hier wiederholt so genannte Ausschluss der Verhältnismäßigkeitskontrolle ein ganz anderes Gesicht. Maßregelrechtlich diskreditiert dieser Ausschluss den das gesamte Maßregelrecht überwölbenden Grundsatz des Übermaßverbots auf eine unerträgliche Weise, so wie dies umgekehrt der Fall wäre, wenn der Gesetzgeber im Bereich des Strafens für eine bestimmte Konstellation die Dispension vom Schuldgrundsatz verfügen würde. Das schlechte Gewissen der hL zeigt sich denn auch sehr eindrücklich an den Aus- und Umwegen, die sie sucht, um dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gleichwohl Geltung zu verschaffen – bis hin zu dem lapidaren Satz, den kein geringerer als Jagusch 99 gesprochen hat: „I S. 2 entbindet deshalb nicht von der Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes“. Betrachtet man die Entziehung der Fahrerlaubnis als Strafe, dann wiederum ist § 69 Abs. 1 Satz 2 eine generalisierende Strafzumessungserwägung, die besagt, dass wirtschaftliche und soziale Nachteile bei der Strafzumessung keine Berücksichtigung dürfen. Sie gehört des97 Vom 19.12.1952 (BGBl. I S. 832 ff); zur Gesetzesgeschichte vgl. ausfühlich Geppert LK (Fn 2) vor § 69; Kulemeier (Fn 29) 61 ff; Lackner (Fn 45). Zur damaligen Diskussion vgl. die Nachweise in Fn 46. 98 Vgl. Hassemer (Fn 72) NStZ 1989, 556. 99 Vgl. Fn 18.
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halb systematisch zum Recht der gesetzlichen Strafandrohungen und steht deshalb nicht im Widerspruch zu § 46 StGB, der die richterliche Strafzumessung regelt, die auf jener aufbaut und an die sie im Regelfall auch gebunden ist.100 Die Individualisierung der Strafzumessung, wie sie § 46 (und übrigens auch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit) eigentlich verlangt, ist durch § 69 Abs. 1 Satz 2 StGB blockiert. Ob dies freilich mit dem verfassungsrechtlichen, also dem meta-positiv-rechtlichen Schuldgrundsatz vereinbar ist, steht auf einem anderen Blatt und kann hier nicht weiter diskutiert werden.
VII. Ausblick 1. Unser Beitrag nahm seinen Ausgangspunkt bei der Frage, ob die Entziehung der Fahrerlaubnis eine Strafe oder eine Maßregel der Besserung und Sicherung ist. Cramer hat zutreffend darauf hingewiesen, dass die kriminalpolitische Zielsetzung von Strafen und Maßregeln bei schuldhaft handelnden Verkehrsstraftätern, die charakterlich ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen sind, die gleiche ist.101 Wenn aber die Strafe (auch) spezialpräventive und die Maßregel (vorrangig) sichernde Aufgaben zu erfüllen hat, dann liegt es nahe, das überkommene Modell der Zweispurigkeit, das sich der metaphysischen Verankerung der (Schuld-)Vergeltungsstrafe verdankt, aufzugeben und das Konzept eines (in sich differenzierten) Modells von Einspurigkeit 102 zu verfolgen. Das würde nicht nur einen freien und unverkrampften, nicht mehr durch die ideologischen Scheuklappen von Strafe und Maßregel eingeengten und gesteuerten Blick auf die Sanktionswirklichkeit ermöglichen, sondern auch den Kopf freimachen für die Erörterung der wirklichen Sachprobleme. Schließlich unterscheiden sich Fahrverbot und die Entziehung der Fahrerlaubnis nur durch den Umstand, dass bei letzterer die Fahrerlaubnis nach Ablauf der Sperrfrist neu zu beantragen und gegebenenfalls – nach der Überprüfung der Eignungsvoraussetzungen – durch die Verwaltungsbehörde neu zu erteilen ist. Genau diese Differenz – und dazu zählt auch die Kompetenzfrage – ist legitimationsbedürftig; zur Klärung dieses Problems trägt die theoretische Einordnung des Fahrerlaubnisentzuges als Strafe oder als Maßregel nichts bei. Im Gegenteil: Sie verhindert (im Zusammenspiel mit den unterschiedlichen Kompetenzen) eine Gesamtschau der Probleme und ihrer Lösung. 100
Vgl. oben Fn 49. NJW 1968, 1764. Das zeigt sich m.E. besonders nachdrücklich in der Debatte über die Schließung der „Sanktionslücke“ zwischen Fahrverbot und Entziehung der Fahrerlaubnis (vgl. Abschlussbericht der Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems, 2000, 18 ff; Referentenentwurf eines Gesetzes zur Reform des Sanktionenrechts, 2000, 20 f; Jung aaO [Fn 91], 37). 102 Hier folgen wir Roxin (Fn 4) 96 ff. Vgl. dazu bereits sehr klar Dreher ZStW 65 (1953) 481 ff. 101
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Das dualistische System fungiert sozusagen als Verschiebebahnhof: Werden oder können Sanktionsbedürfnisse auf dem einen Gleis nicht erfüllt werden, so werden auf den anderen Gleisen Züge zur Verfügung gestellt, die diese Lücken wieder auffüllen. Aus dem Recht der Sicherungsverwahrung ist uns diese – unehrliche – Argumentation geläufig.103 2. Aber auch bei unserem – sehr viel bescheideneren – Thema des Entzugs der Fahrerlaubnis. Bei Strafen ist, wie dargelegt,104 die Berücksichtigung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen selbstverständlich; die dadurch drohende Sanktionslücke bzw. Untersanktionierung wird auf der Maßregelschiene kompensiert. Erneut: Es soll hier nicht die Berechtigung des Ergebnisses solcher Kriminalpolitik in Abrede gestellt, sondern nur die Unredlichkeit und fehlende Transparenz einer Argumentation, die den oder die wesentlichen Punkte verschleiert, gerügt werden. Hat man den ideologischen Schleier von Strafe und Maßregel einmal herabgerissen, dann hat man den Blick frei für das wahrhaft Entscheidende:105 Es ist ja richtig, dass derjenige, der körperliche oder geistige Mängel aufweist, z.B. blind oder dement ist, wenn er Kraftfahrzeuge führt, für die Allgemeinheit gefährlich ist und deshalb nicht am Straßenverkehr teilnehmen soll. Charakterlich Ungeeignete gibt es demgegenüber viele in unserer Gesellschaft – die Antwort darauf ist (u.a.) das Schuldstrafrecht, das – bewusst – Sicherheitslücken schafft. Diese Sicherheitslücken werden durch den retrospektiven Schuldgrundsatz produziert; das prognostisch orientierte Maßregelrecht tendiert demgegenüber dazu, diese zu schließen.106 Gegen diese Tendenz errichtet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, wie wir gesehen haben, keine wirksame Barriere, weshalb – unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten – zwischen Schuldgrundsatz und Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch kein Gleichklang besteht.107 Dieser Beitrag ist Rainer Hamm, dem Praktiker und Wissenschaftler, dem unermüdlichen Verteidiger eines liberalen Strafrechts gewidmet!
103 Vgl. dazu meine Beiträge, in: Schriftenreihe des Instituts für Konfliktforschung, Bd. 27, 2005, 35 ff; KJ 2005, 17 ff; Forensik 2006, 21. Eickelborner Fachtagung, hrsg. von Saimeh, 2006, 88 ff. Sehr scharf und prononciert zur Widersprüchlichkeit der Doppel- bzw. Zweispurigkeit von Strafe und Maßregel Köhler Der Begriff der Strafe, 1986, 80 ff. 104 Fn 37. 105 Auf die im folgenden vorgenommene Unterscheidung drängt Cramer in seinen Schriften (Fn 1) immer wieder, und, wie ich meine, zu Recht. Dabei scheint mir eine weitere sanktionstheoretische Differenzierung zwischen den Fällen körperlicher bzw. geistiger Mängel auf der einen und der Schuldunfähigkeit auf der anderen Seite unerlässlich. Dieser interessanten Frage kann hier jedoch nicht weiter nachgegangen werden. 106 Vgl. die Analyse von Sicherheitslogik auf der einen und der Freiheitslogik auf der anderen Seite in meinen oben (Fn 103) genannten Beiträgen. 107 Vgl. die Nachweise in Fn 51 und dazu im Sinne des Textes kritisch Roxin (Fn 4) 95, der zutreffend auf den entscheidenden Gesichtspunkt abhebt, nämlich dass „das Präventionsinteresse“ „durch das Schuldprinzip – wegen seiner Fixierung auf die vergangene Tat – bei der Strafhöhenbemessung gerade ausgeschaltet“ wird, und sich „dieser strafbegrenzende Effekt“ „durch kein anderes Prinzip erreichen“ lässt.
Ästhetische Bildung als Prävention? Über einen theaterpädagogischen Beitrag zur Gewaltprävention für Schulklassen Nikolas Hamm Klassenräume sind so unterschiedlich wie die Schulklassen, die in ihnen unterrichtet werden. Manche sind sehr aufgeräumt und kühl, andere voller Dekoration, die von den Schülern gebastelt wurde. Andere sind dreckig und voller unsortiertem Arbeitsmaterial. Aber in fast jedem Klassenraum hängt irgendwo – manchmal mehr, manchmal weniger präsent – ein Stück Pappe, auf dem „Klassenregeln“ formuliert wurden. Manchmal zeugt die Schrift eines Erwachsenen davon, dass der Lehrer dieses Plakat selbst hergestellt hat, andere sind von Schülern – ähnlich einem anonymen Bekennerschreiben – erstellt, indem einzelne Worte und Buchstaben aus Zeitungen ausgeschnitten wurden. Manche sind mit Schülerunterschriften verziert – andere nicht. Auf diesen Plakaten stehen Regeln wie „Wir hören uns gegenseitig zu.“ oder „Kein Kaugummi!“. Oder: „Niemand darf von anderen ausgeschlossen werden“. Oder auch: „Der Lehrer hat das Recht ungestört zu unterrichten.“ Aber auch: „Während des Unterrichts darf niemand MP3-Player hören.“ Weil diese Plakate in den meisten Fällen eher etwas über den Bedarf als über den Umgang der Schüler und Lehrer miteinander aussagen, gibt es eine Vielzahl von pädagogischen Programmen, die danach streben, es allen Beteiligten in dieser unfreiwilligen Gemeinschaft Schulklasse so angenehm wie möglich zu machen und letztlich darauf aus sind ein angenehmes „Lernklima“ zu erzeugen. Vor nunmehr zehn Jahren bat der Frankfurter Präventionsrat das Schultheater-Studio Frankfurt,1 einen Theaterworkshop für Schulklassen zu entwickeln, der sich mit dem Thema Gewalt befasst. Dabei wurde zunächst besonders an potenzielle Opfer gedacht oder an Zeugen von Überfällen auf der Straße. Ziel und Botschaft waren scheinbar klar: Schülern sollte vermittelt werden, wie sie sich in einer Gewaltsituation, in die sie unfreiwillig geraten waren, deeskalierend verhalten könnten. 1 Theaterpädagogisches Zentrum Rhein Main. Das Workshop-Programm wird seither regelmäßig mit Schulklassen von einem festen Team durchgeführt und weiterentwickelt; vgl. Schultheater-Studio Frankfurt (Hrsg.) (2004) „Reader Gewalt, Prävention und Theater“, Frankfurt am Main.
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Nach kurzer Zeit wurde aber deutlich, dass wir es bei einer Schulklasse keineswegs nur mit potenziellen Opfern und Zeugen zu tun haben, sondern auch mit Täter von Gewalttaten. In einer Schulklasse gibt es aber vor allem alltäglich (kleine) Gemeinheiten und Schikanen, mit denen ausgehandelt wird, wer den Ton angibt, was und wer in oder out ist, wie wer mit wem umgehen darf, und ob ein Lehrer anerkannt wird oder nicht. Damit festigen sich Stigmata, die den einzelnen manchmal ihr Leben lang anhaften.2 Bei einer Schulklasse ist die Grenze zwischen Prävention und Intervention in der pädagogischen Praxis deshalb fließend. Am Einzelfall lässt sich dabei nur in Ausnahmen von besonderer Schwere einschätzen, ob es sich um gruppendynamische Prozesse handelt, die für die Bildung einer Klassengemeinschaft normal und notwendig sind, oder ob eher vom Symptom einer pathogenen Struktur gesprochen werden muss. Die Taten reichen dabei vom Schimpfwort bis zur schweren Körperverletzung, vom „Eselsohr“ bis zur Erpressung, vom herunter gestoßenen Mäppchen bis zum Psychoterror. Dabei gibt es in einer Schulklasse eine Menge von „Taten“, die von den Schülern zwar als Beeinträchtigung empfunden werden, von ihnen aber gleichzeitig als unabänderliche Realität eingeschätzt werden. Wer von seinen Klassenkammeraden nicht akzeptiert wird, sieht meist kaum eine Chance, dies zu ändern. Auch die „akzeptierten“ Schüler erklären, nach den Gründen gefragt, warum jemand in der Klasse keine Chance auf Anerkennung hat, die Situation zumeist allein mit Eigenschaften des Ausgeschlossenen: „Weil jemand hässlich ist.“, heißt es dann, oder „Weil sich jemand keine moderne Kleidung leisten kann.“ Oder „Weil jemand ein Kopftuch trägt.“ Andersartigkeit bei Mitschülern zu akzeptieren, fällt denjenigen, die sich auf der alterstypischen Suche nach ihren Eigenarten zusammengetan haben und sich über äußere Symbole an ihre Identität herantasten, besonders schwer. Das Bedürfnis sich abzugrenzen ist spätestens ab der Mittelstufe sehr groß. Andere auszuschließen und ihnen das Leben in der Schulklasse damit auf Dauer unerträglich zu machen, dient für viele dazu, nicht selbst zum Opfer zu werden. Je nach dem wie ausgeprägt diese Struktur in einer Schulklasse ist, desto unwahrscheinlicher ist die Möglichkeit eines Imagewandels einzelner Schüler, deren Leid für andere das „soziale Überleben“ bedeutet. Deshalb ist es nötig, Schülern einer Schulklasse immer wieder die Möglichkeit zu geben, sich in unalltäglichen Zusammenhängen zu erleben und die
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Antje Tschira zeigt in ihrer Studie über Lernverhalten, dass solche Aushandlungsprozesse auch darüber mitentscheiden, welche Noten Schüler in einer Klasse schreiben „dürfen“. Sie macht darin einen Zusammenhang zwischen Identität und Lernerfolg auf; vgl. Tschira Wie Kinder Lernen – und warum sie es manchmal nicht tun, 2005, S. 313, sowie G.H. Mead Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt am Main 1995, S. 206.
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gruppendynamischen Strukturen in einer Schulklasse erkennbar und kommunizierbar zu machen. Theater bietet solche Möglichkeiten und vermag deshalb einen Beitrag zur Gewaltprävention zu leisten. Im Folgenden soll es um die Chancen für die Gewaltprävention durch den Einsatz theaterpädagogischer Mittel gehen. Zur Veranschaulichung der Praxis werfe ich in drei Exkursen jeweils ein Streiflicht auf die Erfahrungen, die wir in der Workshoparbeit mit Schulklassen machen.
Erster Exkurs in das Programm: Die Schüler betreten den Raum Bevor die Schüler ihren Klassenraum betreten, haben wir ihn so umgeräumt, dass kein Tisch und kein Stuhl mehr so stehen, wie die Schüler es gewöhnt sind. Die Tische stehen an den Wänden und die Stühle stehen in einer U-Form. In der Mitte und vor einer der Wände ist auf diese Weise Platz zum Theaterspielen. Die Schüler warten vor dem Klassenraum und sind meist gespannt, was wohl mit ihrem Raum passiert. Dann öffnen wir die Tür und machen den „Einlass“ – ganz wie im Theater – nur ohne Eintrittskarten. In diesem Moment sind die Schüler gespannt, was sie erwartet, und wir sind gespannt, mit was für einer Klasse wir es wohl an diesem Tag zu tun haben. In diesem Moment zeigt die Klasse uns oft schnell, worauf wir uns einzustellen haben: 1. Die Schüler betreten den Raum. Die schnellsten Schüler rennen auf die vermeintlich besten Plätze (je nach Klasse werden diese am Rand oder in der Mitte vermutet), und es entsteht Streit darüber, wer wo und neben wem sitzen darf. Einige Stühle werden umgestellt. 2. Die Schüler betreten den Raum. Alle Mädchen gehen sofort auf die eine Seite, alle Jungen auf die andere Seite. Das langsamste Mädchen und der langsamste Junge versuchen die beiden mittleren Stühle um Millimeter auseinander zu rücken und setzen sich dann schließlich doch nebeneinander, nicht ohne durch Körperhaltung und Gesichtsausdruck allen anderen zu signalisieren, dass sie sich hier nicht freiwillig nebeneinander gesetzt haben. 3. Die Schüler betreten den Raum. Und sortieren sich problemlos in die neue Sitzordnung. Sie sehen uns an und sagen im Chor: „Guten Morgen!“. 4. Die Schüler betreten den Raum. Nicht gleichzeitig. Einige berichten über andere, die eigentlich auch noch kommen wollten … Andere bieten sich voller Vorfreude, den Raum wieder zu verlassen als Helfer an: „Könn’ wir die holen?“
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Die Anforderungen an ein Präventionsprogramm mit einer Schulklasse Die oben beschriebenen Voraussetzungen haben dazu geführt, dass sich unser Programm immer mehr zu einem Präventionsprogramm entwickelt hat, das sich primär mit den gruppendynamischen Vorgängen innerhalb der Schulklasse beschäftigt. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf den kleinen Schikanen der Schüler untereinander. Dabei erhebt ein solcher Workshop den Anspruch, auf diese alltägliche Gewalt in der Schulklasse eine neue Perspektive zu eröffnen und die Alternativlosigkeit einer Gruppendynamik, unter der einige leiden und andere das Quälen anderer als notwendig und normal erfahren, in Frage zu stellen. Ein Präventionsprogramm ist wie jedes Theaterprojekt darauf angewiesen, dass die Teamer 3 eine vertrauensvolle Beziehung zu den Schülern der Klasse aufbauen ohne, dass die vorhandenen Strukturen gefestigt, sprich Täter in ihrer Täterrolle und Opfer in ihrer Opferrolle bestätigt werden. Wir möchten deshalb eine Theater-Aktion anbieten, bei der die Schulklasse Abstand zu ihren eingeschliffenen sozialen Umgangsformen bekommt. Es soll ermöglicht werden, bekannte Muster aus der Distanz und anderer Perspektive neu zu bedenken und zu hinterfragen. Ja es besteht auch die Hoffnung, dass Schüler sich in ungewohnten Rollen erleben und präsentieren und dadurch unter Umständen negative Zuschreibungen gelöst werden können oder zumindest als solche erkannt und hinterfragt werden. Ein Theaterprojekt eröffnet hierzu einige Möglichkeiten, auf die ich in diesem Artikel eingehen werde. Es liegt nahe anzunehmen, dass beispielsweise durch einen etwaigen Rollentausch in einer Theaterszene von Tätern und Opfern solche gewünschten Effekte zu erwarten sind. Spielt ein Schüler, der im Schulalltag eine eher dominante Rolle in der Klasse einnimmt jemanden, der einen eher schlechten Stand in der Klasse hat, so erweitert diese Erfahrung unter Umständen seine Fähigkeit, sich in schwächere Klassenkammeraden hinein zu versetzen und versetzt ihn vielleicht auch in die Lage, in Zukunft auf solche Schüler mehr Rücksicht zu nehmen. Allerdings ist ein solcher Effekt nicht ganz einfach zu erreichen. Ein Theaterworkshop, der gezielt auf solche Effekte setzt und geradewegs auf sie hinarbeitet, wird mit erheblichen Widerständen der Schüler zu rechnen haben. In dem Moment, in dem die Schüler merken, dass es den Teamern „in Wahrheit“ nicht um das Theaterspiel, sondern um eine pädagogische Maßnahme geht, werden sich manche verweigern. Zum Theaterspielen und dazu, sich in eine Bühnenfigur hinein zu versetzen, kann niemand gezwungen 3 Das Projektteam im Schultheater-Studio Frankfurt besteht aus zwölf Theaterpädagogen („Teamer“), die den hier beschriebenen Workshop zur Gewaltprävention in unterschiedlichen Besetzungen jeweils zu viert in einer Schulklasse durchführen.
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werden. Es ist zu viel innere Bereitschaft und auch Lust an der Verwandlung nötig, um ein Theaterspiel zu ermöglichen, das über das bloße Aussprechen von Sätzen und Ausführen von äußerer Handlung hinausgeht. Es ist viel Einfühlung erforderlich. Die Empfindungen, mit denen ein Schauspieler arbeitet, sind seine eigenen, echten Empfindungen, die er aus der Erinnerung an sein echtes Leben auf die Bühne mitbringt. Er arbeitet also mit etwas sehr Privatem. Hat ein Schüler den Eindruck, das „ganze Theater“ dient allein dazu, ihm seine vielleicht starke Rolle in der Klasse streitig zu machen, wird er sich lächerlich vorkommen und sich verweigern.
Theater als Mittel zum pädagogischen Zweck? Bevor ich darauf eingehen kann, wie es trotz der oben beschriebenen Problematik möglich ist, aus theaterpädagogischen Methoden, die einen Schüler dazu bringen, seine gewohnten Verhaltensmuster zu verlassen und an einem Workshop zur Gewaltprävention mitzuwirken, gilt es deshalb auf Bedenken einzugehen, die einem solchen Vorhaben bisweilen entgegengebracht werden. Bedenken werden aus zweierlei Richtung angemeldet: sowohl aus künstlerischer Sicht als auch aus pädagogischer Perspektive. Ich werde diese Bedenken im Folgenden behandeln und im Anschluss einen Ausweg skizzieren. Bedenken des Künstlers gegen die „Verzweckung“ der Kunst Kunst im Allgemeinen und so auch die Theaterkunst sträubt sich dagegen, in den Dienst einer (vorher) bestimmten Erkenntnis gestellt zu werden. Es gibt gute Gründe zu sagen, dass so etwas wie „ästhetische Wahrnehmung“ unter Voraussetzungen, die eine bestimmte Erkenntnis vorgeben, nicht möglich ist, ja dass es sich sogar um einen Widerspruch handelt. Rüdiger Bubner 4 hat darauf hingewiesen, dass die ästhetische Erfahrung ein unabgeschlossener Prozess ist, der sich zwischen dem betrachteten ästhetischen Objekt, den Sinneseindrücken des Betrachters und dessen Erfahrung, vor dessen Hintergrund er die Sinneseindrücke einzuordnen sucht, abspielt. Dabei lenkt der Betrachter die Aufmerksamkeit sowohl auf einzelne Details, als auch auf das Ganze und erfährt zwischen Einordnung der Details und Verbindungen zwischen den Details untereinander und dann wieder zum großen Ganzen Sinn und Erkenntnis. Dieser Prozess der ästhetischen Erfahrung ist, wie Bubner 5 betont, ein unabgeschlossener. Weder kann es als Ziel verstanden
4 5
Bubner Ästhetische Erfahrung, Frankfurt am Main 1989, S. 52 ff. AaO.
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werden, die Details eines ästhetischen Objekts, so wie es ein Wissenschaftler täte, zu erfassen, noch kann es als Ziel angesehen werden, einen übergeordneten Sinn einer Sache auf den Begriff zu bringen. Beides ist zwar durch ästhetische Erfahrung möglich, beides findet statt. Es kann aber nur „funktionieren“, wenn wir weder die Erforschung von Details noch die begriffliche Fixierung zum Ziel der Erfahrung erklären. Vielmehr gilt es, zwischen sinnlicher Wahrnehmung und Reflexion eine Art Schwebezustand zu erhalten, wenn die ästhetische Erfahrung aufrechterhalten werden soll.6 Einen ähnlichen Schwebezustand beschreibt Ulrike Hentschel für die Erfahrungen, die bei der Produktion von Theater gemacht werden. Der Schauspieler muss sowohl zu einem Teil er selbst bleiben und mit seinen echten Emotionen der fiktiven Situation auf der Bühne begegnen. Gleichzeitig muss er aber auch zur Figur der fiktiven Handlung werden. Der Schauspieler ist weder ganz die Figur, die er spielt (dann würde er verrückt), noch nur er selbst (dann würde er nicht spielen). Vielmehr gilt es zwischen den beiden Poolen eine Art Balanceakt auszuhalten. Kippt dieser Akt in die eine oder andere Richtung, endet das Spiel.7 Richard Schechner bezieht diese Anforderungen auf den Schauspielunterricht. „Schauspieltraining richtet seinen Ehrgeiz nicht darauf, die Schüler in eine andere Person zu verwandeln, sondern darauf, ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, sich zwischen den Identitäten zu bewegen“.8 Ein Workshop-Programm, das mit einem künstlerischen Medium arbeitet, zielt also auf Uneindeutigkeit, auf unaufgelöste Widersprüche und auf ästhetische Erfahrung im Schwebezustand von Ambivalenzen. Diese Zielrichtung auf einen sensiblen Zustand, könnte durch ein Drängen zur Botschaft, durch das Bedürfnis nach Lösungsmöglichkeiten in Konfliktsituationen und den Ruf nach Verhaltensnormen gefährdet sein. Das Programm, das Präventionsprogramm sein möchte, und gleichzeitig ästhetische Medien und künstlerische Auseinandersetzung will, muss also kritisch daraufhin untersucht werden, welcher Art die Erkenntnisse im Sinne der Prävention sind, die durch das Programm den Schülern vermittelt werden sollen. Sind von vorneherein bestimmte Botschaften festgelegt, droht ästhetische Wahrnehmung in die alltägliche Einordnung in bekannte Begrifflichkeiten zu kippen. Ästhetische Erfahrung wäre durch die Fixierung der Botschaft, des Begriffs abgeschlossen, wenn sie überhaupt eine Chance hätte. Es gilt also eine Entscheidung zu treffen: Möchten wir eine Botschaft vermitteln, etwa: Hört euch gegenseitig besser zu! Oder: Nehmt Rücksicht auf 6
AaO. Vgl. Hentschel Ich ist etwas anderes, Korrespondenzen, Zeitschrift für TheaterPädagogik 20/44 (2004) S. 50. 8 Schechner Theateranthropologie, Spiel und Ritual im Kulturvergleich, Reinbek bei Hamburg 1990, S. 233. 7
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Schwächere! oder möchten wir mit einem künstlerischen Medium neue Perspektiven eröffnen. Um es vorweg zu nehmen: Wir haben uns für Letzteres entschieden. Diese Entscheidung macht es erst möglich, das Potential eines ästhetischen Mediums mit einer Schulklasse für die Präventionsarbeit zu nutzen. Bedenken des Pädagogen gegen die Unberechenbarkeit des künstlerischen Prozesses Die Entscheidung für ein künstlerisches Medium in der Präventionsarbeit, die Zielrichtung auf den oben beschriebenen Schwebezustand und die damit verbundene Weigerung, inhaltliche Ziele/Lernziele im Sinne des Themas Gewalt festzulegen, wirft nun aber neue Schwierigkeiten auf: Ein derart offenes Vorgehen widerspricht der Vorstellung von Didaktik und methodisch professioneller Pädagogik grundsätzlich. Seit pädagogische Programme nicht zuletzt aus Kostengründen ihren Erfolg nachzuweisen haben, muss ein Programm, das „irgendwie“ eine Auseinandersetzung mit einem Thema verspricht, sich ansonsten aber über Ziele und Überprüfung der Methoden angesichts vordefinierter Ziele ausschweigt, Skepsis hervorrufen. Das Ziel eines Präventionsprogramms steht fest: Schüler sollen lernen, so miteinander und mit anderen umzugehen, dass gewährleistet bleibt, dass Konflikte weder durch körperliche Gewalt noch durch subtile Drohungen ausgetragen werden. Um also als pädagogische Methode „durchzugehen“, müssen zumindest Überlegungen über die Wirkungsweisen der Erfahrungen der Schüler angestellt werden, damit entschieden werden kann, ob mit gewaltpräventiver Wirkung gerechnet werden kann. Die Frage nach den Wirkungsweisen und Erfahrungsmöglichkeiten in kreativen ästhetischen Prozessen gehört zu den besonders viel und kontrovers diskutierten in der Pädagogik. Yvonne Ehrenspeck weist in ihrem Buch „Versprechungen des Ästhetischen“ auf die Schwierigkeiten hin, ästhetische Wirkung empirisch nachzuweisen, und zeigt gleichzeitig, dass seit mindestens 200 Jahren, das Ästhetische immer wieder mit großen Hoffnungen, unter anderem seitens der Pädagogik, verbunden war. „Ob es sich um die Abstraktion der Verhältnisse, Jugendgewalt, Neurosen, die ökologische Krise oder um Probleme bei der Integration von anderen Kulturen handelt, immer wieder stößt man auf die Empfehlung, es doch einmal mit ‚Ästhetik‘ zu versuchen, schließlich fördere diese ja den Gemeinschaftssinn, die Individualität, die Ganzheit oder die Liebe zur Natur.“ 9 9 Ehrenspeck Versprechungen des Ästhetischen – Die Entstehung eines modernen Bildungsprojekts, Opladen 1998, S. 19.
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Ulrike Hentschel verfolgt für die Theaterpädagogik einen Gedanken von Klaus Mollenhauer 10 weiter, der schon 1988 in einem Essay fragt, ob ästhetische Bildung überhaupt möglich sei. Mollenhauer macht darin auf Widersprüche zwischen den Grundsätzen von Didaktik und den Eigenheiten ästhetischer Prozesse aufmerksam. Als Ausweg schlägt Mollenhauer vor, die Erfahrungsmöglichkeiten während des künstlerischen Schaffens für die einzelnen Kunstformen zu ermitteln und erst dann Schlüsse für den praktischen Einsatz der einzelnen Medien in der Pädagogik zu ziehen. Für die Theaterpädagogik hat Ulrike Hentschel 11 dies getan.
Mögliche Auswege aus einem Dilemma zwischen Kunst und Pädagogik in einem Theater-Workshop zur Prävention Die Überlegungen zur Theoriebildung einer Theaterpädagogik, konzentrieren sich auf die spezifische Materialität des Theaters. Ulrike Hentschel sieht die Chancen, die das Theater der Pädagogik bietet, in den Möglichkeiten der Erfahrung durch das Medium Theater selbst und nicht in den durch Theater vermittelten Inhalten. Weniger die Botschaft, die ein Stück, eine Szene, durch seinen Inhalt vermittelt, bietet dabei die Chance zur wichtigen Erkenntnis, als vielmehr die Erfahrung parallel existierender Wirklichkeiten. Die Möglichkeit, Realität so oder anders zu deuten, der Umgang mit Perspektivität, der Umgang mit Subjektivität, die Fähigkeit parallel existierende Wirklichkeiten zu akzeptieren – all das gehört zu der Art von Erkenntnissen, die Theater seinen Produzenten bieten kann.12 Diese pädagogisch durchaus wünschenswerten Effekte sind Nebeneffekte der Konzentration auf die ästhetische Gestaltung im Theater. Sie können die Arbeit nicht dominieren und sollten sie nicht steuern. Es kann mit ihnen dann gerechnet werden, wenn sie Nebeneffekt bleiben. Das bedeutet, dass die Konzentration auf der Theaterarbeit bleiben muss, um die Nebeneffekte zu erreichen. Daraus folgt, dass die ästhetische Umsetzung in der praktischen Arbeit mit Theater zum Thema Gewalt in einem solchen Programm unbedingt Priorität haben muss und zwar auch und gerade vor einer zu vermittelnden Botschaft. Dieser Umstand fordert ein theaterpädagogisches Programm zur Gewaltprävention erneut heraus, da es nun darum geht, ein Thema zu behandeln, bei dem das Bedürfnis nach der eindeutigen Botschaft, nach dem Gebot und 10 Vgl. Mollenhauer Ist ästhetische Bildung möglich? Zeitschrift für Pädagogik 34/4 (1988) 443–461. 11 Unter dem Titel „Theaterspielen als ästhetische Bildung“ verweist Hentschel (ebd. 1998) auf die Möglichkeiten des Theaters für die Pädagogik jenseits außerästhetischer Zielsetzungen, wie beispielsweise Gewaltprävention. Sie distanziert sich dabei ausdrücklich von solchen Ansätzen. Dennoch hat Hentschel in ihrem einflussreichen Werk auch die Praxis solcher Ansätze mit beeinflusst, in denen außerästhetischen Zwecke verfolgt werden. 12 Vgl. Hentschel Theaterspielen als ästhetische Bildung, Weinheim 1998.
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auch dem Verbot, besonders ausgeprägt ist. Arbeiten wir aber mit einem künstlerischen Medium zu einem solchen Thema, sind wir darauf angewiesen mit diesem Bedürfnis und den Erwartungen aller Beteiligten solche Antworten, Gebote und Verbote zu bekommen, zu brechen. Der Ausweg aus dem Dilemma in einem pädagogischen Programm zur Gewaltprävention, das mit ästhetischen Mitteln arbeitet, entweder der Kunst oder der Pädagogik nicht gerecht zu werden, besteht in der theaterpädagogischen Praxis darin, den Umstand, dass es sich um ein Präventionsprogramm handelt, in die künstlerische Arbeit einzubeziehen. Auf diese Weise werden auf der einen Seite Voraussetzungen geschaffen, die eine künstlerische Arbeit wieder möglich machen. Auf der anderen Seite werden jene Nebeneffekte der Theaterpraxis durch dieses Vorgehen möglich, die die Pädagogik überhaupt erst veranlasst haben, auf ein künstlerisches Medium zu setzen.
Zweiter Exkurs in das Programm: Der Kampf Direkt nach einer kleinen Einstiegschoreographie geht das Programm mit zwei Schauspielern weiter, die sich mit Drohgebärden gegenüberstehen. Ein Ringrichter mit einem lauten Gong in der Hand und ein Moderator leiten das Geschehen ein: „Ihr werdet jetzt gleich einen brutalen Kampf zwischen zwei gleich starken Gegnern sehen. Ihr könnt den Kampf anhalten und die Kämpfer mit Waffen oder Fähigkeiten ausstatten, mit denen sie dann weiterkämpfen.“ Um den Kampf anzuhalten bekommen ein paar der Schüler Gegenstände, die wir Stopptasten nennen. Wird einer der Gegenstände bewegt, ertönt der Gong und die Kämpfer verharren in der Haltung, in der sie gerade sind. Die Schüler statten sie dann aus. Etwa so: „Der eine bekommt ein Messer, der andere einen Feuerlöscher.“ Die in Improvisation geübten Schauspieler stellen den Kampf mit den Gegenständen dann pantomimisch dar, bis die nächste Stopptaste gedrückt wird, und der nächste Gong ertönt. Der Moderator weist nun noch einmal darauf hin, dass es auch die Möglichkeit gibt, die Kämpfer mit Fähigkeiten auszustatten. Der Schüler, der den Kampf angehalten hat, stattet die Kämpfer wiederum aus, diesmal mit Juckpulver und einem Raketenantrieb zum Fliegen … Nach etwa fünf Vorschlägen ist der Kampf der beiden Schauspieler vorbei und es steht ein neuer Kampf an: Diesmal zwischen zwei Schülern der Klasse.
Erfahrungsmöglichkeiten für Schüler bei einem Theaterworkshop, der sich mit dem Thema Gewalt beschäftigt Das Spiel, bei dem zwei Schauspieler mit fantasierten Waffen und Fähigkeiten gegeneinander antreten, bricht zu Beginn des Workshops mit den Erwartungen der Schüler und Lehrer an ein Gewaltpräventionsprogramm.
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Es übernimmt gleichzeitig noch einige andere Funktionen, die für das Gelingen einer künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Thema Gewalt im Medium Theater von entscheidender Bedeutung sind: Die Bühne wird als ein Raum etabliert, in dem die sonst herrschenden Konventionen und Moralvorstellungen weitgehend suspendiert sind.13 Dadurch entsteht mitten im Klassenzimmer der Schüler, in dem die Kategorien richtig und falsch, erlaubt und verboten eine so große Rolle spielen, ein Raum, in dem Phänomene menschlicher Auseinandersetzung zunächst weitgehend ohne Wertung betrachtet und nachempfunden werden können. Damit ist sowohl eine Grundvoraussetzung für die künstlerische Herangehensweise der Schüler an das Thema Gewalt geschaffen, als auch dafür, dass die Schüler sich über das, was sie auf der Bühne sehen und später auch selbst als Spieler verkörpern, ein eigenes Urteil bilden können. Um diese zunächst wertfreie Herangehensweise, die sich einer moralischen Beurteilung entzieht, aufrecht erhalten zu können, ist es wichtig, die Schüler immer wieder darin zu bestärken, auf die Umsetzung ihrer Ideen auf der Bühne auch in der Genauigkeit in den Details größten Wert zu legen. In der szenischen Arbeit und in den Übungen und Spielen, die diesen Teil des Workshops vorbereiten, kommt diese Anforderung an die Teamer eines solchen Workshops besonders zum tragen.
Dritter Exkurs in das Programm: Eine Theaterszene entsteht Der Umstand, dass das Programm an einem Vormittag von vier Teamern durchgeführt wird, macht es möglich, die Klasse für eine Gruppenarbeit aufzuteilen. Jede Kleingruppe arbeitet dabei mit Assoziationen zum Begriff „Schikane“. Der Begriff wird erklärt, und die Schüler werden aufgefordert, dazu etwas zu erzählen und Beispiele zu geben. Die Teamer weisen ausdrücklich darauf hin, dass die Schüler dabei von eigenen Erfahrungen berichten können oder sich etwas ausdenken können, was vielleicht passieren könnte. Der Teamer weist auch darauf hin, dass es bei dieser Gesprächsrunde um eine Materialsammlung für eine Theaterszene geht. Dies kann (nebenbei) zu einem Forum für ein Gespräch über eigene Erlebnisse werden, was häufig auch geschieht. Hauptaugenmerk liegt hierbei aber deutlich auf der Umsetzung der Ideen der Schüler. Entscheiden sich die Schüler also für eine Szene, in der ein Schüler von anderen gezwungen wird, ihnen die Hausaufgaben zu machen, geht es darum, die Geschichte dem Publikum verständlich zu machen, Bilder und evtl. Analogien für Gefühle, Stimmungen und Haltungen zu finden, den Raum sinnvoll zu nutzen und den Figuren den passenden
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Vgl. Brauneck Theater im 20. Jahrhundert, Reinbek 2001, S. 15 ff.
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Ausdruck zu geben. Nach dieser Arbeitsphase wird die Szene vor der Klasse präsentiert und besprochen. Hier ist es entscheidend, auf künstlerische Details Wert zu legen! Der Teamer muss mit den Schülern am Ausdruck und an der Präsentation der gesamten Szene so intensiv wie möglich arbeiten. Bewertungen der Handlung sollten dabei nur im Hinblick auf die ästhetische Umsetzung eine Rolle spielen.
Ein Theaterworkshop als Teil des Diskurses über die Rollenverteilung innerhalb einer Schulklasse Gelingt es, mit den Schülern während des Erarbeitens von Theaterszenen auf Details der Darstellung zu achten und mit den Schülern gemeinsam die Lust zu entwickeln an diesen Details zu feilen, d.h. mit Körperhaltungen und Sprechweisen, mit Raumaufteilung, Bildern und Musik zu experimentieren und ästhetische Entscheidungen zu fällen, so wird eine neue Sichtweise auf bekannte Handlungen für Spieler und Zuschauer möglich. Diese ästhetischen Entscheidungen korrespondieren dabei mit den Inhalten und Themen, die mit den Schülern gemeinsam assoziiert werden. Das Thema Gewalt wird zwar behandelt, jedoch werden die Erfahrungen der Schüler nun von dem Hintergrund der szenischen Umsetzung behandelt und nicht bewertet. Erst wenn uns dies gelingt, kann eine neue Perspektive eingenommen werden. Präsentieren die Schüler jetzt ihre Szene als Arbeitsergebnis eines kreativen Prozesses, so steht auch für die Zuschauer zunächst das ästhetische Produkt im Vordergrund und nicht die bloße inhaltliche Ebene. Eine moralische Bewertung erfolgt allenfalls nach der Präsentation durch die Schüler der Klasse. Unvermeidlich werden dabei die in einer Szene vorkommenden Figuren mit den Spielern verglichen. Wie oben bereits angedeutet, ist es für einige Schüler in einer Schulklasse besonders fatal, wenn sie auf eine Rolle festgelegt sind, in der sie sich nicht wohl fühlen können und aus der sie nicht mehr heraus kommen. Viele Schüler entwickeln ihr Selbstbild erst langsam und die Rolle, die ihnen in ihrer Schulklasse zugeschrieben ist, hat daran einen nicht geringen Anteil.14 Der Auftritt vor der Klassengemeinschaft in einer Theaterszene kann sowohl für den Lehrer als auch für die Mitschüler ein neues Licht auf einzelne Schüler werfen.
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Tschira aaO.
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Die Idee vom „Training zur Gewaltfreiheit“ muss in einem Theaterworkshop zur Prävention verworfen werden Dieser Artikel setzt sich mit den Möglichkeiten des Ästhetischen für die Prävention von Gewalt in einem Theaterwokshop für Schulklassen auseinander. Dabei wird ein Ansatz beschrieben, der sich vom Einsatz darstellerischer Mittel im Dienste des Einübens von Verhaltensweisen stark distanziert. Ein Theaterprogramm für Schulklassen hat, wenn es sich auf seine spezifischen Eigenschaften als ästhetisches Medium besinnt, die Möglichkeit einen Beitrag zu leisten, der über die Möglichkeiten eines Ansatzes, in dem Verhalten schlicht eintrainiert wird, weit hinaus geht. Die Chance des Theaters für einen präventiven Ansatz besteht darin, bestehende Strukturen und gängige Meinungen in Frage zu stellen und den Diskurs über Bestehendes aufrecht zu erhalten, um damit eine Veränderung aus eigener mündiger Kraft der Schüler selbst wahrscheinlicher zu machen. Dies kann das Theater dann, wenn es sich weniger um die Botschaft als vielmehr um die ästhetische Umsetzung bemüht, um durch die Differenz zum Alltäglichen, Alltägliches in neuem Licht zu zeigen. Die Erfahrung zeigt, dass Schüler meist sehr genau um die Probleme in der Klasse wissen. Dennoch gelingt es in sehr vielen Fällen weder Schülern noch Lehrern, festgefahrene gruppendynamische Strukturen und problematische Rollenzuschreibungen Einzelner zu lösen. Das bloße Wissen darum, wie man theoretisch einem Opfer von beispielsweise Mobbing helfen könnte, befreit noch lange nicht aus den komplexen Strukturen, die Opfer zu Opfern und Täter zu Tätern machen. Die Aufgabe eines Theaterworkshops im Hinblick auf Probleme in einer Schulklasse, die im weitesten Sinne mit Gewalt zu tun haben, sollte deshalb vor allem in der Veränderung der Perspektive gesehen werden, die Schüler und Lehrer durch die ästhetische Auseinandersetzung einnehmen können. Dies ist nur möglich, wenn es gelingt, diesen kreativen Prozess jenseits von Wertungen und Urteilen über Verhaltensweisen zu durchlaufen.
Konsens im Strafprozeß Winfried Hassemer I. Eine kostbare Ressource 1. Vergesellschaftung Konsens, also die kommunikative Übereinstimmung zwischen Menschen über Gegenstände aller Art,1 ist ein Entstehungs-, ein Existenz- und ein Strukturprinzip von Vergesellschaftung. Konsens ist nicht nur eine Voraussetzung jeglichen menschlichen Miteinanders, sondern strukturiert dieses Miteinander auch bis in Einzelheiten. Ohne Konsens, und sei es über die basalen Regeln von Friedlichkeit und Auseinandersetzung, läßt sich menschliche Interaktion oder gar Kommunikation schon nicht denken. Im Alltag ist unser Handeln durch Übereinstimmungen fundamental konstituiert, und es ist partial durchsetzt von konsensualen Partikeln und Linien. Konsens ist eine weitläufige Kategorie; Konsens kann, wie man weiß, auch darüber herrschen, daß und worüber man nicht übereinstimmt. Konsens kann sich – wie sein Bruder, der Dissens – erstrecken auf Annahmen über die Welt, aber auch auf die Art und Weise, wie mit diesen Annahmen umzugehen sei. Er bezieht sich auf Ziele und auf Wege, diese Ziele zu erreichen, auf Werte und auf Institutionen. Er bestimmt, was uns plausibel ist und wovon wir folglich ohne weiteres ausgehen dürfen, und er hat für anderes, das von ihm nicht gestützt ist, besondere Begründungslasten zur Folge. Auf konsensualer Basis leben wir miteinander, unter dem Zeichen von Dissens sind wir aufmerksam, sind wir auf der Hut. Konsens weckt, anders als sein Bruder, jedenfalls heute und jedenfalls in der Regel, positive Begleitgefühle – auch wenn wir gegenüber allzu viel, allzu dichtem und allzu dauerndem Konsens mißtrauisch sind; auch wenn es Felder gibt, auf denen Konsens eher die falsche Frucht ist, wie überall dort, wo Kampf und Konkurrenz herrschen; auch wenn nicht immer leicht auszumachen oder gar zu begründen ist, unter welchen Voraussetzungen Konsens 1 Bei dieser groben Bestimmung lasse ich es hier bewenden; was ich vorzutragen habe, verlangt keine präzisere Nomenklatur. Nützliche, wenn auch in der Abgrenzung etwas strenge (so ist beispielsweise „Konsens“ nicht nur als ein Legitimationsprinzip zu verstehen), Überlegungen bei Weßlau Das Konsensprinzip im Strafverfahren – Leitidee für eine Gesamtreform?, 2002, S. 13 ff.
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der passende Ausweg wäre und wann nicht. Ganz ohne Konsens freilich, davon sind wir überzeugt, läßt sich in einer vergesellschafteten Welt nichts aufbauen und läßt sich unter Menschen nicht auskommen; wer zu Konsensen nicht fähig ist, hat Probleme. 2. Recht Konsens ist ein Entstehungs- und Strukturprinzip auch des Rechts. Ohne Konsens haben Recht und Gesetz keine Chance zu entstehen und zu überleben. Und auch im Recht muß der Dissens mitgedacht werden, wenn man Konsens als Strukturprinzip begreifen will; erst der Dissens belegt und beleuchtet die Konsensualität von Rechtsverhältnissen in all ihren Dimensionen. a. Autonomie Wenn Menschen in einer Sache übereinkommen, sei es in Inhalten, sei es in Fragen des Verfahrens, so kann schon dieses Übereinkommen Rechtswirkungen haben. Das ist nun freilich keine juridische Erfindung, sondern verlängert nur eine alltägliche normative Existenzbedingung ins Recht, ist also tief begründet: Überall dort, wo wir uns autonomes Handeln wechselseitig zutrauen, trauen wir menschlicher Übereinstimmung auch Folgen zu, wenn nicht im Einzelfall verläßliche Indikatoren gegen Selbstbestimmung sprechen.2 Versprechen muß man halten, auch von Rechts wegen. Die Fähigkeit, selbstbestimmt zu handeln, und die Realisierung dieser Fähigkeit im Einzelfall: aus diesen beiden Bedingungen wächst die Grundidee des Vertrags, die einfachste Form des Konsenses im Recht. Sie paßt – innerhalb wie außerhalb des Rechts – auf zwei Konstellationen nicht. Sie paßt nicht auf Verhältnisse, die individueller Selbstbestimmung von vorneherein nicht zugänglich sind, wie etwa die Einwilligung in die Verletzung eines Universalrechtsguts, also eines Rechtsguts, das einem nicht gehört;3 und sie paßt nicht auf konkrete Situationen mangelnder Autonomie, wie etwa die Unfähigkeit des Einwilligenden, die Folgen seiner Einwilligung zu begreifen. Jenseits dieser beiden Ausnahmen – dort also, wo sie paßt – liefert die Vertragsidee starke normative Gründe. Dort ist der Konsens zweier Agenten in derselben Sache anscheinend unüberwindlich: Wer auf dem rechtlichen Feld, auf dem er handelt, autonom bestimmen darf und wer in seiner konkreten Handlungssituation überdies auch bestimmen kann, der vermag schon mit dieser Bestimmung Rechtswirkungen zu
2 Das ist umfänglicher entwickelt in meiner kleinen Schrift Selbstbestimmung – noch zeitgemäß? 2006, S. 10 ff. 3 Das wird unter I.2.d. genauer betrachtet.
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setzen. Wer dazu die Übereinstimmung mit einem Gegenüber erlangt, der zu ihm spiegelbildlich handeln darf und handelt, kann Recht setzen. Konsens am richtigen Platz und in der richtigen Weise schafft nicht nur faktisch Folgen; er legitimiert sie auch: Es ist gut, richtig und wohlbegründet, autonomer Übereinstimmung in den Grenzen ihrer Zulässigkeit die Wirkungen zuzuerkennen, auf die sich die Übereinstimmung richtet; es wäre nicht folgerichtig und auch nicht begründbar, ja es wäre rechtstheoretisch schon nicht konstruierbar, die so konsentierten Wirkungen vorzuenthalten. Diese Wirkungen treten nicht nur einfach ein, sie sollen auch eintreten; sie sind die Folgen wechselseitiger Übereinstimmung in einer Sache, über die autonom bestimmt werden kann und über die autonom bestimmt worden ist. Mehr an normativen Gründen braucht es nicht, um diese Folgen zu rechtfertigen.4 Konsens schafft Recht. b. Kontingenz Das ist nicht so selbstverständlich und allgemeingültig wie es klingen mag. Es beruht vielmehr auf einer spezifisch modernen, liberalen, menschenrechtsorientierten Rekonstruktion von Rechtsbegründung; diese Art von Rechtsbegründung ist nicht die einzig mögliche, und sie ist nicht etwa schon mit der Existenz einer jeglichen Rechtsordnung zweifelsfrei gesetzt. Sie setzt vielmehr eine bestimmte Rechtskultur voraus, eine Rechtskultur, die den Menschen ihre Rechte und rechtlichen Positionen nicht ausschließlich zuteilt, sondern ihnen die Möglichkeit eröffnet, unter bestimmten Voraussetzungen Rechte selber zu schaffen und Rechtspositionen selber zu begründen: eine Rechtskultur nämlich, die Autonomie anerkennt und rechtlich ausstattet. In dieser Rechtswelt ist Selbstbestimmung eine Bedingung der Möglichkeit von Konsens, und die Fähigkeit von Konsensen, Recht zu schaffen, hängt an der normativen Grundentscheidung, autonomes Handeln unter bestimmten Voraussetzungen mit Rechtsfolgen auszustatten. Diese Rekonstruktion ist in mindestens zweierlei Hinsicht relativ. Die Grundentscheidung für die rechtliche Relevanz autonomen Handelns setzt, wie gerade gesehen, einen reifen Typ von Rechtskultur voraus; es sind nämlich Rechtsordnungen denkbar (und sie kommen vor), welche den Menschen, für die sie gelten, keine oder nur eine verkümmerte Selbstbestimmung über Rechtspositionen einräumen, ihnen vielmehr diese Positionen selber zuteilen und zuschneiden. Aber selbst der reife Typ von Rechtskultur – und das ist die zweite Relativierung – hält den Grundsatz von Selbstbestimmung und Konsens nicht überall und unmittelbar, sondern immer nur in Teilen oder vermittelt durch:
4
Michael Hassemer Heteronomie und Relativität in Schuldverhältnissen, 2007, S. 13 ff.
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c. Paternalismus Auch die auf Autonomie gegründete, die reife Rechtsordnung erkennt den Konsens nur dort als Rechtsquelle an, wo Rechtssubjekte einander auf Augenhöhe begegnen, wo sie mit annähernd gleichen Waffen ausgestattet sind. Sie gibt ihm hingegen dort jedenfalls eine andere Gestalt, wo, wie etwa im Arbeitsrecht 5 oder im Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen 6, Verschiebungen der Gleichgewichte zwischen den Subjekten drohen oder schon eingetreten sind, die bewirken, daß diejenigen, die dort miteinander handeln, typischerweise nicht über annähernd gleiche Waffen verfügen; dort schützt und restabilisiert diese Rechtsordnung autonome Kernbereiche durch umhegende Heteronomie, deren Sinn es ist, Autonomie auch unter Bedingungen noch möglich zu machen, die dem autonomen Handeln feindlich sind. Auch die auf Autonomie gegründete Rechtsordnung also traut der selbstbestimmten Durchsetzungskraft der Menschen (die sie durchaus als autonome Subjekte begreift) nicht in allen Konstellationen über den Weg und sichert beispielsweise den Grundrechtsschutz durch objektive Prozeduralisierungen wie etwa den Richtervorbehalt ab, statt sich auf die Einwilligung der Betroffenen zu verlassen: Erst dem Richter, nicht schon dem Betroffenen wird zugetraut, beurteilen zu können, was der jeweilige Grundrechtseingriff „bedeutet“ und wie man sich ihm gegenüber verhalten soll.7 Das sieht auf den ersten Blick so aus, als anerkenne eine solche Rechtsordnung die Autonomie der Menschen nur im Prinzipiellen und in Sonntagsreden an und nähme ansonsten ihre Zuflucht sofort zu paternalistischen Einschränkungen autonomer Entscheidung, sobald es im Alltag konkret wird; es wird sich ja nicht leugnen lassen, daß in komplexen und unübersichtlichen Verhältnissen, wie sie die modernen Gesellschaften und folglich auch das moderne Recht kennzeichnen, die Anlässe zunehmen, am Durchblick und der Durchsetzungskraft „normaler“ Menschen zu zweifeln und ihnen deshalb heteronom beizustehen, auch wenn sie das nicht billigen (ja vielleicht gerade deshalb nicht billigen, weil sie die Verhältnisse nicht verstehen können).
5 Das Arbeitsrecht ist in Teilen der Disposition der Vertragsparteien entzogen. Als Beispiel mag der gesetzlich festgelegte Mindesturlaub dienen, § 3 Abs. 1 BUrlG. Darüber hinaus ist etwa ein Aufhebungsvertrag gemäß § 123 BGB wegen Drohung anfechtbar, wenn dem Arbeitnehmer für den Fall, daß er den Vertrag nicht abschließt, eine Kündigung in Aussicht gestellt wurde, ohne daß tatsächlich Kündigungsgründe vorliegen. 6 §§ 307 ff BGB setzen der Privatautonomie Grenzen – um sie gerade dadurch im Einzelfall zu schützen. Der in der Regel mächtigere Verwender von AGB ist zudem gehalten, seine Bedingungen eindeutig zu formulieren, denn Unklarheiten gehen gemäß § 305c Abs. 2 BGB zu Lasten des Verwenders. Bei einem Verstoß gegen §§ 307 ff BGB tritt die für den Einzelnen günstigere gesetzliche Regelung an die Stelle des Vertragsinhalts. 7 Alexander Kolz Einwilligung und Richtervorbehalt, 2006, passim, bes. S. 125 ff.
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Diese Annahme wäre freilich falsch. Auch in diesen Konstellationen wird das Prinzip der Autonomie bei der Gestaltung der Rechtsverhältnisse nicht etwa aufgegeben und durch heteronome Regelungen ersetzt; es wird nur anders loziert. Für alle diese Varianten gilt vielmehr, daß die Einschränkungen autonomen Handelns, die dort angebracht sind, Selbstbestimmung und Konsens in Wahrheit nicht einschränken oder gar abschaffen, sondern, im Gegenteil, auch unter widrigen Bedingungen erhalten und ermöglichen wollen: Was das autonom handelnde Subjekt als paternalistische Intervention in seine Handlungsfreiheit erfahren mag, ist nichts anderes als der gut gemeinte – und regelmäßig auch gelingende – Versuch, dieses Subjekt vor Rechtsfolgen aus Situationen zu bewahren, für deren Bestehen seine autonome Ausstattung typischerweise nicht hinreicht: sein Gegenüber, der mächtige Konzern oder die drohende Polizei, ist nicht auf seiner Augenhöhe, ist schneller, erfahrener und kundiger als er und deshalb imstande, ihn zu überfahren: seine Entscheidung zu durchkreuzen. Wenn hier überhaupt von Paternalismus die Rede sein soll, so hat diese Rede in diesen Zusammenhängen also keine kritische Potenz. Abgesehen von der Erbsünde jeglicher Typisierung im Recht, die im typisierten Grenzfall sinnlose, unpassende und ungerechte Anwendungen produziert und einem bestimmten Menschen durch gut gemeinte Einschränkung der Handlungsfreiheit unter die Arme greift, obwohl diese Arme stark genug gewesen wären, die Rechtsposition selber zu verteidigen, sind die hier besprochenen Vorkehrungen keine Einschränkungen autonomen Handelns, sondern das genaue Gegenteil; sie sind der – manchmal freilich mißlingende – Versuch, Autonomie zu schützen. Also sind alle diese rechtlichen Antworten auf Konstellationen gefährdeter Autonomie nicht ein Einwand gegen, sondern geradezu ein Beleg für die Ansicht, daß Selbstbestimmung und Konsens jedenfalls in einer reifen Rechtskultur, in einer auf Autonomie basierten Rechtsordnung wie der unsrigen als Existenz- und Strukturbedingung angesehen werden dürfen. d. Gehorsam All das scheint sich freilich spätestens dann gründlich zu ändern, wenn man sich den Gebieten des öffentlichen Rechts nähert, die den Eindruck erwecken, sie hätten mit Konsens schon von vorneherein deshalb nichts zu tun, weil sie auf Unterwerfung angelegt sind, auf Gehorsam und Anpassung; die rechtliche Bedeutung von Konsens scheint an den Grenzen des Privatrechts zu enden. Das Strafrecht ist das beste Beispiel für solche Konstellationen, die Autonomie nicht als Prinzip von Rechtsbegründung zulassen, die Rechtsbegründung nicht in die Hände von Subjekten legen. Zwar ist auch das Strafrecht ohne Zweifel und ohne Einschränkung ein fugenlos eingepaßter Teil unserer auf Autonomie gegründeten Rechtsordnung; gleichwohl macht das Konsensprinzip hier offenbar keinen Sinn – jedenfalls nicht als Rechtsquelle:
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Das Strafrecht, so sehen wir das gemeinhin,8 schützt Rechtsgüter von Menschen und der Allgemeinheit, und es grenzt dabei Freiheitsräume der Bürger gegeneinander ab. Es verbietet Übergriffe in fremdes Recht, es verfolgt und sanktioniert Normverletzungen, es erstrebt langfristig die Bestandskraft und die Wirksamkeit von Normen, ohne die wir nicht miteinander leben wollen. In diesem Konzept ist von Konsens keine Rede; die Rede ist von Drohung, von Grenzziehung, bestenfalls von Vertrauen. Daß es auch für Strafrechtsnormen legiferierende Verfahren gibt, die man konsensual nennen könnte, daß über normative und faktische Geltung von Strafrechtsnormen ein Konsens in der Bevölkerung bestehen mag, daß auch die Regeln von Strafverfahren und Strafvollzug von einer verbreiteten Zustimmung getragen sind, ändert nichts daran, daß es im Strafrecht um Unterordnung geht und nicht um Konsens. Würde man auch im Strafrecht von Konsens sprechen wollen, so beruhte dies auf einem anderen Verständnis von Konsens als dem, von dem hier bislang die Rede gewesen ist. Das wäre ein Konsens, der Rechtsnormen von außen schafft, begründet und trägt, nicht aber „Konsens im Strafrecht“: Strafrecht entsteht prinzipiell nicht aus der Übereinkunft derer, auf die es Anwendung findet. Es entsteht bis in seine Einzelheiten aus dem Willen des Souveräns, es ist die hoheitliche Bestimmung der Grenzen autonomen Handelns und der Folgen von Grenzverletzung; es erwartet von denen, an die es sich wendet, typischerweise 9 nicht aktives gesetzeskonformes Handeln und stellt ihnen für ein solches Handeln auch keine Formen zur Verfügung; es erwartet vielmehr das Unterlassen krimineller Aktivität und ist ein eher mechanistisches als kommunikatives Gebilde. Es arbeitet mit Verboten, nicht mit Angeboten. Das gilt prinzipiell für das materielle Strafrecht. Für das Strafprozeßrecht gilt prinzipiell nichts anderes – bis auf die triviale, aber in unserem Kontext möglicherweise folgenreiche 10 Besonderheit, daß es im formellen Strafrecht um die Regulierung eines beweglichen, geschichtlichen, nicht wiederholbaren und kommunikativ bestimmten Ereignisses geht: eines Verfahrens.11 e. Verständigung Sieht man freilich etwas genauer hin, so wird man gewahr, daß diese Einordnungen der Bedeutung von Konsens im Recht 12 in all ihrer Grobheit zwar grundlegende Strukturen zutreffend beschreiben mögen, daß sie aber 8
W. Hassemer/Neumann in: NK, StGB, Bd. 2, 2. Aufl. 2005, Vor § 1 Rn 108 ff; Rudolphi in: SK, StGB, Vor § 1 Rn 2; Baumann/Weber/Mitsch AT, 11. Aufl. 2003, § 3 Rn 10 ff; Kühl, StGB, 25. Aufl. (2004), Vor § 13 Rn 4; Naucke Strafrecht, 10. Aufl. 2002, § 6 Rn 63. 9 Die Unterlassungsdelikte bestätigen als Ausnahme ebendiese Regel. § 13 StGB legt fest, daß ein Unterlassen nur zu bestrafen ist, wenn es einem Tun entspricht. 10 Dazu unten I.2.e.aa. 11 Dazu einstweilen meine Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. Aufl. 1990, S. 122 ff zum „szenischen Verstehen“. 12 Unter I.2.
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weder den Einzelheiten der Systeme ganz gerecht werden (aa.) noch imstande sind, historische Entwicklungen abzubilden (bb.). Sie brauchen zumindest Feinkorrekturen. Bei diesen Korrekturen konzentriere ich mich auf das Strafrecht; es ist ja unser Thema. Daß Konsens im Strafrecht durch Unterordnung und Gehorsam ersetzt werde, ist korrekturbedürftig zumindest in zwei Hinsichten, einer systemischen und einer historischen. Zum einen gibt sich das Strafgesetzbuch selber nicht als ein pur mechanistisches Verbotssystem; es ist durchsetzt mit Elementen der Verständigung, mit Versuchen der Beeinflussung und mit kommunikativ ausgerichteten Instrumenten; solche Instrumente sind für Konsense offen, manche scheinen gar darauf angelegt. Zum anderen wird man sagen können, daß die kommunikativen Elemente des Strafrechtssystems seit geraumer Zeit an Bedeutung gewonnen haben, daß dies kein Zufall ist und daß diese Tendenz sich offenbar fortsetzt. aa. System Unser System des materiellen Strafrechts ist nur an der Oberfläche ein Gerüst von Verboten und Strafdrohungen. Unter dieser Oberfläche finden sich zahlreiche und ganz unterschiedliche Ansätze, der Individualität der betroffenen Menschen gerecht zu werden, ja mit diesen Menschen zu kommunizieren. Die Strafzumessung verlangt nicht nur die Bewertung von Unrecht und Schuld, sondern auch der Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind (§ 46 Abs. 1 StGB), aber auch des Vorlebens des Täters, seiner persönlichen Verhältnisse, seines Verhaltens gegenüber dem Verletzten (§ 46 Abs. 2 StGB); das geht nicht ab ohne einen kommunikativen Kontakt von Angesicht zu Angesicht. Ein Verbotsirrtum wird nach dem Ob und dem Wie der Möglichkeiten des Handelnden zugerechnet, das Unrecht der Tat zu erkennen (§ 17 StGB); ein Rücktritt vom Versuch gewährt Straflosigkeit, wenn er „freiwillig“ war (§ 24 Abs. 1 StGB); denselben Erfolg erreicht das „freiwillige und ernsthafte“ Bemühen um die Verhinderung eines realen Schadens bei Vorfelddelikten wie etwa nach § 129 Abs. 6 StGB – alles Rücksichten auf das konkrete Individuum, alles Ansprachen des Strafrechts an den gefährlich Handelnden, alles kommunikative Botschaften, sich zu besinnen, den gefährlichen Weg zu verlassen und zum Ausgleich mit Milde rechnen zu dürfen. Das alles ist kontingent und nicht jeglichem Strafrechtssystem eigen. Es bringt, in seiner Gesamtheit, zum Ausdruck, daß dieses System Verständigung sucht: um gerecht zu urteilen, wie beim Verbotsirrtum und beim Rücktritt vom Versuch, oder um größeren Schaden zu verhindern, wie beim Rücktritt vom Versuch und bei den Vorfelddelikten. Zum „gerechten“ Urteilen gehört in unserer Rechtskultur die Rücksicht auf das handelnde Individuum,
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seine Möglichkeiten und Fähigkeiten in der konkreten Situation. Damit ist noch nicht das Niveau von Konsensen erreicht, kann von gleicher Augenhöhe keine Rede sein; immerhin läßt sich diese Rücksicht aber nur nehmen, wenn mit dem Individuum ein kommunikativer Kontakt zustande kommt. Unser System des formellen Strafrechts hingegen führt jedenfalls in die unmittelbare Nähe von Konsensen. So kann im abgestimmten Handeln von Gericht, Staatsanwaltschaft und Beschuldigtem nach § 153 a StPO ein Prozeß eingeleitet und betrieben werden, der unter definierten Voraussetzungen mit dem Verzicht auf die Verfolgung des staatlichen Strafanspruchs verläßlich zu einem Ende findet. Das ist nun zwar keine Übereinstimmung autonom handelnder Subjekte, wie wir sie gerade 13 betrachtet haben; die Möglichkeiten des Beschuldigten, seine Interessen durchzusetzen, sind durch das Gewaltverhältnis, innerhalb dessen er auch hier handelt, spezifisch reduziert. Es ist aber doch eine Situation, in der der Beschuldigte den Prozeß der Verfahrenseinstellung durch seine Zustimmung in Gang und durch Erfüllung der Auflagen und Weisungen zu Ende bringen kann. Daß das den gesetzlichen Voraussetzungen entsprechende und übereinstimmende Handeln der an diesem Prozeß Beteiligten „Recht schafft“, nämlich das Strafverfahren beendet, ist eine so nahe liegende Betrachtungsweise, daß der verbreitete Vorwurf 14 einleuchtet, ein solcher gesetzlich verordneter „Konsens“ lade zum „Handel mit Gerechtigkeit 15“ geradezu ein und passe nicht in Sinn und Struktur unseres Strafprozesses. Dies aber ist natürlich nicht die einzige konsensuale Struktur des Strafverfahrens; auch das Strafbefehlsverfahren ist ein Kandidat.16 Aber man muß weiter gehen und das gesamte Strafverfahren ins Auge fassen. Schon deshalb nämlich, weil es ein Verfahren ist, ist es von konsensualen Partikeln geradezu durchsetzt: Die Schritte, die im Strafprozeß zu gehen sind, können – von der Terminsbestimmung bis zur Strukturierung der Beweisaufnahme – nicht vollständig durch die Staatsgewalt jeweils erzwungen, sie müssen auch durch Verständigung vereinbar sein und regelmäßig vereinbart werden; bloß gewaltförmig könnte ein solches Verfahren nicht funktionieren, ja es wäre schon kein „Verfahren“, sondern eben Gewaltausübung. Viel deutlicher noch deutet auf Konsensualität im Strafverfahren der noch nicht hinreichend erforschte Umstand, daß hier nach informellen Programmen gehandelt wird, die den Akteuren normalerweise gar nicht ins Bewußtsein dringen, die aber handlungsleitend sind und auf das Handeln der anderen Beteiligten informell
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Vgl. oben I.2.a. Vgl. Harms Die konsensuale Verfahrensbeendigung, das Ende des herkömmlichen Strafprozesses? in: FS für Nehm, 2006, S. 289 (294 f); P.-A. Albrecht Kriminologie, 3. Aufl. 2005, S. 256 ff. 15 Klassisch: Karl F. Schumann Handel mit Gerechtigkeit, 1977. 16 Unter dem Konsensprinzip analysiert von Weßlau Konsensprinzip, S. 53 ff. 14
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abgestimmt.17 Das Strafverfahren ist nur zu einem kleinen Teil Text; es ist vor allem Geschehen, Szene, es ist unwiederholbares historisches Ereignis.18 Dieses Ereignis wird von autonom handelnden Individuen und Berufsträgern begonnen, aufgeführt und beendet – gewiß nach dem Spielplan, nach der Rollenverteilung und in den Grenzen des Rechts, aber doch gewählt und bezweckt. bb. Entwicklung Diese konsensuale Charakteristik des Strafrechts scheint kein ephemeres Phänomen zu sein; sie scheint vielmehr den Charakter einer reifen Rechtskultur 19 zur Geltung zu bringen und eher die Zukunft des Strafrechts zu kennzeichnen als seine Vergangenheit. Diese Charakteristik verbindet sich nämlich mit denjenigen Entwicklungen des strafrechtlichen Systems in Theorie und Praxis, die sich gegenüber den altertümlichen, tatorientierten, „objektiven“ Strukturen als „modern“ abheben. Dieses Strafrecht neigt sich den Menschen zu, fordert sie zum Handeln auf und honoriert Kooperation: Das derzeit unumschränkt herrschende Paradigma der Prävention 20 verlangt, jedenfalls in seiner zeitgenössischen Einkleidung, die langfristige Zustimmung der Menschen zum Dasein des Strafrechts, seinen Geboten und seinen Zielen; das Strafrecht will seine Normen kontrafaktisch sichern, auch wenn – ja gerade weil – sie immer wieder gebrochen werden.21 Diese Sicherung gelingt nur in den Köpfen und Herzen der Menschen, für die dieses Strafrecht gilt. Prävention tritt in dieser Sichtweise nicht mehr auf als Dressur und Abschreckung, sondern als Werbung um Vertrauen, um Rechtstreue und Einsicht. Die moderne Variante der „positiven Generalprävention 22“ ersetzt Drohung durch überzeugende Einwirkung. Sie braucht den kommunikativen Kontakt zu den Menschen und zielt auf deren Zustimmung. Der TäterOpfer-Ausgleich, die Kette von Versprechen milderer Behandlung bei „tätiger Reue“ in den neueren Tatbeständen des Besonderen Teils, die Mitwirkungs-
17 Einstweilen meine kleine Arbeit über Informelle Programme im Strafprozeß, StV 1982, 377 ff. 18 Nicht umsonst schreibt § 226 StPO die ununterbrochene Gegenwart der zur Urteilsfindung berufenen Personen vor (und § 230 II StPO sichert dieses Ziel gegenüber dem Angeklagten mit einem durchgreifenden Instrument). Ein Verstoß gegen diese Norm stellt gemäß § 338 Nr. 5 StPO einen absoluten Revisionsgrund dar. 19 Oben I.2.b. 20 Einzelheiten in meinem Aufsatz Strafrecht, Prävention, Vergeltung. Eine Beipflichtung, in: FS für Schroeder, 2006, S. 51 ff (55 ff). 21 W. Hassemer Fundamente und Grenzen des Strafrechts, in: FS für Nehm, 2006, S. 49 ff. 22 W. Hassemer Wozu und zu welchem Ende strafen wir? ZRP 1997, 316 (318 f); ders. Darf der strafende Staat Verurteilte bessern wollen? in: FS für Lüderssen, 2002, S. 221 (238 f); ferner mit weiterem Nachweis: W. Hassemer/Neumann in: NK, StGB, Bd. 1, 2. Aufl. 2005, Vor § 1 Rn 288 ff.
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pflichten von potentiellen Gehilfen bei der Kontrolle der Geldwäsche – dieses moderne Strafrecht erweckt den Eindruck, als werde es in dazu geeigneten Konstellationen die Gewaltförmigkeit seiner Durchsetzung (nicht geradezu aufgeben, aber doch) so lange zurückhalten, bis sich herausgestellt hat, daß kommunikative Einwirkung allein den Rechtsgüterschutz nicht gewährleisten kann. Eine langfristige Einordnung solcher Entwicklungen oder gar ihre verläßliche Bewertung fällt nicht leicht. Sie oszilliert zwischen menschenfreundlicher Rücksicht auf die betroffenen Personen und täuschender Verkleidung des Gewaltmonopols, zwischen konsensualer Hinwendung und strategischem Einsatz von Scheinkonsensen. Eine solche Bewertung muß hier aber nicht getroffen werden. Es reicht hin zu sehen, daß die Konsensorientierung ein modernes Paradigma auch des Strafrechts ist, und begründet zu vermuten, daß diese Orientierung die Legitimationsprobleme, die dem Strafrecht schon immer und notwendigerweise anhaften, eher vermindern als vergrößern wird: In einer Gesellschaft, die, wie unsere, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit für ein Verfassungsprinzip hält,23 die den Charakter des Strafrechts, ultima ratio der Problemlösung zu sein, wenigstens noch aufrecht erhält 24 und die konsensuale Einwirkung gegenüber staatlicher Gewaltausübung prinzipiell als milderes Mittel einordnet- in einer solchen Gesellschaft wird der Konsens des strafenden Staates mit demjenigen, von dem er Gehorsam verlangt,25 eine kostbare Ressource sein: Die Zustimmung des Betroffenen in Verfahren und Ergebnis eröffnet dem strafenden Staat ein Reservoir an Legitimation, das er bei gewaltförmiger Prozedur niemals erschließen könnte.26
II. Eine Ressource für den Strafprozeß? Angesichts dieser Entwicklungen ist es nicht verwunderlich, daß Zustimmung und Konsens als Ressource auch des modernen Strafprozesses in den Blick kommen. Er könnte diese Ressource in seinem derzeitigen Zustand gut gebrauchen. Dieser Zustand ist nämlich gekennzeichnet durch einen tiefen Graben zwischen den Vorstellungen über ein gutes Strafverfahren. Der Graben zieht sich seit langer Zeit durch die Einschätzungen in der
23 BVerfGE 19, 342 (348 f); 69, 1 (35); 90, 145 (173); 92, 277 (279); 111, 54 (82); SchulzeFielitz in: Dreier, GG, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 20 Rn 179. 24 BVerfGE 39, 1 (47); 88, 203 (258); Naucke Strafrecht, 10. Aufl. 2002, S. 39 f; Baumann/Weber/Mitsch Strafrecht AT, 11. Aufl. 2003, § 3 Rn 19; Arthur Kaufmann Subsidiaritätsprinzip und Strafrecht, in: FS für Henkel, 1974, S. 89 (102). 25 Oben I.2.d. 26 Vgl. die Überlegungen oben I.1., I.2.a.
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Praxis, der Dogmatik und der Politik des Strafverfahrens, und er ist jüngst sogar aufgebrochen unter den professionellen Zusammenschlüssen der Strafverteidiger. 1. Die Not der Absprachen Der Streit über die Wünschbarkeit und die Zulässigkeit von Absprachen im Strafprozeß ist alt, heftig und publikationsträchtig. Er liegt über der Wissenschaft 27, der Praxis 28 und der Politik 29 des Strafverfahrensrechts. Er hat ungewöhnlich weit auseinander liegende Pole; die einen halten den „Deal“, wie er abschätzig auch genannt wird, für den Gottseibeiuns, der die fundamentalen Garantien eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens, wie insbesondere die Wahrheitssuche, das rechtliche Gehör und die Öffentlichkeit verzehrt,30 die anderen begrüßen ihn als probates, ja einziges Mittel, der Verfahrensflut Herr zu werden,31 und wiederum andere (freilich nicht viele) können den konsensualen Elementen, die der „Deal“ mit sich führt, etwas abgewinnen.32 27
Jahn Die Konsensmaxime in der Hauptverhandlung. Zur Rekonstruktion des Amtsermittlungsgrundsatzes in § 244 Abs. 2 StPO unter Berücksichtigung der aktuellen Gesetzesentwürfe zur Verständigung im Strafverfahren, ZStW 118 (2006) 427 ff; Satzger Braucht der Strafprozeß Reformen? StraFo 2006, 45ff (48ff); Weßlau Absprachen und Strafverteidigung, StV 2006, 357 ff; Lie Lien Analytische Untersuchung der Ursachen des andauernden Streits um Absprachen. Kritik an den bisherigen Legitimationsmodellen der Absprachen aus sprachanalytischer Sicht, GA 2006, 129 ff. 28 BGHSt 50, 40 (GSSt 1/04 v. 3.3.2005) mit eher restriktiven Regelungen und der Pflicht des Gerichts zu einer „qualifizierten Belehrung“ hinsichtlich der Entscheidungsfreiheit über Rechtsmittel; dazu Saliger JuS 2006, 8 ff; „Eckpunkte für eine gesetzliche Regelung der Verfahrensabsprachen vor Gericht“, beschlossen von den Generalstaatsanwältinnen und Generalstaatsanwälten in Karlsruhe am 24.11.2005; dazu NJW 2006, XVIIf. 29 Referentenentwurf eines Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren, Stand 18.5.2006 mit Vorschlag eines neuen § 257c StPO; vgl. auch Jahn/Müller Der Widerspenstigen Zähmung. Aktuelle Gesetzgebungsvorschläge zu den Urteilsabsprachen im Strafprozeß, JA 2006, 681ff; Landau/Bünger Urteilsabsprache im Strafverfahren, ZRP 2005, 268 ff; Widmaier Die Urteilsabsprache im Strafprozeß – ein Zukunftsmodell? NJW 2005, 1985 ff; Bittmann Gesetzliche Regelung der Verständigung im Strafverfahren, DRiZ 2007, 22 ff; Altenhain/Hagemeier/Haimerl Die Vorschläge zur gesetzlichen Regelung der Urteilsabsprachen im Lichte aktueller rechtstatsächlicher Erkenntnisse, NStZ 2007, 71 ff. 30 Exemplarisch Schünemann ZRP 2006, 63 f; Prantl Nicken Sie, nicken Sie! in: SZ v. 14.11.2006; ders. Basar und Recht, in: SZ v. 3.2.2007; Harms Die konsensuale Verfahrensbeendigung, das Ende des herkömmlichen Strafprozesses? in: FS für Nehm, 2006, S. 289 ff; vgl. zur Bedeutung der Formenstrenge im Strafprozeß: Hamm Ist Strafverteidigung noch Kampf? NJW 2006, 2084 ff. 31 Exemplarisch BGHSt 50, 40 (GSSt 1/04 v. 3.3.2005); Widmaier Die Urteilsabsprache im Strafprozeß – ein Zukunftsmodell? NJW 2005, 1985 ff; Dahs Absprachen im Strafprozeß, NStZ 1988, 153 ff; ferner umfangreiche Nachweise bei Meyer-Goßner StPO, 49. Aufl. 2006, Einl. Rn 119 ff (119h). 32 Exemplarisch Lüderssen Die Verständigung im Strafprozeß, StV 1990, 415 ff; Bussmann/Lüdemann Rechtsbeugung oder rationale Verfahrenspraxis? – Über informelle Absprachen in Wirtschaftsstrafverfahren, MSchrKrim 1988, 81 (90).
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Die Rechtsprechung und die Rechtspolitik bemühen sich, bislang eher vergeblich, um pragmatische Einhegung und Schadensbegrenzung. Das braucht hier nicht ausgebreitet zu werden.33 Vielmehr möchte ich der Frage nachgehen, warum in den Auseinandersetzungen über Absprachen im Strafprozeß nunmehr ausgerechnet das Konsensprinzip in den Vordergrund gestellt wird; die Antwort kann schon ein Stück der Bedeutung beleuchten, die das Konsensprinzip für den Strafprozeß derzeit hat. Vordergründig beantwortet sich diese Frage einleuchtend mit dem Hinweis auf die Selbstverständlichkeit, daß die Praxis des „Deals“ die konsensualen Momente des Strafverfahrens gewaltig stärkt: Wo ansonsten langwierige Wahrheitssuche, kunstgerechter Streit über die Beweisaufnahme und sorgfältige Abmessung der gerechten Strafe veranstaltet werden, ebnen die Absprachen diese penibel geordneten Strukturen kurzerhand ein und setzen an deren Stelle die konsensuale Verständigung über Ablauf und Ergebnis des Verfahrens; sie ersetzen Prozeduren durch Konsens. Sie sparen Zeit und Geld – und das auch noch mit der Billigung des Betroffenen, um dessen Schutz sich das strafrechtliche Verfassungsrecht so nachdrücklich sorgt, und sie stellen sich als ein Setting dar, das den betroffenen Menschen mehr in den Mittelpunkt rückt. Eine famose Konstruktion, ein normativer Durchgriff. Hintergründig dürfte ein anderes Motiv weit wirkmächtiger sein: Konsens schafft Rechtfertigung.34 Daß derjenige, gegen den sich im Eingriffsrecht der Eingriff richtet, diesem Eingriff zustimmt, ist, wie wir gesehen haben,35 jeglichem Strafrecht schon jenseits der Absprachen eine gewaltige normative Entlastung. Im Feld der Absprachen steigert sich die legitimierende Kraft des Konsenses noch einmal beträchtlich: Politik, Theorie und Praxis der Absprachen im Strafprozeß sind auf Dauer außer Stande, einer fundamentalen Kritik vollständig zu entgehen: daß sie in zentrale Grundsätze eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens systematisch eingreifen, nämlich in Wahrheitsermittlung, Unschuldsvermutung, Verfahrensöffentlichkeit. Im Eingriff in diese Grundsätze besteht die Pointe der Absprachenpraxis; würden sie den Eingriff unterlassen, hätten sie damit ihre Pointe aufgegeben und ihre Ziele verlassen: Reduktion überkomplexer Verfahrenspflichten, Abkürzung komplexer Prozesse, Bewältigung der Verfahrensflut. Die Rechtfertigung der Absprachenpraxis behauptet deshalb auch nicht, solche Eingriffe seien nicht zu befürchten. Die Rechtfertigung arbeitet vielmehr auf einer zweiten Ebene und trägt vor, solche Eingriffe seien gerechtfertigt – wegen ihrer Entlastungen, auf die heute nur noch verzichten 33 An meiner Meinung aus JuS 1989, 890 ff (Pacta sunt servanda – auch im Strafprozeß?) hat sich nichts Wesentliches geändert (s.a. Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 169 ff; Sicherheit durch Strafrecht, StV 2006, 321 ff [327]). 34 S. schon oben I.2.e.bb. 35 Oben I.2.e.bb. am Ende.
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könne, wer eine Gefährdung der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege in Kauf nehme. Das ist eine starke Behauptung, und sie ist nicht leicht zu belegen.36 Hier kann das Konsensprinzip helfen. Freilich nicht so, daß der dem Eingriff zustimmende Betroffene damit auch den Eingriff in die genannten Verfahrensprinzipien heilen könnte. Über so viel legítimierende Kraft verfügt er nicht; diese Prinzipien haben eine objektive Grundlage im Grundsatz des rechtsstaatlichen Verfahrens (Art. 20 Abs. 3 GG), über die ein Individuum nicht verfügen kann, auch wenn es im konkreten Fall der Betroffene ist. Aber doch so, daß der Eingriff angesichts der Zustimmung des Betroffenen in einem milderen Lichte erscheint. Die Prinzipien, denen die Absprachenpraxis zuwiderläuft, haben ja nicht nur den objektiven Gehalt der Sicherung rechtsstaatlicher Verfahren in ihrem Programm; sie haben sämtlich auch einen Blick auf denjenigen, der von einer Verletzung dieser Prinzipien unmittelbar betroffen wäre: hier ein auf ungesicherter Tatsachengrundlage vorschnell und im Geheimen Verurteilter. Eine solche personale Bedeutung vervollständigt nicht selten gerade im Strafrecht die objektive Garantie fundamentaler Prinzipien 37 – zu Recht: Eine Rechtskultur, die durch eine menschenrechtsorientierte Rekonstruktion von Rechtsbegründung gekennzeichnet ist,38 wird den Wert ihrer Grundsätze für die Menschen nicht ausblenden, sondern, wo das naheliegt, in den Mittelpunkt stellen. Sie wird, am Beispiel der Absprachen, normativ ins Gewicht fallen lassen, ob der Betroffene dem Procedere und seinem Ergebnis zustimmt oder nicht. Und so wird sie am Ende geneigt sein, im Abwägungsprozeß einer guten Strafverfahrenspolitik das Konsensprinzip für ein Schwergewicht zu halten. Daß der Betroffene dem Eingriff zustimmt, macht den Eingriff zumindest leichter.
36 Eine andere Form von „Rechtfertigung“, die hofft, man könne der Absprachenpraxis durch (Teil-)Formalisierung die bedrohlichen Zähne ziehen, verdient diese Bezeichnung nicht und wird von Weßlau Konsensprinzip, S. 9 u. ff mit Recht als „Scheinlösung“ bezeichnet. 37 So versteht das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung beispielsweise das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG (§ 1 StGB) durchaus objektiv als Verwirklichung von Rechtssicherheit und Gewaltentrennung, übersieht aber nicht die Bedeutung dieses Gebots für die betroffenen Menschen: Das Gebot schütze „zur Wahrung ihrer Freiheitsrechte das Vertrauen der Bürger, daß der Staat nur dasjenige Verhalten als strafbare Handlung verfolgt und bestraft, das zum Zeitpunkt der Tat gesetzlich bestimmt war“, und: „Das Grundgesetz will auf diese Weise sicherstellen, daß jedermann sein Verhalten auf die Strafrechtslage eigenverantwortlich einrichten kann und keine unvorhersehbaren staatlichen Reaktionen befürchten muß.“ (BVerfGE 105, 135 (153) mwN). 38 Oben I.2.b.
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2. Der Streit der Strafverteidiger Ich war nicht dabei, habe mich auch bei niemandem danach erkundigt, kann mir aber gut vorstellen, daß es diese Entlastungsversprechen des Konsensprinzips waren, die dem Strafrechtsausschuß der Bundesrechtsanwaltskammer die Zunge gelöst und ihn bewogen haben, die traditionelle Zurückhaltung der Strafverteidiger gegenüber Urteilsabsprachen im Strafprozeß aufzugeben und einen begründeten Vorschlag einer gesetzlichen Regelung vorzulegen.39 Man spürt die Erleichterung, die sich ausgebreitet hat, als der Konsens plötzlich seine helfende Hand zu einer „spezifischen Legitimation“ bot, und man verfolgt mit hermeneutischer Verwunderung die hymnischen Epitheta, die den Konsens im Strafprozeß begleiten: „Konsens schafft Frieden“. Er gilt, basierend „auf freiwilliger Kommunikation und freiwilligem Entschluß“, als „spezifische Richtigkeitsgewähr des im Abspracheverfahren erzielten Verfahrensergebnisses“. Das Konsensprinzip ist ein „legitimierendes Prinzip“ im Kontext mit Rechtsfrieden und Gerechtigkeit und hat heilsame Wirkungen: Es ist „nicht … grundsätzlich strukturfremd“, weil es im Modell des Prozeßrechtsverhältnisses einen Vorgänger hatte und im Gesetz Vorbilder.40 Es verhindert die „Sanktionsschere“ und den „Dealzwang“ zugunsten „Kommunikation und Offenheit zwischen den Verfahrensbeteiligten“ und befördert „eine Stärkung der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung gegenüber dem Gericht“. Es ermöglicht eine schlüssige Minimierung von Aufklärungsrügen: „Wer einer begrenzten Aufklärung freiwillig zustimmt, kann nicht beanspruchen, eine solche später zu rügen.“ Freilich muß der Gesetzgeber „sicherstellen, daß die Freiheit der Willensentschließung des Beschuldigten für oder gegen eine Urteilsabsprache gewahrt ist“. Seine „inhaltliche Grenze“ findet das Konsensprinzip „in der Gewährleistung der allgemeinen Strafgerechtigkeit“. Die Antwort aus Verteidigermund hat nicht lange auf sich warten lassen. Der Strafrechtsausschuß des Deutschen Anwaltvereins hat den Kollegen heftig widersprochen und dabei insbesondere das Konsensprinzip aufgespießt.41 Hier würde einer Entformalisierung des Strafverfahrens das Wort geredet, die richterliche Aufklärung als Prinzip über Bord geworfen, falsche Vorbilder aufgeführt. Das Konsensprinzip passe nicht in die „dogmatische
39 BRAK-Stellungnahme vom September 2005, veröff. u.a. in ZRP 2005, 235 ff. Berichterstatter: Reinhold Schlothauer, Werner Beulke, Alexander Ignor und Hans-Joachim Weider; Vorsitz: Gunter Widmaier. 40 Genannt werden §§ 153, 153a, 265a, 407 ff StPO; §§ 46 Abs. 2, 46a, 56b Abs. 3, 56c Abs. 4 StGB. 41 Soll der Gesetzgeber Informelles formalisieren? Positionspapier zu dem von der Bundesrechtsanwaltskammer vorgelegten Vorschlag einer gesetzlichen Regelung der Urteilsabsprachen, veröff. u.a. in StraFo 3/2006, 89 ff; Berichterstatter: Rainer Hamm; Vorsitz: Eberhard Kempf.
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Architektur des bisherigen Strafprozeßrechtsverständnisses“. Frieden lasse sich auch, und besser, durch eine „regelgeleitete Streitkultur“ schaffen, und das Kräfteverhältnis zwischen den Verfolgungsbehörden und dem Beschuldigten lasse sich „eher als (geregeltes) Gewaltverhältnis denn als ein konsensuales Rechtsverhältnis begreifen“. Im Übrigen würden sich die heilsamen Wirkungen, die mit dem Konsensprinzip verknüpft werden, entweder nicht einstellen oder sich sogar in ihr Gegenteil verkehren.42 Das ist ein lehrreicher Streit. Er führt die zentralen Argumente für und gegen Absprachen im Strafprozeß in durchsichtiger Ordnung auf, spiegelt sie an einer für diesen Gegenstand relevanten Professionalität und offenbart dabei die Vorverständnisse und die empirischen Annahmen, die, sonst ungesagt, den Argumenten zugrunde liegen. Daß Strafverteidiger sich mit Strafverteidigern streiten, die sich über Grundlagen, Ziele und auch viele Einzelheiten ihres beruflichen Handelns ansonsten weitgehend einig sind, stellt den Streitgegenstand in ein grelles Licht und konturiert ihn in seltener Deutlichkeit. Daß der Streit gerade jetzt ausgebrochen ist, regt Überlegungen zum aktuellen Zustand der Rechtfertigung strafverfahrensrechtlicher Eingriffe an.43 3. Die Kraft des Konsenses All diesen Anregungen kann ich hier nicht systematisch nachgehen. Ich kann nur fragen, ob der Konsens im Strafprozeß die dirigierende und legitimierende Kraft hat, wie sie ihm neuerdings zugeschrieben wird. Daß der Konsens, wie im Alltag,44 so auch im Strafverfahren, wie in jeglichem Verfahren zwischen Menschen, eine dirigierende Kraft hat, ja daß wir auf diese Kraft angewiesen sind, solange wir miteinander verfahren,45 bleibt richtig. Die Abstimmung verschiedener Interessen und Sichtweisen, die Zustimmung zu Verfahren und Verfahrensergebnissen sind die Treibriemen, ohne die das Gefährt „menschliches Miteinander“ nicht fährt. Auch nicht im Strafverfahren. Dort mögen die Einzelheiten nach Prozeßklima, Prozeßgegenstand, Prozeßbeteiligten und vielen anderen Parametern stark und folgenreich differieren: der Strafprozeß ist, unbeschadet dieser Differenzen, mit konsensualen Partikeln durchsetzt, sie tragen ihn und machen ihn möglich.
42 Vgl. auch Hamm Ist Strafverteidigung noch Kampf? NJW 2006, 2084 ff; dens. Ist die Entformalisierung des Strafrechts und des Strafprozeßrechts unaufhaltsam? in: Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie Frankfurt a.M. (Hrsg.) Jenseits des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2007, S. 521 ff (538 ff). 43 Vgl. oben I.2.a., b., e.bb. 44 Oben I.1. 45 Vor allem oben I.2.e.aa.
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Dazu gibt es keine Alternative – schon gar nicht die Gewaltförmigkeit. Daß die Ordnung des Strafverfahrens „am Ende“, wenn konsensuale Mittel nicht mehr verfangen, gewaltförmig durchgesetzt werden darf und faktisch auch durchgesetzt werden kann, macht das Strafverfahren nicht als ganzes zu einer gewaltförmigen Veranstaltung: Die Gewalt, die notfalls zur Hand ist, umhegt die konsensualen Partien, ja macht sie erst möglich. Sie schafft eine gesicherte Ordnung, in der sich das Verfahren gewaltlos entfalten kann.46 Konsens ist auch im Strafverfahren eine dirigierende Kraft. Von einer legitimierenden Kraft hingegen wird man so einfach nicht sprechen können,47 dies wäre eine allzu voraussetzungsreiche Redeweise. In meinen Augen sind diese Voraussetzungen so zahlreich, so komplex und so wenig gesichert, daß man diese Rede nicht führen sollte. Dafür gibt es zumindest drei Gründe: einen epistemischen, einen normativen und einen pragmatischen. „Konsens schafft Legitimation“.48 „Vielleicht ja“, wäre meine Antwort, „wenn es denn einer ist.“ Ob es einer ist, wird uns in einem so hohen Maße fast immer verborgen bleiben, daß die Annahme, eine Verurteilung sei durch Konsens gerechtfertigt, kaum jemals belastbar ist. „Konsens“ ist, wie etwa auch „Freiwilligkeit“, „Inkaufnehmen“ oder „Billigung“, ein Dispositionsbegriff; 49 er hat einen Gegenstand, den man nicht greifen und nicht sehen kann wie eine Urkunde oder ein Grundstück, weil er sich hinter der Stirn eines Menschen verbirgt, im Fall des Konsenses sogar mindestens zweier Menschen. Um auf Dispositionen, wie etwa „Zustimmung“, schließen zu können, muß man einen komplizierten und gefahrenträchtigen Weg gehen. Man muß Indikatoren formulieren, die ihrerseits sichtbar, die vollständig und überdies dispositionsrelevant sind; sie müssen den Schluß verläßlich tragen, daß Zustimmung nicht nur behauptet oder zugeschrieben wird, sondern auch existiert. Sind die Indikatoren ihrerseits nicht sichtbar, so macht schon das ganze Schlußverfahren keinen Sinn. Sind sie nicht vollständig oder indizieren sie, oder einige von ihnen, etwas anderes als das, wonach gesucht wird, so kann der Schluß nicht verläßlich sein. Die Möglichkeiten falscher Zuschreibung sind reichhaltig.
46 Zu dieser Vorstellung von rechtlicher Regulierung, die auf Beziehungen, Auseinandersetzungen und Verfahren nicht durchgreift, sondern sie umhegt, die für Situationen des Scheiterns bereitsteht und den Akteuren, die das alles wissen und mit ihm rechnen, gerade dadurch Handlungsfreiheit verschafft, ausführlicher Hassemer/Reemtsma Verbrechensopfer. Gesetz und Gerechtigkeit, 2002, S. 168 ff. 47 Vgl. dazu auch Weßlau Konsensprinzip als Leitidee des Strafverfahrens, StraFo 2007, 1 ff. 48 Das ist der cantus firmus, der den Lobgesang des Strafrechtsausschusses der BRAK, ZRP 2005, 236, grundiert; vgl. oben II.2. 49 Ausführlich zur Struktur von Dispositionsbegriffen und ihrer Bedeutung in Strafrecht und Strafverfahren meine Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 183 ff.
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Wir sind, gerade im auf den Menschen konzentrierten Strafverfahren,50 an den Umgang mit Dispositionsbegriffen gewöhnt; subjektive Zurechnung oder die Glaubwürdigkeitsbeurteilung von Zeugen funktionieren anders nicht. Verantwortlich aber ist der Umgang mit diesen Instrumenten nur, wenn die Gefahren von Fehlschlüssen nicht nur abstrakt präsent sind, sondern sie die Suchverfahren auch praktisch anleiten; Dispositionsbegriffe verlangen Erfahrung, Umsicht und Selbstkritik. Beim Konsens im Strafverfahren liegen die Möglichkeiten falscher Zuschreibung auf der Hand, ja sie sind spezifisch gesteigert. Anders als im Alltagsleben, anders auch als bei zahlreichen sonstigen rechtlichen Verfahrenstypen ist ein Konsens im Strafprozeß typischerweise nur ein Teilkonsens, und er ist überdies nur bedingt: Die Zustimmung des Beschuldigten erstreckt sich regelmäßig nicht auf das Zustandekommen und die Durchführung des Verfahrens, und sie umfaßt nur selten die prozessuale Anwesenheit dessen, um dessen Zustimmung es geht; beides verdankt sich typischerweise der Staatsmacht, nicht dem freien Handeln des Beschuldigten; der würde lieber in Ruhe gelassen werden. Diese seine „Zustimmung“ steht also unter der Bedingung der überlegenen Macht des strafenden Staates zu zwingen, und sie ergeht nur zu Partikeln von Verfahrensgang und Verfahrensergebnis. Sie ist verständlich und erwartbar nur vor dem Hintergrund der drohenden gewaltförmigen Alternative eines längeren Verfahrens und einer strengeren Strafe. Daß angesichts dieser objektiven Umstände überhaupt von „Konsens“ die Rede ist, könnte man schon kühn nennen; beim Strafprozeß liegt „formalisierter Dissens“ näher als „Konsens“.51 Unter dem epistemischen Gesichtspunkt muß jedenfalls bezweifelt werden, daß dem strafenden Staat jemals die „Sicherung der Willensfreiheit aller Verfahrensbeteiligten“, der nicht nur „eine überragende“,52 sondern die alles entscheidende Bedeutung zukommt, verläßlich gelingen kann; eine Zustimmung, die nicht „willensfrei“ ist, ist nichts wert, und zur freien Entscheidung gehört auch der Durchblick. Gelingt dem Staat die Sicherung der Willensfreiheit nicht oder schreibt er die „freie“ Zustimmung fälschlich zu oder kann er sich der Richtigkeit der Zuschreibung dieser Disposition nicht sicher sein, so fehlt ihm schon deshalb jedes Recht, sich auf eine Rechtfertigung seiner Eingriffe durch Konsens zu berufen. Normativ kann eine Zustimmung des Beschuldigten zu Verfahrensgang und Verfahrensergebnis, selbst wenn sie zweifelsfrei bestünde, nur Unwesentliches rechtfertigen. Wesentliches ist seiner Zustimmung von Rechts wegen entzogen. Unser Strafverfahrensrecht stellt weder die Ordnung des Verfah50
Oben I.2.b., e. Ausführlich zu dem Bild vom Strafverfahren als „herrschaftsfreiem Diskurs“ meine Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 130 ff. 52 So der Strafrechtsausschuß der BRAK, ZRP 2005, 236. 51
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rens noch sein Ergebnis in die Zustimmung von irgendwem; es ordnet sie an und verteilt die Zuständigkeiten zu ihrer Herstellung. Der Beschuldigte hat kein Recht zum Anerkenntnis (§ 307 ZPO) des staatlichen Strafanspruchs, und selbst sein Geständnis bringt das Beweisverfahren nicht zwingend zum Abschluß.53 Das ist in der Struktur unseres Strafprozesses und in unseren Vorstellungen von einem fairen Strafverfahren tief begründet. Daß Konsens Frieden schaffe,54 ist im Bezug auf das Strafverfahren irreführend. Selbst wenn der Rechtsfriede am Ende das Ziel des Strafverfahrens sein sollte, so stellt er sich über einen Konsens der Beteiligten allenfalls mittelbar und allenfalls partiell her. Unmittelbar folgt er aus objektiven Kriterien: aus einem fairen Prozeß und einem gerechten Urteil. Daß konsensuale Elemente eingewoben sind,55 darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß Strafgerechtigkeit aus Gesetz und Recht entsteht, nicht aus Handel und Konsens. Pragmatisch liegt dem Konsens eine Rechtfertigung strafender Eingriffe des Staates deshalb fern, weil die Gefahr nicht auszuschließen ist, daß diese Konsensverfahren à la longue zum Ruhekissen strafjuristischer Aufmerksamkeit und Umsicht degenerieren. Die mittlerweile allenthalben beschworenen56 „schützenden Formen“, die das Strafverfahrensrecht und das strafrechtliche Verfassungsrecht bereitstellen, verlangen von denen, die sie handhaben, Zeit, Genauigkeit und Anstrengung; diese Formen werden nicht überleben, wenn rhetorische Übungen, taktische Finessen, strategische Mitteleinsätze und ergebnisorientierte Strafzumessung den Alltag strafjuristischer Professionen bestimmen. Schon jetzt verbirgt sich hinter den argumentativen Schutzschilden der Ökonomie und der Effizienz des Strafverfahrens die Neigung, es – aus Angst oder aus Bequemlichkeit – mit den Mühen einer formalisierten Strafrechtspflege nicht aufzunehmen und statt dessen eine Zuflucht bei Verfahren zu suchen, die sich schneller und einfacher erledigen lassen. Ökonomie und Gerechtigkeit aber spielen nicht in derselben normativen Liga, und daß sich schützende Formen, den konsensualen Kriterien folgend, nunmehr tatsächlich aus einer professionellen Arbeit an verläßlichen Indikatoren für „Zustimmung im Strafprozeß“ oder an der „Sicherung der Willensfreiheit“ des Beschuldigten entwickeln könnten, ist nirgendwo sichtbar.
53
Volk Strafprozeßrecht, 3. Aufl. 2002, § 23 Rn 12. Der Strafrechtsausschuß der BRAK weist in ZRP 2005, 236 unter 4. darauf hin, daß „das Konsensprinzip in einem engen Bezug zum Gedanken des Rechtsfriedens steht. Konsens schafft Frieden.“ Unter 9. wird ebenda freilich auch konstatiert: „Eine inhaltliche Grenze für das Konsensprinzip besteht in der Gewährleistung der allgemeinen Strafgerechtigkeit.“ Beides läßt sich nicht leicht zusammenführen. 55 Oben I.2.e. 56 Auch in ZRP 2005, 236 unter 6. 54
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III. Zusammenfassung Konsens ist ein Existenz- und Strukturprinzip unseres vergesellschafteten Lebens und auch des Rechts. Er dirigiert rechtliche Verfahren, auch das Strafverfahren. Als Rechtfertigung von Eingriffen des strafenden Staates aber reicht er nicht hin.
Das Auto im Garten und § 142 StGB Jochen Heidemeier
Seit Jahrzehnten bin ich Strafverteidiger auf dem platten Land. Einen großen Teil meiner Profession habe ich in foro vor den Strafrichtern bei den ländlichen Amtsgerichten zugebracht. Die haben weit vor allem anderen mit Trunkenheitsdelikten im Straßenverkehr, mit Schlägereien auf den dörflichen Zeltfesten und last but not least mit Unfallflucht – also, wie das jetzt seit einiger Zeit amtlich heißt, dem „Unerlaubten Entfernen vom Unfallort“ zu tun.1 Das letztere aber ist ein weites Feld!
I. Schon die Gesetzesgeschichte der Unfallflucht mit der Auswechslung ihrer ratio legis nach dem Kriege und des von ihr geschützten Rechtsgutes lässt tief blicken. Nachdem es verstreut einige ähnliche gesonderte Nebenvorschriften (vor allem für Berufskraftfahrer) gegeben hatte, tauchte mit der Verordnung vom 2. April 1940 erstmalig mit dem damaligen § 139a StGB (a.F.) die zunächst so genannte Fahrerflucht im Strafgesetzbuch auf.2 Roland Freisler, eine der grauenvollsten Figuren der deutschen Rechtsgeschichte, damals Staatssekretär im Reichsjustizministerium, hat der neuen Strafvorschrift, deren Text dem heutigen Abs. 1 Nr. 1 des § 142 StGB ähnelt, die Taufrede gehalten 3 und dabei in einem Riesenschwall von Worten die Unfallaufklärung als Gemeingut aller „gemeinschaftstreudenkenden Volksgenossen“ dargestellt, dessen Verletzung der Nichtanzeige eines Verbrechens ähnele. Dass die Norm die Nazizeit überdauert hat, haben viele kritisiert.4 Wenn heute in den Gerichtssälen noch oft zu dem Vorwurf aus § 142 StGB vom „feigen“ oder „gemeinen“ Täter, der ein charakterliches Defizit aufweise, die Rede ist, wäre
1 Die aktuelle Sprachschwäche des Gesetzgebers zeigt sich u.a. darin, dass er für Straftaten keine einfachen Schlagworte findet und in mehrwortige, im Sprachgebrauch schwer unterzubringende Umschreibungen ausweicht. 2 RGBI I 1940, 606. 3 Deutsche Justiz 1940, 525. 4 Siehe nur mwN Schünemann DAR 1998, 427.
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vielleicht der Hinweis lehrreich, dass dies die Charakteristika von Roland Freisler wortwörtlich wiederholt.5 Die Entstehungsgeschichte des § 139a StGB (a.F.) = § 142 StGB wird jedenfalls vom Nazi-Kollektivdenken geprägt. Damals spielte die Idee, ein Mensch müsse sich nicht selbst reinreißen, praktisch keine Rolle mehr. Die Eltern von § 142 StGB sind der Wert der völkischen Gemeinschaft und – so wörtlich – die Pflicht des Volksgenossen, die Tätigkeit von Polizei und Staatsanwaltschaft zu unterstützen. Diese nationalsozialistisch ausgerichtete Rechtsauffassung ist nach dem Krieg zu § 139a StGB (a.F.) erst zögernd und allmählich aufgegeben worden. Noch Ende 1953 vertrat der 1. Strafsenat des BGH 6 die Meinung, der Tatbestand der „Verkehrsunfallflucht“ bilde um der Verkehrssicherheit willen eine Ausnahme von der sonst straflosen Selbstbegünstigung und kodifiziere unabhängig davon eine besondere Verkehrspflicht. Zu diesen zweifelsohne öffentlichen Interessen beruft sich der Senat auf die Entscheidung des 3. Strafsenats des BGH vom März 1953,7 die ihrerseits dafür mehrere frühere Entscheidungen in Anspruch nimmt und auch ganz locker auf die gesetzgeberische Begründung aus dem Jahre 1940 verweist. Erst zwei Jahre später, 1955, wendet sich der 4. Strafsenat des BGH 8 zu (nunmehr) § 142 StGB dem unfallbedingten privaten Schaden eines anderen und damit einem Schutzgut der Norm zu, das bisher keine Rolle gespielt hatte. Zwar finde sich § 142 StGB im Strafgesetz unter den „Verbrechen und Vergehen wider die öffentliche Ordnung“, aber ohne Fremdschaden laufe § 142 StGB auf ein Gebot zur Selbstanzeige hinaus, das unserem Recht fremd sei. Wie unsicher sich der Senat bei diesem Schwenk aber doch noch war, wird daran deutlich, dass die Entscheidung betont, sich nicht damit beschäftigen und darüber befinden zu müssen, wenn „zwei zusammengestoßene Kraftfahrer sich an Ort und Stelle einigen und dann entfernen“. Der Streit zu den Strafzwecken des § 142 StGB dauerte noch an. 1990 konnte indes Lackner 9 inzwischen festhalten, es gehe bei § 142 StGB um die Unfallaufklärung, um damit (private) Schadenersatzansprüche zu sichern oder abzuwehren; zweifelsfrei würden „der Schutz der Rechtspflege sowie das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung und die Ausschaltung ungeeigneter Verkehrsteilnehmer“ von § 142 StGB nicht mehr (!) bezweckt“. Demnach korrespondiert bei der ausdehnenden Novellierung der Norm die Anordnung der nachträglichen Vorstellungspflicht damit, dass private Forderungen aus dem zugrunde liegenden Unfall und deren Durchsetzbarkeit geschützt werden sollen. Die neue Variante der tätigen Reue (§ 142 5 6 7 8 9
Elmar Müller Verteidigung in Straßenverkehrssachen, 5. Aufl., S. 46. BGHSt 5, 125. BGHSt 4, 144. BGHSt 8, 263. StGB, 19. Aufl., Rn 1 zu § 142 StGB.
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Abs. 2 StGB) in ihrer Beschränkung nur auf Schäden, zu denen es im ruhenden Verkehr in geringer Höhe kommt, gewinnt dagegen zur Sicherung der privaten Schadensersatzinteressen im Kern kontraproduktive Bedeutung: hält sich ein Unfallbeteiligter im Anschluss an einen Crash im normalen Straßenverkehr nach seiner Flucht von der Unfallstelle konsequent schweigend verborgen und meldet und macht er nichts, ergeben sich häufig Fallkonstellationen, in denen er unbestraft davon kommen kann. Wenn er jedoch zu seiner Beteiligung in Normalfällen Ross und Reiter verspätet nennt und auf diese Weise die Regulierung der gegnerischen Unfallschäden erst ermöglicht, riskiert er seine Bestrafung aus § 142 StGB und vor allem wegen der Indikation von § 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB den Verlust seiner Fahrerlaubnis samt Führerschein für unter Umständen mehrere Jahre. Ein anschließendes Verwaltungsverfahren bei der Straßenverkehrsbehörde mit dem Ziel, eine neue Fahrerlaubnis zu erhalten, erweist sich schließlich als eine (teure) Prozedur, deren Tücke und Zufall überhaupt nicht abzuschätzen sind. Wir reden deshalb nicht nur abstrakt davon, dass das Prinzip der straflosen Selbstbegünstigung vom Gesetz eingeschränkt wird, sondern die tägliche Wahrheit ist, dass viele Menschen in unserem Lande wegen Unfallflucht ihre Fahrerlaubnis für manchmal verdammt lange Zeit verlieren oder überhaupt nicht wiederbekommen, weil sie aus § 142 StGB für schuldig befunden worden sind. Und wer nur als Zeuge geschweige denn als Betroffener den hochnäsigen Rigorismus der Straßenverkehrsbehörden kennen gelernt hat, weiß, wovon ich hier schreibe. In meiner persönlichen Praxis allein haben sich mehrere Mandanten selbst das Leben genommen, weil sie von den Leuten in den Führerscheinstellen der Straßenverkehrsämter, gegen die sie sich, schlicht wie sie waren, von Mann zu Mann nicht wehren konnten, auf Null gebracht worden waren. Wer die Führerscheinstellen der Straßenverkehrsbehörden kennen gelernt hat, beginnt also seine Verkehrsstrafrichter zu schätzen. Dennoch: auch die Staatsanwälte und die Amtsrichter (von den Berufungsstrafkammern und den Strafsenaten der Oberlandesgerichte ganz zu schweigen) gehen gedanken- und rücksichtslos mit Menschen um, die der Unfallflucht beschuldigt werden. Sie sehen in ihnen praktisch immer Trunkenheitstäter, die die Unfallstellen verlassen haben, um nicht wegen Alkohol am Steuer zur Verantwortung gezogen zu werden. Polizeibeamte betrachten § 316 StGB oder § 315 c StGB einerseits und § 142 StGB andererseits als die Elemente einer Zwickmühle, der nach einem Unfall so schnell keiner entkommt: wer an Ort und Stelle bleibt, fällt der Blutprobe zum Opfer; wer abhaut, gegen den schnappt die Falle der Unfallflucht zu. So oder so, und entweder oder: der Führerschein des Beschuldigten verbleibt in der Ärmelstulpe des Polizisten, um dann in den Strafakten zu verschwinden. § 142 StGB bildet regelrecht ein Subsidiardelikt zu den Anti-Trunkenheits-Vorschriften. Ob ein Fremdschaden welcher Art und Höhe entstanden ist oder Schadensersatz zu-
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gunsten des Geschädigten als wenigstens gefährdet erscheint, ist ein Punkt, um den sich häufig erstmalig der Verteidiger kümmert. In den Augen und Köpfen der Strafverfolger bleibt es das primäre Ziel, den feigen Bösewicht aus dem Straßenverkehr zu eliminieren, der sich nicht mannhaft an der Unfallstelle selbst der Polizei ausliefert. Und ich glaube, dass auf dieser Ebene auch der Eifer vieler Strafrichter angesiedelt ist, mit dem sie Schuldsprüche aus § 142 StGB betreiben. Das Motiv der Justiz ist und bleibt, den Unfallflüchter in seiner Feigheit und Gemeinheit zu treffen. So empfinden es viele Anwälte, die als Verteidiger in Verkehrsstrafsachen arbeiten, und so muss ich es bestätigen.10 Daran, dass § 142 StGB nur und ausschließlich das Schadensregulierungsinteresse im Auge hat, denkt in der Praxis des Einzelfalles kein Polizist, kein Staatsanwalt und meist auch der Amtsrichter nicht. Der arme Rechtsgenosse, gegen den sich der Vorwurf der Unfallflucht wendet, wird jetzt vor allem ersatzweise dafür bestraft und mit dem Verlust seiner Fahrerlaubnis an einer sehr empfindlichen Stelle böse dafür gemaßregelt, dass er mit seinem Verschwinden die Feststellung seines vermuteten Alkoholdelikts vereitelt hat. Nun ist es in der Tat sicher so, dass das Motiv für viele Fälle von Unfallflucht darin besteht, dass die Täter realistisch Angst vor einer Blutprobe und vor deren Folgen, vor allem vor dem Verlust der Fahrerlaubnis, haben. Aber die Dinge liegen häufig auch ganz anders, wie die große Zahl derjenigen Fälle zeigt, in denen Menschen, die als Beteiligte nach einem Unfall dessen Ort und Stelle verlassen, alsbald von der Polizei gestellt werden und dann wider Erwarten alkoholfrei (und – wie man leider heutzutage berücksichtigen muss – auch frei von Drogen) sind. Sie fahren von den Unfallstellen weg, weil sie sich plötzlich von dem Geschehen überfordert fühlen, weil sie von unbestimmter Angst übermannt werden, ja, weil sie nicht wissen, was jetzt passiert, und was sie machen sollen. Ratlosigkeit und der Drang, dem Schwierigen und dem Unangenehmen auszuweichen, motivieren anscheinend häufiger als gedacht eine irgendwie panische Flucht (die übrigens sehr oft nach Hause führt, ganz egal, ob die Betrunkenen oder die Ängstlichen abhauen. Der Mensch ist halt ein Nestflüchter!) Dabei denkt wohl kaum einer dieser Täter – welchen Genres auch immer – in dieser Situation an das Schadensersatzinteresse anderer Geschädigter und an dessen Vereitelung. Deutlich wird, dass die Auswechslung des Strafgrundes des § 139 StGB (a.F.)/§ 142 StGB von einem Delikt gegen die Volksgemeinschaft und deren Justiz zu einem Vermögensgefährdungsdelikt, das private Interessen schützt, zwischen der Geburtsstunde der Vorschrift im Jahre 1940 und ihrer ununterbrochenen Fortwirkung im Rechtsstaat seit 1945 und 1949 im Kern ein
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Elmar Müller aaO Rn 33.
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Etikettenschwindel ist und bleibt. Was Freisler dem § 139 StGB (a.F.) an der Wiege gesungen hatte, konnte später nach dem Umbruch natürlich unmöglich Geltung behalten und musste in der ratio legis ausgewechselt werden. Aber § 142 StGB ist trotzdem ein Wechselbalg geblieben: wie wäre es sonst zu verstehen, dass die Norm ein Offizialdelikt geblieben ist, das an einen Schuldspruch aus § 142 StGB die gesetzliche Indikation zur Entziehung der Fahrerlaubnis (§ 69 Abs. 2 Nr. 3 StGB) anknüpft und das bei der letzten Novellierung nur bei den Bagatellunfällen auf dem Parkplatz („ruhender Verkehr“) mit tätiger Reue ein Absehen von Strafe ermöglicht, aber im Normalfall auch gegen den Willen des Geschädigten Strafen und Maßnahmen nicht zu knapp legitimiert. Und das alles bei einem Vermögensgefährdungsdelikt! Dies alles vermag letztlich nicht zu überzeugen. § 142 StGB gehört auch nach den kosmetischen Operationen, die der Gesetzgeber an ihm vorzunehmen versucht hat, „zu den am meisten verunglückten Bestimmungen des Besonderen Teils“ des StGB.11 Darauf, dass eine grundlegende Verbesserung der Vorschrift in absehbarer Zeit auf dem Programm stünde, werden wir außerdem nicht hoffen dürfen. Der Gesetzgeber scheint vorläufig nicht die Kraft aufzubringen, über die Anpassung des Straf- und des Strafprozessrechts an die Üblichkeiten von Europa und insbesondere über die atemlosen Reaktionen auf die uns drohende Terrorgefahr hinaus die Dinge, die im Straßenverkehrsstrafrecht für jedermann aktuell und schon seit längerem von Übel sind, zu vernünftigen Regelungen zu novellieren. Weil das so ist, muss die Praxis wenigstens Ernst damit machen, dass die Rechtsprechung zwar nach längerem Tasten, aber inzwischen doch schon vor Jahrzehnten zu der einhellig gesicherten Rechtsgutsbestimmung von § 142 StGB gelangt ist: es geht nur und ausschließlich um den Schutz der Regulierungsinteressen zum Ersatz des Schadens, der bei und infolge eines Verkehrsunfalls eingetreten ist.
II. Allein in meiner praktischen Tätigkeit als Verteidiger gibt es im Moment zwei Fälle (der eine ist gerade weder als Fleisch noch als Fisch gegessen und mit einer Opportunitätsentscheidung abgeschlossen worden; der zweite läuft noch), die zeigen, dass die Frage nach dem geschützten Rechtsgut und die konsequente Beschränkung darauf eine wesentliche Voraussetzung für eine vernünftige Lösung bilden.
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Cramer/Sternberg-Lieben bei Schönke/Schröder, 27. Aufl., Rn 1 zu § 142 StGB.
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1. Familie Kropp hat auf dem Dorf ein schönes stattliches Anwesen. Die Kreisstraße führt vorbei, aber zwischen ihr und dem alten Fachwerkhaus liegt der große Garten. Kropps schlafen nachts den Schlaf der Gerechten. Luise meint jetzt zwar, was poltern gehört zu haben, aber schlummert weiter: das waren bestimmt die Katzen in den Spalieren. Morgens sitzt man beim Kaffee. Heinrichs Blick fällt in den sonnenbeschienenen Garten. Donnerwetter – er muss sich die Augen reiben: mitten auf dem Rasen liegt ja auf der Seite ein rotes Auto! Heinrich und Luise kommen mir nichts dir nichts in die Puschen und in den Garten. Tatsächlich: da ist es, das rote Auto, das auf der Seite liegt: vorn ist es ganz kaputt, aber es sagt nichts. Und um Himmels willen: wie sieht denn der Garten aus! Der Zaun zur Straße, erst letztes Jahr neu gemacht, liegt zertrümmert auf den schönen Büschen mit ihren noch schöneren Blüten. Alles zerfetzt und zerrissen. Der Rasen tief zerfurcht. Und dort ist außerdem der wunderbare Tulpenbaum zerschmettert zu Boden gestürzt. Mutter und Vater Kropp haben Tränen in den Augen. Tiefe Erschütterung. Und wo ist der junge Flegel von Autofahrer? Abgehauen! Heinrich Kropp kann bei seinem Anruf bei der Polizeistation im nächsten Marktflecken vor Aufregung kaum sprechen. Der Polizist, mit dem er am Telefon redet, beruhigt ihn: wir kommen gleich. Und es dauert kaum fünf Minuten, dass der Polizeistreifenwagen bei Kropps auf den Hof biegt. Die beiden netten Polizeibeamten bleiben ganz cool. Bloß keine Aufregung. Am verunglückten Auto sind ja noch die Kennzeichen dran. Das kriegen wir schnell raus, sagen die Polizisten, wer das war. Schreiben Sie alles auf, was Sie an Schaden haben, sagen sie zu Kropps, und weg sind sie. Unterwegs ermitteln die Polizisten gleich per Funk via Kennzeichen, wer das Auto in Kropps Garten gefahren hat. Es gehört ins selbe Dorf und dem Sohn von Bauer Schmidt. Dorthin fährt der Streifenwagen sofort. Bauer Schmidt kommt mit misstrauischer Miene aus der Dielentür. Sie möchten Erwin, seinen Sohn, sprechen, erklären die Beamten. Der ist nicht da, meint Schmidt sen., und erteilt keine weiteren Auskünfte. Der Sohn scheint den Vater eingeweiht zu haben. Nachmittags fahren allerdings Vater und Sohn Schmidt von hintenrum zu Kropps, ihren Dorfgenossen. Man kennt sich gut. Sohn Schmidt offenbart sich als der Übeltäter, und sein Vater meint dazu mit einem Augenzwinkern, es sei wohl besser gewesen, dass „unser Erwin“ erst einmal von der Bildfläche verschwunden ist. Was den Schaden von Kropps angeht: kein Problem; das wird alles gut bezahlt. Ach so, äußert sich nun Vater Kropp inzwischen verständnisinnig, ja, das sei ja ganz was anderes. Dann gibt es ja gar keine Probleme. Ich rufe mal schnell bei der Polizei an. Gesagt, getan: die Anzeige hat sich erledigt. Nee nee, erwidert der Polizeibeamte am Telefon (mit höhnischem Unterton, wie Kropp meint), das geht nicht. Wir führen das Verfahren
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amtlich weiter; wenn die Anzeige zurückgezogen wird, hat das nichts zu sagen. Da haben dann Kropps und Schmidts erst einmal dumm aus der Wäsche geguckt! Und es dauert nicht lange, bis vom Amtsgericht Post kommt: die Fahrerlaubnis, hat der Amtsrichter beschlossen, sei vorläufig entzogen, und Erwin soll seinen Führerschein bei der Polizei abgeben. 2. Willi hat Sabine nachts nach dem Zeltfest „nach Hause gebracht“. Am nächsten Morgen verpennen sie; der Bus in die Kreisstadt, mit dem sie sonst immer zur Arbeit fährt, fährt ohne Sabine. Als die beiden endlich etwas munterer werden, heißt es: Verdammt, mein Bus ist weg, ich muss um 08:00 Uhr bei der Arbeit sein. Es ist schon Viertel vor. Ich fahr dich schnell, meint Willi, mein Golf steht ja auf dem Hof. Sie brausen los; Willi merkt zwar, dass ihm etwas blümerant vom Vorabend ist, aber es geht schon. Kurz nach 08:00 Uhr liefert er Sabine bei der Firma ab. Und nun schnell zurück nach Hause: die Kühe müssen gemolken werden und brüllen bestimmt schon im Stall; dann kriegt Willis Vater das Toben. Also Gas! Am Stadtausgang passiert es dann: Willi packt eine Linkskurve nicht, weil sein Tempo zu hoch ist. Der Golf kommt ins Driften. Klatsch und Bumm. Das waren die rechte Breitseite und der Laternenmast rechts neben der Fahrbahn. Der Golf lädiert; der Mast hat die Lampe verloren und zeigt statt seines eleganten Rundbogens einen kläglichen Knick mit stark gebeugtem Oberteil. Au weia! Jetzt geht Willi sein Restalkohol nicht nur physiologisch durch den Kopf. Er dehnt sich und schüttelt sich. Gut, dass er angeschnallt war. An ihm selbst scheint alles heil zu sein. Bloß weg: mein Führerschein! Willi gibt Fersengeld. Der Golf, kaputt wie er ist, bleibt im Unfallurzustand an dem zerdetschten Laternenmast zurück. Dass alsbald, von wem auch immer alarmiert, die Polizei an der Unfallstelle erscheint, ist klar. Willi wird über das Autokennzeichen ermittelt, ist aber erst abends zu Hause, als die Polizeibeamten noch einmal zur Kontrolle vorbeikommen. Später behaupten sie, Willi belehrt zu haben, was er aber nicht mitgekriegt hat. Er gibt jedenfalls zu, dass er bei dem Unfall der Fahrer war. Nein, er hatte nachts nichts getrunken. Für eine Blutprobe ist es zu spät. Warum er denn abgehauen und verschwunden war, fragen die Polizisten. Der reine Schock, erwidert Willi, er wisse auch nicht, wo er rumgelaufen sei, jedenfalls habe er sich spät nachmittags zu Hause wiedergefunden. So so, meinen die Polizisten, dann wollen sie seinen Führerschein haben. Wieso denn das? Unfallflucht, erklären sie, und gucken erst sich und dann Willi spöttisch an.
III. Kommt ein Mandant mit einem der beiden Fälle, die ich hier geschildert habe, oder einer ähnlichen Sache zu seinem Anwalt, hat der kaum eine Tröstung für ihn bereit: der Führerschein dürfte erst einmal nicht zu retten
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sein.12 Die Polizisten sehen sich damit zufrieden gestellt, dass der Delinquent zwar ärgerlicherweise einer Blutprobe ausweichen konnte, dafür jetzt aber trotzdem in der Zwickmühle zwischen Alkoholverkehrsdelikt und Unfallflucht seinen Führerschein los ist. Und bei Gericht: kaum ein Instanzrichter dürfte auf die Idee kommen, mit dem Schuldspruch aus § 142 StGB könnte etwas faul sein. Der Tatbestand wird in seinen üblichen Kriterien schnell durchbuchstabiert (Beteiligung, Fremdschaden, Verlassen der Unfallstelle, ausreichend hoher = „bedeutender“ Fremdschaden etc.) und schon sind die Geldstrafe fällig und die Fahrerlaubnis entzogen. Der nächste Fall! Das kommt davon, dass wir praktischen Juristen in unserer Alltagsroutine das Strafgesetz mit seinen Tatbeständen und Schutzzwecken nicht mehr immer wieder mit der Lupe lesen und uns darüber Gedanken machen (und dass sich die Hohen Fakultäten anscheinend auch lieber mit der Rechtsprechung, die in Deutschland immer mehr case law produziert, und mit den Gerichten und Fachkollegen herumreißen als die Brille aufzusetzen und das Gesetz zu lesen und darüber zu brüten, wozu es dient und was mit ihm erreicht werden soll und geschaffen werden kann).13 Wenn wir das hier einmal versuchen und den § 142 StGB mit seinem Rechtsgut, Schadensersatzansprüchen aus Verkehrsunfällen den Weg zu bahnen, trotz aller Unzulänglichkeiten in Ruhe in seinem Tatbestand studieren, bewusst auf in der täglichen Praxis eingelernte Schlagworte nicht hören und dann die Lupe auf die beiden Fälle, von denen ich erzählt habe, richten, muss uns auffallen, dass deren Sachverhalte den Tatbestand der Unfallflucht (§ 142 StGB) auszufüllen ungeeignet sein könnten. Klar: alle einschlägigen Schlagworte passen positiv. Auch aus keinem der wortreichen Kommentare ergeben sich Hinweise darauf, dass Erwin Schmidt in der einen Sache und der junge Mann namens Willi in dem anderen Fall damit, dass sie von ihren Unfallstellen abgehauen sind, eine Unfallflucht nicht begangen haben könnten.14 Und dennoch gibt es daran Zweifel. Nämlich: Die beiden Personenwagen, die zum einen den Garten und zum anderen die teure Peitschen-Straßenleuchte ruiniert haben, sind Kraftfahrzeuge im Sinne des Straßenverkehrsgesetzes (StVG). Die von ihnen ausgehenden Gefahren und die bei ihrem Betrieb verursachten Schäden aller Art lösen die 12 Abgesehen davon, dass es sich psychologisch für den Advokaten schickt, besser negative Prognosen hören zu lassen, wenn er gefragt wird. Kommt der Mandant erst tief ins schwarze Tintenfass, erscheint die Arbeit des Anwalts in einem strahlenden Lichte, wenn sein Klient weißglänzend und fleckenfrei wieder aus dem Tintenfass herauskrabbelt. 13 Anfangs der 60er Jahre habe ich mal aus dem Munde von Harry Westermann, dem berühmten Sachenrechtler damals an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster gehört, Jurisprudenz sei die Kunst, das Gesetz erst ohne Betonung zu lesen, und es dann mit der richtigen Betonung lesen zu können. 14 Tröndle/Fischer StGB, 54. Aufl. und Cramer/Sternberg-Lieben in: Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl., jeweils zu § 142 StGB.
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Haftung des Fahrzeughalters aus, bei der es sich um eine typische Gefährdungshaftung (die mithin verschuldensunabhängig ist) handelt. In Konkurrenz dazu besteht die Verschuldenshaftung aus Delikt nach BGB und nach § 18 StVG, die den Fahrzeugführer trifft. Kommt es nun bei einem Unfall des Kraftfahrzeugs zu Schäden an Grundstücken oder Grundstücksteilen – also an immobilen Gegenständen wie Häusern, Gärten, Lampen und Masten sowie Zäunen, Bäumen usw. usf. –, kommt eine Mithaftung aus deren Sphäre a priori nicht in Frage. Es gibt keine von diesen Dingen ausgehende Gefährdungshaftung; ein Unfallverschulden, das von solchen immobilen Gegenständen durch ein Verhalten ihrer Eigentümer oder Besitzer ausginge, kommt unter normalen Umständen sowieso nicht zum Zuge. Kurz gesagt: Was kann der Baum dafür, dass er von einem fehl gelenkten Pkw angefahren wird, und der Gartenzaun neben der Straße, wenn ein Motorrad in ihm landet? Die haftungsrechtlich-zivile Analyse führt zu einem schnellen, simplen und eindeutigen Ergebnis: die Haftung trifft passiv allein zumindest den Halter und auch den Fahrer der an solchen Unfällen beteiligten Pkws, sowohl prima facie deliktisch wie insbesondere mittels der Gefährdungshaftung des StVG, während eine Mithaftung auf der Gegenseite ausscheidet. Dem Grunde nach besteht die Haftung für den vom Kraftfahrzeug verursachten Schaden in diesen Konstellationen ganz klar von vornherein zu 100 %. Das ist haftpflichtrechtlich eindeutig. Dazu muss der Geschädigte, dessen immobile Sachen Schaden genommen haben, um Ersatz noch nicht einmal den Fahrzeughalter geschweige denn den Fahrer bemühen. In Deutschland sind alle Kraftfahrzeuge pflichthaftpflichtversichert. Dass sie das auch wirklich sind, wird von den Straßenverkehrsbehörden lückenlos, zeitnah und absolut pingelig überwacht. Die Pflichthaftpflicht ist die Voraussetzung dafür, dass ein Kraftfahrzeug für den öffentlichen Straßenverkehr zugelassen wird. Dafür gibt es als Dokumente die Kfz-Scheine und das abgestempelte amtliche Kennzeichen. Mit dem Kürzel des Kennzeichens erfahre ich bei der Straßenverkehrsbehörde nicht nur, wer der Fahrzeughalter ist, sondern auch, bei welchem Versicherer zu welcher Police die Pflichthaftpflicht für das gekennzeichnete Fahrzeug besteht. Die Versicherung ist zu Schadensersatzansprüchen aus dem Betrieb des bei ihr versicherten Fahrzeugs und für dessen Fahrer selbst und unmittelbar passivlegitimiert: § 3 PflVG. Sie kann direkt in Anspruch genommen werden. Mithin kurz und praktisch: Unter Hinweis auf das Kennzeichen und die dazu mitgeteilten Versicherungsdaten wendet sich der Geschädigte direkt und sogleich an den Versicherer. Bei einer solchen Unfallkonstellation steht dem Grunde nach die Alleinhaftung des Versicherers fest. Zur Schadensregulierung benötigt der Geschädigte weder den Halter geschweige denn hat es irgendeine Bedeutung, wer Fahrzeugführer war, als der Wagen im Garten oder an der Straßenlaterne landete. Verbleibt der offensichtlich unfallauslösende und -beteiligte Wagen mit den Kennzeichen an der Unfallstelle, gibt
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es zum Schadensgrund und zur Haftung als solcher mit der passivlegitimierten Pflichthaftpflichtversicherung überhaupt keine Diskussion respektive einen Streit. Zur Regulierung seines Schadens benötigt der an seinem immobilen Eigentum Geschädigte nur den Wagen mit Kennzeichen; jede weitere Information ist überflüssig.15 „Überflüssig“: das ist ein Wort, das jeden Juristen schon seit Universitätstagen und Staatsexamina hellhörig machen muss. Was überflüssig ist, erscheint in der juristischen Debatte nach der landläufigen Faustformel nicht nur als von vornherein falsch, sondern es kann insbesondere wohl kaum gesetzlichen Schutz verlangen. Das Überflüssige: eine Schimäre genießt keinen Schutz von Rechtsvorschriften und ihrer Auslegung. Und so ist es in der Tat: ist an einem Unfall nur ein einzelnes Kraftfahrzeug beteiligt und besteht der Schaden (über den am Wagen selbst hinaus) nur an unbeweglichen Sachen, ihren Bestandteilen und ihrem Zubehör, ist das Informationsund Feststellungsspektrum, das § 142 StGB speziell in seinem Abs. 1 Nr. 1 und überhaupt im Auge hat, in voller Breite dadurch gewahrt, dass das schadensverursachende Fahrzeug mit seinem amtlichen Kennzeichen an der Unfallstelle verbleibt. Die Schadensregulierung zugunsten der anderen Geschädigten, die allein von § 142 StGB als Rechtsgut geschützt und gesichert werden soll, benötigt bei Unfällen dieser Art mit solchen fremden Schäden absolut weder die Feststellung des Fahrzeugführers noch Informationen über die Art von dessen Unfallbeteiligung noch dessen Geständnis. Bei einem solchen Geschehen reicht es völlig aus, wenn der Geschädigte weiß, welches bei welcher Assekuranz versicherte Fahrzeug Auslöser des immobilen Schadens war. § 142 StGB erfasst deshalb solche Unfallkonstellationen überhaupt nicht. Das (inzwischen immerhin unstreitige) Rechtsgut limitiert den Tatbestand. Tausende wurden und werden aus § 142 StGB verurteilt, mussten und müssen mit dem Verlust der Fahrerlaubnis kämpfen und sind und werden in den Registern bemakelt, obwohl sie in der Konstellation unserer Beispielsfälle überhaupt nicht gesetzlich eines unerlaubten Entfernens von der Unfallstelle schuldig waren, sind und werden.
IV. Im ersten von mir geschilderten Fall habe ich als Verteidiger eine Verfahrenseinstellung nach § 153 Abs. 2 StPO (also ohne Auflage) erreichen können, weil der Amtsanwalt und die junge Proberichterin zwar von meiner Argumentation nicht überzeugt, aber doch verunsichert waren. 15 Das Versicherungsverhältnis zwischen Pflichthaftpflichtversicherer und dem KfzHalter, in dem die Fahrereigenschaft de iure Bedeutung hat, ist nicht von § 142 StGB geschützt: Tröndle/Fischer aaO Rn 12 zu § 142.
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Der Mandant war bis zur Hauptverhandlung seinen Führerschein vorläufig fünf Monate lang losgewesen. Auf eine Entschädigung dafür hat er auf meinen Rat hin verzichtet; denn es gibt ein ungeschriebenes Gesetz in deutschen Amtsgerichtssälen: wer nicht auf Entschädigung verzichtet, kriegt keine Verfahrenseinstellung. Genauso war und ist das mit den Aufwendungen, die mit der Arbeit eines Verteidigers verbunden sind. Wer sich das als Delinquent nicht selbst ans Bein bindet, kann nicht auf Wohlwollen zur Einstellung rechnen. Der zweite Fall mit der Straßenlaterne läuft noch in der Hauptsache. Mit seinem vorgefertigten Formular, das nicht Platz für einen auch nur einzigen individuellen Satz hat, hat der Ermittlungsrichter meinem Mandanten die Fahrerlaubnis vorläufig entzogen und damit die polizeiliche Beschlagnahme des Führerscheins bestätigt. Ich dachte, ich lege ausnahmsweise mal eine Beschwerde ein, die allerdings sonst nur unnötige Zeit zu Lasten des Beschuldigten verplempert. Ich habe die Konstellation, mit der ich hier strafrechtlich argumentiere, der Beschwerdekammer haarklein auseinandergesetzt. Vergeblich: die Landrichter haben das Rechtsmittel „aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Beschlusses“ (die sich mit dem Problem nun aber auch überhaupt nicht beschäftigt hatten) verworfen. Früher hieß es mit Vater und Sohn Dahs immer so schön: Verteidigung ist Kampf. Ich weiß ja nicht, aber – dann wollen wir mal weiterkämpfen. Vor Jahrzehnten, als ich schon Anwalt und Strafverteidiger weit in der tiefen Provinz und auf dem platten Lande war, war mein Kontrahent bei den verschiedensten Amtsgerichten der Oberamtsanwalt Guse von der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Verden.16 Er war ein großer bedächtiger Mann, dessen dunkle Stimme schönstes Ostpreußisch traktierte. Oft hat er mich ermahnt: „Jungchen, Jungchen, ieberträeibs nich“. Ich denke oft an ihn. Er machte sich seine Gedanken. Ich glaube, er hätte der Einschränkung des § 142 StGB, wie ich sie hier vorschlage, zugestimmt. In diesem Sinne mag die Praxis angesichts der Untätigkeit des Gesetzgebers den überzogenen Einsatz von § 142 StGB überdenken. Ich gebe das „Jungchen, Jungchen, ieberträeibts nich!“ an die Staatsanwälte und Amtsrichter zurück. Sie mögen daran denken, wenn sie in ihren zahlreichen § 142 StGB-Fällen die Freude erleben, Wahrheit und Gerechtigkeit die Ehre zu geben.
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Wie das früher in Niedersachsen hieß.
Bloß nicht aus der Rolle fallen … Miszellen zum Strafprozess als Inszenierung und Rollenspiel Felix Herzog I. Strafverfahren sind Orte des „szenischen Verstehens“ 1 – dies bedeutet, dass nicht nur die Akten und der professionelle Diskurs der Juristinnen und Juristen den Verfahrensgang bestimmen, sondern dass der Weg zum Urteil auch von Sequenzen der Interaktion vor Gericht und deren Wirkung auf das Vorverständnis beeinflusst wird. Weiterhin gilt es zu beachten, dass Strafverfahren im Rahmen einer Institution – der Kriminaljustiz – stattfinden. Institutionen wiederum sind als „Konstruktionen der gesellschaftlichen Wirklichkeit“ 2 zu verstehen – dies bedeutet nach der Definition von Berger und Luckmann, dass dort „habitualisierte Handlungen durch Typen von Handelnden reziprok typisiert werden“.3 In Institutionen werden „Handlungen vom Typus X“ von „Handelnden des Typus X“ 4 und nur von diesen, und nicht etwa solchen des Typus Y erwartet. Die in Institutionen agierenden Personen müssen sich also ein „Rezeptwissen“ über die semantischen Felder und über die Routineereignisse aneignen, um ihr Auftreten dort sinnhaft zu ordnen und die Handlungen der anderen Akteure voraussehen zu können.5 Sie lernen dabei Rollen mit einer begrenzten Auswahl an Handlungsoptionen – denn: „wenn ein Bereich menschlicher Tätigkeit institutionalisiert ist, so bedeutet das eo ipso, dass er 1 Darauf hat Winfried Hassemer in seiner Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. Aufl., München 1990, S. 122 ff aufmerksam gemacht. Dies bedeutet naturgemäß, dass sich die Personen dort auch in Szene setzen können – was ihnen leider in geradezu grotesk überzeichneter Weise jeden Nachmittag in den Gerichtsshows des kommerziellen Fernsehens vorgeführt wird. 2 Peter L. Berger/Thomas Luckmann Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, 20. Aufl., Frankfurt a.M. 2004, S. 56 ff. 3 AaO S. 58. 4 Ebd. 5 AaO S. 43 ff; dieses Rezeptwissen besteht zu einem großen Teil aus „Rezepten zur Lösung von Routineprobleme“ und schafft die Voraussetzungen, um einen „Pfad durch den Urwald“ von Institutionen zu finden und dabei Fallgruben zu vermeiden.
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unter sozialer Kontrolle steht“.6 Wer in einer Institution »aus der Rolle fällt«, hat folglich damit zu rechnen, dass dies negativ wahrgenommen und gegebenenfalls negative Folgen haben wird. Eine der häufigsten und subtilsten Formen hiervon ist das Peinlich-berührt-sein der anderen Akteure durch ein rollenfremdes Verhalten, das zu der – häufig non-verbalen, eher selten expliziten – Reaktion führt, man möge sich für sein Verhalten schämen.7 Dies ist einem prominenten Angeklagten eines intensiv in der Öffentlichkeit wahrgenommenen Verfahrens, an dem Rainer Hamm als Verteidiger eines anderen Angeklagten beteiligt war, widerfahren. In einer plötzlichen Anwandlung – es hat sich hierfür in der Politik als Entschuldigung der so genannte blackout eingebürgert – sah sich der Vorstandsvorsitzende eines bedeutenden Finanzinstituts dazu hingerissen, das Verhalten eines amerikanischen Popstars, dem man eine erheblich gestörte Persönlichkeit nachsagt, zu imitieren und auf dem Weg in der Gerichtssaal siegesgewiss seine Finger zum Victory-Zeichen zu spreizen.8 Die hierdurch ausgelösten Irritationen waren enorm, weil ein solches Verhalten nicht dem öffentlichen Image eines Bankiers entspricht, das erwartete Rollenskript eines Angeklagten überraschend verlässt und auf den semantischen Feldern der Institution Strafverfahren offenbar deplatziert ist. Im Wintersemester 2005/2006 habe ich mit Bremer Studierenden ein Seminar zum Thema „Justiz als Inszenierung und Rollenspiel“ veranstaltet. Dabei haben wir zunächst in einer mindmap zusammengetragen, welche Vorstellungen junge Juristinnen und Juristen von den Rollen der am Strafverfahren beteiligten Personen haben und welches Verhalten sie definitiv als inadäquat für die Rolle ansehen würden. Darüber möchte ich zunächst kurz berichten (II.). Sodann (III.) werde ich Thesen der interaktionistischen Soziologie über „Techniken der Imagepflege“ und „Interaktionsrituale“ (Erving Goffman) mit deren Interpretation von Strafverfahren als „Degradierungszeremonie“ (Harold Garfinkel) verknüpfen. Abschließend (IV.) soll es um die Frage gehen, was sich daraus für eine professionelle Beratung des Angeklagten durch seinen Verteidiger in Fragen des Auftretens vor Gericht ergeben könnte.
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AaO S. 59. Ausführlich zu diesem und verwandten Phänomenen, die uns allen mehr oder weniger bewusst sind (das kuriose Gefühl, dass man sich für einen anderen Menschen schämt, dürfte jeder schon einmal durchlitten haben) Erving Goffman Wir alle spielen Theater, 3. Aufl., München 2005, S. 19 ff. 8 Die konservative, der Kreditwirtschaft gewiss nicht feindlich gesonnene Welt titelte dazu am 25. Januar 2005: „V wie Verlierer. Das Victory-Zeichen … vor Gericht zeigt die elitäre Haltung …“. 7
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II. Der Richter 9 sollte in seiner Rolle ausgewogen, gerecht und bedächtig auftreten, Würde ausstrahlen und Objektivität erkennen lassen. Dies verlangt ein seriöses Äußeres, eine beherrschte Mimik, einen gewählten Sprachgebrauch. Der Richter muss sich allen Verfahrensbeteiligten mit gleicher Aufmerksamkeit zuwenden und das Geschehen im Gerichtssaal beherrschen. Damit verträgt sich nicht der Eindruck von Abwesenheit, die Zurschaustellung von Emotionen, „Nervosität“ in der Verhandlungsführung. Gefragt ist eine Persönlichkeit, die „über den Dingen steht“ und Entscheidungskompetenz vermittelt. „Herumbrüllen“ und „Runtermachen“, ein laxer Sprachgebrauch, zur Schau getragenes Desinteresse, „Abwesenheit“, Unsicherheit in der Entscheidung gelten als gravierende Schwächen in der Rolle. Der Staatsanwalt sollte sich durch Bestimmtheit, Konsequenz und Unbeirrbarkeit auszeichnen. Es soll sich um eine Persönlichkeit mit „Biss“ handeln – Respekt einflößend im Auftreten, durchaus mit ein wenig Aggressivität und Eifer. Ein Verlust an Überzeugungskraft könnte dann eintreten, wenn der Eindruck von allzu großer Einseitigkeit entstehen würde. Auch besteht dann eine gewisse Gefahr, wenn das Auftreten in den Eindruck der „Arroganz“ abgleitet. Konsequenz und Unbeirrbarkeit wird eine problematische Tendenz zu Ehrgeiz und Kühle zugeschrieben. Ein erfolgreicher Verteidiger zeichnet sich durch Geistesgegenwart, Schlagfertigkeit und große kommunikative Kompetenz aus. Als „Kämpfer für die Gerechtigkeit“ hat er eine schwierige gespaltene Rolle einerseits gegenüber dem Mandanten als dessen Vertrautem und andererseits gegenüber dem Gericht als kompetenter Kollege zu erfüllen. Sowohl im äußeren Auftreten als auch in der Kommunikation sollte der Verteidiger schrille Töne vermeiden, Kompetenz sollte er nicht durch wenig Ziel führende Aktionen repräsentieren, gegenüber den anderen Justizpersonen nicht arrogant auftreten. Als gravierende Schwächen gelten „Rechtsverdrehung“, durchschaubare Vorspiegelungen von Kompetenz, ein aggressives Auftreten gegenüber Zeugen und „schnöseliges Verhalten“. In der Rolle des Angeklagten wird ein respektvolles Verhalten erwartet. Man dürfe sich nicht als gelangweilt darstellen, nicht expressiv Desinteresse zeigen und sich schon gar nicht über andere Verfahrensbeteiligte und das Verfahren an sich „lustig machen“. Interesse am Verfahren, Zeichen von Einsicht und Reue, höfliches Auftreten und ein gepflegtes Äußeres seien wesent-
9 Gemeint ist damit und bei den folgenden Bezeichnungen die Rolle; somit sind männliche wie weibliche Personen gleichermaßen eingeschlossen.
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liche Elemente eines rollengerechten Verhaltens. Beleidigungen, Aggression und ein aufgesetztes outfit (übermäßig „locker“ ebenso wie übermäßig „fein“) seien dem Eindruck, den man hinterlässt, sehr abträglich.
III. Harold Garfinkel hat die kommunikative Tätigkeit der beteiligten Personen an einem Strafverfahren als „Statusdegradierungs-Zeremonie“ bezeichnet.10 Jenseits der Frage, ob nach der liberalen Idee vom Strafprozess von einer Subjektstellung des Angeklagten auszugehen ist, wird von der interaktionistischen Soziologie strukturell herausgestellt, dass der „Prozess der Beschuldigung (…) die Umgestaltung des objektiven Charakters des wahrgenommenen anderen (bewirkt): Der andere wird in den Augen seiner Beschuldiger buchstäblich eine von ihm verschiedene und neue Person“.11 Diese „Umformung des Wesens“ 12 verfolgt letztlich das Ziel, „die beschuldigte Person rituell von ihrem Platz in der legitimen Ordnung“ 13 zu verbannen – gemäß der Anklage hat sich der Täter in dem Vorfall nicht nach den anerkannten sozialen Wertschemata verhalten und indem Vorfall und Täter „als Einheit definiert“ werden,14 diskreditiert die Tat „den Mann“. Eine erfolgreiche Verteidigungsstrategie muss neben der rechtlichen Dimension auch diese interaktionistische Dimension im Blick behalten. Es geht so weit als möglich darum, „Techniken der Imagepflege“ (Goffman) zum Einsatz zu bringen, die eine Reinstallierung des Angeklagten auf der Bühne des gesellschaftlichen Miteinanders als eine die sozialen Regeln befolgende Person ermöglichen. Unter Imagepflege versteht man im „Theater“ des sozialen Rollenspiels15 eine Verhaltensstrategie, die dazu dient, eine konsistente und sozial erfolgreiche Fassade der Persönlichkeit zu entwickeln. Die für die Imagepflege erfolgreichste Strategie, Beschädigungen des Images überhaupt zu vermeiden, kann ein Angeklagter naturgemäß nur noch eingeschränkt zum Einsatz bringen, da er sich bereits in einer statusgeminderten Rolle befindet. Es kommt für ihn auf die Wiederherstellung eines stimmigen Images an, das mit Gefühlen des Vertrauens und der Anerkennung gegenüber
10 Harold Garfinkel Bedingungen für den Erfolg von Degradierungszeremonien, in: Lüderssen/Sack (Hrsg.) Seminar: Abweichendes Verhalten III, Frankfurt a.M. 1976, S. 31 ff. 11 AaO S. 33 f. 12 AaO S. 34. 13 AaO S. 36. 14 AaO S. 34. 15 Zum theatralischen Charakter des Rollenspiels in Institutionen Goffman o. Fn 7.
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seiner Person verbunden ist.16 Das hierfür angezeigte Verfahren der Imagepflege nennt Goffman den „korrektiven Prozess“.17 In der entsprechenden Interaktionssequenz lassen sich vier „klassische, ausgleichende Handlungsschritte“ erkennen:18 Zunächst wird rituell auf das Fehlverhalten hingewiesen. Sodann muss der „Missetäter“ eine Handlung erbringen, die geeignet erscheint, die expressive Ordnung wieder herzustellen – d.h., er muss auf irgendeine Weise verdeutlichen, dass er den Verhaltenskodex der Gesellschaft immer noch anerkennt und bereit ist, gegebenenfalls für sein Vergehen gegen die Ordnung zu „bezahlen“. Nunmehr entscheiden die „Anklagenden“, welche Ausgleichshandlung sie für angemessen halten. Und schließlich wird vom „Angeklagten“ erwartet, dass er sich in gewisser Weise dankbar für diesen Prozess der image restoration 19 zeigt. Die Mittel, die im Strafverfahren hierfür zur Verfügung stehen, sind im Wesentlichen die sprachliche Interaktion und das Benehmen. Die sprachliche Interaktion ist ein „extrem fallenreicher komplexen Regeln folgender Prozess“.20 Wer mit dem „System von Praktiken, Konventionen und Verfahrensregeln“21 vor Gericht nicht vertraut ist, kann z.B. verkennen, dass es formelle und informelle Regeln darüber gibt, wann, wie lange und worüber der Angeklagte reden darf und reden sollte, es kann zu deplatzierten Unterbrechungen von Kommunikationssequenzen kommen oder es können deplatzierte Kommunikationsmittel eingesetzt werden. Eine Verletzung der dem kommunikativen System Strafverfahren zugrunde liegenden Regeln kann zu einer weiteren Beschädigung des Images führen, während ein souveräner Umgang mit den Techniken der Imagepflege dazu beiträgt, dass die image restoration gelingen kann. Auch das Benehmen spielt eine zentrale Rolle für die Frage, ob es einer Person in dem setting des Strafverfahrens gelingen kann, sein Image wieder aufzuwerten. Goffman versteht unter Benehmen „jenes zeremonielle Verhaltenselement (…), das charakteristischerweise durch Haltung, Kleidung und Verhalten ausgedrückt wird, und das dazu dient, dem Gegenüber zum Ausdruck zu bringen, dass man ein Mensch mit bestimmten erwünschten oder unerwünschten Eigenschaften ist“.22 Ein „gutes Benehmen“ im Sinne der 16 Grundlegend dazu Erving Goffman Techniken der Imagepflege, in: ders., Interaktionsrituale, Frankfurt a.M. 1986, S. 10 ff. 17 AaO S. 24 ff. 18 Ebd. 19 Der sehr treffende Begriff der image restoration findet sich bei William L. Benoit Accounts, Excuses and Apologies – A Theory of Image Restoration Strategies, New York 1995. 20 Goffman o. Fn 18, S. 40 (ff.). 21 Ebd. 22 O. Fn 18, S. 85 (ff).
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Imagepflege zeichnet sich durch folgende Eigenschaften aus; „Diskretion, Aufrichtigkeit, Bescheidenheit sich selbst gegenüber, Fairness, Beherrschung von Sprache und Motorik, Selbstbeherrschung hinsichtlich von Emotionen, Neigungen und Wünschen, Gelassenheit in Stresssituationen“.23 Angemessenes Benehmen vor Gericht bedeutet also für den Angeklagten, dass er mit Feingefühl den „rituellen Kodex“ des Verhaltens einhalten und nicht aus der Rolle fallen sollte. Gelingt dies, wird das Verhalten vor Gericht auf die Bewertung des Tatverhaltens positiv zurückschlagen: während bei sympathisch wahrgenommenen Personen negative Handlungen eher durch situationsbedingte Umstände erklärt werden, werden sie bei Personen, die aus der Rolle fallen, eher auf negative persönliche Dispositionen zurückgeführt.24
IV. Die Rollenzuweisungen und Rollenspiele des Strafprozesses schaffen nach den gerade zusammengetragenen Erkenntnissen ein setting der Interaktion, das hochgradig anfällig für Erwartungsenttäuschungen und durch ein fragiles Gleichgewicht gekennzeichnet ist. Der Freiraum für Spontaneität ist eng, was jedoch nicht Virtuosität und Kreativität in der Beherrschung der Rollen ausschließt. Hierfür fehlt dem Angeklagten meist die Rollenerfahrung und er wird zum Chargieren neigen: Fühlt er sich schuldig oder überführt, dann wird er bis in die Körpersprache hinein bedrückt und beschämt sein. Wer glaubt, sich seiner Überführung durch Schweigen entziehen zu können, steht in Gefahr, trotzig aufzutreten. Wer davon überzeugt ist, dass sich seine Unschuld erweisen wird, ist durch voraus greifendes triumphierendes Gehabe gefährdet. Wer überhaupt nicht versteht, worum es überhaupt gehr, wird gar keinen Zugang zu seiner Rolle finden und die Inszenierung wird über ihn hinweg gehen. Es zählt zu den grundlegendsten und wichtigsten Aufgaben der Strafverteidigung, derartige Defizite und drohende Debakel vorauszusehen und ein Vertrauensverhältnis zum Mandanten aufzubauen, das es erlaubt, diesen in ein gewisses Maß an Regie einzubinden. Als Garant für die Subjektstellung des Angeklagten im Verfahren muss es dem Verteidiger ein Anliegen sein, dass der Mandant nicht das Opfer einer „Degradierungszeremonie“ wird, dass er nicht einen Realitätsverlust erleidet, sich nicht in Überheblichkeit ergeht – bloß nicht aus der Rolle fallen … Der Angeklagte muss orientiert an den kommunikativen und interaktiven Gegebenheiten des Strafverfahrens 23
AaO S. 86. Dies zeigt sich in den Studien der so genannten Attributionstheorie – einführend und zu dieser Sentenz Herkner (Hrsg.) Attribution – Psychologie der Kausalität, Bern 1980, S. 37 (und passim). 24
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eine Rolle finden, die ihn vor einem weiteren Imageverlust bewahrt. Hierfür geben der symbolische Interaktionismus und die Sozialpsychologie wichtige Hinweise. Gewiss wird Strafverteidigung in nicht wenigen Fällen vor der Hürde stehen, dass sich das Rollenverständnis des Mandanten bereits verfestigt hat. Vielfach wird die mangelnde soziale und kommunikative Kompetenz von Mandanten „Regieanweisungen“ erschweren. Auch darf Regie nicht Regime bedeuten – die Authentizität des Auftretens muss gewahrt bleiben, eine persönlichkeitsfremde Ausfüllung der Rolle darf nicht oktroyiert werden. Gleichwohl muss es das Ziel sein, dass sich der Mandant in die von der Institution vorstrukturierten Elemente der Rolle einfindet und jedenfalls nicht zu seinem Schaden aus dieser Rolle fällt. Das setzt Menschenkenntnis und einen sensiblen Zugang zu Menschen und Situationen voraus. Eigenschaften, die man Rainer Hamm ohne weiteres zutrauen darf.
Pflichtwidrigkeit und Vorsatz bei der Untreue (§ 266 StGB) am Beispiel der sog. Kredituntreue* – Zugleich ein Beitrag zum Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG – Alexander Ignor und Alexander Sättele I. Einleitung: § 266 StGB im Lichte des Bestimmtheitsgebotes (Art. 103 Abs. 2 GG) Der Straftatbestand der Untreue (§ 266 StGB), seit jeher ein Gegenstand intensiver dogmatischer Erörterungen, ist in den letzten Jahren zunehmend in den Blick von Rechtsprechung und Literatur – und nicht zuletzt auch des verehrten Jubilars – geraten.1 Die Gründe hierfür sind vielfältig. Sie liegen generell in der gewachsenen Aufmerksamkeit für das sog. Wirtschaftsstrafrecht, im Besonderen in der Struktur des (Treubruch-)Tatbestandes, dessen einzigartige normative Weite immer wieder Auslegungsprobleme schafft. Die Frage nach der Verfassungsgemäßheit der Norm im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG stellt sich damit zwangsläufig. Sie wird von der hM bekanntlich bejaht,2 weil eine dem Bestimmtheitsgebot genügende Auslegung (noch) möglich sei. Dies erscheint zweifelhaft. Das zentrale Tatbestandsmerkmal der Untreue, die Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht, erfährt in der Norm selbst keine Konkretisierung, sondern muss mit Hilfe weiterer, insbesondere außerstrafrechtlicher Normen ausgefüllt werden,3 die sich ihrerseits zum Teil durch eine bemerkenswerte normative Weite auszeichnen, so z.B. § 43 Abs. 1 GmbHG (die „Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes“) und § 93 Abs. 1 Akt (die „Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters“).4 Geradezu sprichwörtlich
* Dem Beitrag liegen Plädoyers der Verf. im sog. Berliner Bankverfahren zugrunde. 1 Vgl. hier nur Hamm NJW 2005, 1993; ders. NJW 2001, 1694, 1696. 2 Dazu ausführlich (und krit.) MüKo-StGB/Dierlamm, 2006, § 266 Rn 3 ff. 3 Zum sog. Grundsatz der Akzessorietät s. Dierlamm ebd. Rn 152 f; Schünemann Organuntreue, Das Mannesmann-Verfahren als Exempel, 2004?, S. 25; ebenso Schwark, FS Claus-Willhelm Canaris Bd. II, 2007, S. 389. 4 S. dazu Kubiciel, NStZ 2005, 353, 355: „unbestimmte(r) Maßstab“.
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geworden ist deshalb das Dictum von Hellmuth Mayer aus dem Jahre 1954,5 kein Gericht und keine Anklagebehörde wisse (jenseits der klassischen alten Fälle) im Vorhinein, ob Untreue vorliege oder nicht. Die Entwicklung der neueren Zeit hat Ransiek wie folgt auf den Punkt gebracht: „Untreue passt immer“.6 Diese Befunde lassen zweifeln, dass ein dem Bestimmtheitsgebot genügendes Auslegungsniveau erreicht ist. Wenn sich die Rechtsprechung schon nicht auf die Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Untreuetatbestands verstehen kann, dann ist sie (wenigstens) gefordert, dem Normadressaten hinreichend zu verdeutlichen, was die Bestimmung strafrechtlich verbietet.7 Anders ausgedrückt: Tragweite und Anwendungsbereich der Strafvorschrift müssen im Wege der Auslegung durch Richterrecht hinreichend bestimmt werden.8 Ob es dafür ausreicht, dass „in Grenzfällen […] wenigstens das Risiko einer Bestrafung erkennbar“ ist, erscheint wiederum zweifelhaft; jedenfalls muss der Normadressat „im Regelfall voraussehen können, ob ein Verhalten strafbar ist“.9 Das bedeutet zunächst, dass die Rechtsprechung Grundsätze entwickeln muss, die die Entscheidung des Einzelfalls normativ zu leiten im Stande sind.10 Hierbei darf die Rechtsprechung allerdings nicht stehen bleiben. Insbesondere darf sie sich nicht mit einer unvermittelten einzelfallbezogenen Güter- und Interessenabwägung begnügen, auch wenn solche Einzelfallgerechtigkeit verwirklicht. Solch ein „Case – Paw“ kann aber die Rechtsfindung nicht normativ leiten, wie es Aufgabe der Gesetze und des ergänzenden Richterrechts ist.11 Von der Rechtsprechung ist daher zu fordern, dass sie allgemein gültige Grundsätze entwickelt und in subsumtionsfähige Regeln transformiert.12 Rechtsprechung und Literatur13 haben hierzu in den vergangenen Jahren wertvolle Beiträge geleistet. Aus der Rechtsprechung seien etwa die sog. Sponsoring-Entscheidung des 1. Strafsenats,14 die Mannesmann-Entscheidung des 3. Strafsenats,15 die Kanther-Entscheidung des 2. Strafsenats 16 5 Materialien zur Strafrechtsreform, 1. Bd., 1954, S. 337; s.a. Günther FS Ulrich Weber, 2004, S. 311, 312; Weber FS für Eduard Dreher, 1977, S. 559. 6 Ransiek ZStW 116 (2004), 635. 7 BVerfGE 57, 250, 262 (zu § 99 Abs. 1 Nr. 1 StGB). 8 Vgl. BVerfG NJW 1989, 1163 (zu § 15 Abs. 1 lit. a FAG). 9 Vgl. BVerfG Beschluss v. 19.3.2007 – 2 BvR 2273/06, Rn 10. 10 Vgl. BVerfGE 66, 116 = NJW 1984, 1741, 1743 – Wallraff. 11 BVerfG ebd. 12 Vgl. Dreier Recht – Staat – Vernunft, Studien zur Rechtstheorie II, 1991, S. 84; Ignor Der Straftatbestand der Beleidigung, Zu den Problemen des § 185 StGB im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG, 1995, S. 121, 153 ff. 13 Speziell zur Kredituntreue s. Schmitt BKR 2006, 125. 14 BGHSt 47, 187. 15 BGHSt 50, 331. 16 BGHSt 51, 100; fortgeführt durch Beschluss v. 25.5.2007 – 2 StR 469/06, Rn 9ff; s.a. Beschluss v. 25.4.2007 – 2 StR 25/07.
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sowie die beiden Entscheidungen des 1. Strafsenats zur Kredituntreue 17 genannt. Diese Entwicklung gilt es fortzuführen. Hierfür möchten Verf. einen Beitrag leisten, der sich konsequent am strafrechtlichen Ultima-ratio-Prinzip ausrichtet. Danach hat das Strafrecht nur vor einem Verhalten zu schützen, das über sein Verbotensein hinaus „in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich“ ist.18 Davon ausgehend verstehen Verf. das Ultimaratio-Prinzip nicht als lediglich kriminalpolitisches Postulat,19 sondern als ein verfassungsrechtlich im Verhältnismäßigkeitsprinzip wurzelndes Gebot auch an den Rechtsanwender, legislatorische Maßlosigkeiten – wie die Weite des objektiven Untreuetatbestandes – im Wege einer sanktionsvermeidenden benigna interpretatio auf das auslegungsmethodisch vertretbare Minimum zu beschränken.20 Verf. sehen sich in diesem Anliegen einig mit dem Jubilar, dem sie hiermit die Ehre erweisen möchten.
II. Kriterien für die Strafbarkeit unternehmerischer Entscheidungen als Untreue nach Maßgabe des Ultima-ratio-Prinzips Kreditentscheidungen machen die Notwendigkeit einer restriktiven Interpretation des Untreuetatbestandes besonders deutlich, weil es sich hierbei um typische unternehmerische Entscheidungen handelt. Das sind solche Entscheidungen, die erstens unmittelbare Nachteile für das Vermögen des betroffenen Unternehmens bewirken (es wird Geld ausgegeben), zweitens unter der langfristigen Erwartung von Gewinnen stehen (hier: Zinserträge über die Kreditlaufzeit) und drittens notwendigerweise risikobehaftet (weil in eine letztlich ungewisse Zukunft gerichtet) sind. Es ist seit Langem in der Rechtsprechung anerkannt, dass die Strafdrohung des § 266 StGB an sich kein Hemmnis für gesundes Gewinnstreben und wagemutige Unternehmerinitiative sein soll.21 Daher muss z.B. dem Vorstand einer AG bei der Leitung der Geschäfte ein weiter Handlungsspielraum zugebilligt werden, der auch das bewusste Eingehen geschäftlicher Risiken einschließt.22 Eine andere Auffassung wäre mit einer marktwirtschaftlichen Ordnung nicht vereinbar. Wie aber lässt sich diese Prämisse mit den Zielrichtungen des Vermögensschutzes und Vermögenserhaltes in Einklang bringen, worauf § 266 StGB als dem Rechtsgüterschutz verpflichtete 17
BGHSt 46, 30; 47, 148. Vgl. BVerfG 88, 203, 257 f. 19 So Appel Verfassung und Strafe, 1998, S. 546. 20 Näher dazu Ignor/Rixen in: dies., Handbuch Arbeitsstrafrecht, 2. Aufl. 2008, § 1 Rn 3 f; 40 f mit Hinweisen auf weit in die Rechtsgeschichte zurückgehende Einsichten. 21 BGH Urteil v. 22.3.1960 – 1 StR 606/59, UA S. 20. 22 So BGHZ 135, 244, 253 – ARAG. 18
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Strafnorm zwangsläufig ausgerichtet ist, zumal Nachteil i.S. der Vorschrift bereits die Vermögensgefährdung sein soll? Jedes Risiko ist per se eine Gefahr für das betreute Vermögen.23 Vor kurzem ist den Geschäftsleitern einer Aktiengesellschaft höchstrichterlich beschieden worden, sie seien nur Gutsverwalter, keine Gutsherren.24 Tatsächlich befinden sie sich in der Situation der Knechte aus dem Gleichnis von den Talenten 25: Vergraben sie die ihnen überlassenen Talente, trifft sie die Ungnade des Gutsherrn (und sie werden in die Finsternis geworfen, wo Heulen und Zähneknirschen ist). Nur wenn sie die Talente vermehren, werden sie belohnt. Aber wenn sie mit den Talenten handeln, um sie zu vermehren, bringen sie sie zwangsläufig in die Gefahr der Minderung oder des Verlustes. Anders als die Knechte im Gleichnis trifft den Vermögensbetreuungspflichtigen im Strafrecht keine Erfolgshaftung.26 Eine angemessene strafrechtliche Behandlung seines Dilemmas kann nur darin liegen, dass man die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Vermögensbetreuungspflicht konsequent an der Logik wirtschaftlichen Handelns ausrichtet und dem Vermögensbetreuungspflichtigen eine unternehmerische Handlungsfreiheit konzediert, die innerhalb des durch Gesetz oder Rechtsgeschäft gezogenen Pflichtenkreises nach Maßgabe eines ethischen Minimums begrenzt ist; dass man ferner auch bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals des Nachteils einer unternehmerischen Betrachtungsweise Rechnung trägt; und dass man schließlich an die beweismäßige Feststellung (bedingt) vorsätzlichen Handelns hohe Anforderungen stellt. Konkret bedeutet das: – die Beschränkung des Tatbestandsmerkmals der Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht auf Fälle evident unvertretbarer Entscheidungen, d.h. solche, die nicht mehr dem Wohl des Unternehmens dienen, weil die zu erwartenden Nachteile eindeutig die Vorteile überwiegen; – die Beschränkung des Tatbestandsmerkmals des Nachteils auf Fälle des Vermögensverlustes und der höchsten Vermögensgefährdung 27; – strenge Anforderung an die Feststellung sowohl des kognitiven als auch – eigenständig – des voluntativen Elementes des (Eventual-)Vorsatzes. Auf die Pflichtwidrigkeit und den Vorsatz soll im Folgenden am Beispiel von Kreditentscheidungen näher eingegangen werden.28
23
Dazu Hillenkamp NStZ 1981, 161, 165. S. FAZ Nr. 299 v. 23.12.2005, S. 3. 25 Matth. 25, 14–30. 26 Ausdr. Witte/Hrubesch BB 2004, 725, 728. 27 Vgl. BGHSt 46, 30, 34; s.a. BGH StV 2004, 424. 28 Auf die komplexe und umfangreiche Schadensproblematik kann im Rahmen dieses Beitrags nicht eingegangen werden. 24
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III. Pflichtverletzung und Vorsatz bei der sog. Kredituntreue 1. Pflichtverletzung – nur die evident unvertretbare Kreditentscheidung In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass Kreditentscheidungen unternehmerische Entscheidungen sind und die Geschäftsleiter des Kreditinstitutes hierbei, wie bei jeder unternehmerischen Entscheidung, Chancen und Risiken gegeneinander abzuwägen haben.29 Eine fehlerhaft Abwägung kann eine Pflichtverletzung i.S.d. § 266 StGB sein. Wann das der Fall ist, erscheint nicht hinreichend geklärt. Der 1. Strafsenat hat in seiner Entscheidung vom 6. April 2000 eine Reihe von Indizien benannt, aus denen sich „nach Erfahrung des Senats“ die Pflichtwidrigkeit einer Kreditvergabeentscheidung ergeben kann.30 Dies sei der Fall, wenn – die Informationspflichten vernachlässigt wurden; – die Entscheidungsträger nicht die erforderliche Befugnis besaßen; – im Zusammenhang mit der Kreditgewährung unrichtige oder unvollständige Angaben gegenüber Mitverantwortlichen oder zur Aufsicht befugten oder berechtigten Personen gemacht wurden; – die vorgegebenen Zwecke nicht eingehalten wurden; – die Entscheidungsträger eigennützig handelten. In seiner Entscheidung vom 15. November 2001 31 hat wiederum der 1. Strafsenat diese Kriterien dahingehend eingeschränkt, dass nicht jede Vernachlässigung einer Informationspflicht eine Pflichtwidrigkeit i.S.d. Untreuetatbestands begründe. Die sei lediglich bei „gravierenden Verstößen“ gegen die banküblichen Informations- und Prüfungspflichten der Fall. Unabhängig von der Frage, in wieweit die vom 1. Strafsenat entwickelten Kriterien, insbesondere das Kriterium der gravierenden Pflichtverletzung, dazu in der Lage sind, das Merkmal der Pflichtverletzung hinreichend bestimmt auszufüllen,32 liegt ein grundsätzliches Problem der Rechtsprechung des 1. Strafsenats zur Kredituntreue darin, dass sie die Frage der Pflichtwidrigkeit einerseits und des Nachteils andererseits miteinander verknüpft 33; denn sie läuft letztlich auf die Bejahung der Untreue im Falle unzureichender Bonitätsprüfung und der damit einhergehenden Gefährdung des Rückzahlungsanspruchs hinaus. 29
BGHSt 46, 30, 34; 50, 331, 346. BGHSt 46, 30, 34. 31 BGHSt 47, 148, 152. 32 Vgl. dazu BGHSt 50, 331, 343 ff; s.a. Tröndle/Fischer 54. Aufl. 2007, § 266 Rn 40, 42 mwN. 33 Für eine strikte Trennung generell Tiedemann GmbH-Strafrecht, 4. Aufl. 2002, Vor §§ 82 ff Rn 19. 30
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Schünemann hat hierzu in einem Aufsatz aus dem Jahr 2005 34 zutreffend festgestellt, dass für den 1. Strafsenat Pflichtwidrigkeit und Schaden im Grunde genommen nur zwei Seiten derselben Medaille seien, weil bei einer Kreditgewährung die schadensgleiche Vermögensgefährdung regelmäßig aus der unzulänglichen Bonität des Kreditnehmers gefolgert werde, die wiederum im Zentrum der Prüfungspflichten der Geschäftsleiter des Kreditinstituts stehe. Die enge Verknüpfung von Pflichtwidrigkeit und Schaden ist insbesondere dann problematisch, wenn der Schaden in einer zeitlich und gegenständlich punktuellen Vermögensgefährdung gesehen wird, konkret: in einer auf den Zeitpunkt der Kreditvergabe bemessenen Gefährdung des Rückzahlungsanspruchs aus einem einzelnen Engagement. Die Geschäftsleiter einer Bank sind indes dem Unternehmenswohl insgesamt verpflichtet und haben ihre Entscheidungen daran auszurichten. Diese Verpflichtung ergibt sich aus ihrer gesellschaftsrechtlichen Stellung (vgl. § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG).35 Unter dem Gesichtspunkt eines langfristigen, in die Zukunft hinein betrachteten Unternehmenswohls können begrenzte punktuelle Vermögensgefährdungen, ja sogar Vermögenseinbußen sehr wohl sinnvoll sein. Für Investitionsentscheidungen liegt das auf der Hand. Aber auch bei Kreditvergaben kann es sich so verhalten. Das verdeutlicht die Praxis der Sanierung bzw. Beordnung von gefährdeten oder Not leidenden Krediten. Hierzu hat der Bundesgerichtshof anerkannt, dass die Pflichtwidrigkeit bei der Vergabe auch hochriskanter (Folge-)Kredite entfällt, wenn diese Erfolg bei der Sanierung eines über den in Rede stehenden Einzelkredit hinausgehenden Gesamtengagements verspricht. Das sei insbesondere bei einem wirtschaftlich vernünftigen Gesamtplan der Fall, der auf einen einheitlichen Erfolg angelegt ist und bei dem erst nach einem Durchgangsstadium – wie der Sanierung – ein Erfolg erzielt wird.36 Dieser Gedanke ist auch jenseits der engen Fallgruppe der Sanierungskredite zu beachten. Das heißt: Die strafrechtliche Beurteilung der Frage der Pflichtwidrigkeit einer Kreditvergabeentscheidung hat unter Berücksichtigung der langfristigen Vor- und Nachteile der Entscheidung für das Unternehmenswohl des Kreditinstituts zu erfolgen. Dieser Gedanke ist der übrigen Rechtsprechung zur Untreue keineswegs fremd; er findet vielmehr schon seit längerem Berücksichtigung, allerdings vornehmlich im Hinblick auf das Tatbestandsmerkmal des Nachteils. Beispielhaft ist die sog. Bundesliga-Entscheidung 37 des 4. Strafsenats aus dem Jahre 1975 anzuführen. 34 35 36 37
NStZ 2005, 473, 475. S.a. BGHZ 135, 244, 253 – ARAG. BGHSt 47, 148, 153. NJW 1975, 1234.
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In dieser Entscheidung ging es darum, dass der 1. Vorsitzende eines abstiegsbedrohten Bundesligavereins Spieler eines anderen Vereins bestochen hatte, um in einem entscheidenden Spiel eine Niederlage seines Vereins und damit den Abstieg zu verhindern. Die Bestechungsaktion war insofern erfolgreich, als durch den abgesprochenen Sieg der Abstieg zunächst tatsächlich verhindert wurde. Der 4. Strafsenat wertete die Zahlung des Bestechungslohnes als Missbrauch i.S.d. § 266 StGB, entschied aber, dass bei der Frage des Vermögensnachteils „selbstverständlich“ auch jeder Vorteil berücksichtigt werden müsse, der durch die pflichtwidrige Handlung erzielt werde. Demzufolge müsse entschieden werden, ob der „geopferte“ Bestechungslohn den durch die Manipulation erreichten Erhalt der Bundesligazugehörigkeit für ein weiteres Jahr – „zweifellos eine Chance auf Vermögensgewinn“ – wert gewesen sei. Die Rechtslage sei ähnlich zu beurteilen wie bei den sog. Risikogeschäften, bei denen unter besonderen Umständen die Erwartung künftiger Vorteile durchaus einen Nachteil schon bei seiner Entstehung ausgleichen und wirtschaftlich aufheben könne. Mittlerweile hat der Bundesgerichtshof Überlegungen dieser Art aus dem Bereich des Schadens herausgenommen und zu Recht dem Tatbestandsmerkmal der Pflichtwidrigkeit zugeordnet. Beispielhaft sei eine Entscheidung des 2. Strafsenats vom 4. Februar 2004 38 angeführt. Im zugrunde liegenden Fall ging es um Vorfinanzierungen von Geschäften eines Unternehmens, die zwar außerhalb des allgemeinen Geschäftsbereichs der Gesellschaft lagen und sehr riskant waren, aber nach Intention der verantwortlich Handelnden der allgemeinen Marktpflege und auch der allgemeinen Gewinnerzielung – mit anderen Worten: dem längerfristigen Unternehmenswohl – dienen sollten. Nach Auffassung des 2. Strafsenats handelte es sich bei den verfahrensgegenständlichen Geschäften um sog. Risikogeschäfte, weil sie das Risiko des Vermögensverlustes beinhalteten. Insoweit hat der 2. Strafsenat zum Teil unter Rückgriff auf ältere Rechtsprechung 39 ausgeführt: Der Abschluss eines mit einem Risiko behafteten Geschäftes erfülle nicht schon wegen des Risikos als solchem oder wegen des Eintritts eines Verlustes den Tatbestand der Untreue. Wirtschaftlich vernünftige Ausgaben im Rahmen kaufmännischen Unternehmergeistes dürften nicht ohne weiteres pönalisiert werden. Ein riskantes Handeln, dessen Folgen einen anderen treffen, sei allerdings in der Regel pflichtwidrig, wenn der Handelnde den ihm gezogenen Rahmen nicht einhält, insbesondere die Grenzen des verkehrsüblichen Risikos überschreitet. Das sei (nur) dann der Fall, wenn der Täter bewusst und entgegen den Regeln kaufmännischer Sorgfalt eine aufs Äußerste gesteigerte Verlustgefahr auf sich nimmt, nur um eine höchst zweifelhafte Gewinnaussicht zu erhalten. 38 39
StV 2004, 424. BGH wistra 1985, 190 f; 1982, 148, 150.
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Auch der 1. und der 3. Strafsenat haben in neueren Entscheidungen bei der Frage der Pflichtwidrigkeit nicht auf den Eintritt einer punktuellen Einbuße abgestellt, sondern auf ein langfristig und komplex zu beurteilendes Unternehmenswohl. Der 1. Strafsenat hatte in der sog. Kinowelt-Entscheidung vom 22. November 2005 40 die Frage zu entscheiden, unter welchen Voraussetzungen der Kapitaltransfer in eine (wirtschaftlich angeschlagene) Tochtergesellschaft zulässig ist. Nach Auffassung des Senats waren die verfahrensgegenständlichen Investitionsentscheidungen (erst) in dem Zeitpunkt unvertretbar, als sie in hohem Maße verlustgefährdet waren und der Muttergesellschaft in deren Krise dringend benötigtes Kapital entzogen und damit das Insolvenzrisiko der Muttergesellschaft vertieften. Solange die Investitionen eine zumindest langfristige Rentabilitätserwartung im Hinblick auf den gemeinsamen Geschäftsplan der Unternehmen aufwiesen, wären die Zuwendungen hingegen nicht pflichtwidrig gewesen. In diesem Zusammenhang heißt es in der Entscheidung wörtlich: „Ein weiter, gerichtlich nur begrenzt überprüfbarer Handlungsspielraum steht den entscheidungstragenden Organen der Gesellschaft gerade dann zu, wenn ein über die bisherige Unternehmenstätigkeit hinausreichendes Geschäftsfeld erschlossen, eine am Markt bislang nicht vorhandene Geschäftsidee verwirklicht oder in eine neue Technologie investiert werden soll. Der Prognosecharakter der unternehmerischen Entscheidung tritt hier besonders deutlich zu Tage“. Und an anderer Stelle heißt es: „Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist dem Vorstand bei seinen in Ausfüllung der vorgenannten Pflichten getroffenen Entscheidungen [scil. die Pflichten aus § 93 AktG] ein weiter Ermessensspielraum zuzubilligen. Werden hingegen die – weit zu ziehenden – äußersten Grenzen unternehmerischer Entscheidungsfreiheit überschritten, und wird damit eine Hauptpflicht gegenüber dem zu betreuenden Unternehmen verletzt, so liegt eine Verletzung gesellschaftsrechtlicher Pflichten vor, die so gravierend ist, dass sie zugleich eine Pflichtwidrigkeit i.S.d. § 266 StGB begründet“. Damit sind zwei Stichworte gefallen, die bei der Beurteilung der Frage der Pflichtwidrigkeit unternehmerischer Entscheidungen generelle Beachtung finden müssen: die „langfristige Rentabilitätserwartung“ und die „äußersten Grenzen unternehmerischer Entscheidungsfreiheit“. Diese Gesichtspunkte lösen die in den Entscheidungen des 1. Strafsenats zur Kredituntreue angelegte enge Verknüpfung von Pflichtwidrigkeit und (kurzfristigem) Schadenseintritt zugunsten einer längerfristigen und komplexeren Betrachtung auf und beschränken die Fälle möglicher Pflichtverletzungen auf evidente Zuwiderhandlungen gegen das Unternehmenswohl als solches.
40
NJW 2006, 453; dazu Kutzner NJW 2006, 3541.
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Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang auch die sog. Mannesmann-Entscheidung des 3. Strafsenats vom 21. Dezember 2005.41 Der Strafsenat stellt in dieser Entscheidung als Maßstab für die Pflichtwidrigkeit explizit das Unternehmensinteresse heraus. In Anlehnung an die ARAG-Entscheidung hebt er hervor, dass eine Pflichtverletzung nicht gegeben sei, solange die Grenzen, in denen sich ein von Verantwortungsbewusstsein getragenes, ausschließlich am Unternehmenswohl orientiertes, auf sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen beruhendes unternehmerischen Handeln bewegen muss, nicht überschritten sind. Eben diese Maßstäbe überträgt der 3. Strafsenat in der Mannesmann-Entscheidung – praktisch im Wege eines obiter dictums – auch auf die Kreditvergabe, indem er die Rechtsprechung des 1. Strafsenats zur Kreditvergabe wie folgt wiedergibt 42: „Gegenstand des Urteils zur Kreditvergabe ist ausschließlich eine risikobehaftete unternehmerische Prognoseentscheidung. In diesem Fall hatten die Entscheidungsträger die Aussicht auf den möglichen Nutzen und Vorteil der Maßnahme für das Unternehmen mit dem Risiko eines Nachteils – Ausfall des Kredits – abzuwägen. Die Unwägbarkeiten dieser Entscheidung sind der Grund für die Anerkennung eines Handlungsspielraums, dessen Betonung und Ausgestaltung Anliegen des 1. Strafsenats gewesen ist“. Damit weitet der 3. Strafsenat den Maßstab der Chancen- und Risikoabwägung bei Kreditentscheidungen über den Einzelkredit hinaus auf den langfristigen Nutzen für das Unternehmen insgesamt aus. Verallgemeinernd bedeutet das, dass eine unternehmerische Entscheidung, die zu einer zeitlich und gegenständlich punktuellen Vermögensgefährdung, ja sogar zu einer gesteigerten Verlustgefahr oder gar Vermögenseinbuße führt, gleichwohl pflichtgemäß ist, wenn mit dieser Entscheidung zugleich die Erwartung positiver Folgen für das Unternehmenswohl (als Summe aller Vor- und Nachteile) einhergeht, die den punktuellen Vermögensverlust überwiegen. Erst wenn aus der ex-ante-Sicht eine unternehmerische Entscheidung eindeutig nicht mehr dem Wohl des Unternehmens dient, weil die zu erwartenden Nachteile eindeutig die Vorteile überwiegen, ist sie pflichtwidrig i.S.d. § 266 StGB. Diese Schlussfolgerung lässt sich nicht nur aus den genannten Entscheidungen des Bundesgerichtshofs ziehen, sondern trägt auch der Struktur des § 266 StGB Rechnung und entspricht zugleich allgemeinen ethischen Grundsätzen und – konsequent – dem Ultima-ratio-Gedanken. Erstens: Es ist eine grundlegende Einsicht der Ethik, dass die (wertende) Beurteilung einer Handlung nach ihrem Nutzen notwendigerweise eine 41 42
BGHSt 50, 331. AaO S. 346.
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Beurteilung der Handlungsfolgen ist. Diese müssen in den Blick genommen, gewichtet und gegeneinander abgewogen werden. Richtig im Sinne von nützlich ist eine Entscheidung, die mehr vorteilhafte als nachteilige Folgen mit sich bringt; falsch im Sinne von schädlich ist eine Entscheidung, bei der es sich umgekehrt verhält.43 Für die Strafvorschrift des § 266 StGB, die auf die Normen des Gesellschaftsrechts und damit auf die Maßfigur des ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters und auf das Unternehmenswohl als dessen Handlungsmaxime verweist,44 lässt sich daraus folgern, dass eine unternehmerische Entscheidung pflichtwidrig ist, wenn sie für das Unternehmen im Ganzen erkennbar mehr nachteilige als vorteilhafte Folgen hat. Zweitens: Eine weitere ethische Grundeinsicht besteht darin, das sich bei komplexen Entscheidungssituationen, in denen sich verschiedene Anforderungen überlagern und eine Vielzahl von Folgen zu bedenken und abzuwägen sind, eine obere Grenze dessen, was richtig ist, nicht ausmachen lässt. Vielmehr kann in solchen Fällen nur eine untere Grenze dessen angegeben werden, was eindeutig unrichtig ist.45 Für das Strafrecht, das dem Gedanken der ultima ratio und der Subsidiarität verpflichtet ist (s.o.), lässt sich daraus folgern, dass § 266 StGB nur evident falsche (schädliche) Entscheidungen erfassen kann, deren Falschheit außer Zweifel steht.46 Nichts anderes meint Unvertretbarkeit. Drittens: Eine Folgenabschätzung, insbesondere in komplexen Entscheidungssituationen, birgt stets ein höheres Risiko des Fehlurteils in sich als die Befolgung eindeutiger Handlungsgebote, wie sie für das Strafrecht (ansonsten) typisch und wegen des Bestimmtheitsgebots notwendig sind. Diesem Fehlurteilsrisiko muss die Bemessung der Strafbarkeitsgrenze der Pflichtwidrigkeit in § 266 StGB Rechnung tragen. Auch Deshalb können von § 266 StGB nur Fälle eindeutiger Fehlentscheidungen erfasst sein. 2. Strenge Anforderungen an die Feststellung des Vorsatzes Eine Strafbarkeit gemäß § 266 StGB setzt voraus, dass der Täter vorsätzlich handelt, also auch vorsätzlich, d.h. wissentlich und willentlich, die ihm obliegende Pflicht zur Vermögensbetreuung zum Nachteil des betreuten Vermögens verletzt. Das versteht sich von selbst. Unklar bzw. umstritten ist, welche Anforderungen an die beweismäßige Feststellung des Vorsatzes, insbesondere im Falle des Eventualvorsatzes, bestehen. Nach ständiger Rechtsprechung sind wegen der Weite des objektiven Tatbestandes der Untreue an den Nachweis des subjektiven Tatbestandes 43 44 45 46
Vgl. Birnbacher in: Birnbacher/Hoerster, Texte zur Ethik, 12. Aufl. 2003, S. 198 ff. S. dazu Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht, 2004, Rn 111 ff, 122 f. Vgl. Spaemann Moralische Grundbegriffe, 5. Aufl. 1994, S. 92 ff. Vgl. Tröndle/Fischer aaO (Fn 32) § 266 Rn 44 („Evidenz“).
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strenge Anforderungen zu stellen, vor allem in Fällen lediglich bedingten Vorsatzes.47 So heißt es auch in der Entscheidung des 1. Strafsenats vom 6. April 2000,48 dass „für die Feststellung des subjektiven Tatbestands […] eingehende Erörterungen erforderlich“ seien. Auch bei problematischen Kreditvergaben verstehe es sich nicht von selbst, dass die Entscheidungsträger „eine über das allgemeine Risiko bei Kreditgeschäften hinausgehende Gefährdung des Rückzahlungsanspruchs der Bank erkannt und gebilligt“ hätten. Vielmehr sei „eine sorgfältige und strenge Prüfung der Frage erforderlich, ob – zumindest – bedingt vorsätzliches Verhalten“ tatsächlich vorliege. Ob die Rechtsprechung diesem Postulat immer gerecht wird, ist fraglich, kann aber an dieser Stelle dahinstehen. Näherer Erörterung bedürfen hier die gegen diese Rechtsprechung erhobenen Einwände. Sie bestehen darin, dass eine rechtliche Einschränkung objektiver Tatbestandsmerkmale nicht über Beweisanforderungen erreicht werden könne – weil es sich bei der Einschränkung um eine Rechtsfrage und nicht um eine Tatfrage handele – und dass nicht einzusehen sei, warum und nach Maßgabe welcher zusätzlicher Erfordernisse der Nachweis des (bedingten) Vorsatzes der Untreue anderen Maßstäben folgen sollte als z.B. der des Betruges oder der veruntreuenden Unterschlagung.49 Diese Einwände vermögen nicht zu überzeugen. Es bestehen durchaus Rechtsgründe für eine Erhöhung der Beweisanforderungen gerade bei der Untreue. Ein solcher Grund liegt zunächst ganz allgemein – wiederum – im Ultima-ratio-Prinzip. Zum Spektrum der sanktionsvermeidenden benigna interpretatio (s.o.) lässt sich nämlich auch das Regulativ einer beweismäßigen Sanktionsvermeidung zählen, wonach an das tatsächliche Vorliegen der Voraussetzungen von (weiten) Sanktionsnormen strenge Anforderungen zu stellen sind.50 Bei vergleichsweise präzise gefassten (also hinreichend bestimmten) Tatbeständen wie dem Betrug und der veruntreuenden Unterschlagung besteht dieses Erfordernis nicht. Im Falle der Untreue kommt ein weiterer rechtlicher Gesichtpunkt hinzu, der das Erfordernis strenger Anforderungen an die Feststellungen insbesondere des voluntativen Vorsatzelements begründet. Insoweit muss man sich zunächst vergegenwärtigen, dass es bei der Frage der strengen Anforderungen praktisch darum geht, in wieweit sich aus der Feststellung der (bloßen) Umstandskenntnis die Feststellung des voluntativen Vorsatzelements herleiten lässt. Im Regelfall sind an die Beweiswürdigung insoweit keine besonderen Anforderungen zu stellen, d.h. es ist Sache des Gerichts, aus der Fest47 48 49 50
Ausdr. BGHSt 47, 295, 302 mwN. BGHSt 46, 30, 34 f. So Tröndle/Fischer aaO (Fn 32) Rn 78a mwN. Vgl. Ignor/Rixen aaO (Fn 20) § 1 Rn 38.
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stellung äußerer Umstände die Überzeugung vom Vorliegen der inneren Tatseite zu gewinnen (vgl. § 261 StPO).51 Dabei kommt dem äußeren Tatgeschehen regelmäßig ein hoher Indizwert zu.52 Anderes muss für die Untreue gelten, weil es sich bei der Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht – insbesondere bei unternehmerischen Entscheidungen – in der Regel um die Verletzung von Sorgfaltspflichten handelt. Typischerweise werden Sorgfaltspflichten fahrlässig verletzt. Die pflichtwidrige Vernachlässigung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt gilt geradezu als das kennzeichnende Merkmal einer Fahrlässigkeitstat als eigenständiger Unrechtstypus.53 Der Untreuetatbestand ist jedoch kein Fahrlässigkeitsdelikt, sondern kann nur vorsätzlich begangen werden. Was macht aus einer Pflichtverletzung, die typischerweise fahrlässig begangen wird, ein Vorsatzdelikt? Das entscheidende Kriterium ergibt sich aus dem Begriff des Vorsatzes: Es sind das Wissen und der Wille, den aus der Sorgfaltspflichtverletzung resultierenden Erfolg herbeizuführen. Anders als der Vorsatztäter schließt der Fahrlässigkeitstäter den Erfolg nicht in seinen Willen mit ein, sondern sieht ihn lediglich voraus, ohne ihn zu wollen. Daraus ergibt sich die berühmte Abgrenzungsformel zwischen bewusster Fahrlässigkeit und bedingtem Vorsatz. Der Fahrlässigkeitstäter verursacht durch seine Handlung das Risiko der Verletzung eines Rechtsguts in dem Vertrauen, dass sich das Risiko nicht verwirklicht („wird schon gut gehen“), der Vorsatztäter hingegen nimmt den möglichen Erfolg billigend in Kauf oder findet sich zumindest damit ab.54 In dieser unterschiedlichen „inneren Beteiligung“ 55 liegt der Grund für die unterschiedliche strafrechtliche Behandlung des Vorsatz- und des Fahrlässigkeitstäters; denn die soziale Missbilligung eines Verhaltens nimmt mit dem Maß der inneren Beteiligung an der Erfolgsherbeiführung zu. Das aber bedeutet: Ist ein Delikt wie die Untreue überhaupt nur als Vorsatztat strafbar und besteht die Tathandlung aus einer Sorgfaltspflichtverletzung, dann ist die Feststellung einer über die bloße Vorhersehbarkeit hinausgehenden Billigung des Erfolgs als (schlechthin) strafbarkeitsbegründendes Merkmal unverzichtbar. Ohne Billigung keine Straftat! Dies übersieht die ältere Rechtsprechung, wenn sie bei der Untreue – anders als bei den Körperverletzungs- und Tötungsdelikten – für die Bejahung des Eventualvorsatzes die bloße Umstandskenntnis im Sinne einer reinen Vorhersehbarkeit ausreichen lässt. So heißt es in einer Entscheidung
51 Vgl. zu den Anforderungen an die Beweiswürdigung zur subjektiven Tatseite BGH Beschluss v. 19.6.2007 – 1 StR 16/07, Rn 26 ff. 52 BGH NStZ-RR 2001, 369. 53 Vgl. Nachw. bei Roxin AT 1, 4. Aufl. 2006, § 24 Rn 4, 8 ff. 54 Vgl. statt vieler Wessels/Beulke Strafrecht AT, 35. Aufl. 2005, Rn 225, 661. 55 Roxin aaO (Fn 53) § 24 Rn 80.
Pflichtwidrigkeit und Vorsatz bei der Untreue
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des Bundesgerichtshofs vom 6. Februar 1979 56: „Erkennt der Leiter einer Bank die jeweilige gegenwärtige Benachteiligung der Bank als mögliche Folge seines Handelns und nimmt er sie dennoch hin in der Hoffnung, dass die ganze Angelegenheit später doch noch einmal gut gehen werde, so handelt er vorsätzlich“. Diese Rechtsprechung geht fehl. Sie reduziert das Merkmal der Billigung auf die bloße Vorhersehbarkeit der Gefährdung und denaturiert das Vorsatzdelikt der Untreue zum bloßen Fahrlässigkeitsdelikt. Weil die (bloße) Vorhersehbarkeit des Erfolges sowohl beim Vorsatz- als auch beim Fahrlässigkeitsdelikt erforderlich ist und daher kein Abgrenzungskriterium zwischen diesen beiden Unrechtsformen bilden kann, verneint die Rechtsprechung bei den Tötungs- und Körperverletzungsdelikten den bedingten Vorsatz solange, wie zugunsten des Täters ein begründetes Vertrauen auf ein Ausbleiben des Erfolgs angenommen werden kann. Erst dann, wenn sich angesichts der äußersten Gefährlichkeit der Handlung das Vertrauen des Täters, dass es gut gehe, als unrealistischer Wunsch wie die „Hoffnung auf ein Wunder oder einen Lottogewinn“ 57 darstellt, bejaht sie das Vorliegen des bedingten Vorsatzes.58 Diesen Maßstab hat die Rechtsprechung zur Kredituntreue erstmals in der bereits genannten Entscheidung des 1. Strafsenats vom 6. April 2000 aufgegriffen. Der Strafsenat ist dort für den Fall der Kredituntreue sogar darüber hinausgegangen, indem er ausgeführt hat, derartige Umschreibungen des bedingten Vorsatzes, wie sie weitgehend für den Bereich der Tötungsdelikte entwickelt worden seien, dürften nicht formelhaft auf Fälle offener, mehrdeutiger Geschehen angewendet werden. Der Grad der Wahrscheinlichkeit eines Erfolgseintritts allein könne kein Kriterium für die Entscheidung der Frage sein, ob der Angeklagte mit dem Erfolg auch einverstanden war. Es komme vielmehr immer auf die Umstände des Einzelfalls an, bei denen insbesondere die Motive und die Interessenlage der Angeklagten zu beachten seien.59 In seiner Entscheidung vom 15. November 2001 ist derselbe Senat dann wieder dahinter zurückgefallen, indem er ausgeführt hat, es liege bei höchster Gefährdung des Rückzahlungsanspruchs nahe, dass der Bankleiter die Schädigung der Bank im Sinne einer Vermögensgefährdung auch billigend in Kauf genommen habe. Die Billigung liege noch näher, wenn das Kreditengagement unbeherrschbar ist. Generell gelte, dass eine Billigung nahezu stets anzuneh-
56 NJW 1979, 1512; zust. Nack in: Müller-Gugenberger/Bieneck, Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl. 2006, § 66 Rn 139 ff. 57 BGH Urteil v. 19.6.2007 – 1 StR 16/07, Rn 32. 58 S. bspw. BGH JZ 1981, 35 mit Anm. Köhler; BGH NStZ 1984, 19; weitere Nachw. bei Wessels/Beulke aaO (Fn 54) Rn 223. 59 BGHSt 46, 30, 34 f.
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men sei, wenn der Bankleiter erkenne, dass die Kreditvergaben die Existenz der Bank aufs Spiel setzen.60 Der 1. Strafsenat leitet in diesen Fällen das Billigungselement des Vorsatzes also wieder allein aus den äußeren Umständen ab und verzichtet auf weitere Kriterien wie die Motive und die Interessenlage des Angeklagten. Angesichts der letztgenannten Entscheidung des 1. Strafsenats ist es zu begrüßen, dass der 2. Strafsenat im Fall Kanther entschieden hat, der Tatbestand der Untreue sei (jedenfalls) in Fällen, in denen der Vermögensschaden in einer schadensgleichen Vermögensgefährdung gesehen werde, dahingehend zu begrenzen, dass „der bedingte Vorsatz eines Gefährdungsschadens nicht nur Kenntnis des Täters von der konkreten Möglichkeit eines Schadenseintritts und das Inkaufnehmen dieser konkreten Gefahr voraussetzt, sondern darüber hinaus eine Billigung der Realisierung dieser Gefahr, sei es auch nur in der Form, dass der Täter sich mit dem Eintritt des ihm unerwünschten Erfolgs abfindet“.61 Zu der vorgenannten Entscheidung des 1. Strafsenats äußert der 2. Strafsenat in diesem Zusammenhang, die dort angeführten Fallkonstellationen (höchste Gefährdung, etc.) seien mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbar. Die besondere Bedeutung der Kanther-Entscheidung liegt also darin, dass der 2. Strafsenat, wie schon der 1. Strafsenat in seiner Entscheidung vom 6. April 2000, in Fällen, in denen es um eine bloße Vermögensgefährdung geht und diese Gefährdung nicht in Form einer höchsten Gefährdung in Rede steht, für die Annahme des voluntativen Vorsatzelementes nicht lediglich die Kenntnis der äußeren Umstände genügen lässt, die die Gefahr begründen, sondern darüber hinaus spezifische Feststellungen zur inneren Tatseite verlangt. Zusätzlich zu den Kriterien des Motivs und der Interessenlage des Täters benennt er das Sich-Abfinden des Täters mit der Realisierung der Gefährdung, sprich: mit dem Vermögensverlust. Auch dieses Sich-Abfinden müsse positiv festgestellt werden. Diese Rechtsprechung verdient nachdrückliche Zustimmung mit der Einschränkung, dass sie nicht auf den Fall der bloßen Vermögensgefährdung beschränkt bleiben darf. Hierfür gibt es keinen Grund, der dogmatischer Überprüfung standhält. Bei der Auslegung des § 266 StGB kann es nicht nur darum gehen, Auswüchsen im Einzelfall quasi aus Billigkeitsgesichtspunkten Einhalt zu gebieten; vielmehr ist es im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot und den Ultima-ratio-Grundsatz erforderlich, allgemeine subsumtionsfähige Regeln zu entwickeln und den Anwendungsbereich der Norm auf das unverzichtbare Maß zu beschränken (s.o.). Deshalb beanspruchen die Anforderungen für die Feststellung der inneren Tatseite auch für Fälle der höchsten
60 61
BGHSt 47, 148, 156 f. BGHSt 51, 100, 121 f.
Pflichtwidrigkeit und Vorsatz bei der Untreue
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Gefährdung des Vermögens und ggf. des Vermögensverlustes Geltung. Weitergehend wäre eine kritische Überprüfung der Rechtsprechung zur Vermögensgefährdung überhaupt erforderlich. Aber das ist ein neues Thema.
IV. Zusammenfassung Zusammenfassend ist festzuhalten, dass bei unternehmerischen Entscheidungen wie bspw. Kreditentscheidungen die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der Pflichtwidrigkeit an der Logik wirtschaftlichen Handelns auszurichten und dem Vermögensbetreuungspflichtigen innerhalb seines Pflichtenkreises eine unternehmerische Handlungsfreiheit zu konzedieren ist, die nur nach Maßgabe eines ethischen Minimums begrenzt ist. Das bedeutet die Beschränkung der Pflichtwidrigkeit auf Fälle evident unvertretbarer Entscheidungen, nämlich solcher, die nicht mehr dem Wohl des Unternehmens dienen, weil die zu erwartenden Nachteile eindeutig die Vorteile überwiegen. Das bedeutet ferner, dass im Falle unternehmerischer Entscheidungen strenge Anforderungen an die Feststellung sowohl des kognitiven als auch – eigenständig – des voluntativen Elements des (Eventual-)Vorsatzes zu stellen sind. Für die Annahme des voluntativen Vorsatzelementes genügt nicht lediglich die Kenntnis der äußeren Umstände des Nachteils; vielmehr sind darüber hinaus spezifische Feststellungen zur Billigung des Erfolges erforderlich. Das gilt sowohl für Fälle der (höchsten) Vermögensgefährdung als auch des (endgültigen) Vermögensverlustes.
Und es (ver)lockt die Beschuldigung Gabriele Jansen Beschuldigungen durch Beschuldigte – ein zuverlässiges Aufklärungsmittel? Vor allem in Wirtschaftsstrafverfahren stellt sich diese Frage immer wieder, stützen sich vielfach doch Haftbefehle, Arrestbeschlüsse, Anklageschriften oder Verurteilungen allein hierauf. Besonders im Wirtschaftsstrafbereich ist die Struktur des Vorgehens vielfach dieselbe: „Nach groß angelegten Durchsuchungen, der Sicherstellung Hunderter Umzugskisten von Akten und aller erreichbaren Festplatten, der Feststellung aller Bankkonten und deren Arrestierung wird ein ‚Haupt‘Beschuldigter fest- und in Untersuchungshaft genommen.“ 1 Haftdruck, schnelle bundesweite oder gar auch durch Internetmeldungen weltweite Verbreitung des Verdachts verstärkt die Furcht vor Rufschädigung und Existenzverlust. Das macht es den Ermittlern leicht. Ist der Leidensdruck groß genug, sind Beschuldigte in solchen Situationen oft zu tagelangen Vernehmungen bereit. Das vor allem dann, wenn ihnen eine Haftentlassung bei „größtmöglicher Aufklärung“ in Aussicht gestellt wird. In meist noch viel längerer Zeit versuchen Ermittler diese Angaben des Beschuldigten durch weitere Ermittlungen zu überprüfen. Das schafft neue Beweismittel, die es dann ihrerseits wieder zu überprüfen gilt. Ist der Beschuldigte in Untersuchungshaft, verbleibt er vielfach dort solange, bis die Überprüfungen seiner Angaben abgeschlossen ist. Drehtür-Prinzip nennen Strafjuristen es, wenn Beschuldigte „erst nach teilweise tagelanger Aussage zu den Vorwürfen wieder entlassen, während andere Beschuldigte – vom ersten Beschuldigten in dessen Aussagen bezichtigt – festgenommen werden, bis auch sie (nach einer Aussage, versteht sich) entlassen werden“.2
I. Zum Locken Das System funktioniert, weil Ermittler um die Schockwirkung der Untersuchungshaft, um die Verunsicherung, die Wirkungen der Isolierung, die Existenzängste, die mediale Berichterstattung und die Brutalität des Knastalltages wissen. 1 2
Kempf in: SZ v. 4.1.2007. Kempf aaO.
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Angaben, die unter solchen Bedingungen gemacht werden, sind nicht schon für sich genommen unverwertbar i.S.d. § 136a StPO. „Dass ein Beschuldigter Angaben während einer Freiheitsentziehung gemacht hat, bedeutet noch nicht, dass solche Angaben erzwungen worden wären.“ Die Annahme eines entsprechenden Verwertungsverbots setzt vielmehr voraus, dass der Zwang, gegebenenfalls also die Freiheitsentziehung, gezielt als Mittel zur Herbeiführung einer Aussage angewandt worden ist, also „auf das Ob oder Wie einer Aussage gerichtet“ war,3 da die Vorschrift „allein die Willensfreiheit einer Aussage schützen“ will.4 Das Voraugenführen verfahrensrechtlicher Konsequenzen unter sachlichen Erwägungen ist erlaubt.5 Ebenso die Belehrung über die erdrückende Beweislage, wonach ein Abstreiten des Tatvorwurfes nicht Erfolg versprechend ist, sich ein Geständnis strafmildernd auswirken kann.6 Die Grenze wird in dem Versprechen gesetzlich nicht vorgesehener Vorteile für den Beschuldigten gesehen, wobei Vorteile nur solche Vergünstigungen sind, die geeignet sind, das Aussageverhalten zu beeinflussen,7 z.B. die Zusicherung von Straffreiheit bei Belastung von Mittätern.8 Die Bandbreite erlaubter Ermittlungseinflüsse ist demnach groß, die Gefahr, hierauf mit bewussten Falschaussagen zu reagieren, ebenso. Ob Ermittler sich selbst und/oder andere belastende Aussagen unter solch selbst herbeigeführten Bedingungen streng auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen, erscheint zumindest dann eher zweifelhaft, wenn es auch oder vor allem um den spektakulären Ermittlungserfolg geht.
II. Die Verlockung zur (Un)wahrheit Aussagen, Beschuldigungen, die während oder zur Vermeidung der Untersuchungshaft zustande kommen, stehen latent unter dem Verdacht, bewusst falsch zu sein, könnte sich der Beschuldigte hierbei doch vorrangig eher von seinem Freiheitsbedürfnis als von dem Wahrheitsgedanken leiten lassen. Um die Qualität einer solchen Aussage zu beurteilen, könnte man sie – mit den entsprechenden Fachkenntnissen – einer aussagepsychologischen Analyse unterziehen. Das geschieht jedoch meist nicht. Stattdessen beschränken sich Ermittler auf die Überprüfung der sich aus der Aussage ergebenden Beweismittel. 3
BGH StV 1992, 356, 357 mwN; vgl. auch BGH 2 StR 758/94. Erbs NJW 1951, 386, 388; vgl. weiter BGHR StPO § 136a Abs. 1 Zwang 2 = StV 1989, 2 und Abs. 3 Aussage 1 = StV 1987, 329; SK/Rogall StPO § 136a Rn 70. 5 LR/Hanack § 136a Rn 48; SK/Rogall § 136a Rn 63. 6 KK/Boujong § 136a Rn 32. 7 KK/Boujong § 136a Rn 32. 8 OLG Hamm StV 1984, 456; s.a. LR/Hanack § 136a Rn 53. 4
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Gibt der Beschuldigte z.B. an, er habe einmal im Monat 1000 € an X überwiesen, wird man die Kontobewegungen überprüfen. Bestätigen die Ermittlungen diese Behauptung des Beschuldigten, wird man ihm glauben. Ergibt die Überprüfung der Angaben des Beschuldigers keine Übereinstimmung mit den weiteren erhobenen Beweisen, wird man seinen Angaben nicht folgen. Lassen sich in dem Beispiel die Überweisungen nicht mehr rekonstruieren, bleibt das Ergebnis offen. Belastet der Beschuldigte einen anderen und bestreitet dieser den Vorwurf, steht Aussage gegen Aussage. Welcher Aussage Ermittler dann folgen und vor allem nach welchen Kriterien sie entscheiden, kann sicher nicht global gemutmaßt werden. In der Praxis zu beobachten ist, dass meist dem, der die Beschuldigung zuerst erhebt, gefolgt wird. Der sich dagegen zur Wehr setzt, ist in der schlechteren, der Defensivposition. Vielfach begegnet die Beschuldigung eines anderen dem Grunde nach bei Ermittlern wenig bis oft gar keiner Skepsis. Je mehr Beschuldigte es gibt und/oder je größer der Vorwurf ist, umso bedeutender ist das Verfahren und damit auch die Rolle des Ermittlers selbst. 1. Motivationsanalyse In der BGH-Rechtsprechung finden sich überwiegend Entscheidungen, in denen die fehlerhafte oder fehlende Prüfung einer nahe liegenden Motivation für eine bewusste Falschbeschuldigung, nicht jedoch für eine wahrheitsgemäße Beschuldigung angemahnt wird. Die Motivationsanalyse ist dem Strafjuristen vertraut. Findet er kein Motiv für eine absichtliche Falschbeschuldigung, wird die Aussage wahr sein. Oft wird aber überhaupt nicht hinreichend nach einem Falschbeschuldigungsmotiv gesucht, werden Alternativüberlegungen nicht angestellt, sondern es wird mehr oder weniger versucht, den schon vor der Vernehmung angenommenen Sachverhalt durch den Beschuldigten zu bestätigen. Geht der Ermittler also z.B. davon aus, dass der Beschuldigte nicht nur an X, sondern auch an Y und Z oder jedenfalls an mehr als eine Person gezahlt hat, wird er an die Aufklärung durch den Beschuldigten von vornherein die Erwartung knüpfen, dass dieser seine Einschätzung bestätigt. Aussagepsychologen sprechen von der Theorie der kognitiven Dissonanz.9 Danach werden „bevorzugt Informationen gesucht …, die die vorhandene Überzeugung bestätigen, während diejenigen, die ihnen widersprechen, vermieden werden“. Das bezeichnen Aussagepsychologen auch als „confirmation bias“. Köhnken 10 weist auf Untersuchungen hin, wonach Personen vor allem solche Ereignisse 9 Köhnken MschrKrim 1997, 290 ff; vgl. auch Volbert/Pieters Psychologische Rundschau 1996, 183 ff; Eisenberg Beweisrecht der StPO 2006, 4. Aufl., Rn 1380. 10 Köhnken aaO; vgl. auch Köhnken in: Lempp/Schütze/Köhnken, Forensische Psychiatrie und Psychologie des Kindes- und Jugendalters, 1999, S. 318 ff.
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über andere Personen erinnern, „die die eigenen Überzeugungen fördern und bestätigen, und zwar selbst dann, wenn diese Überzeugungen falsch sind“. Grund dafür soll sein, dass die eigene Überzeugung nicht überprüft, sondern nur als richtig bewiesen werden soll. Umgekehrt – findet der Ermittler ein Motiv – muss die Aussage nicht zwangsläufig falsch sein. Man denke an die betrogene Ehefrau, die in ihrer Eifersucht nun der Wahrheit gemäß die langjährige Steuerhinterziehung ihres Ehemannes anzeigt. Aus Wut kann man eben die Wahrheit, aber eben auch die Unwahrheit sagen. Umgekehrt spricht viel dafür, dass der Beschuldigte – dem Vergünstigungen, gar die Beendigung der Untersuchungshaft in Aussicht gestellt werden – schon von sich aus sein Aussageverhalten inhaltlich verändern wird, um die Erwartungen des Vernehmers zu erfüllen.11 Aussagepsychologisch ist die Motivationsanalyse Teil der Fehlerquellenanalyse zur Beurteilung von Zeugenaussagen. Der BGH 12 hat in seiner Grundsatzentscheidung zu aussagepsychologischen Gutachten ausgeführt: „Die Motivationsanalyse zielt vor allem auf die Feststellung möglicher Motive für eine unzutreffende Belastung des Beschuldigten durch einen Zeugen ab (dazu Bender/Nack aaO Rn 181ff). Wesentliche Anhaltspunkte für potentielle Belastungsmotive können etwa der Untersuchung der Beziehung zwischen dem Zeugen und dem von ihm Beschuldigten entnommen werden. Besondere Bedeutung kann auch der Frage zukommen, welche Konsequenzen der erhobene Vorwurf für die Beteiligten oder für Dritte nach sich ziehen kann. Jedoch kann aus einer festgestellten Belastungsmotivation beim Zeugen nicht zwingend auf das Vorliegen einer Falschaussage geschlossen werden.“ Nichts anderes gilt auch für die Angabe des Beschuldigten: Ob das Motiv ihn lockt oder verlockt, lässt sich nicht generell beurteilen, sondern ist immer eine Frage des konkreten Falles. 2. Aussageentstehungsgeschichte Auf die Prüfung der Aussageentstehung hat der BGH erst in den letzten Jahren sein Augenmerk gerichtet. Sie beinhaltet die Rekonstruktion der Aussage von ihrer Entstehung bis hin zu ihrem Vorbringen in der Hauptverhandlung. Beschuldigungen entstehen oft schon im privaten Kreis, lange
11
Sog. Pygmalioneffekt – vgl. dazu Gniech/Stadler StV 1981, 565 ff. BGHSt 45, 164 = NJW 1999, 2746 = NStZ 2000, 100 = StV 1999, 473 = BGHR StPO § 244 IV 1 Sachkunde 9; vgl. allgemein zur Motivationsanalyse Nack Kriminalistik 1995, 257 ff; Steller in: Egg, Sexueller Missbrauch von Kindern, 1999, S. 244 ff; Steller Praxis der Rechtspsychologie, Sonderheft 1, 2000, 9 ff; Michaelis-Arntzen Strafverteidiger-Forum 1990, 181 ff. 12
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vor der Vernehmung, andere erst in der Vernehmung selbst. Zu rekonstruieren sind die Umstände des Zustandekommens und der genaue Inhalt des Gesagten wie auch die Reaktion des anderen auf das Geäußerte. Besondere Aufmerksamkeit verdient in diesem Zusammenhang die Entscheidung des 5. Strafsenates aus dem Jahr 1999.13 Es geht um ein Schwurgerichtsverfahren und die Beurteilung der Aussagen eines Mitbeschuldigten: „Von zentraler Bedeutung war, ob das Landgericht die Hypothese ausschließen konnte, daß S. zwar durchaus detailreich ein sonst reales Geschehen schilderte, allerdings mit Details, die er genauso gut als tatsächlich erlebt wiedergeben konnte, wenn A. überhaupt nicht oder anders beteiligt war. Dazu hätte es einer Aussageanalyse bedurft (dazu eingehend BGH StV 1999, 473 mwN), insbesondere im Hinblick auf die Aussageentstehung und die Verflechtung origineller Details gerade mit Handlungen des A.“ Hier hat der BGH also auf die Entstehung der Aussage eines Mitbeschuldigten abgestellt. Gerade im Korruptionsbereich stehen vielfach keinerlei (entscheidende/ neutrale) Zeugen als Beweismittel zur Verfügung. Ermittlungen konzentrieren sich im Wesentlichen, manches Mal auch ausschließlich, auf die Angaben von Mitbeschuldigten. Derlei Verfahren werden häufig mit Geständnissen, die im Wege des Deals zustande gekommen sind, beendet. Zur Beurteilung derlei Geständnisse von Mitangeklagten hat der BGH 14 klargestellt, dass nicht nur deren Inhalt, sondern auch deren Zustandekommen zu würdigen ist. Im Rahmen der Entstehungsgeschichte der Aussage ist immer auch zu prüfen, ob der Beschuldigte Suggestionseffekten unterliegt,15 so z.B. wenn er im Vorfeld der Vernehmung mit anderen – vielleicht mit Mitbeschuldigten – über die Vorwürfe gesprochen hat und diese in dem einen oder anderen Punkt eine bessere Erinnerung hatten als er selbst, die er dann als eigene übernimmt. Aussagepsychologisch spielt vor allem die Vernehmungsmethode, die konkrete Befragung für das Zustandekommen der Angaben in der Vernehmung eine wichtige Rolle.16 3. Glaubhaftigkeitsmerkmale Aussagepsychologen prüfen die Qualität einer Zeugenaussage anhand 19 anerkannter sog. Glaubhaftigkeitsmerkmale: 17
13
BGH StV 2000, 243. BGHSt 48, 161 = NJW 2003, 1615 = NStZ 2003, 383 = StV 2003, 264 (m. zutreffenden Anm. von Weider) = BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung, unzureichende 15. 15 Zum Ganzen vgl. den Überblick bei Jansen Zeuge und Aussagepsychologie, 2004, S. 181 ff. 16 Jansen aaO S. 171 ff. 17 Zusammenstellung von Steller und Köhnken in: Raskin, Psychological methods in criminal investigation and evidence, 1989, S. 217. 14
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Allgemeine Merkmale 1. Logische Konsistenz, 2. Ungeordnet sprunghafte Darstellung, 3. Quantitativer Detailreichtum, Spezielle Inhalte 4. Raum-zeitliche Verknüpfungen, 5. Interaktionsschilderung, 6. Wiedergabe von Gesprächen, 7. Schilderung von Komplikationen im Handlungsablauf, Inhaltliche Besonderheiten 8. Schilderung ausgefallener Einzelheiten, 9. Schilderung nebensächlicher Einzelheiten, 10. Phänomengemäße Schilderung unverstandener Handlungselemente, 11. Indirekt handlungsbezogene Schilderungen, 12. Schilderung eigener psychischer Vorgänge, 13. Schilderung psychischer Vorgänge des Angeschuldigten, Motivationsbezogene Inhalte 14. Spontane Verbesserung der eigenen Aussage, 15. Eingeständnis von Erinnerungslücken, 16. Einwände gegen die Richtigkeit der eigenen Aussage, 17. Selbstbelastungen, 18. Entlastungen des Angeklagten, Deliktsspezifische Inhalte 19. Deliktsspezifische Aussageinhalte. Das sind Merkmale, die für die Beurteilung von Zeugenaussagen entwickelt wurden. Inwieweit sie auch auf eine Beschuldigtenaussage übertragbar sind, ist noch nicht empirisch untersucht,18 wohl weil sich die Glaubhaftigkeitsbegutachtung im forensischen Kontext bisher meist allein auf (kindliche) Zeugenaussagen bezieht. Die Fragestellung ist bei Beschuldigten dieselbe wie bei Zeugen: hat der Beschuldigte das von ihm Vorgebrachte selbst erlebt oder nicht erlebt? Wegen der in Aussicht gestellten „Vergünstigungen“ (z.B. Haftentlassung, Strafmilderung, Absehen von Strafe) geht es vor allem um die Frage, ob der Beschuldigte den Mitbeschuldigten vorsätzlich falsch belastet. Insofern dürften die Prüfungskriterien keine anderen als die bei dem potentiell bewusst falsch aussagenden Zeugen sein. So wird auch der lügende Beschuldigte bemüht sein, eine glaubhafte logische Geschichte, die frei von Widersprüchen ist, zu erzählen. Die unstrukturierte Aussageweise wird als Glaubhaftigkeitsmerkmal von Ermittlern viel-
18
Vgl. Niehaus Zur Anwendbarkeit inhaltlicher Glaubhaftigkeitsmerkmale bei Zeugenaussagen unterschiedlichen Wahrheitsgehaltes, 2001.
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fach nicht erkannt, führen sie doch nicht selten Äußerungen zu einem späteren Zeitpunkt in der Vernehmung an der „richtigen“ Stelle in dem im Computer gespeicherten Vernehmungstext ein. Aber gerade die Durchbrechung der Chronologie der Handlung in der Schilderung macht das Merkmal aus. Präzise Angaben zum Handlungsablauf und das Erwähnen zahlreicher Einzelheiten, die sich auf das Kerngeschehen beziehen, können das Merkmal des Detailreichtums erfüllen. Auch hier lässt sich ein Unterschied zwischen Zeugen- und Beschuldigtenaussage nicht erkennen. Bei sich wiederholenden Vorgängen heißt es oft, „er gab mir jedes Mal 500 € in einem Umschlag, so etwa 20 mal“, „das war immer so“. So pauschal erfüllen diese Angaben das Glaubhaftigkeitsmerkmal nicht, denn nichts ist immer gleich. Meist wird es auch etwas Außergewöhnliches zu berichten geben, so z.B. ob auch einmal etwas dazwischen gekommen ist, ob einer etwas dazu bemerkt oder etwas gefragt hat. Wird zum Hauptgeschehen ein Bezug zu Örtlichkeiten hergestellt, werden Zeiten angegeben und wird das Geschehen in die Lebensumstände des Aussagenden eingebettet, wird auch das Merkmal der raumzeitlichen Verknüpfung von dem Beschuldigten zu erfüllen sein. Bei Interaktionsschilderungen geht es um die Schilderung der Handlung, der Reaktion darauf und wiederum der Reaktion auf die Reaktion, so, dass man die Situation nachstellen könnte. Das ist ein Merkmal, das Ermittlern vielfach nicht bekannt ist, auf das sie ihre Befragung nicht ausrichten. Auch auf die direkte oder indirekte Wiedergabe von Gesprächen, z.B. wie der Inhalt der Unrechtsvereinbarung konkret zustande gekommen ist, was jeder Beteiligte im Einzelnen dazu gesagt hat, legen sie vielfach keinen Wert in der Vernehmung, da sie nicht um den Wert solcher Aussagepassagen wissen. Gleiches gilt, wenn der Aussagende Komplikationen im Handlungsablauf, die zum Kerngeschehen zählen, für sich oder einen anderen (Hindernisse, vergebliche Versuche, Misserfolge) schildert. Bei den inhaltlichen Merkmalen ist darauf zu achten, ob der Aussagende ungewöhnliche Details berichtet, mit denen man in diesem Zusammenhang nicht rechnet und die er selbst erlebt hat, ob er über Geschehnisse berichtet, die er sich selbst nicht erklären kann, aber überzeugt ist, sie so erlebt zu haben. Zu den Glaubhaftigkeitskriterien gehört auch, wenn über Gefühle während des Geschehens (z.B. „mir wurde heiß und kalt, als ich hörte, um wie viel Geld es ging“), oder über einen emotionalen Zustand eines anderen bei dem Ereignis, den der Aussagende selbst wahrgenommen hat, ausgesagt wird. Motivationsbezogene Inhalte einer Aussage können in der spontanen Verbesserung der eigenen Aussage von sich aus, dem Eingeständnis von Erinnerungslücken (wozu Unsicherheiten, ausweichende Antworten oder wortloses Achselzucken jedoch nicht gehören) und in dem Erinnerungsbemühen, in Einwänden gegen die Richtigkeit der eigenen Aussage oder auch darin, sich in ein schlechtes Licht zu rücken (Selbstbelastungen). Das Merkmal „Entlastungen des Angeklagten“ wird man beidem Beschuldigten auf den Mit-
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beschuldigten, also „Entlastung des von dem Beschuldiger Beschuldigten“ (z.B. Bestecher oder Bestochener), übertragen können. Entsteht die Beschuldigung erst in der Vernehmung – durch die entsprechenden Belehrungen –, sind mögliche verfälschende Einflüsse im Vorfeld nicht zu prüfen. Vielleicht hat der Beschuldigte aber seine Beschuldigung schon zu einem früheren Zeitpunkt, im privaten Kreis, vielleicht auch in einem Disziplinar- oder arbeitsrechtlichen Verfahren vorgebracht, dann wären diese Angaben mit den zeitlich späteren in der Vernehmung zu vergleichen (Konstanzanalyse). Ebenso wären mehrere Vernehmungen des Beschuldigten inhaltlich zu vergleichen.
III. Insgesamt erscheinen jedenfalls auf den ersten, nicht wissenschaftlich geprüften, Blick die meisten der für Zeugenaussagen entwickelten Glaubhaftigkeitsmerkmale auch auf Beschuldigtenaussagen anwendbar. Dass Beschuldigte nicht unter Wahrheitspflicht stehen, macht m.E. für die Beurteilung keinen Unterschied, ist doch die falsche Verdächtigung eines anderen – und darum geht es gerade bei der hier angesprochenen Problematik – strafbar. Zudem wird auch der Beschuldigte mit seinen Angaben das Ziel verfolgen, dass ihm geglaubt wird, andernfalls er nicht in den Genuss der in Aussicht gestellten Vergünstigungen kommen wird. Die Aussage als eigenständiges Beweismittel kann großen Erkenntniswert haben – dass sie von Ermittlern nicht genutzt wird, macht die mangelnde inhaltlich konkrete Befassung mit aussagepsychologisch längst anerkannten Kriterien nur zu deutlich.
Das Unrecht der Strafvereitelung – insbesondere zu den strafrechtlichen Grenzen der Strafverteidigung Walter Kargl I. Einführung 1. Materiellrechtliche Begrenzung Nach der Festlegung des Rechtsguts kommt die Auslegung der Tatbestandsmerkmale. In dieser Reihenfolge soll sich strafrechtswissenschaftliche Erkenntnis abspielen. Die beiden Etappen besitzen in der Dogmatik allerdings ein unterschiedliches Ansehen. Das lässt sich schon an den Funktionen ablesen, die mit den jeweiligen Arbeitsschritten verbunden werden: Während das Rechtsgutsthema auf Sinn und Zweck, auf rechtsphilosophische Vertiefung zielt, gilt die Arbeit am gesetzlichen Wortlaut als Hilfstätigkeit und bestenfalls als notwendige, aber auch als relativ anspruchslose Vorstufe zur Gewinnung des tieferen Grundes. Der Primat der Erklärung hat immer neue Sinnschichten offen gelegt und das Strafrecht in eine Projektionsfläche der Deutungsinteressen verwandelt. Dass damit eine Ausdehnung der strafrechtlichen Reichweite verbunden ist, wird nirgendwo sichtbarer als bei der Poenalisierung von Verhaltensweisen, die nach unbefangenem Verständnis als „alltägliches“, „neutrales“ oder „sozialadäquates“ Handeln verstanden wird.1 In den Sog der Strafdrohung sind so insbesondere berufsspezifische Verhaltensweisen geraten, wie etwa solche von Bankangestellten, die anonyme Vermögenstransfers ins Ausland ermöglichen, oder von Ladeninhabern, die Medikamente an Kunden verkaufen, von denen zu befürchten ist, dass sie den Wirkstoff zu einer Straftat benutzen.2 Als Paradebeispiel für die Schaffung eines strafrechtlichen Berufsrisikos muss des Weiteren die Geldwäschevorschrift gelten, mit deren Hilfe es möglich erscheint, nahezu jedes alltäg-
1 Zum Stand der Diskussion vgl. Wohlers Deliktstypen des Präventionsstrafrechts – zur Dogmatik „moderner“ Gefährdungsdelikte, 2000, S. 33, 111; Hörnle Grob anstößiges Verhalten. Strafrechtlicher Schutz von Moral, Gefühlen und Tabus, 2005, S. 90, 176; Andrew von Hirsch FS für Eser, 2005, S. 189. 2 BGH JZ 2000, 1177; Otto JZ 2001, 442; Ambos JA 2000, 721; Hillenkamp 32 Probleme aus dem Strafrecht AT, 11. Aufl. 2003, 28. Problem.
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liche Geschäft zu kriminalisieren.3 Jeweils dienen Rechtsgutserwägungen als Hebel für die Überschreitung von Grenzen, die durch die Regeln des Allgemeinen Teils oder den Wortlaut der Strafvorschrift gezogen werden. Unter den Berufen, die einem besonderen strafrechtlichen Risiko ausgesetzt sind, steht die Gruppe der Strafverteidiger in der ersten Reihe. Das gilt nicht nur für die breitflächige Möglichkeit, normales Verteidigerhandeln unter die Gefährlichkeitsvermutungen des Geldwäschetatbestands zu subsumieren, sondern mehr noch für die uferlose Brandmarkung des Verteidigeragierens, die durch die Tatbestandsvoraussetzungen der Strafvereitelung eröffnet wird.4 Erblickt man die Ratio der Strafvereitelung darin, der Behinderung der Strafrechtspflege entgegen zu wirken, fällt in der Tat die anwaltliche Beistandsleistung bereits per definitionem in den Anwendungsbereich des § 258 StGB. Daher wundert es nicht, wenn vielfältige Versuche unternommen werden, den Tatbestand in feste Grenzen zu zwingen. Die Lösungswege knüpfen teils an die von Welzel begründete Lehre von der Sozialadäquanz 5 an, teils leiten sie die Straffreiheit von der Lehre vom Regressverbot 6 ab, teils wird die Begrenzung der Strafbarkeit mit dem Prinzip der Selbstverantwortung 7 begründet. Die Rechtsprechung 8 differenziert danach, ob die Strafvereitelung durch Verteidigung mit direktem Vorsatz erfolgt oder ob der Verteidiger mit einer Ausnutzung seiner Leistung für deliktische Zwecke nur im Sinne einer Möglichkeit rechnet. Danach bliebe straflos, wer die Behinderung der Verfolgungstätigkeit bloß billigend in Kauf nimmt. Diese Limitierungsversuche haben freilich den Nachteil, dass sie weder mit der Intention des Gesetzgebers noch mit dem Wortlaut des § 258 StGB in Einklang stehen. Sie sind – wie unten zu zeigen sein wird – zumeist auch nicht mit den Dezisionen vereinbar, die zum Schutzinteresse der Strafvereitelung vertreten werden. So bleibt auf dem Boden der materiellrechtlichen Prüfung eigentlich nur das Festhalten an der Maxime des fragmentarischen Rechtsgüterschutzes, die eine Kriminalisierung nur bei erheblich frieden-
3 Fischer NStZ 2004, 473; Müssig wistra 2005, 201; Geppert JK 2000, StGB, § 261/3; Kargl NJ 2001, 57; E. Müller StraFo 2004, 3. 4 Instruktiv Bottke ZStW 96 (1984) 726; Hassemer StV 1982, 275; Armbrüster Die Entwicklung der Verteidigung in Strafsachen, 1980; Beulke Der Verteidiger im Strafverfahren, 1980; Gössel ZStW 94 (1982) 5; Lüderssen FS für Sarstedt, 1981, S. 145. 5 Welzel Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 55; Philipowski in: Kohlmann, Strafverfolgung und Strafverteidigung im Steuerstrafrecht, 1983, S. 142; Kniffka wistra 1987, 310; Meyer-Arndt wistra 1989, 287. 6 Jakobs Strafrecht AT, 2. Aufl. 1993, 24/15. 7 Schumann Strafrechtliches Handlungsunrecht und das Prinzip der Selbstverantwortung der Anderen, 1986, S. 42; diff. Löwe-Krahl Die Verantwortung von Bankangestellten bei illegalen Kundengeschäften, 1990, S. 37. 8 BGHSt 38, 345; dazu Widmaier Festgabe für den BGH, 2000, S. 1057; Beulke JR 1994, 121; Stumpf NStZ 1997, 10.
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störendem, typischerweise rechtswidrigem Verhalten erlaubt.9 Die Richtigkeit dieser Maxime ändert allerdings nichts daran, dass sie den Gesetzesinterpreten auf einen Tummelplatz der Deutung leitet. 2. Verfahrensrechtliche Begrenzung Die Mehrzahl der Autoren, die sich mit dem schwierigen Verhältnis zwischen Strafverteidigung und Strafvereitelung auseinandergesetzt haben, geht denn auch nicht den materiellrechtlichen Weg. Sie hält § 258 StGB insofern für aussageschwach, als er für die Trennlinie zwischen gestattetem und verbotenem Verteidigerhandeln nichts hergebe. Infolgedessen überlässt sie die Bewertung jedweden Verteidigerhandelns der verfahrensrechtlich begründeten Entscheidung. Vorausgesetzt wird dabei, dass eine zulässige Verteidigung keine rechtswidrige Straftat sein könne.10 Wo aber die Trennlinie zwischen unstatthaftem und erlaubtem Verteidigerhandeln verläuft, ist in der strafverfahrensrechtlichen Dogmatik alles andere als geklärt. Selbst der Konsens darüber, welche Maximen und Institute bei der Suche nach hinreichend klaren Grenzen hilfreich sein könnten, ist längst zerbrochen. Die Palette der von der Prozesslehre bemühten Argumente reicht von der Bestimmung der Funktion des Verteidigers über das Verfahrensziel der Wahrheit, die Idee des fairen Verfahrens bis zum Topos der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege. Greift man nur den ersten Punkt, den Standort des Verteidigers im Strafprozess,11 heraus, sieht man sich sogleich in einen Theorienstreit verwickelt, der bis heute unvermindert anhält und inzwischen nicht nur aus Verteidigersicht für unfruchtbar gehalten wird, weil die verschiedenen Meinungen auf je eigene Weise die Handlungsräume der Verteidigung einengen. Ob man den Verteidiger als „Organ der Rechtspflege“ 12 oder als „privaten Interessenvertreter“ 13 versteht, in beiden Fällen erscheint Verteidigerhandeln als abgeleitet und mehr oder weniger weisungsgebunden. Auf alle Fälle zieht ein derart polarisiertes Meinungsbild ganz unterschiedliche Grenzen hinsichtlich 9
Bottke ZStW 96 (1984) 729; Roxin JuS 1966, 377, Baumann JurBl. 1965, 113. Aus dem Schrifttum vgl. Strzyz Abgrenzung von Strafverteidigung und Strafvereitelung, 1983; Waldhorn Das Verhältnis von Strafverteidigung und Strafvereitelung, 1967; Ostendorf NJW 1978, 1345; Wassmann Strafverteidigung und Strafvereitelung, 1982. Zeifang Die eigene Strafbarkeit des Strafverteidigers im Spannungsfeld zwischen prozessualem und materiellem Recht, 2004. 11 Vgl. Die Übersichten bei Wolf Das System des Rechts der Strafverteidigung, 2000; Grüner Über den Missbrauch von Mitwirkungsrechten und Mitwirkungspflichten des Verteidigers im Strafprozess, 2000; E. Müller FS für Dahs, 2005, S. 3. 12 BVerfGE 34, 300; BGHSt 9, 22; 12, 369; 46, 43; LG Hamburg StV 2003, 328; Dahs Handbuch des Strafverteidigers, 7. Aufl. 2005, Rn 11; Volk Grundkurs StPO, 4. Aufl. 2005, § 11 Rn 20 ff; Kindhäuser Strafprozessrecht, 2006, § 7 Rn 5. 13 Ostendorf NJW 1978, 1349; Welp ZStW 90 (1978) 804; Bernsmann StraFo 1999, 226; zur sog. „Vertragstheorie“ vgl. Lüderssen FS für Dünnebier, 1982, S. 263. 10
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der Frage nach dem zulässigen Verteidigerverhalten. Noch unübersichtlicher ist die Debatte über die Frage der Verteidigerbindung an die Wahrheit. Zwar hält die hM 14 mit unterschiedlichen Begründungen an der Wahrheitspflicht des Verteidigers fest, aber die eingeräumten Ausnahmen überwuchern längst das Prinzip. Andere ziehen daraus die Konsequenz, es gebe für den Verteidiger ein „Recht zur Lüge“, z.B. die Befugnis, den Beschuldigten zum Lügen zu animieren, oder sich die Lügen seines Mandanten in der Hauptverhandlung zu Eigen zu machen.15 Wieder andere greifen die Wahrheitspflicht aus erkenntnistheoretischen Gründen an und lassen deshalb allein die im Verfahren interaktiv hergestellte Sicht als Wahrheit gelten.16 3. Verfassungsrechtliche Begrenzung Das hier nur angedeutete Meinungsspektrum muss nicht notwendigerweise zu dem Schluss führen, es gebe überhaupt kein „allgemeines Prinzip“, mit dessen Hilfe sich das strafprozessual zulässige Verteidigerverhalten vom unzulässigen abgrenzen lasse. Es ist vor allem Rainer Hamm17 zu verdanken, dass sich die in den berufsständischen Gremien zur Theorie hochstilisierten „Theorielosigkeit“ bei der Standortbestimmung des Strafverteidigers nicht durchzusetzen vermochte.18 In seinem grundlegenden Beitrag zur Verteidigertheorie aus dem Jahr 1993 prognostizierte Hamm, dass sich die Justizpraxis einschließlich der höchstrichterlichen Rechtsprechung des BGH angesichts der Zersplitterung der Rechtswissenschaft ermuntert sehen werde, den Lehrbuch- und Aufsatz-Diskurs nur noch selektiv und nach Bedarf zur Kenntnis zu nehmen. Aus diesem Gunde hielt er einen Methodenwechsel bei der Fixierung der Verteidigerrechte für unausweichlich: Anstelle der Strafprozessordnung, die mehr und mehr in einen Ermächtigungskatalog für die von den Polizeistrategen gewünschten Eingriffsbefugnisse umfunktioniert worden sei, müsse das Grundgesetz und die Menschenrechtskonvention 14 BVerfGE 38, 119; Beulke (Fn. 4) 149; KK-Laufhütte 5. Aufl., vor § 137 Rn 7; Kühne Strafprozessrecht, 6. Aufl. 2003, Rn 199; Krey Deutsches Strafverfahren Bd. 1, 2006, § 7 Rn 263. 15 So ausdrücklich Strzyz (Fn. 10) 304; Heeb Grundsätze und Grenzen der anwaltlichen Strafverteidigung, 1973, S. 43; Wassmann (Fn. 10) 122; Fezer FS für Stree/Wessels, 1993, S. 682; SK-Wohlers 5. Aufl., vor § 137 Rn 72, 77; AK-Stern vor § 137 Rn 75. 16 Zum Diskussionsstand Joachim Schulz in: Prittwitz/Manoledakis (Hrsg.) Strafrechtsprobleme an der Grenze zur Jahrtausendwende, 2000, S. 89; Gössel Ermittlung oder Herstellung von Wahrheit im Strafprozeß? 2000; Kargl Handlung und Ordnung im Strafrecht, 1991, S. 28 Fn. 18; Ingo Müller KJ 1977, 11; Lütz-Binder StraFo 2004, 2. 17 R. Hamm NJW 1993, 289; zur Relativierung der Verfahrensrechte durch die „Abwägungslehre“ vgl. auch Schünemann StraFo 2005, 181. 18 Zu den „Thesen zur Strafverteidigung“, die vom Strafrechtsausschuss der Bundesrechtsanwaltskammer formuliert wurden, vgl. Schriftenreihe der Bundesrechtsanwaltskammer, Bd. 8, 1992.
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treten.19 Von diesen Rechtsquellen erhofft er sich eine Grundausstattung der Strafverteidigung, die das kasuistische Suchen in den Krümeln hinter sich lassen und stattdessen feste Bindungen schaffen würde. Vor allem die starke Betonung des Beschuldigten als Prozesssubjekt und die Notwendigkeit, die Autonomiedefizite des Mandanten auszugleichen, sollten die Barriere bilden, die das Verteidigergrundrecht vor dem üblicherweise angebotenen Kompromiss zwischen der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege und den Rechten des Beschuldigten schützen.20 Mit Hilfe dieser Grundlegung gelingt es Hamm, der grassierenden Abwägungskultur die freiheitlich-personale Dimension der Staatsverfassung entgegen zu halten und die Zulässigkeit des Verteidigerhandelns aus einer rechtstheoretischen Tiefe zu entwickeln, die gegen die Zumutungen des Schutzgedankens und der Präventionsherrschaft einen starken Widerstand leistet. Von hier aus ist es nur ein kleiner Schritt, die von Hamm ins Werk gesetzte „magna charta libertatum“ der Strafverteidigung aus der verfassungsrechtlich geprägten Denkform zu lösen und die Geltung der Person vorpositiv – sei es naturrechtlich, intersubjektiv oder anerkennungstheoretisch – zu begründen. Vor dem Hintergrund des theoretischen Grundgerüstes der Verteidigung, an dem Rainer Hamm maßgeblich mitgewirkt hat, heißt es, entweder Farbe zu bekennen oder sich vor den auftauchenden Widersprüchen wegzuducken. Für beide Strategien gibt es seither reichlich Belege. Sicher ist jedenfalls, dass sich die Dinge für den Beschuldigten und den Verteidiger unaufhaltsam verschlechtert haben.21 Von einer Präzisierung dessen, was als zulässiges Verteidigerhandeln gelten soll, ist die Strafprozessdogmatik weiter entfernt denn je. Es dürfte deshalb den Versuch wert sein, die strafrechtliche Beurteilung der Grenzen des Verteidigerhandelns wieder ins materielle Recht zurückzuverlagern. Um dabei nicht von Beginn an auf die Probleme zu stoßen, die im Verfahrensrecht etwa die Frage nach dem „Wesen“ der Strafverteidigung aufwerfen, gilt es zunächst, Überlegungen zum Rechtsgut der Strafvereitelung zurückzustellen. Da das Rechtsgut selbst eine reflexive Größe ist, die von der Interpretation der strafrechtlichen Norm abhängt, sollen in einem ersten 19
R. Hamm NJW 1993, 293. Zu den im Wachsen begriffenen „verfassungsrechtlich-prozessualen“ Theorien vgl. auch Köllner in: Bockemühl (Hrsg.) Handbuch des Fachanwalts Strafrecht, 3. Aufl. 2006, A/42; Ignor/Danckert in: Ziegert (Hrsg.) Grundlagen der Strafverteidigung, 2000, S. 17; Paulus NStZ 1992, 305; Schnarr FS für G. Schäfer, 2002, S. 66; SK-Wohlers vor § 137 Rn 29; Hassemer StraFo 2004, 113. 21 Hierzu eindringlich R. Hamm Ist die Entformalisierung des Strafrechts und des Strafprozessrechts unaufhaltsam? in: Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie Frankfurt a.M. (Hrsg.) Jenseits des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2007, S. 521; P. A. Albrecht Das nach-präventive Strafrecht, in: Institut für Kriminalwissenschaften (s.o.) S. 3; zum Diskussionsstand auch Reichardt Strafbarkeit des Anwalts durch Mitwirkung an privaten Insolvenzverfahren, 2005; Winkler Die Strafbarkeit des Strafverteidigers jenseits von § 258 StGB, 2005. 20
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Schritt die Konturen der allgemeinen materiell-rechtlichen Merkmale des § 258 StGB untersucht werden. Die wichtigsten Weichenstellungen ergeben sich dabei aus der Analyse der in § 258 StGB normierten Angriffsobjekte sowie der Angriffshandlungen. Erst wenn die – von der wissenschaftlichen Literatur regelmäßig vernachlässigten – Tatobjekte und Unrechtshandlungen in ihrer Bedeutung für die Schärfung des Rechtsgutsbegriffs erkannt sind, lassen sich teleologische Überlegungen in der Spur des Gesetzes halten. Dem Abschnitt über die Tatbestandsvoraussetzungen soll eine knappe Problemskizze des § 258 StGB vorangestellt werden.
II. Zum Unrechtsgehalt der Strafvereitelung 1. Problemstellungen a) Das Erfolgsunrecht Auf der Problemliste des objektiven Tatbestands der Strafvereitelung steht an prominenter Stelle die Bestimmung des Vereitelungserfolgs. Diesen Erfolg umschreibt § 258 Abs. 1 StGB durch die Formulierung „wer […] ganz oder zum Teil vereitelt, dass ein anderer dem Strafgesetz gemäß wegen einer rechtswidrigen Tat bestraft oder einer Maßnahme […] unterworfen wird […]“. Gemessen an der Wortwahl „ganz vereitelt“ liegt es nahe, die Erfolgsverursachung an den Zeitpunkt zu koppeln, an dem eine Strafe endgültig nicht mehr verhängt werden kann.22 Dessen ungeachtet lassen es die Rechtsprechung 23 und die im Schrifttum herrschende Auffassung 24 genügen, wenn der staatliche Sanktionsanspruch für „geraume Zeit“ nicht verwirklicht worden ist. Für diese Auslegung gibt es eine – wenn auch schmale – Basis im Gesetzestext. Bezieht man den Erfolg auf jene Zeitspanne, in der durch das Täterverhalten das Verfahren verzögert wird, so ist jedenfalls während dieser Phase eine Bestrafung „ganz vereitelt“. Plausibler als die grammatikalische Erklärung sind dagegen teleologische Überlegungen, die den Aspekt der Kriminalisierung der Verzögerung auf die Strafzwecke der General- und Spezialprävention stützen.25 22 Zu dieser Intention vgl. auch Begr. E 1909, 567; ebenso Begr. zum E 1960, 587; instruktiv zur geschichtlichen Entwicklung der Strafvereitelung Wappler Der Erfolg der Strafvereitelung, 1998, S. 16. 23 RGSt 70, 254; 73, 298; 74, 181; vgl. OLG Stuttgart Die Justiz 1976, 440; BGH MDR 1981, 631; BGH wistra 1995, 143. 24 LPK-Kindhäuser 3. Aufl. 2006, § 258 Rn 4; Lackner/Kühl StGB, 25. Aufl. 2004, § 258 Rn 4; LK-Ruß StGB, 11. Aufl. 1994, § 258 Rn 10; Schönke/Schröder-Stree StGB, 27. Aufl. 2006, § 258 Rn 16. 25 Z.B. Schroeder Straftaten gegen das Strafrecht, 1985, S. 21; Maurach/Schroeder/Maiwald Strafrecht BT 2, 9. Aufl. 2005, § 100 I Rn 5; U. Günther Das Unrecht der Strafvereitelung (§ 258 StGB), 1999, S. 18.
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b) Das Handlungsunrecht Strafzweckargumente prägen auch den Diskussionsstand zum Verhältnis zwischen der Strafvereitelung und der Teilnahme. Bei diesem weiteren Grundproblem des § 258 StGB geht es um die Frage, ob typische Unterstützungshandlungen wie Fluchthilfe, Beschaffung falscher Papiere oder Wohnraumüberlassung als täterschaftliches Vereitelungshandeln oder als Teilnahme an Selbstschutzmaßnahmen des Vortäters zu werten sind.26 Da die Beihilfe zur Selbstbegünstigung straflos bleibt, kommt der Entscheidung über die Einbeziehung der Hilfestellung in den Vereitelungsbegriff erhebliche Bedeutung zu. Wortsinn und Vergleich mit dem früheren Gesetz drängen erneut zur restriktiven Auslegung, da das Merkmal „Vereiteln“ eine tatherrschaftliche Begünstigung beschreibt, die prima facie jede Unterstützung des Vortäters, die sich materiell als Teilnahmehandlung darstellt, aus dem Begriff der Tathandlung eliminiert.27 Dennoch hält es die ganz überwiegende Literaturansicht 28 für geboten, den „sachlichen Beistand“ der Vereitelungshandlung zuzuordnen. Zur Begründung wird auf die sonst bestehenden Strafbarkeitslücken, insbesondere aber auf das Schutzgut des § 258 StGB verwiesen. Die Ausschaltung der nachträglichen Hilfe stehe im Strafverfolgungsinteresse des Staates.29 Wie beim Geldwäschetatbestand handele es sich bei den §§ 257, 258 StGB um Normen des mittelbaren Rechtsgüterschutzes, die eine Isolierung von Delinquenten bezwecken, um so bereits die Entstehung von Straftaten zu vermeiden.30 Von dieser Schutzkonzeption ausgehend unterläuft die generalpräventive Wirkung des Strafrechts, wer dem Vortäter bei Verdunkelungsmaßnahmen behilflich ist, ihn auf die drohende Entdeckung hinweist, ihm Geld für die Flucht aushändigt oder durch sonstige Handlungen die Flucht ermöglicht. Es hat sich gezeigt, dass die Versuche, sowohl die Vereitelungshandlung als auch den Vereitelungserfolg näher zu bestimmen, regelmäßig auf Überlegungen zum Rechtsgut des § 258 StGB gestützt werden. Das entspricht der eingangs erwähnten Methode, den Sinn einer Vorschrift festzulegen, bevor 26 Weitere Beispiele bei Arzt/Weber Strafrecht BT, 2000, § 26 Rn 3; Pellkofer Sockelverteidigung und Strafvereitelung, 1999, S. 142. 27 Hierzu namentlich Ebert ZRG 1993, 56; Jerouschek/Schröder GA 2000, 59; Lenckner GS für H. Schröder, 1978, S. 350; Scholderer StV 1993, 229. 28 Frisch JuS 1983, 919; Küper GA 1997, 315; Küpper GA 1987, 391; Lackner FS für die Juristische Fakultät Heidelberg, 1986, S. 42; LK-Ruß (Fn. 24) § 258 Rn 35. 29 Wolter JuS 1982, 346; Sowada Die „notwendige Teilnahme“ als funktionales Privilegierungsmodell im Strafrecht, 1992, S. 197, 270; Gropp Deliktstypen mit Sonderbeteiligung, 1992, S. 247. 30 In diesem Sinne H. Schneider Grund und Grenzen des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips auf der Basis eines generalpräventiv-funktionalen Schuldprinzips, 1991, S. 177; B. Wolff Begünstigung, Strafvereitelung und Hehlerei, 2002, S. 80.
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man sich der genauen Betrachtung der Tatbestandsmerkmale widmet.31 Bei der Strafvereitelung verhält es sich überdies so, dass die aus gleichen rechtsgutsorientierten Prämissen abgeleiteten Schlussfolgerungen differieren. So kommt etwa Samson 32 auf dem Boden des generalpräventiven Schutzmodells zu der Erkenntnis, dass eine Verzögerung des Urteils dem Normbewusstsein der Bürger keinen Schaden zufüge. Andere wieder sehen im präventiven Aspekt der Isolierung des Vortäters keinen Grund, von der Täterschaftslösung des Vereitelungsbegriffs abzuweichen.33 Schon diese Streubreite der Schlussfolgerungen erweist den Begründungsansatz, der die Präventionszwecke in den Rang von Schutzgütern des § 258 StGB erhebt, als wenig hilfreich. Ein Blick auf die Struktur des Strafvereitelungstatbestands belegt, dass derartige Festlegungen zudem falsch liegen.
2. Tatobjekte a) Rechtswidrige Vortat Die Verfolgungsvereitelung nimmt ausdrücklich auf die Vereitelung einer Strafe oder Maßnahme „wegen einer rechtswidrigen Tat“ Bezug. Daraus ist von einigen Autoren 34 abgeleitet worden, dass es sich bei der Voraussetzung „rechtswidrige Tat“ um ein Tatbestandsmerkmal handelt, dessen Besonderheit lediglich darin besteht, dass es auf andere Straftatbestände als Vortat verweist. Diese Sicht betont die nahe Verwandtschaft der Strafvereitelung zur Teilnahme, wo in den §§ 26, 27 StGB die „rechtswidrige Tat“ als ein Blankettmerkmal 35 ausgestaltet ist, in das die tatbestandsergänzenden Vorschriften hineingelesen werden müssen. Folgerichtig habe sich der Vorsatz des Strafvereitelers auf alle Merkmale der konkreten Vortat zu erstrecken. Eine gewisse Stütze erfährt diese Ansicht durch die hM,36 die formal an der Tatbestandsqualität der Vortat festhält. Der Sache nach zieht sie aber andere Konsequenzen: Im objektiven Tatbestand sei nur festzustellen, dass ein vereitelungsfähiger Sanktionsanspruch bestand, wobei die Vortat nicht genau
31 Methodisch wie hier Stumpf Die Strafbarkeit des Strafverteidigers wegen Strafvereitelung, 1999, S. 50; Nelles Untreue zum Nachteil von Gesellschaften, 1991, S. 287. 32 Samson JA 1982, 182; vgl. auch Schönke/Schröder-Stree (Fn. 24) § 258 Rn 16a. 33 LK-Roxin StGB, 8. Aufl. 1993, vor § 26 Rn 39; ders. FS für Stree/Wessels, 1993, S. 365. 34 Vgl. Metzner Die Kenntnis des Begünstigers von der Vortat, 1959, S. 22; für eine Qualifizierung der Vortat als objektive Bedingung der Strafbarkeit Bockelmann NJW 1951, 623; RGSt 64, 130; Schmidthäuser Strafrecht BT, 2. Aufl. 1983, 11/33; U. Günther (Fn. 25) 59. 35 Zum Begriff der Blankettmerkmale vgl. NK-Puppe 2. Aufl. 2005, § 16 Rn 25; NKHassemer/Kargl (s.o.) § 1 Rn 22. 36 Wessels/Hettinger Strafrecht BT 1, 30. Aufl. 2006, Rn 710; Arzt/Weber Strafrecht BT, LH 4, 2. Aufl. 1989, Rn 367; Bockelmann Strafrecht BT 3, 1980, S. 53.
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bestimmbar zu sein braucht.37 Noch klarer tritt die inhaltliche Distanzierung von der Einordnung der Vortat als Tatbestandsmerkmal bei den subjektiven Voraussetzungen zu Tage. So soll es für die Bejahung des Vorsatzes nicht darauf ankommen, ob sich der Strafvereiteler überhaupt eine konkrete Vortat vorstellt, solange nur tatsächlich irgendeine Vortat vorliegt.38 Der Täter muss also bloß von einer wie immer gearteten Vortat ausgehen und darüber hinaus die Verfolgbarkeit der Tat kennen. b) Strafen und Maßnahmen Mit diesem Verständnis der Bezugsobjekte des Vorsatzes ist klargestellt, dass nicht die Vortat, sondern die Rechtsfolgen „Strafe“ und „Maßnahme“ die entscheidenden Tatbestandselemente des § 258 Abs. 1 StGB sind.39 Die hM hat damit nicht nur die historische Nähe der Strafvereitelung zur Teilnahme zurückgewiesen, sondern auch den eigenständigen Unrechtscharakter der Strafvereitelung gestärkt. In dieser Sicht geht es bei dem Umstand, der das Unrecht der Strafvereitelung ausfüllt, um die aus der „rechtswidrigen Tat“ resultierende, konkret zu verhängende Strafe oder Maßnahme.40 Die Vortat selbst ist für die Unrechtsbeschreibung des Strafvereitelungstatbestands letztlich bedeutungslos. Um welche Vortat es sich handelt, spielt nur insofern eine Rolle, als deren materiellrechtliche Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit Sanktionen tatsächlich verhängt werden können. Also erschöpft sich die Funktion der Vortat darin, notwendige Bedingung für das Vorhandensein der Strafbefugnis zu sein. In diesem Sinne bezeichnete bereits die Begründung von 1909 41 „die Vortat […] als das den Strafanspruch erzeugende Ereignis“. Binding 42 wollte ebenfalls die Vortat nur als „Quelle“ der Sanktionen verstanden wissen. 3. Das Rechtsgut a) Delikt gegen Rechtsgüter der Vortat Mit der Feststellung, dass Strafen und Maßnahmen als Angriffsobjekte der Strafvereitelung ausgewiesen sind, wird von vornherein eine Rechtsgutsbestimmung zu Fall gebracht, deren Ansatz auf das durch die Vortat verletzte Rechtsgut Bezug nimmt.43 Eine Betrachtungsweise, die auf den Geltungs37
Schönke/Schröder-Stree (Fn. 24) § 258 Rn 10; RGSt 58, 291; BGH MDR/D 1969, 194. LG Hannover NJW 1976, 979; LK-Ruß (Fn. 24) § 258 Rn 22 mwN. 39 SK-Samson StGB, 6. Aufl. 1997, § 258 Rn 10; NK-Puppe (Fn. 35) § 16 Rn 26. 40 Przybyla Das Verhältnis von Beihilfe und Begünstigung, 1999, S. 7; Pellkofer (Fn. 26) 81; Rengier Strafrecht BT 1, 8. Aufl. 2007, § 21 Rn 2. 41 Begr. VE 1909, 567. 42 Binding Strafrecht BT 2, 1905, S. 657. 43 In neuerer Zeit Miehe FS für Honig, 1970, S. 91 (105). 38
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bereich der zu begünstigenden Tat abhebt, würde die Selbständigkeit des Vereitelungstatbestands leugnen und einen Rückfall in das bereits überwundene auxilium post delictum 44 bedeuten. Wer behauptet, dass der Strafvereiteler sich nur gegen das Rechtsgut richte, das durch die Vortat verletzt wurde, müsste für die volle Verwirklichung des Tatbestands verlangen, dass sich der Vorsatz des Strafvereitelns auf diese Rechtsgutsverletzung erstreckt. Es ist also nicht konsequent, wenn einige Vertreter der Vortatlösung es dabei bewenden lassen, dass sich der Täter keine Vorstellungen über die Art der Vortat und damit über das geschützte Rechtsgut zu machen braucht. Das Gesetz ist in diesem Punkt eindeutig: Es geht nicht um den durch die „rechtswidrige Tat“ angerichteten Schaden, sondern um die Vereitelung der aus der Vortat resultierenden Strafe oder Maßnahme. Erst recht hat § 258 StGB nicht die allgemeine Aufgabe, das Strafrecht in seiner Gesamtheit und folglich zugleich sämtliche strafbewehrten Rechtsgüter zu schützen.45 Auch hier gilt der Einwand, dass der Gesetzgeber das Schutzgut auf den Bereich der Strafen und Maßnahmen eingegrenzt hat. Also lautet der Vorwurf an den Vereiteler nicht mehr, er habe die Sicherstellung der Diebesbeute verhindert oder sämtliche vom Strafrecht geschützten Rechtsgüter angegriffen, sondern er habe die zum Schutz der Rechtsgüter vorgesehenen Mittel gehemmt.46 Damit wird die Rechtspflegetätigkeit selbst zum Rechtsgut, und an die Stelle des geschädigten Bürgers tritt der in seinem Interesse handelnde Staat als Verletzter.47 Was das aber genau heißt und insbesondere aus welchem Grundgedanken heraus das Unrecht der Strafvereitelung an die Störung der staatlichen Rechtspflege gebunden werden kann, bedarf der weiteren Klärung. Dazu ist eine Auseinandersetzung mit Auffassungen erforderlich, die den Begriff der Strafrechtspflege einerseits als das ordnungsgemäße Funktionieren der Strafverfolgungsinstitutionen und andererseits als die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs umschreiben. b) Delikt gegen die Verfolgungstätigkeit Unter der Verletzung der Strafrechtspflege wird noch immer die Behinderung der am Strafverfahren beteiligten staatlichen Organe verstanden. Historisch geht diese Ansicht auf die Lehre von der Begünstigung als Rechts-
44 Statt vieler hierzu Dümmler Die Begünstigung in historisch-dogmatischer Darstellung und ihre Regelung in den Strafrechtsentwürfen, 1928, S. 11. 45 Mit unterschiedlichen Akzentuierungen Müller-Dietz Jura 1979, 244; Schroeder (Fn. 25) 21; Maurach/Schroeder/Maiwald (Fn. 25) § 100 Rn 5; Siepmann Abgrenzung zwischen Täterschaft und Teilnahme, 1988, S. 80. 46 So nach der Gesetzesreform BGH NStZ 1987, 22; BGHSt 36, 280; BGH NStZ 1994, 188. 47 Ausführlich hierzu und zum Folgenden Altenhain Das Anschlußdelikt, 2000, S. 145.
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pflegedelikt zurück, die sowohl die sachliche als auch die persönliche Begünstigung zu einem einheitlichen Delikt gegen den Staat zusammenfasste.48 „Staatliche Rechtspflege“, befand Oppenheim,49 sei die „Thätigkeit des Staates, die auf die Erhaltung der Rechtsordnung gerichtet ist“. Nach Hegler 50 liegt das Unrecht der Begünstigung darin, dass sie den Staat beim „erfolgreichen Gang seiner Rechtspflegetätigkeit“ hemme. Gegen diese Argumentation wurde aber schon damals das Fehlen eines praktischen Bedürfnisses eingewendet. Die Strafverfolgungsorgane seien „mit ausreichenden Machtmitteln ausgestattet, um Handlungen entgegenzutreten, die ihren ordnungsgemäßen Gang zu hindern suchen“.51 Im Übrigen müsste dann die bloße Fehlleitung der Strafverfolgungsbehörden für eine Bestrafung ausreichen, was die Behinderung der Verfahren gegen unschuldige Verdächtige und die mit keiner Vereitelung verbundene Hinderung von Ermittlungsmaßnahmen gegen Schuldige eingeschlossen hätte.52 Wenn somit ausdrücklich die Bestrafung jeder Störung der Tätigkeit der Strafverfolgungsbehörden abgelehnt wird, stellt sich dennoch die Frage, ob durch die Vereitelung der strafrechtlichen Rechtsfolgen die Rechtspflegeorgane an der Erfüllung ihrer Aufgaben gehindert werden. Unter diesem Aspekt wäre eine Verletzung der Strafrechtspflege sowohl durch Vereitelung der Ziele des Strafverfahrens als auch durch Vereitelung der Strafzwecke denkbar. c) Delikt gegen Prozessziele Während nach früher herrschender Auffassung 53 das Strafverfahren vornehmlich „der Verwirklichung des materiellen Strafrechts“ dient, wird heute u.a. die Wahrheit als Verfahrensziel genannt.54 Diese Präzisierung des Verfahrenszwecks soll verdeutlichen, dass die staatlichen Organe zur Objektivität verpflichtet sind und kein eigenes Interesse an der Strafverfolgung haben. Es handelt sich dabei um eine Absicherung der Rechtsstaatlichkeit, wenn die Strafrechtspflege auf den Prozesszweck der Wahrheit ausgerichtet wird. 48 RGSt 16, 206; 20, 233; 54, 134; 76, 32; Hirschberg Die Schutzobjekte der Verbrechen, 1910, S. 152; Kriegsmann ZStW 30 (1910) 571; v. Liszt Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 14. Aufl. 1905, S. 603. 49 Oppenheim Objekte des Verbrechens, 1894, S. 355. 50 Hegler Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. 10, 1916, S. 159. 51 Reichsjustizamt VE zu einem Deutschen Strafgesetzbuch, 1909, S. 567. 52 Beling Die Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 207; in dieser Richtung auch das „Strafklagerecht“ bei Bennecke Lehrbuch des deutschen Reichs-Strafprozeßrechts, 1895, S. 130; Birkmeyer Deutsches Strafprozeßrecht, 1898, S. 309. 53 E. Schmidt Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Bd. 1, 2. Aufl. 1963, S. 80; Löwe/Rosenberg-Schäfer SPO, 24. Aufl. 1988, Einl. Kap. 6 Rn 27; Peters Strafprozeßrecht, 4. Aufl. 1963, S. 80. 54 BVerfG 34, 2; 80, 375; BVerfG NJW 2002, 51; Rieß StraFo 2000, 364; Pellkofer (Fn. 26) 108 mwN.
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Aber die Wahrheit oder genauer die Wahrheitsfindung ist kein zielloser, selbstzweckhafter Erkenntnisprozess, sondern – wie Eberhard Schmidt 55 sagt – eine „Voraussetzung dafür, dass in den Richtersprüchen nur das Recht zu Worte kommt“. Infolgedessen steht die Wahrheit im Dienst des materiellen Rechts, das vorgibt, wonach zu suchen ist, und den Grund dafür abgibt, dass überhaupt gesucht wird.56 Wahrheit – ebenso wie Justizförmigkeit und Rechtsstaatlichkeit – wären danach Mittel und Garantien des Strafverfahrens, die nicht formalistisch, sondern nur mit Bezug zum Strafanspruch bestimmt werden können. Dieser Befund wird einerseits dadurch bestätigt, dass nicht jede Strafvereitelung die Wahrheitsfindung beeinträchtigt. Daran fehlt es z.B., wenn der Begünstiger dem Angeklagten nach Abschluss der Beweisaufnahme die Flucht ermöglicht.57 Andererseits vermag das Verfahrensziel Wahrheit nicht zu erklären, warum die Strafrechtspflege nicht vor jeder Beeinträchtigung der Wahrheit geschützt wird. Der Durchsetzung des an der Wahrheit orientierten Strafanspruchs sind durch das Strafprozessrecht Schranken gesetzt, die in bestimmten Fällen der Selbstbestimmung des Individuums Vorrang einräumen. Entsprechendes gilt für das Verfahrensziel der Gerechtigkeit,58 dem ebenfalls im Interesse der Freiheit Grenzen gesetzt sind. Um diejenigen Fälle, in denen das Verfahren mit einer materiell rechtswidrigen, aber rechtskräftigen Entscheidung endet, vom Verfahrensziel zu erfassen, erblickt die heute herrschende Strafprozesslehre in der „Wiederherstellung von Rechtsfrieden“ das oberste Ziel des Strafverfahrens.59 Unter Rechtsfriede wird ein Zustand verstanden, „bei dem von der Gemeinschaft vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sie sich über den Verdacht einer Straftat beruhigt“.60 In ähnlicher Weise beschreiben einige Autoren das Verfahrensziel der Rechtssicherheit. Demnach betrachten beide Auffassungen das materiell richtige Urteil nur noch als ein Zwischenziel auf dem Weg zum Zustand eines kollektiven Bewusstseins, das sich in seinen durch die Rechtsordnung gewährleisteten Interessen geschützt sieht.
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E. Schmidt (Fn. 53) Rn 20; siehe auch BVerfGE 57, 275. Vormbaum Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils, 1987, S. 120; Volk Prozessvoraussetzungen im Strafrecht, 1978, S. 195; Wolter GA 1999, 158; Gusy StV 2002, 153. 57 Altenhain (Fn. 47) 166. 58 Schlüchter in: Wolter (Hrsg.) Zur Theorie und Systematik des Strafprozeßrechts, 1995, S. 214; E. Schmidt (Fn. 53) Rn 20; Niese Doppelfunktionelle Prozeßhandlungen, 1950, S. 31. 59 Vgl. Löwe/Rosenberg-Rieß Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 25. Aufl. 1999, Einl. Abschn. B Rn 4; Meyer-Goßner Strafprozessordnung, 49. Aufl. 2007, Einl. Rn 4; KK-Pfeiffer 4. Aufl. 1999, Einl. Rn 1; SK-Rudolphi 7. Aufl. 2000, vor § 78 Rn 10; Ranft Strafprozessrecht, 2. Aufl. 1955, S. 2; krit. unter dem Legitimationsgesichtspunkt des Konsensprinzips Weßlau StraFo 2007, 3. 60 Schmidhäuser FS für E. Schmidt, 1961, S. 522. 56
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Lässt sich die Friedenssicherung bereits als allgemeines Verfahrensziel schwerlich verifizieren, so ist es als Rechtsgut der Strafvereitelung gänzlich untauglich. Denn eine Handlung, die den Verdacht einer Straftat erst gar nicht aufkommen lässt, erschüttert nicht, sondern stützt den Rechtsfrieden.61 Andererseits würde durch die Publikmachung der Vereitelung einer Vortat, die bereits verjährt ist, der Rechtsfriede erst recht gestört werden, ohne dass diese Erschütterung mittels eines Strafverfahrens behoben werden könnte. d) Delikt gegen Strafzwecke Wegen der aufgezeigten Schwächen der bisherigen Lösungen versucht die als Rechtsgeltungstheorie bezeichnete Lehre, das Rechtsgut des § 258 StGB in der generalpräventiven Wirkung des Strafrechts zu begründen.62 Da der Strafvereiteler bei anderen den Eindruck erwecke, dass sie der angedrohten Strafe mit Hilfe Dritter entgehen könnten, schmälere er die abschreckende Wirkung der Strafdrohung. Durch die Poenalisierung der Strafvereitelung soll mithin potentiellen Delinquenten vor Augen geführt werden, dass sie auf die Hilfe von außen nicht setzen können. Die Frage ist jedoch, ob dem Strafvereiteler ein solcher Erfolg objektiv auch zurechenbar ist. Dies wäre nur dann der Fall, wenn der Begünstiger für die Deutung seines Verhaltens durch Dritte zur Verantwortung gezogen werden kann. Daran bestehen aber ganz erhebliche Zweifel, wenn der Begünstiger derart erfolgreich vorgeht, dass sowohl seine Handlung als auch die Begehung der Vortat unbemerkt bleiben.63 Unter dieser Voraussetzung beschreibt die Rechtsgeltungstheorie keinen Rechtsgutsangriff, sondern – wie Hergt 64 bereits 1910 festgestellt hat – die „kontagiöse Macht des Bösen“. Aber selbst dann, wenn das Ziel des Begünstigers bekannt ist, wäre es eine reine Unterstellung, der Tat die konkludente Erklärung einer generalpräventiven Schwächung des Strafrechts zu entnehmen.65 Einige Vertreter der Rechtsgeltungstheorie präzisieren das Schutzgut des § 258 StGB unter der straftheoretischen Perspektive der sog. Integrationsprävention.66 Im Dienst dieses Präventionszwecks hat die Strafe primär keine 61
Lampe GA 1968, 48; Schlüchter (Fn. 58) 215; Altenhain (Fn. 47) 261. Entwickelt wurde diese Lösung auf der Basis des alten Rechts von Miehe FS für Honig, 1970, S. 91; ihm folgend Frisch JuS 1983, 921; H.-L. Günther JR 1982, 81; Schroeder (Fn. 25) 14; Schneider (Fn. 30) 165; kombiniert mit den Theorien des unmittelbaren Rechtsgüterschutzes bei Amelung JR 1978, 229; Bottke JA 1980, 98; Geppert Jura 1981, JK StGB § 258/2; Vogt Berufstypisches Verhalten und Grenzen der Strafbarkeit im Rahmen der Strafvereitelung, 1992, S. 40. 63 Wappler (Fn. 22) 155. 64 Hergt GS 1910, 299 (315). 65 Altenhain (Fn. 47) 244. 66 Zum Begriff vgl. Bottke Assoziationsprävention, 1995, S. 36; Müller-Tuckfeld Integrationsprävention, 1998; Haffke FS für Roxin, 2001, S. 955; Jakobs (Fn. 6) 1/7a: Garantierung des Normbefolgungswillens. 62
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abschreckende, sondern eine bewusstseinsbildende Funktion. Sie soll die rechtliche Gesinnung bestärken und damit zugleich die in der Norm vermittelten Handlungswerte bekräftigen. Das Verbot der Strafvereitelung bezweckt danach, die vom Vortäter verletzten Verhaltensnormen zu stabilisieren.67 Dieser Ansatz zieht ähnliche Einwände auf sich, die oben schon gegen das Verfahrensziel „Rechtsfriede“ erhoben wurden. Führt die Vereitelungshandlung dazu, dass die Tatbegehung selbst verschleiert wird, kann weder das Vertrauen auf normgemäßes Verhalten anderer noch die Normanerkennung beeinträchtigt werden. Anstatt zu schwächen, stärkt die Strafvereitelung dann die Sozialintegration durch Nichtwissen.68 Ist die Vortat dagegen bekannt, so wird das Vertrauen auf sozialkonformes Verhalten allenfalls durch den Vortäter selbst in Frage gestellt. Der Strafvereiteler tritt diesbezüglich aber bloß als Gehilfe auf, so dass er eigenständiges Unrecht gar nicht verwirklichen würde. e) Delikt gegen den staatlichen Strafanspruch Die bisher erörterten Lösungsansätze zum Rechtsgut der Strafvereitelung verbindet die Erkenntnis, dass der Schutz strafrechtlicher Sanktionen kein Selbstzweck sein dürfe. Von diesem Standpunkt aus erklärt sich ihre gemeinsame Stossrichtung gegen die früher herrschende Ansicht,69 wonach das Verbot der Strafvereitelung dem Schutz des staatlichen Strafanspruchs diene. Darin schwingt das berechtigte Misstrauen mit, dass sich der Staat losgelöst von individuellen oder kollektiven Interessen selbst schützen will. Schon der Begriff „Anspruch“ mache die Richtung deutlich: Wie dem Inhaber eines subjektiven Rechts würden dem Staat Freiräume zugesprochen, deren Schutz auf die Anerkennung autoritärer Verhältnisse hinauslaufe.70 Für diese Sicht liefert auch das BVerfG 71 bei seiner Herleitung des staatlichen Strafanspruchs aus dem Rechtsstaatsprinzip eine gewisse Begründungsbasis. Zu den zentralen Aspekten des Rechtsstaatsprinzips, die den Verfassungsrang des Sanktionsrechts rechtfertigen sollen, zählt das Gericht neben der Staatsaufgabe „Sicherheit“ auch das Vertrauen in die Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns und den Gleichheitssatz. Mit dem Vertrauensargument und dem Verweis auf 67 Rudolphi JuS 1991, 861; Frisch JuS 1983, 921; Jerouschek/Schröder GA 2000, 52; Lenckner GS für Schröder, 1978, S. 353. 68 Hierzu Popitz Über die Präventivwirkung des Nichtwissens, 1968; zu den empirischen Problemen der Lehre von der kollektiven Erziehung vgl. Kargl Rechtstheorie 1999, 371; ders. ARSP 1996, 497; Bock JuS 1994, 96. 69 Vertreten von SK-Samson (Fn. 39) § 258 Rn 1; Puppe FS für Lackner, 1987, S. 228; Fahrenhorst JuS 1987, 708; Fezer FS für Stree/Wessels, 1993, S. 673. 70 Ebert ZRG 1993, 53; Ostendorf NJW 1978, 1346; Stryz (Fn. 10) 59; H. Kaufmann Strafanspruch, Strafklagerecht, 1968, S. 97; Dannecker Das intertemporale Strafrecht, 1993, S. 215; Seelmann ZStW 95 (1983) 825. 71 BVerfGE 46, 223; vgl. auch BVerfGE 33, 383; 34, 248; 38, 115; 77, 76; 80, 375.
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die Gleichheit wird jedoch nicht begründet, warum die Durchsetzung von Strafansprüchen überhaupt Verfassungsrang hat. Allenfalls lässt sich damit Willkür brandmarken. Betont wird jeweils nur die formelle Seite des Rechtsstaatsprinzips, weil die betreffenden Topoi nur Reflexe der Bindung aller staatlichen Gewalt an das Gesetz hervorheben.72 Es kann hier nicht der Ort sein, den rechtsphilosophischen Zusammenhang zwischen Staatsbegründung, materiellem Verbrechensbegriff und Strafbefugnis herzustellen.73 Über zwei Aspekte sollte jedoch Klarheit bestehen, wenn sich die Strafbefugnis nicht dem Schutz beliebiger Straftatbestände verdanken soll. Zum einen darf staatliches Handeln im Bereich des Strafrechts nicht positivistisch auf einer Vertragskonzeption gründen, die vom Empirismus wirklich abgeschlossener Verträge ausgeht. Es kann nur auf der Konstruktion eines „hypothetischen“ Gesellschaftsvertrags basieren, dessen Ausgangssituation durch das normative Kriterium der Freiheit bestimmt ist.74 Damit stellt das vertragliche Einigungsverfahren ein erkenntnistheoretisches Instrument zur Verfügung, das gute Gründe für die normative Richtigkeit der Resultate bereithält. Maßstab für die Richtigkeit staatlichen Handelns ist danach nicht die Mehrheitsentscheidung, sondern die normative Idee der Freiheit, in der die Menschen sich wechselseitig in ihrer Personenwürde anerkennen.75 Für den Begriff des Verbrechens hat dies die unmittelbare Konsequenz, dass mit Strafe nur nach Freiheitsverletzungen reagiert werden darf. Andernfalls würde die Strafe selbst die normativen Bedingungen der staatlichen Ausgangssituation zerstören. Der Zustand elementarer Freiheitsverletzungen, die den einzelnen außer Stand setzen, nach eigenen Vorstellungen zu handeln, ist erreicht bei Verletzungen der Freiheit, der körperlichen Integrität, des Eigentums und Vermögens sowie bei der gewaltsamen Verunsicherung der staatlichen Gewährleistung der individuellen Freiheit.76 In diesem Verbrechensbegriff mischt sich die enge Wechselbeziehung zwischen den Bedingungen der Staatsbegründung und dem Strafziel der Freiheits- und Friedenssicherung. 72 Wie hier Altenhain (Fn. 47) 340; Wolfslast Staatlicher Strafanspruch und Verwirkung, 1995, S. 89; H. Bauer Geschichtliche Grundlagen der Lehre vom subjektiven öffentlichen Recht, 1986, S. 50; Paeffgen Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des UntersuchungshaftRechts, 1986, S. 14. 73 Vgl. dazu M. Marx Zur Definition des Begriffs „Rechtsgut“, 1972, S. 63; Hassemer in: Scholler/Philipps (Hrsg.) Jenseits des Funktionalismus, 1989, S. 86; vgl. die Beiträge in: Neumann/Prittwitz (Hrsg.) „Personale Rechtsgutslehre“ und „Opferorientierung im Strafrecht“, 2007. 74 Hierzu Kersting Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 1994, S. 16; ders. Wohlgeordnete Freiheit, 1993, S. 16; ders. ARSP 1998, 379. 75 An diesem Punkt ergeben sich Anschlüsse zur Diskurstheorie von Habermas Erläuterungen zur Diskurstheorie, 1991; ders. Die Einbeziehung des Anderen, 1996. 76 Naucke in: Klippel (Hrsg.) Naturrecht im 19. Jahrhundert, Bd. 1, 1997, S. 280; vgl. auch ders. Strafrecht. Eine Einführung, 10. Aufl. 2002, § 6 Rn 62.
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III. Schlussfolgerungen 1. Dogmatische Konsequenzen a) Verzögerung auf Zeit Die Analyse des Rechtsguts der Strafvereitelung hat der Strafbarkeit der sog. „Verzögerung auf Zeit“ den Boden entzogen. Wenn die Ausdehnung des Strafvereitelungserfolgs mit dem generalpräventiven Sanktionszweck begründet wird, der nach einem gewissen Zeitablauf in immer geringerem Maße erreichbar sei, so scheitert dieses Argument schon daran, dass durch die Vereitelungsbemühung die Tatbegehung selbst verschleiert werden kann. Unter diesen Umständen wird weder das Vertrauen anderer noch die Normanerkennung oder das Über-Ich der Allgemeinheit beeinträchtigt.77 Der Grund dafür, dass das Gesetz keine exakte Klarstellung in zeitlicher Hinsicht trifft, erschließt sich aus dem Schutzgut „Strafbefugnis“: In das staatliche Sanktionsrecht greift nicht ein, wer den strafprozessualen Beschleunigungsgrundsatz schmälert. Ohne Beeinträchtigung des Strafanspruchs kann aber ein objektiv zurechenbares Vereitelungsunrecht nicht gegeben sein.78 Für die Rechtstreue, das Normbewusstsein oder den Gehorsam Dritter ist der Täter einer Strafvereitelung nicht verantwortlich zu machen. Anderenfalls würde in § 258 StGB ein Metarechtsgut installiert, das generell dem Achtungsanspruch des Gesetzes strafrechtlichen Schutz gewährt. b) Unterstützung des Vortäters Eine weitere Folge der Rechtsgutsbestimmung „Strafanspruch“ ist es, dass bloße Unterstützungshandlungen für den Vortäter nicht mehr der Strafvereitelung, sondern der Beihilfe zu einer tatbestandslosen Selbstbegünstigung zuzuordnen sind. In die Strafbefugnis des Staates greift nicht ein, wer die Selbstbegünstigung durch sachliche oder psychische Hilfe unterstützt. Zu einer anderen Einschätzung gelangt man nur, wenn man das eigenständige Unrecht der Teilnahmehandlung in der Störung von generalpräventiven Strafverfolgungsinteressen erblickt. Unter dieser Maßgabe unterlaufen die Ermöglichung und die Unterstützung der Selbstvereitelung die in den Strafzweck hineingelesene Isolierung des Vortäters und die Abschreckung potentieller Straftäter.79 Aber der Preis für diese Lösung ist strafrechtsdogmatisch unannehmbar. Er besteht in der Missachtung des Gesetzlichkeitsprinzips und der im StGB zwingend vorgegebenen Abgrenzung von Täterschaft und
77 Wie hier SK-Hoyer StGB, 6. Aufl. 2001, § 258 Rn 15; Schnittenhelm FS für Lenckner, 1998, S. 519; Seebode JR 1998, 341; Stumpf (Fn. 31) 64; Wappler (Fn. 22) 170. 78 SK-Hoyer (Fn. 77) § 258 Rn 16. 79 Vgl. RGSt 63, 235; 72, 23; BGHSt 5, 81; 17, 238; ähnlich Pellkofer (Fn. 26) 152.
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Teilnahme.80 Der Begriff des „Vereitelns“, der lexikalisch mit „wirkungslos machen“, „verhindern“ und „zunichte machen“ angegeben wird,81 bezieht nicht mehr wie früher § 257 StGB a.F. unselbständige Hilfeleistungen in das Täterverhalten ein, sondern verweist auf ein strukturell täterschaftliches Handeln. Danach kommen Unterstützungshandlungen, die überwiegend eine Teilnahmestruktur kennzeichnen, weder vor noch nach Vollendung der Vortat in Betracht. In beiden Fällen tangiert die „Hilfe“ nicht das durch die Vortat entstandene staatliche Sanktionsrecht, sondern mittelbar den Schutz der Vortatrechtsgüter. Diesen Schutz in das Unrecht des § 258 StGB einzubeziehen, würde die Anschlusstaten als eine Unterart der Teilnahme qualifizieren und damit wieder auf den Stand des überwundenen „auxilium post delictum“82 zurückführen. 2. Ertrag für die Strafverteidigung a) Das Selbstbegünstigungsprivileg des Beschuldigten Die aus der Struktur und dem Rechtsgut der Strafvereitelung gewonnenen Ergebnisse liegen auf der Linie der von Rainer Hamm 83 verfassungsrechtlich abgeleiteten Thesen zur „Magna Charta“ der Verteidigerrechte. Sein Ausgangspunkt, dass der Beschuldigte die Hauptperson des Strafprozesses ist, stimmt mit der hier vertretenen Position überein, wonach Unterstützungshandlungen für die „Hauptperson“ durch den neuen Gesetzeswortlaut aus dem Strafbarkeitsbereich des § 258 StGB herausgebrochen wurden und als tatbestandsmäßiges Verhalten auch vom Rechtsgut des staatlichen Strafanspruchs nicht gedeckt sind. Dies hat für die Zulässigkeit des Strafverteidigerhandelns die Konsequenz, dass die Strafbarkeit stets dann entfällt, wenn der Verteidiger für den Mandanten etwas tut, was dieser straffrei für sich tun dürfte.84 Diese Befugnis fußt nicht erst im Selbstbegünstigungsprivileg des Beschuldigten, von dem der Anwalt nach Abwägung mit der Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege seine Portion zugeteilt bekommt, sondern bereits im materiellen Strafrecht, das die Teilnahme an einer straflosen Haupttat von Strafe freistellt. Gegenüber der verfahrensrechtlichen Argumentation hat der Rekurs auf die materiellrechtliche Position den Vorteil, dass sie keine
80 Vgl. Scholderer StV 1993, 229; Ferber Strafvereitelung – Zur dogmatischen Korrektur einer mißglückten Vorschrift, 1997, S. 28; Stumpf (Fn. 31) 104; SK-Hoyer (Fn. 77) § 258 Rn 29. 81 Duden Sinn- und sachverwandte Wörter und Wendungen, 2007; Grimm Deutsches Wörterbuch, Bd. 25, 1984. 82 B. Wolff (Fn. 30) 20; Seel (Fn. 25) 32. 83 R. Hamm NJW 1993, 293. 84 Ausführlich zur Problematik KK-Laufhütte StPO, 5. Aufl. 2003, vor § 137 Rn 5; LR-Lüderssen 25. Aufl. 1997, § 138 Rn 37; ders. FS für Dünnebier, 1982, S. 263.
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Ausnahme duldet und deswegen nicht in eine infinite Abwägungsspirale hineingezogen werden kann. Die Schwelle zum täterschaftlichen Vereiteln ist freilich überschritten, wenn der Verteidiger gegen den Willen des Beschuldigten handelt oder wenn sich das Verteidigerhandeln als eine Form der mittelbaren Täterschaft darstellt, der Verteidiger den Beschuldigten – sei es durch Nichtinformation, sei es durch Einschüchterung – für eigene Zwecke instrumentalisiert.85 Im Falle der Korrumpierung des Mandanten bedarf es keiner Beschränkung der Strafvereitelung auf den direkten Vorsatz. Schwingt sich der Verteidiger selbst zum Herrn über das Geschehen auf, genügt es, wenn er mit der kognitiven und voluntativen Unterlegenheit des Beschuldigten rechnet. b) Fallgruppen Aus der täterschaftlich konstruierten Struktur der Vereitelungshandlung folgt, dass der Verteidiger zu den Selbstschutzmaßnahmen des Beschuldigten nicht nur Beistand leisten, sondern zu diesen auch anregen darf. Für den Fall der Aufklärung über die Rechtslage wird dies ganz überwiegend auch auf die Gefahr hin für zulässig erklärt, dass der Beschuldigte erst den Antrieb zu unwahren Schutzbehauptungen erhält.86 Informiert der Anwalt etwa über die Abgrenzung zwischen bedingtem Vorsatz und bewusster Fahrlässigkeit, über die Voraussetzungen der „konkludenten“ Täuschung oder über die Kasuistik des bei der Untreue für wichtig gehaltenen „besonderen Vertrauensverhältnisses“, so ist einer solchen Beratung das Risiko unrichtiger Sachverhaltsangaben stets immanent. Gedeckt von der Beratungspflicht wird fast einhellig auch der Hinweis an den Beschuldigten akzeptiert, er dürfe den Tatvorwurf leugnen und sogar zu Lügen greifen.87 Den weitergehenden Schritt, nämlich dem Beschuldigten ausdrücklich zur Lüge zu raten, mag man als prozessordnungswidrig oder als Verstoß gegen das Standesrecht werten,88 strafbar ist die Aufforderung zur Lüge nicht.89 Dies ergibt sich zwingend aus der Akzessorietät der Teilnahme
85 Dazu Bottke ZStW 96 (1984) 732; Otto Jura 1987, 330; Krekeler NJW 1989, 148; ausgehend von der akzessorischen Natur des § 258 StGB vgl. Barton Einführung in die Strafverteidigung, 2007, S. 76; Beulke Strafprozessrecht, 9. Aufl. 2007, Rn 174; ders. StV 2007, 263. 86 Hassemer in: Hamm/Lohberger (Hrsg.) Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, 1988, S. 5; R. Hamm FS für Tondorf, 2004, S. 311. 87 BGH NJW 1966, 740; Bottke ZStW 96 (1984) 726, 756 mwN. 88 So Fezer Strafprozeßrecht, 2. Aufl. 1995, 4/49; LK-Ruß (Fn. 24) § 258 Rn 20; Schlüchter Das Strafverfahren, 2. Aufl. 1983, Rn 105; Pfeiffer DRiZ 1984, 344. 89 Wie hier Krekeler NJW 1989, 147; Hassemer (Fn. 86) 7; Schäfer Die Praxis des Strafverfahrens, 6. Aufl. 2000, § 7 III; Vormbaum Der strafrechtliche Schutz des Strafurteils, 1987, S. 428.
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von der Haupttat. Die demgegenüber von der hM vertretene Ansicht postuliert ein Sonderrecht für Verteidiger: Was jedem anderen erlaubt ist, soll dem Verteidiger verwehrt sein. Damit wird nicht nur die fehlende Tatherrschaft des Strafverteidigers ignoriert, sondern auch seine eigentliche Aufgabe, dem Beschuldigten beizustehen, ins Gegenteil verkehrt. Gleiches gilt, wenn der Verteidiger einen Zeugen zu einer Falschaussage überredet.90 Ein derartiges Vorgehen mag eine Teilnahme am Aussagedelikt begründen, eine Strafvereitelung scheitert wieder daran, dass § 258 StGB nicht zwischen Verteidiger und Dritten unterscheidet.91 Aus demselben Grunde darf der Anwalt sein Wissen über bevorstehende Zwangsmaßnahmen, das er in Übereinstimmung mit den Strafverfolgungsbehörden erlangt hat, an den Mandanten straflos weitergeben. Dies ist schon nicht verfahrenswidrig, wenn die Behörde von der Möglichkeit, Akteneinsicht zu verwehren, keinen Gebrauch gemacht hat.92 Würde hier der Verteidiger sein Wissen zurückhalten, hätte dies unausweichlich nachteilige Wirkungen auf das Vertrauensverhältnis zum Beschuldigten. Aber letztlich ist für die Beurteilung der Tatbestandsverwirklichung der Strafvereitelung nicht eine externe Rücksicht, sondern allein die strafrechtliche Vorgabe maßgebend, wonach Hinweise oder Ratschläge, die der Beschuldigte in eigener Verantwortung zu seinem Selbstschutz aufgreift, keine tatherrschaftliche Strafvereitelung darstellen. Die Untersuchung hat gezeigt, dass die von Rainer Hamm verfassungsrechtlich begründete Position im geltenden Tatbestand des § 258 StGB ihren Widerhall gefunden hat.
90 Oder den Beschuldigten von einer Selbstanzeige oder von einem Geständnis abrät, auch wenn der Beschuldigte hierzu entschlossen ist. 91 Schönke/Schröder-Stree (Fn. 24) § 258 Rn 33; Rudolphi JR 1984, 338; Krekeler NJW 1989, 148. 92 Vgl. Tondorf StV 1983, 259; Welp FS für Peters, 1984, S. 320; Krekeler wistra 1984, 47; Mehle NStZ 1983, 557; vertiefend zum Akteneinsichtsrecht Stern Verteidigung in Mordund Totschlagsverfahren, 2. Aufl. 2005, Rn 1213; Bockemühl (Hrsg.) Handbuch des Fachanwalts Strafrecht, 3. Aufl. 2006, Teil B Kap. 1 Rn 60 ff; Dahs (Fn. 12) Rn 254 ff.
Bestechende Untreue? Eberhard Kempf
Für § 266 StGB wurden schon viele Schlagworte kreiert: Hellmuth Mayer schrieb 1954: „Sofern nicht einer der klassischen alten Fälle der Untreue vorliegt, weiß kein Gericht und keine Anklagebehörde, ob § 266 vorliegt oder nicht.“ 1 Saliger fragt: „Gibt es eine Untreuemode?“ 2 Verfassungsrechtliche Bedenken wurden geäußert; 3 Ransiek hat die Kritik auf den Nenner gebracht: „§ 266 passt immer“.4 Rainer Hamm hat die Bedenken unter der rhetorischen Überschrift „Kann der Verstoß gegen Treu und Glauben strafbar sein?“ zum Ausdruck gebracht.5 Den Schlagworten soll kein neues hinzugefügt werden. Es geht vielmehr darum, eine zwar höchst aktuelle, bisher aber in der Literatur 6 und in der Rechtsprechung 7 kaum, aktuell aber in einem nicht rechtskräftigen Urteil des LG Darmstadt 8 erneut behandelte Untreuekonstellation vorzustellen und kritisch zu beleuchten. Dabei trifft es sich gut, dass das Urteil des
1 Mayer Die Untreue, Materialien zur Strafrechtsreform, Bd. I, S. 333, 336 f; mit „einem der klassischen Fälle“ wird Mayer wohl einen der „Vormünder, Kuratoren, Güterpfleger“ der Nr. 1 oder einen der „Feldmesser, Versteigerer, Mäkler“ oder „Bracker, Schauer, Stauer“ der Nr. 3 des § 266 StGB in seiner bis zum Gesetz zur Abänderung strafrechtlicher Vorschriften vom 26.5.1933 (RGBl. I 295) gültigen Fassung von 1871 (vgl. hierzu LK-Schünemann § 266, Entstehungsgeschichte) gemeint haben. 2 HHRS 2006, 10 f. 3 Vgl. MüKo-Dierlamm StGB, § 266 Rn 3 ff; Überblick bei LK-Schünemann § 266; Kargl ZStW 113 (2001) 565, 576 mwN; Otto BT, 5. Aufl. 1998, § 54 Rn 19; Knauer NStZ 2002, 399; verfassungsrechtliche Bedenken gegen Gleichsetzung von Gefährdung und Schaden: Grünhut JW 1930, 922 (923). 4 ZStW 114 (2004) 635. 5 NJW 2005, 1993; dagegen Englisch NJW 2005, 2974 mit der „Retourkutsche“: „Untreue abschaffen – nein danke!“. 6 LK-Schünemann § 266 Rn 98: „Weniger klar zu beurteilen ist die […] Konstellation, dass der Manager durch die ihm verbotene Schmiergeldzahlung für das Unternehmen eine wirtschaftlich vollwertige, nach den im Unternehmen gültigen Maßstäben aber verpönte Kompensation erwirbt.“; Lüderssen, Entkriminalisierung des Wirtschaftsstrafrechts II, 2007, 85 ff. 7 BGH NJW 1975, 1234 ff zum sog. Bundesligaskandal. 8 LG Darmstadt – 712 Js 5213/04-9 KLs; Verf. war in diesem Verfahren einer der Verteidiger.
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BGH vom 18.10.2006 in der Sache des CDU-Landesverbandes 9 zu würdigen sein wird, an dem Rainer Hamm in der Revision als Verteidiger mitgewirkt hat. Der BGH hat in seinem Urteil vom 2.12.2005 – Kölner Müllverbrennungsanlage 10 – festgestellt, dass „in der Regel“, wenn das Schmiergeld in die Auftragssumme eingerechnet ist, die Entgegennahme von Schmiergeld durch Mitarbeiter des Auftraggebers eine täterschaftliche Untreue zu dessen Nachteil darstellt und dessen Zusage und/oder Zahlung durch das Auftrag nehmende Unternehmen eine Beihilfe dazu. Der BGH hat ausgeführt: „Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs liegt bei der Vereinbarung von Schmiergeldzahlungen in Form eines prozentualen Preisaufschlags regelmäßig ein Nachteil im Sinne des § 266 Abs. 1 StGB vor (vgl. BGHSt 47, 295, 298 f; 49, 317, 332 f; BGHR StGB § 266 Abs. 1 Nachteil 49, insoweit in BGHSt 46, 310 nicht abgedruckt). Diese Rechtsprechung beruht auf der Erwägung, dass jedenfalls mindestens der Betrag, den der Vertragspartner für Schmiergelder aufwendet, auch in Form eines Preisnachlasses dem Geschäftsherrn des Empfängers hätte gewährt werden können (vgl. Raum in Wabnitz/Janovsky, Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts 2. Aufl. S. 304 m.w.N.). Bei der Auftragserlangung durch Bestechung im geschäftlichen Verkehr bildet deshalb der auf den Preis aufgeschlagene Betrag, der lediglich der Finanzierung des Schmiergelds dient, regelmäßig die Mindestsumme des beim Auftraggeber entstandenen Vermögensnachteils im Sinne von § 266 Abs. 1 StGB.“ 11 Diese Konstellation soll nicht weiter untersucht werden. Hier geht es um die umgekehrte Fragestellung: Stellt die Zahlung von Schmiergeld für das Auftrag nehmende Unternehmen eine Untreue dar? Dabei wird aus Gründen der Vereinfachung immer davon ausgegangen, dass auf Seiten des Auftrag nehmenden Unternehmens ein Vermögensbetreuungsverpflichteter im Sinne von § 266 Abs. 1 StGB tätig wird; der Blick soll auf die Frage konzentriert werden, ob diesem Unternehmen durch die Zusage und Zahlung von Bestechungsgeld ein „Nachteil“ im Sinne der Vorschrift entstanden ist. Es sind verschiedene Sachverhaltskonstellationen zu unterscheiden:
9 2 StR 499/05, abrufbar unter www.bundesgerichtshof.de; im Folgenden zitiert nach den in dieser Version enthaltenen Textziffern; BGHSt 51, 100; vgl. dazu Ransiek, NJW 2007, 1707; Bernsmann, GA 2007, 219; Saliger, NStZ 2007, 545; NStZ 2007, 583. 10 5 StR 119/05, abrufbar unter www.bundesgerichtshof.de; ; im Folgenden zitiert nach den Seitenzahlen dieser Version; BGHSt 50, 299; StV 2006, 126; NStZ 2006, 210; wistra 2006, 96; NJW 2006, 925; zur Indizwirkung der Zuwendung von Schmiergeld siehe auch BGHSt 47, 83 (88); NStZ-RR 2001, 650 f. 11 BGH 5 StR 199/05 (aaO Fn. 6), S. 27 der unter www.bundesgerichtshof.de abrufbaren Version.
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1. Das Schmiergeld ist in den Preis oder den Werklohn eingerechnet a) In dieser Konstellation betreibt das „bestechende“ Unternehmen keinen eigenen, projektfremden Aufwand zur Zahlung des Bestechungsgeldes, zumal die meisten Unrechtsvereinbarungen dessen Zahlung an eine erste Teilzahlung des Preises/Werklohns knüpfen.12 Der Zahlung des Schmiergeldes steht somit bei der anzustellenden Gesamtsaldierung 13 ein durch die Verausgabung von Schmiergeld erzielter Auftragszuschlag zu einem Preis oder Werklohn gegenüber, in den das Schmiergeld eingerechnet ist. Ein durch die Verausgabung von Schmiergeld eingetretener Nachteil wird somit kompensiert; denn der Vorteil ist unmittelbar durch eine und dieselbe Handlung eingetreten, die den Nachteil verursacht hat.14 b) Ein Nachteil könnte aber – im weiteren Verlauf – dadurch eintreten, dass das Auftrag nehmende Unternehmen einem hohen Prozessrisiko ausgesetzt ist. Der Auftrag könnte nichtig sein. Alle bereits erbrachten Leistungen – außer dem Schmiergeld, arg. § 817 Satz 2 BGB! – könnten einem Rückabwicklungsrisiko ausgesetzt sein. In der Tat hat der BGH in seiner Entscheidung 5 StR 119/04 vom 2.12.2005 ausgeführt: „Die Sittenwidrigkeit der kollusiven Absprache zwischen den Angeklagten E und M zur Schädigung der AVG durch Vereinbarung eines um den Schmiergeldanteil überhöhten Preises wirkt sich auch auf den Hauptvertrag aus (vgl. BGH NJW 1989, 26, 27; Tröndle/Fischer aaO Rdn. 21; Seier aaO Rdn. 48; vgl. auch BGHZ 141, 357, 362 f.; BGH BB 1990, 733, 734; BGH NJW 2000, 511, 512).“ 15 Ob dieses Prozessrisiko jedoch schon als eine „konkrete Gefährdung“ im Sinne der Rechtsprechung zum Betrug und zur Untreue16 ausreicht, ist durchaus fraglich: Die im Rahmen der Betrugsdogmatik entwickelte „Makeltheorie“ 17 des RG hatte 1938 einen „sittlichen Makel“ beim gutgläubigen Erwerb einer 12 Das LG Köln hatte in dem 2 StR 119/04 zu Grunde liegenden Fall festgestellt, dass „im Falle der Auftragsvergabe an die LCS von dieser ein Schmiergeld in Höhe von insgesamt 3 % des Auftragswerts in gleichen Teilen an E, T und Wi gezahlt werde, und zwar ein Drittel nach Vertragsschluss, ein Drittel nach Baubeginn und das letzte Drittel nach Abschluss der Bauarbeiten.“ Vgl. BGH, 2 StR 119/04, siehe Fn. 6, dort S. 5. 13 Vgl. hierzu Tröndle/Fischer StGB, 54. Aufl., § 266 Rn 59. 14 So auch BGHR StGB § 266 Abs. 1 Nachteil 49 (Blutspendedienst des Bayerischen Roten Kreuzes): „[…] wird es auch im Einzelfall, je geringer der Umsatzanteil und je niedriger die Beiträge in ihrer absoluten Höhe sind, umso gewichtigerer Anhaltspunkte bedürfen, die den Schluss zulassen, dass die Schmiergeldzahlungen in die Kalkulation des Bestechenden eingestellt waren. Nur dann könnten sie sich als Nachteil im Sinne des § 266 StGB zum Schaden des Geschäftsherrn auswirken“. 15 AaO (Fn. 6) dort S. 26. 16 Vgl. für alle Tröndle/Fischer aaO, § 266 Rn 61 ff. 17 Vgl. hierzu Tröndle/Fischer aaO, § 263 Rn 90.
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gestohlenen Sache als ausreichend angesehen, um unter den Begriff des Vermögensschadens subsumiert zu werden; denn der „sittliche Makel“ mache die Sache „nach gesundem Volksempfinden auch als Vermögensstück minderwertig.“ 18 Diese Rechtsprechung ist seit BGHSt 3, 370 zwar aufgegeben. Das Risiko rechtlicher Auseinandersetzungen kann aber auch nach heutiger Rechtsprechung als eine Vermögensgefährdung angesehen werden.19 Der Annahme einer objektiv und subjektiv ausreichend konkreten Gefährdung 20 dürfte jedoch der Umstand entgegenstehen, dass Schmiergeldabreden typischerweise beidseits geheim gehalten werden, um (wiederum beidseits) „erfolgreich“ zu sein und es zu bleiben. Erst wenn die Bestechung entdeckt wird, kann der Auftraggeber rechtliche Schritte einleiten. Dann hat er aber in vielen Fällen aus wirtschaftlichen Gründen kein Rückabwicklungsinteresse mehr bezüglich des erteilten Auftrags, sondern „nur“ noch das Interesse am Ersatz des Schmiergeldbetrages, um den die Auftragssumme überhöht worden ist. Erst dann könnte für das Auftrag nehmende Unternehmen die wirtschaftliche „Kompensation“ der Schmiergeldausgabe durch den Preis der Ware bzw. den Werklohn im Nachhinein wieder entfallen. Für die sich dann stellende Frage, ob die Verausgabung von Schmiergeld aus den Mitteln des „bestechenden“ Unternehmens diesem einen „Nachteil“ im Sinne von § 266 StGB zufügt, käme es auf eine wirtschaftliche Gesamtsaldierung von Verlusten und Gewinnen im konkreten Projekt oder Auftragsverhältnis an (hierzu sogleich im Einzelnen unter 2.). In der Regel wird davon auszugehen sein, dass der Verausgabung von Schmiergeld aus den allgemeinen Mitteln des Unternehmens höhere (erwartete) Gewinne gegenüberstehen,21 so dass die Annahme eines Schadens – zumindest subjektiv 22 – ausscheidet. Auf die Voraussetzungen für die Annahme von Vorsatz bezüglich Folgen einer begangenen Straftat (hier: Bestechung) wird später zurückzukommen sein. Vergleichbar verhält es sich mit dem Risiko einer späteren Verfallsentscheidung: Die Schmiergeldabrede zieht bei ihrer Entdeckung die Verurteilung der beidseits Handelnden wegen aktiver und passiver Bestechung (von Amtsträgern oder im geschäftlichen Verkehr) nach sich. Auf der Seite des/der passiv Bestochenen wird das erhaltene Schmiergeld, auf der Auftragnehmer18
RGSt 73, 61, 63. Vgl. LK-Tiedemann § 263 Rn 209; BGHSt 15, 83 (87); BGH wistra 2003, 230. 20 Vgl. hierzu LK-Schünemann § 266 Rn 146. 21 So z.B. im Fall OLG Frankfurt NStZ-RR 2004, 244. 22 Selbst wenn die Gesamtsaldierung aus nachträglicher Sicht einen Schaden ergäbe, wird dieser sich in der Regel aus einem wirtschaftlichen Risiko ergeben, von dem der Handelnde gehofft hat (und – insoweit – hoffen durfte), dass es nicht eintritt. 19
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seite „der wirtschaftliche Wert des Auftrags im Zeitpunkt der Auftragserlangung“ 23 für verfallen erklärt werden. Hier stellt sich zunächst das erstaunlicher Weise bei § 266 StGB kaum erörterte Problem der Unmittelbarkeit (hierzu unten). Aber auch hier wird in der Regel jedenfalls der Vorsatz fehlen, haben doch alle Handelnden bei ihrer Unrechtsvereinbarung darauf gehofft, dass sie unentdeckt bleiben. Die Vereinbarung und Zahlung von Schmiergeld durch den Auftragnehmer zur Erlangung eines Auftrags führt in der Regel, wenn das Schmiergeld in den Preis/Werklohn eingerechnet ist, somit beim Auftrag nehmenden Unternehmen nicht zu einem Untreueschaden. 2. Das Schmiergeld ist nicht in den Preis oder den Werklohn eingerechnet Ist das Schmiergeld nicht in die Auftragssumme eingerechnet, entfällt zunächst die Kompensation der Verausgabung des Schmiergeldes durch die Auftragssumme. Für die weitere Frage, ob das aus allgemeinen Mitteln des Unternehmens bezahlte Schmiergeld durch den Wert bzw. den Gewinn des Auftrags kompensiert werden würde bzw. worden ist, gilt – über das oben bereits Ausgeführte hinaus – Folgendes: a) § 266 StGB schützt als Vermögensdelikt nur das Vermögen.24 Der Umstand, dass durch die Verausgabung von Mitteln eines Unternehmens gegen gesetzliche (Straf-)Vorschriften – wie die der §§ 299, 331ff StGB einschließlich der Vorschriften des EUBestG und IntBestG – oder interne Verhaltensmaßregeln des Unternehmens („Compliance Rules“) verstoßen wird, mag bei der Frage der Pflichtverletzung eine Rolle spielen.25 Der Schaden muss unabhängig hiervon und autonom festgestellt werden.26 b) Für die Beantwortung der Frage, ob die Verausgabung von Schmiergeld einen „Nachteil“ gemäß § 266 Abs. 1 StGB darstellt, ist eine Art „Projektkalkulation“ durchzuführen, vergleichbar einer Gewinn- und Verlustrechnung des konkreten Auftrags, an deren Ende sich ergibt, ob der Auftrag – auch unter Berücksichtigung der Schmiergeldzahlung – wirtschaftlich noch mit einem positiven Ergebnis durchgeführt werden kann bzw. worden ist.
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BGH 5 StR 119/04, aaO, S. 22. BGHSt 43, 293 (297). 25 Soweit es um die Verletzung von Pflichten geht, die sich auf den Zweck der Vermögensbetreuungspflicht beziehen. Die Verletzung anderer Pflichten erfüllt bereits das Tatbestandsmerkmal der Pflichtverletzung nicht; auf der Grenze dürfte die Verletzung von Compliance-Regeln liegen, die im Zweifel auch zur Vermeidung von Vermögensschäden aufgestellt worden sind. 26 LK-Schünemann § 266 Rn 98. 24
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c) Vorausgesetzt wird dabei, dass die Zahlung des Schmiergeldes conditio sine qua non für die Erlangung des Auftrags war. Ohne diese Voraussetzung treten Vorteile nicht „durch das ungetreue Verhalten“ ein.27 Nach Fischer muss der Zusammenhang ein „unmittelbarer“ sein,28 womit er an die Unmittelbarkeitsvoraussetzung zwischen dem Irrtum des Getäuschten und seiner Verfügung beim Betrug erinnert.29 Während jedoch die vorausgesetzte Unmittelbarkeit zwischen Irrtum und Verfügung beim Betrug „für die praktische Anwendung nach stRspr und hM das wichtigste Kriterium zur Beschränkung der § 263 unterfallenden Selbstschädigung infolge täuschunsgbedingten Irrtums“ ist,30 würde die Übertragung dieses Begriffs der Unmittelbarkeit mit dieser Bedeutung „für die praktische Anwendung“ des § 266 StGB zu einer nicht unerheblichen Ausdehnung seiner Reichweite führen: jeder Vorteil, der nicht mehr in – in diesem Sinne – unmittelbarem Zusammenhang mit der Pflichtverletzung zustande kommt, schiede als mögliche Kompensation des Nachteils aus und käme nur noch als Strafzumessungsargument zum Tragen.31 Richtig ist vielmehr, für die Frage, welche – positiven und negativen – Auswirkungen eine bestimmte Verletzung einer bestimmten Vermögensbetreuungspflicht hatte, auf denselben, jedenfalls keinen engeren Unmittelbarkeitszusammenhang abzustellen, wie er zwischen der pflichtverletzenden Handlung und dem Eintritt des Nachteils vorausgesetzt wird. Was als kausale Verknüpfung ausreicht, um den „Nachteil“ auf die Pflichtverletzung zurückzuführen, muss auch ausreichen, um Vorteile, die ebenfalls auf die Pflichtverletzung zurückgeführt werden können, als Kompensation des Nachteils anzuerkennen.32 So hat der BGH im „Leitfall des sog. Bundesligaskandals“ 33 es als „allein entscheidend für die Frage des Vermögensnachteils“ angesehen, „ob der durch die Manipulation erreichte Erhalt der Bundesligazugehörigkeit für ein weiteres Jahr, zweifellos eine Chance auf Vermögensgewinn, die geopferten 100.000 DM wert gewesen ist.“ 34 Im selben Sinne hat OLG Frankfurt – wie Fischer kritisch kommentiert: „teilweise recht großzügig“ – objektiv und subjektiv darauf abgestellt, „ob (tatsächlich oder in der Vorstellung des Täters) sich „letzten Endes“ ein Ausgleich einstellen wird“ 35 und deshalb die „Annahme, durch (konkret ver27
Vgl. MüKo-Dierlamm § 266 Rn 181. Tröndle/Fischer aaO, § 266 Rn 73. 29 Tröndle/Fischer aaO, § 263 Rn 45. 30 Tröndle/Fischer aaO, § 263 Rn 45. 31 Tröndle/Fischer aaO, § 266 Rn 73 a.E. 32 Vgl. Achenbach/Ransiek-Seier Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, V 2 Untreue, Rn 191 mit Verweis auf OLG Hamm NJW 1982, 190 ff, dass das Unmittelbarkeitserfordernis „ein spezifisches Erfordernis des Betrugstatbestandes“ sei, das „für die Untreue […] bedeutungslos“ sei. 33 LK-Schünemann aaO, Rn 98. 34 BGH NJW 1975, 1234 ff; hierzu auch Ransiek aaO, S. 650. 35 Tröndle/Fischer aaO, § 266 Rn 73 (Hervorhebung nicht im Original). 28
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lustreiche) verschleierte Schmiergeldzahlungen an Angestellte von potentiellen Auftraggebern zukünftig die Marktposition des Treugebers verbessern zu können, eine hinreichend konkrete Kompensation“ 36 darstellt.37 Die Position der Rechtsprechung ist in der Literatur auf heftige Kritik gestoßen: Bringewat 38 und Hübner 39 lehnen jede Kompensation wegen der Sittenwidrigkeit der durch die Bestechung erlangten Gewinnaussichten ab, wozu Schünemann treffend anmerkt, dass diese Auslegung „die Neukriminalisierung zur verschärften Bekämpfung der Korruption in Staat und Wirtschaft nahezu erübrigt hätte.“ 40 Das entscheidende Argument, das im Ergebnis zur kompensatorischen Anerkennung von wirtschaftlichen Erfolgen führt, obwohl sie durch sittenwidrige Manipulationen oder durch Bestechung ermöglicht worden sind, führt Schünemann an, wenn er darauf hinweist, dass es „wegen der unzweideutigen Unterscheidung des Gesetzes zwischen Pflichtverletzung und Vermögensnachteil […] ausgeschlossen (ist), den Schaden allein schon in einer bestimmten Art oder Größe der Pflichtverletzung zu finden, so dass die Lösung entgegen der Auffassung von Hübner […] ausschließlich auf der Ebene des „Vermögensnachteils“ zu erfolgen hat.“41, 42 Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, wird zu Prüfungszwecken weiter danach zu differenzieren sein, ob das Schmiergeld aus den allgemeinen Mitteln des Unternehmens unmittelbar 43 oder aus eigens dafür gebildeten und vorgehaltenen Mitteln – gemeinhin bezeichnet als eine schwarze Kasse – bezahlt worden ist. Damit sind alle diejenigen Fragen aufgeworfen, die der BGH in seiner „Kanther-Entscheidung“ vom 18.10.2006 44 behandelt hat.
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Tröndle/Fischer aaO, § 266 Rn 73. So auch Lüderssen FS Müller-Dietz, S. 467 (469 ff). 38 JZ 1977, 667 ff. 39 LK-Hübner 10. Aufl., § 266 Rn 86. 40 LK-Schünemann aaO, Rn 98. 41 LK-Schünemann aaO, Rn 98; vgl. hierzu Ransiek aaO, S. 638, der von der Gefahr spricht, dass zwischen Pflichtwidrigkeit und Schaden, obwohl „unterschiedliche Tatbestandsvoraussetzungen“, „der Sache nach […] alles in einem großen Prüfungspunkt (verschwimmt): Wer pflichtwidrig gegenüber fremdem Vermögen handelt, schafft in der Regel deshalb Vermögensrisiken.“ 42 Ransiek aaO, S. 650, 651, weist demgegenüber darauf hin, dass ein kompensierender Vermögenswert „sich immer erst aus der Beziehung von Personen zu Gegenständen, nicht aus dem Gegenstand an sich ergibt.“, um in der Folge für entscheidend zu halten, ob „sich bei einem Risikogeschäft der Vermögensbetreuer über die risikopolitischen Begrenzungen des Vermögensinhabers hinwegsetzt.“ 43 Wenn auch – wie meist – zu Verdeckungszwecken auf Umwegen. 44 Siehe Fn. 5. 37
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3. Ist die Bildung einer schwarzen Kasse zur späteren Bestreitung von Schmiergeldern eine Untreue? Der BGH hat in seinem Urteil vom 18.10.2006 zur Frage eines „Vermögensnachteils“ festgestellt: „Ein Vermögensnachteil im Sinne von § 266 Abs. 1 StGB ist dem Landesverband dadurch entstanden, dass die Täter sich die Möglichkeit verschafften, die […] Vermögenswerte als geheimen, keiner tatsächlich wirksamen Zweckbindung unterliegenden und jeder Kontrolle durch den Berechtigten entzogenen ‚Dispositionsfonds‘ zu nutzen (vgl. BGHSt 40, 287, 296). Ziel der Angeklagten war es, die verdeckt angesammelten Vermögenswerte vor den satzungsgemäßen Organen des Landesverbands geheim zu halten, da sie die Bestimmung über die Mittelverwendung nach eigenem Gutdünken – wenn auch in einem von ihnen selbst definierten Interesse des Berechtigten – vorzunehmen wünschten. Hierdurch war entgegen dem Vorbringen der Revisionsführer nicht allein die Dispositionsbefugnis des Berechtigten betroffen, deren Beschränkung für sich allein die Feststellung eines Vermögensschadens nicht begründen könnte (vgl. Tröndle/Fischer StGB 53. Aufl. § 266 Rdn. 70); vielmehr trat eine konkrete, vom Berechtigten nicht zu kontrollierende und nur noch im Belieben der Täter stehende Möglichkeit des endgültigen Vermögensverlusts ein.“ 45 Diese höchstrichterliche Bestätigung, dass im gegebenen Fall nicht „nur“ eine Beeinträchtigung der Dispositionsfreiheit des Verfügungsberechtigten (hier: des Landesvorstands der hessischen CDU) vorliege, sondern die „konkrete, vom Berechtigten nicht zu kontrollierende und nur noch im Belieben des Täters stehende Möglichkeit des endgültigen Vermögensverlusts“ einen „Nachteil“ im Sinne von § 266 StGB darstelle, ist im Folgenden auf ihre Konsequenz für die hier allein zu erörternde Problemstellung zu hinterfragen, ob der Einsatz von Schmiergeldern Untreue sein könne. a) Dabei liegt in der pflichtwidrigen Verwendung von Mitteln des Treugebers noch kein Vermögensschaden, solange die Mittel entweder für die Erfüllung von Aufgaben verwendet werden, die der Treugeber ohnehin
45 BGH – 2 StR 499/05 in der unter www.bundesgerichtshof.de abrufbaren Fassung, dort Tz. 43. Vgl. hierzu die Anmerkung von Ransiek, in: NJW 2007, 1727 ff, der der Annahme einer pflichtwidrigen Schädigung im Sinne des Treubruchtatbestandes zustimmt, aber entgegen dem BGH davon ausgeht, dass der Schwerpunkt nicht auf Unterlassen, sondern positivem Tun gelegen habe und nach der Verbringung der Gelder in die Schweiz, spätestens nach deren Einbringung in eine liechtensteinische Stiftung keine weitere schädigende Handlung oder Vertiefung des Schadens hinzugekommen und insgesamt deshalb Verjährung eingetreten sei.
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hätte erfüllen müssen,46 oder aber dem betreuten Vermögen ein wirtschaftlich gleichwertiger Vorteil zufließt.47 b) Der BGH hat jedoch in eben jener Entscheidung bei Erörterung einer möglichen Untreue zum Nachteil des Bundesverbandes der CDU durch Abgabe falscher Rechenschaftsberichte des hessischen Landesverbandes bezüglich der Voraussetzungen des voluntativen Vorsatzelements betont, dass gegen die (bisherige) Auffassung, dass „das Inkaufnehmen der Voraussetzungen einer konkreten Gefährdung […] auch dann das voluntative Element des Untreuevorsatzes [erfülle], wenn der Täter die – als möglich erkannte – endgültige Realisierung der Gefahr vermeiden will und gerade nicht billigt“, „in dieser Allgemeinheit Bedenken“ bestehen.48 Der 2. Strafsenat begründet diese Bedenken damit, dass sonst der „ohnehin schon äußerst weite Tatbestand der Untreue“ „in Richtung auf ein bloßes Gefährdungsdelikt führt.“ Er erkennt, dass „die unveränderte Übertragung des von der Rechtsprechung ursprünglich für die Bestimmung des Vermögensschadens in Sonderfällen des Betrugs entwickelten Begriffs der schadensgleichen Vermögensgefährdung […] auf die Auslegung des Nachteilsbegriffs in § 266 Abs. 1 StGB […] nicht hinreichend beachtet, dass der subjektive Tatbestand des § 263 Abs. 1 StGB durch das Erfordernis der Bereicherungsabsicht eine Einschränkung erfährt, welche der Tatbestand der Untreue nicht voraussetzt.“ 49 c) Der BGH löst diese „Bedenken“, indem er für die Bejahung des voluntativen Vorsatzelements im Falle einer Vermögensgefährdung voraussetzt, „dass der bedingte Vorsatz eines Gefährdungsschadens nicht nur Kenntnis des Täters von der konkreten Möglichkeit eines Schadenseintritts und das Inkaufnehmen dieser konkreten Gefahr voraussetzt, sondern darüber hinaus eine Billigung der Realisierung dieser Gefahr, sei es auch nur in der Form, dass der Täter sich mit dem Eintritt des ihm unerwünschten Erfolgs abfindet. Nur unter dieser Voraussetzung erscheint in enger als bisher begrenzten Fallgruppen die Annahme der Tatvollendung schon bei Eintritt einer konkreten Gefahr des Vermögensverlustes als rechtsstaatlich unbedenkliche Vorverlagerung der Strafbarkeit wegen Untreue.“ 50
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BGHSt 40, 295. Tröndle/Fischer aaO, § 266 Rn 70. BGH 2 StR 499/05, Tz. 61 (Hervorhebung im Original). AaO, Tz. 62. AaO, Tz 63 (Hervorhebung im Original).
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d) Den grundsätzlichen Ausführungen des BGH zur notwendigen Begrenzung des subjektiven Tatbestandsmerkmals des „Nachteils“ im Fall einer Vermögensgefährdung ist prinzipiell zuzustimmen.51 e) Es sei in diesem Zusammenhang aber immerhin – und vorliegend aus gegebenem Anlass – daran erinnert, dass der Gesetzgeber 1997 den „Entwurf eines Sechsten Gesetzes zur Reform des Strafrechts (6. StrRG) vorgelegt hat,52 mit dem die Strafbarkeit des Versuchs der Untreue eingeführt werden sollte. Es war der Strafrechtsausschuss des Deutschen Anwaltvereins, dem Rainer Hamm seit 1983 53 angehört, der in seiner – insoweit von Rainer Hamm verfassten – Stellungnahme 54 bereits darauf hingewiesen hat, dass der Tatbestand des § 266 StGB „schon in seiner geltenden Fassung bedenklich weit und konturenlos gefasst“ ist, dass sich durch die Anerkennung einer schadensgleichen Vermögensgefährdung „bereits ein Element des Versuchs in die Rechtsanwendungspraxis eingeschlichen“ hat,55 und dass sich der Vergleich der beiden Tatbestände des Betrugs und der Untreue unter dem Aspekt der Versuchsstrafbarkeit verbietet, weil das Tatbestandselement der absichtsvollen Verschaffung eines Vermögensvorteils bei § 263 StGB „erheblich strafbarkeitseinschränkend“ wirkt.56 Rainer Hamm und mit ihm der Strafrechtsausschuss des DAV haben hervorgehoben, dass der Gesetzgeber, anstatt mit dem „Gleichstellungsargument“ die Versuchsstrafbarkeit bei § 266 StGB einzuführen, „auch die Einführung der Bereicherungsabsicht bei der Untreue (hätte) vorschlagen können. Letzteres hätte den Vorzug, dass es bei der Kritik an dem viel zu weiten Tatbestand der Untreue durch eine gewisse Einengung entgegenkäme, die nach geltendem Recht die Rechtsprechung nur mit einem Beweiswürdigungskorrektiv zu lösen versucht, indem sie verlangt, dass „bei dem weit gesteckten Tatbestandsrahmen des § 266 StGB an den Nachweis des inneren Tatbestandes strenge Anforderungen zu stellen sind.“ (BGH NJW 1990, 3220); „dies gilt vor allem für Fälle des bedingten Vorsatzes und der Unterlassung, wenn der Täter nicht eigennützig gehandelt hat.“ (BGH NJW 1983, 461 m. Anm. Keller JR 1983, 516; so auch
51 Ransiek aaO, S. 659, 660, war 2004 noch der Auffassung, dass es „zwar im Gesamtergebnis einsichtig, als Interpretation des subjektiven Tatbestandes des § 266 StGB aber doch einigermaßen überraschend“ wäre, „dass auf einmal in Bezug auf die Vermögensgefährdung beim Täter ein zusätzliches Willenselement vorhanden sein müsste, welches den Umschlag der Gefährdung in den Schaden zumindest mit dolus eventualis abdeckt, dass also ein überschießender Vorsatz gefordert wird“. 52 BT-Drs. 13/164. 53 AnwBl. 1983, 256. 54 Stellungnahme des Strafrechtsausschusses des Deutschen AnwaltVereins Nr. 16/1997 aus Juni 1997, dort ab S. 9. 55 AaO, S. 9. 56 AaO, S. 10.
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Tröndle StGB, 48. Aufl. 1997, § 266 Rn 26).“ 57 – Soweit Rainer Hamm im Jahr 1997; er mag mit Befriedigung feststellen, dass der BGH ihm zehn Jahre später Recht gegeben hat. Seine Kritik ist vorher schon von Matt/Saliger aufgenommen und weiter ausgeführt worden.58 Die Forderung, die Strafbarkeit des Versuchs einer Untreue einzuführen, ist danach im rechtspolitischen Raum nicht mehr erhoben worden. Unabhängig davon besteht aber immer dann die Gefahr einer faktischen Bestrafung des Versuchs einer Untreue, wenn die von Dierlamm angeführten drei Kriterien nicht erfüllt sind: a) wenn die „der Gefährdung und deren Konkretheit zugrunde liegenden Tatsachen“ nicht feststehen; wenn b) die schadensgleiche Vermögensgefährdung nicht „unmittelbar in einen effektiven Schaden mündet“ und schließlich wenn c) der Umschlag der Gefährdung in zeitlicher Hinsicht nicht „alsbald in einen endgültigen Schaden“ erfolgt.59 f) Die Argumentation des BGH zur restriktiven Auslegung des voluntativen Vorsatzelements ist also einerseits nicht neu, andererseits erstaunt, dass der BGH nicht bereits bei der objektiven Feststellung eines Nachteils ansetzt. Ob sich die Gefahr objektiv realisiert hat, ob also ein „Nachteil“ im Sinne des § 266 Abs. 1 StGB vorliegt, wird im Wege einer „Gesamtsaldierung“ post festum festgestellt. In diese Gesamtsaldierung fließen alle Aktiva und Passiva ein, die durch die Pflichtverletzung entstanden sind. Liegt die Pflichtverletzung in der Bildung und Verwaltung einer schwarzen Kasse, so sind bei der Erörterung, ob dem Vermögensinhaber daraus objektiv ein „Nachteil“ entstanden ist, alle Vermögensab-, aber auch -zuflüsse zu berücksichtigen, die in Folge der Pflichtverletzung entstanden sind. g) Problematisch können insoweit allenfalls „Zwischenstände“ sein, in denen noch kein Vermögensabfluss stattgefunden hat, der – nach der Intention des Handelnden – in der Gesamtsaldierung zu einem Vermögensvorteil führen könnte. Insofern kommt es – wie bei Versuchskonstellationen typischer Weise – auf den Zweck an, den der Handelnde mit der Bildung der schwarzen Kasse verfolgt hat: Hat er eigennützige Ziele verfolgt, braucht selbstverständlich nicht die Zweckerreichung abgewartet zu werden; es kann vorher schon eine konkrete und deshalb schadengleiche Vermögensgefährdung festgestellt werden. Hat der Handelnde aber – wie hier unterstellt – mit der Bildung und/oder Verwaltung der schwarzen Kasse das Ziel verfolgt, „seinem“ Unternehmen durch den Einsatz von Schmiergeld lukrative Aufträge zu verschaffen, die das Unternehmen 57
AaO, S. 11. Matt/Saliger Straflosigkeit der versuchten Untreue, in: Irrwege der Strafgesetzgebung, S. 217 ff, Jahr 1999. 59 MüKo-Dierlamm aaO, Rn 195 ff. 58
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sonst nicht erlangt hätte, wird die – bis dahin nicht konkrete – Vermögensgefährdung gerade nicht realisiert, sondern kompensiert: es tritt „letztlich“ kein „Nachteil“ ein. h) Allerdings liegt in der Argumentation des BGH ein Bruch: Einerseits hat der BGH entschieden, dass die Bildung und Verwaltung der schwarzen Kasse der hessischen CDU durch die „konkrete, vom Berechtigten nicht zu kontrollierende und nur noch im Belieben der Täter stehende Möglichkeit des endgültigen Vermögensverlusts“ eine schadensgleiche Vermögensgefährdung darstelle. Andererseits stellt er – im Zusammenhang der erörterten Untreue zum Nachteil des Bundesverbandes der CDU durch Abgabe falscher Rechenschaftsberichte des hessischen Landesverbandes jedenfalls subjektiv darauf ab, dass sich der Vorsatz nicht nur auf die „Kenntnis des Täters von der konkreten Möglichkeit eines Schadenseintritts und das Inkaufnehmen dieser konkreten Gefahr“, sondern auf „eine Billigung der Realisierung dieser Gefahr“ beziehen muss. Der Bruch in der Argumentation des BGH scheint – noch konkreter – darin zu liegen, dass er es bei der Behandlung der schwarzen Kasse der hessischen CDU für „unerheblich (hält), ob sie (i.e. die Täter) „letztlich“ im Interesse der Berechtigten zu handeln glaubten.“ 60 während es richtigerweise darauf ankommt, ob objektiv und subjektiv „(tatsächlich oder in der Vorstellung des Täters) sich „letzten Endes“ ein Ausgleich einstellen wird“.61 Es ist dieses „letzlich“, dessen (subjektive) Berücksichtigung der BGH bei der Behandlung der schwarzen Kasse der hessischen CDU ablehnt, während er bei der Erörterung der subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen des „Nachteils“ der Bundes-CDU durch falsche Rechenschaftsberichte durchaus – zu Recht – darauf abstellt, dass das voluntative Vorsatzelement „nicht nur Kenntnis des Täters von der konkreten Möglichkeit eines Schadenseintritts und das Inkaufnehmen dieser konkreten Gefahr (voraussetzt), sondern darüber hinaus eine Billigung der Realisierung dieser Gefahr, sei es auch nur in der Form, dass der Täter sich mit dem Eintritt des ihm unerwünschten Erfolgs abfindet.“62 Der Unterschied mag darin begründet liegen, dass im Fall der hessischen CDU als Zweck der Bildung der schwarzen Kasse lediglich festgestellt worden ist, „die verdeckten Vermögenswerte nicht zu offenbaren und durch Verbringen auf ausländische Konten weitergehende Geheimhaltung zu sichern; sie wollten so eine Diskussion über die Herkunft der
60 61 62
AaO, Tz. 42. Tröndle/Fischer aaO, § 266 Rn 73 (Hervorhebung nicht im Original). AaO, Tz. 63.
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Mittel vermeiden und diese für politische Zwecke der CDU Hessen sichern. Überdies sollten mögliche Forderungen und Verwendungsvorschläge aus dem Landesverband und dessen selbständigen Untergliederungen sowie aus dem Bundesverband verhindert werden.“ 63 Die Mittel der schwarzen Kasse sollten „eigenmächtig ohne Beschlüsse oder Auftrag des Landesvorstands zur Verwendung für Zwecke der CDU Hessen nach und nach (zurückgeführt werden.).64 Der BGH ließ dabei ausdrücklich „offen, ob dieses Interesse von den Tatbeteiligten ganz oder überwiegend wirtschaftlich oder eher politisch definiert wurde.“ 65 Eine Rolle bei der Bewertung dieses Sachverhalts als einer schadensgleichen, konkreten Vermögensgefährdung mag die „nahe liegende Gefahr“ gespielt haben, „dass nach den Feststellungen des Landgerichts mehrfach […] erhebliche Beträge pflichtwidrig Dritten zugewandt wurden“ und sich die Bestände der schwarzen Kasse „in Höhe des etwa fünffachen Jahreshaushalts“ beliefen.66 Anders verhält es sich – wie hier unterstellt –, wenn eine schwarze Kasse durch Mitarbeiter von Wirtschaftsunternehmen eingerichtet und/ oder verwaltet wird, die generell zu Verfügungen in dieser Höhe autorisiert sind und die die Kasse zu dem ausschließlichen Zweck einrichten, ihre Bestände als Schmiergelder einzusetzen, ohne die lukrative Aufträge nicht zu erlangen sind. Hier liegt ein Handeln mit der Intention vor, dem Treugeberunternehmen im Ergebnis gerade keinen Schaden zuzufügen. Die Beeinträchtigung seiner Dispositionsfreiheit ist ein Durchgangsstadium, auf das es dann nicht ankommt, wenn der Vorsatz in allen Zeitpunkten der Bildung und der Verwaltung der schwarzen Kasse darauf gerichtet war, das Geld „letztlich“ zu Zwecken des Unternehmens einzusetzen, ohne es zu schädigen. Nur bei dieser Auslegung wird der Charakter von § 266 StGB als eines Vermögensdelikts gewahrt.
63 64 65 66
AaO, Tz. 6. AaO, Tz. 6. AaO, Tz. 42. AaO, Tz. 43.
Zweierlei Unrecht – Zum Begehungszusammenhang der Verbrechen gegen die Menschlichkeit – Stefan Kirsch
Die einzelnen Tathandlungen der Verbrechen gegen die Menschlichkeit – wie etwa die Tötung eines Menschen, die Vertreibung, die Folter oder die Vergewaltigung – stellen ohne jeden Zweifel gravierende Straftaten dar. Zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit werden diese „Einzeltaten“ nach der gesetzlichen Regelung in § 7 Abs. 1 des Völkerstrafgesetzbuches (VStGB) gleichwohl nur dann, wenn sie im Rahmen eines „ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen eine Zivilbevölkerung“ erfolgen. Vor diesem Regelungshintergrund untersucht der nachfolgende Beitrag, ob es sich bei dem so beschriebenen „Begehungszusammenhang“ der Verbrechen gegen die Menschlichkeit – mitunter wird auch vom „Chapeau-“ oder „Kontextelement“ gesprochen – um ein unrechts- oder schulderhöhendes Merkmal des objektiven Tatbestandes, eine objektive Bedingung der Strafbarkeit oder um eine Verfolgungsvoraussetzung in der Form eines zuständigkeitsbegründenden Merkmals handelt.
I. Für die Annahme, dass es sich beim Begehungszusammenhang der Verbrechen gegen die Menschlichkeit um ein unrechts- oder schulderhöhendes Merkmal handelt, scheint zunächst ein Vergleich der Strafdrohungen einzelner Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit der Strafdrohung zu sprechen, die für die diesen Verbrechen zugrunde liegenden „Einzeltaten“ angedroht ist. So wird nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 VStGB mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft, wer im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen eine Zivilbevölkerung „einen Menschen tötet“, während für dieselbe Einzeltat („Totschlag“) nach § 212 StGB lediglich eine Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren vorgesehen ist. Die erhebliche Diskrepanz dieser Strafdrohungen deutet darauf hin, dass der besondere Begehungszusammenhang der Tötung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eine erhebliche Steigerung des Unrechts- oder Schuldgehalts der Tat bewirkt.
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Gleiches scheint für weitere Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie beispielsweise das Verbrechen der Versklavung (§ 7 Abs. 1 Nr. 3 VStGB), das Verbrechen der sexuellen Nötigung (§ 7 Abs. 1 Nr. 6 VStGB) oder das Verbrechen der Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Schäden (§ 7 Abs. 1 Nr. 8 VStGB) zu gelten. Zwar enthält das Strafgesetzbuch keine Tatbestände, die ihrem Wortlaut nach der Einzeltat eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit vollständig entsprechen, doch liegen auch die Strafdrohungen jeweils vergleichbarer Einzeltaten erheblich unter den insoweit vom Völkerstrafgesetzbuch angedrohten Strafen. Während etwa das Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Versklavung (§ 7 Abs. 1 Nr. 3 VStGB) mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bedroht ist, werden sowohl der Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung (§ 232 StGB) als auch der Menschenhandel zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft (§ 233 StGB) lediglich mit einer Mindestfreiheitsstrafe von sechs Monaten geahndet, und auch die Mindeststrafdrohung des Menschenraubes (§ 234 StGB) und der Verschleppung (§ 234a StGB) beträgt nur ein Jahr Freiheitsstrafe. Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit der sexuellen Gewalt (§ 7 Abs. 1 Nr. 6 VStGB) ist mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bedroht und beinhaltet damit eine weitaus schwerere Strafdrohung als der vergleichbare Tatbestand der Sexuellen Nötigung und Vergewaltigung (§ 177 StGB). In gleicher Weise ist auch das Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Schäden (§ 7 Abs. 1 Nr. 8 VStGB) mit erheblich höherer Strafe bedroht als der Tatbestand der schweren Körperverletzung (§ 226 StGB), denn während der Täter in einem Fall mit einer Mindestfreiheitsstrafe nicht unter drei Jahren bestraft wird, gilt im anderen Fall eine Mindestfreiheitsstrafe von nur einem Jahr. Gegen die obige Annahme ließe sich aber zunächst einwenden, dass – außer beim Verbrechen gegen die Menschlichkeit der vorsätzlichen Tötung – auch § 7 VStGB keine höheren Strafen androht als das Strafgesetzbuch für vergleichbare Einzeltaten, obwohl ein gesteigerter Unrechts- oder Schuldgehalt eine erhöhte Strafdrohung – nämlich eine lebenslange anstelle einer zeitigen Freiheitsstrafe – durchaus plausibel hätte erscheinen lassen. Darüber hinaus kann gegen den dargelegten Eindruck auch eingewandt werden, dass die Steigerung des Unrechts- oder Schuldgehaltes der einzelnen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die eine im Vergleich zu ähnlichen Tatbeständen des StGB erhöhte Mindeststrafe rechtfertigt, bei genauerer Betrachtung eben doch in der tatbestandlichen Beschreibung der jeweiligen Einzeltaten und nicht im Begehungszusammenhang begründet sein könnte. Als Beispiel mag insoweit wiederum das Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Versklavung dienen, das begeht, wer „Menschenhandel betreibt, insbesondere mit einer Frau oder einem Kind, oder wer auf andere Weise einen Menschen versklavt und sich dabei ein Eigentumsrecht an ihm anmaßt“ (§ 7 Abs. 1 Nr. 3 VStGB). Denn gerade die Anmaßung eines Eigentums-
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rechtes, die in Anlehnung an das einschlägige Völkervertragsrecht in den Tatbestand aufgenommen wurde, unterscheidet die Versklavung von den Tatbeständen des Menschenhandels zum Zweck der sexuellen Ausbeutung (§ 232 StGB) und des Menschenhandels zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft (§ 233 StGB), die insoweit die Ausnutzung einer Zwangslage oder der Hilflosigkeit genügen lassen. Handelt es sich also schon bei der vom Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit der Versklavung beschriebenen Einzelhandlung um einen weitaus schwerer wiegenden Angriff gegen die Freiheit und Selbstbestimmung der Person, so liegt bereits hierin eine Steigerung des Unrechts- oder Schuldgehalts der Tat, die eine erhöhte Strafdrohung rechtfertigt. Gleiches gilt etwa für das Verbrechen gegen die Menschlichkeit der sexuellen Gewalt, das neben der sexuellen Nötigung, Vergewaltigung oder Nötigung zur Prostitution auch das Berauben der Fortpflanzungsfähigkeit und das Gefangenhalten einer „unter Anwendung von Zwang geschwängerten Frau“ in der Absicht, die ethnische Zusammensetzung einer Bevölkerung zu beeinflussen, umfasst (§ 7 Abs. 1 Nr. 6 VStGB). Denn auch insoweit liegt auf der Hand, dass der Tatbestand weitaus schwerer wiegende Verhaltensweisen umfasst als der vergleichbare Tatbestand der Sexuellen Nötigung, Vergewaltigung in § 177 StGB. Sogar der Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit der vorsätzlichen Tötung nach § 7 Abs. 1 Nr. 1 VStGB widerspricht keineswegs einer Deutung, die eine Erhöhung des Unrechts- oder Schuldgehaltes nicht im Begehungszusammenhang sondern in den Merkmalen der jeweiligen Einzeltat begründet sieht. Denn ungeachtet der Frage, ob nicht etwa doch der mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedrohte Mord (§ 211 StGB) den Grundtatbestand der Tötungsdelikte – und dementsprechend auch den „Ausgangspunkt“ des Verbrechens gegen die Menschlichkeit der vorsätzlichen Tötung – bildet,1 enthält der Tatbestand des Verbrechens gegen die Menschlichkeit der vorsätzlichen Tötung nicht die in § 212 Abs. 1 StGB enthaltene Einschränkung, der entsprechend nur derjenige als Totschläger zu bestrafen ist, der einen Menschen tötet, „ohne Mörder zu sein“. Daher umfasst der Wortlaut des § 7 Abs. 1 Nr. 1 VStGB auch qualifizierte Formen der Tötung wie sie von § 211 StGB erfasst werden und enthält folgerichtig auch eine entsprechende Strafdrohung. Soweit Delikte außerhalb des Völkerstrafgesetzbuches bei Vorliegen besonderer Tatumstände – und als ein solcher ließe sich auch der Begehungszusammenhang bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit verstehen – von einer Steigerung des Unrechts- oder Schuldgehaltes der Tat ausgehen, so beruht dies regelmäßig auf einer durch das Vorliegen besonderer Tatumstände ausgelösten zusätzlichen Gefährdung weiterer Rechtsgüter. Ein derartiges
1
Vgl. Kargl Zum Grundtatbestand der Tötungsdelikte, JZ 2003, 1141.
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Verständnis des Begehungszusammenhanges der Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist jedoch mit dem Wortlaut der Vorschrift des § 7 VStGB nicht in Einklang zu bringen. Eine Untersuchung im Zusammenhang von Wortlaut und Systematik des Gesetzes liefert somit keinen eindeutigen Aufschluss über die Rechtsnatur des Begehungszusammenhangs der Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
II. In das deutsche Strafrecht Eingang gefunden hat der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit erstmalig mit der Einführung des Völkerstrafgesetzbuches (VStGB) 2, das Ende Juni 2002 in Kraft getreten ist. Ziel dieses Gesetzgebungsvorhabens war die Anpassung des materiellen Strafrechts der Bundesrepublik Deutschland an das am 17. Juli 1998 in Rom angenommene Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH-Statut) 3, das nach der Hinterlegung der vertraglich vereinbarten Anzahl von 60 Ratifikationsurkunden am 1. Juli 2002 in Kraft getreten ist.4 Am selben Tag hat der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag seine Tätigkeit aufgenommen. 1. Angesichts des Zieles des Völkerstrafgesetzbuches, das materielle Strafrecht der Bundesrepublik an das Statut des Internationalen Strafgesetzbuches anzupassen, verwundert es nicht, dass dieses weitgehend den Regelungen des Römischen Statuts gefolgt ist. Dementsprechend enthielt bereits der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Referentenentwurf vom 22. Juni 2001 5 das Erfordernis der Begehung einer der im Einzelnen aufgeführten Taten „im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen eine Zivilbevölkerung“ und entsprach somit der Tatbestandsstruktur der Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Statut des Internationalen Strafgerichtshofs.
2
BGBl. 2002 I S. 2254. Eine Übersetzung in die deutsche Sprache ist dem durch die Bundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zum Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofes vom 17. Juli 1998 (IStGH-Statutgesetz), BT-Drs. 14/2682 vom 14.2.2000, beigefügt. 4 Instruktiv zur Rechtslage vor Inkrafttreten des VStGB, Rissing-van Saan The German Federal Supreme Court and the Prosecution of International Crimes Committed in the Former Yugoslavia, Journal of International Criminal Justice 2005, 381 (383). 5 Abgedruckt bei Lüder/Vormbaum (Hrsg.) Materialien zum Völkerstrafgesetzbuch – Dokumentation des Gesetzgebungsverfahrens, 3 ff. 3
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Die Formulierung des Tatbestandes in möglichst enger Anlehnung an Art. 7 des IStGH-Statuts bestätigt auch die Begründung der Bundesratsvorlage vom 18.1.2002, die zur Struktur der Regelung ausführt: „Bei den einzelnen Tatbestandsalternativen handelt es sich überwiegend um Verhaltensvorschriften, die bereits als solche von Strafvorschriften des StGB erfasst sind. Ihren Charakter als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und damit als Völkerrechtsverbrechen erlangen die einzelnen Tathandlungen – in strikter Anlehnung an das Römische Statut – erst dadurch, dass sie „im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen eine Zivilbevölkerung“ erfolgen, mithin mit einem solchen Angriff in einem funktionalen Zusammenhang stehen. In diesen Angriff, die „Gesamttat“, müssen sich die Einzeltaten einfügen.“ 6 Allein die in Art. 7 Abs. 2 a) IStGH-Statut enthaltene Legaldefinition eines „Angriffs gegen die Zivilbevölkerung“ 7 hat der Gesetzgeber nicht übernommen und sich darauf beschränkt, zur Auslegung dieses Merkmals auf die Regelung im Römischen Statut zu verweisen.8 Weitergehende Erkenntnisse zur Tatbestandsstruktur der Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder gar der Rechtsnatur des Begehungszusammenhanges lassen sich anhand der Gesetzesmaterialien nicht gewinnen. 2. Mit dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofes, an dessen Fassung der Wortlaut der Verbrechen gegen die Menschlichkeit im VStGB angelehnt ist, erfolgte erstmalig eine umfassende völkerrechtliche Rechtssetzung im Hinblick auf das materielle Strafrecht. Bei den schwierigen Beratungen innerhalb des durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen eingesetzten Vorbereitungsausschusses und auf der Konferenz in Rom selbst bestand gleichwohl Einigkeit, dass nicht jede unmenschliche Handlung ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstelle, sondern eine internationale Zuständigkeit nur dann gerechtfertigt sei, soweit ein solches Delikt als Teil einer größeren Kampagne von Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung gerichtet sei.9 Dementsprechend einigten sich die in 6
BR-Drs. 29/02 vom 18.1.2002, 43 f. Art. 7 Abs. 2 a) IStGH-Statut: „Im Sinne des Absatzes 1 bedeutet ‚Angriff gegen die Zivilbevölkerung‘ eine Verhaltensweise, die mit der mehrfachen Begehung der in Abs. 1 genannten Handlungen gegen eine Zivilbevölkerung verbunden ist, in Ausführung oder zur Unterstützung der Politik eines Staates oder einer Organisation, die einen solchen Angriff zum Ziel hat“. 8 BT-Drs. 14/8524 v. 13.3.2002, 20. 9 von Hebel/Robinson, Crimes within the Jurisdiction of the Court, in: Roy S. Lee (ed.) The International Criminal Court – The Making of the Rome Statute, 1999, S. 79 (94). 7
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Rom versammelten Staatenvertreter darauf, den Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Art. 7 Abs. 1 des IStGH-Statuts mit der folgenden „Beschränkung“ zu versehen: „(1) Im Sinne dieses Statuts bedeutet ‚Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘ jede der nachfolgenden Handlungen, die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung und in Kenntnis des Angriffs begangen wird: […]“ Weder die Einigkeit über die Notwendigkeit einer Beschränkung des Kreises der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, noch die schließlich gewählte Art und Weise einer solchen Beschränkung aber haben ihren Ursprung in den Verhandlungen des Römischen Statuts, sondern verweisen ihrerseits auf die Entstehung und Entwicklung des Tatbestandes der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Mitte des letzten Jahrhunderts ihren Ausgang genommen hat. 3. Erstmalig Bedeutung erlangten die Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Verfahren gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg, in dessen Zuständigkeit nicht nur Verbrechen gegen den Frieden („crimes against peace“) und Kriegsverbrechen („war crimes“), sondern auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit („crimes agains humanity“) fielen. Schon die entsprechende Regelung in Art. 6 des Statuts des Internationalen Militärgerichtshofs (IMG-Statut) 10 enthielt einen Verweis auf die Einzeltaten des Mordes, der Ausrottung, der Versklavung und der Deportation, doch unterschied sie sich insbesondere in den folgenden zwei Punkten deutlich von der Vorschrift des § 7 VStGB und deren Vorbild in Art. 7 IStGH-Statut. Zum einen erforderte Art. 6 (c) IMG-Statut nicht das Vorliegen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung, sondern ließ es genügen, dass eine der beispielhaft aufgeführten Einzeltaten oder eine andere unmenschliche Handlung an einer Zivilbevölkerung verübt wurde. Dabei sollte durch die Bezugnahme auf „eine“ Zivilbevölkerung klargestellt werden, dass auch Handlungen gegen Angehörige der eigenen Bevölkerung den Tatbestand erfüllten. Zum anderen führten die genannten Verbrechen aber nur dann zu einer strafrechtlichen Verantwortlichkeit, wenn diese in Ausführung oder im Zusammenhang mit einem anderen im Statut genannten Verbrechen begangen wurden. So wurde bereits im Vorfeld des Nürnberger Verfahrens bezweifelt, dass Gräueltaten, die ein Staat gegenüber eigenen Bürgern begehe, als internatio10
I.d.F. des Protokolls vom 6.10.1945.
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nales Verbrechen gelten könnten,11 und auch die bei der Ausarbeitung des Statuts des Militärgerichtshofs beteiligten Vertreter der vier Siegermächte vermochten entsprechende Bedenken offenbar nicht vollständig auszuräumen. Der amerikanische Entwurf, der im April 1945 den bei der Gründungskonferenz der Vereinten Nationen in San Francisco anwesenden Außenministern Eden, Molotov und Bidault übergeben wurde,12 enthielt neben dem Tatbestand der Kriegsverbrechen und weiteren Tatbeständen im Zusammenhang mit der Führung des Krieges als solchem („Invasion by force or threat of force of other countries in violation of international law or treaties“, „Initiation of war in violation of international law or treaties“, „Launching a war of aggression“ und „Recourse to war as an instrument of national policy or for the solution of international controversies“), keine Regelung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dagegen sollte den Siegermächten nach diesem Entwurf die Möglichkeit eingeräumt sein, solche Taten zu verfolgen, die nach dem jeweiligen Recht eine der Achsenmächte strafbar waren.13 Ebenfalls keine Regelung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit enthielt ein britisches Memorandum, das Änderungsvorschläge zum amerikanischen Entwurf zusammenfasste und dem amerikanischen Chefunterhändler und späteren Hauptankläger Robert H. Jackson am 28. Mai 1945 in London übergeben wurde. Stattdessen enthielt der Bericht Jacksons vom 7. Juni 1945 an Präsident Truman den Vorschlag, der Gerichtshof solle „in der Anerkennung der Prinzipien des Strafrechts, wie sie generell in zivilisierten Staaten beachtet werden“, auch zuständig sein für „Gräueltaten und strafbare Handlungen, einschließlich der Grausamkeiten und Verfolgungen aus rassischen und religiösen Gründen, die seit 1933 begangen wurden“.14 Dass es sich insoweit nur um eine Variation des ursprünglichen amerikanischen Vorschlages handelte, der auch die Legitimation zur Verfolgung von Straftaten nach dem jeweiligen Recht eines Staates der Achsenmächte beinhaltete, zeigt ein Blick auf den überarbeiteten amerikanischen Entwurf vom 14. Juni 1945, der den Ausgangspunkt der Ende Juni begonnenen Beratungen der Londoner Viermächte-Konferenz bildete. So sollten nach § 12 (b) dieses überarbeiteten Entwurfs auch Gräueltaten und strafbare Handlungen,
11
Vgl. Taylor Die Nürnberger Prozesse, 1994, S. 43. Der Gang der Beratungen zum Statut und wird dargestellt im Bericht des amerikanischen Chefunterhändlers Jackson (U.S. Department of State/Division of Publications, Report of Robert H. Jackson United States Representative to the International Conference on Military Trials London 1945, 1949), der im Rahmen des „Avalon Project“ der Yale Law School im Internet verfügbar ist. 13 Vgl. François de Menthon, zitiert nach „Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof“, 1947, Bd. V, S. 419. 14 Taylor Die Nürnberger Prozesse, 1994, S. 75. 12
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einschließlich der Grausamkeiten und Verfolgungen aus rassischen oder religiösen Gründen, die seit dem 1. Januar 1933 in Verletzung des am Tatort geltenden Rechts verübt wurden,15 Gegenstand eines Verfahrens vor dem Militärgerichtshof sein. Die Loslösung vom Recht des Begehungsstaates und später im Statut verwirklichte Rückbindung der Verfolgung von Gräueltaten und anderer strafbarer Handlungen an die Verfolgung weiterer nach dem Statut strafbarer Handlungen war erstmals in einem überarbeiteten britischen Vorschlag vom 28. Juni 1945 enthalten. Sie fand Eingang in den Entwurf des Unterausschusses vom 11. Juli 1945, in dem die Verbrechenstatbestände in Art. 6 zusammengefasst wurden. Zu den Gründen dieser Akzessorietät führte der amerikanische Chefunterhändler Jackson in den Beratungen am 23. Juli 1945 aus, es sei seit unvordenklicher Zeit ein Grundprinzip der amerikanischen Außenpolitik, sich nicht in die internen Angelegenheiten fremder Staaten einzumischen.16 Die Frage, wie Deutschland oder ein anderer Staat seine Bevölkerung behandele, stelle sich daher für die Vereinigten Staaten ebenso wenig, wie sich diese Frage für andere Staaten im Verhältnis zu Amerika stellen dürfe. Die Vernichtung der Juden und die Verfolgung von Minderheiten in Deutschland seien für die internationale Gemeinschaft allein deswegen von Belang, weil es sich insoweit um Bestandteile der Planung und Durchführung eines rechtswidrigen Krieges handelte. Solange ein derartiger Bezug nicht bestehe, gebe es keine Möglichkeit entsprechende Gräueltaten zu verfolgen.17 Damit war zwar im Grunde anerkannt, dass der Internationale Militärgerichtshof mit der Verbrechensgruppe der Verbrechen gegen die Menschlichkeit Neuland betreten würde und – anders als bei den Kriegsverbrechen – nicht an gefestigte völkerrechtliche Praxis und Lehre anschließen konnte, doch erschien wohl insbesondere die Vorstellung, dass Taten, die unzweifelhaft die Merkmale eines Kriegsverbrechens trugen, nur deshalb nicht sollten bestraft werden können, weil sie sich gegen die eigene Bevölkerung richteten, offenbar als so unerträglich, dass man versuchte, entsprechende Bedenken gar nicht erst aufkommen zu lassen.
15 Der spätere stellvertretende britische Hauptankläger Maxwell Fyfe bezeichnete die entsprechende Tatbestandsgruppe bei den Beratungen am 29. Juni 1945 dementsprechend auch als „violation of municipal law and domestic law“. 16 Auf diesen Gesichtspunkt stützt sich auch die kritische Einschätzung bei Donnedieu de Vabres Le procès de Nuremberg, Revue de science criminelle et de droit pénal comparé 1947, 182. 17 Ob ein derartiger Bezug überhaupt bestünde und sich werde beweisen lassen, war am Folgetag (24.7.1945) Gegenstand einer kurzen Diskussion zwischen dem britischen Unterhändler Maxwell Fyfe und dem Vertreter der französischen Verhandlungsdelegation Professor Gros. Die von Gros insoweit wohl zu Recht erhobenen Bedenken wurden dabei von Maxwell Fyfe beiseite geschoben.
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Trotz all dieser Schwierigkeiten haben die in London versammelten Staatenvertreter der Verfolgung der Verbrechen gegen die eigene Zivilbevölkerung nur vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit geschenkt, denn neben organisatorischen Fragen, deren Abstimmung erhebliche Zeit beanspruchte, nahmen vor allem die Diskussionen um den Tatbestand der Verbrechen gegen den Frieden und der Verschwörung erheblichen Raum ein. Als bezeichnend mag es insoweit angesehen werden, dass die Bezeichnung „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ („crimes against humanity“) erstmals in einem überarbeiteten Entwurf der amerikanischen Delegation vom 31. Juli 1945 Verwendung fand und bei den abschließenden Beratungen am 2. August 1945 erst nach einer kurzen Erörterung 18 auf Zustimmung stieß. Die Rückbindung der Verfolgung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit an die Verfolgung weiterer nach dem Statut strafbarer Handlungen und die damit bewirkte Einschränkung des Anwendungsbereichs der Verbrechen gegen die Menschlichkeit hat dazu geführt, dass sich der Militärgerichtshof außer Stande sah, vor dem Beginn des Krieges im Jahr 1939 begangene Taten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verurteilen.19 Wohl auch wegen dieser Rückbindung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit an die Verfolgung weiterer nach dem Statut strafbarer Handlungen hat es der Internationale Militärgerichtshof unterlassen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit von den Kriegsverbrechen abzugrenzen und dabei die jeweils konstituierenden Tatbestandsmerkmale herauszuarbeiten. 4. Keine Rückbindung an Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen den Frieden enthielt der ansonsten der Regelung in Art. 6 (c) IMG-Statut nachgebildete Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Art. II Abs. 1 (c) des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 (KRG 10) betreffend die „Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen den Frieden oder die Menschlichkeit schuldig gemacht haben“, das am 20. Dezember 1945 erlassen wurde.20 Ziel dieses Gesetzes war es, in Umsetzung der Moskauer Erklärung vom 30. Oktober 1943 und des Londoner Abkommens vom 8. August 1945 eine einheitliche Rechtsgrundlage zur Verfolgung von Kriegsverbrechern in 18 Hierbei äußerte Jackson, diese Bezeichnung sei ihm von einem herausragenden Rechtsgelehrten vorgeschlagen worden. Nach Koskenniemi Hersch Lauterpacht and the Development of International Criminal Law, Journal of International Criminal Justice 2004, 810 (811) und Smith Der Jahrhundertprozeß, S. 73 handelte es sich hierbei um den Rechtswissenschaftler Hersch Lauterpacht (1897–1960). 19 Vgl. Urteil vom 1.10.1946, in: Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof, Nürnberg 1947, Bd. I, S. 285 f. 20 Amtsblatt des Kontrollrates in Deutschland, Nr. 3, vom 31.1.1946, 50 ff.
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Deutschland zu schaffen, die nicht vor dem Internationalen Militärgerichtshof abgeurteilt werden.21 Dementsprechend wurden auf der Grundlage des KRG 10 zahlreiche Verfahren vor Gerichten der vier Besatzungsmächte durchgeführt, von denen insbesondere die zwölf so genannten Nürnberger Nachfolgeprozesse vor amerikanischen Militärgerichtshöfen besondere Bekanntheit erlangt haben. Aber auch deutsche Gerichte konnten von Deutschen an Deutschen oder an Staatenlosen begangene Verbrechen auf der Grundlage dieses Gesetzes ahnden. Die insoweit erforderliche Ermächtigung nach Art. III Abs. 1 (d) KRG 10 wurde in der amerikanischen Besatzungszone allerdings nur von Fall zu Fall erteilt, während hinsichtlich der Aburteilung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowohl in der britischen 22 als auch der französischen Zone 23 eine allgemeine Ermächtigung ausgesprochen wurde.24 Die Anwendung des KRG 10 durch hierzu ermächtigte Deutsche Gerichte war jedoch mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Beklagt wurde vor allem die „uferlose Weite“ 25 des Tatbestandes, bei dem es sich nicht einmal um den Entwurf eines Tatbestandes handele, sondern nur um einen „Leitsatz“,26 den die Justiz weiter zu verfolgen habe. Probleme bereitete der Rechtsprechung aber auch der immer wieder erhobene Vorwurf des Verstoßes gegen das Rückwirkungsverbot.27 Entgegen der Intention des Gesetzgebers führte das KRG 10 daher zu einer weitgehenden Rechtszersplitterung.28 Es wird berichtet, das Gesetz sei so unbeliebt geworden, dass „die unteren Gerichte dauernd Freisprüche erließen, der OGH gegen Ende seiner
21 Eine weitere Ausnahme bildeten die britischen Verfahren, die aufgrund einer königlichen Order durchgeführt wurden. 22 Verordnung Nr. 47 der Militärregierung vom 30. Aug 1946 (Amtsblatt der Militärregierung Deutschland, Britisches Kontrollgebiet, Nr. 13, 306 = JMBl NRW 1947, 50). 23 Verfügung Nr. 154 der Militärregierung vom 1. Juni 1950 (Amtsblatt der Alliierten Hohen-Kommission, 443). 24 Sowohl die in der britischen als auch die in der französischen Zone erteilte allgemeine Ermächtigung wurde bereits Ende August 1951 wieder aufgehoben, so dass eine Verurteilung nach dem KRG Nr. 10 durch Gerichte in der Bundesrepublik Deutschland nun nicht mehr möglich war. Das Gesetz selbst wurde in der Bundesrepublik allerdings erst durch das Erste Gesetz zur Aufhebung des Besatzungsrechts vom 30. Mai 1956 (BGBl. I S. 437) aufgehoben. In der DDR wurde es außer Wirkung gesetzt durch Beschluss des Ministerrates der UdSSR über die Auflösung der Hohen Kommission der Sowjetunion in Deutschland vom 20. September 1955. 25 von Weber Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Rechtsprechung, MDR 1949, 263. Vgl. auch OGH Urteil vom 20.5.1948 – StS 3/48 = OGHSt 1, 11. 26 Radbruch Zur Diskussion über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, SJZ 1947, 131 (133). 27 Vgl. von Hodenberg Humanitätsverbrechen und ihre Bestrafung, SJZ 1947, 113. 28 von Weber Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Rechtsprechung, MDR 1949, 261; Storz Die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone in Strafsachen, Tübingen 1969, S. 6.
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Tätigkeit die Anwendung des KRG möglichst vermied und der BGH schließlich alle KRG 10-Sachen unbearbeitet so lange liegen ließ, bis er das Gesetz nicht mehr anzuwenden brauchte“.29 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass auch der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone – der am 9.2.1948 seine Tätigkeit aufgenommen hatte, die er aufgrund der Errichtung des BGH bereits Ende September 1950 wieder einstellte – dem Tatbestand keine dauerhaften Konturen zu verleihen vermochte, obwohl er ihn in über der Hälfte seiner Entscheidungen anwenden musste. Zwar hat der OGH klargestellt, dass alle Arten von Angriffen, die sich auf Menschen schädigend auswirken, Unmenschlichkeitsverbrechen seien oder einleiten können, soweit die Schädigung des Opfers eine gänzliche oder teilweise Entwürdigung des Menschen ausdrücke 30 – eine Wirkung die darauf beruhe, dass die Tat im Zusammenhang mit dem System der nazistischen Gewalt- und Willkürherrschaft stehe 31 –, doch vermochte auch das Obergericht keine weiteren Leitlinien anzugeben, wie diese Anforderungen zu konkretisieren sind. Zu den Schwierigkeiten bei der Handhabung des Tatbestandes beigetragen haben mag vor allem der Umstand, dass die zur Verfolgung ermächtigten deutschen Gerichte dem Wortlaut der Vorschrift in Art. II Abs. 1 (c) KRG 10 folgend keine Rückbindung des Tatbestandes an Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen den Frieden für erforderlich hielten und dementsprechend regelmäßig auch über Taten entschieden, die sich lange vor dem Beginn des Krieges zugetragen hatten.32 Demgegenüber hat der amerikanische Militärgerichtshof in Nürnberg im Verfahren gegen Friedrich Flick und andere – einem der zwölf Nürnberger Nachfolgeprozesse – entschieden, dass der Tatbestand des Art. II Abs. 1 (c) KRG 10 ungeachtet seines Wortlautes nur dann Anwendung finden könne, wenn die Tat in Ausführung oder in Verbindung mit einem Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen den Frieden begangen wurde.33 Zur Begründung ver29 Storz Die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone in Strafsachen, Tübingen 1969, S. 18. 30 Vgl. von Weber Das Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Rechtsprechung, MDR 1949, 262; OGH Urteil vom 22.6.1948 – StS 5/48 = OGHSt 1, 19; Urteil vom 20.7.1948 – StS 34/48. 31 Vgl. OGH Urteil vom 20.5.1948 – StS 3/48 = OGHSt 1, 11; Urteil vom 25.5.1948 – StS 1/48 = OGHSt 1, 6; Urteil vom 22.6.1948 – StS 5/48 = OGHSt 1, 19; Urteil vom 10.8.1949 – StS 36/48; Urteil vom 18.10.1949 – StS 309/49 = OGHSt 2, 231. 32 Nach der Rechtsprechung des OGH (Urteil vom 25.1.1949 – StS 81/48 = OGHSt 1, 264) wurden sogar Taten vor dem 30.1.1933 vom Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Art. II Abs. 1 (c) KRG 10 erfasst. 33 United Nations War Crimes Commission, Law Reports of Trials of War Criminals, Vol. IX, 1949, 1 (24). Soweit sich die amerikanischen Militärgerichtshöfe in den Entscheidungen gegen Altstötter u.a. (United Nations War Crimes Commission, Law Reports of Trials of War Criminals, Vol. VI, 1948, S. 1; vgl. auch Peschel-Gutzeit [Hrsg.] Das Nürn-
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wies der Militärgerichtshof auf Art. I KRG 10, durch den die Moskauer Erklärung vom 30. Oktober 1943 und das Londoner Abkommen vom 8. August 1945 – und damit auch das dem Abkommen beigefügte Statut des Internationalen Militärgerichtshofes – zum untrennbaren Bestandteil des KRG 10 erhoben wurden. Angesichts dieser Rechtsprechung kann nicht davon ausgegangen werden, dass sich der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit bereits im Zusammenhang mit der Verfolgung nationalsozialistischen Unrechts nach der Beendigung des Krieges zu einem selbständigen Tatbestand entwickelt hat.34 Für diesen Befund spricht gleichermaßen, dass auch die von der Völkerrechtskommission („International Law Commission – ILC“) im Jahr 1950 vorgelegte Ausarbeitung der sieben „Nürnberger Prinzipien“ 35 die im Statut des Militärgerichtshofs enthaltene Rückbindung an die Verfolgung weiterer Völkerstraftaten enthalten. Darüber hinaus folgte auch noch der im Jahr 1951 von der Völkerrechtskommission vorgelegte Entwurf einer Kodifizierung der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit („Draft Code of Offences against the Peace and Security of Mankind“) 36 im Hinblick auf den Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit weitgehend dem Statut des Internationalen Militärgerichtshofes. 5. Die erste von der Rückbindung an Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen den Frieden befreite und damit selbständige Fassung eines Tatbestandes der Verbrechen gegen die Menschlichkeit enthielt der im Jahr 1954 von der Völkerrechtskommission verabschiedete überarbeitete Entwurf einer Kodifizierung der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit der Menschheit.37 Um jedoch nicht jede unmenschliche Handlung eines Einzelnen als internationales Verbrechen zu charakterisieren, hielt es die Kommis-
berger Juristen-Urteil von 1947, Baden-Baden 1996) und gegen Ohlendorf u.a. („Einsatzgruppen-Urteil“) unentschieden bzw. abweichend geäußert haben, darf dies außer Betracht bleiben, da in beiden Verfahren keine Taten vor 1939 angeklagt waren. 34 Instruktiv Mueller/Wise International Criminal Law, New York 1965, S. 369: “It is not clear to what extent this count was more than ancillary to the other charges of war crimes, and it is still arguable whether international law has come to recognize crimes against human status as a distinct offence.” 35 Report of the International Law Commission to the General Assembly (A/1316) = YBILC (Yearbook of the International Law Commission) 1950 II, S. 364 (374 ff). 36 Draft Code of Offences against the Peace and Security of Mankind; abgedruckt in YBILC (Yearbook of the International Law Commission) 1951 II, S. 133. 37 Draft Code of Offences against the Peace and Security of Mankind; abgedruckt in YBILC (Yearbook of the International Law Commission) 1954 II, S. 149.
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sion für notwendig klarzustellen, dass derartige Handlungen nur dann ein internationales Verbrechen darstellten, wenn sie auf obrigkeitliche Veranlassung oder Billigung verübt werden.38 Der Verzicht auf die Rückbindung an die Begehung weiterer Straftaten ging zurück auf einen Vorschlag des chinesischen Kommissionsmitglieds Hsu in der 267. Sitzung am 13. Juli 1954,39 der – bei einer Enthaltung – mit der denkbar knappen Mehrheit von sechs zu fünf Stimmen angenommen wurde.40 Schon in der folgenden Sitzung der Kommission am 15. Juli entspann sich allerdings eine Debatte darüber, dass der ersatzlose Verzicht einer Rückbindung dazu führe, dass der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit sich nicht mehr von einzelnen Verbrechenstatbeständen nationaler Rechtsordnungen unterscheide und daher unklar bliebe, warum es sich um einen Tatbestand des internationalen Rechts handele. Daher entschied die Kommission ohne Gegenstimme und bei nur zwei Enthaltungen, die Entscheidung bezüglich des Verzichts auf die Rückbindung noch einmal zu überdenken.41 Wiederum das chinesische Mitglied Hsu machte bei der Wiederaufnahme der Diskussion den schließlich übernommenen Vorschlag, dass derartige Handlungen nur dann ein internationales Verbrechen darstellten, wenn sie auf obrigkeitliche Veranlassung oder Billigung verübt würden.42 6. Noch bevor die während des kalten Krieges unterbrochenen und erst in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts wiederaufgenommenen Arbeiten der Völkerrechtskommission am Entwurf einer Kodifikation der Verbrechen gegen den Frieden und die Sicherheit sowie eines Statuts eines Internationalen Strafgerichthofes abgeschlossen werden konnten, zogen die Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien und später auch in Ruanda die Aufmerksamkeit auf sich und führten zur Errichtung zweier Ad-hoc-Strafgerichtshöfe durch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Dabei war der Sicherheitsrat allerdings nicht zur Setzung materiellen Strafrechts befugt und beschränkte die Befugnisse des Gerichtshofes daher auf die Anwendung geltenden Völkerrechts.43 38 Vgl. Report of the International Law Commission to the General Assembly (A/2693) = YBILC (Yearbook of the International Law Commission) 1954 II, S. 140 (150). 39 Einen entsprechenden Vorschlag hatte bereits die Regierung Jugoslawiens unterbreitet. Vgl. Troisième rapport de J. Spiropoulos, rapporteur special (A/CN.4/85) = YBILC (Yearbook of the International Law Commission) 1954 II, S. 112 (118). 40 YBILC (Yearbook of the International Law Commission) 1954 I, S. 133. 41 YBILC (Yearbook of the International Law Commission) 1954 I, S. 136. 42 YBILC (Yearbook of the International Law Commission) 1954 I, S. 142. Unterstützt wurde der Vorschlag u.a. von Lauterpacht. 43 Report of the Secretary-General pursuant to paragraph 2 of Security Council Resolution 808 (1993) (U.N. Doc. S/25704 vom 3. Mai 1993), para. 29.
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Aus diesem Grund folgte die Regelung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Art. 5 des Statuts des im Mai 1993 errichteten Jugoslawienstrafgerichtshofes (JStGH-Statut) trotz der zwischenzeitlich vorliegenden Textvorschläge 44 und eines weiteren Entwurfs 45 der Völkerrechtskommission weitgehend dem Beispiel des Statuts des Internationalen Militärgerichtshofs in Nürnberg und schwächte die dort erfolgte Rückbindung an die Begehung eines weiteren im Statut genannten Verbrechens lediglich dahingehend ab, dass die Tat einen Zusammenhang mit einem bewaffneten Konflikt erfordere. Entgegen dem Wortlaut der Vorschrift geht die Rechtsprechung des Jugoslawienstrafgerichtshofs jedoch davon aus, dass die Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach mittlerweile gefestigtem Völkergewohnheitsrecht keinen Zusammenhang zu irgendeiner Art von Konflikt verlangten,46 und vertritt die Auffassung, dass es sich bei dem Erfordernis des Vorliegens eines bewaffneten Konflikts lediglich um eine Zuständigkeitsvoraussetzung („jurisdictional element“) handele.47 Diese sei schon dann erfüllt, wenn zum Zeitpunkt der Tat an deren Ort ein bewaffneter Konflikt geherrscht habe.48 Andererseits setzt die Erfüllung des objektiven Tatbestandes eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit nach der Rechtsprechung des Jugoslawienstrafgerichtshofes voraus, dass die jeweilige Tathandlung sich als Teil eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung darstellt.49 Diese ungeschriebene Tatbestandsvoraussetzung hat der Gerichtshof – ausgehend vom Erfordernis einer gegen „eine zivile Bevölkerung“ gerichteten Handlung – entwickelt, um einzelne oder isolierte Verbrechen aus dem Kreis der Verbrechen gegen die Menschlichkeit auszuscheiden.50
44 Vgl. Fourth report on the draft Code of Offences against the Peace and Security of Mankind, by Mr. Doudou Thiam, Special Rapporteur (UN Doc. A/CN.4/398) = YBILC (Yearbook of the International Law Commission) 1986 II/1, S. 63; Seventh report on the draft Code of Crimes against the Peace and Security of Mankind, by Mr. Doudou Thiam, Special Rapporteur (UN Doc. A/CN.4/419) = YBILC (Yearbook of the International Law Commission) 1989 II/1, S. 81. 45 Report of the International Law Commission on the work of its forty-third session (29 April–19 July 1991 [A/46/10]) = YBILC (Yearbook of the International Law Commission) 1991 II/2, S. 1 (79 ff). 46 v. Tadic (IT-94-1-AR72), Decision on the Defence Motion for Interlocutory Appeal on Jurisdiction, 2.10.1995, para. 141. 47 v. Tadic (IT-94-1-A), Judgement, 15.7.1999, para. 249. 48 Vgl. v. Tadic (IT-94-1-A), Judgement, 15.7.1999, para. 251; v. Kunarac et al. (IT-9623-T & IT-96-23/1-T), Judgement, 22.2.2001, para. 413. 49 Vgl. v. Tadic (IT-94-1-T), Opinion and Judgement, 7.5.1997, para. 626; v. Kunarac et al. (IT-96-23-T & IT-96-23/1-T), Judgement, 22.2.2001, para. 418; v. Kunarac et al. (IT-96-23/1-A), Judgement, 12.6.2002, para. 85; v. Limaj et al. (IT-03-66), Judgement, 30.11.2005, paras. 180 ff. 50 Vgl. v. Tadic (IT-94-1-T), Opinion and Judgement, 7.5.1997, paras. 644 ff¸ v. Blaskic (IT-95-14-T), Judgement, 3.3.2000, paras. 198 und 202.
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Insoweit konnte sich das Gericht neben einem zwischenzeitlich vorliegenden neuen Textvorschlag 51 auch auf einen weiteren Entwurf der Völkerrechtskommission aus dem Jahr 1996 stützen, der die Qualifikation der Verbrechen gegen die Menschlichkeit ebenfalls durch das Erfordernis einer ausgedehnten oder systematischen Begehensweise auf Veranlassung einer Regierung bzw. einer anderen Organisation oder Gruppe vorgenommen hat.52 Auch der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Art. 3 des Statuts des im November 1994 eingerichteten Ruandastrafgerichtshofes (RStGH-Statut) enthält nicht das Erfordernis eines Zusammenhangs mit einem bewaffneten Konflikt und erfordert stattdessen einen „ausgedehnten oder systematischen Angriff“. Ebenso wie das RStGH-Statut verzichtet auch das römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs bei der Regelung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf das Erfordernis eines Zusammenhangs mit einem bewaffneten Konflikt und erfordert, dass sich die Tathandlung als Teil eines „ausgedehnten oder systematischen Angriffs“ darstellt. Damit folgt die Regelung weitgehend dem Verständnis der Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Auslegung und Anwendung durch die Ad-hoc-Gerichtshöfe. Lediglich das Verbrechen der Verfolgung in Art. 7 Abs. 1 (h) IStGH-Statut setzt einen Zusammenhang mit einem Verbrechen nach Art. 7 Abs. 1 IStGH-Statut oder einem anderen der Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs unterliegenden Verbrechen voraus und folgt insoweit dem ursprünglichen Regelungsmodell im Statut des Nürnberger Militärgerichtshofes. Das Völkerstrafgesetzbuch folgt dieser Einschränkung, die nicht dem Stand des Völkergewohnheitsrechts entspreche,53 allerdings nicht. 7. Die Entstehungsgeschichte der Verbrechen gegen die Menschlichkeit vermag somit die Annahme, dass es sich beim Begehungszusammenhang um ein unrechts- oder schulderhöhendes Merkmal des objektiven Tatbestandes handelt,54 nicht zu stützen. Wie bereits die Völkerrechtskommission so hat auch der Jugoslawienstrafgerichtshof das Erfordernis der Einbindung der Tat in einen ausgedehnten oder systematischen Angriff gegen eine Zivilbevölkerung allein deswegen
51 Report of the International Law Commission on the work of its forty-seventh session (2 May–21 July 1995) (UN Doc. A/50/10), 25/Fn. 53. 52 Report of the International Law Commission on the work of its forty-eight session (6 May–26 July 1996) (UN Doc. A/51/10), S. 15 ff (47). 53 Vgl. Werle/Jeßberger Das Völkerstrafgesetzbuch, JZ 2002, 731. 54 So wohl Werle/Burchards in: Münchner Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 6, § 7 VStGB Rn 13 ff (38).
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für erforderlich gehalten, um einzelne oder isolierte Verbrechen aus dem Kreis der Verbrechen gegen die Menschlichkeit auszuscheiden. Eine solche Funktion des Begehungszusammenhanges aber steht erkennbar in keinem Zusammenhang mit dem Unrecht oder der Schuld der einzelnen Tat. Denn ebenso wenig wie sich der Unrechts- oder Schuldgehalt eines einzelnen Delikts der Alltagskriminalität – wie etwa eines Taschendiebstahls – dadurch ändert, dass dieses Delikt massenhaft oder systematisch begangen wird, so wenig ist dies bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit der Fall. Zwar liegt es auf der Hand, dass die massenweise oder systematische Tötung von Teilen einer Zivilbevölkerung in ihrer Gesamtheit betrachtet als „größeres Unrecht“ angesehen werden kann, als eine einzelne Tötungshandlung, doch darf eine solche Gesamtschau gerade nicht mit der Betrachtung der jeweils einzelnen Tat gleichgesetzt werden. Eine solche Annäherung wäre allein denkbar, wenn man die Verbrechen gegen die Menschlichkeit als „Führungsverbrechen“ 55 ansehen könnte, die allein diejenigen Täter zu erfassen suchten, denen kraft ihrer Autorität tatsächlich die Gesamtverantwortung für die massenhafte oder systematische Begehung schwerer Verbrechen zugerechnet werden kann. Ein solches Verständnis der Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist aber weder mit deren Wortlaut noch mit deren Entstehungsgeschichte in Einklang zu bringen. Vielmehr beschreiben die Tatbestände des Völkerstrafgesetzbuches – wie Tatbestände in anderen Bereichen des Strafrechts auch – Einzelhandlungen, die eine präzise Zuschreibung individueller Verantwortlichkeit ermöglichen sollen und keine Handlungszusammenhänge oder -gesamtheiten. Sie stellen in der Tat nichts anderes dar, „als die aus politischen Gründen erfolgte und systematische Begehung von Verbrechen des ordentlichen Strafrechts, wie Diebstahl, Plünderung, Misshandlung, Versklavung, Mord und Totschlag, Verbrechen, die vom Strafgesetz aller zivilisierten Staaten als solche angesehen und bestraft werden.“ 56 Vor diesem Hintergrund vermögen schließlich auch Rechtsgutserwägungen keinen hinreichenden Bezug des Begehungszusammenhanges zu Unrecht und Schuld der Tat herzustellen, denn soweit mit Blick auf ein die Einzeltat transzendierendes Universalrechtsgut darauf verwiesen wird, bei den Verbrechen gegen die Menschlichkeit bestehe „die Bedrohung für Frieden, Sicherheit und das Wohl der Welt in dem systematischen oder massen-
55 Als derartiges Sonderdelikt („leadership crime“) wird möglicherweise der Tatbestand der Aggression im IStGH-Statut ausgestaltet werden. Vgl. die im „Discussion paper proposed by the Chairman“ (ICC/ASP/5/SWGCA/2) vom 16.1.2007, S. 3, enthaltenen Vorschläge zur Qualifikation des Täterkreises: “For the purpose of the present Statute, a person commits a ‘crime of aggression’ when, being in a position to effectively exercise control over or to direct the political or military action of a State, […]”. 56 François de Menthon, zitiert nach „Der Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof“, 1947, Bd. V, S. 419.
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haften Angriff auf grundlegende Menschenrechte einer Zivilbevölkerung“,57 handelt es sich offensichtlich um einen Zirkelschluss. Entscheidend ist daher vielmehr, dass auch der dieser Argumentation zugrunde liegende Kumulationsgedanke auf eine Haftung für das Unrecht Dritter hinausläuft und insofern mit dem Schuldgrundsatz kollidiert.58
III. Allein die Feststellung, dass die Funktion des Begehungszusammenhanges darin besteht, Taten aus dem Kreis der Verbrechen gegen die Menschlichkeit auszuscheiden, die sich nicht als Teil eines „Gesamtzusammenhanges“ darstellen, lässt offen, was Sinn und Zweck einer solchen Funktion ist. Hinweise zur Klärung dieser Frage liefert wiederum die Entstehungsgeschichte des Tatbestandes. Denn wie dargelegt, weist das Erfordernis eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen eine Zivilbevölkerung nicht nur strukturelle Ähnlichkeit mit dem im Statut des Nürnberger Militärgerichtshofes enthaltenen Erfordernis der Begehung „in Ausführung oder im Zusammenhang mit einem anderen im Statut genannten Verbrechen“ auf – in der Tat könnte man auch insoweit von einem besonderen „Begehungszusammenhang“ sprechen –, sondern ersetzte Letzteres im Lauf der Entstehung eines eigenständigen Tatbestandes sogar. Seine Rechtfertigung findet der Begehungszusammenhang daher – wie schon sein Vorgänger, die Rückbindung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit an die Begehung weiterer Völkerrechtsverbrechen im Statut des Nürnberger Militärgerichtshofes – allein in der aus dem völkerrechtlichen Grundsatz der Nichteinmischung in die Angelegenheiten eines fremden Staates 59 folgenden Notwendigkeit der Begründung einer „internationalen“ Zuständigkeit 60 im Hinblick auf Taten, die regelmäßig schon nach dem Recht des Begehungsortes mit Strafe bedroht sind und für deren Erfassung und Verfolgung durch einen Drittstaat oder supranationale Institutionen keine der herkömmlichen Anknüpfungsmomente, die eine entsprechende Zuständigkeit zu begründen vermögen,61 vorliegen. Denn wie auch immer man den 57
Werle Völkerstrafrecht, 2003, Rn 627. Vgl. Kargl Vertrauen als Rechtsgutsbestandteil, in: Neumann/Prittwitz (Hrsg.) „Personale Rechtsgutslehre“ und „Opferorientierung im Strafrecht“, 2007, S. 41 (71). 59 Hierzu Ambos Internationales Strafrecht, 2006, S. 19. 60 D.h. einer Zuständigkeit, Sachverhalte zu regeln („jurisdiction to prescribe“) und gerichtlich zu entscheiden („jurisdiction to adjudicate“), die in den Bereich des fremden Staates hineinwirkt. 61 Als solche völkerrechtlich anerkannt sind etwa das Territorialitätsprinzip, das Flaggenprinzip sowie das aktive und passive Personalitätsprinzip. Vgl. Ambos Internationales Strafrecht, 2006, S. 21. 58
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legitimierenden Anknüpfungspunkt für den mit einer solchen „internationalen“ Zuständigkeit verbundenen Zugriff auf exterritoriale Sachverhalte bestimmt – sei es der Gesichtspunkt der „humanitären Intervention 62 oder die Durchsetzung des Weltrechtsprinzips –, so ist es letztlich allein das in einem Gesamtzusammenhang zum Vorschein kommende Gesamtunrecht, welches „das Gewissen der Menschheit zutiefst erschütter[t]“ 63 und „die Internationale Gemeinschaft als Ganzes berühr[t]“ 64 und daher eine Einmischung in die Angelegenheiten eines fremden Staates rechtfertigt. Angesichts weitgehend identischer Argumente dürfte es sich dementsprechend auch beim Begehungszusammenhang der Kriegsverbrechen, die nach der Regelung in §§ 8 bis 12 VStGB den „Zusammenhang mit einem internationalen oder nichtinternationalen bewaffneten Konflikt“ 65 erfordern, um ein zuständigkeitsbegründendes Merkmal handeln.66
IV. Nach alldem sprechen gute Gründe für die Annahme, dass es sich beim Begehungszusammenhang der Verbrechen gegen die Menschlichkeit weder um ein unrechts- oder schulderhöhendes Merkmal des objektiven Tatbestandes, noch um eine objektive Bedingung der Strafbarkeit, sondern um eine Verfolgungsvoraussetzung in der Form eines zuständigkeitsbegründenden Merkmals handelt. Zu den Folgerungen aus dieser Erkenntnis gehört die Einsicht, dass der Vorsatz des Täters sich – anders als von der Rechtsprechung der Ad-hocGerichtshöfe angenommen und in den „Verbrechenselementen“ 67 des IStGH gefordert – nicht auf die Einbindung seiner Tat in einen „ausgedehnten oder systematischen“ Angriff gegen eine Zivilbevölkerung beziehen muss, sondern es ausreicht, wenn ein solcher Konnex objektiv besteht. Praktische Konse62 Vgl. Meseke Der Tatbestand der Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofes, 2004, S. 34. 63 So die Formulierung im 2. Spiegelstrich der Präambel zum IStGH-Statut. 64 So die Formulierung im 4. Spiegelstrich der Präambel zum IStGH-Statut. 65 Kein solcher Zusammenhang besteht daher nach der Definition in Art. 1 Abs. 2 des (II.) Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte vom 8.6.1977 in Fällen innerer Unruhen und Spannungen wie Tumulte sowie vereinzelt auftretenden Gewalttaten. 66 AA Ambos in: Münchner Kommentar zum Strafgesetzbuch, Bd. 6, Vorbemerkungen zu §§ 8–12 VStGB Rn 36. 67 Nach Art. 9 IStGH-Statut sollen die „Verbrechenselemente“ („Elements of Crimes“) die Interpretation und Anwendung der Verbrechenstatbestände des Statuts erleichtern. Sie sind trotz der missverständlichen Formulierung in Art. 21 IStGH-Statut nicht verbindlich. Vgl. von Hebel The Making of the Elements of Crimes, in: Lee (ed.) The International Criminal Court – Elements of Crimes and Rules of Procedure and Evidence, 2001, S. 8.
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quenzen dürften mit dieser Folgerung kaum verbunden sein, denn ein Täter, dessen Tat sich objektiv als Teil eines Angriffs auf eine Zivilbevölkerung darstellt, wird kaum mit Erfolg geltend machen können, ihm sei dieser Umstand nicht bewusst gewesen. Bedeutsamer im Hinblick auf ihre praktischen Konsequenzen mag daher die Folgerung sein, dass über das Vorliegen des Begehungszusammenhanges im Freibeweis zu entscheiden ist, da dies zu einer erheblichen Verringerung des Beweisstoffs der Hauptverhandlung beitragen könnte. So zeigt das Beispiel der Ad-hoc-Gerichtshöfe, dass gerade die Beweisaufnahme bezüglich des Vorliegens des Begehungszusammenhanges nicht selten äußerst zeitraubend ausfallen kann. Von entscheidender Bedeutung aber ist vor allem anderen der Gesichtspunkt, dass allein ein vom Tatbestand gelöstes Verständnis des Begehungszusammenhanges der Verbrechen gegen die Menschlichkeit es erlaubt, die zwei Arten von Unrecht im Zusammenhang dieser Verbrechen, auf die bereits hingewiesen wurde, zu unterscheiden. Das strafbare Unrecht der Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das allein Gegenstand des gegen einen Beschuldigten erhobenen individuellen Schuldvorwurfs ist, liegt ausschließlich in den Einzeltaten der Verbrechen gegen die Menschlichkeit begründet, und eine solche Einzeltat muss dem Täter zugerechnet werden können, um zu einem Schuldspruch zu gelangen. Zugegeben mag diese Aufgabe angesichts der nach wie vor gültigen Feststellung Jägers, kriminelles Handeln in Massen oder Gruppen werde „von einer in ihrer Wirkungsweise noch wenig erforschten kollektiven Dynamik beeinflusst“ 68 gerade in komplexen Verantwortungsstrukturen von Autorität, vorauseilendem Gehorsam und „organisierter Unverantwortlichkeit“ eine nicht eben leicht zu bewältigende sein, doch muss sich das im Entstehen begriffene Internationale Strafrecht dieser Herausforderung stellen. Eine vom Tatunrecht zu unterscheidende zweite Art von Unrecht im Zusammenhang mit den Verbrechen gegen die Menschlichkeit liegt in dem Gesamtzusammenhang zahlloser oder planvoll begangener Einzeltaten begründet, die „das Gewissen der Menschheit zutiefst erschüttern“ und „welche die Internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren“. Allein dieses Gesamtunrecht bildet den legitimierenden Anknüpfungspunkt für den Zugriff auf exterritoriale Sachverhalte und rechtfertigt so eine „internationale“ Zuständigkeit zur Verfolgung der Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Folgenreich ist die mit der zutreffenden Einordnung des Begehungszusammenhangs als Verfolgungsvoraussetzung in der Form eines zuständigkeitsbegründenden Merkmals gewonnene Einsicht der Unterscheidbarkeit von Tat- und Gesamtunrecht der Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor allem, weil sie den Aufbau einer differenzierten Dogmatik der einzelnen Ver-
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Jäger Makrokriminalität – Studien zur Kriminologie kollektiver Gewalt, 1989, S. 132.
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brechen gegen die Menschlichkeit erlaubt, die bislang nur allzu oft durch eine Konfundierung der jeweils einzelnen Tathandlung mit Aspekten des Angriffs gegen eine Zivilbevölkerung verhindert worden ist. Insoweit wird sie auch zur Entstehung einer angemessenen völkerstrafrechtlichen Teilnahmelehre beitragen, indem sie Zurechnungsprobleme – statt sie, wie bei der von den Ad-hoc-Tribunalen als Völkergewohnheitsrecht ausgegebenen Begehungsform der „Joint Criminal Enterprise“ 69 im Nirwana der Überlappung von Einzeltat und Begehungszusammenhang unsichtbar zu machen – an den Ort verweist, an den sie gehören, nämlich eine geordnete Teilnahmelehre. Letztlich wird die Einsicht vom zweierlei Unrecht der Verbrechen gegen die Menschlichkeit damit auch zu einem rationaleren Umgang des Strafrechts mit Gegenständen verhelfen, die – so unfassbar sie mitunter auch sein mögen – in dem bislang über weite Strecken vorherrschenden Duktus von entschlossener Betroffenheit nur unzureichend erfasst werden. Ein Anliegen, dem angesichts des Grundtones seines praktischen und wissenschaftlichen Wirkens wohl auch Rainer Hamm seine Zustimmung erteilen würde. Ad multos annos!
69 Kritisch insoweit auch Schabas Mens Rea and the International Criminal Tribunal for the Former Yugoslavia, New England Law Review 2003, 1015 (1034); Fletcher/Ohlin Reclaiming Fundamental Principles of Criminal Law in the Darfur Case, Journal of International Criminal Justice 2005, 539 (548); Bogdan Individual Criminal Responsibility in the Execution of a “Joint Criminal Enterprise” in the Jurisprudence of the ad hoc International Tribunal for the Former Yugoslavia, International Criminal Law Review 2006, 63, und Ambos Joint Criminal Enterprise and Command Responsibility, Journal of International Criminal Justice 2007, 159.
Zum Akteneinsichtsrecht Privater nach § 475 StPO Claudia Koch I. Einleitung Nach § 406e Abs. 1 StPO, einer materiell datenschutzrechtlichen Regelung,1 hat der „Verletzte“ (einer Tat) unter bestimmten Bedingungen das Recht zur Informationsbeschaffung durch Akteneinsicht. Die Vorschrift ist in gewisser – nämlich formeller – Hinsicht zweifelsfrei ein Fortschritt. Denn immerhin ist damit zumindest eine gesetzliche Grundlage für grundrechtsrelevante Datenweitergaben geschaffen worden, die sich auch noch einige Jahre nach dem so genannten Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts 2 auf bloße Verwaltungsvorschriften stützte.3 Inhaltlich – und insoweit insbesondere in großen Teilen ihrer praktischen Auslegung und Anwendung durch Staatsanwaltschaften und Gerichte – ist die Vorschrift freilich mehr als bedenklich, denn sie stellt ein offenes Einfallstor für verfahrensfremde und verfahrensgefährdende Zwecke dar.4 Im Grundsatz nichts anderes und damit auch wenig Gutes lässt sich über § 475 StPO sagen, der von den Befugnissen von Privatpersonen zur Akteneinsicht bzw. -auskunft handelt. Zwar ist auch mit dieser – materiell datenschutzrechtlichen – Vorschrift ein beinahe 30 Jahre dauernder gesetzloser Zustand beendet worden, während dessen auch hier Verwaltungsvorschriften als unzureichende Vehikel für einen zweckumwandelnden Datentransfer gedient haben.5 Dieser formelle Fortschritt hilft allerdings nicht darüber hinweg, dass die Vorschrift zahlreiche und gewichtige inhaltliche Schwächen aufweist. Einige dieser offenbaren materiellen Mängel sollen im Folgenden
1 Zu einer solchen Lesart der Vorschrift Wallau FS Dahs, S. 509 ff. Weitergehend ist es in Übereinstimmung mit Rieß Festgabe Hilger, S. 171 (173) mühelos möglich, „weite Teile des traditionellen Strafprozessrechts als „Datenübermittlungsrecht“ zu interpretieren und das Strafverfahren als komplexes System des Informationsaustausches zu verstehen“. 2 BVerfGE 65, 1 ff. 3 Vgl. Hilger in: Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Aufl. 2001, § 406e Rn 1 mwN. 4 Zur Kritik an der Vorschrift siehe beispielsweise Riedel/Wallau NStZ 2003, 393 ff. 5 Zur Gesetzesgeschichte des StVÄG 1999 siehe Brodersen NJW 2000, 2536 ff.
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dargestellt werden. Dies geschieht in der Hoffnung, dass Rainer Hamm, der das Datenschutzrecht nicht alleine theoretisch begleitet,6 sondern einige Jahre als Datenschutzbeauftragter des Landes Hessen auch praktisch mitgestaltet hat, die Auffassung unterstützt, dass zukünftig eine einheitliche Linie für Entscheidungen über die Akteneinsicht zugunsten Dritter gefunden werden muss, damit insbesondere dem grundgesetzlich garantierten Recht auf informationelle Selbstbestimmung ausreichend Rechnung getragen wird.
II. Das berechtigte Interesse des Insolvenzverwalters Der Staat darf selbst zum Zwecke der Strafverfolgung nicht ohne Weiteres und nicht ohne Maß Informationen bzw. Daten erheben und sie in Gestalt von Ermittlungsakten sammeln. Solche Eingriffe in das grundgesetzlich garantierte Recht auf informationelle Selbstbestimmung bedürfen einer hinreichend bestimmten gesetzlichen Grundlage.7 Die wertungsmäßig nicht anders zu behandelnde Weitergabe von Daten aus strafrechtlichen Ermittlungsakten in private Hände – ein doppelter Eingriff in das Recht des Betroffenen – soll nach dem Wortlaut des Gesetzes demgegenüber bereits dann möglich sein, wenn der Private ein „berechtigtes Interesse“ an einer Aktenauskunft darlegt, § 475 Abs. 1 StPO. Der Private kann sogar regelmäßig davon ausgehen, bei Darlegung eines solchen „berechtigten Interesses“ vollständige Akteneinsicht entsprechend § 475 Abs. 2 StPO zu erhalten, denn Staatsanwälte und Gerichte neigen aus nahe liegenden Gründen praktisch schnell der Auffassung zu, die Erteilung von Auskünften erfordere einen „unverhältnismäßigen“ Aufwand. Wann aber ist ein solches, strafaktenöffnendes „berechtigtes Interesse“ anzunehmen? Hierzu findet sich häufig die Formulierung der – anwaltlich vertretene 8 – Antragsteller habe „Tatsachen, aus denen sich Grund und Umfang der benötigten Auskünfte ergeben, darzulegen“.9 Mit dieser Wendung ist freilich bereits auf den ersten Blick wenig gewonnen, denn es bleibt unklar, in welchen Fällen „Grund und Umfang der benötigten Auskunft“ 6
Vgl. nur Rainer Hamm Das neue Hessische Datenschutzgesetz, in: Bäumler/von Mutius, Datenschutzgesetze der dritten Generation, Neuwied 1999, S. 68 ff; ders. Datenschutz und Strafrecht, ein Widerspruch in sich? in: Lamnek/Tinnefeld, Zeit und kommunikative Rechtskultur in Europa, Baden-Baden 2000, S. 244 ff. 7 Hierzu grundlegend für den Bereich des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung BVerfGE 65, 1 ff. 8 Nach LG Regensburg NJW 2004, 530 f soll einem Rechtsanwalt auch in „eigener Sache“ Akteneinsicht gewährt werden können. 9 Vgl. LG Frankfurt am Main StV 2003, 495; LG Kassel StraFo 2005, 428 f m. Anm. Kempf/Durth; KMR-Gemählich 42. Lfg. Mai 2006, § 475 Rn 4; Meyer-Goßner StPO, 50. Aufl. 2007, § 475 Rn 2.
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tatsächlich rechtliche Anerkennung erfahren (dürfen). Eher hilfreich scheinen daher praktisch „anerkannte“ Fallgestaltungen zu sein wie beispielsweise die Verfolgung zivilrechtlicher Ansprüche 10 oder die Vorbereitung der Verteidigung in einer Strafsache oder einem Ordnungswidrigkeitenverfahren 11 oder gegen die Verhängung von Ordnungsmaßnahmen gegen einen Zeugen.12 In der Praxis liegt regelmäßig ein (angebliches) zivilrechtliches Interesse – nicht anders als im Rahmen des Akteneinsichtsrechts „Verletzter“ nach § 406e StPO – dem Großteil der Akteneinsichtsgesuche nach § 475 StPO zugrunde. Nicht anders als beim Akteneinsichtsrecht nach § 406e StPO stellt sich damit also auch hier die Frage, warum ein zivilrechtliches Interesse überhaupt einen rechtlichen Grund dafür abgeben soll, eine strafrechtliche Ermittlungsakte einsehen zu dürfen.13 Mit dessen Anerkennung als Einsichtsgrund wird in der Folge nicht nur der negativen Entwicklung Vorschub geleistet, Ermittlungsverfahren für strafverfahrensfremde Zwecke zu initiieren,14 denn die Einsichtsgewährung auf der Grundlage von § 475 StPO ist ausweislich des Wortlauts der Vorschrift bereits während des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens möglich und zulässig. Auch aus grundsätzlicheren Erwägungen heraus: Das kann nicht richtig sein. Aus welchem Grund das austarierte zivilprozessuale System der Darlegungs- und Beweislast mittelbar über die §§ 406e, 475 StPO kurzerhand außer Kraft gesetzt werden darf, hat noch niemand überzeugend dargelegt.15 Wieso mit anderen Worten also das zivilprozessuale Gleichgewicht zwischen Kläger und Beklagten durch ein – insoweit: normativ zufälliges – strafrechtliches Ermittlungsverfahren beeinträchtigt werden darf, ist nicht ersichtlich. Hieran ist insbesondere auch im praktisch häufig vorkommenden Fall der Einsichtsgesuche von Insolvenzverwaltern mit Nachdruck zu erinnern. Da der Insolvenzverwalter regelmäßig nicht „Verletzter“16 i.S.v. § 406e StPO 10
SK-Weßlau 41. Aufbau-Lfg. November/Dezember 2004, § 475 Rn 18 mwN. BGH StraFo 2006, 500. 12 OLG Hamburg NJW 2002, 1590 f. 13 Konsequent Otto GA 1989, 299 ff; KMR-Stöckel 25. Erg.lfg. Oktober 2000, § 406e Rn 12, die allein ein Akteneinsichtsrecht an beschlagnahmten Unterlagen usw. zur Verfolgung zivilrechtlicher Zwecke anerkennen wollen, falls ein zivilrechtlicher Anspruch auf Einsicht, Vorlage oder Auskunft besteht. 14 Siehe etwa Reese JR 2006, 225 ff. 15 Anders, allerdings offensichtlich verfehlt, LG Mühlhausen wistra 2006, 76 (77) für den Bereich von § 406e StPO, demzufolge der Gesetzgeber (mit dolus eventualis?) „Ausforschungen“ und eine „Umgehung der zivilrechtlichen Beweislast“ „hingenommen“ (sic!) haben soll. Zur inneren Widersprüchlichkeit dieser Argumentation – ein zivilprozessual nicht anerkanntes Interesse soll zum Zwecke der Verfolgung zivilrechtlicher Interessen Anerkennung finden – Wallau FS Dahs, 509 (515). 16 Zum Begriff des „Verletzten“ i.S.v. § 406e StPO Riedel/Wallau NStZ 2003, 393 (394) mwN. 11
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ist,17 kann er höchstens über das subsidiäre Recht des § 475 StPO 18 Akteneinsicht begehren und erhalten. Der Insolvenzverwalter hat allerdings nicht bereits kraft seiner gesetzlichen Verpflichtung, nach § 80 Abs. 1 InsO das Vermögen des Schuldners zu verwalten, auch das Recht, die Akten in einem Ermittlungsverfahren gegen den Schuldner wegen Insolvenzverschleppung usw. einzusehen. Auch die Prüfung etwaiger Schadenersatzansprüche gegen den Schuldner wegen Untreue, Bilanzfälschung o.Ä. führt nicht per se zu einem Einsichtsrecht.19 Dabei geht es nicht allein um die vorsorgliche Verhinderung eines „Zusammenwirkens“ von Insolvenzverwaltern und Staatsanwälten, die aus Sicht des Beschuldigten/Schuldners bisweilen die Form unheiliger und existenzvernichtender Allianzen annehmen kann. In rechtlicher Hinsicht ist ganz entscheidend, dass die gewissermaßen treuhänderischen, also abgeleiteten Befugnisse eines Insolvenzverwalters nicht weiter reichen können als die der angeblich „verletzten“ Vermögensmasse selbst, einerlei ob diese in Gestalt einer juristischen Person oder in anderer Weise organisiert ist. Da nach zutreffender Ansicht zumindest vor einem die Anklageerhebung legitimierenden hinreichenden Tatverdacht allerdings gar keine Befugnis zur Akteneinsicht zugunsten des „verletzten“ Vermögens entsprechend § 406e StPO besteht,20 kann das Einsichtsrecht des (gesetzlich vorgesehenen) Verwalters des Vermögens nicht weiterreichen. Die bloße Darstellung des Insolvenzverwalters, etwaige Schadenersatzansprüche zu prüfen o.Ä. kann damit unter keinen Umständen als ausreichende Darlegung eines „berechtigten Interesses“ anerkannt werden bzw. ist umgekehrt anzunehmen, dass die bloße Prüfung von Schadensersatzansprüchen durch den Insolvenzverwalter grundsätzlich erst im Fall eines hinreichenden, anklagebegründenden Tatverdachts eine Einsichtsgewährung begründen kann, denn das Recht des Insolvenzverwalters kann nicht stärker sein als das jeder anderen natürlichen oder juristischen Person, die nach § 406e StPO Einsicht begehrt und eine solche regelmäßig auch erst bei Vorliegen eines hinreichenden Tatverdachts erhält.21
17 18
Vgl. OLG Koblenz wistra 1988, 203 ff; LG Frankfurt am Main StV 2003, 495. Zum Konkurrenzverhältnis zwischen den Vorschriften Meyer-Goßner aaO, § 475
Rn 1. 19
So allerdings wohl LG Mühlhausen wistra 2006, 76 (77). Vgl. LG Stade StV 2001, 159; LG Köln StraFo 2005, 78; LG Dresden StV 2006, 13; Riedel/Wallau NStZ 2003, 392; aA beispielsweise LG Mühlhausen wistra 2006, 76. 21 S. die Nachweise in Fn. 20. In der Sache nicht anders wird der nicht selten vorkommende Fall zu entscheiden sein, dass Aktionäre in einem Verfahren gegen Organmitglieder einer Aktiengesellschaft beispielsweise wegen angeblicher Untreue Einsicht in die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakten begehren. Einem möglichen Einsichtsbegehren auf der Grundlage von § 406e StPO dürfte entgegenstehen, dass nicht die Aktionäre, sondern vielmehr die Aktiengesellschaft selbst als juristische Person des Privatrechts Inhaberin des angeblich verletzten Vermögens und damit als „Verletzte“ i.S. der Vorschrift anzusehen ist, 20
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III. Weitere Fälle eines „berechtigten Interesses“ Typischerweise begehren auch „Kreditinstitute, Versicherungsunternehmen und Interessenschutzverbände“ 22 Akteneinsicht nach § 475 StPO. Ihrem Wunsch nach einer „Teilhabe an den Früchten staatlicher Ermittlungen“ 23 kommt entgegen, dass sie nach den Buchstaben des Gesetzes als Einsichtsvoraussetzung grundsätzlich kein „rechtliches Interesse“ dartun müssen – einen Ausnahmefall bildet das Einsichtsbegehren im Fall beispielsweise eines Freispruchs des Betroffenen, § 477 Abs. 3 StPO –, sie also gerade nicht ein ausdrücklich von der Rechtsordnung geschütztes Interesse plausibilisieren müssen, sondern vielmehr grundsätzlich genügen soll, dass – rechtlich ungeschützte (!) – wirtschaftliche oder ideelle Interessen an einer Akteneinsicht schlüssig dargetan werden.24 Es bedarf keiner besonderen Phantasie oder intensiven Vorstellungskraft, dass beispielsweise Versicherungsunternehmen ein – wirtschaftlich u.U. „millionenschweres“ Interesse – an der Einsicht in die Akten eines Ermittlungsverfahrens etwa zur Prüfung ihrer Einstandspflicht begründen können.25 Hier gilt das oben bereits ausgeführte selbstverständlich entsprechend: Warum die ansonsten jedermann auferlegten zivilprozessualen Risiken der Interessendurchsetzung mit einmal nicht mehr gelten sollen, weil ein – im staatlichen, also öffentlichen – Interesse initiiertes Straf- bzw. Ermittlungs-
vgl. auch Meyer-Goßner aaO, § 172 Rn 12 mwN. Da sie Akteneinsicht nach allgemeinen Grundsätzen erst erhält, wenn ein hinreichender Tatverdacht anzunehmen ist, kann ein etwaiges Einsichtsbegehren „normativ nachrangiger“ Aktionäre auf der Grundlage von § 475 StPO in keinem Fall zu einem früheren Zeitpunkt anzunehmen sein. 22 KMR-Gemählich aaO, § 475 Rn 1; SK-Weßlau aaO, § 475 Rn 12. 23 So die – sachlich verfehlte – Formulierung von SK-Velten 35. Aufbau-Lfg. Januar 2004, § 406e Rn 8 zum Akteneinsichtsrecht des „Verletzten“ nach § 406e StPO, die kategorial auf die „Ausgewogenheit“ der Beweislastregeln des Zivilprozesses jedenfalls dann „verzichten“ (sic!) möchte, wenn die Täterschaft (in einem Strafverfahren) „rechtskräftig festgestellt ist“; der Sache nach die Beschreibung eines gesetzlich nicht vorgesehenen Falles der Rechtskrafterstreckung. Selbst wenn man mit Velten unterstellt, dass die Durchführung eines Strafverfahrens auch der Durchsetzung eines individuellen „Verletzteninteresses“ dient, ist überhaupt nicht ausgemacht, dass es sich hierbei um exakt dasjenige Interesse handelt, das vom „Verletzten“ in einem Zivilverfahren gegenständlich gemacht wird. Dass es sich um rechtlich eindeutig zu unterscheidende Interessen handelt, macht bereits auf den ersten Blick die völlig unterschiedliche Ausrichtung und Ausgestaltung von Schadenersatzund Strafanspruch deutlich. Velten ebnet die grundlegenden, ausdifferenzierten Unterschiede von Straf- und Zivilrecht im Bereich eines diffusen, normativ nicht hinreichend geklärten „Verletzteninteresses“ kurzerhand ein. 24 Eingehende Darstellung der seinerzeitigen Gesetzgebungsdiskussion und Kritik an diesem „nicht konkretisierbaren“ – und daher doch eigentlich: sinnlosen – Begriff bei SK-Weßlau aaO, § 475 Rn 16 f. 25 Vgl. etwa OLG Düsseldorf NJW 1965, 1033.
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verfahren seinen Gang nimmt, warum also die – für das Interesse eines Dritten: zufällige – Existenz eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens dem Dritten „mehr“ Möglichkeiten zur Durchsetzung seiner Interessen geben soll als ihm „sonst“ zukommen, harrt auch – und gerade – in diesen Fällen einer überzeugenden Begründung. Es muss an dieser Stelle daher grundsätzlich gelten, dass frühestens zum Zeitpunkt der Bejahung eines anklagelegitimierenden Verdachts überhaupt erst ein „berechtigtes Interesse“ an einer Akteneinsicht angenommen werden kann. Ermittlungs- bzw. Strafverfahren dienen ausschließlich der Durchsetzung allgemeiner, öffentlicher Interessen und diese besondere Zielsetzung legitimiert die Befugnis von Staatsanwaltschaften und Gerichten, Daten von Beschuldigten und sonstigen Verfahrensbeteiligten, beispielsweise Zeugen, zu erheben.26 Aus allgemeinen Erwägungen kann eine Weitergabe der in solchen Verfahren „gesammelten“ Informationen also nur dann in Betracht kommen, wenn diese „gesammelten“ Informationen nach normativen Kriterien in einem strafgerichtlichen Verfahren grundsätzlich an (irgendwelche) Dritte weitergegeben, also öffentlich gemacht werden könnten bzw. dürften, was frühestens in Betracht kommt, falls von staatsanwaltschaftlicher Seite die Voraussetzungen für eine solche Öffentlichmachung bejaht werden – also im Zeitpunkt der Anklageerhebung. Frühere Akteneinsichtsgewährungen sind demgegenüber grundsätzlich ausgeschlossen, da die zu einem früheren Zeitpunkt gegebenen Verdachtsgrade zwar – weil die Ausermittlung und Verfolgung von Straftaten in überwiegendem allgemeinen Interesse liegt – Eingriffe in die rechtlich geschützte Sphäre Betroffener legitimieren mögen; da aus Sicht des Betroffenen allerdings an die „Weitergabe“ der dabei „gesammelten“ Informationen in privatem Interesse gewiss keine geringeren Anforderungen gestellt werden dürfen als an deren Erhebung in öffentlichem Interesse, kann eine solche Weitergabe frühestens in Betracht kommen, wenn das Interesse des Betroffenen an einer Weitergabe an (irgendwelche) Dritte signifikant reduziert ist. Das strafrechtliche Ermittlungsverfahren ist grundsätzlich nichtöffentlich ausgestaltet, wobei auf der einen Seite das allgemeine Interesse an einer effektiven Strafverfolgung, auf der anderen Seite der Schutz individualrechtlicher Belange des Beschuldigten als maßgeblicher Grund für die Nichtöffentlichkeit ausgemacht werden können.27 Es bedarf stets besonders gewichtiger Umstände, um den Grundsatz der Nichtöffentlichkeit, der zu den maßstabsgebenden und fundierenden Prinzipien des Ermittlungsverfahrens gehört, im Einzelfall zu überspielen. Zivilrechtliche Interessen sind grundsätzlich unge-
26 Zum Verständnis der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsakte als „Sammlung personenbezogener Daten“ vgl. Schäfer wistra 1988, 216 (217). 27 Neuling Inquisition durch Information, 2005, S. 110 ff.
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eignet, einen solchen gewichtigen Umstand abzugeben, denn zur Verfolgung und Durchsetzung solcher Interessen hat der Gesetzgeber ein spezielles, austariertes System entwickelt: den Zivilprozess. Die Tätigkeit der strafrechtlichen Ermittlungsbehörden dient der Klärung des Verdachts, ob Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Straftat bestehen. Die Tätigkeit der strafrechtlichen Ermittlungsbehörden dient auch nicht ausnahmsweise der Klärung der Frage, ob die Voraussetzungen für eine versicherungsvertragliche Einstandspflicht, für ein Recht zur Kredit- oder Arbeitsplatzkündigung usw. gegeben sind. In der praktischen Entwicklung läuft die staatsanwaltschaftliche Ermittlungstätigkeit durch die Einsichtsrechte nach §§ 406e, 475 StPO Gefahr, zum kostenlosen Informationspool für die Durchsetzung von Privatinteressen zu geraten – eine Entwicklung, die aus mehr als nahe liegenden Gründen keinesfalls im allgemeinen oder öffentlichem Interesse liegen dürfte. Mit Fug und Recht ist daher in neuerer Zeit einem Einsichtsgesuch nach § 475 StPO insbesondere auch entgegengehalten worden, dass „die Ermittlungen zu den jeweiligen Zeitpunkten, zu denen die Akteneinsicht gewährt wurde, noch nicht abgeschlossen waren und somit noch nicht genügenden Anlass für die Erhebung einer Anklage boten. Besondere Bedeutung für die Versagung der Einsicht kommt daher auch der Unschuldsvermutung zu. Diese gebietet grundsätzlich die vertrauliche Behandlung des Tatvorwurfs.“ 28
IV. Das berechtige Interesse des „gefährdeten“ Zeugen Während Teile der Rechtsprechung und Staatsanwaltschaften auf dem Feld der Verfolgung zivilrechtlicher Ansprüche ausgesprochen großzügig bei der Gewährung von Akteneinsicht agieren, ist ein Akteneinsichtsrecht des Zeugen, der eine Gefahr eigener strafgerichtlicher Verfolgung befürchtet, praktisch nicht anerkannt.29 Das überrascht, denn die Annahme eines berechtigten Interesses im Sinne des § 475 Abs. 1 Satz 1 StPO kann sich im Einzelfall auch aus der „Notwendigkeit (der Vorbereitung) einer Strafverteidigung ergeben“.30 Der Sache nach bedeutet die anwaltliche Beratung des „verfahrensgefährdeten“ Zeugen allerdings nichts anderes als die „Vorbereitung einer Strafverteidigung im Einzelfall“.31 Der offizielle Grund für das außerordentliche Misstrauen der Justizbehörden, dem Beistand des „verfahrensgefährdeten“ Zeugen Akteneinsicht zu gewähren, ist schnell ausgemacht und rasch formuliert: „Der Zeuge hat sich 28 29 30 31
LG Dresden StV 2006, 11 (13). OLG Düsseldorf NJW 2002, 2806 (2807). BGH StraFo 2006, 500; Hilger in: Löwe/Rosenberg, aaO, § 475 Rn 5. Grundlegend Hammerstein NStZ 1981, 125 ff.
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auf Grund des Beweisthemas vorzubereiten und nicht auf Grund der Bewertung der verfahrensgegenständlichen Akten. Eine Akteneinsicht im Vorfeld der Vernehmung eines Zeugen durch den Zeugen selbst oder seinen Beistand würde dem Sinn einer Zeugenvernehmung zuwiderlaufen und damit Zwecken des Strafverfahrens zuwiderlaufen (§ 477 Abs. 2 Satz 1 StPO).32 Eine Argumentation, die – wendete man sie auf das Akteneinsichtsrecht des „verletzten“ Zeugen im Sinne von § 406e StPO an – regelmäßig zum Ausschluss der Akteneinsicht nach § 406e StPO bis zum rechtskräftigen Abschluss des jeweiligen Verfahrens führen müsste,33 was freilich dort – und das wenig erstaunlich – gerade nicht Praxis ist. Der sich damit einstellende Wertungswiderspruch ist offensichtlich: Während auf der einen Seite – im Bereich der Akteneinsicht zugunsten des „verfahrensgefährdeten“ Zeugen – bereits die „abstrakte“ Gefährdung des Ermittlungsverfahrens durch den aktenmäßig (möglicherweise) präparierten Zeugen zum regelmäßigen Ausschluss der Akteneinsicht führen soll,34 werden auf der anderen Seite – im Bereich der Akteneinsicht zugunsten des „verletzten“ Zeugen – zum Ausschluss der Akteneinsicht Anhaltspunkte (!) für die Annahme verlangt, der Zeuge solle sachfremd für die Hauptverhandlung „präpariert“ werden.35 Der „verletzte“ Zeuge genießt offenbar – ohne dass hierfür ein sachlicher Grund erkennbar wäre – einen höheren Vorschuss an justiziellem Vertrauen als sein „verfahrensgefährdeter“ Namensvetter. Dieser geläufigen Praxis ist mit Nachdruck entgegenzutreten: Eine wirklich wirksame Beratung zugunsten des „verfahrensgefährdeten“ Zeugen kann regelmäßig erst dann geleistet und damit dessen Recht auf eine „vorwirkende“ Verteidigung erst dann effektiv verwirklicht werden, wenn zumindest der Verfahrensgegenstand und die den Zeugen betreffenden Vorgänge seinem Beistand bekannt sind.36 Der Zeuge – und bisweilen auch sein Beistand – überblickt – jedenfalls in Verfahren bestimmter Komplexität – die Sache nicht annähernd so, dass eine tatsächlich „vorwirkende“ Verteidigung über die Berufung auf das Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO auf die oft ungenügenden Informationen aus der aktuellen Befragungssituation beschränkt werden könnte.37 Die Restriktionen der Praxis bei der Frage der 32
OLG Düsseldorf NJW 2002, 2806 (2807). Vermittelnde überzeugende Position bei Wallau FS Dahs, S. 509 (518). 34 Vgl. auch Meyer-Goßner aaO, Vor § 48 Rn 11. 35 OLG Düsseldorf StV 1991, 202; LG Bielefeld wistra 1995, 120. Aus neuerer Zeit noch etwa LG Stralsund StraFo 2006, 76 ff mit zutreffend kritischer Besprechung Steffens StraFo 2006, 60 ff. 36 So für den Grundsatz Burhoff Ermittlungsverfahren, 3. Aufl. 2003, Rn 2067; zumindest für Ausnahmefälle auch KK-Senge StPO, 5. Aufl. 2003, Vor § 48 Rn 18a. 37 So allerdings OLG Düsseldorf NJW 2002, 2806 (2807): „Zur Entscheidung darüber, ob der Zeuge sich bei der Beantwortung von einzelnen Fragen auf § 55 StPO berufen kann und soll, muß der Beistand nicht den Inhalt der Sachakte kennen. Ausgangspunkt für seine 33
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Gewährung von Akteneinsicht an den Beistand des „verfahrensgefährdeten“ Zeugen gefährden im Ergebnis das Recht zur Freiheit von Selbstbelastung und laufen daher einem wesentlichen Grundsatz des Strafverfahrens zuwider.
V. Versagungsgrund des § 475 Abs. 1 Satz 2 StPO Nach dem Wortlaut der Vorschrift des § 475 Abs. 1 Satz 2 StPO sind Auskünfte – ebenso selbstverständlich die noch weiter reichende Einsicht – zu versagen, wenn der hiervon Betroffene ein schutzwürdiges Interesse an der Versagung hat. Der Wortlaut des Gesetzes ist – nicht nur auf den ersten Blick – eindeutig, eine Abwägung zwischen dem eine Einsicht bzw. Auskunft begehrenden Interesse auf der einen Seite und dem von einer solchen Einsicht bzw. Auskunft betroffenen Interesse auf der anderen Seite findet offenbar nicht statt, d.h.: bereits das bloße Bestehen eines „hindernden“ Interesses steht einer Einsicht bzw. Auskunft absolut entgegen. Und doch, gleichwohl: Beachtliche Stimmen nehmen an, dass nach § 475 Abs. 1 Satz 2 StPO die Auskunft nur zu versagen sei, falls der Betroffene ein schutzwürdiges Interesse an deren Versagung hat und dieses das berechtigte Interesse des Antragstellers überwiegt.38 Dieser damit offenbar angestrebte „Gleichlauf“ von § 475 Abs. 1 Satz 2 StPO mit § 406e Abs. 2 Satz 1 StPO konterkariert allerdings offensichtlich die ansonsten dem „Verletzten“ zugedachte Privilegierung im Bereich der Akteneinsicht; dass sie mit dem Wortlaut der Vorschrift oder der Intention des Gesetzgebers zu vereinbaren wäre, kann ebenfalls nicht ernsthaft behauptet werden.39 Die auf diese Weise unternommene weitere Erosion insbesondere von betroffenen Beschuldigtenrechten ist auch mit den Grundlagen des Volkszählungsurteils des Bundesverfassungsgerichts nicht in Einklang zu bringen, denn sie ersetzt eine klare gesetzliche Regelung bzw. Begrenzung zugunsten des betroffenen Rechts auf informationelle Selbstbestimmung durch eine wenig randscharfe Abwägungsentscheidung im Einzelfall, ohne dass der normative Maßstab genannt wird, anhand dessen ein „überwiegendes Interesse“ festgestellt werden könnte. Nicht nur der Tendenz nach wird damit die deutliche und begrüßenswerte Zurückhaltung des Gesetzes bei der Akteneinsicht zugunsten privater Dritter unterlaufen.
Entscheidung ist das Wissen oder die Einschätzung des Zeugen selbst, sich bei der wahrheitsgemäßen Beantwortung einer Verfolgung im Sinne von § 55 StPO auszusetzen.“ – Was aber, wenn das Wissen oder die Einschätzung des „Zeugen selbst“ subjektiv gefärbt, fehlerbehaftet oder unvollkommen sind? 38 Vgl. etwa Meyer-Goßner aaO, § 475 Rn 3 mwN. 39 LG Dresden StV 2006, 11 (13); LG Bochum NStZ 2006, 720.
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VI. Rechtsschutzmöglichkeiten Das Bedürfnis der von einer Aktenauskunft bzw. -einsicht nach § 475 StPO Betroffenen nach Rechtsschutz ist naturgemäß hoch. Nicht anders als im Fall von § 406e StPO lassen auch in diesem Bereich insbesondere Staatsanwaltschaften nicht in allen Fällen die notwendige Sorgfalt bei der Prüfung von Gesuchen walten, die ihnen von Gesetzes, insbesondere von Grundgesetzes wegen auferlegt ist.40 Eine ganz besondere Rolle spielt auch hier zunächst der Rechtsschutz in Form der Gewährung rechtlichen Gehörs. Das verfahrensmäßige Recht auf Gehör vor einer Entscheidung über die Gewährung von Einsicht oder Auskunft an Dritte – zutreffend die verfahrensmäßige Vorwirkung einer materiellen Position genannt 41 – soll den Betroffenen in den Stand setzen, hiergegen gegebenenfalls sein Interesse zu positionieren; der Betroffene ist dementsprechend über den (preiszugebenden) Akteninhalt sowie über den Inhalt des jeweiligen Einsichts- bzw. Auskunftsgesuchs zu informieren.42 Teile der Literatur und auch Teile der Rechtsprechung nehmen jedoch an, dass dem von einer Akteneinsicht bzw. -auskunft entsprechend § 475 StPO Betroffenen grundsätzlich kein Recht auf Gehör zusteht.43 Dem ist entgegenzutreten.44 Soweit die solchermaßen Betroffenen an Stelle des Rechts auf Gehör – ersatzweise? – auf ein nachträgliches Informationsrecht verwiesen werden,45 wird das gesamte normative Dilemma einer solchen Auffassung deutlich: „Das Recht, vor einer beabsichtigten Entscheidung Gehör zu finden, hat nichts gemein mit der Befugnis, eine ergangene Entscheidung kommentieren zu dürfen.“ 46 Der Betroffene, der nach vollzogener Einsicht bzw. Auskunft die Befugnis hat, gegebenenfalls die Rechtswidrigkeit der behördlichen Entscheidung feststellen zu lassen, hätte kein durchsetzbares, kein wirkmächtiges, sondern lediglich ein ohnmächtiges Recht auf Wahrung seiner informationellen Selbstbestimmung. Selbst tiefgreifende Grundrechtseingriffe – es geht um den Inhalt von Strafakten! – könnten zunächst faktisch vollzogen und dann erst im Nachhinein, erst später, also de facto nicht selten irreversibel, zu spät, einer gerichtlichen Kontrolle unterzogen werden. Im
40 Zum Rechtsschutz gegen die Akteneinsicht von Verletzten im Rahmen von § 406e StPO grundlegend Wallau FS Dahs, S. 509 ff. 41 Zur dogmatischen Figur verfahrensmäßig vorwirkender materieller Rechtspositionen Wallau FS Dahs, S. 509 (510 f). 42 Für den Bereich von § 406e StPO siehe Wallau FS Dahs, S. 509 (512 ff). 43 Vgl. nur LG Dresden StV 2006, 11; KK-Franke aaO, § 478 Rn 3 mwN. 44 So bereits Durth/Kempf StraFo 2005, 429 f, die zutreffend unter anderem auf das seit dem 1.1.2006 in Kraft getretene Informationsfreiheitsgesetz des Bundes (IFG) (BGBl. I S. 2722 ff) verweisen, das eine Unterrichtung des Betroffenen vorsieht (siehe § 8 IFG). 45 SK-Weßlau aaO, § 478 Rn 10. 46 Wallau FS Dahs, S. 509 (514).
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Hinblick auf die klar und deutlich formulierten Grundsätze, die das Bundesverfassungsgericht für die Anwendung des § 406e StPO durch die Staatsanwaltschaften ausgesprochen hat, nämlich dass die Ermittlungsbehörde „jedenfalls dann regelmäßig zu einer Anhörung der von einem Einsichtsersuchen betroffenen Beschuldigten oder Dritten verpflichtet (ist), wenn mit der Gewährung von Akteneinsicht ein Eingriff in die Grundrechtsposition des Betroffenen […] verbunden wäre“,47 ist nicht erkennbar, warum in diesem Zusammenhang etwas anderes gelten sollte bzw. genauer: warum die Rechtsschutzmöglichkeiten des von einer Akteneinsicht Betroffenen kleiner werden sollen, nur weil sich die Person des Einsicht Suchenden ändert.48 Überdies ist es auch widersprüchlich, zwar die Möglichkeit der Anrufung des Richters nach § 478 Abs. 3 StPO vorzusehen, zugleich aber die notwendigen Bedingungen für die Wahrnehmung dieses Rechts nicht zu schaffen.49 Denn die mit der Gewährung des Gehörs garantierte Möglichkeit der Einflussnahme auf den Gang der Sache 50 ist nur dann vorstellbar und sinnvoll, wenn zwischenzeitlich keine Fakten geschaffen werden. Gerade bei der Gewährung von Akteneinsicht ist die spätere Feststellung, dass die Akteneinsichtsgewährung rechtswidrig war, für den Beschuldigten wenig hilfreich. § 33 StPO entsprechend ist daher auch dem von einer Einsicht bzw. Auskunft nach § 475 StPO Betroffenen vor Vollzug einer solchen Entscheidung rechtliches Gehör zu gewähren. Im Übrigen bestehen zugunsten des Betroffenen die Rechtsschutzmöglichkeiten entsprechend § 478 Abs. 3 StPO; gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft besteht die Möglichkeit gerichtlichen Rechtsschutzes nach Maßgabe des § 161a Abs. 3 Satz 2 bis 4 StPO.51 Der Betroffene hat also in jedem Fall die Möglichkeit, gerichtlichen Rechtsschutz im Vorfeld einer Entscheidung der Staatsanwaltschaft zu erlangen.52 Aus allgemeinen Erwä47 BVerfG Beschluss vom 15.4.2005 – 2 BvR 465/05, NStZ-RR 2005, 242. So nun auch ausdrücklich das BVerfG zu § 475 StPO im Beschluss vom 26.10.2006 in StraFo 2007, 23. 48 Ohne Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, dass – worauf SK-Weßlau aaO abstellt – der Betroffene hier nicht mit einem Einsichtsgesuch eines „Verletzten“ konfrontiert werde, der auf ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren Einfluss nehmen könne; im Bereich von § 475 StPO sei der Betroffene also gerade nicht in seiner Stellung als „Prozesssubjekt“ (mit-)betroffen. Wer die Praxis beispielsweise der Akteneinsichtsgesuche von Aktionären im Rahmen von Verfahren gegen Organmitglieder einer Aktiengesellschaft oder von Insolvenzverwaltern gegen den Insolvenzschuldner kennt, wird diese theoretischen Erwägungen kaum für tatsächlich zutreffend halten können. 49 So zutreffend Durth/Kempf StraFo 2005, 428 (430). 50 Dahs Das rechtliche Gehör im Strafprozess, 1965, S. 15. 51 Zur Möglichkeit, zusätzlich Rechtsschutz über §§ 23 ff EGGVG zu erlangen, vgl. Meyer-Goßner aaO, § 478 Rn 4. 52 § 478 Abs. 3 Satz 2 StPO erklärt die Entscheidung des Vorsitzenden für „nicht anfechtbar“. Im Bereich von § 406e StPO ist sehr streitig, ob auch die Gewährung der Akteneinsicht durch den Vorsitzenden nicht mit der Beschwerde angefochten werden kann, vgl. Meyer-Goßner aaO, § 406e Rn 11; wobei die besseren Gründe für eine Anfechtbarkeit
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gungen heraus hat der Betroffene selbstverständlich auch die Möglichkeit, nachträglich die Rechtswidrigkeit einer Akteneinsicht oder -auskunft feststellen zu lassen.53 Denn die Offenbarung persönlicher, in der Ermittlungsakte „gesammelter“ Daten an private Dritte verletzt den davon Betroffenen in seinem aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht fließenden Recht auf allgemeine Selbstbestimmung.54 „Umgekehrt“ hat der Betroffene nach allgemeinen Grundsätzen auch die Möglichkeit vorbeugenden Rechtsschutzes: Vertritt beispielsweise die Staatsanwaltschaft die Auffassung, im Rahmen von § 475 StPO nicht zu einer vorherigen Anhörung des von einer möglichen Akteneinsicht Betroffenen verpflichtet zu sein, steht dem solchermaßen Betroffenen die Möglichkeit vorbeugenden gerichtlichen Rechtsschutzes offen, damit das grundgesetzlich garantierte Anhörungsrecht tatsächliche Wirkmacht erfährt.55
VII. Zusammenfassung Die Gewährung von Akteneinsicht nach § 475 StPO kann nachhaltig in grundgesetzlich garantierte Rechte des Beschuldigten eingreifen. Daher bedarf es stets einer sorgfältigen Prüfung der Voraussetzungen des § 475 StPO unter strenger Beachtung der Unschuldsvermutung und dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Regelmäßig darf deshalb nur dann Akteneinsicht gewährt werden, wenn nach dem bisherigen Ermittlungsergebnis der Beschuldigte einer Straftat hinreichend verdächtig ist. Auch ist eine Einsicht in die Akten nach § 475 StPO immer dann zu versagen, wenn der hiervon Betroffene ein schutzwürdiges Interesse an der Versagung hat. Das schutzwürdige Interesse des Betroffenen muss dabei nicht das berechtigte Interesse des Antragstellers überwiegen. Vielmehr steht das bloße Bestehen eines „hindernden“ Interesses einer Einsicht bzw. Auskunft entgegen. Schließlich muss dem Beschuldigten vor einer Entscheidung über die Akteneinsichtsgewährung rechtliches Gehör gewährt werden. Ihm muss mitgeteilt werden, dass ein Dritter einen Antrag auf Akteneinsicht gestellt hat. Ihm
sprechen dürften, vgl. Wallau FS Dahs, S. 509 (519 f). – Im Bereich von § 478 StPO können wegen der ganz gleich gelagerten Rechts- und Interessenlage grundsätzlich keine anderen Regeln gelten, so dass von einer Anfechtbarkeit der Entscheidung des Vorsitzenden durch den Betroffenen mit der einfachen Beschwerde auszugehen ist. 53 Vgl. grundsätzlich für den Bereich des Strafprozesses BVerfGE 96, 27 ff; zur Möglichkeit der nachträglichen Feststellung als Rechtsschutzform im Bereich von § 406e StPO vgl. Wallau FS Dahs, S. 509 (516 f). 54 Vgl. LG Dresden StV 2006, 11 (12). 55 Vgl. zur Möglichkeit vorbeugenden Rechtsschutzes im Bereich von § 406e StPO Wallau FS Dahs, S. 509 (517).
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muss des Weiteren Gelegenheit gegeben werden, die aus seiner Sicht bei der Entscheidung zu berücksichtigenden Tatsachen vortragen zu dürfen. Da derzeit noch sehr unterschiedliche Auffassungen über die Voraussetzungen und die Reichweite des Akteneinsichtsrechts Privater bestehen, ist es die Aufgabe jedes Verteidigers, die Rechte und Interessen von Betroffenen gegen die Akteneinsicht Privater mit Nachdruck zu behaupten. Nur so kann den Rechten des Beschuldigten und auch dem Datenschutzrecht ausreichend Rechnung getragen werden.
Zur Rechtsfolgenfestsetzungskompetenz des Revisionsgerichts Wolfgang Köberer 1. Die Entwicklung einer eigenen Sachentscheidungskompetenz des Revisionsgerichts bei der Strafzumessung a) Als Rainer Hamm im Jahre 1972 den Beruf des Strafverteidigers ergriff, gab es den im Titel zitierten Begriff noch nicht. Es gab allerdings nach allgemeiner Ansicht in der revisionsrechtlichen Theorie und Praxis auch das nicht, was der Begriff jetzt bezeichnen soll. Vielmehr wurde die Frage, „ob das Revisionsgericht berechtigt und berufen ist, dem Strafausspruch des Tatrichters seine eigene Auffassung von der im Entscheidungsfall gerechten Strafe entgegenzuhalten“, etwa in der damals (1973) erschienen 22. Auflage des Löwe/Rosenberg entschieden verneint: Dem stehe der Grundsatz der Verantwortungsteilung im Strafverfahren entgegen; die Aufgabe, die Tatsachen festzustellen, sich eine Überzeugung von der Schuld oder Nichterweislichkeit der Schuld des Angeklagten zu bilden und die Strafe gerecht zu bemessen, sei allein dem Tatrichter gestellt.1 Gesetzlicher Ausdruck dieser Aufgabenteilung zwischen Revisionsgericht und Tatrichter im Bereich der Strafzumessung war seit dem Inkrafttreten der Reichsstrafprozessordnung am 1. Oktober 1879 die Vorschrift des § 354 StPO. Schon der Entwurf der Strafprozessordnung der Expertenkommission von 1874 enthielt in § 316 fast wörtlich die heute noch in § 354 Absatz 1 StPO enthaltenen Formulierungen: „Erfolgt die Aufhebung des Urtheils nur wegen Gesetzesverletzungen bei Anwendung des Gesetzes auf die dem Urteil zugrundeliegenden Feststellungen, so hat das Revisionsgericht in der Sache selbst zu entscheiden, sofern ohne weitere thatsächliche Erörterungen nur auf Freisprechung zu erkennen ist. In anderen Fällen ist die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Gericht zurückzuverweisen, welches in I. Instanz erkannt hat. Die Zurückverweisung kann an das Gericht niederer Ordnung
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L-R/Meyer StPO, 22. Aufl., Rn 1 vor § 333.
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erfolgen, wenn die noch in Frage kommende strafbare Handlung zu dessen Zuständigkeit gehört.“ 2 Dieser Text ging seinerseits auf § 271 des Entwurfs einer deutschen Strafprozessordnung der vom Bundesrat eingesetzten Kommission 1873 zurück; in jenem Entwurf waren lediglich die beiden Absätze der Vorschrift vertauscht.3 Während der Beratung des Entwurfs von 1874 wurde dann in der ersten Lesung der erste Absatz auf Antrag der Abgeordneten Becker, Dr. Bähr und Dr. von Schwarze-Struckmann noch um den Zusatz in Absatz 1 erweitert, wonach das Revisionsgericht auch in der Sache selbst zu entscheiden habe, wenn „auf eine absolut bestimmte Strafe zu erkennen ist, oder das Revisionsgericht in Übereinstimmung mit dem Antrage der Staatsanwaltschaft die gesetzlich niedrigste Strafe für angemessen erachtet.“ Trotz des Einwands des Abgeordneten Hanauer „die Strafzumessung innerhalb eines relativen Maßes müsse auf einer thatsächlichen Beurtheilung beruhen und eine solche sei nicht Aufgabe des Revisionsgerichts“,4 wurde zunächst der Änderungsantrag und dann § 316 StPO mit diesen Modifikationen angenommen.5 In dieser Fassung wurde die nunmehr als § 396 StPO bezeichnete Vorschrift in der 36. Sitzung des Reichstags am 21. Dezember 1876 Gesetz.6 b) Tempi passati: § 354 StPO überstand zwar mehr als hundert Jahre und selbst ein Tausendjähriges Reich ohne wesentliche Änderung,7 das am 1. September 2004 in Kraft getretene 1. Justizmodernisierungsgesetz brach dann jedoch erstmalig mit der vom historischen Gesetzgeber vorgegebenen klaren Funktionstrennung zwischen Tatsachen- und Rechtsmittelinstanz bei der Straffrage. In § 354 StPO wurde ein neuer Absatz 1a eingefügt, der wie folgt lautet: Wegen einer Gesetzesverletzung nur bei Zumessung der Rechtsfolgen kann das Revisionsgericht von der Aufhebung des angefochtenen Urteils absehen, sofern die verhängte Rechtsfolge angemessen ist. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft kann es die Rechtsfolgen angemessen herabsetzen. 2 Entwurf von 1874, s. Hahn/Mugdan Die gesammten Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, Bd. III, StPO Abt. 1, S. 40. 3 Schubert/Regge Entstehung und Quellen der Strafprozessordnung von 1877, S. 339. 4 Hahn/Mugdan aaO S. 1041. 5 Hahn/Mugdan aaO S. 1042. 6 Hahn/Mugdan aaO S. 2116. 7 Auch der Bundesgesetzgeber fügte mit dem Strafrechtsänderungsgesetz vom 30.8.1953 nur die Entscheidungsalternative hinzu, dass das Revisionsgericht auch von Strafe absehen kann (BGBl. I, 746). Zugleich wurde § 153a a.F. StPO (Möglichkeit der Ermessenseinstellung) eingefügt.
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Die Änderung ging auf einen Gesetzesentwurf der Fraktion der CDU/CSU („Entwurf eines ersten Gesetzes zur Beschleunigung von Verfahren der Justiz [Erstes Justizbeschleunigungsgesetz]) vom 20. Mai 2003 zurück.8 Dieser schlug vor, § 354 Abs. 2 StPO wie folgt zu ändern: „Wegen einer Gesetzesverletzung nur bei Zumessung der Rechtsfolgen kann das Revisionsgericht, auch wenn ein Fall des Abs. 1 nicht vorliegt, auf Antrag der Staatsanwaltschaft von der Aufhebung des angefochtenen Urteils absehen, sofern die verhängte Rechtsfolge angemessen ist oder die Rechtsfolgen angemessen herabsetzen.“ Mit der gleichen Formulierung wurde ein auf einen Gesetzesantrag der Länder Bayern, Hessen, Niedersachsen, Saarland, Sachsen und Thüringen in den Bundesrat am 6. Juni 2003 zurückzuführender Gesetzentwurf des Bundesrates vom 28. August 2003 eingebracht. Der Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Modernisierung der Justiz (Justizmodernisierungsgesetz – JuMoG) vom 2. September 2003,9 der ebenfalls eine Entlastung der Justiz durch „effiziente Verfahrenssteuerung“ 10 zum Ziele hatte, enthielt allerdings überraschenderweise keinen Vorschlag zur Änderung des § 354 StPO. Die Anwaltschaft hatte ihrerseits anscheinend mit einer Gesetzesänderung keine Probleme: Die Stellungnahme des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer vom 31. Oktober 2003 zu den verschiedenen „Modernisierungs“-Vorhaben von Bundestag und Bundesrat begrüßte jedenfalls die in dem Gesetzentwurf des Bundesrats vorgesehene Erweiterung der Möglichkeiten des Revisionsgerichts zur eigenen Sachentscheidung, hielt allerdings das Erfordernis eines entsprechenden Antrags der Staatsanwaltschaft für entbehrlich: Das Revisionsgericht sollte auch ohne Antrag der Staatsanwaltschaft die Rechtsfolgen angemessen herabsetzen können.11 Der Rechtsausschuss des Bundestages griff schließlich mit seinem Formulierungsvorschlag, der dann zum Gesetz wurde, auf einen Vorschlag des Bundesrates im Entwurf eines zweiten Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege 12 aus dem Jahr 1996 zurück, der das Erfordernis eines Antrags der Staatsanwaltschaft allerdings nicht enthielt.13 Im Juli 2004 passierte der neu
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BT-Drs. 15/999. BT-Drs. 15/1508. 10 BT-Drs. 15/1508. 11 Stellungnahme der BRAK vom 31.10.2003, S. 5. Anscheinend wurde die Notwendigkeit des Antragserfordernisses für eine Aufrechterhaltung der Rechtsfolgen trotz geändertem Schuldspruch nicht weiter im Auge behalten, die später im Gesetzgebungsprozess unter den Tisch fiel. 12 BT-Drs. 13/4541. 13 Das war, wie sich später zeigen sollte, ein verfassungsrechtlich folgenschweres Versäumnis. 9
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eingefügte § 354 Abs. 1a StPO dann in dritter Lesung mit den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung der zwei fraktionslosen Abgeordneten den Bundestag. Der Einhelligkeit und Widerspruchslosigkeit, mit der die Gesetzesänderung von den (Rechts-) Politikern aller Parteien angenommen und durch den Gesetzgebungsprozess gewinkt worden war, entsprach die auffallende Häufigkeit, mit der die neue Vorschrift dann von den Revisionsgerichten, insbesondere vom BGH, angewendet wurde: Sieht man sich etwa die Entscheidungen des BGH aus dem Jahr 2006 an, so kann man der Statistik14 entnehmen, dass alle fünf Strafsenate in diesem Jahr 783 mit Begründung versehene Entscheidungen gefällt haben; in 34 Entscheidungen haben sie dabei § 354 Abs. 1a StPO angewendet. Das bedeutet, dass der BGH in annähernd jeder 20. Entscheidung schon Gebrauch von seiner neuen Strafzumessungskompetenz machte.15 In deutlichem Kontrast dazu steht die Tatsache, dass die letzte Änderung des § 354 Abs. 1 StPO im Jahre 1953, nämlich die Einräumung der weiteren Möglichkeit für das Revisionsgericht, auch von Strafe abzusehen, in den letzten 50 Jahren vom BGH so gut wie nie angewendet worden ist.16 c) Tatsächlich handelte es sich allerdings bei der Einführung des § 354 Abs. 1a StPO nur um die (Teil-)Legalisierung einer seit längerem bestehenden, verfassungsrechtlich ausgesprochen problematischen Rechtsprechung der Revisionsgerichte, insbesondere des BGH. Dieser hatte sich seit Jahren durch eine immer weiter gehende analoge Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO weitreichende eigene Sachentscheidungskompetenzen bei der Strafzumessung contra legem angeeignet.17 Nach ihrem Wortlaut erlaubte die Vorschrift nämlich dem Revisionsgericht eine eigene Sachentscheidung im Falle einer Aufhebung eines Urteils „nur wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen“; dabei waren ihm aber nur 5 abschließend aufgeführte Sachentscheidungsmöglichkeiten zugestanden: Freisprechung, Einstellung (meistens wegen eines nicht behebbaren Verfahrenshindernisses), absolut bestimmte Strafe und Mindeststrafe bzw. Absehen von Strafe auf Antrag der Staatsanwaltschaft.18 14 Übersicht über den Geschäftsgang bei den Strafsenaten des BGH im Jahre 2000 – Jahresstatistik http://www.BGH.de/docs/statistik/strafzivil2006/straf2006/jahresstatistikstraf-2006.pdf. 15 Tatsächlich muss die Rate der Anwendung der Vorschrift wesentlich höher sein, da bei Aufhebungen und Zurückverweisungen aufgrund von Verfahrensfehlern bzw. bei Freisprüchen § 354 Abs. 1a StPO gar nicht erst in Betracht kommt. Dieser Anteil der Entscheidungen entfällt deswegen schon bei der Rechnung. 16 Junker Die Ausdehnung der eigenen Sachentscheidung in der strafrechtlichen Rechtsprechung des BGH, Berlin 2002, S. 32 f. 17 S. etwa Junker Die Ausdehnung der eigenen Sachentscheidung in der strafrechtlichen Rechtsprechung des BGH, Berlin 2002; Schwarz Die eigene Sachentscheidung des BGH in Strafsachen (§ 354 Abs. 1 StPO), Frankfurt am Main etc. 2002. 18 Zu Einzelheiten s. Schwarz aaO S. 35 ff.
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Der BGH hatte diesen vom Gesetz vorgesehenen Entscheidungsmöglichkeiten nun eine im Gesetz nicht enthaltene Variante hinzugefügt: Aufrechterhaltung des Strafausspruchs trotz Rechtsfehlern bei der Strafzumessung oder bei Änderungen des Schuldspruchs auf der Grundlage der aufrechterhaltenen Feststellungen. Solche Änderungen des Schuldspruchs können sich etwa durch eine Auswechslung der angewendeten Strafvorschrift, Änderungen der Konkurrenzverhältnisse von Tatmehrheit zu Tateinheit und umgekehrt oder aus dem Wegfall einer oder mehrerer Einzelverurteilungen ergeben;19 sie kommen relativ häufig in der revisionsrechtlichen Praxis vor. Dass zwischen einer solchen Sachentscheidung und den vom Gesetz vorgesehenen Entscheidungsmöglichkeiten ein Unterschied besteht, ist allerdings evident: Freispruch, Einstellung und absolute Strafe bedürfen keiner Ausübung des Strafzumessungsermessens 20 des Richters; die Antwort auf die Straffrage ergibt sich in diesen Fällen zwingend aus dem anzuwendenden Gesetz. Die Entscheidung des Gerichts ist demnach nicht Straffestsetzung, sondern Straffeststellung; insofern wäre es in der Tat unsinnig und unnötig, eine Sache zurückzuverweisen, nur damit der Tatrichter eine Entscheidung ausspricht, die schon vom Gesetz jedem Richter zwingend vorgeschrieben wird. Soweit die Möglichkeit der Festsetzung der Mindeststrafe bzw. des Absehens von Strafe ebenfalls von der Vorschrift auch vorgesehen wird, handelt es sich hier zwar auch um eine Festsetzung, aber um eine, die den Angeklagten nicht beschwert. Das Aufrechterhalten des Strafausspruchs trotz Änderung seiner strafbegründenden Basis im Schuldspruch hingegen ist Strafmassfestsetzung und damit originär Strafzumessung durch das Revisionsgericht.21 Das ergibt sich schon daraus, dass Qualität und/oder Anzahl der in die Straffrage einzubeziehenden Taten sich ändert – in der Regel zugunsten des Angeklagten. Bleibt bei mehreren Taten trotz Schuldspruchänderung zugunsten des Verurteilten die Gesamtstrafe aufrechterhalten, so bedeutet dies im Ergebnis nichts anderes als eine relative Erhöhung des Strafmaßes für die übrig gebliebenen Vorwürfe. d) In den letzten Jahrzehnten hat der BGH in einer Vielzahl von Fällen von seiner sich selbst zugewiesenen Strafzumessungskompetenz Gebrauch gemacht: Eine Suche in BGH-Nack mit den Suchkriterien „stpo § 354 I“ und „Durchentscheiden“ ergibt etwa für den Zeitraum von 1991 bis zur Einführung des § 354 Abs. 1a StPO nicht weniger als 232 Treffer. Immer häufiger konnte man also die Wendung in einer höchstrichterlichen Entscheidung 19
Beispiele bei Schwarz aaO S. 68 ff. Grundlegend dazu schon: Warda Dogmatische Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht, Köln/Berlin/Bonn/München 1962. 21 So auch schon Sarstedt/Hamm Die Revision in Strafsachen, 6. Aufl., Berlin/New York 1998, Rn 1291. 20
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lesen, der Senat könne ausschließen, dass der Tatrichter die Straffrage nach Zurückverweisung anders entscheiden würde.22 Der Tatrichter wurde allerdings nie gefragt und darüber, ob er in Ansehung eines geänderten Schuldspruchs evtl. anderes in den Strafzumessungsgründen ausgeführt hätte, konnte der Bundesgerichtshof ganz offensichtlich allenfalls Mutmaßungen anstellen. Gegen die mit dem eindeutigen Gesetzeswortlaut nicht vereinbare Rechtsprechung des BGH erging schließlich Anfang 2004 eine – wenn auch zurückhaltende – Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.23 In dem dieser Entscheidung zugrunde liegenden Fall war der Beschwerdeführer vom Landgericht wegen fünf Betäubungsmitteldelikten, versuchten und vollendeten Diebstahls, Fahrens ohne Fahrerlaubnis in drei Fällen und unerlaubten Waffenbesitzes unter Einbeziehung zweier Einzelstrafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt worden. Nach den Urteilsgründen hatte die Kammer die Einzelstrafen „erheblich stärker als üblich zusammen gezogen, da zwischen den in Ziffer 1.) – 3.) sowie 4.) und 7.) beschriebenen Taten ein enger zeitlicher, sachlicher und situativer Zusammenhang und zwischen den in Ziffer 10.) und 11.) beschriebenen Taten ein enger sachlicher und situativer Zusammenhang bestand.“ Die auf die Sachrüge gestützte Revision des Verurteilten verwarf der BGH im Wesentlichen, hob allerdings das Urteil in zwei Fällen (den Fällen 8 und 9) auf und verwies die Sache insoweit zurück an das Amtsgericht. Von einer Zurückverweisung an das Landgericht zum Zwecke der Festsetzung einer neuen Gesamtstrafe für die übrig gebliebenen Verurteilungen sah der Senat mit der üblichen Begründung ab. Auf die Verfassungsbeschwerde des Verurteilten hob die 3. Kammer des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts den Beschluss des BGH auf und verwies die Sache an den BGH zurück. Bei seiner Entscheidung stellte das Verfassungsgericht insbesondere auf den Wortlaut des § 354 StPO ab; Sinn und Zweck der konkreten Aufzählung der einzelnen Sachentscheidungsalternativen in § 354 Abs. 1 StPO sei es gerade, den Spielraum der Revisionsgerichte zu begrenzen.24 Der Gesetzgeber habe eine strikte Trennung zwischen den Aufgaben von Revisions- und Tatgericht verfolgt, wonach immer dann, wenn für die Entscheidung mehr als eine reine Rechtsprüfung, also insbesondere eine Ermessenserwägung, notwendig sei, das Revisionsgericht keine eigene Sachentscheidung treffen
22 Nur beispielhaft: BGH Beschluss vom 25.6.1992 – 1 StR 325/92; BGH Beschluss vom 21.9.1994 – 3 StR 390/94 (= NStZ 1995, 141); BGH Beschluss vom 19.4.1995 – 3 StR 89/95; BGH Beschluss vom 15.1.1999 – 3 StR 548/98; BGH Beschluss vom 14.1.2000 – 3 StR 553/99. 23 2 BvR 1704/01 = BVerfGK 2, 207 ff. 24 BVerfGK 2, 207, 210.
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solle.25 Im Hinblick auf Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG würden deshalb die Grenzen, die der Auslegung und Anwendung des Strafprozessrechts unter Berücksichtigung der gesetzlichen Aufgabenteilung zwischen Tatgericht und Revisionsgericht von Verfassungs wegen gezogen sind, jedenfalls dann überschritten, wenn ein Revisionsgericht das Ergebnis der tatrichterlichen Strafzumessung aufrechterhalte, obgleich zwei Einzelstrafen (hier: Fall 8 und 9) weggefallen wären, die der Tatrichter für die Bildung der Gesamtstrafe als wesentlich erachtet hatte.26 Der 2. Senat des BGH hob daraufhin auch die Gesamtfreiheitsstrafe auf und verwies seinerseits die Sache zur Bildung einer neuen Gesamtstrafe an das Landgericht zurück. Bemerkenswert war an dieser Entscheidung zweierlei: Zum Ersten hatte das Bundesverfassungsgericht die Frage der Zulässigkeit einer Analogie zu § 354 Abs. 1 StPO anscheinend für so fern liegend gehalten, dass es diese vom BGH angegebene Begründung zwar erwähnt, aber nicht erörtert hat. Das sollte nicht nur für die allgemeine Frage von Bedeutung sein, ob ein Analogieverbot auch im Verfahrensrecht anzunehmen ist,27 sondern auch für die Anwendung des § 354 Abs. 1a StPO im Anschluss an diese Entscheidung. Zum anderen sah das Bundesverfassungsgericht in der Missachtung der vom Gesetzgeber gewollten Funktionstrennung zwischen Tatrichter und Revisionsgericht primär ein Problem des gesetzlichen Richters und nicht so sehr – wie Hanack u.a.28 – ein Problem des nicht gewährten rechtlichen Gehörs. Zu einer grundsätzlichen Entscheidung über die Rechtsprechung der Revisionsgerichte kam es jedoch nicht: obwohl das Verfassungsgericht zwar primär seine Entscheidung mit einem Verstoß gegen das Prinzip des gesetzlichen Richters wegen der vom Gesetz gewollten Aufgabenteilung zwischen Tatrichter und Revisionsgericht begründet hatte, stellte es an dem entscheidenden Punkt doch auf den Einzelfall ab und ließ die generelle Vereinbarkeit der höchstrichterlichen Entscheidungspraxis mit dem Grundgesetz offen. Dennoch hatte die Entscheidung dem Gesetzgeber möglicherweise deutlich gemacht, dass in diesem Bereich die schon lange geforderte gesetzliche Regelung alsbald geschaffen werden sollte. e) Wie nicht zu übersehen war, regelte die neue Vorschrift jedoch den verfassungsrechtlich prekären Bereich der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung nur unzureichend, insofern sie besagte, dass das Revisionsgericht „wegen einer Gesetzesverletzung nur bei Zumessung der Rechtsfolgen“ von der Aufhebung des angefochtenen Urteils absehen könne. Angesprochen und betroffen waren damit offensichtlich allein die klassischen sachlich25
BVerfGK 2, 207, 211. BVerfGK 2, 207, 212. 27 Dagegen etwa Meyer-Goßner StPO, 50. Aufl., Einleitung Rn 198; dafür: LR-Lüderssen/Jahn Einleitung Abschnitt M, Rn 47. 28 Etwa Meyer-Goßner StPO, 50. Aufl., § 354 Rn 28. 26
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rechtlichen Mängel der Strafzumessung im engeren Sinne: Strafzumessungserwägungen ohne korrespondierende Urteilsfeststellungen, fehlerhafte Strafrahmenbestimmungen, Verstöße gegen § 46 StGB (insbesondere das Doppelverwertungsverbot). Nicht erfasst vom Wortlaut des § 354 Abs. 1a StPO werden dagegen Änderungen bei der Schuldfrage im weitesten Sinne ebenso wie Verfahrensfehler, die sich lediglich auf die Strafzumessung auswirken könnten.29 Der BGH hat dies auch kurz darauf erkannt und in einer – mit dem durchaus irreführenden Leitsatz „Eigene Sachentscheidung des Revisionsgerichts bei nicht rechtsfehlerfreiem Strafausspruch“ versehenen – Entscheidung 30 sogleich den neuen § 354 Abs. 1a StPO selbst wieder analog angewendet. Dem Beschluss lag eine Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in 90 Fällen sowie wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in weiteren 70 Fällen zugrunde, die zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren führten. Der BGH hob die Verurteilung in 37 Fällen des sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen wegen Verjährung auf; 33 Fälle blieben strafbar. Aufgrund der Berechnung, dass für die verurteilten 160 Taten Einzelstrafen in einer Summe von 2.236 Monaten verhängt worden waren, wobei auf die wegfallenden 37 Taten insgesamt 333 Monate Freiheitsstrafe entfielen, hat der BGH dann „in zumindest entsprechender Anwendung“ 31 von § 354 Abs. 1, 1a, 1b StPO n.F. die Gesamtfreiheitsstrafe bestehen lassen. In der Begründung des Beschlusses führte der Senat aus, er müsse der Frage nicht näher nachgehen, ob sich aus § 354 Abs. 1b Satz 2 und 3 StPO n.F. und den darin enthaltenen Inbezugnahmen auf § 354 Abs. 1 und 1a StPO n.F. ohne Weiteres unmittelbar ergebe, dass dem Revisionsgericht auch in den aufgezeigten Fallgestaltungen eine eigene Sachentscheidung möglich sein solle. Dass er dieser primär zu beantwortenden Frage nicht nachging, hatte allerdings einen simplen Grund, denn nach dem Wortlaut auch der neuen Bestimmung schied eine eigene Sachentscheidung des Revisionsgerichts in diesen Fällen von vornherein aus. Aber auch die weitere Behauptung des Senats, jedenfalls ergebe sich aus dem „Sinn und Zweck“ der neuen Bestimmungen die Möglichkeit einer analogen Anwendung, geht fehl, denn nach dem Willen des Gesetzgebers sollte die neue Vorschrift zwar – wie der Senat zutreffend zitiert – „Zurückweisungen […] wegen solcher Fehler […] vermeiden, die ohne neue Tatsachenfeststellungen unschwer in der Revisionsinstanz […] behoben werden können“. Diese Zweckbestimmung bezog sich aber natürlich nur auf die vom
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Ventzke NStZ 2005, 462. Beschluss des 1. Strafsenats vom 8.12.2004 – 1 StR 483/04 = NJW 2005, 912. BGH NJW 2005, 912.
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Gesetzgeber geschaffene – vom Senat allerdings nicht zitierte – Anwendungsbedingung der Vorschrift, nämlich das Vorliegen eines Rechtsfehlers „bei Zumessung der Rechtsfolgen“ und nicht auf den Fall einer mittelbaren Auswirkung von Änderungen beim Schuldspruch auf den Strafausspruch.32
2. Begründungen einer eigenen Sachentscheidungskompetenz des Revisionsgerichts bei der Strafzumessung im Gesetzgebungsverfahren Jenseits des anscheinend nicht zu bändigenden Drangs des BGH, seine Sachentscheidungskompetenzen auszuweiten, und der unzureichenden Begründungen für die diesbezüglichen Entscheidungen stellt sich natürlich die Frage, ob nicht schon der Gesetzgeber selbst mit seinem Vorhaben, § 354 Abs. 1a StPO in das Strafverfahrensrecht einzufügen, einen letztlich auf der Grundlage der Systematik des Rechtsmittelrechts nicht begründbaren Bruch mit Grundprinzipien des Strafverfahrensrechts herbeigeführt hat. Nicht zuletzt die oben erörterte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Januar 2004 legte diese Frage insofern nahe, als ihre Begründung – Verfassungswidrigkeit wegen Verstoßes gegen das Prinzip des gesetzlichen Richters – gerade auf die Funktionstrennung zwischen Tatrichter und Rechtsmittelgericht rekurrierte. Es lohnt sich deshalb, sowohl die Begründung des historischen Gesetzgebers für die ursprüngliche Regelung, als auch die Begründungen, die für die spätere Änderung vorgebracht wurden, genauer anzuschauen. a) Die Motive des Entwurfs für eine Reichsstrafprozessordnung enthalten folgende für die ursprüngliche Gesetzesfassung maßgeblichen Überlegungen: „Auch die Abmessung der Strafe kann dem Revisionsrichter nicht übertragen werden, da dieselbe lediglich dem Gebiete des Thatsächlichen angehört. Das richtige Strafmaß lässt sich nur aufgrund der mündlichen Beweisverhandlung finden, und dem Revisionsrichter würde, wenn er die Strafe abmessen sollte, jede Grundlage und jeder Maßstab hierfür fehlen. Das aufgehobene Urtheil kann eine solche Grundlage nicht darstellen; die Menge größerer und kleinerer Momente, die für den ersten Richter bei Abmessung der Strafe bestimmend gewesen sind, entzieht sich häufig jeder Feststellung durch die Schrift. Gerade hinsichtlich des Strafmaßes gelangt man sehr oft zu den verschiedensten Ergebnissen, je nachdem man aufgrund der mündlichen Verhandlung oder aber aufgrund der Akten urtheilt; es wird dies durch das gegenwärtig bestehende Appellations32 Am Rande anzumerken ist auch, dass der Senatsbeschluss eine falsche Fundstelle für die Gesetzesbegründung angibt.
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verfahren unwiderleglich bewiesen. Uebrigens würde bei einer Strafzumessung durch den Revisionsrichter auch die Gefahr obwalten, daß derselbe, zumal er nur selten in die Lage kommen würde, eine Strafe abzumessen, auch in abstracto von einem ganz anderen Maßstabe ausgehen würde als die Gerichte erster Instanz.“ 33 In ähnlicher Weise bezog auch die Kommission für die Reform des Strafprozesses Anfang des 20. Jahrhunderts zu dem Antrag Stellung, dem Revisionsgericht die Befugnis einzuräumen, auch in anderen als den in § 394 Abs. 1 StPO vorgesehenen Fällen in der Sache selbst zu erkennen, falls nicht a) neue tatsächliche Erörterungen vorzunehmen sind oder b) eine anderweitige Strafabmessung stattzufinden hat. Gegenüber dem Antrag wurde nämlich eingewendet, es sei „ein nicht zu billigender Eingriff in den Charakter des Rechtsmittels der Revision, wenn das Revisionsgericht auch da in der Sache selbst entscheiden solle, wo ein anderes als das vom Vorderrichter angewendete Strafgesetz zur Anwendung zu bringen sei. Denn das Revisionsgericht begebe sich, indem es die erkannte Strafe als angemessen billige und unter dem von ihm für zutreffend erachteten rechtlichen Gesichtspunkte bestehen lasse, auf das ihm sonst grundsätzlich verschlossene Gebiet der Strafzumessung, und treffe seine Entscheidung sogar, ohne dass der Angeklagte zuvor auf die Änderung des rechtlichen Gesichtspunkts hingewiesen worden sei. Ebenso bedenklich lägen die Fälle, in welchen ein ideal konkurrierendes Delikt zu Unrecht festgestellt oder aber nicht festgestellt worden sei.“ 34 Auf dieses Argument hin wurde der Antrag zurückgezogen. b) Angesichts dieser klaren, an der systematischen Regelung des Rechtsmittelrechts mit einer deutlichen Funktionstrennung zwischen Tatrichter und Revisionsgericht orientierten Begründung für eine Begrenzung der Sachentscheidungskompetenz des Revisionsgerichts wäre zu erwarten, dass jeder Vorschlag einer Änderung, die diese Begrenzung lockert oder teilweise aufhebt, sich mit der ursprünglichen Begründung des Gesetzeszwecks auseinandersetzt. Dies gilt umso mehr, als vom – vor-konstitutionellen – historischen Gesetzgeber auch keine auf das Grundgesetz verweisende Begründung zu erwarten war. Dem war aber nicht so: Schon die Begründung des Bundesratsentwurfs vom 7. Mai 1996, welche die späteren Entwürfe 35 übernommen haben, ließ 33
Hahn/Mugdan aaO S. 259. Schubert (Hrsg.) Protokolle der Kommission für die Reform des Strafprozesses (1903–1905), Bd. I, S. 505. 35 Entwurf der CDU-Fraktion vom 20.5.2002, Gesetzesantrag der Länder Bayern, Hessen, Niedersachsen, Saarland, Sachsen und Thüringen vom 6.6.2003 und Gesetzentwurf des Bundesrates vom 28.8.2003. 34
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eine Auseinandersetzung mit den Motiven des historischen Gesetzgebers, mit denen dieser die strenge Funktionsteilung begründet hatte, gänzlich vermissen. Stattdessen stellte der Entwurf auf drei Gesichtspunkte ab: Zum einen darauf, dass durch die Neuregelung „die Belastung der Praxis durch Zurückverweisungen in vertretbarem Umfang“ gehalten werden könne.36 Des Weiteren könne das Urteil ohnehin aufrechterhalten werden, wenn das Urteil auf der Gesetzesverletzung nicht beruhe (§ 337 StPO). Und schließlich trage die Neuregelung der Erfahrung der Praxis Rechnung, dass es bei unverändertem Schuldspruch und Zurückverweisung wegen der Strafzumessung häufig zu nicht wesentlich anderen Rechtsfolgenentscheidungen komme. Dass diese Begründungen nicht ausreichen, liegt auf der Hand. Es versteht sich von selbst, dass der Zweck „Entlastung der Strafjustiz“ selbst eine Gesetzesänderung nicht begründen kann, weil es gerade um die Begründung für die Wahl eines Mittels zur Erreichung dieses Zwecks geht und im Strafrecht sowohl von der Verfassung vorgegebene als auch in den tragenden Prinzipien des Verfahrensrechts enthaltene Beschränkungen bei der Wahl strafprozessualer Mittel zu beachten sind. Mit diesen zentralen Prinzipien des Revisionsrechts – nämlich vor allem der Beschränkung auf die reine Überprüfung der Anwendung des geltenden (materiellen und Verfahrens-)Rechts, die gerade von den Revisionsgerichten gerne unter dem Begriff der „Leistungstheorie“ zur Abwehr weitergehender Prüfungsansprüche angeführt werden 37 – musste sich die Begründung des Gesetzentwurfs auseinandersetzen; das ist hier nicht geschehen und stellt deshalb ein zentrales legitimatorisches Manko dar. Auch der Verweis auf die Möglichkeit des Revisionsgerichts, gemäß § 337 StPO ein „Beruhen“ der Strafzumessungsentscheidung auf dem Strafzumessungsfehler zu verneinen, gewinnt nur Plausibilität durch seine Unschärfe: Während bei Verfahrensrügen immer geprüft werden muss, ob das Urteil auf einem gerügten und eventuell bewiesenen Verfahrensfehler beruht, so ist das im Gegensatz dazu bei der Sachrüge generell nicht der Fall, denn bei der Kontrolle der tatrichterlichen Feststellungen und Würdigung im Wege der Sachrüge müssen die Revisionsgerichte ein mögliches Beruhen des Urteils konsequenterweise immer annehmen, wenn sie eine fehler- oder mangelhafte Darstellung bejahen.38 Bei sachlich-rechtlichen Fehlern in der Rechtsfolgenentscheidung hat der BGH im Übrigen durchgängig eine Entscheidung mittels des Beruhensarguments vermieden und eine Begründung über die analoge Anwendung des § 354 StPO der Ableitung aus § 337 StPO vorgezogen. Entsprechend wurde 36
BT-Drs. 13/4541, 25. Zu der Berechtigung und „Leistungs“-Fähigkeit dieses Begriffs, s. Sarstedt/Hamm Die Revision in Strafsachen, 6. Aufl., Berlin/New York 1998, S. 126 ff. 38 LR-Hanack 25. Aufl., § 337 Rn 264. 37
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auch in der Kommentarliteratur dargelegt, dass die Anwendung des § 337 StPO in Fällen von Fehlern in den Strafzumessungsgründen, die nicht gravierend sind oder bei denen die Strafe im Ergebnis angemessen erscheint, nicht akzeptabel ist, weil sie den Anspruch des Angeklagten auf eine rechtsfehlerfreie Ausübung des dem Tatrichter übertragenen Verantwortungsbereichs („Ermessens“) aushöhlt.39 Die letzte Überlegung des Bundesratsentwurfs, nämlich dass „häufig“ bei Zurückverweisungen wegen Strafzumessungsfehlern durch den neuen Tatrichter nicht wesentlich andere Rechtsfolgenentscheidungen erfolgen, reicht bei genauerer Betrachtung ebenfalls nicht aus: Zum einen ist überhaupt nicht ersichtlich, aus welchem Grund einem Angeklagten wegen einer behaupteten mangelnden „Häufigkeit“ von Rechtsfolgenänderungen im Allgemeinen grundsätzlich die Chance auf eine wesentlich andere Rechtsfolgenentscheidung in seinem eigenen besonderen Fall genommen werden sollte, zum anderen ist diese rechtstatsächliche Feststellung selbst höchst zweifelhaft, zumal durch die beschriebene Praxis der Ausweitung der Sachentscheidungskompetenz des BGH gerade die Grundlage für eine empirische Überprüfung dieser Behauptung entfallen ist. c) Auch die Gesetzesbegründung durch den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages enthält keinerlei Auseinandersetzung mit der Problematik der Regelungsfunktion des § 354 Abs. 1 StPO a.F., obwohl sie schon zu diesem Zeitpunkt breit und ausführlich diskutiert wurde.40 Stattdessen stellte auch sie – um das Ziel zu erreichen, Zurückverweisungen an die Vorinstanz wegen solcher Fehler zu vermeiden, die ohne neue Tatsachenfeststellungen unschwer in der Revisionsinstanz hätten behoben werden können – maßgeblich darauf ab, dass schon § 337 Abs. 1 StPO die Möglichkeit gebe, von der Aufhebung eines Urteils abzusehen. Diese Möglichkeit werde lediglich „in Bezug auf den Rechtsfolgenausspruch behutsam erweitert“.41 Dieser Hinweis ist allerdings lediglich eine Beschreibung der intendierten Folgen des Gesetzesvorschlags, aber keine rechtsdogmatisch nachvollziehbare Begründung für ihn selbst. Der (Reform-)Gesetzgeber hat demnach nicht dargelegt, mit welchen nachvollziehbaren Überlegungen er den vorgeschlagenen einschneidenden Bruch mit dem bisherigen System des Revisionsrechts vornehmen wollte. Eine ausreichende Legitimation einer solchen – die Grundprinzipien der Organisation des Rechtsmittelrechts einschneidend verändernden – Regelung ist damit nicht gegeben.
39
LR-Hanack 25. Aufl., § 337 Rn 266. U.a. Junker Die Ausdehnung der eigenen Sachentscheidung in der strafrechtlichen Rechtsprechung des BGH, aaO; Schwarz Die eigene Sachentscheidung des BGH in Strafsachen (§ 354 Abs. 1 StPO) aaO; Steinmetz Sachentscheidungskompetenzen des Revisionsgerichts in Strafsachen (§ 354 Abs. 1 StPO), Berlin 1997, jeweils mwN. 41 BT-Drs. 15/3482, 22. 40
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3. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juni 2007 (2 BvR 1447/05 und 2 BvR 136/05) Die fehlende Auseinandersetzung mit den systematischen Problemen der vorgeschlagenen Regelung im Gesetzgebungsprozess führte natürlich dazu, dass die Anwendungsvoraussetzungen der Vorschrift überhaupt nicht diskutiert wurden; dies wiederum legte der Rechtsprechung keine Grenzen bei der Anwendung auf. Dabei lag auf der Hand, dass – weil die Vorschrift keine weiteren tatsächlichen Feststellungen für eine Sachentscheidung des Revisionsgerichts erforderlich machte und auch der unbestimmte Rechtsbegriff der „Angemessenheit“ keineswegs so konturiert sein kann, dass eine willkürliche Anwendungspraxis ausgeschlossen oder zumindest erschwert würde – schon in absehbarer Zeit eine verfassungsgerichtliche Klärung erfolgen musste. Dies geschah dann auch mit der Entscheidung des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juni 2007. In dieser Entscheidung waren zwei Verfassungsbeschwerden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden worden, bei denen im Grunde genommen zwei ganz unterschiedliche Fragen zur Beurteilung anstanden, nämlich zum einen die Frage, ob § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO überhaupt mit dem Grundgesetz vereinbar ist, zum anderen die Frage, ob § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO auch in den Fällen angewendet werden kann, in denen der Schuldspruch korrigiert werden musste. Die letzte Frage betraf damit unmittelbar die verfassungsrechtliche Zulässigkeit des Durchentscheidens des Bundesgerichtshofs, aber auch anderer Revisionsgerichte,42 in den häufigen Fällen einer Schuldspruchänderung. a) Das erste der verbundenen Verfassungsbeschwerdeverfahren betraf eine Entscheidung des Brandenburgischen Oberlandesgerichts,43 mit dem die Revision gegen eine Berufung verworfen wurde. Der Beschwerdeführer war vom Berufungsgericht wegen fahrlässiger Tötung in sechs Fällen in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung in fünf Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt wurden; auf die dagegen gerichtete Revision, die geltend machte, die vom Landgericht getroffenen Feststellungen trügen den Schuldvorwurf der bewussten Fahrlässigkeit nicht, war die Generalstaatsanwaltschaft dieser Auffassung beigetreten, hatte aber gleichwohl eine Verwerfung des Rechtsmittels beantragt, weil die vom Landgericht verhängte Strafe angemessen im Sinne des § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO sei. Obwohl der Beschwerdeführer in seiner Gegenerklärung vorgetragen hatte, die Annahme bewusster Fahrlässigkeit sei gerade entscheidend für die Bemessung der Freiheitsstrafe und insbesondere auch für die versagte
42 43
Etwa OLG Hamm Beschluss vom 24.4.2007 – 1 Ss 134/07. Beschluss des Brandenburgischen OLG vom 25.7.2005 – 1 Ss 63/05.
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Strafaussetzung zur Bewährung gewesen, verwarf das Oberlandesgericht die Revision gemäß § 349 Abs. 2 StPO. Zur Begründung führte es aus, dem Beschwerdeführer könne zwar keine bewusste, sondern nur einfache Fahrlässigkeit vorgeworfen werden; gleichwohl sei der Rechtsfolgenausspruch aber nach Auffassung des Senats angemessen. Eine danach erhobene Gegenvorstellung wies der Senat ebenfalls zurück, weil der Beschwerdeführer durch die Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft auf die Möglichkeit einer Entscheidung des Senats nach § 354 Abs. 1a StPO hingewiesen worden sei. b) Das zweite Verfahren betraf eine Verurteilung wegen Betrugs in Tateinheit mit Beihilfe zur Untreue zu einer Geldstrafe von 240 Tagessätzen. Der Bundesgerichtshof beschränkte in diesem Verfahren auf die Revision des Angeklagten den Tatvorwurf über § 154a Abs. 2 StPO auf den vom Landgericht festgestellten Betrug und berichtigte den Schuldspruch; sodann verwarf er die Revision gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet, wobei er von der Aufhebung des Strafausspruchs in Anwendung des § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO absah. Zur Begründung führte er aus, es sei nicht auszuschließen, dass das Landgericht, hätte es auf Grundlage des geänderten Schuldspruchs zu urteilen gehabt, gegen den Beschwerdeführer eine niedrigere Strafe als die verhängte festgesetzt hätte, die ausgeurteilte Strafe sei jedoch angemessen. § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO erfasse nämlich auch Fälle, in denen es zu einer Schuldspruchänderung komme, denn nur eine solche Interpretation der Norm werde dem mit § 354 Abs. 1a StPO verfolgten Ziel des Gesetzgebers gerecht, Ressourcen der Justiz zu schonen und zur Verfahrensbeschleunigung beizutragen. c) Die für beide Verfassungsbeschwerden gleichermaßen entscheidende Frage, nämlich ob § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO verfassungsgemäß ist, bejaht das Verfassungsgericht grundsätzlich. Die Norm breche zwar mit zwei Traditionen des deutschen Strafprozesses, denn sie begründe zum einen erstmals eine umfassende und antragsungebundene Strafzumessungskompetenz der Revisionsgerichte, zum anderen erlaube sie eine eigene Straffindung jenseits der bislang den Vorgang der Strafzumessung prägenden Maximen der Unmittelbarkeit und Mündlichkeit.44 Angesichts der Charakterisierung von Strafzumessung als Rechtsanwendung sei aber für eine generelle Ablehnung einer Strafzumessungskompetenz der Revisionsgerichte kein Raum mehr.45 Allerdings sei aus verfassungsrechtlicher Sicht die Strafzumessung durch das Revisionsgericht nur dann unbedenklich, wenn für den Prozess der Straffindung ein lückenloser, wahrheitsorientiert ermittelter und aktueller
44 Bundesverfassungsgericht Beschluss vom 14.6.2007 – 2 BvR 147/05 und 2 BvR 136/05, Tz. 74. 45 Bundesverfassungsgericht aaO Tz. 79.
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Strafzumessungssachverhalt zur Verfügung stünde,46 ansonsten sei der Anspruch eines Angeklagten auf ein faires Verfahren verletzt. Genau dies stelle § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO nach seinem Wortlaut aber nicht verlässlich sicher, weil das Revisionsgericht nicht aufgrund eigener Befugnisse feststellen könne, ob ihm ein die Strafzumessung erlaubender Sachverhalt vom Tatgericht in den Urteilsfeststellungen unterbreitet wurde. Andererseits sei dem Revisionsgericht die Durchführung einer Beweisaufnahme aus strukturellen Gründen verwehrt und der Gesetzgeber habe bei der Erweiterung der Entscheidungskompetenzen der Revisionsgerichte in den Bereich der originären Strafzumessung hinein davon abgesehen, ihnen zugleich das den Tatgerichten für eine Strafzumessung zur Verfügung stehende Instrumentarium – die mündliche und unmittelbare Beweisaufnahme – mit an die Hand zu geben.47 Die nun unausweichlich erscheinende Folgerung, dass nach dem Wortlaut des § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO ein faires Verfahren grundsätzlich nicht gewährleistet werden kann – die Vorschrift somit verfassungswidrig wäre –, umgeht die Entscheidung dann jedoch mit der Feststellung, sie ließe sich gleichwohl verfassungskonform auslegen und handhaben.48 Verfassungskonform sei § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO nämlich dann ausgelegt, wenn die Kompetenz der Revisionsgerichte zu eigener Strafzumessung davon abhinge, dass ihnen für die Sachentscheidung ein zutreffend ermittelter vollständiger und aktueller Strafzumessungssachverhalt zur Verfügung steht. Weil das Revisionsgericht aufgrund der Fehleranfälligkeit jeglicher Strafzumessung anhand eines vorinstanzlichen Urteils aber nicht ohne Weiteres davon ausgehen könne, dass ihm ein Sachverhalt zur Verfügung stehe, der für eine fehlerfreie Strafzumessung hinreicht, werde es sich deshalb über das Vorliegen einer vollständigen und verlässlichen Entscheidungsgrundlage Gewissheit verschaffen müssen. Hinsichtlich der strafprozessualen Mittel für eine solche Information gelte nun Folgendes: Da der Gesetzgeber eine Beweisaufnahme für das Revisionsverfahren nicht vorgesehen habe, müsse das Revisionsgericht sich auf andere Weise über die tatsächliche Grundlage seiner Strafzumessung ins Bild setzen. Dies könne dadurch geschehen, dass das Gericht dem Angeklagten die Gelegenheit zur Stellungnahme im Revisionsverfahren einräumt.49 Das Revisionsgericht habe deshalb den Angeklagten auf die aus seiner Sicht für eine Sachentscheidung nach § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO sprechenden Gründe hinzuweisen. In diesen Hinweisen würden konkrete Ausführungen zur „Angemessenheit“ der Strafe trotz der im tatrichterlichen Urteil festgestellten Rechtsfolgenzumessungsfehler unerlässlich sein; nur dann könne sich der 46 47 48 49
Bundesverfassungsgericht aaO Tz. 81. Bundesverfassungsgericht aaO Tz. 85. Bundesverfassungsgericht aaO Tz. 90. Bundesverfassungsgericht aaO Tz. 95.
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Angeklagte etwa dadurch umfassend verteidigen, dass er rechtliche Gründe gegen eine Strafzumessungsentscheidung des Revisionsgerichts vorbringe oder aber auch gegen die Strafzumessungsgrundlage vortrage. Außerdem müsse das Revisionsgericht, wenn es nach § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO verfährt, seine Entscheidung jedenfalls dann begründen, wenn die für die Strafzumessung relevanten Umstände und deren konkretes Gewicht dem Angeklagten sonst nicht nachvollziehbar wären.50 d) Im Übrigen – so das Bundesverfassungsgericht – verstoße die Vorschrift des § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO nicht gegen die verfassungsrechtliche Garantie des gesetzlichen Richters; die Verfahrensgarantie des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG werde eben nicht dadurch berührt, dass der Gesetzgeber den Revisionsgerichten ermöglicht habe, im Wege einer wertenden Entscheidung abschließend über strafrechtliche Rechtsfolgen zu befinden.51 Die Garantie des gesetzlichen Richters sei auch nicht dadurch verletzt, dass dem Revisionsgericht das freie Ermessen eingeräumt würde, bei von ihm so eingeschätzter Angemessenheit der Rechtsfolge selbst zu entscheiden oder das Verfahren an ein Tatgericht zurückzuverweisen. Da – wie durch das Verfassungsgericht bereits entschieden – § 354 Abs. 2 StPO dem Revisionsgericht bereits eine Wahlbefugnis gibt, das für die abschließende Entscheidung im Strafverfahren zuständige Gericht zu bestimmen, sei auch das in § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO normierte Recht des Revisionsgerichts, sich selbst für zuständig zu erklären, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.52 Im Ergebnis hob das Bundesverfassungsgericht dann allerdings die Entscheidung des Brandenburgischen Oberlandesgerichts auf, weil sie den Erfordernissen des verfassungskonform ausgelegten § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO nicht entsprach. Das Oberlandesgericht habe seine Entscheidung nicht ausreichend begründet, obwohl der Beschwerdeführer im Revisionsverfahren umfangreich gegen die von der Generalstaatsanwaltschaft beantragte Anwendung der Vorschrift vorgetragen habe. Insofern sei der Anspruch des Beschwerdeführers auf ein faires Verfahren verletzt; darauf, ob eventuell weitere Grundrechtsverletzungen vorlägen, käme es deswegen nicht mehr an. e) Wesentlich knapper – aber auch wesentlich folgenreicher für die geschilderte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs – sind die Darlegungen der Entscheidung zu einem „Durchentscheiden“ bei Fehlern im Schuldspruch. Das Verfassungsgericht befand nämlich, dass, wenn ein Revisionsgericht nach § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO entscheide, obwohl die Voraussetzungen für eine Anwendung dieser Norm nicht vorlägen, dem Beschwerdeführer der gesetzliche Richter entzogen werde (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG).
50 51 52
Bundesverfassungsgericht aaO Tz. 102; so auch der zweite Leitsatz der Entscheidung. Bundesverfassungsgericht aaO Tz. 107. Bundesverfassungsgericht aaO Tz. 111.
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Die Begründung des Verfassungsgerichts ist denkbar einfach: Der Wortlaut der Bestimmung lasse ihre Anwendung „nur“ bei einer Gesetzesverletzung anlässlich der Zumessung der Rechtsfolgen zu. Dies schließe eine Strafzumessungsentscheidung des Revisionsgerichts aus, wenn zugleich eine Neuentscheidung über einen – fehlerhaften – Schuldspruch erfolgen muss.53 Die Gesetzesmaterialien ließen auch nicht erkennen, dass der Gesetzgeber eine Anwendung der Vorschrift bei gleichzeitiger Schuldspruchkorrektur gewollt habe. Das von ihm formulierte Ziel, mit dieser Vorschrift „die bisherigen Sachentscheidungsbefugnisse der Revisionsgerichte behutsam zu erweitern“,54 gehe gerade nicht so weit, was sich aus den Gesetzesmaterialien ergebe. Über den klaren Wortlaut eines Gesetzes dürfe sich der Rechtsanwender im gewaltenteilenden Rechtsstaat aber nicht hinwegsetzen, um einem vermuteten Ziel des Gesetzgebers Wirkung zu verschaffen.55
4. – und ihre Folgen Was bedeutet das nun alles für die weitere Entwicklung der Revisionsrechtsprechung und Revisionspraxis? a) Der zweite Teil der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts stellt klar, dass die vom Bundesgerichtshof und teilweise von den Oberlandesgerichten praktizierte Rechtsprechung, auch bei Schuldspruchänderungen (Auswechslung der anwendeten Strafvorschrift, Änderung der Konkurrenzverhältnisse von Tatmehrheit zu Tateinheit und umgekehrt, Wegfall einer oder mehrerer Einzelverurteilungen) gegebenenfalls den Strafausspruch als „angemessen“ aufrecht zu erhalten, verfassungswidrig ist. Bei diesem Teil der Verfassungsgerichtsentscheidung fällt allerdings auf, dass der Senat sich erneut nicht substantiell mit dem Argument des Bundesgerichtshofs auseinandergesetzt hat, dass die Vorschrift jedenfalls analog angewendet werden könne. Der emphatische Hinweis am Ende der Verfassungsgerichtsentscheidung, dass es dem Rechtsanwender nicht gestattet sei, sich „über den klaren Wortlaut eines Gesetzes“ hinwegzusetzen, enthält noch nicht das entscheidende Argument gegen eine analoge Anwendung, weil sich nämlich jede analoge Anwendung einer Vorschrift über den Wortlaut hinwegsetzt. Allerdings ist leicht zu zeigen, dass die Behauptung des Bundesgerichtshofs, es handele sich bei seiner Rechtsprechung zu § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO nur um die entsprechende Anwendung einer im Übrigen verfassungsgemäßen Vorschrift, nicht zutreffen kann: Die entscheidende Frage einer jeden 53 54 55
Bundesverfassungsgericht aaO Tz. 119. BT-Drs. 15/3482, 22. Bundesverfassungsgericht aaO Tz. 124.
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Analogie ist nämlich nicht etwa, ob eine analoge Anwendung außerhalb des vom Wortlaut geschriebenen Anwendungsbereichs ebenfalls dem vom Gesetzgeber vorgesehenen Sinn und Zweck einer bestehenden Vorschrift erfüllt, sondern ob es sich bei der angeblichen Gesetzeslücke um eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes handelt.56 Das war schon hinsichtlich der vom Bundesgerichtshof bis zur Einführung der Vorschrift praktizierten analogen Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO nicht vertretbar 57 und ist für die neue Vorschrift angesichts der vom Rechtsausschuss gegebenen Begründung für die neue Gesetzesformulierung – die der Beschluss des 1. Strafsenats vom 8. Dezember 2004 58 an der entscheidenden Stelle gerade nicht zitiert – ebenfalls auszuschließen. Dort heißt es nämlich: „Die Vorschrift erweitert die Reaktionsmöglichkeiten des Revisionsgerichts bei Mängeln der Rechtsfolgenentscheidung“ (Hervorh. d. Verf.). Der Gesetzgeber hatte demnach den Anwendungsbereich der neuen Norm sehr wohl konkretisiert und damit beschränkt; er hat nicht etwa von Urteilsmängeln, die sich auch in der Strafzumessung auswirken, gesprochen, sondern sprachlich eindeutig nur Mängel bei der Beantwortung der Straffrage als Anwendungskriterium herangezogen. Noch eindeutiger als die nicht vorhandene Gesetzeslücke – auf die auch das Bundesverfassungsgericht hinweist 59 – ist jedoch folgender Gesichtspunkt: Nach bisherigem – und wohl auch in Zukunft – herrschendem Verständnis kann von Analogie nur dann gesprochen werden, wenn eine bestimmte Rechtsfolge, die an das Vorliegen bestimmter Voraussetzungen gebunden ist, ebenfalls eintreten soll, falls den gesetzlich formulierten Voraussetzungen hinreichend ähnliche andere Voraussetzungen gegeben sind.60 Ein solches Verständnis von Analogie hatte der BGH allerdings wohl nicht im Sinn, wie sich einer vor nicht allzu langer Zeit ergangenen Entscheidung des BGH61 entnehmen lässt: In dieser Sache hatte das Landgericht den Angeklagten wegen tateinheitlich begangenen zweifachen Totschlags (in besonders schwerem Fall) schuldig gesprochen und unter Einbeziehung von
56 Zur Analogie als Mittel der Korrektur lückenhafter Gesetzesregelungen s. grundlegend Larenz Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl., Berlin 1983, S. 365 ff. 57 Vgl. Schwarz Die eigene Sachentscheidung des BGH in Strafsachen, S. 49. 58 1 StR 483/04 = NJW 2005, 912. 59 Bundesverfassungsgericht aaO Tz. 121. 60 In der Formulierung von Klug Juristische Logik, 3. Aufl., Berlin/Heidelberg/New York 1966, S. 122: „Dass bestimmte Rechtsfolgen R1, R2 … und Rn nicht nur Anwendung finden, wenn bestimmte Voraussetzungen V1, V2, … und Vm erfüllt sind, sondern auch, wenn die ähnlichen Voraussetzungen V1-, V2-, … Vm- gegeben sind.“ 61 BGH, Beschluss vom 27.2.2007 – 5 StR 459/06. Eine zuvor ergangene Entscheidung, die sich ebenfalls mit der Frage des rechtlichen Gehörs beim Durchentscheiden befasst hatte (BGH Beschluss vom 17.5.2005 – 3 StR 39/05= NStZ-RR 2005, 272), enthält keine solch ausführliche Begründung.
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weiteren durch ein Amtsgericht verhängten Strafen auf eine lebenslange Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe erkannt. Der 5. Senat hatte die dagegen mit der Sachrüge begründete Revision als unbegründet verworfen mit der Maßgabe, dass der Angeklagte wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren und unter Einbeziehung der amtsgerichtlichen Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt wurde. Die Schuldspruchänderung ergab sich daraus, dass nach Ansicht des Senats das Landgericht nach dem Grundsatz ‚in dubio pro reo‘ verpflichtet gewesen sei, festzustellen, dass der Todesschütze ein Mittäter gewesen sei. Im Übrigen, so der BGH, sei auch die Annahme eines besonders schweren Falls des Totschlags insofern unbegründet, weil das Landgericht dafür bei der Strafzumessung zu Unrecht von einer eigenhändigen Erschießung der Opfer durch den Angeklagten ausgegangen sei. Gleichwohl hatte der Senat den Strafausspruch in die höchste zeitige Freiheitsstrafe von 15 Jahren umgewandelt, da auszuschließen sei, dass das Schwurgericht für die jedenfalls objektiv hinrichtungsähnliche Tötung von zwei Menschen auf eine niedrigere Strafe erkannt hätte. Gegen die Ausgangsentscheidung hatte der Verurteilte einen Antrag nach § 356a StPO (Gehörsrüge) gestellt; diesen wies der Senat nun mit folgender hier interessierender Begründung zurück: Der Verwerfungsbeschluss stütze sich auf eine analoge Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO insgesamt. Nach der dieser Vorschrift zugrundeliegenden Konzeption sei eine Zurückverweisung nur veranlasst, wenn dem Revisionsgericht eine abschließende Entscheidung „ohne tatsächliche Erörterung“ unmöglich sei.62 Das sei aber auch dann der Fall, wenn das Revisionsgericht zu der Überzeugung gelange, dass gegen den Revisionsführer aus Rechtsgründen, weil jede andere Strafe kein gerechter Schuldausgleich wäre, eine bestimmte Strafe verhängt werden müsse. Weil es sich aber in diesem Falle um ein „exorbitantes Tötungsverbrechen“ handele, sei die Festsetzung jeder milderen als der höchsten zeitigen Freiheitsstrafe kein gerechter Schuldausgleich. Im Übrigen begegne die vom Senat in Anspruch genommene analoge Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO keinen aus systematischen Erwägungen herrührenden Bedenken. Sie halte sich, wenn die Verfahrenslage jedes Ermessen über Art und Höhe der Rechtsfolge ausschließe, in den durch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gezogenen Grenzen. Da der Senat also habe durchentscheiden dürfen, sei der Anspruch des Verurteilten auf rechtliches Gehör auch nur im Rahmen des revisionsgerichtlichen Beschlussverfahrens gemäß § 349 Abs. 2 und 4 StPO zu erfüllen. Dies sei auch geschehen, denn die Verteidiger hätten auf den Verwerfungsantrag
62 Damit stellte der BGH das Regel-Ausnahme-Verhältnis des § 354 Abs. 1 StPO auf den Kopf und interpretiert darüber hinaus die „Kann“-Vorschrift zur „Soll“-Vorschrift um. Angesichts des Gesetzeswortlauts ist auch das offensichtlich unvertretbar.
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des Generalbundesanwalts umfänglich erwidert und die allein erhobene Sachrüge weiter begründet. Dass sie es unterlassen hätten, zu der im Beschlussverfahren angelegten Entscheidungsvariante eines Teilerfolgs hinsichtlich des Strafausspruchs weiteres auszuführen, begründe wie auch sonst in Fällen nachträglich vom Verteidiger als lückenhaft erkannten Vortrags keinen Gehörsverstoß. Abgesehen davon, dass nunmehr eine solche Entscheidung wegen der vom Verfassungsgericht statuierten Hinweispflicht nicht möglich wäre, war schon damals die Behauptung des BGH, diese Vorgehensweise sei nach Ansicht des Bundesverfassungsgericht verfassungsrechtlich unbedenklich, schwer nachvollziehbar, denn die zum Beleg dafür herangezogene Kammerentscheidung des Bundesverfassungsgerichts 2 BvR 906/06 betraf eine völlig andere Konstellation: In jenem Falle hatte das Tatgericht für vier Fälle der Untreue und eine gefährliche Körperverletzung in Tateinheit mit vorsätzlich gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr Einzelfreiheitsstrafen von zwei Jahren, zehn Monaten, neun Monaten und zwei Mal acht Monaten verhängt. Das Revisionsgericht hatte weitere Tatvorwürfe eingestellt und die Gesamtfreiheitsstrafe auf zwei Jahre und einen Monat herabgesetzt. Aufgrund dieser Einzelstrafen ergab sich zwingend das vom Revisionsgericht verhängte Mindestmaß der Gesamtstrafe; es hielt sich deshalb an die Entscheidungsmöglichkeiten, die § 354 Abs. 1 StPO dem Revisionsgericht bietet, und enthielt deshalb gerade keine Anwendung in einem vom Gesetz nicht vorgesehenen Fall. Dass es hingegen einen vertretbaren Analogieschluss darstellen würde, wenn ein Gericht nicht nur unter hinreichend ähnlichen Voraussetzungen eine in der – analog angewendeten – Vorschrift bestimmte Rechtsfolge aussprechen darf, sondern auch darin nicht enthaltene – nur seinem Sinn und Zweck entsprechende, sozusagen „analoge“ – Rechtsfolgen aussprechen dürfte, ist jedenfalls mit herkömmlicher juristischer Logik und Begründungsmethodik nicht mehr zu vereinbaren. b) Da das Bundesverfassungsgericht in dem entschiedenen zweiten Fall auch eine Einstellung gemäß § 154a Abs. 2 StPO als Schuldspruchänderung angesehen hat, ist jetzt zunächst zu erwarten, dass der Bundesgerichtshof bei Schuldspruchänderungen generell zurückverweisen wird.63 Eine Entlastungswirkung für die Instanzgerichte wird deshalb nicht eintreten, so dass wohl schon bald wieder der Ruf nach dem Gesetzgeber erschallen wird, dieser möge doch bitte die neue Vorschrift wieder novellieren. Wahrscheinlich wird die Formulierung dieser Novelle dann lauten: „Das Revisionsgericht kann von der Aufhebung des angefochtenen Urteils wegen einer 63 Dem Bundesgerichtshof ist – da es sich um eine Senatsentscheidung handelt – insoweit der Weg versperrt, wie in BGH 3 StR 460/98 (= NJW 2006, 1529) eine Bindungswirkung der verfassungsgerichtlichen Entscheidung mit dem Argument zu verneinen, es handele sich nur um eine Kammerentscheidung.
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Gesetzesverletzung absehen, sofern die verhängte Rechtsfolge hinsichtlich der verbliebenen Verurteilung angemessen ist.“ Dagegen wird man auf der Basis der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juni 2007 zumindest keine verfassungsrechtlichen Argumente mehr vorbringen können. c) Der erste Teil der Entscheidung, in dem das Verfassungsgericht die Bedingungen formuliert, unter denen § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO verfassungskonform anzuwenden ist, könnte sich dagegen für alle Verfahrensbeteiligten als Danaer-Geschenk erweisen. Es ist nämlich zu vermuten, dass die Instanzgerichte in dem Bestreben, es den Revisionsgerichten für den Fall, dass ihnen selbst ein entscheidender Rechtsfehler unterlaufen ist, gleichwohl ein „Durchentscheiden“ zu ermöglichen, einen erhöhten Aufwand bei der Strafzumessungsentscheidung betreiben werden. Dass dies in vielen Fällen nicht mehr als eine inhaltsleere Schreibübung sein wird, ist schon jetzt abzusehen. Insofern gilt unverändert, was Sarstedt schon 1972 im Hinblick auf die tatrichterlichen Ausführungen zur Strafzumessung, die nach seinen Beobachtungen als Vorsitzender des 5. Strafsenats des BGH immer weiter ausuferten, gesagt hat: „Unbehagen verursacht dabei [scil.: bei den Ausführungen der Tatrichter zur Strafzumessung] nur die Gewissheit, dass es schlechterdings unmöglich ist, eine rationelle Beziehung zwischen dergleichen Erwägungen auf der einen und einer bestimmten Strafhöhe auf der anderen Seite herzustellen.“ 64 Das hat natürlich seinen Grund darin, dass – wie die Verfassungsgerichtsentscheidung selbst darstellt – das Tatgericht seine Strafzumessungsentscheidung auch aufgrund der persönlichen Eindrücke vom Angeklagten und von den Geschehnissen in der Hauptverhandlung fällt 65 und dass die tatsächlichen Grundlagen einer Strafzumessungsentscheidung sich zum Teil nicht mit der Genauigkeit und Vollständigkeit verschriftlichen lassen wie andere Merkmale strafrechtlicher Sachverhalte.66 Wie sich das Verhältnis der Ausführlichkeit der Strafzumessungsbegründung durch die Instanzgerichte einerseits und der Beurteilung der Revisionsgerichte, ob eine ausreichende Grundlage für die Angemessenheitsprüfung gegeben ist, darstellen wird, wird die revisionsgerichtliche Rechtsprechung der nächsten Jahre zeigen. Im Ergebnis kann man allerdings dem Lösungsversuch des Bundesverfassungsgerichts mit verfassungsrechtlichen Argumenten nicht widersprechen: Da weder das Prinzip der Mündlichkeit noch das Recht auf unmittel64 Sarstedt Die Entscheidungsbegründung im strafgerichtlichen Verfahren, in: Sarstedt/ Hamm/Köberer/Michalke (Hrsg.) Rechtsstaat als Aufgabe, Berlin/New York 1987, S. 148. 65 Bundesverfassungsgericht aaO Tz. 76.; im Übrigen so auch in einer neueren Entscheidung des BGH festgehalten: BGH Urteil vom 20.6.2007 – 1 StR 167/07, S. 10. 66 Bundesverfassungsgericht aaO Tz. 87.
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bare Beweisaufnahme 67 Verfassungsrang haben, wird deshalb auch die Möglichkeit der Erhebung von Verfassungsbeschwerden stark eingeschränkt sein. Vermutlich wird der Gesetzgeber in naher Zukunft auch der Anregung des Bundesverfassungsgerichts folgen und in § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO ein Antragserfordernis einfügen. Wie die Praxis der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung im Bereich der Beschlussverwerfung gemäß § 349 Abs. 2 StPO gezeigt hat, ist allerdings nicht zu erwarten, dass ein solches Antragserfordernis die Zahl der Entscheidungen, in denen das Revisionsgericht durchentscheidet, begrenzen wird. Im Ergebnis hat deswegen die Entscheidung des Verfassungsgerichts, was die Kontrolle der Praxis des „Durchentscheidens“ im Bereich der Strafzumessung angeht, dem Angeklagten und der Verteidigung möglicherweise bloß Steine statt Brot gegeben.
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Insoweit schon sehr früh BVerfGE 1, 418, 429.
Der Datenschutzbeauftragte als Hilfsbeamter der Staatsanwaltschaft? Zu den Kompetenzen des Datenschutzbeauftragten gegenüber dem Strafverteidiger. Überlegungen aus Anlass des Urteils des AG Tiergarten vom 5. Oktober 2006 (StraFo 2007, 39) Stefan König Ach, würden wir so langsam altern, wie das Kammergericht entscheidet! Wie jung wären wir geblieben, und es wäre noch lange Zeit, bis der Jubilar ein festschriftfähiges Alter erreicht hätte. Leider schreitet die Zeit aber viel rascher fort, als Kammerrichter urteilen, und sie nehmen mir mit der Geruhsamkeit ihrer Überlegungen die Möglichkeit, als meinen Beitrag zu dieser Festschrift die erste obergerichtliche Entscheidung zu einer Problematik vorzustellen und zu kommentieren, die den Jubilar, sei es als Strafverteidiger, sei es als Datenschutzbeauftragter (oder in beiden Rollen), gewiss schon beschäftigt hat – auch wenn ich einen schriftlichen Niederschlag seiner Befassung damit nicht habe finden können. Es geht um die Frage nach den Kompetenzen des Datenschutzbeauftragtem gegenüber dem Rechtsanwalt, im Besonderen: gegenüber dem Strafverteidiger. Und im ganz Besonderen um die Frage: inwiefern darf der Datenschutzbeauftragte dem Strafverteidiger in die Karten schauen? Darf er Auskunft verlangen über die Herkunft von Informationen, die der Verteidiger bei der Verteidigung verwendet – sei es in Schriftsätzen, sei es bei der Befragung von Zeugen oder durch die Vorlage von Urkunden? Mit diesem Problem hatte sich das Amtsgericht Tiergarten im letzten Jahr zu befassen. Ich habe den betroffenen Rechtsanwalt verteidigt. Das macht mich zwar befangen, gab mir aber auch Anlass, über die Konsequenzen des Urteils nachzudenken. Ich hatte gehofft, meine Überlegungen auch in einer Auseinandersetzung mit der Entscheidung des Kammergerichts über die eingelegte Rechtsbeschwerde der Amtsanwaltschaft entwickeln und ausbreiten zu können. Leider steht sie noch immer aus.
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A. Der Fall Am Anfang stand ein Brief. Er kam vom „Berliner Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit“ (im Folgenden: Berliner DS-Beauftragter). Der teilte dem Adressaten, einem Rechtsanwalt, am 4.11.2001 mit, ein „Petent“ habe sich darüber beschwert, „dass Sie in dem Strafverfahren zum Aktenzeichen X vor dem AG Y als Verteidiger des Angeklagten Herrn S. (folgt die Adresse) einen Brief vorgelesen haben, der von dem Petenten an seinen Vermieter bzw. dessen Hausverwaltung gerichtet war, zudem hätten Sie gesagt, dass Sie weitere Briefe des Petenten an seinen Vermieter in Ihrem Besitz hätten. Desweiteren hätten Sie das Einkommen des Petenten, welches dieser im Rahmen einer Selbstauskunft zum Mietvertrag des Vermieters mitgeteilt hatte, in das Gerichtsverfahren eingebracht. Wir erbitten dazu binnen Monatsfrist Ihre Stellungnahme. Insbesondere bitten wir um Mitteilung, wie Sie in den Besitz der Daten und Unterlagen aus dem Mietverhältnis des Petenten gelangt sind.“ Eine staatliche Stelle soll Auskunft über die Herkunft von personenbezogenen Informationen verlangen dürfen, die ein Verteidiger für Verteidigungszwecke über einen Zeugen gesammelt hat, also um dem staatlichen Strafanspruch entgegenzutreten? Der Datenschutzbeauftragte als Hilfsbeamter der Staatsanwaltschaft, der dem Verteidiger in die Karten schauen darf? Dieser Gedanke ergriff offenbar auch den betroffenen Rechtsanwalt. Er berief sich gegenüber dem Auskunftsverlangen des Datenschutzbeauftragten in einem knapp gehaltenen Antwortschreiben auf seine Verschwiegenheitsverpflichtung und weigerte sich mitzuteilen, wer ihm wann und wo welche Informationen gegeben habe. Der Datenschutzbeauftragte war damit nicht zufrieden. Er berief sich auf seine – vermeintlichen – Befugnisse als Aufsichtsbehörde für die Einhaltung der Vorschriften über den Datenschutz durch nicht-öffentliche Stellen nach § 38 BDSG. Aufsichtsbehörde im Sinne dieser Vorschrift ist nicht notwendig der Datenschutzbeauftragte. Vielmehr bestimmen nach § 38 Abs. 6 BDSG, „die Landesregierungen oder die von ihnen ermächtigten Stellen […] die für die Kontrolle der Durchführung des Datenschutzes […] zuständigen Aufsichtsbehörden“. Die Ermächtigung ist von den Ländern z.T. durch Rechtsverordnung oder ministerielle Anordnungen,1 z.T. durch Gesetz 2 ausgeübt worden. In der Mehrzahl der Länder ist die staatliche Mittelbehörde (Regierungspräsidium) als untere und das Innenministerium als oberste Aufsichtsbehörde bzw. das Innenministerium allein zuständig. In den drei Stadtstaaten sowie in 1 2
Vgl. dazu den Überblick bei Simitis-Petri BDSG, 6. Aufl., § 38 Fn. 52. Vgl. dazu Simitis-Petri aaO, Fn. 53.
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Niedersachsen und in Schleswig-Holstein ist die Aufgabe dem Landesdatenschutzbeauftragten übertragen, der nach wohl überwiegender Ansicht hinsichtlich seiner Befugnisse nach § 38 BDSG jedoch in die Hierarchie der Exekutive eingebunden ist.3 Nach § 38 Abs. 3 Satz 1 BDSG haben die der Kontrolle unterliegenden Stellen und die mit deren Leitung beauftragten Personen der Aufsichtsbehörde auf Verlangen die für die Erfüllung ihrer (der Aufsichtsbehörde) Aufgaben erforderlichen Auskünfte unverzüglich zu erteilen. Es kann lediglich die Auskunft auf solche Fragen verweigert werden, deren Beantwortung den Angefragten selbst oder einen seiner Angehörigen (i.S.d. § 383 Abs. 1 Nr. 1, 3 ZPO) der Gefahr strafgerichtlicher Verfolgung oder eines Ordnungswidrigkeitenverfahrens aussetzen würde. Darauf, dass der angefragte Rechtsanwalt bei nachhaltiger Auskunftsverweigerung wegen einer Ordnungswidrigkeit nach § 43 Abs. 1 Nr. 10 BDSG verfolgt werden könne, wurde er mit dem Aufforderungsschreiben hingewiesen. Dennoch blieb er standhaft. Er bat den Vorstand der Rechtsanwaltskammer Berlin um Hilfestellung. Dieser übermittelte ihm die zu der Problematik veröffentlichten Stellungnahmen der Bundesrechtsanwaltskammer (vom 9.10.2002 und Nr. 31/2004). Darin wird die Auffassung vertreten, dass die Aufsichtszuständigkeit auch in Angelegenheiten des Datenschutzes allein bei den Rechtsanwaltskammern liege. Diese Auffassung entspreche wegen der Subsidiarität des § 38 BDSG der geltenden Gesetzeslage. Die Vorgaben der EG-Datenschutz-Richtlinie vom 24.10.1995 4 würden diese Auffassung untermauern. Danach müssen die zur Überwachung des Datenschutzes eingerichteten Stellen völlig unabhängig sein. Die Kammer machte sich die Auffassung der BRAK zueigen, dass die „mandatsbezogene Datenverarbeitung des Rechtsanwaltes durch die ihm aufgetragene Interessenvertretung gekennzeichnet“ sei. Das mache einen kontrollierten Informationsumgang erforderlich, der besonders durch die Wahrung des Berufsgeheimnisses geprägt sei. Dieses bleibe – nach § 1 Abs. 1 Satz 2 BDSG – vom Datenschutzrecht unberührt. Das Berufsrecht beinhalte ein dichtes Netz informationsrechtlicher Bestimmungen, die den spezifischen Anforderungen und Verantwortlichkeiten des Anwaltsberufes gerecht werden. Sie kam zu dem Ergebnis: „Nach Rechtsauffassung der BRAK besteht in dem geschilderten Fall keine rechtliche Verpflichtung zur Auskunftserteilung an den Datenschutzbeauftragten. Die Wahrung des anwaltlichen Berufsgeheimnisses ist vorrangig zu den datenschutzrechtlichen Bestimmungen.“
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Vgl. Rüpke RDV 2003, 72 ff = AnwBl. 2003, 19 ff, dort insbes. Fn. 13 f m.Verw. Dort Art. 28; vgl. Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates v. 24.10.1995, Abl. EG Nr. L 281/31, v. 23.11.1995, EU-DS, EU Rat/Parl. 4
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Das Schreiben der Rechtsanwaltskammer Berlin übermittelte der Rechtsanwalt dem Datenschutzbeauftragten, verbunden mit der Erklärung, er halte an seiner Position, die verlangten Auskünfte zu verweigern, fest, um sich nicht strafbar zu machen. Drei Monate später reagierte der Berliner Datenschutzbeauftragte mit der Mitteilung, dass er ein Bußgeldverfahren wegen Verstoßes gegen § 43 Abs. 1 Nr. 10 BDSG gegen den Rechtsanwalt eingeleitet habe. Er bestritt die Berechtigung des Anwaltes, die Auskunft ihm gegenüber zu verweigern und führte aus, gemäß § 24 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 24 Abs. 6 und § 38 Abs. 4 Satz 3 BDSG erstrecke sich die Kontrollbefugnis der Aufsichtsbehörde auch auf die einem Berufsgeheimnis unterliegenden personenbezogenen Daten, so dass eine Verpflichtung des Rechtsanwaltes zur Auskunftserteilung bestehe. Mitte September 2005 erging ein Bußgeldbescheid gegen den Anwalt. Es wurde eine Geldbuße in Höhe von 3.000,00 Euro festgesetzt. Hiergegen legte er Einspruch ein. Das Amtsgericht Tiergarten sprach ihn daraufhin frei.
B. Das Urteil In der Urteilsbegründung heißt es: „Der Betroffene war […] aus rechtlichen Gründen freizusprechen, da […] keine Verpflichtung bestand, der Behörde auf der Grundlage von § 38 Abs. 3 Satz 1 BDSG die gewünschten Informationen zu erteilen. Der Tatbestand der § 43 Abs. 1 Nr. 10 BDSG war mithin nicht erfüllt.“ Das Amtsgericht sah in der BRAO eine bereichsspezifische Sonderregelung im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 1 BDSG. Und weiter begründete es seine Entscheidung: „Speziell die §§ 43a Abs. 2, 56 Abs. 1, 73 Abs. 2 Nr. 4, 74, 113 ff BRAO, die die anwaltliche Schweigepflicht, die Auskunftspflicht des Rechtsanwaltes gegenüber dem Vorstand der Rechtsanwaltskammer, die Aufsichtspflicht des Vorstandes der Rechtsanwaltskammer, das Rügerecht des Vorstandes der Rechtsanwaltskammer und die anwaltsgerichtliche Ahndung von Pflichtverletzungen des Rechtsanwaltes festschreiben, machen die Bundesrechtsanwaltsordnung zu einer bereichsspezifischen Sonderregelung. Auch wenn § 56 Abs. 1 BRAO in der geltenden Fassung im Hinblick auf für einen effektiven Datenschutz erforderliche Auskünfte als zu allgemein gefasst erscheint, spricht dies nicht gegen den Charakter der Norm als bereichsspezifische Regelung, sondern begründet lediglich ihren Ergänzungsbedarf. Gleiches gilt für den Umstand, dass die sogenannte anlassfreie datenschutzrechtliche Prüfung gegenwärtig vom Vorstand der Rechtsanwaltskammer wohl nur aufgrund seiner allgemeinen Berechtigung zur umfassenden Berufsaufsicht vorgenommen werden könnte. Angesichts
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dieser Weitmaschigkeit der BRAO erscheint auch eine Parallelgeltung von BRAO und § 38 BDSG nicht abwegig. Da der Gesetzgeber aber in § 38 Abs. 7 BDSG nur für die Gewerbeordnung eine solche Parallelgeltung angeordnet hat, kann von einem entsprechenden gesetzgeberischen Willen im Hinblick auf die BRAO nicht ausgegangen werden. Daneben fällt auf, dass § 38 Abs. 3 BDSG nicht auf § 24 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 6 BDSG verweist, welcher regelt, dass die Kontrolle der Datenschutzbeauftragten von Bund und Ländern sich bei öffentlichen Stellen auch auf Daten erstreckt, die einem Berufsgeheimnis unterliegen. Es darf unterstellt werden, dass der Gesetzgeber eine entsprechende Verweisung vorgenommen hätte, wenn gleiches auch bei nicht-öffentlichen Stellen, z.B. Rechtsanwälten, beabsichtigt gewesen wäre.“ Das Amtsgericht nahm den Fall auch zum Anlass, grundsätzliche Ausführungen zum Verhältnis von anwaltlichem Berufsrecht und Datenschutzrecht niederzulegen. Denn es war der – völlig zutreffenden – Auffassung, damit sei der Kern des Anwaltsberufs berührt: „Das wesentlichste 5 Merkmal anwaltlicher Tätigkeit ist Interessenvertretung. Sie beinhaltet mandatsbezogene Datenverarbeitung. Beides macht einen gesteuerten Informationsumgang erforderlich, der ganz entscheidend durch die Wahrung des Berufsgeheimnisses geprägt wird. Eine Voraussetzung für die Tätigkeit des Rechtsanwaltes ist ein Vertrauensverhältnis zwischen Anwalt und Mandanten. Aus Sicht des Mandanten wird hierfür zumeist die Verschwiegenheitsverpflichtung des Anwaltes unabdingbare Voraussetzung sein. Dies schließt eine unmittelbare Einwirkung des Staates und eine staatliche Kontrolle in diesem Kernbereich aus. Insbesondere Strafverteidiger – auch der Betroffene war im vorliegenden Fall als solcher tätig – könnten ihren Beruf, der auch unter dem Schutz von Art. 12 GG steht, kaum ausüben, wenn sie ihren Mandanten nicht zusichern könnten, dass Informationen, die sie von ihnen erhalten, der staatlichen Kontrolle auch durch die Hintertür des BDSG – entzogen sind. An dieser Grundsituation vermag der Umstand auch nichts zu ändern, dass der Datenschutzbeauftragte verpflichtet ist, mit den auf der Grundlage eines Auskunftsverlangens nach § 38 Abs. 3 BDSG gewonnen Informationen verantwortlich umzugehen und diese nicht oder nur in dem Umfange weiterzugeben, wie es der gesetzlich formulierte Auftrag der Behörde erforderlich macht. Bei einer Offenbarungspflicht des Anwaltes würden Anwalt und Mandant die Steuerung und Kontrolle über den weiteren Informationsumgang verlieren. Allein das Wissen des Mandanten hierüber wird in vielen Fällen der Begründung eines Vertrauensverhältnisses zu dem Rechtsanwalt entgegenstehen.“ 5
Dieser Superlativ findet sich so in den schriftlichen Urteilsgründen.
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Der Anwalt muss daher nach Ansicht des Amtsgerichts die Möglichkeit haben, dem Auskunftsersuchen des Datenschutzbeauftragten entgegenzutreten, wenn der Mandant ihn nicht von der Schweigepflicht entbindet. Er könne dem Auskunftsverlangen das Recht aus § 38 Abs. 3 Satz 2 BDSG entgegenhalten, Antworten auf Fragen zu verweigern, die ihn der Gefahr eigener Strafverfolgung aussetzen – z.B. nach § 203 StGB.
C. Ein paar Bemerkungen In seinem Urteil greift das Amtsgericht eine Reihe von grundsätzlichen Streitfragen zum Verhältnis von Datenschutz(aufsichtsbehörden) und Anwalt(schaft) auf und entscheidet sie im Sinne der freien Advokatur. 1. Es hätte sich mit den grundsätzlichen Fragen, die der Fall aufwirft, übrigens nicht auseinandersetzen müssen. Abgesehen davon, dass es ein Leichtes gewesen wäre, den betroffenen Rechtsanwalt aus subjektiven Gründen freizusprechen (wie es der Sitzungsverteter der Amtsanwaltschaft auch beantragt hatte) und alle objektiven Fragen dahinstehen zu lassen, müssen nämlich schon Zweifel daran bestehen, ob das BDSG – ungeachtet der Subsidiaritätsproblematik 6 – auf die streitbefangenen Informationen über den Zeugen überhaupt anwendbar war. Denn es lagen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, der betroffene Rechtsanwalt, der aus Briefen des Zeugen vorgehalten hatte, habe personenbezogene Daten in oder aus Dateien geschäftsmäßig oder für berufliche oder gewerbliche Zwecke verarbeitet oder genutzt. Das ist aber nach § 27 BDSG Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Vorschriften über die Datenverarbeitung nicht-öffentlicher Stellen im 3. Abschnitt des BDSG. Insbesondere deutete nichts auf eine Dateiorganisation mit Bezug auf die vorgehaltenen Briefe bei dem betroffenen Rechtsanwalt hin. Der Datenschutzbeauftragte hätte in seinem Auskunftsbegehren zumindest einschränkend darauf hinweisen müssen, dass der Betroffene zur Auskunft über die gestellte Frage nur verpflichtet war, wenn die Briefe im Rahmen einer Dateiorganisation im Sinne des § 27 BDSG verwertet, genutzt oder erhoben wurden. Er hätte mitteilen müssen, dass andernfalls der Betroffene nur zur Auskunft darüber verpflichtet gewesen wäre, dass die Briefe einer Datenorganisation, die den Anwendungsbereich des BDSG eröffnet, nicht entstammen. Zumindest eine derartige Hinweispflicht ist nämlich zu fordern, weil sonst die Begrenzungsfunktion des § 27 BDSG unterlaufen würde. 6
Dazu unten unter C.2.
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Diesem (Hilfs)Argument der Verteidigung hat die Generalstaatsanwaltschaft Berlin im noch pendenten Rechtsbeschwerdeverfahren entgegengehalten, nach den Urteilsgründen erscheine es nahe liegend, dass die personenbezogenen Daten des Zeugen (Petenten) bei den Briefadressaten (das war nicht der betroffene Rechtsanwalt), wenn nicht unter Einsatz von Datenverarbeitungsanlagen, so doch jedenfalls in strukturierten Akten und damit nicht-automatisierten Dateien im Sinne der §§ 27 Abs. 1 und 2, 3 Abs. 2 Satz 1 BDSG verarbeitet bzw. nachfolgend durch Aufnahme in die Strafakten oder die Handakten des Betroffenen in solchen genutzt wurden. Eines darüber hinausgehenden sicheren Nachweises einer Datenverarbeitung im Sinne von § 27 BDSG bedürfe es von Seiten der Aufsichtsbehörde nicht. Eine am Gesetzestext orientierte Auslegung des § 38 Abs. 3 Satz 1 BDSG ergebe vielmehr, dass die Auskunftspflicht nicht-öffentlicher Stellen beim Vorliegen hinreichender Anhaltspunkte für eine Rechtsverletzung auch solche Angaben umfasse, die – wie etwa die Herkunft der Daten und deren Organisation – erst die Beurteilung durch die Aufsichtsbehörde ermöglicht, ob überhaupt eine dateimäßige Verarbeitung oder Nutzung vorliegt und damit das BDSG Anwendung findet.7 Selbst die Anwendung eines auf die sogenannten strukturierten Akten erweiterten Dateibegriffs 8 führt aber nicht zur Auskunftspflicht des Betroffenen. Denn die Aktenstruktur, die mögliche Befugnisse des Datenschutzbeauftragten auslösen könnte, muss sich dann gerade (auch) auf diese Daten beziehen, die Anlass des Auskunftsbegehrens sind. Mit anderen Worten: Finden sich in einer Akte, die in einer nach Namen der Mandanten strukturierten Ordnung einsortiert ist (wie es in einer Anwaltskanzlei die Regel ist), einen Dritten (Zeugen) betreffende Daten, so sind diese Daten nicht Bestandteile von daraufhin strukturierten Akten. Hierauf kommt es aber an. Denn erst durch Integration der personenbezogenen Daten des Zeugen in eine Aktensystematik werden diejenigen Gefahren heraufbeschworen, deren Abwehr bzw. Regulierung die Vorschriften des Datenschutzgesetzes dienen, nämlich die erleichterte Auffindbarkeit und – insbesondere – Verknüpfung mit anderen Daten, die die Herstellung von Persönlichkeitsprofilen und dadurch die Verletzung von Persönlichkeitsrechten ermöglichen würde. Dass sich personenbezogene Daten irgendwo in strukturierten Akten, jedoch außerhalb von
7 Unter Verweis auf OLG Celle NJW 1995, 3265 (3266), dessen Entscheidungsgründe hier allerdings nicht einschlägig sind. Denn in dem vom OLG entschiedenen Fall bestand kein Zweifel daran, dass es sich bei der streitbefangenen Unterlage um eine Datei handelte. Fraglich war lediglich deren Verwendung für eigene gewerbliche Zwecke. 8 Nach der EG-Datenschutzrichtlinie (vgl. Fn. 1) setzt eine Datei nicht mehr als ein einziges Merkmal voraus, mit dessen Hilfe die Daten geordnet und gefunden werden können (vgl. Simitis-Simitis BDSG, 6. Aufl., § 1 Anm. 73 mwN). Auch sog. strukturierte Akten fallen daher unter den Dateibegriff (Simitis aaO).
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deren Systematik befinden, unterstellt sie nicht dem Schutz datenschutzrechtlicher Bestimmungen. Das ist auch nicht notwendig, denn sie sind in solchen Fällen so leicht (oder so schwer) auffindbar und verknüpfbar, als wenn sie sich an beliebiger Stelle befänden. Allein die mögliche Herkunft aus strukturierten Akten bei den Briefempfängern reichte nicht aus, solange die Daten nicht „offensichtlich aus einer automatisierten Verarbeitung entnommen worden sind“ (vgl. § 27 Abs. 2 BDSG). Hierfür fehlte es aber an jeglichen Anhaltspunkten, damit an Auskunftsbefugnissen der Aufsichtsbehörde. Das gibt mir Anlass zu folgender Marginalie: Auch bei unterstellter Auskunftspflicht des Verteidigers gegenüber der Aufsichtsbehörde i.S.d. § 38 BDSG können Auskünfte über die Herkunft von personenbezogenen Daten, die z.B. vom Verteidiger befragte Zeugen betreffen, nur dann verlangt werden, wenn der Verteidiger eine auf die Person des Zeugen hin strukturierte (automatisierte oder nicht-automatiserte) Datei angelegt hat. In umfangreichen Strafverfahren oder in solchen, in denen z.B. ein Kronzeuge den Angeklagten belastet, hat die Verteidigung allerdings häufig Anlass zu systematischen Recherchen zum Aussageverhalten des Zeugen, ggf. in unterschiedlichen Verfahren, zu seinen biographischen Hintergründen, seinem Leumund etc. Es bietet sich an, die Ergebnisse solcher Recherchen geordnet abzulegen. Und schon entsteht eine Datei – und wir sind wieder bei der grundsätzlichen Problematik. Soll der Kronzeuge das Recht haben, den Datenschutzbeauftragten zu bemühen, damit dieser Auskunft über die Herkunft von Informationen verlangt, die der Verteidiger vorgehalten hat (§ 38 Abs. 3 BDSG)? Soll der Datenschutzbeauftragte dazu die Kanzleiräume des Verteidigers betreten und die über den Kronzeugen angelegten Dateien einsehen dürfen (§ 38 Abs. 4 BDSG)? Das darf nicht sein. 2. Ob und inwieweit man das BDSG im Verhältnis zur BRAO wegen § 1 Abs. 3 Satz 1 BDSG für subsidiär halten kann, soll hier nicht vertieft werden. Die das vertreten, sehen in den §§ 203 Abs. 1 Nr. 3 StGB, 43a Abs. 2 BRAO in Verbindung mit den Regelungen über das Aufsichtsverfahren der Rechtsanwaltskammern und die Auskunfts- und Rügerechte des Kammervorstandes in §§ 56 Abs. 1, 73 Abs. 2 Nr. 4, 74 BRAO eine bereichsspezifische Sonderregelung.9 Die konkrete Anwendbarkeit des § 38 Abs. 3 BDSG auf Sachverhalte, die dem Berufgeheimnis der Anwälte unterliegen, lässt sich zudem mit dem systematischen Argument verneinen,10 das BDSG lasse bestehende 9 So Abel in: Roßnagel (Hrsg.) Handbuch Datenschutzrecht, München 2003, 7.11 Rn 38; Rüpke Freie Advokatur, anwaltliche Informationsverarbeitung und Datenschutzrecht, München 1995, S. 38 ff; ders. AnwBl. 2003, 19 (21 f) = RDV 2003, 72 (75). 10 Rüpke AnwBl. 2003, 19 (21) = RDV 2003, 72 (75).
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Schweigepflichten generell unberührt (§ 1 Abs. 3 Satz 2 BDSG). Bei der Kontrolle öffentlicher Stellen erstreckt sich zwar kraft ausdrücklicher Anordnung in § 24 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BDSG die Datenschutzkontrolle auch auf einem Berufgeheimnis unterfallende Sachverhalte. Eine Verweisung auf diese Vorschrift findet sich jedoch in § 38 BDSG, der die Datenschutzkontrolle bei nicht-öffentlichen Stellen betrifft, nur in § 38 Abs. 4 Satz 3 BDSG i.V.m. § 24 Abs. 6 BDSG. In § 38 Abs. 3 BDSG, der die Auskunftspflichten regelt, ist ein solcher Verweis hingegen nicht zu finden. Daraus kann man nun folgern, dass § 24 Abs. 2 Nr. 2 BDSG nur für das in § 38 Abs. 4 BDSG konstituierte behördliche Nachschaurecht gilt. Eine Nachschau in den Geschäftsräumen eines Anwalts ist aber aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht zulässig. Dass § 38 Abs. 4 BDSG nur ein behördliches Nachschaurecht, jedoch kein Recht auf Wohnungsdurchsuchung enthält, folgt auch daraus, dass der Gesetzgeber Art. 13 GG nicht mehr – wie noch bis Ende der 1980er Jahre im alten BDSG – als eingeschränkt zitiert. Nur die behördliche Nachschau aber unterfällt nicht dem Zitiergebot, da sie deutlich weniger eingriffsintensiv ist als eine Durchsuchung. Eine behördliche Nachschau ist nur in reinen Geschäfts- und Betriebsräumen zulässig, zu denen die Räume einer Anwaltskanzlei aufgrund der Sensibilität der dort abgelegten Daten, des besonderen, schutzbedürftigen Vertrauensverhältnisses zwischen Anwalt und Mandant und der nicht generellen Öffnung für den Publikumsverkehr nicht zählen.11 Rüpke leitet seine Bedenken gegen die Anwendbarkeit der materiell-rechtlichen Kernbestimmungen des BDSG und besonders der Kontrollbefugnisse aus § 38 BDSG auf den Anwalt unter anderem aus dem „besonderen Schutz“ anwaltlicher Kommunikation durch Art. 5 GG ab.12 Andere anwaltliche Stimmen äußern sich etwas zurückhaltender: Zuck meint, die Gerichte oder der Gesetzgeber müssten klären, ob und in welchem Umfang das BDSG gegenüber dem anwaltlichen Berufsrecht subsidiär ist.13 Für die Zwischenzeit rät er zu einer pragmatischen Lösung. Bis zur verbindlichen Klärung solle jedenfalls von der beschränkten Anwendbarkeit des BDSG ausgegangen werden.14 Eylmann 15 hält die Kontrollbefugnisse des Datenschutzbeauftragten gemäß § 24 Abs. 2 Nr. 1 BDSG sowie die Betretungs-, Prüfungs-, Besich-
11 Näher Zuck in: Abel (Hrsg.) Datenschutz in Anwaltschaft, Notariat und Justiz, München 2003, § 2 Rn 52 ff; Rüpke Freie Advokatur, anwaltliche Informationsverarbeitung und Datenschutzrecht, München 1995, S. 46 ff. 12 Rüpke AnwBl. 2003, 19 ff (20 f); Simitis-Simitis BDSG, 6. Aufl., § 1 Fn. 425 hält das „für dogmatisch nur schwer nachvollziehbar“. Daneben bezieht sich Rüpke auch auf Art. 12 GG und für den Mandanten zusätzlich auf Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. 13 Zuck in: Datenschutz in Anwaltschaft, Notariat und Justiz, S. 28. 14 Ähnlich Redeker FPR 1998, 294 ff (296). 15 Henssler/Prütting-Eylmann BRAO, 2004, § 43a Rn 89.
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tigungs- und Einsichtsrechte der Aufsichtsbehörden gemäß § 38 Abs. 4 Satz 3 BDSG, die sich auch auf personenbezogene Daten erstrecken, die einem Berufsgeheimnis unterliegen, für „problematisch“. In der datenschutzrechtlichen Literatur wird die Anwendbarkeit des BDSG auf Anwälte vertreten.16 Das Amtsgericht stützt seine Position, dass die BRAO bereichsspezifische Sonderregelung im Sinne des § 1 Abs. 3 Satz 1 BDSG sei, verfassungsrechtlich auf Art. 12 GG mit dem Argument, dass die Berufsausübung des Strafverteidigers unmöglich würde, wenn sein Mandant befürchten müsste, dass dem Verteidiger anvertrauten Informationen Dritten, insbesondere staatlichen Stellen, ohne Zustimmung des Mandanten offenbart würden. Dass sich dieses Problem gerade im Strafprozess besonders zugespitzt stellt, hat das Amtsgericht in seiner Entscheidung erkannt und mit Recht herausgestrichen. Es postuliert für den Rechtsanwalt daher die Möglichkeit, einem Auskunftsverlangen der Aufsichtsbehörde unter Berufung auf § 38 Abs. 3 Satz 2 BDSG entgegenzutreten, wonach es dem Auskunftspflichtigen gestattet ist, die Auskunft auf solche Fragen zu verweigern, deren Beantwortung ihn der Gefahr der Verfolgung wegen einer Straftat (hier: § 203 StGB) oder Ordnungswidrigkeit aussetzen würde. Ob dieses Recht auch da besteht, wo nicht die Gefahr der Decouvrierung einer bereits begangenen 17 sondern die des Begehens einer Straftat im Raume steht, soll hier nicht vertieft werden. Eine Strafbarkeit nach § 203 StGB ergäbe sich ohnehin nur dann, wenn man § 24 Abs. 2 BDSG (über §§ 38 Abs. 4 Satz 3, 24 Abs. 6 BDSG) nicht auf das Verhältnis zwischen Aufsichtsbehörde und Anwalt anwenden möchte aus den Gründen, die das Amtsgericht ansonsten zur Annahme der Subsidiarität des § 38 BDSG bewogen haben. Dann besteht aber auch keine Auskunftspflicht Das Argument mutet daher ein wenig zirkulär an. Das ändert aber nichts am richtigen Ergebnis. 3. So sehr die Entscheidung des Amtsgerichts im Ergebnis und in weiten Teilen ihrer Begründung überzeugt, ist doch das dogmatische Fundament, auf dem sie aufbaut, wegen der lückenhaften Regulierung der in der betroffenen Problematik widerstreitenden (Grund)Rechte recht dünn. Der Zustand ist unbefriedigend und drängt nach Eingreifen des Gesetzgebers (dazu noch unten unter D.).
16 Vgl. Simitis-Walz BDSG, 6. Aufl., § 1 Fn. 425, Simitis-Simitis aaO § 27 Rn 52, SimitisPetri aaO Rn 20. 17 Zum Normzweck der – strafprozessualen – Vorschrift über die Auskunftsverweigerung (§ 55 StPO) vgl. KK-Senge StPO, 5. Aufl., § 55 Rn 1.
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Der hohe Rang des informationellen Selbstbestimmungsrechts macht verfahrens- und organisationsrechtliche Schutzvorkehrungen auch im sog. „nicht-öffentlichen Bereich“ erforderlich.18 Dazu gehört auch eine wirksame Aufsicht, die überdies schon im Vorfeld möglicher Verletzungen des informellen Selbstbestimmungsrechts anzusetzen hat.19 Dem gegenüber steht die gleichfalls verfassungsrechtlich verankerte Verschwiegenheitsverpflichtung des Strafverteidigers, die sich nicht nur auf Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (beim Beschuldigten) 20 und Art. 5 und Art. 12 GG (beim Verteidiger) sondern auch auf das Rechtsstaatsprinzip aus Art. 19 Abs. 4 GG zurückführen lässt, weil eine vernünftige und zweckentsprechende Rechtsverfolgung ohne die Möglichkeit vertrauensvoller Erörterung mit einem schweigepflichtigen Rechtsbeistand nicht denkbar ist. Zum Ausgleich dieses Konfliktes sind die Aufsichtsregelungen in § 38 BDSG – da zu weitgehend – so wenig geeignet wie diejenigen in § 56 Abs. 1 BRAO, da zu weitmaschig – und weil sie eine kompetente Aufsicht durch datenschutzrechtlich und datenverarbeitungstechnisch kompetentes Personal nicht gewährleisten. Mit einer bloßen Bestimmung der Vorstände der Rechtsanwaltskammern zu Kontrollstellen im Sinne des § 38 BDSG durch das Landesrecht – die nach dem Gesetz möglich ist 21 – wäre auch nichts gewonnen. Denn die Kammervorstände erhielten damit Befugnisse gegenüber den einzelnen Kammermitgliedern, die auch in Ansehung ihrer Staatsferne zu weitreichend wären. Art. 28 Abs. 1 der EU-Datenschutzrichtlinie verlangt überdies, dass die Mitgliedstaaten öffentliche Stellen zur Kontrolle der Einhaltung datenschutzrechtlicher Vorschriften einsetzen. Daraus lässt sich aber nicht nur die Notwendigkeit effektiver Kontrolle ableiten. Art. 28 Abs. 1 Satz 2 konstituiert auch statusrechtliche Anforderungen an diese Stelle. Sie müssen ihre Aufgaben in „völliger Unabhängigkeit“ wahrnehmen. Die von den Ländern eingesetzten Aufsichtsbehörden im Sinne des § 38 BDSG werden dem, wie dargelegt, überwiegend nicht gerecht. In der datenschutzrechtlichen Literatur 22 wird dagegen bestritten, dass die geforderte Unabhängigkeit bei den Vorständen der Rechtsanwaltskammern gewährleistet sei, denn hier bestünde eine Abhängigkeit der Kontrollierenden von den Kontrollierten. Der Vorstand werde schließlich von der Mitglieder-
18 Simitis-Petri BDSG, 6. Aufl., § 38 Rn 2 unter Verw. auf BVerfGE 49, 89 (142), 53, 30 (61) und 65, 1 (46) sowie BVerfG(K) NJW 1991, 2411 und BVerfG(K) NJW 2002, 2164 f. 19 Simitis-Petri aaO, Rn 3. 20 Ich spreche hier nicht vom „Mandanten“, weil sich die Schweigepflicht des Verteidigers auch auf das bezieht, was ihm der Beschuldigte anvertraut, dem er als Pflichtverteidiger beigeordnet ist. Die Beiordnung führt aber zu keinem Mandatsverhältnis. 21 Dieser Weg wurde auch bisher von keinem Bundesland eingeschlagen; vgl. Rüpke AnwBl. 2003, 19 f. 22 Z.B. bei Simitis-Petri BDSG, 6. Aufl., § 38 Rn 5.
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versammlung der Rechtsanwaltskammer gewählt. Der Einwand überzeugt nicht. Denn der Vorstand der Rechtsanwaltskammer unterliegt keinen Weisungen der Kammerversammlung. Wird ihm die Entlastung versagt, hat das keine rechtlichen Folgen, kann lediglich Maßnahmen der staatlichen Rechtsaufsicht auslösen.23 Der Vorstand ist auch den Kammermitgliedern gegenüber zur Verschwiegenheit verpflichtet (§ 76 BRAO). Die Mitglieder des Vorstandes sind ehrenamtlich tätig – und daher von ihrem Amt auch wirtschaftlich unabhängig.
D. Wege aus dem Dilemma? 1. Die Bundesrechtsanwaltskammer hat im Laufe der 90er Jahre, zuletzt in Abstimmung mit dem Informations- und dem Berufsrechtsausschuss des DAV den Entwurf eines § 50a BRAO entwickelt, der für die hier interessierende Problematik folgende Regelungen vorsieht: „(1) Der Vorstand der Rechtsanwaltskammer überprüft im Einzelfall die Verarbeitung oder Nutzung personenbezogener Daten in oder aus Dateien durch den Rechtsanwalt, wenn hinreichender Missbrauchsverdacht besteht. Missbrauch liegt insbesondere dann vor, wenn die Daten mit dem Ziel einer schweren Persönlichkeitsverletzung oder für gewerbliche oder sonstige außerhalb des anwaltlichen Aufgabenbereichs liegende Zwecke verwendet werden. […] (4) Der Vorstand ist berechtigt, die Räume der Anwaltskanzlei während der Bürozeiten zu betreten, um dort Besichtigungen und Prüfungen vorzunehmen. Er soll dies dem Rechtsanwalt rechtzeitig zuvor ankündigen. (5) Bei dringendem Missbrauchsverdacht umfasst die in Abs. 4 Satz 1 bezeichnete Berechtigung das Recht der Einsichtnahme in gespeicherte personenbezogene Daten. Die Maßnahme bedarf der Anordnung durch das Anwaltsgericht, bei Gefahr im Verzuge durch den Vorsitzenden der zuständigen Kammer. Abs. 4 Satz 2 findet keine Anwendung. […] (7) Art. 13 GG wird durch Abs. 4 und 5 eingeschränkt.“ 24 Die ausgelassenen Absätze der Vorschrift befassen sich mit Prüfungsbefugnissen und anwaltlichen Pflichten in Bezug auf die Datensicherheit.25 Der Vorschlag begrenzt Eingriffe auf das Notwendigste, nämlich auf Fälle des im Regelungsentwurf näher umschriebenen Missbrauchs. Dadurch wird dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung und dem allgemeinen Per23 24 25
Rüpke AnwBl. 2003, 23. Zit.n. Rüpke AnwBl. 2003, 19 ff (25). Zu § 50a Abs. 8 BRAO-Entwurf vgl. Rüpke aaO, Fn. 87.
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sönlichkeitsrecht des Mandanten aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG sowie dem Recht des Anwalts auf freie Berufsausübung aus Art. 12 Abs. 1 GG und auf negative Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG 26 in größtmöglichem Umfang Rechnung getragen. Der Begriff des Missbrauchs wird durch Regelbeispiele in § 50a Abs. 1 eingrenzend umschrieben: Die schwere Persönlichkeitsverletzung muss Ziel, nicht bloß unbeabsichtigter Nebeneffekt der Datenverwendung sein. Es dürfte Absicht im Sinne zielgerichteten Wollens erforderlich sein. Es muss dem betroffenen Strafverteidiger um die Persönlichkeitsverletzung gehen, sie darf – z.B. im Bemühen um die Erschütterung der Glaubwürdigkeit eines Zeugen oder Mitbeschuldigten – nicht lediglich möglicher Nebeneffekt sein. Zudem muss die beabsichtigte Persönlichkeitsverletzung schwer sein. Bei Daten, die wahre Tatsachen beinhalten, wird es sich, soll eine schwere Persönlichkeitsverletzung mit ihnen (dennoch) intendiert sein, um solche aus dem unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung, d.h. mit Menschenwürdebezug, handeln müssen. Ich verkenne nicht, dass der Missbrauchsbegriff gerade für Strafverteidiger angesichts einer zeitweise recht polemisch geführten Debatte über sog. Konfliktverteidigung,27 jüngst wieder aufgeflammt durch das Urteil des 3. Strafsenats vom 11. August 2006,28 einen unguten Beigeschmack hat. Soweit der Entwurf bei „dringendem Mißbrauchsverdacht“ Einsichtsrechte auch in personenbezogene Akten des Anwalts für zulässig erklärt (und auch nur dann!), schafft er allerdings durch die Anordnungskompetenz des Anwaltsgerichts 29 verfahrensrechtliche Schutzvorkehrungen, die diese Bedenken aufwiegen. 2. Der Entwurf weist jedoch auch problematische Elemente auf: a. Aus der Sicht eines Strafverteidigers erstaunt die Verwendung des Begriffs des hinreichenden Missbrauchsverdachts in § 50a Abs. 1 BRAO-E. Terminologisch drängt sich eine Parallele zum hinreichenden Tatverdacht i.S.d. § 203 StPO auf. Ein solcher liegt vor, wenn bei der derzeitigen Bewertung der Tat 26 Wie ein Journalist darf auch der Anwalt im (Meinungs-)Kampf ums Recht nicht gezwungen werden, seine Informationsquellen als Grundlagen seiner Meinungsbildung einer staatlichen Behörde aufzudecken. Näher Rüpke Freie Advokatur, anwaltliche Informationsverarbeitung und Datenschutzrecht, München 1995, S. 136 ff. 27 Vgl. dazu Grüner, Über den Mißbrauch von Mitwirkungsrechten und die Mitwirkungspflichten des Verteidigers im Strafprozeß, Berlin 2000. 28 BGH StV 2006, 627. 29 Bzw. die Eilkompetenz des Vorsitzenden der zuständigen Kammer.
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eine Verurteilung wahrscheinlich erscheint.30 Über das Vorliegen hinreichenden Tatverdachts ist bei der Entscheidung über die Anklagerhebung gem. § 170 Abs. 1 StPO und bei der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens gem. § 203 StPO zu befinden. In seiner üblichen Verwendung bezieht sich der hinreichende Verdacht also auf das Ende eines bestimmten Verfahrensabschnittes und die dann aufgrund der bisherigen Ermittlungsergebnisse zu treffende Entscheidung. Mit der Formulierung soll wohl ein gesteigerter Anfangsverdacht umschrieben werden. Müsste schon vor der Kontrolle nach § 50a BRAO Abs. 1 hinreichender Missbrauchsverdacht bestehen, erweckte dies den irreführenden Eindruck, schon vor Einleitung der Maßnahme müsste aufgrund der bisherigen Beweisergebnisse ein Missbrauch i.S.d. § 50a Abs. 1 BRAO-E mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen sein. Wenn man den Maßstab der §§ 170 Abs. 1, 203 StPO anlegt, könnte dann die ermittelnde Generalstaatsanwaltschaft auch gleich eine Anschuldigungsschrift einreichen und das Anwaltsgericht das Hauptverfahren eröffnen. Durch seinen Bezug auf verfahrensabschnittsbeendende Maßnahmen ist der Begriff des hinreichenden Verdachts auch keineswegs immer, sondern nur zum Zeitpunkt der Anklagerhebung bzw. Eröffnung des Hauptverfahrens selbst ein geringerer Verdachtsgrad als der dringende Verdacht. Es empfiehlt sich daher, in § 50a I des Entwurfs von konkretem Missbrauchsverdacht zu sprechen. b. Andererseits stellt sich die Frage, ob der Entwurf in seinen Bemühungen um eine möglichst restriktive Ausgestaltung der inhaltlichen Datenschutzkontrolle in Anwaltskanzleien nicht ein wenig über das Ziel hinausgeschossen ist. Dieser Einwand betrifft insbesondere die Beschränkung der Kontrollbefugnisse auf Fälle, in denen ein zumindest „hinreichender“ bzw. (nach meinem Formulierungsvorschlag) konkreter Missbrauchsverdacht gegeben ist. Schon auf verfassungsrechtlicher Ebene ist fraglich, ob die Regelung auch die Grundrechte Dritter, deren Schutz durch die Kontrolle gewährleistet werden soll, oder auch von Mandanten, die selbst Opfer des Datenmissbrauchs durch den Verteidiger gewordenen sein könnten, zur bestmöglichen Entfaltung bringt. Auch insofern sind gewichtige Rechtspositionen zu berücksichtigen: Nicht nur das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung sondern ganz generell das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Opfers eines Datenmissbrauchs aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. 30 KK-Tolksdorf 5. Aufl., § 203 Rn 2; Meyer-Goßner StPO, 45. Aufl., § 170 Rn 1; beide mwN.
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Fraglich ist auch, ob der Entwurf den Anforderungen der Europäischen Datenschutzrichtlinie genügt. Zwar bestehen – wie ausgeführt – aus meiner Sicht keine Bedenken in Bezug auf die in Art. 28 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie festgeschriebene Regelung der Aufgabenwahrnehmung durch die Kontrollstelle „in völliger Unabhängigkeit“. Die Richtlinie bestimmt jedoch zudem in Art. 28 Abs. 3, erster Spiegelstrich, dass jede Kontrollstelle insbesondere über „Untersuchungsbefugnisse, wie das Recht auf Zugang zu Daten, die Gegenstand von Verarbeitungen sind, und das Recht auf Einholung aller für die Erfüllung ihres Kontrollauftrags erforderlichen Informationen“ verfügen muss. Daraus wird gefolgert, dass die Datenschutzbehörde die Befugnis zu anlassunabhängigen Kontrollen haben muss.31 Die Richtlinie genießt als sekundäres Gemeinschaftsrecht sog. Anwendungsvorrang, was bedeutet: Alle staatlichen Stellen sind verpflichtet, den Vorschriften des Gemeinschaftsrecht in jedem Einzelfall Vorrang einzuräumen.32 Ob die in § 50a BRAO-Entwurf geregelten Kontrollbefugnisse diesem Anspruch genügen, darf bezweifelt werden. 3. Einen Ausweg aus dem Dilemma könnte die Bestellung eines Datenschutzbeauftragten durch die Mitgliederversammlung der Kammer 33 weisen. Denkbar ist auch, dass mehrere Anwaltskammern die gleiche Person zum Datenschutzbeauftragten bestellen. Er müsste umfassende Kontrollbefugnisse, einschließlich der Möglichkeit zu anlassunabhängigen Kontrollen, auch in Bezug auf Daten erhalten, die dem Berufsgeheimnis unterfallen. Diese Kontrollbefugnisse müssten jedoch flankiert werden durch strikte Datenschutzregelungen hinsichtlich der Daten, in die der Beauftragte in Ausübung seiner Tätigkeit Einblick erhält, insbesondere durch die Konstitiuierung einer unbedingten, nach allen Seiten geltenden, individuellen Schweigepflicht. Auch bisher unterliegt zwar z.B. der Berliner Beauftragte für den Datenschutz gem. § 23 BlnDSG einer Verschwiegenheitspflicht. Neuerdings ist auch für fremde Geheimnisse, in die ein Datenschutzbeauftragter Einblick erhält, § 203 Abs. 2a StGB eingefügt worden. Die Schweigepflicht ist jedoch nur nach außen gerichtet. Innerbehördlich können und müssen bei der derzeitigen gesetzlichen Konzeption die vom Datenschutzbeauftragten erhobenen Daten frei mitgeteilt werden (können). Darüber hinaus sind generell „dienstliche Mitteilungen“ (§ 23 Satz 2 BlnDSG) von der Schweigepflicht ausgenommen.
31 Vgl. Dammann/Simitis EU-Datenschutzrichtlinie (Kommentar), 1997, Art. 28 Rn 8; vgl. auch BT-Drs. 14/4329, S. 45, nach Simitis-Petri BDSG, 6. Aufl., § 38 Rn 3 soll es sich dabei auch um ein verfassungsrechtliches Erfordernis handeln. 32 Vgl. Simits-Petri BDSG, 6. Aufl., § 38 Rn 8. 33 Ich danke Herrn Wiss.Ass. Dr. Stefan Harrendorf für diese Anregung, auch für sonstige Unterstützung beim Verfassen dieses Beitrags.
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Ein einzusetzender Datenschutzbeauftragter der Rechtsanwaltskammer(n) müsste dagegen nicht nur gegenüber Dritten zur Verschwiegenheit verpflichtet sein. Soweit er in Ausübung seiner Kontrollbefugnisse Kenntnis von Sachverhalten erlangt, die dem Berufsgeheimnis unterfallen, muss diese Schweigepflicht auch gegenüber den Organen der Rechtsanwaltskammer, also auch gegenüber dem Vorstand und der Mitgliederversammlung, gelten. Eine Durchbrechung darf nur in den Fällen konkreten Missbrauchsverdachts i.S.d. § 50a Abs. 1 BRAO-Entwurf und dann auch nur gegenüber dem Kammervorstand zulässig sein. Sie muss im pflichtgemäßen Ermessen des Beauftragten stehen. In Fällen dringenden Missbrauchsverdachts i.S.d. § 50a Abs. 5 BRAO-Entwurf wird eine Offenbarungspflicht des Datenschutzbeauftragten vertretbar und sinnvoll sein. Durch diese personale Schweigepflicht der jeweils als Datenschutzbeauftragter gewählten Person gegenüber jedermann wird das Vertrauen der Mandanten in die geschützte Beziehung zu ihrem Rechtsanwalt weitestmöglich geschützt. Das Durchsickern von Informationen, die dem Berufsgeheimnis unterliegen, an Dritte oder gar die Öffentlichkeit wird so gut wie ausgeschlossen, da die Verantwortlichkeit für Schweigepflichtsverletzungen nicht mehr aufgrund eines größeren Kreises Eingeweihter verschwimmt. Kommt es zu Indiskretionen, ist die Quelle leicht auszumachen. Der Befürchtung, die im amtsgerichtlichen Urteil anklingt, dass „Anwalt und Mandant die Steuerung und Kontrolle über den […] Informationsumgang“ bei Offenbarung von Informationen gegenüber dem Datenschutzbeauftragten als Aufsichtsbehörde verlieren, wäre auf diese Weise wirksam gegengesteuert. Der einzelne Beauftragte steht ganz persönlich in der Verantwortung und partizipiert damit stärker an dem strafrechtlichen Risiko einer Verurteilung gem. § 203a Abs. 2 a StGB.
E. Schluss Das Amtsgericht hat unter zwei möglichen Entscheidungen, die auf verfassungsrechtliche Bedenken stoßen, die weniger verfassungswidrige, man kann auch sagen: das geringere Übel, gewählt. Ein gewisses Unbehagen angesichts der unbefriedigenden Regelung der Aufsichtsbefugnisse des Kammervorstandes für den hier interessierenden Bereich klingt im Urteil des Amtsgerichts an. Dennoch ist ihm im Ergebnis zuzustimmen. Ich bin gespannt, wie das Kammergericht entscheidet. Es ist mir kaum vorstellbar, dass es zu einem anderen Ergebnis gelangen wird. Wie auch immer: Eine gesetzliche Regelung der datenschutzrechtlichen Aufsicht über Strafverteidiger ist überfällig. Der Streit über die Probleme, die sich hier stellen, darf nicht durch das Anzetteln von Pilotverfahren auf dem Rücken einzelner Verteidiger ausgetragen werden, die ihren Beruf pflichtbewusst und verantwortungsvoll gegenüber ihren Mandanten ausüben.
Zur Vermögensbetreuungspflicht entsandter Aufsichtsratsmitglieder (§ 101 Abs. 2 AktG) gegenüber dem Entsendenden Daniel M. Krause I. Einführung und Sachverhalte Kaum ein Tatbestand hat Rechtsprechung und Literatur in den vergangenen Jahren so intensiv beschäftigt wie § 266 StGB. Die Bemühungen um eine Konturierung der tatbestandlichen Voraussetzungen haben – zumal aufgrund der Verschränkungen mit anderen Rechtsgebieten, insbesondere dem Zivilrecht, dem Haushaltsrecht und dem Bilanzrecht – eine Fülle neuer Problemfelder hervortreten lassen, die den Gegenstand intensiver Diskussionen bilden.1 Nicht selten gingen erste Impulse für solche Diskussionen von der Praxis aus: von einer engagierten Verteidigung, die sich gegen schematische Lösungen bei Einzelfragen des § 266 StGB stellte und für ihre Position Grundsätze fruchtbar zu machen suchte, die in außerstrafrechtlichen Regelungsmaterien bereits entwickelt waren. Zu diesen engagierten Verteidigern, die den „Ausflug“ in teilweise entlegene Rechtsgebiete nie gescheut, sondern vielmehr im Interesse ihrer Mandanten gesucht haben, um ausufernden Tendenzen bei § 266 StGB entgegenzutreten, gehört in vorderster Linie der Jubilar. Deshalb liegt es nahe, ihn mit einem Beitrag zu ehren, der einen solchen Ausflug unternimmt und eine praxis-relevante Thematik anspricht, zu der sich – angesichts der Flut von Beiträgen zu § 266 StGB erstaunlicherweise – noch kein gefestigter (strafrechtlicher) Meinungsstand herausgebildet hat.2 Die Sachverhaltskonstellationen sind schlicht, die Vorwürfe erheblich: A ist Bürgermeister in der Stadt X. Diese ist mehrheitlich an den als Aktiengesellschaft organisierten Stadtwerken der Stadt X (SWX AG) beteiligt. A ist von der Stadt X in Ausübung des satzungsmäßigen Entsendungsrechts in den Aufsichtsrat der SWX AG entsandt worden. Im Zuge der 1
Näher Dierlamm in: Münchener Kommentar, StGB, § 266 Rn 152 ff. So wird beispielsweise in der sonst überaus gründlichen Dissertation von Poseck Die strafrechtliche Haftung der Aufsichtsratsmitglieder einer Aktiengesellschaft, 1997, die Thematik nicht näher angesprochen; entsprechendes gilt für die jüngst erschienene Dissertation von Zech Untreue durch Aufsichtsratsmitglieder einer Aktiengesellschaft, 2007. 2
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(Teil-)Privatisierung der Stadtwerke veräußert die Stadt X an einen privaten Investor einen Teil ihrer Aktien zum Stichtag 31.12.2000 und vereinbart, dass der im Jahr 2000 von der Gesellschaft erwirtschaftete, im Jahr 2001 auszuschüttende Gewinn dem Beteiligungsanteil entsprechend (noch) der Stadt zustehen soll. Im Vorfeld der Feststellung der Bilanz der SWX AG im Frühjahr 2001 kommt es unter Beteiligung des A dazu, dass der Aufsichtsrat bestimmte Bilanzansätze des Vorstandes in der aufgestellten und vom Jahresabschlussprüfer bereits testierten Bilanz für nicht angemessen hält und eine Korrektur der Bilanz verlangt, die zu einer Absenkung des (ausschüttungsfähigen) Gewinns für 2000 führt. Die sodann vom Vorstand geänderte und erneut testierte Bilanz wird vom Aufsichtsrat festgestellt. Der Stadt X fließt infolgedessen ein erheblich niedrigerer Betrag zu als auf der Grundlage des zunächst aufgestellten Jahresabschlusses in Aussicht stand. Ferner: M ist Minister des Landes L und von diesem als Aufsichtsrat in das landeseigene Unternehmen U – eine Bank – entsandt, welches als Aktiengesellschaft organisiert ist. Landesrechtlich ist bestimmt, dass von der Gesellschaft ein Betrag von 10 Mio. Euro – abhängig von der Ertragslage der Gesellschaft – von dieser an das Land ausgeschüttet wird. Dieser Betrag ist unter Vorbehalt als Einnahmeposition in den Landeshaushalt eingestellt, ebenso dessen weitere Verwendung durch das Land als Ausgabetitel. (Mutmaßlich) Zur Erleichterung der „Entscheidungsprozesse“ weist die Landesregierung das Unternehmen im laufenden Jahr an, einen Betrag von 2 Mio. Euro „in Anrechnung auf den zu erwartenden Ausschüttungsbetrag“ einem Kreditnehmer, dessen Sanierung im politischen Interesse der Landesregierung liegt, als Kredit auszureichen, obgleich dessen (weitere) Kreditwürdigkeit fraglich ist. Mit dem Verwendungszweck, der für die Mittel im Haushalt festgelegt ist, hat diese Kreditgewährung nichts zu tun. Über diese Anweisung entscheidet neben dem Vorstand der Gesellschaft auch ein Ausschuss des Aufsichtsrates unter Beteiligung von M. Beide stimmen der Ausführung der Weisung zu. Das Darlehen wird gewährt und notleidend, die Anrechnung auf die Ausschüttung vorgenommen. Dem Land L fließen im Folgejahr nur 8 Mio. Euro zu mit der Folge, dass für die veranschlagten Ausgaben im Haushalt nur ein geringerer Betrag zur Verfügung steht.3 Haben sich A bzw. M zum Nachteil der Stadt X bzw. des Landes L wegen Untreue, möglicherweise in einem besonders schweren Fall (§§ 266 Abs. 2, 3 Vereinfachter Sachverhalt des Beschlusses des Kammergerichts vom 2.6.2005 – 2 AR 176/03, 3 Ws 27/05. Der entschiedene Fall betraf eine verselbständigte Abteilung einer Landesbank.
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263 Abs. 3 StGB), strafbar gemacht, weil infolge ihrer Mitwirkung an einem Beschluss des Aufsichtsrates der Aktiengesellschaft der Stadt X bzw. dem Land L erheblich niedrigere Beträge aus deren Beteiligungen zugeflossen sind? Beide Fallkonstellationen werfen hinsichtlich der Strafbarkeit der Aufsichtsratsmitglieder diverse komplizierte und schwierige Rechtsfragen im Rahmen von § 266 StGB auf. Dies betrifft namentlich die weithin ungeklärte Frage der Pflichtwidrigkeit des Verhaltens von Vorstand und Aufsichtsrat bei der Aufstellung und Feststellung von Jahresabschlüssen, die Problematik der Umgehung des Haushaltsgesetzgebers bei der Veranlassung von Ausgaben durch landeseigene Unternehmen, aber auch die Frage der Vermögensqualität von Erwartungen auf Gewinnzuflüsse vor der Beschlussfassung über die Gewinnverwendung als Voraussetzung einer Nachteilszufügung. In den angesprochenen Fallkonstellationen ist diesen Fragen indes eigen, dass sie nur dann verfahrensentscheidend sind, wenn eine wesentliche Vorfrage beantwortet ist: Kommt den in Aktiengesellschaften entsandten Aufsichtsratsmitgliedern bei ihrer Tätigkeit im Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft überhaupt eine Vermögensbetreuungspflicht gegenüber dem sie Entsendenden zu? 4 Das Kammergericht hat die Frage in einer unveröffentlichten Entscheidung offen gelassen 5 und ihre Antwort liegt keineswegs auf der Hand. Sie lässt sich weder ohne weiteres positiv beantworten, denn die mögliche (und oftmals vorhandene) Divergenz der Interessen der Gesellschaft und der Interessen des Aktionärs verbietet eine umfassende einseitige (und strafbewehrte) Verpflichtung des Aufsichtsratsmitgliedes auf die Interessen seines „Herrn“, des Aktionärs; noch lässt sich die Frage ohne weiteres negativ etwa mit dem Hinweis beantworten, dass die Vertreter der Gesellschaft gegenüber dem Gesellschafter bzw. Aktionär keine Treuepflicht besitzen, sondern nur gegenüber der Gesellschaft selbst.6 Denn es geht um die Frage, ob die betreffenden Aufsichtsräte gerade in ihrer Eigenschaft als Entsandte des Aktionärs diesem gegenüber treupflichtig sind.
4 Der vorliegende Beitrag befasst sich ausschließlich mit dem Bestehen einer Vermögensbetreuungspflicht entsandter Aufsichtsratsmitglieder gegenüber dem Entsendenden im Rahmen der überwachenden Tätigkeit im Aufsichtsrat. Ob für außerhalb der Gesellschaftssphäre liegende Aktivitäten des Aufsichtsrats andere Maßstäbe zu gelten haben, wird durch den vorliegenden Beitrag nicht erörtert. Der Beitrag betrifft überdies nicht die „umgekehrte“ Frage, inwieweit sich entsandte Aufsichtsratsmitglieder gegenüber der Gesellschaft einer Untreue strafbar machen können, wenn sie gegen die Interessen der Gesellschaft gerichtete Weisungen des Entsendenden im Rahmen ihrer Aufsichtsratstätigkeit befolgen, dazu jetzt in Bezug auf kommunale Unternehmen Geerds FS Otto, 2007, S. 561 ff. 5 KG Beschluss vom 2.6.2005 – 2 AR 176/03; 3 Ws 27/05 – Rn 23. 6 RGSt 71, 344; BGH NJW 1975, 1234; 1988, 2483; 1991, 990; StV 1995, 303.
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II. Die Vermögensbetreuungspflicht (§ 266 StGB) von Aufsichtsratsmitgliedern einer Aktiengesellschaft Nach ständiger Rechtsprechung kennzeichnet die Vermögensbetreuungspflicht eine besondere Qualifiziertheit. Notwendig ist ein Verhältnis, das seinem Inhalt nach wesentlich durch die Besorgung fremder Vermögensangelegenheiten bestimmt wird.7 Untreue ist die Schädigung fremden Vermögens von innen heraus in Ausübung einer Herrschaftsmacht, die die Einwirkung auf das fremde Vermögen eröffnet.8 Maßgeblich für die Bestimmung der Vermögensbetreuungspflicht sind Inhalt und Umfang der sog. Treuabrede, wie sie sich aus dem zugrunde liegenden rechtlichen Verhältnis, den getroffenen Vereinbarungen und deren Auslegung ergibt.9 Schon früh hat der BGH für die Mitglieder des Aufsichtsrats von juristischen Personen entschieden, dass sich deren Vermögensbetreuungspflicht nach Inhalt und Umfang aus ihrer Stellung von selbst ergibt, namentlich aus ihrer Zugehörigkeit zu einem bestimmten Personenkreis, dem nach den Vorschriften des Gesellschaftsrechts das Gesellschaftsvermögen anvertraut ist.10 Dabei hat der BGH insbesondere hervorgehoben, dass sich die Vermögensbetreuungspflicht der Aufsichtsratsmitglieder gerade aus der Unabhängigkeit und Selbständigkeit ergibt, mit der die Mitglieder des Aufsichtsrates ihre Aufgaben der Überwachung wahrzunehmen haben.11 Diese Rechtsprechung hat der BGH in jüngerer Zeit in seiner sog. Sponsoring-Entscheidung bestätigt und darauf hingewiesen, dass sich die für § 266 StGB maßgebliche Pflichtenstellung eines Aufsichtsrates aus den gesellschaftsrechtlichen Vorgaben ableite, in dem dort entschiedenen Fall einer im Alleineigentum eines Landes stehenden Aktiengesellschaft aus §§ 111 Abs. 1, 116 und 93 AktG, wonach die (Überwachungs)Pflichten der Aufsichtsräte sinngemäß denen der Vorstandsmitglieder (§ 93 AktG) entsprächen.12 Hiernach besteht der eigentliche Aufgabenbereich und die (für die Vermögensbetreuungspflicht maßgebliche) Hauptpflicht des Aufsichtsrats gemäß § 111 Abs. 1 AktG darin, die Geschäftsführung zu überwachen. Grundsätzlich wird danach vom Aufsichtsrat verlangt (und ist Inhalt der strafbewehrten Vermögensbetreuungspflicht), ein zum Nachteil der Gesellschaft fehlerhaftes oder schädigendes Verhalten des Vorstands
7
Statt aller vgl. Lenckner/Perron in: Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl., § 266 Rn 23
m.N. 8
Schünemann in: Leipziger Kommentar, § 266 Rn 61. St.Rspr., vgl. nur BGHR StGB § 266 Abs. 1 Vermögensbetreuungspflicht 33. 10 BGHSt 9, 203, 217. 11 BGHSt 9, 203, 218, ferner BGH wistra 1999, 418; OLG Hamm NStZ 1986, 119, ferner Poseck (Fn 2) S. 76 ff; Zech (Fn 2) S. 51 ff. 12 BGHSt 47, 187, 200 f. 9
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abzuwenden. Entsprechendes hat der BGH auch in seiner sog. MannesmannEntscheidung hervorgehoben.13 Diese Verpflichtung bezieht sich nicht nur auf abgeschlossene Geschäftsvorgänge, sondern auch auf laufende Geschäfte und Maßnahmen.14 Auch die einhellige Ansicht in der strafrechtlichen Literatur leitet Inhalt und Umfang der Vermögensbetreuungspflicht von Aufsichtsratsmitgliedern aus den jeweils einschlägigen gesellschaftsrechtlichen Vorschriften ab und betont die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Überwachungsaufgaben im Hinblick auf das anvertraute Gesellschaftsvermögen als Grundlage der Vermögensbetreuungspflicht.15 Strafgerichtliche Rechtsprechung und Literatur sind sich darüber hinaus auch darin einig, dass im Falle möglicher Interessenkonflikte in der Person eines Aufsichtsrates in dem unmittelbaren Bereich seiner überwachenden Tätigkeit eine alleinige und ausschließliche Bindung an die Interessen der Gesellschaft besteht, namentlich bei Abstimmungsvorgängen im Aufsichtsrat.16 Dem entspricht auch die ganz herrschende Ansicht im Gesellschaftsrecht.17 Soweit in Rechtsprechung und Literatur Lockerungen der strikten und ausschließlichen Bindung an die Interessen der Gesellschaft thematisiert worden sind, sind solche Lockerungen ausschließlich für Tätigkeiten des Aufsichtsrates außerhalb der Geschäftssphäre der Gesellschaft erwogen worden, da die Tätigkeit als Aufsichtsrat regelmäßig eine Nebentätigkeit darstellt und infolgedessen dem Aufsichtsrat außerhalb der Gesellschaftssphäre die Verfolgung (auch) anderer Interessen nicht untersagt sein kann.18 Für den Kernbereich der Aufsichtsratstätigkeit – namentlich Abstimmungen im Aufsichtsrat – werden derartige Lockerungen und die Berücksichtigung anderer Interessen als der der Gesellschaft indes strikt abgelehnt.19
13 BGHSt 50, 331 ff unter Hinweis auf BGHZ 135, 244, 253; Hüffer AktG § 84 Rn 9; § 93 Rn 4, 5; § 116 Rn 4. 14 BGH 47, 187, 200 unter Hinweis auf Henze Aktienrecht, 4. Aufl., § 111 Rn 620. 15 Schünemann in: Leipziger Kommentar, § 266 Rn 126 m.N.; Tiedemann FS Tröndle, S. 319, 323; Schmid in: Müller-Gugenberger/Bieneck, Wirtschaftsstrafrecht, 4. Aufl., § 31 Rn 95; vgl. auch Lenckner/Perron in: Schönke/Schröder, StGB, 27. Aufl., § 266 Rn 35a. 16 Tiedemann FS Tröndle, S. 319, 323. 17 Vgl. nur Ulmer NJW 1980, 1603; Lutter Information und Vertraulichkeit im Aufsichtsrat, 2. Aufl. 1984, S. 215. 18 BGHSt 47, 187, 201: strikte Bindung an Gesellschaftsinteressen bei Aufsichtstätigkeit; ggf. gelockerte Bindung des Aufsichtsrats bei einer Betätigung außerhalb der Geschäftssphäre der Gesellschaft, insoweit aber offengelassen. 19 Vgl. Hüffer AktG § 116 Rn 1; Fleck FS Heinsius, S. 89, 90; Tiedemann aaO (Fn 15); Ulmer (Fn 17).
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III. Entsandte Aufsichtsratsmitglieder (§ 101 Abs. 2 AktG) Die 1937 in das Aktiengesetz (damals § 88) aufgenommene Regelung zur Entsendung von Aufsichtsratsmitgliedern sollte insbesondere öffentlichen Körperschaften eine Handhabe bieten, ohne eigenständige schuldrechtliche Vereinbarungen auf die Besetzung des Aufsichtsrates einer Gesellschaft Einfluss nehmen zu können.20 Das mittlerweile in § 101 Abs. 2 AktG geregelte Entsendungsrecht ermöglicht es, im Wege der Satzung für bestimmte Aktionäre oder den Inhaber bestimmter Aktien das Recht zu begründen, Mitglieder in den Aufsichtsrat zu entsenden. Entsendungsrechte können insgesamt höchstens für ein Drittel der jeweiligen Anzahl der Aufsichtsratsmitglieder eingeräumt werden. Das Entsendungsrecht ist bis heute – über den Bereich der öffentlichen Unternehmen hinaus beispielsweise im Bereich von Familienunternehmen, aber auch bei Gesellschaften einer private-public-partnership – von erheblicher praktischer Bedeutung. Teilweise ist die öffentliche Hand sogar gesetzlich verpflichtet, ein Entsendungsrecht in den Satzungen öffentlicher Unternehmen zu verankern und von dem Entsendungsrecht Gebrauch zu machen, um den Einfluss auf die Gesellschaft zu sichern (z.B. § 111 Abs. 3 Satz 1 GONds.). Das Entsendungsrecht ist ein echtes Sonderrecht des bestimmten Aktionärs, es ist nicht übertragbar.21 Macht der Aktionär von diesem keinen Gebrauch, bleibt der Sitz im Aufsichtsrat unbesetzt.22 Für die Ausübung des Entsendungsrechtes bedarf es einer einseitigen Erklärung des Berechtigten gegenüber der Gesellschaft, vertreten durch den Vorstand; hinzutreten muss die Annahme der Entsendung durch den Entsandten.23 Das Rechtsverhältnis zwischen dem Entsandten und der Gesellschaft ist ein sog. korporationsrechtliches Rechtsverhältnis. Insofern gilt nichts anderes als für die durch die Hauptversammlung gewählten Anteilseignervertreter im Aufsichtsrat. Üblicherweise erhalten auch entsandte Aufsichtsratsmitglieder für ihre Tätigkeit nach der jeweiligen Satzung eine Vergütung. Bei der Festsetzung der Vergütung kann weder die Hauptversammlung noch die Satzung zwischen gewählten und entsandten Aufsichtsratsmitgliedern differenzieren.24
20 Hopt/Roth in: Hopt/Wiedemann, Aktiengesetz, § 101 Rn 102 m.N.; näher zur geschichtlichen Entwicklung des Entsendungsrechts bei kommunalen Unternehmen Fischer AG 1982, 85 ff. 21 Semler in: Münchener Kommentar AktG, § 101 Rn 76; Mertens in: Kölner Kommentar AktG § 101 Rn 41. 22 Luther FS Hengeler, S. 167 ff. 23 Zu Einzelheiten Hopt/Roth in: Hopt/Wiedemann, AktG, § 101 Rn 138 ff. 24 Hopt/Roth in: Hopt/Wiedemann, AktG § 101 Rn 138 ff; Mertens in: Kölner Kommentar AktG, § 101 Rn 54; a.A. Baumbach/Hueck AktG § 101 Rn 13.
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Im Hinblick auf entsandte Aufsichtsratsmitglieder gilt der Grundsatz gleicher Rechte und Pflichten. Das bedeutet nach einhelliger Ansicht, dass die entsandten Aufsichtsratsmitglieder die gleiche Rechtsstellung haben wie die übrigen Aufsichtsratsmitglieder.25 Dies gilt namentlich in Ansehung ihrer Rechte und Pflichten gegenüber der Gesellschaft. Für sie gelten überdies grundsätzlich auch dieselben persönlichen Voraussetzungen wie für die gewählten Mitglieder. Der einzige Unterschied in der Rechtsstellung der entsandten Aufsichtsratsmitglieder besteht darin, dass sie jederzeit durch den Entsendungsberechtigten abberufen bzw. erleichtert abberufen werden können, wenn die satzungsmäßigen Voraussetzungen des Entsendungsrechtes entfallen (§ 103 Abs. 2 AktG). Zwischen dem Entsendungsberechtigten und dem Entsandten bestehen vielfach vertragliche Beziehungen, regelmäßig ein Auftrag oder – sofern durch den Entsendungsberechtigten eine Vergütung gezahlt wird – ein auf eine Geschäftsbesorgung gerichteter Dienstvertrag. Doch betreffen die sich hieraus ergebenden rechtlichen Wirkungen ausschließlich das Innenverhältnis, nicht aber das Außenverhältnis zur Gesellschaft.26 Ist Entsendender eine öffentliche Körperschaft und der Entsandte Beamter, so fällt seine Tätigkeit im Aufsichtsrat nicht unter das besondere Gewaltverhältnis.27 Das Aufsichtsratsamt ist rechtlich von der Vertragsbeziehung zwischen dem Entsender und dem Entsandten unabhängig. Deshalb bleibt der Fortbestand des Aufsichtsratsamts von einer Beendigung des internen Rechtsverhältnisses unberührt (es kann aber eine Abberufung erfolgen), ebenso kann ein vereinbarter Vergütungsanspruch des Entsandten auch nach Abberufung aus dem Aufsichtsrat fortbestehen (zu Weisungsrecht und Haftung sogleich).
IV. Treupflichten im Verhältnis zwischen Entsendendem und Entsandtem Für die Klärung der Frage, ob dem entsandten Aufsichtsratsmitglied bei seiner Tätigkeit im Aufsichtsrat Treupflichten gegenüber dem Entsendenden obliegen, ist im Ausgangspunkt festzustellen, dass zwischen dem Entsendenden und dem Entsandten regelmäßig eine Rechtsbeziehung besteht, die ihrerseits Treupflichten begründet. Beruht die Wahrnehmung des Aufsichtsratsmandates auf einem Auftragsverhältnis oder auf einem auf Geschäftsbesorgung gerichteten Dienstvertrag, so begründen diese ihrer Art nach Treupflichten gegenüber dem Geschäfts25 Mertens in: Kölner Kommentar, AktG, § 101 Rn 54 f; Hoffmann-Becking in: Münchener Kommentar AktG, § 30 Rn 22; ferner zur Pflichtenstellung BGHZ 36, 296, 306. 26 Hopt/Roth in: Hopt/Wiedemann, AktG, § 101 Rn 155. 27 Konow GmbHR 1971, S. 30 ff.
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herrn im Sinn von § 266 StGB. Denn dem Aufsichtsratsmitglied ist durch den ihm erteilten Auftrag der Sache nach die Wahrnehmung von Vermögensinteressen des Aktionärs übertragen, die in der Wahrnehmung der Kontrollbefugnisse gegenüber dem Vorstand der Gesellschaft bestehen. Für Auftragsverhältnisse ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass diese sich insgesamt als Treueverhältnis im Sinn des § 266 StGB darstellen können, mag auch nicht jede der darin enthaltenen Verpflichtungen im Fall ihrer Verletzung zugleich eine Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht begründen.28 Entsprechendes gilt auch für einen auf Geschäftsbesorgung gerichteten Dienstvertrag.29 Erfolgt die Entsendung in den Aufsichtsrat im Rahmen eines Amtes, beispielsweise als Bürgermeister oder Minister, so liegt auch dem ein Rechtsverhältnis zugrunde, das seiner Art nach Treupflichten des Entsandten gegenüber der entsendenden Körperschaft begründet. Dies ergibt sich regelmäßig aus verfassungsrechtlichen bzw. kommunalverfassungsrechtlichen Vorgaben.30 Diese nehmen zumeist Bezug auf die Grundsätze der Wirtschaftlichkeit und Sparsamkeit als rechtlichen Steuerungsnormen, die dazu verpflichten, Maßnahmen zu verhindern, die mit den Grundsätzen vernünftigen Wirtschaftens nicht vereinbar sind.31 Den darin enthaltenen Grundsatz, dass der Staat nichts „verschenken“ darf 32, müssen alle staatlichen und kommunalen Stellen beachten, unabhängig davon, auf welcher Grundlage sie tätig werden. Bestandteil dieser Vermögensbetreuungspflicht ist auch, dass der Verpflichtete im Rahmen seiner Vermögensbetreuungspflicht die Möglichkeit eines dem betreuten Vermögen vorteilhaften Vertragsabschlusses nicht vereiteln oder unberücksichtigt lassen darf, wenn dessen Wahrnehmung im Interesse des betreuten Vermögens liegen würde.33 Hiernach läge es im Grundsatz nahe, in den eingangs geschilderten Fällen, in denen ein dem betreuten Vermögen in Form der Gewinnausschüttung voraussichtlich zufließender Vorteil durch die Aufsichtsratsbeschlüsse „abgeschnitten“ worden ist, als Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht durch die entsandten Aufsichtsratsmitglieder anzusehen. Diese – allgemeine – Betrachtung würde indes, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, zu kurz greifen und den gesellschaftsrechtlichen Vorgaben nicht gerecht.
28 BGH NStZ 1986, 361; wistra 1991, 137, 138; NStZ 1995, 233; 2001, 545 jeweils zu Herausgabeansprüchen, deren Verletzung keine Treupflichtverletzung begründet. 29 BGH Beschluss v. 18.2.1993 – 1 StR 773/92 zu Geschäftsbesorgung (dort Kontovollmacht). 30 BGHR StGB § 266 Abs. 1 Vermögensbetreuungspflicht 34 mwN; BGH NStZ-RR 2005, 83 m. Anm. Kiethe NStZ 2005, 529; Lenckner/Perron in: Schönke/Schröder, 27. Aufl. § 266 Rn 25 mwN (jeweils zum Bürgermeister). 31 OVG Rheinland-Pfalz DVBl. 1980, 767, 768; vgl. auch BVerwGE 59, 249, 252 f; OVG Münster ZMR 1981, 224; OVG NRW DÖV 1991, 611 f. 32 BGHZ 47, 30, 39 f mwN. 33 BGHSt 31, 232 ff; BGH wistra 1984, 109 und 189, 224.
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V. Keine Vermögensbetreuungspflicht des Entsandten gegenüber dem Entsendenden für Aufsichtsratstätigkeit im engeren Sinn Liegen hiernach im Grundsatz zwischen Entsendendem und Entsandte Rechtsbeziehungen, die in ihrer Gesamtheit Treupflichten begründen, ist damit indes noch entschieden, dass sich die so begründeten Treupflichten auch gerade auf die Tätigkeit des Entsandten im Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft im engeren Sinn erstrecken. Denn auch hier gilt der Grundsatz, dass es im Rahmen von Rechtsbeziehungen, die ihrer Gesamtheit nach eine Vermögensbetreuungspflicht begründen, einzelne Bereiche geben kann, in denen sich eine Missachtung der Interessen des Geschäftsherrn nicht als Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht darstellt. Entscheidend für die Abgrenzung und den Umfang der Vermögensbetreuungspflicht sind Inhalt und Umfang der Treuabrede, wie sie sich aus gesetzlichen Vorgaben und den Vertragsvereinbarungen bzw. deren Auslegung nach Treu und Glauben ergeben.34 Anerkannt ist überdies, dass die Vermögensbetreuungspflicht in jedem Einzelfall aus dem konkreten Aufgabengebiet hergeleitet werden und zu ihm in einem funktionalen Zusammenhang stehen muss – die allgemeine Treuepflicht zur Bejahung eines Treueverhältnisses im Einzelfall also gerade nicht genügt.35 1. Aktienrechtliche Vorgabe: Weisungsunabhängigkeit des Aufsichtsrats Maßgeblich für die Bestimmung der Reichweite der Vermögensbetreuungspflicht sind in den hier interessierenden Konstellationen – wie ausgeführt – die gesellschaftsrechtlichen Vorgaben. Insoweit ist im Bereich des Aktienrechts einhellige Ansicht, dass der Aufsichtsrat im Rahmen seiner überwachenden Tätigkeit ausschließlich den Interessen der Gesellschaft verpflichtet ist.36 Im Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft hat das Unternehmensinteresse bei der Mandatsausübung stets Vorrang vor anderen ggf. involvierten Interessen.37 Bei Pflichtverstößen kann sich diesbezüglich eine verschuldensabhängige Haftung des einzelnen Aufsichtsratsmitglieds gem. § 93 Abs. 2 i.V.m. § 116 AktG gegenüber der Gesellschaft ergeben. Die Rechtsprechung hat in diesem Zusammenhang insbesondere betont, dass sich ein Aufsichtsratsmitglied für ein die Gesellschaft schädigendes Verhalten nicht damit rechtfertigen könne, dass er dieses Verhalten nicht in seiner Eigenschaft als Aufsichtsratsmitglied der Gesellschaft, sondern vielmehr als 34
BGH wistra 1991, 138. BGH StV 1995, 73. 36 BGHZ 36, 296, st.Rspr. 37 Hüffer AktG § 116 Rn 1; Ulmer NJW 1980, 1603; vgl. auch Corporate Governance Kodex lit. 5.5.1. 35
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Organmitglied einer anderen – ihn entsendenden – Gesellschaft vorgenommen habe.38 Die Rechtsprechung hat indes bislang in keiner einzigen Entscheidung gefordert oder auch nur angedeutet, dass sich ein Aufsichtsratsmitglied gegen eine Maßnahme des Vorstandes der Gesellschaft im Rahmen seiner Überwachungspflichten zur Wehr setzen müsse, wenn diese Maßnahme (zwar) die Gesellschaftsinteressen nicht nachteilig tangiert, wohl aber von ihr Wirkungen ausgehen können, die einen Dritten treffen können, dem gegenüber das Aufsichtsratsmitglied aus anderen Rechtsgründen und in anderem Zusammenhang vermögensbetreuungspflichtig ist. Auch in der Literatur wird solches von keinem Aufsichtsrat verlangt, schon gar nicht unter Androhung einer Kriminalstrafe. 2. Weisungsunabhängigkeit des entsandten Aufsichtsrats/Vorrang des Gesellschaftsrechts Die aufgezeigte aktienrechtliche Pflichtenstellung gilt uneingeschränkt auch für die Inhaber von sog. Entsendungsmandaten gem. § 101 Abs. 2 AktG. Sie unterliegen insbesondere nicht den Weisungen der Entsendungsberechtigten.39 Der BGH 40 hat hierzu schon früh folgendes festgestellt: „Entsandte Aufsichtsratsmitglieder haben dieselben Pflichten wie die gewählten Aufsichtsratsmitglieder. Als Angehörige eines Gesellschaftsorgans haben sie den Belangen der Gesellschaft den Vorzug vor denen des Entsendungsberechtigten zu geben und die Interessen der Gesellschaft wahrzunehmen, ohne an Weisungen des Entsendenden gebunden zu sein. […] Da der Entsandte die Interessen der Gesellschaft vor die Interessen des Entsendungsberechtigten zu stellen hat, kann der Entsendungsberechtigte den Entsandten nicht daran hindern, die ihm im Aufsichtsrat obliegenden Aufgaben und damit die Belange der Gesellschaft mit der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsmannes, die die Überwachung und Prüfung eines Unternehmens obliegt, zu wahren.“ Der BGH hat diese Rechtsprechung in der Folgezeit bestätigt und darauf hingewiesen, dass die Schutzregeln des Konzernrechts gerade deshalb entwickelt worden sind, um dem Umstand der möglichen Divergenz von Gesellschafts- und Anteilseignerinteresse Rechnung zu tragen und ersteres gegenüber letzterem zu schützen.41 Dem entspricht auch die herrschende Ansicht in der Literatur zu entsandten Aufsichtsratsmitgliedern in privat38
BGH – Zivilsachen – NJW 1980, 1629; ferner Ulmer NJW 1980, 1603. St.Rspr. BGHZ 90, 381, 398; Hüffer aaO Rn 10; Mertens in: Kölner Kommentar, § 101 Rn 55; Hoffmann-Becking aaO Rn 22. 40 BGHZ 36, 296, 306 f. 41 BGHZ 69, 334. 39
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rechtlich als Aktiengesellschaft ausgestalteten öffentlichen Unternehmen. Auch diese sieht einen strikten Vorrang des Gesellschaftsrechts und für die Tätigkeit des entsandten Aufsichtsratsmitgliedes der Vorrang der Unternehmensinteressen.42 Es sei dem Aufsichtsrat lediglich möglich, Interessen der öffentlichen Hand zu berücksichtigen; eine Pflichtenbindung bestehe insoweit in keiner Weise. Vielmehr gilt: Ob und inwieweit entsandte Aufsichtsräte in öffentlichen Unternehmen öffentliche Belange berücksichtigen, ist „allein Sache der entsandten Aufsichtsratsmitglieder. Sie entscheiden eigenverantwortlich, inwieweit das von ihnen zu wahrende Unternehmensinteresse die Mitberücksichtung öffentlichrechtlicher Ziele zulässt.“ 43 Deshalb gilt für das Strafrecht auch in entgegengesetzter Richtung, dass sich ein entsandtes Aufsichtsratsmitglied wegen Untreue zum Nachteil der Gesellschaft strafbar machen kann, wenn es bei seiner Aufsichtsratstätigkeit den Interessen der Gesellschaft zuwider solche des Entsendenden verfolgt (bzw. darauf gerichtete Weisungen des Entsendenden befolgt) und dadurch der Gesellschaft ein Nachteil entsteht.44 Die Ablehnung einer rechtlichen Verpflichtetheit des entsandten Aufsichtsratsmitgliedes (gegenüber dem Entsendenden) bei seiner überwachenden Tätigkeit im Aufsichtsrat erweist sich bei einer näheren Betrachtung des Entsendungsrechtes und seiner Einbettung in die korporativen Strukturen einer Aktiengesellschaft als zwingend. Anerkannt ist, dass der Gesetzgeber mit der Schaffung der Möglichkeit eines satzungsmäßigen Entsendungsrechtes praktischen Bedürfnissen Rechnung getragen hat. Tatsache ist aber auch, dass das entsandte Aufsichtsratsmitglied nicht von dem Vertrauen der Hauptversammlung getragen ist und auch nicht der Versicherung des Vertrauens der Hauptversammlung bedarf, um weiter im Amt zu bleiben. Diese kann ihn nicht abberufen.45 Das rechtlich anzuerkennende und aus ihrer Beteiligung abgeleitete Bedürfnis der Aktionäre, die Gesellschaft von gesellschaftsfremden Einflüssen frei zu halten, kann im Hinblick auf entsandte Aufsichtsratsmitglieder nur dann gewahrt werden, wenn die entsandten Aufsichtsratsmitglieder ihrerseits allein den Interessen der Gesellschaft verpflichtet sind und (insbesondere rechtlich verbindlichen) Vorgaben des Entsendenden nicht unterliegen. Insofern stellt sich die Weisungs- und Bindungsfreiheit der entsandten Aufsichtsratsmitglieder bei ihrer überwachenden Tätigkeit im Aufsichtsrat – im Hinblick auf die innere Struktur
42 Decher ZIP 1990, 277 ff; Erle/Becker NZG 1999, 58 ff; Habersack ZGR 1996, 544 ff; Lutter/Grunewald WM 1984, 385 ff; Säcker FS Rebmann, S. 781 ff; Schwintowski NJW 1995, 1316 ff. 43 Schwintowski NJW 1995, 1316, 1318 (Hervorhebung im Original). 44 Eingehend und zutreffend Geerds FS Otto, 2007, S. 561, 566 ff. 45 Vgl. BGHZ 36, 296.
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der Aktionäre der Gesellschaft und ihre anzuerkennenden Interessen als (Mit)“Eigentümer“ der Gesellschaft – als notwendiges Korrelat zur gesetzlichen Einräumung des Entsendungsrechtes dar. 3. Fehlende öffentlich-rechtliche Bindungen Öffentlich-rechtliche Bindungen bestehen für Aufsichtsratsmitglieder nach herrschender Ansicht schon deshalb nicht, weil diese durch die spezialgesetzlichen Regelungen des Aktienrechtes suspendiert sind (z.B. § 55 Satz 2 BBG). Hinweise i.S.d. § 55 Satz 2 BBG können nach herrschender Ansicht allenfalls den Charakter von Empfehlungen ohne Bindungswirkung haben.46 Infolgedessen besitzt die „Entsendung“ auch nicht den Charakter einer eine Vermögensbetreuungspflicht begründenden allgemeinen beamtenrechtlichen Vertretungsbefugnis (z.B. § 174 BBG) bzw. eines behördlichen Auftrages.47 Landes- oder kommunalrechtliche Regelungen vermögen insoweit bereits deshalb keine abweichenden Grundsätze zu verankern und eine Pflichtenbindung zu statuieren, weil sie den bundesrechtlichen Vorgaben des Aktienrechtes zuwider liefen.48 4. Haftungsrechtliche Lage: Kein Handeln „als“ Entsandter Dem gesellschaftsrechtlichen Befund entspricht auch die haftungsrechtliche Rechtslage: Der BGH hat eine Haftung des entsandten Aufsichtsratsmitgliedes gegenüber der ihn entsendenden Gesellschaft für ein Verhalten im Rahmen seiner Aufsichtsratstätigkeit ausdrücklich abgelehnt. Er hat darauf erkannt, dass die überwachende Tätigkeit des entsandten Aufsichtsratsmitgliedes in seiner Eigenschaft als Mitglied des Aufsichtsorgans der Gesellschaft erfolgt, nicht aber in Ausführung der ihm bei der entsendenden Gesellschaft zustehenden Verrichtungen.49 Auch eine Haftung nach § 831 46 Meier NZG 2003, 54, 56; Schmidt ZGR 1996, 345, 353 f; Säcker FS Rebmann, 1989, S. 781, 793. 47 RG HRR 1927, 985. 48 OVG NRW NVwZ 2007, 609; Hoppe/Uechtritz Handbuch Kommunale Unternehmen, S. 229f. 49 BGHZ 90, 381 m. Anm. Rümker EWiR 1989, 371 f; Schwark JZ 1984, 1036; ferner Veil ZGR 2000, 233. Überflüssig und daher bedenklich als Einwirkung auf entsandte Aufsichtsratsmitglieder zur Missachtung der Unternehmensinteressen sind infolgedessen auch landesgesetzliche Regelungen, die Aufsichtsräte hinsichtlich ihrer Tätigkeit von Schadensersatzansprüchen des Landes „freistellen“ (zutr. Geerds FS Otto, 2007, S. 561, 564). Anzumerken ist, dass der haftungsrechtlichen Rechtsprechung vom gewählten Ansatz her auch die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zu von Gebietskörperschaften entsandten Aufsichtsratsmitgliedern in öffentlich-rechtliche Kreditinstitute (z.B. Sparkassen) entspricht. Die Verwaltungsgerichte gehen davon aus, dass Entscheidungen des Aufsichtsrates nicht einmal als „Angelegenheit“ der Gebietskörperschaft und ihrer Verwaltung
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BGB hat der BGH unter Hinweis darauf verneint, dass es hierfür an der erforderlichen Weisungsunterworfenheit fehle.50 Ersichtlich geht die zivilgerichtliche Rechtsprechung davon aus, dass das Verhalten im Aufsichtsrat – vereinfacht gesprochen – nicht „als“ Entsandter, sondern allein „als“ Aufsichtsrat erfolge. Terminologische Anklänge dieser Rechtsprechung zur strafgerichtlichen Rechtsprechung betreffend die sog. „Interessenformel“ bei § 14 StGB sind unverkennbar. Letztere können auch auf die vorliegende Fragestellung übertragen werden. Bei § 14 StGB ist anerkannt, dass ein Handeln „als“ Vertreter des Vertretenen nicht schon deshalb vorliegt, weil die Position des Handelnden zu der fraglichen Handlung Gelegenheit bietet oder weil deren rechtliche oder tatsächliche Folgen den Vertretenen treffen.51 Hinzutreten muss nach herrschender Ansicht, dass das Verhalten gerade im Interesse des Vertretenen erfolgt.52 Diese Wertungen und Abgrenzungen können auch auf die hier zu beantwortende Frage übertragen werden mit der Besonderheit, dass (bereits) gesetzlich durch das Gesellschaftsrecht vorgegeben ist, in wessen Interesse der entsandte Aufsichtsrat tätig wird, nämlich ausschließlich im Interesse der Gesellschaft (vgl. oben). 5. § 394 AktG als eng begrenzte gesetzliche Ausnahmeregelung Durchbrechungen des (strengen) aktienrechtlichen Pflichtenprogramms („Vorrang des Gesellschaftsrechts“) sieht das Aktienrecht lediglich in einem eng umgrenzten Bereich im Hinblick auf solche Aufsichtsratmitglieder einer AG vor, die auf Veranlassung einer Gebietskörperschaft in den Aufsichtsrat gewählt oder entsandt worden sind, namentlich bezüglich ihrer Verschwiegenheitspflicht (§ 394 AktG). Anders als andere Aufsichtsratsmitglieder dürfen solche Aufsichtsräte im Rahmen ihrer Berichtspflichten bestimmte Informationen an die Gebietskörperschaft weiterleiten. Die Preisgabe von Informationen betreffend die Aufsichtsratstätigkeit ist anderen Aufsichtsräten nicht gestattet. Auch diese Befugnisse sind indes nach ganz herrschender Ansicht nicht Ausfluss einer anzusehen sind (VGH Mannheim NVwZ-RR 1990, 320 ff). Es handele sich bei solchen Entscheidungen, z.B. der in ihren Konsequenzen weit reichenden Abberufung des Vorstandsvorsitzenden einer Sparkasse, um bank-interne Maßnahmen und Entscheidungen, die außengelenkten Einwirkungen entzogen und daher keine Angelegenheiten der Gebietskörperschaft seien (VGH Mannheim aaO). Zur Weisungsfreiheit von in den Aufsichtsrat von Landesbanken entsandten Mitgliedern eingehend Wagener Organisationsrecht der Landesbanken, S. 189 f. 50 BGH aaO. 51 Vgl. zum Streitstand allgemein Lenckner/Perron in: Schönke/Schröder, StGB, § 14 Rn 26 m.N. 52 BGHSt 30, 127; 34, 221 m. Anm. Weber StV 1988, 16; Winkelbauer JR 1988, 33; OLG Karlsruhe NJW 2006, 1394 jeweils zur Abgrenzung von eigennützigem und fremdnützigem Verhalten.
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besonderen öffentlich-rechtlichen Bindung – etwa beamtenrechtlicher Art –, sondern Folge der spezialgesetzlichen Regelung des § 394 AktG. Auch diese gesetzliche Ausnahmeregelung lässt erkennen, dass von Gebietskörperschaften entsandte Aufsichtsratsmitglieder bei ihrer überwachenden Tätigkeit keine Rechtspflichten zur Vermögensfürsorge gegenüber der Gebietskörperschaft wahrnehmen oder besitzen: wenn es einem durch eine Gebietskörperschaft entsandten Aufsichtsratsmitglied schon nur aufgrund gesetzlicher (Sonder-)Vorschrift (§ 394 AktG) überhaupt gestattet ist, seine zugunsten der Gesellschaft bestehende Verschwiegenheitspflicht im Rahmen seiner Berichtspflicht an die Gebietskörperschaft in bestimmtem Umfang zurücktreten zu lassen, so folgt daraus, dass nach dem aktienrechtlichen System angesichts des Fehlens einer entsprechenden Regelung für die Wahrnehmung von Vermögensinteressen der Gebietskörperschaft auch bei von Gebietskörperschaften entsandten Aufsichtsratsmitgliedern jenseits des § 394 AktG ein strikter Vorrang des Gesellschaftsrechts gilt, ihnen also rechtliche Bindungen der Vermögenssorge gegenüber der Gebietskörperschaft in ihrer Aufsichtsratstätigkeit nicht auferlegt sind.
VI. Niederschlag der Rechtslage in gesetzlichen Regelungen bzw. Empfehlungen Die aufgezeigten aktienrechtlichen Grundsätze haben auch in (Landes)Gesetzen und Empfehlungen betreffend die Beteiligungsverwaltung der öffentlichen Hand Niederschlag gefunden. So heißt es beispielsweise in § 65 Abs. 5 LHO Berlin, dass „die Senatsverwaltung für Finanzen […] darauf hinwirken [soll], dass die auf Veranlassung Berlins gewählten oder entsandten Mitglieder der Aufsichtsorgane der Unternehmen bei ihrer Tätigkeit auch die besonderen Interessen Berlins berücksichtigen.“ Diese (Soll-)Vorschrift wäre obsolet und nicht erklärbar, wenn die durch das Land Berlin entsandten Mitglieder der Aufsichtsorgane die Interessen des Landes bereits aufgrund einer Vermögensbetreuungspflicht gegenüber dem Land Berlin zwingend (und unter Kriminalstrafenandrohung) zu berücksichtigen hätten. In dem sächsischen Leitfaden „Qualifikation, Rechte und Pflichten der Aufsichtsratsmitglieder in kommunalen Unternehmen“ aus dem Jahr 2003 53 heißt es beispielsweise: 53 Sächsisches Amtsblatt 2003, Nr. 35, S. 809 f. Ebenso beispielsweise der Leitfaden „Qualifikation, Rechte und Pflichten der Aufsichtsratsmitglieder in kommunalen Unternehmen“ des Ministeriums des Innern des Landes Sachsen-Anhalt vom Januar 2005, S. 7 f.
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„Der Vertreter der Gemeinde in der privatrechtlichen Gesellschaft wird innerhalb zweier Rechtsverhältnisse tätig. […] Die Tätigkeit als Aufsichtsratsmitglied wird primär durch gesellschaftsrechtliche Vorgaben geprägt. Hierzu gehören die Grundsätze der Eigenverantwortlichkeit und Unabhängigkeit, die auch gegenüber dem kommunalen Anteilseigner gelten. […] Die Vorgaben des Gesellschaftsrechts begrenzen mithin die Verpflichtungen von Aufsichtsratsmitgliedern, Weisungen der Gemeindevertreter zu befolgen. Dies gilt uneingeschränkt für die kommunalen Vertreter in einer AG und bei einer GmbH mit obligatorischem Aufsichtsrat.“
VII. Bedeutung der gesellschaftsrechtlichen Vorgaben für das (Nicht-)Bestehen einer Vermögensbetreuungspflicht Kommt es nach der dargestellten strafgerichtlichen Rechtsprechung für die Abgrenzung und den Umfang der Vermögensbetreuungspflicht auf den Inhalt und Umfang der Treuabrede an, wie sie sich aus gesetzlichen Vorgaben und den Vertragsvereinbarungen bzw. deren Auslegung nach Treu und Glauben ergeben, so folgt aus den aufgezeigten gesellschaftsrechtlichen (eindeutigen) Vorgaben, dass die Aufsichtsratstätigkeit des entsandten Aufsichtsratsmitgliedes einen Bereich betrifft, in dem eine Vermögensbetreuungspflicht gegenüber dem Entsendenden nicht anzuerkennen ist. Denn es begründete einen nicht lösbaren Wertungswiderspruch, das entsandte Aufsichtsratsmitglied gesellschaftsrechtlich im Interesse der Freiheit von gesellschaftsfremden Einflüssen und der Gewährleistung der berechtigten Interessen der anderen Aktionäre ausschließlich den Interessen der Gesellschaft zu unterwerfen, sie aber insoweit strafrechtlich im Wege der Vermögensbetreuungspflicht auf die Verfolgung der Interessen des sie entsendenden Aktionärs zu verpflichten. Mit diesem Befund steht in Einklang, dass die Vermögensbetreuungspflicht in jedem Einzelfall aus dem konkreten Aufgabengebiet hergeleitet werden und zu ihm in einem funktionalen Zusammenhang stehen muss. Insoweit folgt aus dem Gesellschaftsrecht, dass bei der Tätigkeit von entsandten Aufsichtsratsmitgliedern ein funktionaler Zusammenhang zur Vermögenssorge für den Entsendenden nicht besteht.54 Eine Änderung dieser Position ergibt sich auch nicht aus dem in der zivilrechtlichen Literatur geführten Streit zu der Frage, ob entsandte Aufsichtsratsmitglieder bei ihrer Tätigkeit generell nicht an Weisungen gebunden 54 Hervorgehoben sei, dass es hierbei nicht um die Frage einer allgemeinen Akzessorietät des Treubruchstatbestandes (d.h. des Pflichtwidrigkeitsmaßstabes) zu Bezugsnormen des Zivilrechts geht (dazu näher Dierlamm in: Münchener Kommentar StGB, § 266 Rn 152 ff m.N.), sondern vielmehr um die Bestimmung des Umfangs der Vermögensbetreuungspflicht auf der Grundlage der für ihre Abgrenzung – nach der Rechtsprechung – maßgeblichen gesetzlichen und vertraglichen Vorgaben.
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sind 55, oder ob dies nur dann gilt, wenn die Befolgung der Weisung dem Unternehmensinteresse zuwider laufen würde.56 Denn es kommt im Hinblick auf Art. 103 Abs. 2 GG nicht in Betracht, das Bestehen einer Vermögensbetreuungspflicht im Einzelfall in Abhängigkeit von der konkret vorfindlichen Interessenlage des Unternehmens in Bezug auf einzelne Entscheidungen des Aufsichtsrates zu beantworten. Damit würde nicht mehr für den Einzelfall bestimmbar, ob ein Verhalten strafbar ist oder nicht.
VIII. Zusammenfassung und Ergebnis Entsandten Aufsichtsratsmitgliedern (§ 101 Abs. 2 AktG) kommt bei ihrer überwachenden Tätigkeit im Aufsichtsrat der Gesellschaft eine Vermögensbetreuungspflicht im Sinn des § 266 StGB gegenüber dem Entsendenden nicht zu. Dies gilt unabhängig davon, dass das zwischen dem entsandten Aufsichtsrat und dem Entsender bestehende Rechtsverhältnis seiner Gesamtheit nach so gestaltet sein mag, dass es zivil- oder öffentlich-rechtlich Vermögensbetreuungspflichten begründet. Von diesen ist die Tätigkeit im Aufsichtsrat ausgenommen. Das entsandte Aufsichtsratsmitglied ist weisungsungebunden und haftet dem Entsender gegenüber nicht für von ihm im Aufsichtsrat getroffene Entscheidungen. Vermögensbetreuungspflichtig ist das entsandte Aufsichtsratsmitglied, dessen rechtliche Pflichtenstellung der der anderen Aufsichtsratsmitglieder entspricht, allein gegenüber der Gesellschaft selbst. Allein ihr gegenüber haftet es auch bei Verletzung seiner Pflichten. In den eingangs geschilderten Sachverhalten scheidet eine Strafbarkeit des entsandten Aufsichtsratsmitgliedes hiernach schon wegen des Fehlens einer Vermögensbetreuungspflicht gegenüber der Stadt X bzw. dem Land L aus, weshalb man zu den angesprochenen interessanten und ungeklärten Folgefragen (in der Praxis) nicht vordringt. Diese harren einer fundierten Klärung. Mögen dem Jubilar noch zahlreiche gesunde und erfüllte Jahre geschenkt sein, in denen der breite Horizont seines Schaffens vielleicht auch noch ermöglicht, zu diesen Fragen in seiner bewährten Art einen klärenden Beitrag zu leisten.
55
So die wohl überwiegende Auffassung Lutter/Grunewald WM 1984, 396; Säcker FS Rebmann, S. 784, 786; Schön ZGR 1996, 449 f. 56 Emmerich Das Wirtschaftsrecht der öffentlichen Unternehmen, 1969, S. 207; Schwintowski NJW 1995, 1319.
Der Fall Havemann Auf den Spuren einer Rechtsbeugung Detlef Krauss
Vom Januar bis August 2000 führte die 1. große Strafkammer des Landgerichts Neuruppin die zweite Hauptverhandlung im „Fall Havemann“ durch; das erste Urteil des Landgerichts Frankfurt/Oder, das mit dem Freispruch aller sieben Angeklagten endete, hatte der 5. Strafsenat des BGH durch Urteil vom 10.12.1998 zum Nachteil von vier Angeklagten aufgehoben und zurückverwiesen.1 Vor dem Landgericht Neuruppin ging es schließlich nur noch um zwei Angeklagte, einen Staatsanwalt und eine (leitende) Staatsanwältin; die beiden anderen Angeklagten, beide Richter, waren zwischenzeitlich verstorben. Ich habe an dem Verfahren als zweiter Pflichtverteidiger des angeklagten Staatsanwalts P. mitgewirkt. Der Prozess geht mir seither nicht mehr aus dem Kopf. Die Beweisaufnahme vor Gericht und mehr noch das Studium ganzer Aktenberge, zum Teil als Hausaufgaben im Selbstleseverfahren, zum Teil aus den Vorakten und allen möglichen Archiven zusammengetragen, fügten sich zu einem bizarren, bedrohlichen und immer auch skurrilen Stück DDR-Geschichte, wie es sich meine Schulweisheit nicht hatte träumen lassen. Die beiden Angeklagten, die nur Vertreter und Vertreterin einer „normalen“ Strafjustiz zu sein schienen (und es wohl auch waren), passten nicht in das Bild. Das ganze Verfahren, das seine beruhigende Routine aus der Fairness von Gericht und Staatsanwalt erhielt und dessen Weg und Ende doch in bedenklicher Weise von einem wenig stimmigen Revisionsurteil des BGH vorgegeben war, setzte lauter Fragezeichen – ein weiterer Akt in dem Lehrstück über eine Grundfrage der deutsch-deutschen Vereinigung: ob man strafrechtliche Verfehlungen rückwirkend in ein vormals anderes Rechtssystem hinein aburteilen kann. Irgendwann, so habe ich seither oft gedacht, schreibe ich einmal darüber. Die Festschrift für Rainer Hamm scheint eine gute Gelegenheit. Am besten fängt man mit Havemann selbst an (I). Auf unserer Spurensuche geht es dann zunächst um die vom Bundesgerichtshof geleistete Grundlegung zur Frage der Strafbarkeit von DDR-Alttaten im Allgemeinen
1
5 StR 322/98 – BGHSt 44, 275.
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und von Rechtsbeugung durch Richter und Staatsanwälte im Besonderen (II). Es folgen die Urteile des Landgerichts Frankfurt/Oder (III), des BGH als Revisionsinstanz (IV) und des Landgerichts Neuruppin als Neuauflage der tatrichterlichen Entscheidung (V). Das schafft die Voraussetzungen, um die Problematik der Rechtsbeugung im „Fall Havemann“ im Zusammenhang darzustellen (VI). Am Ende führt die Spurensuche noch einmal zum „Fall Havemann“ (VII) und zur Rechtsbeugung (VIII).
I. Robert Havemann steht für eine faszinierende deutsche Biografie.2 Am 16.12.1943 ist er vom Volksgerichtshof unter Vorsitz von Roland Freisler, zusammen mit anderen Mitgliedern der Widerstandsgruppe „Europäische Union“, zum Tode verurteilt worden. Während die Mitverurteilten hingerichtet wurden, setzte das Reichsjustizministerium die Vollstreckung des Urteils gegen den damals 33-jährigen Havemann aus und inhaftierte ihn im Zuchthaus Brandenburg; „einflussreiche Freunde“ und das Interesse des Machthabers an Havemanns Forschungsarbeiten – er durfte in der Haft weiter arbeiten – mögen zusammengekommen sein. Nach dem Kriege (1951) wurde Havemann als überzeugter Kommunist Mitglied der SED. Er war Spitzel für den sowjetischen Geheimdienst, wenig später (1953–63), in der exponierten Stellung als Prorektor für Studienangelegenheiten an der HumboldtUniversität, auch Inoffizieller Mitarbeiter (IM) der Staatssicherheit. Nach dem 20. Parteitag der KPdSU (1956) wandelte er sich allmählich vom engagierten Parteimitglied zum hartnäckigen Partei- und Regimekritiker. „Dialektik ohne Dogma“ (1964), ein nur im Westen erschienenes Buch, umfasst die an der Humboldt-Universität gehaltene Vortragsreihe, die diese politische Entwicklung markiert. Havemann wurde aus der SED ausgeschlossen (1964) und als Hochschullehrer entlassen. Für die Staatssicherheit wurde er spätestens 1968, nach dem bitteren Ende des Prager Frühlings, zum „operativen Vorgang“. Die Aufmerksamkeit, die Havemann im Westen als Wissenschaftler wohl nicht erreicht hat, wurde ihm fortan als „Systemkritiker“ zuteil. Aus dieser öffentlichen Wahrnehmung ergaben sich zwei Weiterungen, die seine Biografie endgültig zum „Fall Havemann“ werden ließen: zunächst das DDRSpektakel einer beispiellosen politischen Verfolgung, die mit aller Staatsgewalt versucht hat, die „politische Hetze“ dieses prominenten Kritikers möglichst ohne (westliches) Aufsehen zu unterbinden und die sich gerade in dieser gigantischen Verfolgungsbürokratie selbst ad absurdum führte, später 2 Zum Folgenden Rottleuthner (Hrsg.) Das Havemann-Verfahren, Schriftenreihe Recht und Justiz der DDR Bd. 1, Vorwort S. 11–14; Urteil des Landgerichts Frankfurt/Oder (ebd.) S. 25 ff (59, 60); Vollnhals Der Fall Havemann, 1998, S. 11–14.
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dann, nun schon im vereinigten Deutschland und nach Havemanns Tod (1982), der Versuch, den Verfolgungsexzess gegen Havemann strafrechtlich „aufzuarbeiten“, ein Versuch, der sich freilich ebenfalls bereits durch Zeit und Aufwand selbst in Frage stellte. Zwei Umstände bestimmten Art und Umfang des operativen Vorgangs „Leitz“ – ein Name übrigens, den Havemann selbst sich seinerzeit als Deckname seiner IM-Tätigkeit gewählt hatte. Der eine war die öffentliche Aufmerksamkeit, die Havemann als prominenter Systemkritiker im Westen erfuhr. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) sah sich außerstande, mit der rigiden Härte vorzugehen, die andere weniger prominente Oppositionelle traf. Jedenfalls nach außen hin war der Verfolgungsapparat um eine legalistische Note bemüht, alle Zwangsmaßnahmen waren auf eine gesetzliche Grundlage zurückzuführen. Der andere Umstand war beinahe ein historisches Bonmot: Honecker hatte zusammen mit Havemann im Zuchthaus Brandenburg eingesessen. Im Hinblick auf diese gemeinsame Kampfesund Leidenszeit untersagte der Staatsratsvorsitzende gegen seinen ehemaligen Mithäftling strafrechtliche Maßnahmen; jedenfalls Untersuchungshaft und Freiheitsstrafe kamen für ihn nicht in Betracht. So verschob sich die Verfolgung Havemanns, soweit sie öffentlich wurde, auf rechtliche Nebengleise. Die Auswirkungen dort waren immer noch bitter genug. Den Fortgang der Ereignisse entnehme ich der Revisionsentscheidung des BGH zum „Fall Havemann“: 3 „Von 1964 bis zu seinem Tode führte das MfS zu Havemann den ‚Operativen Vorgang Leitz‘; auf ihn waren im Laufe der Zeit insgesamt mehr als 200 Inoffizielle Mitarbeiter angesetzt. Über nahezu 20 Jahre wurde sein gesellschaftliches und privates Leben intensiv überwacht. Die Untersuchungsabteilung des MfS – offizielles Untersuchungsorgan für strafrechtliche Ermittlungen nach § 88 Abs. 2 Nr. 2 StPO-DDR – suchte immer wieder nach Möglichkeiten, Havemann strafrechtlich zu verfolgen. Anlaß war unter anderem ein Interview Havemanns im österreichischen Fernsehen im Juni 1975, welches das MfS als staatsfeindliche Hetze nach § 106 StGB DDR bewertete. … Die Hauptabteilung IX des MfS erarbeitete in diesem Zusammenhang sogenannte Einschätzungsberichte, in der Regel nach direkter Weisung des Ministers für Staatssicherheit, Erich Mielke. Die Einschätzungsberichte waren vielfach auch Grundlage für Vorschläge an Erich Honecker; dieser hatte bis dahin strafrechtliche Maßnahmen gegen Havemann stets abgelehnt. … (S. 277) Am 22. November 1976 erschien im Nachrichtenmagazin ‚Der Spiegel‘ ein Artikel Havemanns zur Ausbürgerung Biermanns, in dem Havemann 3 BGHSt 44, 275; ausführlicher Urteil Landgericht Frankfurt/Oder (Fn 2) S. 61 ff; Vollnhals (Fn 2) S. 11–16.
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auch die Verhältnisse in der DDR kritisierte (‚Diktatur einer Handvoll Politiker‘) und sich für die Gewährung von Grundrechten in einem ‚demokratischen Sozialismus‘ im Sinne des Eurokommunismus aussprach. Daraufhin hielt es das MfS am 25. November 1976 für erforderlich, gegen Havemann gerichtlich vorzugehen. Am darauffolgenden Tag sprach das Kreisgericht Fürstenwalde im beschleunigten Verfahren … eine Aufenthaltsbeschränkung [sc. auf das Grundstück Havemanns in Grünheide bei Berlin] aus. … (S. 278) Einheiten des MfS und der Volkspolizei überwachten aufgrund der Aufenthaltsbeschränkung – ergänzend zur verdeckten Überwachung – jahrelang offen das Grundstück der Havemanns in Grünheide. Havemann, seine Frau und die gemeinsame Tochter wurden beim Verlassen, die wenigen vom MfS zugelassenen Besucher Havemanns wurden beim Betreten des Grundstücks durch einen Wachposten kontrolliert. Den Ort Grünheide durfte Havemann, wenn überhaupt, nur in Begleitung eines Mitarbeiters des MfS verlassen; in diesem Fall wurde er ein weiteres Mal am Ortsausgang von Grünheide überprüft, wo abschließend entschieden wurde, ob er den Ort zu dem angegebenen Ziel verlassen durfte.“ (S. 282 f) Am 9. Mai 1979 wurde die Aufenthaltsbeschränkung, die im gesamten Verlauf immer wieder auch ausgesetzt worden war, aufgehoben. Am 9. April 1982 starb Robert Havemann. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf diesen Tatkomplex „Aufenthaltsbeschränkung“. Tatsächlich hatte sich Staatsanwalt P., mein Mandant, zusammen mit der anderen angeklagten Staatsanwältin in einem weiteren Tatkomplex, einem Devisenverfahren zum Nachteil Havemanns, zu verantworten. Ich will diesen zweiten Komplex außer Acht lassen; er steht mit dem ersten in keinem Zusammenhang (das würde der BGH vielleicht anders sehen) und hat für den Angeklagten P. mit einem Freispruch geendet.
II. Die Standortbestimmung des BGH zur Strafbarkeit von DDR-Alttaten wegen Rechtsbeugung war gewiss ein hartes Stück Arbeit. Das lag vor allem auch an der Strafrechtswissenschaft, die mit einer bald schon unübersehbaren Fülle von kontroversen Beiträgen das Problemfeld eher verdunkelte als erhellte. Selten ist dabei so deutlich geworden, wie sehr das politische Vorverständnis der Autoren der wissenschaftlichen Meinung den Weg weisen kann.4 Immerhin konnte der BGH bei dieser Unübersichtlichkeit sicher sein, dass seine eigene Meinung immer auch prominente Befürworter finden 4
Lackner/Kühl Strafgesetzbuch, 24. Aufl. 2001, Rn. 12 zu § 2 (Lackner).
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würde. Insgesamt, denke ich, hat der BGH, vor allem der 5. Strafsenat, der für die im Osten begangenen Alttaten in erster Linie zuständig war, gute Arbeit geleistet. Seine kriminalpolitischen Vorgaben wirkten besonnen und maßvoll, und seine dogmatischen Ausführungen fügten sich bei aller Fragwürdigkeit im Einzelnen, die eher den Problemen selbst als dem BGH anzulasten war, in eine Gesamtschau, in der die Instanzgerichte Orientierung finden konnten.5 Übrigens kamen die beiden Grundsatzentscheidungen zur Rechtsbeugung von DDR-Richtern6 und DDR-Staatsanwälten7 für das Verfahren vor dem Landgericht Frankfurt/Oder noch rechtzeitig. Die Leitlinien beider Grundsatzurteile sollen nur ansatzweise und in Stichworten markiert werden: – Rechtsbeugung war zur Tatzeit (1976/79) in der DDR (§ 244 StGB-DDR) ebenso strafbar wie damals und heute in der Bundesrepublik (damals § 336, heute § 339 StGB). Für die Fortgeltung der Strafbarkeit von Alttaten nach der Wende ist „Unrechtskontinuität“ von § 244 StGB-DDR zu § 336 StGB erforderlich. Sie erscheint zweifelhaft, weil Schutzgut beider Tatbestände vorrangig die je eigene, ganz unterschiedlich ausgestaltete Rechtspflege war. Der BGH bejaht die erforderliche Unrechtskontinuität gleichwohl, weil die hier und dort geschützten Rechtsgüter trotz „tiefgreifender Unterschiede … nicht derart ungleich (seien), dass eine Anwendung des § 336 StGB auszuscheiden hätte.“ 8 Ein gemeinsamer Nenner sei nämlich jedenfalls darin zu sehen, dass beide Normen neben dem divergierenden, staatsbezogenen Schutzgut der Rechtspflege auch Freiheit, Rechte und Würde des Einzelnen schützen sollten. Dieser zumindest mittelbare Individualschutzeffekt rechtfertige die Annahme einer Unrechtskontinuität.9 – Auf DDR-Alttaten ist § 244 StGB-DDR als das Recht des Tatorts und der Tatzeit anwendbar.10 Gemessen an der normativen Reichweite ist diese Vorschrift gegenüber § 336 StGB auch das mildere Gesetz: 11 Im subjektiven Tatbestand ist direkter Vorsatz (statt Vorsatz unter Einschluss des dolus eventualis in § 336 StGB) erforderlich, außerdem sieht § 244 StGBDDR eine niedrigere Mindeststrafe vor (sechs Monate gegenüber einem Jahr). § 336 StGB modifiziert diese Vorschrift, soweit sie gegenüber dem Rechtszustand der DDR spezifische Milderungsgesichtspunkte vorsieht. – § 244 StGB-DDR als Recht des Tatorts und der Tatzeit erfährt seine Inhaltsbestimmung durch die vom BGH skizzierten institutionellen Vor5
Eine eigene, abweichende Gesamtschau werde ich in Abschnitt VIII skizzieren. BGHSt 40, 30. 7 BGHSt 40, 168. 8 BGHSt 40, 39. 9 S. auch BGHSt 40, 275; dazu Roggemann Richterstrafbarkeit und Wechsel der Rechtsordnung, JZ 1994, 769 (773). 10 BGHSt 40, 173. 11 BGHSt 40, 276. 6
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gaben der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung der DDR und die Geltungs- und Auslegungsgrundsätze der „sozialistischen Gesetzlichkeit“.12 Die Vorschrift wird demnach auch als Grundlage einer heutigen Entscheidung in seiner Einbindung in das von der SED gesteuerte politische System belassen, und „Prüfungsmaßstab für die Frage der Gesetzwidrigkeit ist das Recht der DDR.“ 13 Das Rückwirkungsverbot schließt es aus, die DDR in heutiger Rechtsanwendung nachträglich als einen Rechtsstaat bundesrepublikanischer Prägung zu postulieren.14 Von der strikten Bindung an die Auslegungsgrundsätze der DDR-Vergangenheit macht der BGH freilich eine bemerkenswerte Ausnahme: Er verlangt von den sozialistischen Gesetzesanwendern rückwirkend eine „menschenrechtsfreundliche Auslegung“, die es damals so nicht gab. Diese Einschränkung ist nachvollziehbar weniger durch die vom BGH vorgenommene, ziemlich „westlich“ anmutende Interpretation der DDR-Verfassung (Art. 90 Abs. 1 Satz 2, Art. 30 Abs. 2 Satz 2) als vielmehr durch einen Hinweis auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip, das auch in der DDR seine (eingeschränkte) Bedeutung hatte.15 – Für die Auslegung des § 244 StGB-DDR gibt der BGH eine maßgebliche Einschränkung vor: „Eine Bestrafung von Richtern der DDR wegen Rechtsbeugung (ist) auf Fälle zu beschränken, in denen die Rechtswidrigkeit so offensichtlich war und insbesondere die Rechte anderer, hauptsächlich ihre Menschenrechte, derart schwerwiegend verletzt worden sind, dass sich die Entscheidung als Willkürakt darstellt.“ 16 Der BGH verweist dabei auf seine Rechtsprechung zu § 336 StGB. Aber gerade dieser Hinweis hat erheblichen Widerspruch ausgelöst. Denn die Beschränkung auf schwere Menschenrechtsverletzungen in § 336 StGB hat der BGH vor allem durch Hinweise auf die Weite des subjektiven Tatbestandes (dolus eventualis genügt) und die Höhe der Mindeststrafe (ein Jahr) begründet. Beide Gesichtspunkte aber passen auf § 244 StGB-DDR (dolus directus, Mindeststrafe sechs Monate) nicht. Im übrigen kommt eine rückwirkende Anwendung bloßer Auslegungsgrundsätze wohl kaum in Betracht. Der BGH hilft sich aus dieser Verlegenheit, indem er der Eingrenzung zusätzlich einen selbständigen DDR-Bezug gibt. Die damalige Rechtslage, die „besonderen Züge dieses Rechtssystems“, die Unschärfe der gesetzlichen Bestimmungen, das System der auf Vereinheitlichung und Durchsetzung der sozialistischen Zielsetzungen gerichteten Einflussnahmen einschließlich verbindlicher Richtlinien und Beschlüsse des Obersten Gerichts, schließ12 13 14 15 16
BGHSt 40, 35–40, für den Staatsanwalt insbes. BGHSt 40, 175. BGHSt 40, 33. BGHSt 40, 278. BGHSt 40, 276 (283). BGHSt 40, 41.
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lich die alles verdunkelnde Theorie und Praxis der „sozialistischen Gesetzlichkeit“ nötigten zu einem strengen Maßstab, um bei der Undurchsichtigkeit der damaligen Rechtslage der DDR nicht unversehens doch westliches Gedankengut einzubringen und damit gegen das Rückwirkungsverbot zu verstoßen.17 Diese Begründung vermeidet den Rückgriff auf die Rechtsprechung zu § 336 StGB und erweist sich angesichts der großen Zahl gleich nach der Wende wegen Rechtsbeugung eingeleiteter Ermittlungsverfahren 18 auch kriminalpolitisch als sinnvoll. – Auf dieser Grundlage entwickelt der BGH 19 drei Fallgruppen von Rechtsbeugung i.S. willkürlicher Menschenrechtsverletzungen: – Überdehnung von Straftatbeständen unter Überschreitung des Gesetzeswortlauts oder unter Ausnutzung ihrer Unbestimmtheit, so dass eine Bestrafung, zumal mit Freiheitsstrafe, als offensichtliches Unrecht anzusehen ist, – Verhängung einer Strafe, die in einem unerträglichen Missverhältnis zu der Handlung steht, so dass die Strafe, auch im Widerspruch zu Vorschriften des DDR-Strafrechts, als grob ungerecht und als schwerer Verstoß gegen die Menschenrechte erscheinen muss, – Menschenrechtsverletzungen im Hinblick auf die Art und Weise von Verfahren, insbesondere von Strafverfahren, in denen die Strafverfolgung und die Bestrafung überhaupt nicht der Verwirklichung von Gerechtigkeit (Art. 86 DDR-Verf.), sondern der Ausschaltung des politischen Gegners gedient haben.20
III. Das Urteil des Landgerichts Frankfurt/Oder 21 hat vom Revisionsentscheid des BGH 22 herbe Kritik erfahren. Ich möchte eine Gegenauffassung zu Protokoll geben: Das Landgericht hat ein sehr gutes Urteil gefällt. Es hebt sämtliche Probleme der Rechtsbeugung deutlich hervor und führt sie an den dogmatischen Vorgaben des BGH entlang zu jederzeit nachvollziehbaren, vernünftigen Ergebnissen. Vor allem aber ist seine (sprachlich hervorragende) Abfassung zu einem bemerkenswerten Dokument der DDRZeitgeschichte geraten; es ist Rottleuthner 23 als Verdienst anzurechnen, 17
BGHSt 40, 41. Roggemann (Fn 8) S. 769 geht von ca. 10.000 Ermittlungsverfahren aus; nur bei etwa 15 sei es zu Hauptverhandlungen gekommen. 19 BGHSt 40, 43. 20 Vgl. BGHSt 44, 298. 21 Urteil des Landgerichts Frankfurt/Oder v. 30.9.1997 – 23 Kls 36/94. 22 BGHSt 44, 275 ff. 23 Rottleuthner (Fn 2) S. 25 ff. 18
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dass er es – zusammen mit zwei der drei tragenden Gutachten – veröffentlicht hat. (Im Folgenden zitiere ich die Entscheidung nach dieser Veröffentlichung.) Den Sachverhalt, um den es im Rechtsbeugungsverfahren gegen den Staatsanwalt P. ging, entnehme ich der Kurzfassung des späteren Revisionsurteils: 24 „Die Hauptabteilung IX – Arbeitsgruppe Recht – des MfS verfasste ein Schriftstück ‚Zu den rechtlichen Möglichkeiten, Robert Havemann … eine Aufenthaltsbeschränkung aufzuerlegen.‘ Rechtsgrundlage sollte die Verordnung über Aufenthaltsbeschränkung (ABVO) vom 24. August 1961 sein. … Das MfS kam in Nr. 1 ‚Rechtsgrundlage‘ zu der Rechtsansicht, die Verordnung schließe es nicht aus, den Aufenthalt – im Sinne eines Aufenthaltsgebotes – auf ein Grundstück zu begrenzen. Bei Nr. 2 ‚Verfahrensweise‘ heißt es u.a.: ‚Durch einen verantwortlichen Staatsanwalt der Abteilung I des Generalstaatsanwalts der DDR wird das Verlangen des Rates des Kreises Fürstenwalde auf Aufenthaltsbeschränkung bei dem … Kreisgericht Fürstenwalde vertreten. In einem beschleunigten Verfahren wird Havemann gemäß § 3 der genannten Verordnung verurteilt, zeitlich unbefristet sein Grundstück in Grünheide … nicht zu verlassen. Das Verfahren ist sofort durchzuführen. Havemann kann zur Durchführung des Verfahrens vorgeführt werden.‘ … Am Folgetag, dem 26. November 1976, erging ein Beschluss des Rates des Kreises Fürstenwalde, das Verlangen auf Verurteilung Havemanns zur Aufenthaltsbeschränkung auf dessen Grundstück in Grünheide zu stellen. Dem zuständigen Bezirksstaatsanwalt in Frankfurt (Oder) war durch einen Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft telefonisch angekündigt worden, dass der Rat des Kreises ein entsprechendes Verlangen bei dem Kreisstaatsanwalt stellen und letzterer direkt von der Generalstaatsanwaltschaft angeleitet werde. … Der Kreisstaatsanwalt P. wurde am Morgen desselben Tages von dem – inzwischen verstorbenen – Leiter der Abteilung I der Generalstaatsanwaltschaft, Wi., in Fürstenwalde aufgesucht; dabei wurde ihm das Verlangen des Rates des Kreises übergeben. Wi. erteilte P. den Auftrag, einen dem Verlangen entsprechenden Antrag bei dem Kreisgericht Fürstenwalde zu stellen. Zugleich besprachen sie den Inhalt des Artikels Havemanns im ‚Spiegel‘. P. sah nach den Feststellungen des Tatrichters die materiellen Voraussetzungen für eine Aufenthaltsbeschränkung als erfüllt an. Auf seine Nachfrage
24
BGHSt 44, 278 ff.
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wegen des Aufenthaltsgebots auf das Grundstück versicherte ihm Wi., diese Auslegung sei möglich; das hielt P. nach Auffassung des Tatrichters für vertretbar. Aufgrund von Durchführungsbestimmungen zur ABVO sah er sich – so der Tatrichter – zudem verpflichtet, das Verlangen des Kreises ohne eigenes Prüfungsrecht zu vertreten. Wi. wies P. ferner darauf hin, dass er die Durchführung eines – bei Vorliegen eines Geständnisses möglichen – beschleunigten Verfahrens beantragen solle. P. stellte deshalb noch am selben Tag beim Kreisgericht Fürstenwalde einen entsprechenden Antrag. … Am Nachmittag dieses Tages, um 15.15 Uhr, wurde Havemann durch Volkspolizisten dem Kreisgericht zugeführt. Um 15.40 Uhr begann die Hauptverhandlung im beschleunigten Verfahren …, an der P. mitwirkte. Auf Antrag von P. wurde die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Havemann bestätigte, den ‚Spiegel‘-Artikel verfasst zu haben … Auf Antrag von P. verkündete die Vorsitzende das – mit einem Absatz begründete – Urteil, mit dem eine Aufenthaltsbeschränkung auf das Grundstück in Grünheide ausgesprochen wurde.“ Die rechtliche Würdigung der Strafkammer folgt den Vorgaben des BGH zur Rechtsbeugung, setzt freilich auch einige bemerkenswerte eigene Akzente. Das Urteil kommt zu folgenden Ergebnissen: – Der Antrag des Angeklagten P. vom 26.11.1976 an das Kreisgericht Fürstenwalde, den Aufenthalt Havemanns auf sein Grundstück in Grünheide zu beschränken, war mit dem DDR-Recht nicht zu vereinbaren. Eine Verurteilung wegen Rechtsbeugung komme gleichwohl nicht in Betracht, weil die Rechtswidrigkeit der Entscheidung nicht so offensichtlich war, dass sie sich als Willkürakt darstellt.25 Das Gericht begründet seine Auffassung aus dem Charakter des anzuwendenden § 3 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über Aufenthaltsbeschränkung (ABVO) von 1963. Diese Vorschrift sei eine Norm des Polizei- und Ordnungsrechts, eine polizeiordnungsrechtliche Generalklausel zum Schutz vor Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. „Sie stellte keinen Straftatbestand dar und (zielte) nicht auf eine Bestrafung ab.“ 26 Die danach erforderliche Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung konnte der Angeklagte P. unter Zugrundelegung damaliger Sicherheitsdoktrin und Denkweisen annehmen, da der Spiegelartikel Havemanns als direkter Angriff auf die bestehende Staats- und Verfassungsordnung verstanden werden konnte und die Gefahr weiterer ähnlicher Veröffentlichungen durch Havemann zu befürchten war.27 Allein 25 26 27
Urteil Landgericht Frankfurt/Oder (Fn 2) S. 24. AaO S. 195. AaO S. 194 f.
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auf diese Schaffung und Fortdauer der objektiven Gefahrenlage war nach dem Charakter der ABVO abzustellen.28 Die gerichtliche Zuweisung des Aufenthalts an einen Ort sei gesetzwidrig gewesen. Der Angeklagte P. hätte gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Satz 1 der ABVO nur eine Aufenthaltsuntersagung für bestimmte Orte der DDR beantragen dürfen. Für die Zuweisung an einen bestimmten Ort waren nur die „Organe der Staatsmacht“ – hier also wieder der Rat des Kreises Fürstenwalde – berechtigt – „gewissermaßen als zweiter Schritt aufgrund des Urteils.“ 29 Da die zuständige Behörde die Zuweisung bereits beschlossen und zum Gegenstand ihres Antrags an das Gericht gemacht hatte, habe in der gerichtlichen Bestätigung dieses Antrags jedenfalls keine Willkür gelegen. Unter einem „bestimmten Ort“ auch ein einzelnes Grundstück zu verstehen, sei bei einer „sehr weiten Wortlautauslegung“ immerhin möglich.30 Auch in der Nichtbefristung der gerichtlichen Aufenthaltsbeschränkung sei keine Rechtsbeugung zu sehen. Das Gericht sei gar nicht befugt gewesen, über eine bestimmte Dauer der Aufenthaltsbeschränkung zu entscheiden; diese war vom Fortbestand der konkreten Gefährdungslage abhängig und also fortlaufend durch die Vollzugsbehörde – eben den Rat des Kreises Fürstenwalde – zu überprüfen. Die Übernahme der Vollzugsüberwachung durch das MfS sei für den Angeklagten nicht vorhersehbar gewesen.31 Der Antrag des P., die Verhandlung als beschleunigtes Verfahren durchzuführen, war nach Auffassung der Kammer gesetzwidrig, da die analog anzuwendende Vorschrift des § 257 Abs. 1 StPO-DDR ein Nichtbestreiten der Tat voraussetzte. Da sich aber die polizeiordnungsrechtliche Behandlung des Falles auf die Frage reduzierte, ob Havemann zugab, der Verfasser des Spiegel-Artikel zu sein, und keinesfalls zu erwarten war, dass dieser seine Autorenschaft bestreiten würde, schien der Kammer die Vorwegnahme dieses Eingeständnisses nicht nachgerade willkürlich zu sein, zumal der Antrag auf ein beschleunigtes Verfahren keine konkrete Gefahr für eine falsche Endentscheidung begründete.32 Auch der Antrag des P. auf Ausschluss der Öffentlichkeit kam nach Ansicht der Kammer nicht als rechtsbeugerische (Teilnahme)Handlung in Betracht, da er von dem sehr weit gefassten Wortlaut des § 211 Abs. 2, 3 SPO-DDR noch gedeckt erschien.33
28 29 30 31 32 33
AaO S. 195, Hervorhebung im Original. AaO S. 196. AaO S. 197. AaO S. 198. AaO S. 199 f. AaO S. 200.
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– Über diese objektiven Feststellungen hinaus belegte die Kammer im Einzelnen, dass der Angeklagte P. von der Richtigkeit bzw. Vertretbarkeit seiner Entscheidungen überzeugt war und keinesfalls wissentlich gegen die anwendbaren Gesetze und Grundsätze des DDR-Rechts verstoßen hat.
IV. Ich habe dem Urteil des Landgerichts Frankfurt/Oder meine Reverenz erwiesen. Ich will ebenso deutlich sagen: Ich halte den Revisionsentscheid des BGH für wenig überzeugend.34 Er ist weder dem Urteil der Vorinstanz noch den Angeklagten gerecht geworden. Vor allem sind die rechtlichen Begründungen und Anweisungen inhaltlich oft nur oberflächlich und unklar aufbereitet und sprachlich durchweg nachlässig abgefasst worden. So, wie das in einem bedeutenden Verfahren mit einer breiten Öffentlichkeit eigentlich nicht sein darf und wie es dem hohen Niveau, das gerade der 5. Strafsenat in seinen Entscheidungen zur Rechtsbeugung durchgehalten hat, einfach nicht entspricht. Das mögen drei Beispiele belegen: – Natürlich war es ein zentrales Problem, ob ein polizeirechtliches Verfahren zur Gefahrenabwehr überhaupt unter den anwendbaren § 244 StGBDDR zu subsumieren ist; die tatbestandliche Beschränkung der staatsanwaltschaftlichen Haftung auf Ermittlungsverfahren scheint das von vornherein auszuschließen. Der BGH, der die einschlägige Norm der ABVO-DDR durchaus zutreffend und in Übereinstimmung mit der Strafkammer als „eine Art Prävention zur Gefahrenabwehr“ qualifiziert,35 findet für dieses Problem einen einzigen Halbsatz ohne jede (!) weitere Begründung: „…; dieses Verfahren ist zwar kein Strafverfahren im eigentlichen Sinne, steht einem solchen für die hier zur Entscheidung stehenden Rechtsfragen aber gleich.“ 36 Und das in einem Verfahren, in dem es um Rechtsbeugung durch Überschreitung des gesetzlichen Wortlauts geht! – Natürlich bedürfen die Fallgruppen, die der BGH in gefestigter Rechtsprechung als mögliche Rechtsbeugungstatbestände für Richter und Staatsanwälte aufgezeigt hat, im Hinblick auf die Besonderheiten des Havemann-Verfahrens weiterer Konkretisierung. Der BGH versucht sie mit seiner Drehbuchmetapher. Die DDR-Justiz, das ist der Ausgangspunkt, verfügte über ein „System der justizinternen Abstimmung“ durch horizontale und vertikale Anleitungen. Solche Abstimmungen des pro-
34 Zur Kritik vgl. auch Arnold Rechtsbeugung von Richtern und Staatsanwälten der DDR im „Fall Robert Havemann“? NJ 1999, 286 ff. 35 BGHSt 44, 300. 36 BGHSt 44, 298.
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zessualen Ablaufs von Gerichtsverfahren und der rechtlichen Bewertung eines Sachverhalts innerhalb der DDR-Justiz „erfüllen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs grundsätzlich noch nicht den Tatbestand der Rechtsbeugung.“ 37 Dieser Grundsatz erfährt nunmehr Abstriche. Denn „diese generell gegebenen Möglichkeiten [sc. justizinterner Anleitungen] wurden hier durch eine ungewöhnlich detaillierte (horizontale) Abstimmung – neben der klaren Vorwegnahme des Verfahrensergebnisses bis hin zu genauen Terminsvorgaben an die Gerichte – nach Art eines Drehbuchs für die befassten gerichtlichen Instanzen genutzt.“ 38 „In solchen Fällen liegt Rechtsbeugung für denjenigen Justizangehörigen, der ‚Akteur‘ eines solchen Drehbuchs ist, auch dann vor, wenn das Ergebnis des Verfahrens für sich betrachtet noch keine willkürliche Rechtsanwendung darstellt.“ 39 Aber dieses Bild vom vorgegebenen Drehbuch, mit dem der BGH offensichtlich eine besondere Form von Täterschaft als Willkürherrschaft begründen will, gewinnt keine Konturen, das Regiekonzept geht hinten und vorne nicht auf. Zunächst einmal lassen die tatsächlichen Feststellungen, die das Landgericht mühsam herausgearbeitet hat, ein solches Drehbuch nicht erkennen. „Die Theater-Metapher von Regisseur und Statisten“, so hat Rottleuthner, der für die Strafkammer über die Steuerung gerichtlicher Entscheidungen und direkte Einflussnahmen auf Richter und Staatsanwälte begutachtet hatte, das Revisionsurteil später kommentiert, „geht fehl. Es gab viele Drehbücher, die unter mehreren Autoren ‚abgestimmt‘ wurden; daraus wurden einige Szenen realisiert und andere nicht …“ 40 Aber davon einmal abgesehen, tritt hier die Suggestionskraft einer Metapher an die Stelle erforderlicher Begründungen. Das gilt einmal für die Abgrenzung von Täterschaft und Teilnahme. Das szenische Komplott belegt für sich allenfalls die Täterschaft von Drehbuchautor, Regisseur und Theaterdirektor. Aber im Übrigen steht doch wohl die Unterscheidung in Haupt- und Nebenrollen an – es sei denn, jeder der im Drehbuch aufgeführten Akteure finde sich ohne Rücksicht auf den Umfang seiner Rolle und die Art und Weise seiner Auswahl („Casting“?) in einem Ensemble von lauter Tätern wieder. (Diese Deutung gibt Heine der Drehbuchtäterschaft.) 41 Ob aber Täter oder Gehilfe – Voraussetzung für jede „Drehbuch-Haftung“ ist doch wohl, dass der einzelne Akteur eine ihm zugewiesene Rolle annimmt und spielt. Man mag die Anforderung an das Wissen absenken 37 38 39 40 41
BGHSt 44, 302 mN. BGHSt 44, 303. BGHSt 44, 301. Rottleuthner (Fn 2) S. 22. Heine Täterschaft und Teilnahme in staatlichen Machtapparaten, JZ 2000, 920 (926).
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soviel man will: Eine Täterschaft ganz ohne Kenntnis einer drehbuchgesteuerten Regie kann es hier wohl nicht geben. Das aber sieht der BGH anders: „Dabei mag es in der Tat so gewesen sein – Gegenteiliges hat das Landgericht … nicht feststellen können – dass das MfS mit den zur Entscheidung berufenen Justizorganen nicht direkt in Kontakt getreten ist. Dies hinderte die Umsetzung des ‚Drehbuchs‘ aber nicht: Das Landgericht ist zu dem Ergebnis gelangt, dass die Angeklagten – sämtlich SED-Mitglieder – bei der vertikalen Umsetzung keinen ‚Risikofaktor‘ gebildet haben. Das Zusammenspiel von horizontaler Abstimmung und so gesicherter vertikaler Umsetzung gewährleistete, dass der ‚Operative Vorgang‘ reibungslos vollzogen werden konnte.“ 42 Da geht denn doch einiges durcheinander. Die „Risikofaktoren“, also doch wohl die Justizangehörigen mit besonderer Entscheidungskompetenz, werden als Akteure in das Regiekonzept ausdrücklich einbezogen, wohingegen die Mitläufer an der Basis, weil und soweit sie kein Risiko bilden, auch unwissend zum Täter eines konspirativen Netzwerks werden – an die Stelle konkreter, einverständlicher Einbindung in das Komplott tritt die SED-Mitgliedschaft. Das ist nun selbst schlechte Regieanweisung eines Revisionsgerichts, die nicht dadurch besser wird, dass das Landgericht Neuruppin in seiner abschließenden Entscheidung ihr jedenfalls bezüglich der Aufenthaltsbeschränkung nicht gefolgt ist. – Und natürlich der Vorsatz. Wer die Strafbarkeit ausweitet, hat doppelte Arbeit zu leisten: im objektiven und im subjektiven Tatbestand. Der Nachweis eines „Drehbuchs“ ist schon schwer genug, aber nun erst der Vorsatz. Der Angeklagte muss alle ihn belastenden Tatumstände kennen, und das heißt beim dolus directus, um den es bei §244 StGB-DDR nun einmal geht, das sichere Wissen und Wollen der eigenen Abhängigkeit von einem solchen Drehbuch. Freilich: Auch eine Vorsatzdefinition bedarf der Auslegung, und bei entsprechendem Druck gibt sie nach. Beim BGH liest sich das so: „Im Falle der Verurteilung Havemanns zu einer Aufenthaltsbeschränkung ist bei der Prüfung des Rechtsbeugungsvorsatzes nicht nur zu berücksichtigen, inwieweit die Angeklagten wussten und wollten, dass Havemann mittels des vorgeschobenen Gerichtsverfahrens politisch ausgeschaltet werden sollte, vielmehr stellen die festgestellten schweren Verfahrensverstöße ein bedeutendes Indiz zum Nachweis des Rechtsbeugungsvorsatzes dar, soweit die Angeklagten Kenntnis von diesen Verfahrensverstößen hatten.“ 43 Der Satz gibt seine Bedeutung nicht preis. Wenn er mehr aussagen soll als die Selbstverständlichkeit, dass Wissen und Wollen auch durch Indizien bewiesen werden können, dann kann er
42 43
BGHSt 44, 304. BGHSt 44, 305 f.
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eigentlich nur dahin verstanden werden, dass die Indizien nunmehr an die Stelle des Vorsatznachweises treten sollen. Da helfen auch Nachbesserungen nicht. Dass es „zur Annahme des Rechtsbeugungsvorsatzes nicht erforderlich [ist], dass die beteiligten Richter und Staatsanwälte die Operationspläne des MfS und das ‚Drehbuch‘ in Einzelheiten kannten“, versteht sich (und ist schon deshalb selbstverständlich, weil es „das“ Drehbuch gar nicht gab). Aber irgendwie muss das „wissentliche Eingebundensein in die Ausschaltung eines politischen Gegners“, also das Bewusstsein, „dass ‚von oben‘ die Ausschaltung des politischen Gegners gewollt war“,44 doch belegt werden. Und wenn das Landgericht in dem Bewusstsein des Angeklagten nun nichts anderes findet als das Ergebnis einer Lagebesprechung mit dem vorgesetzten Vertreter der Generalstaatsanwaltschaft zu den Erfordernissen und (rechtlichen!) Möglichkeiten einer konkret erforderlichen Störungsabwehr – was dann? Dann kann das wohl nur an Fehlern in der Beweiswürdigung liegen. Beim BGH liest sich das so: „Zudem hat das Landgericht wichtige Indizien, die für Wissen und Wollen der Gesetzwidrigkeit durch Ausschaltung des politischen Gegners sprechen, nur isoliert gewürdigt. Es hat die Indizien je einzeln und jedes für sich behandelt nicht ausreichend beweiskräftig bewertet (‚nicht belegt‘, ‚nicht bewiesen‘, kein ‚direkter Hinweis‘, ‚nicht der sichere Schluss‘, ‚es ist zweifelhaft‘). Das lässt besorgen, dass das Landgericht bei der Beweiswürdigung von zu engen Voraussetzungen ausgegangen ist und verkannt hat, dass – für sich betrachtet zwar ambivalente – aber immerhin doch belastende Indizien in der Gesamtschau ausreichenden Beweis für die tatrichterliche Überzeugung erbringen können. …“ 45 Spätestens an dieser Stelle werden die Ausführungen ein Ärgernis. Nicht wegen der theoretischen Annahme, die ihnen zugrunde liegt. Dass ein Bündel von Indizien einen gewissen Beweiswert behalten kann (!), selbst wenn jedes einzelne Indiz sich durch eine In-dubio-Feststellung in Frage stellen lässt, ist zu akzeptieren. (Obwohl die vom BGH angenommene Möglichkeit, dass die Indizien bei allen Zweifeln im Einzelnen die volle Überzeugung des Tatrichters belegen können, hoffentlich die absolute Ausnahme bleiben wird.) Ärgerlich wird es, weil sich die vom BGH beanstandeten Wendungen im landgerichtlichen Urteil bei der Beweiswürdigung des Angeklagten P. nirgendwo finden. Die Kammer hat ihre Überzeugung vom fehlenden Vorsatz des Angeklagten P. nicht negativ mit der Widerlegung von Indizien, sondern positiv begründet: mit den Aussagen
44 45
BGHSt 44, 306. BGHSt 44, 307 f.
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des Angeklagten, deren Glaubwürdigkeit für das Gericht außer Frage stand. Die beanstandeten Wendungen finden sich tatsächlich über die Beweiswürdigung der anderen Angeklagten verstreut, bei ihnen hat sich das Landgericht ersichtlich schwer getan. Beim Angeklagten P. heißt es dagegen: „Für das Gericht ergeben sich keine Gründe, diesen Einlassungen des P. nicht zu folgen …“ „Insbesondere aber ist die Aussage des Angeklagten P. glaubhaft, dass er sich einer Verfahrenssteuerung durch das Ministerium für Staatssicherheit nicht bewusst gewesen sei …“ (wird ausgeführt) „Zum einen fehlt schon in den Verfahrensakten jeder Hinweis auf eine derartige Kenntnis. Auch in den durch das MfS geführten Akten ist kein Vermerk aufgefunden worden …“ „Dagegen ist durch die Aussage des glaubwürdigen Zeugen M. die Einlassung des Angeklagten P. bestätigt worden …“ 46 „… dieses Schriftstück [ist] ein weiteres Indiz dafür, dass das MfS in die Vorbereitung des Verfahrens den Angeklagten P. gerade nicht einbezogen hatte.“ 47 „Schließlich hat das Gericht keinen Anlaß, an der Richtigkeit der Einlassungen des … Angeklagten P. zu seinem Wissen um die Ausbürgerung Biermanns zu zweifeln. Gleiches gilt – vor allem wegen der Glaubhaftigkeit seiner Einlassungen im übrigen – für die Angaben des Angeklagten P. zu seinen tatsächlichen und rechtlichen Überlegungen bei der Vertretung des Antrags des Rates des Kreises Fürstenwalde …“ 48 Ich finde in der mehrere Seiten umfassenden Beweiswürdigung der Strafkammer zur subjektiven Seite des Angeklagten P. keinen Anhaltspunkt für die Richtigkeit einer revisionsrechtlichen Vorsatzschelte nach Art des BGH. Rainer Hamm, Revisionsspezialist gerade auch in Vorsatzfragen, wird mir vielleicht erklären können, weshalb ich doch schief liege. Meine Auffassung aber, dass der BGH mit den Feststellungen der Strafkammer zum Vorsatz des Angeklagten P. mehr als leichtfertig umgegangen ist, wird er kaum in Frage stellen können.
V. Im Urteil des Landgerichts Neuruppin 49 ist die Luft längst raus. Das Gericht kann sich der Umklammerung durch die rechtlichen Vorgaben des Revisionsurteils (§ 358 Abs. 1 SPO) nicht entziehen, bringt allerdings auch nicht die Nerven auf, die Reichweite dieser Vorgaben wirklich auszuloten. So bleibt es also bei dem einen Satz des BGH, dass das polizeirechtliche Ver46 47 48 49
Landgericht Frankfurt/Oder (Fn 2) S. 160. Landgericht Frankfurt/Oder (Fn 2) S. 161. Landgericht Frankfurt/Oder (Fn 2) S. 162 f. Landgericht Neuruppin, Urteil v. 14.8.2000 – 11 KLs 363 Js 1291/93 (5/99).
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fahren der Aufenthaltsbeschränkung wie ein Strafverfahren zu beurteilen sei. Damit ist eine Verurteilung wegen Rechtsbeugung objektiv schon vorgezeichnet. Noch verführerischer wirkt der Hinweis des BGH, dass der Vorsatz der Rechtsbeugung schon aus den schweren Verfahrensverstößen hergeleitet werden könne. Das Landgericht 50 erklärt entsprechend die Einlassung des Angeklagten P. in allen Punkten kurzerhand für eine Schutzbehauptung und versteift sich auf die Schwere der Rechtsverletzung. Dabei wird diese Schwere angemessen hochgesteigert – aus „Aufenthaltsbeschränkung auf das Grundstück …“ wird unversehens „Hausarrest auf diesem Grundstück“; und weil sich Staatsanwalt und Gericht mangels Zuständigkeit zu einer Befristung überhaupt nicht geäußert haben, ist der Hausarrest eben „unbefristet“ ausgesprochen. Dass der Hausarrest später nur sporadisch vollzogen worden ist, tut der Schwere keinen Abbruch, denn für den Vollzug und seine Lockerungen seien Staatsanwalt und Gericht ja gar nicht zuständig gewesen (!).51 Nur in einem Punkt leistet sich das Gericht Freigang: Es kommt auf die „Täterschaft nach Drehbuch“ jedenfalls beim Aufenthaltsbeschränkungsverfahren nicht mehr zurück. Damit war eigentlich der Weg frei für den Hinweis des Revisionsgerichts, dass beim Staatsanwalt dessen Weisungsabhängigkeit zu beachten sei.52 Aber diesen Hinweis verstümmelt das Gericht: Es verneint einen „Befehlsnotstand“ (den es in § 95 StGB-DDR gefunden und gründlich missverstanden hatte) 53 und versteift sich darauf, dass es ohne den Antrag des Staatsanwalts P. vor Gericht auch keine Verurteilung zur Aufenthaltsbeschränkung gegeben hätte.54 Das ist zwar richtig; aber eine solche bloße Kausalität staatsanwaltschaftlicher Mitwirkung hatte der BGH bis dahin für eine täterschaftliche Rechtsbeugung als nicht ausreichend erachtet – eigene, richterähnliche Entscheidungskompetenz in einer eigenverantwortlichen Verfahrensgestaltung sollte es schon sein.55 Um der eigenen Auffassung von der Täterschaft auch ohne funktionale Tatherrschaft aufzuhelfen, bemüht das Landgericht schließlich die Pflicht der Staatsanwaltschaft zur allgemeinen Gesetzlichkeitsaufsicht gem. Art. 97 DDR-Verfassung.56 Aber diese allgemeine Zuständigkeit gilt selbstverständlich nur dort, wo die Rolle des Staatsanwalts nicht bereits gesetzlich abschließend geregelt ist. Im Polizeiverfahren nach der ABVO und erst recht im Strafverfahren kann die Gesetz-
50 51 52 53 54 55 56
Landgericht Neuruppin (Fn 48) S. 63 ff. Landgericht Neuruppin (Fn 48) S. 71. BGHSt 44, 307. Landgericht Neuruppin (Fn 48) S. 71. Landgericht Neuruppin (Fn 48) S. 70. Vgl. BGHSt 41, 247 (249). Landgericht Neuruppin (Fn 48) S. 68.
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lichkeitsaufsicht nicht dazu herhalten, die Kompetenzen der Staatsanwaltschaft gegen das Gesetz zu erweitern. Am Ende ein Fehler, der weh tut. Bei der Strafzumessung wegen Rechtsbeugung und Freiheitsberaubung bedenkt das Gericht die lange Verfahrensdauer von mehr als sechs Jahren und will es deshalb bei der gesetzlich zulässigen Mindeststrafe belassen. Die wäre nach dem anzuwendenden § 244 StGB-DDR eine Freiheitsstrafe von sechs Monaten. Das Gericht 57 sieht sich stattdessen genötigt, die Mindeststrafe des § 336 StGB von einem Jahr auszusprechen; nur bei Anwendung dieser Vorschrift käme eine – im Strafgesetz der DDR nicht enthaltene – Strafaussetzung zur Bewährung in Betracht. Die Kammer beruft sich dabei auf eine Entscheidung des 5. Strafsenats von 1990. Danach sei bei zwei nebeneinander stehenden Regelungen nach dem Grundsatz der strikten Alternativität immer nur die eine oder die andere Bestimmung in ihrer ganzen Reichweite anzuwenden; eine Abschichtung von Schuldspruch, Strafdrohung, Strafzumessungsvorschriften sowie Nebenfolgen mit dem Ziel einer Meistbegünstigung in jedem Teilbereich sei nicht zulässig.58 Das Landgericht hätte dabei mindestens dreierlei bedenken sollen. Erstens: Nach dem Grundsatz der strikten Alternativität, dessen umfassende Geltung der BGH in der zitierten Entscheidung ausdrücklich offen lässt, hätte es selber doch, wenn es denn auf eine Strafaussetzung hinaus wollte, § 336 StGB von Anfang an und in allen Punkten anwenden müssen. (Vieles wäre dann wohl einfacher geworden.) Zweitens: Das Revisionsurteil selbst hat § 244 StGB-DDR in diesem konkreten Fall als das mildere Gesetz angesehen. Möglicherweise hat es ja dabei die Implikationen für die Frage der Strafaussetzung übersehen (?) – aber diese rechtliche Vorgabe war für die Strafkammer nun wirklich bindend. Und schließlich drittens: Das StGB-DDR sah sehr wohl mit seinem § 45 eine „Strafaussetzung auf Bewährung“ vor. Die Norm entsprach im Wesentlichen der Aussetzung des Strafrestes i.S. des § 57 StGB mit der Besonderheit, dass die Verbüßung einer bestimmten Strafzeit nicht vorgesehen war; die bedingte Entlassung konnte also jederzeit erfolgen. Der amtliche Kommentar des Ministeriums der Justiz von 1981 59 vermerkt zwar: „Der Zweck dieser Bestimmung wird im allgemeinen nicht erreicht, wenn eine Strafe unmittelbar nach Rechtskraft des Urteils auf Bewährung ausgesetzt … wird“ – aber möglich war das eben doch, und jedenfalls hätte der Hinweis auf diese Vorschrift den § 244 StGB-DDR auch bei „strikter Alternativität“ als mildere Vorschrift bestätigen können.
57
Landgericht Neuruppin (Fn 48) S. 76. BGHSt 37, 320 (322). 59 Strafrecht der Deutschen Demokratischen Republik, Kommentar zum Strafgesetzbuch, hrsg. vom Ministerium der Justiz, Berlin 1981, 3. zu § 45, S. 179. 58
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Bleibt nachzutragen, dass der 5. Strafsenat die Revision des Angeklagten P. gegen das Urteil des Landgerichts Neuruppin vom 14.8.2000 am 9.5.2001 durch Beschluss nach § 349 Abs. 2 SPO als unbegründet verworfen hat.60
VI. Ich will zunächst noch einmal zusammenfassen, weshalb meiner Ansicht nach das Verfahren wegen Rechtsbeugung von Anfang an schief gelaufen ist. Danach wird es Zeit für einige Schlussbemerkungen zum „Fall Havemann“ (VII) und zur Rechtsbeugung (VIII). – § 244 StGB-DDR war im vorliegenden Fall nicht anwendbar, weil sich diese Vorschrift nur auf Strafverfahren im eigentlichen Sinne bezieht und sich jedenfalls die Haftung des Staatsanwalts bei der Vorbereitung einer gerichtlichen Entscheidung auf das strafrechtliche Ermittlungsverfahren beschränkt. Das polizeiliche Verfahren zur Aufenthaltsbeschränkung aber war kein Strafverfahren, schon gar nicht war die vorbereitende Tätigkeit des Staatsanwalts ein Ermittlungsverfahren. Nach § 3 Abs. 3 der ABVO fanden die Bestimmungen der Strafprozessordnung lediglich entsprechende Anwendung. Diese entsprechende Anwendung hat § 2 der ersten Durchführungsbestimmung zur ABVO bezeichnenderweise selbst beschränkt auf „die Abschnitte über Verhaftung, vorläufige Festnahme, Durchführung der Hauptverhandlung [! – die gerichtliche Verhandlung über die Aufenthaltsbeschränkung wird also nicht aus sich heraus als Strafverfahren angesehen] und die Vollstreckung des Urteils.“ Das staatsanwaltschaftliche Ermittlungsverfahren bleibt ausdrücklich ausgespart. Der Grund für diese Beschränkung liegt auf der Hand. Der gesetzliche Auftrag, das Verlangen des Kreisrates Fürstenwalde dem Gericht zu übermitteln, machte den Staatsanwalt nicht zum Herren des Vorverfahrens mit allen verfahrensgestaltenden Kompetenzen einer strafprozessualen Ermittlung. Mit der Entgegennahme des Antrags und der Vertretung vor Gericht übernahm der Staatsanwalt nicht die inhaltliche Verantwortung für das Verlangen des Organs der Staatsmacht, er hatte weder eigene Untersuchungskompetenz bezüglich einer Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung noch eine Entscheidungsbefugnis bezüglich der Weitergabe des Antrags. Vor Gericht konnte er vermutlich gegen das Verlangen des Rates sprechen, im Vorfeld zurückweisen konnte er es nicht. Das ist – neben der Weisung des Vertreters der Generalstaatsanwaltschaft – auch der Grund, weshalb eine Bestrafung des Staatsanwalts P. als Täter einer Rechtsbeugung von vornherein nicht in Betracht kam. Aber selbst wenn die ABVO dem Staats60
BGHSt 5 StR 46/01.
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anwalt weitere Kompetenzen übertragen hätte: Die analoge Anwendung sämtlicher Vorschriften der SPO-DDR würden aus dem vorbereitenden Verfahren noch kein strafprozessuales Ermittlungsverfahren machen. Wer hier aus § 244 StGB-DDR straft, wendet diese Vorschrift selbst analog an. – Ein Fehler zieht den anderen nach sich. Die „Schwere der Rechtsverletzung“, die sowohl im objektiven als auch im subjektiven Tatbestand zur Begründung der Rechtsbeugung notwendig erschien, gewinnt ihren Gehalt nur aus den Verfassungsgrundsätzen des Strafrechts. Sämtliche Falltypen des BGH zur Rechtsbeugung beziehen sich auf Straftat, Strafe und Strafverfahren, von der Überdehnung des Wortlauts und der Unangemessenheit der Strafe bis hin zur Verletzung prozessualer Garantien. Vor allem die dritte Fallgruppe, die der BGH heranzieht, passt einfach nicht. Rechtsbeugung soll vorliegen, wenn „die Strafverfolgung und die Bestrafung überhaupt nicht der Verwirklichung von Gerechtigkeit dienen …“ Das ist hier nur deshalb der Fall, weil polizeiliche Vorkehrungen von Anfang an nicht der (strafenden) Gerechtigkeit, sondern der öffentlichen Sicherheit dienen. Für ein polizeirechtliches Verfahren zur Gefahrenabwehr gelten insgesamt andere Grundsätze. Alle Nulla-poena- sine-lege-Regeln, alle Ausformungen des Schuldprinzips und die meisten Verteidigerrechte greifen nicht, wenn es um die Beurteilung einer Gemeingefahr und entsprechende polizeiliche Abwehrmaßnahmen geht. Natürlich sind auch im Polizeirecht Generalklauseln fragwürdig (geworden), und der Bestimmtheitsgrundsatz gibt auch hier dem Wortlaut seine Bedeutung. Aber wer in einer – sachlich begründeten – Wortlautkorrektur der ABVO ein verfassungsrechtliches Problem vom Gewicht einer schweren Menschenrechtverletzung sehen will, muss tatsächlich vorher eine zeitlich unbestimmte Aufenthaltsbeschränkung zu einem unbefristeten Hausarrest mit Sanktionscharakter umdeuten, anders läuft die verfassungsrechtliche Empörung – nicht die Empörung gegen Art und Umfang des Polizeieinsatzes! – ins Leere. – Im polizeirechtlichen Verfahren nach der ABVO hatte der Rat des Kreises Fürstenwalde zunächst die Befugnis, bei Gericht eine Aufenthaltsbeschränkung zu beantragen. Bei gerichtlicher Genehmigung konnte er die Aufenthaltsbeschränkung durch die Zuweisung eines bestimmten Aufenthaltsorts vollstrecken. Im vorliegenden Fall hat er sich, wie das sachlich vernünftig und rechtlich gewiss nicht unzulässig war, vorweg bereits auf das Endergebnis verständigt, nach der gerichtlichen Aufenthaltsbeschränkung die Zuweisung auf das Grundstück in Grünheide vorzunehmen. Wozu auch zweimal tagen, wenn die gebotene und zulässige Endmaßnahme im Hinblick auf die polizeiliche Zweckmäßigkeit und Erforderlichkeit bereits feststand. Und nun das Gericht. Es hätte den Antrag des Rates zurückweisen können mit der Aufforderung, einen auf die Aufenthaltsbeschränkung begrenzten Antrag erneut vorzulegen. Es hätte seine Entscheidung über den umfas-
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senden Antrag auch auf den Gesichtspunkt der Aufenthaltsbeschränkung reduzieren und anmerken können, dass es sich zu der weitergehenden Aufenthaltszuweisung nicht äußern wolle oder dürfe. Es hat stattdessen den umfassenden Antrag gutgeheißen, ohne dass es auf diesen Entscheid für die polizeiliche Aufenthaltszuweisung im Geringsten ankam. Worin soll da eine erhebliche Rechtsbeeinträchtigung liegen – etwa darin, dass das Gericht seine Kontrollkompetenz gegenüber der Exekutive eigenmächtig erweitert hat? Natürlich bleibt der Vorwurf des „von oben“ gesteuerten Gesamtablaufs. Auf ihn hat der BGH sein Verurteilungskonzept letztlich aufgebaut. Aber es ist nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass die Bezugnahme auf das gesamte politische Geschehen zur Begründung einer Rechtsbeugung erforderlich wurde, weil die Rechtverletzungen „vor Ort“ in Wahrheit nicht dafür standen.
VII. Damit sind wir bei dem entscheidenden Punkt. Wieso eigentlich „Fall Havemann“? Wir haben im deutschen Strafrecht die gute Tradition, unsere „Fälle“ nicht zu benennen, nicht mit dem Namen des Täters, und schon gar nicht mit dem eines Opfers. Namen verstellen leicht den Blick auf das Tatstrafrecht. Hier ist es bezeichnenderweise der BGH selbst, der in seiner amtlichen Sammlung der Überschrift seiner Revisionsentscheidung über das Urteil des Landgerichts Frankfurt/Oder „Zur Rechtsbeugung in der DDR durch willkürliche Verfahrensgestaltung“ den Zusatz „Fall Havemann“ gleichsam als Programm beigibt. Und dieses Programm sprengt die Grundsätze des Tatstrafrechts. Eine konkrete Aufenthaltsbeschränkung und ein Strafbefehlsverfahren sind Gegenstand der Anklage. Der BGH geht von Anfang an darüber hinaus. Er erweitert das Spektrum des Verfahrens um alle historischen Kenntnisse einer langjährigen politischen Verfolgung.61 Er sieht die beiden Straftaten von vornherein nur als Teile dieser politischen Verfolgung; die Anklagepunkte sind nicht länger zwei rechtlich vorgezeichnete Verfahren, sondern selber nur „operative Vorgänge“, nicht darauf angelegt, Havemann zur Rechenschaft zu ziehen, sondern ihn als politischen Gegner „auszuschalten“. Der BGH bildet für seine Sicht der Dinge, wie gesagt, einen eigenen Tatbestandstypus: „Verfahren, namentlich Strafverfahren [!], in denen die Strafverfolgung und die Bestrafung überhaupt nicht der Verwirklichung von Gerechtigkeit, sondern der Ausschaltung des politischen Gegners gedient
61
BGHSt 44, 276–278.
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haben.“ Der Sinn dieser Gegenüberstellung – Strafverfolgung und Bestrafung hier, Ausschaltung des politischen Gegners dort – erschließt sich nicht sofort. Wieso soll denn das (politische) Strafrecht nicht der Ausschaltung des politischen Gegners dienen? Ersetzt man den etwas martialischen Begriff durch den der „Bekämpfung“, so haben wir nachgerade das Programm unseres heutigen Gesetzgebers, der ein „Bekämpfungsgesetz“ nach dem anderen verabschiedet und sich dabei ganz offen dem mehrfach erklärten „Krieg“ beispielsweise gegen Drogenkriminalität oder Terrorismus anschließt – der Sieg wäre gewiss die „Ausschaltung“ des Gegners. Natürlich wird auf den zweiten Blick deutlich, was gemeint ist. Nach heutigem Strafrechtsverständnis haben die strafgesetzlichen Vorgaben eine doppelte Funktion: Sie legitimieren die Strafverfolgung und begrenzen sie zugleich. Verfahrensgerechtigkeit ist das legitime Ziel strafrechtlicher Machtausübung, weil und soweit das Strafrecht mit seinem materiellen Recht und seinem Verfahrensprogramm staatliche Verfolgung immer auch in ihre Schranken weist. Aber dieser Gedanke – dass die Strafjustiz mit der Verwirklichung von Verfahrensgerechtigkeit die Machtausübung des Staates kontrolliert, begrenzt und erst dadurch legitimiert – war dem DDR-Recht fremd, und es ist ein Verdienst des Landgerichts Frankfurt/Oder, die Andersartigkeit des verfassungstheoretischen Ansatzes in der DDR herausgearbeitet zu haben. Das Gesetz – und eben auch das Strafgesetz – verstand sich nicht als Kontrolle politischer Machtausübung, sondern als ihr Instrument. Das Gesetz begrenzte politische Macht nicht, sondern zeichnete die Wege ihrer optimalen Verwirklichung vor, optimale Zielverwirklichung war zugleich das maßgebliche Auslegungskriterium. Gerechtigkeit war „vom Inhalt der sozialistischen Gesellschaftsordnung in der DDR, ihren klassenmäßigen Grundlagen und vom Charakter der Politischen Macht geprägt.“ 62 Strafrecht war selbst derart instrumentalisiert, „dass die mit den Gesetzen in Einklang stehende Strafverfolgung und Bestrafung eines politischen Gegners für den Richter oder Staatsanwalt einen Ausdruck höchster Gerechtigkeit darstellte.“ 63 Daraus ergibt sich für das Landgericht Frankfurt/Oder, dass nicht jede Strafverfolgung eines politischen Gegners in der ehemaligen DDR als Rechtbeugung geahndet werden könne. Vielmehr komme das erst dann in Betracht, wenn „ungesetzliche (materielle oder prozessuale) Entscheidungen des DDR-Richters bzw. -Staatsanwalts der Ausschaltung eines politischen Gegners dienten und der betreffende Richter oder Staatsanwalt aufgrund dieser Motivation ungesetzlich entschied.“ 64 62 Verfassung der DDR, Dokumente, Kommentar, Bd. 2, S. 404 zu Art. 86 DDR-Verfassung; zit. Urteil LG Frankfurt/Oder (Fn 2) S. 194. 63 Landgericht Frankfurt/Oder (Fn 2) S. 194. 64 Landgericht Frankfurt/Oder (Fn 2) S. 193.
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Dem könnte der BGH wohl noch zustimmen. Der Unterschied zum Urteil des Landgerichts tut sich erst dadurch auf, dass der BGH bei der Bekämpfung eines politischen Gegners andere Anforderungen an die Rechtsbeugung stellt als bei einer „normalen“ Strafverfolgung. Im politischen Strafrecht gilt nicht mehr die tolerante Messlatte der Willkür durch Wortlautüberdehnung – wo die Wortlautüberdehnung für sich allein nicht willkürlich erscheint, tritt an die Stelle der Täterwillkür der Rückgriff auf die Willkür des Gesamtprogramms. Damit sind für die betroffenen Richter und Staatsanwälte die Verheißungen des Tatstrafrechts aufgegeben, der Täter bekommt einen Zuschlag aus dem die Verfolgung tragenden Systemunrecht. Der Einwand liegt nahe, das DDR-System habe sich bei einer politischen Verfolgung nach Art des gegen Havemann gerichteten operativen Vorgangs gar nicht an eigene gesetzliche Vorgaben gehalten. Aber das stimmt eben nicht, wenn man einmal von den perfiden, im Geheimen arrangierten Untergrundaktionen des MfS absieht. Die öffentlich durchgeführte Verfolgung des Regimekritikers Havemann ist, wie das Landgericht Frankfurt/Oder im Einzelnen belegt hat, auf beinahe skurrile Weise legalistisch durchgeführt worden. Jahrelang haben sich immer neue „Einschätzungsberichte“ um die rechtliche und strafrechtliche Würdigung der Provokationen des Systemkritikers bemüht und die rechtlich möglichen Maßnahmen – Haftbefehl, Vollzug der U-Haft, Verurteilung, Strafvollstreckung – aufgezeigt.65 Als das aussichtsreiche Strafrecht „von oben“ blockiert wurde und bereits ausgestellte Haftbefehle nicht vollstreckt werden durften, kamen Einschätzungsberichte wiederholt auf die Möglichkeit einer Ausweisung zurück, und weil die gesetzliche Grundlage dafür nicht hinreichte, ist mehrfach eine Gesetzesänderung vorgeschlagen worden.66 Und selbst der Vermerk der Hauptabteilung IX des MfS, der schließlich den erlösenden Hinweis auf die ABVO brachte, trug die Überschrift „Zu den rechtlichen Möglichkeiten, Robert Havemann unter Beachtung seiner Haftunfähigkeit eine Aufenthaltsbeschränkung zur Verhinderung feindlicher Aktivitäten aufzuerlegen.“ 67 Der BGH dreht den Spieß um: Die „Ausschaltung eines politischen Gegners im Gewande eines justiziellen Verfahrens“ sei „nur Akt einer Scheinjustiz.“ 68 Das verstellt den Blick auf die nahe liegende Möglichkeit, dass die staatsmächtige Verfolgerclique jedenfalls zweimal sagen konnte: Jetzt ist er zu weit gegangen, jetzt kriegen wir ihn auch auf gesetzlichem Wege – was immer das damals bedeutet haben mag. (Aber von den damaligen Bedeutungen will der BGH doch ausgehen!) „Scheinjustiz“ war das, wenn überhaupt (!), nur nach heutigen rechtsstaatlichen Maßstäben. Und die sollen rückwirkend doch gerade nicht angewandt werden! 65 66 67 68
Landgericht Frankfurt/Oder (Fn 2) S. 61 f. Landgericht Frankfurt/Oder (Fn 2) S. 64. Landgericht Frankfurt/Oder (Fn 2) S. 161. BGHSt 44, 306.
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VIII. Wieso eigentlich „Fall Havemann“? war die Frage beinahe am Ende unserer Spurensuche, und die Antwort lautete: weil ohne Einbeziehung des ganzen Szenarios der politischen Verfolgung Havemanns ein einzelner Staatsanwalt mit einer für sich nicht willkürlichen Tat wegen Rechtsbeugung nicht dingfest zu machen war. Aber dann folgt auch hier zwangsläufig die Frage: Warum eigentlich Rechtsbeugung? Von Anfang an war die Schlüsselstellung der §§ 244 StGB-DDR, 336 StGB wenig einleuchtend, und der BGH hat sich schwer damit getan, sie zu begründen. Schutzgut jeder Strafvorschrift wegen Rechtsbeugung ist nun einmal die Rechtsordnung, und die Rechtsordnungen damals dort und heute hier sind nicht vergleichbar. Insoweit fehlte jede Unrechtskontinuität, das haben viele Kritiker eingewandt und hat der BGH nicht in Abrede gestellt. Den Ausweg aus diesem Dilemma fand das Gericht schließlich in dem kleinen gemeinsamen Nenner der individuellen Schutzwirkung: Wer die Rechtordnung schützt, schützt jedenfalls mittelbar auch jedes einzelne Individualrechtsgut. Dieser Ansatz, ebenso richtig wie nichtssagend, gilt natürlich auch in der Umkehrung, er schafft ein neues Einfallstor für die Rechnungslegung über ein öffentliches Rechtsgut, das eigentlich mangels Unrechtskontinuität außer Streit gestellt werden sollte. Wer sich die zahllosen Ermittlungsverfahren wegen Rechtsbeugung, die nach der Wende eingeleitet worden sind,69 vor Augen hält, sieht sofort: Die bundesdeutsche Justiz forderte Rechenschaft von einem anscheinend korrupten Rechtssystem – denn dass sich in diesem System nach den Maßstäben der damaligen Rechtsordnung Tausende von Rechtsbeugern getummelt hätten, war von vornherein getrost auszuschließen. Es ging um die Rechtsordnung selbst, sei es auch nur mittelbar, weil sie zahlreiche ihrer Bürger nach heutigem Verständnis gegenüber staatlicher Willkür schutzlos gestellt hatte. Den Individualrechtsschutz aber, für den heute (auch) das Institut der Rechtsbeugung herhalten muss, hätte man durch direkte Anwendung der einschlägigen Tatbestände des Individualstrafrechts einfacher und sachgerechter überprüfen können. Der nahe liegende Einwand gegen diese Sichtweise setzt das Missverständnis in Wahrheit nur fort: Richter und Staatsanwälte, so heißt es, könnten wegen der Verletzung eines Rechtsguts durch ihr Entscheidungsverhalten nur bestraft werden, wenn sich diese Entscheidung als Rechtsbeugung darstellt. Gegenüber einer direkten Anwendung der individualstrafrechtlichen Tatbestände übten die §§ 244 StGB-DDR, 336 StGB eine „Sperrwirkung“
69
S. o. Fn 17.
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aus.70 An dieser Grundannahme, die heute nahezu allgemein anerkannt ist,71 obwohl sie die gesamte Strafverfolgung wegen der Verletzung von Bürgerrechten durch staatliche Entscheidungsträger in die Irre führt und jedenfalls erschwert, finde ich nicht viel Richtiges. Zunächst einmal: Dieser Grundsatz war dem DDR-Strafrecht fremd. Wer § 244 StGB-DDR als mildere Norm anwendete, brauchte sich um Sperrwirkungen nicht zu kümmern, wer das anders sieht, gerät in Erklärungsnot. Zweitens: Die Vorschrift passt auch keinesfalls in das DDR-Recht. Sie leitet sich nach unserem Rechtsverständnis aus den Schutzgesichtspunkten „innere Unabhängigkeit“ des Richters und „Bestandskraft des Urteils“ her 72 und basiert damit auf einem verfassungsrechtlichen Verständnis, das der Rechtordnung der DDR nicht entsprach. Der BGH hat dem Grundsatz der Sperrwirkung freilich eine neue Deutung gegeben. Aber diese Deutung – das wäre also drittens – überzeugt nicht. Eine Sperrwirkung in der neuen Lesart sei die „notwendige Konsequenz aus der speziellen Regelung für eine eingeschränkte strafrechtliche Verantwortung von Richtern“.73 Aber dieser Gesichtspunkt ist nur deswegen halbwegs einleuchtend, weil man sich bisher kaum darum bemüht hat, bei der strafrechtlichen Verantwortlichkeit wegen Verletzung eines Individualrechtsguts die Zurechnungsregeln für richterliches und staatsanwaltschaftliches Verhalten richtig herauszuarbeiten. (Das Urteil des Landgerichts Neuruppin mit seiner kausalen Zurechnung sämtlicher freiheitsbeschränkender Auswirkungen zum Verhalten des Staatsanwalts P. ist hierfür ein besonders krasses Beispiel.) Wenn man erkennt, dass der Grund für die Strafbarkeit wegen Rechtsbeugung eines Richters letztlich in dem Verstoß gegen die richterlichen Kunstregeln der Entscheidungsfindung liegt,74 dann hat man damit auch den Maßstab, der für die Zurechnung beispielsweise einer Freiheitsberaubung nicht anders gilt als für den „Spezialtatbestand“. Und Sperrwirkung hin oder her: Hätten die befassten Gerichte den Tatbestand des § 244 StGB-DDR richtig interpretiert, dann hätte die Aufenthaltsbeschränkung den Haftungsbereich dieser Norm gar nicht berührt. Die Anklage hätte sich direkt auf den Tatbestand der Freiheitsberaubung (§ 131 StGB-DDR) beziehen und beschränken müssen. Und die Gerichte hätten Gelegenheit gehabt, nicht über den Umweg einer fehlinterpretierten Norm des politischen Strafrechts, sondern bei der Anwendung eines unmittelbar in Betracht kommenden Straftatbestandes des individuellen Rechtsgüterschutzes die Gesichtspunkte individueller Zurechnung herauszuarbeiten, die die Ver-
70
BGHSt 41, 255 mN. Vehement gegen dieses Rechtsinstitut Rudolphi/Stein in: SK StGB, § 339 Rn 22a. 72 Dazu Krauß Zur Haftung des psychiatrischen Sachverständigen im Strafprozeß, StV 1985, 514. 73 BGHSt 41, 247 (255). 74 Roggemann (Fn 8) S. 771; Rudolphi/Stein (Fn 66) § 339 Rn 22b. 71
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antwortlichkeit eines Staatsanwalts umschreiben. Und wem das als Ergebnis unserer Spurensuche wenig erscheint: Die Strafen, unter denen das Landgericht Neuruppin im Falle einer Verurteilung anstelle der nach § 336 StGB verhängten Mindeststrafe von einem Jahr Freiheitsstrafe hätte wählen müssen, waren gemäß § 131 StGB-DDR (Freiheitsberaubung) Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu zwei Jahren (§ 40 Abs. 2 StGB-DDR), Verurteilung auf Bewährung oder Geldstrafe.
Die Revisionsbegründung zu Protokoll der Geschäftsstelle und effektiver Rechtsschutz Christoph Krehl I. Auch in Strafverteidigerkreisen spricht man über die in § 345 Abs. 2 StPO vorgesehene Möglichkeit einer Revisionsbegründung zu Protokoll der Geschäftsstelle. Dahs sieht in ihr ein „Fossil“1 und spricht sich stattdessen für eine weitgehende Pflichtverteidigerbeiordnung zum Zwecke der Revisionsbegründung aus. Der Jubilar steht der Vorschrift demgegenüber durchaus positiv gegenüber, wenn er bemerkt, es wären schon auf diese Weise angebrachte Revisionsrügen, die auf Revisionsrecht spezialisierte Rechtsanwälte zunächst für wenig aussichtsreich gehalten hätten,2 erfolgreich gewesen. Tatsächlich hat – wie sich in der revisionsgerichtlichen Praxis feststellen lässt – die zu Protokoll der Geschäftsstelle erklärte Revisionsbegründung durch den Angeklagten eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Dabei fällt auf, dass der Umgang mit dieser Art der Revisionsbegründung immer wieder zu Problemen führt, etwa weil es bei inhaftierten Angeklagten nicht (oder nicht rechtzeitig) zur Vorführung vor dem für die Protokollierung zuständigen Rechtspfleger kommt, dieser die – vom Angeklagten gewünschte – Protokollierung verweigert oder nur eine begrenzte Zeit für die Aufnahme der Rechtsmittelbegründung zur Verfügung steht. Immer wieder kommt es so zu revisionsgerichtlichen Entscheidungen, die sich mit der Handhabung des § 345 Abs. 2 StPO in der Praxis befassen. Sie bleiben weitgehend unkommentiert,3 was das mangelnde Interesse an der Vorschrift dokumentiert, deren Existenzberechtigung nicht nur von Dahs in Zweifel gezogen wird.4 Dabei reizt manche obergerichtliche Entscheidung, die Art und Umfang der staatlichen Mitwirkung konkretisiert und damit den Zugang des Angeklagten zum Rechtsmittelgericht festlegt, zum Widerspruch: nicht nur, weil das 1
NStZ 1982, 345. S. Sarstedt/Hamm Die Revision in Strafsachen, 6. Aufl., Rn 195. 3 Als Ausnahme aus jüngerer Vergangenheit ist etwa eine Anmerkung von Harzer StV 1997, 230 zu nennen. 4 So etwa von Schnarr FS für Kay Nehm, 2006, S. 338. S. Auch AK-Maiwald StPO, § 345 Rn 15 mit der Forderung nach einer Ausweitung des Instituts der Pflichtverteidigung. 2
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im Einzelfall gefundene Ergebnis ungerecht oder unbefriedigend ausfällt, sondern vor allem, weil sämtliche Entscheidungen – jedenfalls auf den ersten Blick – einen grundsätzlichen Mangel offenbaren. Sie versäumen es, die verfassungsrechtliche Garantie eines effektiven Rechtsschutzes ausdrücklich in ihre Überlegungen einzubeziehen, und laufen so Gefahr, mit dem Justizgrundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG in Kollision zu geraten. Der nachfolgende Beitrag nimmt es sich deshalb zum Ziel, ausgehend von dieser verfassungsrechtlichen Gewährleistung Leitlinien für den Umgang mit der Revisionsbegründung zu Protokoll der Geschäftsstelle zu entwickeln und daran die Justizpraxis zu überprüfen.
II. Die aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Rechtsschutzgarantie gewährleistet nicht nur, dass überhaupt ein Rechtsweg zu den Gerichten offen steht. Ebenso wie Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG, der Rechtsschutz gegen Akte der vollziehenden öffentlichen Gewalt gewährt,5 garantiert sie vielmehr auch die Effektivität des Rechtsschutzes.6 Diese wird in erster Linie von den Prozessordnungen gesichert. Dabei kann der Gesetzgeber aber auch Regelungen treffen, die für ein Rechtsschutzbegehren besondere formelle Voraussetzungen aufstellen.7 Die Rechtsschutzgarantie gilt nicht nur für den ersten Zugang zum Gericht, sondern für die Ausgestaltung des gesamten Verfahrens. Sie gewährleistet zwar keinen Anspruch auf einen Instanzenzug. Wird dieser von den Prozessordnungen aber eröffnet, dann gebietet Art. 19 Abs. 4 GG wirksamen Rechtsschutz in allen von der Prozessordnung zur Verfügung gestellten Instanzen.8 Die Garantie effektiven Rechtsschutzes richtet sich auch an den die Verfahrensordnung anwendenden Richter.9 Das Gericht darf ein von der Verfahrensordnung eröffnetes Rechtsmittel nicht ineffektiv machen und für den Beschwerdeführer „leer laufen“ lassen.10 Das Rechtsstaatsgebot verbietet es dem Gericht, bei der Auslegung und Anwendung der verfahrensrechtlichen Vorschriften den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Instanzen von Voraussetzungen abhängig zu machen, die unerfüllbar oder unzumutbar sind oder den Zugang in einer Weise erschweren, die aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigen ist 11. 5 6 7 8 9 10 11
Vgl. BVerfGE 15, 275 (280); 49, 329 (340); 65, 76 (90); 107, 395 (403 ff). S. BVerfGE 88, 118 (123); 94, 166 (226); st.Rspr. Vgl. BVerfGE 88, 118 (123 f); 101, 397 (408). Vgl. BVerfGE 104, 220 (232 mwN); st.Rspr. BVerfGE 97, 298 (315). BVerfGE 78, 88 (99); 96, 27 (39). BVerfGE 63, 45 (70 f); 74, 228 (234); 77, 275 (284); 78, 88 (99).
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1. Die gesetzliche Ausgangsentscheidung § 345 Abs. 2 StPO ermöglicht es dem Angeklagten, sein Rechtsmittel selbst – d.h. ohne Verteidiger – zu begründen, schließt es aber aus, dass er allein Erklärungen in schriftlicher Form verfasst. Das Gesetz verlangt im Interesse des Angeklagten wie auch des Revisionsgerichts, dass die Revisionsbegründung von sachkundiger Seite herrührt, damit auch ihr Inhalt gesetzmäßig und sachgerecht ist.12 Die Revisionsgerichte sollen dadurch vor einer Überlastung durch unsachgemäßes Vorbringen Rechtsunkundiger geschützt werden, damit sie ihrem Aufgabenkreis, die Entscheidungen der Untergerichte auf Rechtsfehler zu überprüfen und zugleich die Einheit des Rechts zu wahren, genügen können. Zugleich soll vermieden werden, dass Revisionen rechtsunkundiger Angeklagter schon von vornherein an Formfehlern oder sonstigen Mängeln scheitern.13 Diese Zulässigkeitsanforderungen begegnen angesichts der mit ihnen verfolgten Ziele keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.14 Es ist von Verfassungs wegen nicht gefordert, dass der Angeklagte sein Rechtsmittel allein begründen können muss. Der Zugang zum Rechtsmittelgericht wird dem Angeklagten durch die Versagung eines eigenen schriftlichen Vortrags nicht in aus Sachgründen nicht mehr hinzunehmender Weise verwehrt bzw. beschränkt. Zu bedenken ist nicht nur, dass der Angeklagte über einen Verteidiger die unbeschränkte Möglichkeit der Rechtsmittelbegründung hat. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass der Angeklagte über die Begründung zu Protokoll der Geschäftsstelle in ausreichender Weise Gestaltungsmöglichkeiten für sein Rechtsmittel besitzt. Die Einschaltung eines Rechtspflegers darf insoweit nicht als „Rechtsschutzverhinderung“ angesehen, muss vielmehr als Hilfestellung für den Angeklagten durch den Staat betrachtet werden.15 Dies bedingt freilich, dass die von Gesetzes wegen verordnete staatliche Mitwirkung an dem gegen eine staatliche Entscheidung gerichteten Rechtsmittel sich tatsächlich auch in dieser Weise vollzieht. Sie darf sich nicht als (auch aus verfassungsrechtlicher Sicht) nicht hinzunehmende, unzumutbare Beeinträchtigung eines grundsätzlich geschützten Rechtsschutzbegehrens darstellen. Mit anderen Worten: die gesetzliche Ausgangsentscheidung ist verfassungsrechtlich unbedenklich, das Verfahren bei der Protokollierung ist – wie im Einzelnen noch darzulegen ist – allerdings so auszugestalten, dass der Angeklagte an einer von ihm gewünschten und dem Ziel einer (beschränkten) revisionsgerichtlichen Kontrolle nicht widersprechenden Begründung seines Rechtsmittels nicht gehindert wird.
12 13 14 15
S. BGHSt 25, 272 (273); 32, 326 (328). S. BGHSt 25, 272 (273 f). BVerfGE 10, 274 (282 f); 64, 135 (152 ff); BVerfG RPfl 2002, 279. S. dazu Sarstedt/Hamm aaO, Rn 195: der Urkundsbeamte soll helfen, nicht hindern.
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2. Anspruch auf Protokollierung Der Angeklagte hat einen auch verfassungsrechtlich geschützten Anspruch, sein Rechtsmittel zu Protokoll der Geschäftsstelle zu begründen. Wenn das Gesetz die Abgabe einer Erklärung zu Protokoll gestattet, dann ist die Geschäftsstelle grundsätzlich auch zur Entgegennahme der Erklärung und zur Aufnahme eines Protokolls hierüber verpflichtet.16 Die Protokollaufnahme erfordert die Anwesenheit desjenigen, der die Erklärung abgibt, auf der Geschäftsstelle des Gerichts, wobei allerdings eine Vertretung durch einen Bevollmächtigten nicht ausgeschlossen ist. Eine telefonische Übermittlung der Erklärung scheidet aus.17 Im Fall eines inhaftierten Rechtsmittelführers bedingt dies die Notwendigkeit, ihn der Geschäftsstelle des zuständigen Amtsgerichts (§ 299 StPO) vorzuführen oder ihn in der Haftanstalt aufzusuchen.18 In welchem zeitlichen Umfang und zu welchem Zeitpunkt eine Protokollaufnahme stattzufinden hat, ist umstritten. Der BGH geht davon aus, dass ein Recht zur Protokollaufnahme grundsätzlich nur innerhalb der normalen Dienststunden bestehen könne. Zudem sieht er es nicht als erforderlich an, dass der zuständige Rechtspfleger nicht von Beginn der Frist an und nicht während seiner gesamten Arbeitszeit innerhalb der laufenden Begründungsfrist zur Verfügung steht.19 Diese Ansicht ist zu Recht nicht unwidersprochen geblieben,20 nicht nur, weil die Begründung des BGH, die den Form- und Fristvorschriften zugrunde liegende grundsätzliche Abwägung zwischen dem Interesse der Allgemeinheit an der Gewährleistung einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und den Interessen eines Revisionsführers könne auch bei der Frage nach dem Umfang der Protokollierungstätigkeit nicht außer Betracht bleiben, im Ausgangspunkt verfehlt ist. Entscheidend ist nicht, wie der BGH mit seinem weiteren Hinweis aber offenbar meint, es müsse den begrenzten personellen Möglichkeiten der Justiz Rechnung getragen und berücksichtigt werden, welche Ressourcen gerade zur Aufnahme der Revisionsbegründung zur Verfügung stehen. Ausschlaggebend kann auch nicht sein, ob aus Sicht der Justiz ausreichend Zeit für eine Revisionsbegründung in einer bestimmten umfangreichen oder nicht aufwändigen, bedeutenden oder rechtlich einfach gelagerten Strafsache eingeräumt wird. Dies würde eine Einschätzung der Strafverfolgungsbehörden dessen, was im Hinblick auf das konkrete Strafverfahren zur Verteidigung des
16 Vgl. BGHSt 30, 64 (69). Dazu auch Harzer Die Revisionsbegründung „zu Protokoll der Geschäftsstelle“ (§ 345 Abs. 2 StPO), 1995, S. 14. 17 Vgl. Hanack in: Löwe-Rosenberg, StPO, 24. Aufl., § 345 Rn 32. 18 S. im Zusammenhang mit einer Protokollierung nach § 26 Abs. 1 Satz 1 EGGVG OLG Karlsruhe Die Justiz 2003, 490. 19 BGH NStZ 1996, 353. 20 Dazu: Harzer StV 1997, 230; Hanack aaO, § 345 Rn 40a.
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Angeklagten angemessen oder erforderlich ist, voraussetzen. Ein solcher staatlicher Blick auf Art und Umfang von Verteidigung ist dem deutschen Strafprozessrecht aber aus gutem Grund versperrt. Für die Frage nach dem Umfang staatlicher Protokollierung von Rechtsmittelbegründungen kann deshalb nur die gesetzliche Regelung einerseits, die nach Urteilszustellung eine Frist von lediglich einem Monat gewährt, und andererseits der Wunsch des Angeklagten, sein Rechtsmittel in dem von ihm gewünschten Umfang zu begründen, entscheidend sein. In der gesetzlich eingeräumten Zeit ist deshalb dem Angeklagten, der nicht auf eine andere ihm zur Verfügung stehende Art der Begründung verwiesen werden darf 21, so umfassend Gelegenheit zur Protokollierung zu geben, dass grundsätzlich sein gesamter Angriff gegen die Ausgangsentscheidung – unabhängig davon, um welche Strafsache es sich handelt – aufgenommen werden kann. Dies bedeutet, dass dem Angeklagten, der rechtzeitig einen Antrag auf Rechtsmittelbegründung zu Protokoll der Geschäftsstelle gestellt hat,22 zumindest vom Beginn der Frist an 23 Gelegenheit zur Protokollierung zu geben ist. Sie hat sich – da auch insoweit die gesetzlichen Fristen ausgeschöpft werden dürfen 24 – bis zur Grenze der Rechtsmittelbegründungspflicht zu erstrecken. Der Umfang der täglichen Protokollierungstätigkeit des Rechtspflegers ist – insoweit ist dem BGH zu folgen – auf seine normalen Dienststunden begrenzt. Darüber hinausgehende Anstrengungen, etwa durch Protokollaufnahme nach den üblichen Dienststunden oder am Wochenende, sind verfassungsrechtlich nicht gefordert. Die vollständige Ausschöpfung der Frist unter Berücksichtigung der normalen Dienststunden gewährleistet im Regelfall ohne Weiteres eine ausreichende Revisionsbegründung und damit effektiven Rechtsschutz. Dies gilt letztendlich unabhängig davon, ob der Angeklagte tatsächlich sämtliche von ihm vorbereitete Revisionsrügen in der so bemessenen Zeit hat zu Protokoll geben können. Ist freilich absehbar, dass dies nicht möglich sein wird, wird ein entsprechender Hinweis des Rechtspflegers geboten sein, damit der Angeklagte die ihm wichtiger erscheinenden Angriffe zunächst protokollieren lassen und Ausführungen zu von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrenshindernissen oder zur Sachrüge zurückstellen kann. 21 Bedenklich insoweit OLG Karlsruhe Die Justiz 2003, 490, die den Betroffenen im Rahmen eines Antrags nach § 26 Abs. 1 Satz 1 EGGVG auf die schriftliche Rechtsmitteleinlegung verweisen will. 22 Verspätete Antragstellung geht freilich zu seinen Lasten: vgl. nur BGHR StPO § 45 Abs. 1 Satz 1 Frist 1. 23 In umfangreichen Verfahren, in denen der Angeklagte sein Rechtsmittel bereits vor Zustellung des Urteils begründen möchte, ist zur Vermeidung von womöglich auch verfassungsrechtlich bedenklichen Verfahrensnachteilen zu überlegen, ob diesem Anliegen nicht in gewissem Umfang Rechnung getragen werden sollte. 24 Vgl. dazu auch OLG Karlsruhe Die Justiz 2003, 490.
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3. Die Aufgabe des Rechtspflegers Die Mitwirkung des Rechtspflegers als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle erschöpft sich nicht in bloßer Beurkundung des von dem Angeklagten Vorgebrachten. Er ist – wie es die Rechtsprechung formuliert hat – weder „Schreibkraft des Angeklagten“ noch „Briefannahmestelle“,25 sondern vielmehr verpflichtet, sich gestaltend an der Anfertigung der Revisionsbegründung zu beteiligen, auf die Stellung sachdienlicher Anträge hinzuwirken und letztlich die Verantwortung für ihren Inhalt zu übernehmen.26 Ihm kommt eine aus dem Recht auf ein faires Verfahren fließende prozessuale Fürsorgepflicht zu,27 die erhebliche Anforderungen an die Sorgfalt und an seine Rechtskenntnisse stellt.28 Erforderlich ist also, dass zur Protokollaufnahme ein mit dem Revisionsrecht vertrauter Rechtspfleger, der – so schwierig das nach der Rechtsprechung des BGH mitunter sein kann – eine den gesetzlichen Erfordernissen (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO) entsprechende Verfahrensrüge erheben kann, abgestellt wird. Es begegnet von vornherein verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn für diese Aufgabe – wie sich das mitunter in der Praxis beobachten lässt – junge und im Strafverfahrensrecht unerfahrene Rechtspfleger vorgesehen werden. Denn damit wächst die Gefahr, dass diese vom Gesetz vorgesehene Möglichkeit der Rechtsmittelbegründung leer läuft und – etwa weil Verfahrensrügen nicht zulässig vorgebracht sind – ineffektiv wird. 4. Praktische Auswirkungen für die Protokollaufnahme Dies führt zu praktischen Auswirkungen bei der Protokollaufnahme, die Nr. 150 Abs. 2 RiStBV im Ausgangspunkt zutreffend beschreibt. Der Rechtspfleger, der regelmäßig nur auf der Grundlage beigezogener Akten 29 und in Kenntnis der angegriffenen Entscheidung tätig werden darf,30 belehrt den Angeklagten über die richtige Art der Revisionsrechtfertigung (Satz 2). Dabei kann es aber sein Bewenden nicht haben. Damit das Rechtsmittel überhaupt Aussicht auf Erfolg hat, muss der Rechtspfleger zugleich auf eine den gesetzlichen Vorschriften entsprechende Fassung hinwirken. Er darf also nicht lediglich die von dem Angeklagten vorbereiteten Rügen entgegennehmen, sondern muss sie unter Beachtung der Vorgaben der obergericht-
25
S. zuletzt OLG Stuttgart NStZ-RR 1998, 22. Dazu: BVerfGE 10, 274 (282); s. auch BVerfGE 64, 135 (152). 27 So ausdrücklich: BVerfG Rpfl 2002, 280. 28 BVerfGE 10, 274 (282 f). 29 Ihm steht freilich – vgl. dazu KG StraFO 2007, 27 – ein förmliches Akteneinsichtsrecht nicht zu. 30 Zu eng und insoweit verfassungsrechtlich bedenklich Nr. 150 Abs. 2 Satz 1 RiStBV, nach der der Rechtspfleger dafür sorgen „soll“, dass er die Gerichtsakten, zumindest aber eine Abschrift des angefochtenen Urteil zur Hand hat. 26
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lichen Rechtsprechung in ein zulässiges Rügevorbringen umgestalten. Wortlaut und Form des zur Begründung der Revision Vorgebrachten binden den Rechtspfleger also nicht (Satz 3), lediglich der sachliche Kern begrenzt seine Arbeit. Darüber hinaus wird der Rechtspfleger regelmäßig Formulierungen zur Erhebung der Sachrüge in das Protokoll aufzunehmen haben, auch wenn der Angeklagte selbst sein Vorbringen zuvor auf die Geltendmachung von Verfahrensrügen beschränkt hatte.31 Erbringt die Prüfung des Rechtspflegers, dass das Rügevorbringen den gesetzlichen Vorschriften entspricht, kann er sich darauf beschränken, die Ausführungen des Angeklagten in die Form einer ordnungsgemäßen Protokollierung zu bringen. Auch damit übernimmt er – wie es das Gesetz fordert – die Verantwortung für die Rechtsmittelbegründung.32 Nicht ausreichend ist es dagegen, lediglich auf schriftliche Ausführungen des Angeklagten Bezug zu nehmen, wenn der Rechtspfleger sich nur von der Sachkunde des Angeklagten (nicht aber von dessen Vorbringen) überzeugt hat.33 Ebenso wenig genügt es, sich den Inhalt des Protokolls – ohne inhaltliche Prüfung – vom Angeklagten diktieren zu lassen oder einen von diesem vorgefertigten Schriftsatz abzuschreiben.34 Entscheidend ist, ob der Rechtspfleger tatsächlich die inhaltliche Verantwortung für die Rechtsmittelbegründung übernommen hat; tut er dies, schadet es allerdings nicht, wenn er sich an den vorbereiteten Ausführungen des Angeklagten orientiert oder diese sogar übernimmt.35
31
So auch Hanack aaO § 345 Rn 37. Bedenklich deshalb die der Entscheidung des BVerfG Rpfl 2002, 279 zugrunde liegende Revisionsentscheidung, die einer ins Einzelne gehenden Besprechung der Revisionsbegründung und einer nach Prüfung und Beratung erfolgten Aufnahme die Zulässigkeit abgesprochen hatte, weil eine umfassende, über die Revisionsbegründung des Angeklagten hinausgehende Begründung nicht erarbeitet worden sei und der Rechtspfleger auch eigene, in seinem Verantwortungsbereich liegende Überlegungen nicht angestellt habe. 33 Zutreffend: BGHR StPO § 345 Abs. 2 Begründungsschrift 2. 34 Richtig insoweit: BGHR StPO § 345 Abs. 2 StPO Begründungsschrift 5; s. auch BGH NStZ-RR 1999, 110: nicht ausreichend die bloße Übergabe an den Rechtspfleger, wobei dies missverständlich ist, weil es zunächst allein darauf ankommt, wie sich der Rechtspfleger zu der vorgelegten Begründung verhält. S. dazu auch die Nachweise reichsgerichtlicher Rechtsprechung in RGSt 64, 63 (65). 35 Angreifbar deshalb BGHR StPO § 345 Abs. 2 StPO Begründungsschrift 5, wenn der BGH dort überprüft, ob der Rechtspfleger tatsächlich zu Recht die Verantwortung übernommen hat. Der BGH verneinte dies im zugrunde liegenden Fall, weil der Rechtspfleger in der ihm zur Verfügung stehenden Zeit eine inhaltliche Überprüfung gar nicht vornehmen konnte. Dies weckt verfassungsrechtliche Bedenken, weil der BGH die protokollierten, aus seiner Sicht gänzlich unzulässigen Revisionsrügen überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt und damit das Rechtsmittel des Angeklagten völlig – obwohl sicher auch aus Sicht des BGH in der zur Verfügung stehenden Zeit die eine oder andere Verfahrensrüge zulässig hätte erhoben werden können – leer laufen lässt. Dass der Rechtspfleger statt darauf hinzuweisen die Verantwortung für die gesamte Revisionsbegründung übernommen hat, darf jedenfalls nicht zu Lasten des Rechtsmittelführers gehen. 32
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Ergibt die inhaltliche Prüfung durch den Rechtspfleger, dass Teile des Revisionsvorbringens den gesetzlichen Vorschriften nicht entsprechen, hat er als „Mittler zwischen Antragsteller und Gericht“36 im Einvernehmen mit dem Antragsteller auf einen sachgemäßen Antrag hinzuwirken und zugleich auf die Folgen nicht ordnungsgemäßer Protokollierung hinzuweisen. Er ist aber – worauf auch die RiStBV hinweist – nicht befugt, dem Angeklagten den verfassungsrechtlich gewährleisteten Zugang zum Rechtsmittelgericht dadurch zu verschließen, dass er es ablehnt, ihm ungeeignet, abwegig oder unbegründet erscheinende Anträge aufzunehmen.37, 38 Schon das in der Praxis immer wieder anzutreffende Einwirken auf den erschienenen Angeklagten, von einer eigenen Rechtsmittelbegründung abzusehen, erweist sich insoweit als verfassungsrechtlich problematisch.39 Lässt sich eine auch von dem Angeklagten getragene Fassung des Revisionsvorbringens nicht herstellen, besteht der Angeklagte vielmehr auf einer Protokollierung seiner Angriffe gegen die beanstandete Entscheidung, sind diese aufzunehmen.40 Die Grenze ist erreicht bei völlig unsachlichem, verunglimpfendem oder beleidigendem Vorbringen.41 Im Zweifel darf die Protokollierung nicht verweigert werden; dies gilt etwa auch bei in der Revision an sich unbeachtlichen Angriffen gegen die Beweiswürdigung, die sich letztlich durchaus – ohne dass sich dies dem Rechtspfleger in diesem Moment erschließen muss – als die Revision begründender Rechtsfehler darstellen können. Dabei steht es dem Rechtspfleger frei, auf seine Bedenken gegen die Zulässigkeit hinzuweisen und damit oder durch andere Zusätze42 deutlich zu machen, dass er die Verantwortung für dieses Rügevorbringen nicht übernehmen möchte. 5. Die Überprüfung durch das Revisionsgericht a) Soweit § 345 Abs. 2 StPO die Revisionsbegründung zu Protokoll der Geschäftsstelle gestattet, hat dies die Rechtsprechung immer so ausgelegt, dass sich die Mitwirkung des insoweit zuständigen Rechtspflegers nicht in einer bloßen Beurkundung erschöpfen darf, dieser sich vielmehr gestaltend
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So ausdrücklich und zu Recht: OLG Bremen NJW 1967, 641. So in erfreulicher Klarheit: BVerfGE 10, 274 (283). S. auch OLG Bremen NJW 1967,
641. 38
Bedenklich deshalb auch OLG Stuttgart NStZ-RR 1998, 22. Dass insoweit ein Problembewusstsein bei den Rechtspflegern gar nicht besteht, zeigen Protokolle, die sich gerade auf die Mitteilung beschränken, dass nach Belehrung von einer Protokollierung abgesehen worden ist. 40 S. dazu AK-Maiwald aaO, § 345 Rn 13. 41 Dazu etwa KMR-Paulus StPO, § 345 Rn 24. 42 Etwa, das Vorbringen werde auf ausdrücklichen Wunsch des Angeklagten aufgenommen: vgl. dazu Hanack aaO, § 345 Rn 40. 39
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beteiligen und letztlich die Verantwortung hierfür übernehmen muss.43 Diese Zulässigkeitsanforderung begegnet grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedenken nicht,44 das Revisionsgericht ist deshalb nicht gehindert, die Revision als unzulässig zu verwerfen, wenn der Rechtspfleger zu Recht die Verantwortung für das Revisionsvorbringen nicht übernommen hat. Das Bundesverfassungsgericht hat dies allerdings vor dem Hintergrund effektiven Rechtsschutzes nur für zulässig erachtet, wenn jedenfalls in den Fällen, in denen es unter Missachtung der prozessualen Fürsorgepflicht zu dem Angeklagten nicht zurechenbaren Fehlern eines Justizangehörigen gekommen ist, die Möglichkeit einer Korrektur der Entscheidung durch die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gibt.45 Aus dem Grundsatz fairer Verfahrensführung hat es zudem die Pflicht des Revisionsgerichts abgeleitet, den Betroffenen über die Rechtsbehelfsmöglichkeiten gegen die sich aus dem staatlichen Fehler ergebende nachteilige Entscheidung durch Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu belehren.46 Dahinter steht ersichtlich die Überzeugung, dass effektiver Rechtsschutz im Falle einer Rechtsmittelbegründung zu Protokoll der Geschäftsstelle nur dann möglich ist, wenn der Rechtspfleger seinen sich insoweit aus der prozessualen Fürsorgepflicht folgenden, oben dargestellten Verpflichtungen nachkommt. Für das Revisionsgericht, das über Zulässigkeit und Begründetheit der Revision in eigener Zuständigkeit zu befinden hat, folgt daraus ein besonderes Prüfprogramm, das sich insbesondere an Art. 19 Abs. 4 GG messen lassen muss. b) Hat der Rechtspfleger ausdrücklich oder erkennbar die Verantwortung für die Rechtsmittelbegründung übernommen, besteht grundsätzlich kein Anlass für das Revisionsgericht, an der inhaltlichen Überprüfung durch diesen zu zweifeln und die Revision insgesamt als unzulässig zu behandeln. Insbesondere ist es dem Revisionsgericht verwehrt, etwa aus dem Inhalt der Begründung den Schluss zu ziehen, der Rechtspfleger habe eine solche Art der Revisionsbegründung nicht verantworten dürfen. Dagegen kann eine bestimmte äußere Form oder ein schriftlicher Hinweis des Rechtspflegers in dem vorgelegten Protokoll Ausgangspunkt für die Prüfung sein, ob der Rechtspfleger die Verantwortung für die Begründung oder bestimmte Teile hiervon nicht übernehmen wollte. Dabei ist es aber zu weitgehend, allein aus dem Umstand, dass Teile oder sogar das gesamte vorbereitete Vorbringen in das Protokoll integriert worden sind, den Schluss zu ziehen, der Rechtspfleger habe nicht selbst gestaltend gewirkt, und daraus die Unzulässigkeit der Revision herzuleiten. 43 S. dazu BVerfGE 10, 274 (283); 64, 135 (152). Aus der fachgerichtlichen Rechtsprechung schon des Reichsgerichts vgl. RGSt 64, 63. 44 Ausdrücklich: BVerfG Rpfl 2002, 279. 45 BVerfG Rpfl 2002, 279. 46 BVerfG Rpfl 2002, 279.
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c) Fehlt es an einer vom Rechtspfleger verantworteten Rechtsmittelbegründung, etwa weil er hierauf ausdrücklich hinweist, führt das nicht ohne Weiteres zur Unzulässigkeit der Revision. Wäre er einerseits verpflichtet, abgesehen von völlig unsachlichem Vorbringen, die Revisionsangriffe des Angeklagten vollständig aufzunehmen, andererseits aber auch befugt, distanzierende Zusätze ins Protokoll aufzunehmen, die zur Unzulässigkeit des Rechtsmittels führten, läge es trotz der angenommenen Verpflichtung zu vollständiger Protokollierung allein in seiner Hand, über die Zulässigkeit des Revisionsangriffs zu entscheiden. Einer solch weitreichenden Entscheidungsbefugnis aber hat das Bundesverfassungsgericht frühzeitig eine Absage erteilt.47 Über die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels hat allein das Revisionsgericht, das insoweit an die Einschätzung des Rechtspflegers nicht gebunden sein kann, zu entscheiden.48 Hätte also der Rechtspfleger die Verantwortung für die Begründung übernehmen können, weil es sich aus Sicht des Revisionsgerichts und entgegen der eigenen Ansicht um ein durchaus zulässiges Vorbringen gehandelt hat, darf dieser Irrtum des Rechtspflegers nicht zu Lasten des Rechtsmittelführers gehen.49 Stellt sich freilich heraus, dass das Revisionsvorbringen in der vorliegenden Form unzulässig ist, ist es nicht gehindert, von einem insoweit unzulässigen Vorbringen auszugehen.50 d) Die Einschätzung des Revisionsgerichts, es handele sich um ein insgesamt oder teilweise unzulässiges Rechtsmittel, bedeutet nicht das Ende der obergerichtlichen Überlegungen. Es hat sich zu fragen, ob ein Verschulden der Justiz zur Unwirksamkeit der Revisionsbegründung geführt hat und in diesem Fall – weil es den Gerichten verwehrt ist, aus eigenen oder ihnen zuzurechnenden Fehlern oder Versäumnissen endgültige Verfahrensnachteile für den Betroffenen abzuleiten 51 – Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (bei rechtzeitiger Nachholung des nicht rechtswirksam eingelegten Rechtsmittels) oder ausdrücklich über die Möglichkeit der Wiedereinsetzung (in die Frist zur Wiedereinsetzung in die versäumte Frist zur Begründung des Rechtsmittels sowie in die Frist zur Revisionsbegründung) zu belehren.52 47
BVerfGE 10, 274 (283). Erfreulich klar Harzer aaO, 30. Zumindest missverständlich insoweit Kuckein in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 5. Aufl., § 345 Rn 18. 49 In der Sache ebenso: Hanack aaO, § 345 Rn 39. Fraglich ist allerdings, ob dies zur Zulässigkeit der Revision führt oder ob nicht lediglich Wiedereinsetzung in die Frist zur Revisionsbegründung zu gewähren wäre. Gegen letztere Möglichkeit spricht, dass keine Frist versäumt worden ist, lediglich eine falsche Rechtsansicht des Rechtspflegers vorliegt, die ohne Weiteres durch das Revisionsgericht korrigiert werden kann. 50 So ist wohl OLG Nürnberg NStZ-RR 2006, 381 zu verstehen. Vgl. auch BGH NStZ 2006, 585. 51 Vgl. BVerfGE 75, 183 (190); 78, 123 (126); ausdrücklich im Zusammenhang mit der Aufnahme einer unzulässigen Revisionsbegründung BVerfG Rpfl 2002, 279. 52 St. Rspr. des Bundesverfassungsgerichts: s. Rpfl. 2002, 279; NJW 2005, 3629; BVerfGK 5, 151. 48
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Dabei können die der Justiz zuzurechnenden Fehler vielfältiger Natur sein. Es fängt an bei einem Organisationsverschulden der Justizbehörden, die in ungenügendem Umfang Gelegenheit zur Rechtsmittelbegründung einräumen 53 oder mit dieser Aufgabe einen sichtlich unerfahrenen, überforderten Rechtspfleger betrauen, dem es in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht gelingen kann, den an sich zu erwartenden Umfang von Rügen aufzunehmen. Weiter geht es mit der auf mangelnde Schulung zurückzuführenden Unkenntnis von Rechtspflegern, die offenbar schon die Anforderungen der Obergerichte an die Abfassung von Protokollen nicht kennen und eine genügende Prüfung und Billigung der vom Angeklagten vorgesehenen Begründung nicht vornehmen.54 Es setzt sich fort mit der Abfassung unzulässiger Verfahrensrügen, die den nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO erforderlichen vollständigen Tatsachenvortrag nicht enthalten,55 und weiteren Verstößen gegen die prozessuale Fürsorgepflicht,56 die wie etwa bei der vorrangigen Aufnahme von Ausführungen zur Sachrüge anstelle von innerhalb der Revisionsbegründungsfrist zu erhebenden Verfahrensrügen dazu führen, dass letzteres Vorbringen unberücksichtigt bleibt. Gewinnt das Revisionsgericht freilich – ausgehend von einem Hinweis in der aufgenommenen Niederschrift – die Überzeugung, dass der Rechtsmittelführer der prozessualen Fürsorgepflicht entsprechend auf die revisionsrechtliche Mangelhaftigkeit des (eigenen) Vorbringens hingewiesen worden ist und gleichwohl einer etwa möglichen und zur Zulässigkeit führenden Umgestaltung nicht zugestimmt hat, liegt ein der Justiz anzulastender Fehler nicht vor. In einem solchem Fall,57 aber nur in einem solchen, entfällt die Pflicht zur Belehrung über die Möglichkeit der Wiedereinsetzung. e) Die Pflicht zum Hinweis auf die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand besteht dagegen auch in den besonderen Fällen, in denen es um die Unzulässigkeit erhobener Verfahrensrügen gem. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO geht. Dies hat der BGH in einem Einzelfall bereits anerkannt,58
53
Als Beispiel hierfür BGHR StPO § 45 Abs. 1 Satz 1 Frist 1. Mit eindrucksvollen Beispielen s. BVerfG Rpfl 2002, 279 u. NJW 2005, 3629. 55 Dazu schon BGHR StPO § 44 Verfahrensrüge 6, der allerdings noch darauf abstellt, dass die Rechtspflegerin entgegen dem Begehren des Angeklagten den Inhalt von ihm vorgelegter Schriftstücke nicht in die protokollierte Revisionsbegründung aufgenommen hatte. Darauf aber kommt es nicht an. Entscheidend in einem solchen Fall ist, dass die Rüge nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO entspricht und es Aufgabe des Rechtspflegers gewesen wäre, auf eine ordnungsgemäße, den Gesetzen entsprechende Antragstellung hinzuwirken. 56 Vgl. auch BGH Beschluss des 4. Strafsenats vom 31. Januar 2006 – 4 StR 403/05: fehlende Unterrichtung der Urteilszustellung an den Angeklagten nach § 145a Abs. 3 Satz 1 StPO. 57 S. dazu BGH NStZ 2006, 585. 58 BGHR StPO § 44 Verfahrensrüge 6. 54
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obwohl er ansonsten Wiedereinsetzung zur Nachholung von Verfahrensrügen 59 bzw. zur Heilung von Qualitätsmängeln 60 nur in besonderen Ausnahmefällen zulässt. Berücksichtigt man freilich die zentrale Bedeutung der verfassungsrechtlichen Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes bei der Revisionsbegründung zu Protokoll der Geschäftsstelle 61 und die daraus fließende prozessuale Fürsorgepflicht des Rechtspflegers zur Bewirkung sachgerechter und prozessual zulässiger Anträge, dürfte es – auch aus verfassungsrechtlicher Sicht – geboten sein, im Falle unzulässiger Verfahrensrügen grundsätzlich auf die Wiedereinsetzungsmöglichkeit hinzuweisen. Jedenfalls begegnet die revisionsgerichtliche Praxis, die ohne Weiteres mit Hilfe des Rechtspflegers erhobene Verfahrensrügen als unzulässig behandelt, verfassungsrechtlichen Bedenken. 6. Absicherung effektiven Rechtsschutzes durch das Bundesverfassungsgericht Kommt es zu von der Justiz zu verantwortenden Fehlern bei der Aufnahme der Revisionsbegründung, die das Revisionsgericht nicht zum Anlass eines Hinweises für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nimmt, steht grundsätzlich gegen die revisionsgerichtliche Entscheidung der Weg zum Bundesverfassungsgericht offen. Dies wird freilich regelmäßig nicht zu einer Sachentscheidung führen, weil nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung eine erhobene Verfassungsbeschwerde mangels Rechtswegerschöpfung unzulässig ist. Dem Beschwerdeführer ist vor Erhebung der Verfassungsbeschwerde die Stellung eines zweifachen Wiedereinsetzungsgesuchs zumutbar, das jedenfalls dann, wenn die bei entsprechender Anwendung von § 44 Satz 2 StPO erforderliche Belehrung über die Wiedereinsetzungsmöglichkeit unterblieben ist, auch bei Versäumung der Frist zur Stellung eines Wiedereinsetzungsantrags zur Gewährung von Wiedereinsetzung und zur Nachholung einer ordnungsgemäßen Revisionsbegründung führt.62 Danach ist es geboten, über diesen Weg zunächst Rechtsschutz bei den Fachgerichten zu suchen. Lediglich in den Fällen also, in denen das Revisionsgericht eine solche Wiedereinsetzung versagt, ist es sinnvoll, das Bundesverfassungsgericht zur Absicherung eines effektiven Rechtsschutzes anzurufen.
59 60 61 62
St.Rspr. Vgl. Meyer-Goßner StPO, 50. Aufl., § 44 Rn 7 mit Nachw. Vgl. OLG Nürnberg NStZ-RR 2006, 381. So auch Schnarr aaO, 338. So ausdrücklich BVerfG RPfl 2002, 279; NJW 2005, 3629; BVerfGK 5, 151.
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7. Ausweg über eine Pflichtverteidigerbeiordnung Den aufgezeigten Problemen bei der Rechtsmittelbegründung zu Protokoll der Geschäftsstelle lässt sich auch nicht – wie es aber offenbar Dahs vorschwebt 63 – mit einer großzügigen Praxis bei der Pflichtverteidigerbeiordnung für das Revisionsverfahren beikommen. Maßstab hierfür bleibt § 140 Abs. 2 StPO, der zwar bei schwieriger Sach- und Rechtslage oder in Fällen, in denen sich ein Angeklagter nicht selbst verteidigen kann, eine Beiordnung ermöglicht. Der Hinweis auf die Komplexität des Revisionsrechts aber ermöglicht für sich genau so wenig eine regelmäßige Beiordnung64 wie etwa die Überlegung, ein Angeklagter könne grundsätzlich nicht ohne Hilfe eines Verteidigers sein Rechtsmittel begründen.65 Dies würde nicht nur die Entscheidung des Gesetzgebers außer Acht lassen, der in § 345 Abs. 2 StPO die Revisionsbegründung mithilfe eines Rechtspflegers vorgesehen und insoweit grundsätzlich auch als gleichwertig angesehen hat.66 Es würde auch ignorieren, dass die Revisionsbegründung zu Protokoll der Geschäftsstelle dem Angeklagten – jenseits einer Abfassung durch einen Verteidiger, den er sich womöglich finanziell nicht leisten kann – in Person die Möglichkeit einräumt, sich mehr, als es vielleicht bei einer Verteidigerbegründung möglich wäre,67 an der inhaltlichen Gestaltung seines Rechtsmittels zu beteiligen. Gibt es also gute Gründe für die gesetzgeberische Entscheidung einer Revisionsbegründung, heißt das doch nicht, dass im Einzelfall nicht doch eine Pflichtverteidigerbeiordnung angezeigt 68 oder sogar (verfassungsrechtlich) geboten sein kann. Ist etwa ein Angeklagter mit der Darlegung seiner Beanstandungen gegenüber dem Rechtspfleger überfordert, so bietet ihm diese Möglichkeit der Rechtsmittelbegründung keinen effektiven Rechtsschutz, der dann nur über eine Beiordnung nach § 140 Abs. 2 StPO gewährleistet werden kann.69 Ist zu besorgen, dass der Rechtspfleger mit der Abfassung einer besonders schwierigen Revisionsbegründung überfordert sein könnte, ist in gleicher Weise über eine Beiordnung sicherzu-
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NStZ 1982, 347. Vgl. z.B. OLG Hamm NStZ 1982, 385; OLG Köln VRS 78, 119; OLG Koblenz RPfl 1984, 366; StraFO 2007, 117. 65 Etwa, weil er der Hilfe eines Verteidigers zum „Aufspüren“ von Verfahrensrügen bedürfte: dazu OLG Oldenburg JR 1985, 256 m. Anm. Dahs. Ferner KG StraFO 2007, 27. 66 Dazu ausdrücklich OLG Koblenz StraFo 2007, 117; OLG Karlsruhe StraFO 2007, 497. 67 Zum Fall einer vom Pflichtverteidiger abgelehnten Revisionsbegründung und der nicht für notwendig erachteten Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers OLG Stuttgart NJW 1979, 1373. S. dazu auch BGH NStZ 1997, 48, der insoweit die Bestellung eines weiteren Pflichtverteidigers zur Revisionsbegründung in Betracht zieht. 68 S. Meyer-Goßner StPO, 50. Aufl., § 140 Rn 29. 69 So OLG Karlsruhe StraFo 2006, 497 im Fall eines Jugendlichen mit Defiziten im Bereich der schulischen Bildung und im Sozialverhalten. 64
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Christoph Krehl
stellen, dass eine fachgerechte, den Vorschriften entsprechende Begründung des Rechtsmittels erfolgt.70 Dies wird freilich nicht immer schon dann der Fall sein, wenn der Angeklagte Verfahrensbeanstandungen zu erheben gedenkt.71 Zwar sind an die Darlegung von Verfahrensrügen hohe Anforderungen zu stellen, denen zu genügen häufig ohne ausreichende Kenntnis der Akten nicht möglich ist. Ein (vollständiges) Akteneinsichtsrecht aber steht weder dem Angeklagten noch dem Rechtspfleger zu.72 Doch gibt es – etwa aus dem Gang der Hauptverhandlung heraus, der sich aus dem zur Verfügung stehenden Protokoll (§ 147 Abs. 7 StPO) nachvollziehen lässt – eine ganze Reihe möglicher Verfahrensbeschwerden (etwa im Zusammenhang mit abgelehnten Beweisanträgen), die sich auch ohne weitere Aktenkenntnis im Einzelnen begründen lassen. In diesen Fällen erscheint es deshalb nicht gerechtfertigt, jedenfalls aus Gründen eines effektiven Rechtsschutzes nicht geboten, über § 140 Abs. 2 StPO einen Pflichtverteidiger beizuordnen.73
III. Den verfassungsrechtlichen Gewährleistungen bei der Revisionsbegründung zu Protokoll der Geschäftsstelle ist in der Praxis – das macht der Blick auf die obergerichtlichen Entscheidungen und das Verständnis im Umgang mit rechtsmittelwilligen Angeklagten deutlich – nicht immer genügt. Art und Umfang staatlicher Mitwirkung zur Konkretisierung der sich aus Art. 19 Abs. 4 GG ergebenden Anforderungen müssen deshalb überdacht werden. Das betrifft etwa die Justizverwaltung bei Fragen der Justizorganisation, den einzelnen Rechtspfleger mit Blick auf seine Ausbildung und seine Bereitschaft zur Aufnahme von Revisionsbegründungen nach § 345 Abs. 2 StPO, die Rechtsmittelgerichte in ihrem Verständnis sich aus der Rechtsschutzgarantie ergebender Anforderungen, aber auch das Bundesverfassungsgericht, das nicht müde werden darf, die Fachgerichtsbarkeit auf die in der Praxis vorkommenden Mängel und das Mittel zu ihrer Behebung, die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, hinzuweisen.
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OLG Schleswig SchlHA 1991, 124; 1995, 6. So aber wohl OLG Koblenz StraFO 2007, 117; ähnlich Laufhütte in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 5. Aufl., § 140 Rn 5. 72 S. dazu KG StraFO 2007, 27. 73 Grundsätzlich skeptisch auch Harzer aaO, 17: mit Blick auf revisionsunerfahrene Pflichtverteidiger nur Verlagerung der Schwierigkeiten von einer Norm auf die anderen. 71
Der „Frankfurter Arbeitskreis Strafrecht“ Ein Rückblick Christoph Kulenkampff
Im Frühjahr 1990 gründeten Rainer Hamm und ich einen Arbeitskreis, dem Vertreter aller juristischen Berufsgruppen angehören sollten, die mit Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminalpolitik befasst sind: also Strafrichter, Staatsanwälte, Strafverteidiger, Strafrechtswissenschaftler, Beamte aus den einschlägigen Abteilungen eines Justizministeriums und aus dem Justizvollzug. Den Anstoß hierzu hatte ich als damaliger hessischer Generalstaatsanwalt gegeben. Seine Umsetzung wäre allerdings ohne Rainer Hamm undenkbar gewesen. In seiner Einladung vom April 1990 zur ersten Sitzung des Arbeitskreises, der sich bald „Frankfurter Arbeitskreis Strafrecht“ (FAKS) nannte, hat Rainer Hamm den Ausgangspunkt unseres Vorhabens zutreffend mit der Feststellung und den Überlegungen beschrieben, dass sich die mit Strafrecht befassten Berufe „… zwar immer häufiger mit strafrechtspolitischen Themen zu befassen haben (z.B. aus Anlass einer Stellungnahme zu StGB- oder StPO-Änderungsentwürfen), dass jedoch die Diskussionen dann regelmäßig nur innerhalb der einzelnen Berufsgruppen, aber viel zu selten unter Austausch und Nutzung der verschiedenen rollenspezifischen Perspektiven stattfindet. Wir glauben weiterhin beobachtet zu haben, dass durch die Strukturänderungen des Strafprozesses in den letzten Jahren und mehr noch durch die jetzt im Gesetzgebungsverfahren befindlichen StVÄG-Entwürfe auch der Verlauf der Diskussionsfronten sich verschoben hat. Wenn es beispielsweise darum geht, den immer größer werdenden Einfluss der Polizei im Strafverfahren und die sich verstärkenden präventiven Denkweisen bei der Bekämpfung der Straftaten zu bewerten, ist der institutionelle Gegensatz zwischen der Sichtweise der Strafverteidiger und der Staatsanwälte nicht mehr selbstverständlich. Auch die Rolle des Strafrichters, der Wert des verfassungsrechtlich garantierten Richterprivilegs bei bestimmten Grundrechtseingriffen angesichts der faktischen Macht der Staatsanwaltschaft, der Einfluss auf die ‚Streitkultur‘ durch informell ausgehandelte Urteile und vieles andere mehr verlangten unseres Erachtens nach einem vom Einzelfall losgelösten Meinungs- und Erfahrungsaustausch zwischen allen mit Strafrecht befassten Berufsgruppen.“
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Christoph Kulenkampff
Aus meiner Sicht kamen noch besondere Erfahrungen aus der staatsanwaltlichen Praxis hinzu, die ich als Generalstaatsanwalt in den Jahren zuvor gemacht hatte: Allgemein war bei meiner Amtsübernahme im Jahre 1986 die Arbeit der Staatsanwälte getragen von einem liberalen (Straf-)Rechtsverständnis, von sozialer Verantwortung gegenüber dem Beschuldigten, von Besonnenheit im Ermittlungs- wie im Hauptverfahren, vor allem aber von professioneller Distanz zum Ermittlungsgegenstand. Ich sah es als eine meiner wichtigsten Aufgaben an, meine damaligen Kolleginnen und Kollegen in diesem beruflichen Selbstverständnis zu bestärken und es zum Leitbild für die staatsanwaltliche Tätigkeit in meinem Bezirk werden zu lassen. Das entsprach meinem Verständnis vom Strafrecht als im Wortsinne „ultima ratio“ des Katalogs staatlicher Ordnungsinstrumente. Und es entsprach meiner Überzeugung, dass sich dieses Verständnis von der Funktion des Strafrechts auch praktisch auf die Arbeit des Staatsanwalts auszuwirken habe. Mit dieser Auffassung geriet ich allerdings in Konflikt zur Praxis der Bearbeitung vor allem von Wirtschafts- und Umweltstrafverfahren bei den landgerichtlichen Staatsanwaltschaften.1 Von Selbstbeschränkung der Strafverfolgung im Sinne von „ultima ratio“ war hier wenig zu spüren. Eher schien in diesen Verfahren eine „verkehrte Klassenjustiz“ vorzuherrschen: je höher die Beschuldigten in der – wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen – Hierarchie angesiedelt waren, desto verbissener wurden auch wenig aussichtsreiche Ermittlungen geführt, desto bedenkenfreier kamen strafverfahrensrechtliche Zwangsmittel zur Anwendung, desto leichter entschied man sich zur Anklageerhebung. Dabei durften sich die Dezernenten der einschlägigen Verfahren in gewisser Weise mit dem Gesetzgeber einig fühlen. Der hatte ja gerade für diese Bereiche der Kriminalität ausdrücklich Strafgesetze zu deren „Bekämpfung“ erlassen.2 Die Staatsanwälte in diesen Verfahren verstanden sich deshalb durchaus folgerichtig als „Kämpfer“ für eine bessere Umwelt, wenn denn schon, wie sie
1 Beispielhaft: das „Nukem-Alkem“-Verfahren der StA Hanau, bei dem es um unerlaubten Umgang mit radioaktivem Material und dabei um Rechtsprobleme im Zusammenhang mit der Verwaltungsakzessorietät ging, und um das „Holzschutzmittel“-Verfahren der StA Frankfurt am Main mit dem Vorwurf „massenhafter“ Gesundheitsschädigung durch den Vertrieb eines Produkts; hier gab es erhebliche Probleme im Bereich der Kausalität. Nach jeweils umfangreichen und aufwendigen Ermittlungen endete das eine Verfahren mit Freispruch, das andere mit einer Einstellung nach § 153a StPO. 2 Eine kurze und treffende Darstellung dieser rechtspolitischen Entwicklung bietet E. Kempf Die Funktion von Strafrecht und Strafverfolgung in einer modernen Gesellschaft, NJW 1997, 1729–1808, mwN. Eine vertiefende Darstellung und Bewertung aus der Sicht eines Verfassungsrechtlers findet sich bei E. Denninger Recht in globaler Unordnung, Berlin 2005, S. 111 ff, der sich vor allem mit der durch den Terrorismus veranlassten „Bekämpfungs-Gesetzgebung“ kritisch auseinandersetzt.
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meinten, die zuständigen Fachverwaltungen versagten und häufig gemeinsame Sache mit den Unternehmen machten. Und ebenso verstanden sie sich als „Kämpfer“ für „saubere“ Verhältnisse im Wirtschaftsleben. In seinen „Thesen zur Überforderung und zur ‚Verbilligung‘ der Strafjustiz“ vom Juli 1997 3 hat der FAKS das Berufsverständnis der Staatsanwälte in Sonderverfahren, wie folgt, beschrieben: „… Staatsanwälte … haben … den Geist des modernen Strafrechts (teilweise auch unter dem Erwartungsdruck der Politik und der Öffentlichkeit) fruchtbar in ihre Aufgabenbestimmung übersetzt und den Bereich der traditionellen Strafverfolgung längst überschritten. Beispiele dieser Entwicklung sind vor allem das Wirtschafts- und Korruptionsstrafrecht, das Recht der schweren Umweltstraftaten … Hier findet sich die Staatsanwaltschaft zunehmend in der Rolle des ‚Problemlösers‘, eines Ombudsmanns, und sie richtet ihren Blick weniger auf konkrete einzelne Straftaten als auf gesellschaftliche Großprobleme … Die Ermittlungen sind offen und großflächig, werden vom Interesse der Politik und der Öffentlichkeit vital begleitet und getragen und führen die Behörden auf weite und fremde neue Ermittlungsfelder, auf denen die Orientierung an der Suche nach individueller Schuld ihre Lenkungs- und Begrenzungsfunktion verloren hat …“ Dem FAKS ging es bei diesen Thesen um den Versuch, Erklärungen für die Überlastung und Überforderung der Strafjustiz in neuerer Zeit auszumachen. Der „Geist des modernen Strafrechts“ und seine „Übersetzung“ in die Ausgestaltung der Strafverfolgung belastet aber vor allem auch den Beschuldigten im Ermittlungsverfahren in besonderer Weise. So habe ich mich damals immer wieder mit folgenden Erwägungen meiner ermittelnden Kolleginnen und Kollegen auseinandersetzen müssen: Man hat es in Verfahren der hier in Frage stehenden Art – damals wie heute – ja typischerweise mit Beschuldigten zu tun, die auf strafprozessuale Eingriffe empfindlicher reagieren als der „gewöhnliche“ Straftäter. Warum also z.B. nicht bei einem Unternehmen – tunlichst nach vorheriger Unterrichtung der Presse – Durchsuchung und Beschlagnahme vornehmen, wenn zweifelsfrei davon auszugehen ist, dass der Unternehmensvorstand allein durch dieses Vorgehen und die Berichterstattung hierüber etwa Belangen des Umweltschutzes künftig mehr Beachtung als bisher schenken wird? Bei dieser Sichtweise schien sich die Frage schon fast zu verbieten, ob es denn nicht genügt hätte, etwa bei alteingesessenen, z.T. börsennotierten (Groß-)Unternehmen statt Durchsuchung und Beschlagnahme die für den Fortgang der Ermittlungen benötigten Unterlagen beim Unternehmens-
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StV 1997, 497 f.
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vorstand anzufordern, dies zumindest einmal – ggf. unter Androhung von Zwangsmaßnahmen – zu versuchen. Ein solches Vorgehen hätte freilich den Verzicht auf die „pädagogischen“ Wirkungen strafprozessualer Zwangsmaßnahmen in bestimmten Täterkreisen bedeutet. Eine solche kriminalpädagogische Zwecksetzung habe ich der Strafprozessordnung allerdings nicht entnehmen, mich aber auch nicht in allen Fällen entsprechend durchsetzen können. Die „Kämpfer“ für die gute Sache wussten die öffentliche Meinung auf ihrer Seite und waren dadurch letztlich unangreifbar. Unangreifbar auch für die Politik, der gerade Umweltstrafverfahren, in denen die Verwaltung bis in die ministerielle Ebene involviert war, erhebliche Probleme bereiteten – allerdings aus anderen Gründen als denjenigen, aus denen meine Bedenken herrührten.4 Als ich den FAKS initiierte, suchte ich eine rechtspolitische Diskussion außerhalb meines dienstlichen Umfeldes, die mich in meinem Rechtsverständnis bestärken sollte. Ferner erwarteten Rainer Hamm und ich Diskussionen von besonderer Qualität und Gewichtigkeit in einem Kreis von Strafjuristen, den es in dieser Zusammensetzung und mit dieser Zielsetzung bislang wohl noch nicht gegeben hatte – ein Kreis, der sich über das Rollenverständnis der mit Strafrecht befassten Berufsgruppen hinwegsetzen und zu gemeinsamen rechtspolitischen Grundpositionen finden wollte. Die erste Sitzung des FAKS fand im April 1990 statt, und zwar – wie auch die folgenden – in der Kanzlei von Rainer Hamm und seinen Kollegen. Seiner Einladung folgten drei Strafrichterinnen und -richter, vier Staatsanwälte (mich eingeschlossen), drei Strafverteidigerinnen und -verteidiger (darunter Rainer Hamm), zwei Ministerialbeamte, ein ehemaliger Justizstaatssekretär, zwei Strafrechtsprofessoren und die Leiterin einer Justizvollzugsanstalt. Rainer Hamm und ich hatten unser erstes Ziel erreicht: alle mit Strafrecht befassten Berufsgruppen waren im FAKS vertreten.5 Der FAKS bestand bis zum Jahre 2002 und bearbeitete folgende Themen: – „Rückzug des Strafrechts aus dem Bereich der Droge“ – „Regierungskriminalität in der ehemaligen DDR“ – „Organisierte Kriminalität“
4 Mein Unbehagen an der „überschießenden“ Strafverfolgung in Teilbereichen der Strafjustiz hat G. Mauz Die Justiz vor Gericht, München 1990, S. 223 ff, zutreffend dargestellt. 5 Gründungsmitglieder des FAKS waren neben Rainer Hamm und mir (in alph. Reihenfolge): OStA J. Claude, StA b. d. OLG Ffm; VzPräs’in J. Dierks, LG Ffm; LMR H. Fromm, HMdJ Wiesbaden; Prof. Dr. W. Hassemer, J.W. Goethe-Universität, Ffm; RA E. Kempf, Ffm; RD’in O. Lissner, Justizvollzugsanstalt III, Ffm; Prof. Dr. K. Lüderssen, J.W. GoetheUniversität, Ffm; RA’in Dr. R. Michalke, Ffm; OStA J. Schroers, STA FFM; StS a.D. J. Suchan, Ffm; RiaAG C.-M. Ullrich, AG Ffm; VorsRiaOLG K. Weber-Hassemer, Ffm. Über die Jahre schieden einige Mitglieder aus, andere wurden neu dazugewonnen. Die fachliche Zusammensetzung blieb aber die gleiche.
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– „Müssen Rolle und Aufgaben der Staatsanwaltschaft neu definiert werden?“ – „Überforderung und ‚Verbilligung‘ der Strafjustiz“ – „Das Gebot der Trennung von Polizei und Verfassungsschutz“. Zu den Themen verabschiedete der Arbeitskreis Thesen. Sie wurden in der Tagespresse vorgestellt beziehungsweise in der Fachpresse im Wortlaut veröffentlicht.6 Dass sich Ministerialbeamte, höhere Richter und Staatsanwälte, auch leitende Beamte des Justizvollzugs und noch mehr Vertreter der Wissenschaft zu grundsätzlichen strafrechts- und kriminalpolitischen Fragen eine Meinung bilden und aus gegebenem Anlass auch äußern sollten, folgt aus ihrem öffentlichen Amt. Ein Rechtsanwalt mag sich hingegen darauf beschränken die Interessen seiner Mandantschaft wirksam zu vertreten, und im Übrigen der Auffassung sein, ein darüberhinaus gehendes rechtspolitisches Engagement mache sich für ihn nicht bezahlt. Um so überraschter und dankbarer war ich, als ich im FAKS Strafverteidigern – an ihrer Spitze Rainer Hamm – begegnete, die mit Spaß an der Sache, mit hoher Sachkenntnis und mit einem ausgewogenen Urteil die Diskussionen bereicherten, sie vorantrieben und sie, wiederum in Person von Rainer Hamm, mit Umsicht zu moderieren verstanden – ein Engagement, das keinerlei materiellen Vorteil versprach. Im Gegenteil: allein die Teilnahme an den Sitzungen des FAKS und noch mehr die Fertigung von Stellungnahmen und Formulierungsvorschlägen für dessen Thesen, durch die sich gerade die anwaltlichen Kolleginnen und Kollegen besonders hervortaten, bedeuteten für sie einen erheblichen, gleichwohl „non-billable“ Arbeitsaufwand. Es ist nicht Anspruch dieses Beitrags, die Arbeit des FAKS im Einzelnen darzustellen und zu würdigen. Die Erwartungen von Rainer Hamm und mir an eine intensive, von Sachkenntnis und kollegialem Vertrauen getragene Diskussion zwischen Vertretern aller mit Strafrecht befassten Berufe haben sich jedenfalls mehr als erfüllt. Die Thesen des FAKS haben 6
Die Öffentlichkeitsarbeit des FAKS war nur z.T. zu rekonstruieren: Betäubungsmittelkriminalität: Strafe gegen Sucht nutzlos, FR v. 19.2.1992; Juristenkreis fordert vernünftige Drogenpolitik, FAZ v. 19.2.1992; Organisierte Kriminalität: Wortlaut in StV 12/1994, S. 693 ff, sowie z.B. Mafiose Strukturen sind in Deutschland nicht zu erkennen, FAZ v. 30.11.1994; Arbeitskreis Strafrecht: Die Politik ist bei uns noch nicht gekauft, Berliner Tagesspiegel v. 1.12.1994; Rolle der Staatsanwaltschaft: Wortlaut in: StV 2000, 460 f, sowie u.a. Die Staatsanwaltschaft hinkt hinterher, FAZ v. 28.4.2000; Die Ankläger klagen an, SZ v. 27.4.2000; Auflehnung gegen Usurpatoren in Uniform, FR v. 28.4.2000; Überforderung: Wortlaut in: Neue Kriminalpolitik, Heft 4/November 1997, 20 ff, in: StV 1997, 497 ff u. NJW 1997 (34), S. XVI sowie u.a.: Fachleute: Strafrecht wird durch Flut von Aufgaben als Waffe stumpf, FAZ v. 8.7.1997.
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heute noch Gültigkeit, in gewisser Weise vielleicht mehr noch als damals. „Faule Kompromisse“ enthalten sie nicht. Sie beschreiben vielmehr eindrücklich das gemeinsame Unbehagen ernstzunehmender Praktiker und Wissenschaftler am „modernen“ Strafrecht und an „modernen“ Formen der Strafverfolgung. Wenn man die heute noch rasantere, noch unbekümmerter erscheinende Gesetzgebung, die nicht enden wollende Forderung nach noch mehr Strafrecht und noch mehr verfahrensrechtlichen Eingriffsbefugnissen verfolgt, wünscht man sich, dem Gesetzgeber stünde eine Institution, wie sie es der FAKS war, beratend und mahnend zur Seite. Dies umso mehr, als es in der Wissenschaft keine leading opinions zur Frage der Aufgaben des Strafrechts mehr zu geben scheint, mit denen sich der Gesetzgeber auseinandersetzen müsste, wie das noch in der Reformdiskussion der 1960er Jahre der Fall war (E1962 und AE1966). Die Strafrechtswissenschaft vermittelt heute ein eher diffuses Meinungsbild. Wir hören vom „Gefährdungsstrafrecht“, vom „Risikostrafrecht“, vom „Sicherheitsstrafrecht“, von „Zukunftssicherung durch Strafrecht“, ja von einem „Feindstrafrecht“ und andererseits von einem „Interventionsrecht“ anstelle von Strafrecht.7 Offenkundig ereilt die Rechtspolitik und die Strafrechtswissenschaft das Schicksal ideeller Orientierungslosigkeit, wie wir sie heute auch in anderen grundlegenden gesellschaftspolitischen Fragestellungen erleben. Anderenorts mag ja gesetzgeberische Desorientierung hingehen. Beim Strafrecht und beim Strafverfahrensrecht geht es aber, was zunehmend zu Vergessenheit zu geraten scheint, um bürgerliche Grund- und Freiheitsrechte: da darf man vom Gesetzgeber schon eine besonders fundierte und an unserer Verfassung orientierte Arbeit erwarten, wird darin aber immer wieder enttäuscht. Daher wäre es vielleicht keine schlechte Idee, wenn es gelingen könnte, künftig im Gesetzgebungsverfahren das gemeinsame Votum aller mit Strafrecht befassten Berufsgruppen zu strafrechtspolitischen Grundsatzfragen einzuholen, statt, wie bisher, nur Einzelvoten der Berufsverbände. Hierfür wäre ein entsprechendes Forum zu schaffen. Zweifelsfrei fände sein Votum besonderes Gehör. Was im besonderen Rainer Hamm angeht: Wer sich die bei seiner sonstigen beruflichen Belastung vom Umfang und von der thematischen Vielfalt her schier unglaublich erscheinende Liste seiner Veröffentlichungen und Stellungnahmen zu Gesetzgebungsvorhaben 8 und dazu sein Engagement als
7
Vgl. Roxin Strafrecht AT, München 1994, § 2 VIIIi; Joecks in: Münchener Kommentar, 2003, Einleitung, Rn 86 ff (88 ff) mwN; Jakobs Bürgerrecht und Feindstrafrecht, HRRS 3/2004, 88 ff; Hassemer Kennzeichen und Krisen des modernen Strafrechts, ZRP 1992, 378 ff; ders. Sicherheit durch Strafrecht, StV 2006, 321 ff, mit jeweils unterschiedlichen Sichtweisen. 8 Einzusehen unter www.hammpartner.de.
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Mentor, Organisator und Moderator des FAKS während dessen Bestehen betrachtet, erkennt dahinter ein Berufsethos, das dem Bild vom Rechtsanwalt als „Organ der Rechtspflege“ in einer besonderen Weise verpflichtet ist. Ich schätze mich glücklich, damals diesem der Durchsetzung eines liberalen Rechtsverständnisses verpflichteten, unkonventionell denkenden und engagierten Kollegen begegnet zu sein, und habe damals einiges von ihm lernen können. Wir sind noch heute gute Freunde.
Das Protokoll im Strafverfahren Eine wechselvolle Geschichte Werner Leitner I. „Noch niemals sah ich einen Menschen, der wirklich die Wahrheit sucht. Jeder, der sich auf den Weg gemacht hatte, fand früher oder später, was ihm Wohlbefinden gewährte. Und dann gab er die weitere Suche auf.“ Mark Twain Das Hauptverhandlungsprotokoll gehört zu den Selbstverständlichkeiten unseres Strafprozesses und führt daher ein gemeinhin unauffälliges Dasein. Der Bedeutung des Protokolls für das Revisionsverfahren wird dieser Zustand indes nicht gerecht. Denn der Blick in § 274 Satz 1 StPO zeigt, dass die Beachtung der wesentlichen Förmlichkeiten der Hauptverhandlung – vorbehaltlich des Sonderfalls des § 274 Satz 2 StPO – nur durch das Protokoll bewiesen werden kann. Diesem kommt daher im Bereich der Verfahrensrüge eine Schlüsselrolle zu, weil angesichts seiner Beweiskraft der Weg des Freibeweises hinsichtlich der Darlegung von Verstößen gegen Vorschriften des Verfahrensrechts weithin versperrt ist 1 – oder besser war: § 274 StPO galt bisher als Ausdruck der Formstrenge, die die Strafprozessordnung ursprünglich durchgehend geprägt hat und die vom historischen Gesetzgeber aus guten Gründen gewollt war. Rainer Hamm hat in seinen Schriften immer wieder auf die Bedeutung dieser Formstrenge für die Wahrung der Rechte des Angeklagten hingewiesen und sich gegen einen Zeitgeist gestemmt, der darin „bloßen Formalismus“ sieht.2 Zwei höchstrichterliche Entscheidungen zur „unwahren Protokollrüge“ der Verteidigung fügen sich nun jedoch ein in das Bild zunehmender Abkehr von der Formenstrenge im Strafprozess. Mit Urteil vom 11. August 2006 hat der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs eine „bewußt wahrheitswidrige“ 1 Vgl. hierzu nur LR-Gollwitzer 25. Aufl. 2004, § 274 Rn. 1; Meyer-Goßner StPO, 50. Aufl. 2007, § 274 Rn. 3. 2 Sarstedt/Hamm Die Revision in Strafsachen, 6. Aufl. 1998, S. VI; zuletzt Hamm NJW 2006, 2084 (2086).
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Protokollrüge als rechtsmissbräuchlich und damit unzulässig zurückgewiesen.3 Im Anschluss daran, mit Beschluss vom 23. April 2007, hat der Große Senat für Strafsachen judiziert, dass durch eine zulässige Protokollberichtigung auch zum Nachteil des Beschwerdefahrers einer bereits ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge die Tatsachengrundlage entzogen werden kann.4 Beide Entscheidungen sollen Anlass sein, die Entwicklung des Protokolls im Strafverfahren näher zu betrachten.
II. Das Protokoll ist eine alte Erfindung. Schon im alten Ägypten war das damit unlösbar verbundene Amt des „Schreibers“ bekannt, wie figürliche Darstellungen aus der Zeit um 2500 v. Chr. belegen.5 Protokoll geht zurück auf das mittelgriechische Wort „pro¯tó-kollon“. Sinngemäß bezeichnete es das erste Blatt einer Verbindung von Notizen bzw. einer Verleimung mehrerer amtlicher Papyrusrollen. Später benannte man damit die mit chronologischen Angaben versehenen Titelblätter von Notariats- oder Gerichtsurkunden. Die Bezeichnung als „Protokoll“ wurde dann im Laufe der Zeit vom Titelblatt auf das Inhaltsverzeichnis und schließlich auf die gesamte Niederschrift ausgeweitet.6 Heute verstehen wir unter dem Begriff eine schriftliche Feststellung von Vorgängen als Ergebnis einer Wahrnehmung, eines Zustandes oder des Inhalts einer Verhandlung oder einer Aussage.7 Das Protokoll ist immer Mittel zum Zweck gewesen. Seine konkrete Ausgestaltung, etwa hinsichtlich des Umfangs und der inhaltlichen Dichte, hat sich daher auch stets an den jeweiligen prozessrechtlichen Vorgaben orientiert. Die Entwicklung des Protokolls im Strafverfahren vollzieht sich somit entlang der Fortentwicklung des Strafprozesses selbst und lässt sich wie diese in eine Abfolge von Stufen gliedern. 1. Das altgermanische Strafverfahren Eine tragende Säule der Strafrechtspflege nach altgermanischem Recht war die Selbsthilfe. Hiernach durfte die Sippe des Verletzten sich durch Fehde und Rache Genugtuung verschaffen. Möglich war es für die streitenden 3
BGH StV 2006, 627 = NStZ 2007, 49. BGH NJW 2007, 2419 ff. 5 Vgl. hierzu Dünnebier Verhandlungen des 41. Deutschen Juristentags, S. G 3. 6 Hartwig Die vollständige Protokollierung in der Hauptverhandlung in Strafsachen gem. § 273 Abs. 3 StPO, 2003, S. 26 Fn. 3; Dünnebier Verhandlungen des 41. Deutschen Juristentags, S. G 3 f.; Stier-Somlo/Elfter Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, Band IV, 1927, S. 593. 7 Stier-Somlo/Elfter Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, Band IV, 1927, S. 593. 4
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Parteien jedoch auch, einen Sühnevertrag abzuschließen, in welchem der Täter sich gegenüber dem Verletzten oder seiner Sippe zu einer Bußzahlung in Geldeswert verpflichtete und durch deren Erfüllung seine Tat sühnte. Vermochten sich die Kontrahenten über die Höhe dieser Zahlung nicht zu einigen, so konnten sie entweder gemeinsam oder aber der Verletzte allein das Gericht anrufen. Dieses bestand aus der Gerichtsversammlung aller wehrfähigen freien Männer, dem Thing. Der hier stattfindende Strafprozess war der Sache nach ein öffentliches und mündliches Akkusationsverfahren, in dem die Tatsachen und Beweise für die Entscheidung der anwesenden Urteilenden von den Parteien in einer kontradiktorischen Verhandlung vorgebracht wurden. Das Beweisverfahren zielte dabei nicht darauf ab, den Sachverhalt gemäß unserem heutigen Verständnis aufzuklären. Vielmehr gab es den Parteien die Gelegenheit, ihren jeweiligen Standpunkt durch Vornahme von Formalakten zu erhärten. Zu nennen sind hier exemplarisch der Eid und der Zweikampf. Denn wesentliches Merkmal des gesamten Verfahrens war die Überzeugung der Beteiligten, dass die Götter auf die Rechtsfindung einwirkten. Angesichts der im Eid enthaltenen Selbstverfluchung für den Fall einer unwahren Bekundung musste daher die beeidete Tatsache als wahr gelten. Umgekehrt galt als untrügliches Zeichen der Götter, wenn einer der Kontrahenten im Zweikampf unterlag: Die höheren Mächte offenbarten hierdurch die Unwahrheit der von jenem behaupteten Tatsache. Beendet wurde das Verfahren noch in der Versammlung durch einstimmiges mündliches Urteil des Thing. Es ist daher ein echtes Volksurteil, welches in materieller Hinsicht von der mündlich tradierten und fortgebildeten Rechtsüberzeugung der Stammesgenossen getragen wurde.8 Die Führung eines schriftlichen Protokolls war bei dieser Verfahrensgestaltung nicht erforderlich. Dem altgermanischen Recht war daher das Amt des Schreibers bzw. die Protokollführung bei Gericht unbekannt.9 2. Der römische Strafprozess Im älteren römischen Strafprozess war eine Protokollierung ebenfalls nicht vorgesehen, da sie vor dem Hintergrund des Ablaufs dieses Verfahrens ohne Sinn geblieben wäre. Denn auch dieser Prozess war geprägt durch Mündlichkeit, die Einheit des Termins, in welchem der Angeklagte sowohl vorgeführt als auch abgeurteilt wurde und durch das Fehlen einer zweiten Instanz. Auf die Möglichkeit einer späteren Rekonstruktion zumindest des 8 Hierzu von Schwerin Germanische Rechtsgeschichte, 2. Aufl., 1942, S. 31 f, freilich mit der zeittypischen ideologischen Verklärung und Romantisierung der Sippe im Sinne einer „Volksgemeinschaft“. 9 Vgl. hierzu Henkel Strafverfahrensrecht, 2. Aufl., 1968, S. 23 ff; Eb. Schmidt Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl., 1995, S. 37 ff.
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wesentlichen Ablaufs des Prozesses konnte daher verzichtet werden. Dies änderte sich mit der sullanischen Verfassung, die u.a. die Einrichtung ständiger Gerichtshöfe mit sich brachte, denen durch Spezialgesetze die Aburteilung besonders schwerer Verbrechen zugewiesen war. Besetzt waren diese Gerichte mit einem Praetor und mehreren Senatoren. Die dort geführten Strafprozesse konnten sich nun über mehrere Termine hinziehen. Ferner mussten die Verfahren auch bei einem Wechsel des Magistrats fortgeführt werden können. Gerade aus diesem Grund ergab sich nunmehr das Erfordernis zur Führung schriftlicher Aufzeichnungen über den Verfahrensablauf.10 Diese Schriften wurden zunächst von Privatschreibern gefertigt; erst später wurden öffentliche Gerichtsschreiber eingeführt. Rein technisch wurden die geforderten Inhalte zunächst auf Wachstafeln notiert und später in Reinschrift übertragen. Den Inhalt des Protokolls bildeten die Anklage, die Geschworenenliste, die Vorträge der Parteien und ihrer Vertreter, die Aussagen der Zeugen, die Abstimmung sowie das Urteil. Die Ausführlichkeit des Protokolls lag in der Hand des Gerichts. Es konnte entweder nur das Notwendige aufnehmen lassen oder die vollständige Niederschrift anordnen. Schriftstücke, Eingaben an das Gericht, Urteilsentwürfe und dergleichen konnten dem Protokoll als Anlage beigefügt werden.11 3. Das kanonische Inquisitionsverfahren Einen bedeutsamen Einfluss auf die Entwicklung des Strafprozesses übte das Kirchenrecht durch das kanonische Inquisitionsverfahren aus. Während die kirchliche Strafgerichtsbarkeit zunächst nur die Strafgewalt über Geistliche wegen kirchlicher Vergehen zum Gegenstand hatte, wurde diese im Laufe der Zeit – hinsichtlich eines wachsenden Katalogs von Delikten – auch auf die Laien ausgeweitet. In seinen Ursprüngen beruhte das kirchliche Strafverfahren auf dem römischen Recht, war also geprägt durch die Prinzipien der Öffentlichkeit und Mündlichkeit sowie den Anklagegrundsatz. Gerade dieser trat jedoch immer mehr in den Hintergrund. Denn entsprechend der Allgewalt der Kirche über die Seelen ihrer Angehörigen hatte sich der Einzelne für eine Verfehlung nicht mehr gegenüber seinen Mitmenschen zu verantworten, sondern allein gegenüber Gott und damit gegenüber dessen irdischen Repräsentanten, der kirchlichen Obrigkeit. Deshalb oblag es auch der alleinigen Macht und Verantwortung des kirchlichen
10 Schröder Das Wortlautprotokoll als revisionsrechtlicher Nachweis eines Widerspruchs zwischen tatrichterlichem Strafurteil und dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung, 1996, S. 14. 11 Siehe zur Protokollierung im römischen Strafprozess Heußinger Das Hauptverhandlungsprotokoll, 1922, S. 7 ff; Mommsen Römisches Strafrecht, 1899, S. 512 ff und Zachariae Handbuch des deutschen Strafprozesses, Bd. I, 1861, S. 98 f.
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Richters, das Verfahren durchzuführen, wobei das oberste Ziel die Erforschung der materiellen Wahrheit war. Bereits bei Aufkommen eines „verbreiteten Gerüchts“ hatte der Richter diesem von Amts wegen nachzugehen und die Sache zu erforschen (sog. inquisitio), wobei die richterliche Aufzeichnung des Gerüchts schließlich die Anklage zu ersetzen vermochte. Auch das Prinzip der Öffentlichkeit wurde immer weiter aufgegeben; da sich der Angeklagte nicht vor seinen Mitmenschen, sondern vor der Kirchenführung zu verantworten hatte, passte jene fortan nicht mehr in das Verfahren. Aufgegeben wurde ferner die Mündlichkeit des Verfahrens zu Gunsten des Grundsatzes der Schriftlichkeit. Während die genaue Aufzeichnung des Verfahrensstoffes zunächst nur der Nachprüfung des Urteils im höheren Rechtszug diente, wurde sie schließlich zur alleinigen Grundlage der Entscheidung auch in der Ausgangsinstanz. Das gesamte Verfahren ist daher als schriftlich und mittelbar zu charakterisieren, wodurch die Protokollierung eine ganz neue Bedeutung erhielt. Diese Umwälzungen blieben indes nicht auf den Bereich des Kirchenrechts beschränkt. Bereits im 12. und 13. Jahrhundert drangen die Wesenszüge des kanonischen Inquisitionsverfahrens allmählich in die Praxis der weltlichen Gerichte Italiens ein. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurden die Formen dieses kanonisch-römischen Verfahrens dann auch im deutschen Rechtskreis aufgenommen.12 4. Das gemeine deutsche Strafverfahren: Die Constutio Criminalis Carolina Das kanonisch-römische Inquisitionsverfahren mit seiner einseitigen Fixierung auf die Wahrheitsermittlung genügt aus heutiger Sicht rechtsstaatlichen Anforderungen natürlich nicht. Die Verfahrenswirklichkeit in der territorial zersplitterten deutschen „Strafrechtspflege“ am Ausgang des Mittelalters bot jedoch in dieser Hinsicht ein noch trostloseres Bild: Hier hatte sich weithin ein Inquisitionsverfahren ausgebildet, welches von allen prozessualen Fesseln befreit war. Der Einzelne war somit der Unfähigkeit oder Unerfahrenheit seines Richters sowie Willkür und Machtmissbrauch völlig schutzlos ausgeliefert. In dieser Lage wuchs das Verlangen nach einem rechtlich geordneten Verfahren, das dem Individuum einen gewissen Schutz bieten konnte. Das kanonisch-römische Inquisitionsverfahren mit seinen prozessualen Regelungen erschien daher als geeigneter Ausgangspunkt zur Überwindung einer als unerträglich empfundenen Willkürjustiz. Im Jahre 1532 konnten schließlich alle partikularistischen Widerstände der 12 Vgl. hierzu Roxin, Strafverfahrensrecht, 25. Aufl., 1998, § 68 Rn. 4; Henkel Strafverfahrensrecht, 2. Aufl., S. 35 ff; Zachariae Handbuch des deutschen Strafprozesses, Bd. I, 1861, S. 113 ff.
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deutschen Länder überwunden werden und die Peinliche Gerichtsordnung Karls V. (Constitutio Criminalis Carolina) trat als erstes Reichsstrafgesetz in Kraft.13 In verfahrensrechtlicher Hinsicht konstituierte das Gesetz den Grundsatz der Schriftlichkeit. Alles Vorbringen musste schriftlich fixiert werden, denn allein der Akteninhalt konnte Grundlage des gerichtlichen Erkenntnisses sein: Quod non est in actis, non est in mundo.14 Ein Grund für diese strenge Schriftlichkeit des Verfahrens war das prozessuale Institut der sog. Aktenversendung. In allen rechtlichen Zweifelsfragen sah die Carolina vor, Rechtsrat bei gerichtsexternen Rechtskundigen, etwa Landesbehörden oder Rechtsfakultäten, einzuholen. Die in diesen Gutachten geäußerten Rechtsansichten waren für das Gericht bindend, so dass die schließlich gefällte Entscheidung oftmals gar nicht durch das „erkennende“ Gericht, sondern de facto durch das rechtsgelehrte Kollegium getroffen wurde. Schließlich brachte der Inquisitionsprozess es mit sich, dass der Verfahrensstoff konsequent zusammengetragen wurde, denn in der Ermittlungstätigkeit des Gerichts reihte sich Verfahrenshandlung an Verfahrenshandlung, bis die materielle Wahrheit ergründet und die Sache entscheidungsreif war. Nach den Regelungen der Carolina war das Gericht hierbei nicht bei allen Ermittlungshandlungen vollständig anwesend, sondern in voller Besetzung nur bei der Endentscheidung selbst. Dem Urteilskollegium als solchem blieb dadurch der unmittelbare Gesamteindruck des zusammengetragenen Verfahrensstoffes vorenthalten.15 Inquisitionsgrundsatz und Aktenversendung machten die umfassende schriftliche Dokumentation des Verfahrens damit unabdingbar. Das Protokoll wurde somit zum unverzichtbaren Werkzeug des Verfahrens und der Gerichtsschreiber zu einer zentralen Person. So bezeichnet ihn die Carolina an exponierter Stelle in Art. 1 als notwendiges Mitglied des Gerichts 16 und formuliert in Art. 5 einen eigens von ihm zu leistenden Eid.17 Der Bedeutung 13 Henkel Strafverfahrensrecht, 2. Aufl., 1968, S. 37 ff; Roxin, Strafverfahrensrecht, 25. Aufl., 1998, § 69 Rn. 1, 4; Rüping/Jerouschek. Grundriss der Strafrechtsgeschichte, 5. Aufl., 2007, Rn. 94 f. 14 Schröder Das Wortlautprotokoll als revisionsrechtlicher Nachweis eines Widerspruchs zwischen tatrichterlichem Strafurteil und dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung, 1996, S. 15; Henkel Strafverfahrensrecht, 2. Aufl., S. 42; Reichling Die vollständige Protokollierung in der Hauptverhandlung in Strafsachen gem. § 273 Abs. 3 StPO, 2003, S. 30; Roxin, Strafverfahrensrecht, 25. Aufl., 1998, § 69 Rn. 8. 15 Henkel Strafverfahrensrecht, 2. Aufl., 1968, S. 40 f. 16 „Jtem erstlich: setzen: ordnen vnnd wöllen wir, daß alle peinlich gericht mit Richtern, vrtheylern vnd gerichtßschreibern, versehen vnd besetzt werden sollen […]“, zitiert nach Buschmann Textbuch zur Strafrechtsgeschichte der Neuzeit, 1998, S. 105. 17 „Jch N. schwere, daß ich soll vnd will inn den sachen des peinlich gericht betreffend, fleissig aufmercken haben, klag vnnd antwurt, anzeygung, argkwon, verdacht, oder beweisung, auch die vrgicht [Geständnis] des gefangen, vnd wes gehandelt wirdet, getrewlich
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des zu fertigenden Protokolls entsprachen die engmaschigen Vorgaben für seinen Inhalt. Gemäß Art. 189 CCC war das Protokoll gründlich und in klarer Sprache zu verfassen und hatte den Ort, das Jahr, den Tag und die Stunde seiner Aufnahme sowie die anwesenden Personen und das jeweilige Vorbringen zu enthalten. Ganz besonders erwähnenswert ist jedoch Art. 71 CCC, der die Protokollierung von Zeugenaussagen regelt. Die Vorschrift verlangt über die Aufnahme des Inhalts der Aussage hinaus die Anfertigung eines Gebärdenprotokolls, um auch das Verhalten des Zeugen aktenmäßig festzuhalten und für die Urteilsfindung nutzbar machen zu können. Aus heutiger Sicht mag das als unbefriedigender Ersatz für den Verlust der Unmittelbarkeit des Verfahrens erscheinen.18 Der – wenn auch unvollkommene – Versuch der Bewahrung des Augenblicks der Aussagesituation ist dennoch bemerkenswert, denn in ihm begegnet uns der primitive Vorläufer und Urahn der Videoaufzeichnung einer Vernehmung. Im weiteren Verlauf der Entwicklung des gemeinen deutschen Strafprozesses bis zu seiner Reform im 19. Jahrhundert wurde das Element der Mittelbarkeit des Verfahrens immer stärker betont. So wurde das Urteil schließlich nicht mehr vom untersuchenden Richter (dem Inquirent), sondern ausschließlich von staatlichen Spruchkörpern gefällt, die ihre Entscheidung allein auf die in schriftlichen Protokollen zusammengefassten Untersuchungsergebnisse des Inquirenten gründeten und somit überhaupt keinen unmittelbaren Eindruck 19 von den Untersuchungshandlungen haben konnten.20 Zum Ausgleich dieses Mankos versuchte man noch stärker, die Akten zu einer zuverlässigen Urteilsgrundlage zu machen. In „artikulierten Verhören“, die aus vorher aufgezeichneten Fragen und den darauf gegebenen Antworten bestanden, wurden die Vernehmungen auf das genaueste festgehalten: So sah beispielsweise die Preußische Criminalordnung aus dem Jahre 1805 nicht nur das schon von der Carolina bekannte Gebärdenprotokoll 21 vor, sondern auch die wörtliche Protokollierung einer jeden Aussage.22 auffschreiben, verwaren, vnnd so es not thut verlesen […]“, zitiert nach Buschmann Textbuch zur Strafrechtsgeschichte der Neuzeit, 1998, S. 107. 18 So Henkel Strafverfahrensrecht, 2. Aufl., 1968, S. 43. 19 Die damit notwenig vorgegebene Unmittelbarkeit wurde noch dadurch gesteigert, dass nur ein Mitglied des Spruchkörpers – der Referent – die Akten vollständig kannte. Dieser legte den übrigen Mitgliedern einen zusammenfassenden Aktenbericht samt Urteilsantrag, die Relation, vor. Siehe hierzu Löhr Der Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozessrecht, 1972, S. 30. 20 Reichling Die vollständige Protokollierung in der Hauptverhandlung in Strafsachen gem. § 273 Abs. 3 StPO, 2003, S. 30; Löhr Der Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozessrecht, 1972, S. 28 f. 21 Zur zeitgenössischen Kritik an der Zuverlässigkeit solcher Aufzeichnungen siehe die Nachweise bei Löhr Der Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozessrecht, 1972, S. 29 Fn 26. 22 Löhr Der Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozessrecht, 1972, S. 29 f.
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5. Das reformierte deutsche Strafverfahren Der Beginn des 19. Jahrhunderts brachte gewaltige politische Umwälzungen mit sich. Ein wirtschaftlich erfolgreiches und dem Gedanken der Liberalität und Aufklärung verbundenes Bürgertum war nicht mehr bereit, den absolutistischen Herrschaftsanspruch des jeweiligen Landesherrn widerspruchslos hinzunehmen. Zu den Forderungen dieser sich hieraus formierenden Bewegung gehörte die Sicherung des Rechts gegen seine Beugung durch Gewalt, die Gewährleistung der Unabhängigkeit der Rechtspflege gegen Eingriffe der Exekutive und der Schutz der Persönlichkeit gegen die Allmacht des Staates und die Willkür staatlicher Machtträger.23 Ein Hauptanliegen war daher die Abschaffung des Inquisitionsverfahrens, das durch seine Überbetonung der Wahrheitsermittlung und die Allmacht des Inquirenten die richterliche Objektivität untergraben und den Angeklagten des erforderlichen Rechtsschutzes beraubt hatte.24 Aus Sicht der Liberalen erschien zudem die Heimlichkeit des Verfahrens geradezu als Ausdruck des schlechten Gewissens der Strafgerichtsbarkeit und die Schriftlichkeit als eine Plage, die zur langen Dauer des Verfahrens führte und damit schwere Leiden desjenigen schuf, der als Angeklagter in ein solch schleppendes Verfahren hineingezogen wurde.25 „Mündlichkeit“ war daher – neben „Öffentlichkeit“ – eines der bedeutendsten Schlagwörter der Reformbewegung, die sich schließlich durchsetzen konnte: Gemäß § 178 der Paulskirchenverfassung von 1848 sollte das Gerichtsverfahren fortan „öffentlich und mündlich“ sein. In der Folgezeit entstanden in den meisten deutschen Staaten neue Strafprozessordnungen, die diese Vorgaben umsetzten. Das erkennende Gericht hatte nun grundsätzlich in einer öffentlichen und mündlichen Hauptverhandlung den Angeklagten, die Zeugen und Sachverständigen zu vernehmen und sollte so durch unmittelbare eigene Wahrnehmung Kenntnis von den Urteilsgrundlagen erhalten.26 In diesem Zuge wurde auch die bislang auf die Erfordernisse des schriftlichen Inquisitionsverfahrens zugeschnittene Protokollierung an die neuen Verhältnisse angepasst. Da aufgrund der Mündlichkeit des reformierten deutschen Strafprozesses die Akten nicht mehr als Grundlage für das zu fällende Urteil dienen konnten, wurden die inhaltlichen Anforderungen für die schriftliche Fixierung des Verfahrensgeschehens abgesenkt. Die partikulären Verfahrensordnungen sahen gewöhnlich vor, dass das Hauptverhandlungsprotokoll zumindest die Namen der an der Hauptverhandlung
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Henkel Strafverfahrensrecht, 2. Aufl., 1968, S. 52. Vgl. hierzu von Hippel Der deutsche Strafprozess, 1941, S. 42. 25 Henkel Strafverfahrensrecht, 2. Aufl., 1968, S. 53. 26 Ausführlicher hierzu Löhr Der Grundsatz der Unmittelbarkeit im deutschen Strafprozessrecht, 1972, S. 35. 24
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teilnehmenden Gerichtspersonen, des Staatsanwalts, des Angeklagten und seines Verteidigers sowie der Auskunftspersonen enthalten musste. Daneben wurde eine Beschreibung des Verlaufs der Hauptverhandlung bzw. eine Aufnahme aller wesentlichen Förmlichkeiten des Verfahrens oder der in der Verhandlung gestellten Anträge verlangt.27 Hinsichtlich des Umfangs der schriftlichen Fixierung der in der Hauptverhandlung gemachten Aussagen wurden unterschiedliche Wege beschritten. So war in den ehemals französisch besetzten linksrheinischen Gebieten die Aufnahme der Angaben des Angeklagten oder der Aussagen der Zeugen in das Hauptverhandlungsprotokoll selbst dann ausdrücklich verboten, wenn in der Hauptverhandlung erstmalig ein Geständnis abgelegt oder ein bestimmter Zeuge vernommen wurde; eine Ausnahme galt nur beim Verdacht auf eine falsche Aussage.28 Andere Verfahrensordnungen sahen dagegen zumindest die Fixierung des wesentlichen Inhalts der Angaben vor. Hinsichtlich der wörtlichen Protokollierung war man jedoch der Ansicht, dass sich die Mündlichkeit des reformierten deutschen Strafprozesses mit einer exzessiven Protokollierung nicht vertrage bzw. eine solche nicht erforderlich sei. Die wörtliche Protokollierung war somit nur noch im Ausnahmefall vorgesehen, etwa wenn die Aussage in der Hauptverhandlung zum ersten Mal erfolgte bzw. wenn dort erstmals eine Beweisaufnahme erfolgte, wenn eine Aussage Abweichungen zu den Bekundungen im Vorverfahren aufwies, wenn es die Verfahrensbeteiligten beantragten oder wenn es auf den wörtlichen Inhalt eines Aussage ankam.29 Mit dem Aus des Inquisitionsprozesses war damit zugleich das vorläufige Ende des akribischen Protokolls gekommen. 6. Die Reichsstrafprozessordnung Durch Art. 4 Nr. 13 der Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1871 wurde die Kompetenz des Bundes für das gerichtliche Verfahren begründet. Auf dieser rechtlichen Basis wurden die partikulären Verfahrensordnungen durch die Reichsstrafprozessordnung (RStPO) von 1877 abgelöst und das Strafverfahren vereinheitlicht. Die RStPO hielt an den Grundstrukturen des reformierten deutschen Strafprozesses – Anklageprinzip, Offizialmaxime, Öffentlichkeit, Mündlich-
27 Reichling, Die vollständige Protokollierung in der Hauptverhandlung in Strafsachen gem. § 273 Abs. 3 StPO, 2003, S. 32 f. 28 Art. 372 und Art. 318 Code d’instruction criminelle; siehe hierzu auch Reichling Die vollständige Protokollierung in der Hauptverhandlung in Strafsachen gem. § 273 Abs. 3 StPO, 2003, S. 34. 29 Vgl. hierzu Reichling Die vollständige Protokollierung in der Hauptverhandlung in Strafsachen gem. § 273 Abs. 3 StPO, 2003, S. 34 ff, mit weiteren Nachweisen.
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keit und Unmittelbarkeit – fest.30 Auch hinsichtlich des Protokolls wurde jene Richtung weiterverfolgt, die bereits in der Zeit nach 1848 eingeschlagen worden war. Wegen der Mündlichkeit des Hauptverfahrens wurde weiterhin kein Grund gesehen, das Verfahren in allen Einzelheiten umfassend schriftlich zu dokumentieren. Die Bedeutung des Protokolls ergab sich nach der Ansicht der Väter der RStPO aus seiner Funktion für das Revisionsverfahren.31 Bereits die RStPO enthielt die Vorschrift des heutigen § 274 StPO, wonach die Einhaltung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten nur durch das Protokoll bewiesen werden kann. Das Protokoll sollte daher nicht die Hauptverhandlung umfassend dokumentieren, sondern lediglich zur Überprüfung der Gesetzmäßigkeit des Gangs der Hauptverhandlung im Revisionsverfahren dienen.32 Folgerichtig war es daher, dass die Protokollierung des Geschehens jenseits der wesentlichen Förmlichkeiten der Hauptverhandlung die Ausnahme war. Gemäß § 273 Abs. 3 RStPO hatte der Vorsitzende eine Niederschrift nur anzuordnen, wenn es auf die Feststellung eines Vorgangs in der Hauptverhandlung oder auf den Wortlaut einer Aussage ankam. Ferner sah § 273 Abs. 2 RStPO vor, in der Hauptverhandlung vor dem Amtsrichter und dem Schöffengericht auch die wesentlichen Ergebnisse der Vernehmungen in das Protokoll aufzunehmen.33 Bereits aus den Anfangszeiten des Reichsgerichts stammt das Verbot der Rügeverkümmerung, ein Rechtssatz mit langer Tradition, wie auch der Große Senat in seiner Entscheidung befindet, in der er eben diesen Rechtssatz aufhebt.34 7. Die Strafprozessordnung Nach dem Zweiten Weltkrieg trat am 1. Oktober 1950 die StPO in Kraft 35 und beseitigte die nationalsozialistisch gefärbten Änderungen des Strafprozessrechts durch den weitgehenden Rückgriff auf den vor 1933 bestehenden Rechtszustand. Hinsichtlich des Protokolls wurden in diesem Zuge die Regelungen der §§ 270–274 RStPO inhalts- und paragraphengleich in die StPO übernommen. 30
LR-Kühne 26. Aufl., 2006, Einl. F Rn 11. Siehe hierzu die Ausführungen bei Hahn Die gesammelten Materialien zur Reichsstrafprozessordnung, 1886, Bd. I, S. 213 (zu § 314 E-RStPO) und Bd. III, S. 1393. 32 Schröder Das Wortlautprotokoll als revisionsrechtlicher Nachweis eines Widerspruchs zwischen tatrichterlichem Strafurteil und dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung, 1996, S. 16. 33 Siehe hierzu auch SK-StPO-Schlüchter/Frister 43. Lfg., Mai 2005, § 273 Rn 1. 34 BGH NJW 2007, 2419, 2420. 35 Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiet der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts vom 12.9.1950 – Vereinheitlichungsgesetz, BGBl. S. 455. 31
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Eine inhaltliche Änderung führte erst 1964 das StPÄG36 herbei. § 273 Abs. 2 StPO wurde hierdurch dahingehend erweitert, dass der wesentliche Inhalt von Aussagen nunmehr bei allen als Tatsacheninstanz urteilenden Gerichten in das Protokoll aufzunehmen war und nicht nur wie bislang bei den Verhandlungen vor dem Amtsrichter und dem Schöffengericht. Leiten ließ sich der Gesetzgeber dabei von der Erwägung, dass das vollständige Protokoll in anschließenden Verfahren – so etwa im Falle der Wiederaufnahme – von Bedeutung sein könnte.37 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass bereits damals erwogen wurde, anstelle des schriftlichen Protokolls die Aufnahme der gesamten Hauptverhandlung auf Tonträger zuzulassen. Hierauf wurde jedoch unter Hinweis auf das weit verbreitete Fehlen der hierfür erforderlichen technischen Voraussetzungen verzichtet.38 Die Neugestaltung des § 273 Abs. 2 StPO hatte indes keinen Bestand. Bereits kurz nach ihrem Inkrafttreten wurde sie im Schrifttum kritisiert. Bemängelt wurde, dass auch ein detailliertes Aussageprotokoll im Hinblick auf nachfolgende Prozesse wertlos sei, weil es im Revisions-, Wiederaufnahmeund Meineidsverfahren keine Beweiskraft besitze. Überdies sah man es als zweifelhaft an, exaktere Tatsachenfeststellungen im Urteil durch Protokollierungszwang zu erreichen; hier könne nur die Einführung eines Wort- bzw. Tonbandprotokolls in Verbindung mit entsprechenden Lockerungen des Revisionsrechts einen echten Fortschritt bringen.39 Auf dieser Linie bewegte sich auch der BGH, als er im Jahre 1965 entschied, dass das Revisionsgericht auch nach der Neufassung des § 273 Abs. 2 StPO nicht zu prüfen habe, ob die Feststellungen im Urteil mit den Aussagedarstellungen des Protokolls übereinstimmen.40 Im Zuge der Änderung der StPO durch das 1. StVRG 41 im Jahre 1974 hat sich der Gesetzgeber der Kritik an der Änderung des § 273 Abs. 2 StPO angeschlossen. Insbesondere vor dem Hintergrund der oben dargestellten Rechtsprechung des BGH sei das Inhaltsprotokoll über die Hauptverhandlungen vor dem Landgericht oder dem Oberlandesgericht weitgehend wertlos. Dem stehe ein großer Arbeitsaufwand für die Erstellung solcher Protokolle gegenüber. Unter Effizienzgesichtspunkten lasse sich das Inhaltsprotokoll daher nur bei Verhandlungen vor dem Strafrichter und dem Schöffengericht rechtfertigen: In Berufungsverhandlungen könne es gemäß § 325 StPO verlesen werden, wodurch die wiederholte Einvernahme von
36 Gesetz zur Änderung der Strafprozessordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 19.12.1964, BGBl. I S. 1067. 37 BT-Drs. 4/1020, S. 5; Kanka MDR 1965, 245, 248. 38 BT-Drs. 4/1020, S. 5. 39 Dahs NJW 1965, 81, 85. 40 BGH NJW 1966, 63, 66. 41 Erstes Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts vom 9.12.1974, BGBl. I S. 3393.
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Zeugen und Sachverständigen entbehrlich sei. Ferner ermögliche es dem Berufungsgericht eine erste Orientierung über den Verfahrensstoff und helfe ihm, die neue Hauptverhandlung sachgerecht vorzubereiten. Dies wiege den für die Herstellung des Protokolls erforderlichen Aufwand an Arbeit und Zeit bei weitem auf.42 Durch das 1. StVRG wurde aus diesen Gründen die ursprüngliche Fassung des § 273 Abs. 2 StPO wieder hergestellt.43 Erweitert in Richtung der Möglichkeit einer elektronischen Dokumentation von Teilen der Hauptverhandlung wurde § 273 Abs. 2 StPO durch das OpferRRG 44 von 2004. Gemäß des neuen § 273 Abs. 2 Satz 2 StPO kann der Vorsitzende anordnen, dass anstelle der Aufnahme der wesentlichen Vernehmungsergebnisse in das Protokoll einzelne Vernehmungen im Zusammenhang auf Tonträger aufgezeichnet werden. Eingeführt wurde diese Neuerung mit der Erwartung, dass sie zu einer „erheblichen Qualitätsverbesserung“ der Dokumentation beitrage und einem effektiven Opferschutz diene.45 Denn mit den neuen Möglichkeiten könnten die Vernehmungen vollständiger und zuverlässiger als bisher erfasst werden. Zudem seien mehrfache Vernehmungen vor dem Strafrichter oder später in einer Berufungsverhandlung eher vermeidbar als bisher.46 Von der Normierung einer solchen Aufzeichnungsmöglichkeit auch in Verfahren vor dem Land- und Oberlandesgericht wurde bewusst abgesehen. Man befürchtete, dass der Einsatz moderner Kommunikationstechnologien in erstinstanzlichen Verhandlungen zu einer Zunahme von Verfahrensrügen nach § 261 StPO führen würde.47 Dies könne auf Dauer zu einer Vermischung der Verantwortungsbereiche von Tatrichter und Revisionsgericht führen.48
III. Zurück zur Formstrenge des § 274 StPO und zum Verbot der Rügeverkümmerung: Letztere ist nun also Rechtsgeschichte und damit auch Teil der Geschichte des Protokolls selbst. Die Entscheidungen des 3. Strafsenats und des Großen Senats für Strafsachen könnten einfach einen beschaulichen Platz in den Kommentierungen und Schriften zu § 274 StPO finden.49 42
BT-Drs. 7/551, S. 83 f. BT-Drs. 7/551, S. 10; lediglich das Wort „Amtsrichter“ wurde durch den neuen Begriff des „Strafrichters“ ersetzt, BT-Drs. 7/551, S. 83. 44 Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Verletzten im Strafverfahren – Opferrechtsreformgesetz – vom 24.6.2004, BGBl. I S. 1354. 45 BT-Drs. 15/1976, S. 12. 46 BT-Drs. 15/1976, S. 12. 47 BT-Drs. 15/1976, S. 12. 48 BT-Drs. 15/1976, S. 12 f. 49 Beispielsweise in einer mit Spannung erwarteten 7. Auflage von Sarstedt/Hamm, dort wohl bei der – auch vom Großen Senat zitierten – Rn. 292. 43
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Wäre da nicht ein Satz in der Entscheidung des Großen Senats: „Die Änderung des anwaltlichen Ethos ist ein weiteres Argument für die Änderung der Rechtsprechung.“ 50 Nach Auffassung des Senats hat sich die Einstellung der Strafverteidiger zu der Frage, ob Verfahrensrügen auch auf unwahres Vorbringen gestützt werden dürfen, gewandelt.51 Der Große Senat bestätigt den vom 3. Strafsenat benutzten dogmatischen Ansatz des Rechtsmissbrauchs. Damit aber wird das Verhältnis zwischen Wahrheit und Form reduziert auf ein simples „wahr“ oder „unwahr“. Als ob der Strafprozess so einfach wäre. An dieser Stelle möchte man gerne Rainer Hamm zu Wort kommen lassen – oder man liest noch einmal nach bei Mark Twain.
50 51
BGH-GSS, Beschl. vom 23.04.2007, GSSt 1/06, = NJW 2007, 2419, 2423. BGH NJW 2007, 2419, 2422 f.
Verständigung im Strafverfahren Das Modell und seine Implikationen Klaus Lüderssen
Das Thema ist schwieriger geworden. Man kann nicht mehr ohne weiteres nach „pro“ und „contra“ sortieren. Zu registrieren ist vielmehr, dass buchstäblich „durcheinander“ geredet wird. Unterschiedliche Wahrnehmungen und Konzepte treten in wiederum unterschiedlichen Mischungen auf. Die Wahrnehmungen sind mehr als es gewissermaßen der Aspektabhängigkeit jeder Erkenntnis geschuldet ist, von wertenden Vorurteilen geleitet und offenbaren überdies ein unübersichtliches Informationsgefälle. Die Konzepte sind von Strategien durchwirkt und das wiederum teils gezielt oder jedenfalls bewusst und teils ohne kritische Selbsteinsicht. Die Strategien sind rollenbezogen: In der Justiz gibt es den mehr oder weniger dringenden Wunsch nach Entlastung und Zeitersparnis und bei der Staatsanwaltschaft das Bedürfnis nach mehr Flexibilität. Bei den Verteidigern ist der Ausgangspunkt die Parteilichkeit für den Beschuldigten. Aber was in diesem Sinne mit Verständigung erreicht werden könnte, wird unterschiedlich beurteilt, und einige Verteidiger sehen immer nur, dass dabei Staatsanwaltschaft und Gericht sich durchsetzen und sind deshalb gegen „Verständigung“, ohne sich freilich im Alltag daran halten zu können. Andere sehen es so, dass in vielen Fällen die Sache für den Beschuldigten dann doch günstiger ausgeht, als zunächst anzunehmen war, und bei einer dritten Gruppe gilt die Kritik einer offiziellen Anerkennung der Verständigung: der Verteidiger werde dann um den Erfolg gebracht, der in der Erreichung des Ungewöhnlichen, eigentlich nicht Vorgesehenen, liegt. Diese Motivation wird freilich nicht offen gelegt, sondern bewegt sich hinter dem Paravent einer ablehnenden Konzeption. Alle ablehnenden Konzeptionen haben einen gemeinsamen Tenor: Verständigung darf es nicht geben, und es kann sie nicht einmal geben. Die Gemengelage differiert freilich, aber keineswegs rollenspezifisch; vielmehr treffen sich Richter und Verteidiger bei der Beurteilung der faktischen wie der normativen Frage. Auch dabei wirken sich Unterschiede in der Wahrnehmung ebenso aus wie die Unterschiede bei den sie steuernden Vorurteilen. Weil Strafjustiz objektives Bemühen um Gerechtigkeit ist, darf es keine Verständigung geben. Weil es keine Verständigung geben kann, muss das
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Bemühen um Gerechtigkeit objektiv sein. Je nachdem wie stark die jeweiligen Positionen sind, wird dann auch die gemeinsame Sprache abgelehnt; was einigen als Verständigung erscheinen will, ist für andere nichts anderes als ein Deal. Die Perspektivendifferenzen beruhen aber nicht nur darauf, wie jeweils die aktuelle Situation eingeschätzt wird, sondern haben auch etwas zu tun mit teils kenntnisreichen, teils aber auch nur emphatischen Vorstellungen über eine „gute“ Tradition des deutschen Strafprozesses. Je nachdem, wie man diese Tradition bedient, ist der Befürworter der Verständigung ein „Verräter“ am Rechtsstaat oder auf der Seite des „Fortschritts“. Jede Annäherung an das Problem scheint daher mit dem virtuellen Vorwurf behaftet, dass schon der zutreffende Ausgangspunkt verfehlt werde für eine rechtspolitisch-wissenschaftliche Erörterung. Bei dieser Sachlage muss ein relativ neutraler Ausgangspunkt gefunden werden. Das könnten gesetzliche Vorschriften sein. Da sie (noch) nicht existieren, muss man sich an Entwürfe halten. Justizministerium und Bundesrechtsanwaltskammer nähern sich jetzt in ernst gemeinten Papieren dem Phänomen der Verständigung. Beide Entwürfe gehen davon aus, dass es im Strafprozess Verständigung gibt. Das wird im Entwurf des Bundesjustizministeriums einmal mittelbar – durch den Hinweis, dass § 136a StPO nicht verletzt werden dürfe – ausgesprochen,1 zum anderen durch Bezugnahme auf den „allgemeinen Sprachgebrauch“ deutlich gemacht: Dort sei „,Verständigung‘ […] hinreichend präzise erfaßt, […] sein wesentliches Merkmal ist der Begriff des Einvernehmens.“ 2 Das ist natürlich ganz unzureichend, und die Bemerkung, der Begriff der Verständigung müsse „hier nicht neu definiert werden“,3 macht das eher noch schlimmer. Das gilt auch für den Entwurf der Bundesrechtsanwaltskammer, der unbefangen davon spricht, das Konsensprinzip sei ein Prinzip mit einer spezifischen Legitimation „in Hinblick auf die anerkannten Zwecke des Strafverfahrens“, dazu seien „nicht zuletzt der Rechtsfrieden und die Gerechtigkeit“ zu rechnen.4 Zu registrieren ist aber jedenfalls, dass mit Verständigung ein, in welchem Maß auch immer, wechselseitig freiwilliger Vorgang bezeichnet ist. Dem widerspricht nicht die Feststellung, das Regelungskonzept gehe „in seinem Grundsatz davon aus, dass für die Verständigung im Strafverfahren keine neue – dem deutschen Strafprozess bislang unbekannte – Form einer konsensualen Verfahrenserledigung […] wünschenswert
1 Referentenentwurf eines Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren vom 18.5.2006, S. 10. 2 AaO, S. 22. 3 AaO, S. 22. 4 Bundesrechtsanwaltskammer, Vorschlag einer gesetzlichen Regelung der Urteilsabsprachen im Strafverfahren, September 2005 (BRAK-Stellungnahme Nr. 25/2005), S. 3; siehe auch S. 4.
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ist“. Damit wird vielmehr zum Ausdruck gebracht, dass der Gesetzentwurf am Prinzip der Verpflichtung des Gerichts „zur Ermittlung der materiellen Wahrheit“ festhalten möchte.5 Über die noch offenen Fragen könnte man freilich hinweg gehen, wenn Verständigung in den Entwürfen nur heißen würde, der Gesetzgeber solle dafür sorgen, dass verlässlicher und berechenbarer als bisher über den Stand des Verfahrens Kommunikationen stattfinden, insbesondere über die Beweislage, aber auch über die rechtliche Beurteilung und die zu erwartende Strafe. Das soll im Regierungsentwurf in § 160a (für das Ermittlungsverfahren) und in § 202a (für das Zwischenverfahren) geregelt werden. Das Stichwort ist immer, dass die Erörterungen geeignet erscheinen müssen, „das Verfahren zu fördern“. Das Gleiche sieht der Entwurf der Bundesrechtsanwaltskammer vor (§ 202 Abs. 2).6 Auch für die Hauptverhandlung ist so etwas geplant: (§ 243 Abs. 4 des Referentenentwurfs),7 § 212 des Entwurfs der Bundesrechtsanwaltskammer.8 Indessen soll es dabei ja nicht bleiben. Vielmehr werden in den Entwürfen Regelungen vorgeschlagen, die auf eine Verständigung nicht nur über den weiteren Fortgang, sondern auch über „das Ergebnis des Verfahrens“ zielen: § 257c des Regierungsentwurfs 9 bzw. § 243a des Entwurfs der Bundesrechtsanwaltskammer.10 Allerdings soll es nur um die Höhe der Strafe gehen (§ 257c Abs. 2, bzw. § 243a Abs. 1). So wenig das ist, so eindeutig ist doch, dass an die Stelle der richterlichen Entscheidung ein Verfahrensabschluss tritt, dem der Gedanke zugrunde liegt, „dass in einem gesetzlich eröffneten Rahmen Rechtsgestaltung durch den übereinstimmenden Willen der daran Beteiligten erfolgen kann“. Das ist die Formulierung im Entwurf der Bundesrechtsanwaltskammer.11 Man kann davon ausgehen, dass der Regierungsentwurf trotz seiner Vorbehalte mit Blick auf den herkömmlichen Strafprozess das Gleiche meint. Denn die semantischen Erläuterungen, die der Entwurf allgemein über das Wort Verständigung gibt, hätten im Kontext der Verständigung über ein „Ergebnis“ sonst keinen Sinn. Auf weiteres kommt es noch nicht an, etwa darauf, dass die Schuldfrage und der Rechtsmittelverzicht 12 ausgeklammert sind, welche Rolle das Geständnis spielen soll usw. Jetzt ist nur festzuhalten, dass das Ziel des Gesetzgebers – vereinbarte Ergebnisse soll es zukünftig in einem Straf5 6 7 8 9 10 11 12
2006.
AaO, S. 12. AaO, S. 7. AaO, S. 7. AaO, S. 5. AaO, S. 8. AaO, S. 6. AaO, S. 3. Dazu jetzt Christiane Schoop Der vereinbarte Rechtsmittelverzicht, Baden-Baden
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prozess geben dürfen – ernst zu nehmen ist, gleichgültig wie viele Abstriche in Bezug auf die Realisierung gemacht werden müssen.13 Mit anderen Worten, das Denkmodell der „Verständigung“ ist erst einmal „durchzuspielen“, seine Schlüssigkeit zu überprüfen. Das ist bisher nicht geschehen, weil gleichsam vorher abgewinkt wird: Von dem, was wirklich beim „deal“ passiere, seien die Vorschläge in den Entwürfen weit entfernt. Verhält es sich wirklich so, ist das Unternehmen „Verständigung“ im Strafprozess schon im Ansatz verfehlt, konzeptionell unmöglich, dann braucht man sich um die strukturell nachfolgende Debatte darüber, wie viel Zwang und Opportunismus beteiligt sind, nicht mehr zu kümmern, dann behalten die Skeptiker recht und die Anhänger sind entlarvt. Aber sehen wir zu. Sammelt man die Erfahrungen und Argumente, welche die Entwicklung angestoßen haben (Überlastung der Justiz, Notwendigkeit der Verfahrensbeschleunigung, Zunahme auslegungsbedürftiger, generalisierter Rechtsbegriffe, Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Bürger – vom Hoheitsstaat zum Konsensualstaat heißt ein relativ neues Buch 14 – wachsende Zahl der Strafvorschriften, Vordringen des Strafrechts auf Gebiete, für die es bisher nicht zuständig schien), dann möchte man als erstes wissen, weshalb denn Verständigung – immer in dem jetzt (auf der Basis der Gesetzgebungsvorschläge) vorausgesetzten Sinne eines relevanten Minimums von Freiwilligkeit – soll Abhilfe schaffen können. Wäre nicht ein autoritäres „Durchentscheiden“, ein „kurzer Prozess“, Beschneidung von Verfahrensrechten etc. wirksamer? Wer hier zögert, muss zugeben, dass die Verständigungsvariante offenbar vorzugswürdig ist. Die Eignungsfrage kann also gar nicht „rein“ gestellt werden, oder etwas umständlicher ausgedrückt: Eignung wird nicht um jeden Preis favorisiert, sie muss sich messen lassen an konkurrierenden Rechtspositionen, deren Verletzung durch die Einsetzung der – für die Erreichung des ins Auge gefassten Ziels – geeigneten Mittel zu besorgen wäre. Viele Zielkonflikte werden von den Kritikern der Entwürfe vorgestellt, zum Beispiel: Mit der Verständigung komme ein pauschalisierender Zug in das Verfahren, der die streitbar zu behauptende Rechte des Beschuldigten 13 Die Einwände sind Legion, vgl. zuletzt Thomas Weigend Strafverteidigung im Zeitalter abgesprochener Urteile, Thomas Weigend, Susanne Walther, Barbara Grunewald (Hrsg.), Strafverteidigung vor neuen Herausforderungen. Dankanstöße aus sieben Rechtsordnungen (Berlin 2008, S. 357 ff). Rainer Hamm Soll der Gesetzgeber Informelles formalisieren, in: Strafo 2006, 89 ff; Franz Salditt Kommunikation, StV 2007, 275 f; erschöpfende Übersicht bei Karsten Altenhain/Ina Hagemeier/Michael Haimerl Die Vorschläge zur gesetzlichen Regelung der Urteilsabsprachen im Licht aktueller rechtstatsächlicher Erkenntnisse, NStZ 2007, 71ff; Peter Huttenlocher Dealen wird Gesetz – Die Urteilsabsprachen im Strafprozess und ihre Kodifizierung, Hamburg 2007, S. 163ff (dort auch Auseinandersetzung mit weiteren Entwürfen); ein Entwurf des Verfassers dieses Buches findet sich auf S. 489 ff. 14 Dieter Schmidtchen/Hans-Jörg Schmidt-Trenz (Hrsg.) Vom Hoheitsstaat zum Konsensualstaat, Baden-Baden 1999.
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desavouiere. Beides, die obrigkeitliche Dezision und die Vernachlässigung von Beschuldigtenrechten will man nicht; darauf kann sich die moderne Rechtswissenschaft schnell einigen, und die Frage bleibt, ob die Verständigung unter diesen Voraussetzungen befürwortet werden kann. Oder grundsätzlicher: Ist Verständigung überhaupt mit dem Prinzip der Feststellung der Wahrheit und der verfassungsgemäßen Anwendung des Strafrechts vereinbar? Sie könnte es sein, wenn Verständigung der bessere Weg zur Wahrheit und Gerechtigkeit ist. Das jedoch könnte ein Konzept sein, das von den Begriffen der Wahrheit und Gerechtigkeit, wie sie der StPO zugrunde liegen, erheblich abweicht. Für ein solches Konzept müsste man Gründe haben, und hier gelangen wir an den Kern des Problems. In der Konsensformel des Entwurfs der Bundesrechtsanwaltskammer kommen jene anderen Begriffe von Wahrheit und Gerechtigkeit vielleicht schon zum Vorschein. Erfordern sie eine andere Strafprozessordnung, vielleicht sogar ein anderes Staatsverständnis und sind daher a limine abzuweisen? Die Frage ist akademisch; der Gedanke, man könne die ganze Absprachenpraxis einfach verbieten, wird als Alternative zu den gegenwärtigen Entwürfen zwar gestreift, dann aber – unter stillschweigender Akzeptanz der Praxis – um so entschiedener zurückgewiesen.15 Der entscheidende Schritt ist also bereits gemacht. Wer dagegen protestiert, müsste den an der Verständigung beteiligten Richtern und Staatsanwälten, wenn ein entsprechender „Deliktserfolg“ eintritt, Rechtsbeugung vorwerfen – objektiv, und wahrscheinlich bei der insoweit dann klaren Rechtslage auch subjektiv. Dass vieles an den längst in Gang gekommenen Verständigungsprozessen rechtswidrig ist, dass Fälle von Nötigung, vielleicht auch Parteiverrat, Verstöße gegen § 136a StPO und ähnliches mehr vorkommen, steht auf einem andere Blatt, wäre – gegebenenfalls – gesondert zu behandeln und unter dem Gesichtspunkt zu prüfen, ob derartige Vorgänge, weil sie im Rahmen der Verständigungsprozesse möglich sind, das ganze Konzept verderben. Aber ehe man das tut, müssen die Gewissheitsverluste 16 aufgespürt werden, welche die Voraussetzung dafür sind, dass man es überhaupt wagt, die Position, Wahrheit könne feststellbar sein und Gerechtigkeit objektiv gefunden werden, aufzugeben. Diese Gewissheitsverluste markieren auch die Grenzen der Verständigung: wo die Prozessbeteiligten sich absolut sicher fühlen („Schmerzgrenze“), gibt es keine Zugeständnisse, es sei denn unter Zwang oder aus Opportunismus, und diese Fälle interessieren hier nicht. Auf allen Stufen seiner Verwirklichung zeigen sich die Gewissheitsverluste im Strafrecht. Am augenfälligsten ist die mangelnde Bestimmbarkeit des Ver15
Regierungsentwurf, S. 12. Dieser Begriff geht zurück auf das Buch von Götz Haverkate Gewissheitsverluste im juristischen Denken, Berlin 1977. 16
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hältnisses von Verbrechen und Strafe.17 Der Gipfel des Unbegreiflichen ist die Konkurrenzlehre – verzweifelt die Versuche in unseren Tagen, aus fünfmal „lebenslänglich“ Bedenken gegen die Begnadigung nach über 20 Jahren Haft abzuleiten (es handelt sich um die letzten noch einsitzenden RAF-Mitglieder). Selbst wenn man die Fixierung der Ausgangsbasis dafür, was eine Tat wert ist, als irrational denunziert und dann sagt, in Relation dazu könne man rational gewichten, ist das Augenwischerei. Wenn nicht geklärt werden kann, weshalb ein mittelschwerer Einbruch vier Jahre Freiheitsstrafe fordert und man das als eine nicht hintergehbare Entscheidung akzeptiert, ist die „Ableitung“, ein weniger schwerer Einbruch sei dann zwei Jahre wert oder ein Jahr oder drei Jahre fiktiv. Noch absurder wird es, wenn ein Diebstahl, bei dem die Beute gering ist, eine relativ niedrige Strafe nach sich zieht, bei – vielleicht durch Untreue bewirkten – Schäden, die in die Millionen gehen, indessen auf entsprechende Steigerungen verzichtet, sondern irgend etwas in der Mitte ausgesucht wird. So lange noch metaphysische Strafgründe mobilisierbar waren,18 konnte man das Problem kaschieren. Jetzt geht das nicht mehr. Die Versuche, eine Art weltlichen Proportionalitätsdenkens im Strafrecht zu etablieren, haben keine brauchbaren Begründungen hervorgebracht; insbesondere ist der Hinweis auf die spiegelbildlichen Proportionalitäten bei den Verdiensten nicht hilfreich, denn die Berechnung von Verdiensten ist genauso irrational. Man hat nur nicht eine so dringende Veranlassung, darüber tiefsinnig zu werden, weil die Folgen „falscher“ Berechnung mit den Folgen, die durch eine Bestrafung ausgelöst werden, nicht verglichen werden können. Wer das nicht mit dieser Entschiedenheit konstatieren, sondern vielleicht doch in Bezug auf gewisse Ober- und Untergrenzen eine Art von jeder Disposition entzogenen Evidenz behaupten möchte, muss jedenfalls für das, was dazwischen liegt, die Ungewissheit akzeptieren. Da sich die herrschende Meinung wohl zunächst eher darauf einpendeln wird, die Verständigung auf die Strafzumessung 19 zu beschränken, muss schon an dieser Stelle weiter gefragt werden, welche Art von Konsenswirkung dabei gemeint ist. Dass die Verständigung – wenigstens unter „idealen“ Sprechbedingungen, nach den diskursethischen Grundsätzen, die wir vor
17 Treffend schon die einschlägigen Bemerkungen von Joseph Heimberger in seiner Arbeit zum „Begriff der Gerechtigkeit im Strafrecht“, Leipzig 1903, S. 12 ff; dazu Klaus Lüderssen Joseph Heimberger (1865–1933), in: Bernhard Diestelkamp/Michael Stolleis (Hrsg.) Juristen an der Universität Frankfurt am Main, Baden-Baden 1989, S. 31 ff. 18 Illusionslose Verabschiedung der dafür mobilisierten Grundlagen jetzt bei Günter Stratenwerth Freiheit und Gleichheit. Ein Kapitel Rechtsphilosophie, Bern 2007, S. 1 ff. 19 Aus der neuesten Literatur: Franz Streng Verfahrensabsprachen und Strafzumessung, in: FS für Hans-Dieter Schwind, Heidelberg 2007, S. 447 ff.
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allem der Habermas’schen Philosophie verdanken 20 – am Ende einer objektiven Vernunft auf die Spur kommt, die eben nur durch raffinierte, höchst feingesponnene Kommunikationen entdeckt werden kann, wird bei der Strafzumessung sicher nicht das Muster sein können für den Konsens. Erst recht wird das nicht möglich sein, sobald man einsieht, dass selbst der akzeptable Konsens im Strafprozess – so wie im übrigen Leben ja auch trotz bedrücklicher Einflüsse doch Entscheidungen zustande kommen, die man noch relativ frei nennen kann – nur von mittlerer Art und Güte sein muss.21 Eine verborgene Weisheit der richtigen Strafzumessung kann es überhaupt nicht geben. Das heißt, das Modell der Erzielung eines zufrieden stellenden Ergebnisses via Konsens kann hier allenfalls sein, dass man Wahrheit und Richtigkeit als Ergebnis eines Prozesses begreift, weil sie gewissermaßen hergestellt werden, dann aber, vom Konsens abgehoben, existieren. Auch das ist für die Strafzumessung eigentlich nicht zu hoffen. Wiederum würde ja vorausgesetzt, dass eine objektiv richtige Strafzumessung, wenn sie auch nur durch eine bestimmte Prozedur erreicht werden kann, denkbar ist. Die Frage, welchen Kriterien eigentlich die prozessuale Wahrheit oder Richtigkeit genügen muss, hat bisher niemand geklärt. Vielmehr wird aus dem Charakter und der Gelungenheit des Verfahrens der Schluss gezogen, das Ergebnis sei richtig. Aber dieser Schluss kann keine Logik für sich beanspruchen, die Logik des konsensgenerierten Ergebnisses gibt es (noch) nicht. Vielmehr akzeptiert man einfach die Einigung als etwas Positives, an dessen Relevanz man glaubt, als Konsequenz aus der wissenschaftstheoretischen Resignation gewissermaßen. Seine Grundlage ist ein optimistisches Menschenbild. Die Menschen entscheiden selbst, und da sie als Einzelwesen nicht existieren können, müssen sie sich einigen. Die Annahme, dass – bei guten Ausgangsbedingungen – nur Vernünftiges von ihnen zu erwarten sei, ist ebenso schwer begründbar wie die Annahme, es gebe das Böse. Weil das so ist, muss man noch einen Schritt weiter gehen und – um ganz sicher zu sein, nicht doch externe, das heißt vom Menschen abgesonderte Wahrheiten oder Richtigkeiten zu vermuten – die Einigung als solche genügen lassen. Vertreter einer radikalen prozeduralen Wahrheits- und Richtigkeitstheorie mögen das vielleicht so quittieren. Aber das wäre eigentlich nur eine verbale Anstrengung, denn genauer befragt, würden sie wohl, um sich von der „Verbrecherbande“ (im Sinne des Kelsen’schen Grenzbegriffs), die „einig ist“, abzusetzen, zwar vielleicht sagen, dass in der Verbrecherbande eben die 20 Zum Stand der Übertragungsmöglichkeiten in das Recht: Matthias Jahn Zurück in die Zukunft – Die Diskurstheorie des Rechts als Paradigma des neuen konsensualen Strafverfahrens, GA 2004, 272 ff; kritisch Armin Engländer Diskurs als Rechtsquelle, Tübingen 2002, S. 41 ff (zu den Grundlagen); 88 ff (zur Übertragung in das Rechtsleben). 21 Das ist immer wieder verkannt worden, zuletzt von Salditt aaO.
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„richtigen“ Verfahren fehlen. Mit der Frage nach den Kriterien dafür wäre dann aber die Grenze der Konstruktion erreicht – es sei denn, auch insoweit käme es auf Einigung an; dann aber wäre ein unendlicher Regress programmiert. Muss man dieser Konsequenz ins Auge sehen? Wann sind die Verfahren richtig? Wenn sie überzeugende Ergebnisse bringen? Das wäre ein Zirkelschluss. Kann man Richtigkeitskriterien der Verfahren entwickeln unabhängig vom Ergebnis, einfach sagen, wenn die und die Bedingungen einer Kommunikation erfüllt sind, dann muss man ihr folgen, gleichviel, was dabei herausschaut? Man kann das Problem mit einem Beispiel aus der allgemeinen Verbrechenslehre verdeutlichen: Wir stoßen bei den Vertretern einer Lehre des Verbrechens als Pflichtverletzung auf die Behauptung: Uns geht es nur um die Pflichten. Mit der Folge beispielsweise, dass bei Umweltkonflikten ein Pflichtenkatalog abgearbeitet wird. Wenn diese Pflichten nicht eingehalten worden sind, kann es zur Bestrafung kommen, gleichviel ob etwas passiert ist oder nicht. Aber das ist nur theoretisch. Denn selbstverständlich sind Pflichten auf Handlungen bezogen, von denen man sich gute Erfolge verspricht. Das heißt: Die Konsenslösung, die abstrakt nur darauf abstellt, dass eine Einigung stattgefunden hat und dass man in dieser Einigung das Richtige sieht, gibt es nicht. Was es gibt, ist eine – unter Wertgesichtspunkten stattfindende – Abstraktion von den hinter der Einigung verborgenen Zwecksetzungen, eliminieren kann man sie nicht. Das würde auch praktisch zu ganz absurden Situationen führen. Wer, von einem Verständigungskonzept erfüllt, das nur die Verständigung und nichts als die Verständigung gelten lassen will, in die Kommunikationen hineingeht, dürfte gar nichts anderes wollen als Verständigung, das heißt, er müsste gewissermaßen abwarten, was die anderen sagen, um dann selbst darauf einzugehen oder umgekehrt irgend etwas vorschlagen, um dann zu sehen, ob die anderen mitmachen etc. Ein solches Theater kann nicht gemeint sein mit der Verständigung im Strafprozess. Vielmehr ist es so, dass man im Konsensbetrieb inhaltliche, den Konsens als solchen nicht betreffende Vorstellungen entwickelt und zur Diskussion stellt, dabei natürlich auch in der Sache argumentiert, also etwa, um zur Strafzumessung zurückzukehren, die Strafzwecke ins Spiel bringt, die Wiedergutmachungsleistung des Beschuldigten, sein Geständnis etc. Ist man präventiv orientiert, geht es – scheidet man den Strafzweck der bloßen Sicherung als verfassungswidrig aus – nur darum, mit der Strafzumessung das Optimum zu erreichen für Resozialisierung. Wer meint, dass Resozialisierung im Gefängnis gar nicht oder jedenfalls unter den obwaltenden Umständen nicht stattfinden kann, wird Alternativen vorschlagen. Den Einfällen ist keine Grenze gesetzt. Was nicht passieren darf, ist ihre Durchsetzung gegen den Willen derer, von denen man sagen möchte, dass sie mitsprechen sollten. Der Respekt vor dem Einigungspotential ist also nicht in dem Sinne absolut, dass es die Produktion, wohl aber in dem Sinne, dass es die Realisierung von Ideen
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steuert. Die Konsenstheorien im Recht sind also in letzter Konsequenz nicht von Erkenntnistheorien, sondern von Entscheidungstheorien abhängig. Die Ebene der Wissenschaftstheorie ist damit freilich zugunsten der Politik verlassen; und das ist für moderne Zeiten: die Demokratie. Wer sich das klar macht, gewinnt auch sogleich ein Argument für die Relativierung der Bedingungen einer relevanten Einigung. Für philosophische Ansprüchen genügende Wahrheits- und Richtigkeitsdiskurse mag die ideale Sprechsituation und deren Vollzug zu fordern sein. Für eine demokratische Entscheidung genügen mittlere Werte. Damit sind wir bei der Frage nach der Bedeutung von Verständigungsprozessen für die Strafzumessung auf eine Ebene gelangt, die im Rahmen der Aktivität der Dritten Gewalt, der Justiz, eigentlich nicht betreten wird. Über die Grenzen der Gewaltenteilung muss hier nicht viel gesagt werden. Die Regierung in einer parlamentarischen Demokratie ist ein Anwendungsfall. Die Justiz bleibt ausgenommen; obwohl auch sie von dem Satz erfasst ist, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht. Freilich gibt es die Entscheidungen der Richterwahlausschüsse, undurchsichtige Verfahren, an deren Ende nun aber keineswegs die parlamentarische Abhängigkeit der Justiz steht, sondern ihre exekutivische Lenkung (Ernennungen, Beförderungen etc. kommen durch das Justizministerium, eine Regierungsinstitution).22 Vielleicht belebt diese halbherzige Demokratisierung des Richterberufs die Phantasie, wenigstens den richterlichen Entscheidungen – über die Verständigungen – einen Weg in die Demokratisierung zu öffnen. Das wäre dann immerhin eine Demokratie innerhalb einer Gewalt unter Beteiligung einiger weiterer Personen, die zwar nicht zu dieser Gewalt gehören (also des Beschuldigten und – wenn er nicht auch Organ der Rechtspflege ist 23 – des Verteidigers), aber dem Gegenstand des Verfahrens umso näher sind.24 Die Annahme, dass die Demokratie sich nach Abschluss der Gesetzgebung in den einzelnen Staatsorganen nicht fortsetze, wäre sicher falsch, Demokratisierung im inneren Betrieb der Exekutive ist längst ein Thema. Demokratisierung innerhalb des Betriebs der Justiz wohl offenbar nicht, aber das ist auch eine Frage der Selbsteinsicht und Offenlegung aller Einflüsse. Wissenschaftler etwa prägen, ohne irgendeine Legitimation als die der For22
Siehe dazu Klaus Lüderssen Strafjustiz zwischen Gesellschaft und Staat, in: Günter Bemmann/Ioannis Manoledakis, Der Richter in Strafsachen, Baden-Baden 1992, S. 9 ff (15 ff). 23 Zu dem Streit über diesen Begriff gründlich Franz Salditt Zur Stellung des Strafverteidigers, in: Gunter Widmaier (Hrsg.) Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung, München 2006, S. 1 ff (2–11). 24 Das begründet den Unterschied zu den Laienrichtern. Deren pseudo-demokratische Funktion beurteilt zu Recht kritisch Gunnar Duttge Laienrichter in der Strafgerichtsbarkeit – Anspruch und Wirklichkeit, JR 2006, 358 ff (361); so auch Tatjana Hörnle Democratic Accountability and Lay Participation in Criminal Trials, in: Anthony Duff et al. (eds.) The Trial on Trial, Vol. 2, S. 135 ff.
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schungsfreiheit, manche Entwicklung in der Rechtspraxis. Als Habermas bei der Abfassung seines Buches über Faktizität und Geltung das entdeckte, war er einigermaßen entsetzt, bekam aber auf seine Rückfrage keine ihn befriedigende Antwort, weil in der Zunft niemand Anstoß nimmt. Wenn er sich überlege, ob er lieber einen rechtsstaatlichen oder einen demokratischen Strafprozess haben möchte, meint ein befreundeter Kollege, sei er eigentlich für den rechtsstaatlichen Strafprozess. Aber haben wir es hier denn mit einem Antagonismus zu tun? 25 Demokratie und Rechtsstaat, in den späten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts immer noch als Dichotomie empfunden, werden seit Beginn des 20. Jahrhunderts in der Staatsrechtslehre als zu erstrebende Einheit diskutiert. Die NS-Zeit unterbricht diesen Prozess, wirft ihn zurück, so dass die Debatte in den fünfziger Jahren erst langsam wieder auflebt und noch nicht abgeschlossen ist. Aber so weit sind wir wohl doch schon, dass Demokratie nicht nur institutionell kanalisiert erscheint, sondern gleichsam als ein gesellschaftliches Lebensprinzip anerkannt ist – man denke an die innerparteiliche Demokratie, (ein Verfassungsgrundsatz inzwischen), oder an die Demokratieprobleme, die sich an die Funktionen von Verbänden knüpfen. Mit der Abweisung der Verständigungsprozesse würde sich die Strafjustiz also am Ende in eine merkwürdig anachronistische Ecke manövrieren. Hat das Strafrecht wirklich diese abgesonderte Funktion – wie manchmal zu hören ist – der „Normenverdeutlichung“ – gegen alle anderen Systeme in einer Gesellschaft, etwa das System der auf Kosten/Nutzen-Kalkulation eingestellten Wirtschaft? Aber wenn man das akzeptieren würde, verschiebt sich die Frage doch nur: Woher soll die Sicherheit kommen bei der Normenverdeutlichung? Die Relativierungen, die alle anderen gesellschaftlichen Systeme ständig bei der Abwägung der Interessen hinzunehmen haben, können doch nicht so ohne weiteres vom Strafrecht, indem es sich als eine Art gralshaft gehüteter heiliger Hort geriert, vornehm verweigert werden? Keineswegs ist beim Abschied vom absoluten Strafrecht – eingeleitet durch die Paradigmenwechsel von der Repression zur Prävention (salonfähig gemacht durch die Verbindung von Prävention und Schuld) und von der Feststellbarkeit und Erkennbarkeit des Wahren und Richtigen zur Zuschreibung – zu befürchten, dass es seinen Charakter als ultima ratio, akzessorischer und subsidiärer Materie verliert. Alle bisher die Sorgfalt bei der Restriktion des Strafrechts favorisierenden Bemühungen behalten ihr Recht. Es handelt sich nur darum, für die Strafjustiz den Demokratisierungsprozess einzuleiten,26 an dem die übrigen Teile der Rechtsordnung längst arbeiten. 25 Erhellend: Jürgen Habermas Über den internen Zusammenhang von Rechtsstaat und Demokratie, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt am Main 1996, S. 193 ff. 26 Interessant aber letztlich indistinkt dazu Heike Jung Richterbilder. Ein interkultureller Vergleich, 2006, S. 27 ff. Zögernd auch Friedrich Kübler Demokratische Justiz? in: FS für Dieter Simon, Frankfurt am Main 2005, S. 349 ff.
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So viel Aufwand für die Probleme der Justiz mit der Strafzumessung? Immerhin entscheidet vor allem sie schließlich darüber, was mit dem Beschuldigten effektiv passiert. Der Aufwand kann also eigentlich gar nicht groß genug sein. Indessen induziert die Breite und die Intensität der Desillusionierung von Gewissheitsstrukturen nun doch die Frage, ob damit im Rahmen der Strafjustiz wirklich nur die Problematik der Strafzumessung erfasst wird und nicht auch die Schuldfrage, hier im prozessualen Sinne verstanden (als Inbegriff der Voraussetzungen einer tatbestandsmäßigen, rechtswidrigen und schuldhaften Tat). In dem bisher am weitesten gehenden Entwurf, den Holger Matt und Joachim Vogel vorgelegt haben,27 darf nach § 412c Abs. 3 eine Urteilsabsprache auch „die der Verurteilung zugrunde zu legenden Tatsachen und ihre rechtliche Würdigung“ erfassen.28 Allerdings ist in § 412c Abs. 4 Ziff. 1 die Klausel enthalten, dass „Absprachen über […] einen Schuldspruch entgegen der eindeutigen Sach- und Rechtslage“ unzulässig sind.29 Doch da liegt ein Umkehrschluss nahe: Ist die Sach- und Rechtslage nicht eindeutig, so dürfte eine Absprache über einen Schuldspruch zulässig sein. In der Erläuterung wird darüber hinaus gesagt, dass „ein ‚fact‘ und ‚Charge‘ bargaining“ schon nach geltendem Recht zulässig ist, wenn die Tatsachen- oder Rechtslage offen ist […]“. „Offen“ dürfte wohl synonym sein mit „nicht eindeutig“. Alles hängt also davon ab, wann es an der Eindeutigkeit fehlt. Hier gibt es nun massenhaft Beispiele, jedenfalls zu Beginn der Hauptverhandlung, wenn die Beweisaufnahme noch läuft. Die Rechtsfragen darf das Gericht freilich unter Schlüssigkeitspunkten nicht mehr für offen halten, sonst hätte es das Verfahren nicht eröffnen dürfen. Wenn in dem Entwurf Sach- und Rechtslage in einem Atem genannt werden, so verwischt dies die Ausgangslage bei der Eröffnung des Hauptverfahrens. Dass es viele Gründe dafür gibt, eine Beweisaufnahme nicht zu Ende zu bringen und sich auf Fakten zu einigen, weiß man. Aber dass in jeder Lage des Verfahrens für Staatsanwaltschaft und Gericht auch die rechtliche Schlüssigkeit der Anklage zur Diskussion stehen kann, ist eine überraschende Position. Nicht nur Generalklauseln und die Probleme ihrer Konkretisierung erinnern an eine lange Tradition von Unsicherheit. Die Dogmatik des unbestimmten Rechtsbegriffs in ihrem Übergang zum Ermessen – öffentlichrechtlich eine scharfe Trennungslinie – überschreitet die Grenze der sprachlichen, historisch-subjektiven und teleologischen Gesetzesauslegung, und wenn jetzt die unter diesen Begriffen larvierte freie Handhabung offen in 27 Urteilsabsprachen im Strafverfahren: Ein Alternativvorschlag einer gesetzlichen Regelung, in: Werner Beulke/Eckhart E. Müller (Hrsg.) FS zu Ehren des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer, Neuwied 2006, S. 391 ff. 28 AaO, S. 402. 29 AaO, S. 403.
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das Betätigungsfeld der Verständigung überführt wird, so ist das nur eine Klarstellung. Gerade im Wirtschaftsstrafrecht, das gegenwärtig ja vor allem im Wege der Verständigung in den Strafprozessen verhandelt wird, gibt es die unbestimmtesten Rechtsbegriffe, und für sich genommen ist das ja auch bereits der Gegenstand gehäufter Klage. Das beginnt bei sprachlich unklaren oder weitläufigen Formulierungen, wie etwa der Unlauterkeit in § 299 StGB (früher § 12 UWG) oder dem Insider-Verhalten gemäß § 38 Abs. 2 Wertpapierhandelsgesetz, ergreift dann aber auch die im Rahmen der teleologischen Gesetzesauslegung bemühten kollektiven Rechtsgüter 30 (wie etwa den freien Wettbewerb,31 und die Beschreibung der deliktischen Angriffswege 32). Zu den Rechtsfragen gehören auch die Subsumtionsvorgänge. Wer einen Sachverhalt unter den Begriff der Kausalität subsumiert, weiß, dass er Zuschreibungen vornimmt, und beim Vorsatz ist es nicht viel anders: Dass der Beschuldigte über bestimmte Abläufe Bescheid gewusst hat, wird als psychisches Faktum nicht festgestellt, sondern wertend vorausgesetzt.33 Überall dort, wo ein Merkmal zugleich auf Faktisches verweist und eine Norm konkretisiert (das ist bei Kausalität und Vorsatz der Fall, aber auch etwa bei Gewalt), geschieht das. Der Verhandlungsspielraum wird dann noch einmal dort erweitert, wo die schwere Beweisbarkeit einer Tatsache dazu führt, auf das normative Merkmal, das den Nachweis dieser Tatsache voraussetzt, zu verzichten,34 oder es entsprechend restriktiv zu interpretieren. Diese gesetzgeberischen oder interpretatorischen Rückzüge führen dazu, dass die Zahl der unbestimmten oder schwer bestimmbaren Merkmale zunimmt. Im Wirtschaftsstrafrecht erreicht diese Tendenz insofern einen besonderen Höhepunkt, als unbestimmte Begriffe aus nicht strafrechtlichen Bereichen, wo die Bestimmtheit nicht diesen besonderen Rang hat, unbesehen durch Verweisungen ins Strafrecht übernommen werden.35
30
Überblick bei Roland Hefendehl Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, Köln u.a. 2002. Klaus Lüderssen Entkriminalisierung des Wirtschaftsrechts, Baden-Baden 1998, S. 195 ff mwN. 32 Zu dieser Kategorie genauer Gregor Stächelin Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, Berlin 1998, S. 90 ff. 33 Darüber vor allem die verdienstliche Untersuchung von Klaus Volk Begriff und Beweis subjektiver Merkmale, in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, Festgabe aus der Wissenschaft, München 2000, S. 739 ff; s. ferner Klaus Lüderssen Grenzen der Sachkunde des Gerichts (§ 244 Abs. 4 Satz 1 StPO) für die Beurteilung der inneren Tatseite bei Jugendlichen, speziell mit Blick auf den bedingten Vorsatz, in: FS für Hans-Ludwig Schreiber, Heidelberg 2003, S. 289 ff. 34 Vgl. Klaus Lüderssen/Matthias Jahn Zur Methode der Rechtsanwendung im Strafverfahren, in: Löwe/Rosenberg, Die Strafprozessordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, Großkommentar, 26. Aufl., Erster Band, Berlin 2006, Einleitung, Abschnitt M, Rn 18 mit Literaturnachweisen. 35 Hierüber hat Hamm besonders oft und eindrücklich Klage geführt. 31
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Die nicht eindeutige Rechtslage ist, um den Matt/Vogel’schen Begriff wieder aufzunehmen, ein alltäglich in vielen Farben schillerndes Erlebnis. Deshalb ist schwer begreiflich, wie man mit dem Begriff der Eindeutigkeit glaubt, die Fälle zulässiger und unzulässiger Absprachen über den Schuldspruch unterscheiden zu können. Bei allem Respekt vor dem Gesetzentwurf dieser Autoren, der ehrlicher ist als alle anderen – seine Versuche, das Gebiet der Absprachen einzuschränken, sind mit den gleichen Unsicherheiten belastet wie die anderen Gesetzesentwürfe. Sie kommen über gewissermaßen verfahrensmoralische Beschwörungen nicht hinaus. Ein Beispiel dafür ist die Formulierung in der Begründung des Regierungsentwurfs, dass „weiterhin ein Strafverfahren sichergestellt“ werden müsse, „das dem fundamentalen und auch verfassungsrechtlichen Grundsatz der Wahrheitsermittlung und der Findung einer gerechten Strafe verpflichtet ist“.36 Ähnlich der Entwurf der Bundesrechtsanwaltkammer, wo es heißt, dass eine inhaltliche Grenze für das Konsensprinzip „in der Gewährleistung der allgemeinen Strafgerechtigkeit“ bestehe. „Die Urteilsabsprache muss einen unter Berücksichtigung der Sach-, Rechts- und Verfahrenslage gerechten Schuld- und Rechtsfolgenausspruch sicherstellen“.37 Das Bedürfnis nach solchen clausulae salvatoriae ist unabweisbar, aber sie laufen auf petitii principii hinaus, weil das, was sie voraussetzen – Gerechtigkeit, Schuldangemessenheit und dergleichen mehr – als fest abrufbare Ergebnisse durch die prinzipielle Zulässigkeit der Verständigung gerade in Frage gestellt ist. Der Gedanke, hier zeige sich wieder einmal, dass die Rechtsgesellschaft von Paradoxien lebe, indem Inkonsistenzen bewusst in Kauf genommen werden, kommt vielleicht zu früh. Das Ensemble der Gesichtspunkte, die eine Entscheidung tragen, ist ja auch mit der Schuldfrage noch nicht erschöpft. Vielmehr müssen zu den Kommunikationen, die mit Blick auf die Schuldfrage stattfinden, auch noch diejenigen treten, die durch Prinzipien wie Unschuldsvermutung, Nichteinlassungszwang, in dubio pro reo, faires Verfahren, bezeichnet sind. Für sie gelten ebenfalls Beurteilungsspielräume, so dass sich die Debatte über die Relevanz des Konsenses jetzt nur fortsetzt und erweitert. Strukturell gibt es eben keine Grenze. Dort, wo man der festen Meinung ist, es sei kein Verhandlungsspielraum vorhanden, besteht einfach nur Evidenz in dem Sinne, dass die Einigung aller Beteiligten antizipiert werden kann. Diese Präklusion arbeitet im Grunde mit der unwiderleglichen Vermutung, dass eine von dem unterstellten Ergebnis abweichende Einigung unter keinen Umständen erzielt werden kann, etwa – um ein besonders krasses Beispiel herauszugreifen – wenn behauptet wird, dass langsames Ersticken kein Mord sei, oder dass der Beschuldigte, damit er den Fundort des von ihm entführten 36 37
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Kindes, genauer seiner Leiche, preisgibt, gefoltert werden dürfe. Denn im ersten Fall ist jedenfalls die Zustimmung von Gericht und Staatsanwaltschaft ausgeschlossen, im zweiten jedenfalls die der Verteidigung. Wenn jenseits davon dann doch noch „gestritten“ wird, so ist das – in dem Maße, wie die Vorschriften der Strafprozessordnung das erlauben – immer noch ein weites Feld. Für diese Fälle darf der Strafprozess natürlich Kampf sein, dies sei zur Beruhigung des Jubilars 38 gesagt. Im Einzelnen kann man hier der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und auch des Bundesverfassungsgerichts durchaus Anregungen entnehmen 39 – mit der großen Ausnahme, dass die Schuldfrage eben nicht prinzipiell ausgeklammert werden sollte. Schon diese erhebliche Erweiterung des Einzugsbereichs für Verständigungen legt es nahe, an den Gesetzgeber zu appellieren. Die Strafprozessordnung sieht die Erledigung eines Strafverfahrens durch Verständigung nicht vor. Der Versuch Matthias Jahns, deren Integration in das geltende Recht durch den Hinweis möglich zu machen, dass die Kognitionspflicht des § 244 Abs. 2 StPO nur den Tatsachen gelte, die für das Verfahren von Bedeutung seien und das Gericht damit über einen Spielraum für Verständigungen verfüge,40 überzeugt nicht. Man muss § 244 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 4 lesen, wo es auf die Erheblichkeit einer Tatsache ankommt. Die Semantik des Merkmals, „erheblich“, mag zwar auch Verständigungen zulassen; diese beziehen sich aber auf ein anderes, begrenztes Ziel, nämlich die Schlüssigkeit einer Beweisbehauptung. Die Lösungen, die bisher vorgeschlagen wurden, gehen alle davon aus, dass am Ende das Gericht entscheidet, das formell der „Herr der Verständigung“ ist, ungeachtet der materiell vielleicht manchmal an den Rand gedrückten Rolle, die es dabei noch einnimmt. Das kann mit dem, was hier über die Relevanz von Verständigung gesagt worden ist, nicht in Einklang gebracht werden. Die Verständigung muss unter den Bedingungen der Waffengleichheit zustande kommen; dieses Minimum ist bei allen Abstrichen, die man von den moralphilosophischen Forderungen an eine ideale Sprechsituation als Voraussetzung für die Gültigkeit von Konsensen machen muss, unverzichtbar. Wenn das richtig ist, dann erheben sich große Zweifel, ob das geltende Strafprozessrecht eine Verständigungslösung überhaupt aufnehmen kann, ob 38
Mit Blick auf seinen Aufsatz: Ist Strafverteidigung noch Kampf? NJW 2006, 2084 ff. Überblick bei Alexander Ignor/Holger Matt/Hans-Joachim Weider Verständigung im Strafverfahren, in: Widmaier aaO, S. 619 ff (645 ff). S. ferner Hans-Joachim Weider Vom Dealen mit Drogen und Gerechtigkeit, Mönchengladbach 2000, S. 123. 40 Matthias Jahn Die Konsensmaxime in der Hauptverhandlung. Zur Rekonstruktion des Amtsermittlungsgrundsatzes in § 244 Abs. 2 StPO unter Berücksichtigung der aktuellen Gesetzesentwürfe zur Verständigung im Strafverfahren, ZStW 118 (2006) 427 ff; kritisch dazu Thomas Weigend Strafverteidigung im Zeitalter abgesprochener Urteile, aaO S. 365 f; Edda Weßlau, Konsensprinzip als Leitidee des Strafverfahrens, Strafo 2007, S. 1 ff (4 f). 39
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nicht vielmehr eine weitergehende Reform erforderlich wäre. Man sieht das leicht, wenn man sich vergegenwärtigt, welche Rolle die Verständigung in Prozessrechtssystemen spielt, die vom Prinzip des Parteiprozesses beherrscht sind – unter der Devise eines prozeduralen Wahrheits- und Richtigkeitsbegriffs: Wahrheit und Richtigkeit werden hergestellt, nicht gefunden.41 So wenig man sich verhehlen darf, dass dabei latent doch ein objektiver Wahrheits- und Richtigkeitsbegriff im Spiel ist – die Verfahren, die dem Konsens Anerkennung verschaffen, sind eindrucksvoll. Das amerikanische Strafverfahren ist nicht mit der Hypothek der Überwindung des Inquisitionsprozesses belastet; denn den hat es in Amerika nie gegeben.41a Die dort aus Europa – vor Tyrannei und Armut flüchtend – anlangenden Einwanderer hatten alles andere im Sinn als einen autoritären Staat. Das Government, das sich dann doch etablierte, ändert nichts am Primat der Gesellschaft, und die Justiz war immer „a matter of society“. Man hat das durchaus beklagt, grotesker Weise haben nicht zuletzt aus Deutschland kommende Emigranten, wie etwa Richard Honig, mit Bedauern davon gesprochen, dass es in den USA eben keinen Staat gebe.42 Die Gegner der Verständigung im Strafprozess berufen sich gern auf die mit der großen europäischen Aufklärung verbundenen rechtsstaatlichen Errungenschaften. Sie zitieren dafür freilich Autoritäten, denen man eher nachsagt, dass sie die Aufklärung überwunden hätten, wie etwa Kant und Hegel, und im Strafrecht wäre das dann – mit Vorbehalten – Feuerbach. Es hat aber immer die empirisierend-psychologisierende Linie der Aufklärung gegeben, die nüchtern an das Erfahrbare und an die Bedürfnisse der Menschen anknüpfen wollte 43 – ohne die schützende Form des werdenden Rechtsstaats in Frage zu stellen. In Deutschland hat Carl Josef Anton Mittermaier seinerzeit ernsthaft überlegt, ob das Parteiverfahren nicht das bessere sei. Zu bedenken ist jedenfalls, dass die politische Aufklärung auch dort, wo sie sich – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – in
41 Skeptisch gegenüber dieser Interpretation: Thomas Weigend Is the criminal process about truth? A German Perspective, Harvard Law Journal of Law & Public Policy 2002, 157 ff (160); ders. Why have a trial when you can have a bargain? in: Anthony Duff et al. (eds.) The Trial on Trial, Vol. 2, Judgement and Calling to Account, Oxford 2006, S. 207 ff (212 ff); umfassende Orientierung bei Gerson Trüg Lösungskonvergenzen trotz Systemdivergenzen im deutschen und US-amerikanischen Strafverfahren, Tübingen 2003, S. 103 ff; s. ferner Albin Eser/Christina Rabenstein (Hrsg.) Strafjustiz im Spannungsfeld zwischen Effizienz und Fairness, Berlin 2004; Albin Eser Vorzugswürdigkeit des adversatorischen Prozesssystems in der internationalen Strafjustiz? Reflektionen eines Richters, in: FS für Heike Jung, Baden-Baden 2007, S. 167 ff. 41a John H. Langbein, The origins of adversary criminal trial, New York 2003. 42 Zum aktuellen Stand der Diskussion über „Staat und Gesellschaft“, vgl. den Überblick bei Christoph Möllers Staat als Argument, München 2000, S. 228 ff. 43 Eindrucksvoll in diesem Sinne Isaiah Berlin Die Macht der Ideen, Berlin 2006, S. 24 f.
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Gesetzen niederschlug, gipfelnd in der Reichsstrafprozessordnung, die kirchlich-theologische Spuren des Inquisitionsprozesses nie ganz beseitigen konnte.44 Die Erinnerung an angeblich rechtsstaatlich hervorragende Zeiten ist problematisch. Gelegentlich wird tatsächlich die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts dafür genannt, obwohl das „Wilhelminische Zeitalter“ heranreifte, dessen Strukturen sich in der Justiz auch in der Weimarer Zeit gehalten haben, und wer Gelegenheit hatte, einen Justizfilm aus den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts zu sehen, mit Hans Nielsen als Landgerichtsdirektor und Ernst Waldow als Staatsanwalt, und die bellend, gelegentlich mit patriarchalischen Freundlichkeiten durchsetzten Aufforderungen des Vorsitzenden, „Angeklagter, stehen Sie auf “, im Ohr hat, weiß, mit welchen schlechten Traditionen die Justiz auch damals noch belastet war. Wenn das jetzt anders ist – nach der kleinen Strafprozessreform 1965, zugegeben mit vielen Rückschritten, aber auch stillen weiteren Fortschritten 45 – dann ist das den Richtungen derjenigen europäischen Aufklärung zu verdanken, die sich durch die metaphysischen Positionen Kants und Hegels nicht beirren ließen und auch nicht durch das Scheitern der Trennung von Staat und Kirche. Dass gerade das amerikanische Strafverfahren von religiösen Impulsen durchtränkt ist, hat nichts mit einer Verbindung von Staat und Religion zu tun, sondern gesellschaftliche Ursprünge,46 und damit sind die Parallelen zum religiös inspirierten Inquisitionsprozess erledigt. Zwar kann es sein, dass in den USA der prozessuale Wahrheitsbegriff – religiös untermauert – eine Emphase 47 erreicht, die im Erscheinungsbild am Ende noch über die Apotheose des objektiven Wahrheits- und Richtigkeitsbegriffs des Inquisitionsprozesses hinausgeht. Aber der Staat ist daran nicht beteiligt. Zu dem angezeigten Perspektivenwechsel gehört eine Reform des Ermittlungsverfahrens. Da die Verständigungsprozesse früh beginnen, muss vom
44 Über den Beginn der „Theologisierung des weltlichen Strafrechts“, Alexander Ignor Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532–1846, Paderborn u.a. 2002, S. 78; zur Entwicklung bis zur Gegenwart: Klaus Lüderssen Aspektabhängigkeit strafrechtshistorischer Forschung, in: Lüderssen (Hrsg.) Die Durchsetzung des öffentlichen Strafanspruchs, Köln u.a. 2002, S. 235 ff (268 f). 45 Vgl. die Aufzählungen im Referat von Alexander Ignor bei der Strafrechtslehrertagung in Osnabrück 2007. 46 Hier dürfte auch die Erklärung für die Wahrnehmung zu suchen sein, dass in den USA „harshness and democratisation go hand in hand“, James Q. Whitman Harsh Justice. Criminal Punishment and the Widening Divide between America and Europe, 2003, S. 55. 47 Über die irrige Annahme Mirjan Damasˇkas, die USA seien unter dem Einfluss der Habermas’schen Philosophie zu einem disponiblen Wahrheits- und Richtigkeitsbegriff gelangt, vgl. Klaus Lüderssen Die Verständigung im Strafprozess. Überlebensstrategie oder Paradigmenwechsel? StV (Absprachen im Strafverfahren, Sonderheft zum 58. Deutschen Juristentag) 1990, 42 ff (43).
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ersten Moment an für eine paritätische Funktion der am Prozess Beteiligten gesorgt werden. Das bedeutet vor allem eine Verbesserung der Beteiligung der Verteidigung am Ermittlungsverfahren. In erster Linie sind das Anwesenheitsrechte – ganz aktuell also das Anwesenheitsrecht bei der polizeilichen Vernehmung. Das Transferproblem, das sich notorisch stellt, wird vielleicht zu ernst genommen, in der Furcht, die Hauptverhandlung werde entwertet. Die fast kultische Verehrung der Hauptverhandlung als Kern des Strafprozesses beruht auf den im frühen 19. Jahrhundert um Laienbeteiligung und Öffentlichkeit geführten Kampf. Damals war das die einzige Möglichkeit, die Justiz hinter verschlossenen Türen zu beenden. Inzwischen überwiegen die Bedenken, dass eine bis zur Hauptverhandlung gediehene Ermittlung schon mit erheblichen Eingriffen in die Rechte des Beschuldigten verbunden ist, dass sehr viel vorentschieden wird und die Bedeutung der Hauptverhandlung ohnehin zurückgeht. Die medienbedingten Gefahren einer Vorverurteilung werden womöglich durch eine ebenso starke Medienkontrolle der Vorgänge während des Ermittlungsverfahrens kompensiert, wenn man die Medien nur, was nicht ganz ausgeschlossen ist, wieder einmal dabei erleben darf, dass sie sich auch für die Rechte des Beschuldigten einsetzen. Öffentlichkeit und Laienbeteiligung in der Hauptverhandlung sind nach wie vor wichtig. Aber die Gewichte haben sich, wie jeder weiß, mittlerweile verschoben. Die Öffentlichkeit ist jetzt weitgehend Medienöffentlichkeit, und die Laienjustiz ist auf dem Rückzug, weil es den weltfremden Richter allmählich nicht mehr gibt, weil eher die Laien es sind, die liberale, aufklärende Belehrungen brauchen.48 Obwohl diese Forderungen nach Veränderung des Ermittlungsverfahrens seit langem und von vielen Seiten erhoben werden, enthält weder der Entwurf des Justizministeriums noch der Entwurf der Bundesrechtsanwaltskammer eine Vorschrift, welche die Beendigung des Verfahrens im Stadium des Ermittlungsverfahrens durch Verständigung regelt. Vorgesehen ist das aber in dem von Matt und Vogel präsentierten Vorschlag: In einem neuen § 169a (der alte wird zu § 169b) heißt es in Abs. 1 Satz 2: „Die Staatsanwaltschaft und der Beschuldigte können sich über einen Antrag auf Urteilsabsprache verständigen, darauf ist der Beschuldigte hinzuweisen“. Der weitere Gang des Verfahrens ist der, dass das Gericht den Vorschlag einer Urteilsabsprache bekannt gibt. Der Inhalt des Vorschlags wird dann protokolliert, und das Gericht berät den Angeklagten über die Bindungswirkung. Explizit ist das in diesem Entwurf bei den Urteilsabsprachen in der Hauptverhandlung geregelt; für das Ermittlungsverfahren wird aber auf diese Vorschriften verwiesen (§ 243 Abs. 5 Satz 2). Eine wenig übersichtliche Regelung, die auch ganz offen lässt, wie sie sich zu den anderen Möglichkeiten, das Ermittlungsverfahren vor Anklageerhebung zu beenden (§ 153a insbesondere und der Normalfall § 170 Abs. 2 48 Dazu auch Duttge aaO; zur modernen Prävalenz des „Professionellen“ Hörnle aaO, S. 146 ff.
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StPO) verhält. Aber immerhin ist klargestellt, dass das Gericht nur eine Protokollfunktion hat. Denn für das weitere Verfahren gilt, dass das Gericht an die Urteilsabsprache gebunden ist, wenn der Angeklagte die ihm gestellten Bedingungen erfüllt (§ 412e Abs. 2 Satz 1). Das ist eine beachtliche Rücknahme der inquisitorischen Funktion des Gerichts. Die Verfasser scheinen das mit der Struktur unseres Strafprozesses, der im Prinzip ja eine Dominanz des Gerichts vorsieht, für vereinbar zu halten. Bedenkt man, dass eine völlige Umstellung des Inquisitionsprozesses auf ein Parteiverfahren rechtspolitisch ohne Aussicht ist, erscheint die Lösung des Entwurfs als ein vernünftiger Kompromiss. Zu fragen ist allerdings, weshalb es im Stadium des Ermittlungsverfahrens eigentlich auf die Mitwirkung des Gerichts ankommen soll. Vorstellbar wäre doch auch eine Vorschrift, die einen Vergleich der Staatsanwaltschaft und des Beschuldigten protokolliert. Allen Verständigungsprozeduren gemeinsam ist das Problem der Bindung, gleichviel wo die Zuständigkeit für die Entscheidung liegt. Der Regierungsentwurf sieht eine solche Bindung überhaupt nicht vor. Trotzdem darf das Gericht von einer Verständigung nicht ohne weiteres abweichen. Aber wenn es dann weiter heißt, dass das dem Gericht dann erlaubt ist, wenn „sich seine Bewertung der Sach- oder Rechtslage im Verlauf der Hauptverhandlung ändert […]“ (§ 254c Abs. 4), muss man doch mit einer völligen Ermessensfreiheit rechnen. Auch in der Begründung wird die Regelung nicht eingeschränkt.49 Der Entwurf der Bundesrechtsanwaltskammer und der Entwurf von Matt und Vogel hingegen sehen für den Fall, dass die Bindungswirkung entfällt, Beweisverwertungsverbote vor (§ 243a Abs. 5 bzw. § 412e Abs. 4). Das Wichtigste aber bleibt in allen Entwürfen ungeregelt, nämlich die Frage, welche kommunikativen Voraussetzungen eine Verständigung erfüllen muss.50 Indirekt gibt es Hinweise: einerseits die Ausklammerung des Rechtsmittelverzichts, die indiziert, dass dieses Druckmittel eine akzeptable Verständigung verhindert. Andererseits die Einbeziehung des Geständnisses. Davon ist allerdings ausdrücklich nur im Entwurf der Bundesrechtsanwaltsordnung die Rede (§ 243a Abs. 1 Satz 1). Hier spielt die Intuition eine Rolle, dass ein Angeklagter, der geständig ist, gewissermaßen die Basis einer Zustimmung zu einer strafrechtlichen Reaktion geliefert hat (und damit auch das – freilich mit großer Vorsicht zu handhabende – Argument dafür, dass der nemo-tenetur-Grundsatz und das Prinzip der Unschuldsvermutung nicht verletzt werden).51 Aber wie „frei“ das Geständnis sein muss, wird nicht gesagt. Wünschenswert wäre, dass hier die rechtliche Parallele zur idealen Sprechsituation der ethischen Diskurstheorie fixiert würde. 49
AaO, S. 25. Ansätze, wenn auch in kritischer Absicht, bei Salditt aaO. 51 Auch hier bleiben natürlich Probleme, vgl. Andrew Ashworth Plea bargaining, Pragmatism and Rights, in: FS für Heike Jung, Baden-Baden 2007, S. 19 ff. 50
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In der Tradition der „Anerkennungstheorien“ der Rechtsgeltung,52 die rechtsphilosophisch immer ein Schattendasein geführt haben (weil sie eigentlich nur eine Relevanz beanspruchen konnten im Völkerrecht, wo es an durchsetzenden Instanzen fehlt, so dass alles auf den guten Willen der Partner ankam), gibt es Formeln, die eine Stufenfolge mehr oder weniger intensiver Anerkennung bezeichnen. Unter den Begriff der Anerkennung fallen danach etwa „mannigfaltige Grade und Weisen eines den Gemeinschaftsbedürfnissen entsprechenden innerlich gebundenen Verhaltens – von begeisterter Betätigung der Gemeinschaftsordnung und vollem, klaren Pflichtbewusstsein bis zum Unbewussten oder doch nur gefühlsmäßigem Voraussetzen und widersinnigem Sich-Beugen“.53 Hier muss man nur – mutatis mutandis – für den Vorgang der Verständigung etwas aussuchen, irgendwo in der Mitte. Aber wie soll man sich eine gesetzliche Regelung vorstellen, die das dann verbindlich formuliert? Der häufig zu hörende Hinweis, dass sich die Verständigung im Strafprozess eo ipso jeder Regelung entziehe, stimmt in der Tat skeptisch. Aber wenn es den Philosophen gelingt, die ideale Sprechsituation zu imaginieren, im Einzelnen auch Voraussetzungen dafür anzugeben – weshalb sollten die Juristen aufgeben, wenn es sich darum handelt, die praktische Sprechsituation auf den Begriff zu bringen? Sie sollten vielmehr auf eine Art „Handwerk des Konsenses“ 54 vertrauen und es sachverständig ausbilden. In einer modernisierten Abwandlung jener aus der Perspektive der Anerkennungstheorien formulierten Verständigungsmodi könnte man sagen, dass es Zustimmungen gibt „von widerstrebender, vielleicht sogar nicht ohne Druck zustande gekommener Anpassung über schlicht oberflächlich-indolente Akzeptanz, bewusste und kenntnisreiche Anerkennung bis hin zu auch tiefe Strukturen erfassenden habituellen oder reflektierten Internalisierungen“.55 Ganz sicher auszuscheiden sind die beiden Extreme: einerseits die „Tiefenstrukturen erfassenden Internalisierungen“, andererseits die „unter Druck zustande gekommene Anpassung“. Die dazwischen liegenden Formen „oberflächlich-indolenter Akzeptanz“ oder „bewusste und kenntnisreiche Anerkennung“ scheinen eher geeignet als Basis. Allerdings müsste noch eine Präzisierung erfolgen. Indolent ist zu wenig, kenntnisreich ist zu viel. Zwar müssen verlässliche Zeichen sowohl der emotionalen wie kognitiv gelungenen Übereinstimmung vorhanden sein. Aber es genügt, wenn die Beteiligten ein klares Bild von den zu verhandelnden Fragen und ihren Hintergründen 52 Dazu Klaus Lüderssen Genesis und Geltung in der Jurisprudenz, Baden-Baden 1996, S. 20 ff. 53 Ernst Rudolf Bierling Juristische Prinzipienlehre, Aalen 1975 (2. Neudruck der Ausgabe Tübingen 1917), Bd. 5, S. 193/194. 54 Eine Wendung im Anschluss an das von dem Philosophen Peter Bieri vorgeschlagene „Handwerk der Freiheit“ (vgl. sein gleichnamiges Buch, München 2001). 55 Klaus Lüderssen Genesis und Geltung in der Jurisprudenz, Frankfurt am Main 1996, S. 216.
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haben, und mit dem, was dann vereinbart wird, leben können. Was heißt das? Man kann jetzt Beispiele anführen, also etwa das „falsche“ Geständnis. Damit zu leben, sollte man niemandem zumuten, und mit dem „richtigen“ nur, wenn seine Funktion für die Zuschreibung der Schuld und die Erreichung der präventiven Strafzwecke reflektiert wird.56 Methodologisch empfiehlt es sich vielleicht, Rechtsmaterien heranzuziehen, die mit den Voraussetzungen einer gelungenen Willensübereinstimmung traditionell und mit reichhaltiger Kasuistik befasst sind, also das Vertragsrecht in allen seinen Spielarten. Der Vertrag, das sind zwei einander ergänzende Willenserklärungen. Die Gültigkeitsbedingungen, die das BGB hier festlegt, bestehen aus gesetzlichen Vorschriften (§ 134 BGB) und dem Kodex der guten Sitten (§ 138 BGB). Ein Vertrag, der den Tatbestand der Nötigung erfüllt (§ 240 StGB), kann nach § 134 BGB nichtig sein. Sonstige Zwänge können ihn auch nichtig machen, wenn sie gegen die guten Sitten verstoßen (§ 138 BGB). Reicht das? Wie ist es mit Irrtümern? Motivirrtum ist unbeachtlich. Das wäre sicher in eine Systematik des Konsenses bei der Verständigung im Strafprozess nicht zu übernehmen, denn auf die Motive kommt es gerade an. „Mentalreservationen“ machen einen Vertrag nicht nichtig. Da hätte man kein Problem mit den Verständigungen im Strafprozess; wer etwas erklärt in der geheimen Absicht, es doch nicht zu wollen, wird auch im Strafprozess nicht geschützt. Das sind aber nur Intuitionen. Sicher kommt man weiter, wenn man sich noch einmal genau vor Augen führt, worüber die Beteiligten sich verständigen. Bisher sind nur die einzelnen Elemente genannt worden – Beweisaufnahme, vielleicht auch Beweiswürdigung, Geständnis, Tatbestandsmerkmale, Strafzumessungstatsachen und -regeln. Der Verständigungsprozess mündet in eine wechselseitige Anerkennung, für die man eine bestimmte psychologische Qualität fordern möchte. Käme man weiter, wenn man weniger die einzelnen Voraussetzungen, deren Vorliegen schließlich zur Strafbarkeit führen kann, zum Gegenstand der Verständigung macht als die eine Frage, die dahinter steht: Strafe oder keine Strafe? Drückt man das in der Terminologie aus, die noch den „Strafanspruch“ kennt, so stehen sich gegenüber die Interessen, den Strafanspruch durchzusetzen und die Interessen, dem Strafanspruch auszuweichen. Dabei erscheint dann als Subjekt des Strafanspruchs der Staat, der unter Ungewissheitsaspekten womöglich ein Stück weit auf seinen Strafanspruch verzichtet. Man sollte diesen Bildern aber nicht allzu lange nachhängen. Mit dem Wegfall der Staatsräson im Strafprozess,57 hat sich auch die Metapher des 56 Umfassende Behandlung des Problems jetzt bei Judith Hauer Geständnis und Absprache, Münchener Dissertation, 2006. 57 Klaus Lüderssen Der öffentliche Strafanspruch im demokratischen Zeitalter – Von der Staatsräson über das Gemeinwohl zum Opfer? in: Cornelius Prittwitz/Ioannis Manoledakis (Hrsg.) Strafrechtsprobleme an der Jahrtausendwende, Baden-Baden 2000, S. 360 ff.
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Strafanspruchs erledigt. Das Gemeinwohl, das an die Stelle der Staatsräson tritt, ist abstrakt nicht schwer zu definieren, wohl aber dann, wenn es das Vehikel für die Auffassung sein soll, dass eine Rechtsgutverletzung Strafe verdient. Man kommt nur weiter, wenn man die Positionen nacheinander vornimmt: Eignung und Erforderlichkeit der Strafe sowie Abwesenheit von nicht-akzeptablen Nebenfolgen der Bestrafung.58 Von der Einschätzbarkeit dieser Faktoren und ihrer Ausdifferenzierung hängt also ab, was man bei den an der Verständigung Beteiligten an Wissen verlangen darf und welchen Nachvollzug der Wertung. Im Umkreis der sozialpsychologischen „Verhandlungstheorien“, die in der Jurisprudenz für die Praxis der „Vertragsgestaltung“ herangezogen werden, wird dann auch ausdrücklich auf die „Bedeutung der Verhandlungsziele“ hingewiesen.59 Im Einzelnen sind diese natürlich auf wirtschaftliche Sachverhalte bezogen und entziehen sich der umstandslosen Übertragung auf Probleme der Verständigung im Strafprozess. Wenn etwa die Rede davon ist, dass die Verhandlungsziele „ihrerseits von bestimmten Motivationen abhängen“, die „durch bestimmte individuelle und soziale Gegebenheiten bedingt sind“, dann müsste dementsprechend für das Strafverfahren die Aspektabhängigkeit der Ziele und Mittel des Strafrechts zum Thema gemacht werden. Für die Orientierung am Gemeinwohl, die dann auftaucht, gibt es aber bei den Modellen der privaten Vertragsgestaltung eigentlich keine Parallele. Das, was auch dort mit Rücksicht auf die Interessen der Allgemeinheit zu beachten ist, hat den Charakter vorgegebener Rahmenbedingungen, die nicht zur Verhandlungsmasse gehören. So gelangt man zu der einigermaßen überraschenden Feststellung, dass dann, wenn man eigentlich das totale Verhandlungsklima vermuten kann, mehr der Disposition entzogen zu sein scheint, als bei der neuen Verständigungskonzeption im Strafrecht und im Strafprozess. Das darf aber nicht irritieren. Denn die besondere Sensibilität in Bezug auf die fragwürdig gewordene Welt des Strafrechts schafft jetzt vielleicht sogar einen Vorsprung dort, wo man bisher keinen Grund hatte, sich über die objektiven Begrenzungen des Verhandelbaren prinzipiell Gedanken zu machen. Die Verhandelbarkeit der Gemeinwohlorientierung im Strafrecht überschreitet gerade diese Grenze, und das muss unter dem Gesichtspunkt der Verhandlungskompetenz der Partner in die Struktur des Kalküls der Verständigung einbezogen werden. Wenn man sagen könnte, dass die Subjektstellung des Staates in Bezug auf den „Strafanspruch“ aufgegeben ist, weil die Staatsräson im Strafrecht nichts mehr zu suchen hat (was nicht heißt, dass 58 Im Einzelnen dazu: Klaus Lüderssen Das moderne Strafrecht – Zerreißprobe zwischen ultima ratio, Pragmatismus und kulturellem Hochgefühl, StV 2004, 97 ff; ders. Entkriminalisierung des Wirtschaftsrechts II, Baden-Baden 2007, S. 190 ff (Vorgaben aus diesem Prüfungsschema für den Gesetzgeber). 59 Rehbinder aaO, S. 69.
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Staatsschutzstraftatbestände illegitim sind), dann könnte man natürlich fragen, ob der Strafanspruch des Staates auf die Gesellschaft übergegangen ist. Aber die Gesellschaft als ganzes ist kein Handlungssubjekt. Sie kann nur repräsentiert werden. Auf dem Gebiet der Strafjustiz entweder durch das Gericht (oder die Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des Gerichts). In diesem Fall tritt der Konsens der Beteiligten in der Entscheidung als unselbständiges, keine messbare Kompetenz beanspruchendes Element auf. Oder die Prozessbeteiligten zusammen, vielleicht auch einzelne (etwa Staatsanwaltschaft und Verteidiger/Angeklagte) repräsentieren die Gesellschaft. Diese Erscheinungsform demokratischer Vermittlung ist uns noch sehr ungewohnt und müsste verfassungsrechtlich genauer bestimmt werden (was keineswegs daran scheitern kann, dass relativ kleine Gruppen zuständig sind; dafür bietet die föderale Struktur des bundesrepublikanischen Gemeinwesens reichhaltige Anschauung). Die Rechtsfigur des Vergleichs (aus dem Zivil- und dem Arbeitsrecht) hilft wenig, denn dort stehen die Parteien für sich selbst. Wir haben es mit dem Phänomen zu tun, dass die Rechtswirklichkeit der Rechtstheorie voraus ist. So etwas gibt es vor allem im Völkerrecht, weil dort die rechtzeitig ordnende Souveränität fehlt. Das ist jetzt aber auch das Stichwort für innerstaatliche Entwicklungen überall dort, wo der Staat auf Zuständigkeiten verzichtet, vom Markt osmotisch durchdrungen wird,60 schlanker werden will,61 Finanzierungen privatisiert.62 Das gesellschaftlich-staatliche Leben bildet dabei inzwischen Formen aus, die in die festgefügten Traditionen unseres Verfassungsrechts nicht ohne weiteres eingeordnet werden können. Das entspricht einer ubiquitären Zunahme von Komplexität.63 Im Strafrecht liegt es inzwischen so, dass, was über Jahrhunderte hinweg als monolithischer Block eines im Namen der Staatsräson gehandhabten öffentlichen Strafanspruchs aufgetreten ist, sich jetzt mehr und mehr auf partikularisierte, ganz verschiedene Ziele anstrebende Reaktionen auf persönlich verschuldetes Unrecht verteilt. Dass wir vor der allmählichen Etablierung des öffentlichen Strafrechts etwas Ähnliches hatten, darf nicht erschrecken – in dem Sinne: sind wir nicht weiter? Das öffentliche Strafrecht war kein uneingeschränkter Fortschritt,64 insofern macht man mit seiner 60 Vgl. Klaus Lüderssen Die Zusammenarbeit von Medizinprodukte-Industrie, Krankenhäusern und Ärzten. Strafbare Kollusion oder sinnvolle Kooperation? Stuttgart 1998, S. 44 ff. 61 Vgl. Sachverständigenrat „Schlanker Staat“, Bundesministerium des Innern, 3 Bde.; dazu Lüderssen aaO, S. 45. 62 Lüderssen aaO, S. 51 ff. 63 Vgl. Michael Stolleis Erwartungen an das Recht, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 2003, S. 49 ff; Klaus Lüderssen Recht und Verrechtlichung im Blick der Naturwissenschaften, in: Friedrich Jaeger/Jörn Rüsen (Hrsg.) Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 3, S. 426 ff (436 ff). 64 Im Einzelnen Lüderssen Abschaffen des Strafens? Frankfurt am Main 1995, S. 38 ff.
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allmählichen Relativierung wieder etwas gut. Im übrigen tritt ja an seine Stelle nicht einfach der frühere Zustand mit seinem heillosen Durcheinander von Rache, Vergeltung, Besserung, vielfältigen finanziellen Ablösungsmöglichkeiten, Vergleichen, Verträgen und ähnlichen – mit der heutigen Begriffswelt kaum noch zu erfassenden – Phänomenen, von denen man nur mit Bestimmtheit weiß, dass die Ungleichheit der Menschen einen festen Posten ausmachte.65 Dieser Wahllosigkeit mit vielfältigen religiösen Beimischungen entsprach eine Masse diffuser Vorstellungen über die Gründe für das Vorkommen von schweren Interessenverletzungen, die man erst später Verbrechen nannte, als man lernte, aus der Summe des Geschehens begreifbare, einzelnen Menschen zurechenbare Handlungen herauszufiltern. Mit der Gewissheit, über diese Erkenntnismöglichkeiten zu verfügen, wuchs das Gefühl, auch ein Recht zu besonders scharfen, das heißt strafenden Reaktionen zu haben. Die modernen Sozialwissenschaften haben diese Einsichten in die Isolierbarkeit der persönlichen Zurechnung wieder relativiert. Das gleiche gilt für die – ebenso isolierend – der Strafe zugeschriebenen Wirkungen. Wenn man von beidem jetzt vielleicht wieder etwas abkommt, so ist das nicht die Wiederkehr des Mythos, sondern die Präsenz der Komplexität von Ursachen und auf sie reagierender Handlungsfunktionen und -intentionen im wissenschaftlichen und demokratischen Zeitalter. Was in diesem Kontext die Verständigung angeht, so ist sie nicht so uferlos, wie es klingt, wenn man sich noch einmal in Erinnerung rufen, dass ja nicht alles verhandelbar sein soll. Vielmehr besteht eben jene intuitive Vorgabe der Unwiderleglichkeit eines antizipierten Konsenses, der an die Stelle der objektiv abrufbaren Wahrheiten und Richtigkeiten tritt, faktisch aber dafür sorgt, dass nicht eine grenzenlose Flexibilität eintritt, die dann doch die Angst heraufbeschwören könnte, sie könne zur Beliebigkeit mutieren. Andererseits ist natürlich erkennbar, dass in dem Maße, wie die wachsende Ungewissheit (die paradoxerweise mit der Zunahme von Wissen verbunden ist) den Einflussbereich des Konsenses im Strafprozess erweitert und intensiviert, das verloren geht, was man einmal den öffentlichen Strafanspruch genannt hat. Allerdings gibt es hier, anders als bei der Vertragsgestaltung, überhaupt keine Methodologie, weil das Milieu eben ganz neu ist und die jahrzehntelange Absprachediskussion der Strafprozessualisten dieses Problem nicht behandelt, vielleicht nicht einmal gesehen hat. Anleihen bei der vordringenden Praxis der Mediation sind schwierig, weil sie auf der Mitwirkung eines
65 Ein anschauliches Bild liefert Jürgen Weitzel Strafe und Strafverfahren in der Merowinger-Zeit, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung, Bd. 111 (1994) 66–147.
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mehr oder weniger überlegenen Dritten beruht.66 Zwar wird mit Blick auf § 46a StGB davon gesprochen, dass es eine „allgemeine Entwicklung der Verfahrenspraxis in Richtung auf Informalisierung, Konsens und Kooperation“ gebe, „die sowohl bei der staatsanwaltschaftlichen Verfahrenerledigung als auch im Rahmen des Hauptverfahrens und der gerichtlichen Sanktionsfindung im Phänomen der ‚Absprachen‘ kulminiert und seit über einem Jahrzehnt zu den brisantesten Systemveränderungen gehört“.67 Doch es bleibt bei diesen allgemeinen Hinweisen. Eine Methodologie der Konsensfindung hätte viele Elemente aufzunehmen – auch die Erfahrungen, die inzwischen über die Funktionen von Topik und Rhetorik zusammengetragen worden sind 68 – und dann auf die Prozesssituation zu übertragen. Das kann hier nicht mehr geschehen und wird auch anderwärts so lange nicht stattfinden, wie man an den obrigkeitlichen Vorstellungen vom Strafrecht festhält.69 Wenn auf den vorstehenden Blättern die Möglichkeit von Verständigungen im Strafprozess, die diesen Namen verdienen, wenigstens in Umrissen vor Augen tritt, dann ist schon viel gewonnen, auch deshalb, weil es dann zu einer Ausarbeitung der praktischen Regeln der Konsensfindung kommen kann. So hoch der Anteil von Soziologie und Psychologie hier sein müssten, so wenig darf man allerdings von diesen Fächern eine spürbare Unterstützung erwarten. Vielmehr muss es gelingen, den unendlichen Erfahrungsschatz der Strafverteidiger, Staatsanwälte und Richter systematisch und sozialwissenschaftlich methodenbewusst zu verarbeiten, der bisher im Verborgenen des Informellen ruht. Ihn ans Licht zu bringen, Initiativen in dieser Richtung zu ergreifen, könnte durchaus auch Sache des Jubilars sein, sofern er dahin gelangt, sich von der Romantik des Strafprozesses als permanenten Kampf auch theoretisch zu lösen; praktisch hat er das längst getan.
66 Vgl. dazu Susanne Walther Vom Rechtsbruch zum Realkonflikt. Grundlagen und Grundzüge einer Wiedergutmachung und strafeverbindenden Neuordnung des kriminalrechtlichen Sanktionssystems. Berlin 2000, S. 74. Anregungen wären allenfalls noch der vordringenden Praxis der Mediation im Verwaltungsrecht zu entnehmen (vgl. dazu auch den Bericht über die neue Dienstleistung der Verwaltung auf dem Gebiet rechtlicher Mediation in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 4.6.2007). 67 Walther aaO, S. 78. 68 Vgl. Thomas M. Seibert Gerichtsrede. Wirklichkeit und Möglichkeit im forensischen Diskurs, Berlin 2004. 69 Auch in der vom Titel her vielversprechenden Dissertation von Stefan Sinner Der Vertragsgedanke im Strafprozessrecht, Frankfurt/M 1999, ist das nicht geschehen und deshalb ist dieser Text, so verdienstlich er im übrigen ist, keine Grundlage für das, was auf diesem Gebiet noch geleistet werden kann. Am deutlichsten kommt das in dem kleinen Abschnitt über Absprachen im Strafverfahren zum Ausdruck, wo dezidiert alle Parallelen zum Zivil- und Zivilprozessrecht abgelehnt werden (S. 181). Siehe auch die Zusammenfassung auf S. 300 f.
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und Rechtsmittel Lutz Meyer-Gossner
1. Es ist für das „juristische Leben und Wirken“ des Jubilars bezeichnend, dass er sich nicht nur um die mit den bei der Tätigkeit eines Rechtsanwalts alltäglich auftauchenden Problemen befasst, sondern ganz im Gegensatz dazu, sich auch vielfach und tiefschürfend zu grundsätzlichen Rechtsfragen geäußert hat und äußert. Nur pars pro toto darf auf seine Überlegungen „von der Unmöglichkeit, Informelles zu formalisieren – das Dilemma der Urteilsabsprachen“ hingewiesen werden. Wie er dort mir zu Ehren und zu meiner Freude grundsätzliche Überlegungen angestellt hat,1 so sollen ihm in Dankbarkeit für auch so manches gute Gespräch bei verschiedentlichen Zusammentreffen einige Gedanken gewidmet werden, die das Verhältnis von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu den Rechtsmitteln – insbesondere zur Revision – betreffen, verbunden mit der Hoffnung, das Interesse des Jubilars für diese vorwiegend dogmatische Frage zu finden, die allerdings durchaus auch zu unterschiedlichen Lösungen in der Praxis führen muss. 2. Ausgangspunkt ist der nicht selten vorkommende Fall, dass ein Angeklagter versehentlich gar nicht oder (öfter) unter einer unzutreffenden Anschrift zur Berufungsverhandlung geladen wurde, ihn also keine Ladung zur Berufungsverhandlung erreicht hat und er deswegen zur Verhandlung auch nicht erschienen ist. Das Berufungsgericht erkennt den Ladungsmangel nicht (z.B. weil der Postzusteller die Ladung bei der Post niedergelegt und an der unzutreffenden Adresse nach § 37 StPO in Verbindung mit § 181 Abs. 1 ZPO nur eine Mitteilung über die Niederlegung hinterlegt hat, die den Angeklagten nicht erreichte); es verwirft daher die Berufung ohne Verhandlung zur Sache nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO. Nachdem der Angeklagte diesmal von der Urteilszustellung erfahren hat, stellt sich für ihn die Frage: Soll er Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsverhandlung beantragen oder soll er Revision gegen das Berufungsurteil einlegen? Das Gesetz spricht in § 329 Abs. 3 nur ersteres an, indem es dort heißt, der Angeklagte könne „die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bean1
FS für Lutz Meyer-Goßner, 2001, 33 ff.
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spruchen“, allerdings (nur) „unter den in den §§ 44 und 45 bezeichneten Voraussetzungen“. Daneben gilt aber der in § 329 StPO nicht ausgeschlossene § 333 StPO, wonach gegen die Urteile der Strafkammern schlechthin die Revision zulässig ist. Das Problem, das sich stellt, lautet nun, ob der Rechtsbehelf der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und das Rechtsmittel der Revision nebeneinander bestehen und der Angeklagte sich eines davon aussuchen kann oder ob sich Rechtsbehelf und Revision gegenseitig ausschließen. Zunächst möchte man sich sogleich für ein Ausschließungsverhältnis entscheiden; denn grundsätzlich regelt die StPO jeden auftretenden Fall nur einmal, da es gesetzestechnisch keinen Sinn macht, für denselben Fall verschiedene Lösungsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Gleichwohl wird letzteres gelegentlich behauptet: Für den von mir schon mehrfach erörterten Fall, dass das Tatgericht das Vorliegen eines Verfahrenshindernisses übersehen hat,2 wird im Schrifttum teilweise immer noch behauptet, das Revisionsgericht habe die Wahl, ob es den Fehler durch Einstellung nach § 206a StPO oder nach § 349 Abs. 4 mit § 354 Abs. 1 StPO beheben wolle.3 Dabei wird übersehen, dass § 206a StPO zwar eine Einstellungsbefugnis enthält, aber keine Grundlage für die doch wegen Fehlerhaftigkeit der angefochtenen Entscheidung erforderliche Urteilsaufhebung bieten kann;4 es kann daher nur § 349 Abs. 4, 354 Abs. 1 StPO angewendet werden, § 206a StPO als Erstentscheidung passt für diese Rechtsmittelentscheidung nicht. So könnte man auch hier meinen, dass nicht beide Möglichkeiten gleichberechtigt nebeneinander zur Anwendung kommen können; jedoch besteht insofern ein erheblicher Unterschied zu dem Fall der Anwendung der §§ 206a, 349 Abs. 4 StPO, als dort gegen die Wahlmöglichkeit spricht, dass die beiden in Betracht gezogenen Entscheidungsvarianten (Aufhebung des Urteils und Einstellung des Verfahrens oder nur Einstellung des Verfahrens mit der Folge, dass das angefochtene Urteil gegenstandslos wird) in der Hand desselben Gerichts liegen, während hier zwei verschiedene Gerichte zuständig sind: Das Landgericht für die Wiedereinsetzung, das Oberlandesgericht für die Revision. So scheint die Wahlmöglichkeit hier nicht von vornherein aus dogmatischen Erwägungen ausgeschlossen. Allerdings verlangt § 329 Abs. 3 StPO für die Anwendung der Wiedereinsetzungsvorschriften expressis verbis, dass die Voraussetzungen der §§ 44, 45 StPO gegeben sind. Liegen diese denn vor? Sicherlich war der Angeklagte regelmäßig „ohne Verschulden verhindert“, die Berufungsverhandlung „einzuhalten“, wenn er von der Ladung nichts wusste. Aber wenn er nicht ge-
2 3 4
GA 1973, 366; FS für Peter Rieß, 2002, 332; FS für Claus Roxin, 2001, 1349. LR-Rieß 25. Aufl., Rn 15a zu § 206a. Näher dazu in den Nachw. zu Fn 2.
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laden worden ist, so hat er nicht nur die Berufungsverhandlung „versäumt“, vielmehr waren die Voraussetzungen für die Verwerfung der Berufung nicht gegeben, da dafür eine ordnungsgemäße Ladung zur Berufungsverhandlung erfolgt sein muss. Damit scheint der Unterschied klar: Lagen die Voraussetzungen der sofortigen Verwerfung der Berufung nicht vor, so steht dem Angeklagten die Revision zu; ist die Berufung zwar zu Recht verworfen worden, war der Angeklagte aber ohne Verschulden am Erscheinen in der Hauptverhandlung verhindert, so gibt es für ihn die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Diese unterschiedliche Sachbehandlung hat insbesondere Karlheinz Meyer mit der ihm eigenen Entschiedenheit und Schärfe unnachsichtig gegen alle abweichenden Ansichten immer wieder vertreten.5 Er hat dazu ausgeführt,6 dass „früher offenbar nie ein Zweifel daran bestanden habe, dass Rechtsfehler wie die Verwerfung der Berufung trotz Unwirksamkeit der Ladung nur mit der Revision gerügt werden können (so ausdrücklich noch Eb. Schmidt Lehrkomm. StPO Teil II, 1957, § 329 Rn 25)“. Erst durch eine Entscheidung des OLG Bremen 7 sei unter Hinweis auf eine noch zu einer anderen Gesetzeslage ergangenen Entscheidung des OLG München 8 folgender Rechtssatz aufgestellt worden: „Wenn es der Wille des Gesetzgebers ist, demjenigen die Wiedereinsetzung zu bewilligen, der von einer gültigen Zustellung ohne sein Verschulden keine Kenntnis erlangt hat, so kann sie dem nicht versagt werden, dem überhaupt nicht wirksam zugestellt worden ist“. Meyer erklärt demgegenüber, einen solchen Rechtssatz gebe es nicht, er sei falsch. Denn: „Das Wiedereinsetzungsverfahren nach § 329 Abs. 3, §§ 44, 45 StPO dient ausschließlich dem Zweck, das Verwerfungsurteil aus Gründen zu Fall zu bringen, auf die die Revision nicht gestützt werden kann. Das müssen Gründe sein, mit denen der Säumige nachträglich sein Ausbleiben entschuldigt, nicht ein Vorbringen, mit dem nachgewiesen wird, dass ein Fall der Säumnis überhaupt nicht vorgelegen hat.“ Obwohl diese Ausführungen in sich recht stimmig erscheinen, hat sich Meyer mit seiner Ansicht 9 nicht durchsetzen können. Die Mehrzahl der Oberlandesgerichte 10 und die hM im Schrifttum 11 haben sich der Meinung 5
Etwa in JR 1979, 122, NStZ 1982, 523 und NStZ 1986, 280. JR 1979, 122. 7 MDR 1960, 244. 8 HRR 1938 Nr. 427. 9 Die er auch in den von ihm betreuten Auflagen des von Schwarz begründeten und von Kleinknecht bis zur 35. Auflage bearbeiteten StPO-Kommentars in Rn 21 zu § 329 vertreten hat; ich habe dann in dem von mir ab der 40. Auflage bearbeiteten Kommentar die Kommentierung geändert (Rn 41 zu § 329). 10 OLG Celle JR 1979, 121; OLG Frankfurt NStZ 1986, 279; OLG Hamm NStZ 1982, 521; OLG Karlsruhe Justiz 1997, 180; OLG Köln NStZ-RR 2002, 142; OLG Schleswig SchlHA 1997, 172. 11 LR-Gössel Rn 117, SK-Frisch Rn 63 je zu § 329; Gollwitzer FS für Theodor Klein6
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des OLG Bremen angeschlossen, wofür wohl mit ausschlaggebend war, dass der Angeklagte – mangels ordnungsgemäßer Ladung – in der Berufungsverhandlung zwar nicht im Rechtssinne, tatsächlich aber doch „säumig“ gewesen war.12 Betont wird dabei mit Recht, dass es sich nicht um die direkte, sondern um eine entsprechende Anwendung des § 329 Abs. 3 StPO handelt.13 Das OLG Karlsruhe war allerdings durch die Ausführungen von Meyer offenbar so verunsichert worden, dass es einen anderen Weg eingeschlagen hat.14 Es hatte erklärt, statt Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (die nicht in Betracht komme, weil der Angeklagte die Säumnis nicht selbst verschuldet habe), müsse ein Rechtsbehelf eigener Art gegeben werden, indem das Urteil in diesem Fall auch ohne ausdrückliche Aufhebung und ohne Wiedereinsetzung des Angeklagten in den vorigen Stand vom Berufungsgericht für gegenstandslos erklärt werden dürfe. Damit stieß das OLG Karlsruhe aber erst recht bei Meyer auf Widerspruch.15 Er wies darauf hin, dass das OLG Karlsruhe hier „in freier Rechtsschöpfung“ tätig geworden sei. Im Übrigen unterscheide sich der von ihm konstruierte Rechtsbehelf von der Wiedereinsetzung ohne Rücksicht auf Verschulden nur dadurch, dass die Bezeichnung Wiedereinsetzung vermieden werde. Dem ist – jedenfalls im Ergebnis – zuzustimmen. Keine Gnade hat vor Meyers Augen auch der Vorschlag von Ellen Schlüchter gefunden,16 dem Angeklagten solle nur dann in entsprechender Anwendung des § 329 Abs. 3 StPO Wiedereinsetzung gewährt werden, wenn er das Unterbleiben der Ladung nicht selbst verschuldet habe; andernfalls solle er auf den Weg der Revision verwiesen werden. Dazu hat Meyer treffend bemerkt: 17 „Dadurch würde aber die Wahl des zulässigen Rechtsbehelfs von einer Wertung des Verhaltens des Angeklagten abhängig gemacht werden, die er bei der Einlegung des Rechtsmittels meist gar nicht anstellen kann. Solchen Unsicherheiten darf der Rechtsmittelweg nicht ausgesetzt werden.“ Weder die Meinung des OLG Karlsruhe noch die von Ellen Schlüchter haben daher (zu Recht) Anhänger gefunden. Im Jahre 1986 hat sich das OLG Frankfurt 18 gegen Meyer der hM angeschlossen und darauf verwiesen, dass
knecht, 1985, 165; Roxin Strafverfahrensrecht, 25. Aufl. § 52 F II 4 d; a.M. jedoch KMRPaulus Rn 33 vor § 42 und Rn 61 zu § 329. 12 Vgl. Dittmar NJW 1982, 209 (210). 13 Vgl. nur OLG Hamburg StV 2001, 339; AK/StPO-Dölling Rn 41 zu § 329. 14 NJW 1981, 471 = JR 1981, 129 mit abl. Anm. Wendisch. 15 NStZ 1982, 523. 16 Das Strafverfahren, 2. Aufl. Rn 685.4. 17 NStZ 1986, 280. 18 NStZ 1986, 279.
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mit der entsprechenden Anwendung des § 329 Abs. 3 StPO auf den Fall des im Rechtssinne nicht säumigen Angeklagten das vom OLG Karlsruhe 19 erstrebte (aber auf dem von ihm beschrittenen Weg nicht erreichbare) „Ziel der zügigen Beseitigung eines fehlerhaften Urteils ohne Beschreitung des Revisionsweges dogmatisch einwandfrei erreicht“ werde; zur Unterstützung seiner Auffassung hat es noch auf die Regelung des § 235 StPO verwiesen, wonach der Angeklagten im Fall der gemäß § 232 StPO ohne ihn durchgeführten Hauptverhandlung „stets die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beanspruchen“ kann, wenn er „von der Ladung zur Hauptverhandlung keine Kenntnis erlangt hat“. Mit seiner Ansicht, hier eine „dogmatisch einwandfreie“ Lösung gefunden zu haben, musste das OLG Frankfurt natürlich auf den entschiedenen Widerspruch Meyers stoßen,20 der ja gerade aus dogmatischen Gründen § 329 Abs. 3 StPO für unanwendbar hielt. Was Meyer hier gegen das weitere Argument des OLG Frankfurt – nämlich die Heranziehung des § 235 StPO – vorbrachte, ist freilich wenig überzeugend: Er verweist darauf, dass § 235 StPO erst im Jahre 1942 durch eine Verordnung zur Vereinfachung der Strafrechtspflege 21 in die StPO eingefügt worden ist, behauptet aber, der Gesetzgeber habe die Regelung „bei der Rechtsbereinigung im Jahre 1950 wohlweislich nicht auf andere Fälle, insbesondere nicht auf den des § 329 Abs. 3 ausgedehnt“. Dem ist entgegenzuhalten, dass die Problematik bei Erlass des Vereinheitlichungsgesetzes von 1950 im Hinblick auf § 329 StPO noch gar nicht erkannt war, so dass von „wohlweislich“ keine Rede sein kann; weil § 235 StPO aber auch nach 1945 beibehalten worden ist, kann er eben doch durchaus zur Auslegung des § 329 StPO, der eine solche Bestimmung nicht enthält, herangezogen werden. 3. Nachdem sich auch der Bundesgerichtshof im Jahre 1987 für die entsprechende Anwendung des § 329 Abs. 3 StPO ausgesprochen hatte,22 ist diese Meinung bei den Oberlandesgerichten ganz herrschend geworden,23 zumal auch die aktuellen Kommentare zur StPO ausschließlich diese Auffassung vertreten.24 Lediglich das Kammergericht hält – anscheinend in einer
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Fn 14. Fn 17. 21 RGBl I, 508. 22 NJW 1987, 1776 (1777) = BGHR StPO § 45 Abs. 1 Satz 1 Wegfall 2. 23 Vgl. nur OLG Karlsruhe Justiz 1997, 180; OLG Köln StraFo 2001, 266 mwN; OLG Schleswig SchlHA 1997, 172. 24 AK/StPO-Dölling Rn 41, HK-Rautenberg StPO 3. Aufl. Rn 43, KK/StPO-Ruß 5. Aufl. Rn 22, Meyer-Goßner StPO 50. Aufl. Rn 41, SK/StPO-Frisch Rn 61, AnwKStPO/Rotsch/Gasa Rn 19, je zu § 329; Gollwitzer [oben Fn 13]; anders noch KMR-Paulus [1988] vor § 42 Rn 33 und § 329 Rn 61. 20
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Art Nibelungentreue 25 – noch an der von Meyer vertretenen Ansicht fest und hat sie erst kürzlich wieder bekräftigt; 26 dabei spielt es seine Sonderrolle mit den Worten herunter „der in der Rechtsprechung und Literatur teilweise vertretenen Auffassung …“, kann dazu aber im folgenden Text nach einer Vielzahl von Nachweisen der Gegenmeinung für seine Ansicht nur Entscheidungen des Kammergerichts selbst zitieren. Zur Begründung wird in diesem Judikat lediglich darauf verwiesen, dass der Angeklagte das auf Grund fehlerhafter Ladung ergangene Urteil mit der Revision angreifen könne und müsse. Eine (erneute) Auseinandersetzung mit den Argumenten der ganz herrschenden anderen Meinung (dazu näher unten) nimmt das Kammergericht hier (wegen der Hinweise auf seine früheren Entscheidungen) nicht vor. Aber in dieser Entscheidung muss das Kammergericht nun doch eine Ausnahme von seinem Grundsatz, die Entscheidung könne nur mit der Revision angefochten werden, machen. Es will hier die Wiedereinsetzung ausnahmsweise zulassen, weil der Angeklagte sonst keinen Rechtsschutz erlangen könne. Das war hier der Fall, da es sich um ein Urteil der Jugendkammer handelte und der Angeklagte deshalb gemäß § 55 Abs. 2 Satz 1 JGG gegen das Berufungsurteil keine Revision mehr einlegen konnte. Warum es zulässig sein soll, hier die Wiedereinsetzung zuzulassen, wenn sie doch sonst angeblich dogmatisch ausgeschlossen ist, wird vom Kammergericht nicht weiter begründet, obwohl es einer Begründung über die Feststellung hinaus, dass der Angeklagte sonst keinen Rechtsschutz habe, dabei durchaus bedürfte: Der Ausschluss der Wiedereinsetzungsmöglichkeit – und damit das Fehlen eines Rechtsschutzes – mag ja für den Angeklagten sehr misslich sein; aber wenn das Gesetz nun einmal wegen der Regelung des § 55 JGG (angeblich) in solchen Fällen keine Rechtsmittelmöglichkeit gewährt, muss es dabei bleiben – oder das Dogma kann nicht aufrechterhalten werden. Meyer war in solchen Fragen hart und konsequent: 27 Wenn etwa ein Beschluss des Landgerichts ausdrücklich auf die Frage der Rechtzeitigkeit einer sofortigen Beschwerde gegen einen den Antrag auf Wiedereinsetzung verwerfenden Beschluss des Amtsgerichts eingehe und diese aus Rechtsirrtum verneine, müsse es – mangels Zulässigkeit einer weiteren Beschwerde – eben bei dem Verwerfungsbeschluss bleiben. Demgegenüber hat das Kammergericht in einer 2001 ergangenen Entscheidung 28 aber bereits Wiedereinsetzung „im Interesse eines effektiven Rechtsschutzes“ gewährt, obwohl der Betroffene in einem Beschwerdeverfahren nicht geltend gemacht hatte, schuldlos eine Frist versäumt zu haben, sondern die Versäumung der Frist bestritt. Die hiergegen an sich einzulegende sofortige Beschwerde war jedoch 25 26 27 28
Karlheinz Meyer war Vorsitzender Richter am KG. NStZ-RR 2006, 120. JR 1979, 123. wistra 2002, 37.
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nach § 310 StPO als weitere Beschwerde unzulässig. Dabei hat das Kammergericht dort aber noch einen anderen Weg erwogen: Es sei zu überlegen, ob das Oberlandesgericht die sofortige Beschwerde nicht als unzulässig verwerfen, das Landgericht dann seinen Beschluss über die Verwerfung der sofortigen Beschwerde zurücknehmen und neu über das Rechtsmittel entscheiden solle. Gegenüber dieser „schwerfälligen Verfahrensweise“ hat es sich dann aber für die Gewährung von Wiedereinsetzung entschieden. Aber wenn diese eigentlich dogmatisch verbaut war – hätte man dann nicht die andere Lösung wählen müssen, auch wenn diese „umständlich und unsicher“ war? So hätte man vom Kammergericht also eigentlich auch in der neueren Entscheidung eine Begründung erwarten dürfen, warum trotz dogmatischer Unanwendbarkeit der Wiedereinsetzungsvorschriften und trotz Ausschlusses der sonst gegebenen Revision doch Wiedereinsetzung gewährt wird. Allein der Hinweis, der Angeklagte habe sonst keinen Rechtsschutz, vermag nicht zu überzeugen; denn das ist ja immer in den Fällen so, in denen nach § 55 Abs. 2 JGG die Revision ausgeschlossen ist.29 Der Gesetzgeber hat mit dem Ausschluss der Revision in § 55 Abs. 2 JGG ganz bewusst in Kauf genommen, dass auch ein unrichtiges Urteil der Jugendkammer bestehen bleiben kann (umso bedenklicher ist es, wenn immer wieder vorgeschlagen wird, die Regel des § 55 Abs. 2 JGG auch auf das Erwachsenenstrafrecht auszudehnen, weil sie sich „bewährt“ habe).30 Allein ein unerfreuliches Ergebnis kann nicht als ausreichende Begründung dafür angesehen werden, dass ein als richtig erkannter Rechtssatz in einem Sonderfall keine Gültigkeit haben soll! Umso mehr ist zu prüfen, ob der vom Kammergericht im Anschluss an Meyer vertretenen Ansicht denn wirklich gefolgt werden muss oder ob nicht doch die ganz hM die besseren Gründe für sich hat. 4. Die hM bringt eine ganze Reihe von Argumenten für ihre Auffassung vor: a) Der am stärksten gewichtete Grund dürfte der schon in der ersten diesbezüglichen Entscheidung 31 formulierte Satz sein: „Wenn es der Wille des Gesetzgebers ist, demjenigen die Wiedereinsetzung zu bewilligen, der von einer gültigen Zustellung ohne sein Verschulden keine Kenntnis erlangt hat, so kann sie dem nicht versagt werden, dem überhaupt nicht wirksam zugestellt worden ist.“ Das ist also eine Art „Erst-recht-Schluss“. Das OLG Schleswig 32 hat dies Argument erst kürzlich aufgegriffen und ausgeführt,
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Kritisch zu dieser Rechtsprechung des KG auch HK-Rautenberg (Fn 24): „Inkonsequenz“. 30 Vgl. Röttgen ZRP 2003, 345 dagegen Meyer-Goßner ZRP 2004, 129 unter Hinweis auf. die Untersuchung von Bode Das Wahlrechtsmittel im Strafverfahren, 2000, 167. 31 OLG München HRR 1938 Nr. 427. 32 SchlHA 2005, 263 bei Döllel/Dreeßen.
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diese Analogie sei (nicht nur aus Praktikabilitätsgründen, sondern auch) „aus rechtsstaatlichen Erwägungen geboten“. Nun ist es mit den „Erst-recht-Schlüssen“ so eine Sache: Dabei wird vom Ergebnis her argumentiert; weil dort jenes richtige, vernünftige, verständige Ergebnis vom Gesetzgeber gewollt sei, könne es auch in einem ähnlich liegenden Fall nicht versagt werden. Hierbei wird aber oft übersehen, dass das Gesetz diese beiden Fälle möglicherweise gerade deswegen nicht gleich behandelt hat, weil sie auf verschiedenen Ebenen spielen oder – anders ausgedrückt – weil sie zu dogmatisch unterschiedlichen Bereichen gehören. Hierauf hat schon Meyer abgestellt,33 indem er darauf hingewiesen hat, dass das Verwerfungsurteil nach § 329 StPO an sich – wie jedes Berufungsurteil – mit der Revision anfechtbar ist und das Wiedereinsetzungsverfahren demnach „ausschließlich“ dem Zweck diene, „das Verwerfungsurteil aus Gründen zu Fall zu bringen, auf die die Revision nicht gestützt werden kann“. Bei dieser dogmatisch stringenten Auslegung ist für einen „Erst-recht-Schluss“ kein Platz und schon gar nicht ist dieser – wie das OLG Schleswig meint – „aus rechtsstaatlichen Erwägungen“ geboten. Die Gefährlichkeit der „Erst-recht-Schlüsse“ sei noch an zwei weiteren Beispielen dargetan: Nach § 120 Abs. 3 Satz 1 StPO ist der Haftbefehl aufzuheben, wenn die Staatsanwaltschaft es vor Erhebung der öffentlichen Klage beantragt. Wie ist es nun, wenn die Staatsanwaltschaft zwar nicht die Aufhebung, wohl aber die Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 StPO) beantragt? Muss der Richter auch hier dem Antrag der Staatsanwaltschaft folgen? Da die Außervollzugsetzung gegenüber der Aufhebung ein „weniger“ darstellt, scheint der „Erst-recht-Schluss“ nahe zu liegen; ein Ermittlungsrichter des BGH hat ihn denn auch gezogen und deswegen eine Bindung des Richters an den Antrag der Staatsanwaltschaft bejaht.34 Das hat zwar auch Zustimmung gefunden,35 was nicht verwundert, weil ein „Erst-recht-Schluss“ immer eine gewisse Überzeugungskraft entfaltet. Die einhellige Ansicht im Schrifttum war jedoch seit jeher anderer Meinung,36 wobei Hilger 37 zu Recht auf die „klare gesetzgeberische Entscheidung“ verweist, die beiden Fälle eben nicht gleich zu behandeln. So hat der Ermittlungsrichter des BGH auch sogleich in der Rechtsprechung Widerspruch erfahren 38 und die Kommentarliteratur 33
JR 1979, 123. NJW 2000, 967. 35 Nehm in: FS für Lutz Meyer-Goßner, 2001, 277 (291) „das argumentum a maiore ad minus sei zu begrüßen“; Rinio NStZ 2000, 547 (548) „nur die Annahme einer Bindungswirkung … wird der beherrschenden Stellung der StA in diesem Verfahrensstadium gerecht“; ähnlich Schlothauer StV 2001, 463 (464). 36 Vgl. Kleinknecht/Meyer-Goßner StPO 44. Aufl. Rn 14 zu § 120 mwN. 37 LR Rn 40 zu § 120. 38 OLG Düsseldorf StV 2001, 462; AG Stuttgart NStZ 2002, 391 jeweils mit eingehender Begründung. 34
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hat ebenfalls an ihrer entgegengesetzten Auffassung festgehalten und sich den Entscheidungen des OLG Düsseldorf und des AG Stuttgart 39 angeschlossen,40 und das mit Recht, denn: „Der Ermittlungsrichter setzt beim Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen – des Antrags der StA, des dringenden Tatverdachts und des Haftgrundes – den zulässigen und notwendigen Umfang des Grundrechtseingriffs in eigener Zuständigkeit und eigener Verantwortung fest“.41 Für einen „Erst-recht-Schluss“ ist hier kein Raum. In neuerer Zeit wird auch mit „Erst-recht-Schlüssen“ versucht, die wegen eines Verfahrenshindernisses bestehenden Einstellungsmöglichkeiten zu erweitern. So hat kürzlich Gau 42 die Ansicht vertreten, der durch Einsatz von Folter verursachte Verstoß gegen § 136a StPO wiege so schwer, dass er ein „Verfahrenshindernis rechtswidriger Beweiserhebung“ zur Folge haben müsse. Sicherlich ist der Verstoß gegen das Folterverbot erheblich schwerwiegender als etwa eine überlange Verfahrensdauer (obwohl auch diese im Extremfall geeignet sein könnte, die „Freiheit der Willensentschließung und der Willensbetätigung des Beschuldigten“ zu beeinträchtigen). Aber der hier anklingende „Erst-recht-Schluss“ verfängt eben nicht, weil ein Beweiserhebungsverbot nur ein bestimmtes Beweismittel betrifft, ein Verfahrenshindernis aber das Verfahren insgesamt unzulässig machen muss. Gibt man diese Unterscheidung auf, dann kann dies zur Einstellung des Verfahrens führen, wo ein Freispruch gerechtfertigt wäre. Die dogmatische Unterscheidung zwischen Freispruch und Einstellung darf nicht durch „Erst-rechtSchlüsse“ aufgehoben werden.43 Steht also das dogmatische Verständnis von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand einerseits und Revisionsverfahren andererseits einer Gleichstellung von säumigem und nicht-säumigen Angeklagten entgegen, so wird der von der Rechtsprechung gezogene „Erst-recht-Schluss“ brüchig. b) Neben dem „Erst-recht-Schluss“ wird auch auf Praktikabilitätsgründe zur Rechtfertigung der entsprechenden Anwendung der Wiedereinsetzungsvorschriften verwiesen. Dies hat insbesondere Gollwitzer 44 eingehend darge-
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Fn 38. KK/StPO-Boujong 5. Aufl. Rn 23, KMR-Wankel Rn 7; Meyer-Goßner (Fn 24) Rn 13, Pfeiffer StPO 5. Aufl. Rn 7, je zu § 120. 41 AG Stuttgart NStZ 2002, 391/392. 42 Die rechtswidrige Beweiserhebung nach § 136a StPO als Verfahrenshindernis, 2006, zugleich Dissertation Bochum 2006. Auch Jäger Beweisverwertung und Beweisverwertungsverbote im Strafprozess, 2003, 257 ff verlangt die Einstellung des Verfahrens statt Freispruch des Angeklagten, wenn dieser nur durch ein unverwertbares Beweismittel belastet wird. 43 Vgl. auch Meyer-Goßner (Fn 24) Einl. Rn 55. 44 FS für Theodor Kleinknecht, 1985, 147 (165). 40
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legt: Der gesamte mit dem Revisionsverfahren einhergehende Arbeits- und Kostenaufwand (zwei Staatsanwaltschaften, Vorsitzender der Strafkammer, drei Revisionsrichter, vier Geschäftsstellen) sowie die zeitliche Verzögerung und dazu noch die Unsicherheiten des Revisionsverfahrens (Formgebundenheit des Rechtsmittels, Prüfungen des Revisionsgerichts im Freibeweisverfahren) entfielen, wenn man die Wiedereinsetzung auch bei fehlerhafter Ladung zulässt, zumal die Verfahrensgerechtigkeit dadurch keinen Nachteil erleide, im Gegenteil: „Die Gefahr, dass der Angeklagte wegen eines Formfehlers auf der Strecke bleibt, entfällt“.45 Das ist alles zweifellos richtig. Nur, wenn das Gesetz hier eine entsprechende Anwendung der Vorschriften über das Wiedereinsetzungsverfahren verbieten sollte, dann helfen natürlich alle Praktikabilitätsgründe nichts; mit ihnen können zwingende gesetzliche Regelungen nicht außer Kraft gesetzt werden. c) So soll noch einmal auf den Gedanken des OLG Frankfurt 46 zurückgegriffen werden, das auf die Vorschrift des § 235 StPO verweist, wonach der Angeklagte im Fall des § 232 StPO bei einem ohne seine Anwesenheit ergangenen Urteil Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beanspruchen kann, wenn er von der Ladung zur Hauptverhandlung keine Kenntnis erlangt hat. Ein Umkehrschluss der Art, dass es im Fall des § 329 StPO anders sein müsse, weil dort eine entsprechende Regelung fehle, verfängt nicht; wie bereits oben dargelegt, ist die Regelung des § 235 StPO erst 1942 in die StPO eingefügt worden, während § 329 (früher § 370) StPO vom Grundsatz her schon seit Inkrafttreten der StPO gilt. Dass sich der Gesetzgeber bei der Neufassung der Vorschrift des § 329 StPO im Jahre 1974 47 mit dieser Frage beschäftigt hätte, ergibt sich aus den Materialien nicht, so dass – entgegen Meyer 48 – daraus, dass § 329 StPO nicht im Sinne des § 235 StPO geändert worden ist, keine Schlüsse gegen eine entsprechende Anwendung der Regelung gezogen werden können. Vielmehr spricht die Vorschrift dafür, in diesem Fall auch bei § 329 StPO Wiedereinsetzung zu gewähren, es sei denn, dem stehe die dogmatische Einordnung, dass für solche Fälle die Revision und eben nicht die Wiedereinsetzung gegeben sei, entgegen. 5. Alle für eine entsprechende Anwendung der Wiedereinsetzungsvorschriften bei Ladungsfehlern vorgebrachten Argumente haben somit etwas für sich. Sie vermögen jedoch die dogmatisch strenge Lösung, die klar zwischen Wiedereinsetzung und Revision differenziert, letztlich nicht zweifelsfrei zu widerlegen. Dazu kommt noch eine hier bisher nicht näher erörterte Schwierigkeit: Die Wiedereinsetzungsvorschriften finden nur bei 45 46 47 48
(Fn 44) S. 166. Fn 18. 1. StVRG vom 9.12.1974 (BGBl. I S. 3393). Fn 17.
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unverschuldeter Säumnis Anwendung. Wenn das Nichterscheinen aber auf dem Fehlen einer wirksamen Ladung beruht, so stellt sich die Frage des Verschuldens gar nicht.49 Die entsprechende Anwendung wird also noch dahin eingeschränkt, dass eine Verschuldensprüfung anders als bei § 44 StPO nicht vorgenommen wird. Das stört die Anhänger der analogen Anwendung des § 44 StPO aber nicht, weil zwischen „Säumnis“ und „Verschulden“ ein Stufenverhältnis bestehe, wobei für die zweite Stufe nach Verneinung der ersten kein Raum mehr sei.50 Auch das kann man so sehen; dieser Unterschied muss aber die Gegner der analogen Anwendung in ihrer Ansicht bestärken.51 Muss also demnach gegen alle vernünftigen Erwägungen, nämlich, dass bei fehlender Ladung des Angeklagten die Situation der unverschuldeten Säumnis stark ähnelt, ja für den Angeklagten noch viel belastender ist, dass die Praktikabilität geradezu nach einer entsprechenden Anwendung schreit, dass die StPO diesen Fall doch bei § 235 so geregelt hat, gleichwohl Meyer recht gegeben werden, dass diese Lösung aus dogmatischen Gründen abzulehnen ist? Ich meine nein, wobei aber die Rechtfertigung, sich über die geltend gemachten dogmatischen Bedenken hinwegzusetzen, in einer gegen früher veränderten Auffassung über die Bedeutung des Revisionsverfahrens zu finden ist. Das ergibt sich schon aus folgendem: Nach § 349 Abs. 2 StPO darf das Revisionsgericht auf einen entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft im schriftlichen Verfahren durch Beschluss (statt nach einer Revisionshauptverhandlung durch Urteil nach § 354 StPO) entscheiden, wenn es die Revision „für offensichtlich unbegründet“ hält. Über das Erfordernis der „offensichtlichen“ Unbegründetheit haben sich die Revisionsgerichte jedoch seit Jahrzehnten hinweggesetzt: Es werden – ohne Rücksicht auf „offensichtliche“ oder „nicht-offensichtliche“ Unbegründetheit – unbegründete Revisionen durch Beschluss verworfen.52 Abgesehen davon, dass es natürlich Ansichtssache ist, wann die Revision „offensichtlich“ oder wann sie nur schlicht unbegründet ist,53 wären der Bundesgerichtshof und die Oberlandesgerichte heillos überfordert, wenn sie in allen nicht völlig eindeutigen Fällen eine Hauptverhandlung durchführen und ein Urteil verfassen müssten. Dies wäre nur mit einer gewaltigen – prak49
OLG Schleswig (Fn 32). So OLG Frankfurt (Fn 18) unter Bezugnahme auf Wendisch JR 1976, 426; 1981, 131. 51 Dagegen denn auch entschieden Meyer (Fn 17). 52 Vgl. dazu Meyer-Goßner (Fn 24) Rn 11 zu § 349. 53 Soll die Meinung des Revisionsgerichts dafür gelten oder die Meinung eines unbeteiligten Beobachters oder gar die Ansicht der den Antrag stellenden Staatsanwaltschaft? Auch die Definition des BVerfG NStZ 2002, 487 „wenn für jeden Sachkundigen ohne längere Prüfung erkennbar ist, welche Rechtsfragen vorliegen, wie sie zu beantworten sind und dass die Revisionsrügen dem Rechtsmittel nicht zum Erfolg verhelfen können“, lässt im Einzelfall verschiedene Antwortmöglichkeiten zu. 50
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tisch nicht durchführbaren – personellen Aufstockung der Revisionsgerichte machbar, die von der Rechtsgemeinschaft nicht verlangt werden kann und von ihr auch nicht bewilligt werden würde. Rieß 54 spricht daher zu Recht davon, dass hier eine „Selbstkorrektur des Revisionsrechts“ stattgefunden habe. Wenn aber schon ohne Eingreifen des Gesetzgebers so eine „Selbstkorrektur“ für möglich erachtet wird, ist dies „erst-recht“ 55 anzunehmen, wenn das Gesetz selbst dergleichen zu erkennen gibt: Schon aus § 342 Abs. 2 StPO folgt, dass bei gleichzeitiger Einlegung von Wiedereinsetzungsantrag und Revision die Entscheidung über das Wiedereinsetzungsgesuch vorgeht und die Revision gegenstandslos macht; 56 das Gesetz verzichtet dabei somit auf die Aufhebung des Urteils und begnügt sich mit dessen Gegenstandslosigkeit. Nun werden zwar in unserem Falle Wiedereinsetzungsantrag und Revision gerade nicht gleichzeitig eingelegt, sondern es geht um Wiedereinsetzung oder Revision. Aber aus § 342 StPO lässt sich der Rechtsgedanke entnehmen, dass grundsätzlich die Wiedereinsetzung, wenn sie möglich ist, vor der Revision Vorrang haben soll. Aber darüber hinausgehend machen neuere Vorschriften der StPO deutlich, dass die Beseitigung einer fehlerhaften Entscheidung durch den Richter selbst, der sie erlassen hat, dann erfolgen soll, wenn dadurch ein weiteres Verfahren – sei es ein Rechtsmittel-, sei es ein verfassungsgerichtliches Verfahren – vermieden werden kann: So bestimmt § 33a StPO, dass bei Verletzung des Anspruchs eines Beteiligten auf rechtliches Gehör und fehlender Rechtsbehelfsmöglichkeit dagegen das Verfahren in die Lage „zurückversetzt“ werden kann, die vor dem Erlass der Entscheidung bestand; in Satz 2 der Vorschrift wird ausdrücklich § 47 für entsprechend anwendbar erklärt. Aus Vereinfachungsgründen wird der Fall also so behandelt wie Wiedereinsetzungsfälle nach §§ 44 ff StPO. Eine ähnliche Regelung trifft § 311a StPO für das Beschwerdeverfahren. Erst vor kurzem 57 ist § 356a in die StPO eingefügt worden, wonach bei einer Verletzung des rechtlichen Gehörs im Revisionsverfahren das Revisionsgericht das Verfahren in die Lage vor Erlass der Entscheidung zurückversetzen kann. Auch hier gilt § 47 StPO entsprechend. Allerdings wird bei dieser gegenüber § 33a StPO spezielleren Vorschrift 58 die Einhaltung einer Wochenfrist für den Antrag verlangt. Aber das bestätigt nur die Absicht des Gesetzgebers, solche Verstöße auf schnellstem Wege und ohne Einschaltung einer anderen Instanz endgültig zu erledigen. Die drei nachträglich in die 54 55 56 57 58
FS für Ernst-Walter Hanack, 1999, 413. Hier bestehen gegen das „erst-recht“ keine Bedenken! Vgl. Meyer-Goßner (Fn 24) Rn 2 zu § 342 mwN. Anhörungsrügengesetz vom 9.12.2004 (BGBl. I S. 3220). BGH StraFo 2006, 375.
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StPO eingefügten Vorschriften (§§ 33a, 311a, 356a) berechtigen also zu dem Schluss, dass es im Sinne des Gesetzgebers ist, einen begangenen Fehler möglichst im Wege der Wiedereinsetzung oder der „Zurückversetzung“ zu beheben und es zu vermeiden, eine höhere Instanz bzw. gar das Bundesverfassungsgericht für die Fehlerkorrektur zu bemühen. Für diese Ansicht ist ergänzend noch auf die Regelung des § 342 Abs. 2 StPO zu verweisen, wonach bei gleichzeitiger Einlegung des Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und der Revision zunächst über den Wiedereinsetzungsantrag zu befinden ist. In diesem Zusammenhang ist allerdings noch ein Blick auf die §§ 319 und 346 StPO zu werfen: Ist die Berufung oder die Revision verspätet eingelegt worden oder sind bei der Revision die Revisionsanträge nicht rechtzeitig oder nicht formgerecht angebracht worden, so ist das Rechtsmittel durch den judex a quo als unzulässig zu verwerfen. Daraus hat die Rechtsprechung den logisch zutreffenden Schluss gezogen, dass in anderen Fällen der Unzulässigkeit der judex ad quem entscheiden müsse und dem judex a quo die Verwerfung des Rechtsmittels als unzulässig versagt sei.59 Hier wird also das höhere Gericht bemüht, obwohl doch auch das Erstgericht die anderen Fälle der Unzulässigkeit des Rechtsmittels feststellen könnte. Diese – seit Inkrafttreten der StPO unverändert geltenden (bis 1924 allerdings § 360 und § 386) – Vorschriften mit ihrer umständlichen Lösung beruhen ersichtlich darauf, dass der Gesetzgeber Bedenken hatte, die etwas schwierigere Entscheidung, ob das Rechtsmittel aus anderen Gründen als der Frist- und Formversäumnis unzulässig ist, dem judex a quo zu überlassen. Diese Entscheidung des Gesetzgebers erscheint aus heutiger Sicht übervorsichtig: Natürlich kann auch der Erstrichter beurteilen, ob beispielsweise ein wirksamer Rechtsmittelverzicht vorliegt oder ob der Angeklagte durch die Entscheidung nicht beschwert ist. Die Zulässigkeitsprüfung zwecks Vermeidung der Befassung mit dem Rechtsmittel durch eine höhere Instanz insgesamt dem Erstgericht anzuvertrauen, erscheint umso weniger bedenklich, als diese Entscheidung ja wiederum gemäß § 319 Abs. 2 bzw. § 346 Abs. 2 StPO durch das Rechtsmittelgericht überprüft werden kann. In all den Fällen, in denen ein solcher Antrag aber nicht gestellt wird, wird hingegen eine Befassung mit dem Rechtsmittel durch das Rechtsmittelgericht vermieden.60 Wie wenig diese Einschränkung der Entscheidungsbefugnis des judex a quo von den Tatgerichten heutzutage verstanden wird, zeigt sich daran, dass der BGH ständig Beschlüsse aufheben muss, in denen das Landgericht die Revision wegen 59
Vgl. die Nachweise bei Meyer-Goßner (Fn 24) Rn 2 zu § 346. Schon jetzt erwächst aber auch ein die Berufung oder die Revision zu Unrecht wegen eines anderen Grundes als Fristversäumnis verwerfender Beschluss in Rechtskraft, wenn er nicht angefochten wird; vgl. BGH bei Kusch NStZ-RR 1999, 33; BayObLGSt 62, 207 = NJW 1963, 63. 60
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Nichteinhaltung der Begründungsfrist als unzulässig verworfen hat, in denen der Angeklagte aber zuvor auf Einlegung eines Rechtsmittels wirksam verzichtet hatte. In diesem Fall hebt der BGH den Verwerfungsbeschluss des Landgerichts auf und verwirft anschließend selbst wegen des Rechtsmittelverzichts die Revision wiederum als unzulässig. Das ist dann besonders skurril, wenn der BGH den Rechtsmittelverzicht für unwirksam hält (z.B. wegen fehlender „qualifizierter Belehrung“ nach einer Urteilsabsprache) 61 und sodann die Revision wegen Fristversäumnisses – wie das Landgericht – wieder als unzulässig verwirft.62 Aus dieser gesetzlichen Regelung lässt sich aber nichts gegen die These, dass die mögliche Wiedereinsetzung durch das Erstgericht der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts vorgehen soll, entnehmen: In §§ 319, 346 StPO hat der Gesetzgeber die Entscheidungsbefugnis des Erstrichters beschränkt, weil er diese Fälle – aus nachvollziehbaren, wenn auch überholt anmutenden Erwägungen – gerade so wie die Sachentscheidung dem Rechtsmittelgericht zuweisen wollte. Eine solche gesetzliche Zuweisung ist aber hinsichtlich der Folgen fehlender oder fehlerhafter Ladung bei § 329 StPO gerade nicht getroffen worden; zudem besteht das Bedenken, dass das Erstgericht mit der möglicherweise schwierigen Entscheidung aus dem Rechtsmittelrecht überfordert sein könnte, dort nicht. Im Übrigen gibt es einen Vorrang der Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag auch bei §§ 319, 346 StPO: Wenn der Angeklagte Wiedereinsetzung gegen die Versäumung der Rechtsmitteleinlegungs- oder Rechtsmittelbegründungsfrist beantragt hatte, muss zunächst das Revisionsgericht über den Wiedereinsetzungsantrag entscheiden; die Entscheidung nach § 346 Abs. 1 StPO muss dann zurückgestellt werden.63 Auch dabei zeigt sich wieder der Vorrang der Wiedereinsetzungsentscheidung, wobei hier allerdings umgekehrt die Entscheidung des Rechtsmittelgerichts derjenigen des Erstgerichts vorgeht. Den Vorrang einer möglichen Entscheidung des Erstgerichts vor derjenigen des Rechtsmittelgerichts hat erst kürzlich auch der BGH im Hinblick auf § 238 Abs. 2 StPO betont.64 Er hat zutreffend ausgeführt, dass § 238 Abs. 2 StPO die Möglichkeit eröffne, „Fehler des Vorsitzenden im Rahmen der Instanz zu korrigieren und damit Revisionen zu vermeiden, durch die ein Fehler des Vorsitzenden nur auf Kosten einer mehr oder weniger langen Verzögerung des Verfahrensabschlusses ausgeräumt werden könnte“.65 Hier
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Vgl. dazu Meyer-Goßner (Fn 24) Rn 21 vor § 213. So BGH NJW 2007, 165. 63 KK-Kuckein 5. Aufl., Rn 30 zu § 346; a.M. allerdings OLG Frankfurt NStZ-RR 2003, 47 (48). 64 NJW 2007, 384. 65 (Fn 64) S. 386 mit zahlr. Schrifttumsnachweisen. 62
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zeigt sich ebenfalls, dass auch schon älteren Vorschriften der StPO (§ 238 – bis 1924: § 237 – gilt unverändert seit Inkrafttreten der StPO) der Gedanke zugrunde liegt, dem sachnäheren Erstgericht eine Entscheidungskompetenz einzuräumen, wenn dies zur Vermeidung eines Rechtsmittelverfahrens führen kann. Nach alledem ist unsere Ausgangsfrage wie folgt zu beantworten: Ist eine ordnungsgemäße Ladung zur Berufungshauptverhandlung nicht erfolgt und der Angeklagte deswegen nicht erschienen, so ist gegen das Urteil des Berufungsgerichts, das in Unkenntnis oder unter Übersehen der fehlerhaften oder fehlenden Ladung des Angeklagten dessen Berufung nach § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO ohne Verhandlung zur Sache verworfen hat, der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand entsprechend § 329 Abs. 3 statthaft. Das folgt aus der Grundentscheidung des Gesetzgebers, den näheren Rechtsbehelf (hier: die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand statt der Revision) zuzulassen, wenn dasselbe Ergebnis wie durch das aufwändigere Rechtsmittel ohne Rechtsverlust erreicht werden kann. Der Gesetzgeber könnte allerdings in dieser immer noch umstrittenen Frage größere Rechtsklarheit schaffen, wenn er § 329 Abs. 3 StPO um den Satz ergänzen würde, den § 235 StPO enthält: „Das gilt auch, wenn der Angeklagte von der Hauptverhandlung keine Kenntnis erlangt hat.“ Gegen eine solche Ergänzung des § 329 Abs. 3 StPO hätte vermutlich auch Karlheinz Meyer nichts einzuwenden gehabt; denn seine Bedenken richteten sich ja ersichtlich nicht gegen die in diesem Fall gewährte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand an sich, sondern nur dagegen, die Wiedereinsetzung ohne eine solche § 235 StPO entsprechende Vorschrift zuzulassen. 6. Abschließend ist noch zu erörtern, ob der Angeklagte in diesem Fall die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand etwa gar beantragen muss oder ob er auch Revision einlegen kann. Die Beantwortung dieser Frage ergibt sich klar aus dem Gesetz: § 329 Abs. 3 StPO eröffnet dem Angeklagten nur eine Möglichkeit („kann … die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand … beanspruchen“), zwingt ihn aber nicht dazu, die Wiedereinsetzung statt der Revision zu wählen. Er kann also entweder Wiedereinsetzung beantragen oder Revision einlegen oder beide Rechtsbehelfe ergreifen. Im letzteren Fall richtet sich das weitere Verfahren nach § 342 Abs. 2 StPO; legt er nur Revision ein, gilt dies allerdings gemäß § 342 Abs. 3 StPO als Verzicht auf den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Insofern ist auch keine Wiedereinsetzung möglich.66 Das OLG Hamburg 67 hält allerdings die Verzichtsvermutung des § 342 Abs. 3 StPO für unanwendbar, wenn dem Angeklagten von Amts wegen
66 67
LR-Gössel 25. Aufl. Rn 114 zu § 329. StV 2001, 339.
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(§ 45 Abs. 2 Satz 2 StPO) Wiedereinsetzung gewährt worden ist. Die Frage, ob im Fall des § 329 Abs. 3 StPO überhaupt von Amts wegen Wiedereinsetzung gewährt werden kann, ist allerdings heftig umstritten.68 Für den Regelfall – also bei der direkten Anwendung der Vorschrift – muss die Anwendung des § 45 Abs. 2 Satz 3 StPO wohl ausscheiden; denn wenn die bei § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO vorgenommene Entscheidung des Angeklagten, der Hauptverhandlung fernzubleiben, respektiert wird, kann ihm schlechterdings nicht im Gegensatz dazu von Amts wegen Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden.69 Das OLG Hamburg stellt jedoch mit Recht fest, dass für unseren Fall der analogen Anwendung des § 329 Abs. 3 StPO dieser Gedanke nicht passt: Der Angeklagte ist ja gerade nicht aus freiem Entschluss zur Berufungsverhandlung nicht erschienen, sondern weil er keine Ladung erhalten hatte. Mangels einer dementsprechenden Willensbekundung des Angeklagten spricht nichts dagegen, dass das Landgericht, wenn es diesen Mangel bemerkt, ihm von Amts wegen Wiedereinsetzung gewährt. Dann ist es aber auch konsequent – wie es das OLG Hamburg tut –, in diesem Fall § 342 Abs. 3 StPO für unanwendbar zu erklären.
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Vgl. die Nachw. in der Entscheidung des OLG Hamburg. Meyer-Goßner (Fn 24) Rn 12 zu § 45.
Abgeordnetenbestechung (§ 108e StGB) Plädoyer gegen die Erweiterung einer ohnehin zu weiten Vorschrift Regina Michalke Einleitung Unter dem Titel „Abgeordnetenbestechung“ ist seit dem Jahr 1994 durch § 108e StGB der so genannte „Stimmenkauf“ bzw. „-verkauf“ unter Strafe gestellt.1 Die Vorschrift erfasst die aktive und passive Bestechung von Abgeordneten ausschließlich im Zusammenhang mit der Stimmabgabe in den parlamentarischen Gremien.2 Fälle allgemeiner wirtschaftlicher Interessenverflechtung werden von § 108e StGB nicht erfasst. Die Beschränkung der Strafvorschrift auf den „Stimmenkauf“ hat seit ihrem Bestehen Anlass zu Kritik gegeben.3 Zuletzt hat der 5. Strafsenat des BGH in seiner Entscheidung vom 9.5.2006 4 gesetzgeberischen Handlungsbedarf angemeldet. Er beklagte, dass § 108e StGB als „bedeutungslose ,symbolische Gesetzgebung‘“ nicht ausreiche, um alle strafwürdigen korruptiven Verhaltensweisen nicht zuletzt auf kommunaler Ebene zu erfassen. In dem entschiedenen Fall hatte der Bundesgerichtshof einen kommunalen Mandatsträger, der von einem Unternehmer im Hinblick auf sein Stimmverhalten Geldzuwendungen erhalten hatte, vom Vorwurf der Bestechlichkeit nach den §§ 331ff StGB freigesprochen mit der Begründung, dieser sei kein „Amtsträger“ im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB. Nicht nur durch derartige Fälle, die von den Medien begierig aufgegriffen werden, sondern auch aufgrund der Konvention der Vereinten Nationen
1 Tröndle/Fischer 54. Aufl., Rn 3 zu § 108e StGB; Schönke/Schröder-Eser 27. Aufl., Rn 1 ff zu § 108e StGB. 2 Wozu auch Ausschüsse und Kommissionen der entsprechenden Volksvertretungen sowie die Fraktionen zählen, vgl. Schönke/Schröder-Eser 27. Aufl., Rn 4 zu § 108e StGB; BGH 2 StR 557/05; Dölling Gutachten zum 61. DJT, C 83. 3 Tröndle/Fischer 54. Aufl., Rn 2 mwN u.a. auf Tröndle 48. Aufl., Rn 1 zu § 108e StGB; Barton NJW 1994, 1098 mwN; von Arnim NVwZ 2006, 249 (252 f); de With Kriminalistik 1997, 400 ff, der Erörterungsbedarf anmeldet; Schaupensteiner Kriminalistik 2003, 9 ff (12). 4 NStZ 2006, 389 ff (392).
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gegen Korruption (UN-Konvention),5 die Deutschland am 11.12.2003 zusammen mit 140 Staaten unterzeichnete, ist Bewegung in die Frage der Ausweitung der „Abgeordnetenbestechung“ gekommen. Die UN-Konvention, die am 16.9.2005 in Kraft trat, bezieht durch ihren Art. 15 („Bribery of national Public Officials“) Abgeordnete in den allgemeinen Amtsträgerbegriff mit ein. Demzufolge wird die Auffassung vertreten,6 dass Deutschland sich durch Unterzeichnung dieser Konvention international verpflichtet habe, den Amtsträgerbegriff in § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB auf Abgeordnete zu erstrecken und damit incidenter die Volksvertreter auch im kommunalen Bereich in die Strafbarkeit nach den §§ 331 ff StGB mit aufzunehmen. Dessen ungeachtet findet sich in dem von der Bundesregierung jüngst 7 verfassten Gesetzesentwurf für eine Ausdehnung der Korruptionsstrafbarkeit die „Abgeordnetenbestechung“ nicht. Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN legte nunmehr im Deutschen Bundestag einen Gesetzesentwurf für einen wesentlich weiter gefassten § 108e StGB vor.8 Dabei knüpft die Strafbarkeit nicht mehr an den „Stimmenkauf“ an, sondern generell daran, dass der Abgeordnete einen „rechtswidrigen Vorteil […] in Ausübung seines Mandates“ fordert, sich versprechen lässt oder annimmt. Als Begründung für die Gesetzesinitiative wird auf die internationalen Verpflichtungen und die vom 5. Strafsenat des BGH geäußerte Kritik an einer unzulänglichen Regelung in § 108e StGB verwiesen. Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick über die Gründe, die den Ausschlag für die Beschränkung des § 108e StGB auf den „Stimmenkauf“ gaben, behandelt die Entscheidung des 5. Strafsenats mit seinem Ruf nach dem Gesetzgeber, stellt die wichtigsten internationalen Übereinkommen mit Zielrichtung auf eine Erweiterung der Abgeordnetenbestechung vor, um sodann darzulegen, weshalb die Parlamentarier und der Parlamentarismus (jedenfalls) einer Erweiterung des § 108e StGB nicht bedürfen. 1. Gründe für die Beschränkung des § 108e StGB auf den „Stimmenkauf“ Die Gründe für die Beschränkung der Strafvorschrift § 108e StGB auf den „Stimmenkauf“ sowie die Nichteinbeziehung der „Abgeordneten“ auf die den Amtsträgern vorbehaltene Korruptionstatbestände, die §§ 331ff StGB, ergeben sich aus der Historie der Vorschrift. Nach dem Reichsstrafgesetzbuch von 1871 war strafbar, wer in einer „öffentlichen Angelegenheit“ eine
5 Vgl. hierzu Möhrenschlager FS Ulrich Weber, 217 ff (229); ders. in: Wabnitz/Janowski 2. Aufl. 2004, 3 ff (19); Volltext unter www.bmj.bund.de. 6 Nicht zuletzt von der derzeitigen Bundesministerin für Justiz, Zypries StraFo 2004, 221 ff (224). 7 Am 30.5.2007; Volltext unter www.bmj.bund.de. 8 F 140/07.
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Wahlstimme kaufte oder verkaufte. Da nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts der damalige § 109 a.F. StGB die Gesamtheit des Gemeinwesens erfasste, ging die damals hM davon aus, dass die Vorschrift auch die Abgeordnetenbestechung mit einschließe. Im Zuge des 3. Strafrechtsänderungsgesetzes des Jahres 1953 9 beschäftigte man sich erstmals ausdrücklich mit der Frage, ob die Abgeordnetenbestechung einer besonderen gesetzlichen Regelung im StGB bedürfte.10 Gleichwohl kam es erst im Jahr 1994 im Zuge des 28. Strafrechtsänderungsgesetzes11 zur Schaffung des § 108e StGB. Man hatte sich zuvor in den Beratungen dahin verständigt, dass § 108e StGB nicht der Beamten- und Richterbestechung nachgebildet werden könnte, weil eine Vergleichbarkeit von Abgeordneten und den „Amtsträgern“ hinsichtlich der jeweiligen Aufgabenstellung nicht gegeben sei. Während es, so die amtliche Begründung,12 einem „Amtsträger“ im öffentlichen Dienst generell verboten sei, einen persönlichen Vorteil für eine Diensthandlung anzunehmen, fehle es beim Träger eines Abgeordnetenmandates bereits an einem genau begrenzten Pflichtenkreis. Bei Abstimmungen in politischen Fragen widersprächen an den Abgeordneten gerichtete Versprechungen und Erwartungen auch keinesfalls den Spielregeln der Demokratie. Die Interessenwahrnehmung auch innerhalb des Parlamentes sei vielmehr Bestandteil des politischen Kräftespiels, weshalb die Voraussetzungen für die strafbare Bestechung und Bestechlichkeit bei der Ausübung von Stimmrechten nicht die gleichen sein könnten wie bei der Tätigkeit von Amtsträgern im öffentlichen Dienst.13 Der Gesetzgeber des Jahres 1994 warnte vor einer Gleichstellung von „Amtsträgern“ und Abgeordneten, weil dadurch die Gefahr heraufbeschworen würde, dass auch politisch übliches und sozial adäquates Verhalten kriminalisiert werde. So könnten sich Abgrenzungsprobleme beispielsweise bei legalen Verknüpfungen zwischen Mandatsausübung und Berufstätigkeit des Abgeordneten (Nebentätigkeiten, Beraterverträge, Vortragshonorare, politische Spenden) ergeben. Rückte man diese üblichen parlamentarischen und außerparlamentarischen Kontakte von Abgeordneten aber in die Nähe der Strafbarkeit, könnte dies dazu führen, dass falsche Verdächtigungen und Anzeigen, insbesondere in Wahlkampfzeiten, als Mittel der politischen Auseinandersetzung missbraucht würden. Um dem zu begegnen, sei eine „restriktive Ausgestaltung des Tatbestandes“ erforderlich. Auch bei den Beratungen zur Ausgestaltung des Amtsträgerbegriffs in § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB hatten die Bundesregierung und der Gesetzgeber sich gegen eine Gleichstellung von Amtsträgern und Abgeordneten und damit 9 10 11 12 13
Vom 4.8.1953. BT-Drs. 12/5927, 3. 28. StRÄG vom 13.1.1994, BGBl. I S. 84. BT-Drs. 12/5927, 5. BT-Drs. 12/5927, 5.
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gegen eine Aufnahme der Abgeordneten unter diese Vorschrift ausgesprochen.14 Zur gleichen Ansicht gelangten auch der Deutsche Juristentag 1996 15 sowie der Gutachter in der strafrechtlichen Abteilung, Dölling.16 2. Der Fall des 5. Strafsenats des BGH Die Entscheidung des 5. Strafsenats,17 mit der er gesetzgeberischen Handlungsbedarf im Hinblick auf eine Erweiterung der Abgeordnetenbestechung einforderte, wird immer wieder als maßgeblicher Grund für die Notwendigkeit einer Erweiterung des § 108e StGB angesehen.18 Folgender Sachverhalt stand zur Entscheidung an: Der Angeklagte, Ingenieur und Inhaber eines Ingenieurbüros, war Mitglied der SPD-Fraktion und des Stadtrats einer Stadt im Ruhrgebiet. Auf Veranlassung eines Investors setzte er sich durch verschiedene Redebeiträge und sein Stimmverhalten für die Förderung von dessen Bauvorhaben ein. Hierfür erhielt er von dem Investor über mehrere Jahre hinweg hohe Geldbeträge. Als der Investor, um die Wirtschaftlichkeit eines weiteren Bauvorhabens zu erhöhen, die Änderung eines Bebauungsplanes anstrebte, wandte er sich wiederum an den Angeklagten, der sich in der Folge aktiv, u.a. durch entsprechende Redebeiträge, für diese zu ändernde Bebauungsplanung einsetzte. Der Rat der Stadt stimmte schließlich dem Bebauungsplan in der von dem Investor gewünschten Form zu. Der Angeklagte erhielt daraufhin von dem Investor den Auftrag zur Erstellung der Statik für das Bebauungsprojekt. Es kam hierbei zur Zahlung eines erhöhten (und vom Angeklagten geforderten) Statikerhonorars, weil der Investor befürchtete, dass der Angeklagte andernfalls die Bemühungen um ein „passendes“ Baurecht in Zukunft stören könnte, anstatt sie fördernd zu begleiten. Das erstinstanzliche Landgericht verurteilte den Angeklagten wegen Bestechlichkeit und Vorteilsannahme nach den §§ 331 und 332 StGB. Der Bundesgerichtshof hob diese Verurteilung unter Hinweis darauf auf, dass kommunale Mandatsträger grundsätzlich 19 nicht als Amtsträger im Sinne von § 11 14
RegE-EG StGB, BT-Drs. 7/550, 209. DJT 1996, Beschluss Nr. 15a. 16 „Empfehlen sich Änderungen des Straf- und Strafprozessrechts, um der Gefahr von Korruption in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft wirksam zu begegnen?“, Gutachten, 61. DJT, 1996, C 80 ff; aA Schaupensteiner Kriminalistik 2003, 9 ff (12). 17 NStZ 2006, 389 ff (392). 18 Zuletzt im Entwurf der BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, s. unten, S. 469. 19 Eine andere Beurteilung wäre nach Ansicht des BGH nur dann gerechtfertigt, wenn der Mandatsträger – anders als in dem entschiedenen Fall – darüber hinaus mit konkreten Verwaltungsfunktionen auf Gemeindeebene betraut sei. 15
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Abs. 1 Nr. 2 StGB anzusehen seien. Dabei bezog sich der 5. Strafsenat in seiner Begründung im Wesentlichen auf den historischen Gesetzgeber und bestätigte dessen Auffassung, wonach § 108e StGB eine abschließende Sonderregelung für Vorteilszuwendungen im Zusammenhang mit Wahlen und Abstimmungen auch in den Volksvertretungen der Gemeinden und Gemeindeverbände darstellt.20 Damit jedoch, beklagte der Senat, blieben „nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers“ eine Reihe von Verhaltensweisen im Zusammenhang mit Vorteilszuwendungen an (kommunale) Mandatsträger straflos, wie z.B. das so genannte „Anfüttern“ im Sinne des § 331 StGB, bei dem – auch ohne eine nach § 108e StGB verlangte konkrete „Unrechtsvereinbarung“ – durch Zuwendungen an einen Abgeordneten dessen allgemeine Gewogenheit beim Verhalten in Wahlen und Abstimmung erreicht werden solle. Gleiches gelte für die nachträgliche „belohnende“ Zuwendung für ein bestimmtes Abstimmungsverhalten, die ebenfalls nicht von § 108e StGB 21 wohl aber von den §§ 331ff StGB erfasst werde. Dadurch seien aber nach Auffassung des BGH „weite Teile von als strafwürdig empfundenen Manipulationen im Zusammenhang mit Wahlen und Abstimmungen in Volksvertretungen der Gemeinden und Gemeindeverbände straflos“. Der Straftatbestand des § 108e StGB täusche als „symbolische Gesetzgebung“ mit der Überschrift nur vor, dass Abgeordnete unter dem Gesichtspunkt der Bestechungsdelikte den Amtsträgern wenigstens annähernd gleichgestellt wären. Im Anschluss an diese Kritik widmete der Senat einen nicht geringen Teil seiner Entscheidung eingehenden Hinweisen an die nächste Instanz, unter welchen Aspekten sich ggf. ein Schuldspruch für den Stadtverordneten nach § 108e StGB ergeben könnte. So heißt es hier z.B., dass nicht zuletzt unter dem Aspekt der Versuchsstrafbarkeit bei § 108e StGB „an die Feststellung einer (zumindest konkludenten) Unrechtsvereinbarung […] keine höheren Anforderungen zu stellen (seien) als bei der Bestechlichkeit bzw. Bestechung von Amtsträgern im Rahmen der §§ 332, 334 StGB.“ Es reiche aus, dass dem Empfänger ein Vorteil „zumindest auch um eines bestimmten künftigen Abstimmungsverhaltens willen zugute kommen soll“. In dem gleichen Sinne dürften auch die Anforderungen an die Bestimmtheit des zukünftigen Abstimmungsverhaltens „nicht überspannt“ werden, und es genüge, wenn „das ins Auge gefasste Abstimmungsverhalten nach seinem sachlichen Gehalt und in groben Umrissen erkennbar und festgelegt“ sei. Wenn, so fügte der Senat dazu, wie in dem entschiedenen Fall über einen längeren Zeitraum hinweg einseitig Zuwendungen an einen Mandatsträger geflossen seien, „die ihn für die Sache des Zuwendenden (im Sinne des von § 331 StGB erfassten
20 21
So auch Marell StraFo 2003, 259 (260); Dahs/Müssig NStZ 2006, 191 ff (195 f). Hierbei beruft sich der Senat auf LK-Laufhütte/Kuschel 11. Aufl., § 108e Rn 7.
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„Anfütterns“) einnehmen sollen“, werde eine konkludente Unrechtsvereinbarung jedenfalls dann nahe liegen, wenn sich die erwartete Gegenleistung durch ein bestimmtes Projekt konkretisierte. Es könne hier der Schluss zumindest konkludent auf einen Stimmenkauf oder -verkauf bezogen werden. Etwaige Vorbehalte des Mandatsträgers, sein Abstimmungsverhalten nicht durch die Zuwendung beeinflussen zu lassen, seien unbeachtlich. Wer nach außen seine Stimme für eine Wahl oder Abstimmung in einer kommunalen Volksvertretung gegen Vorteilszuwendungen „verkauft“, könne sich nicht darauf berufen, er habe ohnehin im Sinne des Zuwendenden stimmen, überhaupt nicht an der Stimmabgabe teilnehmen wollen, sich schließlich der Stimme enthalten oder sogar dagegen gestimmt.22 Auf diese in jeder Hinsicht bemerkenswerten Hinweise des 5. Strafsenats wird an späterer Stelle 23 noch einmal zurückzukommen sein. 3. Verpflichtung zur Umsetzung einer erweiterten Abgeordnetenbestechung durch internationale Vereinbarungen Überlegungen zur wirksamen Bekämpfung der Korruption auf europäischer bzw. internationaler Ebene wurden in den vergangenen Jahren von der Bundesrepublik Deutschland in verschiedener Hinsicht aktiv mitgetragen. Die wichtigsten Übereinkommen sprechen dabei auch die Miteinbeziehung der Abgeordneten in die „Amtsträger“-Strafbarkeit an. a) Aufgrund des am 25.6.1997 getroffenen Übereinkommens der Europäischen Union über die Bekämpfung der Bestechung, an der Beamte der Europäischen Gemeinschaften oder Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligt sind,24 haben sich die Mitgliedstaaten verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen um sicherzustellen, dass Bestechungshandlungen im Zusammenhang mit der Verletzung von Amtspflichten von oder gegenüber gewählten Vertretern der jeweiligen (nationalen) Volksvertretungen in der gleichen Weise als Straftaten anzusehen sind wie in Fällen, in denen diese Handlungen von oder gegenüber Mitgliedern des Europäischen Parlamentes vorgenommen werden. Dabei überlässt das Übereinkommen allerdings die Definition des Amtsträgerbegriffs dem innerstaatlichen Recht der Mitgliedstaaten.25 In Deutschland bedurfte es nach übereinstimmender Auffassung
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NStZ 2006, 389 ff (392). Unten Kap. 4, S. 468. 24 „Übereinkommen aufgrund von Artikel K.3 Abs. 2 Buchst. c des Vertrages über die Europäische Union über die Bekämpfung der Bestechung, an der Beamte der Europäischen Gemeinschaften oder Mitgliedstaaten der Europäischen Union beteiligt sind“, ABl. C 195 vom 25.6.1997, 1 ff. 25 Durch Verweis in Art. 1c, vgl. hierzu auch Möhrenschlager FS Ulrich Weber, S. 217 ff (227). 23
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keiner speziellen Umsetzung dieses Übereinkommens, weil die entsprechende Angleichung bereits durch die Einbeziehung des Europäischen Parlaments in § 108e Abs. 1 StGB vorgenommen worden war.26 b) Durch das OECD-Übereinkommen über die Bekämpfung der Bestechung ausländischer Amtsträger im internationalen Geschäftsverkehr vom 17.12.1997 27 wurden die Vertragsstaaten verpflichtet, in die Strafbarkeit von Bestechungshandlungen von und gegenüber „ausländischen Amtsträgern“ auch „eine Person, die in einem anderen Staat durch Ernennung oder Wahl ein Amt im Bereich der Gesetzgebung […] innehat“,28 einzubeziehen. Dieser Verpflichtung hat Deutschland durch das Internationale Bestechungsgesetz 29 Rechnung getragen. In dessen Art. 2 § 2 Abs. 1 ist die Strafbarkeit der (aktiven) 30 Bestechung eines ausländischen Abgeordneten im Zusammenhang mit dem internationalen geschäftlichen Verkehr geregelt. Mit einer sehr generalisierenden Umschreibung der Tathandlung („mit seinem Mandat oder seinen Aufgaben zusammenhängende Handlung oder Unterlassung“) 31 geht die Vorschrift dabei über § 108e StGB hinaus, der sich auf eine konkrete, bei einer Wahl oder Abstimmung abzugebende Abgeordnetenstimme bezieht und als ausländische Volksvertretung lediglich das Europäische Parlament in die Regelung mit einbezieht.32 Die (internationale) Bestechung von Abgeordneten ist – im Hinblick auf deren nicht klar abgrenzbaren Pflichtenkreis – auch nicht an eine Pflichtwidrigkeit geknüpft.33 Allerdings erfährt der Tatbestand auf der anderen Seite durch seine Reduzierung auf den vom Täter erstrebten Auftrag oder sonst unbilligen Vorteil „im internationalen Geschäftsverkehr“ eine Einschränkung.34 Er soll auch bei „kleineren Zahlungen“ 26
Vgl. hierzu Möhrenschlager FS Ulrich Weber, S. 217 ff (227 f). Abgedr. in BR-Drs. 269/98; ausführlich Korte wistra 1999, 81 ff (85 mwN). 28 Durch Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4. 29 Vom 10.9.1998, BGBl. II S. 2327, III S. 450-28; vgl. zu diesem Gesetz die Erläuterungen bei Zieschang NJW 1999, 105 ff und Tinkl wistra 2006, 126 ff. 30 Zieschang NJW 1999, 105 (106). 31 Art. 2 § 2 Abs. 1 IntBestG lautet: „Wer in der Absicht, sich oder einem Dritten einen Auftrag oder einen unbilligen Vorteil im internationalen geschäftlichen Verkehr zu verschaffen oder zu sichern, einem Mitglied eines Gesetzgebungsorgans eines ausländischen Staates oder einem Mitglied einer parlamentarischen Versammlung einer internationalen Organisation einen Vorteil für dieses oder einen Dritten als Gegenleistung dafür anbietet, verspricht, oder gewährt, dass es eine mit seinem Mandat oder seinen Aufgaben zusammenhängende Handlung oder Unterlassung künftig vornimmt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.“ 32 BGH NStZ 2006, 389 ff (391); Möhrenschlager in: FS Ulrich Weber, S. 217 ff (228); eine Pönalisierung von pflichtgemäßen Diensthandlungen gemäß § 333 StGB ist nicht vorgesehen, vgl. hierzu Gänßle NStZ 1999, 543 ff (545). 33 BT-Drs. 13/10428, 7; vgl. hierzu auch Pelz StraFo 2000, 300 ff (306); Korte wistra 1999, 81 ff (87). 34 Zur Begründung dieses wirtschaftlichen „Einschlages“ vgl. Korte wistra 1999, 81 ff (85). 27
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nicht zur Anwendung kommen.35 Das Internationale Bestechungsgesetz erfasst deutsche Abgeordnete, wenn sie für eine Organisation tätig sind (z.B. Mitglied des Europäischen Parlaments oder der parlamentarischen Versammlung des Europarates).36 Dass damit die Bestechung ausländischer Abgeordneter in einem weiteren Umfang strafbar ist als die Bestechung deutscher Abgeordneter, wird häufig kritisiert und als weiterer Grund für die Erweiterung des § 108e StGB genannt.37 c) Das Strafrechtsübereinkommen des Europarates über Bestechung vom 27.1.1999,38 auf das (u.a.) die Bundesregierung Deutschlands ihre jüngste gesetzgeberische Initiative für eine Erweiterung der Korruptionsvorschriften stützt,39 überlässt die Definition im Hinblick auf den Amtsträgerbegriff weitgehend den Signatarstaaten (Art. 1a der Konvention). Die Bestechung von Mitgliedern ausländischer und internationaler parlamentarischer Versammlungen wird zwar erwähnt (Art. 4, 6 und 10 i.V.m. Art. 2 und 3 der Konvention). Durch Art. 37 Abs. 1 des Übereinkommens kann allerdings jeder Vertragsstaat sich das Recht vorbehalten, Strafvorschriften, die Abgeordnete betreffen, gar nicht oder nur beschränkt aufzunehmen. Damit enthält das Abkommen keine zwingenden Verpflichtungen für eine über § 108e StGB hinausgehende Strafnorm für die Bestechung bzw. Bestechlichkeit von Abgeordneten.40 d) Die Bundesrepublik Deutschland hat am 9.12.2003 neben den EUPartnern und zahlreichen anderen Staaten die UN-Konvention gegen Korruption unterzeichnet. Die Konvention ist am 16.9.2005 in Kraft getreten.41 Da das deutsche Recht bereits weitgehend den Vorgaben des Übereinkommens entspricht, besteht Einigkeit darüber, dass Änderungen nur in wenigen Bereichen erforderlich sind. Hierzu soll die „Abgeordnetenbestechung“ nach § 108e StGB gehören. Den Buchstaben der Konvention zufolge müsste der Tatbestand des § 108e StGB praktisch durch eine Gleichsetzung von Abgeordneten mit den „Amtsträgern“ i.S. des § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB 42 – und damit um die Miteinbeziehung in die „Amtsträgerdelikte“ der §§ 331 ff StGB erweitert werden. Durch ihre Zustimmung zu der Konvention hat sich die Bundesrepublik Deutschland insoweit gebunden, die erforderlichen Schritte
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BT-Drs. 13/10428, 23. Möhrenschlager FS Ulrich Weber, S. 217 ff (228). 37 Für alle: Korte wistra 1999, 81 ff (87) unter Hinweis auf BT-Drs. 13/10428, 7. 38 ETS Nummer 173; vgl. hierzu Möhrenschlager FS Ulrich Weber, S. 217 ff (228). 39 Gesetzesentwurf der Bundesregierung vom 30.5.2007. 40 Möhrenschlager FS Ulrich Weber, S. 217 ff (229); s. hierzu auch unten, Kap. 4. 41 S. Fn. 5. 42 S. die Definition von „public official“ in Art. 2 der UN-Konvention, die sich sowohl auf „Amtsträger“ nach unserem Verständnis bezieht wie auch auf Abgeordnete; s. auch oben, S. 460. 36
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zur Umsetzung zu ergreifen. Nach der Auffassung von Möhrenschlager 43 ist ihr dadurch eine Vorbehaltslösung, wie sie durch das Europarats-Übereinkommen vom 27.1.1999 eingeräumt wird, mit der Folge, dass es bei der gesetzlichen Regelung in § 108e StGB sein Bewenden haben könnte, jedenfalls „politisch verwehrt“.44 4. Gründe gegen eine Erweiterung der Strafbarkeit der „Abgeordnetenbestechung“ Durch die vom Bundeskabinett am 30.5.2007 beschlossene, nicht unerhebliche Erweiterung des materiellen Korruptionsstrafrechts auch im internationalen Raum wurden unter anderem Vorgaben des Europarats-Übereinkommens vom 27.1.1999 45 und der UN-Konvention vom 16.9.2005 46 umgesetzt.47 Der entsprechende Gesetzesentwurf der Bundesregierung äußert sich jedoch nicht zu den Vorgaben der UN-Konvention im Hinblick auf eine erweiterte Abgeordnetenbestechung. In der Pressemitteilung des Bundesministeriums der Justiz, mit dem der Gesetzesvorschlag vorgestellt wurde, heißt es insoweit lapidar: „Ein Gesetzentwurf zu diesem Bereich wird aus der Mitte des Bundestages vorgelegt werden.“ 48 Was auch immer die Gründe zu dieser gesetzgeberischen Zurückhaltung gewesen sein mögen, es war eine kluge Entscheidung. Die Frage der Notwendigkeit einer Erweiterung der Abgeordnetenbestechung muss mit Bedacht diskutiert und losgelöst betrachtet werden von allen derzeitigen hektischen Bestrebungen im In- und Ausland, Korruption noch mehr und immer weitergehend durch Strafrecht bekämpfen zu wollen. Was im parlamentarischen Umfeld erlaubt und was verboten ist, müssen die Parlamentarier – schon im Interesse der Gewaltenteilung – selbst entscheiden. Und in der „Mitte des Bundestages“ wird hoffentlich die Frage der tatsächlichen Erforderlichkeit einer erweiterten Strafbarkeit ebenso wie die Gefahren einer ausufernden Strafbarkeitsandrohung für Abgeordnete und den Parlamentarismus insgesamt am besten abgeschätzt werden können.
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Vgl. hierzu Möhrenschlager FS Ulrich Weber, S. 217 ff (228). Möhrenschlager FS Ulrich Weber, S. 217 ff (231), deutet die kleine Einschränkung an, dass dies möglicherweise nur die damals unterzeichnende Bundesregierung betreffen könnte. 45 S. oben Kap. 3 Buchst. c). 46 S. oben Kap. 3 Buchst. d). 47 Zu den Kernpunkten der Gesetzesvorschläge vom 30.5.2007 gehört u.a., dass die Bestechlichkeit und Bestechung ausländischer (internationaler) Amtsträger und Richter unter Strafe gestellt wird, sowie dass die Bestechlichkeit und Bestechung im geschäftlichen Verkehr künftig auch außerhalb von so genannten „Wettbewerbslagen“ nach § 299 StGB strafbar ist. 48 Aus Pressemitteilung BMJ vom 30.5.2007. 44
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Festgehalten werden kann aber schon jetzt Folgendes: a) Keine Gleichsetzung der Abgeordneten mit den „Amtsträgern“ i.S. des § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB Eine „Lösung“ dahingehend, die Abgeordnetenbestechung mittels der schlichten Aufnahme der Abgeordneten in den Kreis der „Amtsträger“ i.S. des § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB zu erweitern, damit incidenter dadurch die §§ 331 ff StGB auf die Parlamentarier Anwendung finden, empfiehlt sich nicht. Die Beratungen zur Schaffung des § 108e StGB und zuletzt auch die Begründung, mit der der 5. Strafsenat für die kommunalen Mandatsträger die „Amtsträgereigenschaft“ verneinte,49 haben erschöpfend klargestellt, dass sich strafrechtssystematisch eine Gleichstellung von „Amtsträgern“ und Abgeordneten verbietet. Ihr jeweiliges Tätigkeits- und Aufgabenfeld lässt sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Dem „Amtsträger“ sind durch Gesetze und Verordnungen in Zusammenhang mit seiner Dienstausübung spezielle Pflichten auferlegt, darunter das generelle Verbot, einen Vorteil anzunehmen. An diese Normgebung knüpfen die Bestechungstatbestände der §§ 331 ff StGB an. Demgegenüber fehlt es jedoch beim Abgeordneten an einem dementsprechend konkretisierbaren Pflichtenkreis. Er ist bei der Ausübung seines Mandates allein seinem Gewissen verantwortlich (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG), und eine Gewissensentscheidung lässt sich nicht auf ihre „Pflichtgemäßheit“ überprüfen. Der Abgeordnete ist demgemäß ein „Fremdkörper“ in der Systematik der §§ 331 ff StGB. Bedingt durch die Besonderheiten bei der Handhabung des Abgeordnetenmandates, insbesondere den für den „Lobbyismus“ so typischen „Gegenseitigkeitsgeschäften“ sowie das grundsätzlich 50 fehlende Verbot, Zuwendungen und Entgelte anzunehmen,51 sind keine ausreichend objektivierbaren Kriterien für die in der Praxis so wichtige Unterscheidung zwischen dem sozialadäquaten und dem strafwürdigen Handeln von Parlamentariern vorhanden. Die Annahme von Vorteilen oder die Feststellung von „Gegenseitigkeitsgeschäften“, die bei einem Beamten im Zusammenhang mit dessen Dienstausübung bereits einen begründeten Anfangsverdacht nach den §§ 331ff StGB auslösen können, besagen beim Abgeordneten noch nichts im Hinblick auf eine etwa fehlende soziale Adäquanz.
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NStZ 2006, 389 ff (392). Unzulässig ist nur die Annahme von Vorteilen, die nur deshalb gewährt werden, weil damit die Vertretung oder Durchsetzung der Interessen des Leistenden erwartet wird, oder die ohne angemessene Gegenleistung des Abgeordneten gewährt werden (§ 44a Abs. 2 AbgG). 51 Es existieren vielmehr nach § 44a AbgG weitreichende Anzeigepflichten; vgl. hierzu auch die Anzeigepflichten nach den gem. § 44b AbgG beschlossenen Verhaltensregeln in Anlage 1 der Geschäftsordnung des BT i.V.m. den Ausführungsbestimmungen zu diesen Verhaltensregeln i.d.F. v. 12.7.2005, BGBl. I S. 2512. 50
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Dies bedeutet aber, dass die von der UN-Konvention vorgesehene Gleichstellung von Amtsträgern und Abgeordneten im deutschen Rechtssystem nicht zu verwirklichen ist. Es fehlt schon vom Ansatz her an der dafür nötigen Kohärenz. In einem solchen Fall kann ein Vertragsstaat aber nicht gezwungen werden, die von der UN-Konvention vorgesehene Gleichsetzung von Amtsträgern und Abgeordneten unmittelbar in sein Recht zu übertragen.52 b) Keine „Lösung“ mit Hilfe der „Verwerflichkeitsklausel“ Aber auch, wenn man – wie Möhrenschlager 53 – davon ausgeht, dass der durch die UN-Konvention vorgegebenen völkerrechtlichen Verpflichtung zur Gleichstellung von Abgeordneten mit den „Amtsträgern“ auch durch einen um die Diktion der §§ 331ff StGB erweiterten Tatbestand des § 108e StGB entsprochen werden könnte, führte dies zu keiner auch nur annährend zufrieden stellenden Lösung. Unstimmigkeiten mit der Bestimmtheitsklausel des Art. 103 Abs. 2 GG sind vorprogrammiert. Dies lässt sich am Beispiel des kürzlich von der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vorgelegten Gesetzesentwurfs für einen erweiterten § 108e E-StGB gut veranschaulichen. Anknüpfungspunkt für die Strafbarkeit in § 108e E-StGB ist dabei ersichtlich in Anlehnung an die §§ 332 und 334 StGB der „rechtswidrige Vorteil“, der dem Abgeordneten als Gegenleistung für die „Ausübung seines Mandates in der Volksvertretung oder im Gesetzgebungsorgan“ versprochen oder von ihm gefordert oder angenommen wird. Der „rechtswidrige Vorteil“ wird seinerseits in § 108e Abs. 3 E-StGB dahin definiert, dass er vorliegt, „wenn seine Verknüpfung mit der Gegenleistung als verwerflich anzusehen ist“.54 52 Möhrenschlager FS für Ulrich Weber, S. 217 ff (231); Zieschang NJW 1999, 105 ff (107). 53 Möhrenschlager FS für Ulrich Weber, S. 217 ff (231) denkt an die Einführung einer „Art Generalklausel in Anlehnung an das IntBestG“. 54 Im Wortlaut: „§ 108e Bestechlichkeit und Bestechung der Mitglieder von Volksvertretungen (1) Wer als Mitglied 1. einer Volksvertretung des Bundes, der Länder, Gemeinden oder Gemeindeverbände oder 2. eines Gesetzgebungsorgans eines ausländischen Staates, des Europäischen Parlaments oder einer parlamentarischen Versammlung, einer sonstigen internationalen Organisation einen rechtswidrigen Vorteil für sich oder einen Dritten als Gegenleistung dafür fordert, sich versprechen lässt oder annimmt, dass es in Ausübung seines Mandates in der Volksvertretung oder im Gesetzgebungsorgan eine Handlung zur Vertretung oder Durchsetzung der Interessen des Leistenden oder eines Dritten vornehme oder unterlasse, wird mit Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (2) Ebenso wird bestraft, wer einem Mitglied 1. einer Volksvertretung des Bundes […] 2. […]
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Den Entwurfsverfassern ist damit eine den Anforderungen der Praxis genügende Grenzziehung zwischen einem legalen und einem rechtswidrigen Tun nicht gelungen. Insbesondere ist die in Form einer Legaldefinition vorgenommene Umschreibung des „rechtswidrigen Vorteils“ in (vermeintlicher) Anlehnung an die „Verwerflichkeitsklausel“ des § 240 Abs. 2 StGB 55 nicht weiterführend. Mit einer Definition, wonach der „rechtswidrige Vorteil“ dann strafbar ist, wenn er „verwerflich“ ist, ist nichts gewonnen. Es fehlen (deskriptive) Merkmale, die die Frage beantworten, wie denn nun konkret die Vorteile beschaffen sein müssen, damit sie bei deren Annahme beim einem Abgeordneten die Verwerflichkeit – und warum – auslösen. Die von den Entwurfsverfassern gewünschte Parallele zur „Verwerflichkeitsklausel“ des § 240 Abs. 2 StGB „hinkt“ deshalb. Es wurde offenbar nicht gesehen, dass der beim Nötigungsdelikt tatbestandsmäßig sehr weite Schutz der Freiheit der Willensentschließung durch die „Verwerflichkeitsklausel“ des § 240 Abs. 2 StGB („Mittel-Zweck-Relation“) nur deshalb die erforderliche Einschränkung erfährt, weil in § 240 Abs. 2 StGB konkrete Nötigungsmittel („Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels“) benannt sind, die in Verbindung mit dem Nötigungszweck („zu dem angestrebten Zweck“) eine Grundlage zur Beurteilung bieten, ob die betreffende Handlung von der Rechtsordnung gebilligt wird oder nicht.56 Vergleichbare erläuternde Merkmale fehlen aber in dem Gesetzesvorschlag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Die Entwurfsverfasser mögen sich damit trösten, dass auch frühere Versuche, mittels bloßen Verweises auf die „Verwerflichkeitsklausel“ nach § 240 Abs. 2 StGB zur Strafbarkeitseinschränkung bei der Abgeordnetenbestechung zu gelangen, sich nicht durchsetzen konnten.57
(3) Ein rechtswidriger Vorteil liegt vor, wenn seine Verknüpfung mit der Gegenleistung als verwerflich anzusehen ist. (4) Einem Mitglied im Sinne der Absätze 1 und 2 steht eine Person gleich, die sich um ein Mandat in einer Volksvertretung oder einem Gesetzgebungsorgan bewirbt. (5) Neben einer Freiheitsstrafe von mindestens 6 Monaten wegen einer Straftat nach den Absätzen 1 bis 3 kann das Gericht die Fähigkeit, Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen und das Recht, in öffentlichen Angelegenheiten zu wählen oder stimmen, aberkennen.“ 55 Siehe die Begründung des Entwurfs der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. 56 Instruktiv hierzu schon Schulze JZ 1973, 485 ff (487). 57 Vgl. hierzu Dölling Gutachten zum 61. DJT, C 83 mwN; Schulze 1973, 485 ff (487); de With Kriminalistik 1997, 400 ff. Auf der gleichen Linie liegen die Überlegungen Möhrenschlagers FS Ulrich Weber, S. 217 ff (232), § 108e StGB durch eine Art Generalklausel dahingehend zu ergänzen, dass in Anknüpfung an das internationale Bestechungsgesetz neben der Strafbarkeit des Wahl- oder Stimmenkaufs auch mit den §§ 331 ff StGB vergleichbare z.B. „nicht gebührende Vorteile“ im Zusammenhang mit dem Abgeordnetenmandat erfasst werden. Er bemerkt hierzu selbst, dass aus Gründen der Bestimmtheit mit Kritik vor allem seitens der Parlamentarier zu rechnen sein dürfte.
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c) Akzessorische Anbindung an das Abgeordnetengesetz – zu unbestimmt Die insbesondere von Möhrenschlager angestellten Überlegungen,58 bei den Abgeordneten in Form eines „akzessorischen“ Rückgriffs die nach dem Abgeordnetengesetz und der Geschäftsordnung des Bundestages (und in ähnlichen Regelungen von Landtagen) vorgesehenen Verhaltensregeln 59 als Strafbarkeitskriterien heranzuziehen, liegen aufgrund des Urteils des BGH zu den „Drittmitteln“ 60 zwar nahe, führen aber – wie Möhrenschlager im Ergebnis selbst einräumt – hier nicht weiter. Der BGH hatte sich in seinem Urteil über die Einwerbung von Forschungsgeldern („Drittmitteln“) im universitären Bereich in Abgrenzung zur Vorteilsannahme nach § 331 StGB entschieden, dass bei Beachtung aller für die Einwerbung in den jeweiligen (Landes)Hochschulgesetzen vorgesehenen gesetzlichen Bestimmungen die Annahme derartiger „Vorteile“ durch „Amtsträger“ vom Tatbestand des § 331 StGB nicht erfasst und damit straflos ist. Diese Möglichkeit einer „akzessorischen“ Tatbestandseinschränkung bietet sich bei den Abgeordneten aber nicht. Die Verhaltensregeln, die sich der Bundestag selbst gibt (§ 44b AbgG), betreffen zu ihrem weitaus überwiegenden Teil die Ausgestaltung und Handhabung von Anzeige- und Rechnungsführungspflichten über Zuwendungen und Einkünfte von Abgeordneten (§ 44b Ziff. 1 bis 3 AbgG).61 Der frühere § 9 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages, der unter der Überschrift „Unzulässige Bezüge“ eine nur sehr allgemein gehaltene Beschreibung enthielt,62 wurde im Jahr 2005 aufgehoben.63 Soweit nach § 44a Abs. 2 Satz 2 und 3 AbgG die Annahme von Vorteilen unzulässig ist, die nur deshalb gewährt werden, „weil dafür die Vertretung oder Durchsetzung der Interessen des Leistenden im Bundestag erwartet wird “, oder wenn der Annahme von Geld keine „angemessene Gegenleistung des Mitglieds des Bundestages“ gegenübersteht, fehlt es an einer ausreichenden Bestimmtheit. Dies gilt sowohl für das Kriterium der „Vertretung von Interessen“ (sowie der entsprechenden „Erwartung“), was stets auch Teil des (erlaubten) Lobbyismus ist, wie auch für das schon begrifflich wenig fassbare Merkmal der „Angemessenheit der Gegenleistung“.
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Möhrenschlager FS Ulrich Weber, S. 217 ff (232). Z.B. die „Verhaltensregeln für Mitglieder des Deutschen Bundestages“, Anlage 1 zur „Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages“, v. 2.7.1980, BGBl. I S. 1237, zuletzt geändert am 26.9.2006, BGBl. I S. 2210. 60 NJW 2002, 2801 m. Anm. Michalke NJW 2002, 3381 ff. 61 Vgl. hierzu auch die Entscheidung des BVerfG vom 4.7.2007 – 2 BvE 1/06, mit der die Verpflichtung zur Offenlegung sämtlicher Bezüge der Abgeordneten aus Nebentätigkeiten für verfassungsgemäß erklärt wurde. 62 „keine anderen als die gesetzlich vorgesehenen Zuwendungen oder andere Vermögensvorteile“. 63 BGBl. I S. 2512. 59
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d) Rückbesinnung auf § 108e StGB in der geltenden Fassung Es ist also absehbar, dass es nicht gelingen wird, über § 108e StGB hinausgehend eine für die strafrechtliche Praxis handhabbare und für den Parlamentarismus unschädliche Grenzziehung von zulässigem und strafwürdigem Verhalten bei der Annahme von „Vorteilen“ durch Abgeordnete zu finden.64 Man sollte deshalb noch einmal den Blick auf § 108e StGB in der derzeitigen Fassung werfen. Das „dogmatische Potential“ der Deliktsvorschrift scheint nicht zuletzt unter Berücksichtigung der vom 5. Strafsenat in seiner o.a. Entscheidung enthaltenen Auslegungshinweise zu § 108e StGB bislang weitgehend unerkannt zu sein. § 108e StGB schützt das öffentliche Interesse an der Integrität parlamentarischer Prozesse und an der Unabhängigkeit der Mandatsträger sowie der Sachbezogenheit ihrer Entscheidungen.65 Soweit ihm Kritiker entgegenhalten, das Delikt greife zu spät, nämlich erst dann, wenn der Abgeordnete gegen Entgelt im Plenum abgestimmt habe,66 wird übersehen, dass die Ausgestaltung des Tatbestands als „Unternehmensdelikt“ nach § 11 Abs. 1 Ziff. 6 StGB bereits mit dem Versuch weit im Vorfeld des eigentlichen Stimmenkaufs vollendet ist.67 Damit kann der Tatbestand des § 108e StGB auch schon vor und unabhängig von einem tatsächlich getätigten Abschluss einer Unrechtsvereinbarung verwirklicht werden. Über die Versuchsstrafbarkeit werden im Übrigen alle auch in den §§ 331ff StGB genannten Tathandlungen des Forderns, Anbietens, Versprechens und Versprechenlassens eines Vorteils für den Stimmenkauf erfasst.68 Das „Unternehmensdelikt“ weist daneben die Besonderheit auf, dass die für die „echte“ Versuchsstrafbarkeit vorgesehenen Vergünstigungen und Milderungsmöglichkeiten nicht anwendbar sind. Es ist nach hM weder ein Rückritt (§ 24 StGB) noch eine Strafmilderung (§ 23 Abs. 2 StGB) möglich.69 Damit kommt der Versuchsstrafbarkeit praktisch ein selbständiger Deliktscharakter zu. Wenn dann § 108e StGB auch noch, wie es die hM im Schrifttum fordert,70 auf die Stimmabgabe in Ausschüssen, Kommissionen und Fraktionen anwendbar ist, ist nahezu das gesamte Vorfeld der eigentlichen Abstimmung in den Parlamenten in den strafrechtlichen Schutzzweck mit einbezogen. Schließlich ist die Strafandrohung des § 108e StGB mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren identisch mit der der Bestechungsdelikte und liegt
64 Tröndle/Fischer 54. Aufl., Rn 3 zu § 108e StGB, weisen darauf hin, dass die Kritik zumeist offen lässt, „welche strafrechtlichen Regeln dieses Defizit beheben könnten“. 65 BT-Drs. 12/11699; Tröndle/Fischer 54. Aufl., Rn 2 zu § 108e StGB. 66 So z.B. Schaupensteiner Kriminalistik 2003, 9. 67 Tröndle/Fischer 54. Aufl., Rn 10 zu § 108e StGB. 68 BGHSt 15, 88 ff (97). 69 Tröndle/Fischer 54. Aufl., Rn 28 ff zu § 11 StGB. 70 Vgl. Fn. 1.
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über der für die Vorteilsannahme bzw. -gewährung. Wenn es demgemäß in der Kommentierung von Tröndle/Fischer 71 heißt: „Die weite Vorverlagerung der Vollendungsgrenze führt daher zu weitreichenden Ahndungsmöglichkeiten korruptiven Verhaltens, welche weder den pauschalen Unwirksamkeits-Vorwurf noch die erstaunliche Zurückhaltung von Ermittlungsbehörden rechtfertigen“, ist dem nur beizupflichten. Von daher passt auch die Klage des 5. Strafsenats über eine im Hinblick auf § 108e StGB nur „symbolische“ Gesetzgebung, die weit hinter der übrigen Entwicklung im Korruptionsstrafrecht zurückbleibe, nicht ins Bild. Der Ruf nach dem Gesetzgeber erstaunt auch deshalb, weil der Senat in derselben Entscheidung über seine Hinweise an die nächste Instanz zur Anwendbarkeit des § 108e StGB mehr als deutlich macht, dass der Freispruch des Stadtverordneten vom Vorwurf nach den §§ 331ff StGB gute Aussichten hat, durch eine Verurteilung nach § 108e StGB „aufgefangen“ zu werden. Es tauchen in diesen Hinweisen einige aus dem Korruptionsstrafrecht für die „Amtsträger“ wohlbekannte und bedenklich weitgehende „Beweisregeln“ auf, darunter z.B., dass an die Feststellungen einer zumindest konkludenten Unrechtsvereinbarung bei den Abgeordneten keine höheren Anforderungen als bei den Bestechungsdelikten für die „Amtsträger“ zu stellen sind; dass es genügt, wenn dem Empfänger ein Vorteil zumindest auch um eines bestimmten künftigen Abstimmungsverhaltens Willen zugute kommen soll; dass das Abstimmungsverhalten nach seinem sachlichen Gehalt nur in groben Umrissen festgelegt sein muss, und dass bei längerfristigen Zuwendungen im Sinne eines Anfütterns eine Unrechtsvereinbarung nahe liege, wenn sich die erwartete Gegenleistung konkretisiere. Unter Heranziehung der für das „Unternehmensdelikt“ mit einzubeziehenden Versuchsstrafbarkeit ergeben sich damit in ihrer Reichweite den Korruptionsbestimmungen nahezu gleichgestellte Strafbarkeitsvoraussetzungen. Damit lassen sich aber (nicht nur) im Hinblick auf die Anforderungen der UN-Konvention eine Reihe von tragfähigen Gründen dafür ins Feld führen, dass mit § 108e StGB in der derzeit geltenden Fassung die Bestechung bei Abgeordneten nicht nur in ihrer gravierendsten Form des „Stimmenkaufs“, sondern darüber hinaus weit im Vorfeld derartiger Vorhaben unter Strafe gestellt ist. Im Vergleich zu dem, was durch das Internationale Bestechungsgesetz an Tatbestandsvoraussetzungen bemüht wurde, sollte dabei auch nicht übersehen werden, dass Art. 2 § 2 IntBestG mit seiner Beschränkung der Abgeordnetenbestechung auf „Vorteile im internationalen geschäftlichen Verkehr“ und der nicht erfassten „passiven“ Bestechung hinter der Reichweite des § 108e StGB zurückbleibt.72
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Rn 10 zu § 108e StGB. Dölling aaO und Gänßle NStZ 1999, 543 (547).
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Aber auch wenn mit § 108e StGB dann immer noch nicht das ohne jeden konkreten Zusammenhang mit einem Stimmenkauf getätigte „Anfüttern“ eines Abgeordneten strafbar ist, ist jedoch gemessen an der Problematik, die eine noch weitergehende Strafbarkeit zur Folge hätte, die Beibehaltung der derzeitigen Regelung die bessere Entscheidung. Der Parlamentarismus hat ein flächendeckendes Strafrecht als Moralinstanz nicht nötig. Die nach dem Abgeordnetengesetz vorgesehenen Anzeigepflichten über Zuwendungen und Verdienste 73 sorgen für die notwendige Transparenz und setzen die Volksvertreter (auch der anderen Fraktionen) in die Lage, einseitige Interessenvertreter zu entlarven und mit parlamentarischen Mitteln zu bekämpfen. Und schließlich gibt es auch noch die Wähler, die ein entscheidendes Wort mitzureden haben. Die Gefahren, die demgegenüber von einem ausufernden Strafrecht ausgehen, hat bereits der historische Gesetzgeber anschaulich dargestellt. Wenn nicht mehr unterschieden werden kann, wo im politischen Leben die Grenze zwischen dem Legalen und dem Illegalen zu ziehen ist, steigt das Risiko, dass das Strafrecht zum Spielball für politische Machtintrigen missbraucht wird. In unserer Mediengesellschaft reicht dazu bereits die bloße Bezichtigung mit einer vermeintlichen Straftat. Bis sich – oftmals über langwierige Ermittlungen – herausstellt, dass die Beschuldigung unhaltbar war, nützt dies dem Betroffenen nichts mehr. Der Ruf nach dem Strafrecht hat derzeit Konjunktur. Es soll als vermeintliche „Wunderwaffe“ oder je nach dem, als ubiquitär wirkendes „Allheilmittel“ – oder als beides zusammen – unsere Gesellschaft säubern und sichern, die Wirtschaft regeln und in Schach halten, die „Volksgesundheit“ schützen, das Zusammenwachsen Europas erst ermöglichen und jetzt auch noch flächendeckend für die Moral in der Politik sorgen. Rainer Hamm hat in zahlreichen Schriften, Aufsätzen und Vorträgen die Gefahren einer solchen Entwicklung nachdrücklich vor Augen geführt.74 Sie ist die Ursache dafür, dass die Justiz bereits seit geraumer Zeit heillos überfordert ist und im
73 Vgl. hierzu auch die Entscheidung des BVerfG vom 4.7.2007 – 2 BvE 1/06 – über die Verpflichtung der Abgeordneten zur Offenlegung ihrer Nebentätigkeitsbezüge. 74 U.a.: „Kann der Verstoß gegen Treu und Glauben strafbar sein?“, NJW 2005, 1993 ff; „Deutschland – ein Fall für den Staatsanwalt?“, NJW 2004, 1301 ff; „Innere Sicherheit – Terrorismusbekämpfung auf Kosten der Freiheit“, Schriftenreihe des Adolf-Arndt-Kreises, 2003, Bd. 1, S. 45 ff; „Ein Fall von symbolischem Strafrecht: Graffitigesetz“ in: Albrecht, Denninger u.a. (Hrsg.) Sonderheft KritV Winfried Hassemer zum sechzigsten Geburtstag, Baden-Baden 2000, S. 56 ff; „Auch das noch: Strafrecht für Verbände“, NJW 1998, 662; „Missbrauch des Strafrechts“, NJW 1996, 325 ff; „Die alltäglichen Gesetzesumgehungen durch die Strafjustiz“ in: „Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts“, Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien, Bd. 50, 1995, S. 367 ff; „Empfehlen sich Änderungen im strafrechtlichen Umweltschutz“, Referat auf dem 57. DJT in Mainz 1988, Referat, S. 61 ff.
Abgeordnetenbestechung (§ 108e StGB)
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Alltag ihr Pensum nicht mehr erfüllen kann. Und weil ja das bisherige Strafrecht „versagt“, ist der Ruf nach noch mehr Strafrecht die Folge. Ein Ende der Spirale ist nicht absehbar, und „Lösungen“ hierdurch auch nicht. Wenn die Abgeordneten „aus ihrer Mitte“ heraus über die Frage eines neuen und erweiterten Korruptionsstrafrechts entscheiden, sollten sie sich tunlichst davor hüten, durch letztendlich in der Praxis nicht handhabbare Vorschriften „symbolisches“ Strafrecht auf den Weg zu geben. Es könnte sie dem Verdacht aussetzen, gerade in den eigenen Reihen auf ein nicht funktionierendes Strafrecht zu setzen. Und wem dies nicht Gefahr genug ist, dem sei versichert: für einen Anfangsverdacht der Abgeordnetenbestechlichkeit, die Einleitung von entsprechenden Ermittlungen und deren jahrelange Dauer eignet sich auch (und gerade) ein „symbolisches“ Strafrecht.
Zur Kontinuität des Antisemitismus der Schuldabwehr Jenny Miller-Hamm
Anlass, mich näher mit Antisemitismus im gegenwärtigen Deutschland zu befassen, gab mir die Rede des Schriftstellers Martin Walser, die er zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1998 in der Frankfurter Paulskirche hielt. In dieser Rede wurde von einer in der Öffentlichkeit stehenden Person der Wunsch vorgetragen, man möge den Holocaust nicht ständig zum Thema machen. Walser 1 sprach von einer „Dauerrepräsentation unserer Schande“, und davon, dass er sich von „den Medien“ und „Intellektuellen“ mit einer „Moralkeule“ bedroht fühle. Hinter dieser „Dauerrepräsentation“ vermutete er eine „Instrumentalisierung unserer Schande zu gegenwärtigen Zwecken“ und einen dieser Zwecke sah er darin, „alle Deutschen“ zu verletzen, obwohl diese doch nur ein „normales Volk“ sein wollten. Walser, so wurde deutlich, will nicht mehr mit den Verbrechen der Deutschen 2 konfrontiert werden, sieht sich aber von anderen dazu genötigt. Mit seiner Rede hatte er offenbar ausgesprochen, was der Großteil seiner Zuhörer dachte, denn sie applaudierten ihm mit stehenden Ovationen. Zwei der wenigen, die nicht applaudierten, waren der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Bubis, und seine Frau. Bubis bezeichnete die Rede Walsers als die eines „geistigen Brandstifters“, woraufhin eine öffentliche Diskussion darüber entbrannte, ob sich Bubis eine solche Äußerung überhaupt erlauben könne und ob Walsers Rede antisemitisch sei oder nicht. Während die einen davon überzeugt waren, dass Walser keine antisemitischen Äußerungen vorgebracht habe – schließlich rede ein Antisemit ja schlecht von Juden, was Walser nicht getan hatte –, fühlten sich die anderen, vor allem jüdische Deutsche, durch die Aussagen befremdet und bedroht. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, wie man diese unterschiedliche Wahrnehmung bezüglich der Forderung nach einem Schlussstrich unter die deutsche Vergangenheit erklären kann. Wie kommt es, dass
1 Alle Zitate nach Martin Walser Erfahrungen beim Verfassen einer Sonntagsrede, in: Frank Schirrmacher (Hrsg.) Die Walser-Bubis-Debatte, Frankfurt am Main, 1999, S. 7 ff. 2 Wenn ich im Folgenden von den Deutschen spreche, sind die nichtjüdischen Deutschen gemeint.
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ein ganzes Auditorium einem Schriftsteller applaudiert, der sagt, die Deutschen hätten ein Recht auf ein normales Leben. Lebt es sich in Deutschland nicht normal? Was ist mit dieser Normalität gemeint und wie kommt es, dass dieser Wunsch mit einer solchen Heftigkeit geäußert wird, so als gäbe es jemanden, gegen den man sich wehren müsste? Und wie kommt es, dass ein doch so harmlos anmutender Wunsch nichtjüdischer Deutscher, normal leben zu wollen, eine Bedrohung für jüdische Deutsche darstellt? Offenbar lag hier etwas in den Äußerungen Walsers, das, ohne dass er das bewusst intendiert hätte, andere dennoch Antisemitisches assoziieren ließ.
Die Post-Holocaust-Zeit und der Wunsch nach einem Strich darunter Um besser verstehen zu können, welche Gründe der Wunsch nach einem Ende der Auseinandersetzung mit der Shoah haben könnte, interessierte mich zunächst, wann dieser Wunsch in der deutschen Öffentlichkeit erstmals aufgetreten ist. Interessanterweise wurden Forderungen nach einem „Schlussstrich unter die Vergangenheit“ bereits zu einem Zeitpunkt laut, zu dem diese verbrecherische Vergangenheit noch kaum vergangen war – in der Nachkriegs-, oder besser, Post-Holocaust-Zeit.3 Bereits zu Beginn der fünfziger Jahre belegten Adorno und seine Mitarbeiter, dass der „Wunsch nach einem Strich darunter“ in der deutschen Bevölkerung groß sei.4 Adorno erklärte sich diesen Wunsch damit, dass man sich durch das Vermeiden der Erinnerung der Konfrontation mit dem Gedanken an die eigene Schuld entziehen wolle. Die Unfähigkeit, die Schuldgefühle wegen der begangenen Verbrechen durchzuarbeiten und ins Ich zu integrieren, stehe neben dem Drang, von der besonderen Verantwortung, die aus der Shoah resultiert, entlastet zu werden, um sich auf diese Weise ungebrochen mit der deutschen Nation identifizieren zu können. Adorno sah den Abwehrmechanismen die Einsicht zugrunde liegen, dass das, was man begangen habe, unrecht sei und man es deshalb ablehne. Er war der Ansicht, dass derjenige, der die Vergangenheit aus seinem Bewusstsein verbanne, sehr genau um diese Vergangenheit wissen müsse, diese also bewusst verleugne um sich ungestört der Gegenwart hingeben zu können.5 3 Mit Rensmann Kritische Theorie über den Antisemitismus, Berlin 1998, S. 9, kann man sagen, dass die abstrakt beliebige Kategorie des Krieges im Zusammenhang mit der Antisemitismusforschung nach 1945 die weniger relevante Bezugsgröße darstellt als der Holocaust. 4 Adorno Schuld und Abwehr. Eine qualitative Analyse zum Gruppenexperiment (1955), in: Gesammelte Schriften 9.2, Frankfurt am Main 1975, S. 261. 5 Adorno Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit (1959), in: Gesammelte Schriften 10.2, Frankfurt am Main 1997, S. 105 ff.
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Während Adorno die psychologischen Voraussetzungen zur Erinnerungsabwehr im Vorbewusstsein, in den latenten Einstellungen, verortet, sahen die Psychoanalytiker Alexander und Margarete Mitscherlich 6 die Verhaltensweisen der Deutschen in hohem Maße von unbewusst wirksam gewordenen Verleugnungen bestimmt. Anders als Adorno sahen sie die „Tilgung der Erinnerung“ nicht als eine Leistung des wachen Bewusstseins, sondern als ein unbewusst verlaufendes Geschehen. Abgewehrt werden müsse neben der Erinnerung an die Schuld vor allem die Trauer um den erlittenen Verlust des Führers und des nationalsozialistischen Systems. Hitler sei zur Verkörperung des eigenen Ichideals geworden. Nach seinem Sturz sei die wichtigste kollektiv geübte Abwehrhaltung, die man unter den Deutschen beobachten könne, der Rückzug der Besetzungsenergien aus all den Vorgängen, die mit der Begeisterung am „Dritten Reich“ zu tun gehabt hätten. Zwar betonen auch die Mitscherlichs die gesellschaftspolitische Funktion der Abwehrmechanismen, wenn sie sagen, diese hätten es den Deutschen ermöglicht, sich ganz dem Wirtschaftswachstum zu widmen, sie sehen die Abwehrmechanismen allerdings als unvermeidbar an, als „reflektorisch ausgelösten Selbstschutzmechanismus“.7 Nur durch eine Derealisierung der Vergangenheit könne eine traumatische Ich- oder Selbstverarmung verhindert werden.
Traumatisierte Täter? In den letzten zwanzig Jahren wurde die Frage, ob Traumatisierungen zu den Abwehrmechanismen vieler Nazi-Täter geführt haben könnten, wieder verstärkt diskutiert. Nach Bohleber 8 könnten die Annahmen der Mitscherlichs heute, unter Zuhilfenahme des erweiterten Wissens über Traumatisierungen, besser nachvollzogen werden. Da Äußerungen von nichtjüdischen Deutschen über ihre nationalsozialistische Vergangenheit und über die Shoah oft von großer Affektlosigkeit und äußerst schlechter Erinnerung begleitet waren, versprach man sich ein besseres Verständnis dieser Phänomene aus den Ergebnissen der Untersuchung Traumatisierter. Auch bei Traumatisierten ist die Erinnerung an ihre Vergangenheit und ganz besonders an das traumatische Ereignis, wenn überhaupt, nur sehr schwer zugänglich und oft von Affektarmut begleitet. Nach Bohleber 9 könnten neben der Abwehr von Schuld und Scham auch die Folgen von Traumatisierungen zu Verdrängung und Verleugnung führen. 6
(1967) in: Die Unfähigkeit zu trauern, München 2001. (1967) in: Die Unfähigkeit zu trauern, München 2001, S. 38. 8 Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse, Psyche 54 (2000), S. 797 ff. 9 Trauma, Trauer und Geschichte, in: Leuziger-Bohleber/Schmied-Kowarzik (Hrsg.) Gedenk und vergiss – im Abschaum der Geschichte. Trauma und Erinnern, Tübingen 2001, S. 49 ff. 7
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Neben der schlechten Erinnerung und einem Mangel an Affekt ist es charakteristisch für das Erleben Traumatisierter, dass die Unmittelbarkeit des traumatischen Ereignisses erst nachträglich voll erlebbar wird. Auch unter den Nazi-Tätern war häufig eine nachträgliche Reaktion auf Nationalsozialismus und Shoah festzustellen. Bei vielen haben die Erlebnisse während dieser Zeit oft erst in dem Moment traumatisierend gewirkt und Symptome ausgelöst, in denen die Betroffenen erneut, zu einem späteren Zeitpunkt, mit ihnen konfrontiert wurden. Es war zu beobachten, dass die Erinnerung an das traumatische Ereignis stärker wirken kann – stärker erregend und insofern traumatischer – als das erste Ereignis. Die nachträgliche Konfrontation mit den Verbrechen, die fast immer von außen kommen musste, da die innere Abwehr gegen die Erinnerung zu groß war, ließ Traumatisierungen unter den Tätern oft überhaupt erst erkennen.10 Die jüngste Traumaforschung kommt also zu dem Ergebnis, dass ein Affektmangel, ein schlechtes Erinnerungsvermögen und nachträglich auftretende Symptome bei vielen Deutschen unter Bezugnahme auf Traumatheorien besser verständlich würden. Zumindest kann festgehalten werden, dass sich „die seelische Abwehr von Schuld und Scham und die Folgen von Traumatisierungen durchdringen und vermischen“.11 Worin mögliche Traumatisierungen bei den Tätern bestanden haben könnten, wird sehr unterschiedlich begründet. Typische Kriegserlebnisse wie Bombardierungen und der Verlust von Familie und Heimat, denen auch die Deutschen ausgesetzt waren, bedeuten für alle Kriegsteilnehmer traumatisierende Zustände. Juelich 12 erachtet allerdings in erster Linie – wie bereits die Mitscherlichs – den Zusammenbruch des NS-Regimes als traumatisierend für die Deutschen, weil er zu einer narzisstischen Entwertung des eigenen Selbst geführt habe. Es sei nicht nur der Versuch gescheitert, die eigenen ungeliebten Anteile – die auf die Juden projiziert worden waren – für immer loszuwerden, sondern es sei auch die für diesen Vorgang benötigte ungeheuerliche Destruktivität sichtbar geworden. Die Frage, inwieweit es sinnvoll ist, bei den Tätern nach Traumatisierungen zu fragen, bleibt offen. Einerseits kann Trauma, verstanden als ein empirisch klinischer Begriff, möglicherweise helfen, die Verhaltensweisen vieler Deutscher besser nachvollziehen zu können, andererseits bleibt der Gebrauch dieses Begriffs besonders bei deutschen Tätern, bei denen die Grenzen zwischen Abwehr und Traumatisierungen verschwimmen können, problematisch. 10 Hardtmann Lebensgeschichte und Identität, in: Straub/Grünberg (Hrsg.) Unverlierbare Zeit, Tübingen 2001, S. 39 ff. 11 Bohleber (Fn 9) S. 60. 12 Erlebtes und ererbtes Trauma, in: Schreier/Heeyl (Hrsg.) Dass Auschwitz nicht noch einmal sei …“, Hamburg 1995, S. 83 ff.
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Es muss deutlich bleiben, dass, wenn über die Frage nachgedacht wird, ob dem Verhalten der Täter traumatische Störungen zugrunde liegen könnten, dies nicht deshalb geschehen soll, um die Traumatisierungen der Täter mit denen der Opfer der Shoah gleichzusetzen oder um die Frage von Schuld und Verantwortung zu ersetzen.
Transgenerationelle Weitergabe des Erlebten Die Traumaforschung ist im Zusammenhang mit diesem Thema nicht nur deshalb von Bedeutung, weil sie zum Verständnis des Verhaltens der Täter beiträgt, sondern auch deshalb, weil sie weitreichende Ergebnisse zur transgenerationellen Weitergabe der Folgen der Shoah zur Verfügung stellt. Im Folgenden soll die „zweite“ und „dritte“ Generation 13 betrachtet und der Frage nachgegangen werden, inwieweit das Erbe der vorausgehenden Generationen von den folgenden aufgenommen und verarbeitet wird. Die Forschungen zu den Folgen der Shoah für die nachfolgenden Generationen begannen in den sechziger Jahren zunächst in Bezug auf die Nachkommen der überlebenden Opfer des Nationalsozialismus. In diesen Forschungsarbeiten wurde bei Kindern von Überlebenden das Auftreten von Symptomen beschrieben, die im Verhalten und Erleben ihrer Eltern während der Verfolgungszeit besondere Bedeutung hatten. Das Trauma, das die Opfer der Nationalsozialisten erlitten, schlug sich im Leben ihrer Kinder als „organisierender Faktor“ 14 nieder. Durch diese Forschungen inspiriert wurden seit den achtziger Jahren auch die Folgen von Nationalsozialismus und Krieg für die Täter vermehrt Gegenstand psychoanalytischer Betrachtungen. Während man bei den Kindern jüdischer Überlebender von einem „indirekten Trauma“ 15 ausgehen kann, also einem Trauma der Eltern, das sich im Leben der Kinder eingenistet hat, leiden die Kinder von Nazi-Tätern und Mitläufern meistens nicht unter deren weitergegebenen Traumatisierungen, sondern unter deren verschwiegener Schuld. 13 Nach Rüsen Holocaust-Erfahrung und deutsche Identität, in: Bohleber/Drews (Hrsg.) Die Gegenwart der Psychoanalyse. Die Psychoanalyse der Gegenwart, Stuttgart 2001, S. 95 ff, könne man die Zeit nach dem Krieg anhand der Wendezeiten 1968 und 1989 in drei Phasen ordnen und jeder Phase jeweils eine Generation zuordnen: Die Kriegs- und Wiederaufbaugeneration, die Nachkriegsgeneration und die Generation ihrer Kinder. Rüsen sieht diese Zeitphasen als idealtypische Konstruktionen, mit denen sich charakteristische einzelne Züge zeitspezifisch bezeichnen und hervorheben ließen, wobei die drei Epochen in einem „komplexen Überlappungsverhältnis“ stünden und nicht so zu verstehen seien, als könne man nur dem „Eigenschaftsbündel“ des einen und nicht des anderen angehören. 14 Bergmann/Jucovy/Kestenberg Kinder der Opfer – Kinder der Täter (1982), Frankfurt am Main 1998, S. 51. 15 Grubrich-Simitis Vom Konkretismus zur Metaphorik, Psyche 38 (1984), S. 1 ff.
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Obgleich diese Eltern nicht über die Verbrechen und den Terror der NaziZeit sprachen sondern vielmehr eine Normalität des Alltags im „Dritten Reich“ beschworen, wurden Abwehrmechanismen an die nachfolgende Generation weitergegeben. Die Kinder ahnten oder phantasierten das unglaubliche Ausmaß an Destruktion ihrer Eltern und waren gleichzeitig gezwungen deren Abwehrmechanismen zu übernehmen, um die überlebensnotwendige Idealisierung ihrer Eltern aufrechtzuerhalten. Die Angst, selbst das Opfer ihrer Eltern zu werden, d.h. „selber zum Objekt dieser als ungesichert erlebten Destruktivität werden zu können“ 16 und die Angst vor dem Eingeständnis, das Kind eines Verbrechers zu sein, zwang sie zur Identifizierung mit ihren Eltern. Diese Identifizierungen fanden nicht ausschließlich mit der Person oder den Eigenschaften von Vater oder Mutter statt, sondern es war ein Typus von Identifizierung mit einer Geschichte, die zumindest teilweise nicht der Generation des Kindes angehörte, sondern vor seiner Lebzeit lag.17 Es handelte sich dabei um primitive und totale Identifizierungen mit dem Elternteil, die diese Kinder vornahmen, die ihnen aber teilweise auch von den Eltern aufgezwungen werden konnten, wenn sie das Kind zur Regulierung ihres prekären narzisstischen Gleichgewichts benötigten. Oft wurden eigenes Versagen und Schuldgefühle „projektiv in das Kind transportiert, dort deponiert und verachtet und damit der seelischen Aneignung entzogen“.18 Auf diese Weise erlebten die Kinder die fremde Schuld als die eigene und die nicht verantwortete Vergangenheit drang auch in ihr Leben ein. Rosenkötter 19 nimmt bei Angehörigen dieser Generation Spätfolgen an, die sogar als „traumatisch im Sinne einer lang einwirkenden Schädigung“ angesehen werden könnten.
Antisemitismus der Schuldabwehr Was haben nun diese Angehörigen der zweiten Generation, die vielfach die Schuld ihrer Eltern in Form eines unbewussten „entlehnten Schuldgefühls“ übernahmen, ihrerseits an ihre Kinder weitergegeben? Um diese Frage beantworten zu können, möchte ich zunächst deutlich machen, worin der Zusammenhang zwischen der Abwehr von Schuldgefühlen und Antisemitismus besteht.
16
Juelich (Fn 12) S. 105. Bohleber Transgenerationelles Trauma, Identifizierung und Geschichtsbewusstsein, in: Rüsen/Straub (Hrsg.) Die dunkle Spur der Vergangenheit, Psychoanalytische Zugänge zum Geschichtsbewusstsein, Frankfurt am Main 1998, S. 256 ff. 18 Bohleber (Fn 17) S. 261. 19 Die Idealbildung der Generationenfolge, Psyche 35 (1981), S. 593 ff, 595. 17
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Da es die Funktion der Abwehr ist, sich so wenig wie möglich mit der ungeliebten Erinnerung an die Vergangenheit zu konfrontieren, stellt jeder, der an diese Vergangenheit erinnert, ein Problem für den Abwehrenden dar. Da Juden immer und egal, was sie sagen, an die Shoah erinnern, unterwandern sie schon aufgrund ihrer bloßen Existenz das Gelingen dieser Abwehr. Dass dies fatale Folgen für die Situation von Juden in Deutschland haben kann, hat Adorno bereits kurz nach 1945 erkannt. Er sah, dass sich in Deutschland eine neue Form des Antisemitismus auszubreiten begann, die als eine Reaktionsbildung auf Verbrechen und Schuld erachtet werden kann. Juden werden gehasst, weil sie an das erinnern, was man ihnen angetan hat. Diese Form des Antisemitismus, die nach der Shoah in Deutschland Einzug hielt, bezeichnete Adorno als „sekundären Antisemitismus“.20 Während der primäre Antisemitismus alle diskriminierenden Meinungen und Handlungen im Sinne von Ausgrenzung einschließlich der Verfolgung bis hin zur Ermordung von Juden, wie sie in der christlich-abendländischen Kultur seit zwei Jahrtausenden tradiert und praktiziert werden, umfasst, bezieht sich der sekundäre Antisemitismus auf judenfeindliche Einstellungen und Handlungen, die nach und aufgrund der nationalsozialistischen Judenvernichtung entstanden sind. Juden werden im Zuge der Abwehr mit Projektionen überfrachtet und können zum „Mahner“ und „Rächer“ gemacht oder zur moralischen Instanz erhoben werden. Das Resultat einer solchen Delegation der Moral ist dann ein Bild von Juden, die ständig damit befasst sind, die Schuld der Deutschen aufzudecken. An ihnen soll stellvertretend der eigene moralische Konflikt abgearbeitet werden. Es wird ihnen unterstellt, sie würden das schlechte Gewissen der Deutschen ausnutzen, um so aus dem Holocaust ihren Vorteil zu ziehen. Neben diesen deutlich sekundär-antisemitischen Stereotypen werden im Zuge der Abwehr aber auch oft traditionell judenfeindliche Stereotype aktiviert, um das Unbehagen, das aus der Begegnung mit Juden entstehen kann, zu rationalisieren. Konstruktionen des primären Antisemitismus leben also im sekundären fort. Obwohl der „traditionelle“ Antisemitismus nicht verschwunden ist, trat Antisemitismus in Deutschland in den letzten Jahrzehnten vor allem in Form des sekundären Antisemitismus, den man auch als „Antisemitismus der Schuldabwehr“ 21 bezeichnen kann, zutage. Besonders seit den achtziger Jahren wurden judenfeindliche Einstellungen nach einer langen Phase der „Kommunikationslatenz“ 22 wieder öffentlich geäußert. Man kann sagen,
20 Adorno Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute (1962), in: Kleine Schriften zur Gesellschaft, Frankfurt am Main 1971, S. 108. „Sekundär“ ist demnach zeitlich im Sinne von „nach der Shoah“ zu verstehen. 21 Bodek Die Fassbinder-Kontroversen, Frankfurt am Main 1991. 22 Bergmann/Erb Kommuniktionslatenz, Moral und öffentliche Meinung, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 38 (1986), S. 223 ff.
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dass der Zeitgeist, der seit Mitte der achtziger Jahre den hegemonialen Diskurs bestimmt, die gesellschaftliche Abwehr aufs äußerste begünstigt. Die politische Diskursmacht nahm sich seither immer öfter im Gestus des „Tabubruchs“ dieser Formen an und beeinflusste auf diese Weise das öffentliche Bewusstsein.23
Ausprägungen des Antisemitismus der Schuldabwehr Symptomatisch hierfür steht der Besuch des Kanzlers Kohl und des amerikanischen Präsidenten Reagan 1985 auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg, wo Kohl die dort begrabenen SS-Offiziere als Opfer des Nationalsozialismus bezeichnete. Auf Kritik an diesen Äußerungen erwiderte Kohl damals, dass er nicht verstehe, dass es immer noch Menschen gebe, die nicht vergeben könnten. Bereits dreißig Jahre zuvor hatte Adorno die Auffassung hinter dieser Formulierung auf den Punkt gebracht: Von Juden wird erwartet, „dass sie das alle Phantasien übersteigende Grauen vergeben und vergessen sein lassen sollen, nur weil eine vag definierte Jugend 24 guten Willens sei“.25 Die Forderung nach einem „normalen Verhältnis“ zu Juden wurde allerdings nicht nur von konservativer Seite gestellt. In der Debatte um die Aufführung des Fassbinder-Stückes „Der Müll, die Stadt und der Tod“ im Jahre 1985 zeigte sich, dass auch unter „den Linken“ vehement die Auffassung vertreten wurde, Juden seien „lange genug geschont worden“. Das Theaterstück handelt von der Zerstörung der Städte durch rücksichtslose Bauspekulation. Hauptfigur ist „der reiche Jude“, der durch eben solche Spekulation Rache an „den kleinen Leuten“ übt. Diese Darstellung kannten die noch in Deutschland lebenden Juden nur zu gut. Sie machte ihnen Angst und deshalb gingen sie – erstmals nach der Shoah – geschlossen auf die Straße, um gegen die Aufführung des Stückes zu protestieren. Anstatt den Schmerz wahrzunehmen, der die jüdischen Aufführungsgegner bei dem Gedanken überkam, einmal mehr als „die Anderen“ dargestellt zu werden, reagierten die größtenteils nichtjüdischen Aufführungsbefürworter mit Unverständnis und Aggression. Den jüdischen Demonstranten wurde – ganz im Sinne des Abwehrmechanismus der TäterOpfer-Umkehr – vorgehalten, sie würden die Kunstfreiheit unterwandern und sich mit dem „Kunstterror der Bücherverbrenner“ in die „Geschichte Deutschlands“ einreihen.26 Die Verfechter der Aufführung hatten die Mög23
Rensmann (Fn 3). An das von Adorno analysierte Abwehrmotiv des Verweises auf die „unschuldige Jugend“ wurde von Kohl mit seiner Rede von der „Gnade der späten Geburt“ angeknüpft (Rensmann [Fn 3] S. 316). 25 Adorno (1955) (Fn 4) S. 260. 26 Bodek (Fn 21). 24
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lichkeit, sich als Opfer ihres mutigen Eintretens für das demokratische Grundrecht der freien Ausübung der Kunst zu sehen, während Juden vorgeworfen wurde, dieses Recht zu brechen. Mit einem „Zerstören der Meinungsfreiheit“ würden sie Antisemitismus befördern. An der „Fassbinder-Debatte“ zeigte sich, dass antisemitische Ressentiments auch in einer Generation auftraten, die sich gleichzeitig so bemühte, die Abwehrmechanismen ihrer Eltern zu durchschauen und ans Licht zu bringen. Die Bereitschaft, latent vorhandenen Antisemitismus öffentlich zu äußern, hält seit den achtziger Jahren an. So postulierte beispielsweise der FDP-Politiker Jürgen W. Möllemann im Frühsommer 2002 öffentlich, Michel Friedmann, damals stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, verschaffe wie kein anderer mit seiner „intoleranten und gehässigen Art“ den Antisemiten in Deutschland Zulauf.27 Für seine Äußerungen erhielt Möllemann in zahlreichen Briefen Zuspruch. Knapp 30 % der Bevölkerung erachteten nach einer Umfrage des „ZDF-Politbarometers“ die Aussage Möllemanns für gerechtfertigt.28 Ein anderes Beispiel für den Abwehrmechanismus der Täter-OpferUmkehr findet sich in den Diskussionen um die Trauerrede des baden-württembergischen CDU-Ministerpräsidenten Oettinger für seinen Amtsvorgänger Hans Filbinger im April 2007. Oettinger bezeichnete den ehemaligen NS-Marinerichter als „Gegner des NS-Regimes“, obwohl dieser nachweislich an verschiedenen Todesurteilen mitgewirkt hatte.29 Auf die Kritik des Zentralrates der Juden an dieser Verfälschung der Realität entgegnete der Chef der CDU-Landesgruppe Baden-Württemberg im Bundestag, Georg Brunnhuber, die „überbordende Kritik“ des Zentralrates der Juden führe eher dazu, dass die Leute sagten, Oettinger habe Recht.30 Die Vorstellung, Juden seien an ihrem Unglück selber schuld, ist alt. Relativ neu ist, dass diese (vermeintliche) Kritik von großen Teilen der Bevölkerung als ziviler Ungehorsam interpretiert wird.
27 Wörtlich sagte Möllemann im heute-Journal des ZDF v. 16.5.2007: „Ich fürchte, dass kaum jemand den Antisemiten, die es in Deutschland gibt, leider, die wir bekämpfen müssen, mehr Zulauf verschafft als Herr Sharon und in Deutschland ein Herr Friedmann mit seiner intoleranten und gehässigen Art“. 28 Broder Ende der Schonzeit. Die Sehnsucht der Deutschen nach „Normalität“, Der Spiegel Nr. 23 vom 3.6.2002. 29 Aufgrund der öffentlichen Empörung und einer Rüge von Kanzlerin Merkel entschuldigte sich Oettinger kurz darauf für seine Einstufung Filbingers als NS-Gegner. 30 Denkler Was Unrecht war, wird Unrecht bleiben, Ralph Giordano zur OettingerRede, in: http://www.sueddeutsche.de/deutschland/artikel/211/110101 (16.4.2007).
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Die „dritte Generation“ Im Rahmen meiner Diplomarbeit bin ich der Frage nachgegangen, ob die hier beschriebenen abwehraggressiven Äußerungen gegen Juden auch in der „dritten Generation“ vorhanden seien, einer Generation, von der Jörn Rüsen 31 annimmt, dass sie aufgrund einer „Entlastung vom Erfahrungsdruck durch Historisierung“ die Chance hätte, den Holocaust weder abzuwehren noch zu derealisieren. Die Befragung folgte einem qualitativen Untersuchungsdesign und fand anhand von zweistündigen Einzelinterviews sowie Gruppendiskussionen statt. Teilnehmer waren Studenten im Alter zwischen 20 und 30. Ich befragte insgesamt 20 Personen. Als Thema der Befragung wählte ich den Nahostkonflikt. Da man Israel im Sinne einer Metapher betrachten kann, die nach Diner „in einem sehr engen Verhältnis zum abendländisch geprägten Bild des Juden steht und somit durchaus auch in den historischen Zusammenhang des Antisemitismus gehört“,32 erhoffte ich mir von meinen Interviews nicht nur Aussagen zur Politik Israels sondern auch zur Einstellung gegenüber Juden. Bei meiner Untersuchung stieß ich auf die öffentlich häufig diskutierte Frage, wie man zwischen der Kritik an der Politik Israels und Antisemitismus differenzieren könne. Anhand der sehr unterschiedlichen Auffassungen, die in den Interviews vertreten wurden, ist der Unterschied zwischen einer angemessenen Kritik und einer antisemitisch motivierten Kritik recht deutlich zu sehen. Für die Kritik an Israel gilt dabei das gleiche wie für die Kritik an Juden: Man kann eine Person bzw. die Politik dafür kritisieren, was sie tut, oder dafür, was der Kritiker ihr aufgrund von stereotypen Annahmen unterstellt. Die Ergebnisse meiner Untersuchung zeigen, dass es auch in der Generation der 20- bis 30-jährigen nichtjüdischen Deutschen antisemitische Ressentiments gibt. Auch Angehörige dieser Generation fühlen sich durch die Erinnerung an die Shoah belästigt und reagieren darauf mit antijüdischem Affekt. Aus vielen Äußerungen geht hervor, dass auch unter den von mir befragten Personen eine Form des Antisemitismus dominant ist, die ihre Dynamik vor allem aus der Abwehr von Schuld gewinnt. So wurde z.B. häufig die Auffassung vertreten, die Israelis nutzten ihre aus der Shoah resultierende Opferposition aus, um „bei den Palästinensern mal ordentlich durchzugreifen“. In mehreren Fällen wurde kaum auf die aktuelle Situation im Nahen Osten eingegangen, sondern versucht, das Vorgehen der israelischen Politik allein vor
31
(Fn. 13) S. 95 ff. Diner Negative Symbiose. Deutsche und Juden nach Auschwitz (1986), in: ders. (Hrsg.) Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Frankfurt am Main 1993, S. 185 ff, S. 190. 32
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dem Hintergrund stereotyper Annahmen zu erklären. So wurde z.B. die Ansicht vertreten, Israelis würden sich „für den Holocaust rächen“ und dabei von der „starken zionistischen Lobby“ unterstützt. Nicht nur die israelischen Juden erschienen in manchen Aussagen einseitig als Täter, sondern auch die Juden in Deutschland. Oft wurde beteuert, doch schon genug an Wiedergutmachung geleistet und nun einen Anspruch auf ein normales Verhältnis zu Juden zu haben. Dabei wurde in mehreren Interviews die Ansicht vertreten, Juden in Deutschland würden viel zu oft den Vorwurf des Antisemitismus – „ihre stärkste Waffe“ – gegen die nichtjüdischen Deutschen erheben. Auch von dieser Generation wurde Juden unterstellt mit ihrem „Mahnen“ und ihrer „Selbstausgrenzung“ Antisemitismus zu befördern. Diese Vorstellung gipfelte bei einem der Diskussionsteilnehmer sogar in der Aussage, Michel Friedmann repräsentiere „so falsch dieses Bild ist, was von den Juden gezeichnet wurde im Nationalsozialismus“ mit seiner „Hakennase“ und seinem „jovialen Lächeln“ ein Bild von den Juden, das sich „nicht positiv auswirkt“ und Antisemitismus verstärken könne. Obwohl bei zwei Dritteln der Befragten keine antisemitischen Ressentiments erkennbar waren, zeigen die Ergebnisse doch deutlich, dass Nationalsozialismus und Shoah auch in dieser Generation als psychisches Problem gegenwärtig bleiben. Auch diese Generation trägt also das Erbe ihrer Eltern und Großeltern – in Form eines antisemitischen Ressentiments – weiter.
Schlussbetrachtungen Zu Beginn dieses Artikels wurde die Frage formuliert, warum das Verlangen nach Normalität seitens nichtjüdischer Deutscher eine Bedrohung für jüdische Deutsche darstellt. Diese Frage kann nun auf Grundlage der vorgestellten Überlegungen besser beantwortet werden. Die Normalität, die in regelmäßigen Abständen in Deutschland eingefordert wird, meint die Möglichkeit einer positiven Identifizierung mit der eigenen Nation. Da sich aber die verbrecherische Vergangenheit der Deutschen kaum zur Identifizierung und damit zum Aufbau einer nationalen Identität eignet, wird diese Vergangenheit abgewehrt. Solche Abwehrstrategien können auf sehr unterschiedliche Weise zum Ausdruck kommen. Eine der Möglichkeiten, sich zu entlasten, stellt die Projektion eigener ungeliebter Anteile nach außen auf Juden dar. Und das, was dann von den Juden mahnt, sind nicht die Juden selbst, sondern die auf sie projizierten unbewussten Schuldgefühle der Deutschen. Die „Moralkeule“, durch die Walser sich bedroht fühlt, kann vor dem Hintergrund dieser Überlegungen also als Bedrohung durch seine eigenen
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abgewehrten Schuldgefühle verstanden werden.33 Und das Unbehagen, das Bubis überfiel, erklärt sich aus der Forderung Walsers diese Bedrohung – lokalisiert in den Juden – loszuwerden. Obwohl die öffentliche Auseinandersetzung mit der Shoah zugenommen und Antisemitismus im Laufe der letzten Jahrzehnte stetig abgenommen hat, lassen sich die rigiden Strategien der Abwehraggression, auf die Adorno bereits in den fünfziger Jahren hingewiesen hat, auch heute – und generationsübergreifend – noch finden. Es bleibt zu hoffen, dass die nachfolgenden Generationen der Deutschen ihre grausame Vergangenheit immer weniger abwehren müssen, und sie als Teil ihrer Geschichte akzeptieren können.
33 Indem Walser von der Bedrohung durch eine „Moralkeule“ spricht, verkehrt er Opfer und Täter. „Die Überlebenden des Holocaust als Personifizierung der deutschen Schande schlagen die Täter mit der „Moralkeule“ und machen diese somit zu den eigentlichen Opfern. Dies kommt einer Verhöhnung der Opfer gleich […]“, zit. nach Peisker Vergangenheit, die nicht vergeht, Gießen 2005, S. 482.
Gedanken zum letzten Wort des Angeklagten Egon Müller I. Gerhard Hammerstein hat in seinem Beitrag in der Festschrift für Herbert Tröndle, der das letzte Wort des Angeklagten als „sein geheiligtes Recht“ 1 versteht, formuliert: „Die Angeklagten treten heute freier und selbstbewusster vor ihre Richter. Viele sind geeignet und manche sogar gut befähigt, sich mit dem letzten Wort zu verteidigen. Die Verteidiger haben Anlass, dies bei ihren Überlegungen zur Verteidigungsstrategie stärker zu berücksichtigen.“ 2 Ich greife diesen Gedanken auf mit dem Ziel, ihn für die tatrichterliche Hauptverhandlung zu vertiefen im Wissen darum, dass – folgt man den literarischen Äußerungen – das letzte Wort in seinem faktischen Einfluss auf die Entscheidung nicht über-, aber auch nicht unterschätzt werden dürfe.3 Schon aus Raumgründen können nicht alle auftauchenden Rechtsfragen thematisiert werden. Mein Beitrag wirft darüber hinaus viele Fragen auf und bietet nicht immer Antworten an. In ihm werden zudem Aufgaben historischer, psychologischer, kriminologischer und dogmatischer Dimension angedeutet, die noch zu bewältigen sind. Auch legislatorische Reformansätze werden gestreift.
II. Peter Rieß hat schon vor mehr als 25 Jahren – bei der damaligen Geltungsdauer der StPO von 100 Jahren – festgestellt, dass im statistischen Durchschnitt jede Norm der StPO etwa 2,5-mal geändert worden ist.4 1
Tröndle Antworten auf Grundfragen, 1999, 39, 50. Gerhard Hammerstein Verteidigung mit dem letzten Wort, in: FS für Herbert Tröndle, hrsg. v. Hans-Heinrich Jescheck u. Theo Vogler, 1989, 485 (493). 3 Vgl. nur Hans-Heiner Kühne Strafprozessrecht, 7. Aufl. 2007, Rn 264 und Guido Britz Beredsamkeit vor Gericht – Der Logograph Lysias, in: Das Recht der schönen Künste, hrsg. v. Heike Jung, 1998, 221 (222). 4 In FS für Karl Schäfer, hrsg. v. Hassenpflug, 1980, 155 (156). 2
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Anders § 258 StPO, der zu jenen – wenigen – Vorschriften gehört, die seit der Verabschiedung der StPO textlich unverändert geblieben sind. Schon in den Motiven heißt es, er enthalte „allgemein bestehendes Recht“.5 Auch das Reichsgericht hat früh – 1883 – ausgeführt, dass „es sich dabei nicht um eine bloße instruktionelle Anweisung an das Gericht, sondern um eine wirkliche Rechtsnorm über das Verfahren handelt“.6 Aus heutiger Sicht ist dieses Recht des Angeklagten als eine tragende Maxime – „Grundlage eines rechtsstaatlichen Verfahrens“ – 7 zu verstehen, als ein höchstpersönliches Recht – ohne Möglichkeit einer Vertretung in Wille und Erklärung –,8 das nicht auf den Verteidiger übertragen werden kann.9
III. Der ehemalige Bundesrichter Claus Seibert berichtete 1964 über seine Referendarzeit, in der er einen „kurz angebundenen Richter“ erlebte, der abschließend ins Protokoll zu diktieren pflegte: „Der Angeklagte hat das letzte Wort. Er hat nichts zu sagen.“ Der Autor formulierte weiter: „Niemand nahm an dieser ebenso autoritären wie mehrdeutigen Diktion Anstoß, weder die Angeklagten noch ihre Verteidiger“.10 Ackermann erinnerte an den Angeklagten, der seinem Verteidiger enttäuscht sagte, „dass wohl das Plädoyer und auch das letzte Wort völlig überflüssig gewesen seien, weil der Richter das Urteil schon niedergeschrieben gehabt habe, ehe überhaupt die Anträge gestellt waren“.11 Noch heute legen Vorsitzende nach der Befragung i.S. des § 258 Abs. 3 StPO – aber auch viele Verteidiger – dem Angeklagten regelmäßig nahe, sich seinem Verteidiger anzuschließen 12 – wissend oder ahnend, dass der Angeklagte auf sein letztes Wort
5 Hahn Die gesamten Materialien zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. III, Abt. 1, 2. Aufl., hrsg. v. Stegemann, Neudruck der Ausgabe Berlin 1885, 1983, 196; vgl. auch S. 196; vgl. auch Entstehung und Quellen der Strafprozessordnung von 1877, hrsg. v. Schubert u. Regge, 1989, 78, 132, 705. 6 RGSt 9, 68, 69. 7 BGH bei Bär DAR 1988, 368. 8 So wörtlich Eb. Schmidt Lehrkommentar zur Strafprozessordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, 1957, § 258 Rn 11. 9 Vgl. BGH bei Holtz MDR 1978, 460. 10 MDR 1964, 471 (472). 11 DRiZ 1958, 331 (332). 12 Tondorf in Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, hrsg. v. Hamm u. Lohberger 4. Aufl. 2002, S. 428.
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nicht vorbereitet (worden) ist 13 –. Es kann hiernach nicht verwundern, dass Seibert schon damals meinte „Kaum jemals beeinflusst ein Schlusswort des Angeklagten die Entscheidung zu seinen Gunsten … Ich habe dies nur ein einziges Mal erlebt.“ und Gerichtsreporter im letzten Wort keinen „Beitrag von größerem Nachrichtenwert“ 14 sehen.
IV. Empirische Erhebungen über Art und Weise der Ausübung des letzten Wortes – schon gar nicht über Wirkung(en) auf Richter und Entscheidung – existieren (noch) nicht. Wir können die heutigen Abläufe insoweit im gerichtlichen Alltag nur ahnen. Rechtstatsächlich ist die Bedeutung des letzten Wortes daher ungeklärt.15 Dies gilt auch für Schlussworte, die aus ferner oder jüngster Vergangenheit überliefert sind, auch wenn die eine oder andere Rede wissenschaftlich analysiert worden ist. Dies gilt – willkürlich ausgewählt – für die Verteidigungsreden des Sokrates 16 und des Apuleius 17 genau so wie für Rosa Luxemburgs Ausführungen.18 Der Aufarbeitung bedürfen auch die Schlussworte im Nürnberger Prozess 19 und der Angeklagten Liebknecht, Bebel, Hepner im Hofverratsprozess vor dem Schwurgericht zu Leipzig.20 Auch die Worte von Erich Honecker 21 im Prozess um die Toten an der innerdeutschen Grenze harren der wissenschaftlichen Analyse nicht minder als das letzte Wort im Totschlagsprozess gegen den Pastor Geyer.22 Festgehalten sind die persönlichen Worte des Kommerzienrates Dr. Herrmann Röchling – Alte Völklinger Hütte – vor der Verkündung des Urteils im Prozess vor dem Französischen Militär-Tribunal in Rastatt am 2.6.1948: „Ich danke den Herren Rechtsanwälten für ihre aufopfernde Arbeit und vor allen Dingen den französischen Herren, die ihr Äußerstes taten, ohne dass die Honorarfrage bis jetzt geklärt werden konnte. An meinem Leben 13
Dagegen mit Recht Tröndle DRiZ 1970, 217. Weimann/Läppert/Höbermann Gerichtsreporter 2005, 163. 15 Eisenberg Beweisrecht der StPO, 4. Aufl. 2002, Rn 808. 16 Platon ausgewählt und vorgestellt von Rafael Ferber, 1995, 81 ff. 17 Literatur und Recht, hrsg. v. Ulrich Mölk 1996, 13 ff. 18 Vgl. Deutsche Reden von Luther bis zur Gegenwart, hrsg. v. Gert Ueding, 1999, 671 (681). 19 Vgl. Fn 18, 687 und 695 und der Nürnberger Prozess v. Klaus Kastner 1994, 42 ff. 20 Der Hochverrats-Prozess wider Liebknecht, Bebel und Hepner, Neudruck der 2. Aufl. 1911, 61 ff. 21 Vgl. Fn 18, 693 ff. 22 Bild vom 1.4.1998 (auszugsweise). 14
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liegt mir nicht mehr viel, in meinem Alter stehe ich vielleicht der himmlischen Gerechtigkeit näher als der irdischen. Ich habe durch den Krieg meinen einzigen hoffnungsvollen Sohn verloren. Allergrößtes Bedauern habe ich mit den übrigen Angeklagten, die, wenn sie nicht mit mir in Verbindung getreten wären, wahrscheinlich nicht auf der Anklagebank sitzen würden. Ich bin kein Verbrecher, ich habe vielleicht nur den Fehler begangen, die Liebe zu meinem Vaterland höher zu stellen, als die eigenen Interessen. Ich war immer nur Ingenieur und bin nur Ingenieur, und bitte das Gericht, mir die Möglichkeit zu geben, die Pläne, die ich im Kopf habe, und die vielleicht für die Allgemeinheit von größtem Nutzen sind, noch ausführen zu können. Wenn das Gericht aber glaubt, einen Spruch fällen zu müssen, so bitte ich, diesen so zu treffen, dass kein neuer Stachel zurückbleibt zwischen den Völkern Frankreich und Deutschland, die beide dringend der Ruhe und des Friedens bedürfen.“ 23 Die Sätze sind längst verhallt. Nach möglichen Wirkungen auf das Urteil ist bis heute nicht gefragt worden.
V. Mit diesen empirischen Befunden kontrastiert die Relevanz, die das letzte Wort des Angeklagten im Rahmen der „in der Praxis nicht seltenen Rüge“ 24 bei den Revisionsgerichten einnimmt. Diese betonen von jeher die „rechtliche Bedeutung“ 25 dieser Prozesshandlung 26. Wörtlich formuliert der BGH: „Der Vorschrift des § 258 Abs. 3 StPO kommt … für die Verteidigungsmöglichkeit des Angeklagten in der Hauptverhandlung besonderes Gewicht zu und es ist gerade Sinn des § 258 II, III StPO, dem Angekl. zu ermöglichen, auch noch im letzten Augenblick vor der Urteilsverkündung für ihn günstige Umstände vorzubringen.“ 27 Verletzungen des § 258 Abs. 3 StPO haben die Revisionsgerichte in die Nähe eines absoluten Revisionsgrunds gerückt,28 weil die Möglichkeit, dass das
23 24 25 26 27 28
Günther Funk Alte Völklinger Hütte, 1996, 49. So Widmaier/Dahs MAH Strafverteidigung § 12 Rn 79. Z.B. BGHSt 22, 278 (279); BGH NStZ 1987, 423 (434). Vgl. Grunst Prozesshandlungen im Strafprozess, 2002, 265 (266). BGHSt 22, 278 (280). So Sarstedt/Hamm Die Revision in Strafsachen, 6. Aufl. 1998, Rn 1014.
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Urteil auf diesem Fehler nicht beruht, nur in besonderen Ausnahmefällen ausgeschlossen werden kann.29 Daher haben sie dem § 258 Abs. 3 StPO zu respektierenden Konturen verliehen. Nur ein Beispiel dafür: Vereinzelt wurde dem Angeklagten untersagt, schriftlich vorbereitete Ausführungen als Schlusswort vorzulesen oder gar Unfallvorgänge anhand eines Modells zu erklären. Diese Verweigerung stellte einen geradezu klassischen Fall von „Abblocken von Einwänden“ 30 im Sinne prinzipieller Verkürzung rechtlich eingeräumter Chancen dar, auf das Urteil einzuwirken. Zu Recht hat der BGH solchen Restriktionen einen Riegel vorgeschoben: „Aus keiner verfahrensrechtlichen Vorschrift ergibt sich, dass der Angeklagte seine Ausführungen zum letzten Wort nur in freier Rede machen dürfe.“ 31
VI. Soll das letzte Wort günstige Wirkungen auf das Urteil entfalten, muss es wie ein Stück in ein gutes Mauerwerk in die Verteidigungsstrategie eingebaut sein. Nur dann lassen sich Verfahrenslagen verhindern, die Tröndle treffend umschrieben hat: „Manchmal kann man erleben, dass nach einem glänzenden und wirkungsvollen Schlussvortrag des Verteidigers ein redseliger, unbeherrschter oder einsichtsloser Angeklagter die ganze Wirkung des Plädoyers … durch ungeschickte Ausführungen wieder zunichte macht. Oft lässt gerade das, was der Angeklagte glaubt, nach einer Verteidigungsrede kurz vor Toresschluss dem Gericht noch in die Beratung mitgeben zu sollen, mehr Aufschluss über sein Inneres zu, als die ganze Verhandlung.“ 32 Das letzte Wort muss daher auch im Ob ebenso im Wie auf die Psychologie richterlicher Überzeugungsbildung Rücksicht nehmen. Auch die ehrenamtlichen Richter – in ihren Unterschiedlichkeiten zu den Berufsrichtern – dürfen nicht aus dem Auge verloren werden.
29 BGHSt 22, 278; vgl. auch Gerhard Schäfer Die Praxis des Strafverfahrens, 6. Aufl. 2000, Rn 1303. 30 Karl Peters in: FS für Hanns Dünnebier, hrsg. v. Hanack, Rieß u. Gerlach, 1982, 53 (57). 31 BGHSt 3, 368; vgl. auch OLG Hamm VRS 35 (1968) 370 und BGH MDR 1964, 72. 32 Vgl. wie Fn 1, 50.
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Die gesamte forensische Kommunikationsstruktur muss in die Überlegungen zum letzten Wort einbezogen werden. Es macht den Subjektstatus des Angeklagten aus, sich für einen Weg – grob: Schweigen, Bestreiten, Gestehen – zu entscheiden und ihn eigenverantwortlich zu gehen. Um diese Kompetenz 33 ausüben zu können, muss er vom Verteidiger umfassend aufgeklärt werden. Diesem kommt auch in dieser Phase des Verfahrens eine einzigartige Aufgabe zu, die weder vom Gericht noch von der Staatsanwaltschaft geleistet werden kann und auch das letzte Wort mitbestimmt. Das Ob und Wie der Einlassung hängt ganz eng zusammen mit dem Ob und Wie des letzten Wortes. Ob der Freispruch, die Art der Sanktion oder die Höhe des Strafmaßes Ziel der Verteidigung ist, ob sich Verteidigung der richterlichen Überzeugung auf den Ebenen der Tatbestandsmäßigkeit, der Rechtswidrigkeit und/ oder der Schuld (Vorsatz/Fahrlässigkeit) in den Weg stellt, ob der Tatbestands- oder der unvermeidbare Verbotsirrtum reklamiert wird, ob Maßregeln der Besserung und Sicherung abgewendet werden sollen, das letzte Wort muss immer einen Bezug zu den jeweiligen Perspektiven der Verteidigung herstellen und in sie gleichermaßen zielorientiert eingebunden sein. Das Vehikel, mit dem das Verteidigungsziel gestützt und erreicht werden kann, ist neben dem rhetorischen Instrumentarium 34 die Authentizität des letzten Wortes, die umfasst, dass der Angeklagte sich auch und gerade in dieser Phase „einbringt“ – „mit seinen eigenen Worten abschließend zur Sache äußert“.35 Immer ist daher in dualer Auseinandersetzung zwischen Mandant und Verteidiger zu prüfen, ob in concreto einerseits diese Kraft des letzten Wortes geeignet sein und andererseits vom Angeklagten geleistet werden kann. Nur bewegende Auftritte, nur gespielte Unschuldsbeteuerungen, nur eindringliche Appelle an Richter und/oder Schöffen, Milde walten zu lassen oder eine „letzte Chance“ zu gewähren, ersetzen nicht die auf die konkrete Biographie bezogenen Vergangenheit und Zukunft erklärenden glaubhaften Ausführungen des Angeklagten. Richtern bleibt nicht verborgen, ob der Angeklagte sein letztes Wort spricht oder ob er einen vom Verteidiger vorformulierten Text verliest. Auch hier ist die Sprache in hohem Maße verräterisch. Das letzte Wort ist umso eindrucks- und evtl. wirkungsvoller, je mehr es dem Angeklagten gelingt, sich dem Gericht „näher“ zu bringen und das um 33
Vgl. hierzu auch aus sozialpsychologischer Sicht Marlis Dürkop Der Angeklagte,
1977. 34 Näher Gerhard Hammerstein in Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege, hrsg. v. Ebert 1991, 71 (74, 75). 35 BGH MDR 1978, 460 und OLG Hamm NStZ-RR 2001, 334 (335).
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Erklärung – nicht Entschuldigung – bemühte Plädoyer des Verteidigers biographisch – authentisch stützt. Die (viel zu) häufige Floskel, sich den Ausführungen des Verteidigers anzuschließen, kommt in diesem Licht einem Verzicht auf das letzte Wort gleich.
VII. Die Bedeutung des letzten Wortes hat – das ist unverkennbar – mit dem Einzug der Absprachen im Strafverfahren in tatsächlicher Hinsicht abgenommen. In den Verfahren, in denen professionelle Verständigung betrieben wird, verliert das letzte Wort in aller Regel seine spezifische Funktion. Daher liegt der Verzicht des Angeklagten – nach Abstimmung mit dem Verteidiger – nahe.
VIII. Einige Reformfragen sollen noch gestreift werden: 1. Der Wortlaut des § 258 StPO – seit mehr als 100 Jahre unverändert – ist geprägt vom Geist der Entstehungszeit, in der die Funktionen des Verteidigers – insbesondere auch dessen Schlussvortrag – noch im Gedanken der Vertretung des Angeklagten gefesselt waren. Auch die Architektur dieser Norm wird dem rechtlichen Stellenwert des Verteidiger-Plädoyers in Abgrenzung zum letzten Wort des Angeklagten nicht gerecht.36 So erscheint die Gegenüberstellung der Vorträge des Vertreters der Staatsanwaltschaft und des betroffenen Angeklagten im Abs. 1 verfehlt. Das Recht des Verteidigers zum Schlussvortrag wird im Kontext des § 258 StPO aus der mehr beiläufigen Erwähnung in Abs. 3 abgeleitet. („… auch wenn sein Verteidiger für ihn gesprochen hat …“). Es mutet auch merkwürdig an, dass § 258 Abs. 2 Satz 2 StPO keine Aussage trifft über die Form der Erteilung des letzten Wortes. Milhahn 37 beanstandet daher, dass der Text dieser Norm in seiner „Gesamtheit … sehr schlecht gefasst“ sei. Schroeder spricht da von einer „etwas unglücklichen Formulierung“.38 Bei einer Reform des § 258 StPO sollte die heutige Rechtslage auch sprachlich eingefangen werden. Auch sollte verdeutlicht werden, dass der Angeklagte auch mit Blick auf § 258 Abs. 2 Satz 2 StPO im Sinne des § 258 Abs. 3 StPO ausdrücklich zu befragen ist. 36 Einzelheiten bei Heinz Busch Rechtsfragen im Zusammenhang mit dem VerteidigerSchlussvortrag, Diss. 1984, 2 ff, 15 ff. 37 Ilsabe Milhahn Das letzte Wort des Angeklagten, Diss. 1971, 8 ff. 38 Friedrich-Christian Schroeder Strafprozessrecht, 3. Aufl. 2001, 182.
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2. Die Entziehung des letzten Wortes im Falle des Missbrauchs durch den Vorsitzenden im Rahmen seiner Sachleitungsbefugnis nach § 238 Abs. 2 StPO ist als solche von der Judikatur anerkannt, ihre Voraussetzungen aber sind keineswegs gesichert. Zunächst gilt angesichts der verfassungsrechtlichen Bedeutung des letzten Wortes 39 „weitestgehende Verteidigungsfreiheit“.40 Mal sollen eine Abmahnung oder auch Ermahnung genügen, um im Weigerungsfall das Wort zu entziehen,41 mal muss der Vorsitzende von „offensichtlicher Aussichtslosigkeit“ 42 wiederholter Mahnungen 43 ausgehen, mal muss nach Abmahnung eine Androhung der Entziehung des Wortes folgen.44 Auch die Voraussetzungen, die vorliegen müssen, damit der Angeklagte sein Recht auf Ausübung des letzten Wortes verwirkt, sind wenig konturiert.45 3. Dem letzten Wort des Angeklagten wohnt nicht nur für den Sprachpuristen eine begriffliche Unschärfe inne. Nicht nur er assoziiert eine Trennschärfe, die nicht gegeben ist. Es ist Rudolf Gerhardt gewesen, der unter dem Titel „Der Senat spricht“ einen Vorsitzenden zitiert hat: 46 „Er ist ja wirklich ein bedeutender Anwalt. Aber reden könnt Ihr alle, was Ihr wollt. Am Ende haben wir doch das letzte Wort.“ Dieses terminologische Missverständnis sollte bei einer Reform des § 258 StPO ausgemerzt werden.
39
Wie Fn 15, Rn 809. Julius in: Heidelberger Kommentar zur Strafprozessordnung, 3. Aufl. 2001, 2850 Rn 11 unter Hinweis auf BGH StV 1985, 356. 41 Greiser-Artkämper Die „gestörte“ Hauptverhandlung – Eine praxisorientierte Fallübersicht, 1997, 103 (104) mwN. Burhoff Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung, 5. Aufl. 2006, 551. 42 Dästner in: Kommentar zur Strafprozessordnung, Bd. 2, 1993, § 258 Rn 28. 43 Vgl. Fn 15, Rn 812. 44 Krey Strafverfahrensrecht, Bd. 2, 1990, 22 ff. 45 OLG Hamm, NStZ-RR 2001, 334 (335). 46 Rudolf Gerhardt Ansichten eines Anwalts, in: FS für Rudolf Nirk, hrsg. v. Bruchhausen, Hefermehl, Hommelhoff, Messer, 1992, 351 (355). 40
Die Erzeugung prozessualer Gewalt durch die Auslegung materiellen Rechts Wolfgang Naucke I. Besteht der Verdacht, daß jemand betrunken gefahren ist, wird eine Blutprobe entnommen. Weigert sich der Verdächtige, die Blutprobe entnehmen zu lassen, wird er gezwungen, die Blutentnahme zu dulden. Geduldet werden müssen bei Weigerung ein gewaltsamer Entzug der Freiheit für den Transport zur Blutentnahmestelle und ein gewaltsam vorgenommener Eingriff in die Freiheit und in die körperliche Unversehrtheit, um Blut aus der Vene der Armbeuge entnehmen zu können. Zu den aktuellen strafjuristischen Routinen gehört es, die Frage zuzulassen, welches die gesetzliche Grundlage für die Ausübung von Gewalt gegen den einer Trunkenheitsfahrt Verdächtigen sei. Die übliche Antwort ist: § 81a StPO.1 Doch diese Antwort ist schwach. Von der Zulässigkeit einer Freiheitsberaubung steht in der Vorschrift nichts. Zur Zulässigkeit einer Körperverletzung heißt es zwar in Abs. 1 der Bestimmung, Blutproben dürften „ohne Einwilligung“, also auch gewaltsam entnommen werden. Vorausgesetzt ist freilich, daß die Blutprobe „für das Verfahren von Bedeutung“ ist. Diese Voraussetzung gilt als selbstverständlich gegeben; sie ist es aber nicht. Daß eine Blutprobe für ein Strafverfahren wegen Trunkenheit am Steuer „von Bedeutung“ ist, folgt nicht aus einer wohlüberlegten, parlamentarisch beratenen und beschlossenen Bestimmung. Vielmehr folgt dies aus einem bemerkenswerten Umgang der Rechtsprechung mit dem materiellen Recht. Dieser Umgang ist zu beschreiben und zu interpretieren. Es geht um das Problem der Gewalt gegen die Person im strafprozessualen Beweisverfahren.
1 Zusammenfassung mit umfangreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung bei Meyer-Goßner StPO, 49. Aufl., Rn 13 u. 29 zu § 81a. Typischer Sachverhalt: Schl.-H. OLG in: SchlHA 1966, 43 mit Anm. von mir.
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II. Die zentralen materiellrechtlichen Vorschriften zur strafrechtlichen Ahndung der Trunkenheit am Steuer sind §§ 315c Abs. 1 Nr. 1a, 316 StGB. Hauptmerkmal des objektiven Tatbestandes ist jeweils, daß der Verkehrsteilnehmer „infolge des Genusses alkoholischer Getränke … nicht in der Lage ist, das Fahrzeug sicher zu führen“. Es ist feste juristische Gewohnheit geworden, den Wortlaut dieser Vorschriften nicht mehr zu beachten. Dieser Wortlaut stammt aus dem 2. Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs v. 1964; die Vorgängerbestimmung – § 315a StGB a.F. – war ähnlich gefaßt. Der Wortlaut der genannten Vorschriften ist gehaltvoll. Mit erfahrungsreichen Begriffen wird eine gefährliche Fahrweise beschrieben und ein Ursachenzusammenhang mit einem in der Gesellschaft verbreiteten Trinkverhalten hergestellt. Dieser Wortlaut verlangt eine sorgfältige Beweisaufnahme über den Einzelfall nach den Regeln des § 244 StPO. „Zur Erforschung der Wahrheit“ (§ 244 Abs. 2 StPO) müssen Ort, Zeit, Fahrweise, Verkehrssituation, Wetterlage, Trinkverhalten und Wirkung des Trinkverhaltens auf den Fahrer ermittelt werden.2 Über das Ergebnis der Ermittlungen entscheidet das Gericht in freier Beweiswürdigung gem. § 261 StPO. Auf den Blutalkoholgehalt allein kommt es nicht an.3 Man braucht das Blut des Verdächtigen nach dem Wortlaut des Gesetzes zur Beweisführung nicht. Gewaltanwendung zum Erlangen von beweisrelevantem Blut ist nach den Texten des positiven materiellen Rechts ausgeschlossen. Dieses Zusammenspiel des Wortlauts der §§ 315a, 316 StGB mit §§ 244, 261 StPO ist kein gesetzgeberischer Zufall, vielmehr das folgerichtige Ausmünzen einer mühsam erreichten strafprozessualen Kultur. Im 18. und 19. Jahrhundert verschwindet die Gewalt gegen die Person zur Erzwingung von Beweisen langsam aus dem Strafprozeßrecht. Die Ausrichtung der Beweisaufnahme an der materiellen Wahrheit und das Recht und die Pflicht zur schwierigen freien Beweiswürdigung wollen den befürchteten Verlust eines zupackenden erfolgreichen, Gewalt gegen die Person nicht scheuenden Beweisverfahrens ausgleichen. §§ 244, 261 StPO formen diesen Verlauf der Entwicklung des strafprozessualen Beweisrechts zu einer die Richter, die Staatsanwälte und die Verteidiger bindenden Verfassung.4 In seiner Genauigkeit, juristischen Schwierigkeit und Würde ist dieses Verfahren noch zu
2 Als selbstverständlich festgeschrieben in: Schönke-Schröder StGB, 7. Aufl. 1954, Anm. II 2 zu § 315a. 3 Schönke-Schröder (Fn 2) Anm. II 2 zu § 315a. 4 S. Ignor Geschichte des Strafprozesses in Deutschland 1532–1846, 2002, Dritter Teil, insb. S. 249 ff; Rüping/Jerouschek Grundriß der Strafrechtsgeschichte, 4. Aufl. 2002, Rn 243 ff.
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erkennen in jenen aktuellen Sachverhalten, in denen eine Blutprobe nicht vorhanden ist, die beteiligten Juristen also belegen müssen, daß sie aus Prinzipien mit Gesetzestexten zum Beweisverfahren umgehen können, was juristisch mehr ist als standardisierte medizinische Blutalkoholbestimmungen zur Kenntnis zu nehmen.5 Erinnerungswürdig an dem in §§ 244, 261 StPO geregelten Beweisverfahren ist, daß die Achtung und Gewährleistung der Menschenrechte in den Regelungen selbst schon enthalten ist. Man braucht nur ein historisch kenntnisreiches Verständnis dieser Bestimmungen, um ihre Begrenzung durch die Menschenrechte zu entdecken. Einer Kontrolle durch andere Regelungen, etwa durch einen Verfassungstext oder durch ein Verhältnismäßigkeitsprinzip, bedarf es – eigentlich – nicht.
III. Diese eindeutige juristische Situation ist ohne ein Zutun des Gesetzgebers von der Rechtsprechung umgestürzt worden. Die Entwicklung im einzelnen ist noch ungeklärt.6 Das Ergebnis des juristischen Umsturzes ist zusammengefaßt in BGHSt 5 (1953), 168 ff. Diese Entscheidung registriert noch die alte anspruchsvolle Beweiswürdigungs-Situation, die das Zusammentreffen des erfahrungsgesättigten Merkmals „infolge des Genusses alkoholischer Getränke nicht in der Lage, ein Fahrzeug sicher zu führen“ mit der freien Beweiswürdigung entstehen läßt. Trinkverlauf und Fahrweise des Beschuldigten werden genau geschildert. Der Einwand des Revisionsführers, Konzentrations- und Reaktionsweise des Beschuldigten seien nicht beeinträchtigt gewesen, wird noch einmal ernst genommen. Beweiserhebung und Beweiswürdigung des Instanzgerichts werden auch registriert, aber vom Tisch gewischt.7 Die Entscheidung belegt, daß die Entnahme von Blutproben bei Trunkenheitsfahrten bereits zum Standard der Ermittlungen gehört. Der 5
Vgl. OLG Koblenz VRS 67 (1984), 256 mit weiteren Belegen; zusammenfassend BGHSt 34 (1986), 29 ff. 6 Eine Skizze dieser Entwicklung findet sich bei Bialas Promille-Grenzen, Vorsatz und Fahrlässigkeit, 1996, S. 35 ff; wichtige Hinweise – am Beispiel der Beweisverbote – bei Dallmeyer Beweisführung im Strengbeweisverfahren, 2006, insb. S. 180 ff. – Es mag in dieser Entwicklung eine Rolle spielen, daß die Revisionsgerichte an die Nachvollziehbarkeit der freien Beweiswürdigung durch die Instanzgerichte immer höhere Anforderungen gestellt haben (Übersicht: Meyer-Goßner – Fn 1 – Rn 1 ff zu § 261). Wahrscheinlich färbt die Sicherheit des Sachbeweises auf die Beurteilung der Ergebnisse der freien Beweiswürdigung ab. Das Ergebnis der freien Beweiswürdigung muß so sicher sein wie der in Zahlen ausgedrückte Sachbeweis, der keiner Würdigung bedarf. Das fördert die Distanzierung von der freien Beweiswürdigung und die Bereitschaft, den verzifferten sicheren Sachbeweis zu suchen, auch mit Gewalt. 7 BGHSt 5 (1953), 169 f.
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BGH stürzt sich auf die im angefochtenen Urteil mitgeteilte, aber nur im Rahmen der Beweiswürdigung gem. § 261 StPO genutzte Blutalkoholkonzentration von 1,8 ‰ und befindet, daß bei einem solchen Wert ein Autofahrer absolut fahruntüchtig ist. Die Grenze liege bei 1,5 ‰. Bei diesem Grenzwert brauche eine weitere Beweiserhebung und Beweiswürdigung nicht vorgenommen zu werden. Ein Versuch, diese Auffassung gesetzlich, etwa durch Auslegung, zu sichern, wird nicht unternommen. Folgender Satz muß juristisch reichen: absolute Fahruntüchtigkeit bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,5 ‰ „ist das Ergebnis wissenschaftlich gesicherter Erfahrung“. Die Folgen dieser Entscheidung im materiellen und im prozessualen Strafrecht kommen einem juristischen Mentalitätswechsel gleich. Im materiellen Recht wird ohne Gesetzgebung ein schwer zu handhabendes normatives Straftatmerkmal durch eine einfach zu handhabende Zahl ersetzt. Das Hantieren mit Grenzwerten, die in Zahlen ausgedrückt sind, wird zu einem eigenen Rechtsgebiet mit vielen Unsicherheiten und Alternativen.8 Dieser Verlauf ist folgerichtig. Diese Grenzwertzahlen sind Teil der Bekämpfung von Trunkenheitsfahrten. Die Zahlen bleiben normative Straftatmerkmale.9 Sie können verschieden schwere Unrechtsgrade ausdrücken („relative“ und „absolute“ Fahruntüchtigkeit), und sie können, immer gestützt auf bereitstehende gesicherte wissenschaftliche Erfahrung, bei ansteigendem Bekämpfungsbedürfnis 10 gesenkt werden, z.B. innerhalb von knapp 40 Jahren um 0,4 ‰ auf derzeit 1,1 ‰ für die absolute Fahruntüchtigkeit.11 Ist die wissenschaftliche Erfahrung doch nicht ganz gewiß, dämpft man die juristische Unsicherheit mit einem „Sicherheitszuschlag“ auf einen möglichen niedrigeren Wert.12 Dieser „Sicherheitszuschlag“ ist nichts anderes als die Ankündigung einer weiteren Senkung. Bei diesen Grenzwert-Senkungen müssen das Rückwirkungsverbot (§§ 1, 2 Abs. 1 StGB) neutralisiert 13 und die Lehre vom Verbotsirrtum zu Lasten des Beschuldigten eingeschränkt werden.14 Die Begriffe Vorsatz und Fahrlässigkeit, die sich auf wandelbare
8
S. z.B. Tröndle/Fischer StGB, 54. Aufl. 2007, Rn 12–38 zu § 316. Versuch einer Bestandsaufnahme dieses Zustandes Naucke Juristische Entwicklungen an den Promillegrenzen zur Bewertung der Fahrtüchtigkeit von Kraftfahrern, FS Bockelmann, 1979, S. 699 ff. 10 Deutlich formuliert in BGHSt 37 (1992), 94 f. 11 BGHSt 37 (1992), 89 ff. 12 BGHSt 37 (1992), 92 ff (97). 13 BVerfG NJW 1990, 3140. Materialreiche Auseinandersetzung mit dieser Rechtsprechung Ulfrid Neumann Rückwirkungsverbot bei belastenden Rechtsprechungsänderungen der Strafgerichte, ZStW 100 (1991) 331 ff. 14 OLG Karlsruhe NJW 1967, 2168. Die zu diesem Problem gehörende Rechtsprechung ist zusammengestellt und bewertet von Löw Die Erkundigungspflicht beim Verbotsirrtum nach § 17 StGB, 2002, S. 202 ff. 9
Erzeugung prozessualer Gewalt durch Auslegung materiellen Rechts
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Zahlen schlecht beziehen lassen, müssen vereinfacht werden.15 Der Versuch, diese Probleme der Umdeutung eines materiellrechtlichen normativen Merkmals in eine Zahl zu entschärfen, indem man die Zahl als Beweiszeichen etikettiert,16 ist durchsichtig. Man erklärt die Folge einer Änderung des materiellen Rechts für die Beweiserhebung und für die Beweiswürdigung zur selbständigen strafprozessualen Erscheinung. Das ist eine Mißachtung der Bedeutung des materiellen Rechts für die Handhabung des Strafprozeßrechts. Die Folgen der Verzifferung des normativen Straftatmerkmals „infolge des Genusses alkoholischer Getränke nicht in der Lage, ein Fahrzeug sicher zu führen“ im Strafprozeßrecht reichen viel weiter als im materiellen Recht. Die „Wahrheit“ des § 244 Abs. 2 StPO ist nun eine Zahl. Eine Beweiswürdigung nach dem Muster des § 261 StPO findet nicht mehr statt. „Das Ergebnis der Beweisaufnahme“ ist eine Ziffer. Die Bildung der „freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung“ ist auf das Zustandekommen und das Registrieren dieser Ziffer reduziert. Die Prinzipien der Mündlichkeit und der Unmittelbarkeit laufen leer. Gesetzlich gesichert wird dieser Leerlauf durch § 256 Abs. 1 StPO. Das Gutachten über die Bestimmung des Blutalkoholgehalts (dieses Gutachten ist im Regelfall ein Formblatt, dessen wichtigster Punkt die Rubrik „Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit“ ist) kann verlesen werden. Es kommt zu einer Bürokratisierung der Beweisaufnahme. Gewichtiger ist, daß diese vereinfachte Beweisaufnahme ohne Blutprobe nicht möglich ist. Es kommt in diesem Verfahren entscheidend darauf an, die Blutprobe zu bekommen. Wird die Probe freiwillig hergegeben, entstehen jedenfalls keine positivrechtlichen Probleme. Weigert sich der Beschuldigte, zeigt sich das Phänomen der Erzeugung prozessualer Gewalt durch die Auslegung materiellen Rechts als Beispiel für das moderne allgemeine Problem der Gewalt gegen die Person in der strafprozessualen Beweisaufnahme. Die Reduktion des materiellen Rechts auf eine bestimmte Blutalkoholkonzentration öffnet den Weg zu § 81a StPO. Erst durch die neue Ausrichtung des materiellen Rechts wird die Blutprobe zu einer Tatsache, „die für das Verfahren von Bedeutung“ ist: § 81a StPO. Diese Bestimmung läßt die Blutentnahme „ohne Einwilligung des Beschuldigten“, mit Gewalt also, zu.17 Wehrt sich der Beschuldigte dennoch, so taucht ein wiederum materiellrechtlicher Mechanismus zur Sicherung der Gewaltanwendung gem. § 81a StPO auf. Der Beschuldigte macht sich nach § 113 StGB wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte strafbar.18 Und um juristisch ganz sicher zu gehen, daß 15
Genaue Auswertung der Rechtsprechung von Bialas (Fn 6). Am ausführlichsten Horn Blutalkoholgehalt und Fahruntüchtigkeit, 1970; nur noch behauptend BVerfG NJW 1990, 3140. 17 BGHSt 24 (1972), 125 ff. 18 Tröndle/Fischer (Fn 8) Rn 14 zu § 113. 16
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die Blutentnahme mit Gewalt erfolgen kann, gelten die Zwangsbefugnisse aus § 81a StPO als Rechtfertigungsgründe für Nötigung, Freiheitsberaubung und Körperverletzung.19
IV. Das juristische Charakteristikum dieses Vorgangs ist noch einmal hervorzuheben: Eine – gemessen an der Formulierung des materiellen Rechts – gewaltlos geregelte Beweiserhebung und Beweiswürdigung wird durch eine auf den ersten Blick ganz professionelle Routinehandlung der Rechtsprechung, nämlich durch die als Interpretation auftretende Überführung eines normativen Straftatmerkmals in eine Zahl, zur Quelle materiellrechtlich verstärkter prozessualer Gewalt. Polizei, Staatsanwaltschaft, Ärzte, Gerichte und Strafrechtslehrer gehen bei Verfahren wegen Trunkenheit am Steuer von dieser juristischen Situation aus. Diese Situation versteht sich aber nicht von selbst. Das Entstehen dieser Situation zwingt vielmehr zu allgemeineren Überlegungen zum Zustand des Strafprozeßrechts, vor allem zum Verhältnis des strafprozessualen Beweisrechts zur Gewaltanwendung gegen die Person. Am juristischen Modell der Erzeugung prozessualer Gewalt durch die Auslegung materiellen Rechts wird klar, daß die StPO seit dem Inkrafttreten 1877 zwei sich widersprechende Beweiserhebungs- und Beweiswürdigungssysteme ausgebildet hat. Die Entwicklung der Beweiserhebung und der Beweiswürdigung bei Trunkenheitsfahrten rechnet mit dem Bestehen dieser beiden Systeme. Die Erzeugung prozessualer Gewalt durch die Auslegung materiellen Rechts läßt sich verstehen als Überführung einer bestimmten Beweissituation von dem älteren in das jüngere System ohne Auftreten des Gesetzgebers. Gäbe es die beiden sich widersprechenden Systeme nicht, wäre diese Überführung nicht möglich. Die beiden Systeme sind zu beschreiben. Als juristische Tendenz wird sichtbar, daß das ältere System anspruchsvoll, menschenrechtsfreundlich, großzügig in der Frage möglicher Straflosigkeit aus Mangel an Beweisen, das jüngere System einfach, gewaltbereit, kleinlich in der Frage möglicher Straflosigkeit aus Mangel an Beweisen ist. Die Einzelheiten: Es gibt das schon angedeutete klassische juristische Vorgehen. Nach dem Wegfall der Geständnis-Folter, mit der Sicherung der Aussagefreiheit des Beschuldigten und mit der Einführung der freien Beweiswürdigung entsteht in der StPO von 1877 ein Beweisverfahren ohne Gewalt gegen die Person. Dieses klassische Vorgehen ist aus der StPO nicht gestrichen worden. 19 Ausdrücklich und vorbehaltlos Baumann/Weber/Mitsch Strafrecht, Allgemeiner Teil, 11. Aufl. 2003, Rn 142 in § 17.
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Daneben aber und unverbunden mit dem klassischen Vorgehen ist in der StPO ein modernes Vorgehen klar und kräftig organisiert worden: die Gewaltanwendung, um an Beweisgegenstände zu kommen, die sich am oder im Körper des Beschuldigten oder anderer Personen befinden. Getragen ist die Ausbildung dieses Vorgehens von der Überzeugung, der Sachbeweis, der durch Gegenstände am oder im Körper einer Person zu führen sei, müsse gesichert werden. Dieser Überzeugung liegt eine Vorstellung zugrunde, die einen Teil der Folter-Debatte enthält. Ein gewichtiges Argument gegen die Anwendung der Folter war und bleibt, daß Folter zu unsicheren Ergebnissen führt. Das Argument, Folter sei menschenunwürdig, ist in dieser Debatte eine Zusatzerwägung.20 In einer Epoche, in der die Naturwissenschaften dem Strafprozeß sichere Sachbeweise anbieten, muß die Frage nach der Zulässigkeit von Gewalt gegen die Person im Beweisverfahren wieder auftauchen. Der Haupteinwand gegen die Anwendung von Gewalt gegen die Person im Beweisverfahren – diese Gewalt bringe nur unsichere Ergebnisse – fällt weg.21 Folglich wird Gewalt gegen die Person zur Erlangung von sicheren Sachbeweisgegenständen juristisch mühelos eingeführt. Diese Orientierung des Beweisrechts am sicheren Sachbeweis wird getragen von der kriminalpolitischen Auffassung, der Strafprozeß sei nicht länger Verfahrensverfassung der Strafe, müsse vielmehr zur Verbrechensbekämpfung tauglich gemacht werden. Das ist in den Anfängen der Regelung des personengebundenen sicheren Sachbeweises schon zu sehen. Bei der gesetzlichen Fixierung der erkennungsdienstlichen Behandlung, des Fingerabdruckverfahrens und der körperlichen Untersuchung wird ohne Zögern jenes Merkmal eingeführt und damit juristisch hoffähig gemacht, das bis heute bei allen Bestimmungen über den Beweis durch Sachen oder Anhaltspunkte, die sich an oder in der Person befinden, wie selbstverständlich auftaucht: Entnahme „gegen den Willen“ oder „ohne Einwilligung“ des Beschuldigten. Das sind die Formulierungen aus §§ 81a, b StPO. Diese Vorschriften kommen durch das Ausführungsgesetz zu dem Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933 in die StPO – nach langer, auf die Festlegung von 1933 zielender Diskussion.22 20 Prägend für die gesamte Debatte Beccaria Von den Verbrechen und von den Strafen (1764), Neuausgabe 2004, S. 31 ff, bes. 33 ff (das grausame Beweisverfahren ist ein unsicheres Beweisverfahren). 21 Vgl. zu den Einzelheiten der Neuausrichtung der StPO: Olaf König Die Entwicklung der strafprozessualen Zwangsmaßnahmen im Ermittlungsverfahren seit 1877, 1993; Vec Die Spur des Täters, Methoden der Identifikation in der Kriminalistik 1879–1933, 2002. 22 Ausführlich: Eisenhardt Das nemo tenetur-Prinzip: Grenze körperlicher Untersuchungen des Beschuldigten am Beispiel des § 81a StPO, Diss. Frankfurt/M., 2006, Kapitel 2; weiter: König (Fn 21) S. 72 ff; Vec (Fn 21) S. 47 ff, 104 f; v. Hippel Der deutsche Strafprozeß, 1941, S. 431 f.
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Die epochemachende Wirkung des Gewohnheitsverbrechergesetzes und des Ausführungsgesetzes zu diesem Gesetz für den Strafprozeß müßte sorgfältiger beachtet werden als es geschieht. Diese Gesetze sind von geringer juristischer Dignität; sie beruhen auf dem Ermächtigungsgesetz von 1933, das den Namen „Gesetz“ nicht verdient.23 Sachlich folgenreicher ist, daß durch das Gewohnheitsverbrechergesetz und sein Ausführungsgesetz parallel zu den beiden materiellrechtlichen Strafrechtsspuren („Strafen und Maßregeln“) zwei Spuren des strafprozessualen Beweisrechts gesetzt werden: neben das konservative, gegen die Person gewaltfreie Beweisen beim Strafen tritt das moderne, einfache, mit Gewalt gegen die Person vorgehende Beweisen zum Zwecke der Verbrechensbekämpfung. Und wie im materiellen Strafrecht seit 1933 Strafen und Maßregeln eine neue Machtsumme aus Repression und Prävention bilden, so bilden seit 1933 gewaltloses und gewaltbereites Beweisverfahren eine Summe zur Verbesserung der Verbrechensbekämpfung. In den Erläuterungen zu §§ 81a, b StPO i. d. F. von 1933 ist das ausdrücklich und kriminalpolitisch selbstsicher festgehalten.24 Das beweisrechtliche Regelungsmodell von 1933 wird festgeschrieben durch § 81c II StPO (Untersuchung anderer nicht-beschuldigter Personen „ohne ihre Einwilligung“). Besonders aufschlußreich ist das aktuelle positivrechtliche Verhältnis von DNA-Analyse und Gewalt gegen die Person. Die DNA-Analyse, modernes Paradebeispiel für Sicherheit und verbrechensbekämpfende Reichweite des Sachbeweises, freilich auch Paradebeispiel für die Gebundenheit des Sachbeweises an die Person, diese DNA-Analyse wäre nichts wert, wenn der Beschuldigte oder andere Personen die Hergabe analysefähigen Materials verweigern könnten und wenn man sie zur Hergabe nicht zwingen dürfte. Das bräche die Entwicklung von der gewaltlosen unsicheren freien Beweiswürdigung zum sicheren, freilich auch mit Gewalt durchgeführten, von schwierigen Würdigungen befreiten Sachbeweis ab. Nichts weist auf eine solche Tendenz hin, im Gegenteil.
23 Die Verhöhnung jeder einigermaßen soliden Gesetzesberatung und Gesetzesverabschiedung durch die NSDAP-Fraktion im Reichstag am 24.3.1933 ist gut zugänglich dokumentiert in: Das Ermächtigungsgesetz v. 24. März 1933, mit einer Einführung von Prof. Dr. Adolf Laufs, 2003, S. 1 ff, bes. 49 ff Diese Verhöhnung schließt aus, daß man das verfassungsändernde Ermächtigungsgesetz ein „Gesetz“ nennt und juristisch wie ein Gesetz behandelt. 24 Vgl. die genaue Schilderung und Interpretation des NS-Gesetzgebungsverfahrens für § 81a StPO bei Eisenhardt (Fn 22) Kapitel 2 II 4; s. auch König (Fn 21), S. 72 ff. – Wichtig ist, daß 1933 die Parallelität von zweispurigem materiellem Recht und zweispurigem prozessualem Recht betont wird (Reichs- und Staatsanzeiger Nr. 277 v. 27. November 1933, S. 2 und 1. Beilage S. 2); in der gegenwärtigen Debatte wird das regelmäßig übersehen.
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Die DNA-Analyse-Formen im laufenden Verfahren (§ 81e StPO), für künftige Verfahren (§ 81g StPO) und für Massengentests (§ 81h StPO) sind direkte umfangreiche beweisrechtliche Ausweitungen des § 81a StPO. Daß analysefähiges Material auch mit Gewalt erlangt werden darf, liegt in der juristischen Ähnlichkeit mit dem „Modell § 81a StPO“. Auffällig ist daher, daß §§ 81e, 81g, 81h StPO nicht parallel zu § 81a StPO formuliert sind. Das Merkmal „Entnahme ohne Einwilligung“ ist nicht ausdrücklich genannt. Dieses Merkmal wird vielmehr unter Nutzung einer modernen Gesetzestechnik durch implizite oder explizite Verweisungen eingeführt. § 81e Abs. 1 StPO verweist auf § 81a Abs. 1 StPO; analysefähiges Material ist durch diese Verweisung auch ohne Einwilligung gewinnbar. Für Restfälle, die nicht von §§ 81e Abs. 1, 81a Abs. 1 StPO erfaßt sind, ermöglicht § 81f Abs. 1 StPO den notwendigen Zwang.25 § 81g Abs. 1 StPO enthält keinen Verweis auf § 81a StPO; das ist inkonsequent. Konsequent ist daher die Praxis, die § 81a StPO in § 81g Abs. 1 StPO hineinliest und auf diesem Weg die zwangsweise Gewinnung von Blut als analysefähigem Material ermöglicht.26 Für den Beschuldigten entsteht eine juristisch unverständliche und schwer erträgliche Lage: entweder er macht freiwillig den Mund auf zur Entnahme einer leicht entnehmbaren Speichelprobe oder er nimmt – bei Widerstand – die vielfältige Gewaltanwendung nach § 81a Abs. 1 StPO auf sich.27 Sehr heikel ist das Verhältnis der Massengentests – § 81h StPO – zur Gewalt gegen die Person. Die Gewaltmenge, die in der juristischen Figur „sicherer Sachbeweis rechtfertigt Gewalt gegen die Person zur Verbesserung der Verbrechensbekämpfung“ steckt, wird unübersehbar. Es wäre kriminalpolitisch nicht inkonsequent, bei Verweigerung des DNA-Tests einen in Frage kommenden großen Kreis von Personen in den Test zu zwingen. § 81h Abs. 4 StPO muß gegen diese Konsequenz ausdrücklich schützen.28 Der juristische Druck auf diese Vorschrift mit dem Ziel, den Schutz zu lockern, ist freilich spürbar, und die juristische Phantasie, die den Druck plausibel machen soll, ist groß. Zwei voneinander abhängige Druckformen sind
25
S. Meyer-Goßner (Fn 1) Rn 3 a.E. zu § 81f mit Rechtsprechungsnachweisen. S. Meyer-Goßner (Fn 1) Rn 3 a.E. zu § 81g mit Rechtsprechungsnachweisen. 27 Diese Denkform – auf die Blutprobe nach § 81a StPO zurückzugehen, wenn der Weg zur Anwendung von Zwang gegen die Person sonst nicht zulässig wäre – ist ein bemerkenswertes Nebenergebnis der verbreiteten Überzeugung: „der sichere Sachbeweis ermöglicht ungewöhnliche juristische Denkformen“. Erprobt ist diese Denkform bei Verfahren wegen Trunkenheit am Steuer. Es gilt als seriös gesichert, daß der Beschuldigte, der den angeblich aktive Mitwirkung verlangenden Atemlufttest verweigert, nicht zu diesem Test gezwungen werden kann, daß man aber als viel sichereren Ersatz mit Gewalt das passive Dulden der Entnahme einer Blutprobe durchsetzen kann (sehr klar Beulke Strafprozeßrecht, 9. Aufl., 2006, Rn 241 mN). 28 S. Meyer-Goßner (Fn 1) Rn 15 zu § 81h. 26
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erkennbar. Bei Weigerung eines großen Personenkreises, analysefähige Proben entnehmen zu lassen, faßt man alle Personen als eine neue Art von Beschuldigten auf und öffnet damit den Zugriff auf die Techniken des § 81a Abs. 1 StPO, also auch auf massenhaften Zwang gegen die Person zur Entnahme von analysefähigen Proben; Rechtsprechung und Literatur schrecken vor dieser Szene zurück.29 Eine zweite abgemilderte Form dieser Szene wird freilich für möglich gehalten. Wenn viele der Betroffenen freiwillig analysefähiges Material abgegeben haben, und wenn nur noch eine kleine Gruppe sich weigert, dann soll wenigstens diese Gruppe zu der neuen Art von Beschuldigten gezählt werden mit der Folge der Zuständigkeit des § 81a Abs. 1 StPO.30 Die juristische Schwierigkeit bei diesen Formen des Drucks auf § 81h Abs. 4 StPO liegt aber offenbar nicht in der Zwangsmenge, die zur Debatte steht, sondern in den Grenzen des Beschuldigtenbegriffs. Also überlegt man, ob man diese Zwangsmenge nicht gewinnen kann, ohne den Beschuldigtenbegriff allzu sehr zu pressen. Diese Überlegung ergibt, daß man den großen, für eine DNA-Analyse in Frage kommenden Personenkreis doch auch als „andere Personen“ im Sinne des § 81c Abs. 2 StPO auffassen kann. Dann folgt, daß aus der Verbindung von § 81e Abs. 1 Satz 2 StPO mit § 81c Abs. 2 StPO ein massenhafter Zwang zur Hergabe analysefähiger Blutproben juristisch zu erzeugen ist.31 Bisher scheint das noch eine, allerdings genau durchdachte, Erwägung zu Möglichkeiten zu sein. Aber in einer solchen Erwägung zeigt sich einmal mehr die gegen das Verbrechen kämpfende starke Mentalität des „Modells § 81a StPO“, also der zweiten Spur des strafprozessualen Beweisrechts.
V. Der Versuch, die Erzeugung prozessualer Gewalt durch die Auslegung materiellen Rechts zu begreifen, führt auf ein fest gefügtes strafprozessuales Denken in zwei Spuren: Im Text der StPO niedergelegt ist nach wie vor das klassische Beweisverfahren ohne Gewalt gegen eine Person, mit der Aussagefreiheit des Beschuldigten und mit schwieriger freier Beweiswürdigung. Nach dem 2. Weltkrieg ist dieses Verfahren noch einmal bestätigt worden durch das Verbot der Anwendung von Gewalt und anderem Zwang bei der Vernehmung des Beschuldigten und anderer Personen (§§ 136a, 163a StPO). 29
S. den Bericht von Beulke (Fn 27) Rn 242b mN. BGHSt 49 (2004) 56 ff (60) unter Berufung auf BVerfG NJW 1996, 3071 ff. 31 Vgl. den Bericht über den Stand der Debatte, die den im Text geschilderten Weg eher skeptisch betrachtet, bei Beulke (Fn 27) Rn 242b a.E. 30
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Neben dieses respekterheischende Beweisverfahren ist im 20. Jahrhundert ein zweites modernes Vorgehen gesetzt worden: die Anwendung von Gewalt zur Erlangung von Gegenständen oder Anzeichen an oder in einer Person. Ziel der Gewaltanwendung ist das Schaffen der Grundlage für einen sicheren, die Verbrechensbekämpfung fördernden Sachbeweis. Die beiden Handlungsspuren beim strafprozessualen Beweisen schließen sich aus. Man gerät in die Nähe juristischer Hypochrisie, wenn man § 136a StPO unverzichtbar findet und § 81a StPO mit seinen Fortsetzungen auch. Es sollte in Praxis und Wissenschaft nicht erlaubt sein, das Gewaltpotential des § 81a StPO praktisch zu nutzen oder wissenschaftlich abzuhandeln, dabei die Gewalt, die § 81a StPO ermöglicht, gutzuheißen, und § 136a StPO nicht zu erwähnen. Als § 136a StPO 1950 neu in die StPO aufgenommen wurde 32 und als der Bundestag im gleichen Gesetz § 81a StPO bestätigte,33 ist der nicht auflösbare Widerspruch in dieser Gesetzgebung noch gesehen worden. Man traut seinen, an die sterile Sprache, in der § 81a StPO üblicherweise dargestellt wird, gewöhnten Augen kaum: in den Protokollen des Bundestages zur Beratung des § 81a StPO wird 1949 die Streichung der gesamten Vorschrift verlangt, wenigstens aber die Streichung des Merkmals „ohne Einwilligung“ des Betroffenen. Die Begründung könnte kantiger nicht sein: die Vorschrift habe eine Nähe zum Polizeistaat, wäre ohne NS-Gesetzgebung im deutschen Recht unmöglich einzuführen gewesen, sei „vom Rechtsstaat sehr weit entfernt“. Die Verteidigung der Vorschrift ist blaß; § 81a StPO sei „notwendig“ und „nicht zu entbehren“.34 Die blasse Verteidigung findet freilich die Mehrheit. Damit bleibt das Problem erhalten. Zusammengefaßt und zugunsten des „Modells § 81a StPO“ erledigt worden ist der Widerspruch durch die Entscheidung BGHSt 24 (1971), 125 ff. Der BGH trennt die beiden Beweisspuren und befreit damit das „Modell § 81a StPO“ vom Maßstab des § 136a StPO durch zwei Hinweise: §§ 136a, 81a StPO hätten nichts miteinander zu tun, weil es einerseits um Vernehmung, andererseits um Blutentnahme gehe.
32 Eingefügt durch das Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts v. 12.9.1950, BGBl. I S. 455 (482). 33 § 81a StPO wurde bestätigt durch das in Fn 32 genannte Gesetz (484). 34 Protokolle des Deutschen Bundestages, 1. Wahlperiode, 79. Sitzung am 26. Juli 1950, 2905 ff. Die Bemerkung, § 81a StPO sei nicht zu entbehren, stammt von dem damaligen Justizminister Dr. Dehler (aaO 2909). – Vgl. zu der damaligen Debatte Eisenhardt (Fn 22) Kapitel 2 III 1, 2 und Ulfrid Neumann Mitwirkungs- und Duldungspflichten des Beschuldigten bei körperlichen Eingriffen im Strafverfahren, FS E. A. Wolff, 1998, S. 374 f.
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Und die Zweckrichtung der Vorschriften sei verschieden: Schutz vor aktiver Mitwirkung an der Überführung bei § 136a StPO, Bewirken von passiver Duldung zur Überführung bei § 81a StPO.35 Einen festen Maßstab für die Qualität juristischer Argumente gibt es nicht. Aber daß das Begründungsverfahren des BGH und seiner Gewährszitate nicht sonderlich niveauvoll ist, liegt auf der Hand. Der Hinweis auf den Unterschied zwischen Vernehmung und Blutentnahme sagt nichts. Gemeint ist und benannt hätte werden müssen der Unterschied zwischen unsicherem Wortbeweis und sicherem Sachbeweis; und gemeint ist, daß man auf den mit Gewalt verbundenen sicheren Sachbeweis für Zwecke der Verbrechensbekämpfung nicht verzichten will. Das zweite Argument ist eine noch größere begriffliche Zumutung. Es ist Willkür zu behaupten, Sprechen sei Handeln, Sich-Wehren gegen eine Blutentnahme sei Sich-Wehren gegen ein Dulden.36 Um solche künstlichen Unterschiede geht es auch nicht. Es geht um die juristische Sicherung von Gewalt gegen den Beschuldigten beim Umgang mit unbezweifelbaren, nicht mehr zu würdigenden Beweisgegenständen, um den „Beweis als Herrschaftsausübung“.37 Das Problem wird also zunehmend schwieriger. Der Unterschied zwischen Reden und Blutentnahme und zwischen Handeln und Unterlassen ist unschwer zu entdecken. Was aber juristisch im Prinzip und bei der Entscheidung des Einzelfalls geschieht, wenn man § 81a StPO und die Derivate immer wieder bestätigt und § 136a StPO dabei auf Abstand zu halten versucht, wohl wissend, daß das unrealistisch ist, läßt sich nicht ohne weiteres sagen. Die Entwicklung seit 1933 belegt, daß die zweite, auch gewaltsam arbeitende Beweisverfahrensspur die vitalere und ausbaufähigere ist.38 Diese Entwicklung führt auf die Frage, ob das von § 136a StPO repräsentierte Beweisverfahren das Prinzip und das von § 81a StPO repräsentierte Verfahren die Ausnahme ist; oder ob man das Verhältnis gerade umgekehrt zu sehen hat. 35 BGHSt 24 (1971), 129. Für die juristische Zeitgeschichte interessant ist, daß der BGH eine Auseinandersetzung mit der – für das Verhältnis zwischen § 81a StPO und § 136a StPO – viel genaueren Entscheidung BGHSt 5 (1954), 332 unterläßt. Die flache Argumentation des BGH 1971 wird scheinbar seriöser, wenn man in ihr den Ausdruck einer das Beweisverfahren der StPO durchziehenden Unterscheidung von geistiger und materieller Information aus der Person des Beschuldigten sieht (Verrel Die Selbstbelastungsfreiheit im Strafverfahren, 2001, S. 284 f). Diese Unterscheidung ihrerseits ist aber nur der mißglückte Versuch, zulässige und unzulässige Gewalt gegen die Person des Beschuldigten im Beweisverfahren haben zu können (umfangreiche Darstellung und klare Entscheidung des Problems von Eisenhardt – Fn 22 –, S. 7 ff). 36 Klare Zurückweisung dieser Argumentation von Ulfrid Neumann (Fn 34), 374ff; Eisenhardt (Fn 22) S. 33 ff und Eidam Die strafprozessuale Selbstbelastungsfreiheit am Beginn des 21. Jahrhunderts, 2007, S. 135 ff. 37 Hellen Schilling Illegale Beweise, 2004, S. 59 ff. 38 Vgl. die Daten aus der strafprozessualen Zeitgeschichte bei König (Fn 21), S. 67 ff.
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Im tatsächlichen Ablauf hat sich das Modell § 81a StPO als die Regel, § 136a StPO als eine isolierte Ausnahme erwiesen. Bei der Einführung des § 136a StPO ist das ohne Bedauern vorausgesehen worden.39 Die Ausnahme muß sich gegen die Regel verteidigen, was juristisch mühsam ist. Die zweite moderne Beweisspur wirkt schmälernd auf die erste klassische Spur zurück. Auf die Dauer wird sich § 136a StPO nicht halten können, wenn man das Modell § 81a StPO als selbstverständlich einschätzt. Dabei sind es nicht so sehr aktuelle typische Fälle wie die Androhung von Gewalt zur Erzwingung eines Geständnisses in einem nach den überkommenen Regeln der StPO geführten Verfahren („Frankfurter Fall“), die § 136a StPO schmälern. Solche prozessualen Ereignisse liegen nahe, wenn Gewalt gegen die Person im Beweisverfahren im Prinzip für zulässig gehalten wird, sind aber mit § 136a StPO juristisch noch beherrschbar.40 Breite Einebnungen des Verbots der Anwendung von Gewalt oder gewaltähnlichem Druck gegen die Person im Beweisverfahren sind in dem großen Bereich zu erwarten, in dem das Geständnis wieder eine nach der Folter-Debatte des 18. Jahrhunderts unerwartete ausschlaggebende Rolle spielt, nämlich bei der informellen Erledigung gem. §§ 153 ff StPO und bei den Absprachen. Die aktuelle Rechtsprechung belegt, daß sie bei der informellen Erledigung eines Strafverfahrens und bei den Absprachen kaum in der Lage ist, die naheliegende Druckentfaltung mit § 136a StPO zu kontrollieren.41 Nicht einmal der 39 S. K. S. Bader Zum neuen § 136a StPO, JZ 1951, S. 123: bei allem Respekt sei mit § 136a StPO „zu viel des Guten“ getan worden. Dies ist der Hintergrund, der die aktuellen Kommentierungen des § 136a StPO verständlich macht: Streitfragen über Streitfragen; die Druckmittel, die mit § 136a StPO vereinbar sein sollen, sind beträchtlich; die Grenzen der Vorschrift sind offen (Übersicht bei Meyer-Goßner – Fn 24 – Rn 1 ff zu § 136a). 40 Die Hauptlinien der aktuellen Debatte zu dieser typischen Situation finden sich in: LG Frankfurt/M., NJW 2005, 692 und BVerfG, NJW 2005, 656. Das Argument, das man in mündlichen Debatten hören kann, man solle an die Gewaltmöglichkeit gegen die Person aus § 81a StPO nicht rühren, sonst sei § 136a StPO in Gefahr, ist also falsch. Der Verlauf ist genau umgekehrt. Weil es § 81a StPO („ohne Einwilligung“) gibt und weil man die Gewaltmöglichkeit gegen die Person aus dieser Bestimmung und ihren Erweiterungen praktisch nutzt, ist die Sperre des § 136a StPO nicht leicht zu verteidigen. Geständnis-Folter und Blutentnahme mit Gewalt sind sich im Ablauf zu ähnlich. Diese an der Gewaltanwendung sichtbare Ähnlichkeit verschwindet auch nicht, wenn man eine neue Differenz formuliert: Gültigkeit des nemo tenetur-Prinzips und Ausschluß von Gewalt bei § 136a StPO, nicht bei §§ 81a ff StPO; diese Differenz ist getragen von der überkommenen Vorstellung, §§ 81a ff StPO seien wegen des „Interesses an effektiver Verbrechensbekämpfung“ unentbehrlich (Verrel – Fn 35 – S. 288). Diese Argumentation übersieht die Gewaltähnlichkeit von Folter und Blutentnahme oder Beibringung von Brechmitteln ohne Einwilligung. Es ist das Argument „effektive Verbrechensbekämpfung“, das § 136a StPO aushöhlt. 41 Die gleiche Aufmerksamkeit wie der „Frankfurter Fall“ (s. vorige Fn) verdienten Sachverhalt und Entscheidungsgründe zum Abverlangen von Absprachen – Erklärungen unter unwiderstehlichem Druck in BGH NStZ 2005, 279 mit weiterführender Anmerkung von Eidam StV 2005, S. 201 ff; s. auch BGH StV 2005, 201 und BGHSt 50, 47 zum gleichen Problem. Zusammenfassend Eidam (Fn 36) S. 246 ff.
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ehrwürdige Einwand aus der Folterdebatte, das Geständnis unter Druck sei unsicher und deswegen im Beweisverfahren wertlos, gilt noch. Das moderne Geständnis bei der informellen Erledigung kann zwar tatsächlich falsch sein, aber es bleibt für den Beweis sicher, wenn es in der Absprache fest verankert ist; mit der Absprache wird es wahr. Die Gewaltanwendung zur Förderung des sicheren Sachbeweises dient der Verbrechensbekämpfung. § 136a StPO erscheint als betuliches Beharren auf einer vergangenen Zeit, die materielles und prozessuales Strafrecht als Begrenzung von ohnehin geschehender Verbrechensbekämpfung auffaßte. Die Erzeugung prozessualer Gewalt gegen die Person durch die Auslegung materiellen Rechts, ohne § 136a StPO zu beachten, erweist sich als hochaktuelle Verbindung von materiellem und prozessualem Strafrecht zum Zwecke der Senkung von Kriminalitätsziffern.
VI. Dieses hochaktuelle strafprozessuale Beweisrecht muß zu einer heftigen Debatte über die Frage führen: „Gewaltanwendung gegen die Person im strafprozessualen Beweisverfahren ja oder nein“? Ein Drittes – wenn es opportun ist „ja“, wenn es inopportun ist „nein“ – gibt es nicht. Es gibt einen nicht zu unterbrechenden Zusammenhang zwischen Vernehmung, Fingerabdruck, erkennungsdienstlicher Behandlung, Blutentnahme, körperlicher Untersuchung und Entnahme von DNA-Material. Die juristische Qualität aller dieser Techniken beim Beweisen ist an der Frage zu messen, ob sie Gewalt gegen die Person zulassen, und nicht zu messen an der Art des betroffenen Rechtsguts, nicht am nemo tenetur-Satz und nicht an der Verhältnismäßigkeit. Der Verzicht auf die Folter war der Verzicht auf Gewalt gegen die Person im strafprozessualen Beweisverfahren überhaupt. Die Wiederzulassung der Gewalt gegen die Person beim strafprozessualen Beweisen ist eine Konsequenz des politischen Willens, Erfolge in der Verbrechensbekämpfung zu erzielen. Die ständige Forderung, gegen das Verbrechen „zu kämpfen“, muß die Bereitschaft, im Beweisverfahren auch mit Gewalt zu kämpfen, entstehen lassen. Die Kultur des Strafprozesses, die 1877 mit der StPO einmal erreicht war, ist wie selbstverständlich aufgegeben worden. Ein Protest gegen diese Entwicklung ist zunächst akademisches SichBeschweren über den Mangel an Ehrgeiz in strafprozessualen Grundsatzfragen.42 Aber dabei braucht es nicht zu bleiben.
42 Zur Bedeutung eines solchen Verfahrens gerade für das strafprozessuale Beweisrecht s. Dallmeyer (Fn 6) S. 233 ff.
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Gewaltanwendung gegen die Person im strafprozessualen Beweisverfahren ist ein Zentralproblem des Strafprozesses. Dieses Problem läßt sich nicht zu einem leicht abzuhandelnden Unterproblem positivrechtlich zugelassener strafprozessualer Zwangsmittel verkleinern. Gewaltanwendung gegen eine Person im strafprozessualen Beweisverfahren zeigt alle Merkmale jener Situation, die alles theoretische und praktische juristische Können aufruft: ein Einzelner steht isoliert einer überlegenen Staatsmacht gegenüber; Widerstand ist aussichtslos; wird Widerstand doch versucht, erhöht dies nur die für nötig gehaltene Gewaltmenge; Überwältigung gelingt immer. Dies ist die KernSituation, in der dem Einzelnen zur Abwehr das absolut geltende staatskritische (vom Vorhandensein eines abdingbaren Art. 1 Abs. 1 GG unabhängige) Argument „die Menschenwürde ist unantastbar“ helfen muß. Ein gut gegründetes Argument gegen diese Hilfe gibt es nicht. Die einzig mögliche Erklärung für das Verweigern dieser Hilfe (der sichere Sachbeweis ermöglicht die Rückkehr zu dem Beweisverfahren des Inquisitionsprozesses; die Gewaltanwendung gegen die Person beim sicheren Sachbeweis ist nur die Folge der sicher erwartbaren Bestätigung des Verdachts oder die Vorwegnahme der sicher erwartbaren Strafe) ist eine politische Festlegung, kein rechtliches Argument. Eine Trennung von rechtswidriger Folter zur Erlangung eines Geständnisses und rechtmäßiger Gewalt zur Erlangung sicherer Beweisgegenstände vom Körper des Beschuldigten ist willkürlich.43 Der Hinweis auf vermeintliche juristische Kontrolltechniken wie nemo tenetur-Prinzip, Verhältnismäßigkeitsprüfung und Prüfung der Verfassungsmäßigkeit ist ein juristisches Beruhigungsmittel.44 Eine gesetzlich zugelassene 43 Nach wie vor klar und einprägsam Sax in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd. 3 Halbband 2, 1959, S. 984 ff. S. auch, mit zusätzlichen Überlegungen, Roßmanith Die Verfassungsmäßigkeit von körperlichen Eingriffen nach § 81a StPO, 1969, S. 79 f. 44 An dieser zugegeben ungelenken Argumentation zeigt sich die Verlegenheit, in die die aktuelle Wissenschaft vom Strafprozeß geraten ist. Sie läßt sich ihre Argumente allein von einem als relativ, d.h. historisch zufällig aufgefaßten positiven Recht liefern. Kriterien für die Qualität dieses positiven Rechts können nur aus anderem positiven Recht kommen. Eine Information wird an einer anderen Information gemessen. Im positiven Strafprozeßrecht ist Gewalt gegen die Person im Beweisverfahren in weiten Bereichen zugelassen. Diese Zulässigkeit kann als vorhandene Information prinzipiell nicht bestritten werden. Nur das Vorhandensein von anderem positivem Recht in Art. 1 Abs. 1 GG, in positiv niedergelegten, für unverfügbar erklärten Regeln des Strafprozeßrechts, z.B. im Prinzip der Verhältnismäßigkeit und im nemo tenetur-Grundsatz kann die Debatte über jene Zulässigkeit wieder eröffnen. Doch muß eine Debatte dieser Art vage bleiben. Die Gewalt gegen die Person im strafprozessualen Beweisverfahren hat, da positiviert, einen Vorsprung an Legalität. Es gibt keine Regel, schon gar keine Verpflichtung, anderes positives Recht zu beachten. Wenn man dies doch tut, geschieht dies freiwillig. Und wenn man es tut, muß man damit rechnen, daß das positive Recht, welches man zur Würdigung der positivierten Gewalt gegen die Person im strafprozessualen Beweisverfahren heranzieht, mit weiteren positivrechtlichen Argumenten nachgiebig gemacht wird: Art. 1 I GG kann man mit einem ebenfalls grundgesetzlichen Verhältnismäßigkeitsprinzip weich machen; das Beharren auf
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Gewaltanwendung im Beweisverfahren nachträglich von außen wieder einzufangen, ist nach den Erfahrungen mit §§ 81a ff StPO aussichtslos.45 Nichts Rechtliches spricht dagegen, ohne Kompromisse zur einzigen Beweisspur der StPO von 1877 zurückzukehren: freie Beweiswürdigung ohne Gewalt gegen die Person im strafprozessualen Beweisverfahren. Zur Wiederholung: dieses Verfahren hat Menschenwürdigkeit, nemo tenetur-Prinzip und Verhältnismäßigkeit in seine Strukturen schon integriert; es muß nicht erst von außen anhand dieser Kriterien eingeschränkt werden.46
der Unverfügbarkeit strafprozessualer Regeln ist mit der simplen Frage zu schwächen, wo denn diese Unverfügbarkeit im Gesetz stehe; Verhältnismäßigkeit und nemo teneturPrinzip kann man in der Debatte über Gewalt gegen die Person im strafprozessualen Beweisverfahren unbeachtet lassen, ohne einen juristischen Fehler zu begehen. Es muß erst eingeübt werden, die Gewalt gegen die Person im strafprozessualen Beweisverfahren klug und frei, kenntnisreich und urteilsfest als unrechtlich zu kennzeichnen. 45 Gut ablesbar an der Rechtsprechung zum gewaltsamen Brechmitteleinsatz, der auf § 81a StPO gestützt wird. Die tatsächlichen Abläufe, die sich beim gewaltsamen Brechmitteleinsatz ergeben, stehen Folter-Szenen in nichts nach (vgl. den Sachverhalt in OLG Frankfurt/M. NJW 1997, 1647). Das BVerfG läßt solche Sachverhalte unempfindlich passieren (BVerfG StV 2000, 1). Der EGMR akzeptiert das im Prinzip. Die Leitsätze zu der einschlägigen Entscheidung beginnen mit einem Satz, den man genau lesen muß: „Art. 3 (Verbot der Folter) und Art. 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) verbieten einen zwangsweisen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit einer Person zur Aufklärung einer Straftat nicht grundsätzlich“ (NJW 2006, 3117). Über mühsame, leicht bestreitbare Abwägungen kommt der EGMR dann doch für hervorgehobene Sachverhalte zum Verbot der gewaltsamen Verabreichung von Brechmitteln. Aber es bleibt: Gewalt gegen die Person im Beweisverfahren zur Aufklärung einer Straftat ist nicht grundsätzlich verboten. – Zum aktuellen Stand der Debatte über die Gewalt bei einem Brechmitteleinsatz vgl. die differenzierte Zusammenfassung von Dallmeyer Die Integrität des Beschuldigten im reformierten Strafprozeß – zur zwangsweisen Verabreichung von Brechmitteln bei mutmaßlichen Drogendealern, KritV 2000, S. 252 ff; Eisenhardt (Fn 22) S. 22 ff; Eidam (Fn 34) S. 123 ff. 46 Es ist bemerkenswert, daß aktuelle monographische Untersuchungen, die § 81a StPO an den Prinzipien des GG und an § 136a StPO messen, folgerichtig das Merkmal „ohne Einwilligung“ aus dem Text der Bestimmung herausinterpretieren müssen, also zu einer strafprozessualen Beweisaufnahme ohne Gewalt gegen die Person zurückkehren; vgl. Eisenhardt Das nemo tenetur-Prinzip: Grenze körperlicher Untersuchung des Beschuldigten am Beispiel des § 81a StPO, Diss. Frankfurt/M., 2006 (im Druck als Band 99 der Frankfurter kriminalwissenschaftlichen Studien, 2007); Eidam Die strafprozessuale Selbstbelastungsfreiheit am Beginn des 21. Jahrhunderts, 2007, S. 123ff In diese Literaturlinie gehört auch die auf die Entwicklung des strafprozessualen Beweisrechts insgesamt gerichtete Arbeit von Dallmeyer Beweisführung im Strengbeweisverfahren, 2002 und die eine erstaunliche Vermehrung prozessualer Zwangsmaßnahmen kritisch sichtende Untersuchung von Olaf König Die Entwicklung der strafprozessualen Zwangsmaßnahmen im Ermittlungsverfahren seit 1877, 1993. Beispielhaft zusammengefaßt und rechtstheoretisch erweitert ist diese Tendenz der Literatur in der Arbeit von Hellen Schilling Illegale Beweise, eine Untersuchung zum Beweisverfahren im Strafprozeß, 2004, vor allem Kapitel 2 und 3.
Erzeugung prozessualer Gewalt durch Auslegung materiellen Rechts
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Der demokratische Gesetzgeber muß Transparenz in der Frage der Gewalt gegen die Person im strafprozessualen Beweisverfahren schaffen. Der Widerspruch zwischen § 136a StPO und §§ 81a ff StPO kann nicht bestehen bleiben. Es gibt keinen Grund zu meinen, dieser Gesetzgeber wolle diese Transparenz nicht schaffen oder habe nicht die Kraft zu einem prinzipiellen Durchdenken des Gewaltproblems im strafprozessualen Beweisverfahren. Realistisch ist es freilich, davon auszugehen, daß der aktuelle Gesetzgeber mit dem gegenwärtigen, ausbaufähigen Zustand der Regeln für das strafprozessuale Beweisen mit Gewalt gegen die Person nicht unzufrieden ist. Aber jedenfalls die außergesetzliche Nutzung dieses Zustands in der Form der Erzeugung prozessualer Gewalt durch die Auslegung materiellen Rechts enthält einen derart massiven Eingriff in die Zuständigkeit der Gesetzgebung, also einen derart massiven Verstoß gegen das Prinzip der Gewaltenteilung, daß man – z.B. als Verteidiger – mit dem Hinweis auf diesen Verstoß in einem Verfahren wegen § 113 StGB gegen einen Beschuldigten, der sich einer Blutentnahme als Folge des Verdachts einer Trunkenheitsfahrt nachhaltig widersetzt hat, einen Freispruch erreichen könnte. Ein solcher Freispruch wäre aufsehenerregend. Ein lautes erstauntes Medienecho wäre die Folge. Eine Prinzipiendebatte über die Gewaltbereitschaft des heutigen strafprozessualen Beweisrechts käme dann schnell in Gang.
Fort- und Weiterbildung in Forensischer Psychiatrie Eine interdisziplinäre Aufgabe Norbert Nedopil
Geht man in der Zeit zurück zu jenen Jahren, in welchen Professor Rainer Hamm und der Autor ihr gemeinsames Wirken begründeten, findet sich bei der Suche nach Fortbildungen in Forensischer Psychiatrie praktisch nichts (Foerster 1988). Ende der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts trafen sich diejenigen, die in dem Fach einen Namen hatten und sich für fortschrittlich hielten, einmal im Jahr in einem Arbeitskreis, der sich etwas ironisch „das Kränzchen“ nannte, und diskutierten dort die aktuellen wissenschaftlichen und politischen Entwicklungen. Dieser relativ exklusive Arbeitskreis war 1971 nach dem Prozess über Jürgen Bartsch von den damaligen Gutachtern gegründet worden und hatte sich im Laufe der Jahre erweitert. Er war von Anfang an interdisziplinär zusammengesetzt. Neben dem Psychiater Wilfried Rasch und der Psychologin Elisabeth Müller-Luckmann gehörten schon relativ früh Juristen wie Horst Schüler-Springorum oder Journalisten wie Gerhard Mauz zu den regelmäßigen Teilnehmern. Später wurden auch der Autor und der Jubilar Mitglieder dieses interdisziplinären Arbeitskreises und beide hatten dann auch die ehrenvolle Aufgabe, ein Treffen auszurichten, Professor Hamm im Jahr 1994 in Frankfurt.
Auf- und Ausbau von Fortbildungsveranstaltungen in Forensischer Psychiatrie Forensische Psychiatrie war damals eine relativ polarisierte Disziplin, die noch weitgehend auf Schulenbildung beruhte und diese zum Teil auch pflegte. Sie war auch deswegen polarisiert, weil auf der einen Seite Universitätsprofessoren und einige renommierte Gutachter das öffentliche Feld bestimmten und auf der anderen Seite der psychiatrische Maßregelvollzug ein wenig beachtetes Dasein führte und mit autodidaktischen und wenig überprüften oder überprüfbaren Methoden psychisch kranke Rechtsbrecher zu behandeln, zu betreuen oder zu verwahren trachtete. Fort- und Weiterbildung fand nur in sehr begrenztem Umfang statt, sie war meist auf die erste
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Gruppe beschränkt und erschöpfte sich auch hier häufig in der Weiterentwicklung und Weiterverbreitung eigener – manchmal auch brillanter – Ideen. Sie lebte vor allem aus dem interdisziplinären Gedankenaustausch, wovon dann auch das Gesamtfach profitieren konnte. Häufig neutralisierten sich allerdings die polarisierenden Gruppen, so dass das Profil der Forensischen Psychiatrie relativ unscharf blieb. Das Dilemma zeigt sich auch daran, dass es von 1972 (Göppinger/Witter, 1972) bis 1986 (Rasch 1986) kein neues Lehrbuch gab und das damalige Standardwerk (Langelüddeke/Bresser 1976) die dritte Auflage eines 1950 erschienen Lehrbuchs war (Langelüddeke 1950). Das „Kränzchen“ war keine Fortbildungsveranstaltung, es war den Spezialisten und allenfalls deren ausgewählten Schülern vorbehalten; es war allerdings eine Veranstaltung zur Ideensammlung und zur Ideenfilterung, eine Veranstaltung, die man heute mit der Universalsprache der Wissenschaft als „think tank“ im besten Sinn bezeichnen würde. Einem der wichtigen Projekte, das sich aus dieser Ideensammlung entwickelt hat, entstammt die Erkenntnis, dass Fort- und Weiterbildung notwendig sind, um dem Fach eine höhere Professionalität und eine breitere Akzeptanz zu vermitteln und um die Gräben zwischen den einzelnen Schulen einerseits, sowie den Gutachtern und Behandlern anderseits zu überbrücken. Weiterbildung für Berufsanfänger wurde ab 1989 ein zentrales Thema dieses Arbeitskreises, dem sich viele verdiente Mitglieder, unter ihnen auch Professor Hamm, intensiv widmeten. Es wurde ein Interdisziplinärer Arbeitskreis für Forensische Psychiatrie und Psychologie gegründet und 1990 fand das erste Interdisziplinäre Seminar in Niederpöcking statt. Dieses Seminar wird seither mindestens einmal jährlich durchgeführt und nahezu alle Teilnehmer des „Kränzchens“ haben sich seither als Referenten zur Verfügung gestellt. Als Besonderheit wurde bei diesem Seminar im Jahr 1994 ein Rollenspiel eingeführt, bei dem die Teilnehmer vor einem Gericht ihren Fall vorstellen und sich den Fragen des Richters und der Prozessbeteiligten stellen müssen. Professor Hamm war über viele Jahre einer der erfahrenen Strafverteidiger, der mit seinem Wissen und seiner ausgefeilten Fragetechnik den angehenden Gutachtern Respekt vor der juristischen Kompetenz beibrachte und sie damit auch zu größerer Selbstkritik erzog. Mittlerweile wurde dieses Seminar wiederholt evaluiert und die Evaluationen wurden publiziert (Nedopil/Münzel 1992; Nedopil 1998). Niederpöcking blieb jedoch nicht der einzige Ort, an welchem Fort- und Weiterbildung interdisziplinär von Mitgliedern des „Kränzchens“ durchgeführt wurden. Es folgten regelmäßige Seminare in Königslutter (Baltzer et al. 1998) und später in Neustadt/Weinstraße. Für die Entwicklung des Fachs entscheidender als diese Fortbildungsseminare war jedoch, dass Fort- und Weiterbildung zu einem Thema der Forensischen Psychiatrie wurde. Während es vor 1990 praktisch überhaupt keine allgemein zugänglichen Weiterbildungsseminare gab, fanden im Jahr 2000 weit über zehn mehrtägige Veranstaltungen statt, allein 12 wurden von
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der Akkreditierungsstelle der Psychiatrischen Fachgesellschaft, der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) registriert. Fort- und Weiterbildung blieb jedoch nicht auf Deutschland und den deutschsprachigen Raum beschränkt, vielmehr wuchs – auch durch diese Veranstaltungen – das Interesse an Entwicklungen im Ausland und an der Teilnahme an internationalen Kongressen bei den forensischen Psychiatern. Als der Autor 1993 den ersten internationalen Kongress für Forensische Psychiatrie in München organisierte, war die deutsche Beteiligung zurückhaltend, und es wurde unverhohlen kritisiert, dass Englisch als Kongresssprache gewählt wurde; bei einer vergleichbaren Veranstaltung im Jahr 2002 war die Kongresssprache kein Thema mehr. Die Weiterbildungsseminare und die Tagungen sind zweifelsohne Spiegel für die Entwicklung der forensischen Psychiatrie. Dieses Fach ist professioneller und wissenschaftlicher geworden und es hat auch an gesellschaftlicher Bedeutung gewonnen.
Fortbildung und Qualitätssicherung Zwei weitere Entwicklungen sind auf die Etablierung der Weiterbildungsseminare zurückzuführen: 1. Es wurde von den Verantwortlichen der Veranstaltungen und von der Fachgesellschaft erkannt, dass es nicht genügt, Weiterbildung anzubieten, es ist vielmehr auch erforderlich, die Qualität der psychiatrischen Sachverständigen zu dokumentieren, Qualitätsprüfungen vorzunehmen und den juristischen Auftraggebern einen Qualitätsnachweis zu erbringen. Nach vielen Vorbereitungen und kontroversen Diskussionen (Nedopil/Saß 1997) wurde 2001 von der Fachgesellschaft DGPPN eine Zertifizierung in Forensischer Psychiatrie eingeführt (Kröber et al. 2001; Saß 2000). Mittlerweile sind über 210 Psychiater in forensischer Psychiatrie zertifiziert. Die Liste der Zertifizierten ist veröffentlicht und steht den Gerichten zur Verfügung (Forensische Psychiatrie, Psychologie und Kriminologie, 2007, Heft 1 oder http://www. forensik-muenchen.de). Im Jahr 2003 wurde darüber hinaus von der Bundesärztekammer die Einführung der Schwerpunktsbezeichnung „Forensische Psychiatrie“ beschlossen, ein Beschluss der allerdings bis heute noch nicht von allen Landesärztekammern umgesetzt wurde und in manchen Ländern verwässert wird, um die Privilegien von Chefärzten alten Zuschnitts nicht zu gefährden. Die Zahl der Psychiater, die diese Bezeichnung erworben hat, schwankt von Bundesland zu Bundesland. Ursprünglich war von der DGPPN geplant gewesen, die Zertifizierung aufzugeben, wenn sich der Schwerpunktsarzt etabliert haben sollte. Gegenwärtig ist die DGPPN aufgrund der unterschiedlichen Handhabung der Schwerpunktsarzterteilung und der unsicheren Erfordernis für die Qualifizierung von diesem Vorhaben zunächst abgerückt.
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2. Zur Qualitätssicherung in der Forensischen Psychiatrie wurden darüber hinaus in Konsensusrunden am Bundesgerichtshof Mindestanforderungen für strafrechtliche Schuldfähigkeits- und Prognosebegutachtungen (Boetticher et al. 2005; Boetticher et al. 2006) erarbeitet. Auch diese Initiative ist eine Folge der interdisziplinären Weiterbildungsseminare, in denen sich die Fachleute der verschiedenen im Strafverfahren beteiligten Berufsgruppen zusammengefunden und anhand von Berufserfahrungen und Weiterbildungszielen überlegt haben, wie die Standards der forensisch psychiatrischen Beurteilungen auf breiter Ebene angehoben werden könnten. Ob Mindestanforderungen und Richtlinien zu einer Verbesserung der Gutachtenqualität beitragen können, wird weitgehend davon abhängen, ob die Gerichte diese Mindestanforderungen zur Qualitätsbemessung von Gutachten heranziehen. Erste Auswirkungen zeigen sich bereits in der Art, wie sich der BGH mit Sachverständigengutachten befasst, so dass langfristig durch solche Maßnahmen eine bessere Kontrolle der Gutachten durch die Gerichte erhofft werden kann. Allein die Tatsache jedoch, dass es gelungen ist, im Rahmen einer interdisziplinären Arbeitsgruppe, die sich aus prominenten Vertretern praktizierender und wissenschaftlich tätiger Juristen, aus forensischen Psychiatern und Rechtspsychologen zusammensetzt, Mindestanforderungen sowohl für die Schuldfähigkeits- wie für die Prognosebegutachtung zu entwickeln und mit Nachdruck zu verbreiten, zeigt, dass eine intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit erforderlich aber auch möglich ist. Durch sie gelingt es, weiterführende Initiativen zu ergreifen und durchzusetzen, die auch der Praxis der Rechtsprechung dienen.
Internationale Aspekte der Fortbildung Seit einiger Zeit werden vermehrt auch international Anstrengungen unternommen, um Ausbildungen und Qualitätssicherungsmaßnahmen in verschiedenen Ländern aufeinander abzustimmen und von den Erfahrungen in anderen Ländern zu profitieren (Layde 2004; Sadoff 2001). Besonders in einem zusammenwachsenden Europa, in dem berufliche Freizügigkeit auch für Ärzte gilt, ist eine gewisse Vereinheitlichung von Ausbildung und Anforderungen an die Erlaubnis zu praktizieren sinnvoll. Auch auf politischer Ebene werden europaweit bestimmte Standards in der Beurteilung und Behandlung unter Zwangsbedingungen oder unter besonderen rechtlichen Situationen (Jones/Kingdon 2005; Knopp 2003; Lammersmann 1999) angemahnt. Es wurden im Auftrag des Europarates Vergleiche zwischen den Behandlungsbedingungen unter Zwang (Zivilrechtliche Unterbringung, Maßregelvollzug, Gefängnispsychiatrie) in den einzelnen Ländern der EU durchgeführt (Dreßing/Salize 2004; 2005). Wenngleich den Bestrebungen zur Vereinheitlichung der forensisch psychiatrischen Praxis durch unterschied-
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liche Gesetze in den einzelnen Ländern Grenzen gesetzt sind, existieren gewisse, auf den Menschenrechten (v.a. Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten EMRK) beruhende Mindestanforderungen an den rechtlichen und praktischen Umgang mit psychisch Kranken und Rechtsbrechern. Auch die Erkenntnisse der empirischen forensisch-psychiatrischen Forschung sind von einem Land auf ein anderes übertragbar. Vor diesem Hintergrund erscheint es weiterführend, über die Ausbildungsformen und die Ausbildungsinhalte Vereinbarungen zu treffen und den Austausch von Auszubildenden zu verstärken, um das Verständnis für unterschiedliche Umgangsformen mit psychisch kranken Rechtsbrechern in den verschiedenen Ländern zu fördern, und um in Europa gewisse einheitliche Mindeststandards in der Praxis der forensischen Psychiatrie umzusetzen (Gunn/Nedopil 2005). Insofern hat sich die forensische Psychiatrie nicht nur national, sondern auch in einer europäischen, wie in einer internationalen Perspektive zu einer Spezialdisziplin entwickelt, welche nicht nur von der Erfahrung der Psychiatrie lebt sondern ein lehr- und lernbares Fachwissen erfordert, um den geforderten Status an Professionalität und Qualität zu gewährleisten. Dadurch gelingt es auch, junge Akademiker für das Fach zu begeistern und sie mit Wissen und Fertigkeiten auszustatten, die den hohen fachlichen Anforderungen gerecht werden.
Gesellschaftliche Forderungen an die Forensische Psychiatrie Gleichzeitig sind gerade die fachlichen Anforderungen in den letzten Jahren sowohl in qualitativer wie in quantitativer Hinsicht erheblich gestiegen. Hierzu hat nicht nur die vermehrte öffentliche Aufmerksamkeit, die dem Fach zuteil wurde beigetragen, sondern auch ein gestiegenes Sicherheitsbedürfnis der Bevölkerung (Lüdemann 2006) und – empirisch nicht begründbare – Angst vor einer Zunahme von Gewalt- und Sexualverbrechen (Hirtenlehner 2006). Die Gesetzesänderungen seit 1998 haben die Zahl der erforderlichen Begutachtungen hochschnellen lassen, wobei besonders die schwierigen und aufwändigen Prognosebegutachtungen überproportional zugenommen haben. Das Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26.1.1998 hat zusätzliche Begutachtungen bei Aussetzung zur Bewährung von Reststrafen bei Verurteilungen von über zwei Jahren bei Straftätern, die wegen eines Sexualdelikten oder anderer „gefährlicher“ Straftaten verurteilt wurden, eingeführt. Die Gesetze zur Erleichterung der Anordnung von Sicherungsverwahrung und das Gesetz zur vorbehaltenen Sicherungsverwahrung vom 21.8.2002 machen häufigere Begutachtungen zu den Voraussetzungen der Sicherungsverwahrung erforderlich, ebenso das Gesetz zur nachträglichen Sicherungs-
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verwahrung vom 23.7.2004 und die Paragraphen, welche die Erledigung der Maßregel und die nachträgliche Einweisung in die Sicherungsverwahrung ermöglichen. In den letzteren Fällen sind sogar zwei Gutachter gefordert, ein Vorgehen, welches nach dem Willen mancher Politiker bald zum Grundsatz bei Entlassungsprognosen werden soll. Während in der Abteilung des Autors in den Jahren bis 1984 zwei bis drei Prognosegutachten im Jahr erstattet wurden und diese Chefsache waren, werden heute hier jährlich über 30 Prognosegutachten angefordert, die nicht mehr nur von den erfahrensten Mitarbeitern bearbeitet werden können. Die Feststellung, dass auch Berufsanfänger mit der Erstellung von Prognosegutachten betraut werden (müssen), ist nicht auf die Institution des Autors beschränkt, sie wirft bedenkliche Fragen auf, wenn man weiß, wie wenige dieser Gutachter fachlich supervidiert werden. Diese Problematik dürfte sich wohl noch verstärken, wenn in vielen Fällen Zweit- oder gar Drittgutachter gefordert werden. Trotz aller Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen stößt die Praxis der Gutachtenanforderung an Kapazitätsgrenzen. Gemeinsamkeiten und Abgrenzungen im interdisziplinären Dialog In diesem Zusammenhang erscheint es dann hilfreich sich erneut an die jeweiligen Aufgaben von Gerichten und Gutachtern zu erinnern. Sachverständige haben empirisches Wissen zu vermitteln; eine normativ begründete Festlegung oder gar Entscheidung gehört nicht zu ihrer Aufgabe. Die Arbeitsgruppe beim BGH hat verdienstvoller Weise aufgezeigt, wo bei Prognosegutachten die normativen und wo die empirischen Feststellungen liegen (Boetticher et al. 2006) Vorwiegend tatsächliche Merkmale
Vorwiegend normative Merkmale
zu erwartende Taten; Grad der Wahrscheinlichkeit; Grad der Gefährlichkeit; Zustand; sich zur Warnung dienen lassen; Erreichung des Zwecks der Maßregel; Behandlungsaussichten; Erreichbarkeit für therapeutische Interventionen
Gesamtwürdigung; Hang; infolge eines Hanges; Erheblichkeit der Taten; Gefährlichkeit für die Allgemeinheit; Verantwortbarkeit unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit; vertretbares Restrisiko
Aus psychiatrischer Sicht noch präziser lässt sich diese Trennung vornehmen, wenn man den Begriff des „Risikos“ in seine Bestandteile zerlegt (Douglas/ Ogloff 2003; Mulvey/Lidz 1995) und fragt: Welche sind empirische, welche sind normativ wertende Elemente?
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1. Art (des Rückfalls) mit der Frage: Ist ein schwerwiegendes Delikt zu erwarten? 2. Wahrscheinlichkeit (des Eintritts) mit der Frage: Besteht eine hohe Rückfallwahrscheinlichkeit? 3. Häufigkeit (des Auftretens) mit der Frage: Ab welcher Frequenz ist eine Häufigkeit ausreichend, um zu intervenieren? 4. Ausmaß (des Schadens) mit der Frage: Was versteht man unter einem schweren Schaden? 5. Geschwindigkeit (Zeitraum bis zum Eintritt) mit der Frage: Wird der Rückfall bald eintreten? 6. Dauer (der Gefährlichkeit) mit der Frage: Wird man noch lange mit seiner Gefährlichkeit rechnen müssen? 7. Kontextabhängigkeit; mit der Frage: In welchem Bedingungsgefüge wird es möglicherweise zu einem Rückfall kommen? Man wird schnell erkennen dass, „schwerwiegend“, „hoch“, „ausreichende Häufigkeit“, „schwerer Schaden“, „bald“ und „lange“ normative Feststellungen enthalten, die der Psychiater nicht wirklich beantworten kann. Befragungen von Richtern haben gezeigt, dass die Höhe der Rückfallwahrscheinlichkeit, die als Grundlage für eine Internierung angesehen wird, von (Richter-)Person zu (Richter-)Person ganz unterschiedlich ist (Monahan/ Silver 2003). Würde der Gutachter aber lediglich faktische Zahlen angeben, wie es seiner Kompetenz entspräche (Nedopil 2005), so wird er bei Gericht Unverständnis hervorrufen und er gerät selbst bei manchen seiner Kollegen in Misskredit. Auch wenn sich die Vertreter beider Disziplinen streng an ihre Regeln halten würden, wären wohl Grenzüberschreitungen nicht ganz vermeidbar. Aber nicht nur das Wissen und die Respektierung der Grenzen sondern die Notwendigkeit, die Denk- und Vorgehensweise der jeweils anderen Disziplin zu verstehen, ohne diese für sich zu vereinnahmen oder gar bestimmen zu wollen, machen interdisziplinären Dialog und interdisziplinäre Fort- und Weiterbildung erforderlich. Dieses Erfordernis gilt allerdings nicht nur für die forensische Psychiatrie, sondern sollte in gleicher Weise für Juristen gelten, die sich mit Psychiatern und deren Gutachten auseinandersetzen (müssen). Zwar ist der Sachverständige der Gehilfe des Gerichts und der Richter Herr des Geschehens, und man kann vom Gehilfen erwarten, dass er sich den Bedürfnissen des Auftraggebers anpasst. Der Wahrheitsfindung wird es allerdings nicht dienen, wenn der Auftraggeber nicht unterscheiden kann, ob der Gutachter nur die Bedürfnisse des Gerichts erfüllt hat oder ob er seiner professionellen Verpflichtung nachgekommen ist und seine eigenen Grenzen eingehalten hat. Psychiater, die oft vor Gericht auftreten, wissen es zu schätzen, wenn Juristen nicht nur am Ausgang des Verfahrens interessiert sondern auch bemüht sind, psychiatrische Sachverhalte zu erfassen, bevor sie diese
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einer normativen Wertung unterziehen, wenn der Sachverständige nicht nur eine Einflussgröße im Gerichtsverfahren ist, die man je nach Bedarf zur Strafmilderung oder zur Verlängerung einer Unterbringung einsetzen kann, sondern wenn beide sich jeweils mit ihren Mitteln um Aufklärung und Interpretation des Verhaltens von Menschen bemühen, für deren weiteres Schicksal sie eine kaum zu überschätzende Bedeutung haben. Interdisziplinäre Fortbildung auch für Juristen Wenn dieses gemeinsame Ringen um Sachaufklärung aber gelingen soll, müssen nicht nur die Psychiater Wissen über das Gerichtsverfahren, über juristisches Denken und gesetzliche Vorgaben erwerben und sich Fertigkeiten im Umgang mit der Justiz aneignen, auch die Juristen müssen Erkenntniswege und Erkenntnismöglichkeiten der Psychiatrie, Aussagemöglichkeiten empirischer Wissenschaften und deren Grenzen, und die Logik, mit der aus empirischen Aussagen Entscheidungen für einen Einzelfall abgeleitet werden, begriffen und durchdacht haben. Interdisziplinäre Fortbildung ist also nicht nur für die Fort- und Weiterbildung der forensischen Psychiater, sondern auch für jene der Juristen, die ihre Vorschläge, Entscheidungen und Urteile auf psychiatrischen Expertisen bauen, von ausschlaggebender Bedeutung. Sie haben diesbezüglich durchaus noch einen Nachholbedarf, wenn man die seit 1990 stattfindenden Fortbildungsseminare für forensische Psychiatrie betrachtet. Vielleicht eröffnet sich hier für den Jubilar ein neues Feld, in welchem er seine Erfahrungen bei der Weiterbildung der Psychiater einbringen und gleichzeitig lohnenswerte neue Initiativen auf den Weg bringen kann.
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Die Katze im Bier, oder: die Abgrenzung von Tatfrage und Rechtsfrage im strafprozessualen Revisionsrecht Ulfrid Neumann I. Der Fall In ihrem Standardwerk „Die Revision in Strafsachen“ beziehen sich Werner Sarstedt und Rainer Hamm 1 bei der Erörterung des Problems der Abgrenzbarkeit von Rechtsfrage und Tatfrage ausführlich 2 auf eine betagte Entscheidung des Reichsgerichts (RGSt 23, 409), die in der Tat nicht nur wegen ihres (zweifellos hohen) Unterhaltungswertes Aufmerksamkeit verdient. Der Fall: Im Jahre 1893 hatte der 1. Strafsenat des Reichsgerichts einen Sachverhalt zu beurteilen, der in erster Instanz von einem Bayerischen Landgericht (Landgericht Nürnberg) entschieden worden war. Es ging dabei, wenn man so will, um eine Variation zum Thema „Reinheitsgebot“. In den Herstellungsprozess des Bieres, für dessen Verkauf ein Braumeister strafrechtlich verantwortlich gemacht werden sollte, waren nämlich nicht nur die kanonischen Zutaten Hopfen, Malz und Wasser eingegangen, sondern auch, wie der Angeklagte sehr wohl wusste, die Bestandteile einer Katze. Die entscheidende Frage lautete deshalb, ob Bier im Sinne des entsprechenden Tatbestands (§ 10) des Nahrungsmittelgesetzes „verdorben“ ist, wenn bei seiner Herstellung eine Katze mitgesotten wurde. Das Landgericht hatte dies verneint. Nach seiner Auffassung wurde das Bier durch die in Frage stehenden besonderen Umstände des Herstellungsprozesses nicht „verdorben“; darauf, dass nach allgemeiner Anschauung der Genuss derartigen Bieres Ekel errege, komme es nicht an. Dementsprechend hatte es den Angeklagten von dem Vorwurf eines Vergehens gegen das Nahrungsmittelgesetz freigesprochen. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft hin hob das Reichsgericht die Entscheidung des Landgerichts Nürnberg auf. Die reichsgerichtliche Entscheidung wird von Rainer Hamm im Zusammenhang mit der These referiert und 1 Sarstedt/Hamm Die Revision in Strafsachen, 6. Aufl. 1998, neubearbeitet und erweitert von Rainer Hamm. Im Folgenden wird als Verfasser nur Rainer Hamm (als Bearbeiter der Neuauflage) zitiert. Die Randnummern im Text verweisen, soweit nicht anders angegeben, auf diese Auflage. 2 AaO Rn 1170 (S. 549–551).
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analysiert, dass eine scharfe Trennung von Tat- und Rechtsfrage im strafprozessualen Revisionsrecht nicht möglich sei.3 Ausdrücklich verworfen wird das von Roxin vorgeschlagene Abgrenzungskriterium, dem zufolge es um eine Tatfrage gehe, wenn unter Begriffe der Alltagssprache, um eine Rechtsfrage, wenn unter Begriffe der Rechtssprache zu subsumieren sei. (Rn. 1168). Aber nicht nur dieses Abgrenzungskriterium, auch die Relevanz der Abgrenzung selbst wird in Frage gestellt. In diesem Zusammenhang interessiert die Entscheidung Rainer Hamm gerade als ein „frühes Beispiel für richtiges Eingreifen eines Revisionsgerichts in tatsächliche Feststellungen“ (Rn. 1170).
II. Die Bedeutung der Entscheidung für das Revisionsrecht Ich halte mit Rainer Hamm die Entscheidung des Reichsgerichts jedenfalls insofern für zutreffend, als das Gericht die Revisibilität der entscheidenden Frage bejaht hat. Ich möchte im Folgenden aber prüfen, ob sich die Entscheidung nicht für eine Auffassung in Anspruch nehmen lässt, die an der Trennung von Tatfrage und Rechtsfrage festhält, das Abgrenzungskriterium aber nicht in der Zugehörigkeit eines Begriffs zu einer bestimmten Sprache („Alltagssprache“ oder „Rechtssprache“), sondern in der Struktur der Aussage sieht, um deren Richtigkeit gestritten wird. Nach dieser Auffassung ist eine Frage dann revisibel, wenn sie sich auf die Existenz bzw. den Gehalt einer rechtlichen Regel, eines logischen Gesetzes oder einer naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeit bezieht. Komplementär ist eine Frage dann nicht revisibel, wenn es um eine singuläre Feststellung geht, also etwa um die Frage des Todeszeitpunkts des Opfers oder die Frage, wo der Angeklagte sich zum Tatzeitpunkt aufgehalten hat.4 Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Ich werde behaupten, dass sich die Entscheidung des Reichsgerichts zur „Katze im Bier“ als frühe Bestätigung dieser an dem Regelkriterium orientierten Abgrenzung von Rechts- und Tatfrage lesen lässt.
III. Die Argumentation des Gerichts Das LG Nürnberg hatte sich bei seinem freisprechenden Urteil maßgeblich auf das Gutachten der Sachverständigen gestützt, das die Frage, ob das Bier infolge des Mitsiedens der Katze verdorben gewesen sei, „vom chemischen und medizinischen Standpunkt aus“ verneint hatte. Zwar konnten die 3 Die Ausführungen Rn 1166 ff stehen unter der Überschrift „Von der Unmöglichkeit der Trennung von Tat- und Rechtsfragen“. 4 Grundlegend Rüßmann Zur Abgrenzung von Rechts- und Tatfrage, in: Hans Joachim Koch (Hrsg.) Juristische Methode und analytische Philosophie, 1976, S. 242 ff.
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Sachverständigen nicht feststellen, dass die Bestandteile der Katze in der Maische vollständig verkocht waren. Nach dem Gutachten, dem sich die Strafkammer vorbehaltlos angeschlossen hatte, war aber, in der diese Feststellung referierenden Formulierung des RG, „ein allenfallsiges Überbleibsel der fleischlichen Bestandteile so minimaler Art, dass in keinem Fall vom Verdorbensein des Bieres gesprochen werden könne“ (S. 410 f). Insbesondere hatten die Sachverständigen offensichtlich eine Gesundheitsschädlichkeit des Gebräus ausgeschlossen. Die Argumentation der Sachverständigen, die sich das LG zu eigen gemacht hatte, lässt sich also auf die Formel bringen: Wenn Bier durch die Bestandteile eines mit gesottenen Tieres (nur) minimal verunreinigt ist und der Genuss dieses Bieres nicht gesundheitsschädlich ist, dann ist dieses Bier nicht durch die Verunreinigung verdorben. Das Reichsgericht als Revisionsinstanz wendet sich nicht gegen die in dem Gutachten getroffenen Feststellungen hinsichtlich des (minimalen) Grades der Verunreinigung des Bieres durch fleischliche Bestandteile. Es stellt auch nicht die Behauptung in Frage, dass eine Gesundheitsgefährdung bei den Konsumenten infolge der nur minimalen Verunreinigung auszuschließen war. Es bestreitet aber die Schlussfolgerung, das Bier sei infolgedessen nicht verdorben gewesen. Sachverständige und Strafkammer legten, so die Kritik des Strafsenats, bei der Entscheidung der Frage, ob das Bier verdorben gewesen sei, falsche Kriterien zugrunde. Soweit es um den Gesichtspunkt mangelnder gesundheitlicher Gefährdungen geht, kann sich der Senat mit dem knappen Hinweis begnügen, dass die fragliche Regelung (§ 10) des Nahrungsmittelgesetzes im Unterschied zu einer anderen Bestimmung (§ 12) desselben Gesetzes gerade nicht auf das Kriterium der Gesundheitsschädlichkeit abstelle. Ausführlich setzt er sich dagegen mit der Frage auseinander, ob und inwieweit das „Verdorbensein“ des Bieres (generell: eines unter das Gesetz fallenden Nahrungs- oder Genussmittels) eine Abweichung der objektiven Beschaffenheit des Produkts von der „normalen“ Beschaffenheit erfordert. Diese Erörterungen werden allerdings in einen spezifischen Argumentationszusammenhang eingebunden, weil der Senat bei der Prüfung der Frage, ob das Bier infolge der Einbeziehung der Katze in den Brauprozess verdorben war, grundsätzlich anders ansetzt. Nach Ansicht des Senats kommt es nämlich bei der Beurteilung der Frage, ob ein Genuss- oder Lebensmittel verdorben ist, entscheidend auf die Sichtweise des Verbrauchers an. Das Nahrungsmittelgesetz bringe diese Frage „unter den Gesichtspunkt der Anforderungen des Publikums an ein normales Nahrungs- und Genussmittel“ (S. 410). Genauer: „Die allgemeine Ansicht über die fernere Tauglichkeit eines qualitativ oder in seinen quantitativen Verhältnissen veränderten Gegenstandes zum Genusse von Menschen“ sei „die Instanz, … die darüber entscheidet, ob der Gegenstand verdorben ist oder nicht“ (S. 410). Allerdings müsse die „gemeine Anschauung“, so der Senat, eine objektive Grundlage in einer tatsächlichen Veränderung der ent-
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sprechenden Substanz haben. Sprich: hätte der Durchgang der unglücklichen Katze durch den Brauprozess keinerlei Spuren im Bier hinterlassen, so wäre der mögliche Ekel des Bier trinkenden Publikums vor einem Gebräu, bei dessen Herstellung eine Katze mit im Spiel war, irrelevant. Nachdem vorliegend von einer – wenngleich minimalen – Veränderung des Bieres durch das corpus delicti (das corpus felis) auszugehen war, blieb als entscheidende Frage die nach den „Anforderungen des Publikums an ein normales Nahrungs- und Genussmittel“ (sc. Bier). In diesem Zusammenhang erörtert der Senat die Frage der „normalen“ Beschaffenheit des Bieres in einer Weise, die der Diagnose von Rainer Hamm, der dem Senat eine „eisern durchgehaltene Ironie“ attestiert (Rn. 1170 [S. 550 Mitte]), ein hohes Maß an Überzeugungskraft verleiht. In Hinblick auf das Verteidigungsvorbringen, demzufolge das Mitsieden bestimmter Vierbeiner (beispielsweise von Ratten und Mäusen) ebenso zum Brauereialltag gehöre wie „geflissentliche Bierverunreinigungen“ seitens der Brauknechte, erwägt der Senat allen Ernstes (oder eben: allen Unernstes), ob dies zur Folge habe, dass „diese Tiere zu den unvermeidlichen Bestandteilen des Bieres gehören“ (S. 413) – mit der von Rainer Hamm in Adaptation des von ihm diagnostizierten Stils des Senats erwogenen möglichen Folge, dass „vielleicht das Bier ohne Katze gar kein richtiges, ‚normales‘ Bier (im Rechtssinne!?) sei“ (Rn. 1170). Da der Senat aber die Dinge mit der trockenen Feststellung: „Dass dies wirklich die Meinung des Gerichtes (des Landgerichts, U.N.) sei, ist weder ausgesprochen noch anzunehmen“ (S. 413) sogleich wieder ins Lot bringt, bleibt nun die Frage, ob in diesen Fällen die Tauglichkeit des Bieres zum Genusse infolge der objektiven Veränderung nach allgemeiner Anschauung vermindert ist. Diese Frage wird vom Senat mit Hinweis auf Ekelgefühle der über die Details des Herstellungsprozesses informierten Konsumenten nachvollziehbar bejaht.
IV. Schlussfolgerungen für die Abgrenzbarkeit von „Tatfrage“ und „Rechtsfrage“ Welche Konsequenzen lassen sich aus diesem Urteil für die Diskussion zur Abgrenzbarkeit von Rechtsfrage und Tatfrage ziehen? Rainer Hamm registriert es, wie gesagt, als „Beispiel für richtiges Eingreifen eines Revisionsgerichts in tatsächliche Feststellungen“ (Rn. 1170) und damit wohl als Beleg für seine These, dass sich Tat- und Rechtsfrage nicht sinnvoll trennen ließen (dazu Rn. 1169). Ich werde die Argumentation des Gerichts deshalb zunächst unter diesem Gesichtspunkt betrachten. Geht es in der Entscheidung des Reichgerichts „tatsächlich“ um die revisionsgerichtliche Kontrolle tatsächlicher Feststellungen? Auf den ersten Blick: ja. Denn der einleitende Satz der Entscheidungsbegründung lautet: „Die thatsächliche Feststellung, dem Biere habe die objektive Eigenart des Verdorben-
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seins nicht angehaftet, ist nicht unanfechtbar.“ Im Übrigen erscheint es zunächst auch sachlich plausibel, den Satz „Das von dem Angeklagten verkaufte Bier war (nicht) verdorben“ als tatsächliche Feststellung zu interpretieren. Ob man verdorbenes Bier verkaufen darf, so die nahe liegende Argumentation, ist eine Rechtsfrage; ob Bier „tatsächlich“ verdorben ist, eine Tatsachenfrage. Daran ist richtig, dass die Feststellung: „Diese Bierquantität ist verdorben“ jedenfalls eine tatsächliche Komponente enthält. Entspricht das Bier in seiner Zusammensetzung wie hinsichtlich des Herstellungsprozesses uneingeschränkt „normalem“ Bier, dann ist die Behauptung, es sei verdorben, offensichtlich falsch. Insofern kommt es für die Richtigkeit der Feststellung auf tatsächliche Umstände (Beschaffenheit und – evtl. – Herstellungsprozess des Bieres) an. Aber die Feststellung erschöpft sich nicht in der Behauptung tatsächlicher Umstände. Das wird deutlich, wenn man erwägt, mit welchen Argumenten die Behauptung: „Dieses Bier ist verdorben“ in Zweifel gezogen werden kann. Der Opponent kann natürlich zum einen behaupten, das Bier weise entgegen der Annahme des Kritikers keine abweichende Beschaffenheit auf, entspreche also in seiner Zusammensetzung völlig dem normalen Gebräu; die unterstellten Belastungen, die auch nach seiner Auffassung dazu berechtigen würden, das Bier als verdorben zu bezeichnen, lägen nicht vor. Er kann aber, zum andern, auch der Meinung sein, dass die – von ihm zugestandenen – Belastungen des Bieres dessen Kennzeichnung als „verdorben“ nicht tragen würden. Der Opponent kann also die Behauptung „Dieses Bier ist verdorben“ auf unterschiedliche Weise angreifen. Er kann zum einen die Tatsachen (Eigenschaften des Bieres) in Zweifel ziehen, auf die das Verdikt „verdorben!“ sich bezieht. Er kann aber auch implizit oder explizit die Regeln in Frage stellen, nach denen der Begriff „verdorben“ bei der Beanstandung des Bieres verwendet wurde. Sein Einwand lautet dann: die fraglichen und von ihm zugestandenen Belastungen des Bieres rechtfertigten es nicht, dieses als „verdorben“ zu bezeichnen. Er kann beispielsweise argumentieren, Bier sei nur verdorben, wenn die Verunreinigungen beim Konsumenten zu gesundheitlichen Gefährdungen führen würden. Den unterschiedlichen Möglichkeiten des Angriffs auf die Behauptung entsprechen unterschiedliche Strategien der Replik. Wird die Tatsachenbasis der Behauptung angegriffen, so muss der Unzufriedene beweisen, dass das Bier tatsächlich in seiner Beschaffenheit von „normalem“ Bier abweicht. Er könnte das beispielsweise dadurch tun, dass er ein Sachverständigengutachten vorlegt, dem zufolge das Bier Verunreinigungen aufweist, die (obgleich nicht gesundheitsschädlich) den Geschmack beeinträchtigen. Im zweiten Fall dagegen muss er die Regeln rechtfertigen, nach denen er den Begriff „verdorben“ verwendet. Er kann das beispielsweise mit der Behauptung tun, verunreinigtes Bier sei durch die Verunreinigungen jedenfalls dann verdorben, wenn diese zu geschmacklichen Beeinträchtigungen führten; gesundheitliche Gefährdungen seien dafür nicht erforderlich.
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Dieser hier an einem Beispiel der Alltagskommunikation aufgezeigte Unterschied zwischen einem Streit über Tatsachen einerseits, einer Diskussion über die anzuwendenden sprachlichen Regeln andererseits spiegelt sich im Gerichtsverfahren in dem Unterschied zwischen der im Wege von Beweisaufnahme und Beweiswürdigung erfolgenden Tatsachenfeststellung einerseits, der Gesetzesinterpretation und Gesetzesanwendung andererseits. Ob das Bier in dem der Entscheidung RGSt 23, 409 zugrunde liegenden Sachverhalt Verunreinigungen enthielt (Restbestände der mit gesottenen Katze), oder ob diese, wie es im Urteil heißt, „ungehörigen Beimischungen“ durch den „Klärungs- und Gärungsprozess“ vollständig ausgeschieden worden waren, war als Tatsachenfrage durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zu klären. Die Frage dagegen, ob ein „Überbleibsel der fleischlichen Bestandteile [der Katze, U.N.] … minimaler Art“ es rechtfertigt, das Bier im Sinne des § 10 des Nahrungsmittelgesetzes als „verdorben“ zu bezeichnen, betraf die Reichweite (die Extension) des gesetzlichen Begriffs des Verdorbenseins und damit eine Frage der Gesetzesinterpretation und Gesetzesanwendung. Die bisherige Analyse stützt also die These von Rainer Hamm hinsichtlich der Unmöglichkeit der Trennung von Tat- und Rechtsfragen insoweit, als sie verdeutlicht, dass in Fragestellungen, die dem Revisionsgericht unterbreitet werden, tatsächliche Feststellungen und rechtliche Bewertungen miteinander verbunden sein können. Am Beispiel: Der Satz „Die fragliche Biermenge war verdorben“ enthält sowohl eine faktische als auch eine rechtlich-normative Komponente. Die Analyse zeigt aber auch, dass der Versuch, beide Komponenten zu isolieren, nicht von vornherein aussichtslos sein muss. Denn jedenfalls in der Tatsacheninstanz lassen sich „Tatfrage“ und „Rechtsfrage“ in der Weise trennen, dass die eine der Beweisaufnahme und Beweiswürdigung, die andere der Gesetzesauslegung und Gesetzesanwendung zugewiesen werden kann. Allerdings ist damit für die Frage, ob mit Hilfe des Begriffspaares „Tatfrage/Rechtsfrage“ der Zuständigkeitsbereich des Revisionsgerichts sinnvoll markiert werden kann, noch wenig gewonnen. Denn nicht alle Fragen, die in der Tatsacheninstanz im Wege der Beweisaufnahme und Beweiswürdigung zu klären sind, fallen in den Bereich der „nicht revisiblen Tatfragen“; und umgekehrt stehen nicht alle Fragen der Rechtsanwendung als „revisible Rechtsfragen“ zur Entscheidung des Revisionsgerichts. Das ist, was den ersten Punkt betrifft, nicht mehr umstritten. Die Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz werden heute von den Revisionsgerichten im Wege der Kontrolle der Beweiswürdigung in erheblichem Umfang überprüft.5 In diesem Sinne
5
Vgl. dazu nur Sarstedt/Hamm (Fn 1) Rn 1173 ff sowie Hamm Einleitung zu Gerhard Herdegen Beweisantragsrecht, Beweiswürdigung, strafprozessuale Revision, 1995, S. 9 ff (11).
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gibt es eine Vielzahl „revisibler Tatfragen“. Andererseits wird zunehmend anerkannt, dass es, komplementär dazu, Fragen der rechtlichen Bewertung eines Falles gibt, die der Entscheidung des Revisionsgerichts entzogen sind.6 Spricht dieser Befund nicht dafür, sich der skeptischen Sicht von Rainer Hamm und anderen Autoren 7 hinsichtlich der Möglichkeit einer präzisen Abgrenzung von „revisibler Rechtsfrage“ und „nicht revisibler Tatfrage“ anzuschließen? Am diesem Punkt erscheint zunächst eine terminologische Klarstellung erforderlich. Man kann die Begriffe „Rechtsfrage“ und „Tatfrage“ in einem wörtlichen, aber auch in einem davon verschiedenen funktionalen Sinne verstehen. In einem wörtlichen Sinne werden sie verwendet, wenn man der Tatfrage alle Feststellungen zuordnet, die im Wege der Beweiserhebung und Beweiswürdigung getroffen werden, der Rechtsfrage dagegen die im Wege der Gesetzesauslegung und -anwendung zu treffende rechtliche Würdigung des Sachverhalts. Demgegenüber werden die Begriffe funktional verstanden, wenn man sie gerade durch die jeweiligen prozessualen Konsequenzen definiert, also der „revisiblen Rechtsfrage“ die „nicht revisible Tatfrage“ gegenüber stellt. Rechtsfragen sind dann per definitionem revisibel, Tatfragen sind es per definitionem nicht. Der letztere, funktionale Sprachgebrauch führt dann etwa zu der scheinbar paradoxen Konsequenz, dass die rechtliche (!) Bewertung des Einzelfalls dann als „Tatfrage“ bezeichnet wird, wenn sie aufgrund besonderer Umstände allein dem Tatrichter überlassen bleiben soll.8 Nur scheinbar paradox ist diese Formulierung deshalb, weil der Begriff der „rechtlichen“ Bewertung hier im wörtlichen, der der „Tatfrage“ im funktionalen Sinne gebraucht wird. Die Unterscheidung zwischen einer wörtlichen und einer funktionalen Verwendung des Begriffspaares „Rechtsfrage/Tatfrage“ ist nicht nur um der Klarheit der Diskussion willen bedeutsam. Sie betrifft auch die Struktur der im Schrifttum teilweise hervorgehobenen „Verschlingung“ von Rechtsfrage
6 Näher dazu Freund Die Tatfrage als Rechtsfrage, in: Strafverfahrensrecht in Theorie und Praxis. FS für Lutz Meyer-Goßner zum 65. Geburtstag, 2001, S. 409 ff (428); Neumann „Tatfrage“ und „Rechtsfrage“ im strafprozessualen Revisionsrecht, in: FS für Nikolaos K. Androulakis, Athen 2003, S. 1091 ff (1092, 1098 ff); ders. Die Abgrenzung von Rechtsfrage und Tatfrage und das Problem des revisionsgerichtlichen Augenscheinsbeweises, GA 1988, 387 ff; ders. Das Problem der Identität der Rechtsfrage beim Ausgleich divergierender obergerichtlicher Entscheidungen (§§ 121 II, 132 II GVG), in: Strafverfahrensrecht in Theorie und Praxis. FS für Lutz Meyer-Goßner zum 65. Geburtstag, 2001, S. 683 ff (703); Tolksdorf Revision und tatrichterlicher Beurteilungsspielraum bei der Gesetzesanwendung, aaO S. 523 ff (526 f). 7 Vgl. etwa Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl. 2007, § 337 Rn 1: „Eine begriffliche Klärung der Abgrenzung der Tatfrage von der Rechtsfrage ist schwierig, aber zur Festsetzung der Grenzen der Revisibilität von Strafurteilen idR auch nicht erforderlich.“ 8 Vgl. etwa BGH NStZ 1995, 409 (410).
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und Tatfrage 9 und damit die Frage der Möglichkeit (und Notwendigkeit), die verschlungenen Komponenten zu entwirren. Denn auch dann, wenn eine klare Trennung von Rechtsfrage und Tatfrage (im Sinne der wörtlichen Bedeutung der Begriffe) nicht möglich sein sollte, bliebe die Aufgabe, eine möglichst präzise Abgrenzung der entsprechenden Funktionsbegriffe zu versuchen. Diese Abgrenzung ist aus praktischen Gründen unverzichtbar; denn das Revisionsgericht muss feststellen können, ob es um eine revisible („Rechtsfrage“) oder eine nicht revisible Frage („Tatfrage“) geht. Der hier teilweise vorgeschlagene Ausweg, stattdessen einfach darauf abzustellen, was die Revision „leisten“ kann, ist schon deshalb unbefriedigend, weil es unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht darauf ankommt, was das Revisionsgericht nachprüfen kann, sondern darauf, was es nachprüfen darf. 10 Dass man von dem „Können“ nicht einfach auf das „Dürfen“ schließen kann, dass also eine Regel des Inhalts „Was der Revisionsrichter (im Einzelfall!) kann, das darf er auch“ inakzeptabel wäre, scheint mir evident.11
V. Abgrenzungsversuche Bei dem Versuch, den revisiblen Bereich der „Rechtsanwendung“ von dem nicht revisiblen Bereich der „Tatsachenfeststellung“ (nicht nach pragmatischen [Leistungsfähigkeit], sondern) nach rechtstheoretischen Kriterien abzugrenzen, stehen heute vor allem zwei Modelle im Wettstreit.12 1. Die Unterscheidung von „Rechtsbegriffen“ und „Alltagsbegriffen“ Nach einer sprachtheoretisch orientierten (begriffslogischen) Konzeption soll es auf die Frage ankommen, welchem Sprachbereich der Begriff zugehört, um dessen Anwendbarkeit es geht. Eine rechtliche Würdigung liege immer dann vor, wenn unter Rechtsbegriffe subsumiert werde, eine tatsächliche Feststellung dagegen, wenn eine Subsumtion unter Alltagsbegriffe erfolge.13 An einem Beispiel: Geht es um die Frage, ob derjenige im Sinne des 9
Nachw. bei SK-StPO-Frisch § 337 Rn 13 ff (Stand: März 2004). Krit. zur „Leistungstheorie“ auch SK-Frisch (Fn 9) § 337 Rn 20. 11 Deshalb kann beispielsweise die Antwort auf die Frage, ob das Revisionsgericht die Feststellung der Tatsacheninstanz hinsichtlich des pornografischen Charakters einer Darstellung überprüfen kann, nicht davon abhängen, ob sich das corpus delicti bei den ihm vorliegenden Akten befindet oder nicht. Vgl. dazu und zu weiteren Problemen des revisionsgerichtlichen Augenscheinsbeweises Neumann Abgrenzung (Fn 6) S. 395 f. 12 Dazu und zum Folgenden schon Neumann FS Androulakis (Fn 6) S. 1094 ff. 13 Vgl. dazu insbesondere Roxin Strafverfahrensrecht, 25. Aufl. 1998, § 53 Rn 21 und Schünemann Zum Verhältnis von Norm und Sachverhalt bei der Rechtsanwendung, von Ober- und Untersatz im Justizsyllogismus und von Rechts- und Tatfrage im Prozessrecht, in: Strafgerechtigkeit. FS für Arthur Kaufmann zum 70. Geburtstag, 1993, S. 299 ff (315). 10
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Mordtatbestands „heimtückisch“ handelt, der einen Schlafenden tötet, so steht die Subsumtion unter einen Rechtsbegriff zur Diskussion; es handelt sich deshalb um eine Rechtsfrage. Ist dagegen umstritten, ob das Opfer tatsächlich im Schlaf (oder aber im wachen Zustand) getötet wurde, so ist die „Subsumtion“ des Sachverhalts unter einen Tatsachenbegriff und damit eine Tatsachenfrage betroffen. Diese Grenzziehung führt in vielen Fällen zu plausiblen Ergebnissen. Sie ist aber als letztlich entscheidendes Abgrenzungskriterium nicht geeignet, weil es sich bei Rechtssprache und Alltagssprache, wie Rainer Hamm zutreffend hervorhebt (Rn. 1168), nicht um zwei eigenständige Sprachsysteme mit jeweils spezifischem Vokabular handelt.14 Derselbe Begriff kann, wie auch Vertreter dieses Ansatzes konzedieren,15 innerhalb der juristischen Argumentation das eine Mal als Begriff der Rechtssprache, das andere Mal als Begriff der Alltagssprache verwendet werden. Die vorstehend referierte Entscheidung des Reichsgerichts zeigt das sehr deutlich. Fragt man, ob der Begriff „verdorben“, um dessen Anwendbarkeit es geht, in der Entscheidung des Landgerichts als Begriff der Rechtssprache oder aber der Alltagssprache verwendet werde, so kann die Antwort nur lauten: das kommt darauf an. Sofern es um die Frage geht, ob das Bier bestimmte Verunreinigungen (konkret: durch Fleischreste) enthielt, wird der Begriff umgangssprachlich verwendet. Soweit die Frage betroffen ist, ob Bier (oder generell: ein dem Nahrungsmittelgesetz unterfallendes Produkt) auch dann „verdorben“ sein kann, wenn die Beimengungen zwar nicht gesundheitsschädlich, wohl aber ekelerregend sind, handelt es sich dagegen um eine rechtssprachliche Verwendung des Begriffs. Die Mehrdeutigkeit der Zuordnung resultiert aus der oben hervorgehobenen Verbindung einer faktischen mit einer rechtlich-normativen Komponente des Begriffs. Die Frage heißt also: woran konnte der Strafsenat erkennen, ob es bei der zu entscheidenden Frage um die faktische (alltagssprachliche) oder aber um die rechtlich-normative (rechtssprachliche) Komponente des Begriffs „verdorben“ ging? Allgemeiner gefragt: Woran erkennt man, ob ein Begriff, auf dessen Anwendbarkeit es in dem zu entscheidenden Fall ankommt, in dem einen oder dem anderen Sinne gebraucht wird? Mit anderen Worten: wer als Kriterium der Abgrenzung von „revisibler Rechtsfrage“ und „nicht revisibler Tatfrage“ die Alternative von „Rechtsbegriff“ und „Begriff der Alltagssprache“ anbietet, bedarf angesichts der Tatsache, dass identische Begriffe je nach dem Kontext der Fragestellung zu der einen oder der anderen Kategorie gehören können eines Metakriteriums, das über die Zuordnung im jeweiligen Kontext entscheidet. Konkret: anhand
14 15
Näher dazu Neumann Abgrenzung (Fn 6) S. 392. Schünemann (Fn 13) S. 315 f (320).
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welchen Kriteriums erkennen wir, dass der Begriff „verdorben“ im einen Fall als Begriff der Rechtssprache, im andern als Begriff der Alltagssprache verwendet wird? 2. Das Regelkriterium Die Antwort erschließt sich, wenn man im konkreten Fall überlegt, weshalb die Frage nach der Zusammensetzung des fraglichen Bieres der alltagssprachlichen, die nach den Voraussetzungen, unter denen eine Nahrungsoder Genussmittel „verdorben“ ist, der rechtssprachlichen Bedeutung des Begriffs „verdorben“ zugewiesen wird. Im ersten Fall geht es um eine singuläre Feststellung zu dem konkreten Sachverhalt, im zweiten um eine Regel, nämlich um die Anerkennung bzw. Verwerfung der Regel: „,Verdorben‘ im Sinne des § 10 des Nahrungsmittelgesetzes ist ein Produkt auch dann, wenn seine vom Normalzustand abweichende Beschaffenheit zwar nicht gesundheitsgefährdend, aber geeignet ist, beim Verbraucher Ekelgefühle hervorzurufen.“ Dieses Abgrenzungskriterium lässt sich generalisieren. Um eine revisible Rechtsfrage geht es, wenn eine Regel, um eine nicht revisible Tatfrage, wenn eine singuläre Feststellung umstritten ist.16 Die Plausibilität dieses Kriteriums lässt sich an beliebigen Exempeln durchspielen. Greift etwa der nach § 168 StGB a.F. verurteilte Angeklagte das Urteil mit der Behauptung an, das von ihm aus dem Gewahrsam des Berechtigten entwendete Tatobjekt sei keine Leiche gewesen,17 so ist für die Frage der Revisibilität der Entscheidung folgendermaßen zu differenzieren. Geht es um die Frage, ob es sich bei dem Tatobjekt wirklich um den Körper eines verstorbenen Menschen (oder aber, beispielsweise, um eine lebensgroße Wachsfigur, angefertigt für das Kabinett der Madame Tussaud) gehandelt hat, dann steht eine singuläre Feststellung in Frage, und der Fall ist, sofern nicht Regelverstöße bei der Beweiswürdigung in Betracht kommen, der Beurteilung durch die Revisionsinstanz entzogen. Steht dagegen zur Diskussion, ob die Entwendung einer Ägyptischen Mumie aus einem Museum die Entwendung einer Leiche im Sinne des § 168 StGB a.F. darstellt, dann geht es um die Geltung einer Regel („Mumien sind [keine] Leichen im Sinne des § 168 StGB“) und die Frage fällt in die Entscheidungskompetenz des Revisionsgerichts.
16 Ähnlich Rüßmann (Fn 4); Kuhlen Die Unterscheidung von Rechts- und Tatfrage und ihre Bedeutung für das Strafprozessrecht, in: Burgmann/Fögen/Schminck (Hrsg.) Cupido legum, 1985, S. 99 ff. 17 Die Neufassung des Tatbestands durch das 6. StrRG hat dieses Tatbestandsmerkmal durch das Merkmal „Körper eines verstorbenen Menschen“ ersetzt. Aus Gründen der sprachlichen Vereinfachung der Argumentation wird hier die alte Fassung zugrunde gelegt. Sachlich ergeben sich keine Änderungen.
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Mit dem Vorschlag, die Unterscheidung zwischen revisibler Rechtsfrage und nicht revisibler Tatfrage anhand der Alternative von Regel einerseits, singulärer Feststellung andererseits vorzunehmen, tritt an die Stelle des sprachtheoretisch (begriffslogisch) orientierten Modells der Unterscheidung von „Rechtsbegriff“ und „Begriff der Alltagssprache“ ein satzlogisches Kriterium.18 Beide Modelle sind indes miteinander kompatibel, weil sich das Regelkriterium zugleich zur Markierung der Grenze zwischen einem Rechtsbegriff und einem Begriff der Alltagssprache heranziehen lässt: Ein Begriff ist als Rechtsbegriff zu verstehen, wenn über seine Anwendung auf den konkreten Sachverhalt nicht ohne die Formulierung einer Regel entscheiden werden kann, die diesen Begriff expliziert. Damit ist insofern ein trennscharfes Kriterium formuliert, als hinsichtlich jeder (und damit auch: jeder im Gerichtsverfahren streitigen) Behauptung entscheiden werden kann, ob sie eine Regel oder aber die Beschreibung eines singulären Sachverhalts formuliert. Auch die Frage, wann zur Anwendung eines Begriffs auf einen Sachverhalt die Formulierung einer Regel erforderlich ist, bereitet typischerweise keine Schwierigkeiten. Der Begriff ist im Wege der Regelbildung soweit zu konkretisieren, dass er an eine informative Sachverhaltsbeschreibung 19 angeschlossen werden kann. Das heißt: bei der Beschreibung des Sachverhalts dürfen keine Begriffe verwendet werden, die durch unterschiedliche Regeln und damit in unterschiedlicher Weise konkretisiert werden können. Soweit unterschiedliche Regeln herangezogen werden könnten, muss sich das Gericht explizit (und: mit Gründen) für eine dieser Regeln entscheiden. Die Kontrolle dieser Regelbildung ist Aufgabe des Revisionsgerichts. Am Beispiel: der Fehler des Landgerichts Nürnberg als Vorinstanz zu RGSt 23, 409 lag darin, dass die Strafkammer die Feststellung der Sachverständigen, das Bier sei nicht verdorben gewesen, als (vermeintliche) Tatsachenfeststellung übernommen hatte, ohne zu erwägen, unter welchen Voraussetzungen ein Produkt im Sinne des Lebensmittelrechts als „verdorben“ zu bewerten ist. Da hier mindestens zwei alternative Regeln zur Auswahl standen, nämlich (R1) ‚Verdorben‘ ist ein Produkt, wenn der Genuss des Produktes infolge seiner von der normalen Beschaffenheit abweichenden Zusammensetzung mit gesundheitlichen Gefahren verbunden ist“, und (R2) ‚Verdorben‘ ist ein Produkt, wenn es bei dem Verbraucher infolge seiner von der normalen Beschaffenheit abweichenden Zusammensetzung Ekelgefühle hervorruft, hätte die Strafkammer sich mit der Interpretation des Begriffs befassen und – nach Ansicht des Reichgerichts – im Ergebnis die zweite Interpretation zu18 19
Vgl. dazu schon Neumann FS Androulakis (Fn 6) S. 1086 ff. Dazu Rüßmann (Fn 4) S. 257 f.
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grunde legen müssen. Da es also um eine Frage der korrekten Regelbildung ging, lag eine „revisible Rechtsfrage“ vor. Das Revisionsgericht hat seine Zuständigkeit zur Entscheidung der ihm vorgelegten Frage daher zutreffend bejaht. Es sei auch an dieser Stelle 20 nicht verschwiegen, dass zwar die Frage, wann eine Regelbildung nötig ist, kaum Probleme aufwirft, dass aber die Frage, unter welchen Voraussetzungen sie möglich (bzw. nicht möglich) ist, das Revisionsgericht vor erhebliche Schwierigkeiten stellen kann. So dürfte sich eine zugleich präzise und sachlich überzeugende Regel zur Festlegung der Grenze der „Geringfügigkeit“ eines Tatobjekts beim Diebstahl (§ 243 Abs. 2 StGB) kaum markieren lassen. Aber solche Fragen liegen jenseits dieser Skizze, die Rainer Hamm in Hochschätzung und freundschaftlicher Verbundenheit gewidmet ist.
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Näher dazu Neumann FS Androulakis (Fn 6) S. 1098–1101.
Der Kontinuitätsgrundsatz – ein unentdecktes Prinzip des Beweisantragsrechts Zur Eigenart der beweisthemabezogenen Ablehnungsgründe (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO) Martin Niemöller I. Einleitung Bei einer Vorlesung über Beweisantragsrecht konfrontierte ich die Hörer mit dem Wortlaut des § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO und stellte ihnen die Frage, ob sie bei den dort aufgeführten Gründen für die Ablehnung von Beweisanträgen – abgesehen vom Grund der Prozessverschleppung 1 – gemeinsame Merkmale finden und darin ein System erkennen könnten. Die Frage blieb ohne Antwort. Das braucht nicht zu verwundern. Das Interesse an typenbildender Systematisierung ist heutzutage gering, und wo es sich doch einmal regt, geschieht das meist nur aus einer gewissen Neigung zu Ordnung und Übersicht, nicht aber in der Hoffnung, dabei rechtliche Erkenntnisse zu gewinnen. So überrascht es denn nicht, dass sich die Kommentare zur StPO 2 bei der Erläuterung der Ablehnungsgründe mehrheitlich an die Reihenfolge des Gesetzes halten 3 und eine typenbildende Systematisierung wenn überhaupt, dann nur ansatzweise stattfindet. Immerhin: Gollwitzer 4 bildet drei Gruppen, nämlich mangelnde Beweisbedürftigkeit (offenkundig, erwiesen, wahrunterstellt), Bedeutungslosigkeit der Beweisbehauptung und Unbrauchbarkeit des Beweismittels (ungeeignet, unerreichbar), Alsberg/Nüse/Meyer 5,
1 Prozessverschleppung bleibt im Folgenden außer Betracht, ebenso die Unzulässigkeit der Beweiserhebung (§ 244 Abs. 3 Satz 1 StPO) und die Erweiterung der Ablehnungsgründe für den Beweis durch Sachverständige und Augenschein (§ 244 Abs. 4 und 5 StPO). 2 Kommentarstellen werden im Folgenden nur das erste Mal vollständig angegeben, danach nur durch Angabe des Verfassers und der zu § 244 StPO gehörigen Rn bezeichnet. 3 Ausnahmen: Gollwitzer in: Löwe/Rosenberg, StPO 25. Aufl. § 244 Rn 259, 276 und KMR-Paulus StPO 7. Aufl. § 244 Rn 453: beide stellen die Erörterung der Ablehnungsgründe ungeeignet und unerreichbar an den Schluss. 4 Rn 208. 5 Alsberg/Nüse/Meyer Der Beweisantrag im Strafprozess, 5. Aufl. S. 409 f.
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Julius 6 und Schöch 7 gruppieren die Ablehnungsgründe nach den Gesichtspunkten der Überflüssigkeit der Beweiserhebung und der Unbrauchbarkeit des Beweismittels oder der Unausführbarkeit der Beweiserhebung.
II. Beweismittel- und Beweisthemabezug Näher liegt es jedoch, eine typenbildende Systematisierung anhand der Charakteristika des Beweisantrags vorzunehmen. Dem Beweisantrag wesentlich ist, dass der Antragsteller vom Gericht eine Beweiserhebung verlangt, die er durch Benennung des Beweismittels und Angabe der damit zu beweisenden Behauptung bezeichnet. Es bietet sich daher an, die Ablehnungsgründe des § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO danach zu klassifizieren, ob sie sich auf das Beweismittel oder die Beweisbehauptung (das Beweisthema) beziehen. Mit Ausnahme des Ablehnungsgrunds der Prozessverschleppung, der für sich steht, lassen sich alle Ablehnungsgründe in dieses Schema einordnen. Beweismittelbezogen sind die Ablehnungsgründe der Ungeeignetheit und Unerreichbarkeit, beweisthemabezogen die Ablehnungsgründe der Offenkundigkeit, des Erwiesenseins, der Bedeutungslosigkeit und der Wahrunterstellung. Diese Einteilung ist freilich als solche ohne rechtliche Relevanz;8 sie kann aber den Blick für einige Probleme des Beweisantragsrechts schärfen und dadurch zu ihrer Lösung beitragen.
III. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Ablehnungsgründe Das erweist sich schon bei der Frage, nach welchem Zeitpunkt zu beurteilen ist, ob der jeweilige Ablehnungsgrund vorliegt.9 Nur wenige Autoren äußern sich hierzu. Alsberg/Nüse/Meyer 10 und Paulus 11 stellen auf den Zeitpunkt der Entscheidung über den Beweisantrag ab; auch Gollwitzer stimmt dieser Meinung an einer Stelle zu, vertritt aber andernorts die Ansicht, dass die Verfahrenslage zum Zeitpunkt der Urteilsfällung maßgebend sei,12 ohne diesen Widerspruch aufzulösen.
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Julius in: HK-StPO 3. Aufl. § 244 Rn 23. Schöch in: AK-StPO § 244 Rn 74. 8 Alsberg/Nüse/Meyer aaO: „weder für die Rechtsanwendung noch sonst unbedingt erforderlich“. 9 Diese Frage darf nicht mit der andersartigen Frage verwechselt werden, wann über einen Beweisantrag zu entscheiden ist. 10 S. 755 f. 11 Rn 413, 446. 12 Rn 140, 155. 7
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Beide Meinungen begegnen Bedenken insoweit, als sie – dem Anschein nach – unterschiedslos für alle Ablehnungsgründe Geltung beanspruchen. Vielmehr ist hier danach zu differenzieren, ob es sich um beweismittel- oder beweisthemabezogene Ablehnungsgründe handelt. Dabei ergeben sich signifikante Unterschiede. 1. Beweismittelbezogene Ablehnungsgründe Bei den beweismittelbezogenen Ablehnungsgründen ist entscheidend, ob sie im Zeitpunkt der Beschlussfassung über den Beweisantrag vorliegen. Das gilt sowohl für den Ablehnungsgrund der Unerreichbarkeit als auch für denjenigen der Ungeeignetheit.13 a) Unerreichbar ist ein Beweismittel, wenn alle der Bedeutung des Beweismittels entsprechenden Bemühungen des Gerichts zu seiner Beibringung erfolglos geblieben sind und keine begründete Aussicht besteht, es in absehbarer Zeit herbeischaffen zu können.14 Freilich ist in dieser Begriffsbestimmung mit dem Element der begründeten Aussicht eine Zukunftskomponente enthalten; das ändert aber nichts daran, dass der maßgebliche Zeitpunkt für die Prognose künftiger Beschaffbarkeit des Beweismittels derjenige ist, zu dem das Gericht über den Beweisantrag entscheidet. Ist also beispielsweise ein vom Verteidiger benannter Zeuge in diesem Sinn unerreichbar, so wird eine darauf gestützte Ablehnung des Beweisantrags nicht dadurch rechtsfehlerhaft oder gar hinfällig, dass dem Tatrichter – sei es durch Zufall,15 sei es durch weitergehende Ermittlungen des Verteidigers – die ladungsfähige Anschrift des Zeugen später doch noch zur Kenntnis gelangt.16 In solchem Fall muss der Verteidiger, will er den Beweiserhebungsanspruch weiterverfolgen, einen neuen, inhaltsgleichen Beweisantrag stellen.17 Nicht anders verhält es sich, wenn eine Urkunde oder ein Augenscheinsobjekt im Zeitpunkt der Entscheidung über den Beweisantrag unauffindbar ist und – nach menschlichem Ermessen – auch bleiben wird, später aber unvermutet auftaucht: das Schicksal des zu Recht abgelehnten Beweisantrags wird dadurch nicht mehr berührt.
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Übrigens auch für den Ablehnungsgrund der Prozessverschleppung. BGH in st. Rspr., BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Unerreichbarkeit 1, 6, 13, 19, 20, weitere Nachweise bei Meyer-Goßner StPO 50. Aufl. § 244 Rn 62a. 15 Etwa bei Lektüre einer anderen Strafakte. 16 Ob das Gericht kraft seiner Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) den Zeugen dann von Amts wegen laden muss, ist eine andere Frage. 17 Eine unzulässige Wiederholung des bereits abgelehnten Beweisantrags liegt darin nicht, da sich mit dem Bekanntwerden der Anschrift des Zeugen ein für die Beurteilung wesentlicher Umstand geändert hat, Gollwitzer Rn 142; Herdegen in: KK-StPO 5. Aufl. § 244 Rn 57; Julius Rn 67; Paulus Rn 406; Schlüchter in: SK-StPO § 244 Rn 149. 14
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b) Für den Ablehnungsgrund der Ungeeignetheit gilt das ebenso. Völlig ungeeignet ist ein Beweismittel, wenn ungeachtet des bisherigen Beweisergebnisses nach sicherer Lebenserfahrung feststeht, dass sich mit ihm das in Aussicht gestellte (die Behauptung bestätigende) Ergebnis nicht erzielen lässt.18 Lehnt also das Gericht etwa den Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens ab, weil es nach dem derzeitigen Stand der Wissenschaft keine Methode gebe, die etwas zur Klärung der Beweisfrage beitragen könne, so behält der rechtsfehlerfrei darauf gestützte Ablehnungsbeschluss seine antragserledigende Wirkung auch dann, wenn noch während der Hauptverhandlung durch neuere Forschungen eine solche Methode entwickelt wird und das Gericht davon erfährt.19 c) Festzuhalten ist somit, dass es bei den beweismittelbezogenen Ablehnungsgründen allein auf den Zeitpunkt der Entscheidung über den Beweisantrag ankommt, oder – anders gewendet – der einmal gegebene Ablehnungsgrund ohne Rücksicht auf spätere Veränderungen, die eine gegenteilige Beurteilung rechtfertigen würden, den Ablehnungsbeschluss weiterhin trägt, dieser also stabil bleibt. Für dieses Ergebnis gibt es auch einen sachlichen Grund: Will der Prozessbeteiligte ein Beweismittel benutzt wissen, das vom Gericht sonst nicht von Amts wegen herangezogen würde oder zu werden brauchte (§ 244 Abs. 2 StPO), so ist es prinzipiell, wiewohl zunächst nicht ausschließlich, seine Sache, sich um die Beschaffbarkeit und Eignung des von ihm benannten Beweismittels zu kümmern. Lehnt das Gericht die beantragte Beweiserhebung ab, weil es bei dem Beweismittel des Antragstellers zu Recht diese Eigenschaften vermisst, so hat es damit alles getan, was von ihm verlangt werden kann. Eine zeitlich über die Antragsbescheidung hinausreichende Pflicht oder Obliegenheit zur Beobachtung derjenigen Umstände und Entwicklungen, die für die Erreichbarkeit oder Geeignetheit des (nicht von ihm ins Spiel gebrachten) Beweismittels Bedeutung gewinnen könnten, hat es nicht. Ergeben sich nach Bescheidung des Antrags im Laufe der Hauptverhandlung Veränderungen, die das Beweismittel nunmehr als erreichbar oder geeignet erscheinen lassen, so verlangt die sachgerechte Abgrenzung der Verantwortungsbereiche, dass es nun allein dem Antragsteller obliegt, auf solche Veränderungen in der Qualität seines Beweismittels zu achten, sich auf sie zu berufen und gegebenenfalls einen neuen, inhaltsgleichen Beweisantrag zu stellen.
18 BGH in st. Rspr., BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Ungeeignetheit 6, 12; weitere Nachweise bei Meyer-Goßner Rn 58 ff. 19 Mit diesem Problem befasste sich die Entscheidung BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Ungeeignetheit 13 (Genomanalyse bei Hundehaaren).
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2. Beweisthemabezogene Ablehnungsgründe Anders verhält es sich mit den beweisthemabezogenen Ablehnungsgründen. Sie geben an, wann Tatsachen, die der Antragsteller behauptet und der Entscheidung zugrunde gelegt wissen will, keines Beweises bedürfen – es geht damit um die Sachverhaltsgrundlage des künftigen Urteils. Allerdings muss das Gericht auch hier – es kann gar nicht anders – das Vorliegen des Ablehnungsgrunds zunächst auf der Grundlage der Verfahrens- und Beweissituation beurteilen, wie sie sich zum Zeitpunkt der Beschlussfassung über den Antrag darstellt, und dieser Zeitpunkt liegt – sieht man von der Sonderform des Hilfsbeweisantrags ab – stets vor Verkündung des Urteils; denn es ist nicht zulässig, die Erledigung von Beweisanträgen bis zum Urteil hinauszuschieben und darüber erst zusammen mit dessen Verkündung zu entscheiden.20 Maßgebend ist aber der Zeitpunkt des Urteils. Dies folgt daraus, dass die beweisthemabezogenen Ablehnungsgründe potentielle Urteilselemente zum Gegenstand haben, über deren Vorliegen oder Fehlen demgemäß auch nur das Urteil letztverbindlich entscheiden kann.21 Lehnt das Gericht einen Beweisantrag aus einem solchen Grund ab, so steht die Annahme dieses Grunds – auch wenn sie pro tempore richtig ist – mithin unter Vorbehalt. Sie ist nur vorläufig. Es genügt nicht, dass der Ablehnungsgrund zum Zeitpunkt der Beschlussfassung über den Antrag vorliegt; er muss vielmehr darüber hinaus bei Bestand bleiben und noch zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung gegeben sein. Dies ist ein Grundsatz, der für alle beweisthemabezogenen Ablehnungsgründe gilt, wiewohl er in seiner Bedeutung als übergreifendes Prinzip des Beweisantragsrechts bisher weder im Schrifttum noch in der Rechtsprechung erkannt und benannt worden ist; er soll hier Kontinuitätsgrundsatz heißen.
IV. Kontinuitätsgrundsatz 1. Allgemeines Der im folgenden näher zu betrachtende Kontinuitätsgrundsatz bedeutet, dass letztlich entscheidend ist, ob die behauptete Tatsache auch noch im Urteil – entsprechend der die Ablehnung des Beweisantrags tragenden Begründung – offenkundig, bereits erwiesen oder bedeutungslos ist oder als 20 Beschluss- und Urteilsverkündung dürfen nicht zusammenfallen, so bereits vor der gesetzlichen Normierung der Ablehnungsgründe RG JW 1929, 1046 mit Anm. Alsberg, jetzt statt vieler: Hamm/Hassemer/Pauly Beweisantragsrecht, 2. Aufl. Rn 199 und Herdegen Rn 60. 21 So andeutungsweise: Herdegen Rn 59, soweit er die Urteilsdarlegungen zum abgelehnten Beweisantrag als „definitive, ausschlaggebende Stellungnahme“ bezeichnet; ebenso Schöch Rn 67.
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wahr unterstellt wird. Wenn das Gericht also diese Ablehnungsgründe zur Zurückweisung von Beweisanträgen verwendet, so zieht es damit gleichsam einen Scheck auf deren Fortbestand im Zeitpunkt der Urteilsverkündung. Ob es ihn einlösen kann, steht nicht von vornherein fest. Denn zwischen der Ablehnung des Beweisantrags und der Urteilsverkündung kann sich eine Entwicklung ergeben, die – etwa infolge neuer Beweiserhebungen – zu einer anderen Beurteilung führt und deshalb den für die Zurückweisung des Beweisantrags maßgebenden Ablehnungsgrund wegfallen lässt. Dies hat das Gericht bei der Beratung des Urteils zu prüfen. Ist der Ablehnungsgrund weggefallen, dann hat der seinerzeit rechtmäßige Ablehnungsbeschluss dadurch seine rechtfertigende Grundlage eingebüßt, entbehrt nun der Begründung und erweist sich damit als verfahrensfehlerhaft (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO). Das Gericht muss daher, will es den Verfahrensfehler beseitigen, die Verhandlung wieder eröffnen, seinen Ablehnungsbeschluss zurücknehmen und eine neue Entscheidung über den Beweisantrag treffen, sei es, dass es ihn nunmehr aus einem anderen, zutreffenden Grunde zurückweist, sei es, dass es ihm stattgibt, die beantragte Beweiserhebung also vornimmt. Sein Prüfungsumfang ist dabei durch den Ablehnungsbeschluss bestimmt und begrenzt. Es kann nur feststellen, dass der im Beschluss genannte Ablehnungsgrund entweder vorliegt oder fehlt. Weiter reicht seine Prüfungskompetenz nicht. Ob ein anderer Ablehnungsgrund vorliegt, hat es zu diesem Zeitpunkt nicht zu entscheiden. Denn es darf den Ablehnungsgrund des Beschlusses nicht in den Urteilsgründen durch einen anderen ersetzen, weil es damit die prozessualen Belange des Antragstellers beeinträchtigen würde, der sich darauf nicht mehr einstellen könnte. Eine solche Ersetzung ist unzulässig.22 Sie bewirkt daher auch nicht, dass der neue Ablehnungsgrund an die Stelle des alten rückt.23 Da sie aber den alten Ablehnungsgrund dementiert, entzieht sie dem Ablehnungsbeschluss die Grundlage und führt dadurch einen Verfahrensfehler herbei. Das gilt im Übrigen nicht nur für den nachträglichen Wegfall eines ursprünglich bestehenden Ablehnungsgrundes, sondern ebenso für zwei andere Konstellationen. Zum einen für den Fall, dass der Ablehnungsgrund, mit dem das Gericht die Zurückweisung des Antrags begründet hatte, von vornherein nicht gegeben war und das Gericht dies bei der Urteilsberatung
22 Allgemeine Meinung, so bereits RG HRR 1938 Nr. 790 (Bedeutungslosigkeit/Unerreichbarkeit); BGH NJW 1951, 368 Nr. 24; BGHSt 19, 24 (26); 29, 149 (152); Alsberg/ Nüse/Meyer S. 687f; Gollwitzer Rn 151; Herdegen Rn 59; Julius Rn 53; Paulus Rn 408; Schöch Rn 66. 23 Zutreffend bemerken Alsberg/Nüse/Meyer S. 759: „… ersetzt er [scil. der Tatrichter] die Ablehnungsgründe durch andere Gründe, so beachtet das Revisionsgericht das bei der Prüfung der rechtlichen Zulässigkeit der Ablehnung nicht“. Diese Aussage impliziert die Unwirksamkeit der Ersetzung.
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erkennt; auch hier darf es nicht einen zutreffenden Ablehnungsgrund nachschieben, sondern hat so zu verfahren, wie das soeben dargestellt worden ist. Umgekehrt liegt der andere Fall, in dem der Ablehnungsgrund, der zur Zurückweisung des Antrags gedient hatte, damals zu Recht bejaht worden und auch erhalten geblieben war, das Gericht aber bei der Urteilsberatung irrtümlich zu der Auffassung kommt, er sei nicht gegeben. Ersetzt es nun den zutreffenden Ablehnungsgrund durch einen unzutreffenden,24 so ist damit ein Verfahrensfehler gegeben. Dieser liegt aber nicht erst – wie man zunächst meinen könnte – in der Fehlerhaftigkeit der neuen Begründung, sondern bereits in der Ersetzung selbst, weil dadurch die alte Begründung des Ablehnungsbeschlusses hinfällig wird. Auf die fehlerhafte Annahme des neuen Ablehnungsgrunds kommt es dagegen nicht an; sie ist insbesondere kein Rechtsfehler, auf dem das Urteil beruhen kann, da der neue Ablehnungsgrund wegen Unzulässigkeit und daraus folgender Unwirksamkeit der Ersetzung nicht maßgebend werden konnte. Was bleibt, ist die Zurückweisung eines Beweisantrags ohne Ablehnungsgrund. Auch wenn der neue, in den Urteilsgründen nachgeschobene Grund ebenfalls zuträfe und der Austausch die prozessualen Belange des Antragstellers nicht beeinträchtigen würde, wäre die Zurückweisung des Beweisantrags gleichwohl ein Verfahrensverstoß. 2. Kontinuitätsgrundsatz – einzelne Ablehnungsgründe Dass der Kontinuitätsgrundsatz für alle beweisthemabezogenen Ablehnungsgründe gilt, ist mit den vorstehenden Ausführungen allgemein dargelegt. Zu prüfen bleibt, ob er sich auch bei den einzelnen Ablehnungsgründen bewährt und damit die „Probe aufs Exempel“ besteht. a) Offenkundig Der Ablehnungsgrund offenkundig taugt für eine solche Prüfung allerdings nicht, weil aus der Rechtsprechung kein Fall bekannt ist, in dem dieser Grund zwar zur Zurückweisung eines Beweisantrags gedient hätte, im Urteilszeitpunkt aber entfallen oder vom Gericht wieder dementiert worden wäre. Soweit es sich um die Offenkundigkeit in der Form der Allgemein-
24 Einen ähnlichen Fall – der Antrag wurde im Ablehnungsbeschluss zu Recht als Beweisermittlungsantrag gewertet, in den Urteilsgründen dagegen als Beweisantrag angesehen und fehlerhaft ‚nachbeschieden‘ – betraf die Entscheidung BGHSt 19, 24, die – im Ergebnis zu Recht – einen Verfahrensfehler bejahte. Die Begründung leidet jedoch an einem inneren Widerspruch: Wenn die Ersetzung des Ablehnungsgrunds unzulässig war, den neuen Ablehnungsgrund also nicht an die Stelle des alten zu setzen vermochte, dann konnte das Urteil nicht auf der fehlerhaften Annahme des neuen Ablehnungsgrundes beruhen.
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kundigkeit 25 handelt, ist dies zwar nicht ausgeschlossen,26 kommt aber innerhalb der überschaubaren Zeitspanne einer Hauptverhandlung nicht vor. Ähnliches gilt auch für die Offenkundigkeit in der Form der Gerichtskundigkeit, dürfte es doch kaum einen Fall geben, in dem das vom Richter im Zusammenhang mit seiner amtlichen Tätigkeit zuverlässig erworbene Wissen 27 später verloren geht oder bei der Urteilsberatung vom selben Gericht nicht mehr in Anspruch genommen wird. b) Erwiesensein Anders verhält es sich schon bei dem Ablehnungsgrund des Erwiesenseins der behaupteten Tatsache. Was dem Gericht bei der Ablehnung eines Beweisantrags bereits als erwiesen erscheint, kann auf Grund nachfolgender Beweiserhebungen oder infolge eines Wandels der gerichtlichen Bewertung ins Zwielicht des Zweifels geraten oder sogar widerlegt sein. Die Rede vom Beweis, der erschüttert sei oder werde, kommt nicht von ungefähr, hat vielmehr realen Hintergrund und spiegelt Erfahrung.28 Einen solchen Beurteilungswandel betrifft der folgende, vom BGH entschiedene Fall: 29 Die Verteidigung des Angeklagten, dem Mord und Vergewaltigung zur Last lag, hatte Zeugenbeweis dafür angetreten, dass er das Jugendzentrum gegen 21.00 Uhr verlassen habe. Der Beweisantrag war mit der Begründung abgelehnt worden, dies sei bereits erwiesen. Der Angeklagte wurde verurteilt. In den Urteilsgründen stellte das Gericht fest, dass sich der Angeklagte kurz vor 20.30 Uhr aus dem Jugendzentrum entfernt habe. Der BGH hob das Urteil wegen dieses Widerspruchs auf, weil die in der Beschlussbegründung für erwiesen erachtete Tatsache auch für das Urteil bindend gewesen sei. So sehr das Ergebnis einleuchtet, so wenig überzeugt die Begründung. Denn das Tatgericht ist bei der Urteilsberatung nicht an frühere Feststellungen oder Bewertungen gebunden. Es kann und muss gegebenenfalls im Urteil Feststellungen treffen, die dem widersprechen, was es bei Ablehnung des 25
Zur näheren Umschreibung dieses Begriffs vgl. Meyer-Goßner Rn 51. Was man früher als allgemeinkundig ansah, erwies sich später nicht selten als irrtümlich. Dass es auf der Erde keinen Ort gebe, an dem die Sonne nicht innerhalb von 24 Stunden einmal auf- und untergehe, galt in der Antike als ausgemacht, und dies auch noch lange, nachdem Pytheas von Massalia, der im 4. Jahrhundert v. Chr. in den Norden Europas gereist war, vom Phänomen der Mitternachtssonne berichtet hatte, vgl. Cunliffe The extraordinary voyage of Pytheas the Greek, London 2001. 27 So die gängige Umschreibung des Begriffs der Gerichtskundigkeit, vgl. Meyer-Goßner Rn 52. 28 Gollwitzer Rn 182. 29 BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 erwiesene Tatsache 1; vgl. auch OLG Köln VRS 17, 140. 26
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Beweisantrags für erwiesen gehalten hatte; und es ist nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, eine dem Ablehnungsbeschluss zugrunde liegende Bewertung des Beweisantrags aufzugeben, wenn sie ihm jetzt nicht mehr richtig erscheint. Denn bei der Urteilsfindung hat es sich seine Überzeugung nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zu bilden (§ 261 StPO), auf den Stand der Beweisaufnahme und deren Bewertung zu einem früheren Zeitpunkt kommt es nicht an.30 Die richtige Begründung für die gebotene Urteilsaufhebung hätte sich aus der Anwendung des Kontinuitätsgrundsatzes ergeben: Als das Tatgericht bei der Urteilsberatung zu dem Ergebnis kam, dass der Angeklagte das Jugendzentrum schon kurz vor 20.30 Uhr verlassen habe, war damit die Behauptung der späteren Aufbruchszeit nicht mehr erwiesen, der Grund für die Ablehnung des Beweisantrags also entfallen.31 Nicht das Urteil selbst wurde dadurch rechtsfehlerhaft, sondern der nun als begründungslos erwiesene Ablehnungsbeschluss,32 weshalb die Verfahrensrüge der Verletzung des Beweisantragsrechts (§§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO) Erfolg haben musste. c) Bedeutungslos Für den Ablehnungsgrund der Bedeutungslosigkeit gilt Entsprechendes. Die der Ablehnung eines Beweisantrags zugrunde liegende Annahme, die unter Beweis gestellte Tatsache sei bedeutungslos, muss nicht nur zu diesem Zeitpunkt begründet sein, sondern darüber hinaus bis zum Urteil Bestand haben; sie verfällt, wenn sich das Gericht im Urteil dazu in Widerspruch setzt. Dies geschieht immer dann, wenn es der behaupteten Tatsache im Urteil doch noch Bedeutung beimisst,33 meist allerdings in den Fällen, in denen es eine mit der Antragsbehauptung unvereinbare Urteilsfeststellung
30 Alsberg Der Beweisantrag im Strafprozess, 1930 S. 303 hat den Grundsatz treffend benannt: „Das Gericht ist bei der Urteilsfällung an die kundgegebene Begründung der Ablehnung nicht in dem Sinne gebunden, dass es etwa gehindert wäre, einer Änderung seiner Überzeugung Geltung zu verschaffen“. 31 Dieser Wegfall wäre übrigens auch eingetreten, wenn das Gericht sich nicht imstande gesehen hätte, die Aufbruchszeit festzustellen. 32 Das Gericht hätte daher wieder in die Beweisaufnahme eintreten, den Ablehnungsbeschluss zurücknehmen und über den Beweisantrag neu entscheiden müssen. Das ist natürlich auch eine Art Bindung, aber nicht diejenige, die der BGH in dem zitierten Urteil (Fn 29) gemeint hat, sondern nur die Bindung an die Regeln des bei einem drohenden Widerspruch zu beobachtenden Verfahrens. 33 BGH NStZ 1984, 38; im zugrunde liegenden Fall hatte das Gericht eine von der Staatsanwaltschaft behauptete Tatsache für bedeutungslos erklärt, sie aber im Urteil als Indiz gegen den Angeklagten verwertet. Dieser konnte zwar nicht die Ablehnung des Beweisantrags rügen, wohl aber beanstanden, dass ihm kein Hinweis auf die Änderung der Bewertung erteilt worden war.
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trifft, insbesondere das Gegenteil der behaupteten Tatsache feststellt und 34 diese Feststellung zum Nachteil des Antragstellers verwertet; stets liegt darin das Eingeständnis, dass die mit dem Beweisantrag vorgebrachte Behauptung nicht bedeutungslos war. Der BGH war wiederholt mit solchen Fällen befasst; 35 als Beispiel sei einer von ihnen hier skizziert: 36 Der Angeklagte war dem Vorwurf der Vergewaltigung mit der Behauptung entgegengetreten, das 16-jährige Mädchen sei einverstanden gewesen. Um ein Indiz dafür darzutun, hatte er in das Wissen von Zeugen gestellt, dass es nach dem Vorfall am selben Abend noch in einer Diskothek ausgelassen herumgetanzt habe. Das Gericht lehnte den Beweisantrag ab, da die behauptete Tatsache für die Entscheidung ohne Bedeutung sei – den ihm nahe gelegten Schluss auf die Unglaubwürdigkeit des Mädchens ziehe es nicht. In den Urteilsgründen folgte es dann aber der Aussage des Mädchens auch darin, dass es an diesem Abend nicht getanzt habe, vielmehr überwiegend für sich allein geblieben sei, und berücksichtigte diesen Umstand zu Lasten des Angeklagten. Das Gericht stellte also das Gegenteil der behaupteten Tatsache fest, verwendete diese Feststellung bei der Beweiswürdigung zu Lasten des Angeklagten und maß ihr dadurch Bedeutung bei. Dann konnte es aber die gegenteilige Beweisbehauptung nicht für bedeutungslos halten, sondern musste ihr gleichfalls Bedeutung beimessen und hat dies implizit auch getan. Damit war der Grund für die Ablehnung des Beweisantrags im Urteilszeitpunkt nicht mehr gegeben, der Ablehnungsbeschluss hatte ihn eingebüßt und erwies sich somit als fehlerhaft. Die Rüge fehlerhafter Ablehnung des Beweisantrags war deshalb begründet. Zur Urteilsaufhebung kam der BGH aber auch hier auf Grund seiner Ansicht, das Gericht dürfe sich im Urteil nicht in Widerspruch zur Begründung des Ablehnungsbeschlusses setzen, mit anderen Worten: es sei an diese Begründung gebunden. Diese, in einer Reihe weiterer Entscheidungen zum Ausdruck gebrachte Ansicht 37 ist – ebenso wie beim Ab34 Die Feststellung einer Tatsache, die zu der behaupteten in Widerspruch steht, reicht für sich allein nicht aus, den Ablehnungsgrund entfallen zu lassen, da sie für das Urteil gleichfalls bedeutungslos sein kann – gelegentlich befrachten Gerichte den Urteilssachverhalt mit Feststellungen, die auch nach ihrer eigenen Einschätzung nicht entscheidungsrelevant sind. 35 BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Bedeutungslosigkeit 18, 22; § 244 Abs. 5 Satz 2 Auslandszeuge 6; BGH StV 1993, 173; 1996, 648; 1997, 237; 2001, 95, 96; NStZ 1994, 195; 2000, 267; ferner BGH Urt. v. 7.7.1997 – 5 StR 17/97 und 19.4.2000 – 5 StR 467/99; Beschl. v. 3.4.2001 – 4 StR 579/00 und 9.4.2002 – 5 StR 110/02 (letzterer in BGH DAT-St). 36 BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Bedeutungslosigkeit 22. 37 Ebenso (das Gericht dürfe sich nicht in Widerspruch zu der behaupteten Tatsache setzen) bereits BGH StV 1993, 173. gleichbedeutend (das Gericht sei gehindert, das Urteil auf das Gegenteil zu stützen) BGH StV 1996, 648; BGH Urt. v. 19.4.2000 – 5 StR 467/99 –
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lehnungsgrund des Erwiesenseins – unrichtig.38 Hier besteht die vom BGH behauptete Bindung ebenso wenig wie dort. Das Gericht muss sich im Urteil in Widerspruch zur Ablehnungsbegründung setzen, wenn dies erforderlich ist, um seiner aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung folgen zu können – andernfalls verstieße es gegen § 261 StPO. Es hat den fehlerhaften Ablehnungsbeschluss zu beseitigen, nicht seiner als hinfällig erkannten Begründung auch noch im Urteil Reverenz zu erweisen. Wem es allein auf das Ergebnis, also die Urteilsaufhebung, ankommt, der mag den Streit um die richtige Begründung für müßig halten. Für den Tatrichter, der seine Handlungsdirektiven der oberstgerichtlichen Rechtsprechung entnimmt, ist es indessen fatal, wenn ihn diese Rechtsprechung anweist, seinem Urteil eine als falsch oder überholt erkannte Beschlussbegründung zugrunde zu legen, anstatt – wie es § 261 StPO verlangt – seine Überzeugung auch insoweit aus dem Inbegriff der Verhandlung zu schöpfen und demgemäß zu verfahren. d) Wahrunterstellung Auch für den Ablehnungsgrund der Wahrunterstellung gilt der Kontinuitätsgrundsatz. Das bedeutet, dass die Voraussetzungen, unter denen ein Beweisantrag aus diesem Grund abgelehnt werden darf, noch im Zeitpunkt des Urteils gegeben sein müssen und sich andernfalls die Zurückweisung des Beweisbegehrens als Verfahrensfehler erweist. Die Rechtslage ist hier keine grundsätzlich andere als beim Ablehnungsgrund der Bedeutungslosigkeit. Während aber für diesen Ablehnungsgrund ein einziges Merkmal (die Unerheblichkeit der Beweistatsache) ausreicht, ist die Wahrunterstellung an mehrere Voraussetzungen geknüpft. Als wahr unterstellt werden darf nur eine erhebliche Behauptung, die zur Entlastung des Angeklagten bewiesen werden soll. Verlangt wird also zunächst eine zweifache Qualifikation der behaupteten Tatsache: sie muss erheblich sein und den Angeklagten entlasten.39 Ein drittes Erfordernis tritt hinzu: Soweit das Gesetz die Zulässigkeit der Wahrunterstellung davon abhängig macht, dass die Behauptung als und besonders pointiert (Das Gericht müsse sich an der Annahme der Bedeutungslosigkeit festhalten lassen) BGH StV 1997, 237; 2001, 96; BGH Urt. v. 7.7.1997 – 5 StR 17/97. 38 Richtig dagegen BGH NStZ 1994, 195: Wenn das Gericht im Urteil das Gegenteil der unter Beweis gestellten Tatsache zur Begründung (des Schuldspruchs) heranziehe, weiche es von der Beurteilung jener Tatsache als bedeutungslos ab und „entzieht damit der Ablehnung des Beweisantrags die sie rechtfertigende Grundlage“. Diese Erkenntnis hat sich nicht durchgesetzt. BGH StV 1996, 648 übernahm zwar wörtlich die zitierte Passage, verwendete sie jedoch nur als Begründung der These, das Gericht sei gehindert, das Urteil auf das Gegenteil der behaupteten Tatsache zu stützen. 39 Objekt einer Wahrunterstellung können sowohl Haupt- als auch Indiz- und Hilfstatsachen sein, was seit der Untersuchung von Tenckhoff Die Wahrunterstellung im Strafprozess, 1980 S. 136 ff wohl nicht mehr bestritten wird.
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wahr unterstellt werden kann, setzt es damit voraus, dass die Behauptung nicht widerlegbar ist, das Gericht also den Gegenbeweis ohnehin nicht zu führen vermag; denn andernfalls würde es durch die Wahrunterstellung seine Pflicht zur Sachaufklärung verletzen, weil sich diese Verpflichtung grundsätzlich auf alle Tatsachen erstreckt, die für die Entscheidung von Bedeutung sind und aufgeklärt werden können (§ 244 Abs. 2 StPO). Auch diese drei Voraussetzungen (Erheblichkeit, Entlastungstendenz und Unwiderlegbarkeit der Behauptung), die eine Wertung enthalten, müssen im Zeitpunkt des Urteils noch gegeben sein – nur dann ist die Wahrunterstellung eingehalten. Zunächst aber sind die tatsächlichen, nicht wertungsgebundenen Elemente der Wahrunterstellung zu erörtern. Lehnt das Gericht einen Beweisantrag ab, weil es die Behauptung als wahr unterstellt, so verspricht es damit, die behauptete Tatsache bei der Urteilsfindung wie eine festgestellte zu behandeln. Ablehnungsbeschluss und Urteil stehen insoweit im Verhältnis von Zusage und Einhaltung, Versprechen und Erfüllung.40 aa) Kongruenzgebot – unterlassene Wahrunterstellung Gegen diese, mit der Ablehnung des Beweisantrags gegebene Zusage verstößt das Gericht, wenn es im Urteil die als wahr unterstellte Beweisbehauptung inhaltlich einengt, verkürzt, verschiebt oder ihren erkennbaren Sinn nicht beachtet. Damit unterlässt es – jedenfalls teilweise – die mit dem Ablehnungsbeschluss versprochene Wahrunterstellung und verletzt das Kongruenzgebot 41.42 Daraus folgt, dass der Beweisantrag, soweit die Be40
So bereits Alsberg JW 1929, 977 (979); Alsberg/Nüse/Meyer S. 675; Gollwitzer Rn 237a. Dieses Verhältnis besteht auch bei den anderen beweisthemabezogenen Ablehnungsgründen – so heißt es in BGH Beschl. v. 9.4.2002 – 5 StR 110/02 (mitgeteilt in BGH DAT-St), das Gericht habe die „zugesagte Unerheblichkeit“ im Urteil „nicht eingehalten“ (Hervorhebung vom Verf.); nirgends aber tritt es so deutlich hervor wie bei der Wahrunterstellung. 41 BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Wahrunterstellung 19, 21, 26, 27; BGH NStZ 2003, 101; OLG Hamm GA 1974, 374; OLG Hamburg StV 2001, 332 mit Anm. Meyer; Alsberg JW 1929, 977 (979ff); ausführlich Alsberg/Nüse/Meyer S. 677 ff mwN; Herdegen NStZ 1984, 337 (343). Das Kongruenzgebot verlangt, dass die Behauptung, die das Gericht seiner Entscheidung über den Antrag zugrunde legt, mit der Beweisbehauptung des Antragstellers voll übereinstimmt. Diese (selbstverständliche) Forderung gilt für alle Ablehnungsgründe, wird aber am häufigsten bei der Wahrunterstellung missachtet. 42 Geschieht dies bereits bei Ablehnung des Beweisantrags in der Hauptverhandlung, so kann der Antragsteller der Abänderung seiner Behauptung widersprechen und muss dies auch tun, um sich die Verfahrensrüge für die Revision zu erhalten, BGH StV 2001, 436. Anders bei Hilfsbeweisanträgen, die erst in den Urteilsgründen beschieden werden; hier lässt sich eine Abänderung der Beweisbehauptung in der Instanz nicht mehr rückgängig machen und begründet daher ohne weiteres die Revision, BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Wahrunterstellung 4, 6, 10, 17. Beide Fälle liegen außerhalb des Rahmens der vorliegenden Untersuchung, weil bei ihnen der Verfahrensfehler schon in der Ablehnungsentscheidung liegt und sich nicht erst aus dem Vergleich zwischen Antragsablehnung und Urteil ergibt.
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hauptung darüber hinausging oder eine andere war, in Wirklichkeit nicht beschieden ist (Verstoß gegen § 244 Abs. 6 StPO).43 bb) Abrücken von der als wahr unterstellten Behauptung Seine Wahrunterstellungszusage bricht das Gericht auch, wenn es im Urteil von der dort zunächst als wahr unterstellten Behauptung abrückt, indem es sie wieder in Zweifel zieht,44 in der Beweiswürdigung von ihr abweicht 45 oder – im krassen Fall – ihr widersprechende Feststellungen trifft 46.47 Damit dementiert es den bei der Zurückweisung des Beweisbegehrens verwendeten Ablehnungsgrund und entzieht dadurch dem Ablehnungsbeschluss nachträglich seine Grundlage; 48 dieser erweist sich als verfahrensfehlerhaft, weil er des Ablehnungsgrundes ermangelt (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO). cc) Wechsel zur Unerheblichkeit Die vorgenannten Fallkonstellationen betreffen die behauptete Tatsache, nicht deren Bewertung; deshalb ergeben sich hier keine Probleme. Anders verhält es sich, wenn das Gericht die bei Ablehnung des Beweisantrags zugunsten des Angeklagten als wahr unterstellte, für erheblich gehaltene Behauptung im Urteil als bedeutungslos wertet. Auch darin liegt aber ein Widerruf des zur Ablehnung des Beweisantrags verwendeten Grundes, der damit in Wegfall gerät und den Ablehnungsbeschluss nicht mehr trägt. Der Ablehnungsgrund der Bedeutungslosigkeit 43 BGH bei Pfeiffer/Miebach NStZ 1983, 357 Nr. 23; treffend Alsberg/Nüse/Meyer S. 668: „In ihrem Umfang muss die Wahrunterstellung den Beweisantrag erschöpfen; andernfalls ist er durch die Wahrunterstellung nicht erledigt“. 44 BGHSt 1, 137 (139); BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Wahrunterstellung 9 (S. 2), 14; Gollwitzer Rn 249; Schlüchter Rn 128. 45 BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Wahrunterstellung 7, 8; BGH NStZ 2003, 101. 46 BGH LM Nr. 5 zu § 244 Abs. 3 StPO; BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Wahrunterstellung 9, 24, 29 = BGHSt 40, 184 ff; BGH StV 2007, 18. So bereits Miltner Recht 1902 Sp. 568, 570. Nimmt das Gericht die als wahr unterstellte Behauptung in die Urteilsgründe auf, so kann sie dort zu einem Widerspruch oder einer Beweiswürdigungslücke führen und begründet dann zugleich einen Sachmangel, der in der Revision auch auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts zu beachten ist, BGHSt 28, 310; BGH StV 1983, 441; 1984, 142; Willms in: FS K. Schäfer, 1980, S. 275 (282); Herdegen NStZ 1984, 337 (343). 47 Solche Feststellungen begründen einen Verfahrensmangel auch dann, wenn die Wahrunterstellung nicht durch einen Beweisantrag, sondern etwa durch eine bloße, ohne Beweisantritt vorgebrachte Behauptung oder einen Beweisermittlungsantrag veranlasst worden war, BGHSt 21, 38; 32, 44 (45 f); OLG Stuttgart StraFo 2005, 204, jeweils mwN. 48 BGH LM Nr. 4 zu § 52 StPO Bl. 4; BGHSt 32, 44 f; Hanack JZ 1972, 114 (116) und Julius Rn 54 sprechen vom „Wiederaufleben“ des Beweisantrags mit daraus folgender Pflicht zu neuer Bescheidung. Aber dies Bild trifft nicht: Der abgelehnte Beweisantrag bleibt abgelehnt, auch wenn sich herausstellt, dass ein Grund für seine Ablehnung fehlt.
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rückt nicht an seine Stelle, da eine Ersetzung nicht zulässig ist. Die Zurückweisung des Beweisbegehrens entbehrt daher auch in diesem Fall eines Ablehnungsgrundes und erweist sich damit als fehlerhaft (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO). Diese rechtliche Deutung des Beurteilungswandels ergibt sich als Folgerung aus dem Kontinuitätsgrundsatz. Dagegen ließe sich einwenden, dass die Erheblichkeit der Beweisbehauptung nur Voraussetzung der Wahrunterstellung, nicht deren Gegenstand sei. Diese könne sich immer nur auf die Tatsache selber beziehen, nicht aber auf deren Bewertung. Erachte das Gericht die Tatsache also im Urteil – anders als bei Ablehnung des Beweisantrags – für bedeutungslos, so widerrufe es zwar eine Voraussetzung der Wahrunterstellung, die stets nur bei erheblichen Behauptungen zulässig ist, lasse jedoch die nur anders gewürdigte Tatsache unberührt und brauche deshalb die allein ihr geltende Wahrunterstellung nicht zurückzunehmen. Daran ist soviel richtig, dass die Würdigung einer Tatsache als erheblich oder bedeutungslos selbst keiner Wahrunterstellung zugänglich ist. Sie kann richtig sein oder falsch, aber nicht wahr, weil das Wahrheitskriterium nur darüber entscheidet, ob eine Aussage über Tatsachen mit dem behaupteten Sachverhalt kongruent ist. Im Übrigen aber greift der Einwand zu kurz. Er wird dem Erklärungsgehalt des Beurteilungswandels nicht gerecht. Bezeichnet das Gericht die behauptete Tatsache als bedeutungslos, dementiert es also ihre Erheblichkeit und damit eine Voraussetzung der Wahrunterstellung, so gibt es damit zugleich zu erkennen, dass es auch die Wahrunterstellung nicht aufrechterhält. Der BGH sieht das anders. Er geht davon aus, dass eine Wahrunterstellung schon zulässig sei, wenn zur Zeit der Beschlussfassung nicht auszuschließen ist, dass die behauptete Tatsache die Entscheidung beeinflussen kann (potentielle Erheblichkeit).49 Da dies im Gegenschluss heißt, dass sie auch potentiell unerheblich sein darf, stellt sich der im Urteil vollzogene Übergang zur Annahme der Bedeutungslosigkeit nicht als Wechsel des Ablehnungsgrunds, sondern nur als Realisierung einer von vornherein vorbehaltenen Möglichkeit dar, die mit der Wahrunterstellung nicht ausgeschlossen war.50 Diese enthält keine Zusicherung, der als wahr unterstellten Tatsache noch im Urteil Bedeutung beizumessen. Die Ablehnung eines Beweisantrags mittels Wahrunterstellung begründet mithin auch keinen Vertrauenstatbestand, kraft dessen der Antragsteller erwarten dürfte, dass die Beurteilung als erheblich 49 Im Anschluss an RGSt 65, 322: BGH GA 1972, 272, seitdem st. Rspr., Nachweise bei Gollwitzer Rn 241; zust.: Alsberg/Nüse/Meyer S. 656 ff („Kunstgriff“); Raacke NJW 1973, 494 f; Willms in: FS K. Schäfer, 1980, S. 275 (279); Herdegen NStZ 1984, 337 (342). Zur Rechtsprechung des RG in diesem Punkt: Sauer Die Entwicklung des Ablehnungsgrundes der Wahrunterstellung bei Beweisanträgen in der Rechtsprechung des Reichsgerichts, Diss. Köln, 2000, S. 168 ff, 179 ff. 50 Darin erkennen einige Autoren nicht einmal einen Sinneswandel des Gerichts, so Alsberg/Nüse/Meyer S. 659; Willms aaO (Fn 49); Bauer MDR 1994, 953 (956 Fn 57).
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bis zum Urteil bei Bestand bleiben wird; vielmehr muss er in der Regel mit einem späteren Wandel der Beurteilung rechnen.51 Folgerichtig erlegt der BGH 52 dem Gericht grundsätzlich – von Ausnahmefällen abgesehen 53 – auch keine Hinweispflicht auf, wenn es die bei Ablehnung des Beweisantrags als wahr unterstellte Tatsache im Urteil als bedeutungslos werten will. Das ist allerdings heftig umstritten. Im Schrifttum gehen die Meinungen auseinander; eine Minderheit 54 folgt dem BGH, die Mehrheit vertritt dagegen die Ansicht, der Antragsteller sei stets 55 oder zumindest unter bestimmten 51 Im Schrifttum wird dies oft damit begründet, dass selbst die Beweiserhebung eine solche Erwartung nicht rechtfertige und für die als wahr unterstellte Tatsache nichts anderes gelten könne als für eine bewiesene, so erstmals Radbruch JW 1932, 1750 zu 37; ebenso Alsberg/Nüse/Meyer S. 659 f; Eisenberg Beweisrecht der StPO, 5. Aufl., Rn 245; Willms, Raacke, Herdegen, jeweils aaO (Fn 49); Herdegen Rn 92; Gillmeister StraFo 1997, 8 (11). Das Argument verfängt jedoch nicht, weil eine Beweiserhebung – anders als eine Wahrunterstellung – keine Erheblichkeit der betroffenen Tatsache voraussetzt und mithin nichts darüber besagt, wie das Gericht sie bewertet, so richtig: Schlüchter Wahrunterstellung und Aufklärungspflicht bei Glaubwürdigkeitsfeststellungen, 1992, S. 15. Das Gericht kann, etwa bei drohendem Beweisverlust, auch Veranlassung sehen, schon Beweis zu erheben, bevor es sich über die Erheblichkeit des Beweisthemas eine Meinung gebildet hat. 52 Im Anschluss an RGSt 65, 322 (329 f): BGH GA 1972, 272 f; BGH bei Holtz MDR 1979, 281; BGH bei Spiegel DAR 1979, 190 Nr. 8; 1980, 209 Nr. 8 f; BGH bei Pfeiffer NStZ 1981, 96; später mit der Einschränkung „regelmäßig, in der Regel“: BGH bei Pfeiffer/Miebach NStZ 1983, 357 Nr. 25; BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Wahrunterstellung 20; BGH Urt. v. 24.1.2006 – 5 StR 410/05, mitgeteilt bei Becker NStZ 2006, 495 (498 Fn 19); ebenso OLG Celle StV 1986, 423. 53 BGHSt 30, 383 (385): wenn es nahe liegt, dass der Angeklagte wegen der Wahrunterstellung davon abgesehen hat, begründete Beweisanträge zu stellen; ebenso OLG Hamm NStZ 1983, 522; abl.: Alsberg/Nüse/Meyer S. 659 Fn 58; zust.: Schöch Rn 118; Dahs Handbuch des Strafverteidigers, 7. Aufl., Rn 656. 54 Pfeiffer StPO, 5. Aufl., Rn 38; Meyer-Goßner Rn 70: Herdegen Rn 92; NStZ 1984, 337 (342); Alsberg/Nüse/Meyer S. 658 f; G. Schäfer Die Praxis des Strafverfahrens, 6. Aufl., Rn 1189; Raacke, Willms, jeweils aaO (Fn 49); H.-R. Müller in: GS K. Meyer, 1990, S. 285, (287 ff); Bauer aaO (Fn 50); Gillmeister aaO (Fn 51). Zu Unrecht wird diese Auffassung immer wieder als die herrschende bezeichnet. Wenn Meyer (in: Alsberg/Nüse/Meyer S. 659 Fn 58) der Gegenmeinung einen „Denkfehler“ attestiert, weil die Verfahrensbeteiligten nur auf die Rechtsprechung des BGH, nicht aber auf die abweichende Meinung des Schrifttums vertrauen dürften, so erweist sich dieser Vorwurf freilich als Bumerang; denn er enthält eine geradezu klassische Petitio principii, weil damit als bewiesen vorausgesetzt wird, was zu beweisen ist: dass nämlich die Auffassung des BGH zutrifft. 55 Peters Strafprozess, 4. Aufl., S. 310 f; Roxin Strafverfahrensrecht, 25. Aufl., S. 363 Rn 15; Rüping Strafverfahren, 3. Aufl., Rn 503; Fezer Strafprozessrecht II, 1986, Fall 12 Rn 132; Julius Rn 54; Paulus Rn 451; Sommer in: Krekeler/Löffelmann, AnwK-StPO, § 244 Rn 115; Schlüchter Rn 132; Wahrunterstellung (Fn 51) S. 14 ff; Tenckhoff Wahrunterstellung S. 133 ff; Born Wahrunterstellung zwischen Aufklärungspflicht und Beweisablehnung wegen Unerheblichkeit, 1984, S. 198 f, 257; Hamm Revision in Strafsachen, 6. Aufl., Rn 694 ff; in: FG Peters, 1984, S. 169 (175 ff); Hamm/Hassemer/Pauly Rn 374; v. Stackelberg in: FS Sarstedt, 1981, S. 373 (376); Seibert NJW 1960, 19 f; Schröder NJW 1972, 2105 (2109); Schlothauer StV 1986, 213 (227); Bringewat MDR 1986, 353 (357); Tenckhoff StV 1986, 424 (426 f); Schweckendieck NStZ 1997, 257 (259 f); Becker NStZ 2006, 495 (498).
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Voraussetzungen,56 über den Beurteilungswandel zu unterrichten, um ihm Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Die Kontroverse, im Grunde ein „Nachhutgefecht“, erledigt sich aber, wenn die vom BGH vertretene Auffassung im Ausgangspunkt widerlegt und der Kontinuitätsgrundsatz angewandt wird. Dem BGH kann nicht gefolgt werden. Unrichtig ist seine Annahme, die Ablehnung eines Beweisantrags mittels Wahrunterstellung sei schon zulässig, wenn zur Zeit der Beschlussfassung nicht auszuschließen ist, dass die behauptete Tatsache die Entscheidung beeinflussen kann. Damit weicht er vom gesetzlichen Begriff der Erheblichkeit ab, erweitert den Ablehnungsgrund und beschränkt insoweit den Beweiserhebungsanspruch des Antragstellers. Die Kategorie einer bloß potentiellen Erheblichkeit ist dem Gesetz jedoch unbekannt 57 und ebenso fremd wie diejenige einer potentiellen Bedeutungslosigkeit. Es ist nicht angängig, den Ablehnungsgrund der Wahrunterstellung als eine Art Zwitter zu deuten, der sowohl potentielle Erheblichkeit als auch potentielle Unerheblichkeit in sich birgt.58 Das verwischt die Grenzen zwischen Wahrunterstellung und Bedeutungslosigkeit und widerspricht der Konzeption des Gesetzes, das beide Ablehnungsgründe nicht nur als eigenständige nebeneinander stellt, sondern ihre Voraussetzungen auch so beschreibt, dass sie sich – wegen des Gegensatzes von Erheblichkeit und Bedeutungslosigkeit – begriffsnotwendig ausschließen.59 Erheblichkeit, wie sie § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO voraussetzt, ist wirkliche, nicht nur mögliche Urteilsrelevanz.60 Mit einer Wahrunterstellung behält sich das Gericht die Entscheidung über die Erheblichkeit der Beweisbehauptung nicht vor, lässt diese Frage nicht offen, sondern entscheidet sie und legt sich bis auf Widerruf fest. Der Antragsteller darf daher darauf vertrauen, dass die Tatsache dem Gericht als erheblich gilt. Es besteht auch kein Anlass, Wahrunterstellung als Ablehnungsgrund schon bei bloß potentieller Erheblichkeit der Beweisbehauptung zuzulassen. Das Argument, die Erheblichkeit einer Behauptung lasse sich bei der Entscheidung über den Beweisantrag oft noch nicht sicher beurteilen, verfängt nicht, weil gleiches auch für die Beurteilung der Bedeu-
56 Gollwitzer Rn 254–255a bejaht eine Hinweispflicht bei Haupttatsachen, weil dann ein Wechsel des Ablehnungsgrunds vorliege, bei Indiz- und Hilfstatsachen ergebe sich eine solche Verpflichtung dagegen nur fallweise aus der gerichtlichen Fürsorgepflicht. Eisenberg (Fn 51) Rn 244 f erwägt eine Hinweispflicht nur gegenüber dem unverteidigten Angeklagten. 57 Tenckhoff Wahrunterstellung S. 132; Born Wahrunterstellung (Fn 55) S. 198; Bringewat aaO (Fn 55); Eisenberg aaO (Fn 51) Rn 243. 58 Ähnlich Hamm in: FG Peters, 1984, S. 169 (176): „Niemand wird annehmen, in dem Begriff ‚erheblich‘ stecke auch sein Gegenteil, nämlich ‚unerheblich‘…“. 59 BGH bei Holtz MDR 1979, 281; BGH NStZ-RR 2003, 268; BGH NStZ 2004, 51; BGH StV 2007, 18. 60 Born Wahrunterstellung (Fn 55) S. 199 f: Das Gericht müsse im Zeitpunkt der Beweisantragsablehnung von der Erheblichkeit der Beweisbehauptung „überzeugt“ sein.
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tungslosigkeit gilt, ohne dass daraus eine Ausweitung dieses Ablehnungsgrundes zu folgern wäre. Solange aus der Sicht des Gerichts ungewiss bleibt, ob die Behauptung das Urteil beeinflussen kann, lässt sich eine Zurückweisung des Beweisantrags weder auf den Ablehnungsgrund der Wahrunterstellung noch auf denjenigen der Bedeutungslosigkeit stützen. Es gibt jedenfalls keinen Grund, in die Voraussetzungen der Wahrunterstellung bereits die Möglichkeit eines späteren „Absinkens“ der Erheblichkeit zur Bedeutungslosigkeit einzubauen und dem Gericht dadurch einen „stillen“, für den Antragsteller nicht erkennbaren Beurteilungswandel zu ermöglichen. Dürfte das Gericht die als wahr unterstellte Behauptung im Urteil ohne weiteres für unerheblich erklären, so erführe der Antragsteller vorher nicht, welche rechtlichen oder tatsächlichen Gründe für die Annahme der Bedeutungslosigkeit maßgebend waren, erhielte also keine Gelegenheit, hierzu Stellung zu nehmen und gegebenenfalls weitere Beweisanträge zu stellen; 61 er befände sich dann in der gleichen Lage wie ein Antragsteller, dessen Beweisantrag prozessordnungswidrig erst in den Urteilsgründen wegen Bedeutungslosigkeit abgelehnt worden ist. Erweist sich damit die Auffassung des BGH als verfehlt, so führt demgegenüber auch hier der Kontinuitätsgrundsatz zur richtigen Lösung. Durch Annahme der Bedeutungslosigkeit im Urteil negiert das Gericht die Erheblichkeit der Beweisbehauptung, dementiert damit den Ablehnungsgrund der Wahrunterstellung und desavouiert somit die Antragsablehnung. Da der Ablehnungsgrund der Wahrunterstellung im Zeitpunkt der Urteilsfindung nicht mehr gegeben ist und eine Ersetzung nicht in Betracht kommt, hat der Beschluss, mit dem der Beweisantrag abgelehnt worden ist, seine Grundlage verloren und ist mithin verfahrensfehlerhaft (§ 244 Abs. 3 Satz 2 StPO). An die Wahrunterstellung ist das Gericht auch hier nicht gebunden. Es darf von ihr abrücken, muss aber dazu – notfalls unter Wiedereröffnung der Verhandlung – den Ablehnungsbeschluss zurücknehmen, um den Beweisantrag dann wegen Bedeutungslosigkeit ablehnen zu können.62
61 Alsberg Beweisantrag (Fn 30) S. 117 führt dazu aus: „Denn muss … im Falle der Beweisablehnung wegen Unerheblichkeit die Entscheidung erkennen lassen, ob die Behauptung für tatsächlich oder rechtlich unerheblich erachtet wird, so kann die Partei nicht dieser Aufklärung dadurch verlustig gehen, dass die Auffassung des Gerichts von der Unerheblichkeit des Beweisvorbringens verdeckt bleibt“. Dies Argument dient manchen auch als Begründung für die Annahme einer gerichtlichen Hinweispflicht, so Born Wahrunterstellung S. 198 f; Hamm Revision Rn 695; Schröder S. 2107; Schweckendieck S. 260, jeweils aaO (Fn 55). 62 Dass die Nichtbeachtung dieses Erfordernisses zu vielen Urteilsaufhebungen führen könnte, ist nicht zu befürchten, weil das Revisionsgericht hier – ähnlich wie bei Verstößen gegen § 265 StPO – oft ausschließen kann, dass die Entscheidung auf dem Verfahrensfehler beruht.
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dd) Verwertung zum Nachteil des Angeklagten Verwertet das Gericht die als wahr unterstellte Tatsache im Urteil zum Nachteil des Angeklagten, dann ist das zunächst ein ins Auge springender Sachmangel, da nur festgestellte Tatsachen zu seinen Lasten berücksichtigt werden dürfen, eine als wahr unterstellte Tatsache aber gerade nicht festgestellt ist.63 Zugleich liegt darin aber auch ein Verfahrensfehler, weil eine Wahrunterstellung nur bei Behauptungen zulässig ist, die den Angeklagten entlasten.64 Berücksichtigt das Gericht sie im Urteil zu seinen Ungunsten, so verneint es eine notwendige Voraussetzung der Wahrunterstellung, dementiert damit diese selbst und entzieht so dem Ablehnungsbeschluss die Grundlage. Nichts anderes gilt, wenn das Gericht aus einer als wahr unterstellten Tatsache dem Angeklagten ungünstige Schlüsse zieht.65 Eine als wahr unterstellte Tatsache unterliegt zwar wie eine festgestellte der gerichtlichen Würdigung; das Gericht braucht aus ihr nicht die Schlüsse zu ziehen, die der Angeklagte gezogen wissen will.66 Aber diese Würdigung ist beschränkt – sie darf nicht zum Nachteil des Angeklagten ausschlagen. Es macht keinen Unterschied, ob das Gericht eine als wahr unterstellte Tatsache unmittelbar zu seinen Lasten verwertet oder aus ihr „nur“ Schlüsse ableitet, die ihm nachteilig sind. Beide Fälle, die in der Gerichtspraxis ohnehin kaum voneinander zu trennen sind, verlangen nach rechtlich gleicher Behandlung. Die als wahr unterstellte Tatsache darf auch dann nicht zum Nachteil des Angeklagten verwertet werden, wenn sie im Urteil nicht nur unterstellt, sondern festgestellt wird; soll dies dennoch geschehen, so muss dem Angeklagten vorher zumindest ein entsprechender Hinweis erteilt werden.67 Mit der Erörterung der Wahrunterstellungsfälle 68 ist der Geltungsbereich des Kontinuitätsgrundsatzes abgeschritten. Gezeigt werden sollte, dass er als
63 Unrichtig BGHSt 1, 137 (139), wo es heißt, das Wesen der Wahrunterstellung liege darin, dass die unterstellte Tatsache „damit als erwiesen feststeht“ (Hervorhebung im Original); dagegen Tenckhoff Wahrunterstellung S. 28, 38 und Willms aaO (Fn 49). 64 BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Wahrunterstellung 16. 65 Dies ist nicht zulässig, Pfeiffer Rn 39; Meyer-Goßner Rn 70: Paulus Rn 449: Gollwitzer Rn 242 mwN; Alsberg/Nüse/Meyer S. 654 f; 676; Eb. Schmidt, Lehrkomm. zur StPO II § 244 Erl. 64; aA (nach dem vom Leitsatz erweckten Anschein): BGH NJW 1976, 1950 mit abl. Anm. Tenckhoff ; dagegen auch v. Stackelberg und Bringewat, jeweils aaO (Fn 55). 66 BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 Wahrunterstellung 1; BGH NJW 1992, 2838 (2839); Meyer-Goßner Rn 71; Herdegen Rn 93; NStZ 1984, 337 (342); Alsberg/Nüse/Meyer S. 684 ff; G. Schäfer aaO (Fn 54) Rn 1189; Hamm Revision Rn 702. 67 BGH NJW 2007, 2566, zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt. 68 Der Ablehnungsbeschluss wird auch fehlerhaft, wenn das Gericht in den Urteilsgründen erkennen lässt, dass es die als wahr unterstellte Behauptung für widerlegbar hält. Da dieser Fall aber kaum einmal eintreten dürfte, der dadurch nicht beschwerte Angeklagte dies nicht rügen wird und die Staatsanwaltschaft das nicht rügen kann (§ 339 StPO), ist er
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übergreifendes Prinzip des Beweisantragsrechts nicht nur gesicherte Rechtserkenntnisse bestätigt, sondern auch zur Lösung bislang nicht ausreichend geklärter Rechtsfragen beitragen kann. Dem Jubilar, der sich um das Beweisantragsrecht vielfach verdient gemacht hat und zu Recht als einer der besten Experten auf diesem Gebiet gilt, überlasse ich das Urteil darüber, ob dieses Ziel erreicht worden ist.
nicht erörterungswürdig und wird hier nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Zur Frage, ob und wann die Staatsanwaltschaft eine Wahrunterstellung mit der Rüge mangelnder Sachaufklärung (§ 244 Abs. 2 StPO) angreifen kann: BGH NJW 1992, 2838 (2840).
Mündlichkeit der Hauptverhandlung und Revisionsrecht Zu den Grenzen des Rekonstruktionsverbots Jürgen Pauly I. Als Max Alsberg im Jahr 1913 den Versuch unternahm, in seinem Buch über „Justizirrtum und Wiederaufnahme“ ein selten angewandtes Rechtsinstitut zu erläutern, war dies – wie er im Vorwort schreibt – von dem Bemühen getragen, die „Leichtigkeit der Entstehung und die Schwierigkeit der Beseitigung des Fehlurteils“ zu veranschaulichen.1 Eine der wesentlichen Ursachen für die „Schwierigkeit der Beseitigung“ sah er dabei in der Unzulänglichkeit des Rechtsmittels der Revision. Sie sei „kein Rechtsmittel, das auch nur einigermaßen geeignet ist, der materiellen Wahrheit zum Siege zu verhelfen. Beim größten Unrecht kann sie versagen, beim größten Recht zur Aufhebung des Urteils führen.2“ Von den Mängeln dieses Rechtsmittels, die er in seinem Text aufzählt, ist manches durch spätere Änderungen des Prozessrechts überholt. Doch sind die Grundstrukturen der Revision seit dem Jahr 1877 gleich geblieben. Und so ist es kein Zufall, dass sich in der Einleitung der 85 Jahre später erschienenen, von Rainer Hamm bearbeiteten, 6. Auflage der „Revision in Strafsachen“ ein ähnlich ernüchterndes Fazit findet. „Ein tatrichterliches Urteil ist nicht schon deshalb ein wahres und gerechtes Urteil, weil es durch eine Entscheidung des Revisionsgerichts rechtskräftig geworden ist“,3 heißt es dort. Ebenso wie das Reichsgericht bei seiner Tätigkeit in einen „abstrakt-logischen Rahmen gepreßt“ (Alsberg) war, gilt dies auch für die heutigen Revisionsgerichte. Alsberg hat zur Begründung seiner Kritik damals beispielhaft darauf verwiesen, dass der Revisionsführer auf die Behauptung, ein Zeuge habe etwas ganz anderes gesagt als im Urteil wiedergegeben, die Antwort erhalte, das könne das Gericht nicht nachprüfen, und wenn er sich gar zum Beweis für seine Behauptung auf das Sitzungsprotokoll berufe, weil dort aus1 2 3
Alsberg Justizirrtum und Wiederaufnahme, Berlin 1913, S. IV. Alsberg Justizirrtum und Wiederaufnahme, Berlin 1913, S. 34. Sarstedt/Hamm Die Revision in Strafsachen, Berlin/New York 1998, Rn 7 = S. 4.
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nahmsweise auch Inhalte der Aussage protokolliert seien, so werde ihm vom Reichsgericht erwidert, das Protokoll erbringe nach den §§ 273, 274 StPO keinen Beweis für die Ergebnisse der Beweisaufnahme, sondern nur für die „Beobachtung der wesentlichen Förmlichkeiten“ 4. Das so umschriebene Defizit bei der Überprüfung tatrichterlicher Urteile durch die Rechtsmittelinstanz hat sich im Kern bis heute erhalten.5 Das Rechtsmittelsystem der StPO sieht keine lückenlose sondern eine bewusst lückenhafte Kontrolle der richterlichen Tätigkeit durch höhere Instanzen vor. So grundlegend dies für die Leistungsfähigkeit und den Inhalt der Revision geblieben ist, so bleibt doch die Frage nach der Berechtigung solcher Einschränkungen eine der Kernfragen einer zeitgemäßen Prozessrechtswissenschaft.
II. Gerade am unterschiedlichen Umgang mit dem gesprochenen Wort in den verschiedenen Instanzen des Strafverfahrens lässt sich dabei besonders deutlich ablesen, wie sehr das Rechtsmittel der Revision „abstrakt-logischen“ Prinzipien folgt. Während das Gesetz für die Tatsacheninstanz die Mündlichkeit zum Prinzip erhebt und die Verlesung von Urkunden sogar im Grundsatz verbietet, wenn sie die Vernehmung einer Person ersetzen soll, die als Beweismittel zur Verfügung steht (§ 250 StPO), gelten für die Revisionsinstanz „umgekehrte“ Prioritäten: Bei der Geltendmachung von Verfahrensmängeln ist nicht nur das Formerfordernis des § 345 Abs. 2 StPO zu beachten, es gilt vielmehr eine Art „Schriftlichkeitsprinzip“: Das in der Hauptverhandlung vor dem Tatgericht gesprochene Wort zählt fast nichts, solange es nicht in amtlichen Urkunden festgehalten ist. Dies kommt u.a. in dem Grundsatz zum Ausdruck, den der 1. Strafsenat im Jahr 1966 aufgestellt hat: „Das Ergebnis der Aussage eines Zeugen wie überhaupt das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen, ist allein Sache des Tatrichters; der dafür bestimmte Ort ist das Urteil. Was in ihm über das Ergebnis der Verhandlung zur Schuld- und Straffrage festgehalten ist, bindet das Revisionsgericht. Darüber ist kein Gegenbeweis zulässig.“ 6 4
Alsberg Justizirrtum und Wiederaufnahme, Berlin 1913, S. 34. Auch wenn seit BGHSt 38, 14 zumindest ein Widerspruch zwischen den nach § 273 Abs. 3 StPO protokollierten Aussagen und dem Urteil die Revision begründen kann. Nach wie vor gilt dies nach hM aber nicht für einen Widerspruch zwischen einer nach § 273 Abs. 2 StPO protokollierten Aussage und dem Urteil (vgl. Meyer-Goßner StPO § 273 Rn 36). 6 BGHSt 21, 149 (151) = NJW 1967, 213 unter Bezugnahme u.a. auf Ditzen Dreierlei Beweis im Strafverfahren, S. 97. Vgl. aus neuerer Zeit: BGH Urteil v. 9.10.2002 – 5 StR 42/02, sowie BGH Beschluss v. 27.11.2002 – 1 StR 462/02, unter Hinweis auf Wahl in: NJW-Sonderheft für G. Schäfer, 2002, S. 73 mwN. 5
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Dieser Grundsatz spiegelt nicht nur die Bedeutung des Strengbeweisverfahrens wider, er definiert zugleich auch die Rolle der für das Strafverfahren heutiger Prägung wesentlichen Schriftstücke (Hauptverhandlungprotokoll und Urteil) im Revisionsverfahren. Während auf sie im Revisionsverfahren unbeschränkt zurückgegriffen werden kann, kann der Revisionsführer sein Rügevorbringen in aller Regel nicht auf mündliche Äußerungen in der Hauptverhandlung stützen. Das ist insbesondere für Verfahrensrügen, mit denen die Verletzung der für das Strafverfahren zentralen Verpflichtungen aus den §§ 244 Abs. 2 und 261 StPO gerügt wurde, wiederholt entschieden worden. Schon die Uneinheitlichkeit der hierzu ergangenen Entscheidungen weist allerdings darauf hin, dass der Rechtsprechung an dieser Stelle eine eindeutige Grundlage fehlt. 1. Verletzung des § 261 StPO Das „Rekonstruktionsverbot“ kennzeichnet insbesondere in den Fällen Grenzen der Überprüfbarkeit eines tatrichterlichen Urteils, in denen mit der Revision gerügt wird, erhobene Beweise seien unzutreffend gewürdigt worden.7 Zwar gestehen die Revisionsgerichte zu, dass in der Würdigung eines Beweismittels entgegen seinem tatsächlichen Beweiswert eine Verletzung des § 261 StPO liegen kann. Die Rüge wird aber nur dann zugelassen, wenn sie ein Beweismittel zum Gegenstand hat, das auch vom Revisionsgericht ohne weiteres zur Kenntnis genommen werden kann. Dementsprechend kann zwar gerügt werden, dass eine verlesene Urkunde einen anderen Inhalt hat als im Urteil angenommen.8 Auch lässt der BGH die Rüge einer Verletzung des § 261 StPO zu, wenn sie darauf gestützt ist, dass der Inhalt einer Urkunde (z.B. eines Vernehmungsprotokolls) oder einer gemäß § 273 Abs. 3 StPO protokollierten Aussage in den Urteilsgründen nicht erörtert wird.9 7
Vgl. hierzu G. Schäfer StV 1995, 147 (154). BGH – 3 StR 314/02 = StV 2003, 319 = NStZ-RR 2003, 52 (verlesener Haftbefehl); BGH Urteil v. 3.12.2002 – 1 StR 378/02, BGH – 4 StR 60//92 = StV 1993, 115 (verlesene Einlassung); BGH – 4 StR 31/93 = StV 1993, 459 (verlesenes Geständnis); vgl. ferner: BGH – 5 StR 237/97 = BGHSt 43, 212 (214); BGH – 3 StR 250/87 = BGHR StPO § 261 Inbegriff der Verhandlung 6 sowie LR-Hanack 25. Aufl., § 337 Rn 80. 9 BGH Urteil v. 16.10.2006 – 1 StR 180/06 = NStZ 2007, 115 (116) (nach § 249 Abs. 2 StPO in die Hauptverhandlung eingeführter Brief); BGH Beschluss v. 6.9.2001 – 3 StR 285/01 = StV 2002, 12 (Vernehmungsprotokolle); BGH Urteil v. 9.8.2001 – 1 StR 211/01 = NJW 2002, 73 = NStZ 2002, 204 = StV 2002, 204 (verlesenes Urteil, Revision der StA); vgl. auch BGH Urteil v. 15.9.2005 – 4 StR 107/05; BGH Beschluss v. 5.9.2000 – 1 StR 355/00 (Rüge unbegründet); BGH Beschluss v. 3.4.2001 – 1 StR 58/01 = StV 2002, 354 (für eine nach § 273 Abs. 3 StPO protokollierte Aussage). Siehe ferner BGH Beschluss v. 3.8.2000 – 1 StR 283/00, = StV 2001, 441 (Beweiswürdigung im Widerspruch zu verlesenem früheren Urteil); BGH – 5 StR 20/03 = StV 2003, 318. 8
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Eine eigenständige Würdigung eines Augenscheinsobjekts soll dem Revisionsgericht jedoch nicht möglich sein.10 Insbesondere aber ist es nicht möglich, an Hand von dienstlichen Erklärungen der Gerichtsmitglieder, Aufzeichnungen von Verfahrensbeteiligten oder schriftlich niedergelegten und als Anlage zum Protokoll gereichten Erklärungen nach § 257 StPO im Revisionsverfahren zu überprüfen, ob die Aussage eines Zeugen oder das Gutachten eines Sachverständigen im Urteil zutreffend wiedergegeben sind.11 Auch wenn das Hauptverhandlungsprotokoll eine nach § 273 Abs. 2 StPO protokollierte Aussage enthält, kann mit dem Protokollinhalt nicht der Nachweis geführt werden, dass das Urteil auf einem Verfahrensfehler beruht.12 Schon dieser Befund weist darauf hin, dass es genuin revisionsrechtlich begründete Einwände gegen eine Rekonstruktion der Hauptverhandlung nicht gibt. Die Systematik des Revisionsrechts (insb. § 337 StPO) lässt eine Überprüfung des Inhalts der Beweisaufnahme im Rahmen einer Verfahrensrüge durchaus zu. Andernfalls könnte auch in den Fällen, in denen die Revisionsgerichte den Nachweis des Verfahrensfehlers gestatten (insbesondere also bei in der Hauptverhandlung verlesenen Urkunden), die Verfahrensrüge nicht greifen. Auch insoweit wird „ein Stück Hauptverhandlung rekonstruiert“, – nur dass es hier leichter möglich ist als bei mündlichen Zeugenaussagen. Zwar hat gerade dies gelegentlich Anlass zur Kritik an der Rechtsprechung gegeben. Ob das Gericht nach § 261 StPO dazu verpflichtet war, ein verlesenes Schriftstück ausdrücklich im Urteil zu erörtern, lasse sich ohne vollständige Kenntnis des Inhalts der Beweisaufnahme nicht beurteilen.13 Doch ist der BGH dem mit Recht nicht gefolgt. Er hat – im Gegenteil – in einigen Entscheidungen als Zulässigkeitsvoraussetzung für die Rüge der fehlenden Erörterung einer Urkunde im Urteil (Verletzung des § 261 StPO) gefordert, dass in der Revisionsbegründung dargelegt wird, aus welchem Grund eine in der Hauptverhandlung verlesene Vernehmungsniederschrift zum Zeitpunkt der Urteilsberatung noch beweiserheblich war.14 Das wird häufig ohne eine zusammenfassende Wiedergabe der mündlich abgegebenen Zeugenaussagen und der erstatteten Gutachten (und damit eine teilweise Rekonstruktion der Hauptverhandlung) nicht möglich sein.
10 Vgl. für die Identifikation an Hand von Radarfotos: BGHSt 29, 18 = JR 1980, 168 m. Anm. Peters sowie BGHSt 43, 376 (381). 11 BGH – 5 StR 237/97 = BGHSt 43, 212 (214); BGH – 1 StR 291/89 = NStZ 1990, 35; BGHSt 21, 149 (151) (dienstl. Äußerungen des Gerichts); BGHSt 29, 18 (20); BGHSt 15, 347 (Aufzeichnungen des Verteidigers). 12 BGH – 2 StR 45/91 = BGHSt 38, 14 (16); anderer Ansicht: LR-Hanack 25. Aufl., § 337 Rn 86; vgl. ferner Fezer in: Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege, Hanack-Symposium, 1991, S. 102. 13 Vgl. zur Kritik u.a. Meyer-Goßner StPO § 261 Rn 38a; Foth NStZ 1992, 444 (446). 14 BGH Urteil v. 9.10.2002 – 5 StR 42/02; BGH Beschluss v. 3.4.2001 – 1 StR 58/01 = StV 2002, 354 (für eine nach § 273 III StPO protokollierte Aussage).
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2. Aufklärungsrüge Abgelehnt wird der Zugriff auf mündliche Äußerungen in der Hauptverhandlung auch in den Fällen, in denen mit der Revision eine Verletzung der Aufklärungspflicht geltend gemacht werden soll. a) Das gilt insbesondere dann, wenn die Aufklärungsrüge darauf gestützt werden soll, dass ein Angeklagter oder ein Zeuge im Rahmen seiner mündlichen Äußerungen einen Hinweis auf ein weiteres, bis dahin unbekanntes Beweismittel gegeben hat, auf welches das Gericht sodann zu Unrecht nicht zurückgegriffen hat. Zwar wird allgemein befürwortet, dass sich der Umfang der Aufklärungspflicht nach dem gesamten „Erklärungs-, Antrags- und Beweisstoff der Hauptverhandlung“ richtet.15 Wird der Vorwurf der Verletzung der Aufklärungspflicht aber mit einer in der Hauptverhandlung mündlich abgegebenen Erklärung begründet, dann muss es nach hM im Rahmen des Revisionsverfahrens eine Grundlage hierfür im Urteil oder im Hauptverhandlungsprotokoll geben, – sonst wäre – wie Herdegen formuliert – „fingiertem, zu Rekonstruktionen der Hauptverhandlung zwingendem Rügevorbringen Tür und Tor geöffnet“.16 Der BGH hat es ausdrücklich abgelehnt, Mitschriften von Prozessbeteiligten über den Inhalt von Aussagen zur Prüfung der Frage heranzuziehen, ob das Tatgericht gegen seine Aufklärungspflicht verstoßen hat.17 b) Ähnliches soll gelten, wenn es für den Umfang der Aufklärungspflicht auf bestimmte tatsächliche Gegebenheiten ankommt, die das Revisionsgericht nicht ohne weiteres überprüfen kann. Hängt z.B. die Antwort auf die Frage, ob sich eine weitere Beweiserhebung über Identifikationsmerkmale aufdrängte, von äußeren Erscheinungsmerkmalen einer Person ab, so soll die Entscheidung des Tatgerichts in der Revisionsinstanz ebenfalls nicht überprüfbar sein, weil das Rekonstruktionsverbot entgegenstehe. 18 3. Nichtausschöpfung eines Beweismittels Aus dem Verbot, mündliche Äußerungen in der Hauptverhandlung zu rekonstruieren, wird aber nicht nur abgeleitet, dass Zeugenaussagen und das Vorbringen des Angeklagten keine Grundlage für eine Aufklärungsrüge sein können, die auf die fehlende Heranziehung eines zusätzlichen Beweismittels abzielt. Hieraus wird auch gefolgert, dass mit der Revision nicht geltend
15 So KK-Herdegen, § 244 Rn. 38; vgl. auch BGH – 1 StR 175/96 = BGHR StPO § 244 Abs. 2 Aufdrängen 6. 16 So KK-Herdegen § 244 Rn 38. 17 BGH – 1 StR 291/89 = NStZ 1990, 35. 18 BGH Urteil v. 15.2.2005 – 1 StR 91/04 = NStZ 2005, 458 (460) (anthropologisches Identitätsgutachten an Hand der Bilder einer Überwachungskamera).
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gemacht werden kann, an einen Zeugen seien in der Hauptverhandlung bestimmte Fragen nicht gestellt oder ihm seien bestimmte Vorhalte nicht gemacht worden (Rüge der Nichtausschöpfung eines Beweismittels).19 Die Rechtsprechung geht seit langem davon aus, dass auf das Vorbringen, einem Zeugen oder Sachverständigen hätten weitere Vorhalte gemacht oder weitere Fragen gestellt werden müssen, eine Aufklärungsrüge nicht gestützt werden kann.20 Auch private Mitschriften über Zeugenaussagen o.Ä. können nicht herangezogen und vom Revisionsgericht überprüft werden.21 Anderes soll gelten, wenn das Vorbringen in den Urteilsgründen eine Stütze findet.22 Dass eine Aufklärungsrüge nicht darauf gestützt werden kann, dass ein Vorhalt nicht gemacht wurde, steht systematisch bereits damit nicht in Einklang, dass bei Verfahrensrügen, mit denen geltend gemacht wurde, ein bestimmtes Vernehmungsprotokoll sei zwar im Urteil verwertet, dem Angeklagten aber nicht vorgehalten worden (Verletzung des § 261 StPO), die Einholung von dienstlichen Erklärung hierzu als zulässig angesehen wurde.23 Der 2. Strafsenat hat im Übrigen in seiner bekannten Entscheidung vom 29.5.1991 („Schusskanal“-Fall) einen Widerspruch zwischen Urteilsinhalt und einem bei den Akten befindlichen Gutachten als aufklärungsbedürftig angesehen und das tatrichterliche Urteil auf die Aufklärungsrüge aufgehoben.24 Dem ist entgegengehalten worden, dass dies der Sache nach zu gesteigerten Anforderungen an die Urteilsgründe führt, weil vom Tatgericht in derartigen Fällen letztlich verlangt wird, die Widersprüche zwischen dem Akteninhalt und dem Ergebnis der Hauptverhandlung im Urteil ausdrücklich zu erörtern, obwohl es nach § 267 StPO keineswegs dazu verpflichtet ist, das gesamte Ergebnis der Beweisaufnahme zu dokumentieren. Andere Senate des BGH haben deshalb hervorgehoben, dass aus dem Schweigen der Urteilsgründe in der Regel noch nicht geschlossen werden könne, dass das Gericht einen Zeugen zu bestimmten Punkten nicht befragt oder bestimmte Vorhalte oder Fragen unterlassen habe.25
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Vgl. hierzu G. Schäfer StV 1995, 147 (155). BGH – 1 StR 291/89 = BGHR StPO § 244 Abs. 2 Aufdrängen 3; BGH – 1 StR 52/88 = BGHR StPO § 244 Abs. 2 Zeugenvernehmung 3; vgl. hierzu auch BGHSt 17, 351 sowie OGHSt 3, 59 und Fezer in: Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege, Hanack-Symposium, 1991, S. 99 ff. 21 BGH – 1 StR 291/89 = BGHR StPO § 244 Abs. 2 Aufdrängen 3. 22 BGH – 1 StR 52/88 = BGHR StPO § 244 Abs. 2 Zeugenvernehmung 3 unter Bezugnahme auf BGHSt 17, 351 (353) und BGH StV 1984, 231. 23 BGHSt 22, 26 (27 ff); BGH – 1 StR 67/98 = NStZ-RR 1999, 47; vgl. hierzu auch BVerfGE 112, 185 (215). 24 BGH – 2 StR 68/91 = NStZ 1991, 448 = StV 1991, 500. 25 BGH – 5 StR 74/92 = NJW 1992, 2838 = StV 1992, 550. 20
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4. Alternatives Rügevorbringen Diese Rahmenbedingungen haben zur Konstruktion einer alternativen Verfahrensrüge geführt. Besteht ein Widerspruch zwischen dem Urteilsinhalt und dem Akteninhalt, der im Urteil nicht erläutert wird, so liegt es nahe, dass entweder ein Verstoß gegen § 261 StPO vorliegt (weil der fragliche Umstand zwar in der Hauptverhandlung erörtert, aber im Urteil nicht gewürdigt wurde) oder aber ein Verstoß gegen § 244 Abs. 2 StPO, weil versäumt wurde, das bei den Akten befindliche Beweismittel zum Gegenstand der Hauptverhandlung zu machen.26 Die Rechtsprechung des BGH begegnet derartigen Rügen in den letzten Jahren mit unterschiedlichen Begründungen. Ausgangspunkt bleibt dabei, dass mit der Revision nicht gerügt werden kann, die Hauptverhandlung habe ein bestimmtes Beweisergebnis erbracht (oder nicht erbracht), wenn hierzu eine Rekonstruktion mündlicher Angaben erforderlich ist.27 Nach einer in neueren Entscheidungen wiederholt verwendeten Formel sind Widersprüche zwischen dem Inhalt des Urteils und den Akten, wenn sie sich nicht aus den Urteilsgründen selbst ergeben, für sich allein revisionsrechtlich unerheblich. Eine Verfahrensrüge könne nicht alternativ darauf gestützt werden, entweder habe der Tatrichter den Widerspruch unter Verletzung seiner Aufklärungspflicht nicht in die Hauptverhandlung eingeführt, oder aber er habe es unterlassen, ihn in den Urteilsgründen zu erörtern.28 Eine Rekonstruktion des Ergebnisses der Beweisaufnahme sei dem Revisionsgericht ebenso wenig möglich wie ein Abgleich der Urteilsgründe mit dem Akteninhalt.29 Zur Begründung wird teilweise darauf verwiesen, dies sei „seit BGH NStZ 1992, 506 ständige Rechtsprechung“ 30. In anderen Entscheidungen wird es indessen durchaus nicht prinzipiell abgelehnt, über den Inhalt der Hauptverhandlung Beweis zu erheben.31 Zwar 26 Zur „Alternativrüge“ vgl.: KK-Herdegen 5. Aufl, § 244 StPO Rn 40; Herdegen in: FS für Salger, S. 302 ff sowie Ziegert StV 1996, 279 und LR-Hanack 25. Aufl., § 337 Rn 84. 27 BGH Beschluss v. 27.11.2002 – 1 StR 462/02 (insoweit in NStZ-RR 2003, 199 nicht abgedruckt) unter Hinweis auf Wahl in: NJW-Sonderheft für G. Schäfer 2002, 73. 28 So etwa BGH Urteil v. 13.9.2006 – 2 StR 268/06 = NStZ 2007, 115; vgl. auch BGH – 5 StR 442/99 = NStZ 2000, 156 sowie BGH Beschluss v. 24.11.2000 – 2 StR 361/00 und BGH Beschluss v. 7.10.1998 – 1 StR 287/98 = NStZ-RR 2000, 13. 29 Vgl. BGH Urteil v. 3.12.2002 – 1 StR 378/02 (teilw. abgedruckt in NStZ-RR 2003, 71); BGH Beschluss v. 26.10.1999 – 4 StR 319/99 (insoweit in NStZ-RR 2000, 294 nicht abgedruckt). 30 So BGH Urteil v. 13.9.2006 – 2 StR 268/06 = NStZ 2007, 115 (unter Bezugnahme auf BGH Beschluss v. 9.3.1995 – 4 StR 60/95 und BGH Urteil vom 12.12.1996 – 4 StR 499/96). Der 2. Strafsenat führt aus, seine eigene Entscheidung vom 29.5.1991 (NStZ 1991, 448) betreffe zum einen eine etwas andere Fallkonstellation, zum anderen sei sie durch die Änderung der Rechtsprechung zur Zulässigkeit einer Alternativrüge überholt. 31 Vgl. BGH Beschluss v. 21.9.1999 – 4 StR 248/99 (Beweiserhebung darüber, ob in der Hauptverhandlung gemäß § 246a StPO ein Gutachten zu Behandlungsaussichten eingeholt
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soll weiterhin generell gelten, dass nicht beweisbar ist, dass ein bestimmter Vorhalt an einen Zeugen nicht stattgefunden hat,32 doch wird im Einzelfall durchaus auch der Inhalt der Revisionsgegenerklärung der Staatsanwaltschaft herangezogen, wenn sich aus ihr ergibt, dass das Revisionsvorbringen zum Fehlen eines Vorhalts nicht zutrifft.33 Mit derselben Selbstverständlichkeit, mit der einerseits darauf verwiesen wird, dass Widersprüche zwischen Urteil und Akteninhalt für sich genommen revisionsrechtlich unerheblich sind, wird im Übrigen in anderen Entscheidungen des BGH aus neuerer Zeit ausgeführt, die Rüge der Verletzung der Aufklärungspflicht oder der Nichtausschöpfung eines in der Hauptverhandlung verwendeten Beweismittels könne bei unerklärten „eklatanten Widersprüchen“ zwischen Akten- und Urteilsinhalt „in Ausnahmefällen statthaft sein“.34 Diese unterschiedlichen Aussagen belegen nicht nur, dass keine Einigkeit über den Umgang mit derartigen Rügen herrscht. Sie weisen auch darauf hin, dass sich mit der „Alternativrüge“ ein ungelöstes Folgeproblem aus dem Rekonstruktionsverbot entwickelt hat.
III. So klar sich aus dieser Rechtsprechung trotz aller Uneinheitlichkeit der Grundgedanke ergibt, bei auf die Verletzung der §§ 244 Abs. 2 und 261 StPO gestützten Rügen im Revisionsverfahren mündliche Äußerungen aus der Hauptverhandlung nicht zu rekonstruieren, so deutlich wird andererseits in Entscheidungen über Verfahrensrügen, die auf die Verletzung anderer Vorschriften gestützt sind, die Wiedergabe von mündlichen Äußerungen aus der Hauptverhandlung gefordert. Während die Rechtsprechung einerseits dem Beschwerdeführer bei bestimmten Verfahrensrügen das Verbot der Rekonstruktion der tatrichterlichern Hauptverhandlung als „Rügebarriere“ entgegenhält, fordert sie bei anderen Verfahrensrügen von ihm explizit eine Rekonstruktion der Inhalte der Hauptverhandlung als Voraussetzung für die Zulässigkeit der Rüge. Aus dem Verbot der Rekonstruktion wird so stellenweise ein Gebot zur Rekonstruktion. Das wird in folgenden Fallkonstellationen deutlich: worden war, durch Einholung von Stellungnahmen von zwei Sachverständigen im Freibeweisverfahren). 32 BGH Urteil v. 24.3.1999 – 3 StR 17/99. 33 BGH Beschluss v. 12.5.1999 – 1 StR 158/99. 34 BGH Urteil v. 19.8.2004 – 5 StR 218/04 (insoweit in NStZ 2005, 93 nicht abgedruckt) unter Hinweis auf BGH – 5 StR 237/97 = BGHSt 43, 212 (215/216); vgl. zur Thematik auch BGH Urteil v. 2.3.2005 – 5 StR 518/04 sowie BGH Urteil v. 7.4.1999 – 2 StR 440/98 = NStZ 1999, 423 und Meyer-Goßner StPO § 337 Rn 15a.
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1. Staatsanwalt als Zeuge Auf eine (teilweise) Rekonstruktion des Schlussvortrages angewiesen ist der Beschwerdeführer, wenn er rügen will, ein Staatsanwalt, der in der Hauptverhandlung als Zeuge vernommen worden sei, habe unzulässigerweise auch selbst den Schlussvortrag gehalten. Da dies nach Ansicht des BGH erst dann einen Verfahrensfehler darstellt, wenn der Staatsanwalt in seinem Plädoyer auch seine eigene Zeugenaussage würdigt,35 fordert die Rechtsprechung als Zulässigkeitsvoraussetzung für eine entsprechende Verfahrensrüge, dass der Beschwerdeführer mitteilt, ob sich der Staatsanwalt in seinem Plädoyer hierzu geäußert hat.36 2. Beweisantragsrecht Auch bei Verfahrensrügen zum Beweisantragsrecht kommen die Revisionsgerichte nicht ohne einen Rückgriff auf den Inhalt von mündlichen Äußerungen in der Hauptverhandlung aus. a) Wird in der Hauptverhandlung die erneute Vernehmung eines bereits gehörten Zeugen beantragt, so liegt nach der Rechtsprechung des BGH darin nur dann ein Beweisantrag, wenn der Zeuge zu Tatsachen benannt wird, zu denen er in der Hauptverhandlung noch nicht gehört wurde.37 In einem Fall, in dem die Staatsanwaltschaft mit der Revision die Zurückweisung eines solchen Antrages beanstandete, hielt der BGH die Revisionsführerin für verpflichtet, nicht nur mitzuteilen, dass die Zeugen bereits gehört worden waren, sondern auch zu welchen Beweisthemen. Erst dann könne das Revisionsgericht prüfen, ob der auf eine weitere Beweiserhebung gerichtete Antrag als Beweisantrag anzusehen sei.38 In einem Fall, in dem mit der Revision geltend gemacht wurde, dass ein entsprechender Antrag in der Hauptverhandlung nicht beschieden worden war (Verletzung des § 244 Abs. 6 StPO), hat der BGH in seiner Entscheidung aus dem Urteilsinhalt und der zeitlichen Abfolge der verschiedenen Zeugenvernehmungen in der Hauptverhandlung geschlossen, dass der Zeuge bei seiner ersten Vernehmung nicht 35 BGH – 2 StR 377/88 = BGHR StPO § 24 Staatsanwalt 2; BGH – 3 StR 50/96 = BGHR StPO § 24 Staatsanwalt 5; BGH – 3 StR 382/00 = BGHR StPO § 24 Staatsanwalt 6 = NStZ-RR 2001, 107. 36 BGH Beschluss v. 30.1.2007 – 5 StR 465/06, unter Bezugnahme auf BGH – 5 StR 736/82; Häger in: GS für Karlheinz Meyer, S. 171 (179 f) sowie Rogall in: SK-StPO, Vor § 48 Rn. 51. 37 Vgl. hierzu Hamm/Hassemer/Pauly Beweisantragsrecht, 2. Aufl. 2007, Rn 50; BGH – 1 StR 590/98 = StV 2001, 98; BGH – 2 StR 67/95 = StV 1995, 566. Für die neuerliche Anhörung eines bereits angehörten Sachverständigen vgl. BGH Beschluss v. 18.7.2001 – 3 StR 211/01 sowie BGH Urteil v. 22.3.2006 – 2 StR 585/05 = StraFo 2006, 289. 38 BGH Urteil v. 21.3.2002 – 5 StR 566/01 (insoweit in wistra 2002, 260 nicht abgedruckt).
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zu den im Antrag genannten Themen vernommen worden war.39 Wo sich aus dem Urteilsinhalt und dem äußeren Verlauf der Hauptverhandlung kein deutliches Bild ergibt, trifft den Revisionsführer nach dieser Rechtsprechung demnach die Pflicht, auch den Inhalt der jeweils früheren Vernehmung des Zeugen darzustellen. b) Auch die Rüge, der Ablehnungsgrund der Verschleppungsabsicht sei zu Unrecht angewandt worden, setzt eine Darstellung des Verlaufs der Hauptverhandlung voraus, bei der die Inhalte von Beweiserhebungen wiederzugeben sind. Der Ablehnungsgrund liegt nur vor, wenn der Antragsteller subjektiv in der Absicht handelt, das Verfahren zu verzögern. Die Gerichte haben dies an Hand von Indizien zu prüfen.40 Hieraus leitet der BGH ab, dass der Beschwerdeführer in der Revisionsbegründung die maßgeblichen Indizien schildern muss.41 Er muss sein eigenes Prozessverhalten und den Verlauf der Hauptverhandlung jedenfalls in den wesentlichen Punkten darstellen, die einen Bezug zum Inhalt des Beschlusses der Strafkammer aufweisen.42 3. Gerichtskundigkeit von Tatsachen Sieht das Tatgericht eine Tatsache als gerichtskundig an, so muss es sie gleichwohl in der Hauptverhandlung zur Sprache bringen und im Hinblick auf Art. 103 Abs. 1 GG einen Hinweis darauf erteilen, dass sie verwertet werden soll.43 Nach hM ist die Einführung durch Vorhalt möglich. Der Hinweis ist keine wesentliche Förmlichkeit der Hauptverhandlung im Sinne von § 273 StPO, er kann formlos erteilt werden.44 Ob dies geschehen ist, wird in der Revisionsinstanz deshalb im Freibeweisverfahren überprüft.45 Soll mit der Revision geltend gemacht werden, die Tatsache sei nicht eingeführt und der Hinweis nicht oder nicht vollständig erteilt worden, dann muss deshalb auf die Inhalte der gerichtlichen Äußerungen zur Thematik eingegangen werden, auch wenn diese nicht im Protokoll festgehalten sind. Da die einzelnen Tat-
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BGH – 2 StR 67/95 = StV 1995, 566. Vgl. hierzu Hamm/Hassemer/Pauly Beweisantragsrecht, 2. Aufl. 2007, Rn 248 ff. 41 BGH – 3 StR 10/86 = BGHR StPO § 344 Abs. 2 Satz 2 – § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO 1 (Beweisanträge, früheres Einlassungsverhalten); zustimmend hierzu: Sarstedt/Hamm 6. Aufl., Rn. 232/233. 42 BGH – 2 StR 170/93 = NStZ 1994, 47 = BGHR StPO § 344 Abs. 2 Satz 2 Prozessverschleppung 1 (Verpflichtung zur Mitteilung der Ergebnisse von Zeugenvernehmungen). 43 Vgl. BGH – 5 StR 356/97 = StV 1998, 251 = NStZ 1998, 98; BGH – 1 StR 436/94 = NStZ 1995, 246 (247); OLG Hamburg StV 1996, 84; OLG Frankfurt StV 1999, 138. 44 LR-Gollwitzer § 244 Rn 234. 45 BGHSt 36, 354 = NJW 1990, 1740 = StV 1991, 51; OLG Frankfurt/Main StV 1999, 138 (139); aA: Meyer-Goßner in: FS für Tröndle, S. 560 ff. 40
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sachen mitunter auch durch andere Beweiserhebungen in die Hauptverhandlung eingeführt worden sein können,46 kann es eine solche Rüge erforderlich machen, auf den Inhalt der Beweisaufnahme einzugehen. 4. Abwesenheit des Angeklagten (§ 338 Nr. 5 StPO) Für Rügen, die sich auf den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO stützen, hat der BGH wiederholt Darlegungsanforderungen aufgestellt, die sich auf den Inhalt der Hauptverhandlung beziehen. a) Das ergibt sich etwa aus einer Entscheidung des 5. Strafsenats aus dem Jahr 2000. In einem Verfahren, das Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs von Kindern betraf, wurde zunächst der kindliche Zeuge S. in Abwesenheit des nach § 247 StPO ausgeschlossenen Angeklagten vernommen. Nach Abschluss der Vernehmung verließ der Zeuge den Sitzungssaal, wurde aber noch nicht entlassen. Das Gericht rief den Angeklagten in den Saal und informierte ihn gemäß § 247 S. 4 StPO über den Inhalt der Vernehmung. Sodann wurde – in Anwesenheit des Angeklagten – die Mutter eines zweiten kindlichen Zeugen vernommen und entlassen. Nachdem der Angeklagte im Hinblick auf den ergangenen Beschluss nach § 247 StPO den Saal wieder verlassen hatte, vernahm die Strafkammer erneut den Zeuge S. Der Zeuge blieb unvereidigt und wurde „im Einverständnis sämtlicher Beteiligter“ entlassen. Im Anschluss daran sagte ein zweiter kindlicher Zeuge aus. Der wieder in den Sitzungssaal gerufene Angeklagte wurde über die Aussagen des zweiten Zeugen und die ergänzenden Angaben des S. unterrichtet, und schließlich der zweite Zeuge entlassen. Der BGH verlangte hier als Zulässigkeitsvoraussetzung für die auf Verletzung des § 247 StPO gestützte Verfahrensrüge nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO, dass mit der Revision vorgetragen wird, was Gegenstand der ergänzenden Befragung des kindlichen Zeugen S. war. Dies sei notwendig, um beurteilen zu können, ob der Teil der Verhandlung, der der Entlassung des Zeugen vorausging, ein wesentlicher, von der Anordnung nach § 247 StPO nicht erfasster Teil der Hauptverhandlung war, der nicht in Abwesenheit des Angeklagten hätte durchgeführt werden dürfen.47 Bereits einige Jahre zuvor hatte der 3. Strafsenat in einem ähnlich gelagerten Fall ebenfalls eine Verpflichtung zum inhaltlichen Vortrag von Äußerun46
Vgl. BGH NStZ 1995, 246 (247) = BGHR StPO § 261 Gerichtskundigkeit 2. BGH – 5 StR 543/99 = StV 2000, 240 = NStZ 2000, 328 = BGHR StPO § 247 Abwesenheit 20; vgl. auch BGH Beschluss v. 24.1.2001 – 5 StR 603/00 = StV 2004, 306 = StraFo 2001, 128. Es mag dabei im vorliegenden Zusammenhang dahinstehen, dass dieser Rechtsprechung schon deshalb nicht gefolgt werden kann, weil dem Angeklagten, der nach der Systematik der StPO die Verfahrensrüge selbst begründen können muss (§ 345 Abs. 2 StPO), damit aufgegeben wird, etwas vorzutragen, was in seiner Abwesenheit stattgefunden hat. 47
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gen in der Hauptverhandlung aufgestellt. In der damaligen Sache war ein Zeuge nach Abschluss der Vernehmung zunächst in allseitigem Einverständnis unvereidigt geblieben und entlassen worden. Nach Rückkehr des Angeklagten in die Hauptverhandlung wurde erneut in gleicher Weise über die Vereidigung entschieden. Der Vorsitzende informierte den Angeklagten über den Inhalt der Aussage, und der Angeklagte äußerte sich hierzu. Da der Verteidiger zuvor bereits der Entlassung zugestimmt habe, liege es – so der BGH – nahe, dass der Angeklagte in seiner Äußerung lediglich erklärt habe, keine Fragen mehr an den Zeugen stellen lassen zu wollen. Deshalb habe die Revision vortragen müssen, was Inhalt der Äußerung des Angeklagten gewesen sei.48 In einem anderen Fall, in dem der für die Revisionsinstanz hinzugezogene Verteidiger beanstandete, in Abwesenheit des Angeklagten habe eine „Erörterung der Sachlage“ stattgefunden, hielt der 1. Strafsenat den Verteidiger für verpflichtet, sich danach zu erkundigen, was Gegenstand der Erörterung war und dies in der Verfahrensrüge vorzutragen.49 Besondere Verpflichtungen zur Darlegung des Inhalts der Beweisaufnahme sollen schließlich auch dann gelten, wenn in Betracht kommt, dass der Verfahrensfehler durch eine spätere Wiederholung der Beweisaufnahme „geheilt“ wurde.50 b) Wird mit der Revision geltend gemacht, dass die nach § 247 S. 4 StPO gebotene Unterrichtung des Angeklagten über eine Vernehmung in seiner Abwesenheit nicht ausreichend war, wird verschiedentlich der Inhalt der Unterrichtung vom Revisionsgericht nachgeprüft.51 Das ist nicht unumstritten. Sieht man dies als zulässig an, so lässt sich eine Beweiserhebung über die Inhalte der Hauptverhandlung aber kaum vermeiden, da das Protokoll hier – wie sonst auch – nur wenig weiterhelfen wird: Als wesentliche Förmlichkeit ist nur die Unterrichtung als solche im Hauptverhandlungsprotokoll zu vermerken, nicht aber ihr Inhalt.52 c) Die Rechtsprechung beschränkt den Anwendungsbereich des § 338 Nr. 5 StPO generell dadurch nachhaltig, dass sie es als Voraussetzung für die
48 BGH – 3 StR 643/97 = NJW 1998, 2541 = NStZ 1998, 425 = BGHR StPO § 247 Abwesenheit 18. 49 BGH Beschluss v. 23.11.2004 – 1 StR 379/04 = BGHR StPO § 344 Abs. 2 Satz 2 Abwesenheit 4. Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen; vgl. BVerfG Beschluss v. 22.9.2005 – 2 BvR 93/05 = BVerfGK 6, 235. 50 BGH – 3 StR 437/98 = NStZ-RR 1999, 107. 51 Vgl. Meyer-Goßner StPO § 247 Rn 22; BGH MDR 1957, 267 bei Dallinger; aA: OLG Hamburg, JR 1950, 413. 52 Meyer-Goßner StPO, § 247 Rn 17; LR-Gollwitzer 24. Aufl., § 247 Rn 51; vgl. zum Charakter der Unterrichtung nach § 247 Satz 4 StPO als wesentliche Förmlichkeit i.S.v. § 273 Abs. 1 StPO auch BGH – 4 StR 67/04 = NStZ-RR 2005, 259 (bei Becker) sowie BGH – 2 StR 46/92 = StV 1992, 359; BGH 3 StR 319/73 = StV 1984, 102.
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Urteilsaufhebung ansieht, dass der Angeklagte bei einem wesentlichen Teil der Hauptverhandlung nicht anwesend war.53 Ob ein Teil der Beweisaufnahme „wesentlich“ war, lässt sich aus der Sicht der Revisionsinstanz oft aber erst beurteilen, wenn näher dargelegt wird, welchen Inhalt die Beweisaufnahme hatte. Auch insoweit sind deshalb Fallkonstellationen denkbar, in denen mit der Verfahrensrüge dargelegt werden muss, was Inhalt des betreffenden Teils der Beweisaufnahme war.54 5. Entlassung eines Zeugen Nach hM kann mit der Revision gerügt werden, dass ein Zeuge vorzeitig entlassen worden ist (Verstoß gegen § 248 StPO).55 Unabhängig davon, ob die Rüge eine vorherige Beanstandung nach § 238 StPO voraussetzt,56 muss mit ihr jedenfalls aber dargelegt werden, welche entscheidungserheblichen Fragen oder Vorhalte infolge der vorzeitigen Entlassung unterblieben sind.57 Das führt solange nicht zu einem revisionsrechtlichen Darstellungsproblem, als sich die Entscheidungserheblichkeit alleine an Hand der Urteilsgründe darlegen lässt. Bei komplizierteren Beweissituationen, etwa bei mehreren voneinander abweichenden Aussagen im Ermittlungsverfahren, die im Urteil nicht im Einzelnen dargestellt sind, die aber bei einer länger andauernden Vernehmung des Zeugen noch hätten erörtert werden können, wird die Revision die Bedeutung einzelner Fragen oder Vorhalte nicht ohne eine Schilderung der mündlichen Aussagen belegen können. 6. Hinweis auf Änderung des Tatvorwurfs (§ 265 StPO analog) Mit der Revision kann geltend gemacht werden, dass in entsprechender Anwendung des § 265 StPO ein Hinweis auf eine Veränderung der Richtung des tatsächlichen Vorwurfs hätte erteilt werden müssen. Das gilt z. B. dann, wenn das Gericht von einer anderen Tatzeit ausgehen will als die Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift.58 In der Revisionsbegründung muss die Veränderung der Richtung des tatsächlichen Vorwurfs näher dargelegt
53 Kritisch zu dieser Rechtsprechung: Sarstedt/Hamm Die Revision in Strafsachen, 6. Aufl., Rn 379 ff = S. 179. 54 LR-Hanack § 337 Rn 75. 55 LR-Gollwitzer § 248 Rn 14. 56 BGH – 4 StR 711/95 = StV 1996, 248; BGH – 4 StR 731/84 = StV 1985, 355. 57 Vgl. LR-Gollwitzer § 248 Rn 14 sowie Meyer-Goßner StPO, § 248 Rn 4 unter Hinweis auf OLG Stuttgart NStZ 1994, 600. 58 Vgl. zum Beispiel BGH – 2 StR 296/05 = BGHR StPO § 265 Abs. 1 Hinweispflicht 18; BGH – 2 StR 105/94 = BGHR StPO § 265 Abs. 1 Hinweispflicht 11; BGH – 5 StR 498/90 = BGHR StPO § 265 Abs. 4 Hinweispflicht 12.
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werden.59 Da der Hinweis keine wesentliche Förmlichkeit darstellt, ist er nicht protokollierungspflichtig.60 Die erforderliche Information des Angeklagten kann sich aus dem Verlauf der Sitzung oder aus „informellen Hinweisen“ 61 ergeben. Wiederholt haben die Strafsenate durch Einholung dienstlicher Erklärungen darüber Beweis erhoben, ob dem Angeklagten aus dem Verlauf der Hauptverhandlung eine bestimmte Tatsache bekannt sein konnte.62 Dass hierbei auch Inhalte der Beweisaufnahme zur Sprache kommen, die nicht im Urteil festgehalten sind, erscheint kaum vermeidlich.63 Das gilt umso mehr, wenn mit der Revision geltend gemacht wird, das Verteidigungsvorbringen basiere auf einem bestimmten Verständnis des Tatvorwurfs, das – wie sich aus dem Urteil ergeben hat – nicht dem Verständnis des Gerichts entsprach.64 Hier wird man die Position der Verteidigung häufig nicht verständlich wiedergeben können, ohne z.B. die Einlassung des Angeklagten in der Hauptverhandlung zumindest zusammenfassend darzustellen (soweit sie nicht bereits im Urteil geschildert ist). Die Rechtsprechung hat im Übrigen Angaben zu mündlichen Äußerungen des Gerichts ausdrücklich für erforderlich gehalten, wenn ein nach § 265 StPO erteilter Hinweis mündlich erläutert worden ist, nachdem die Verteidigung in der Hauptverhandlung um eine Konkretisierung in tatsächlicher Hinsicht gebeten hatte.65 7. Verletzung des § 136a StPO In einem Fall, in dem die Revision eine Verletzung des § 136a StPO gerügt hatte, sah der BGH die Verfahrensrüge als unzulässig an, weil der Beschwerdeführer nicht mitgeteilt hatte, welche Vorstellungen er über die Verwertbarkeit seiner früheren Aussage (aus dem Ermittlungsverfahren) bei der späteren Vernehmung in der Hauptverhandlung hatte. Er habe zwar beanstandet, dass
59 Meyer-Goßner StPO, § 265 Rn 47 unter Hinweis auf BayObLGSt 1992, 161 = MDR 1993, 567. 60 BGH – 1 StR 14/88 = BGHR § 265 Abs. 4 Hinweispflicht 4. 61 Vgl. BGH – 2 StR 296/05 = BGHR StPO § 265 Abs. 1 Hinweispflicht 18. 62 BGH – 2 StR 296/05 = BGHR StPO § 265 Abs. 1 Hinweispflicht 18; BGH – 4 StR 506/90 = BGHR StPO § 265 Abs. 4 Hinweispflicht 11. Vgl. hierzu auch Wahl in: NJWSonderheft für G. Schäfer, S. 74 sowie LR-Hanack 25. Aufl., § 337 Rn 75. 63 Vgl. auch BGH – 2 StR 554/86 = BGHR StPO § 265 Abs. 4 Hinweispflicht 2 (Verteidigung verweist zur Begründung ihrer Rüge auf den Inhalt des Schlussplädoyers des Staatsanwalts). 64 Vgl. zur Möglichkeit einer solchen Verfahrensrüge BGH – 3 StR 222/02 = BGHR StPO § 265 Abs. 4 Hinweispflicht 18. 65 BGH – 3 StR 299/88 = BGHR StPO § 344 Abs. 2 Satz 2 Hinweispflicht 1. Gegen die Geltung des Rekonstruktionsverbotes bei einer Verfahrensrüge, mit der die Unzulässigkeit eines Vorhalts beanstandet wird: LR-Hanack § 337 Rn 75.
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seine früheren Aussagen durch unzulässige Vorhalte eingeführt worden seien, jedoch nicht mitgeteilt, welche Angaben er auf diese Vorhalte hin gemacht habe.66 Die hiergegen gerichtete Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen.67 Das BVerfG forderte vom Beschwerdeführer ausdrücklich, dass er nicht nur die Vernehmungssituation im Ermittlungsverfahren, sondern darüber hinaus auch die Aussageinhalte in der Hauptverhandlung darlegen müsse. Die bloße Behauptung, die Aussage aus dem Ermittlungsverfahren sei in die Hauptverhandlung eingeführt worden, reiche nicht aus. Dass der Urteilsinhalt stellenweise mit Passagen der Vernehmung übereinstimme, könne verschiedene Ursachen haben. Es müsse substantiiert vorgetragen werden, welche dieser Möglichkeiten gegeben war. Das Rekonstruktionsverbot, so das BVerfG, stehe derartigen Darlegungspflichten nicht entgegen. Ohne eine freibeweislich durchzuführende Beweiserhebung über Vorhalte an den Angeklagten und die Zeugenaussage des Kriminalbeamten wäre der Rüge von vornherein der Erfolg zu versagen. Hieraus folgt im Umkehrschluss, dass es erforderlich ist, den Freibeweis über Vorhalte an den Angeklagten bzw. über den Inhalt einer Aussage des Vernehmungsbeamten zuzulassen, schon um die Möglichkeit einer Überprüfung der verfahrensrechtlichen Beanstandung in der Revisionsinstanz zu eröffnen.68
IV. Die zitierte Rechtsprechung, in der aus § 344 Abs. 2 StPO die Forderung abgeleitet wird, bei bestimmten Rügen den Inhalt der Hauptverhandlung wiederzugeben, stellt damit aber im Ergebnis die teilweise ohnehin widersprüchlichen Entscheidungen zu den Revisionsrügen nach den §§ 244 Abs. 2 und 261 StPO in Frage. Es mag dahinstehen, ob der Ausdehnung der Zulässigkeitsanforderungen an eine Verfahrensrüge in den oben skizzierten Fällen ausnahmslos zu folgen ist. Solange jedoch die Rechtsprechung aus § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO derartige Anforderungen ableitet, verhält sie sich widersprüchlich, wenn sie gleichzeitig bei Verfahrensrügen, die auf eine Verletzung der §§ 244 Abs. 2 und 261 StPO gestützt sind, einen Rückgriff auf mündlich geäußerte Inhalte der Hauptverhandlung regelmäßig ablehnt. Dass es einerseits z.B. bei der Rüge der Verletzung des § 247 StPO oder im Rahmen von § 338 Nr. 5 StPO bei Prüfung der Frage, ob ein bestimmter Verhandlungsteil „wesentlich“ war, möglich sein soll, den Inhalt von Zeugenaussagen in der Revisionsinstanz zu überprüfen, dass dies andererseits aber 66 67 68
BGH Beschluss v. 10.5.2001 – 3 StR 80/01. BVerfG Beschluss v. 21.1.2002 – 2 BvR 1225/01 = NStZ 2002, 487. BVerfG Beschluss v. 21.1.2002 – 2 BvR 1225/01, Abs. 5 = NStZ 2002, 487 (488).
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ausgerechnet dann nicht möglich sein soll, wenn eine Verfahrensrüge auf die Verletzung des § 244 Abs. 2 StPO gestützt wird, überzeugt als Ergebnis nicht. Für eine Differenzierung des Prüfungsumfangs je nach Art der verletzten Vorschrift fehlt ein ausreichender sachlicher Grund. So wäre es kaum verständlich, wenn ein und dieselbe Aussage eines Zeugen zwar als Zulässigkeitsvoraussetzung für eine auf die Verletzung des § 247 StPO gestützte Verfahrensrüge für das Revisionsverfahren Bedeutung besitzen könnte, ihrer Berücksichtigung im Rahmen einer gleichzeitig erhobenen Aufklärungsrüge aber das Rekonstruktionsverbot entgegenstünde. Das zeigt, dass die Rechtsprechung der Überprüfung bedarf. Zwar ließe sich der Gegensatz prinzipiell sowohl dadurch lösen, dass die Zulässigkeitsanforderungen verringert werden, als auch dadurch, dass der Anwendungsbereich des Rekonstruktionsverbotes verringert wird. Doch dürften die besseren Gründe für die letztgenannte Lösung sprechen. Das aus der Natur des Revisionsverfahrens (und nicht unmittelbar aus einer gesetzlichen Bestimmung) abgeleitete Rekonstruktionsverbot beschränkt den Gegenstand der Revision in unangemessener Weise, weil es dafür sorgt, dass ein Großteil möglicher Verfahrensfehler durch das Revisionsgericht von vornherein nicht überprüft werden kann.69 Wesentliche Aufgabe der Revisionsgerichte ist es sicherzustellen, dass die im angefochtenen Urteil enthaltenen Feststellungen Ergebnis eines Verfahrens sind, das gesetzmäßig verlaufen ist. Wie Fezer überzeugend begründet hat, erfordert diese Verpflichtung der Revisionsgerichte auch die Möglichkeit, Inhalte der Beweisaufnahme zu überprüfen (bzw. zu rekonstruieren), soweit diese für den gerügten Mangel von Belang sind.70 Nur so wird sichergestellt, dass im Revisionsverfahren auch die Einhaltung der §§ 244 Abs. 2 und 261 StPO wirksam überprüft werden kann.71 In Fällen, in denen es für die Begründung einer Verfahrensrüge lediglich darauf ankommt zu klären, ob ein bestimmter Vorgang in der Hauptverhandlung stattgefunden hat oder nicht (wie z.B. bei der Rüge, ein Vorhalt sei nicht gemacht worden), kann deshalb das Rekonstruktionsverbot der Rüge nicht entgegenstehen.72 Auch muss es möglich sein, die
69 LR-Hanack 25. Aufl., § 337 Rn. 79 räumt ein, dass die Konsequenzen des Rekonstruktionsverbots „problematisch“ sein können, weil es dazu führen könne, dass auch schwer wiegende Mängel des tatrichterlichen Verfahrens nicht aufgeklärt werden können. 70 Fezer in: Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege (herausgegeben von Udo Ebert), Hanack-Symposium, 1991, S. 107 ff. 71 Vgl. hierzu auch Fezer in: Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege, S. 104/105. 72 Vgl. zur Überprüfung der Frage, ob ein Vorhalt stattgefunden hat, bei einer auf die Verletzung des § 261 StPO gestützten Verfahrensrüge BGH – 1 StR 67/98 = NStZ-RR 1999, 47; BGHSt 22, 26 (27ff) sowie den Hinweis auf diese Entscheidungen im Beschluss des BVerfG vom 25.1.2005 = BVerfGE 112, 185 (215) = NJW 2005, 1999 = StV 2005, 369 (372); für die Zulässigkeit der „Alternativrüge“ auch Sarstedt/Hamm Die Revision in Strafsachen, Rn 288 = S. 131.
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Aufklärungsrüge darauf zu stützen, dass sich durch mündliche Äußerungen in der Hauptverhandlung Anlass zu weiteren Beweiserhebungen ergeben habe.73 Zwar führt eine Ausdehnung des Bereichs zulässiger Verfahrensrügen nach derzeitiger Gesetzeslage angesichts des fehlenden Wortprotokolls zugleich dazu, dass in größerem Umfang als bisher auf das Freibeweisverfahren zurückgegriffen werden muss. Doch ergibt sich auch hieraus kein Argument für eine uneingeschränkte Beibehaltung des Rekonstruktionsverbotes. Freibeweisliche Ermittlungen sind auch sonst fester Bestandteil des Revisionsverfahrens.74 Aus der generellen Aufgabenverteilung zwischen Tat- und Revisionsgericht ergibt sich kein Grund dafür, von dieser Art der Aufklärung von Verfahrenstatsachen keinen Gebrauch zu machen, wenn z.B. überprüft werden soll, ob die Aufklärungspflicht verletzt wurde.75 Der Freibeweis dient in diesen Fällen nicht der Widerlegung der im Strengbeweisverfahren gewonnenen Erkenntnisse, sondern der Überprüfung ihres Zustandekommens.76 Die geänderte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu nachträglichen Korrekturen des Hauptverhandlungsprotokolls 77 liefert dabei noch ein zusätzliches Argument zur Heranziehung des Freibeweisverfahrens: Wird auf der Grundlage der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen in der Revisionsinstanz nachträglich die Richtigkeit des nach dem Gesetzeswortlaut mit der besonderen Beweiskraft des § 274 StPO ausgestatteten Hauptverhandlungsprotokolls in Frage gestellt und überprüft, so unterscheiden sich die dabei einzuhaltenden Schritte 78 im Ergebnis kaum von dem Verfahren, das nötig wäre, um freibeweislich zu überprüfen, ob z.B. ein Vorhalt in der Hauptverhandlung stattgefunden hat.79 Die punktuelle Rekonstruktion eines Teils der Hauptverhandlung (z.B. eines Aussagedetails oder eines Vorhalts) – wie sie z.B. geboten sein kann, um den mit einer Verfahrensrüge erhobenen Vorwurf zu überprüfen, das Tatgericht habe die Aufklärungspflicht verletzt – bedeutet im Übrigen nicht, dass uneingeschränkt der Gegenbeweis gegen die Urteilsgründe zugelassen
73
So mit Recht Sarstedt/Hamm Die Revision in Strafsachen, Rn 262 = S. 120. Vgl. im Zusammenhang mit der Rüge der Aktenwidrigkeit: KK-Kuckein 5. Aufl., § 337 Rn 26a. 75 LR-Hanack 25. Aufl., § 337 Rn 78a. 76 Vgl. hierzu auch Fezer in: Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege, Hanack-Symposium, 1991, S. 108/109. 77 BGH Beschluss vom 23.4.2007 – GSSt 1/06 = NJW 2007, 2419. 78 Vgl. BGH Beschluss vom 23.4.2007 – GSSt 1/06, Rn 61 ff = NJW 2007, 2419, 2424. 79 Vgl. hierzu BGH – 1 StR 67/98 = NStZ-RR 1999, 47; BGHSt 22, 26 (27 ff) sowie BVerfG Beschluss vom 25.1.2005 = BVerfGE 112, 185 (215) = NJW 2005, 1999 = StV 2005, 369 (372). 74
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würde.80 Sie ändert insbesondere nichts daran, dass die bloße Behauptung, der in den Urteilsgründen festgestellte Sachverhalt sei unrichtig, nicht die Geltendmachung eines Rechtsfehlers enthält und somit nicht als zulässige Verfahrensrüge angesehen werden kann. Die Ergebnisse der Beweisaufnahme werden mit Verbindlichkeit für das Revisionsverfahren im Urteil festgehalten, so dass sie insbesondere im Rahmen der Sachrüge Grundlage der rechtlichen Prüfung sein müssen.81 Das schließt es indessen nicht aus, dass die Vollständigkeit des Urteils und die Vorgänge in der Hauptverhandlung, die zu den Feststellungen geführt haben, in der Revisionsinstanz im Rahmen von Verfahrensrügen thematisiert werden.82 Die weitere Ausdehnung der Rügemöglichkeiten, die mit einer Zurückdrängung des Rekonstruktionsverbotes verbunden wäre, würde zwar den „abstrakt-logischen“ Rahmen, den die Revisionsgerichte zu beachten haben, nicht beseitigen. Sie könnte aber dafür sorgen, dass eine intensivere Kontrolle der tatrichterlichen Überzeugungsbildung möglich wird und auf diese Weise den rationalen Charakter der getroffenen Entscheidungen fördern. Dies entspräche nicht nur einem Anliegen des Jubilars, es würde auch die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass das Rechtsmittel der Revision künftig nicht mehr, wie von Alsberg befürchtet, „beim größten Unrecht versagen“ muss.
80
Vgl. hierzu LR-Hanack 25. Aufl., § 337 Rn 78a. Vgl. Fezer in: Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege (herausgegeben von Udo Ebert), Hanack-Symposium, 1991, S. 105/106. 82 So zu Recht: Fezer in: Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege (herausgegeben von Udo Ebert), Hanack-Symposium, 1991, S. 104 ff. 81
Kriminalpolitik in der Mediengesellschaft – Eine Skizze – Cornelius Prittwitz I. Wer – wie Rainer Hamm – als Strafverteidiger in vorderster Front steht, mutiert nolens volens selber zum Akteur der Mediengesellschaft und muß sich im eigenen und im Interesse der Mandanten der Chancen und Risiken der „Strafprozeßführung über Medien“ 1 bewußt sein. Daher überrascht es nicht sonderlich, daß sich der Strafverteidiger Hamm auch kriminalpolitisch 2 und der Strafrechtswissenschaftler Hamm auch theoretisch 3 mit dem Themenkreis „Kriminalität, Strafverfolgung, Strafverteidigung“ und „Medien“ auseinandergesetzt hat, und ich kann daher wohl begründet hoffen, mit diesen ihm gewidmeten skizzenhaften Überlegungen auf sein Interesse zu stoßen.
II. Die Skizze ist dezidiert der „Kriminalpolitik in der Mediengesellschaft“ gewidmet. Mehr als eine Skizze kann hier aus mehreren Gründen nicht vorgelegt werden. Dazu gehört die Tatsache, daß die beiden titelgebenden Begriffe „Kriminalpolitik“ und „Mediengesellschaft“ zwar zunächst vertraut und also wenig erläuterungsbedürftig erscheinen, sich aber als erstaunlich spröde erweisen, wenn man sicheren (zumal: kriminalwissenschaftlichen) Grund sucht. 1 So der Titel des Buches des (promovierten Juristen und) Journalisten Joachim Wagner Strafprozeßführung über Medien, 1987. 2 Etwa in seiner Stellungnahme für die öffentliche Anhörung vor dem Rechtsausschuß des Deutschen Bundestages am 25. Oktober 2006 u.a. zu einem Gesetzentwurf zum Schutz von Journalisten und der Pressefreiheit im Straf- und Strafprozeßrecht; vgl. (Zugriff am 28.3.2007): http://www.bundestag.de/ausschuesse/a06/anhoerungen/07_Pressefreiheit/ 04_StN/Hamm.pdf; vgl. aber schon: Strafverfahren und vierte Gewalt, in: 25. Strafverteidigertag 9.-11. März 2001 in Berlin. Schriftenreihe der Strafverteidigervereinigungen, Bd. 25, 2002, S. 214 ff. 3 Vgl. vor allem sein Buch „Große Strafprozesse und die Macht der Medien“, 1997, aber auch schon sein Beitrag „Das nichtöffentliche Ermittlungsverfahren und die Medienarbeit der Staatsanwaltschaft“, in: Festgabe für Heino Friebertshäuser, Bonn 1997, S. 267 ff.
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„Kriminalpolitik“ gehört zu den omnipräsenten Begriffen der Kriminalwissenschaften, ohne daß man deutlich erkennen kann, daß sich eine der kriminalwissenschaftlichen Disziplinen für zuständig erklärt. Kriminologen,4 Rechtspolitiker mit verfassungsrechtlichem Hintergrund,5 aber auch eher der Normwissenschaft Strafrecht zuzuordnende Kriminalwissenschaftler 6 haben sich monographisch und editorisch der Kriminalpolitik gewidmet, und im vergangenen Jahr ist – meines Wissens erstmals – mit der dem Kriminologen, Justiz- und Rechtspolitiker Hans-Dieter Schwind gewidmeten Festschrift 7 eine kriminalwissenschaftliche Festschrift ausdrücklich der Kriminalpolitik gewidmet. Kriminalpolitik als Gegenstand kriminalwissenschaftlicher Lehre spielt – nach naturgemäß unvollständigen Recherchen 8 – eine zu vernachlässigende Rolle, und auch als wissenschaftliche Disziplin existiert sie kaum; weder die Kriminalwissenschaften noch die Politikwissenschaften haben sich ihr zugewandt. Bei weitem noch unergiebiger erweist sich die Suche nach konzeptioneller oder auch nur begrifflicher Klarheit in puncto „Mediengesellschaft“. Anders als dies bei anderen soziologischen oder sich soziologisch gebenden Begriffen, mit denen eine Gesellschaft X zum Zeitpunkt Y zusammenfassend charakterisiert werden soll,9 findet sich – jenseits der wenig soziologischen Medienschelten Neil Postmans 10 – kein großer Wurf, mit dem die Begriffstradition begründet wurde. Will die Skizze Skizze bleiben, dann ist hier noch nicht einmal der Versuch angesagt, nach begrifflicher Klarheit zu suchen oder ihre Unmöglichkeit zu begründen. Im folgenden sei daher, ohne daß damit die Möglichkeit ausgeschlossen werden soll, daß es sich bei der „Mediengesellschaft“ nur um ein Modewort, einen Mythos 11 oder gar um eine Fiktion handelt, unter 4
Vgl. vor allem Horst Schüler-Springorum Kriminalpolitik für Menschen, 1991. Wolfgang Hoffman-Riem Kriminalpolitik ist Gesellschaftspolitik, 2000. 6 Vgl. das bisher einzige „Lehrbuch“ zur Kriminalpolitik von Heinz Zipf, 1980, sowie die fünfbändige Edition von Klaus Lüderssen Aufgeklärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse? 1998. 7 Thomas Feltes/Christian Pfeiffer/Gernot Steinhilper (Hrsg.) Kriminalpolitik und ihre wissenschaftlichen Grundlagen, 2006. 8 Ein kurzfristiger Versuch, mit Hilfe des Internets eine Übersicht zu bekommen, ergab – immerhin – eine Vorlesung „Kriminalpolitik“ des Kollegen Martin Heger an der Humboldt Universität Berlin im Wintersemester 2006/2007. 9 Vgl. instruktiv und unterhaltsam die Widergabe soziologischer Antworten auf die vom Münchener Soziologen Armin Pongs gestellte Frage „In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?“ bei Fritz Sack Wie die Kriminalpolitik dem Staat aufhilft, in: Lautmann/Klimke/Sack (Hrsg.) Punitivität (8. Beiheft des Kriminologischen Journals), 2004, S. 30 ff (44). 10 Neil Postman Wir amüsieren uns zu Tode, 1985; ders. Wir informieren uns zu Tode, 1992. 11 Patrick Rössler/Friedrich Krotz (Hrsg.) Mythen der Mediengesellschaft – The Media Society and its Myths, 2005. 5
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„Mediengesellschaft“ eine Gesellschaft „unter den Bedingungen moderner Massenkommunikation“ 12 verstanden, eine Gesellschaft, deren Wirklichkeit zunehmend geprägt wird von der Wechselwirkung zwischen Medien und Ereignissen (Medialisierung).13 Auch bei dem Begriff der Kriminalpolitik, bei dem es seit langem und in eigentümlichen Gegensatz zur konstatierten wissenschaftlichen Enthaltsamkeit in der Sache nicht an Definitionsversuchen mangelt, soll hier die Diskussion nicht durch zu enge Begrifflichkeiten eingeengt werden. Wenn jüngst Holm Putzke in einem verdienstvollen Versuch, die Frage „Was ist gute Kriminalpolitik?“ zu beantworten, für einen weiten Kriminalpolitikbegriff plädiert, dem zu Folge sämtliche staatliche Maßnahmen als Kriminalpolitik zu verstehen seien, die „gezielt zur Vermeidung von Rechtsgutsverletzungen ergriffen werden“,14 dann sind entgegen Putzkes erklärter Absicht wichtige Gegenstände der Kriminalpolitik schon ausgeblendet. Denn man muß, erstens, durchaus bezweifeln, ob nicht die staatlichen Akteure der Kriminalpolitik (Gesetzgeber, Richter und Vollzieher), die Schüler-Springorum 1991 mutig die „klassischen“ nannte,15 zumindest im Kontext des beobachtbaren Rückzugs des Staates aus seinen klassischen Aufgaben um nicht-staatliche Akteure zu ergänzen sind. Und mit noch mehr Nachdruck ist dafür zu plädieren, nicht nur die Reduzierung von Rechtsgutsverletzungen, sondern auch den staatlichen und gesellschaftlichen Umgang mit Rechtsgutsverletzungen und Rechtsgutsverletzern als Gegenstand der Kriminalpolitik zu begreifen. Kriminalpolitik ist, so verstanden, ein normatives Spiegelbild recht verstandener Kriminologie. Befaßt sich diese, nachdem sie – erstaunlich spät – aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit erwacht ist, mit der man lange meinte, man müsse sich nur mit den Ursachen des Verbrechens, also vor allem mit den Verbrechern befassen, empirisch mit der „Kriminalität in ihrer Tatsächlichkeit als ein(em) gesellschaftlich vorhandene(m) Phänomen, welches mit den Personen, die Rechtsbrüche begehen, mit deren Verwobenheit in soziale Bezüge und mit den Reaktionen der Gesellschaft auf Rechts-
12 Christina Holtz-Bacha Das Private in der Politik: Ein neuer Medientrend, Aus Politik und Zeitgeschichte B 41–42/2001, 20. 13 Dazu: Edzard Schade Kommunikations- und Mediengeschichte. Medialisierung und Mediengesellschaft, in: Otfried Jarren/Heinz Bonfadelli/Gabriele Siegert (Hrsg.) Einführung in die Publizistikwissenschaft. 2. vollst. überarb. Aufl. 2005, S. 49–51. 14 Holm Putzke Was ist gute Kriminalpolitik? in: Feltes/Pfeiffer/Steinhilper (Hrsg.) Kriminalpolitik und ihre wissenschaftlichen Grundlagen, 2006, S. 111 ff (112 f). 15 Schüler-Springorum (Fn. 4) S. 48 ff. Als „mutig“ werte ich diese Charakterisierung insofern, als vielfach – und in anderem Diskussionszusammenhang vollkommen legitim – nur der Gesetzgeber im Unterschied zur Strafrechtsdogmatik des Rechtsanwenders (vgl. etwa Winfried Hassemer Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, 1974) als Akteur der Kriminalpolitik benannt wird.
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brüche in Zusammenhang gebracht werden kann“,16 so ist Kriminalpolitik die wertende Befassung mit Kriminalität, ihren (aktiven und passiven) Akteuren und deren sozialen Bezügen, sowie mit den gesellschaftlichen Reaktionen auf Kriminalität. Und da kriminalpolitische Vorschläge in der Regel das Bewerten vorhandener und vergangener kriminalpolitischer Tendenzen voraussetzen, was ohne Rückgriff auf die Kriminologie, zu deren Gegenstand, wie gesehen, auch die Kriminalpolitik gehört, nicht zu bewerkstelligen ist, soll es im folgenden um die – kriminologische – Frage gehen, wie Kriminalpolitik in der Mediengesellschaft beschrieben und analysiert werden kann, bevor die kriminalpolitische Frage angedeutet werden kann, aus welchen Elementen eine „gute“ und „rationale“ Kriminalpolitik 17 in der Mediengesellschaft (und trotz der Mediengesellschaft) bestehen könnte.
III. Meine an die Formulierungen der eben geschilderten Ansprüche an Kriminalpolitik angelehnte (im Kern: kriminologische) These lautet, daß die Kriminalpolitik in der Mediengesellschaft immer „schlechter“ und „irrationaler“ wird. Kriminalpolitik wird notgedrungen betrieben im Kontext der Mediengesellschaft. Aus benennbaren Gründen, die mit dem spezifischen Gegenstand der Kriminalpolitik (Kriminalität und Reaktion auf Kriminalität) und dem spezifischen Profil der Mediengesellschaft (Bedeutung der Medien; Ökonomisierung der Medien; Trends zur Reduktion von Komplexität, zum agenda-setting und agenda-cutting) 18 zusammenhängen, entsteht ein Irrationalisierungsdruck auf die Kriminalpolitik, dem – offensichtlich – nur schwer zu widerstehen ist. Diese These wird sich kaum je, jedenfalls aber nicht in einer Skizze nachweisen lassen. Aber sie kann vielleicht mit einiger Plausibilität versehen werden, bevor man sich abschließend der bangen Frage zuwendet, ob die
16
So Karl-Ludwig Kunz Kriminologie, 4. völlig überarb. und akt. Aufl. 2004, § 1 Rn 3. Auf die Schwierigkeiten, die mit der – in nachaufklärerischen Zeiten an sich selbstverständlichen – Forderung nach einer „rationalen“ Kriminalpolitik verbunden sind, hat unter den Stichworten „Die verdrängte Unvernunft“ und „emotionale Kriminalpolitik“ bereits Schüler-Springorum (Fn. 4, S. 174 ff) hingewiesen. Vgl. dazu die Rezension des Buches von Klaus Lüderssen in der FAZ vom 8.10.1991 (S. L 34), und Herbert Jäger Irrationale Kriminalpolitik, in: Albrecht u.a. (Hrsg.) FS für Horst Schüler-Springorum, 1993, S. 229 ff. Vgl. zum Kampf um eine „rationale Kriminalpolitik“ (und deren Verständnis) auch Hans-Dieter Schwind „Rationale“ Kriminalpolitik als Zukunftsaufgabe, in: Schwind (Hrsg.) FS für Günter Blau 1985, S. 573 ff und Klaus Lüderssen (Fn. 6). 18 Vgl. Zu diesen Trends Thomas Leif Macht ohne Verantwortung, Aus Politik und Zeitgeschichte B 41–42/2001, 6 ff. 17
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beklagte Tendenz überhaupt noch reversibel ist, oder ob es nur noch um die Frage geht, wie – möglichst rational – mit der unrettbar irrationalen Kriminalpolitik umzugehen ist. 1. Wer der Kriminalpolitik bescheinigt, sie werde zunehmend irrationaler, mißt sie an Vorstellungen einer rationalen Kriminalpolitik, wer – noch allgemeiner – eine „schlechte“ Kriminalpolitik beklagt, tut dies mit einer Vorstellung von „guter“ Kriminalpolitik. Man kommt nicht umhin, zu diesen Maßstäben ein paar erklärende Worte zu verlieren, auch wenn dabei zweierlei schnell klar wird: Es erscheint, erstens, weit einfacher, das Prädikat „irrational“ zu verteilen als die Maßstäbe für das Prädikat „rational“ zu benennen und zu begründen. Und zweitens wird – gerade bei der hier notwendigen Verdichtung – deutlich, wie subjektiv gefärbt, von Überzeugungen und Erfahrungen geprägt, solche Maßstabsetzungen ausfallen (müssen). Vielleicht kann man aber dem Mangel einen Vorzug abgewinnen, vielleicht bedarf die Debatte um eine „gute“ Kriminalpolitik dieser Ingredienzien, um beim Streben nach einer „rationalen“ nicht am Ende bei einer nur „rationalistischen“ Kriminalpolitik zu enden. a) „Gute“ Kriminalpolitik geht davon aus, daß schwerste interpersonale Konflikte einer einerseits intensiven, andererseits besonders vorsichtigen Reaktion bedürfen. Sowohl die Intensität als auch die Vorsicht der Reaktion bedingt ein aufwendiges – und das heißt auch: kostenintensives – Verfahren. Neben der primären, den Bürgern und ihren potentiell bedrohten Rechtsgütern geschuldeten, Pflicht zur umfassenden Kriminalprävention – wo dies möglich und den Bürgern (unter einer Vielzahl von Gesichtspunkten) 19 zumutbar erscheint, muß alles getan werden, um es gar nicht erst zu solchen Konflikten kommen zu lassen – schuldet der Staat seinen Bürgern also auch aus fiskalischer Sicht den sparsamen Einsatz solcher Verfahren. Zugleich wird dadurch eine Pflicht begründet, solche kostenintensiven und potentiell folgenreiche Reaktionen auf bestimmte – gravierende und anders nicht lösbare – Konflikte zu beschränken.20 19 Hierbei treten zahlreiche alles andere als triviale Zielkonflikte auf: Wohl in erster Linie zu nennen sind Gesichtspunkt (un-)zumutbarer Freiheitsbeschränkungen, die konfliktvermeidend wirken können (vgl. dazu Bernhard Haffke Die Legitimation des staatlichen Strafrechts zwischen Effizienz, Freiheitsverbürgung und Symbolik, 2001, S. 967 ff); daneben wird es oft auch um die (auch monetären) Kosten möglicher Konfliktvermeidung gehen. 20 Vgl. skeptisch zum ultima ratio Satz als „tragendem Grundsatz eines rechtsstaatlichen Strafrechts“ jetzt Wolfgang Wohlers Strafrecht als ultima ratio – tragender Grundsatz eines rechtsstaatlichen Strafrechts oder Prinzip ohne eigenen Aussagegehalt? in: von Hirsch/Seelmann/Wohlers (Hrsg.) Mediating Principles, 2006, S. 54 ff; weniger skeptisch Prittwitz Das deutsche Strafrecht: Fragmentarisch? Subsidiär? Ultima ratio? in: Institut für Kriminalwissenschaften (Hrsg.) Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 387 ff.
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Kommt es dann – aufgrund der idealiter geglückten primär-kriminalpräventiven Kriminalpolitik in nur seltenen Fällen – gleichwohl zu solchen schwersten Konflikten, dann dürfen sie aus mehreren Gründen nicht „ungeahndet“ bleiben: Zumindest bei kumulativem Ausbleiben einer Reaktion sind eine Gefährdung des Gewaltmonopols des Staates und andere zivilisatorischen Rückfälle zu befürchten. Zudem überfordern solche Konflikte tendenziell alle beteiligten Personen, namentlich die Opfer,21 die Opferangehörigen, diejenigen, die Zeuge des Konflikts werden, aber auch die Täter. Sie sind in Gefahr, aus persönlicher Betroffenheit, verletzten Gefühlen, übersteigerten Schuldvorwürfen an sich selber oder (häufiger) an den anderen „Konfliktbeteiligten“ überzureagieren und so den Konflikt eskalieren zu lassen. Daher übernimmt der Staat in diesen Fällen ein „Konfliktlösungs- und Reaktionsprotektorat“:22 In der geschützten Zone wird der Konflikt zunächst vorbildhaft, nämlich unter weitgehender Anerkennung bürgerlicher Freiheiten und Autonomie der Beteiligten, namentlich auch des situationsbedingt besonders gefährdeten beschuldigten Beteiligten, und öffentlich – potentiell für alle sichtbar – untersucht. Sodann wird als Ergebnis dieser Untersuchung (und je nach ihrem Ergebnis) der Konflikt interpretiert: Hat sich ein Unglück ereignet oder ist tatsächlich Unrecht verwirklicht worden? 23 Dann wird gegebenenfalls die Straftatbestandsmäßigkeit und die Rechtswidrigkeit eines Verhaltens festgestellt und zur Verantwortlichkeit des Handelnden Stellung genommen. Dabei hat sich das Zurechnungssystem – insbesondere, was die persönliche Verantwortlichkeit, also das jemanden-für-verantwortlich-Erklären, angeht – im Lauf der Zeit verfeinert; genauer gesagt: die Erkenntnisse darüber, unter welchen Umständen Menschen Verantwortung legitim zugeschrieben werden kann, sind umfassender und profunder geworden. Wo – normativ – seit langem feststeht, daß nur der Verantwortliche bestraft werden kann („nulla poena sine
21 Hierbei gehe ich von einer ex-post Perspektive aus, in der „Opfer“ und „Täter“ in einem solchen Konflikt feststehen. 22 Ein solches Protektorat erscheint – nicht notwendig strafrechtsgeschichtlich, aber strafrechtstheoretisch und demokratietheoretisch – gegenüber der Redeweise von der „Konfliktenteignung“ oder der „Neutralisierung“ des Opfers (vgl. Winfried Hassemer Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. Aufl. 1990, S. 70 ff) vorzugswürdig. Da man als Bürger nie weiß, in welcher Rolle man in den Konflikt gerät, ist es im Bürgerinteresse, dem Staat, dem das Gewaltmonopol anvertraut ist, auch dieses Protektorat zuzubilligen. Dagegen erscheint eine „Enteignung“ oder „Neutralisierung“ aus der Sicht des sich schon Opfer wähnenden Bürgers wenig zustimmungswürdig. Genau daher erscheint der Versuch Gunther Teubners und Peer Zumbansens (Rechtsentfremdungen: Zum gesellschaftlichen Mehrwert des zwölften Kamels, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie, 2000, S. 189 ff) argumentativ aufwendig. 23 Zu den Versuchungen, Unglück als Unrecht umzuinterpretieren und es damit „erträglich(er)“ zu machen Prittwitz Strafrecht und Risiko, 1993, S. 377 ff.
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culpa“), entstehen Spielräume, bei erkannter Nichtverantwortlichkeit nicht zu bestrafen, anders oder auch gar nicht reagieren zu müssen. Diese Spielräume setzen eine gewisse Gelassenheit der nicht unmittelbar Betroffenen voraus, die ihrerseits auf einem grundsätzlichen Sicherheitsgefühl beruht. b) Inwiefern rechtfertigt nun der status quo es, von „schlechter“, ja „irrationaler“ Kriminalpolitik zu sprechen? Der eben versuchte blueprint guter und rationaler Kriminalpolitik trägt für jeden, der es weiß oder wissen muß, offensichtlich utopische Züge. Primäre Kriminalprävention als alle Politik mitprägendes Element findet nicht – oder kaum – statt. Das gilt für Sozial- und Arbeitsmarktpolitik, für Wohnungsbau- ebenso wie für Städtebaupolitik, es gilt für Familien- und Bildungspolitik nicht weniger als für Migrations- und Integrationspolitik. Es gilt für die Wirtschafts- und Umweltpolitik, namentlich auch die Straßenverkehrspolitik. Nun mag man dieser Aufzählung entgegenhalten, wenn all diese Politikbereiche kriminalpräventiv geprägt, also konfliktvermeidend ausgestaltet würden, bliebe von der Freiheit der Bürger ebenso wenig übrig wie von dem Vertrauen in die Bürger, autonom Konflikte zu vermeiden, bzw. sich in Konfliktsituationen klug, also deeskalierend, zu verhalten. Dieser Einwand ist stichhaltig, richtet sich aber nur gegen einen in diesem Sinn entmündigenden und daher totalitären Präventionsstaat. Wenig überzeugend wirkt er dort, wo die bescheidene Forderung nur ist, Kriminalpräventionsaspekte in das Spektrum der den Staat bei allen seinen Politiken leitenden Überlegungen einzubeziehen, um dann in sinnvoller Abwägung der Chancen und Risiken von Freiheiten, namentlich auch der Berücksichtigung von Verteilungschancen bezüglich dieser Chancen und Risiken mögliche und zumutbare Kriminalprävention zu betreiben, wenig erfolgversprechende oder unzumutbare Kriminalprävention dagegen zu unterlassen. Gesetzentwürfe, die stereotyp, aber berechtigt, nach den Kosten der jeweils vorgeschlagenen Änderung frage, müßten mit gleichem Recht immer auch nach den sozialen Kosten in Form kriminogener Effekte fragen. Zu den überflüssigen, weil durch primäre Kriminalprävention vermeidbaren, Konflikten, die notgedrungen – und rebus sic stantibus zu Recht – als Kriminalfall behandelt werden müssen, kommen eine Fülle weiterer Konflikte, die mit den aufwendigen, eingriffs- und kostenintensiven Verfahren des Strafprozeßrechts und des Strafrechts, bearbeitet werden müssen oder müßten. Der Gesetzgeber hat es nämlich nicht nur unterlassen, schwere (insofern also: strafrechtstaugliche bzw. -bedürftige) Konflikte durch gute Politik zu vermeiden, sondern hat sich zudem einfallen lassen, eine Reihe zusätzlicher Konflikte zu strafrechtsrelevanten Konflikten zu erklären. Die Rede ist von der Expansion des Strafrechts, der Tendenz des Staates, parallel zur Vernachlässigung seiner primären Schutzpflichten, alles mögliche (und eben immer mehr) gegen alle möglichen Richtungen möglichst früh und
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umfassend strafrechtlich zu „schützen“,24 d.h. für die Schutzpflicht die freien und selbstverantwortlichen Bürger in Anspruch zu nehmen. In dem Maße, in dem neue Gefährdungen oder Zumutungen auftauchen, wird neues Strafrecht geschaffen oder altes Strafrecht verschärft. Solchermaßen aus verschiedenen Gründen gefordert und – weil das Kriminaljustizsystem keineswegs mit den überwiesenen Aufgaben ein entsprechendes Mehr an Ressourcen erhalten hat: überfordert – treten auf der Ebene der Rechtsanwendung weitere kriminalpolitische Pannen auf: In für die Bürger unvorstellbarem Ausmaß hat sich die Strafrechtspraxis Erledigungsarten ausgedacht: Strafverfahren werden gem. den §§ 153 ff StPO eingestellt, andere Verfahren – namentlich im Bereich des Wirtschaftsstrafrecht – werden im Wege der Urteilsabsprache beendet. Im krassen Gegensatz dazu überbieten sich Gesetzgebung und Rechtsprechung dabei, in wiederum anderen Verfahren – namentlich bei Gewalttaten, und ganz besonders bei Gewalttaten in einem sexuellen Kontext – für das Verurteilen und „Wegsperren“ bis vor kurzem kaum gekannte Höchststrafen zu ermöglichen und auch zu verhängen. In der Berichterstattung über entsprechende Verfahren wird überwiegend kritisch angemerkt, wenn neben der lebenslangen Freiheitsstrafe, der Höchststrafe nach deutschem StGB, nicht mindestens auch die besondere Schwere der Schuld i.S. des § 57a StGB festgestellt wird, mit der verhindert werden soll, daß der Verurteilte „schon“ nach 15 Jahren die Chance hat, zur Bewährung in die Freiheit entlassen zu werden. Richtig zufrieden äußern sich Opferangehörige (oft genug vor laufenden Kameras) erst, wenn zudem noch die anschließende Sicherungsverwahrung gem. §§ 66 ff StGB angeordnet wird. 2. Fragt sich nun, was die Mediengesellschaft mit diesen Grundfehlern und Kollateralschäden mißglückter Kriminalpolitik zu tun hat. Die Antwort darauf muß wiederum in mehreren Schritten erfolgen und sich vor allem vor der nostalgischen Fehlvorstellung hüten, vor dem Erstarken der Mediengesellschaft sei die Kriminalpolitik noch „rational“ gewesen. a) Kriminalpolitik dürfte noch nie so sehr im Zentrum der Aufmerksamkeit der Politik gestanden haben wie derzeit. Daß die derzeitige Prominenz der Rationalität gut bekäme, kann nicht behauptet werden. Aber auch das Schattendasein, das sie bis (etwas) Mitte der 1970er Jahre fristete, kann nicht als friedliche Oase bezeichnet werden. Zu nachhaltig wirkten die voraufklärerischen Strafrechtstraditionen nach: Das zu Herrschaftszwecken immer 24 Vgl. Jesús Silva Sanchez La expansión del Derecho penal, 2. überarb. und erw. Aufl., Buenos Aires 2006 (deutsch: Die Expansion des Strafrechts, 2003); dazu auch Prittwitz Strafrecht und Risiko, 1993, S. 366 ff.
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wieder mißbrauchte Strafrecht, das schablonenhaft erstarrte Denken in harten, autoritäre Antworten auf jedwede Form der Abweichung, die enge Verbindung zwischen strafrechtlicher Schuld einerseits, sittlicher und auch theologisch begründeter Schuld andererseits. Die fehlende Lobby und schwer zu erlangende politische Aufmerksamkeit für eine aufgeklärte Kriminalpolitik hat bewirkt, daß zwischen dem schon mit der Aufklärung aufkommenden aufgeklärtem Strafrechtsdenken und seiner Durchsetzung in der Wirklichkeit der Kriminaljustizsysteme reichlich lange gedauert hat. Als dann freilich endlich – untrennbar verbunden mit dem AE eines neuen StGB – freiheitlicher und sozialer Wind aufkam, war die fehlende gesellschaftliche Aufmerksamkeit von Nutzen. Im Windschatten anderer gesellschaftlicher Auseinandersetzungen konnte einige Zeit von sozialtherapeutischen Anstalten geträumt werden, bevor man mit der harten Wirklichkeit des Sicherungsverwahrungsdenkens aufgeweckt wurde. b) Dieser letzte Paradigmenwechsel nun hat entscheidend mit der Entwicklung zur Mediengesellschaft zu tun. Immer schon waren Kriminalität und Strafjustiz prominenter Gegenstand von Medienberichterstattung. Aber mit der Herausbildung von Massenmedien, namentlich den elektronischen (Bild-) Medien veränderte sich die Lage spürbar,25 und spätestens mit der Vervielfachung der Medienangebote durch die Zulassung privaten Rundfunks und Fernsehens und der damit verbundenen Ökonomisierung der Medienlandschaft begann der eingangs erwähnte Irrationalisierungsdruck auf Gesetzgebung, Rechtsprechung und die für den Strafvollzug verantwortlichen Landesjustizministerien. Die Gründe für diese Entwicklung liegen, wie mir scheint, auf der Hand: Verbrechen und Strafjustiz sind spannende und – horribile dictu – „unterhaltsame“ Gegenstände, sie kommen der Notwendigkeit der Medien, persönliche und emotionale Geschichten zu erzählen, entgegen. Unterhaltung – und das gilt auch für Infotainment – bedarf allerdings einer gewissen Oberflächlichkeit, kompliziert darf es selten, strukturell oder grundsätzlich nie werden. Das Ergebnis ist eine permanent Ereignisse multiplizierende mediale Berieselung der Medienkonsumenten mit Kriminalität. Auf die – bei „interessanten“ Straftaten – tagelange, aber zumeist an der Oberfläche verbleibender, Information über die Straftat folgen Berichte über die Strafverfolgung; die Festnahme Verdächtiger ist nicht nur eine Schlagzeile oder Reportage wert, sondern auch die erneute Erzählung der Kriminalgeschichte, und dasselbe gilt für den Prozeßbeginn, den Prozeßverlauf, das Urteil, und das 25 Vgl. dazu, daß und wie gerade die Bildberichte über bedrohliche Phänomene unser Sicherheitsgefühl nachhaltig verändern und die schwierige Balance zwischen Freiheits- und Sicherheitsinteressen ins Wanken bringen Prittwitz „Feinde ringsum“? Zur begrenzten Kompatibilität zwischen Sicherheit und Freiheit, in: Institut für Kriminalwissenschaften (Hrsg.) Jenseits des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2007, S. 225 ff (241–245).
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sich zumeist anschließende Rechtsmittelverfahren – all dies wird von vielen Mediennutzern nicht nur von einem, sondern mehreren Medienanbietern konsumiert. Unzählige kleine, oberflächliche Geschichten über (bestimmte) Verbrechen, (bestimmte) Verbrecher und (bestimmte) Strafprozesse lassen einen Eindruck großer und vor allem wachsender Unsicherheit entstehen. Neben der Kriminalität im Hellfeld, die die Menschen immer schon beschäftigt hat und der beunruhigenden Entdeckung der Kriminologen, daß es ein gar nicht so unbedeutendes Dunkelfeld von (nicht bekannt gewordener) Kriminalität gibt, existiert nunmehr ein „Grellfeld“ von Kriminalität, das mit der Kriminalitätsentwicklung wenig zu tun hat,26 aber die Kriminalitätswahrnehmungen und damit den Kontext staatlicher Kriminalpolitik und gesellschaftlicher Kriminalpolitikeinstellungen nachhaltig beeinflußt. Längst ist dabei, ohne daß man Verschwörungstheorien bemühen muß, ein politisch-publizistischen Verstärkerkreislauf 27 eingeleitet worden, von dem Medien, die sich verkaufen müssen („crime sells“), und Politikern, die mit dem Versprechen von Sicherheit hoffen, gewählt zu werden, profitieren, die Rationalität der Kriminalpolitik aber in Mitleidenschaft gezogen wird.
IV. Werden die Medien ihr Interesse an Kriminalität und Strafjustiz verlieren? Werden Politiker nicht mehr gewählt werden wollen? Wird Unsicherheit nicht mehr ein guter Grund sein, Politiker zu wählen, die in und mit der Institution Staat für Sicherheit sorgen? All diese Fragen sind zu verneinen. Ist damit die Schlacht für eine rationale Kriminalpolitik schon endgültig verloren? Ich meine, man sollte sie nicht verloren geben, ohne zumindest versucht zu haben, dem Irrationalisierungsdruck etwas entgegenzusetzen. „Zensur“ ist ein zu Recht in Verruf stehendes Merkmal unfreiheitlicher Systeme. Gleichwohl muß man meines Erachtens in Erwägung ziehen, die Grenzen der Pressefreiheit neu auszuloten. Wenn Bürger sich „als Opfer von allzu tabuisierter und gegen (auch staatliche) Kontrolle geschützter Pressefreiheit empfinden“ 28 können, hilft die klassische Gegenüberstellung von Pressefreiheit (im wohlverstandenen Interesse der Bürger) und (tendenziell bürgerfreiheitsfeindlicher) Staatskontrolle nicht viel weiter. Wenn die „vierte
26 Vgl. dazu instruktiv Christian Pfeiffer/Michael Windzio/Matthias Kleimann Die Medien, das Böse und wir. Zu den Auswirkungen der Mediennutzung auf Kriminalitätswahrnehmung, Strafbedürfnisse und Kriminalpolitik, MschKrim 2004, 415 ff. 27 Dazu schon Sebastian Scheerer Kriminologisches Journal 1978, 223 ff. 28 Rainer Hamm (Fn. 2) S. 2.
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Gewalt“ ihre Aufgaben unvollkommen wahrnimmt,29 sondern – selbst unter ökonomischen Druck – politischen Druck auf Gesetzgebung und Rechtsprechung in Richtung einer Irrationalisierung ausübt, stimmen die verfassungsrechtlichen Eckdaten nicht mehr. All das muß meines Erachtens erwogen werden; natürlich muß man mit der Pressefreiheit, die selber Produkt freiheitlichen und aufklärerischen Denkens ist, behutsam umgehen. Aber der Staat, der zur Vermeidung individueller Unvernunft bei gewichtigen Konflikten in Form des ihm staatlichen Strafverfahren angewandten staatlichen Strafrechts vorbildlich wirken sollende „Protektorate“ eingerichtet hat, sollte sich mit Nachdruck dagegen zur Wehr setzen, daß individuelle Bürgerirrationalität durch staatliche und gesellschaftliche kollektive Irrationalität abgelöst wird. Dazu gehört der Schutz von konkreten Individuen, konkreten Verfahren und der mit ihnen verbundenen Rationalität (und Humanität) vor dem zerstörerischen Verwertungszugriff der Medien, dazu gehört aber auch, daß der Staat die oben skizzierten Grundlagen rationaler Kriminalpolitik wieder stärker beachtet. Dazu bedarf es in Anbetracht der geschilderten Interessenlagen vieler Nadelstiche aus Praxis und Wissenschaft. Rainer Hamm hat insoweit als Verteidiger und als Wissenschaftler schon segensreich gewirkt und wird das, daran besteht für mich kein Zweifel, auch weiterhin tun.
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Vgl. nochmals die engagierte Kritik von Thomas Leif (Fn. 18).
Marginalien zum Ablehnungsrecht – Zur Dienstlichen Äußerung des abgelehnten Richters – Christian Richter II
Es gehört zu gern gepflegter Sitte im Bereich der Festschriftkultur, in den Beiträgen an das literarische und berufliche Lebenswerk des Geehrten anzuknüpfen. Von diesem Brauch abzuweichen, besteht angesichts der vielfachen literarischen Zeugnisse und der Breite des anwaltlichen Engagements von Rainer Hamm nicht der geringste Anlaß. Warum also nicht zurückgehen zu den Wurzeln, also der Dissertation des Jubilars aus dem Jahre 1973: Der gesetzliche Richter und die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit. Die Auswahl dieses Themas – was immer sie seinerzeit konkret veranlasst haben mag – kann im nachhinein sicherlich nicht als Zufall gewertet werden, sie ist vielmehr Ausdruck des sichereren Gespürs des Jubilars für das Wesentliche im Strafprozeß. Das Ablehnungsrecht mit in das Zentrum des Strafprozesses und des Strafprozeßrechts zu stellen, entspricht der Sicht des Strafverteidigers.1 Das Ablehnungsrecht ist – in diesem Sinne vergleichbar dem Beweisantragsrecht – ein wesentliches Einfallstor, dem Gestaltungswillen des Strafverteidigers zumal in Grenzfällen, zum Durchbruch zu verhelfen und so die Gestaltungshoheit des Gerichts maßgeblich in Frage zu stellen. So wie gerichtliche Aufklärungspflicht und Beweisantragsrecht richtig verstanden keine Antipoden
1 Ganz anders die Intention der Trierer Dissertation von Werdel Rechtsgeschichtliche und vergleichende Studie zum strafprozessualen Befangenheitsrecht. Deren Autor versperrt sich allerdings einer seriösen Auseinandersetzung mit seiner restriktiven Auffassung, wenn er sich zur Aufhellung des Hintergrundes der neuen Blüte des Ablehnungsrechts der organisierten Kriminalität und dem Terrorismus mit der Überlegung zuwendet: „Der geschichtliche Überblick hat gezeigt, dass es Organisierte Kriminalität bzw. ähnliche Phänomene schon seit über eintausend Jahren gibt, wenn auch in verschiedenen Ausformungen und unter unterschiedlichen Bezeichnungen. Gesetzgeber und Strafverfolgungsorgane reagieren darauf mit besonderen Gesetzen und Verfahren. (Fn:) Man denke an die straffere Prozessführung im römischen Kaiserreich, der Verfolgung landschädlicher Leute oder der Juden und Polen im Nationalsozialismus.“ (S. 169) So eine deutsche Dissertation im Jahre 2001. Ob der Verfasser wohl ein Ablehnungsgesuch eines polnischen Gastarbeiters, der dem Vorwurf gemeinschaftlicher Spargelunterschlagung ausgesetzt ist, gegen sich als Richter für begründet halten würde?
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sind, sondern sich gegenseitig ergänzen – wenn man so will: zwei Seiten derselben Medaille – so ergänzen sich richterliche Unabhängigkeit und das Ablehnungsrecht des Beschuldigten, beide bedingen einander. Sicherlich kann die richterliche Unabhängigkeit von außen gefährdet werden. Die Palette ist weit: Sie beginnt mit „geschickter“ Handhabung der Personal- und Beförderungspolitik, mit Manipulation von Geschäftsverteilungsplänen und endet nicht beim massiven öffentlichen Druck mit die Verurteilung antizipierender Vorverurteilung. Noch gefährlicher aber ist die Gefährdung der richterlichen Unabhängigkeit von innen her, vom Richter selbst. Ist in ihm bereits ein festes Bild von Schuld oder Unschuld des Täters, vom Ablauf eines Tatgeschehens und dem Ob und Wie der Beteiligung eines Beschuldigten hieran entstanden, bevor das Gesetz ihm dieses gestattet – also beim Tatrichter vor Ende der Beweisaufnahme –, so ist er befangen im Sinne des Gesetzes, weil er nicht (mehr) unparteilich ist (arg. § 24 Abs. 2 StPO). Ein Ablehnungsrecht, das auf die Feststellung der Parteilichkeit des Richters abstellt, würde jedoch ins Leere gehen und sich notwendigerweise auf Abnormitäten und Skurrilitäten beschränken. (Auch) heute sind Richter, die einem Angeklagten erklären: „Ich werde Sie verurteilen, komme da, was wolle“, eher im Fernsehen als in der justitiellen Realität zu finden. Das „kluge“ Gesetz stellt deshalb eh und je nicht auf die Befangenheit eines Richters, sondern auf die Besorgnis von dessen Befangenheit ab. Besorgnis ist begründetes Mißtrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters, so wiederum das Gesetz. Entscheidend geht es also um den Ablehnungsgrund, von ihm hängt der Erfolg eines Ablehnungsgesuchs ab. Über den Ablehnungsgrund hat sich der abgelehnte Richter dienstlich zu äußern; § 26 Abs. 3 StPO. Dabei tritt in Strafverfahren immer wieder eine Unsicherheit über den – notwendigen – Inhalt einer dienstlichen Äußerung des abgelehnten Richters auf. Dies wird exemplarisch deutlich dadurch, daß sich Dienstliche Äußerungen immer wieder auf die Mitteilung beschränken Ich fühle mich nicht befangen, hin und wieder mit Zusätzen garniert wie: Ich habe an dem fraglichen Beschluss mitgewirkt. Wird gegen solche Dienstlichen Äußerungen seitens der Verteidigung opponiert, weil diese nicht den gesetzlichen Anforderungen an eine Dienstliche Äußerung entsprechen, so wird hierzu beispielsweise wie folgt judiziert: „Eine dienstliche Äußerung mit dem Inhalt „Ich fühle mich nicht befangen“ genügt den gesetzlichen Anforderungen, wenn nicht zugleich zu inhaltlich streitigen tatsächlichen Sachverhalten dienstlich Stellung genommen werden soll. Etwas anderes ergibt sich inhaltlich auch nicht aus den im Ablehnungsgesuch […] angeführten Zitaten, in den betreffenden Kom-
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mentaren. Eine solche dienstliche Äußerung – so die Rechtsauffassung der hier erkennenden Richter – lässt klar und deutlich erkennen, dass der abgelehnte Richter aus seiner Sicht das Ablehnungsvorbringen für unzutreffend hält. Mit dem Fehlen weiterer Zusätze zu der Erklärung „Ich fühle mich nicht befangen“ zeigt ein abgelehnter Richter zugleich an, dass er die Entscheidungsfindung über das gegen ihn gestellte Ablehnungsgesuch aus Gründen der Neutralität durch die dazu berufenen anderen Richter in keiner Weise beeinflussen will. Hiervon abgesehen – so die Rechtsauffassung der hier erkennenden Richter – besteht mangels einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung ein Beurteilungsspielraum des abgelehnten Richters, in welcher Weise er sich dienstlich äußern will.“ 2 Tatsächlich ist die Literaturlage zum strafprozessualen Ablehnungsrecht eher unbefriedigend. So meint Zwiehoff in dem Vorwort zu ihrer Monografie Der Befangenheitsantrag im Strafverfahren einleitend feststellen zu können: „Eine in sich abgeschlossene Abhandlung zur Praxis des Befangenheitsrechts existiert bislang nicht.“ 3 Eher stiefmütterlich wird in der Kommentarliteratur insbesondere die Frage der Dienstlichen Äußerungen des abgelehnten Richters behandelt, obwohl sie für das Befangenheitsrecht als Teil der Interaktion zwischen den Verfahrensbeteiligten von gar nicht zu überschätzender Bedeutung ist. Ich möchte mich an dieser Stelle mit der Dienstlichen Äußerung in Form der Mitteilung der persönlichen Befindlichkeit zu dem Befangenheitsgesuch etwas näher befassen. Beginnen wir mit der Neukommentierung des Befangenheitsrechts in der 26. Auflage des Löwe-Rosenberg. Dort schreibt Siolek: „Die Pflicht, sich zum Ablehnungsgrund zu äußern, beinhaltet eine sachliche Stellungnahme zu den behaupteten Tatsachen und darf sich demzufolge nicht auf die lapidare und unmaßgebliche Erklärung beschränken, dass sich der Richter nicht befangen fühlt. Eine derartige Erklärung kommt einer Verweigerung der Abgabe gleich und kann Grundlage für ein neues Ablehnungsgesuch sein.“ (§ 26 Rn 26) Bei Wendisch fehlte in der Vorauflage (§ 26 Rn 20) noch jedes Wort zum Inhalt einer Dienstlichen Äußerung. Für sein Postulat, die Dienstliche Äußerung dürfe sich nicht auf die Erklärung beschränken, daß sich der Richter nicht befangen fühlt, zitiert Siolek HK-Lemke 4 sowie AK-Wassermann.5 Ein Blick in weitere straf2
Beschluss des LG Köln vom 7.3.2007 – 109-11/06, S. 6. Berlin 2003 – was freilich allenfalls für das strafprozessuale Befangenheitsrecht gelten kann; vgl. nur Egon Schneider Befangenheitsablehnung im Zivilprozeß, Herne/Berlin 1993. 4 StPO, 3. Aufl., § 26 Rn 16. 5 StPO 1988, § 26 Rn 5. 3
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prozessuale Kommentarliteratur führt nicht zu wesentlichen vertiefenden Erkenntnissen, dies gilt auch für den sonst oft so hilfreichen Burhoff, Handbuch für die strafrechtliche Hauptverhandlung.6 Auch Zwiehoff versagt sich insoweit.7 In den Argumenten von Tatrichtern, warum sie sich auf die fragliche Äußerung – Ich fühle mich nicht befangen – beschränken, wird häufig das Beratungsgeheimnis ins Feld geführt: dies verwehre einem Richter, soweit seine Mitwirkung an einer Kollegialentscheidung zur Debatte stehe, jegliche diesbezügliche Erörterung von Wortlaut und Sinngehalt. Dieses Argument jedenfalls ist systemwidrig. Im Rahmen von Nichtabhilfeentscheidungen bei strafprozessualen Beschwerden ist es nämlich durchaus üblich, jedenfalls aber zulässig,8 daß ein Gericht sich mit dem Beschwerdevorbringen gegen eine Kollegialentscheidung auseinandersetzt, ohne daß insoweit das Beratungsgeheimnis entgegen stehen soll. Zurück zu Siolek: Lapidar und unmaßgeblich soll die fragliche Erklärung des abgelehnten Richters sein. Läßt aber der dem Richter eingeräumte Beurteilungsspielraum, auf den sich das LG Köln aaO beruft, eine solche Äußerung überhaupt zu? Mit leichter Hand beiseiteschieben läßt sich insoweit wohl das unterstützende Argument des LG Köln, mit einer solchen Erklärung werde die Neutralität der zur Ablehnungsentscheidung berufenen Richter besonders gewahrt und geschützt. Schließlich handelt es sich bei der Pflicht zur Abgabe einer Dienstlichen Äußerung gemäß § 26 Abs. 3 StPO um einen Gesetzesbefehl! Diesem substantiell und umfassend nachzukommen, kann die Aufgabe des AblehnungsRichters nur erleichtern, nicht ihr schaden. Wo die strafprozessuale Literatur den Rechtsanwender ziemlich alleine läßt, hilft ein Blick über den Zaun, in diesem Fall in die Zivilprozeßordnung hinein. Ich hatte schon früher Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß in Zivilprozeßkommentaren – und der entsprechend dort zitierten Rechtsprechung – bestimmte Dinge seit Jahren in luzider Klarheit behandelt werden, zu denen sich das Strafprozeßrecht erst mühsam durchringen mußte. Hierbei ging es damals darum, ob es für das Recht der Auskunftsverweigerung gemäß § 55 StPO, was die Gefahr der Strafverfolgung anbelangt, auf Inhalt und Tendenz der Frage oder aber auf die – wahrheitsgemäße! – Antwort ankommt.9
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5. Aufl., Münster 2007, vgl. dort Rn 49. AaO, S. 81. 8 Meyer-Goßner StPO, 50. Aufl., § 307 Rn 9. 9 Richter II Auskunft über die Verweigerung, in: Festgabe Friebertshäuser, 1997, S. 157 (161 ff) = Strafverteidiger 1996, 457 f. 7
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Ist man auf diese Art und Weise grenzüberschreitend tätig, so fällt der Blick sofort auf die Abhandlung von Egon Schneider.10 Der großartige Didakt und wunderbare „Nestbeschmutzer“ äußert sich dort über die Dienstliche Äußerung immerhin acht Randziffern lang (81–88). Wir lesen trefflich: „Die schriftlich abzufassende dienstliche Äußerung des Richters ist genau zu lesen. Findet sich darin der völlig überflüssige, aber immer wieder zu lesende Satz „Ich fühle mich nicht befangen“ dann deutet er darauf hin, daß der Richter mit dem Ablehnungsrecht nicht vertraut ist. Es kommt natürlich nicht auf seine Gefühle an, sondern auf das objektive Geschehen.“ 11 Noch munterer klingt es bei Schneider, Die dienstliche Äußerung des abgelehnten Richters: 12 „In zahlreichen Fällen erschöpft sich die dienstliche Äußerung in dem stupiden Satz: „Ich fühle mich nicht befangen.“ […] Solche „dienstlichen Äußerungen“ sind ebenso töricht und rechtlich unerheblich wie wenn der Erstrichter im Beschwerde- oder im Berufungsverfahren dem übergeordneten Gericht treuherzig versichern würde, er halte das Rechtsmittel für unbegründet. Im Ablehnungsrecht kommt es ganz allein auf die Sicht der ablehnenden Partei an, niemals darauf, ob der Richter sie teilt. Wenn es irgend etwas im Ablehnungsverfahren gibt, was rechtlich unerheblich ist, dann ist es die Erklärung des abgelehnten Richter, er fühle sich nicht befangen. Solche Äußerungen gehören daher von vornherein nicht in eine dienstliche Äußerung. Verfahrensrechtlich sind sie sogar unzulässig, weil der abgelehnte Richter nicht legitimiert ist, auf diese Weise „durch die Blume“ die Zulässigkeit oder Begründetheit des Ablehnungsantrages zu bewerten. Die subjekte Einstellung eines abgelehnten Richters kann nur dadurch erheblich werden, daß er sich selbst ablehnt (§ 48 ZPO).“ Schneider bringt es auf den Punkt. Die Äußerung Ich fühle mich nicht befangen ist nicht nur lapidar und unmaßgeblich (Siolek), sie ist nicht nur völlig überflüssig und stupide (Schneider), sondern „sogar unzulässig“ (Schneider). Sie ist unzulässig, weil das Ablehnungsgesuch eines Angeklagten dem abgelehnten Richter weder Veranlassung noch Rechtfertigung bietet, sich zu etwas zu äußern, was bei ihm nicht angefragt ist, und weil er mit dieser Äußerung sein vollkommenes Unverständnis gegenüber dem Wesen des Ablehnungsgesuchs eines Angeklagten äußert. Seine – des Angeklagten – persön10 11 12
Siehe Fn. 2. Rn 83. MDR 1998, 455.
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liche Befindlichkeit im Hinblick auf die Befangenheit des Richters wird mit dem Ablehnungsgesuch zur Debatte gestellt, nicht die des Richters: Besorgnis (subjektiv) der Befangenheit (objektiv) – darum und nur darum geht es. Ein Richter, der sich gleichwohl dazu äußert, ob er sich befangen fühlt, stellt seine Gefühlswelt, seine Einschätzung zu seiner eigenen Befindlichkeit dar. Damit läßt er erkennen, daß diese für ihn maßgebend ist: Ein grotesker Rollentausch, mit dem das Anliegen eines Ablehnungsführers grundsätzlich, welche Argumente er auch immer haben mag, negiert und konterkariert wird. Wer aber so seine richterliche Aufgabe verkennt, gibt seiner Befangenheit Ausdruck, jedenfalls muß oder kann doch ein Angeklagter dies so empfinden. Freilich ist dies noch keine Erkenntnis, die sich allgemein durchgesetzt hätte. Dienstliche Äußerungen, in denen die Formulierung Ich fühle mich nicht befangen enthalten ist, werden in der Rechtsprechung vielfach als sozusagen normal hingenommen. Dies gilt vor allem für die Rechtsprechung des BFH,13 aber auch andern Orts.14 Eine Dienstliche Äußerung des abgelehnten Richters, er fühle sich nicht befangen, wird sogar als alleiniger Inhalt einer Dienstlichen Äußerung anerkannt, wenn der für das Ablehnungsgesuch erhebliche Sachverhalt unstreitig feststeht. Dies läßt mich jedoch nicht daran irrewerden, daß die Abgabe einer Dienstlichen Äußerung mit der Erklärung Ich fühle mich nicht befangen in hohem Maße und eindeutig willkürlich ist und als willkürliche Rechtsanwendung ihrerseits wiederum mit Recht einem – nach allgemeiner Ansicht zulässigen – erneuten Ablehnungsgesuch unterliegt. Es ist auf der anderen Seite wenig hilfreich, als Verteidiger die Anforderung an Dienstliche Äußerungen zu überspannen. Von Gesetzes wegen ist weder ein persönliches Credo noch ein Besinnungsaufsatz gefordert. Insoweit vermittelt Gregor Vollkommer 15 den richtigen Maßstab: „Die dienstliche Äußerung des abgelehnten Richters […] dient der Beweiserhebung über den Ablehnungssachverhalt. Es handelt sich um die gleiche Art dienstlicher Äußerung, wie sie beispielsweise auch bei der Prüfung von im Freibeweisverfahren festzustellender Prozeßvoraussetzungen und Verfahrensfehler eingeholt wird. Inhaltlich enthält sie eine Gegendarstellung oder Bestätigung des Ablehnungsvorbringens. Zulässigkeit und Begründetheit des Ablehnungsgesuchs sind nicht ihr Gegenstand.“ 13 BFH Beschluss vom 7.4.1988 – X B 4/88; BFH Beschluss vom 29.3.1997 – II B 36/94; BFH/NV 1997, 780 f. 14 OLG Braunschweig NJW 1976, 2004 (2005); OLG Köln NJW 1973, 57 (letzteres eine zivilprozessuale Entscheidung); Landessozialgericht Niedersachsen Beschluss vom 26.9.2001 – L 4 B 202/01 KR. 15 Der ablehnbare Richter, Tübingen 2001, S. 168.
Marginalien zum Ablehnungsrecht
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Umgesetzt wird dies fortlaufend in der Rechtsprechung des BFH. Pars pro toto sei folgendes zitiert: 16 „[…] richten sich die Anforderungen, die an Inhalt und Umfang der dienstlichen Äußerung zu stellen sind, nach dem jeweils geltend gemachten Ablehnungsgrund, d.h. nach dessen Art und Begründung. Wird die Besorgnis der Befangenheit – wie im Streitfall – aus einer im Rahmen einer richterlichen Entscheidung bekundeten, vom Antragsteller für fehlerhaft gehaltenen Rechtsansicht hergeleitet, so darf sich die dienstliche Äußerung nach dem zuvor Gesagten auf eine mehr oder weniger allgemein gehaltene Aussage beschränken.“ Und schließlich „kann der Richter u.U. auch ein zu beanstandendes Verhalten durch Klarstellung und Entschuldigung beseitigen.“ 17 In diesem Sinne stellte der BGH fest: „Die Relevanz eines in diesem Sinne unbedachten Verhaltens eines Richters kann dieser freilich unter Umständen durch Klarstellung und Entschuldigung beseitigen, spätestens im Rahmen der dienstlichen Erklärung nach § 26 III StPO. Eine solche Chance hat der abgelehnte Vorsitzende hier nicht genutzt.“ 18 Deshalb hat der BGH eine Verurteilung wegen Mordes und wegen vorsätzlicher Körperverletzung zu lebenslanger Freiheitsstrafe aufgehoben. Und schon früher beklagte der BGH, daß mit der Nichteinholung einer Dienstlichen Äußerung des abgelehnten Vorsitzenden „zugleich die Chance vertan worden (ist), durch den Inhalt einer dienstlichen Erklärung des Vorsitzenden den bei vorläufiger Betrachtung erweckten Eindruck zu beseitigen, er habe als Reaktion auf den Beweisantrag unangemessenen Druck auf die Pflichtverteidigerin ausgeübt.“ 19 Man sieht also: Häufig kann der Richter es noch „richten“ – Unbefangenheit vorausgesetzt.20
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BFH vom 7.4. 1998 – X B 4/88. Meyer-Goßner aaO § 26 Rn 14. 18 BGH NStZ 2006, 49. 19 BGHR § 338 Nr. 3 Revisibilität 1. 20 Der von Werdel aaO S. 256 f, verlangten Änderung der Judikatur zur Realisierung einer „Heilungs-Konzeption“ zugunsten des abgelehnten Richters bedarf es also nicht. 17
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Nachwort Nach Abgabetermin dieses Beitrags und Redaktionsschluss dieser Festschrift wurde der Beschluss des BGH vom 24.7.2007 – 4 StR 236/07 (StraFo 2007, 464) bekannt, der die vorstehenden Ausführungen jedenfalls teilweise zur Makulatur zu machen droht: Nach dem BGH sollen Dienstliche Äußerungen „verzichtbar (sein), wenn der Sachverhalt geklärt ist“. Nach dieser Auffassung entfiele die Pflicht abgelehnter Richter zur Abgabe einer Dienstlichen Äußerung in weitem Umfang, nämlich jedenfalls immer dann, wenn Anlass des Ablehnungsverfahrens schriftlich niedergelegte richterliche Verlautbarungen wären. Ein Grundpfeiler des strafprozessualen Ablehnungsrechts wäre damit beseitigt, der Charakter des Ablehnungsverfahrens geändert. Aber: Hat der BGH nicht fehlgegriffen? Zum einen negiert der BGH-Beschluss einen Gesetzesbefehl („Der abgelehnte Richter hat sich über den Ablehnungsgrund dienstlich zu äußern“, § 26 III StPO). Dem Strafrichter zu empfehlen, einem Gesetzesbefehl zu widerstreiten, wo er doch gerade dabei ist, Gesetzverstöße zu sanktionieren, erscheint verwunderlich. Näher sollte liegen, den Gesetzesbefehl sinnvoll zu interpretieren. Es drängt sich eine Assoziation zu den Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts in seiner Entscheidung vom 14.6.2007 zur Verfassungsgemäßheit von § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO auf, in der es heißt: „Der Respekt vor dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber verbietet es dem Bundesverfassungsgericht, eine gesetzliche Vorschrift aufzuheben, wenn diese durch Interpretation in den Grenzen des Grundgesetzes aufrechterhalten werden kann (..) und dabei ihren Sinn nicht verliert (..).“ (Wistra 2007, 377, 381) Eine solche Interpretation drängt sich – zum anderen – geradezu auf. Gegenstand der Dienstlichen Äußerung soll der Ablehnungsgrund sein. Ablehnungsgrund ist die „Besorgnis der Befangenheit“ (§ 24 I StPO) in der Person des Beschuldigten (vernünftig und verständig!). Dazu also hat sich der abgelehnte Richter zu äußern, nicht (nur) zum Anlass für die Besorgnis, der unstreitig sein mag. Was sonst machte es auch für einen Sinn, daß der BGH – vgl. den Schluss des vorstehenden Beitrags – Aufgabe und Funktion der Dienstlichen Äußerung auch und gerade darin sieht, die Relevanz seines Verhaltens durch Klarstellung und Entschuldigung zu beseitigen (oder auch nur zu relativieren)?
Bruchstellen eines Menschenrechts: Schweigen gefährdet Franz Salditt I. Gefährdung durch Bruchstellen im Recht 1. Gewillkürt oder zufällig Manche Bruchstellen werden konstruiert, um sie zu nutzen. Man kann sie gewillkürt nennen. Dies trifft etwa auf den Versuch zu, Gefangene in entlegene Räume zu dislozieren, wo die Inanspruchnahme von Menschenrechten scheitern muß. Auch haben wir erlebt, daß unbequeme normative Strukturen durch Einordnung von Straftätern als Feinde, aus der Perspektive eines angeblichen Notstands oder des Opfers umgestürzt und neu definiert werden sollen. Gelegentlich eines Einzelfalls sind in Deutschland Unklarheiten sogar zum Folterverbot aufgekommen.1 Am Ende der bei uns dazu geführten Auseinandersetzung besteht aber der breite Konsens über das zentrale Menschenrecht auf Verweigerung fort. Danach darf niemand gezwungen werden, zur Strafverfolgung gegen sich selbst beizutragen (Nemo-Tenetur-Prinzip).2 1 Zum Fall Daschner LG Frankfurt NJW 2005, 692; BVerfG 14.12.2004 NJW 2005, 656; EGMR 10.4.2007 NJW 2007, 2461; Erb NStZ 2005, 593 ff; K. H. Schumann StV 2006, 661 ff. Zum Fall Motassadeq OLG Hamburg NJW 2005, 2326: Dort wird auf Art. 15 des Übereinkommens gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe von 1984 (UN-Anti-Folter-Übereinkommen) verwiesen, das ein innerstaatlich unmittelbar geltendes und in Strafverfahren zu beachtendes Verbot der gerichtlichen Verwertung von durch Folter herbeigeführten Aussagen enthält und sowohl bei Foltermaßnahmen inländischer Staatsorgane als auch bei im Ausland durch Organe anderer Staaten mit Einsatz von Folter herbeigeführten Aussagen eingreift. Anders der UK Court of Appeal 8.11.2004; er hält durch Folter erlangte Beweismittel nur für unverwertbar, when directly procured by UK agents or in whose procurement UK agents have connived. Die Prozeßregeln für Sondertribunale in Guantanamo sollen die Verwertung von Aussagen zulassen, die unter Drohungen erzwungen wurden (SZ v. 16.2.2007). Inzwischen stellen sich die durch den US Military Commissions Act (MCA) eingerichteten Tribunale aber selbst in Frage und gibt es Bestrebungen, den Gefangenen von Guantanamo das HabeasCorpus-Recht zur Anfechtung der Haftgründe vor ordentlichen Gerichten in den USA zu eröffnen (FAZ v. 6./8.6.2007). 2 Eine ausdrückliche Normierung enthält der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Zivilpakt) vom 16.12.1966, der in Deutschland am 23.3.1976 in Kraft
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Trotz der wiederhergestellten nationalen Harmonie bleibt ein Hauch von Unbehagen. Es gibt auch Bruchstellen, die sich zufällig herausbilden, wenn Antworten auf neue Fragen gefunden werden müssen. Ob zum Beispiel ein mutmaßlicher Kleindealer in einer über Stunden andauernden gewaltsamen Prozedur festgehalten und fixiert werden darf, um ihm Brechmittel durch eine Nasen-Magen-Sonde zu verabreichen, damit er ein sogenanntes Bubble mit eingeschweißtem Kokain als Beweismittel ausspeie, ist umstritten. Das Bundesverfassungsgericht konnte in diesem Fall grundsätzliche Bedenken im Hinblick auf Menschenwürde und Selbstbelastungsfreiheit nicht teilen.3 Der Straßburger Gerichtshof (EGMR) dagegen hat die Maßnahme beanstandet: Sie sei unmenschlich im Sinne von Art. 3 MRK und verletze damit zugleich das Recht auf Selbstbelastungsfreiheit nach Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK.4 Recht ist, wie das Common Law schon lange weiß, was Richter dafür halten. In solchen Fällen kommt es auf die Personen an, die zur Entscheidung berufen sind, und darauf, wer sie nach welchen Kriterien auswählt.5 Zufällige Bruchstellen können sich, wenn sie nicht zugeschüttet werden, zu breiten Gräben entwickeln und die Landschaft verändern. 2. Komplizierte Hochrüstung Haben wir Anlaß, darüber nachzudenken? Der erste Anschein deutet auf ein enges normatives Netz hin. Menschenrechte auch im Strafverfahren sind durch die MRK geschützt, auf der Ebene der EU jedenfalls durch deren Achtung 6 , aber auch durch die Charta der Grundrechte. Diese hat im Jahre 2000 zunächst der damit beauftragte Konvent verabschiedet. Am 29. Oktober 2004 ist die Charta in das Verfassungsprojekt des Europäischen Konvents eingegangen. Ihre Präambel bekräftigt die Rechte der MRK und nimmt die
getreten ist (BGBl. 1973 II S. 1534). Dort heißt es in Art. 14 Abs. 3 lit. (g), daß niemand gezwungen werden darf, gegen sich selbst auszusagen oder Schuld einzuräumen. Zur Individualbeschwerde auf dieser Grundlage: B. Schäfer AnwBl. 2006, 794 ff. 3 BVerfG 15.9.1999 StV 2000, l m. Anm. Naucke. 4 EGMR 11.7.2006 Jalloh ./. Deutschland NJW 2006, 3117 = StV 2006, 618. 5 Nach Georg Nolte in: Der Mensch und seine Rechte, hrsg. von G. Nolte u. H.-L. Schreiber, Göttingen 2003, S. 86 ff, 97, lassen sich die USA auf keine weltweite Instanz zum Schutz der Menschenrechte ein, weil sonst die Gefahr bestünde, „daß eine Mehrheit von Richtern aus anderen Staaten, insbesondere aus Entwicklungsländern, zu stark abweichenden Interpretationen der Menschenrechte gelangen würde.“ Die USA wollten die „Interpretationshoheit“ behalten. Im Blick auf das Urteil des BVerfG v. 21.6.1977 zur lebenslangen Freiheitsstrafe für Mord (BVerfGE 45, 187 = NJW 1977, 1525) hat diese Betrachtungsweise ihren guten Grund. „Das Urteil darüber, was der Würde des Menschen entspricht, kann … nur auf dem jetzigen Stande der Erkenntnis beruhen und keinen Anspruch auf zeitlose Gültigkeit erheben.“ 6 Grabenwarter in: Tettinger/Stern, Europäische Grundrechte-Charta, München 2006, B III Rn 5 mN.; zuletzt EuGH v. 3.5.2007 StraFo 2007, 238.
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Judikatur des EGMR in Bezug. Schon heute, also vor dem ungewissen Inkrafttreten, gilt die Charta als wesentliche Erkenntnisquelle, mit der die Rechte der Gemeinschaftsordnung entfaltet werden.7 Die ausdrückliche Verknüpfung der Charta zugleich mit den Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten und deren Bindung durch die MRK stellt einen dreidimensionalen Verbund her, bei dem alle Teile aufeinander einwirken. Auch ohne die subtilen Mechanismen im Einzelnen nachzuvollziehen, darf man für Europa feststellen, daß sich die Menschenrechte in einem Zustand komplizierter Hochrüstung befinden. Da aber dieser Schutz bislang eher auf rhetorischer Begeisterung zu beruhen scheint, ist Vorsicht angebracht. Das soll an dem strafprozessualen Recht auf Schweigen überprüft werden.8 Es eignet sich für die Probe, weil an dieser Stelle die staatlichen und die bürgerlichen Interessen besonders hart aufeinanderstoßen.9 Wie sich zeigen wird, gehen die Betrachtungen auseinander. Zum Teil wird das Menschenrecht besser durch deutsche Richter, zum Teil konsequenter durch den EGMR geschützt. In beiden Fällen gibt es Entwicklungen, die den Schutz des Rechts auf Verweigerung gefährden. 7 H.D. Jarass EU-Grundrechte, München 2005, S. 13 f mN. Nach der Einigung der Staats- und Regierungschefs der EU soll die Charta (außer im Vereinigten Königreich und z.T. auch in Polen) rechtsverbindlich werden. Ob sie in den Anhang des anstelle der Verfassung vorgesehenen neuen Grundlagenvertrages aufgenommen wird, war bei Drucklegung noch offen. 8 Eine systematische Gesamtdarstellung bietet H. Matt Nemo tenetur se ipsum accusare – Europäische Perspektiven, GA 2006, 323 ff. Matt analysiert auch die aktuellen Entwicklungen. Diese Gesamtdarstellung wird abgerundet durch J. Vogel/H. Matt Gemeinsame Standards für Strafverfahren in der Europäischen Union, StV 2007, 206 ff, wobei die hier interessierende Problematik auf S. 213 besprochen wird. Zur rechtspolitischen Entwicklung auch: H. Wächtler Verfahrensrechte in Strafsachen in Europa, StV 2007, 220 ff. Nach Fertigstellung dieses Beitrags ist die Diss. Lutz Eidams, Die strafprozessuale Selbstbelastungsfreiheit am Beginn des 21. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2007 erschienen. 9 Das Grünbuch der Kommission über Verfahrensgarantien in Strafverfahren vom 19.2.2003 (KOM 2003 75) und der dazu vorgelegte Entwurf eines Rahmenbeschlusses vom 28.4.2004 (KOM 2004 328) blieben bislang folgenlos (dazu B. Rudolf/L. Giese ZRP 2007, 113). 6 von insgesamt 27 Mitgliedstaaten haben dem Projekt, das Mindeststandards auf dem Niveau der MRK verbindlich machen wollte, schon früh widersprochen. Damit war der Rahmenbeschluß, der Einstimmigkeit voraussetzt, gescheitert. Im ersten Halbjahr 2006 wurde darüber verhandelt, Verfahrensgarantien nur für die Delikte des EU-Haftbefehls zu schaffen, sie auf grenzüberschreitende Vorgänge zu beschränken oder einen bloßen Appell zu verabschieden. Alternativ gab es Überlegungen, den opponierenden Mitgliedstaaten im Rahmenbeschluß eine Austrittsoption (opt out) einzuräumen oder umgekehrt einen entkernten Rahmenbeschluß zu verabschieden, der den Mitgliedstaaten in weitergehendem Umfang eine Eintrittsoption gewährt (opt in). Auch solche Lösungen ließen sich aber, wie die Sitzung des Rats am 13.6.2007 ergab, nicht durchsetzen (der Widerstand kam vom Vereinigten Königreich, von Irland, von Tschechien, der Slowakei, von Malta und Zypern). Aus deren Sicht war das Drängen der Deutschen eine PR-Maßnahme, um zu zeigen, „daß sie nicht nur die Polizeiarbeit in der EU verbessern wollten, sondern sich auch um Menschenrechte kümmerten“ (SZ v. 14.6.2007).
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II. Schweigen als Indiz 1. Gefährdung durch Common Sense, Anschein und Vermutung a) Inhumanes Schweigen? Das Schweigen des Beschuldigten stört nicht nur die Polizei. Im Februar diesen Jahres hat der SPIEGEL 10 über eine Hauptverhandlung vor dem Landgericht Hannover wegen Mordes berichtet. Die Freundin des Angeklagten und beider gemeinsame Tochter sind seit dem 15. Juli 2006 verschwunden. In der Wohnung und in einem vom Angeklagten gemieteten Leihwagen wurden Blutspuren der jungen Mutter gefunden. Der Angeklagte schwieg, und im Spiegel hieß es dazu: „Es ist unbestritten sein Recht. Doch nicht von jedem Recht muß Gebrauch gemacht werden. Der Inhaber eines Rechts kann auch darauf verzichten, wenn die Pflicht, die einem Recht meistens auf dem Fuß folgt, so herandrängt wie (in diesem) Fall … Wie kann einer auf seinem Schweigerecht beharren, wenn ihm ein Vater und eine Mutter gegenübersitzen, die die Ungewißheit, was mit Tochter und Enkelkind geschehen ist, schier zerreißt? … Darf er das Leid der Eltern noch steigern, indem er ungerührt auf seinem Vorteil besteht? Selten prallen geschriebenes und ungeschriebenes Recht so hart aufeinander …“ 11 Das Schweigerecht hält, wie sich hier zeigt, dramatische Konflikte schlecht aus. Die erfahrene Journalistin des Spiegel empfand seine Inanspruchnahme als inhuman. Handelt es sich also um einen Komfort, der nur zur Verfügung stehen soll, wenn es gefällt, vorzugsweise wenn aus unserer Sicht Unschuldige schweigen wollen? b) Konstruktion und Dekonstruktion Verteidigung durch Schweigen wird in der Menschenrechtskonvention nicht erwähnt, in der Charta nicht und übrigens auch nicht im Grundgesetz. 10 Nr. 8/2007 (Gisela Friedrichsen). Über den Ausgang des Verfahrens (Verurteilung wegen Mordes) berichtete die SZ am 21.3.2007. 11 Das vollständige Zitat lautet: „Es ist unbestritten sein Recht. Doch nicht von jedem Recht muß Gebrauch gemacht werden. Der Inhaber eines Rechts kann auch darauf verzichten, wenn die Pflicht, die einem Recht meistens auf den Fuß folgt, so herandrängt wie (in diesem) Fall … Wie kann einer auf seinem Schweigerecht beharren, wenn ihm ein Vater und eine Mutter gegenübersitzen, die die Ungewißheit was mit Tochter und Enkelkind geschehen ist, schier zerreißt? Haben (die Hinterbliebenen) nicht ein Recht darauf, an einem Grab zu trauern? Dieses Recht steht im Gegensatz zum Schweigerecht des Angeklagten in keinem Gesetzbuch. Doch es ist im Gewissen eines jeden Menschen, der noch über ein Quentchen Humanität verfügt, verankert. Wie hält P. das Schweigen aus? Darf er das Leid der Eltern noch steigern, indem er ungerührt auf seinem Vorteil besteht? Selten prallen geschriebenes und ungeschriebenes Recht so hart aufeinander …“.
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Zu den konstituierenden Elementen des Strafverfahrens gehört aber das Gebot der Fairneß (Art. 6 Abs. 1 MRK). Das hat der Straßburger Gerichtshof den an der Konvention beteiligten Staaten mehrfach ins Stammbuch geschrieben.12 Nach Art. 6 Abs. 2 MRK gilt zudem jede Person, die wegen einer Straftat verfolgt wird, bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als unschuldig. Wir können nachlesen, was dies bedeutet. Erstens – Richter dürfen nicht mit der vorgefaßten Meinung (preconceived idea) ans Werk gehen, der Beschuldigte habe die ihm zur Last gelegten Taten begangen.13 Zweitens – der berühmte burden of proof is on the prosecution.14 Und – drittens – respektiert die Befragung des Angeklagten die Unschuldsvermutung nur dann, wenn ihm keine Pflicht zur Antwort auferlegt ist.15 Das normierte Menschenrecht auf vermutete Unschuld hängt daher von einer in der Konvention scheinbar ungeregelten Bedingung ab: Es kommt darauf an, daß der Beschuldigte zugleich durch ein Menschenrecht auf Schweigen geschützt ist.16 Schweigen aber muß man sich leisten können. Und das funktioniert nur, wenn aus dem Schweigen keine nachteiligen Schlußfolgerungen (adverse inferences) gezogen werden dürfen. Dazu hat der Menschenrechtsgerichtshof sich (im Urteil John Murray ./. Vereinigtes Königreich vom 8. Februar 1996) 17 ausdrücklich bekannt. So weit, so gut. Doch wird dieses Recht, das der Strafjustiz ein hohes Maß an Disziplin abverlangt, in den Gründen dieser Entscheidung durch bedenkliche und verwaschene Ausnahmen ausgehöhlt. So soll das Schweigen in einer Lage, die von dem darüber belehrten Beschuldigten eindeutig eine Erklärung erwarten lasse, bei der Beweiswürdigung zu dessen Nachteil berücksichtigt werden können.18 Muß folglich der vom SPIEGEL kritisierte Angeklagte oder muß 12 Nachweise bei Robert Esser Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, Berlin 2002, S. 400. 13 Esser (Fn 12) S. 624 mN. 14 Esser (Fn 12) S. 403. 15 EGMR Kamasinski ./. Österreich Serie A Nr. 168, §§ 24, 49, 94–95; Esser (Fn 12) S. 615. 16 EGMR Funke ./. Frankreich Serie A Nr. 256 – A, § 44. Der EGMR entnimmt dieses Recht dem Gebot fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK). J ./. Schweiz Urt. v. 3.5.2001 NJW 2002, 499; Shannon v. Vereinigtes Königreich Nr. 6563/03 v. 4.10.2005 unter ausführlichem Hinweis auf Weh v. Austria Nr. 38544/92 v. 8.4.2004: Das Schweigerecht und das Recht auf Freiheit von Selbstbelastungszwang gehören zum Herz des fairen Verfahrens (Art. 6 Abs. 1 S. 1 MRK). Die Freiheit von Selbstbelastungszwang ist eng mit der Unschuldsvermutung verknüpft (Art. 6 Abs. 2 MRK). Dazu Esser aaO Fn 12, S. 520 ff mN. 17 EGMR EuGRZ 1996, 587; Reports 1996-I, § 45; Esser (Fn 12) S. 522 ff; Kühne EuGRZ 1996, 571 f; Frank Meyer Die Aussagefreiheit und das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung, GA 2007, 15 ff. 18 § 47 des Urteils („obvious that these immunities cannot and should not prevent that the accused’s silence, in situations which clearly call for an explanation from him, be taken into account in assessing the persuasiveness of the evidence adduced by the prosecution“); Esser (Fn 12) S. 524.
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der unglückliche Mitbürger, in dessen Badewanne eine Leiche gefunden wird, aussagen, um nicht bereits a priori für schuldig befunden zu werden? Die Straßburger Richter meinen, es sei mit der Konvention vereinbar, wenn der gesunde Menschenverstand bestimmte Schlüsse (common-sense implications) aus der Verweigerung einer Erklärung ziehe und dies nach den Umständen des Falles weder als unfair noch als unangemessen anzusehen sei.19 Wessen Ehefrau nach lautem Streit unter Hinterlassung ihrer gesamten Kleidung einschließlich des Schuhwerks verschwunden bleibt, der sollte sich deshalb vor dem gesunden Menschenverstand der Juristen in Acht nehmen, falls er die Sache beschweigen will. Zugleich knüpft der Gerichtshof daran an, daß die Anklage einen prima facie case against the accused, also einen sich aufdrängenden typischen Anschein, geführt hat.20 Ist das der Fall, wenn die verschwundene Ehefrau zuvor Dritten gegenüber Angst vor einem Mordanschlag ihres Mannes geäußert hatte? Antworten auf solche Fragen finden wir im Urteil John Murray nicht, wohl aber den ominösen Gedanken, die Tatsachenaufklärung durch einen erfahrenen Berufsrichter könne eine belastende Würdigung des Schweigens eher zulassen als vor einer Jury.21 Das sind Bruchstellen des im Strafprozeß wichtigsten Menschenrechts, sich der Aufklärung zu verweigern und stumm zu bleiben. c) Kein Einzelfall Bruchstellen enthält die Rechtsprechung der Straßburger Richter auch in ähnlichem Zusammenhang. Der Fall Salabiaku ./. Frankreich betraf einen Angeklagten, der wegen Schmuggels verurteilt worden war, weil er einen Koffer mit 10 kg Cannabis in Empfang genommen hatte.22 Das Strafgericht stützte den Schuldspruch auf eine in Frankreich geltende Vorschrift, wonach der Besitzer nicht deklarierter Gegenstände sich nur durch den Nachweis höherer Gewalt exkulpieren kann. Dabei ging es, wie der EGMR unter Würdigung der einzelnen Umstände meint, um eine vertretbare Vermutung (presumtion). Sie gibt Anlaß zum Reden und dazu, noch die letzten Karten aufzudecken. Hierzu zwingt ferner das Urteil Pham Hoang ./. Frankreich.23 Pham Hoang war wegen Zollvergehens schuldig gesprochen worden. Auch ihm, bei dem 19
§ 51 des Urteils; Esser (Fn 12) S. 525. § 51 des Urteils; Esser (Fn 12) S. 526. 21 § 51 des Urteils; Esser (Fn 12) S. 525. 22 EGMR Salabiaku ./. Frankreich Serie A Nr. 141 – A, §§ 27 bis 28; Esser (Fn 12) S. 742 f. 23 EGMR Pham Hoang ./. Frankreich Serie A Nr. 243, § 36; Esser aaO (Fn 12) S. 743 f Zur einschlägigen Rspr. des EGMR K. Gaede Fairneß als Teilhabe – Das Recht auf konkrete und wirksame Teilhabe durch Verteidigung gemäß Art. 6 EMRK, Berlin 2006, S. 230 (232 f) mN. Über Unschuldsvermutung und „Beweislastumkehr“ insbesondere bei vermuteten 20
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inkriminierte Sachen sichergestellt worden waren, oblag gesetzlich der Entlastungsbeweis, den er nicht führen konnte. Mag sein, daß die Gesamtumstände das Urteil selbst dann getragen hätten, wenn es keine solche Vermutung gäbe. Die ausdrückliche Hinnahme der Regelung durch den Straßburger Gerichtshof ermuntert aber dazu, das Schweigerecht auszuhöhlen. Auch dies bedroht das wichtigste Menschenrecht im Strafverfahren. Wer sich gegen Common Sense, Anschein oder gesetzliche Vermutungen wehren will, muß seine Unschuld zunächst einmal erklären, damit sie bewiesen werden kann. In solcher Lage hilft Schweigen nicht mehr. 2. Gefährdung durch Kodifizierung Die EU-Kommission hat sich soeben in ihrem Grünbuch zur Unschuldsvermutung aus dem Jahre 2006 an den Menschenrechtsgerichtshof angelehnt und aus dessen Judikatur eine Sammlung vermeintlicher Prinzipien entwickelt.24 Vor der Illusion, ihr Text sei der mißlungene Probeschuß unzuständiger Beamter, sollten wir uns hüten. Die Grundrechte nämlich sind mit der eingangs erwähnten Charta 25 und mit dem als Entwurf vorliegenden Verfassungsvertrag 26 längst ein europäisches Thema geworden. Schon gewinnt der EuGH wesentliche Erkenntnisse daraus,27 als habe die Ratifizierung stattgefunden. In welchem Maße einzelne Teile der kodifizierenden Charta freilich nur Grundsätze und keine durchsetzbaren Rechte vermitteln werden, das gilt bereits heute als offen und wird der Auslegung überlassen.28 Wie bei der Menschenrechtskonvention ist hier die Rede von einem living instrument, was dem Regelwerk einen evolutiven und dynamischen Charakter geben soll.29 Damit wird dem Richter Macht verliehen. Die deutsche Rechtslage spielt in diesem Zusammenhang nur eine untergeordnete Rolle, weil primär auf die „gemeinsamen“ Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ab-
Früchten des Verbrechens: H. Lilje FS Friedrich-Christian Schroeder, Heidelberg 2006, S. 829 ff Zur Zulässigkeit schuldunabhängiger Strafvoraussetzungen nach deutschem Recht: H. Frister Schuldprinzip, verbotene Verdachtsstrafe und Unschuldsvermutung als materielle Grundprinzipien des Strafrechts, Berlin 1988, S. 46 ff, 78 ff. 24 KOM (2006) 174 endg.; dazu mit beachtlicher Kritik Frank Meyer (Fn 17): Die Bezugnahme auf den EGMR in Sachen Murray suggeriere, daß damit in erster Linie belastende Folgewirkungen gemeint seien (aaO S. 17). 25 H. D. Jarass EU-Grundrechte, aaO (Fn 7) S. 9. 26 H. D. Jarass (Fn 25) S. 10 ff. 27 H. D. Jarass (Fn 25) S. 14 mN. 28 H.D. Jarass (Fn 25) S. 100 mN. 29 H. D. Jarass (Fn 25) S. 24 mN. Nach Gaede (Fn 23) S. 92, können geänderte Rahmenvoraussetzungen und Auffassungen der europäischen Gesellschaft eine geänderte Rspr. des EGMR zur Folge haben.
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gehoben und eine ebenfalls zur Fortentwicklung auffordernde Annäherungsperspektive entworfen wird.30 Vor diesem Hintergrund werden zukünftig auch von Brüssel Einflüsse auf die nationale Grundrechtsdogmatik und auf das Verständnis der Menschenrechte ausgehen, die sich zu Brüchen entwickeln können. Das betrifft nicht nur die Unterscheidung zwischen Individualrechten und Prinzipien. Die Charta präsentiert die Unschuldsvermutung in Art. 48 (2000) bzw. in Art. II-108 Abs. 1 (2004). Das Schrifttum hält sie für einschränkbar gemäß Art. 52/II-112 Abs. 1.31 Einschränkungen, so heißt es in diesem Teil der Charta, dürfen vorgenommen werden, wenn die Verhältnismäßigkeit gewahrt wird und sie „den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen“ entsprechen. Dieser Text ermöglicht restriktive Korrekturen eher, als sie zu verbieten. Da der Gesetzesvorbehalt außerdem als Rechtsatzvorbehalt eingestuft wird, dem jedenfalls in den Ländern des Common Law Richterrecht gleichstehen soll,32 wird die Bruchstelle weit geöffnet sein. Dies lädt die Promotoren einer schlanken Strafjustiz ein, die Reichweite der Unschuldsvermutung zu verkürzen und, soweit es im Interesse der funktionsfähigen Rechtspflege darauf ankommen soll, gegebenenfalls in einen Grundsatz zu verwandeln, bei dem es sich nicht mehr um ein Individualrecht handeln würde. Absatz 7 der Charta-Präambel nämlich spricht in auffälliger Einheitsrhetorik von Rechten, Freiheiten und Grundsätzen.33 Der Text läßt es auch zu, daß Einschränkungen etwa der Unschuldsvermutung durch den Straßburger Gerichtshof ohne weiteren Akt in das Recht der Europäischen Union überspringen können. Die Judikatur des EGMR und die Charta sollen, so heißt es, durch einen „Schrankentransfer“ verknüpft sein.34 Nach 30
H. D. Jarass (Fn 25) S. 25 mN; Lindner ZRP 2007, 55 f: Lindner bezeichnet Art. 52 der Grundrechte-Charta als Harmonisierungsklausel, die einen Gleichlauf anstrebe, wobei freilich nach Art. 53 die Menschenrechte und Grundfreiheiten der EMRK und der Verfassungen der Mitgliedstaaten in ihrer Geltung unangetastet bleiben. 31 H. D. Jarass (Fn 25) S. 464 mN. 32 H. D. Jarass (Fn 25) S. 78 mN. Aus der Sicht von Richtern des Common Law kann es gegen den Beschuldigten verwertet werden, wenn dieser Verteidigungsvorbringen vor der Polizei verschwiegen hat. Die Verwertbarkeit hängt dann davon ab, daß das Gericht entscheidet, es sei „vernünftig“ (reasonable) gewesen, das Verteidigungsargument (Beispiel: Notwehr) schon gegenüber der Polizei zu offenbaren. Daraus hat sich eine „normative Erwartung“ entwickelt, daß Beschuldigte Fragen der Polizei beantworten, durch welche die Praxis beeinflußt worden ist (im Einzelnen: Cape, Hodgson, Prakken, Spronken (Hrsg.) Suspects in Europe, Antwerpen/Oxford 2007, S. 69 f). 33 H. D. Jarass (Fn 25) S. 100 f; Jarass selbst hält die Unschuldsvermutung aber nicht für einen bloßen Grundsatz: S. 465. 34 H. D. Jarass (Fn 25) S. 75 mN. Soweit es den EuGH betrifft, steht nach Gaede (Fn 23 S. 72) „die Geltung der Menschenrechte etwa bei der Selbstbelastungsfreiheit bislang unter dem Vorbehalt, daß sie die effektive Verwirklichung des kollektiven Integrationszieles nicht beeinträchtigen darf.“
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Art. II-112 Abs. 3 des entworfenen Verfassungsvertrages haben die Rechte der Charta „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ wie ihre Entsprechung in der MRK. Das Prinzip der EMRK-konformen Auslegung 35 wird die notwendigerweise auf Einzelfälle beschränkte Straßburger Auslegung deshalb in einen allgemeinen Standard verwandeln. Dieser hat innerhalb der Zuständigkeiten der Europäischen Union (in ungewisser Zukunft) den Rang des Verfassungsvertrages und damit von Primärrecht. Es bleibt nur eine Frage der Zeit, bis auf einem solchen Wege die kasuistisch differenzierenden Ansätze des EGMR, obwohl das europäische Recht die stärkeren einzelstaatlichen Grundrechte nicht aushebeln soll,36 Eingang in Erwägungen und Auslegungen auch der nationalen Rechtsprechung finden werden.
III. Erzwungene Angaben als Beweis 1. Gefährdung durch Abwägung a) Flucht aus dem juristischen Himmel Aus deutscher Sicht bewahrt das Schweigerecht davor, zur eigenen Strafverfolgung beizutragen. Unser kollektives historisches Gedächtnis erinnert sich an Folter und Diktatur. Deshalb wurzelt das Recht auf Verweigerung unmittelbar in der Achtung vor der Menschenwürde.37 Wer durch eine Vorschrift, die außerhalb des Straf- und Strafprozeßrechts gilt, zu einer Erklärung verpflichtet ist, mit der er sich strafbaren Verhaltens bezichtigen muß, wird folglich im Strafprozeß geschützt. Die erzwungenen Angaben sind dann dort, wie das Bundesverfassungsgericht für das Verhältnis zwischen Gemeinschuldner und Insolvenzverwalter bestätigt hat, nicht gegen seinen Willen verwertbar.38 Seit der berühmten Herdegen-Kommentierung zu Art. 1 Abs. 1 GG 39 hat die Herleitung des als Nemo-Tenetur bezeichneten Rechts aus der Menschenwürde aber keine feste und gegen Einschränkungen gesicherte Grundlage mehr. Ein wesentlicher Teil der Ausführungen steht unter der Überschrift „Wertungs- und Abwägungsgebundenheit des Verletzungsurteils“.40 35
A. Weber in: Tettinger/Stern, aaO Fn 6, B V Rn 16 ff S. 224. Art. 53 der Grundrechte-Charta. 37 BVerfGE 38, 105 (113); BGHSt 38, 214 (220 f). Positiven Ausdruck hat dieses Recht in Art. 14 Abs. 3 lit. (g) des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte gefunden. 38 BGHSt 38, 214 (221) m. Hinw. auf BVerfGE 56, 37 ff; BGHSt 37, 340 (343). 39 In Maunz/Dürig, GG, München 2005. 40 Wie vor R 43 zu Art. 1 Abs. 1 GG; allerdings hat Herdegen bei der Darstellung des Schutzes vor Selbstbezichtigung (aaO Rn 82) auf eine derartige Abwägung verzichtet. 36
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Herdegen hält die bislang herrschende Neigung, im Anschluß an Dürig vielfältige Rechte aus dem „Menschenwürdegedanken“ abzuleiten, für eine „Flucht in den juristischen Abstraktionshimmel.“ 41 Damit wendet er sich gegen „heikle Grundrechtsdeduktionen aus der Menschenwürde“,42 und so könnte die hochrangige Kommentierung zur Bruchstelle eigener Art werden. b) Großes oder kleines Risiko der Selbstpreisgabe Haarfeine (nationale) Bruchstellen des Rechts auf Verweigerung lassen sich in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs 43 bereits erkennen. Dies hängt mit einer jüngeren Entwicklung des Steuerrechts zusammen, die sich allerdings nur dem detailfreudigen Betrachter erschließt. Bekanntlich sind sogenannte nützliche Abgaben heute als strafbare Zuwendungen an Amtsträger und Angestellte nach § 4 Abs. 5 Nr. 10 EStG kein abzugsfähiger Aufwand mehr. Informationen darüber, die das Finanzamt aus einer Steuererklärung oder etwa einer Betriebsprüfung erlangt, muß es an die Staatsanwaltschaft weiterreichen (§ 4 Abs. 5 Nr. 10 Satz 3 EStG). Die Mitteilungspflicht überwindet das Steuergeheimnis. Soweit sie auf gesetzlich vorgeschriebene Angaben des Steuerpflichtigen zurückgreift, trägt dieser damit zu seiner eigenen Strafverfolgung bei. Diese Regelung dient keinen fiskalischen, sondern punitiven Zwecken. Ähnliche Öffnungen zum Strafrecht hin enthält das Steuerrecht neuerdings im Zusammenhang mit illegaler Beschäftigung und Leistungsmißbrauch (§ 31a AO) sowie allgemein im Zuge der Bekämpfung der Geldwäsche (§ 31b AO). Dadurch wird das Finanzamt zum Verrichtungsgehilfen der Polizei. Zwar gewährt § 393 Abs. 2 Satz 1 AO, wenn der Steuerpflichtige gegenüber der Finanzbehörde eine Tat aufdecken muß, die keine Steuerstraftat ist, ein strafrechtliches Verwertungsverbot. Der Bundesgerichtshof hat dieses Verwertungsverbot aber unter Hinweis auf §§ 393 Abs. 2 Satz 2, 30 Abs. 4 Nr. 5 AO wegen zwingenden öffentlichen Interesses an der Verfolgung von Korruption ausdrücklich verneint. Das Urteil vom 5. Mai 2004 44 betrifft einen Bestochenen, der mit seinem illegalen Zufluß steuerpflichtig geworden war. Darin lesen wir: „In Anbetracht der überragenden Bedeutung der in § 30 Abs. 4 Nr. 5 AO genannten Rechtsgüter für ein ordnungsgemäß funktionierendes Gemeinwesen wird dem Steuerpflichtigen demnach die Erklärung auch solcher
41
Wie vor Rn 18 f zu Art. 1 Abs. 1 GG. Wie vor Rn 21 zu Art. 1 Abs. 1 GG. Grundlegend zur Frage, ob Menschenwürde eine Leerformel sei: P. Tiedemann Was ist Menschenwürde? Darmstadt 2006, S. 49 f, 173 ff. 43 Dem liegt freilich keine Berufung auf Herdegen zugrunde. 44 wistra 2004, 391 (393). 42
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Einkünfte zugemutet, durch deren Offenbarung er in den Verdacht einer Straftat geraten und durch die er sich der Gefahr der Strafverfolgung aussetzen kann.“ Das verlangt dem Bürger Selbstpreisgabe ohne Verwertungsverbot ab. Zum faktischen Ausgleich hat der Bundesgerichtshof einen schwachen indirekten Schutz eröffnet, indem er es als naheliegend bezeichnet, „an die Konkretisierung der gebotenen steuerlichen Erklärungen möglicherweise niedrigere Anforderungen zu stellen als sonst nach § 90 AO geboten.“ 45 Der Steuerpflichtige, darauf läuft dieser Rat hinaus, muß die Früchte in der Steuererklärung zwar offenlegen, darf aber verheimlichen, aus welcher Quelle der inkriminierte Teil seines Einkommens herrührt. Daran hat der 5. Strafsenat in der Entscheidung zum Kölner Müllskandal vom 2. Dezember 2005 46 festgehalten. Der Bestochene könne die insoweit erwirtschafteten Einkünfte beziffern und einer Einkunftsart zuordnen, ohne die genaue Einkunftsquelle zu benennen. Das reiche zu einer Festsetzung von Einkommensteuer aus und gerate „regelmäßig“ nicht in Konflikt mit dem „verfassungsrechtlich verbürgten Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit.“ Wenn der durch solche Angaben aufmerksam gewordene Finanzbeamte vom Steuerpflichtigen (nach §§ 93ff AO) weitere Erläuterungen fordert, die aus Gründen zwingenden öffentlichen Interesses strafrechtlich verwertbar wären, sollen sich auch diese wiederum auf die betragsmäßigen Einkünfte beschränken dürfen. Darüber, welche Schlüsse die Finanzbehörde aus einer derart auffälligen Zurückhaltung des Steuerpflichtigen ziehen würde, hat der Bundesgerichtshof ersichtlich nicht nachgedacht. Auch erwägt er nicht, was es bedeutete, wenn der Leiter des Bauamts einer mittleren Stadt unbenannte sonstige Einkünfte gemäß § 22 Nr. 3 EStG in Höhe von 500.000,00 € in seine Steuererklärung aufnähme, ohne dies weiter zu substantiieren. Deshalb muß erwartet werden, daß ein korrupter Bürger, der sich auf entsprechend allgemeine Angaben einließe, für den indirekten Ermittlungsansatz selbst sorgen und sich der alsbaldigen Strafverfolgung ausliefern würde. Der Versuch des 45 Der BGH hat außerdem ausgeführt, das gefundene Ergebnis – eine steuerliche Erklärungspflicht im Hinblick auf erhaltene Schmiergelder – sei verfassungsrechtlich und konventionsrechtlich (Art. 6 Abs. 1 MRK) nur dann hinnehmbar, wenn bei der Rechtsfolgenentscheidung der enge zeitliche und sachliche Zusammenhang zwischen der Bestechlichkeit und der Steuerhinterziehung berücksichtigt wird und dem durch eine straffe Zusammenziehung der zu verhängenden Einzelstrafen Rechnung getragen wird. Dies erfordert einen Strafrabatt. Zum Vergleich: Nach US-amerikanischem Recht hat der Stpfl. in ähnlicher Lage gegenüber der Steuerbehörde ein Auskunftsverweigerungsrecht, das er allerdings auch geltend machen muß. Dazu Sabine Stetter Die Lösung der Fälle mittelbarer Selbstbelastung durch Erfüllung steuerrechtlicher Erklärungspflichten, Diss. Greifswald 2005, S. 58 ff. 46 Wistra 2006, 96 (104).
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Bundesgerichtshofs, zwischen großen und kleinen Gefahren der Selbstoffenbarung zu unterscheiden, um dem Betroffenen das vermeintlich geringere Risiko zuzumuten, führt in die Irre. 2. Abhilfe a) durch das Bundesverfassungsgericht? Die zitierte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist kontrovers.47 Das Bundesverfassungsgericht hat den Wegfall des Verwertungsverbots bislang nur bei freiwilligen Angaben im Rahmen einer Selbstanzeige bestätigt.48 Dabei ging es gerade nicht um erzwungene Steuererklärungen. Die Entscheidung führt dennoch in einem interessanten obiter dictum weiter aus: „Das verfassungsrechtlich gebotene Schweigerecht im Strafverfahren wäre illusorisch, wenn eine außerhalb des Strafverfahrens erzwungene Selbstbezichtigung gegen seinen Willen strafrechtlich gegen ihn verwendet werden dürfte. Eine zwangsweise herbeigeführte Selbstbezichtigung ist daher verfahrensrechtlich nur dann zulässig, wenn sie mit einem strafrechtlichen Verwertungsverbot einhergeht.“ Mit der Unterscheidung greift das Bundesverfassungsgericht auf den Gemeinschuldnerbeschluß 49 zurück, wonach erzwungene Offenbarungen strafrechtlich unverwertbar sind. Auch diese Bastion ist aber bedroht, seitdem der Bundesgerichtshof angeboten hat, harte Auskunftspflichten durch weiche steuerliche Erklärungen zu unterlaufen. Das erweckt den Anschein, der Steuerpflichtige könne seine Angaben auf ein Niveau absenken, mit dem keine Entdeckung mehr verbunden wäre. Aus einer solchen (freilich irrigen) Sicht wird Selbstbezichtigung nicht erzwungen. Übrigens hat das Bundesverfassungsgericht schon bei früherer Gelegenheit offengelassen, ob § 393 Abs. 2 Satz 2 AO, der das Verwertungsverbot bei zwingendem öffentlichen Interesse aufhebt, dem Grundgesetz Stand hält.50 Es gibt Anzeichen dafür, daß dies bejaht werden könnte. In einem anderen Zusammenhang hat das Bundesverfassungsgericht das Schweigerecht des
47 Kohlmann Steuerstrafrecht, Köln 2006, Rn 79.6 ff zu § 393 AO mN; W. Joecks Der nemo-tenetur-Grundsatz und das Steuerstrafrecht, FS Kohlmann, Köln 2003, S. 551 ff; K. Rogall Das Verwendungsverbot des § 393 II AO, FS Kohlmann, aaO, S. 465 ff; F. Heerspink AO-StB 2006, 51 ff; R. Spatscheck NJW 2006, 641 ff; M. Wulf wistra 2006, 89 ff; v. Briel StraFo 2006, 99 ff (101 f); Verf. Menschenwürde und Steuerpflicht – Was soll erklärt, muß befürchtet, darf geraten werden? StuW 2005, 367 ff mN. 48 BVerfG 15.10.2004 NJW 2005, 352 f = wistra 2005, 175 (BGH wistra 2004, 309 [312 f]; dazu kritisch L. Eidam wistra 2004, 412 ff). 49 BVerfGE 56, 37 (41 f) = NJW 1981, 1431, 1432 f. 50 BVerfG 27.4.1988, wistra 1988, 308.
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Beschuldigten als „selbstverständliche(n) Ausdruck einer rechtsstaatlichen Grundhaltung“ bezeichnet, „die auf dem Leitgedanken der Achtung vor der Menschenwürde“ beruht.51 Dort war die Verfassungsbeschwerde erfolgreich, weil das „Grundrecht auf ein faires Verfahren nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG“ verletzt worden sei.52 Diese Formulierungen könnten auf eine flexible Rechtslage hindeuten, die nachgibt, wenn das öffentliche Interesse dazu veranlaßt.53 b) durch den Menschenrechtsgerichtshof? Im Falle einer so begründeten Verurteilung des bestochenen Amtsträgers könnte (nach Ausschöpfung innerstaatlicher Möglichkeiten) der EGMR angerufen werden. Bislang nämlich hat jedenfalls die wichtige Entscheidung der Straßburger Richter in Sachen Saunders v. Vereinigtes Königreich vom 17. Dezember 1996 54 den mit amtlichen Auskunftsersuchen konfrontierten Bürger davor zu bewahren versucht, auf einem solchen Wege zur eigenen Strafverfolgung beitragen zu müssen. Dort war es um den strafrechtlichen Beweiswert einer verwaltungsrechtlichen Untersuchung wegen des Verdachts der Kursmanipulation gegangen. Die Beteiligten hatten daran wahrheitsgemäß mitwirken müssen. Sie wurden im weiteren Verlauf (auch) aufgrund ihrer eigenen Angaben strafrechtlich verurteilt. Die strafrechtliche Verwertung der unter Zwang erteilten Auskünfte hat aus Sicht des damit befaßten EGMR das Nemo-Tenetur-Recht verletzt. Die Richter blieben konsequent und haben es ausdrücklich abgelehnt, davon wegen eines „vital public interest“ an der Strafverfolgung eine Ausnahme zuzulassen. Die einschlägige Stelle schützt stärker als die deutsche Regelung und soll deshalb wörtlich zitiert werden: The public interest cannot be invoked to justify the use of answers compulsorily obtained in a non-judicial investigation to incriminate the accused during the trial proceedings. 51 BVerfG 7.7.1995, StV 1995, 505 mN. Allgemein spricht das Bundesverfassungsgericht von der Menschenwürde als tragendem Konstitutionsprinzip und oberstem Verfassungswert (zuletzt BVerfG 15.2.2006, NJW 2006, 751 ff, zum Luftsicherheitsgesetz). 52 BVerfG 7.7.1995 (Fn 51); zur Ableitung des fairen Verfahrens aus Art. 2 Abs. 1 GG und dem in Art. 20 Abs. 3 GG verwurzelten Rechtsstaatsgebot BVerfG 14.6.2007 StV 2007, 393, 396. 53 Das ist auch erkennbar, soweit die Unschuldsvermutung, die sich im Falle des Schweigens bewähren muß, als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips verstanden wird: BVerfGE 74, 358 (370); 82, 106 (114); NStZ 1991, 30; NJW 1994, 377; OLG Hamm StV 1992, 284; OLG Hamburg NStZ 1992, 130. Schon BVerfGE 19, 342 sprach einschränkend von der „grundsätzlichen“ Unschuldsvermutung. 54 http://wordlii.org/eu/cases/ECHR/1996/65.html; vgl. auch zum Steuerstrafrecht EGMR J. ./. Schweiz Urt. v. 3.5.2001, NJW 2002, 499; grundsätzlich Shannon ./. Vereinigtes Königreich Nr. 6563/03 Urt. v. 4.10.2005 unter Hinweis auf Weh ./. Austria Nr. 38544/97 v. 8.4.2004.
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Der Bundesgerichtshof hat den Menschenrechtsgerichtshof freilich nicht zitiert.55 Es bleibt trotzdem offen, ob auf Abhilfe aus Straßburg gehofft werden darf. Die Richter des EGMR haben ihre Saunders-Entscheidung aus dem Gebot fairen Verfahrens abgeleitet und in einen engen Zusammenhang mit der Unschuldsvermutung gestellt. Der Sammelbegriff des fairen Verfahrens ist unbestimmt; im Fall John Murray ./. Vereinigtes Königreich hat er zugelassen, daß dem freien Schweigen Grenzen gesetzt werden können.56 Das Urteil darüber, ob das Recht auf faires Verfahren verletzt worden ist, erfordert eine Abwägung aller Umstände des Falles (a matter to be determined in the light of all the circumstances).57 Damit wird eine Tendenz erkennbar, welche die Ausprägungen fundamentaler Menschenrechte mit allgemeinen Begriffen verbindet, denen nachvollziehbare Konturen fehlen. Das lädt zu Kompromissen und richterlichen Korrekturen ein. Besonders eindrucksvoll zeigt dies die schon zitierte Entscheidung zum Fall Jalloh ./. Deutschland.58 Dort wird das öffentliche Interesse an der Verfolgung der konkreten Straftat in die Gesamtabwägung der Fairneß aufgenommen, und zwar ausdrücklich bis zur Grenze einer Aushöhlung des Rechts auf Selbstbelastungsfreiheit.59 Diese Methode stellt jedes Ergebnis zur Disposition der Richter. So ist Menschenrecht, was die Richter dafür halten. c) durch Wissenschaft? Auf europäischer Ebene geht es bei der Überprüfung um das faire Verfahren, in Deutschland um das Rechtsstaatsprinzip. Dies macht der Umgang mit der Unschuldsvermutung deutlich, die das Spiegelbild des Schweigerechts 55 Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts (NJW 2004, 3407 [3409 f]) erfordert die über das Zustimmungsgesetz ausgelöste Pflicht zur Berücksichtigung der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Entscheidungen des EGMR zumindest, daß die entsprechenden Texte und Judikate zur Kenntnis genommen werden und in den Willensbildungsprozeß des zu einer Entscheidung berufenen Gerichts, der zuständigen Behörde oder des Gesetzgebers einfließen. Das nationale Recht ist unabhängig von dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens nach Möglichkeit im Einklang mit dem Völkerrecht auszulegen. 56 AaO (Fn 17) §§ 41, 45. 57 John Murray aaO (Fn 17) § 47. Gaede aaO (Fn 23) S. 148 ff, weist zutreffend darauf hin, daß die wegen der Gesamtabwägung undurchschaubar gewordenen Einzelfallentscheidungen des EGMR sich kaum dazu eignen, in Rechtsnormen umgesetzt zu werden. 58 AaO (Fn 4). 59 Wörtlich heißt es in dem Urteil: „Um jedoch zu bestimmen, ob das Verfahren in seiner Gesamtheit fair gewesen ist, kann das Gewicht des öffentlichen Interesses an der Verfolgung der konkreten Straftat und der Bestrafung des Täters berücksichtigt und gegen das Interesse des Einzelnen abgewogen werden … Allerdings dürfen Erwägungen öffentlichen Interesses keine Maßnahmen rechtfertigen, welche die Verteidigungsrechte … einschließlich des Rechts auf Selbstbelastungsfreiheit … aushöhlen …“.
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ist.60 Stuckenbergs umfassende Untersuchung 61 definiert die Unschuldsvermutung als „Aspekt des Rechtsstaatsprinzips“; 62 ihre Einordnung wird „als Unterfall des rechtsstaatlichen Gebotes eines fairen Verfahrens“ beschrieben.63 Frank Meyer konstatiert eine „erstaunliche Entzauberung“.64 Im deutschen Recht sei keine materielle Grundlage vorzufinden, aus der die Unschuldsvermutung sich „zwingend ableiten“ lasse.65 Aus französischer Sicht kommt Henrion zu einem ähnlichen Ergebnis.66 Er hält die Unschuldsvermutung für einen allgemeinen Grundsatz, zu dessen Konkretisierung der Gesetzgeber berufen sei.67 Zu schlechten Zeiten könnten solche Betrachtungen der Einstieg in den Ausstieg werden. Angesichts der engen Verknüpfung mit der Unschuldsvermutung zieht deren Einordnung auch das Verständnis des Schweigerechts in Mitleidenschaft. Henrion bezeichnet das Recht auf Schweigen bereits ausdrücklich als „relativ“.68 Dabei sieht er selbst die Gefahr, dies könne zum Vorwand werden, das Schweigerecht auf Nichts zu reduzieren. Wörtlich: Il convient de se demander si la relativité du droit au silence n’est pas un prétexte pour le réduire à néant. Auch wenn von einer Verschwörung keine Rede sein kann, wirken die sich eröffnenden Möglichkeiten bedrohlich. Um die Fairneß des Verfahrens auszuloten, verrechnen die Straßburger Richter unterschiedliche Teile des Prozesses gegeneinander. Das deutsche Rechtsstaatsprinzip hat eine institutionelle Dimension, bei der das Individuum nicht zum Maß aller Überlegungen wird. Zwar halten Stuckenberg 69 und ihm beitretend Frank Meyer 70 an der Gewährleistung der überkommenen Mindeststandards fest. Doch setzt die Ableitung individueller Rechte, so Stuckenberg, zunächst eine „Gesamtschau“ voraus, aus der sich ergibt, ob eine gesetzliche Regelung die Grenzen der Grund- und Menschenrechte sprengt.71 Ähnlich wie bei der Prüfung der Verfahrensfairneß schafft auch diese „Gesamtschau“ Spiel60
Dazu oben Fn 53. Carl-Fiedrich Stuckenberg Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, Berlin/New York 1998. 62 Stuckenberg (Fn 61) S. 546 ff. 63 Stuckenberg (Fn 61) S. 547 mN; auf S. 548 spricht Stuckenberg von im Rechtsstaatsprinzip lokalisierten selbständigen Verfahrensgarantien wie dem Konzept des „Fair Trial“. 64 AaO (Fn 17) S. 26 mN. 65 Frank Meyer (Fn 17) S. 27 mN. 66 Hervé Henrion La nature juridique de la présomption d’innocence: comparaison franco-allemande, Montpellier, 2006. 67 Henrion (Fn 66) S. 508 unter Hinweis auch auf OLG Frankfurt NJW 1980, 2031. Auf S. 324 handelt Henrion das „Prinzip“ der Unschuldsvermutung ab. 68 Henrion (Fn 66) S. 806. 69 Stuckenberg (Fn 61) S. 549. 70 AaO (Fn 17) S. 27 ff, 30 ff. 71 Stuckenberg (Fn 61) S. 549 unter Hinweis auf BVerfGE 57, 250 (276). 61
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räume.72 Nach Stuckenberg löst sie sich letztlich in der abstrakten Frage auf, ob Einschränkungen „systemgerecht“ sind oder das gesetzliche Verfahren „desavouieren.“73 Ebenso wie das Straßburger Leitbild der Verfahrensfairneß erfordert mithin das deutsche Rechtsstaatsprinzip Abwägungen der in ihm angelegten „gegenläufigen Gebote und Ziele.“ 74 Darin treffen sich dieser und der europäische Ansatz. Geht das Menschenrecht in einer verallgemeinerten Begrifflichkeit auf, ist die Statik dahin. Ergebnisse werden dann durch eine Bilanzierung gewonnen, in der sich auch das Interesse an wirksamer Strafverfolgung niederschlägt. Insbesondere die Zuordnung der Unschuldsvermutung zum Rechtsstaatsprinzip 75 wird auch das Recht auf Verweigerung schwächen. Soweit der menschenrechtliche Kern des Strafverfahrens auf europäischer Ebene dem fairen Verfahren und in Deutschland dem Rechtsstaatsprinzip einverleibt wird, werden die Grenzziehungen dem Einzelfall und damit einer unberechenbaren richterlichen Dezision überlassen.76 Auf diesem Wege wird das strafprozessuale Menschenrecht verfügbar. Die Anrufung der Unschuldsvermutung wirkt auf dieser Grundlage nur noch als „rhetorische Verstärkung.“ 77 Zwar geht es Stuckenberg 78 und Frank Meyer um eine „funktionale Rekonstruktion.“ 79 Man muß aber befürchten, daß filigrane Argumente die um Abwägungen und Kompromisse bemühten Richter nicht mehr erreichen werden.80 Der Druck ist groß. Schon hat sich der Bundes-
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Stuckenberg (Fn 61) S. 549. Stuckenberg (Fn 61) S. 550. 74 So zuletzt BVerfG NJW 2007, 499 (503). 75 So Stuckenberg (Fn 61) S. 546; zur Rspr. oben Fn 53. 76 Henrion (Fn 66) S. 507 spricht von der Abhängigkeit von Kasuistik. 77 Frank Meyer (Fn 17) S. 27. 78 AaO (Fn 61) S. 519 ff. 79 Frank Meyer (Fn 17) S. 27. 80 Ähnliche Gefahren bestehen, wenn das Schweigerecht auf das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung gestützt würde. Dieses Recht unterliegt dem Schrankenvorbehalt des überwiegenden Allgemeininteresses (BVerfGE 65, 1 [44] = NJW 1984, 419). Damit ist auch eine an rechtsstaatlichen Garantien ausgerichtete Rechtspflege gemeint, der ein hoher Rang zukommt (BVerfGE 77, 65 (76) = NJW 1988, 329; BVerfGE 80, 367 (375) = NJW 1990, 563; BVerfG NJW 2001, 879 [880]). Im Ergebnis geht es dann um dieselben Abwägungen wie beim Rechtsstaatsprinzip. Di Fabio in: Maunz/Dürig, aaO (Fn 39) München 2006, Rn 187 zu Art. 2 Abs. 1 GG, versteht das Schweigerecht und als dessen Folge das Verwertungsverbot als „besondere Ausprägung des verfassungsrechtlich geschützten Selbstdarstellungsrechts“, welches das BVerfG dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung zuschreibe. Er zitiert in Fn 7 die Entscheidung des BVerfG v. 27.4.2000, NJW 2000, 3556 f, wonach die von den Strafverfolgungsbehörden initiierte sog. Hörfalle das Nemo-Tenetur-Recht nicht zwangsläufig verletzt. Immerhin: Nach dem Beschluß des BVerfG vom 15.10.2004 (wistra 2005, 175) „berührt bereits die gesetzliche Auferlegung einer Auskunftspflicht das allgemeine Persönlichkeitsrecht, wenn diese Pflicht darauf 73
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innenminister in einem Interview zum Kampf gegen den Terrorismus kritisch mit der Unschuldsvermutung auseinandergesetzt.81
IV. Institutionelle Gefahren 1. Die Bedingungen des Richteramts Für die EU wird der Europäische Gerichtshof in Luxemburg, insbesondere wenn der Verfassungsentwurf oder zumindest die darin eingegangene Charta wirksam werden sollten, zu den Wächtern der Grundrechte gehören. Er wird dann ausdrücklich berufen sein, rechtsstaatliche Prinzipien zu entwickeln, wie dies bereits seit langem richterrechtlich begonnen worden ist. Diese Aufgabe, die der Integration der EU-Mitgliedstaaten in einer gemeinsamen Rechtskultur diente,82 wird sich mit dem Konzept des Grundrechteteils des Verfassungsvertrages ändern. Bislang nämlich braucht der Blick des Luxemburger Gerichtshofs nur zwischen dem Gemeinschaftsrecht und den Rechtsordnungen der EU-Mitgliedstaaten hin und her zu wandern. Soweit die Straßburger Judikatur in die Betrachtung einbezogen wurde, diente das, wie der Begriff der Erkenntnisquelle zeigt, der Abwägung, ohne daß eine Übernahme geboten war. Künftig aber wird die Rechtsprechung des EGMR möglicherweise erstmals förmlich, sogar auf der Ebene des Verfassungsvertrages, in Bezug genommen sein. Die Rechte der Charta sollen nämlich fortan „die gleiche Bedeutung und Tragweite“ haben wie ihre Entsprechung in der MRK. Der EGMR wird diese dann nicht mehr nur für die an der Konvention beteiligten Staaten, sondern auch für die EU interpretieren. Das intensiviert den Einfluß. Zum einen sind die Mitgliedstaaten, wie schon bisher, als Vertragspartner der Konvention ohnehin bereits völkerrechtlich gebunden. Zum anderen wird dem EGMR damit indirekt auch auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts eine eigene und prägende Rolle zugewiesen. Eine solche Regelung muß tendenziell zur völligen Angleichung des Grundrechtsverständnisses der EU und der Rechtsprechung des EGMR führen. Die damit verbundene Blankoermächtigung an den Straßburger gerichtet ist, daß der Betroffene unter Umständen Informationen preisgeben muß, die ihn selbst belasten. Ein Beweisverwertungsverbot für das Strafverfahren folgt aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht aber nur im Hinblick auf solche Tatsachen, die aufgrund erzwingbarer Auskunftspflichten offenbart wurden.“ 81 Die FAZ vom 19.4.2007 zitiert den Bundesinnenminister wie folgt: „Die Unschuldsvermutung bedeutet im Kern, daß wir lieber zehn Schuldige nicht bestrafen als einen Unschuldigen zu bestrafen. Wäre es richtig zu sagen: Lieber lasse ich zehn Anschläge passieren, als daß ich jemanden, der vielleicht keinen Anschlag begehen will, daran zu hindern versuche? Nach meiner Auffassung wäre das falsch.“ Es bleibt unklar, ob der Minister dabei Strafrecht und das Recht der polizeilichen Gefahrenabwehr verwechselt hat. 82 Dazu Th. v. Danwitz Wächter der Gemeinschaft, FAZ v. 27.3.2007.
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Gerichtshof ist aber, wenn es beim Wortlaut der Charta und des Verfassungsvertrages bleibt, voreilig ausgestellt. An den Verfahren vor dem EGMR, die Inhalt und Grenzen der Menschenrechte festlegen, kann die EU sich nicht beteiligen. Diese Verfahren werden in einer großen Zahl der Fälle gegen Parteien betrieben, die der EU nicht angehören. Zudem werden beim Straßburger Gerichtshof häufig Richter mitentscheiden, deren Ausbildung und Karriere nicht in einem der Staaten der EU stattgefunden haben. Das Ergebnis wird Rechtsfindung ohne prozessuale Partizipation und ohne Einfluß auf die Auswahl der Richter sein.83 Jedenfalls die damit verbundene Richtung erscheint vorhersehbar. Der EGMR ist auf lange Sicht durch den massenhaften Anstieg von Eingängen überflutet. Gegenwärtig sind in Straßburg 90.000 Verfahren anhängig, bis zum Jahre 2010 soll sich diese Zahl fast verdreifachen.84 Wie die Presse berichtet, ist eine Reform, die dem Gericht die Auswahl der zur Entscheidung kommenden Fälle ermöglicht hätte, bislang am russischen Widerstand gescheitert, weil die „Aussortierung“ der „russischen Rechtstradition“ widerspreche.85 Die zunehmende Überflutung wird durch Eingänge aus den Staaten des ehemaligen Ostblocks verursacht. In den kommenden Jahren wird dies die Straßburger Rechtsprechung prägen. Die überwältigende Fülle der teils krassen Mißstände, die zur Entscheidung des Gerichtshofs anstehen, dürfte die Anforderungen an strafprozessuale Gerechtigkeit absinken lassen. Dazu werden Gewöhnungseffekte beitragen. Unter diesem Einfluß könnte sich ein Kurs des judicial restraint entwickeln, der davor zurückscheut, die Meßlatte (vermeintlich) unerreichbar hoch anzulegen. Die Rechtsprechung kann nicht zwischen einzelnen Staaten diskriminieren; der Verlust wird daher überall eintreten, wo die Menschenrechtskonvention gilt. Und wegen der normierten Verbindung mit dem Gemeinschaftsrecht der EU wird diese Verflachung des Schutzniveaus auch diese erreichen. So werden die Maschen des menschenrechtlichen Netzes nicht enger, sondern weiter werden. 83 Zuletzt hat der Präsident des BGH Günter Hirsch darauf hingewiesen, „daß der heutige Gesetzgeber der Ausfüllung, Anpassung und Fortbildung seiner Gesetze durch Richter Raum lassen muß“ (FAZ v. 30.4.2007). Der „Begriff Richterstaat“ verdiene keinen negativen Beigeschmack, sondern sei die Konkretisierung des Rechtsstaates (ebd.). Es liegt auf der Hand, daß eine solche Stellung der Richter nur hingenommen werden kann, wenn deren Auswahl in die verfassungsrechtlichen Strukturen eingebettet ist und wenn die Judikatur auf Verfahren mit Beteiligung der Betroffenen beruht. Das Arbeitspapier der EUKommission zur Grundrechte-Agentur v. 30.6.2005 (SEC 2005 849) enthält die Feststellung: The definitions of fundamental rights are open to interpretation (S. 5). Die sich daraus ergebenden Folgen für die Bedeutung des Richteramts sind offenkundig. 84 P. Fiebig NJW 2007 Innenseite VI, referiert die Zahlen und spricht von einem drohenden Kollaps. Bis 2010 werde ein Anstieg auf 250.000 anhängige Verfahren erwartet. Dem stehen beim BVerfG im Jahre 2006 etwa 6.000 neu eingegangene Verfassungsbeschwerden gegenüber (FAZ v. 3.3.2007). 85 SZ v. 19.1.2007.
Bruchstellen eines Menschenrechts: Schweigen gefährdet
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Im Bereich des Strafrechts kommt dies den staatlichen Interessen entgegen. Zum Vehikel des Verfalls wird die Neigung werden, Rechtsverletzungen nur als Ergebnis einer Gesamtbetrachtung festzustellen, bei der auch die Funktionstüchtigkeit der Strafverfolgung zu bedenken ist. Um den Niedergang zu verhindern, müssen bürgerrechtlich engagierte Kräfte aus der europäischen Gesellschaft den Streit zur eigenen Sache machen. An ihrer Stimme liegt es, die unantastbare Menschenwürde als Quelle der Subjektstellung des Beschuldigten zu thematisieren und ins Zentrum zu stellen.86 Nur so läßt sich verhindern, daß aus dem Schweigen eines Beschuldigten nachteilige Schlüsse gezogen und daß die Ergebnisse einer erzwungenen Selbstbelastung verwertet werden. 2. Die Alibi-Agentur Statt dessen verläuft die Entwicklung in eine andere Richtung. Am 15. Februar 2007 hat der Rat der Innen- und Justizminister in Brüssel die Verordnung über die Gründung der umstrittenen EU-Grundrechteagentur verabschiedet.87 Dabei handelt es sich um die Usurpation eines in die Zivilgesellschaft gehörenden menschenrechtlichen Themas durch staatliche Einrichtungen. Die Agentur soll zwischen 80 und 100 Mitarbeiter haben und mit einem umfangreichen Budget ausgestattet sein (es ist die Rede von 20 Mio. € für das Jahr 2008). Bei der Konzeption wurde ausdrücklich darauf geachtet, daß die Grundrechteagentur nicht in der Lage sein wird, einzelne EU-Staaten an den Pranger zu stellen.88 Schon in der Phase, als die Agentur entworfen wurde, soll es intensive Bemühungen gegeben haben, aus den Zuständigkeiten dieser Behörde den einer Kontrolle besonders bedürftigen Bereich auszuklammern, nämlich die polizeiliche und die justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Der heftige Widerstand von sieben Mitgliedstaaten hat die Erstreckung des Agenturmandats auf die sogenannte dritte Säule verhindert.89 In der Presse ist die neue Institution als „Alibi-Agentur“ bezeichnet worden.90 Um unwillkommenes Aufbegehren zu verhindern, soll vorgesehen sein, daß die Agentur „nicht auf eigene Initiative, wohl aber auf Anfrage einzelner Staaten auch die Zusammenarbeit in Strafsachen bewerten dürfe.“ 91 Die Institution macht das Netzwerk unabhängiger Sachverständiger, auf das die Kommission sich in der Vergangenheit bezogen hat, obsolet. Im Wettbewerb mit der personellen Ausstattung und dem beachtlichen Budget dieser 86
Hierin stimme ich Vogel/Matt aaO (Fn 8) S. 213 ausdrücklich zu. FAZ v. 14.02.2007. G. N. Toggenburg Die EU-Grundrechteagentur: Satellit oder Leitstern, SWP-Aktuell 2007, 1 ff. 88 FAZ v. 2.3.2007. 89 Toggenburg (Fn 87) S. 6 f. 90 SZ v. 5./6./7.1.2007. 91 FAZ v. 3.1.2007. 87
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weiteren gouvernementalen Einrichtung der EU, die den Interessen ihrer Gründer dienen wird, werden bürgerrechtliche Stimmen übertönt. Eine drängende Thematik wird damit der Enteignung durch die mächtige und finanzkräftige europäische Bürokratie zum Opfer fallen. 3. Der letzte Rückzug aus der Vereinnahmung Staatliche Einrichtungen werden nie verstehen können, daß es im Strafprozeß Verweigerung selbst im Falle des Terrorismusverdachts geben muß.92 Sie werden über kurz oder lang versuchen, Beschuldigte mit mutmaßlich hoher Sozialschädlichkeit so einzuordnen, daß Verteidigung durch Verweigerung entfällt. Die Bruchstellen, die das ermöglichen, sind schon sichtbar. Eine Hoffnung bleibt: Im April haben sich, wie die Presse berichtet, Vertreter der europäischen Zivilgesellschaft getroffen, um einen neuen Anlauf zu fordern, in dem die Bürger Europas im Mittelpunkt des Verfassungsprozesses stehen sollen.93 Es wird (auch) an der anwaltlichen Kunst liegen, mit Logos, Ethos und Pathos zu überzeugen,94 ob dieses Forum das absolute Menschenrecht auf Verweigerung anerkennt und verteidigt. Dieses Menschenrecht gleicht einer begrenzten Option, sich für die Dauer des Verfahrens aus dem kommunikativen contrat social zu lösen. Das Schweigerecht kann nicht mehr verstanden werden, wenn Kommunikation als alleinige Voraussetzung von Gerechtigkeit gilt.95 Die Strafverteidiger sollten das Bewußtsein dafür wach halten, daß Schweigen im Strafprozeß der letzte Rückzug aus der Vereinnahmung des Menschen durch den Staat ist, ein unverzichtbarer Rest disziplinierender Anarchie.96 92 Zur Problematik des „Rechts auf Sicherheit“ als Grundrecht: J. A. Frowein Terrorismus als Herausforderung für den Menschenrechtschutz, in: Der Mensch und seine Rechte, hrsg. v. G. Nolte/H.-L. Schreiber, Göttingen 2003, S. 51 ff (69 f). 93 FAZ v. 17.4.2007. Aus guten Grund enthielt der Bericht des Europäischen Parlaments über den Vorschlag zur Errichtung der Grundrechte-Agentur v. 25.9.2006 (A 6 – 0306/ 2006) den Antrag einer Entschließung, worin die „wichtige Rolle der Zivilgesellschaft für den Schutz der Grundrechte“ hervorgehoben wird. 94 Über Logos, Ethos und Pathos bei der Argumentation von Menschenwürde: G. Kreuzbauer Argumentationsanalytische Betrachtungen zum Begriff der Menschenwürde, in: M. Fischer (Hrsg.) Der Begriff der Menschenwürde, Frankfurt a. M. 2004, S. 45 ff (50). 95 Die alles beherrschende Neigung, strafrechtliche Erledigungen konsensual herbeizuführen, setzt Kommunikation voraus. Das Schweigen des Beschuldigten und ein kommunikatives Verfahren passen schlecht zusammen. 96 Die Strafverteidiger dürfen dabei längst nicht mehr nur national agieren und sich auch nicht auf Europa beschränken. Im Menschenrechtsrat der UNO hat, wie der SPIEGEL 43/2006 berichtet, ein „zäher Abwehrkampf“ um die Deutung der Menschenrechte gegen mächtige Gegner und Stimmblöcke begonnen. Wie die SZ vom 29.3.2007 mitteilt, haben die Europäer nur 8 Sitze von 48 („Wir sind gnadenlos in der Minderheit“). Der neue UN-Generalsekretär hat seinen ersten Arbeitstag mit einer Erklärung zur Hinrichtung Saddam Husseins begonnen: Es stehe jedem Land frei, über Exekutionen zu entscheiden (Die Welt v. 4.1.2007).
Die Befugnisse von Nachrichtendiensten und Polizei – faktischer Tod dem Trennungsgebot? Heide Sandkuhl
Fragen nach den Befugnissen von Nachrichtendiensten und Polizei, den Rahmenbedingungen für ihre Tätigkeit, den Voraussetzungen ihrer Kontrolle haben Aktualität. Der Anlass ist traurig genug. Die Anschläge vom 11. Dezember 2001, die terroristischen Angriffe in Madrid und London stellen die westlichen Staaten und Gesellschaften vor neue sicherheitspolitische Herausforderungen. Die Politik reagiert, vor allem die rechtspolitischen Pendelausschläge sind bemerkenswert.1 Rechtspolitisch treten neue Fragestellungen auf. Die von Berufs wegen damit befassten Standesorganisationen reagieren, wie der Deutsche Anwaltverein, der einen neu zu gründenden Ausschuss für Gefahrenabwehrrecht ins Leben gerufen hat. Rainer Hamm gehört zu seinen Gründungsmitgliedern. Dies ist nicht verwunderlich: Strafrechtliche Implikationen, verfassungsrechtliche Fragestellungen, staatliche Herausforderungen – fast das gesamte berufliche Kaleidoskop des Jubilars – prägen Tätigkeit des Ausschusses vor dem Hintergrund der terroristischen Bedrohung und ihrer staatlichen Gegenmaßnahmen. Seine Tätigkeit ist notwendig. Rechtliche Unsicherheiten und Fehler bleiben nicht aus und beschäftigen die Innen- wie die Außenpolitik.2 Die politischen Aufräumarbeiten und Nachhutdiskussionen konzentrieren sich vielfach auf das Zusammenspiel unterschiedlicher staatlicher Institutionen und sind oftmals von traditionellen Beißreflexen und Abwehrreaktionen gekennzeichnet. Die Anpassung an neue Rahmenbedingungen fällt nicht leicht und schafft Fragen: politische, aber auch und gerade rechtliche. Interessant ist, dass manche Themen geradezu stiefmütterlich behandelt werden. Die Tätigkeit der Nachrichtendienste gehört dazu. Insbesondere ihre Tätigkeit wird aus der rechtswissenschaftlichen Befassung nahezu ausgeblendet. Eine staats-, verwaltungsoder straf- wie polizeirechtliche Auseinandersetzung mit den Rahmen1 Z.B. wurde nach Inkrafttreten des Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetzes (BGBl 2007 I S. 2) und des Gemeinsamen-Dateien-Gesetzes (BGBl 2006 I S. 3409) am 18. April 2007 der Regierungsentwurf des Gesetzes zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG („Vorratsdatenspeichung“) vorgelegt. 2 Vgl. etwa „Untersuchungsausschuss Kurnaz“.
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bedingungen nachrichtendienstlicher Tätigkeit und den einfachgesetzlichen Grundlagen fehlt und ist auch durch die zahlreichen Gesetzesinitiativen aus Anlass der Angriffe auf das World Trade Center nicht befördert worden. Eine Ausnahme fällt auf. Das Schlagwort vom Trennungsgebot – eng verbunden mit der Tätigkeit der Nachrichtendienste – verzeichnet immerhin eine sich belebende Diskussion. Sie geht vom Streit um den Verfassungsrang des Trennungsgebotes 3 bis zur Auseinandersetzung, ob das Trennungsgebot effektive Maßnahmen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus tatsächlich oder vermeintlich hindere.4 Schlagworte sind auch hier schnell bei der Hand. Die Befugnisse der Nachrichtendienste werden als „Verpolizeilichung“, die der Polizei als „Vernachrichtlichung“ bewertet und das Trennungsgebot insgesamt nach Auffassung juristischer Beobachter nur noch als Anachronismus empfunden 5 – Anlass genug, dem Schlagwort vom Trennungsgebot und seinem rechtspolitischen Schicksal im Rahmen des hier möglichen nachzugehen.
I. Was ist mit Trennungsgebot gemeint? Eine Begriffsklärung ist schon deswegen angebracht, weil die Diskussion um den „Rang des Trennungsgebotes“ relativ umfangreich, die Diskussion um seine Inhalte aber relativ spärlich ausfällt.6 Der Streit über die Frage, ob das Trennungsgebot im Grundgesetz unmittelbar verankert ist,7 soll hier nicht aufgegriffen werden. Er hilft für eine Inhaltsbestimmung nicht weiter. Denn das Grundgesetz enthält keine Legaldefinition des Trennungsgebotes. Immerhin aber hat es in drei Länderverfassungen Ausdruck gefunden: Art. 83 Abs. 3 Satz 1 der Verfassung des Freistaates Sachsen8 regelt ausdrücklich, dass der Freistaat „keinen Geheimdienst mit polizeilichen Befugnissen“ unterhält. Art. 97 Satz 2 der Verfassung des Freistaates Thüringen 9 bestimmt, dass dem Landes-
3
Bejahend etwa Gusy ZRP 1987, 45 und Kutscha ZRP 1986, 194 (195); verneinend z.B. Dorn Das Trennungsgebot in verfassungshistorischer Perspektive, 2004 sowie Nehm NJW 2004, 3289 (3290 ff). 4 Gusy Trennungsgebot: tatsächliches oder vermeintliches Hindernis für effektive Maßnahmen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus? S. 1 ff. 5 So im Ergebnis König Trennung und Zusammenarbeit von Polizei und Nachrichtendiensten, 1. Aufl. 2005, S. 255. 6 Gusy Trennungsgebot: Tatsächliches oder vermeintliches Hindernis für effektive Maßnahmen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus? S. 8. 7 Überblick hierzu bei König Trennung und Zusammenarbeit von Polizei und Nachrichtendiensten, 1. Aufl. 2005, S. 118 ff. 8 Vom 27. Mai 1992, GVBl. S. 243. 9 Vom 25. Oktober 1993, GVBl. S. 625.
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verfassungsschutzamt polizeiliche Befugnisse und Weisungen nicht zustehen. Gleiches regelt Art. 11 Abs. 3 Satz 2 der Verfassung des Landes Brandenburg.10 Klarheit haben die Regelungsversuche auf landesverfassungsrechtlicher Grundlage nicht gebracht. Schon der Adressat dieses Postulats lässt sich nach Auffassung prominenter Stimmen nicht recht ausmachen. Unter Hinweis auf die Verlagerung der Diskussion über den Regelungsgehalt des Trennungsgebotes hat Nehm die Fragen aufgeworfen, ob die Tätigkeit der Polizei auf dem Sektor der Gefahrenvorsorge mit dem Trennungsgebot in Einklang stehe (?) und sich das Trennungsgebot ausschließlich an die Verfassungsschutzbehörden richte oder seinem Sinngehalt nach auch die Polizei dergestalt erfasse, dass die Ausweitung polizeilicher Kompetenzen in das Vorfeld konkreter Gefahren generell verhindert werden solle? 11 Eines scheint im teleologischen Ausgangspunkt gesichert: Sinn und Zweck des Trennungsgebotes ist der Verzicht der Nachrichtendienste auf exekutive Mittel. Dieser Verzicht ist das Korrelat für ihre weit reichenden Befugnisse. Wer (fast) alles weiß, soll nicht alles dürfen; und wer (fast) alles darf, soll nicht alles wissen.12 Auch wenn die Gründe für die „Dekretierung des Trennungsgebotes“ im Dunkeln liegen mögen,13 steht fest, dass das Trennungsgebot zwischen Verfassungsschutz und Polizei ursprünglich auf den sogenannten „Polizeibrief“ der alliierten Militärgouverneure vom 24. April 1949 14 zurückgeht und die Alliierten Sorge vor einer unzureichenden Kontrollmöglichkeit einer starken Zentralgewalt hatten sowie der Errichtung einer geheimen Staatspolizei entgegenwirken wollten.15 Tatsächlich hat der rechtspolitisch begründete Begriffskern mittlerweile eine weit reichende Ausdifferenzierung erfahren. Der Inhalt des Trennungsgebotes lässt sich mehrdimensional beschreiben: funktionelle, organisatorische, kompetenzielle, informationelle und personelle Trennung zwischen Polizei und Nachrichtendiensten sind kennzeichnend. Polizei und Verfassungsschutz haben unterschiedliche Aufgaben. Während die Polizei nahezu ausschließlich rechtswidrige Handlungen aufklärt, darf der Verfassungsschutz auch bestimmte rechtmäßige Handlungen aufklären und während die Polizei überwiegend – aber nicht ausschließlich – bei „tatsächlichen Anhaltspunkten“ für das Vorliegen einer Gefahr bzw. einem „Anfangsverdacht“ handelt, so darf der Verfassungsschutz in weitaus größerem Umfang auch im sogenannten „Vorfeld“ tätig werden (funktionelle Trennung); ferner müssen
10 11 12 13 14 15
Vom 20. August 1992, GVBl. I S. 298. Nehm NJW 2004, 3289. Gusy (Fn. 6) S. 6. Nehm NJW 2004, 3289 (3290). Abgedruckt bei Brenner Bundesnachrichtendienst im Rechtsstaat, 1990, S. 45 Fn. 183. So auch Nehm 2004, 3289 (3290) mwN.
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Polizei und Verfassungsschutz unterschiedliche Behörden sein; weder darf der Verfassungsschutz der Polizei noch umgekehrt die Polizei dem Verfassungsschutz angegliedert werden (organisatorische Trennung); Polizei und Verfassungsschutz haben als Behörden jeweils unterschiedliche Befugnisse gegenüber dem Bürger und dürften die dadurch abgesteckten Grenzen durch Verschiebung von Aufgaben oder wechselseitiger Unterstützung nicht umgehen (kompetenzielle oder befugnisrechtliche Trennung); wesentliche Elemente der Aufgaben- und kompetenziellen Differenzierungen beziehen sich auf die Rechte der Informationserhebung und -verarbeitung (informationelle Trennung) und schließlich darf eine Person nicht gleichzeitig Mitarbeiter (in) von Polizei und Verfassungsschutz sein (personelle Trennung).16
II. Der Wandel ist unübersehbar. Angesichts veränderter Sicherheitslagen und veränderter staatlicher Reaktionen ist der hergebrachte topos vom Trennungsgebot ins Gerede geraten. Konstatiert wird,17 das Trennungsgebot habe für die informationelle Zusammenarbeit an Bedeutung verloren; es handele sich bei den organisatorischen und befugnisrechtlichen Komponenten um „Lippenbekenntnisse“, da das Exekutivverbot und die zu seinem Schutz statuierte Beschränkung gegenseitiger Amtshilfe längst von der rasant fortschreitenden Angleichung der Aufgaben und Befugnisse von Polizei und Nachrichtendiensten überholt worden sei. Auch die organisatorische Trennung sei in rechtspolitischer Hinsicht kein Tabu mehr, da die Nachrichtendienste durch das Terrorismusbekämpfungsgesetz mit überwiegend im Bereich der Polizei zu verortenden Befugnissen ausgestattet worden seien. Die Ansicht, die aus dem Trennungsgebot in seiner befugnisrechtlichen Ausgestaltung als Folge auch ein an die Polizei gerichtetes Verbot ableiten will, dass sie nicht im Vorfeld von polizeirechtlicher Gefahr und strafprozessualem Anfangsverdacht tätig werden dürfe,18 wird entgegengehalten, sie verkenne den historischen Kern des Trennungsgebotes und bediene sich eines Argumentes, das nur scheinbar den Umkehrschluss zum Exekutivverbot für Nachrichtendienste darstelle.19 An anderer Stelle wird geltend gemacht, dass sich die Bedeutung des Trennungsgebotes keinesfalls nur in der Aufrechterhaltung der organisatorischen Trennung von Verfassungsschutzbehörden und Polizei erschöpfe, sondern unvollständig wäre, wenn es nicht 16
Gusy (Fn. 6) S. 8, 9. König Trennung und Zusammenarbeit von Polizei und Nachrichtendiensten, 1. Aufl. 2005, S. 255 f, 301 f. 18 Gusy Jura 1986, 296 (300); Kutscha/Weßlau DuR 1986, 3 (6). 19 König (Fn. 17) S. 106 Fn. 134. 17
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eine Abgrenzung der Aufgaben von Polizei und Geheimdiensten beinhalten würde.20 Das Trennungsgebot bestimme auch die Grenzen der informationellen Zusammenarbeit von Polizei und Geheimdiensten, es verbiete eine umfassende informationelle Vernetzung dieser mit unterschiedlichen Befugnissen ausgestatteten Behörden.21 Und schließlich hebt eine prominente Stimme 22 hervor, der Anwendungsbereich des Trennungsgebotes hinsichtlich Aufgaben und Befugnisse von Staatsanwaltschaft, Polizei und Nachrichtendiensten werde im Bereich des Verfassungsschutzes nicht berührt. Eine effektive Zusammenarbeit von Nachrichtendiensten, Polizei und Strafverfolgungsbehörden werde auch unter dem Aspekt der derzeitigen terroristischen Bedrohungslage vom Trennungsgebot nicht beeinträchtigt: genügend Anlässe, nachstehend den rechtlichen Rahmen von Polizei und Nachrichtendiensten nachzuzeichnen und gleichzeitig – im Rahmen des hier Möglichen – den rechtspolitischen Kurvenverlauf wiederzugeben.
III. Befugnisse der Nachrichtendienste Mit Nachrichtendiensten werden nachstehend das Bundesamt für Verfassungsschutz, der Bundesnachrichtendienst und der Militärische Abschirmdienst angesprochen. Während die Tätigkeit des Bundesnachrichtendienstes und des Militärischen Abschirmdienstes erst 1990 gesetzlicher Regelung unterworfen wurde, war die Arbeit des Bundesamtes für Verfassungsschutz bereits 1950 mit dem Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes gesetzlich geregelt. Bevor die Polizeigesetzgebung der Länder den Polizeibehörden Befugnisse zur heimlichen Informationserhebung eingeräumt haben, wurden als nachrichtendienstliche Mittel vornehmlich vier Gruppen von Instrumenten verstanden: (1) Verdeckte Beobachtungen oder Befragungen; (2) heimliche optische Mittel, insbesondere Fotoaufnahmen; (3) heimliche akustische Mittel, insbesondere Abhöranlagen; (4) V-Leute.23 1. Bundesamt für Verfassungsschutz Eine Legaldefinition des Verfassungsschutzes enthält Art. 73 Abs. 1 Nr. 10b GG. Hiernach hat der Bund die ausschließliche Gesetzgebungsbefugnis über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder „zum Schutze 20 Kutscha in: Roggan/Kutscha Handbuch zum Recht der Inneren Sicherheit, 2. Aufl., S. 80 (81) mit Hinweis auf das Urteil des SächsVerfGH vom 21.7.2005. 21 Ebd. 22 Nehm NJW 2004, 3289 (3293). 23 Gusy DVBl. 1991, 1288.
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der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestandes und der Sicherheit des Bundes oder eines Landes (Verfassungsschutz)“. Art. 73 Abs. 1 Nr. 10b GG begründet keine Kompetenz zur Regelung von Eingriffsbefugnissen, sondern lediglich Befugnisse über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder, in den in Art. 73 Abs. 1 Nr. 10a bis c GG genannten Bereichen.24 Art. 73 Abs. 1 Nr. 10b GG ist im Zusammenhang mit Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG zu sehen. Danach können unter anderem durch Bundesgesetz Zentralstellen „zur Sammlung von Unterlagen für Zwecke des Verfassungsschutzes und des Schutzes gegen Bestrebungen im Bundesgebiet, die durch Anwendung von Gewalt oder darauf gerichtete Vorbereitungshandlungen auswärtige Belange der Bundesrepublik Deutschland gefährden, eingerichtet werden“. Aus Art. 78 Abs. 1 Satz 2 GG ergibt sich, dass die Tätigkeit des Bundesamtes für Verfassungsschutz – es ist die primäre „Zentralstelle“ nach Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG – auf das „Sammeln“ von Unterlagen beschränkt ist und Befugnisse, die darüber hinausgehen, kompetenziell nicht von Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG gedeckt sind.25 Aufgrund der Bundeskompetenzen aus Art. 73 Abs. 1 Nr. 10b GG und aus Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG ist im Jahre 1950 das Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes ergangen. Es trat am Tag nach der Verkündung des Gesetzes zur Fortentwicklung der Datenverarbeitung und des Datenschutzes,26 mithin am 30. Dezember 1990, außer Kraft. Rechtsgrundlage des Bundesamtes für Verfassungsschutz ist nunmehr das Gesetz über die Zusammenarbeit des Bundes und der Länder in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes und über das Bundesamt für Verfassungsschutz (Bundesverfassungsschutzgesetz – BVerfSchG) vom 20. Dezember 1990 – zuletzt geändert durch das Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz vom 5. Januar 2007.27 Die Befugnisse des Bundesamtes für Verfassungsschutz sind in §§ 8 ff BVerfSchG geregelt. Hierzu zählen die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten; 28 Methoden, Gegenstände und Instrumente zur heimlichen Informationsbeschaffung, „wie Einsatz von Vertrauensleuten und Gewehrspersonen, Observation, Bild- und Tonaufzeichnungen“.29 Die Befugnisse des Bundesamtes für Verfassungsschutz zu „besonderen Auskunftsverlangen“ sind mit dem Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz nunmehr eigenständig in § 8a BVerfSchG geregelt worden. Nach Abs. 1 dieser Vorschrift darf das Bundesamt für Verfassungsschutz bei den Postdienstleistungs- und Teledienstleistungsanbietern die Bestandsdaten 30 einholen. 24 25 26 27 28 29 30
Umbach in: Umbach/Clemens, Grundgesetz, Bd. II, 2002, Art. 73 Rn 72. Burgi in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 3, 5. Aufl., Art. 87 Rn 51. BGBl. I S. 2954. BGBl. I S. 2. § 8 Abs. 1 BVerfSchG. § 8 Abs. 2 S. 1 BVerfSchG. Nach der Legaldefinition des § 8a Abs. 1 BVerfSchG sind das die Daten, die für die
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Ferner ist das Bundesamt für Verfassungsschutz unter den Voraussetzungen des § 8a Abs. 3 BVerfSchG befugt, Auskünfte über Verkehrsdaten, also den Informationen, die bei der Nutzung der jeweiligen Dienstleistungen anfallen, einzuholen bei Luftfahrtunternehmen, Kreditinstituten, Finanzdienstleistungsinstituten und Finanzunternehmen 31 sowie bei PostdienstleistungsTelekommunikationsdienstleistungs- und Teledienstanbietern.32 Unter den Voraussetzungen des § 8a Abs. 2 BVerfSchG ist das Bundesamt für Verfassungsschutz ferner befugt, sogenannte „IMSI-Catcher“, also „technische Mittel zur Ermittlung des Standortes eines aktiv geschalteten Mobilfunkendgerätes oder zur Ermittlung der Geräte- oder Kartennummer“, einzusetzen. Dieser Auszug aus den Befugnissen des Bundesamtes für Verfassungsschutz zeigt, dass es – wie auch die Landesämter – auf Aufklärung durch Informationsgewinnung und -verarbeitung beschränkt ist. Dass es von polizeilichen Zwangsbefugnissen ausgeschlossen ist (sogenanntes Exekutivverbot), regelt § 8 Abs. 3 BVerfSchG. Hiernach stehen dem Bundesamt für Verfassungsschutz polizeiliche Befugnisse oder Weisungsbefugnisse nicht zu; „es darf die Polizei auch nicht im Wege der Amtshilfe um Maßnahmen ersuchen, zu denen es selbst nicht befugt ist“. Die organisatorische Trennung regelt § 2 Abs. 1 Satz 2 BVerfSchG. Danach darf das Bundesamt für Verfassungsschutz einer polizeilichen Dienststelle nicht angegliedert werden. Das Nebeneinander von einem Bundesamt und 16 Landesämtern für Verfassungsschutz resultiert aus §§ 1 Abs. 2, 2 Abs. 2 BVerfSchG. Diese Vorschriften regeln, dass Bund und Länder verpflichtet sind, in Angelegenheiten des Verfassungsschutzes zusammenzuarbeiten und für die Zusammenarbeit der Länder mit dem Bund und der Länder untereinander jedes Land eine Behörde zur Bearbeitung von Angelegenheiten des Verfassungsschutzes zu unterhalten hat. Dass den Ländern mitunter verfassungsrechtliche Grenzen für einen großen Lauschangriff durch den Verfassungsschutz gesetzt werden, hat nicht zuletzt das Urteil des Sächsischen Verfassungsgerichtshofes vom 21. Juli 2005 33 gezeigt. Mit dieser Entscheidung hat der Sächsische Verfassungsgerichtshof festgestellt, dass § 5 Abs. 4 Nr. 2 SächsVerfSchG nicht den Anforderungen genüge, die Art. 15 und 30 SächsVerf. i.V.m. Art. 14 Abs. 1 SächsVerf. an einen Eingriff in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung stellen und klargestellt, dass die akustische Wohnraumüberwachung gegen die Menschenwürde verstößt, wenn der Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht respektiert wird.
Begründung, inhaltliche Ausgestaltung, Änderung oder Beendigung eines Vertragsverhältnisses über Postdienstleistungen oder Teledienste gespeichert worden sind. 31 Kritisch zum Bankgeheimnis der Nachrichtendienste: Huber NJW 2007, 881. 32 § 8a Abs. 2 BVerfSchG. 33 NVwZ 2005, 1310.
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Unter den Voraussetzungen des § 3 G 10 sind die Verfassungsschutzbehörden des Bundes und der Länder überdies nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 G 10 befugt, insbesondere zur Abwehr von drohenden Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung die Telekommunikation zu überwachen und aufzuzeichnen sowie die dem Brief- oder Postgeheimnis unterliegenden Sendungen zu öffnen und einzusehen. 2. Bundesnachrichtendienst Der Bundesnachrichtendienst – „der älteste Nachrichtendienst auf dem Boden der Bundesrepublik“ 34 – ist eine Bundesoberbehörde im Geschäftsbereich des Bundeskanzleramtes 35 und „sammelt zur Gewinnung von Erkenntnissen über das Ausland, die von außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung für die Bundesrepublik Deutschland sind, die erforderlichen Informationen und wertet sie aus“.36 Damit obliegt dem Bundesnachrichtendienst die Auslandsaufklärung. Seine Befugnisse ergeben sich aus §§ 2 bis 11 BND-G, die weitgehend auf die im Bundesverfassungsschutzgesetz normierten Befugnisse Bezug nehmen.37 So darf der Bundesnachrichtendienst unter den Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 BND-G Informationen einschließlich personenbezogener Daten erheben, verarbeiten und nutzen sowie unter den Voraussetzungen des § 8a Abs. 2 BVerfSchG die in dieser Befugnisnorm geregelten besonderen Auskunftsverlangen geltend machen.38 Der Bundesnachrichtendienst ist also befugt, Kredit- und Finanzdienstungsinstitute sowie Finanzunternehmen um entsprechende Auskünfte zu bestimmten Konten, Kontobewegungen etc. zu ersuchen.39 § 2 Abs. 3 BND-G stellt ausdrücklich klar, dass polizeiliche Befugnisse oder Weisungsbefugnisse dem Bundesnachrichtendienst nicht zustehen und er die Polizei auch nicht im Wege der Amtshilfe um Maßnahmen ersuchen darf, zu denen er selbst nicht befugt ist. Gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2 G 10 ist der Bundesnachrichtendienst im Rahmen seiner Aufgaben nach § 1 Abs. 2 BND-G unter anderem zudem in § 5 Abs. 1 Sätze 1 und 3 Nr. 3 bis 6 G 10 bestimmten Zwecken berechtigt, sämtliche Übertragungsformen internationaler Telekommunikationsbeziehungen zu überwachen und aufzuzeichnen.
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Gusy Jura 1986, 296 (297). § 1 Abs. 1 S. 1 BND-G. 36 § 1 Abs. 2 S. 1 BND-G. 37 Einen umfassenden Überblick über die Befugnisse des BND gibt Soiné DöV 2006, 204 (205 ff). 38 § 2a S. 2 BND-G. 39 Siehe auch Fn. 31. 35
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3. Militärischer Abschirmdienst Zur Erfüllung seiner Aufgabe, mithin zur Sammlung und Auswertung von Informationen über Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung und den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes und Informationen über sicherheitsgefährliche oder geheimdienstliche Tätigkeiten,40 ist der Militärische Abschirmdienst des Bundesministeriums der Verteidigung zur Datenerhebung, -verarbeitung und -nutzung nach § 8 Abs. 2, 4 und 5 BVerfSchG befugt sowie zu besonderen Auskunftsverlangen im Sinne des § 8a BVerfSchG.41 § 4 Abs. 2 MADG stellt wiederum klar, dass dem Militärischen Abschirmdienst polizeiliche Befugnisse oder Weisungsbefugnisse nicht zustehen und er auch nicht die Polizei im Wege der Amtshilfe um Maßnahmen ersuchen darf, zu denen er selbst nicht befugt ist.
IV. Befugnisse der Polizei Mit Befugnissen der Polizei sind nachstehend diejenigen gemeint, die in den Polizeigesetzen der Länder zur Gefahrenabwehr geregelt sind. Sämtliche Gesetze können im Rahmen dieses Beitrages nicht vollständig aufgeführt werden. Für die Prüfung der Frage, ob das Trennungsgebot mittlerweile tatsächlich aufgehoben worden ist, ist dies auch nicht erforderlich. Denn schon am Beispiel des – novellierten – Brandenburgischen Polizeigesetz (BbgPolG) in der Fassung vom 18. Dezember 2006 42 lässt sich nachweisen, dass der Polizei auch im Vorfeld der Gefahrenabwehr sämtliche (heimlichen) Befugnisse der Nachrichtendienst zustehen.43 Nachrichtendienstliche Befugnisse wie die Observation und der Einsatz verdeckter Ermittler wurden der Polizei bereits im Nachgang zum Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichtes vom 15. Dezember 1983 44 eingeräumt. Nachdem das Bundesverfassungsgericht klargestellt hatte, nicht nur die erstmalige Erhebung persönlicher Daten greift in den Schutzbereich ein, sondern auch Maßnahmen der weiteren Verwendung bereits erhobener Daten könne das Recht auf informelle Selbstbestimmung verletzen,45 wurden die polizeilichen Befugnisse in das Vorfeld der Gefahrenabwehr ausgedehnt und die Datenerhebungs- und Datenverarbeitungsbefugnisse so ausgestaltet, dass sie der Polizei
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Vgl. § 1 Abs. 1 MADG. § 4a MADG. 42 Kritisch hierzu Roggan NJ 2007, 199. 43 Gusy KritV 77 (1994) 242 (248); ders. GA 1999, 319 (326); ders. DVBl. 1991, 1288 (1289). 44 BVerfGE 65, 1 ff. 45 BVerfGE 65, 1 (43). 41
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eine effektive Informationsvorsorge ermöglichen.46 Die Befugnisse sollten „volkszählungsurteilsfest“ 47 gemacht werden. So regelt – nur beispielhaft genannt – das BbgPolG sämtliche nachrichtendienstliche Mittel wie Datenerhebung durch Observation,48 Datenerhebung durch den verdeckten Einsatz technischer Mittel zum Abhören und Aufzeichnungen des gesprochenen Wortes und zur Anfertigung von Bildaufnahmen und Bildaufzeichnungen,49 Datenerhebung durch den Einsatz technischer Mittel zur Überwachung von Wohnungen,50 Datenerhebung durch Eingriffe in die Telekommunikation 51 und Datenerhebung durch den Einsatz verdeckter Ermittler.52 Ähnliche Regelungen finden sich in den Polizeigesetzen der übrigen Bundesländer. Nicht zuletzt hat der Verfassungsgerichtshof Rheinland-Pfalz mit Urteil vom 29. Januar 2007 53 festgestellt, dass die Regelungen zur Durchführung einer Wohnraumüberwachung zu Zwecken der Gefahrenabwehr in § 29 POG(RP) bei einer Gesamtschau der gestatteten Grundrechtseingriffe, der strengen Eingriffsvoraussetzungen und zusätzlicher grundrechtssichernder Verfahrensbestimmungen den Anforderungen genügten, die nach Art. 7 Abs. 3 LV(RP) an eine Beschränkung des Grundrechts der Unverletzlichkeit der Wohnung zu stellen sind.
V. Faktische Aufhebung des Trennungsgebotes? Der Vergleich zwischen ursprünglich nachrichtendienstlichen Mitteln und Befugnissen der Polizei zur Gefahrenabwehr zeigt, dass sich eine befugnisrechtliche Trennung kaum noch nachweisen lässt. Die Befugnisse, die den Nachrichtendiensten, insbesondere dem Bundesamt für Verfassungsschutz, gesetzlich eingeräumt sind, stehen der Polizei, die darüber hinaus mit Zwangsbefugnissen ausgestattet ist, ebenso zu. Umgekehrt werden den Nachrichtendiensten immer mehr Befugnisse, die denen der Polizei ähneln, wie etwa die Befugnisse zur offenen Auskunftseinholung gemäß § 2 Abs. 1 Satz 2 G 10 54 sowie die Ortung von Personen mittels IMSI-Catcher gemäß § 9 Abs. 4 BVerfSchG, eingeräumt. Führt die Grenzverwischung im Befugnisrecht der Nachrichtendienste und der Polizei 55 dazu, dass das Trennungsgebot in 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55
König aaO, S. 105 f. Nehm NJW 2004, 3289. § 32 BbgPolG. § 33 BbgPolG. § 33a BbgPolG. § 33b BbgPolG. § 35 BbgPolG. DVBl. 2007, 596. König aaO, S. 233, 255 f. Nehm NJW 2004, 3289 (3292 f).
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seinem originären Anwendungsbereich an Bedeutung verloren hat 56 und nur noch als Anachronismus empfunden werden kann? 1. Fortgeltung des Trennungsgebotes Die Beantwortung der Frage, ob das Trennungsgebot tatsächlich aufgehoben worden ist oder nach wie vor fortbesteht, hängt maßgeblich von seiner Definition ab. Versteht man den Inhalt des Trennungsgebotes so, dass keiner Organisationsform Mittel zur heimlichen Informationsbeschaffung und Zwangsbefugnisse gleichermaßen eingeräumt werden sollen, wäre es tatsächlich aufgehoben worden. Denn die Polizeibehörden verfügen über „nachrichtendienstliche“ sowie exekutive Mittel. Hält man hingegen daran fest, dass (nur) die Nachrichtendienste keine Zwangsbefugnisse wie Vernehmungen, Durchsuchungen, Beschlagnahmen und Festnahmen durchführen dürfen,57 gilt das Trennungsgebot auf organisatorischer, funktionaler, informationeller und befugnisrechtlicher Ebene fort. Hieran ändern auch die – um wieder Schlagwörtern zu bemühen – „Verpolizeilichung“ und „Vernachrichtendienstlichung“ nichts. Denn es bleibt dabei: Den Nachrichtendiensten sind nach wie vor exekutive Mittel verboten. Dieses Verbot lässt sich auch nicht durch die Annäherung der Befugnisse von der Hand weisen. Es ist so gewichtig, dass es einen weiteren Fortbestand des Trennungsgebotes bedeutet. Das Exekutivverbot ist immer noch ein Korrektiv der heimlichen Informationsgewinnung. 2. Inhaltlicher Wandel des Trennungsgebotes Selbst wenn man aber dem Trennungsgebot in informationeller, organisatorischer und befugnisrechtlicher Sicht seine Bedeutung absprechen wollte, heißt dies nicht, dass es als Anachronismus empfunden werden muss. Wird nämlich die (vermeintliche) Bedeutungslosigkeit mit einer sicherheitsbedingten Angleichung der Aufgaben und Befugnisse von Polizei und Nachrichtendiensten begründet, muss diese Entwicklung gleichermaßen einen inhaltlichen Wandel des Trennungsgebotes zulassen mit der Folge, dass zwischen Aufgaben und Befugnissen der Nachrichtendienste und der gefahrenabwehrenden Polizei einerseits sowie der Strafverfolgungsbehörde andererseits getrennt wird. In der Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins durch den Ausschuss für Gefahrenabwehrrecht und dem Strafrechtsausschuss zum Entwurf eines Gesetzes zur Ergänzung des Terrorismusbekämpfungsgesetzes 58 hat Hamm dies angesprochen und hervorgehoben, dass sich der
56 57 58
So König aaO, S. 256. Roggan/Bergemann NJW 2007, 876. Deutscher Anwaltverein Stellungnahme Nr. 56/06.
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Staat zur Verhütung eines Terroranschlages konspirativer und heimlicher Ermittlungsmethoden bedienen möge, sich ein unbedingter Vorrang der Gefahrenabwehr für die Überführung von Verdächtigen vergangener Straftaten aber nicht begründen ließe und in Strafverfahren jede Beweisführung mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbar sei, bei der die Beschuldigten um die Chance gebracht werden, ihre Minimalrechte aus Art. 6 MRK wahrzunehmen. Diesen Gedanken von Hamm weitergeführt, müssen fortan Inhalt des Trennungsgebotes auch die Voraussetzungen sein, unter denen für Zwecke der Strafverfolgung Erkenntnisse verwertet werden sollen, die durch einen präventiven Eingriff gewonnen worden sind. Denn die „Hürden“ der Strafprozessordnung für Eingriffe in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis und in die Unverletzlichkeit der Wohnung würden konterkariert werden, wenn solche Erkenntnisse aus präventiven Eingriffen für Zwecke der Strafverfolgung verwertet werden, die hinter den Voraussetzungen zurückbleiben, die die Strafprozessordnung an solche Eingriffe stellt. Der Beschluss des Bundesgerichtshofes vom 7. Juni 1995 59 – in ihm hat der BGH ein Verbot für die aus einem präventiv-polizeilichen Lausch-Eingriff gewonnenen Erkenntnisse für Zwecke der Strafverfolgung abgelehnt und darauf hingewiesen, dass die Weitergabe der erhobenen Information an den Generalbundesanwalt das allein versprechende Mittel gewesen wäre, mit dem das LKA im Rahmen der ihm obliegenden vorbeugenden Verbrechensbekämpfung die Fortsetzung der Betätigung der Beschuldigten in einer kriminellen Vereinigung und deren Werbung für verschiedene linksterroristische Vereinigungen wirksam hätte unterbinden können – ist vor diesem Hintergrund mit Skepsis zu sehen. Gewiss: Besteht – wie vom Bundesgerichtshof angenommen – eine „hohe Gefahr für Leib oder Leben anschlagsgefährdeter Personen“ muss in der Tat darüber nachgedacht werden, ob dies eine Verwertbarkeit von präventiven Erkenntnissen für Zwecke der Strafverfolgung begründet. Jedoch sollte dies an Voraussetzungen geknüpft werden. Wird von modernen und aktuellen Entwicklungen gesprochen, müssen diese auch in der Lage sein, es zuzulassen, dass unter ihnen ein Rechtsinstitut, namentlich das Trennungsgebot, weiterentwickelt wird, damit – um es mit den Worten Hamms zu sagen – jede Beweisführung mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar bleibt. Letztendlich ist damit ein Prinzip gefordert, das aus anderem Zusammenhang bekannt ist. Grundrechtsschutz durch Verfahren stellt sicher, dass durch die Ausdehnung des Trennungsgebotes auf das Verfahren eine Effektivierung institutioneller Trennung erfolgt und damit eine Aktualisierung eines wohlbegründeten Prinzips gewährleistet ist. Dass es beim Trennungsgebot auch um Grundrechtsschutz geht, macht – wie oben
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NStZ 1995, 601 m. Anm. Welp.
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dargelegt – eine Rückbesinnung auf seine historischen Wurzeln deutlich. Soll es unter anderem sicherstellen, dass eine unkontrollierbare Zentralgewalt nicht entsteht, meint dies insbesondere den Schutz vor willkürlichen und unverhältnismäßigen Individualeingriffen. Ein solcher Schutz wäre etwa gegeben, wenn gesetzlich geregelte Verbote sicherstellten, dass solche präventiv-nachrichtendienstlichen/polizeilichen Erkenntnisse für Zwecke der Strafverfolgung nicht verwertet werden dürften, die unter bewusster Missachtung oder gleichgewichtig grober Verkennung der Voraussetzungen für den präventiven Eingriff gewonnen worden sind.60 Jedenfalls hat Hamm die Diskussion auf den richtigen Weg gebracht. Hierfür schulden wir ihm Dank.
60 Hinsichtlich solchen Verstößen gegen Art. 13 Abs. 2 GG, § 105 Abs. 1 S. 1 StPO; vgl. BGH Urteil vom 18.4.2007 – 5 StR 546/06: Verwertungsverbot.
Eine erfolgreiche Beschwerde des Rechtsanwalts Professor Dr. H. Gerhard Schäfer I. In einem der spektakulärsten Wirtschaftsstrafverfahren der letzten Jahre im Zusammenhang mit dem „System Schreiber“ 1 war es abseits des Hauptverfahrens zu einer hoch interessanten prozessualen Konstellation und einer wichtigen Entscheidung des OLG München 2 gekommen, die von der breiteren juristischen Öffentlichkeit wohl deshalb nicht recht wahrgenommen wurde, weil der politische Hintergrund des Ausgangssachverhalts und die wirtschaftlichen Fragen um die Zurechnung von Treuhandkonten zu möglichen Treugebern vordergründig wesentlich interessanter erschienen.3 1. In der Sache ging es – stark verkürzt – unter anderem um Steuerhinterziehung und den Vorwurf, die Beschuldigten hätten von Schreiber für sie auf Schweizer Treuhandkonten geführte Provisionen nicht versteuert. In dem von der Staatsanwaltschaft ursprünglich gegen die Angeklagten H und M, Dr. P und weitere Beschuldigte einheitlich geführten Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung und anderer Delikte wie Untreue wurde das Verfahren gegen den flüchtigen Dr. P später abgetrennt und unter anderem Aktenzeichen fortgeführt. H und M wurden am 23. Juli 2002 vom LG wegen Steuerhinterziehung und Untreue verurteilt; auf die Revision dieser beiden Angeklagten hat der Bundesgerichtshof am 11. November 2004 dieses Urteil teilweise aufgehoben und die Sache an das Landgericht zurückverwiesen. Im Zusammenhang mit der Festnahme von Dr. P in Paris erließ die für das Verfahren gegen H und M zuständige Strafkammer des Landgerichts, bei der die Sache Dr. P zu diesem Zeitpunkt bereits ebenfalls anhängig war, im Verfahren gegen diesen am 13. Juli 2004 einen Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss, der im Rechtshilfewege durch die französischen Behörden 1
So der Leitsatz in der Sache BGH NJW 2005, 3584. StV 2005, 118 = NStZ 2006, 300 = JR 2007, 336 mit Anm. Satzger. 3 Zu diesem Sachverhaltskomplex siehe BGHSt 49, 317 = JR 2004, 214 mit Anm. Vogel, der auch eine auf Presseveröffentlichungen gestützte eigene Sachverhaltsdarstellung bringt. Siehe weiter auch BGH NJW 2005, 3584. 2
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noch am selben Tage vollzogen wurde. In der von Dr. P genutzten Wohnung in Paris wurden dabei u.a. ein aus 22 Seiten bestehendes handgeschriebenes Schriftstück, datiert auf den 24. Juni 2004, mit der Überschrift „P, Komplex: Radpanzer Fuchs B. H. Ind.“ im Original und in Kopie, letztere zusammen mit einem auf den 22. Juni 2004 datierten Schreiben an Herrn RA Prof. Dr. L. sowie einer Vollmacht für RA Prof. Dr. L. zur Vertretung von Dr. P in der gegen ihn anhängigen, näher bezeichneten Strafsache sichergestellt. Dagegen wandte sich der Verteidiger des Dr. P mit der Beschwerde. Ihr half die Strafkammer am 26. August 2004 ab, nachdem sie allerdings zuvor am selben Tag im Verfahren gegen die Angeklagten H und M die Beschlagnahme des aus 22 Seiten bestehenden handgeschriebenen Schriftstücks mit dem Datum 24. Juni 2004 und der Überschrift ‚P. Komplex Radpanzer‘ […] angeordnet hatte. Gegen die Beschlagnahme im Verfahren gegen H und M legten deren Verteidiger, die Rechtsanwälte Prof. Dr. H und Prof. Dr. W Beschwerde ein, die vor dem OLG München Erfolg hatte. Dessen Entscheidung hat Satzger in JR 2007, 336 eingehend gewürdigt. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit einigen Randfragen, die Satzger im Rahmen einer Urteilsanmerkung nicht behandeln konnte und welche die grundsätzliche Position Satzgers nicht berühren. 2. Die wesentlichen Grundzüge der Entscheidung des OLG München sind folgende: 4 a. Bei dem 22-seitigen Schriftstück handelte es sich um Unterlagen die Dr. P für seine Verteidigung angefertigt hatte. Diese sind jedenfalls gegenüber Dr. P beschlagnahmefrei. Das folgert der Senat zunächst aus § 97 Abs. 1 Nr. 1,5 indem er unter Bezug auf das Recht auf freien Verkehr des Beschuldigten mit seinem Verteidiger in Übereinstimmung mit der Literatur auch noch nicht abgesandte Mitteilungen dem Schutz dieser Vorschrift unterwirft und damit auf das Gewahrsamserfordernis des § 97 Abs. 2 Satz 1 im Wege der Auslegung verzichtet. Darüber hinaus bezieht sich der Senat auf das aus Art. 6 Abs. 3 MRK i.V.m. dem aus Art. 2 Abs. 1, Art. 20 Abs. 3 GG herzuleitenden rechtsstaatlichen Gebot, dem Beschuldigten jederzeit die Möglichkeit einer geordneten und effektiven Verteidigung zu geben und der daraus resultierenden gefestigten Rechtsprechung, dass Unterlagen, die sich ein Beschuldigter ersichtlich zur Vorbereitung seiner Verteidigung in dem gegen ihn laufenden Strafverfahren anfertigt, nicht beschlagnahmt werden dürfen. Dies alles dürfte heute unbestritten sein. Wenn die Staatsanwaltschaft sich in vorliegender Sache gleichwohl für die Beschlagnahmefähigkeit der Unterlagen im Verfahren gegen Dr. P ausgesprochen hat, dann deswegen, weil sie
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Einzelheiten bei Satzger aaO. Vorschriften ohne Gesetzesangabe sind solche der StPO.
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Bedenken hatte, den Inhalt als Verteidigungsmaterial zu qualifizieren. Das ist im übrigen Tatfrage. Der Senat hat dazu eindeutige Worte gefunden. b. Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob und wie sich ein Beschlagnahmeverbot im Verfahren gegen Dr. P auf das Verfahren gegen die Angeklagten H und M auswirken kann. Der Senat hat eine Erstreckung des Beschlagnahmeverbots auf das Verfahren gegen H und M bejaht und dabei die Grundsätze über die Zeugnisverweigerung von Angehörigen bei mehreren Beschuldigten bei sogenannter „prozessualer Gemeinschaft“ angewandt.
II. Es lohnt sich, dieses Konstrukt „prozessuale Gemeinschaft“, dem so weitreichende Folgen zukommen sollen, genauer zu betrachten. § 52 gibt dem Zeugen, der Angehöriger eines Beschuldigten ist, ein Zeugnisverweigerungsrecht. Dieses soll dem Zeugen den Konflikt ersparen, durch eine wahre Aussage seinem Angehörigen zu schaden und so den Familienfrieden zu gefährden.6 Darauf, ob ein solcher Konflikt tatsächlich besteht oder auch nur subjektiv vom Zeugen empfunden wird, kommt es nicht an. Das Zeugnisverweigerungsrecht dient nicht der Wahrheitsfindung,7 sonst dürfte nicht darauf verzichtet werden können. Den Wahrheitsgehalt problematischer Zeugenaussagen hat der Richter zu prüfen. Über dieses Zeugnisverweigerungsrecht ist der Zeuge gemäß § 52 Abs. 3 zu belehren. Verstöße gegen die Belehrungspflicht führen zu einem Verwertungsverbot. Ein Verwertungsverbot besteht nach § 252 auch für frühere (nichtrichterliche) Vernehmungen, wenn der Zeuge erst in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht. Wie zu verfahren ist, wenn mehrere der Teilnahme an einer Tat beschuldigt werden und einer davon Angehöriger des Zeugen ist, sagt das Gesetz nicht. a. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts 8 hat § 52 schon sehr früh ausdehnend ausgelegt. Es hat die Unteilbarkeit der Zeugenaussage bei mehreren Beschuldigten betont und damit eine Aufteilung der Aussage dahin, dass das Zeugnisverweigerungsrecht nur gegen den Angehörigen wirke, nicht aber gegen die nicht angehörigen Mitangeklagten, abgelehnt.9 Dahinter steckt die Überlegung, dass die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechts innerhalb eines einheitlichen Verfahrens nicht zu unterschiedlichen Ergebnissen führen sollte. Voraussetzung war freilich, dass sich die Aussage auf einen Tatvorwurf 6 7 8 9
Zuletzt BGHSt 45, 203, 207 mit Nachweisen. Zuletzt BGHSt 45, 203, 207 mit Nachweisen. Eingehend dazu SK-Rogall § 52 Rn 47 ff; Eb. Schmidt § 52, 5 ff. RGSt 3, 161.
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bezog, der dem Angehörigen und dem nichtangehörigen Mitangeklagten in gleicher Weise gemacht wurde. Ob nach dem ihnen gemachten Vorwurf die Mitangeklagten an dieser Tat als Täter, Teilnehmer, Begünstigter oder Hehler beteiligt waren, spielt keine Rolle. Unmittelbar einleuchtend ist diese Lösung für die Situation in der Hauptverhandlung. Wenn A und B des Raubes und B darüber hinaus der Vergewaltigung angeklagt sind, soll die Ehefrau des A als Zeugin nicht gezwungen sein, ihr Wissen über die Rollenverteilung bei der Tatbegehung des Raubes zu offenbaren und damit ihren Mann und auch die Familienbande zu belasten. Sie kann das Zeugnis bezüglich des Lebenssachverhalts „Raub“, nicht aber bezüglich der Vergewaltigung verweigern. Eine solche Zeugnisverweigerung wird dem B freilich gar nicht gefallen, wenn Frau A bei einer Aussage bekunden müsste, dass A der Initiator der Tat und B lediglich Mitläufer war, eine Aussage der Frau A ihn also entlasten könnte. War umgekehrt B der Haupttäter und A der Mitläufer ist er hilflos dem Familiensinn der Familie A ausgesetzt, wenn Frau A vom Zeugnisverweigerungsrecht Abstand nimmt. Diese Ausdehnung des Beschuldigten Begriffs des § 52 und damit des Zeugnisverweigerungsrechts auf Mitbeschuldigte beschränkte sich indes nicht auf die Situation der Vernehmung. Seit RGSt 27, 270; 32, 72 und 33, 350 galt vielmehr der Grundsatz, dass unabhängig vom Stande des Verfahrens gegen den angehörigen Beschuldigten das Zeugnisverweigerungsrecht zugunsten der Mitbeschuldigten fortwirkte, wenn zu irgendeinem Zeitpunkt vor der Vernehmung ein einheitliches zusammenhängendes Verfahren formell bestanden hatte. Das galt auch für den Tod des Angehörigen. In dem der Entscheidung RGSt 33, 350 zugrundeliegenden Fall waren ursprünglich drei Personen des Mordes beschuldigt worden. Vor der Hauptverhandlung verstarb einer von ihnen. In der danach gegen die beiden anderen durchgeführten Hauptverhandlung wurde der Ehefrau des Verstorbenen das Zeugnisverweigerungsrecht aus § 52 Abs. 2 zugebilligt. b. Der Bundesgerichtshof hat die Rechtsprechung des Reichsgericht zum Zeugnisverweigerungsrecht bei gemeinsamem Tatvorwurf von Anfang an fortgeführt,10 aber zunächst offen gelassen, ob und wann das Zeugnis zugunsten Mitbeschuldigter, die nicht Angehörige des Zeugen sind, verweigert werden kann, wenn die mehreren Beschuldigten nicht Angeklagte in demselben Verfahren sind. BGH NJW 1974, 758 hatte es dann mit einem Fall zu tun, bei dem die Zeugen Angehörige eines möglichen Mittäters des Beschwerdeführers waren, der aber gesondert verfolgt und im Verfahren des Beschwerdeführers niemals Beschuldigter war. Der Bundesgerichtshof hat in dieser Entscheidung die Rechtsprechung des Reichsgerichts nahtlos übernommen. Zwei Gründe für die Beschränkung des Zeugnisverweigerungs-
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BGHSt 7, 194.
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rechts auf die prozessuale Gemeinsamkeit führt der Senat an: Einmal könne nur mit dieser Einschränkung der Tatrichter verlässlich feststellen, ob die Voraussetzungen des Zeugnisverweigerungsrechts vorlägen und zum anderen entstehe dem Angehörigen, der nicht Mitbeschuldigten ist, kein Nachteil, denn ihm stehe ja das Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 zu.11 In der Folge hat der Bundesgerichtshof diese Rechtsprechung vielmals bestätigt. So heißt es etwa in BGH MDR 1979, 952: „Wenn aber für mehrere im Rahmen eines zusammenhängenden einheitlichen Verfahrens in irgendeinem Stadium dieses Verfahrens „prozessuale Gemeinsamkeit“ in dem Sinne besteht, dass sie in Bezug auf das gleiche historische Ereignis nach prozessrechtlicher Betrachtungsweise (BGH NJW aaO; RGSt 32, 72, 73) Mitbeschuldigte sind, dann wirkt sich diese Verfahrenslage dahin aus, dass fortan diejenigen, für die sie eingetreten ist, bei Zeugenvernehmungen, die dieses historische Ereignis betreffen, als „Beschuldigte“ im Sinne von § 52 Abs. 1 StPO anzusehen sind, auch wenn die Beziehung, die diese Vorschrift voraussetzt, sich auf einen von ihnen beschränkt, weil das Zeugnisverweigerungsrecht bei einheitlichem strafrechtlichen Vorwurf nicht teilbar ist (BGHSt 7, 194, 196; BGH NJW 1974, 758; BGH bei Holtz MDR 1978, 280; RGSt 27, 270, 272; 32, 72, 73; 33, 350, 351). Infolgedessen spielt es für den Fortbestand des Zeugnisverweigerungsrechts in diesem Umfang keine Rolle, dass das Verfahren gegen den Mitbeschuldigten, dessen Angehöriger (Ehegatte, Verlobter) als Zeuge aussagen soll, abgetrennt, nach § 170 Abs. 2 StPO eingestellt, durch eine Entscheidung, die Rechtskraft erlangt hat, abgeschlossen oder durch den Tod dieses Mitbeschuldigten beendet worden ist (BGHSt aaO; BGH bei Holtz aaO; BGH bei Dallinger MDR 1973, 902; RGSt 27, 270, 272; 33, 350, 351).“ Damit aber war der Bogen überspannt. In den folgenden Jahren begann eine behutsame Korrektur des als zu weit erkannten Zeugnisverweigerungsrechts. Über die Gründe mag man spekulieren. Sicher hat dabei eine Rolle gespielt, dass das Bedürfnis, die Familienintegrität zu schützen nicht mehr das starke Gewicht hatte wie hundert Jahre zuvor. Auch wurde zunehmend erkannt, dass das Zeugnisverweigerungsrecht in gravierender Weise in Verteidigungsrechte Mitbeschuldigter eingriff, die der Ausübung oder Nichtausübung des Zeugnisverweigerungsrechts wehrlos ausgesetzt waren und in vielen Fällen ein vitales Interesse an der Aussage des Angehörigen hatten. Zusätzliches Unbehagen muss auch der vielfach von Verfahrensbeteiligten, welcher Seite auch immer, erlebte Umstand bereiten, dass durch dieses weite Zeugnisverweigerungsrecht einzelne Zeugen oder im Zusammenspiel mit
11
Kritisch zu beiden Argumenten Prittwitz NStZ 1986, 64.
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ihnen einzelne Mitbeschuldigte in der Lage waren, Verfahren mit mehreren Beschuldigten fast nach Belieben zu steuern. Schließlich bedeutet jedes Verwertungsverbot und damit jedes Zeugnisverweigerungsrecht eine Einschränkung der gerichtlichen Wahrheitsfindung, deren Legitimation bei der weiten Anwendung des Zeugnisverweigerungsrechts bei prozessualer Gemeinschaft nicht ohne weiteres einsichtig ist. c. Die Restriktionen betrafen einmal die formellen Voraussetzungen der prozessualen Gemeinschaft und zum anderen die Grenzen der Schutzwürdigkeit des Angehörigen und der Familie. aa. Zunächst präzisierten eine Entscheidung des 3. Strafsenats vom 23. Juli 1986 12 und eine weitere des 1. Strafsenats vom 4. November 1986 13 die formellen Voraussetzungen der prozessualen Gemeinschaft. In der Rechtsprechung war bis dahin weitgehend offen geblieben, auf welche Weise die prozessuale Gemeinsamkeit hergestellt werden kann. In der ersten der beiden genannten Entscheidungen wurde zunächst klargestellt, dass die bloße Gleichzeitigkeit polizeilicher Ermittlungen nicht genüge. Offen blieb, ob die von der Rechtsprechung verlangte förmliche Verbindung der Verfahren gegen mehrere Beschuldigte bereits dadurch hergestellt werden kann, dass die Ermittlungen bei der Polizei – wie dies häufig der Fall ist – faktisch in einem Vorgang zusammen geführt werden, wie dies BGH NStZ 1985, 419 noch hatte genügen lassen, oder ob es einer Verbindung der Verfahren bedarf, wozu nur die Staatsanwaltschaft oder das Gericht befugt ist. Die erste Entscheidung sprach in diesem Zusammenhang noch vorsichtig von der Zuständigkeit der „Strafverfolgungsbehörde“ und hielt die Entscheidung der Staatsanwaltschaft jedenfalls dann für maßgebend, wenn diese von der Kriminalpolizei in die laufenden Ermittlungen eingeschaltet (sic!) sei. Rechtsklarheit schuf die zweite Entscheidung. Danach bedarf es einer förmlichen 14 Entscheidung der Staatsanwaltschaft (oder natürlich des Gerichts) 15 um die prozessuale Gemeinschaft mit den weitreichenden prozessualen Folgen für die Zeugnisverweigerung zu schaffen. Welcher Art diese förmliche Entscheidung sein soll, wird nicht ausdrücklich gesagt. Sie ergibt sich aber aus dem Zusammenhang der Gründe: Dort heißt es nämlich zur Begründung der Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft, diese habe die Rechtskontrolle über die polizeiliche Ermittlungstätigkeit, ihr obliege die Leitungs- und Kon-
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BGHSt 34, 138. BGHSt 34, 215. 14 Im Leitsatz, der nicht Gegenstand der gerichtlichen Entscheidung ist, sondern für die Veröffentlichung außerhalb der Beratung formuliert wird, heißt es „ausdrückliche Entscheidung“. 15 Da BGHSt 34, 215 sich von BGH NStZ 1985 419 abgrenzen will, wo – nicht tragend – auch faktisches Verhalten der Polizei für ausreichend gehalten wurde, ist von einer Verbindung durch das Gericht nicht die Rede. Eine solche hat natürlich dieselbe Wirkung. 13
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trollfunktion, die umfassende Sachleitungskompetenz. Hierzu gehöre auch die Entscheidung über Verbindung oder Trennung zusammengehörender Strafsachen. Eine prozessuale Gemeinsamkeit kann also nur durch Verbindung geschaffen werden. Zur Begründung verweist der Senat darauf, dass der erkennende Richter in der Hauptverhandlung in der Lage sein müsse, ohne zeitraubendes Studium umfangreicher Ermittlungsakten sofort zu entscheiden, ob zu irgend einem Zeitpunkt eine prozessuale Gemeinsamkeit zwischen mehreren Ermittlungsverfahren bestanden hat und deswegen einem zu vernehmenden Zeugen ein Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 zusteht oder nicht. Das wäre nicht gewährleistet, wenn es schon genügen könnte, dass die Ermittlungen bei der StA oder der Polizei nur faktisch in einem Vorgang zusammen geführt werden. Warum weder im Leitsatz noch in den Gründen direkt und unmittelbar auf den Terminus „Verbindung“ abgestellt wird, sondern von ausdrücklicher bzw. förmlicher Entscheidung die Rede ist, mag darauf zurückzuführen sein, dass das Gesetz Regeln für Verbindung und Trennung in §§ 2 bis 4 nur für den Fall kennt, im Sinne des § 3 zusammenhängende Strafsachen in die Zuständigkeit von Gerichten verschiedener Ordnung gehören. Die Möglichkeit der Verbindung von zusammenhängenden Strafsachen, die in die Zuständigkeit von Gerichten gleicher Ordnung gehören, und das ist die große Masse der Fälle, wurde vom Gesetzgeber offensichtlich als unproblematisch zulässig angesehen und blieb deshalb ungeregelt.16 Einer Verbindung bedarf es aber gleichwohl auch in diesen Fällen, sei dass es um mehrere Straftaten desselben Beschuldigten, sei es dass es um mehrere Beschuldigte derselben Straftat geht. Denn Gegenstand eines staatsanwaltschaftlichen (polizeilichen) oder eines gerichtlichen Strafverfahrens ist eine bestimmte Tat eines bestimmten (im Ermittlungsverfahren nicht notwendig bekannten) Beschuldigten. Ein Verfahren gegen einen Beschuldigten wegen mehrerer Taten (im prozessualen Sinne) oder gegen mehrere Beschuldigte wegen einer oder mehrere Straftaten kommt immer nur durch Verbindung zustande. Die Verbindung von Strafsachen, die vor Gerichte gleicher Ordnung gehören, ist freilich viel einfacher als das Verfahren nach §§ 2 bis 4. Sie ist auch aktenmäßig leicht nachvollziehbar. Entweder, und das ist die Regel, werden die vorher getrennten Verfahren nunmehr unter einem einheitlichen, regelmäßig dem älteren, oder unter beiden früheren Aktenzeichen geführt. Das ist weit mehr als nur eine faktische Verbindung und beweist ausreichend Förmlichkeit um die prozessualen Voraussetzungen sicher feststellen zu können.
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Vgl. LR-Erb 26. Aufl., § 2 Rn 5; Meyer-Goßner NStZ 2004, 353, 355.
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Die Entscheidung hat Kritik gefunden. Rengier,17 der ohnehin einen materiellen Beschuldigtenbegriff bei Anwendung des § 52 vertritt, beklagt die Einschränkung des Zeugnisverweigerungsrechts durch das Erfordernis einer förmlichen Entscheidung der Staatsanwaltschaft gegenüber der früheren großzügigeren Rechtsprechung; dies werde dem Schutzzweck des § 52, insbesondere der Bewahrung des Zeugen vor Konfliktsituationen und dem Schutz der Familie, nicht gerecht. Der Begriff „förmliche Entscheidung“ sei unklar, da damit auch faktisches Verhalten gemeint sein könne. Dass solches die Entscheidung ausdrücklich ausschloss, wurde bei dieser Kritik übersehen. bb. Gewichtiger waren die Restriktionen bei der Neubewertung der Schutzwürdigkeit der Angehörigen als Zeugen. Den ersten, entscheidenden Schritt machte der 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs.18 Er beabsichtigte das Institut der prozessualen Gemeinsamkeit weitgehend aufzugeben und ein Zeugnisverweigerungsrecht nur dann anzuerkennen, wenn eine prozessuale Gemeinsamkeit in demselben Verfahrensabschnitt besteht, in dem es um das Zeugnisverweigerungsrecht geht, nicht aber dann, wenn eine Trennung der Verfahren stattgefunden hatte. Er hat deshalb bei den anderen Senaten angefragt, ob diese an ihrer entgegenstehenden Auffassung festhalten wollten. In diesem Anfragebeschluss heißt es zusammenfassend: „Zur Verweigerung des Zeugnisses soll der Angehörige also nur berechtigt sein, solange das prozessuale Band unter den Mitbeschuldigten besteht. Danach kommt ein Zeugnisverweigerungsrecht nicht mehr in Betracht, wenn der frühere Mitbeschuldigte – wie hier – durch rechtskräftige Verurteilung oder auch durch Tod aus dem verfahren ausgeschieden ist“. Die Begründung des Anfragebeschlusses ist sehr umfangreich und vielschichtig. Sie darzustellen ist hier nicht der Ort; jedenfalls stimmten die anderen Strafsenate der Rechtsprechungsänderung zu, soweit der angehörige Beschuldigte rechtskräftig verurteilt war. So kam es zur Entscheidung BGHSt 38, 96 mit dem Leitsatz: „Das Zeugnisverweigerungsrecht, das der Angehörige eines Beschuldigten im Verfahren gegen den Mitbeschuldigten hat, erlischt mit rechtskräftigem Abschluss des gegen den angehörigen Beschuldigten geführten Verfahrens“. In diesem Fall sei, so heißt es unter anderem in den Gründen, „das über ihn zwischen seinen Angehörigen und dem jetzigen Beschuldigten geknüpfte Band so schwach geworden, dass es den empfindlichen Eingriff, den die 17
NStZ 1987, 465. Der Anfragebeschluss und die Stellungnahmen der anderen Senate sind dokumentiert bei Widmaier NStZ 1992, 195. 18
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Zeugnisverweigerung in das Verfahren des noch anhängigen Beschuldigten bedeutet, nicht mehr rechtfertigt“. Namentlich Hans Dahs hat die Entscheidung heftig kritisiert und – wenn auch mit Fragezeichen – von einer Demontage des Zeugnisverweigerungsrechts gesprochen.19 Er beanstandet insbesondere, dass die Entscheidung dem Konflikt des Zeugen und dem Schutz der Familie nicht gerecht werde. Auf die Fremdsteuerung der Verfahren durch Zeugnisverweigerungsberechtigte und auf den Verlust von Verteidigungsmöglichkeiten Mitbeschuldigter durch überzogene Zeugnisverweigerungsrechte gehen die Kritiker nicht ein. Insbesondere die Option des verwandten Zeugen, bereits getätigte Aussagen dem Verfahren wieder zu entziehen, wenn ihm dies nach Beweislage opportun erscheint, ist kaum hinnehmbar. Dass gerade der letzte Gesichtspunkt von praktischer Bedeutung sein kann, zeigt der Fall, der Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde war.20 Hier wandte sich der Beschwerdeführer dagegen, dass eine frühere entlastende polizeiliche Aussage seines in der Hauptverhandlung das Zeugnis verweigernden Schwagers bei der Beweiswürdigung nicht verwertet wurde. Kritik an dieser Entscheidung und eine Lösung des Problems mit Hilfe der Mühlenteichtheorie ist an anderer Stelle aufgezeigt.21 Darauf sei hier verwiesen. Es lag nach der Begründung der Entscheidung BGHSt 38, 96 auf der Hand, dass die Rechtsprechung dabei nicht stehen bleiben konnte. Der 4. Strafsenat dehnte die Auflösung der prozessualen Gemeinsamkeit und damit das Erlöschen der Zeugnisverweigerungsrechts auf den Fall aus, dass der angehörige Mitbeschuldigte verstorben war 22 und der 1. Strafsenat korrigierte alsbald seinen in der Sache BGHSt 34, 96 zu weit geratenen Leitsatz dahin, dass auch bei rechtskräftigem Freispruch diese Rechtsfolge eintrete.23 Gerade der dieser Entscheidung zugrunde liegende Sachverhalt zeigt deutlich das Spannungsfeld der verschiedenen im Zusammenhang mit dem Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 verfolgten Interessen: In einer Hauptverhandlung gegen R und D verweigerten die Angehörigen des D das Zeugnis. Darauf wurden die Verfahren getrennt und D freigesprochen. Nach Rechtskraft des Freispruchs gegen D wurde das Verfahren gegen R fortgesetzt und seine Angehörigen als Zeugen gehört. Ihnen stand jetzt kein Zeugnisverweigerungsrecht mehr zu. Diese Situation mag bei den Zeugen zu Spannungen führen. Ein verfahrensrechtlicher Nachteil zu Lasten ihres Angehörigen ist aber ausgeschlossen, Verstimmungen sind im Interesse der Sachaufklärung
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StV 1992, 492; zurückhaltend dagegen Gollwitzer JR 1992, 215. NStZ 2004, 18. 21 Roxin, Schäfer, Widmaier in: Festschrift zu Ehren des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer, 2006, S. 435, 445. 22 NStZ 1992, 291. 23 NStZ 1993, 500. 20
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zu ertragen. Die Wahrheit der Aussage des zeugnisverweigerungsberechtigten Zeugen will § 52 ohnehin nicht garantieren. Der Entscheidung ist deshalb zuzustimmen. Der Vollständigkeit halber sei noch angefügt, dass bei nicht endgültiger Verfahrenserledigung die prozessuale Gemeinsamkeit nicht aufgelöst wird. Dies gilt etwa bei vorläufiger Einstellung nach § 153a, nicht aber bei endgültiger, wenn die Möglichkeit, ein Verbrechen liege vor, ausgeschlossen ist.24 Das Zeugnisverweigerungsrecht besteht ebenfalls fort bei Einstellung der Verfahren nach § 170 Abs. 2,25 § 205 und bei Abtrennung und gesonderter Fortführung.26 In letzterem Fall war schon einmal prozessuale Gemeinsamkeit begründet und es besteht noch die Gefahr der Verurteilung. Nicht zu verkennen ist allerdings, dass im Grunde die prozessuale Lage nicht anders ist als im umgekehrten Fall, in dem niemals eine Verbindung stattgefunden hat. Dem Angeklagten wird damit kein geschütztes Recht genommen, das ihm vorher zugestanden hätte, denn er hat weder auf Verbindung noch auf Trennung oder Nichttrennung einen Anspruch. Und der in solchen Zusammenhängen häufig schnell erhobene Vorwurf der Manipulationsgefahr steht regelmäßig auf tönernen Füßen. d. Dies ist nicht der Ort, eine abschließende Bewertung der Rechtsprechung zu treffen. Sie versucht vertretbar eine mittlere Lösung zwischen einem praktisch nicht handhabbaren materiellen und einem praktisch genauso wenig tauglichen rein prozessualen Beschuldigtenbegriff. Der materielle Beschuldigtenbegriff taugt nicht, weil nicht hinreichend klar ist, wer außerhalb des Verfahrens Beschuldigter sein kann, der rein formelle stellt auf die aktuelle Verfahrenslage ab, was bei Verbindung und Trennung zu einem ständigen Hin und Her zwischen Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 und Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 führen müsste. Fragt man sich, ob die Gründe für die angenommene notwendige Unteilbarkeit der Zeugenaussage überhaupt zutreffen, fällt auf, dass diese ausgesprochen dünn sind. Die postulierte Unteilbarkeit der Zeugenaussage soll ersichtlich eine einheitliche Entscheidung in einer einheitlichen Hauptverhandlung garantieren. Am deutlichsten bringt dies Rudolphi 27 auf den Punkt: „[…] besteht aber zur Wahrung der Vertrauenswürdigkeit der Strafrechtspflege ein dringendes Interesse daran, dass die Feststellung der Tat und der Beteiligung der verschiedenen (Mit-)Beschuldigten an ihr möglichst widerspruchsfrei und damit überzeugend getroffen werden. Dies ist
24 25 26 27
Offengelassen von BGH NStZ 1998, 583. BGHR StPO § 52 Abs. 1 Nr. 3 Mitbeschuldigter 10. A.A. Fischer JZ 1992, 579. NStZ 1998, 472, 473.
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aber nur dann gewährleistet, wenn die zulässigen Beweismittel für die verschiedenen (Mit-)Beschuldigten dieselben sind, es also möglichst vermieden wird, dass Beweismittel nur gegenüber einzelnen, aber nicht allen (Mit-)Beschuldigten zulässig sind […]“ Diese geforderte Einheitlichkeit der Entscheidung wird aber schon durch den Zweifelssatz ausgehebelt. Werden A und B des Einbruchs beschuldigt und steht lediglich fest, das beide an dem Geschehen irgendwie beteiligt waren, einer von ihnen auch in das Haus eingestiegen sein muss, der andere aber möglicherweise nur bei ganz untergeordneter Tatbeteiligung Schmiere stand, müssen beide als Gehilfen verurteilt werden. Einen Haupttäter gibt es dann nicht. Von Einheitlichkeit der Entscheidung kann in diesem Fall ganz sicher nicht gesprochen werden. Eine Einheitlichkeit der Entscheidung gibt es auch nicht, wenn in den Fällen des Zeugnisverweigerungsrechts nach § 52 die Verfahren nie verbunden waren. Warum dann unterschiedliche Ergebnisse hingenommen werden sollen, bei Trennung der Verfahren aber nicht, ist nicht verständlich. Das Argument, eine den Beschuldigten schützende Verfahrensregel dürfe nicht durch den formalen Akt einer Verfahrenstrennung beseitigt werden,28 trägt nicht. Der Beschuldigte, um dessen Wohl sich der Bundesgerichtshof mit dieser Begründung sorgt, ist ja nicht der Angehörige des Zeugen. Er kam in den Genuss des Zeugnisverweigerungsrechts erst durch einen ebenso formalen Akte der Verfahrensverbindung, auf die er ebenso wenig einen Anspruch hatte, wie auf die Nichttrennung. Ebenso wenig gibt es diese Einheitlichkeit der Entscheidung, wenn bei verbundenen Verfahren etwa nach Aufhebung und Zurückverweisung der Sache gegen einen Teil der Beschuldigten der Zeuge jetzt von seinem Zeugnisverweigerungsrecht keinen Gebrauch mehr macht. Ist das Verfahren gegen seinen Angehörigen rechtskräftig erledigt hat er ohnehin kein Zeugnisverweigerungsrecht mehr. Ist dies aber nicht der Fall, so steht es ihm frei, auch wenn er früher das Zeugnis verweigert hatte, jetzt auszusagen. Seine Aussage kann zu gänzlich anderen Ergebnissen führen, als im ersten Verfahren bei Verweigerung seines Zeugnisses. Es bleibt dabei, dass es bei der jetzigen Lösung dem Zufall überlassen ist, ob eine Verbindung stattgefunden hat und damit ein Zeugnisverweigerungsrecht entstanden ist. Es bleibt auch die unbefriedigende Situation, dass Zeugen mit Hilfe des Zeugnisverweigerungsrechts Verfahren auch bezüglich Nichtangehöriger in einer Weise steuern können, die jeglichem Bemühen um Wahrheitsfindung Hohn spricht und dass auch in vielen Fällen dritte Beschuldigte entlastendes Beweismaterial dem Verfahren aus Gründen eigenen Familienschutzes vorenthalten bleibt. 28
BGHSt 43, 300, 305.
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Die gerechteste Lösung wäre es nach alledem, das Zeugnisverweigerungsrecht strikt auf den angehörigen Beschuldigten zu beschränken und damit unterschiedliche Beweislagen auch innerhalb einer Hauptverhandlung, wie in den Fällen des Zweifelssatzes in Kauf zu nehmen. Schließlich bedeutet jede Zeugnisverweigerung eine Einschränkung der Wahrheitsfindung zugunsten der nicht beschuldigten Angehörigen, die allein durch einen zufälligen prozessualen Akt, nämlich die Verbindung verursacht wurde. 2. Kommen wir zurück auf unseren Fall. Hier war es ja nicht um das Zeugnisverweigerungsrecht von Angehörigen gegangen, sondern das OLG München hatte die für Zeugen als Angehörige eines Beschuldigten entwickelten Grundsätze auf die Beschlagnahme von Verteidigungsmaterial angewandt. Es stützte sich dabei auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs, die diese Grundsätze nach einer Verfahrenstrennung auch auf das ArztPatienten-Verhältnis angewandt hatte 29 a. Die prozessuale Situation spricht auch hier für eine prozessuale Gemeinsamkeit. Die Verfahren gegen H, M und Dr. P waren ursprünglich verbunden geführt worden und Gegenstand der Aufzeichnungen des Dr. P waren Vorgänge, die allen drei Beschuldigten in gleicher Weise vorgeworfen wurden. Dabei konnte das OLG München offen lassen, ob das Beschlagnahmeverbot gegenüber dem Beschuldigten P. auf einer erweiternden Auslegung des § 97 beruhte, nach der wegen des Rechts auf freien Verkehr des Beschuldigten mit seinem Verteidiger nach § 148 StPO auch noch gar nicht abgesandte Verteidigungsunterlagen vor Beschlagnahme geschützt sind, oder ob der Schutz der Verteidigungsunterlagen wie bei jeder (noch) nicht durch einen Verteidiger vertretenen Privatperson unmittelbar aus Art. 6 Abs. 3 MRK in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 3 GG hergeleitet wird 30. In beiden Fällen erscheint die Parallele zum Zeugnisverweigerungsrecht des Angehörigen zwingend. Folgt man der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dazu, ist an der Entscheidung nichts auszusetzen und ihr mit Satzger zuzustimmen. b. Wie aber wäre der Fall zu lösen gewesen, wenn das Verfahren gegen Dr. P nie mit dem Verfahren gegen H und M verbunden gewesen wäre, eine prozessuale Gemeinsamkeit also niemals bestanden hätte? Hätten dann die Verteidigungsunterlagen des Dr. P im Verfahren gegen H und M beschlagnahmt und verwertet werden dürfen. Eine Frage, die zweifellos große Sprengkraft aufweist, und tief in das Verständnis von Verteidigung vorstößt. aa. Nach der Rechtsprechung zur prozessualen Gemeinsamkeit bei Angehörigen wäre eine solche Beschlagnahme möglich. Freilich besteht zwi29 30
BGHSt 43, 300. Nachweise bei LR-G. Schäfer 25. Aufl., § 97 Rn 85.
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schen dem Zeugnisverweigerungsrecht nach § 52 des Angehörigen und dem nach § 53 des Verteidigers ein gewichtiger Unterschied. Während § 52 sich nur auf das Verhältnis zwischen dem Zeugen und dem angehörigen Beschuldigten bezieht und andere Beschuldigte allenfalls über das Konstrukt der prozessualen Gemeinsamkeit Vorteile aus dem Zeugnisverweigerungsrecht des Angehörigen ziehen können, besteht das Zeugnisverweigerungsrecht der geschützten Berufe nach § 53 Abs. 1 unabhängig von einer Patienten-, Mandanten- oder sonstigen Beziehung zwischen dem Berufsangehörigen und dem Beschuldigten. Das Berufsgeheimnis des Arztes gibt ihm ein Zeugnisverweigerungsrecht auch bezüglich des Opfers einer Straftat. bb. Problematischer ist die Rechtslage bei der Beschlagnahme. Hier stellt das Gesetz bezüglich der in § 53 Abs. 1 Nr. 1 bis Nr. 3b genannten Berufsträger auf deren Verhältnis zum Beschuldigten ab. Dies ist zwar nicht ganz unumstritten, anderes ist aber mit dem Gesetzeswortlaut schlicht nicht vereinbar.31 Das Beschlagnahmeprivileg dieser Berufe geht also nicht so weit, wie deren Zeugnisverweigerungsrecht. Dass dies nicht inkonsequent sein muss, hat Samson32 belegt und darauf hingewiesen, dass diese Zeugen zwar eine Beschlagnahme dulden müssen, ihre Herausgabepflicht nach § 95 Abs. 2 aber nicht durch Ordnungsmittel erzwungen werden kann. cc. Nach diesen Grundsätzen hätte also im vorliegenden Fall, wären die Verfahren gegen H, M und Dr. P nicht früher verbunden gewesen, eine Beschlagnahme im Verfahren gegen H und M zulässigerweise stattfinden können. Dem widerspricht zunächst das Rechtsgefühl, weil Verteidigungsunterlagen wegen ihrer höchstpersönlichen Natur jedem staatlichen Zugriff entzogen sein müssten. dd. Dem widerspricht aber auch die Rechtslage, die ich in an anderer Stelle 33 eingehender dargelegt habe und auf die ich hier verweisen muss. In Rechtsprechung 34 und Literatur 35 ist grundsätzlich anerkannt, dass die Vertrauensbeziehung zwischen dem Beschuldigten und seinem Verteidiger nach 31
Einzelheiten bei LR-G. Schäfer 25. Aufl., § 97 Rn 21. StV 2000, 55. 33 Festschrift für Hanack 1999, S. 77 ff; vgl. auch LR-G. Schäfer 25. Aufl., § 97, 24. 34 BGH NJW 1973, 2035; BGHSt 33, 347, 349 mit Anm. Beulke Jura 1986, 642 ff, Rieß JR 1987, 77 f, Teske JA 1986, 459 ff und Welp NStZ 1986, 294 ff; BGH (Ermittlungsrichter) StV 1990, 146 f mit Anm. Nestler-Tremel; BGH NJW 1998, 1963 = NStZ 1998, 309 mit Anm. Martin JuS 1998, 850, Satzger JA 1998, 632, Vahle DSB 1998, 23. 35 Brenner Die strafprozessuale Überwachung des Fernmeldeverkehrs mit Verteidigern, 1994, zugl. Diss. Tübingen 1992, S. 54 ff; Dahs GedS K.-H. Meyer, 1990, S. 61 ff; Groß StV 1996, 559 ff; Hamm NJW 1993, 289, 295; Kneuer Der Schutz der Geheimsphäre der Verteidigung. Das Recht auf ungehinderte Kommunikation zwischen Klient und Verteidiger (§§ 148, 148 a StPO), Diss. Bonn 1992, S. 166 ff; Mörlein Der Schutz des Vertrauensverhältnisses zwischen Verteidiger und Beschuldigtem im Rahmen des § 100a StPO, Diss. München 1993; Taschke StV 1990, 436 ff; Werle JZ 1991, 482. 32
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außen abgeschirmt und gegen Eingriffe geschützt werden muss, soll wirksame Strafverteidigung gewährleistet sein. Der Grund dafür liegt nicht nur im subjektiven Interesse der Beteiligten an sachgerechter Verteidigung. Für das Zeugnisverweigerungsrecht nach § 53 Abs. 1 Nr. 2 und 3 hat der Bundesgerichtshof hervorgehoben,36 jenseits des individuellen Geheimnisschutzes solle damit auch das besonders schützenswerte Verteidigungsmandat als Bestandteil eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens 37 gesichert werden. Der freie Gedankenaustausch zwischen Verteidiger und Beschuldigten ist also, ebenso wie die persönliche Fertigung von Verteidigungsunterlagen, Essentiale einer effektiven Verteidigung. Damit verträgt es sich nicht, dass diese gegen den Willen der Betroffenen 38 durch Beschlagnahme Beweismittel in einem Strafverfahren werden, mag dieses Verfahren auch nicht gegen den eigenen Mandanten gerichtet sein. Das überragende Schutzgut freie und effektive Verteidigung verbietet wie beim Kernbereich privater Lebensgestaltung jeglichen staatlichen Zugriff. Solche Überlegungen hat die Verteidigung in vorliegender Sache wohl auch im Auge gehabt. Schließlich heißt es am Schluss der Gründe des OLG München sybillinisch: „Offen bleiben kann, ob darüber hinausgehend allgemein für den Bereich der Verteidigung im Strafverfahren auf Verteidigungsunterlagen weder im Hinblick auf das eigene Verfahren des Beschuldigten noch im Hinblick auf Verfahren gegen andere Personen zugegriffen werden darf, wie die Verteidiger der Angeklagten H, Rechtsanwalt Prof. Dr. H, und des Angeklagten M, Rechtsanwalt Prof. Dr. W, fordern“. Die Verteidiger könnten mit dieser Entscheidung zufrieden sein. Wer freilich nicht Verteidiger in vorstehender Sache war, wird es bedauern, dass das OLG diese Frage nicht entscheiden musste.
36
BGHSt 29, 99, 106; 33, 347, 349; 38, 7, 10. Zum Interesse des Rechtsstaats an der Gewährleistung einer wirksamen Verteidigung BVerfGE 39, 238, 241; 46, 202, 210; 65, 171, 174; 68, 237, 254. 38 Das kann auch der Verteidiger sein; siehe. dazu Verf. in: FS Hanack, S. 77, 89. 37
Die Staatsanwaltschaft – ein politisches Instrument? Hans-Christoph Schaefer I. Auf dem Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers Dachau – vor den Toren Münchens – empfängt den Besucher in der Eingangshalle, dem so genannten Museum, eine umfangreiche Dokumentation 1 von Bildern, Texten, Fotografien und Zeichnungen, die die Alltäglichkeit des Lebens in einem Lager darstellen sollen, in dem Tausende gestorben sind und Abertausende unsäglich gelitten haben. Diese Bilder und Schriftstücke sind so beeindruckend und schockierend, dass der Betrachter zunächst gar nicht alles fassen und erfassen kann. Dies erklärt, dass auch der geschulte Besucher zunächst an Texten vorbei geht, die ihm eigentlich als Angehörigen der Justiz besonders auffallen müssten, weil es einschlägige Texte sind. Erst beim zweiten Betrachten wird einem klar, um was es sich im Einzelnen handelt. Da ist zunächst ein Bericht des Leiters der Staatsanwaltschaft München II vom Juni 1933 an seine vorgesetzten Behörden über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen Unbekannt wegen Verdachts des Mordes und gegen den Lagerkommandanten und den Lagerarzt wegen Verdachts der Begünstigung.2 Der Bericht schildert den Verdacht, dass mehrere Schutzhäftlinge offensichtlich gewaltsam zu Tode gekommen seien, obwohl bei der Leichenschau von dem Arzt Selbstmord bescheinigt worden war. Der Behördenleiter schildert auch ein Gespräch mit dem damaligen Chef der Münchener Polizei, in dem dieser die Unterstützung der Polizei und die restlose Aufklärung der ungeklärten Todesfälle zusicherte. Dieser damalige Münchener Polizeikommandeur war übrigens der spätere so genannte Reichsführer SS Heinrich Himmler. In einem weiteren Bericht an das Justizministerium schildert der Leiter der Staatsanwaltschaft München II den Fortgang der Ermittlungen, etwa das
1 Konzentrationslager Dachau, 1933–1945, Katalogband, Comité de Dachau, Brüssel, 8. Aufl. 1978. 2 Konzentrationslager Dachau, Katalogband, aaO, S. 87 (Dokumentennrn. 184–187).
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Ergebnis der Obduktion: Eindeutig gewaltsame Tötung durch stumpfe Gewalteinwirkung auf die Schädel der Opfer und andere Ermittlungsergebnisse, die den Vorwurf des Mordes nachhaltig bestätigten.3 Dann geschieht eine Weile nichts, man kann es an den Daten ablesen. Dann sieht man in dieser Dokumentation ein Schreiben des Bayerischen Innenministers an seinen Kollegen Justizminister, in dem er ihn bittet, ihn bei seinem Antrag auf Niederschlagung der Verfahren im Bayerischen Ministerrat zu unterstützen.4 Bei dem nächsten Dokument handelt es sich um ein Schreiben des Justizministers an dem Ministerpräsidenten, in dem er darum bittet, die eingeleiteten Ermittlungsverfahren wegen Mordes niederzuschlagen.5 Zur Begründung wird angeführt, dass „durch die Durchführung der Ermittlungsverfahren dem Ansehen des nationalsozialistischen Staates großer Abbruch deswegen getan würde, weil diese Verfahren sich gegen Angehörige der SA und SS richteten und somit die SA und SS, also Hauptträger des nationalsozialistischen Staates, unmittelbar betroffen würden“. Das Schreiben schließt mit den Worten: „Angesichts dieser Rechtslage bitte ich den Antrag des Herrn Staatsministers des Innern dem Ministerrat zu unterbreiten“. Das letzte Schriftstück in dieser Reihe zeigt dann einen kurzen Bericht des Leiters der Staatsanwaltschaft München II an den Generalstaatsanwalt mit folgendem Text: 6 „Das Verfahren habe ich eingestellt, da die Erhebungen keine ausreichenden Anhaltspunkte für die Annahme eines fremden Verschuldens am Ableben der Schutzhäftlinge ergeben haben“. Das Bemerkenswerte an diesem letzten Schriftstück ist, dass der unterzeichnende Behördenleiter einen anderen Namen trägt als der Verfasser der früheren Berichte. Es ist also offenkundig: Der Behördenleiter wurde abgelöst, um mit einem anderen gefälligeren das gewünschte Ergebnis unproblematisch zu erreichen. Den Namen des abgelösten Behördenleiters habe ich später an anderer Stelle wieder gefunden: Er wurde auf einen Posten als Richter bei dem Oberlandesgericht in Bamberg abgeschoben.7 Sein Nachfolger machte weitere Karriere: Er wurde später Reichsanwalt beim Volksgerichtshof.8 Da hat also ein Staatsanwalt, ein Behördenleiter, damals nur seine gesetzliche Pflicht erfüllt. Er war sicher kein Widerstandskämpfer. Aber er wollte 3
Konzentrationslager Dachau, Katalogband, aaO, S. 88 (Dokumentennrn. 187–189). Konzentrationslager Dachau, Katalogband, aaO, S. 89 (Dokumentennr. 190). 5 Konzentrationslager Dachau, Katalogband, aaO, S. 89 (Dokumentennrn. 191–192). 6 Konzentrationslager Dachau, Katalogband, aaO, S. 89 (Dokumentennr. 193). 7 Karl Wintersberger Vorgänge bei OLG Bamberg – 1278 – V/10. 8 Dr. Paul Barnickel; Ingo Müller Furchtbare Juristen, München 1987 erwähnt ihn im Zusammenhang mit den in Nürnberg nach dem Krieg geführten Juristenprozessen, S. 271 ff; vgl. auch „Justiz und Nationalsozialismus“, Katalogband des BJM zur gleichnamigen Ausstellung, Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1989, S. 331 ff. 4
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sich auch nicht politisch instrumentalisieren lassen, er hat nicht getan, was die damalige Staatsräson von ihm verlangte. Zum Schein wird er zunächst in seinen Bemühungen unterstützt, später geht man einfach über ihn hinweg.
II. Es war dem Unrechtsstaat des Dritten Reiches sehr schnell gelungen, die Justiz und damit auch die Staatsanwaltschaft einzunehmen und für seine Zwecke zu missbrauchen. Die Staatsanwaltschaft, die nach ihrer Entstehungsgeschichte zu einem besonderen Garanten eines rechtsstaatlichen Verfahrens aufgerufen ist, wurde auf den damaligen Staatswillen eingeschworen. Sie war kein Schutzwall gegen das Unrechtsregime. Sie galt „als verlängerter Arm der politischen Führung im Strafverfahren, als Werkzeug des Führers und soldatische Truppe der Partei in vorderster Front“.9 Die Art der gesetzlichen Verankerung der Institution Staatsanwaltschaft hat nicht genügt oder war nicht geeignet, sich dem Zugriff des Unrechtsstaates, der die Staatsanwaltschaft zu einem bloßen politischen Instrument erniedrigte, zu widersetzen. Sie galt in der Zeit des Dritten Reichs als staatliche Lenkungsbehörde.10 Nun kann man bei der Beantwortung der Frage, ob die Staatsanwaltschaft ein politisches Instrument ist, das von den Verantwortlichen der Politik jederzeit und bei Bedarf in die gewünschte Richtung gelenkt wird, nicht allein oder vorwiegend von der Zeit des Nationalsozialismus oder anderer totalitärer Phasen der deutschen Geschichte ausgehen, weil damals eben vieles über Bord geworfen wurde. Auch andere Bereiche und Institutionen haben sich dem Nationalsozialismus geöffnet. So – um im Justizbereich zu bleiben – die Richterschaft mit ihrer damals zumindest formell bestehenden Unabhängigkeit 11 oder die Anwälte, die als Angehörige eines freien Berufs nicht in einer weisungsabhängigen Hierarchie standen.12 Dies ist kein Vorwurf an die Justizgeneration des Dritten Reiches. Die nachfolgende Generation, die das Kriegsende als kleine Kinder erlebt hat oder erst nach dem Krieg geboren wurde, hat nicht das Recht, die Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte im Dritten Reich anzuklagen, etwa mit dem Argument, wie konntet Ihr so versagen? Die oft gebrauchte Formel von der „Gnade der späten Geburt“ ist richtiger als diejenigen manchmal 9 Gerhard Riehle Die rechtsstaatliche Bedeutung der Staatsanwaltschaft unter besonderer Berücksichtigung ihrer Rolle in der nationalsozialistischen Zeit, Dissertation, Frankfurt am Main 1985, S. 251. 10 Roxin DRiZ 1997, 110. 11 Bernd Rüthers Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich, München 1992; Müller (Fn 8); Hirsch DRiZ 2002, 228 ff; Gritschneder DRiZ 2002, 35; Voss DRiZ 1999, 436; Wrobel DRiZ 1999, 339. 12 Stefan König Vom Dienst am Recht, Berlin 1987.
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glauben, die sie gebrauchen. Es ist eine Gnade, von quälenden Konflikten verschont geblieben zu sein. Niemand von den Jüngeren kann der Justizgeneration des Dritten Reiches den Vorwurf machen, keine Märtyrer und Widerstandskämpfer gewesen zu sein, niemand kann heute sagen, wie er sich selbst damals verhalten hätte. In allen Bereichen gab es einzelne, die sich zu widersetzen versucht haben und die nicht bereit waren, den damaligen Staatswillen um jeden Preis umzusetzen.13
III. Man wird also die Staatsanwaltschaft, ihre Funktionsfähigkeit und ihre gesetzliche und gerichtsverfassungsrechtliche Grundlage auch und vorwiegend an anderen Zeiten messen müssen, um letztlich die Frage beantworten zu können: Ist diese Institution immer in besonderer Weise anfällig, um politisch instrumentalisiert, um nicht zu sagen, missbraucht zu werden? Die Schöpfer der Staatsanwaltschaft wollten jedenfalls damals etwas ganz Besonderes: Die Staatsanwaltschaft sollte das inquisitorische Verfahren mit einem Gericht, das bis dahin ermitteln und gleichzeitig entscheiden konnte, ablösen. Sie sollte als „Wächter des Gesetzes“ befugt sein, von Anfang dahin zu wirken, dass überall dem Gesetz „Genüge geschehe“ und sie sollte, „indem sie bei Polizei und Gerichten gleichermaßen als Wächter des Gesetzes fungiere, das vermittelnde Band zwischen ihnen bilden“.14 Die Staatsanwaltschaft wurde im Übrigen dem Justiz- und nicht dem Innen-(Polizei)Ministerium unterstellt, um den „Rechts- und nicht den Machtwillen des Staates zu repräsentieren“. Eine unabhängige Stellung hat der Staatsanwaltschaft deshalb, weil sie dem Justizministerium unterstellt wurde, nicht gegeben zu werden brauchen.15 Alles in allem diente die Einführung der Staatsanwaltschaft dazu, das Ermittlungs- und Strafverfahren in besonderer Weise rechtsstaatlich und fair zu machen. Die Frage stellt sich, ob die bisher gemachten Erfahrungen mit der Institution Staatsanwaltschaft die Vermutung nahe legen, dass die Staatsanwaltschaft letztlich eine Fehlkonstruktion ist, weil sie so nicht funktionieren kann wie sie eigentlich sollte, eben weil die Macht des Faktischen sie in eine andere Position drängt als zum Zeitpunkt ihrer Entstehung absehbar war und/oder weil sie selbst oder andere sie nicht so haben wollten und wollen,
13 Bernd Rüthers (Fn 11); Wrobel DRiZ 1999, 24; zum Gedenken an den Vormundschaftsrichter Lothar Kreyssig vgl. auch DRiZ 1999, 14. 14 Promemoria der preußischen Justizminister von Savigny und Uhden, vgl. hierzu Eberhard Schmidt Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, Göttingen 1965, 3. Aufl., S. 330 ff. 15 Eberhard Schmidt aaO.
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wie es sich die Schöpfer vorstellten. Fehlkonstruktion durch ihre Doppelköpfigkeit mit teils exekutivischen Aufgaben – Ermittlungsbehörde-, teils justiziellen – Anklage – und Einstellungsbehörde? Fehlkonstruktion durch ihre Abhängigkeit und Weisungsgebundenheit gegenüber dem Justizministerium, gleichzeitig aber dazu aufgerufen, wirksame Kontrollinstanz gegenüber Gericht und Polizei zu sein? Ist die Staatsanwaltschaft so konstruiert, dass sie ständig Gefahr läuft, ein politisches Instrument zu sein? Wie sieht die Wirklichkeit der Staatsanwaltschaft bei uns heute aus, verkörpert sie wirklich den Rechts- und nicht den Machtwillen des Staates? In der aktuellen Diskussion sehe ich keinen grundsätzlichen Dissens darüber, was Durchsetzung des Rechtswillens bedeuten soll. Er bedeutet mehr Rechtsstaatlichkeit, gewissermaßen mehr Rechtsqualität. Die Staatsanwaltschaften müssen also ertragen, wenn das Justizministerium ihnen rechtliche Fehler im Rahmen der Dienstaufsicht vorhält, im Rahmen des Opportunitätsprinzips zu anderen Ergebnissen kommt oder eine Vereinheitlichung der Rechtsanwendung anmahnt. Darüber hinaus sehe ich allerdings keinen Anwendungsbereich für die Durchsetzung des Rechtswillens und demzufolge die Erteilung von Weisungen an die Staatsanwaltschaften. Insofern ist die Weisungsabhängigkeit der Staatsanwaltschaft eine besondere, weil beschränkte. Sie unterscheidet sich daher von anderen Hierarchien und Weisungsabhängigkeiten in der allgemeinen Staatsverwaltung. Gleichwohl bleibt die Frage: Wird tatsächlich immer nur eine Weisung erteilt, um mehr Rechtsqualität, Rechtsstaatlichkeit zu erreichen? Wird nicht hin und wieder doch versucht, den Machtwillen des Staates gegenüber den Staatsanwaltschaften durchzusetzen und eben nicht den Rechtswillen? Folgt man dem Deutschen Richterbund, dann wird man mit dieser größten deutschen Berufsorganisation für Richter und Staatsanwälte davon ausgehen müssen, dass das Weisungsrecht in der überschaubaren Vergangenheit doch des Öfteren gebraucht, um nicht zu sagen missbraucht worden ist, um den Machtwillen des Staates durchzusetzen. Anders ist der Appell an Bundesund Landesgesetzgeber vom April 1986 16 nicht zu verstehen, „die Staatsanwälte entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als Organe der Strafrechtspflege und nicht als Regierungsorgane zu begreifen, deren höchste Beamte (der Staatsanwaltschaft) gehalten seien, ihr Amt in fortdauernder Übereinstimmung mit den grundsätzlichen politischen Ansichten und Zielen der Regierung auszuüben.“ Der Richterbund muss schon einen politischen Missbrauch des Weisungsrechts gesehen und festgestellt haben, wenn er in der damaligen Erklärung auch forderte, „dass den Justizministern die Befugnis genommen wird, durch Weisungen oder auf andere Weise Einfluss auf die Sachbehandlung in einem einzelnen Verfahren zu neh-
16
Presserklärung des DRB vom 18.4.86, DRiZ 1986, 236.
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men.“ Dieser Appell des Deutschen Richterbundes erging auf dem Höhepunkt der so genannten Parteispendenaffäre mit einer Reihe von Ermittlungsverfahren, die zu bewältigen für die Staatsanwaltschaften im gesamten Bundesgebiet keine leichte Aufgabe war. Die sehr unterschiedliche Erledigung dieser Verfahren in den einzelnen Bundesländern spricht eine eigene Sprache und sicher nicht dafür, dass die Verfahrensabschlüsse der Staatsanwaltschaften völlig unbeeinflusst geblieben sind. In der Öffentlichkeit ist schwerlich der Eindruck entstanden, die Staatsanwaltschaften und ihre Unterstellung unter die Justizministerien verwirklichten ausschließlich den Rechtswillen des Staates. Aus der Sicht des Richterbundes ist es daher konsequent, wenn er eine Reform des Amtsrechts der Staatsanwälte 17 und dabei die weitgehende Weisungsunabhängigkeit von der Politik fordert. Ein besonders nachhaltiges Echo hat er damit allerdings nicht erzielt. Auch der 65. Deutsche Juristentag in Bonn im Jahre 2004 lehnte mit deutlicher Mehrheit seine Vorschläge zum externen Weisungsrecht ab.18 Man muss genau differenzieren: An der Notwendigkeit einer hierarchischen Struktur der Staatsanwaltschaft und damit dem Fortbestehen des so genannten internen Weisungsrechts bestehen in der öffentlichen Diskussion kaum Zweifel.19 Es gibt nur wenige, die neben dem unabhängigen Richter auch noch den unabhängigen Staatsanwalt fordern, oft ohne dabei zu bedenken, dass es dazu einer Grundgesetzänderung (Art. 97 GG) bedürfte. Überwiegend geht es in der öffentlichen Diskussion weniger um den einzelnen Staatsanwalt und seine Unabhängigkeit als vielmehr um die Staatsanwaltschaft und ihr Verhältnis zum vorgesetzten Justizministerium und damit das so genannte externe Weisungsrecht. Im europäischen Raum existiert die Staatsanwaltschaft jedenfalls vorwiegend als hierarchische Organisation. Eine solche Struktur wird auf europäischer Ebene ausdrücklich empfohlen, wie es das Ministerkomitee des Europarates in seiner Empfehlung vom 6.10.2000 20 zum Ausdruck gebracht hat („die Staaten tragen Sorge, dass einer hierarchischen Organisation der Vorzug gegeben wird“). 17 Entwurf der Kommission für die Angelegenheiten der Staatsanwälte im Deutschen Richterbund von August 2003 DRiZ 2003, 249 ff; vgl. auch das Plenarprotokoll des Landtages von Nordrhein-Westfalen über die Sitzung vom 10.3.2004 – 13/115, S. 11392 – LTDrs. 13/5111: „Für eine unabhängige Staatsanwaltschaft“. 18 Bericht über den 65. Deutschen Juristentag, DRiZ 2004, 304; vgl. auch Bölter Der Staatsanwalt frei von ministerieller Weisung: Vision und Wirklichkeit, Beitrag zur FS zu Ehren des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer, 2006, S. 293 ff. 19 Vgl. den Alternativentwurf zur Reform des Ermittlungsverfahrens, München 2001, S. 141 ff. 20 Europarat, Empfehlung Rec (2000) 19 „zur Rolle der Staatsanwaltschaft in der Strafgerichtsbarkeit“.
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Hierarchische Organisation und internes Weisungsrecht (§§ 146, 147 GVG) gehören zwingend zusammen. Eine Ausnahme sollte allerdings für die Hauptverhandlung gelten. Da der Schlussvortrag auf einer freien Würdigung der Beweise, die sich aus dem Inbegriff der Hauptverhandlung ergeben, beruht, wird eine solche Weisung auch schon nach geltendem Recht in der Fachdiskussion überwiegend als problematisch, zum Teil auch als unzulässig angesehen.21 Umstritten sind in der öffentlichen Diskussion das externe Weisungsrecht des Justizministeriums und damit die Abhängigkeit der Staatsanwaltschaft von der Regierung.22 Allein schon die Existenz dieses Weisungsrechts trägt in der Öffentlichkeit zu der Annahme bei, in politisch brisanten Verfahren werde auf die Staatsanwaltschaft massiv Einfluss genommen. Deshalb wird von verschiedenen Seiten die vom Justizministerium unabhängige Staatsanwaltschaft gefordert und u.a. auf einige europäische Länder verwiesen, in denen eine solche Unabhängigkeit mehr oder weniger besteht. Zur Begründung einer solchen unabhängigen Staatsanwaltschaft wird auch das Grünbuch der Kommission der Europäischen Gemeinschaften vom 11.12.2001 23 „zum strafrechtlichen Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften und zur Schaffung einer europäischen Staatsanwaltschaft“ genannt, wonach der europäische Staatsanwalt, der allerdings funktional nur eine auf die finanziellen Interessen der EU beschränkte Kompetenz hat, keinem externen Weisungsrecht eines anderen Organs der EU unterworfen sein soll. In der bereits erwähnten Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates vom 6.10.2000 „zur Rolle der Staatsanwaltschaft in der Strafgerichtsbarkeit“ wird es – im Unterschied zur internen Struktur der Staatsanwaltschaft, die ausdrücklich empfohlen wird – den einzelnen Ländern überlassen, ob sie eine Regierungsabhängigkeit der Staatsanwaltschaften haben oder nicht.24
IV. Die Überlegungen, die seinerzeit in Deutschland zur Einführung der Staatsanwaltschaft führten und sie in eine Hierarchie stellten, sind auch heute grundsätzlich noch richtig und aktuell. Die Nachteile der geltenden Regelung sind zwar vorhanden aber nicht so gravierend, dass eine Änderung drin-
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Beulke Lehrbuch zum Strafprozessrecht, 8. Aufl. 2005, Rn 86. Rautenberg DRiZ 2000, 141 ff, der die Abhängigkeit der Staatsanwaltschaft von der Regierung vor allem in dem politischen Status der Generalstaatsanwälte sieht, der noch im Bund und in einigen Ländern besteht; Günther DRiZ 2002, 55; Heghmanns GA 2003, 441 f. 23 Kom Dokument (2001) 715 endg; vgl. auch Frank DRiZ 2002, 210. 24 Vgl. Ziff. 13 der Empfehlung. 22
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gend geboten ist. Der böse Anschein einer sachfremden politischen Einflussnahme auf die Staatsanwaltschaften wird im Zweifel aus gegebenem Anlass in jedem System anzutreffen sein, unabhängig von der Frage, ob das Weisungsrecht in einzelnen Verfahren tatsächlich auch ausgeübt wird. Nach vorliegenden Erkenntnissen über die allgemeine Weisungspraxis in einzelnen Verfahren in der Bundesrepublik Deutschland ist festzustellen, dass, wenn überhaupt, nur in ganz seltenen Fällen eine solche Einzelweisung erteilt wird.25 Für diese Zurückhaltung beim Gebrauch des Weisungsrechts in einzelnen Verfahren – nur darum geht es – spricht neben dem Respekt gegenüber einer heute zunehmend selbstbewusster werdenden Staatsanwaltschaft sicher auch die Transparenz solcher Vorgänge in der heutigen Medienwirklichkeit, die zu unangenehmen Veröffentlichungen und politisch-parlamentarischen Auseinandersetzungen führen kann. Diese zurückhaltende Weisungspraxis schließt allerdings andere mögliche sachfremde Einflussnahmen, die durchaus massiv sein können, etwa durch ständige Berichterstattung, Vorträge, Aktenvorlagen u.a. nicht aus. Auch kann die erkennbar werdende Erwartungshaltung der vorgesetzten Dienststelle durchaus der Wirkung einer sachfremden Weisung gleich kommen, wenn dabei allzu deutlich wird, dass ein Abschluss eines staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens gewünschter ist als ein anderer oder ein bestimmtes Ermittlungsverfahren in diese Erwartungshaltung besser passt als ein anderes und dieser Erwartungshaltung mit antizipiertem Gehorsam und nicht der gebotenen kritischen Loyalität begegnet wird. Beide Seiten, vorgesetzte Dienststelle wie auch die nachgeordnete Staatsanwaltschaft haben ihren Beitrag dazu zu leisten, dass es bei ihren Kontakten über die Handhabung oder Erledigung eines Ermittlungsverfahrens nicht zu Missverständnissen und Missdeutungen kommt, die dann möglicherweise noch Gegenstand öffentlicher Berichterstattung werden. Dabei wird die Staatsanwaltschaft zu akzeptieren haben, dass der Justizminister die politische Verantwortung für die ihm nachgeordnete Staatsanwaltschaft zu tragen und für das staatsanwaltliche Handeln dem Parlament gegenüber Rede und Antwort zu stehen hat. Die Staatsanwaltschaft kann also nicht so tun, als ob alles Politische sie nicht zu interessieren hat. Aber sicher ist auch, dass die politische Erwartungshaltung und/oder der Druck der öffentlichen Meinung, die diese Erwartungshaltung in gewisser Weise hervorbringt, die staatsanwaltliche Arbeit und das staatsanwaltliche Handeln nicht dominieren dürfen. Es darf nicht so weit kommen, dass die Staatsanwälte sich vorwiegend an der Anerkennung in den Medien und der Politik orientieren.
25 Vgl. z.B. das Interview des Justizministers von Nordrhein-Westfalen vom Februar 2002 in DRiZ 2002, 44; Bölter aaO, S. 300.
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Es gibt Verfahren, in denen erfahrungsgemäß eine große Versuchung der politisch Verantwortlichen besteht, in geeigneter Weise – auch ohne ausdrückliche Weisung – den politischen Machtwillen des Staates durchzusetzen und eben nicht den Rechtswillen. Es sind vorwiegend die Verfahren, die sich gegen Angehörige der politischen Klasse richten, der jeweiligen Regierung oder dieser nahe stehende Personen. Es sind Verfahren gegen Prominente jedweder Provenienz und solche, deren Gegenstand und Inhalt schon die Brisanz ausmachen. Zu denken ist z.B. aber nicht abschließend an Verfahren gegen andere staatliche Stellen und Angehörige des öffentlichen Dienstes wegen Verdachts der Korruption, Wirtschaftsunternehmen wegen Umwelt – oder anderer Straftaten, wenn durch das staatsanwaltliche Vorgehen tatsächlich oder angeblich Arbeitsplätze gefährdet werden könnten. Neben der schon erwähnten kritischen Loyalität und Zivilcourage, mit denen die Staatsanwälte und Staatsanwältinnen jeden Ranges ihr Verhältnis zu ihren Vorgesetzten aber auch den vorgesetzten Dienststellen gestalten müssen und nicht mit antizipiertem Gehorsam, sollten Staatsanwälte und Staatsanwältinnen sich auch um das richtige Rollenverständnis bemühen, mit dem sie ihren Beruf ausüben, um nicht politisch instrumentalisiert zu werden. Bei der Reflektion des eigenen Rollenverständnisses zeigt ein Blick in die Entstehungsgeschichte der Staatsanwaltschaft, dass die Staatsanwälte früher ihre Aufgabe völlig anders interpretierten als es sich die Schöpfer der Staatsanwaltschaft vorgestellt hatten. Die Staatsanwaltschaft, gedacht als eine Institution, die dazu aufgerufen war, „liberaler Überwinder staatlicher Unterdrückung“ zu sein, wie es sich bis dahin im Inquisitionsprozess ausgedrückt hatte, ist so, wie die Schöpfer es sich vorstellten, von den Staatsanwälten selbst nicht angenommen worden. Die Staatsanwälte neigten in der Vergangenheit immer mehr dazu, Anwälte des Staates zu sein, sich auch der Staatsräson verpflichtet zu fühlen, als sich als“ liberale Überwinder staatlicher Unterdrückung“ anzusehen.26 Der Schutz des Einzelnen, die absolute Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens waren nicht die Prinzipien, denen sich die Staatsanwälte in erster Linie verpflichtet fühlten. In den nachfolgenden Zeiten totalitärer Regime ist die Staatsanwaltschaft zudem auch bewusst zur Erfüllung einseitiger Staatsinteressen instrumentalisiert worden. Dies fiel umso leichter, als die Bereitschaft der Staatsanwälte, sich ausschließlich oder vorwiegend am Staatswillen zu orientieren, groß war. Diese Zeiten sind heute vorbei, geblieben ist allerdings bei einem durchaus gewachsenen Selbstbewusstsein der heutigen Staatsanwälte und Staatsanwältinnen eine gelegentlich anzutreffende Überbetonung des staatlichen Strafverfolgungsanspruchs, ohne dass der Kontrollgesichtspunkt, der im Verhältnis zur Polizei und dem
26
Grosse DRiZ 1988, 53.
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Gericht auch zur staatsanwaltlichen Aufgabe gehört, in einer angemessenen Relation dazu immer wahrgenommen würde. Staatsanwälte und Staatsanwältinnen von heute sollten sich daher die Entstehungsgeschichte der Institution, für die sie tätig sind, und die falsche Rolleninterpretation ihrer Vorgängergeneration vor Augen halten, um selbst dagegen gewappnet zu sein, politisch instrumentalisiert zu werden.
V. Eine ganz wesentliche Hilfe, um die Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft zu präzisieren und damit das Verhältnis der Politik zur Staatsanwaltschaft transparenter zu machen und aus dem Dunstkreis des bösen Anscheins einer politischen Einflussnahme herauszuholen, wäre die gesetzliche Klarstellung des „Rechtswillens“, dessen Durchsetzung die Aufgabe der Staatsanwaltschaft und ihre Unterstellung unter das Justizministerium ist. Offensichtlich wird eine solche Klarstellung auch im europäischen Raum als notwendig angesehen, wenn es in der schon erwähnten Empfehlung Rec (2000) des Ministerkomitees des Europarates unter Ziff. 13 heißt: „In den Ländern, in denen die Staatsanwaltschaft von der Regierung abhängt oder ihr untersteht, trifft der Staat alle Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die Art und der Umfang der Befugnisse der Regierung gegenüber der Staatsanwaltschaft klar festgelegt werden“. Es ist gegenwärtig in Deutschland nicht zu erkennen, dass der Gesetzgeber das Recht der Staatsanwaltschaft zu ändern oder zu präzisieren beabsichtigt, obwohl eine Klärung der Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft immer wieder angemahnt worden ist.27 Es ist keine grundsätzliche Reform in Planung, frühere Gesetzgebungsvorhaben, die Teilaspekte neu regeln sollten, sind gescheitert.28 Desgleichen fehlt es an einer Gesamtkonzeption für eine umfassende Reform der Strafprozessordnung. Der Gesetzgeber hat allerdings durch eine Reihe von Einzeländerungen in der Vergangenheit deutlich gemacht, dass er die Rolle der Staatsanwaltschaft nicht schwächen will.29 Da also mit einer entsprechenden Klarstellung der Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft durch den Gesetzgeber in Deutschland in absehbarer Zeit 27
Adolf Arndt NJW 1961, 1616; Eberhard Schmidt MDR 1964, 625. Referentenentwurf eines Gesetzes zur Änderung des Rechts der Staatsanwaltschaft (STAÄG) von 1976 und Vorentwurf des BJM zur Neugestaltung des Verhältnisses Staatsanwaltschaft – Polizei von 1979, vgl. hierzu auch Kriminalistik 1976, 545. 29 Etwa durch die Abschaffung der gerichtlichen Voruntersuchung, die Gewährung von Zwangsbefugnissen (§ 161a StPO), die ständig erweiterte Möglichkeit der Verfahrenseinstellung gem. §§ 153 ff StPO und die Beteiligung der Staatsanwaltschaft an den so genannten neuen Ermittlungsmethoden wie dem Einsatz verdeckter Ermittler gem. § 110a StPO und im Rahmen der Fahndung. 28
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nicht zu rechnen ist, muss mit der gegenwärtigen, teilweise unklaren Rechtslage weiter gelebt werden. Man könnte sich allerdings noch einen anderen Weg vorstellen, um eine Präzisierung der Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft zu erreichen. Ein solcher Weg – in gewisser Weise eine Art Selbstbindung – oder Beschränkung des jeweiligen Justizministers bestünde darin, durch eine Verwaltungsvorschrift ( Richtlinie, Leitlinie ) an die Staatsanwaltschaften die notwendige Klarstellung vorzunehmen. Eine solche Regelung hätte zwar keinen Gesetzescharakter aber doch den Vorteil, dass der Justizminister des Bundes oder eines Landes zu einer solchen Regelung selbst und allein befugt ist. Der Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen hat vor einiger Zeit entsprechende Richtlinien entworfen und zur Diskussion gestellt.30 Eine Leit – oder Richtlinie der vorgeschlagenen Art, in der insbesondere Begriff und Umfang des „Rechtswillens“ und damit das genaue Ausmaß der Weisungsabhängigkeit der Staatsanwaltschaft präzisiert wird, kann dazu beitragen, die Reputation und das rechtsstaatliche Ansehen der Staatsanwaltschaft zu stärken, aber gleichzeitig auch das Verhältnis des Justizministeriums zur Staatsanwaltschaft aus dem Eindruck einer sachfremden Einflussnahme herauszulösen, die bei politisch brisanten Verfahren in der Öffentlichkeit mit der daraus gefolgerten Abhängigkeit der Staatsanwaltschaft entstehen kann.
VI. Trotz fortbestehender Unklarheiten hinsichtlich der genauen Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft ist ihre Konstruktion in Deutschland im Grundsatz richtig. Bei dieser Bewertung kann man offen lassen, ob die Staatsanwaltschaft nun wirklich, wie es damals die Vertreter der Justiz (von Savigny und Uhden) unstreitig wollten, auf das französische Vorbild: Kind der Revolution – und die liberalen Reformüberlegungen zurückzuführen ist oder ob die politischen Entscheidungsträger der damaligen Zeit nicht auch massive politische Eigeninteressen mit der Einführung der weisungsabhängigen Staatsanwaltschaft verbinden wollten, die Staatsanwaltschaft also mehr als „Stiefkind der Revolution“ 31 anzusehen ist. Es gelang jedenfalls „wesentliche Reformimpulse des Justizministeriums hinüberzuretten“.32 Die bestehenden Mängel der staatsanwaltlichen Konstruktion bringt sie allerdings auch in demokratischen und nicht totalitären Zeiten immer wieder in die Gefahr, politisch instrumentalisiert zu werden oder zumindest einem 30
DRiZ 2002, 43. Rüping Strafverteidiger 1997, 276 ff. 32 Roxin in seinem Festvortrag vom 1.10.1996 zum 150jährigen Bestehen der Berliner Staatsanwaltschaft, vgl. DRiZ 1997, 109 ff. 31
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entsprechenden Verdacht ausgesetzt zu sein. Damit diese Gefahr möglichst nicht entstehen kann, müssen weisunggebendes Justizministerium und weisungunterworfene Staatsanwaltschaft sich darum bemühen, auch ohne gesetzliche Klarstellung der Rechtsstellung der Staatsanwaltschaft den „Rechtswillen“ in gleicher Weise auszulegen. Dabei muss klar sein, dass die Institution Staatsanwaltschaft, und dies zeigen die Erfahrungen der letzten gut 150 Jahre, von sich aus allein nicht stark genug ist, um sich gegen Instrumentalisierung und Missbrauch immer erfolgreich wehren zu können. Sie geht eine Gratwanderung zwischen Stärke und Hilfsbedürftigkeit. Die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit unseres Ermittlungs- und Strafverfahrens geschieht auch dadurch, dass diejenigen, die den Weg der Staatsanwaltschaft begleiten, sei es als vorgesetzte Behörde oder korrespondierende Partner, etwa den Medien, alles unterlassen, was die Rolle der Staatsanwaltschaft in unserem Strafverfolgungssystem schwächt und sie anders lenkt als es die Väter der Staatsanwaltschaft seinerzeit wollten. Dazu gehören allerdings nicht zuletzt auch das entsprechende Bewusstsein, die Wachsamkeit und die Zivilcourage der Staatsanwälte und Staatsanwältinnen selbst.
Zur Immunisierung tatrichterlicher Urteile gegen verfahrensrechtlich begründete Revisionen Zum Vorlagebeschluß des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 23.8.2006 – 1 StR 466/05 und zum Urteil des 3. Strafsenats vom 11.8.2006 – 3 StR 284/05 Reinhold Schlothauer * I. Durch Beschluß vom 23.8.2006 hat der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs dem Großen Senat für Strafsachen gem. § 132 Abs. 2 und 4 GVG folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt: „Ist die Beweiskraft (§ 274 StPO) des berichtigten Protokolls für das Revisionsgericht auch dann beachtlich, wenn aufgrund einer Protokollberichtigung hinsichtlich einer vom Angeklagten zulässig erhobenen Verfahrensrüge zu Ungunsten des Angeklagten die maßgebliche Tatsachengrundlage entfällt?“ 1 Dieser Entscheidung war ein Anfragebeschluß 2 des 1. Strafsenats vorausgegangen, ob die anderen Strafsenate an früherer Rechtsprechung festhalten wollten, wonach eine Protokollberichtigung unberücksichtigt zu bleiben hat, wenn sie einer Revisionsbegründung des Angeklagten zu dessen Nachteil die Tatsachengrundlage entziehen würde. Der 2.3 und 3. Strafsenat 4 erklärten, ihre dem Anfragebeschluß entgegenstehende frühere Rechtsprechung auf* Der Beitrag beruht auf einem Referat, das der Verf. unter dem Titel „Rügeverkümmerung“ und „unwahre“ Verfahrensrüge anläßlich der 197. Tagung des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer am 4.3.2007 in Berlin gehalten hat (siehe auch Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer Nr. 13/2007 – April 2007 –). 1 BGH, Vorlagebeschluß v. 23.8.2006 – 1 StR 466/05 = NJW 2006, 3582 m. Anm. Widmaier. Das Manuskript wurde vor der Veröffentlichung des Beschlusses des Großen Senats für Strafsachen des BGH vom 23.4.2007 (NJW 2007, 2419 = StV 2007, 403) abgeschlossen. Die Entscheidung des Großen Senats, die die vom 1. Strafsenat gestellte Frage in dessen Sinne beantwortet, steuert zu der bisherigen Diskussion allerdings keine wesentlichen neuen Argumente bei. 2 BGH, Beschluß v. 12.1.2006 – 1 StR 466/05 = StV 2006, 287 m. Anm. Fezer. 3 Beschluß v. 31.5.2006 in Verb. m. Beschluß v. 3.7.2006 – 2 ARs 53/06 = NStZ-RR 2006, 275. 4 Beschluß v. 22.2.2006 – 3 ARs 1/06.
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geben zu wollen. Der 4.5 und 5. Strafsenat 6 äußerten, an ihrer bisherigen Rechtsprechung festzuhalten. Die Vorlagefrage reiht sich ein in die seit einiger Zeit zu beobachtenden Bestrebungen der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, dem Problem der sog. unwahren Verfahrensrüge Herr zu werden: Diese zielten bislang darauf ab, die absolute Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls bezüglich der Beobachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen wesentlichen Förmlichkeiten zu relativieren und der Formstrenge des § 274 Satz 1 StPO durch die Ausdehnung der Grenzen einer Durchbrechung der Beweiskraft wegen offensichtlicher Lückenhaftigkeit oder Widersprüchlichkeit des Protokolls zu entgehen.7 Die vom 1. Strafsenat beabsichtigte Änderung der Rechtsprechung zu den Auswirkungen einer nachträglichen Protokollberichtigung auf eine im Einklang mit dem ursprünglichen Hauptverhandlungsprotokoll stehende Verfahrensrüge will nunmehr erklärtermaßen den einzigen „zweifelsfrei mit der formellen Beweiskraft des Protokolls gem. § 274 StPO zu vereinbarenden Weg“ einschlagen, um einer „unwahren“ Verfahrensrüge den Erfolg zu verwehren.8 Einen anderen Ansatz verfolgt nach mehreren Anläufen 9 in Form von obiter dicta der 3. Strafsenat in seinem Urteil vom 11.8.2006: 10 Bei einem bewußt wahrheitswidrig behaupteten Verfahrensverstoß sei die entsprechende Verfahrensrüge wegen Mißbrauchs der Beweisvorschrift des § 274 StPO unzulässig.
II. Schon seit geraumer Zeit ist in der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Tendenz zu beobachten, die Möglichkeiten einer Urteilsüberprüfung mittels der Verfahrensrüge zurückzudrängen:11 Einerseits 5
Beschluß v. 3.5.2006 – 4 ARs 3/06 = NStZ-RR 2006, 273. Beschluß v. 9.5.2006 – 5 ARs 13/06. 7 Zu dieser „Strategie“ s. BGH, Vorlagebeschluß (s. Fn 1) Tz. 40 mwN; BGH StV 2002, 525 m. Anm. Köberer = NStZ 2002, 271 m. Anm. Fezer; zur Abschaffung des in § 274 StPO festgeschriebenen Grundsatzes der absoluten Beweiskraft des Protokolls de lege ferenda Gerhard Schäfer Gedanken zur Beweiskraft des tatrichterlichen Verhandlungsprotokolls unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des BGH, in: FS 50 Jahre BGH, 2000, S. 707 (728), dagegen Ventzke Anm. zu OLG Hamburg StV 2004, 300. 8 BGH, Vorlagebeschluß (s. Fn 1) Tz. 43, zuvor schon Tz. 42: Nur bei Berücksichtigung der – umfassenden – Protokollberichtigung könne „der Erfolgsaussicht bewußt unwahrer Verfahrensrügen Grenzen gesetzt“ werden. Siehe auch schon Detter Die Beweiskraft des Protokolls und die Wahrheitspflicht der Verfahrensbeteiligten, StraFo 2004, 329 (335). 9 BGH, Beschluß v. 14.4.1999 – 3 StR 70/99 = StV 1999, 582 m. Anm. Docke/v. Döllen/ Momsen; BGH, Beschluß v. 21.7.1999 – 3 StR 268/99 = StV 1999, 585; BGH, Beschluß v. 22.5.2001 – 3 StR 462/00 = StV 2002, 530 f. 10 BGH, 3. Strafsenat, Urteil v. 11.8.2006 – 3 StR 284/05 = StV 2006, 627 = JR 2007, 31 m. zust. Anm. Fahl. 11 Siehe hierzu Schlothauer Das Revisionsrecht in der Krise? StraFo 2000, 289 (293) mwN. 6
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wird der der revisionsrechtlichen Kontrolle unterliegende Bereich immer stärker eingeschränkt und das Verfahrensrecht in einer Weise interpretiert, die für revisible Verfahrensfehler zunehmend weniger Raum läßt. Andererseits wird die Geltendmachung eines Verfahrensfehlers im Revisionsverfahren mittels Errichtung immer höherer Zulässigkeitshürden kontinuierlich erschwert.12 Die vom 1. Strafsenat angestrebte Rechtsprechungsänderung wäre ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Marginalisierung des Verfahrensrechts, wenn es möglich werden sollte, erfolgversprechenden Verfahrensrügen durch eine nachträgliche Protokollberichtigung die Grundlage zu entziehen. Dieser ginge noch weit über die vom 3. Strafsenat präferierte einzelfallbezogene Lösung des Problems der „unwahren“ Verfahrensrüge hinaus,13 auch wenn der ihr zugrunde liegende Mißbrauchsansatz ein bedrohliches Einfallstor für eine generelle Disziplinierung der Verfahrensbeteiligten schafft.14
III. Sollte der Große Senat für Strafsachen sich der Auffassung des 1. Strafsenats anschließen, wäre dies eine Abkehr von einer seit Erlaß der Strafprozeßordnung im Jahre 1877 geltenden Rechtspraxis.15 Bereits im Urteil vom 31.5.1880 führte der 1. Strafsenat des Reichsgerichts aus: „Man kann die Frage, ob im allgemeinen eine Berichtigung des Inhaltes des Protokolles über die Hauptverhandlung nach der Unterzeichnung desselben durch den Vorsitzenden und den Gerichtsschreiber zulässig ist, unerörtert lassen. Unzulässig ist jedenfalls die Ergänzung jenes Protokolles nach der Anbringung eines Rechtsmittels in Beziehung auf die durch das letztere gerügten Mängel. Denn es kann keinem Zweifel unterliegen, daß der § 274 StPO gerade für den Fall der Anfechtung des Urteiles Bestimmungen getroffen hat, und daß sonach nur dasjenige Protokoll, welches zur Zeit der Anfechtung vorhanden ist, und auf welches sich die Anfechtung stützt, hinsichtlich der gerügten Mängel als die jeden Gegenbeweis, mit Ausnahme des Falles der Fälschung, ausschließende Beweis12 Siehe hierzu Schlothauer ibid., S. 293 mwN; zu den Ursachen siehe u.a. Fezer Pragmatismus und Formalismus in der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung, in: FS für ErnstWalter Hanack, 1999, S. 331 (352); Rieß Gedanken zu Gegenwart und Zukunft der Revision in Strafsachen, in: FS für Ernst-Walter Hanack, 1999, 397 (409). 13 Widmaier NJW 2006, 3587 (3588). 14 Lindemann/Reichling Sieg der Wahrheit über die Form? StV 2007, 152 (153 f); Gaede Anm. zu BGH 3 StR 284/05 (s. Fn 10) StraFo 2007, 29 (32 f). 15 Der 4. Strafsenat des BGH (4 ARs 3/06 = NStZ-RR 2006, 273) gibt in seinem Beschluß v. 3.5.2006 zu Recht zu bedenken, ob dieser Rechtspraxis möglicherweise ein gewohnheitsrechtlicher Charakter zukommt, weshalb allenfalls der Gesetzgeber dazu aufgerufen wäre, Änderungen vorzunehmen (Tz. 27).
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urkunde angesehen werden kann. Ein erst nachher, infolge der Anfechtung verfaßtes Ergänzungsprotokoll (…), stellt sich als ein vom Gesetze für unstatthaft erklärtes Gegenbeweismittel dar“.16 Diese Ausführungen entsprachen der schon seinerzeit herrschenden Meinung in der Literatur.17 Abgesehen von einer kurzfristigen Unterbrechung während der Zeit des Nationalsozialismus 18 blieb dies für nunmehr 130 Jahre die vorherrschende Auffassung in Rechtsprechung 19 und Literatur 20. 1. Daß eine Protokollberichtigung einer zugunsten des Angeklagten bereits erhobenen Verfahrensrüge nicht den Boden entziehen darf, fand und findet seinen Grund in dem dem Rechtsmittel der Revision eigentümlichen Formalismus mit seinen begrenzten Überprüfungsmöglichkeiten. Im Interesse der Sicherung der Rechtseinheit ist das Rechtsmittel der Revision auf die rechtliche Beurteilung der Sache beschränkt. Da dem Revisionsgericht die tatsächliche Würdigung des Falles versagt ist, kann – abgesehen von materiell-rechtlichen Angriffen gegen das Urteil – ein Beschwerdeführer nur das Verfahren beanstanden, mittels dessen das Tatgericht zu den dem Urteil zugrundeliegenden Sachverhaltsfeststellungen gekommen ist. Dabei sind die Verantwortungsbereiche der am Revisionsverfahren beteiligten Prozeßsubjekte streng formal voneinander abgegrenzt. Jeder Beteiligte muß für die Folgen der in seine Sphäre fallenden Handlungen und Unterlassungen einstehen. Auch dem Revisionsgericht ist es verwehrt, sich aus tatsächlich oder angeblich übergeordneten Gesichtspunkten über die vom Revisionsrecht gezogenen formalen Grenzen hinwegzusetzen, selbst wenn nur so „der Wahrheit“, „der Gerechtigkeit“ oder der (Wieder-) Herstellung „der Rechtmäßigkeit“ zum Durchbruch zu verhelfen wäre. a) Der Beschwerdeführer muß bestimmte Anträge stellen und im Falle der Erhebung einer Verfahrensrüge konkrete Verfahrensmängel bezeichnen. 16
RGSt 2, 76 (77 f) (Hervorhebung im Original). Vgl. Löwe Die Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich, 1. Aufl. 1879, § 271 Anm. 5; Bomhard/Koller Die Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich, 1879, § 271 Anm. 3. 18 RG, Beschluß des Großen Senats für Strafsachen vom 11.7.1936 = RGSt 70, 241. 19 Vgl. zur Rechtsprechung bis zum 11.7.1936 insbes. RGSt 43, 1 (Beschluß der Vereinigten Strafsenate vom 13.10.1909), RGSt 56, 29; RGSt 59, 429 (431); nach 1945 zunächst OGHSt 1, 277 (278) und sodann BGHSt 2, 125; BGHSt 10, 342 (343); BGHSt 22, 278 (280), BGHSt 34, 11 (12 und öfter). 20 Vgl. nur Beulke Strafprozeßrecht, 9. Aufl. 2006, Rn 564; Dahs/Dahs Die Revision im Strafprozeß, 6. Aufl. 2001, Rn 489; Engelhardt in: KK-StPO, 5. Aufl. 2003, § 271 Rn 26; Fezer NStZ 2002, 272; Meyer-Goßner StPO, 50. Aufl. 2007, § 271 Rn 26; Roxin Strafverfahrensrecht, 25. Aufl. 1998, § 49 Rn 10; Sarstedt/Hamm Die Revision in Strafsachen, 6. Aufl. 1998, Rn 241; Schlüchter/Frister in: SK-StPO, § 271 Rn 26, § 274 Rn 16. 17
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Dabei hat der Gesetzgeber aus Praktikabilitätsgründen dem Beschwerdeführer die Aufgabe übertragen, in tatsächlicher Hinsicht darzulegen, „durch welche der unzähligen vorausgegangenen Verfahrenshandlungen er Unrecht erlitten zu haben glaubt“.21 Denn dem Revisionsgericht sei es nicht zuzumuten, Sitzungsprotokoll und Akten auf mögliche Verfahrensverstöße durchzuarbeiten bzw. im Wege des Freibeweises aus den Akten nicht ersichtlichen Fehlermöglichkeiten, wie z.B. die Wahrung des Öffentlichkeitsgrundsatzes, nachzugehen.22 Im Gegensatz zur Sachrüge gibt es deshalb keine „allgemeine Verfahrensrüge“. Der Gesetzgeber hat es vielmehr jedem Beschwerdeführer nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO auferlegt, alle diejenigen konkreten Tatsachen anzugeben, in denen ein behaupteter Mangel des Verfahrens gesehen wird. Dies hat zudem innerhalb der knapp bemessenen Begründungsfrist zu geschehen, die mit sicherstellen soll, daß das Verfahren innerhalb angemessener Frist zu einem – rechtskräftigen – Abschluß kommt. Die Geltendmachung von Verfahrensfehlern und deren frist- und formgerechter Vortrag gehören damit nach der gesetzlichen Ausgestaltung des Revisionsverfahrens zur ausschließlichen Verantwortungssphäre des Beschwerdeführers, der alleine für Unterlassungen und Fehler einzustehen hat. Dieser revisionsrechtliche Formalismus auf der Ebene der verfahrensrechtlichen Überprüfung des Urteils hat sich auch darin niedergeschlagen, daß hier eine dem § 357 StPO entsprechende Regelung nicht Gesetz geworden ist. Selbst wenn ein absoluter Revisionsgrund zur Urteilsaufhebung zugunsten eines Angeklagten geführt hat, erstreckt sich diese Aufhebung nicht auf die Verurteilung eines Mitangeklagten, wenn dieser keine oder jedenfalls keine auf diesen Verfahrensfehler bezogene Revision eingelegt hat. b) Auch bezüglich des Revisionsgerichts hat die Strafprozeßordnung eine formal abgegrenzte Verantwortungssphäre geschaffen. Das Revisionsgericht darf nach § 352 StPO das Urteil nur im Umfang der gestellten Revisionsanträge überprüfen und bei Verfahrensrügen nur insoweit, wie die den Verfahrensmangel begründenden Tatsachen bei der Anbringung der Revisionsanträge bezeichnet worden sind. c) Bezüglich der Richtigkeit der behaupteten Tatsachen gilt, soweit es um die für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten geht, die absolute Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls (§ 274 StPO). Daran sind, wenn nicht das Vorhandensein einer Fälschung behauptet wird, sowohl der Beschwerdeführer als auch das Revisionsgericht gebunden. Nach den Motiven des Entwurfs zur RStPO sollte durch die absolute Beweiskraft des Sitzungsprotokolls weder einem Beschwerdeführer die Möglichkeit gegeben werden, den Hergang der Hauptverhandlung durch Zulassung anderer Beweise in Zweifel zu ziehen, noch sollte das Revisionsgericht dazu gezwun21 22
Schneidewin Verfahrensrüge und Sitzungsprotokoll, MDR 1951, 193 (195). Vgl. mit anschaulichen Beispielen Schneidewin ibid.
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gen werden, ein langwieriges Beweisverfahren unabsehbaren Umfangs und offenen Ausgangs durchzuführen.23 Der Gesetzgeber der RStPO hat sich bei der Schaffung des § 274 StPO ganz bewußt gegen die Möglichkeit entschieden, den Gegenbeweis gegen den Inhalt des Protokolls durch das übereinstimmende diensteidliche Zeugnis sämtlicher gegenwärtig gewesener Gerichtsmitglieder zuzulassen24 und damit auf anderem Wege nachträgliche Feststellungen zum Hergang der Hauptverhandlung zu ermöglichen. Dementsprechend betrifft die Vorschrift über die absolute Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls ausschließlich das sich der Hauptverhandlung anschließende Revisionsverfahren im Zusammenhang mit etwaigen Verletzungen von Verfahrensnormen. Konsequenterweise war sie in den Entwürfen zur RStPO auch noch Teil der das Revisionsverfahren betreffenden Vorschriften und dort als § 314 E RStPO zwischen den den Umfang der revisionsgerichtlichen Urteilsprüfung (heute § 352 StPO) und den Inhalt des Revisionsurteils (heute § 353 StPO) regelnden Vorschriften verortet.25 Demgegenüber befanden sich die Vorschriften über die Pflicht zur Aufnahme und den Inhalt einer Sitzungsniederschrift auch schon in den Entwürfen zur RStPO in dem die Hauptverhandlung betreffenden Abschnitt. d) Zwar bestand schon unmittelbar nach Inkrafttreten der RStPO die allgemeine Auffassung, daß das Protokoll auch noch nach erfolgter Unterzeichnung berichtigt oder vervollständigt werden durfte.26 Eine Protokollberichtigung wurde aber ab dem Zeitpunkt zunächst sogar als unstatthaft erachtet, sobald ein Rechtsmittel eingelegt worden war, welches sich auf den Inhalt des Protokolls stützte.27 Rechtsprechung und Literatur haben später dann allerdings dem Umstand Rechnung getragen, daß das Hauptverhandlungsprotokoll auch jenseits des Revisionsverfahrens als Beweismittel Bedeutung erlangen kann, beispielsweise für ein anderes Straf- oder ein Zivil-
23 Vgl. die Ausführungen bei Hahn Die gesamten Materialien zur Strafprozeßordnung, Erste Abteilung, Berlin 1880, S. 258 (Motive des Entwurfs). 24 Dies sah u.a. noch § 307 der bis 1877 geltenden Strafprozeßordnung von Bremen vor: Hahn ibid., S. 257. Hinter dieses Beweismaß fällt der 3. Strafsenat in seinem Urteil vom 11.8.2006 (s. Fn 10) noch zurück, indem er für den Nachweis der Wahrheitswidrigkeit des Revisionsvortrags „mehrfache, eindeutige, durch Aufzeichnungen belegte dienstliche Erklärungen“ ausreichen läßt. Angesichts des dadurch eröffneten Bewertungsspielraums verwundert der von Satzger/Hanft Erheben einer bewußt unwahren Protokollrüge im Rahmen der Revision als Rechtsmißbrauch? NStZ 2007, 185 (189) an den Tag gelegte Optimismus, „daß der Nachweis des bewußt wahrheitswidrigen Vorbringens nur in klaren Ausnahmefällen“ gelingen werde. Überhaupt erstaunt die Selbstgewißheit, mit der Satzger/Hanft ibid., davon ausgehen, daß Feststellungen im Protokoll „eindeutig unwahr“ seien und Verfahrensfehler dokumentieren könnten, die „niemals stattgefunden“ hätten. 25 Vgl. Hahn ibid., S. 40 f (Entwurf). 26 Vgl. Löwe Die Strafprozeßordnung für das Deutsche Reich, 1. Aufl. 1879, § 271 Anm. 5; Bomhard/Koller Die Strafprozeßordnung, für das Deutsche Reich, 1879, § 271 Anm. 3. 27 Löwe ibid.
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verfahren, in dem es um den Inhalt einer nach § 273 Abs. 2 oder 3 StPO protokollierten Aussage oder die Tatsache der Vereidigung oder Nichtvereidigung eines Zeugen geht. Dort entfaltet die Niederschrift allerdings keine absolute Beweiskraft. Vielmehr richtet sich ihr Beweiswert nach dem dort geltenden jeweiligen Verfahrensrecht.28 Dementsprechend wird heute die Zulässigkeit einer Protokollberichtigung selbst nach rechtskräftigem Abschluß des Verfahrens nicht mehr in Frage gestellt.29 e) Im Revisionsverfahren darf jedoch nach Erhebung einer Verfahrensrüge eine darauf bezogene Protokollberichtigung nur unter der Voraussetzung berücksichtigt werden, daß dadurch die Rüge bestätigt wird. Anderenfalls verbleibt es bei der absoluten Beweiskraft des ursprünglichen Hauptverhandlungsprotokolls auch im Falle einer Protokollberichtigung, wenn diese einer bereits erhobenen Verfahrensrüge die Grundlage entziehen sollte. Auch dies ist Folge der streng formal abgegrenzten Verantwortungssphären der für das Revisionsverfahren maßgeblichen Prozeßsubjekte: Für die Erstellung der die Beobachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten dokumentierenden Sitzungsniederschrift sind ausschließlich das Tatgericht in Person seines Vorsitzenden sowie der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle zuständig (§ 271 StPO). Die Verfahrensbeteiligten haben demgegenüber weder die Möglichkeit, vor Fertigstellung von dem Inhalt des Protokolls Kenntnis zu erhalten, noch darauf Einfluß zu nehmen. Mit ihrer Unterschrift übernehmen der Vorsitzende und der Urkundsbeamte der Geschäftsstelle die Verantwortung für seine Richtigkeit. Die formale Bedeutung dieses Vorgangs für das Revisionsverfahren wird nach heutiger Rechtslage zusätzlich noch dadurch unterstrichen, daß der Zeitpunkt der Fertigstellung im Protokoll vermerkt werden muß (§ 271 Abs. 1 Satz 2 StPO), was wiederum Voraussetzung dafür ist, daß das Urteil zugestellt werden darf (§ 273 Abs. 4 StPO). Die rechtsmittelberechtigten Verfahrensbeteiligten müssen sich angesichts der knapp bemessenen Frist zur Stellung und Begründung ihrer Revisionsanträge bezüglich der Beobachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten auf das Hauptverhandlungsprotokoll stützen, wenn sie das Vorliegen eines diesbezüglichen Verfahrensfehlers feststellen und ggf. zum Gegenstand einer Verfahrensrüge machen wollen. Das Urteil darf gerade deshalb erst nach Fertigstellung des Protokolls zugestellt werden, um den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit zu geben, die durch die Urteilszustellung in Gang gesetzte Revisionsbegründungsfrist „unter Heran28 Gollwitzer Überlegungen zur Dokumentation von Hauptverhandlung und Urteil im Strafverfahren, in: FS für Karl-Heinz Gössel, 2002, S. 543 (555); siehe auch schon Sarstedt Beweisregeln im Strafprozeß, in: FS für Ernst E. Hirsch, 1968, S. 171 (186). 29 LR-Gollwitzer StPO, 25. Aufl., § 271 Rn 44; Meyer-Goßner (Fn 20) § 271 Rn 23 jeweils mwN.
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ziehung des Protokolls voll zu nutzen“.30 Seine absolute Beweiskraft bewirkt unbeschadet des tatsächlichen Ablaufs der Hauptverhandlung, daß die Verfahrensbeteiligten die in der Sitzungsniederschrift dokumentierten Förmlichkeiten so hinzunehmen haben unbeschadet ihrer jeweiligen positiven wie negativen Auswirkungen auf den Erfolg einer Verfahrensrüge.31 Sind den zur Aufnahme des Sitzungsprotokolls berufenen Vorsitzenden und Urkundsbeamten der Geschäftsstelle dabei Fehler unterlaufen, für die sie durch ihre Unterschrift die Verantwortung übernommen haben, müssen auch die revisionsrechtlichen Folgen von der Justiz getragen werden. Da der Fehler ausschließlich im Verantwortungsbereich der Justiz liegt, muß diese auch für die Folgen geradestehen in Form der Urteilsaufhebung und Neuverhandlung der Sache, wenn ein durch das Protokoll bewiesener Verfahrensfehler vorliegt. Jedenfalls darf keine Korrektur zu Lasten des an der Protokollerstellung unbeteiligten Beschwerdeführers erfolgen, worauf jede Protokollberichtigung hinausliefe, die einer erhobenen Verfahrensrüge, die sich auf einen durch das Protokoll dokumentierten Verfahrensfehler bezieht, die Grundlage wieder entziehen würde. Dies ist die den Kern des Problems wohl treffendere Kehrseite der vielfach gegen die „Rügeverkümmerung“ vorgebrachten Argumentation, wonach die den Beschwerdeführer möglicherweise benachteiligende konstitutive Formenstrenge des § 274 StPO ihm ebenso ermöglichen müsse, sich auf einen in Wahrheit nicht bestehenden Verfahrensfehler zu berufen, der durch das Protokoll bewiesen werde.32 Die Vorschrift des § 274 StPO würde einseitig zum Nachteil eines Beschwerdeführers wirken, wenn diesem einerseits praktisch die Möglichkeit abgeschnitten wäre, sich gegenüber einem unrichtigen Protokoll auf den wahren Sachverhalt zu berufen, während sich andererseits diejenigen von der absoluten Beweiskraft des ursprünglichen Hauptverhandlungsprotokolls nach Erhebung einer darauf gestützten Verfahrensrüge wieder lösen dürften, die mit seiner Fertigstellung die Verantwortung für seinen Inhalt übernommen haben.33 Die Konsequenzen einer unzutreffenden Protokollierung müssen deshalb allein diejenigen tragen, in deren ausschließlichem Verantwortungsbereich die Erstellung der Sitzungsniederschrift liegt.
IV. Als entscheidendes und unter dem Strich einziges Argument für die Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung führt der 1. Strafsenat an, daß „auch die Revisionsgerichte zur Wahrheit verpflichtet“ seien; „bei der Beur30
LR-Gollwitzer (Fn 29) § 273 Rn 55. OGH (B) St 1, 277 (280). 32 OGH (B) St 1, 277 (280); Park Die Beweiskraft des Protokolls und die Wahrheitspflicht der Verfahrensbeteiligten, StraFo 2004, 335 (337). 33 In diesem Sinne bereits OGH (B) St 1, 277 (280). 31
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teilung von Verfahrensverstößen (sei) der wahre Sachverhalt zugrunde zu legen“.34 Dabei verwendet der 1. Strafsenat den Begriff des „wahren“ Sachverhalts im inhaltlichen Sinn: Aus dem ursprünglichen, noch nicht berichtigten Hauptverhandlungsprotokoll ergebe sich nur ein „fiktiver“ Sachverhalt,35 weshalb der Beschwerdeführer „unter Berufung auf das insoweit fehlerhafte Protokoll“ einen Verfahrensfehler behaupte, der sich „unzweifelhaft nicht ereignet hat“.36 Auch für den 3. Strafsenat ist maßgeblich, daß es einem Rechtsmittelführer nicht gestattet werden dürfe, „durch die bewußt wahrheitswidrige Behauptung eines Verfahrensfehlers ein Urteil zu Fall zu bringen, von dem er sicher weiß, daß es insoweit in einem fehlerfreien Verfahren ergangen ist“.37 Dies gelte auch dann, wenn sich die Verfahrensrüge „auf die Beweiskraft eines – als fehlerhaft erkannten – Protokolls stützen“ könne.38 Mit der Bezugnahme auf die „inhaltliche Wahrheit“ als maßgeblichem Kriterium einer zulässigen bzw. begründeten Verfahrensrüge und der Relativierung der absoluten Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls schaffen beide Strafsenate 39 ein neues Revisionsrecht. Denn dem geltenden formalisierten Rechtsmittelverfahren der Revision liegt der Grundsatz der formellen und gerade nicht der materiellen Wahrheit zugrunde.40 Dies gilt vornehmlich für die Prüfung, ob der dem Urteil zugrunde liegende Sachverhalt prozeßordnungsgemäß festgestellt wurde oder nicht. Hier wird der „wahre“ Sachverhalt im materiellen Sinn nämlich grundsätzlich nicht von dem Revisionsgericht berücksichtigt, soweit es um die Rüge von Verfahrensverstößen geht, die Förmlichkeiten der Hauptverhandlung betreffen. Auch der 1. Strafsenat lehnt es ausdrücklich ab, daß das Revisionsgericht selbst im Freibeweisverfahren den Ablauf der Hauptverhandlung zu rekonstruieren habe.41 Vielmehr müsse das Revisionsgericht die mit einer ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge beanstandeten entsprechenden Vorgänge ausschließlich auf der Grundlage eines ihm durch das ursprüngliche bzw. im Falle seiner Berichtigung durch das veränderte Protokoll als
34
BGH, Vorlagebeschluß v. 23.8.2006 – 1 StR 466/05 (Fn 1) Tz. 35. BGH (Fn 34) Tz. 37. 36 BGH (Fn 34) Tz. 42. 37 BGH, Urteil v. 11.8.2006 (Fn 10) Tz. 17. 38 BGH (Fn 10) Tz. 19. 39 Zusätzlich ist der 2. Strafsenat des BGH der Auffassung des 1. Strafsenats im Vorlagebeschluß v. 23.8.2006 beigetreten: BGH, Beschluß v. 3.7.2006 – 2 ARs 53/06 = NStZ-RR 2006, 275. 40 Beulke Berücksichtigungsfähigkeit von Protokollberichtigungen nach Eingang der Revisionsbegründung, in: FS für Reinhard Böttcher, 2007, S. 17 (26). 41 BGH, Vorlagebeschluß v. 23.8.2006 (Fn 1) Tz. 41; auch insoweit folgt der 2. Strafsenat der Meinung des 1. Senats: BGH, Beschluß v. 31.5.2006 – 2 ARs 53/06 (Fn 3) Tz. 7. 35
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wahr vorgegebenen Sachverhalts beurteilen. Ob dieser tatsächlich zutrifft oder nicht, entzieht sich damit aber seiner Überprüfung. Es kann mithin dazu kommen, daß vom Revisionsgericht bei der Beurteilung eines Verfahrensfehlers auch solche Sachverhalte zugrunde gelegt werden, die nicht im inhaltlichen Sinn „wahr“ sind: 1. Dies ist zunächst der Fall, wenn das Hauptverhandlungsprotokoll den tatsächlichen Verfahrensablauf unzutreffend dokumentiert, es aber zu keiner Protokollberichtigung kommt. Ist ein Protokoll sachlich unrichtig, weil es einen dem Tatgericht unterlaufenen Verfahrensfehler nicht bezeugt, kann dieser Verstoß grundsätzlich nicht mit Erfolg zum Gegenstand einer Verfahrensrüge gemacht werden. Die Fälle sind Legion, in denen sich Beschwerdeführer im Revisionsverfahren entgegenhalten lassen müssen, die von ihnen zu wesentlichen Förmlichkeiten des Verfahrens vorgetragenen Tatsachen würden durch das Hauptverhandlungsprotokoll nicht bewiesen bzw. durch sein Schweigen widerlegt. Die Möglichkeit, einen Antrag auf Protokollberichtigung zu stellen, um über den vorgetragenen Verfahrensfehler durch das berichtigte Sitzungsprotokoll Beweis zu führen, ist in aller Regel Theorie. Das gilt selbst dann, wenn man es ausreichen läßt, daß es zu der Protokollberichtigung erst nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist kommt,42 wenn nur der entsprechende Antrag rechtzeitig innerhalb der Frist gestellt wurde und der Tatsachenvortrag gem. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO dem Inhalt der angestrebten Protokollberichtigung entspricht. Schon der frühere Generalstaatsanwalt Schneidewin verwies auf seine Erfahrung aufgrund jahrzehntelanger ständiger Bearbeitung von Revisionen in Strafsachen, wonach „es kaum etwas Aussichtsloseres gibt, als einen Antrag auf Berichtigung des Sitzungsprotokolls im Sinne einer geplanten oder bereits angebrachten Verfahrensbeschwerde“,43 eine Beurteilung, der sich andere Kenner der Praxis angeschlossen haben.44 Dazu, daß das Revisionsgericht bei der Beurteilung von Verfahrensrügen nicht auf den „wahren Sachverhalt“ zugreifen kann, trägt auch eine Protokollierungspraxis bei, die auf Formularvordrucke oder Textbausteine in
42 LR-Gollwitzer (Fn 29) § 271 Rn 74 und Beulke in: FS für Reinhard Böttcher (Fn 40) S. 24 stellen darauf ab, daß ein Beschwerdeführer nur eine vor Ablauf der Revisionsbegründungsfrist erfolgte Protokollberichtigung nützen könne, um seine Rüge auf den durch das berichtigte Protokoll bezeugten Verfahrensgang zu stützen. 43 Schneidewin MDR 1951, 193 (194). 44 Vgl. Sarstedt Die Revision in Strafsachen, 4. Aufl. 1962, S. 124; Alsberg-Nüse Der Beweisantrag im Strafprozeß, 3. Aufl. 1967, S. 444, 451; Dahs Handbuch des Strafverteidigers, 7. Aufl. 2005, Rn 843, 916.
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Textverarbeitungsprogrammen zurückgreift. Diese haben „wesentliche Förmlichkeiten“ zum Gegenstand, die sich im Alltag strafgerichtlicher Hauptverhandlungen unzählige Male wiederholende Verfahrensvorgänge betreffen.45 Hier kann schon das Unterlassen einer gebotenen Streichung zu einer unzutreffenden Protokollierung führen, die den Urkundspersonen gerade wegen der Standardisierung des Vorgangs nicht bewußt wird und deshalb einer Protokollberichtigung im Wege steht. Manche der verwendeten Formulare oder Textbausteine sind sogar so allgemein gefaßt, daß ein tatsächlich unterlaufener Verfahrensverstoß weder durch sie bewiesen werden kann, noch sie den Ansatz für einen Antrag auf Protokollberichtigung bieten. So deckt beispielsweise die standardmäßige Protokollformulierung, jeder Zeuge sei „berechtigt, das Zeugnis zu verweigern, falls er zu den in § 52 Abs. 1 StPO bezeichneten Angehörigen des Angeklagten oder eines derzeit oder früheren Mitbeschuldigten“ gehöre, auch die Verfahrenskonstellation ab, daß ein Zeuge keine Kenntnis davon hat, daß sich der Vorwurf im anhängigen Verfahren zu einem früheren Zeitpunkt auch einmal gegen einen nahen Angehörigen richtete. Auch wenn in einem derartigen Fall eine Belehrung unterbleibt, die dem Zeugen die effektive Möglichkeit gäbe, über die Ausübung des ihm konkret zustehenden Zeugnisverweigerungsrechts zu entscheiden, kann dies wegen der fehlenden Beweisbarkeit des Verfahrensfehlers nicht zum Gegenstand einer Verfahrensrüge gemacht werden.46 Trägt also ein Beschwerdeführer den tatsächlichen Hergang der Hauptverhandlung als Grundlage eines gerügten Verfahrensfehlers vor, kann das Revisionsgericht bei seiner Entscheidung den „wahren Sachverhalt“ gleichwohl nicht zugrunde legen, wenn die beiden Urkundspersonen sich infolge Irrtums oder fehlender Erinnerung nicht in der Lage sehen, das Protokoll in zutreffender Weise zu berichtigen. Es ist Ausfluß des rigorosen Formalismus des Revisionsverfahrens, daß Revisionsgerichte sogar in dem Wissen, daß das betreffende Verfahrensgeschehen unrichtig beurkundet ist, Verfahrensrügen verwerfen müssen.47 2. Das Revisionsgericht würde seiner Entscheidung auch dann nicht den „wahren Sachverhalt“ zugrunde legen, wenn es dabei ein berichtigtes Hauptverhandlungsprotokoll berücksichtigte, dieses aber einem inhaltlich zutreffenden früheren Hauptverhandlungsprotokoll die absolute Beweiskraft
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Dazu gehören u.a. Feststellungen zur Anwesenheit der Verfahrensbeteiligten, die Verlesung des Anklagesatzes, die Vornahme von Belehrungen nach §§ 243 Abs. 4 oder 52 Abs. 3 StPO, die Ermöglichung der Abgabe von Erklärungen (§ 257 StPO) oder zum Halten der Schlußvorträge (§ 258 StPO). 46 Vgl. anschaulich BGH StV 1984, 405 m. abl. Anm. Peters. 47 Fezer NStZ 2002, 272.
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entzöge. Denn ebenso wie es möglich ist, daß das ursprüngliche Hauptverhandlungsprotokoll den wahren Sachverhalt unzutreffend wiedergibt, kann es auch vorkommen, daß den Urkundspersonen im Rahmen einer Protokollberichtigung ein Irrtum unterläuft, so daß ein „wahrer Sachverhalt“ durch einen „unwahren“ ersetzt wird.48 3. Das Revisionsgericht legt seiner Entscheidung auch dann nicht den „wahren Sachverhalt“ zugrunde, wenn ein mit einer Verfahrensrüge angegriffener Verfahrensfehler zwar durch das ursprüngliche Hauptverhandlungsprotokoll nicht bewiesen wird, seine Berichtigung im Sinne des Beschwerdeführers aber erst nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist oder sogar erst nach rechtskräftigem Abschluß des Verfahrens erfolgt. Dazu kann es kommen, weil eine Protokollberichtigung zeitlich unbegrenzt und sogar nach rechtskräftigem Abschluß des Verfahrens 49 zulässig ist. Betraf in letzterem Fall die Berichtigung eine wesentliche Förmlichkeit, die zum Tatsachenvortrag einer – erfolglos – erhobenen Verfahrensrüge gehörte, ist im Ergebnis das Revisionsgericht bei seiner Beurteilung des Verfahrensverstoßes ebenfalls nicht von dem „wahren Sachverhalt“ ausgegangen, ohne daß dies zur Wiederaufnahme des Verfahrens führen könnte. Aber auch eine Protokollberichtigung vor rechtskräftigem Abschluß des Verfahrens würde nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist einem anfechtungsberechtigten Verfahrensbeteiligten selbst dann nichts nutzen, wenn der Verfahrensfehler erst durch die (nicht durch den Beschwerdeführer veranlaßte) Protokollberichtigung dokumentiert würde. Ein solcher Fall läge beispielsweise vor, wenn der Beschwerdeführer rügte, daß – wie das ursprüngliche Hauptverhandlungsprotokoll beweist – ein in der Hauptverhandlung gestellter Beweisantrag nicht beschieden und der beantragte Beweis nicht erhoben worden sei (§ 244 Abs. 6 StPO). Erfolgte nunmehr nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist eine Protokollberichtigung in dem Sinne, daß der Beweisantrag doch durch einen in der Hauptverhandlung verkündeten Beschluß abgelehnt worden sei, dessen Begründung – wie daraus ersichtlich – 48 OGH (B) St 1, 277 (280). Nach den Motiven des Entwurfs zu § 314 (§ 274) RStPO findet diese Vorschrift ihre Rechtfertigung in der Erwägung, „daß Formverletzungen, welche in der Hauptverhandlung vorfallen konnten, ohne von einem der Mitwirkenden oder Beteiligten bemerkt zu werden, in der Regel auch nachträglich nicht mit Zuverlässigkeit festgestellt werden können (…). Die Gerichtsmitglieder werden selten in der Lage sein, über Vorgänge, welche ihrer Aufmerksamkeit in der Hauptverhandlung entgangen sind, nachträglich ein bestimmtes Zeugnis abzugeben; ihre Aussagen würden daher nur dazu dienen, unberechtigte Zweifel an der Zuverlässigkeit des Sitzungsprotokolls zu erwecken“ (Hahn, aaO [Fn 16], S. 258). 49 LR-Gollwitzer (Fn 29) § 271 Rn 44; Meyer-Goßner (Fn 20) § 271 Rn 23 jeweils mwN.
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aber beispielsweise wegen nicht vorliegender Ablehnungsgründe i.S.d. § 244 Abs. 3 StPO rechtsfehlerhaft war, wäre der Beschwerdeführer nicht mehr in der Lage, darauf die Revision zu stützen: Eine erneute Zustellung des Urteils mit der Folge, daß eine neue Revisionsbegründungsfrist in Lauf gesetzt würde, käme, worauf der 1. Strafsenat insoweit zutreffend verweist,50 nicht in Betracht. Eine Änderung des Protokolls ist ohne Einfluß darauf, daß es zuvor bereits „fertiggestellt“ war, mag es inhaltlich richtig oder falsch gewesen sein.51 Eine erneut durchgeführte Urteilszustellung würde nicht dazu führen, daß eine bereits abgelaufene Revisionsbegründungsfrist neu eröffnet würde,52 wie ganz generell eine versehentlich oder auch absichtlich wiederholte Zustellung eines bereits einmal wirksam zugestellten Urteils nichts daran ändert, daß für den Fristenlauf zur Revisionsbegründung allein die erste wirksame Zustellung des Urteils maßgeblich ist.53 Daraus folgt, daß eine Protokollberichtigung nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist nicht bewirken kann, daß ein erst jetzt ersichtlicher oder bewiesener Verfahrensfehler noch zum Gegenstand einer Verfahrensrüge gemacht werden kann. Denn entgegen der Auffassung des 1. Strafsenats 54 wäre nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist auch eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zwecks Nachholung einer solchen Rüge (im Beispielsfall der der Verletzung des § 244 Abs. 3 StPO) nicht möglich, die erst aufgrund des Inhalts der Protokollberichtigung geltend gemacht werden könnte. Jenseits der ungereimten und in ihrer Begründung nicht widerspruchsfreien Rechtsprechung zur Zulässigkeit einer Wiedereinsetzung zwecks Nachholens von Verfahrensrügen 55 scheidet – nach dem Verständnis des BGH zu den Anforderungen an eine Verfahrensrüge – eine Wiedereinsetzung schon deshalb aus, weil der Angeklagte die nachgeholte Verfahrensrüge nicht ohne Verschulden verspätet anbringen würde: Grundlage von Verfahrensrügen ist nach Auffassung des BGH 56 das in der Hauptverhandlung tatsächlich stattgefundene Geschehen. Sei es hier zu einem Verfahrensfehler gekommen, müsse dieser bestimmt behauptet werden. Soweit es um wesentliche Förmlichkeiten gehe, sei der Umstand, daß das Protokoll den Verfah-
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BGH Vorlagebeschluß (Fn 1) Tz. 52. Börtzler Die Fertigstellung des Protokolls über die Hauptverhandlung, MDR 1972, 185 (187). 52 BayObLG NJW 1981, 1795. 53 BGH NJW 1978, 60; OLG Hamburg, NJW 1965, 1614; LR-Graalmann-Scheerer StPO, 26. Aufl. 2006, § 37 Rn 106; Blaese/Wielop Die Förmlichkeiten der Revision in Strafsachen, 2. Aufl. 1983, S. 116. 54 BGH, Vorlagebeschluß (Fn 1) Tz. 52. 55 Zur Kritik LR-Graalmann-Scheerer StPO, 26. Aufl., § 44 Rn 14 ff mwN. 56 Vgl. BGH, Urteil v. 11.8.2006 – 3 StR 284/05 (Fn 10) Tz. 25. 51
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rensfehler erkennen lasse, nur für den Beweis der mitgeteilten Tatsachen von Bedeutung. Sei Gegenstand des Revisionsvorbringens ein Verfahrensvorgang, der tatsächlich nicht stattgefunden habe, sondern sich nur aus dem Protokoll ergebe, liefe dies auf eine unzulässige Protokollrüge hinaus.57 Vor diesem Hintergrund müßte in dem Beweisantragsbeispiel dem in der Hauptverhandlung anwesenden Angeklagten bzw. seinem Verteidiger, die von dem tatsächlichen Geschehensablauf Kenntnis hatten, die unterbliebene Stellung eines Antrags auf Protokollberichtigung angelastet werden, so daß eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand jedenfalls wegen Verschuldens an der Fristversäumung abgelehnt werden könnte. Ein solcher Berichtigungsantrag mit dem Ziel, anstelle der Rüge der durch das Protokoll bewiesenen Nichtbescheidung des Beweisantrages dessen fehlerhafte Bescheidung zum Gegenstand der Verfahrensrüge zu machen, könnte dem Beschwerdeführer aber kaum zugemutet werden. Denn er könnte nicht vorhersehen, ob der Antrag Erfolg hätte oder nicht. Andererseits müßte er bei Erhebung der Rüge der durch das ursprüngliche Hauptverhandlungsprotokoll bewiesenen Verletzung des § 244 Abs. 6 StPO befürchten, daß ihm nach der Auffassung des 3. Strafsenats der Vorwurf des Mißbrauchs der Vorschrift des § 274 StPO mit der Folge ihrer Unzulässigkeit gemacht wird. Dem Beschwerdeführer verbliebe in dieser Situation noch nicht einmal die Möglichkeit, alternativ die ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls unterbliebene Bescheidung seines Beweisantrages bzw. dessen – im Falle des Erfolgs des Berichtigungsantrages bewiesene – fehlerhafte Ablehnung zu rügen: Denn wechselseitig sich ausschließende Verfahrensrügen sind nach Auffassung des BGH 58 unzulässig, weil ihnen die bestimmte Behauptung eines Verfahrensfehlers abgehe. Zu einer Beurteilung des „wahren Sachverhalts“ wäre das Revisionsgericht in einem solchen Fall jedenfalls nicht in der Lage. 4. Dies gilt schließlich auch für alle diejenigen Fälle, in denen ein Verfahrensfehler zwar auf der Grundlage eines „wahren“ Sachverhalts vorgetragen wird, der Beschwerdeführer dies jedoch nicht in der nach §§ 344 Abs. 2, 345 Abs. 1 StPO gebotenen Art und Weise macht. Es nutzt ein noch so schwerwiegender und offensichtlicher Verfahrensmangel einem Beschwerdeführer nichts, wenn jener nicht rechtzeitig und in der vorgeschriebenen Form gerügt
57 Tepperwien Die unwahre Verfahrensrüge – unzeitgemäßer Sieg der Form? in: FS für Lutz Meyer-Goßner, 2001, S. 595 (598). 58 Zur Unzulässigkeit von Verfahrensrügen mittels wahlweiser Tatsachenbehauptungen bzw. alternativer Angriffsrichtungen siehe die Nachweise bei Meyer-Goßner (Fn 20) § 337 Rn 15a und § 344 Rn 24.
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worden ist.59 Ist das nicht geschehen, so ist der Fehler – trotz seiner tatsächlichen Existenz – nicht vorhanden.60 Besonders eindrucksvoll läßt sich dieser von der Revisionsrechtsprechung praktizierte Formalismus am Beispiel von zwei Beschwerdeführern betreffenden Beschlüssen des BGH nachvollziehen, die als Mitangeklagte mit ihrer jeweiligen Verfahrensrüge ein identisches Verfahrensgeschehen vorgebracht hatten: 61 Nach dem letzten Wort der beiden Angeklagten waren von ihren Verteidigern Hilfsbeweisanträge gestellt worden. Nach Unterbrechung der Hauptverhandlung wurde in der nächsten Sitzung das Urteil verkündet, ohne daß den Angeklagten erneut das letzte Wort erteilt wurde. Während die auf die Verletzung von § 258 StPO gestützte Revision des einen Angeklagten erfolgreich war, wurde die entsprechende Verfahrensrüge des anderen als unzulässig verworfen. Dieser Beschwerdeführer habe es versäumt, die der Urteilsverkündung unmittelbar vorausgegangenen Verfahrenshandlungen vorzutragen. Die Behauptung, dem Angeklagten sei das letzte Wort nicht erteilt worden, reiche nicht aus. Soweit es der nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO gebotene Sachvortrag überhaupt erfordert, mehr als die Nichterteilung des letzten Wortes zu behaupten,62 waren dem BGH die der Urteilsverkündung vorausgegangenen Verfahrenshandlungen aus der Parallelrevision des Mitangeklagten bekannt. Gleichwohl ist der BGH nicht dem Postulat des 1. Strafsenats im Vorlagebeschluß vom 23.8.2006 gerecht geworden, bei der Beurteilung des Verfahrensverstoßes den „wahren“ Sachverhalt zugrunde zu legen. 5. Das Argument, das Revisionsgericht sei verpflichtet, bei der Beurteilung von Verfahrensverstößen den „wahren“ Sachverhalt im materiellen Sinn zugrunde zu legen, ist deshalb nicht nur aus dem Grunde fragwürdig, daß der 1. Strafsenat das Revisionsgericht selbst nicht für berufen hält, festzustellen, was der wahre Sachverhalt ist. Vielmehr bleibt dem Revisionsgericht zwangsläufig infolge der gesetzlichen Ausgestaltung des Rechtsmittels der Revision der „wahre“ Sachverhalt im inhaltlichen Sinn bei der Beurteilung eines Verfahrensfehlers vielfach verschlossen.
59 60 61 62
Park (Fn 32) S. 335 (337). OGH (B) St 1, 277 (279). BGH StV 1995, 176 m. Anm. Ventzke. Siehe hierzu Ventzke StV 1995, 177 mwN.
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V. Der vom 1. Strafsenat intendierten Rechtsprechungsänderung ermangelt es aber nicht nur an einer durchgreifenden Begründung; es stehen ihr neben den bereits aufgezeigten revisionsdogmatischen Gründen auch grundsätzliche praktische Erwägungen entgegen. Diese gelten auch für die vom 3. Strafsenat vertretene Mißbrauchslösung, die zur Rekonstruktion des Ablaufs der Hauptverhandlung auf dienstliche Erklärungen insbesondere der an der Hauptverhandlung beteiligten Gerichtspersonen zurückgreifen muß. 1. Wäre es zulässig, einer ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge durch eine nachträgliche Protokollberichtigung die Grundlage zu entziehen, könnte nie der Eindruck vermieden werden, daß das mit einer erfolgversprechenden Revisionsrüge angegriffene Urteil vor seiner Aufhebung geschützt werden soll.63 Damit soll keinem generellen Mißtrauen in die Redlichkeit der Urkundspersonen das Wort geredet werden, wie der 1. Strafsenat befürchtet.64 Jedoch erfolgt eine Protokollberichtigung praktisch immer aufgrund eines äußeren Anstoßes. Denn weder die Urkundspersonen noch das erkennende Gericht haben Veranlassung, ein Protokoll nach seiner Fertigstellung noch einmal auf Fehler zu inspizieren. Und ein solcher Anstoß für eine mögliche Protokollberichtigung ist bezogen auf das Revisionsverfahren immer interessegeleitet: Sei es, um einer Verfahrensrüge zum Erfolg zu verhelfen, die nach dem ursprünglichen Hauptverhandlungsprotokoll unbegründet wäre, sei es, um einer auf das ursprüngliche Hauptverhandlungsprotokoll gestützten Verfahrensrüge den Boden zu entziehen. Mit dem Vorsitzenden des erkennenden Gerichts entscheidet über die Protokollberichtigung aber maßgeblich derjenige, der am Ausgang des Berichtigungsverfahrens ein inhaltliches Interesse hat. Denn es geht jeweils um den Bestand des von ihm mit zu verantwortenden Urteils. Wird eine Verfahrensrüge erhoben, die nur auf der Grundlage des berichtigten Protokolls überhaupt Erfolgsaussichten hätte, würde durch die Berichtigung nicht nur die Fehlerhaftigkeit des früheren Hauptverhandlungsprotokolls evident; es würde dadurch auch ein Verfahrensgeschehen dokumentiert, das zur Aufdeckung eines möglicherweise urteilsvernichtenden Verfahrensfehlers führt. Daß gleichwohl ein solcher Berichtigungsantrag einmal Erfolg hatte, dürfte eine extreme Ausnahme darstellen.
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Beulke in: FS für Reinhard Böttcher, (Fn 40) S. 23. BGH, Vorlagebeschluß v. 23.8.2006 – 1 StR 466/05 (Fn 1) Tz. 38.
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Umgekehrt kann durch eine Protokollberichtigung der mögliche Erfolg einer solchen Verfahrensrüge schon im Ansatz zunichte gemacht werden, die auf die ursprüngliche Sitzungsniederschrift gestützt wurde. Der von dieser Möglichkeit ausgehenden Versuchung wird man im Interesse des Bestands des Urteils um so eher erliegen, wenn derartige – durch das ursprüngliche Protokoll bewiesene – Verfahrensfehler gerügt werden, die dem erkennenden Gericht und insbesondere seinem Vorsitzenden üblicherweise nicht unterlaufen. Wird die Richtigkeit des Tatsachenvortrags durch das Hauptverhandlungsprotokoll absolut bewiesen, stellt sich insbesondere für den Vorsitzenden jetzt die Frage, ob es vorliegend tatsächlich zu einem prozessualen „Ausreißer“ in der Hauptverhandlung gekommen ist, oder ob das Protokoll den korrekten Verfahrensablauf nur unzutreffend wiedergibt, was bei dessen Fertigstellung nur nicht bemerkt worden war. Förmlichkeiten i.S.d. § 274 StPO betreffen hochstandardisierte prozessuale Routinevorgänge, die sich im Alltag strafgerichtlicher Hauptverhandlungen unzählige Male wiederholen.65 Gerade deshalb wird ihnen nicht dieselbe Aufmerksamkeit zuteil, wie singulären Ereignissen oder gar solchen, die besondere Beachtung in der Hauptverhandlung gefunden haben.66 Die vermeintliche Gewißheit, daß ein gerügter Verfahrensfehler dem Gericht üblicherweise nicht unterläuft, kann zu der die subjektive Überzeugung begründenden Schlußfolgerung führen, daß das Hauptverhandlungsprotokoll nicht nur unrichtig sein müsse, sondern tatsächlich auch unrichtig sei, was zur Protokollberichtigung berechtige.67 Es ist ein nachgewiesener psychologischer Mechanismus, negative Ereignisse in positive – mindestens neutrale – umzudeuten (Verleugnung der Realität),68 oder das als negativ erlebte Geschehen zu verdrängen.69 Das Argument, der Revisionsführer sei gegen eine seiner Rüge die Grundlage entziehende Protokollberichtigung nicht schutzlos, weil er im Protokollberichtigungsverfahren anzuhören sei und er gegen eine seiner Ansicht nach unzutreffende Berichtigung mit der Beschwerde vorgehen könne,70 läuft leer
65
Lindemann/Reichling (Fn 14) S. 153. Dem Vorschlag von Jahn/Widmaier Anm. zu BGH, Anfragebeschluß v. 12.1.2006 – 1 StR 455/06 (StV 2006, 287) JR 2006, 166 (169), ausgerechnet in diesem Bereich an die Stelle der Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls das Freibeweisverfahren treten zu lassen, kann wegen der gerade hier zu erwartenden großen Beweisschwierigkeiten nicht zugestimmt werden. Kritisch auch Beulke in: FS für Reinhard Böttcher (Fn 40) S. 28. 67 OGH (B) St 1, 277 (281). Zu den besonderen „Versuchungen“ in solchen Fällen, in denen für die Erstellung des Protokolls nur der Vorsitzende zuständig ist (§ 226 Abs. 2 StPO), Beulke ibid. (Fn 40) S. 22 f. 68 Bender/Nack/Treuer Tatsachenfeststellung vor Gericht, 3. Aufl. 2007, Rn 165. 69 Bender/Nack/Treuer ibid., Rn 171; Park (Fn 32) S. 340. 70 BGH, Beschluß v. 3.7.2006 – 2 ARs 53/06 (Fn 3) Tz. 6. 66
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angesichts der Tatsache, daß mit der Beschwerde keine inhaltliche Überprüfung der Richtigkeit der Protokollberichtigung verbunden ist.71 2. Der Berücksichtigungsfähigkeit von Protokollberichtigungen nach Eingang der Revisionsbegründung würde auch die mit § 274 StPO angestrebte Formalisierung und Vereinfachung des Revisionsverfahrens 72 entgegenstehen. Die Förmlichkeiten der Hauptverhandlung sollen gerade nicht zum Gegenstand von Beweiserhebungen im Rechtsmittelzug gemacht werden.73 Diese Absicht würde konterkariert, wenn nach Erhebung einer Verfahrensrüge dieser durch eine dadurch veranlaßte Protokollberichtigung der Boden entzogen werden dürfte. Darüber hinaus würde die Durchführung des Protokollberichtigungsverfahrens dem vom 1. Strafsenat auch für die Revisionsinstanz betonten Beschleunigungsgrundsatz 74 zuwiderlaufen. Eine sich auf das laufende Revisionsverfahren zulässigerweise auswirkende Ausnahme von der Nichtberücksichtigungsfähigkeit nachträglicher Protokollberichtigungen ist nur zugunsten derjenigen Verfahrensbeteiligten zu machen, die auf die Protokollerrichtung keinen Einfluß haben nehmen können. Diese müssen Gelegenheit zur Stellung eines nachwirkenden Berichtigungsantrages haben, wenn sie von einer die Förmlichkeiten der Hauptverhandlung i.S.d. § 274 StPO betreffenden unrichtigen Sitzungsniederschrift beschwert sind. Das ist zum einen der Fall, wenn das Hauptverhandlungsprotokoll einen in der Hauptverhandlung tatsächlich stattgefunden Verfahrensfehler entgegen § 274 StPO nicht oder unvollständig dokumentiert. Hier muß der potentielle Beschwerdeführer die Möglichkeit haben, einen entsprechenden Protokollberichtigungsantrag zu stellen, der einer auf diesen Sachverhalt gestützten fristgerecht begründeten Verfahrensrüge auch dann zum Erfolg verhelfen muß, wenn er erst nach Ablauf der Revisionsbegründungsfrist zu einer Berichtigung der Sitzungsniederschrift führt. Zum anderen kann es keinem Gegner eines potentiellen Beschwerdeführers zugemutet werden, tatenlos einem Hauptverhandlungsprotokoll „ausgeliefert“ zu sein, das einen tatsächlich nicht geschehenen Verfahrensfehler dokumentiert, der zum Gegenstand einer Verfahrensrüge gemacht werden könnte. In dieser Situation muß ein solcher Verfahrensbeteiligter die Möglichkeit haben, einen Protokollberichtigungsantrag zu stellen, der
71 LR-Gollwitzer (Fn 29) § 271 Rn 68 mwN; Lampe Unzulässigkeit der „Rügeverkümmerung“, NStZ 2006, 366 (368). 72 BGHSt 36, 354 (358 f); so auch noch BGH, Beschluß v. 11.8.2004 – 3 StR 202/04 = StV 2004, 638 (639). 73 Meyer-Goßner (Fn 20) § 274 Rn 2. 74 BGH, Vorlagebeschluß v. 23.8.2006 – 1 StR 466/05 (Fn 1) Tz. 36.
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im Falle des Erfolges bewirken würde, daß eine erst nach seiner Stellung erhobene Verfahrensrüge ins Leere ginge. Den Gegnern eines potentiellen Beschwerdeführers bleibt es überlassen, das Hauptverhandlungsprotokoll so zügig auf etwaige Unrichtigkeiten zu überprüfen, daß Berichtigungsanträge noch vor Erhebung einer diesbezüglichen Verfahrensrüge beim judex a quo eingehen.75 3. Nur bei dieser auf eng begrenzte Ausnahmen beschränkten Zulässigkeit von das Revisionsverfahren tangierenden Protokollberichtigungen kann auch vermieden werden, daß die absolute Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls aufgeweicht wird. Anderenfalls ist zu befürchten, daß es zu einer zunehmend nachlässigen Erstellung des Hauptverhandlungsprotokolls in dem Bewußtsein kommt, etwa erforderliche Berichtigungen auch später noch vornehmen zu können.76 Es ist absehbar, daß deren Qualität mit zunehmend nachlassender Erinnerungskraft immer stärker abnehmen würde. Mit der gesetzlich intendierten Qualitätssicherung bei der Erstellung eines Hauptverhandlungsprotokolls,77 wäre dies nicht zu vereinbaren. 4. Vor dem Hintergrund des formalisierten Charakters der Erstellung des Hauptverhandlungsprotokolls und seiner absoluten Beweiskraft kann auch die Mißbrauchsargumentation des 3. Strafsenats des Bundesgerichtshofs 78 nicht überzeugen: Nach dessen Auffassung soll eine Verfahrensrüge unzulässig sein, die in Kenntnis der Unwahrheit der mitgeteilten Tatsachen die Beweiskraft der Sitzungsniederschrift mißbrauche, wenn diese dort irrtüm-
75 Insofern bedarf es nicht zwingend eines von Fezer StV 2006, 290 (292) de lege ferenda vorgeschlagenen Protokollberichtigungsverfahrens, wonach innerhalb einer kurzen Frist Protokollberichtigungen von den Verfahrensbeteiligten angeregt oder beantragt werden könnten, nach deren Ablauf jede weitere Protokollberichtigung für die Beurteilung einer Verfahrensrüge unberücksichtigt zu bleiben habe. Ein solches Protokollberichtigungsverfahren sah bereits § 267 des Entwurfs eines Gesetzes über den Rechtsgang in Strafsachen (1919) vor (Reichsrat-Drs. Nr. 296/1919), allerdings mit folgender Maßgabe: „Ist die Rechtsrüge gegen das Urteil eingelegt und darauf gestützt, daß eine Vorschrift über das Verfahren verletzt sei, so darf der Teil der Niederschrift, der sich auf die behauptete Verletzung bezieht, nur ergänzt oder berichtigt werden, soweit dadurch die Rüge bestätigt wird“. 76 Park (Fn 32) S. 341; ders. Anm. zu BGH StV 2005, 256 (259); Tepperwien in: FS für Meyer-Goßner (Fn 57) S. 595 (609); Beulke in: FS für Reinhard Böttcher (Fn 40) S. 23 f. 77 Zu recht verweist Park ibid., S. 341 in diesem Zusammenhang auf die gemeinsame Verantwortung von Vorsitzendem und qualifiziertem (arg. § 31 StPO, § 153 GVG) Urkundsbeamten und den nach §§ 272, 273 StPO vorgegebenen Mindestinhalt des Protokolls. 78 BGH, Urteil v. 11.8.2006 – 3 StR 284/05 (Fn 10).
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lich als geschehen dokumentiert seien. § 274 StPO ist aber nach dem Verständnis der Urheber dieser Vorschrift und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Reichsgerichts, des Obersten Gerichtshofes und auch noch des Bundesgerichtshofs keine „einfache“ Beweisregel, wonach das Revisionsgericht den aus dem Hauptverhandlungsprotokoll zu ersehenden Sachverhalt als bewiesen anzusehen habe,79 sondern eine gesetzliche Fiktion, aufgrund derer dieser Sachverhalt als wahr zu gelten habe. Das Hauptverhandlungsprotokoll konstituiert (nicht konstruiert) eine prozessuale bzw. formelle Wahrheit,80 stellt eine – bis auf den Nachweis der Fälschung – unwiderlegbare Vermutung der Richtigkeit des dokumentierten Sachverhalts auf.81 Deshalb haben schon die Vereinigten Strafsenate des Reichsgerichts 82 darauf hingewiesen, daß die Verfahrensbeteiligten berechtigt seien, den vom Hauptverhandlungsprotokoll beurkundeten Sachverhalt als Grundlage für das gesamte Revisionsverfahren „von Anfang an zur Ausübung ihrer Anfechtungsbefugnisse in Anspruch zu nehmen“. Der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone betont zu recht, daß der aus dem Protokoll ersichtliche Sachverhalt „kraft ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift auch dann als wahr gelten soll, wenn durch andere Beweismittel etwas anderes erwiesen werden konnte“.83 Und schließlich hat auch der Bundesgerichtshof erkannt, daß der „in der Niederschrift beurkundete Sachverhalt (…) nach dem Gesetz ohne Rücksicht auf die wirklichen Vorkommnisse in der Hauptverhandlung die Grundlage des Verfahrens“, insbesondere „auch die Grundlage für das Revisionsverfahren“ bilde und „Staatsanwaltschaft und Angeklagte (…) Angriffe gegen das Urteil wegen Verfahrensverstößen nur auf den im Protokoll niederlegten Sachverhalt stützen“ könnten.84 Der aus dem Geltungsanspruch des Hauptverhandlungsprotokolls ableitbare formale Wahrheitsbegriff kann auch nicht mit dem Argument unterlaufen werden, ein Beschwerdeführer erhebe eine bloße unzulässige Protokollrüge, wenn der dokumentierte Vorgang dem tatsächlichen Geschehen nicht entspräche.85 Nach dem herkömmlichen Verständnis einer „Protokollrüge“ besteht deren Wesen darin, daß die fehlerhafte Fassung des Protokolls in Form undeutlicher,
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So Lindemann/Reichling (Fn 14) S. 152 mwN; noch weitergehend Meurer Beweis und Beweisregel im deutschen Strafprozeß, in: FS für Oehler, 1985, S. 357 (375 Fn 54): bloße „Beweismittel- und Beweismittelausschlußregel“, wonach zum Nachweis der Unrichtigkeit des Inhalts des Protokolls nur die Fälschung als Beweismittel zugelassen sei. 80 Beulke, in: FS für Reinhard Böttcher (Fn 40) S. 26; Park (Fn 32) S. 337, Schlothauer (Fn 11) S. 293; Schneidewin (Fn 21) S. 193; Widmaier (Fn 1) S. 3588. 81 Vergleichbar der zwingenden Regel des § 338 StPO für sog. absolute Revisionsgründe. 82 RGSt 43, 1 (8). 83 OGH (B) St 1, 277 (279). 84 BGHSt 2, 125 (126). 85 Tepperwien (Fn 57) S. 598 f.
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unvollständiger oder fehlender Beurkundung,86 nicht aber „der beurkundete Vorgang (oder seine Unterlassung, die durch das Fehlen eines Protokollvermerks bewiesen wird) gerügt“ wird.87 Ausschließlich letzteres ist aber der Fall, wenn ein Beschwerdeführer seine Verfahrensrüge auf den durch die Sitzungsniederschrift beurkundeten und dadurch geschaffenen Sachverhalt stützt. 5. Es wird nur in seltenen Fällen völlig unstreitig sein, ob das tatsächliche Verfahrensgeschehen durch das ursprüngliche oder durch das berichtigte Protokoll bzw. durch den Inhalt im Wege freibeweislich eingeholter dienstlicher Erklärungen zutreffend dokumentiert ist. Was der „wahre Sachverhalt“ ist, den nach Auffassung des 1. und 3. Strafsenats das zur Wahrheit verpflichtete Revisionsgericht bei der Beurteilung von Verfahrensverstößen zugrunde zu legen habe, bleibt danach vielfach offen. Im Interesse der durch das Protokoll gewährleisteten Rechtssicherheit darf deshalb auch ein möglicherweise „nur wegen eines Protokollfehlers“ als verfahrenswidrig zu Stande gekommen erscheinendes Urteil nicht aufrechterhalten bleiben.88 Die Möglichkeit eines Auseinanderfallens von der durch die absolute Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls begründeten formellen Wahrheit bzgl. der Beobachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten und der inhaltlichen Wahrheit ist allein in der nachlässigen Erstellung der Sitzungsniederschrift begründet. Die Konsequenzen von den Urkundspersonen unterlaufenen Fehlern sind deshalb alleine von der Justiz als derjenigen Instanz zu tragen, in deren ausschließlicher Zuständigkeit die Erstellung des Hauptverhandlungsprotokolls liegt.89 Es ist deshalb an die langjährige Forderung der Anwaltschaft zu erinnern, die Hauptverhandlung in Bild und Ton aufzuzeichnen, nicht nur um den Inhalt der Einlassung und der Aussagen des Angeklagten und von Zeugen und Sachverständigen festzuhalten, sondern auch um die Einhaltung des Verfahrensrechts zu dokumentieren.90 Solange eine beweisfeste Rekonstruktion 86 Löwe-Rosenberg StPO, 13. Aufl. 1913, § 271 Anm. 7; LR-Geier, StPO, 20. Aufl. 1958, § 271 Anm. 8. 87 Sarstedt Die Revision in Strafsachen (Fn 44) S. 123. 88 In Umkehrung eines von Satzger/Hanft (Fn 24, NStZ 2007, 189) zur Rechtfertigung des Urteils des 3. Strafsenats vom 11.8.2006 angeführten Arguments. 89 Tepperwien (Fn 57) S. 595 (609 f). 90 Vgl. beispielsweise Strafrechtsausschuß des DAV, AnwBl. 1993, 328 („Gesetzesentwurf zur Tonaufzeichnung der Hauptverhandlung in Strafsachen“); Deckers 18. Strafverteidigertag in Hannover, 1994, in: Schriftenreihe der Strafverteidigervereinigungen, Köln, 1994, S. 137; zuletzt BRAK, Stellungnahme zum Gesetzentwurf des Bundesrates zur Effektivierung des Strafverfahrens (BT-Drs. 16/3659) Nr. 37/2006 – November 2006 – S. 8.
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von Ablauf und Inhalt der Hauptverhandlung nicht möglich ist, muß es bei dem bewußt formalisiert ausgestalteten Verfahren verbleiben, mittels dessen überprüft wird, ob das dem Urteil vorausgegangene Verfahren entsprechend der Prozeßordnung durchgeführt wurde.
VI. Die absolute Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls ist Wesenselement des formalisierten Rechtsmittelverfahrens der Revision. Sie darf unter Hinweis auf die tatsächliche oder vorgebliche inhaltliche Unwahrheit der dokumentierten Hauptverhandlungsvorgänge auch nicht in der Weise aufgeweicht werden, daß durch eine Protokollberichtigung einer bereits erhobenen Verfahrensrüge die Grundlage entzogen wird. Eine dadurch ggf. erforderlich werdende Wiederholung der Hauptverhandlung ist eher hinzunehmen,91 als die absolute Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls durch eine nachträgliche Protokollberichtigung zu relativieren,92 deren inhaltliche Richtigkeit fraglich ist und der immer das Odium der Parteilichkeit anhaftet. Sowohl der Vorlagebeschluß des 1. Strafsenats vom 23.8.2006 als auch das Urteil des 3. Strafsenats vom 11.8.2006 laufen darauf hinaus, ansonsten begründeten Verfahrensrügen den Erfolg zu versagen. Beide Entscheidungen tragen damit dazu bei, die Möglichkeiten einer Urteilsüberprüfung mittels der Verfahrensrüge zurückzudrängen und tatgerichtliche Urteile gegen eine Aufhebung durch das Revisionsgericht zu immunisieren. Angesichts der ohnehin schon niedrigen Erfolgsquote speziell von Verfahrensrügen und Revisionen ganz allgemein ist dies unter dem Blickwinkel einer fairen Verfahrensgestaltung ein bedenkliches Ergebnis. Läuft es doch darauf hinaus, daß das von der Strafprozeßordnung eröffnete Rechtsmittel der Revision zunehmend ineffektiv gemacht wird.93
91 OGH (B) St 1, 282; Beulke Zwickmühle des Verteidigers, in: FS für Roxin, 2001, S. 1173 (1194). 92 BGH, Beschluß v. 11.8.2004 – 3 StR 202/04 = StV 2004, 638 (639). 93 In seinem Beschluß v. 25.1.2005 (2 BvR 656/99 = StV 2005, 369 [372]) weist der 2. Senat des BVerfG im Zusammenhang mit der Anwendung des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO zutreffend darauf hin, daß der Zugang zum Revisionsgericht von Verfassungs wegen nicht in unzumutbarer Weise beschränkt werden und das Rechtsmittel der Revision nicht leerlaufen dürfe.
Der Täter-Opfer-Ausgleich Eine Zwischenbilanz Klaus Schroth Vorbemerkung Rainer Hamm ist schon seit den 70er Jahren Mitglied des Vereins „Deutsche Strafverteidiger e.V.“. Die Fortbildungsveranstaltungen dieses Vereins, die zusammen mit dem „Deutschen Richterbund“ durchgeführte „AlsbergTagung“ und viele weitere juristische Tagungen führten uns immer wieder zusammen und ließen ein freundschaftliches Verhältnis entstehen, das auch persönliche und familiäre Begegnungen mit sich brachte. Dafür danke ich ihm und seiner Frau sehr herzlich. Ganz besonders danke ich ihm – zusammen mit den Lehrgangsteilnehmern, dass er gemeinsam mit dem Vorsitzenden Richter am BGH a.D., Dr. Gerhard Schäfer, die Sommerlehrgänge der „Deutschen Strafverteidiger“ so hervorragend gestaltet. Ich wünsche dem Jubilar auch weiterhin die Schaffenskraft und das Engagement, zu unser aller Nutzen! Der vorliegende Aufsatz befasst sich mit einem Thema, mit dem sich der Jubilar als einer der Ersten sehr kritisch auseinandergesetzt hat.
I. Opferdiskussion – Opferrechte – Ein kurzer Überblick Die schon seit vielen Jahrzehnten, insbesondere ab den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts geführte „moderne Opferdiskussion“ hat zu einer deutlichen Erweiterung der Opferrechte geführt. Der Gesetzgeber hat durch eine Reihe von Gesetzen die Rechte der Opfer gestärkt und mit dem Opferrechtsreformgesetz von 2004 dem Opfer eine neue Subjektrolle zugewiesen, die nicht ohne Kritik geblieben ist und bleibt.1 Dem Bedürfnis der Opfer – gerade in Sexual- und Gewaltstrafverfahren – nach mehr Verständnis für ihre besondere psychische und physische Lage und ihre Forderung nach mehr Schutz durch die Gesellschaft stehen Bedenken derjenigen gegenüber, die in einer zunehmenden Ausweitung der Verletztenrechte im Strafprozess eine zu weit gehende Einschränkung der Ver1 In neuster Zeit: Heger JA 2007, 244 ff; auch Stiebig Jura 2005, 592 ff; und Hörnle JZ 2006, 950 ff; Volckart JR 2005, 181 ff.
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teidigungsrechte sehen. Befürchtet wird, dass die durch das Grundgesetz, die Strafprozessordnung und andere Verfahrensgesetze vorgegebene „Waffengleichheit“ zwischen dem Staat und einer Person, die möglicherweise eine Straftat begangen hat (Unschuldsvermutung), sich zu einem „Parteienprozess“ zu Lasten des Beschuldigten entwickeln könnte, wenn dem Opfer zu viele Gestaltungs- und Einflussmöglichkeiten im Strafprozess eingeräumt würden. Damit würde auch der Grundsatz des „fairen Verfahrens“ verletzt. Auch das durch das Opferrechtsreformgesetz eingeführte Regel-Adhäsionsverfahren verstärke nur die Problematik der daraus resultierenden Zwitterstellung des vermeintlichen Opfers im strafrechtlichen Erkenntnisverfahren und erreiche nicht die vom Gesetzgeber angestrebte Beschleunigung des Verfahrens.2 Einigkeit besteht darüber, dass die angestrebte Verbesserung des Opferschutzes nicht zu Lasten eines Beschuldigten gehen und der Kern des Strafprozesses – nämlich das vom Grundsatz des „fairen Verfahrens“ geprägte Prozedere – nicht verlassen werden dürfen. Zu schnelle, nicht ausreichend bedachte und oft mit populistischen Argumenten und Mitteln vorangetriebene Gesetze oder Gesetzesänderungen zeigen auch eher die Mängel in der Handhabung des Gesetzgebungsverfahrens, was die zunehmende Einschaltung des Bundesverfassungsgerichts und internationaler Gerichtshöfe bestätigt.
II. Der Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) 1. Entwicklung bis zur Schaffung des § 46a StGB Besonders deutlich wurde der Wille des Gesetzgebers, durch einen TäterOpfer-Ausgleich den Belangen der Opfer von Straftaten stärkeres Gewicht zu verleihen, beim TOA. So soll ihnen die Möglichkeit gegeben werden, die physischen und psychischen Belastungen abzubauen und das Vertrauen in die Rechtsordnung wieder zu gewinnen. Der Täter dagegen soll die Gelegenheit haben, das Unrecht seines Tuns zu erkennen und sich von seiner Tat zu distanzieren.3 Nach dem Willen des Gesetzgebers soll der Täter-Opfer-Ausgleich sowohl dem Verletzten als auch dem Beschuldigten die Möglichkeit geben, mit Hilfe eines Vermittlers den infolge der Straftat entstandenen Konflikt durch eine freiwillige Übereinkunft beizulegen, als eine Art Bewältigungsstrategie von Straftaten durch die vermittelte Konfliktregelung zwischen Täter und Opfer.4 Während früher eine mögliche Resozialisierung
2 So die Diskussion und die Stellungnahme der Arbeitsgruppe zu dem Thema „Opferschutz im strafrechtlichen Erkenntnisverfahren“ auf dem 28. Strafverteidigertag 2004 in Karlsruhe. 3 BT-Drs. 12/6853, S. 21, Franke NStZ 2003, 410 f. 4 Kilchling NStZ 1996, 309, 310.
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sowie die einschlägigen Strafzwecke beim Straftäter im Vordergrund standen, geht es jetzt zunehmend um die Belange des Opfers, wobei im Täter-OpferAusgleich auch eine Möglichkeit gesehen wird, das Strafrecht zu entschärfen, den Problemen des Strafvollzugs zu begegnen und die Opferinteressen verstärkt zu realisieren.5 Zunächst entwickelte sich der TOA bei an aktiver Sozialarbeit interessierten Kreisen mit Modellprojekten für Jugendliche. Schlichtungsstellen wurden eingerichtet und bei leichter bis mittlerer Kriminalität im Einverständnis mit den Justizorganen Ausgleichsverfahren durchgeführt. Dabei wurde der TOA ausdrücklich als Alternative zum strafgerichtlichen Verfahren gesehen. Die anfängliche Begeisterung für den TOA mit einer Flut von Publikationen brachte dann auch die Einführung des juristisch nicht korrekten Begriffs des „Täter-Opfer-Ausgleichs“ mit sich.6 Gedanklich stehen hinter dem TOA nicht zuletzt sozialpädagogische Überlegungen. Die unmittelbare Konfrontation mit dem Opfer, mit dessen Verletzungen und Ängsten, kann dem Täter vor Augen führen, dass es bei der Tatbewältigung nicht nur um seine eigenen Probleme geht. Die Begegnung mit dem Opfer fördert wesentlich die Unrechtseinsicht des Täters. Diesem erzieherisch bedeutsamen Aspekt trägt in besonderem Maße das Jugendgerichtsgesetz Rechnung.7 Insofern dient der TOA auch dem Ziel der Resozialisierung des Täters und damit dem allgemeinen Rechtsfrieden.8 Nach einer Befragung in der Anwaltschaft bietet der TOA in erster Linie Vorteile für den Beschuldigten. Aber auch für das Opfer einer Straftat kann die Durchführung eines TOA bei entsprechender Fallkonstellation vorteilhaft sein.9 2. Kritik Die Stimmen der Kritiker sind noch nicht verstummt. So stellt nach Meinung von Hamm, der als einer der Ersten sich mit der Problematik auseinandergesetzt hat, die Einführung des § 46a StGB einen Eingriff in die Verteidigungsfreiheit dar. Dass das Recht eines Beschuldigten, sich redend oder schweigend zu verteidigen, die Tat zu bestreiten oder sie zu gestehen, nicht durch Drohungen oder Versprechungen beeinflusst werden dürfe, sei die aus dem Rechtsstaatsprinzip herzuleitende Grundlage der §§ 136, 136a StPO und zahlreicher 5
KK-Schoreit § 155a Rn 3. Siehe auch Michaelis JA 2005, 828 ff. Zur geschichtlichen Entwicklung des TOA: KK-Schoreit § 155a Rn 2–6. 7 Schaffstein/Beulke S. 111 f; Schroth Die Rechte des Opfers im Strafprozess, S. 68 mwN. 8 Keude Die Effizienz des TOA, Weisser Ring, Mainzer Schriften zur Situation von Kriminalitätsopfern, 2000, Bd. 23. 9 Täter-Opfer-Ausgleich aus der Sicht von Rechtsanwälten, BMJ (Herausgeber) 1999, S. 130 f. 6
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Entscheidungen des Bundesgerichtshofs. Das Verhalten des Beschuldigten gegenüber dem Tatopfer werde zu einem den Strafrahmen bestimmenden Faktor aufgewertet. § 46a StGB schaffe nun erstmals für eine und dieselbe Tat zwei verschiedene Strafrahmen, wobei zum Zeitpunkt der Tatbeendigung noch nicht geklärt sei, welche der beiden dem Täter vom Gesetz angedroht ist, und es bestünden Bedenken aus Art. 103 Abs. 2 GG. Nicht die Schuld des Täters, sondern seine durch die Tat entstandenen Schulden und seine Bereitschaft zu ihrer Begleichung entschieden über die gesetzliche Sanktionsdrohung. Der eigentliche Zweck des § 46a StGB diene nur der Justizentlastung, Motivierung der Angeklagten zu konsensualen Wohlverhaltensstrategien und führe dazu, dass das Strafrecht zum Stichwortgeber für eine weitgehend ungeregelte Konfliktbereinigung durch das Aushandeln von Rechtsfolgen werde. Ein ungeregeltes Verfahren wie der TOA sei noch viel weniger als das geregelte Strafverfahren davor gefeit, Fehlentscheidungen zu treffen.10 Diese Kritik am TOA wurde in der Folgezeit von mehreren Autoren vertieft und durch weitere Kritikpunkte ergänzt.11 Nach der Entscheidung des BGH, wonach die Anwendung des § 46a StGB voraussetze, dass der Angeklagte geständig sei, erhob sich zusätzliche Kritik.12 Die mangelnde Vereinbarkeit mit dem System des Rechtsfolgenrechts wird von den Kritikern geltend gemacht. Der TOA sei ein Fremdkörper im System der Strafzumessungsvorschriften.13 Kritik stützt sich dabei auch auf verfahrensrechtliche Argumente, bzw. leitet sich aus der Gegenläufigkeit des materiellen Strafzumessungsrechts her.14 Eine Zusammenfassung dieser und noch weiterer Kritiken findet sich bei Tröndle/Fischer.15 3. Zunehmende Akzeptanz in der Praxis Trotz dieser sehr ernstzunehmenden Kritik setzt sich in der Praxis der TOA nach und nach immer mehr durch und wird im Gegensatz zum Adhäsionsverfahren zunehmend häufiger angewandt. Dies mag auch daran liegen, dass der TOA für die Staatsanwaltschaft und die Gerichte keine besondere Mehrbelastung mit sich bringt; im Gegensatz zum Adhäsionsverfahren, das zumindest bei den „älteren“ Verfahrensbeteiligten eine Umstellung mit 10
Hamm StV 1995, 491 ff. So Maiwald GA 2005, 340, 343; Loos ZRP 1995, 52, 54 ff; LK-Theune 12. Aufl. 2006, § 46a Rn 10. 12 BGH NStZ 2003, 365; Maiwald GA 2005, 340, 343; Volckert JR 2005, 181, 183. 13 MüKo-Franke § 46a Rn 3; Tröndle-Fischer 54. Aufl. 2007, § 46a Rn 3 u.a.; a.A. Michaelis JA 2005, 828, 832; LK-Theune 12. Aufl. 2006, § 46a Rn 2 ff; Püschel StraFo 2006, 261, 269. 14 Salditt StV 2002, 273; Kilchling NStZ 1996, 309. 15 Tröndle/Fischer 54. Aufl., § 46a Rn 3 mwN. 11
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Mehrarbeit mit sich gebracht hat. Seit dem Inkrafttreten des § 46a StGB im Jahr 1994 wurde der TOA vermehrt Gegenstand höchstrichterlicher Rechtsprechung.16 Nach Auffassung vieler Opferschutzverbände und der Stellungnahme des BMJ hat er sich als eigenständige Alternative zu den herkömmlichen Möglichkeiten der Wiedergutmachung von Tatfolgen (vgl. § 46 Abs. 2 StGB) bewährt.17 Durch die Fixierung des Strafrechts auf den Täter habe sich die Notwendigkeit ergeben, eine Norm zu schaffen, die das Opfer vor weiterer Belastung durch das Strafverfahren schütze.18 Neben materieller Wiedergutmachung kann der TOA auch zu einer Entlastung immaterieller Art führen. Nicht zuletzt durch seine aktive Einbeziehung in das Verfahren des TOA erhält das Opfer die Anerkennung in der Gesellschaft, dass ihm kein bloßes „Unglück“, sondern „Unrecht“ widerfahren ist. Dies und auch die Möglichkeit, mit besseren Chancen und schneller Schadensersatz zu erhalten, hat zu einer zunehmenden Akzeptanz des TOA bei den Opfern von Straftaten geführt.19 Aber auch für viele Beschuldigte bringt der TOA Vorteile, nicht zuletzt in der persönlichen Auseinandersetzung mit dem Geschehen, vor allem aber bei der Straferwartung infolge der möglichen Strafrahmenverschiebung. Mit dem TOA und der Wiedergutmachung im Strafvollzug und Vorschlägen zur Reformierung des § 57 StGB befasst sich Steffen, der eine Novellierung des § 57 Abs. 2 StGB vorschlägt.20
III. Rechtsprechung – Tendenzen § 46a StGB als ein fakultativer vertypter Strafmilderungsgrund, der über § 49 Abs. 1 StGB zu einer Senkung des Strafrahmens führt, oder einen minder schweren Fall begründen kann, ist als die speziellere Regelung gegenüber § 46 Abs. 2 StGB an höhere Anforderungen geknüpft. Während § 46a Nr. 1 StGB vor allem den Ausgleich immaterieller Folgen einer Straftat vorsieht, betrifft § 46a Nr. 2 StGB den materiellen Schadensersatz, wobei sich bei vielschichtigen Tatgeschehen mit mehreren Geschädigten die klare Unterscheidung zwischen Nr. 1 und Nr. 2 schwer aufrechterhalten lässt.21 Nach Ansicht des 2. Strafsenats reicht es aus, wenn eine der Alternativen erfüllt ist.22
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Vgl. Heger JA 2007, 248; Michaelis JA 2005, 828 ff; Maiwald GA 2005, 340. Bundesjustizministerin Zypries in: Kerner/Hartmann BR-Drs. 197/04, S. 1. 18 Bemmann JR 2003, 226. 19 Haupt/Weber u.a. Handbuch Opferschutz, Rn 154; Kerner/Hartmann aaO S. 27. 20 Steffen ZRP 2005, 218 ff. 21 BGH NStZ 2002, 29; MüKo-Franke § 46a StGB Rn 7; BGH v. 21.9.2006 – 4 StR 386/06. 22 BGH v. 25.5.2001 – 2 StR 78/01. 17
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1. Zusammenfassung der Rechtsprechungskriterien zu § 46a Nr. 1 StGB Da § 46a Nr. 1 StGB verlangt, dass der Täter im Rahmen des TOA seine Tat ganz oder zum überwiegenden Teil wiedergutmacht, oder die Wiedergutmachung ernsthaft erstrebt, setzt dies grundsätzlich ein Bemühen des Täters um einen „Kommunikativen Prozess“ zwischen Täter und Opfer voraus, der auf einen umfassenden, friedensstiftenden Ausgleich der durch die Tat verursachten Folgen angelegt sein muss.23 Das einseitige Wiedergutmachungsbestreben ohne den Versuch der Einbeziehung des Opfers genügt dazu nicht. Das Opfer muss für einen erfolgreichen Ausgleich im Sinne von § 46a StGB die Leistungen des Täters auch als friedensstiftenden Ausgleich akzeptieren.24 Wenngleich ein „Wiedergutmachungserfolg“ keine zwingende Voraussetzung ist, so muss sich das Opfer doch auf freiwilliger Grundlage zu einem Ausgleich bereit finden und sich auf ihn einlassen. Die Erfüllung von Schadensersatzansprüchen allein reicht aber nicht aus, weil dadurch dem Erfordernis eines kommunikativen Prozesses nicht Genüge getan wird. Dies ergibt sich schon daraus, dass überhaupt nur angemessene Leistungen die erlittenen Schädigungen ausgleichen und zu einer Genugtuung für das Opfer führen können.25 An einem kommunikativen Prozess fehlt es, wenn das Opfer überhaupt nicht beteiligt ist.26 Für den Tatrichter bedeutet dies, die Voraussetzungen eines erfolgreichen TOA im Urteil darzulegen und insbesondere die Einstellung des Opfers zum TOA ausreichend darzustellen.27 Daneben ist auszuführen, wie sicher die Erfüllung einer etwaigen Schmerzensgeldverpflichtung ist und welche Folgen die Verpflichtung für den Täter haben wird. Weiterhin berücksichtigt der BGH Reue sowie ein etwaiges umfassendes und detailliertes Geständnis, mit welchem der Täter Verantwortung für seine Tat übernimmt.28 Ein umfassendes Geständnis wird zwar nicht kategorisch gefordert, wenngleich die Übernahme der Täterrolle ein wichtiger Bestandteil der Befriedung ist. Dennoch verlangt der BGH bei Gewaltdelikten und Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung für einen erfolgreichen TOA mit der zu Gunsten des Angeklagten wirkenden Folge der Strafmilderung nach § 46a i.V.m. § 49 StGB regelmäßig ein Geständnis des Täters.29 Das ernsthafte Bemühen muss im Einzelfall festgestellt werden, um den Freikauf von der Verantwortung zu Lasten des Opfers zu verhindern.30 Auf dieser Grundlage hat der Tatrichter in wertender Betrachtung und nach 23 24 25 26 27 28 29 30
BGH v. 7.12.2005 – 1 StR 287/05; BGH v. 16.3.2007 (auch zum ernsthaften Bestreben). BGH NStZ. 2006, 275; BGH v. 13.2.2007 – 1 StR 574/06. BGH v. 13.2.2007 – 1 StR 574/06. Detter NStZ 2006, 560, 563. Hamm StV 1999, 89. BGH v. 21.9.2006 – 4 StR 386/06. Michaelis JA 2005, 366, 367. Schädler NStZ 2005, 366, 367; siehe auch Hamm StV 1999, 89.
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Ermessensgesichtspunkten zu prüfen und zu entscheiden, ob die Voraussetzungen des TOA vorliegen und danach von der Minderungsmöglichkeit Gebrauch zu machen. 2. Zusammenfassung der Rechtsprechungskriterien zu § 46a Nr. 2 StGB § 46a Nr. 2 StGB setzt voraus, dass der Täter das Opfer ganz oder zum überwiegenden Teil entschädigt und dies erhebliche persönliche Leistungen oder persönlichen Verzicht erfordert.31 Diese Vorschrift betrifft nur den materiellen Schadensersatz und setzt nicht – wie Nr. 1 – den kommunikativen Prozess voraus.32 Damit die Schadenswiedergutmachung ihre friedensstiftende Wirkung entfalten kann, hat der Täter einen über die rein rechnerische Kompensation hinausgehenden Betrag zu erbringen.33 Die Erfüllung von Schadensersatzansprüchen allein genügt aber auch im Rahmen von § 46a Nr. 2 StGB nicht. Die Leistungen müssen Ausdruck der Übernahme von Verantwortung gegenüber dem Opfer sein.34 Dabei verlangt § 46a Nr. 2 StGB im Unterschied zu Nr. 1 den Eintritt des Erfolges, also eine geleistete Zahlung. Das bloße Bemühen reicht demnach ohne das entsprechende persönliche Opfer des Täters nicht aus.35 Verursacht eine Straftat materielle und immaterielle Schäden, müssen die Leistungen nach § 46a StGB alle Schäden abdecken.36 Weitere Zusammenfassungen und Rechtsprechungsübersichten finden sich bei Schädler,37 der zu dem Ergebnis kommt, dass die Voraussetzungen des TOA nach § 46a StGB weitestgehend geklärt sind.
IV. Der TOA in der Praxis – Ausgleichsstellen Durch die Einrichtung von TOA-Stellen, den Ausgleichsstellen, gewinnt § 46a Nr. 1 StGB eine formale Komponente. Bislang gibt es in der BRD noch keine einheitliche Durchführung des TOA. Auf Beschluss von Bundestag und Bundesregierung wurde 1992 das TOA-Servicebüro als überregionale Zentralstelle zur Förderung des TOA eingerichtet. Es ist eine Einrichtung des DBH e.V., Fachverband für Soziale Arbeit, Strafrecht und Kriminalpolitik und wird aus Mitteln des BMJ gefördert. Ziel dieses Büros war und ist
31 32 33 34 35 36 37
Schädler aaO. Schädler aaO. BGH NStZ 2002, 364, 365. Tröndle/Fischer, § 46a StGB, Rn 11. MüKo-Franke, § 46a StGB, Rn 13. Dölling/Hartmann Anmerkungen zu BGH NStZ 2002, 264, 266. Schädler NStZ 2005, 266 ff.
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die vermehrte, fachgerechte Anwendung des TOA durch Ausbildung von Mitarbeitern und Einrichtungen, damit einheitliche Mindeststandards für die Ausgleichsstellen gewährleistet sind. Mit dem Bericht „Täter-Opfer-Ausgleich in der Entwicklung“ hat das BMJ 2005 einen Überblick für die Jahre 1993 bis 2002 gegeben und eine Auswertung der bundesweiten Täter-OpferAusgleichs-Statistik vorgelegt, in der eine zunehmende Inanspruchnahme der Einrichtungen belegt wird.38 Durchgeführt wird der TOA in den meisten Bundesländern von der Gerichtshilfe. In Baden-Württemberg wird der TOA im Rahmen des Erwachsenenstrafrechts seit 1. Januar 2007 auf einen freien Träger, der „Neustart gGmbH“ übertragen, ebenso die Bewährungshilfe. Diese 2006 gegründete gGmbH ist eine 100 %-Tochter des Vereins „Neustart“ in Österreich, der seit 50 Jahren erfolgreich justiznahe Sozialarbeit durchführt. In dem Kurzprofil heißt es: „Vergangenheit – verarbeiten, Gegenwart – bewältigen, Zukunft – sichern“. Rund 350 haupt- und 100 ehrenamtliche Mitarbeiter betreuen jährlich circa 22.000 Klienten in der Bewährungshilfe und nehmen sich nunmehr verstärkt des TOA an.39 Mehrere Bundesländer haben bereits Interesse an dieser Einrichtung bekundet.
V. Opferanwalt – Strafverteidiger – Fachanwalt Anwaltliche Vertretung steht auch dem Opfer von Gewalt zu. Neben der freien Anwaltswahl hat das Opfer in bestimmten Fällen per Gesetz ein Recht auf einen „Opferanwalt“, der ihm auf Staatskosten beigeordnet wird. Dieser kann schon in einem frühen Stadium des Verfahrens Rechte des Opfers wahrnehmen und neben der Betreuung des Opfers und seiner Angehörigen auch auf das Ermittlungs- und Strafverfahren Einfluss nehmen. Mit der Hervorhebung der Rolle als Opferanwalt steigt die Verantwortung für das Opfer – aber auch für das Prozessgeschehen! Aber wie der Strafverteidiger, der bei der Verteidigung seines Mandanten die Belange des Opfers in seine Überlegungen mit einzubeziehen hat, ist auch der Opferanwalt gut beraten, die Rechte des Opfers maßvoll wahrzunehmen und diese nicht durch überzogenes Handeln und Auftreten vor Gericht zu schmälern oder gar zu verspielen.40 Das Maß der Verantwortung ist groß.41 Die neue Bedeutung des Opferanwalts und seine notwendige Qualifikation hat auch der Anwaltsgerichtshof in seiner Entscheidung vom 8. November 2004 festgestellt und die Rechtsanwaltskammer verpflichtet, die Führung der Bezeichnung „Fach38 Herausgegeben vom BMJ, Berlin, Januar 2005; siehe auch www.delattre.de und www.aus-gleichende-gerechtigkeit.de. 39 Kurzprofil der Neustart gGmbH, erstellt von Muckenhaupt www.neustart.org. 40 Schroth aaO S. 15. 41 Deckers StV 2006, 353 ff.
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anwalt für Strafrecht“ zu gestatten, auch wenn er seine besonderen praktischen Erfahrungen ganz überwiegend als Nebenklägervertreter nachgewiesen hat.42 Es ist für das Strafverfahren sicher von Vorteil, wenn die gegensätzlichen Interessen jeweils von sachkundigen Anwälten vertreten werden. Die Auseinandersetzungen zwischen der Verteidigung und den Opferanwälten sollte aber immer den Sinn und Zweck des Strafprozesses beachten und nicht auf dem Rücken der Mandanten ausgetragen werden. Auch die Zeiten, in denen der Nebenklägervertreter oft die Rolle eines „Nebenschläfers“ eingenommen und sich die Nebenklage lediglich den Ausführungen der Staatsanwaltschaft angeschlossen und einen Kostenantrag gestellt hatte, sollten endlich vorbei sein.
VI. Zwischenbilanz Trotz gut begründeter Kritik setzt sich der TOA zunehmend durch und gewinnt in der Praxis immer mehr an Bedeutung. Alle an einem Ermittlungsoder Strafverfahren Beteiligte müssen sich darauf einstellen und kenntnisreich die jeweiligen Interessen wahrnehmen, aber auch darauf achten, dass die vom Grundgesetz und den einschlägigen Gesetzen vorgegebenen Grundlagen des Strafprozesses, bei dem es in erster Linie um den Beschuldigten geht, für den die Unschuldsvermutung zu gelten hat, gewahrt bleiben. Zusätzliche Anmerkung: Der interessanten Frage, welchen Wert die Zeugenaussagen für die Wahrheitsfindung noch haben, wenn die Zeugen vollständige Akteneinsicht erhalten, wäre an anderer Stelle nachzugehen. Der Verfasser erinnert sich an die Prozesse in den 1970-er Jahren, in denen Polizeibeamten Vorwürfe gemacht wurden, wenn sie vor der Hauptverhandlung die Handakten nochmals gelesen hatten, und Fragen der Verwertbarkeit ihrer Aussagen aufkamen. Heute werden sie oftmals gerügt, wenn sie sich nicht durch ein Aktenstudium auf die Hauptverhandlung vorbereitet haben.
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BGH NJW 2005, 214 f.
Der Ausbau der Opferstellung im Strafprozeß – Fluch oder Segen? Bernd Schünemann I. Überblick 1. In Deutschland stand die gesellschaftliche Reaktion auf unerträglich abweichendes Verhalten, vulgo „Verbrechensbekämpfung“, mit der Verabschiedung der Strafrechtsreform im Jahre 1969 am Ende eines 1000-jährigen Weges, der mit der Ablösung der rein privaten (ursprünglich durch die Fehde, d.h. Privatrache, vom Verletzten oder seiner Sippe wahrgenommenen) Strafrechtspflege 1 durch einen zwar vom Verletzten als Ankläger begonnenen, aber von der Obrigkeit entschiedenen Prozeß begonnen hatte, durch ein von staatlichen Instanzen umfassend organisiertes Verfahren fortgesetzt wurde 2 und mit der Ersetzung des Vergeltungsstrafrechts durch ein Präventionsstrafrecht endete.3 Am Ende dieses Weges blieb für eine eigenständige Rolle des Verbrechensopfers als Verfahrenssubjekt kein Platz mehr übrig, denn wenn das Ziel des Strafverfahrens letzten Endes in der Resozialisierung des Täters im öffentlichen Interesse besteht,4 so spielt der
1 v. Hippel Deutsches Strafrecht, Bd. I, 1925, S. 40 ff; Eb. Schmidt Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl. 1965, S. 21 ff, S. 76 ff. 2 In Gestalt des sog. Inquisitionsprozesses, s. dazu Eb. Schmidt (Fn. 1) S. 86 ff. 3 Im materiellen Strafrecht durchgesetzt durch den Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches (hrsg. v. Baumann u.a., 1966) und die dadurch entzündete Diskussion, etwa Baumann (Hrsg.) Programm für ein neues Strafgesetzbuch, 1968; Roxin Franz v. Liszt und die kriminalpolitische Konzeption des Alternativentwurfs, in: ders., Strafrechtliche Grundlagenprobleme, 1973, S. 32 ff (orig. 1968); Jescheck Die kriminalpolitische Konzeption des Alternativentwurfs eines Strafgesetzbuches, in: ders., Strafrecht im Dienste der Gemeinschaft, 1980, S. 57 ff (orig. 1968); Arthur Kaufmann Der Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches und das Erbe Radbruchs, in: ders., Strafrecht zwischen Gestern und Morgen, 1983, S. 31 ff (orig. 1968); Baumann Weitere Schriften zur Strafrechtsreform, 1969; zusammenfassend aus heutiger Sicht Roxin Strafrecht, Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl. 2006, § 4 Rn 17 ff. 4 So die in Deutschland in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts herrschende Meinung, s. Schüler-Springorum Strafvollzug im Übergang, 1969, S. 157 ff; Arthur Kaufmann (Hrsg.) Die Strafvollzugsreform, 1971; auch Roxin Grundlagen (Fn. 3) S. 38 f; Peters FS für Heinitz, 1972, S. 501ff; Müller-Dietz Probleme des modernen Strafvollzuges, 1974, S. 5f. Die Ernüchterung kam aber rasch, symptomatisch Eser Resozialisierung in der Krise? in: FS für Peters, 1974, S. 505 ff.
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Verletzte 5 darin nur noch als Zeuge eine Rolle. Aus der Vergangenheit übrig gebliebene Positionen wie etwa die Nebenklage waren deshalb auch permanent von Abschaffung bedroht,6 und das Opfer wurde, wie es Weigend 7 unter Benutzung einer von McDonald 8 geprägten Formulierung ausdrückte, zu einer „vergessenen Figur“. Aber schon 15 Jahre später fand ein totaler Umschwung statt, als sich der 55. Deutsche Juristentag 1984 mit der „Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren“ befaßte.9 Seitdem ist in einer ganzen Reihe von Gesetzen ein ununterbrochener Ausbau der Opferstellung im Strafverfahren durchgeführt worden, und die Forderungen nach weiterer Verstärkung dieser Rechte sind längst noch nicht zu Ende. Der politische Motor dieser Entwicklung besteht in der feministischen Bewegung, denn die ganze Diskussion dreht sich immer wieder um die Opfer von Sexualdelikten, die nun einmal fast ausschließlich von Männern begangen werden; und es sind die feministischen Forderungen gewesen, die auch bei einer allgemeinen Verbesserung der Opferstellung immer den eigentlichen Auslöser gebildet haben. 2. Zentraler Punkt ist die Frage der Anerkennung des Verletzten als Prozeßsubjekt, d.h. als Partei. Ursprünglich war, wie schon bemerkt, das Opfer mit dem Ankläger identisch. In allen Rechtsordnungen hat sich aber im Laufe der geschichtlichen Entwicklung eine staatliche Anklagebehörde herausgebildet,10 während das Opfer gleichzeitig auf eine bloße Zeugenrolle
5 Auch wenn ich nachfolgend die Termini „Verletzter“ oder „Opfer“ aus Vereinfachungsgründen synonym gebrauche, möchte ich doch nicht unerwähnt lassen, daß die Redeweise vom „Opfer“ in einem nicht kriminologischen, sondern strafprozessualen Kontext eigentlich ungut ist, weil es ja in einem von der Unschuldsvermutung beherrschten Verfahren nur einen angeblich Verletzten gibt, sozusagen einen bloßen Opferprätendenten, was mit der „Opfer“-Bezeichnung angesichts ihrer Konnotationen aus dem Blick gerät. 6 Eine starke Einschränkung der Nebenklage wurde auf dem 50. Deutschen Juristentag 1974 gefordert, s. Grünwald Empfiehlt es sich, besondere strafprozessuale Vorschriften für Großverfahren einzuführen? Gutachten C zum 50. Deutschen Juristentag, 1974, C 83ff, und das Referat von Waldowski im Sitzungsbericht K zum 50. Deutschen Juristentag, 1974, S. K 42 ff, sowie die Beschlüsse der Strafprozeßrechtlichen Abteilung, ebd. S. 270 ff. 7 Weigend Deliktsopfer und Strafverfahren, 1989, S. 13. 8 McDonald in: ders. (Hrsg.) Criminal Justice and the Victim, California 1976, S. 17 ff (19): „victim as forgotten man“. 9 Umfassend Rieß Gutachten C zum 55. Deutschen Juristentag, 1984; zuvor bereits eindringlich Jung ZStW 93 (1981) 1147 ff. 10 Wobei in Deutschland im Inquisitionsprozeß zwischen Ankläger und Richter nicht unterschieden und die Rolle des Staatsanwalts erst aus Frankreich übernommen wurde, s. Carsten Die Geschichte der Staatsanwaltschaft in Deutschland, 1932, S. 7; Wohlers Entstehung und Funktion der Staatsanwaltschaft, 1994, S. 67, 172 ff; belleletristisch Hans Günther Staatsanwaltschaft, Kind der Revolution, 1973, S. 11f. In England ist diese Rolle bis heute nur beschränkt institutionell, d.h. als eigene staatliche Behörde zwischen Polizei und Gericht, ausgebildet, jedoch tritt vor Gericht dann, wenn es keinen staatlichen Beamten als Staatsanwalt gibt, ein vom Staat beauftragter Barrister als Ankläger auf.
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zurückgedrängt wurde. Es blieben nur noch kleine Reste der Anklägerrolle zurück, im deutschen Recht außer der schon erwähnten Nebenklage 11 auch das Recht der Privatklage bei personenbezogenen Bagatelldelikten (ursprünglich bei Beleidigung, Körperverletzung und allen Antragsdelikten, s. § 414 RStPO). Innerhalb von 20 Jahren seit dem erwähnten Deutschen Juristentag 1984 ist dann aber die Entwicklung in die genau umgekehrte Richtung gelaufen, indem die prozessuale Stellung des Verletzten vor allem durch das Opferschutzgesetz von 1986,12 durch das Gesetz zum Schutz von Zeugen und zur Verbesserung des Opferschutzes von 1998 13 und schließlich durch das Opferrechtsreformgesetz von 2004 14 massiv und mit steigendem Tempo verstärkt worden ist. Um nur das Wichtigste zu rekapitulieren: a) Seit 1986 können sich nicht nur die Opfer von Beleidigungen und Körperverletzungen, sondern auch von Freiheitsberaubungen und vor allem von Sexualdelikten dem Strafprozeß als Nebenkläger anschließen, wodurch sie zu einem eigenständigen Prozeßsubjekt mit mehrfach verbesserter Rechtsstellung avancieren (§§ 395 ff StPO). b) Auch wenn es um nicht nebenklagefähige Delikte geht, haben die Verletzten weitgehende Beteiligungsrechte erhalten, nämlich auf Akteneinsicht (§ 406e StPO), auf den Beistand eines Rechtsanwaltes (§§ 406f/g StPO), auf Information über den Verfahrensausgang (§ 406d StPO) sowie bei nebenklagefähigen Delikten auch ohne Anschlußerklärung auf Anwesenheit in der Hauptverhandlung (§ 406g Abs. 1 Satz 1 StPO). c) Parallel dazu sind ihre Rechte als Zeuge gestärkt worden (§§ 58a, 68a und 68b StPO), insbesondere um die „sekundäre Viktimisierung“ durch eine das Opfer unter Umständen erneut traumatisierende Hauptverhandlung 15 abzumildern. d) In den letzten Jahren hat schließlich die Verbesserung der Ansprüche des Verletzten auf Schadensersatz im Vordergrund gestanden, und zwar auf der einen Seite durch die Etablierung des Täter-Opfer-Ausgleichs (TOA) und auf der anderen Seite durch den Ausbau des Adhäsionsverfahrens, bei dem schon im Strafverfahren selbst die Schadensersatzansprüche des Verletzten geprüft werden und die Verurteilung zu einer Strafe mit einer Verurteilung zu Schadensersatz kombiniert wird (§§ 46a; 56b Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Nr. 1 StGB; §§ 153a Abs. 1 Nr. 1; 155a, b; 403 ff StPO).
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Ursprünglich §§ 435 ff RStPO, dazu allg. Weigend (Fn. 7) S. 434 f. BGBl. I S. 2496. 13 BGBl. I S. 820. 14 BGBl. I S. 1354. Zu den weiteren einschlägigen Gesetzen s. die Übersicht bei Rieß FS f. Jung, 2007, S. 751 (753). 15 Dazu aus kriminologischer Sicht Kaiser Kriminologie, 3. Aufl. 1996, § 97 Rn 1; H. J. Schneider Viktimologie, 1975, S. 32; ders. Kriminologie, 1987, S. 696 f, 776 f; Eisenberg Kriminologie, 6. Aufl. 2005, § 53 Rn 16; Velten in: SK-StPO, Rn 23 f vor § 374. 12
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3. Diesen bunten Strauß möchte ich zunächst an Hand der vier wichtigsten Funktionen der Opferstellung im Strafverfahren ordnen und sodann etwas genauer betrachten:16 (1) Die uralte Funktion als Ankläger war so gut wie vollständig auf die Staatsanwaltschaft übergegangen, seit 20 Jahren spielt aber der Verletzte neben der Staatsanwaltschaft in einem bestimmten Typus von Verfahren wieder eine erhebliche Rolle. (2) Das hat aber natürlich eine Rückwirkung auf diejenige Stellung des Verletzten, die im Laufe der Entwicklung fast die einzige geworden war, nämlich die Stellung als Zeuge, denn gerade die Verbesserung der Opferstellung hat hier zu einer Gefährdung des Beweiswertes der Zeugenaussage des Verletzten geführt. (3) Die Durchsetzung der Schadensersatzansprüche, die etwa in der germanischen Zeit mit dem Strafprozeß identisch gewesen ist, war ebenfalls vollständig aus dem Strafprozeß verschwunden, soll aber nach dem Willen des Gesetzgebers in der Zukunft wieder eine größere Rolle spielen. (4) Schließlich muß man noch eine Funktion beachten, die in der Diskussion der letzten Jahrzehnte eigenartiger Weise aber kaum eine Rolle gespielt hat, nämlich als Kontrollinstanz für die Staatsanwaltschaft. Schon nach der Reichsstrafprozeßordnung von 1877 hatte der Verletzte die Möglichkeit des Klageerzwingungsverfahrens, wenn die Staatsanwaltschaft das Verfahren einstellte, obwohl nach der Sachund Rechtslage eigentlich eine Anklage geboten war (§§ 170 ff RStPO). Um den Ausbau dieser wichtigen Funktion hat sich der Gesetzgeber bisher aber nicht gekümmert.
II. Der Verletzte als Prozeßsubjekt und die dadurch drohende Ruinierung seiner Zeugenfunktion 1. Während die Privatklage, bei der der Verletzte als alleiniger Ankläger auftritt, im wesentlichen Bagatelldelikte betrifft und deshalb in praktischer Hinsicht nach wie vor keine besondere Bedeutung besitzt, wird die Nebenklage namentlich bei Sexualdelikten durch eine hierauf spezialisierte Gruppe engagierter Rechtsanwälte, meistens weiblichen Geschlechts, häufig wahrgenommen; genauere empirische Befunde stehen freilich noch aus.17 Umgekehrt ist für das Opfer einer fahrlässigen Körperverletzung nur noch bei besonderen Gründen die Nebenklage zulässig (§ 395 Abs. 3 StPO), womit dem Übelstand begegnet wurde, daß nach einem Unfall im Straßenverkehr routinemäßig ein Anschluß als Nebenkläger erfolgte und dadurch überflüssige Rechtsanwaltskosten verursacht wurden.
16 Insgesamt kann man sechs Typen der Opferrechte unterscheiden, s. Schünemann NStZ 1986, 196; zust. Velten in: SK-StPO, Rn 36 ff vor § 374. 17 Barton FS f. Schwind, 2006, S. 219 (222).
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2. Der Nebenkläger bekommt durch seinen Anschluß ein umfassendes Teilnahmerecht am Verfahren zur Durchsetzung seines Parteistandpunktes. Er kann also, ohne wie die Staatsanwaltschaft zur Objektivität verpflichtet zu sein, bei der Zeugenvernehmung Fragen stellen, Beweisanträge stellen oder (leicht beschränkt) Rechtsmittel einlegen und besitzt als Partei ein umfassendes Recht auf Anwesenheit in der Hauptverhandlung (§ 397 Abs. 1 Satz 1 StPO), welches der Abwesenheitspflicht des Zeugen vorgeht.18 Wenn der Nebenkläger auch als Zeuge vernommen wird – wie natürlich bei allen Delikten gegen die sexuelle Freiheit, bei denen die Nebenklägerin oft zugleich die einzige Belastungszeugin ist –, kann er sich also zunächst die gesamte Hauptverhandlung einschließlich der Einlassung des Angeklagten anhören. Darüber hinaus hat er (sie) auch ein Recht auf Akteneinsicht und auf staatliche unentgeltliche Bestellung eines Rechtsanwalts als Beistand, also eines speziellen Opferanwaltes – zwar in den praktisch unwichtigen Fällen nur nach den Regeln der zivilrechtlichen Prozeßkostenhilfe für arme Parteien (§ 397a Abs. 2 StPO), aber namentlich im Falle eines angeklagten Sexualverbrechens völlig unabhängig von seinen (ihren) Vermögensverhältnissen (§ 397a Abs. 1 StPO). Diese Rechte stehen dem Verletzten auch dann zu, wenn er sich dem Verfahren nicht als Nebenkläger anschließt (§ 406g StPO). Weniger dramatisch ist die Rechtsstellung des Verletzten bei den nicht nebenklagefähigen Delikten ausgefallen: Sein nach § 406e StPO durch einen Anwalt auszuübendes Recht auf Akteneinsicht kann – bei überwiegenden schutzwürdigen Interessen des Beschuldigten oder wenn der Untersuchungszweck gefährdet wird – beschränkt werden, und sein Anspruch auf den Beistand eines (von ihm selbst zu bezahlenden) Rechtsanwalts (§ 406f StPO) überschreitet kaum den Rahmen der allgemeinen Zeugenrechte.19 3. Nach der von mir schon vor über 20 Jahren begründeten,20 im strafprozessualen Schrifttum auf erhebliche Resonanz gestoßenen 21 rechtspolitischen Bewertung hat der Gesetzgeber durch diese Verbesserung der Opferstellung aber dessen Zeugenfunktion schwerwiegend beeinträchtigt, die Ermittlung der materiellen Wahrheit gefährdet und den Prozeß insgesamt in eine Schieflage zu Lasten des Angeklagten gebracht: Diejenigen Rechte, die durch die Opferschutzgesetze in §§ 406e–g StPO dem Verletzten in funda-
18
Meyer-Goßner StPO, 49. Aufl. 2006, § 397 Rn 2. Hierüber ist der Verletzte umfassend zu belehren (§ 406h), so wie er auch über den Ausgang des Verfahrens zu informieren ist (§ 406d) – was die Verfahrensstruktur nicht antastet und deshalb völlig unbedenklich ist. 20 Schünemann NStZ 1986, 193 ff; ders. StV 1998, 391 ff; ders. in: Schünemann/Dubber (Hrsg.) Die Stellung des Opfers im Stafrechtssystem, 2000, S. 1 (6 ff). 21 Vgl. nur Roxin Strafverfahrensrecht, 25. Aufl. 1998, S. 506; KMR-Stöckel § 397 Rn 9; im Grundsatz auch Velten in: SK-StPO, Rn 43 ff vor § 374; Kühne Strafprozessrecht, 7. Aufl. 2007, Rn 257.1. 19
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mentaler Verkennung der Psychologie der Zeugenaussage, der richterlichen Informationsverarbeitung in der Hauptverhandlung und der forensischen Tatsachenermittlung verliehen worden sind, haben nämlich eine Korrumpierung der Hauptverhandlung bewirkt, deren kleineres Übel in der Vervielfältigung der Verfolgerrollen, deren größeres Übel in der Verwandlung einer Zeugenaussage als Wissensbekundung in eine juristisch ausgeklügelte Parteierklärung zu sehen ist. a) Es versteht sich von selbst, daß der mit rechtlichem Beistand ausgerüstete, über den Akteninhalt oder zumindest über den bisherigen Verlauf der Hauptverhandlung informierte Verletzte im Regelfall alles daran setzen wird, den Angeklagten der aus seiner Sicht verdienten Strafe zuzuführen, und also mehr oder weniger in eine Rolle als Zusatzankläger hineinschlüpfen wird. Dies geschieht in einer Hauptverhandlung, in der der Richter infolge der gerichtlichen Aufklärungspflicht (§ 244 Abs. 2 StPO) in Verbindung mit der von ihm im Eröffnungsbeschluß attestierten Wahrscheinlichkeit der Verurteilung (§ 203 StPO) zwangsläufig eine gegen den Angeklagten gerichtete inquisitorische Rolle einnimmt: Unabhängig von der Frage, ob der Richter, der den Fall aufgrund der von Staatsanwaltschaft und Polizei gestalteten Ermittlungsakten bereits mit dem Ergebnis einer wahrscheinlichen Schuld des Angeklagten beurteilt hat, danach in psychologischer Hinsicht überhaupt noch zu einer unbefangenen Würdigung des Beweisergebnisses der Hauptverhandlung in der Lage ist,22 muß er doch zumindest in rein äußerlicher Hinsicht gegenüber dem leugnenden Angeklagten um die Überführung besorgt sein, übt hierbei also nicht anders als der Staatsanwalt eine inquisitorische Rolle aus. Wenn auch noch der Verletzte diese Rolle mitübernimmt, sieht sich der Angeklagte geradezu einer Phalanx von Strafverfolgern gegenüber, deren quantitative und verbale Übermacht allein schon zu seiner Einschüchterung und damit zu einer Einschränkung seiner Verteidigungsmöglichkeiten führt. Daß übrigens auch der Gesetzgeber von einer „Verlängerung“ der Inquisitorenbank durch den Opferbeistand ausgegangen ist, zeigt die Regelung des § 140 Abs. 2 Satz 1 StPO, die die notwendige Verteidigung wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage „namentlich“ dann vorsieht, „weil dem Verletzten ein Rechtsanwalt beigeordnet worden ist“. Durch die kausale (anstatt einer konditionalen) Verknüpfung wird deutlich, daß das Gesetz erst und
22 Was nach den von mir durchgeführten psychologischen Experimenten wegen der sog. Urteilsperseveranz eindeutig zu verneinen ist, s. Schünemann/Bandilla Perseverance in Courtroom decisions, in: Wegener/Lösel/Haisch (Hrsg.) Criminal Behavior and the Justice System, Psychological Perspectives, New York u.a. 1989, S. 181 ff; Schünemann Der Richter im Strafverfahren als manipulierter Dritter? – Zur empirischen Bestätigung von Perseveranz- und Schulterschlußeffekt, in: Bierbrauer/Gottwald/Birnbreier-Stahlberger (Hrsg.) Verfahrensgerechtigkeit – Rechtspsychologische Forschungsbeiträger für die Justizpraxis, 1995, S. 215 ff; ders. StV 2000, 159 ff.
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gerade dann, wenn der Beschuldigte sich einem Verletzten gegenübersieht, der sich des fachkundigen Rates eines Rechtsanwalts bedient, von einer erheblichen Beeinträchtigung von dessen Fähigkeit zur Selbstverteidigung ausgeht.23 b) Noch weitaus gravierender als die weitere Verschiebung der Kräftebalance in einer ohnehin vom Gericht vollständig dominierten Hauptverhandlung ist aber die Transformation der Zeugenaussage selbst, die bei einer Vorbereitung und Begleitung durch einen mit weittragenden Rechten und vor allem mit umfassender Aktenkenntnis ausgestatteten Rechtsanwalt ihren Charakter als schlichte Wiedergabe von Erinnerung verliert und den Status einer Parteierklärung annimmt, kurz: von Wissensbekundung in Interessenwahrnehmung transformiert wird. Die Vernehmung des Opferzeugen degeneriert dadurch zu einer Mischung aus Beweisaufnahme und Parteiprozeß, weil die Kenntnis der Akten und die Anwesenheit in der Hauptverhandlung (und zwar schon bei der Einlassung des Angeklagten!) eine gezielte Vorbereitung der Aussage des Verletzten durch den Opferanwalt ermöglicht und dadurch die Spontaneität der Zeugenaussage als entscheidendes Kriterium ihrer Glaubwürdigkeit beseitigt. Indem der Effekt der psychologisch feinsinnigen Vorschrift des § 58 Abs. 1 StPO zerstört wird, wonach jeder Zeuge ohne Kenntnis des bisherigen Verlaufes der Hauptverhandlung und ohne Aktenkenntnis allein aus seiner Erinnerung aussagen soll, wird ausgerechnet an der entscheidenden Stelle jede seriöse Überprüfung der Glaubwürdigkeit verhindert: Denn in den Prozessen wegen Sexualstraftaten steht typischerweise die Aussage des Angeklagten gegen die Aussage der angeblich Verletzten als einziger Belastungszeugin, so daß die Transformation ihrer Zeugenaussage in einen Parteivortrag, die die Opferschutzgesetze praktisch bewirkt haben, auf eine Perversion der Wahrheitsfindung hinausläuft. Die gutgemeinten Versuche des Bundesgerichtshofes, an die Beweiswürdigung besonders strenge Anforderungen zu stellen, wenn Aussage gegen Aussage steht und die Entscheidung allein davon abhängt, welchen Angaben das Gericht folgt,24 vermögen diese vom Gesetzgeber zu verantwortende strukturelle Degenerierung des Zeugenbeweises natürlich in keiner Weise zu heilen, denn gerade die „besonders strengen Anforderungen“ können ja von einem anwaltlich beratenen und mit Aktenkenntnis ausgestatteten Zeugen besonders leicht erfüllt werden. Diese die Wahrheitsfindung in der Hauptverhandlung kompromittierende „unheilige Allianz“ von empirisch bestätigtem Perseveranzeffekt beim Richter und gesetzlicher Verschmelzung von Partei- und Zeugenrolle beim „Opferzeugen“ wird von Schöchs Auffassung, es seien weder in der Rechtsprechung noch in der empirischen Forschung (sic!) Anhaltspunkte für eine 23 24
So Meyer-Goßner (Fn. 18) § 140 Rn 31. Nachw. b. Meyer-Goßner (Fn. 18) § 261 Rn 11a.
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Beeinträchtigung rechtsstaatlicher Verteidigungsmöglichkeiten zu finden,25 durchweg übersehen. Erst recht seitdem die contra legem etablierten Urteilsabsprachen 26 dem in der Marschroute der Ermittlungsakten befangenen Gericht als weiteres Machtmittel die „Sanktionsschere“ in die Hand gedrückt haben, deren klaffende Handhabung bei Anklagen wegen Sexualdelikten zwecks Vermeidung sekundärer Viktimisierung eine besondere moralische Legitimation zu besitzen scheint, hat die Störung der Verfahrensbalance durch Überreizung der Verletztenrechte in diesem Bereich einen die rechtsstaatliche Substanz des Strafverfahrens erodierenden faktischen Unterwerfungszwang begründet.27 4. Fazit: Der Ausbau der Rechtsstellung des Verletzten als Prozeßsubjekt hat zu einer Ruinierung seiner Zeugenfunktion und damit seiner Rolle für die prozessuale Wahrheitsfindung geführt. Weil die Auffindung der materiellen Wahrheit nach der Struktur des deutschen Strafverfahrens aber nach wie vor den zentralen Wert darstellt, der nicht zu Lasten des Angeklagten unterminiert werden darf,28 haben die drei Opferschutzgesetze die gebotene Balance des Verfahrens insgesamt erheblich geschädigt.
III. Adhäsionsverfahren, Zurückgewinnungshilfe und Täter-Opfer-Ausgleich 1. Das ursprünglich aus dem österreichischen Strafprozeß übernommene Adhäsionsverfahren 29 hat über Jahrzehnte hinweg keinerlei Bedeutung erlangt, weil es weder bei den Rechtsanwälten noch bei der Richterschaft
25
FS f. Rieß, 2002, S. 507 (508); vorsichtiger Dölling FS f. Jung, 2007, S. 77 (84). Hier weiß ich mich mit dem Jubilar im Grundsatz vollkommen einig, s. bereits Dencker/Hamm Der Vergleich im Strafprozeß, 1988; Hamm FS f. Meyer-Goßner, 2001, S. 33 ff; ders. FS f. Dahs, 2005, S. 267 ff; ders. Welp-Kolloquium, 2006, S. 57 ff; Schünemann Absprachen im Strafverfahren, 1990; ders. Wetterzeichen vom Untergang der deutschen Rechtskultur – Die Urteilsabsprachen als Abgesang auf die Gesetzesbindung der Justiz und den Beruf unserer Zeit zur Gesetzgebung, 2005; ders./Hauer AnwBl. 2006, 439 ff. 27 Wie weit hier die Revisionsrechtsprechung von der durch die Absprachen beherrschten Praxis entfernt ist, zeigt etwa die neueste Kommentierung des § 46 StGB bei LKTheune 12. Aufl. 2007, Rn 210, wo der in Sexualstrafverfahren inzwischen verbreitete „Quantensprung“ zwischen einer geständigen und einer bestreitenden Einlassung nicht einmal erwähnt wird. 28 Zur materiellen Wahrheit als Verfahrensziel vgl. allgemein Roxin (Fn. 21) § 17 Rn 5, § 10 Rn 9; LR-Rieß 25. Aufl. 2004, § 160 Rn 47; Peters Strafprozeß, 4. Aufl. 1985, § 23 II 2a; Wolter in: SK-StPO, Rn 51f vor § 151; Weßlau Das Konsensprinzip im Strafverfahren – Leitidee für eine Gesamtreform? 2002, S. 29 f; zur Unerträglichkeit einer Schwächung der Verfahrensposition des Angeklagten gerade im Hinblick auf konsensuale Lösungen Schünemann ZStW 119 (2007) Heft 4. 29 S. H.-J. Schroth GA 1987, 49. 26
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beliebt war: 30 Weil kein Anwaltszwang bestand und die Gebühren niedriger als im Zivilprozeß waren, war das ganze für die Rechtsanwälte nicht attraktiv, und für die Richter bedeutete es eine erhebliche Mehrarbeit in dem für sie ungewohnten Feld des zivilrechtlichen Schadensersatzrechts. Außerdem konnte wegen der Frage, ob und in welcher Höhe ein Schaden entstanden war, der Strafprozeß erheblich verlängert werden. Deshalb wurden nur ganz selten Adhäsionsanträge gestellt, und die Richter pflegten, wozu sie damals berechtigt waren, diese dann zumeist nach ihrem freien Ermessen wegen mangelnder Eignung abzulehnen. Im Opferschutzgesetz von 1986 hat man den Bedenken wegen einer Verfahrensverzögerung durch die Möglichkeit eines Urteils über den Schadensersatzanspruch lediglich dem Grunde nach Rechnung zu tragen versucht, ohne daß sich in der Praxis aber etwas änderte. Deshalb hat der Gesetzgeber im Gesetz zur Verbesserung der Opferrechte von 2004 die Rechtsstellung des Verletzten im Adhäsionsverfahren erheblich verstärkt, indem die Möglichkeiten des Gerichts, einen Adhäsionsantrag abzulehnen, eingeschränkt worden sind. Es heißt in § 406 Abs. 1 Satz 4 StPO zwar immer noch, daß das Gericht von einer Entscheidung absehen könne, wenn sich der Antrag zur Erledigung im Strafverfahren nicht eigne, und in Satz 5 heißt es, der Antrag sei insbesondere dann nicht geeignet, wenn seine weitere Prüfung, auch soweit eine Entscheidung nur über den Grund oder einen Teil des Anspruchs in Betracht kommt, das Verfahren erheblich verzögern würde. Aber der Richter hat jetzt kein freies Ermessen mehr, und bei Geltendmachung eines Schmerzensgeldes wird die Eignung sogar immer fingiert. Außerdem kann eine Zurückweisung des Antrages mangels Eignung gemäß § 406a StPO mit der sofortigen Beschwerde angefochten werden. Damit ist in der Tat die Rechtsstellung des Verletzten wesentlich gestärkt worden, und weil das Adhäsionsverfahren im Gegensatz zum Zivilprozeß für den Verletzten den Vorzug besitzt, daß alle Beweise ja von Amts wegen beschafft werden, ist eigentlich die Attraktivität dieses Verfahrens für ihn sehr groß. Ob sich deshalb in der Praxis das Adhäsionsverfahren einbürgern wird, bleibt abzuwarten. Ein Problem könnte immer noch sein, daß der Rechtsanwalt, der den Antrag für den Verletzten stellt, eine etwas geringere Gebühr bekommt, als wenn er den Schadensersatzanspruch im Zivilprozeß einklagen würde.31 2. Unbeschadet dessen könnte das Adhäsionsverfahren in der Zukunft aber jedenfalls in Wirtschaftsstrafsachen eine erhebliche Bedeutung erlangen, weil hier mit der Zurückgewinnungshilfe gem. § 111b Abs. 5 StPO ein weiteres Rechtsinstitut existiert, mit dessen Hilfe die durch die Straftaten erlangten 30
Kühne Strafprozeßrecht (Fn. 21) Rn 1136. Denn gem. Nr. 4143 VV zum RVG gibt es nur eine 2,0 Verfahrensgebühr, aber keine Terminsgebühr, durch die es im Zivilprozeß auf 2,4 Gebühren kommt. In der Beurteilung zurückhaltend auch Hilger GA 2004, 478 (485); Rieß FS f. Dahs, 2005, S. 425 ff; kritisch Dallmeyer Jus 2005, 327 (330); Krey/Wilhelmi FS f. Otto, 2007, S. 933 ff. 31
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Vermögenswerte schon frühzeitig für die Rückerstattung an den Verletzten sichergestellt werden können. Daß die Staatsanwaltschaft die Vermögensvorteile, die der Beschuldigte aufgrund der Tat erlangt hat und auf deren Rückerlangung ein Anspruch des Verletzten besteht, schon im Ermittlungsverfahren durch Beschlagnahme sicherstellen und dadurch dem Verletzten die Möglichkeit des Zugriffs auf den Tatgewinn offenhalten kann, ist ein scharfes, in der gegenwärtigen Ausgestaltung sogar überscharfes Schwert: Einerseits wird die Beute bei Wirtschaftsstraftaten erfahrungsgemäß häufig ins Ausland verlagert, teilweise vielleicht auch für eine kostspielige Strafverteidigung verwendet, so daß der Verletzte ohne frühzeitigen Zugriff zumeist leer ausgehen wird. Andererseits läßt § 111b Abs. 5 StPO jede rechtsstaatliche Kontur vermissen,32 so daß hier ähnlich wie bei der Untersuchungshaft ein Mißbrauch prozessualer Zwangsmittel zur Erdrosselung der Verteidigung und zur Erzwingung einer (euphemistisch als „Absprache“ oder „Verständigung“ bezeichneten) frühzeitigen Unterwerfung im Ermittlungsverfahren droht.33 3. Während die bisher betrachteten Reformen die Verfahrensposition des Opfers ausschließlich zu Lasten des Beschuldigten stärken, existiert seit dem Verbrechensbekämpfungsgesetz von 1994 34 mit dem Täter-Opfer-Ausgleich ein bei oberflächlicher Betrachtung sowohl dem Interesse des Opfers als auch des Beschuldigten dienliches Rechtsinstitut in Gestalt eines in § 46a StGB vertypten Strafmilderungsgrundes für den Fall eines zumindest ernsthaften Bemühens des Beschuldigten um die Wiedergutmachung des Schadens. Im engeren Sinn meint der Täter-Opfer-Ausgleich die Lösung des der Tat zugrunde liegenden Gesamtkonflikts in einem kommunikativen Prozeß, der auch das Opfer einbezieht und als Minimalvoraussetzung die redliche Absicht des Täters erfordert, mit dem Opfer zu einem friedensstiftenden Ausgleich zu kommen. Im weiteren Sinne genügt es auch, wenn der Täter unter 32 Odenthal FS f. Dahs, 2005, S. 405 ff; Strate StV 2006, 368 ff. Allg. krit. zur Tauglichkeit des Adhäsionsverfahrens in Wirtschaftsstrafprozessen Feigen FS f. Otto, 2007, S. 679 ff; Eingrenzungsversuche bei BVerfG StV 2004, 409. Umfassende Analyse bei Rönnau Vermögensabschöpfung in der Praxis, 2003, Rn 3 f und 377 ff; konzentrierte Darstellung bei Retemeyer in: Achenbach/Ransiek (Hrsg.) Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 2004, XIV 55 ff. Der Gesetzgeber hat dagegen auf weitere Verschärfung gesetzt, s. Ausbau der Zurückgewinnungshilfen durch das Gesetz zur Stärkung der Rückgewinnungshilfe und der Vermögensabschöpfung bei Straftaten vom 24.10.2006, BGBl. 2006 I, S. 2350 ff. 33 In dem von mir herausgegebenen „Gesamtkonzept für die europäische Strafrechtspflege“ (2006) S. 10 ff, 20 ff, wird deshalb an diesen beiden neuralgischen Punkten intensive Vorsorge für die Wiederherstellung der Verfahrensbalance getroffen, nämlich durch den Grundsatz der „Meistbegünstigung“ des Beschuldigten bei den Anordnungsvoraussetzungen und Rechtsbehelfen und durch die Forderung europäischer Haftgründe, darunter einer engen Definition der Fluchtgefahr und einer strikten Subsidiarität hinter elektronischen Überwachungsmitteln ohne Freiheitsentzug, s. i.e. Art. 4 IV, 6 und 9 f des Entwurfs einer Regelung transnationaler Strafverfahren. 34 Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches, der Strafprozeßordnung und anderer Gesetze, Verbrechensbekämpfungsgesetz, v. 28.10.1994, BGBl. 1994 I S. 3186.
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Erbringung erheblicher persönlicher Leistungen das Opfer ganz oder zum überwiegenden Teil entschädigt, also etwa umfangreiche Arbeiten in seiner Freizeit erbringt oder erhebliche Einschränkungen im persönlichen oder finanziellen Bereich auf sich nimmt, um das Opfer mindestens zum überwiegenden Teil entschädigen zu können.35 Nachdem die ganze Regelung in der Praxis zunächst wenig geändert hatte,36 hat der Gesetzgeber 1999 mit dem Gesetz zur strafverfahrensrechtlichen Verankerung des Täter-OpferAusgleichs 37 den lahmen Vogel mit Hilfe dreier Vorschriften flügge zu machen versucht: Nach § 155a StPO sollen Staatsanwaltschaft und Gericht die Möglichkeit eines Täter-Opfer-Ausgleichs in jedem Stadium des Verfahrens prüfen und in geeigneten Fällen darauf hinwirken, zu welchem Zweck als Kernstück gemäß § 155b StPO eine Ausgleichsstelle eingeschaltet werden kann, die besondere Erfahrungen in der außergerichtlichen Schlichtung von Konflikten hat, und der Täter-Opfer-Ausgleich ausdrücklich als Auflage bei einer Einstellung des Verfahrens nach § 153a Abs. 1 Nr. 5 StPO vorgesehen wurde. Es erscheint aber fraglich, ob es damit gelingen wird, den Täter-Opfer-Ausgleich als eine wichtige Möglichkeit der Diversion zu etablieren und aus dem harten Verdikt herauszuführen, das der Jubilar im Jahre 1995 gefällt hat: „Der Gesetzgeber hat […] aus dem […] ‚AE Wiedergutmachung‘ nur den Teil herausgenommen, der sich am besten für seine Zwecke mißbrauchen ließ […]: Justizentlastung, Motivierung der Angeklagten zu konsensualen Wohlverhaltensstrategien, Abschreckung des die Tat bestreitenden Beschuldigten, Demotivierung des eigentlich zum Kampf um den Freispruch Bereiten.“ 38 Für das im Vordergrund des Opferschutzes stehende Delikt der sexuellen Nötigung (§ 177 StGB) scheidet jedenfalls eine Einstellung des Verfahrens gem. § 153a StPO von vornherein aus, weil es sich hierbei um ein Verbrechen handelt, § 153a StPO aber nach wie vor auf Vergehen beschränkt ist. Hier ist der durch das Institut des TOA auf den Täter in Richtung auf die Ablegung eines Geständnisses ausgeübte, vom Jubilar mit Recht kritisierte Druck sogar von der Rechtsprechung nochmals verstärkt worden, weil der Bundesgerichtshof ausgesprochen hat, daß eine Strafmilderung gem. § 46a StGB bei Gewalt- und Sexualdelikten regelmäßig nur nach Ablegung eines Geständnisses in Betracht komme.39 35 Auf die zahllosen dogmatischen und rechtspolitischen Probleme des TOA, die schon bis heute eine kaum noch überschaubare Literatur hervorgebracht haben, kann in der vorliegenden kleinen Studie natürlich auch nicht ansatzweise eingegangen werden; vgl. nur die Nachw. bei Tröndle/Fischer StGB, 53. Aufl. 2006, § 46a Rn 1a. 36 Lackner/Kühl StGB, 26. Aufl. 2007, § 46a Rn 1 mwN. 37 Gesetz zur strafverfahrensrechtlichen Verankerung des Täter-Opfer-Ausgleichs und zur Änderung des Gesetzes über Fernmeldeanlagen, v. 20.12.1999, BGBl. 1999 I S. 2491. 38 StV 1995, 491 (494). 39 BGHSt 48, 134 m. krit. Rezensionen von Kaspar JR 2003, 426 ff; Götting StraFo 2003, 251ff; Schulte NKrimPol 2004, 36ff; zust. Tröndle/Fischer § 46a Rn 10a und b; Franke NStZ
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Was der BGH in der eingehend begründeten Entscheidung als „ideelle Komponente der Wiedergutmachung“ zum Opferschutz verlangt, ist einerseits auf dieser Ebene vollauf plausibel und verkennt doch andererseits vollständig die prozedurale Dimension des TOA: Indem vom Angeklagten in einer an sich offenen Beweissituation, in der Aussage gegen Aussage steht,40 quasi eine bedingungslose Kapitulation als Vorleistung verlangt wird, wirkt der TOA als weiterer Unterwerfungszwang neben der im konkreten Fall ebenfalls eingesetzten Untersuchungshaft,41 was sich in Verbindung mit der prozessualen Übermacht der zugleich über die Parteirechte verfügenden Belastungszeugin zu einer insgesamt unfairen Zerstörung der Verfahrensbalance auswächst. 4. Insgesamt wird man die Intensivierung des Adhäsionsverfahrens, die Möglichkeit einer frühzeitigen Zurückgewinnungshilfe und die Einrichtung des Täter-Opfer-Ausgleichs deshalb als eine im Ansatz vielversprechende Entwicklung im Bereich der Verstärkung der Opferrechte anzusehen haben, deren rechtsstaatliche Ausbalancierung aber bis heute vollständig mißlungen ist: Die frühe Kritik des Jubilars 42 ist durch die seither eingetretene Entwicklung in Gesetzgebung und Rechtsprechung nicht etwa entkräftet, sondern bestätigt worden.
IV. Das Klageerzwingungsverfahren 1. Als letztes möchte ich einen Blick auf das Klageerzwingungsverfahren werfen. Schon in der Reichsstrafprozeßordnung von 1877 hat es die Möglichkeit gegeben, daß der Verletzte einen Einstellungsbescheid der Staatsanwaltschaft zunächst beim Generalstaatsanwalt und sodann beim Oberlandesgericht mit der Begründung angreift, daß an Stelle der Einstellung die Anklageerhebung geboten gewesen wäre. Der Gesetzgeber hat hier das Vergeltungsinteresse des Verletzten in den Dienst einer Kontrolle der Staatsanwaltschaft gestellt und dadurch eine Antwort auf die Frage gegeben: „Wer kontrolliert die Kontrolleure?“ Daß eine solche Kontrolle wichtig ist, kann man nicht bezweifeln, denn sowohl bei politisch einflußreichen Beschuldigten als auch in den Fällen, in denen die Strafverfolgung für die Staatsanwaltschaft mühsam und arbeitsreich ist, besteht für den Staatsanwalt eine große Versuchung, sich weitere Mühe durch eine Einstellung des Verfahrens zu 2003, 410 ff; Dölling/Hartmann NStZ 2004, 382 ff; unentschieden Lackner/Kühl (Fn. 36) § 46a Rn 3 a.E. 40 Im Fall des BGH hatte sich die Verletzte mit dem Angeklagten aus einer Diskothek nach dem Austausch von Zärtlichkeiten über den Parkplatz in die Waschbox einer um diese Zeit offenbar geschlossenen Autowaschanlage zurückgezogen – keine schlechte Ausgangsposition für das vom Angeklagten eingeräumte „Mißverständnis“. 41 Vgl. BGHSt 48, 136. 42 AaO. (Fn. 38).
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ersparen oder sich vielleicht zukünftig für eine Beförderung zu empfehlen, wenn der Beschuldigte über gute Beziehungen zum Justizministerium verfügt. Gerade weil der Justizminister über die Beförderungen im Bereich der Staatsanwaltschaft entscheidet, behält er unabhängig von der Frage eines formellen Weisungsrechts 43 einen starken informellen Einfluß auf die Staatsanwaltschaft, und hierdurch entsteht wiederum die Gefahr, daß Einstellungsentscheidungen politisch beeinflußt werden. Indem der Verletzte dann aber das Klageerzwingungsverfahren bis zum Oberlandesgericht treiben kann, kann er wenigstens durchsetzen, daß ein unabhängiges Gericht über die Berechtigung der Vorwürfe entscheidet. 2. Dieses wichtige Institut ist in den letzten Jahrzehnten allerdings dadurch entscheidend geschwächt worden, daß man nicht bei Verbrechen, wohl aber bei Vergehen und damit im gesamten Vermögensbereich praktisch das Opportunitätsprinzip eingeführt hat, wobei die Staatsanwaltschaften selbst in gravierenden Wirtschaftsstrafsachen, in denen der vorgeworfene Schaden in die Millionen oder gar Milliarden geht, von der Möglichkeit einer Einstellung gegen Geldzahlung gemäß § 153a StPO nicht selten Gebrauch machen.44 Gegenüber einer Einstellung aus Opportunitätsgründen, also insbesondere auch in dem erwähnten Bereich des § 153a StPO, hat nun aber die Rechtsprechung ein Klageerzwingungsrecht des Verletzten verneint, und das Bundesverfassungsgericht hat dies ausdrücklich für verfassungsrechtlich korrekt erklärt.45 Ich sehe darin eine schwere rechtsstaatliche Einbuße. Zwar kann der Verletzte natürlich nicht verlangen, daß das Ermessen der Staatsanwaltschaft durch sein eigenes Ermessen ersetzt wird. Es müßte aber zumindest gerichtlich überprüfbar sein, ob die Staatsanwaltschaft bei einer Einstellung aus Opportunitätsgründen die gesetzlich gezogenen Ermessensgrenzen eingehalten hat.
V. Ergebnis Die Rechtsstellung des Opfers im Strafverfahren hat in den letzten 20 Jahren eine ungeheure Dynamik entfaltet. Hierbei ist der Ausbau der Subjektstellung des Verletzten klar übers Ziel hinausgeschossen, weil dadurch dessen 43 Dazu aus der reichhaltigen Literatur Neumann in: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt (Hrsg.) Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, 1995, S. 197 ff; Bölter FS BRAK, 2006, S. 293 ff. 44 Zu statistischen Untersuchungen, wonach der Schaden bei Einstellungen gem. § 153a StPO bei schweren Wirtschaftsstrafsachen durchaus nicht gering bleiben muß, s. Meinberg Geringfügigkeitseinstellungen von Wirtschaftsstrafsachen, 1985, S. 242 f; Eisenberg Kriminologie, 6. Aufl. 2005, § 27 Rn 73. Daß sich im Rahmen des Opportunitätsprinzips politische Opportunität unbegrenzt entfalten kann, wird durch den Mannesmann-Fall exemplarisch belegt. Für die Existenz von Einstellungen bei Schäden in Milliardenhöhe (bei freilich hochumstrittener Rechtslage) kann ich mich persönlich verbürgen. 45 BVerfG NJW 2002, 815.
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Zeugenrolle erheblich beeinträchtigt worden und der Prozeß insgesamt aus der Balance geraten ist, namentlich wenn das Opfer den wichtigsten oder womöglich sogar alleinigen Belastungszeugen darstellt. Im Ansatz positiver zu beurteilen sind die Verbesserungen der Opferstellung auf dem Gebiet der Schadenswiedergutmachung durch Ausbau des Adhäsionsverfahrens, durch die Zurückgewinnungshilfe und auch durch den Täter-Opfer-Ausgleich, wobei allerdings die gegenwärtige Regelung rechtsstaatlich unausgewogen und deshalb dringend reformbedürftig ist. Umgekehrt ist im Bereich des Klageerzwingungsverfahrens in der Rechtsstellung des Verletzten eine erhebliche Lücke entstanden, weil die Ausbreitung des Opportunitätsprinzips die ursprünglich vorgesehene Kontrolle über die Staatsanwaltschaft extrem abgeschwächt hat. Rainer Hamm, der verehrte Jubilar, ist in den letzten Jahrzehnten nicht müde geworden, gegen die alarmierenden Erosionserscheinungen des rechtsstaatlichen Strafverfahrens in Deutschland zu kämpfen. Wo könnte deshalb meine kleine kritische Studie zu der durch und durch auf Kosten des Beschuldigten gehenden Überreizung der Parteistellung des Verletzten im Strafverfahren bei gleichzeitiger Schwächung der Kontrollaufgabe besser aufgehoben sein als in einer ihm gewidmeten Festschrift?
Zur Zulässigkeit staatsanwaltschaftlicher Vorermittlungen 1 Lothar Senge I. Problemstellung Bei Staatsanwaltschaften werden bestimmte Verfahren unter einem ARund nicht unter einem Js-Aktenzeichen geführt.2 Das ist zum einen der Fall, wenn Ermittlungen 3 angestellt werden, um zu klären, ob ein Anfangsverdacht im Sinne von § 152 Abs. 2 StPO vorliegt, der zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens berechtigt und verpflichtet.4 AR-Verfahren werden zum anderen auch bei Strafanzeigen gegen Immunität genießende Mandatsträger bis zur Aufhebung der Immunität geführt, selbst wenn nach dem Anzeigevorbringen zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegenden einer Straftat bejaht werden könnten. Eine Aussage dazu, in wie viel Verfahren der Landesstaatsanwaltschaften Vorermittlungen geführt werden oder wie oft der Weg der „Sonderbehandlung“ beschritten wird, ist nicht
1 Sind staatsanwaltschaftliche (Vor)Ermittlungen unterhalb der Schwelle des Anfangsverdachts im Sinne von § 152 Abs. 2 StPO zulässig? Dürfen sie unter einem AR-Aktenzeichen geführt werden? Ist es zulässig, trotz Vorliegens eines Anfangsverdachtes eine Strafanzeige gegen Immunität genießende Mandatsträger bis zur Aufhebung der Immunität unter einem AR-Aktenzeichen zu bearbeiten? Dieser Beitrag ist die aktualisierte Fassung eines Referats, welches vom Verf. am 10.10.2003 auf der 185. Tagung des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer in München gehalten wurde. Das Ko-Referat wurde auf derselben Tagung von Rechtsanwalt Dr. Daniel Krause LL.M. (Berlin) gehalten, welches in ebenfalls überarbeiteter Fassung in der FS zu Ehren des Strafrechtsausschusses der Bundesrechtsanwaltskammer (2006) veröffentlicht ist. 2 Die AR-Kennung steht nach der Aktenordnung für „Allgemeines Register“, in welches „sonstige Sachen“ eingetragen werden; in das Js-Register werden Ermittlungssachen eingetragen. 3 Ungeachtet der Begriffsvielfalt für diese staatsanwaltschaftliche Tätigkeit – Vorprüfung, Vorermittlung, Vorklärung, Sondierung, Recherche, Erhebung, Nachforschung – geht es stets um eine amtliche Informationsbeschaffung, die der Klärung des Anfangsverdachtes im Sinne von § 152 Abs. 2 StPO dient; im Folgenden wird von „Vorermittlungen“ gesprochen. 4 Bei der Bundesanwaltschaft werden diese Verfahren als ARP-Vorgang geführt. Das „ARP-Register“ ist das allgemeine Register für Staatsschutzstrafsachen; die Ermittlungsverfahren der BA tragen das Registerzeichen „BJs“ und werden in ein entsprechendes Register eingetragen.
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möglich, weil diese Verfahren in den AR-Registern, in die auch zahlreiche andere allgemeine Rechtssachen5 eingetragen werden, nicht gesondert ausgewiesen sind. Nur die ARP-Vorgänge der Bundesanwaltschaft lassen sich zahlenmäßig erfassen. Beispielsweise wurden in den erstinstanzlich tätigen beiden Abteilungen der Behörde im ersten Halbjahr 2003 674 ARP-Vorgänge anhängig.6 Im Folgenden soll untersucht werden, ob, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang staatsanwaltschaftliche Vorermittlungen rechtlich zulässig sind, ob Vorermittlungen unter einem AR-Aktenzeichen geführt werden dürfen (Abschnitt II) und ob die aufgezeigte registermäßige Sonderbehandlung von Strafanzeigen gegen Immunität genießende Abgeordnete zu rechtfertigen ist (Abschnitt III). Die Frage nach gesetzgeberischem Handlungsbedarf stellt sich (Abschnitt IV); ihr schließen sich Thesen an (Abschnitt V). Vorermittlungen wird vielfältig mit Misstrauen begegnet. Es speist sich aus dem Verdacht, dass Staatsanwälte diesen Weg gehen, um so lange wie möglich die Rechte, die ein Ermittlungsverfahren Beschuldigten, Verteidigern und Zeugen gewährt, hinaus zu zögern. Ob dieser Verdacht begründet oder unbegründet ist, soll anhand einer kleinen rechtstatsächlichen Auswertung von ARPVerfahren der Bundesanwaltschaft überprüft werden (Abschnitt VI. – Anhang: Auswertung von ARP-Verfahren der Bundesanwaltschaft).
II. Staatsanwaltschaftliche Vorermittlungen 1. Voraussetzungen a) Gemäß § 152 Abs. 2 StPO ist Voraussetzung für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens durch die Staatsanwaltschaft – wie auch für den ersten Zugriff der Polizei nach § 163 Abs. 1 StPO –, dass „zureichende tatsächliche Anhaltspunkte“ vorliegen, die den Verdacht einer begangenen und verfolgbaren Straftat begründen („Anfangsverdacht“). Diese tatsächlichen Anhaltspunkte bestehen in konkreten Hinweisen, die den Einsatz der Mittel der Strafprozessordnung und ein Eingreifen in die Rechtssphäre des Bürgers rechtfertigen, um festzustellen, ob eine Straftat tatsächlich vorliegt und von wem sie begangen wurde.7 Nach kriminalistischen Erfahrungen muss der Anfangsverdacht es als möglich erscheinen lassen, dass es sich um eine verfolgbare 5
Anfragen aller Art, Rechtshilfesachen usw. Die große Anzahl dieser Verfahren ist unter anderem mit einer wahren Flut an Anzeigen gegen den Bundeskanzler und Regierungsmitglieder wegen Vorbereitung bzw. Unterstützung eines Angriffskrieges im Zusammenhang mit den Ereignissen im Irak zu erklären. 7 Hoppe Vorfeldermittlungen im Spannungsverhältnis von Rechtsstaat und Bekämpfung der organisierten Kriminalität, 1999, S. 76. 6
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Straftat handelt,8 bestimmte Tatsachen müssen also den Wahrscheinlichkeitsschluss erlauben, dass eine strafbare Handlung begangen worden ist.9 Diese Wahrscheinlichkeitsprognose kann noch gering sein und Zweifel an der Richtigkeit des Verdachts dürfen durchaus noch überwiegen; sie muss aber über eine allgemeine theoretische Möglichkeit des Vorliegens einer Straftat hinausgehen.10 Bedenklich erscheint die Auffassung,11 nach der selbst dürftige und noch ungeprüfte Angaben, Gerüchte und einseitige Behauptungen für die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ausreichen sollen, weil die Prüfung des Grades ihrer Wahrscheinlichkeit gerade das Ziel sei und deshalb nicht Ausgangspunkt von Ermittlungen sein könne.12 Jedenfalls ist das Vorliegen zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte zu verneinen, wenn die behaupteten verdachtsbegründenden Umstände offensichtlich haltlos sind. b) Ist im Sinne von § 152 Abs. 2 StPO ein Anfangsverdacht für das Vorliegen einer verfolgbaren Straftat gegeben, löst das nach dem Legalitätsprinzip, sofern nicht an dessen Stelle das Opportunitätsprinzip tritt, die Pflicht der Staatsanwaltschaft zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens aus. Nach der im Schrifttum wohl überwiegenden Auffassung begründet der Anfangsverdacht aber nicht nur die Pflicht der Staatsanwaltschaft zum Einschreiten, sondern begrenzt zugleich ihre entsprechende Befugnis; danach dürfen die Strafverfolgungsbehörden ohne das Vorliegen eines Anfangsverdachtes grundsätzlich nicht aufklärend und strafverfolgend tätig werden.13 Dieses sich aus der Begrenzungsfunktion des Anfangsverdachts ableitende Verbot besagt aber nur, dass keine Ermittlungen aufgenommen und durchgeführt werden dürfen, um Anhaltspunkte für einen Tatverdacht überhaupt erst zu gewinnen.14 Verdachtsunabhängige Ermittlungen – sog. Vorfeldermittlungen 15 –
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Meyer-Goßner 49. Aufl. § 152 Rn 4 mwN; Krause FS Strauda, 2006, S. 351. Kühne NJW 1979, 622; Walder ZStW 95 (1983) 867; KKStPO-Schoreit 5. Aufl. § 152 Rn 28 ff mwN. 10 Beulke in: LR 25. Aufl. § 152 Rn 23; Weßlau Vorfeldermittlungen, 1989, S. 36. 11 Ebenso OLG Hamburg NJW 1984, 1635. 12 Beulke aaO mwN; krit. dazu Dahs NJW 1985, 1113 (1114), wenn eine derart dürftige Tatsachengrundlage zum Anlass prozessualer Zwangsmaßnahmen genommen wird. 13 Rieß LR 24. Aufl. § 152 Rn 22; ders. in: FS Rebmann, 1989 S. 391; Beulke aaO Rn 22; Meyer-Goßner § 152 Rn 4; SKStPO-Weßlau § 152 Rn 21; HKStPO-Krehl 3. Aufl. § 152 Rn 5; Hund ZRP 1991, 463; Wölfl Vorermittlungen der Staatsanwaltschaft, JuS 2001, 479; vgl. auch BGH StV 1989, 518. 14 SKStPO-Weßlau aaO; HKStPO-Krehl aaO; aA Lohner Der Tatverdacht im Ermittlungsverfahren, 1994, S. 143, der den Strafverfolgungsbehörden das Recht zubilligt, Ermittlungen auch ohne konkreten Anfangsverdacht zu führen, allerdings mit der Einschränkung, dass dabei keine Eingriffe in grundrechtlich geschützte Bereiche erfolgen dürfen. 15 Der Unterschied zwischen Vorermittlungen und Vorfeldermittlungen ist wichtig und stets zu beachten, so auch LR-Beulke 25. Aufl. § 152 Fn 103 mwN; sehr instruktiv dazu Haas Vorermittlungen und Anfangsverdacht, 2003, S. 39 ff, der die unterschiedlichen 9
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sind repressiv tätigen Strafverfolgungsorganen grundsätzlich untersagt,16 Ermittlungen, die ohne Verdacht einer bestimmten (begangenen, versuchten oder verabredeten) Straftat sich gegen bestimmte Personen oder Personengruppen richten und der Klärung der Frage dienen, ob überhaupt Anhaltspunkte für ein strafrechtlich relevantes Geschehen vorliegen, sind keine Ermittlungshandlungen strafprozessualer Art.17 Solche Vorfeldermittlungen unterscheiden sich von Vorermittlungen unter anderem darin, dass die in beiden Fällen notwenige Prognose in entgegen gesetzte Richtungen geht; während die Prognose hinsichtlich eines Verdachts im Sinne der Strafprozessordnung in die Vergangenheit gerichtet ist und darauf abzielt, eine bereits begangene Straftat aufzuklären,18 zielt die Vorfeldermittlung als Maßnahme der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung in die Zukunft. Bei ihr geht es – neben der Verfolgung präventiver Ziele – maßgeblich darum, Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass Straftaten, die erst in der Zukunft begangen werden mögen, aufgeklärt werden können.19 c) Kann die Staatsanwaltschaft nach Prüfung eines angezeigten oder ihr auf sonstige Weise bekannt gewordenen Sachverhalts noch nicht entscheiden, ob ein Anfangsverdacht einer Straftat gegeben und sie deshalb zum Einschreiten verpflichtet ist, zwingt sie das nicht zur Untätigkeit. Liegen Ansätze für Aufklärungsmöglichkeiten in die eine oder andere Richtung vor, wäre es verfehlt, die Staatsanwaltschaft aufgrund des augenblicklichen Erkenntnisstandes zu der endgültigen Entscheidung zu zwingen, keine Ermittlungen aufzunehmen, obwohl die Möglichkeit besteht, dass unter Nutzung eines vorhandenen Aufklärungsansatzes ein Anfangsverdacht bejaht werden könnte.20 Geht die Staatsanwaltschaft diesem Ansatz nach, liegt darin keine verdachtsunabhängige Ermittlungstätigkeit im Sinne einer Vorfeldermittlung. Denn ein die Vorermittlung auslösender Anhaltspunkt für eine strafbare Handlung ist gegeben, nur ist er im Tatsächlichen noch nicht konkret genug, um als zureichend gewichtet zu werden. Entsprechende Verfahrenslagen können beispielsweise angenommen werden, Begrifflichkeiten „Initiativermittlungen“, Vorermittlungen nach § 26 BDO, Vorfeldermittlungen nach § 208 Abs. 1 Satz 3 AO und den Begriff der „Vorfeldermittlungen“ erläutert; vgl. auch Hilger in: FG Hilger, 2003, S. 14 (15); Groß in: FS Dahs, 2005, S. 260; Krause in: FS Strauda, 2006, S. 352 in Fn 10. 16 Gesetzliche Ausnahmen finden sich z.B. in § 208 Abs. 1 Nr. 3 AO, §§ 81g, 484 StPO. 17 Weßlau (Fn 10) S. 40. 18 Ebenso Wölfl Vorermittlungen der Staatsanwaltschaft, JuS 2001, 478. 19 Hoppe Vorfeldermittlungen im Spannungsverhältnis von Rechtsstaat und der Bekämpfung organisierter Kriminalität, 1999, S. 79; ähnlich Weßlau (Fn 9) S. 40. 20 Im Ergebnis ebenso Keller/Griesbaum NStZ 1990, 416; Lange Vorermittlungen, 1999, S. 69, 171; dies. DRiZ 2002, 264; aA Linden RS Nr. 201/2003 des Strafrechtsausschusses der BRAK vom 5.11.2003 S. 2, der insoweit vorschlägt, die Staatsanwaltschaft solle in dieser Situation „die Vorgänge der Polizei vorlegen mit dem Anheimgeben, zu prüfen, ob nach den Vorschriften der Polizeigesetze Maßnahmen zu ergreifen sind“.
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– wenn in einer Strafanzeige wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes dessen Alter nicht genannt wird, so dass in Betracht gezogen werden muss, dass das vermeintliche Tatopfer zur behaupteten Tatzeit bereits älter als 14 Jahre war; – wenn eine Strafanzeige zwar substantiiert ist, sich jedoch aus ihr Anhaltspunkte für eine falsche Bezichtigung ergeben; – wenn durch eine Fernsehnachricht bekannt wird, dass ein Unternehmen kontaminierte Abwässer in einen Fluss eingeleitet haben soll, die Nachricht sich aber zu der Frage ausschweigt, ob das Unternehmen über eine wasserrechtliche Einleitungsbefugnis verfügt; – wenn bei einer Brandbekämpfung die Feuerwehr auf Umstände stößt, die das Vorliegen einer Brandstiftung nicht gänzlich ausgeschlossen erscheinen lassen, und der Hausbesitzer am Brandort erklärt, er sei soeben – nach dem Eingreifen der Feuerwehr – von einer längeren Urlaubsreise zurückgekehrt. In den Beispielsfällen 21 ist es unter Berücksichtigung des der Staatsanwaltschaft zustehenden Beurteilungsspielraums vertretbar, dass sie eine Entscheidung, ob ein Ermittlungsverfahren einzuleiten ist, noch nicht trifft. Denn im Beispielsfall 1 wäre es verfehlt, wenn der Staatsanwalt bei der Schwere der Anschuldigung allein aufgrund der fehlenden Altersangabe des vermeintlichen Tatopfers von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens absehen würde. Ebenso verfehlt wäre es, wenn er trotz der Möglichkeit, dass eine Straftat nach § 176 StGB wegen des Überschreitens der Altersschutzgrenze nicht in Betracht kommt, ein Ermittlungsverfahren einleiten und damit den Beschuldigten in seinem familiären und beruflichen Umfeld als Kinderschänder stigmatisieren würde. Der Staatsanwalt muss deshalb bei dem Anzeigeerstatter bezüglich des Alters des vermeintlichen Tatopfers nachfragen oder dieses durch Nachfragen bei Behörden in Erfahrung bringen. Beides sind Ermittlungshandlungen außerhalb eines Ermittlungsverfahrens. Dennoch sind sie zulässig und geboten. Ebenso verhält es sich mit den anderen Beispielsfällen. Im Fall 2 muss vor der Entscheidung über die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens die Möglichkeit einer falschen Bezichtigung ausgeräumt sein, im Falle des Unternehmens durch Anfrage bei der entsprechenden Behörde der Frage der wasserrechtlichen Einleitungserlaubnis nachgegangen werden und im Brandfall das vorgebrachte Alibi der Ortsabwesenheit zum Zeitpunkt der Brandentstehung gegebenenfalls durch Befragung der Nachbarn oder des Arbeitgerbers überprüft werden. Bei vielen Delikten wird sich die Erforderlichkeit von Vorermittlungen nur selten ergeben. Ob der Anfangsverdacht eines Tötungsdelikts, eines Raubes, 21 Zu weiteren Konstellationen, die staatsanwaltschaftliche Vorermittlungen auslösen, vgl. Krause in: FS Strauda, 2006, S. 352.
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eines Diebstahls oder einer Körperverletzung besteht, ergibt sich im Regelfall allein aus der Tatsache der Rechtsgutverletzung. Anders und schwieriger ist die Situation insbesondere bei Wirtschafts- und Steuerstraftaten. In diesem Bereich ist häufig vor der Bejahung des Anfangsverdachtes noch die Plausibilität des – oft anonymen 22 – Anzeigevorbringens zu prüfen und durch Einholung von Auskünften zu erhärten. Dabei sind die Möglichkeiten, mit unterschiedlichsten Behörden, Registern und Informationsdiensten Kontakt aufzunehmen und durch Einholung ergänzender Erkenntnisse Anzeigen auf ihre Plausibilität hin zu überprüfen, mittlerweile sehr Erfolg versprechend.23 Die Rechtsprechung hat die Zulässigkeit von Vorermittlungen außerhalb eines anhängigen Ermittlungsverfahrens bisher vereinzelt anerkannt.24 Im Schrifttum finden sich unterschiedliche Positionen. Die Vertreter der Ansicht, Ermittlungen der Strafverfolgungsbehörden außerhalb eines anhängigen Ermittlungsverfahrens seien prinzipiell unzulässig,25 begründen das unter anderem damit, die Schwelle des Anfangsverdachtes in § 152 Abs. 2 StPO sei so niedrig, dass es keiner Vorermittlungen bedürfe. Abgestellt wird auch auf die bereits erwähnte Begrenzungsfunktion des Anfangsverdachtes. Die Gegenansicht 26 leitet ihre Argumente maßgelblich aus dem Legalitätsprinzip her. Eine vermittelnde Meinung vertreten Rieß 27, Beulke 28 und 22 Die anonymen Anzeigeerstatter sind oft im Kreis wohl informierter Mitarbeiter von Unternehmen zu suchen, die aus Angst vor Repressalien den Weg der Anonymität wählen. 23 Nur beispielhaft sei auf das von den Landeskriminalämtern Baden-Württemberg und Bayern sowie dem Polizeifortbildungsinstitut Neuss/Nordrhein-Westfalen (PFI) geschaffene Abschöpfungsarchiv hingewiesen, in dem Möglichkeiten dargestellt sind, bei wem über bestimmte Sachverhalte Auskünfte eingeholt werden können. Das Spektrum reicht von den Bundesaufsichtsämtern über die Hafenämter bis zu verschiedenen Verbänden. 24 BGHSt 38, 214 (227); BGH NStZ 1983, 86 („Es ist nicht unzulässig, eine Person, die zum Kreis der Tatverdächtigen gehört, informatorisch zur Klärung der Frage anzuhören, ob gegen sie förmlich als Beschuldigte zu ermitteln ist“); BayObLGSt 1985, 71 („Auch auf Strafanzeigen hin, die noch keinen konkreten Anfangsverdacht begründen, kommt die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens nicht in Betracht. Es kann in diesen Fällen allenfalls, wenn sich bereits Ansätze für weitere Nachforschungen bieten, die Klärung in einem ARVerfahren versucht werden“); LG Offenburg NStZ 1993, 506, das der Staatsanwaltschaft – zu weitgehend – sogar das Recht einräumt, im Rahmen von Vorermittlungen richterliche Untersuchungshandlungen zu beantragen; für die Zulässigkeit gewisser richterlicher Untersuchungshandlungen auch Lange Vorermittlungen S. 155 ff. 25 Arndt NJW 1962, 2000; Bottke GS für Meyer, 1990, S. 37 (47); Finke ZStW 95 (1983) 918 (924); Hund ZRP 1991, 463; Kniesel ZRP 1987, 377 (380); Schäfer/Sander Die Praxis des Strafverfahrens, 6. Aufl. Rn 253, die Vorermittlungen allerdings dann für unbedenklich halten, wenn das der Schonung des Betroffenen dient und dessen Rechte sowie die Rechte anderer Verfahrensbeteiligter gewahrt werden. Wie das geschehen kann, teilen sie nicht mit. 26 KKStPO-Wache 5. Aufl. § 158 Rn 1, § 160 Rn 11; Meyer-Goßner 49. Aufl. § 152 Rn 4a, 4b; Keller/Grießbaum NStZ 1990, 417; Lohner (Fn 13) S. 143; Lange wie Fn 20; Wölfl Jus 2001, 478. 27 LR 24. Aufl. § 152 Rn 34. 28 LR 25. Aufl. § 152 Rn 34.
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Plöd 29. Im Grundsatz lehnen sie Vorermittlungen ab, sehen aber ein Einschreiten im Sinne des § 152 Abs. 2 StPO beispielsweise noch nicht darin, dass die Polizei am Unfallort durch informatorische Befragung der Unfallbeteiligten oder von sonstigen Anwesenden in Erfahrung bringen will, ob die bekannt gewordenen Umstände überhaupt den Verdacht strafbaren Verhaltens begründen. Plöd geht von zulässigen Vorermittlungen aus, wenn dadurch zunächst lediglich Erkenntnisse über Geschäftspraktiken gesammelt werden sollen, ohne konkret Anhaltspunkte für strafbares Verhalten zu haben, oder wenn lediglich Initiativermittlungen geführt werden.30 Bei der Bewertung der Beispielsfälle ist bereits deutlich geworden, dass strafprozessuale Ermittlungen im Vorfeld des § 152 Abs. 2 StPO grundsätzlich zulässig sind. Das Hauptargument für ihre Zulässigkeit ist aus dem Legalitätsprinzip abzuleiten. Keller/Griesbaum 31 führen insoweit zutreffend aus: „Die Vorermittlungspflicht ist auch Ausfluss eines neu bestimmten Legalitätsprinzips, das im Lichte gewandelter Aufgaben und Funktion der Strafverfolgungsbehörden zu interpretieren ist. Das Legalitätsprinzip soll Gewähr für eine gleichmäßige Strafrechtspflege bieten. Dieser Anspruch kann von den Strafverfolgungsbehörden aber nur erfüllt werden, wenn man eine Vorermittlungspflicht auch für den Fall anerkennt, dass bekannt gewordene Umstände zwar noch keinen Anfangsverdacht begründen, dieser aber durch weitere Aufklärung bejaht oder ausgeschlossen werden kann. Es hieße die Strafverfolgung im wesentlichen vom Zufall abhängig machen, wollte man zwar bei einer schlüssigen Anzeige die Ermittlungspflicht bejahen, nicht aber eine Vorermittlungspflicht in den Fällen der Kriminalität, die kaum angezeigt werden, sondern den Strafverfolgungsbehörden nur ansatzweise auf anderem Wege (vgl. § 160 Abs. 1 StPO) zur Kenntnis gelangen.“ Diese Argumentation ist überzeugend. In den hier interessierenden Grenzfällen sind bereits vorliegende tatsächliche Anhaltspunkte darauf zu prüfen, ob sie genügend Hinweise auf die Begehung einer Straftat enthalten. Die Befugnis, unter Umständen gar die Verpflichtung zu dieser Prüfung ist der gesetzlichen Regelung immanent.32 Sie findet im Wortlaut des § 152 Abs. 2 StPO darin ihren Ausdruck, dass zureichende tatsächliche Anhaltspunkte gefordert werden. Der Prüfung wohnt im Hinblick darauf ein auch normativer Aspekt inne. Tatsächliche Anhaltspunkte sind deshalb unter Umständen dahin zu bewerten, ob sie ein Tatbestandsmerkmal einer bestimmten Strafnorm verwirklichen oder nicht. Ist somit die Staatsanwaltschaft kraft ihres gesetzlichen Auftrages befugt, tatsächliche Anhaltspunkte darauf zu prüfen, ob sie für die Einleitung eines 29
KMR § 152 Rn 25. Im Falle des Sammelns von Erkenntnissen über Geschäftspraktiken verkennt er, dass damit der strafprozessual nicht zulässige Bereich der Vorfeldermittlungen betreten wird. 31 NStZ 1990, 416 (417), von Wölfl JuS 2001, 478 (480) als zu weit gehend abgelehnt. 32 AA Linden (Fn 20) S. 3. 30
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strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens genügenden Anlass bieten, so ist hierin auch die Befugnis eingeschlossen, durch weitere Recherchen eine Entscheidung darüber zu ermöglichen, ob ein förmliches Verfahren einzuleiten ist.33 Hinzu kommt, dass die Strafprozessordnung selbst einen Fall der Vorermittlung unterhalb der Schwelle des Anfangsverdachtes kennt. § 159 StPO verpflichtet Polizei- und Gemeindebehörden zur sofortigen Anzeige an die Staatsanwaltschaft oder das Amtsgericht, wenn Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass jemand eines nicht natürlichen Todes gestorben ist. Nach Eingang dieser Anzeige prüft die Staatsanwaltschaft, ob und gegebenenfalls welche Ermittlungen zu veranlassen sind und sie trifft die zur Identifizierung des Toten erforderlichen Maßnahmen,34 wozu auch solche nach §§ 81b, 81e und 81f StPO gehören können (vgl. § 88 Abs. 1 Satz 2 und 3 StPO). Lässt sich bei der Leichenschau nach § 87 Abs. 1 StPO, bei der er sich um eine Augenscheinseinnahme durch den Staatsanwalt handelt,35 eine Straftat als Todesursache nicht ausschließen oder ist damit zu rechnen, dass die Feststellungen später angezweifelt werden, so veranlasst der Staatsanwalt grundsätzlich die Leichenöffnung.36 All diese Ermittlungsschritte erfolgen außerhalb eines Ermittlungsverfahrens. Sie haben ihre Legitimation in bloßen Anhaltspunkten für das Vorliegen eines nicht natürlichen Todes, die noch nicht das Gewicht von „zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten“ besitzen. Mithin handelt es sich um Ermittlungshandlungen der Staatsanwaltschaft im Vorfeld eines möglichen Ermittlungsverfahrens, also um strafprozessuale Vorermittlungen. Auch wenn aus dieser Regelung nicht generell die strafprozessuale Zulässigkeit von Vorermittlungen abgeleitet werden kann, so kann aus ihr, wie auch aus den Vorschriften der §§ 81g, 484 StPO, aber die Schlussfolgerung gezogen werden, dass die Strafprozessordnung Vorermittlungen nicht absolut verbietet und ein Tätigwerden der Staatsanwaltschaft außerhalb eines bereits eingeleiteten Ermittlungsverfahren zulässig sein kann. Für die Zulässigkeit von Vorermittlungen spricht weiterhin, dass die Anordnung über Mitteilungen in Zivilsachen Richter am Amtsgericht verpflichtet, in von ihnen bearbeiteten Verfahren angefallene Erkenntnisse, die für das Vorliegen bestimmter Straftaten sprechen können, der Staatsanwaltschaft mitzuteilen. Solche Mitteilungspflichten bestehen für mögliche Straftaten nach §§ 406, 407 SGB III, §§ 15, 15a AÜG 37 und für Subventionsbetrug.38 Mitzuteilen sind der Staatsanwaltschaft zur Überprüfung möglicher Insolvenzdelikte auch die Ablehnung der Eröffnung des Insolvenzverfahrens
33 34 35 36 37 38
Im Ergebnis ebenso Krause in: FS Strauda, 2007 S. 353 (363). KKStPO-Wache 5. Aufl. § 159 Rn 6. KKStPO-Senge 5. Aufl. § 87 Rn 3. RiStBV Nr. 33 Abs. 2 S. 1. MiZi I/5. MiZi I/7.
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und die Eröffnung eines entsprechenden Verfahrens.39 Diese Mitteilungen führen im Regelfall allein noch nicht zur Bejahung zureichender tatsächlicher Anhaltspunkte für das Vorliegen strafrechtlich relevanter Sachverhalte. Ist aufgrund der Mitteilung durch das Amtsgericht die Möglichkeit einer strafbaren Handlung nicht ganz fern liegend, wird der pflichtbewusste Staatsanwalt zur Prüfung, ob ein Ermittlungsverfahren einzuleiten ist, zunächst die Akten des Ausgangsverfahrens beiziehen.40 Auch das stellt sich als (Vor)Ermittlungshandlung mit Außenwirkung dar. Staatsanwaltschaftliche Vorermittlungen sehen die Gemeinsamen Richtlinien der Justiz- und Innenminister der Länder über die Zusammenarbeit von Staatsanwaltschaft und Polizei bei der Verfolgung der Organisierten Kriminalität ebenfalls vor.41 Nummer 6.2 Satz 4 ff. dieser Richtlinien ermächtigt die Staatsanwaltschaft zu weiteren Nachforschungen, wenn nach der Prüfung der vorliegenden Anhaltspunkte unklar ist, ob der Anfangsverdacht einer strafbaren Handlung besteht. Ziel dieser Nachforschungen ist allein die Klärung des Anfangsverdachts. Das Institut der Vorermittlung findet sich auch in Nr. 191 Abs. 4 der Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren. Danach kann der Staatsanwalt vor der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens zur Klärung der Frage, ob gegen einen Abgeordneten des Deutschen Bundestages eine offensichtlich unbegründete Strafanzeige erstattet wurde, Feststellungen über die Persönlichkeit des Anzeigeerstatters sowie über andere für die Beurteilung der Ernsthaftigkeit der Anzeige wichtige Umstände treffen. Auch insoweit wird der Staatsanwalt außerhalb eines anhängigen Ermittlungsverfahrens aufklärend tätig, um sich für die ihm nach § 152 Abs. 2 StPO abverlangte Entscheidung eine hinreichend sicherere Tatsachengrundlage zu verschaffen. 2. Zulässige Vorermittlungshandlungen, Eingriffstiefe und Rechtsstellung der von Vorermittlungen betroffenen Personen a) Das „Vorermittlungsverfahren“ ist als solches in der StPO gesetzlich nicht geregelt; es ist auch nicht vorgelagerter Teil oder ein Unterabschnitt des Ermittlungsverfahrens.42 Allein schon daraus ergibt sich, dass bei Vorermitt39
MiZi XII/2 und XII/3. Keller/Griesbaum (Fn 20) S. 417. 41 Anlage E zu RiStBV. 42 Krause in: FS Strauda, 2006, S. 352; aA Haas Vorermittlungen und Anfangsverdacht, 2003, S. 35, der jedes Ermittlungsverfahren in zwei Abschnitte unterteilt, in das Prüfungsverfahren des Anfangsverdachtes und in die sich – bei Bejahung des Verdachtes – daran anschließenden Ermittlungen; zustimmend Schaefer StV 2004, 404 (405). Im Ergebnis ebenso Schäfer/Sander Die Praxis des Strafverfahrens, 6. Aufl. Rn 253, die in Vorermittlungen ein Ermittlungsverfahren erblicken, welches „lediglich zur Schonung der Betroffenen diesen Namen nicht erhält“. 40
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lungen keine Maßnahmen mit Zwangs- oder Eingriffscharakter, insbesondere keine Eingriffe in grundrechtlich geschützte Rechtspositionen des Betroffenen oder von Dritten, die einer besonderen Befugnisnorm bedürfen,43 statthaft sind. Damit scheiden prozessuale Zwangsmaßnahmen wie beispielsweise Durchsuchung, Beschlagnahme, vorläufige Festnahme, Verhaftung, Entnahme von Körperzellen und die Erstellung eines molekulargenetischen Identifizierungsmusters einer lebenden Person44 aus. An zulässigen Vorermittlungshandlungen verbleiben im Wesentlichen interne Abklärungen, Einsichtnahme in Akten, Behördenanfragen, das Auswerten allgemein zugänglicher Informationen und die informatorische Befragung des Betroffenen oder von Dritten.45 b) Besondere Probleme bereiten die Erhebung personenbezogener Daten und die informatorische Befragung des Betroffenen. aa) Aktenbeiziehung. In der Beiziehung von Akten mit personenbezogenen Daten ohne Einwilligung des Betroffenen liegt nach den Grundsätzen des Volkszählungsurteils des Bundesverfassungsgerichts 46 ein Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, der einer bereichsspezifischen gesetzlichen Grundlage bedarf. Sie kann nicht in § 161 Abs. 1 StPO erblickt werden. Zwar enthält § 161 Abs. 1 StPO in der durch das StVÄndG 1999 geänderten Fassung nunmehr eine echte Ermittlungsgeneralklausel für die Staatsanwaltschaft,47 jedoch setzt die Bestimmung voraus, dass die Staatsanwaltschaft in einem bereits eingeleiteten Ermittlungsverfahren tätig wird; für Vorermittlungen gilt sie nicht.48 Eine Rechtsgrundlage für das Sammeln personenbezogener Daten im Rahmen von Vorermittlungen ist derzeit nicht vorhanden. Das gilt auch für die Erhebung von Daten durch Beiziehung von Akten aus laufenden oder abgeschlossenen Strafverfahren; § 474 StPO kommt als Rechtsgrundlage für eine Datenerhebung und -verarbeitung nicht in Betracht, weil die dazu erforderliche grundrechtsrelevante Zweckumwandlung der Information das Bestehen eines Anfangsverdachtes voraussetzt.49 Dass Vorermitt43
Lohner (Fn 13) S. 143; Lange DRiZ 2001, 270; Wölfl (Fn 12) S. 479. Ausnahme: Zulässig zur Identifizierung eines Toten und Feststellung dessen Geschlechts, vgl. § 88 Abs. 1 S. 3 StPO. 45 Sie – wie Keller/Griesbaum (Fn 26) – als „Zeugenvernehmungen“ zu bezeichnen, dürfte verfehlt sein, da eine Vernehmung nur in einem förmlichen Ermittlungsverfahren erfolgen kann. 46 BVerfGE 65, 1. 47 Meyer-Goßner 49. Aufl. § 161 Rn 1. 48 Lange Vorermittlungen, S. 141; dies. DRiZ 2002, 271; Wölfl (Fn 12) S. 480, 481; Diemer NStZ 2005, 666 (668); Egon Müller im Thesenpapier vom 28.2.2004, RS 45a/04 des Strafrechtsausschusses der BRAK S. 4; aA Keller/Griesbaum NStZ 1990, 416 (417). 49 Hilger in: FG Hilger, 2003, S. 14 (21); zur bereichsspezifischen Rechtsgrundlage für die Datenerhebung in den ARP-Verfahren der Bundesanwaltschaft im BKAG, BND-G, MAD-G, BVerfschG sowie im G10-G vgl. Diemer NStZ 2005, 666 sowie Hilger in: FG Hilger, 2003, S. 14 (22). 44
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lungen der Strafverfolgungsbehörden unter Hinweis auf die dem Gesetzgeber vom Bundesverfassungsgericht eingeräumte Übergangsfrist für die Schaffung bereichsspezifischer gesetzlicher Regelungen angesichts des Zeitablaufs seit der Verkündung des Volkszählungsurteils im Dezember 1983 noch tolerierbar sind, ist zu verneinen.50 bb) Informatorische Befragungen. Sollen der Betroffene, bezüglich dessen die Staatsanwaltschaft noch unschlüssig ist, ob sie gegen ihn ein Ermittlungsverfahren einleitet, oder Dritte informatorisch befragt werden, kann das nur auf freiwilliger Basis erfolgen. Sie sind nicht verpflichtet, auf Ladung vor der Staatsanwaltschaft zu erscheinen; die §§ 163a Abs. 3, 161a Abs. 1 StPO sind nicht – auch nicht entsprechend – anwendbar. Deshalb besteht für Dritte keine Aussagepflicht bei der Staatsanwaltschaft. Der Auffassung, der informatorisch befragte Betroffene müsse nicht gemäß §§ 136 Abs. 1 Satz 2, 163a Abs. 4 Satz 2 StPO belehrt werden, weil er noch kein Beschuldigter sei und auch nicht „vernommen“ werde, er vielmehr „im formell-rechtlichen Sinn die Stellung eines Zeugen“ habe,51 kann in dieser Allgemeinheit nicht zugestimmt werden. Nach der Grundsatzentscheidung des BGH zu den Belehrungspflichten 52 kommt es nach den Umständen des Einzelfalles darauf an, ob das Strafverfolgungsorgan, welches die informatorische Befragung durchführt, gegenüber dem Befragten einen Tatverdacht hegt, wobei die Stärke des Tatverdachts entscheidend ist.53 Würde in unserem Beispielsfall des abgebrannten Hauses der Hauseigentümer aufgrund seiner am Brandort abgegebenen Erklärung, er sei gerade erst von einer längeren Urlaubsreise zurückgekehrt, danach befragt, wo er denn Urlaub gemacht habe und ob er die Urlaubsadresse nennen wolle, ließen diese Fragen erkennen, dass das Alibi des Hauseigentümers überprüft werden soll. Das aber würde einen gewissen Tatverdacht des Fragenden und damit zugleich offenbaren, dass der Fragesteller in ihm einen potenziellen Beschuldigten sieht; ein Verdächtiger wird aber zum Beschuldigten, wenn die Strafverfolgungsbehörde faktische Maßnahmen ergreift, die erkennbar darauf abzielen, gegen ihn wegen einer Straftat vorzugehen.54 In einer solchen Situation muss eine Belehrung in direkter oder zumindest entsprechender Anwendung der §§ 136 Abs. 1 Satz 2, 163a Abs. 4 Satz 2 StPO erfolgen.55 Andernfalls liefe der Nemotenetur-Grundsatz ins Leere. Eine ohne Belehrung zustande gekommene selbstbelastende Aussage des Betroffenen wäre in einem nachfolgenden
50 51 52 53 54 55
Ebenso Egon Müller (Fn 48) aaO. Lange Vorermittlungen, S. 117 ff; dies. DRiZ 2002, 267. BGHSt 38, 214 ff. BGH aaO S. 228. BGHR StPO § 55 Abs. 1 Verfolgung 3; BGH NStZ 2003, 671. Im Ergebnis ebenso Krause in: FS Strauda, 2006, S. 358.
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Ermittlungsverfahren unverwertbar, es sei denn, der im nachfolgenden Ermittlungsverfahren ordnungsgemäß belehrte Beschuldigte würde die Aussage wiederholen.56 Insbesondere die informatorischen Befragungen von Betroffenen machen deutlich, dass sich staatsanwaltschaftliche Vorermittlungen in einer „strafprozessualen Grauzone“ 57 bewegen, in der die Gefahr besteht, dass die Grenze zur materiellen Beschuldigtenvernehmung schnell überschritten wird. Von informatorischen Befragungen sollte deshalb nur zurückhaltend Gebrauch gemacht werden. Keinesfalls dürfen Vorermittlungen zu dem Zweck geführt werden, die Schutzvorkehrungen des förmlichen Ermittlungsverfahrens auszuschalten. Es ist deshalb unzulässig, Betroffene als Zeugen zu vernehmen, um ihnen auf diese Weise Angaben zu entlocken, die sie in einem förmlichen Ermittlungsverfahren nicht hätten preisgeben müssen. Ebenso verhält es sich mit Zeugnisverweigerungsrechten von Angehörigen; auch sie dürfen nicht durch den Weg in die Vorermittlung ausgeschaltet werden.58 Auf solche Weise – rechtswidrig – erlangte Erkenntnisse unterliegen einem Verwertungsverbot. c) Ein Anspruch auf Einsicht in die während der Vorermittlungen angefallenen Akten steht dem Beschuldigten und seinem Verteidiger im Rahmen des § 147 StPO erst dann zu, wenn die Vorermittlungen zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens geführt haben.59 3. Registermäßige Behandlung von Vorermittlungen – Js- oder AR-Aktenzeichen? Soweit ersichtlich, werden Vorermittlungen überwiegend unter einem AR-Aktenzeichen 60 geführt und im AR-Register erfasst.61 Diese Praxis ist mit § 47 der „Aktenordnung für die deutschen Justizbehörden“ aus den 30iger Jahren unvereinbar. Satz 1 der Bestimmung, deren Inhalt von sämtlichen Bundesländern übernommen wurde, lautet: „In das Register (Js, Os) … ist jeder Antrag auf Strafverfolgung und jede eingehende Anzeige einzutragen, gleichviel, ob sich der Verdacht einer strafbaren Handlung gegen ein bestimmte Person richtet oder nicht.“ 56
BGH NStZ 1983, 86. Lange DRiZ 2002, 273. 58 Wölfl (Fn 13) S. 481. 59 Lange DRiZ 2002, 264 (269); aA Krause in: FS Strauda, 2006 S. 358 (359); Schäfer/ Sander (Fn 41). 60 Beim GBA: ARP, vgl. Fn 3. 61 In Brandenburg wird hinsichtlich der registermäßigen Behandlung danach unterschieden, ob eine Strafanzeige zugrunde liegt oder ob die Staatsanwaltschaft auf sonstigem Wege Kenntnis von einem Sachverhalt erhält, der die Prüfung eines Anfangsverdachtes erfordert, vgl. Abschnitt III der Rundverfügung des GenStA vom 21.8.1998 („Richtlinien für die Prüfung eines Anfangsverdachts wegen einer Straftat“), BbgJMBl. 1998, 106 (107). 57
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Der bloße Vorgang der Eintragung in das Js-Register und die Bearbeitung einer Anzeige unter einem Js-Aktenzeichen besagt noch nicht, dass gegen eine bestimmte Person ein Ermittlungsverfahren eingeleitet worden ist; 62 dazu bedarf es einer Willensentscheidung der Staatsanwaltschaft. Deshalb entsteht einem Betroffenen, gegen den sich Vorermittlungen richten, die unter einem Js-Aktenzeichen geführt werden, noch kein Nachteil. Gleichwohl ist die gängige Praxis, Vorermittlungen unter einem AR-Aktenzeichen zu führen, vertretbar.63 Denn diese Vorgehensweise der Staatsanwaltschaften trägt maßgeblich zum Schutz von Betroffenen bei, hinsichtlich derer die Staatsanwaltschaft noch prüft, ob gegen sie der Anfangsverdacht einer Straftat besteht. Denn in der Öffentlichkeit, namentlich in der Berichterstattung der Medien, ist die unzutreffende Ansicht weit verbreitet, eine Person sei Beschuldigte eines Ermittlungsverfahrens, nur weil das Verfahren ein Js-Aktenzeichen trägt. Das kann im Einzelfall zu gravierenden Nachteilen führen,64 die möglicherweise vermeidbar sind, wenn die Staatsanwaltschaft notwendige Vorermittlungen unter einem AR-Aktenzeichen führt. Aus demselben Grund sollte in etwaigen Presseerklärungen auch nicht von Vorermittlungen, sondern von Vorprüfungen gesprochen werden, desgleichen nicht von einem „Vorermittlungsverfahren“, sondern von einem Überprüfungsvorgang.65
III. Sonderbehandlung für Abgeordnete bis zur Aufhebung der Immunität? 1. Werden Strafanzeigen gegen Abgeordnete zunächst unter einem ARAktenzeichen bearbeitet, liegt darin keine Sonderbehandlung, wenn der angezeigte Sachverhalt der Staatsanwaltschaft noch keine Entscheidung zur Frage des Anfangsverdachts im Sinne von § 152 Abs. 2 StPO ermöglicht und sie sich deshalb um weitere Aufklärung bemüht. Diese Fälle unterscheiden sich deshalb nicht von jenen, die bisher unter Abschnitt II erörtert worden sind. 2. Eine andere Beurteilung ist angezeigt, wenn der der Staatsanwaltschaft unterbreitete oder ihr auf sonstige Weise bekannt gewordene Sachverhalt zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für das Vorliegen einer verfolgbaren 62 Rautenberg NJW 2000, 1090 (1091); Lange DRiZ 2002, 271; Hilger in: FG Hilger, 2003, S. 11 (13). 63 AA Rautenberg aaO; Schaefer in: RS Nr. 200/2003 des Strafrechtsausschusses der BRAK vom 5.11.2003. 64 Zu denken ist z.B. An die Aufkündigung von Bankkrediten und dadurch bedingte Unternehmenszusammenbrüche oder an eine Rufschädigung im Falle des Beispiels der Sexualstraftat. 65 Ebenso Rautenberg NJW 2000, 1091.
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Straftat enthält. Auch in diesen Fällen erfolgt in einigen Bundesländern die Bearbeitung der Sache solange unter einem AR-Aktenzeichen, bis durch die zuständigen parlamentarischen Gremien die Immunität des Abgeordneten aufgehoben worden ist. Dieser Verfahrensweise liegen entsprechende Verwaltungsanordnungen zugrunde.66 Rautenberg 67 bezeichnet diese registermäßige Sonderbehandlung von Strafanzeigen gegen Abgeordnete, die einen Anfangsverdacht im Sinne von § 152 Abs. 2 StPO begründen, als „skandalös und mit dem Grundsatz der Rechtsgleichheit unvereinbar“; dem kann schwerlich widersprochen werden.
IV. Besteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf? Gesetzgeberischer Handlungsbedarf ist insbesondere im Hinblick auf die fehlende bereichsspezifische Ermächtigungsnorm für das Sammeln personenbezogener Daten als Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung 68 unabweisbar, aber auch deshalb, um Vorermittlungen aus der Grauzone, in der sie sich befinden, herauszuholen, wobei eine gesetzliche Regelung zudem klarstellen müsste, welche Maßnahmen zulässig sind und welche nicht. Eine gesetzliche Regelung könnte sich in begrenzter Weise inhaltlich an § 95 DDR-StPO orientieren, der ein dem Ermittlungsverfahren vorgelagertes Anzeigeprüfungsverfahren vorsah und die Staatsanwaltschaft ausdrücklich ermächtige, „Prüfungshandlungen“ vorzunehmen, wenn das für die Entscheidung, ob ein Ermittlungsverfahren einzuleiten ist, erforderlich war. Dazu konnte der Verdächtige befragt werden; seine Beschuldigtenvernehmung sowie die Vornahme prozessualer Zwangsmaßnahmen waren unzulässig. Zulässige Prüfungshandlungen waren unter anderem auch die Auswertung von Karteien, Sammlungen und Registern, das Einholen von Auskünften und die Besichtigung von Ereignisorten und Gegenständen. Der Vorschlag von Lange 69 geht zu weit; nach ihrer Auffassung soll die Staatsanwaltschaft befugt sein, Vorermittlungen jeder Art entweder selbst vorzunehmen oder durch die Behörden und Beamten des Polizeidienstes vornehmen zu lassen. Damit wäre die Grenze zum Ermittlungsverfahren nicht mehr erkennbar. Die Bedeutung von Vorermittlungen besteht im Wesentlichen in der Abschöpfung von bei Behörden vorhandenen Erkenntnissen und in der informatorischen Befragung des Betroffenen oder von
66 Für Schleswig Holstein vgl. SchlHA 1995, 256; für Nordrhein-Westfahlen NWJMBl. 1959, 273. 67 NJW 2000, 2092. 68 Vgl. oben II 2 b) aa). 69 Vorermittlungen, S. 230 ff.
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Anzeigeerstattern.70 Eine gesetzliche Regelung sollte sich auf diese Möglichkeiten, die um die Sammlung frei zugänglicher Informationen zu ergänzen wäre, beschränken. Zudem müsste sie klarstellen, dass prozessuale Zwangsmaßnahmen nicht zulässig sind.
V. Thesen 1. Staatsanwaltschaftliche Ermittlungen (Vorermittlungen) unterhalb der Schwelle des Anfangsverdachtes im Sinne von § 152 Abs. 2 StPO sind zulässig, wenn Anhaltspunkte für einen strafrechtlich relevanten Sacherverhalt vorliegen und die Vorermittlungen ausschließlich der Klärung der Frage dienen, ob die Anhaltspunkte zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens verpflichten/berechtigen (Feststellung des Anfangsverdachts). 2. Vorermittlungen haben sich auf interne Abklärungen, Einholen von Behördenauskünften, Sammeln von frei zugänglichen Informationen und informatorische Befragungen auf freiwilliger Grundlage zu beschränken. Prozessuale Zwangsmittel und richterliche Untersuchungshandlungen sind unzulässig. 3. Bei informatorischen Befragungen sind die Belehrungsvorschriften der §§ 52 Abs. 3, 55 Abs. 2, 136 Abs. 1 Satz 2, 163a Abs. 4 Satz 2 StPO entsprechend anzuwenden. 4. Vorermittlungen dürfen, wenn es schutzwürdigen Belangen des von ihnen Betroffenen dient, unter einem AR-Aktenzeichen geführt und in das staatsanwaltschaftlichte AR-Register eingetragen werden.71 Sobald nach dem Ergebnis der Vorermittlungen ein Anfangsverdacht besteht, muss das Verfahren unverzüglich in ein förmliches Ermittlungsverfahren übergeleitet und unter einem Js-Aktenzeichen 72 fortgeführt werden. Das Ergebnis der Vorermittlungen ist zu den Ermittlungsakten zu nehmen. 5. Strafanzeigen gegen Immunität genießende Abgeordnete, die einen Anfangsverdacht begründen, müssen unabhängig davon, ob die Immunität aufgehoben worden ist, unter einem Js-Aktenzeichen geführt werden. 6. Es besteht gesetzgeberischer Handlungsbedarf, die Zulässigkeit von Vorermittlungen gesetzlich zu regeln,73 nicht aber ein eigenständiges „Vor-
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Vgl. oben II 2 a). Bei der Bundesanwaltschaft: ARP-Aktenzeichen und ARP-Register. 72 Bei der Bundesanwaltschaft: BJs. 73 So auch Groß in: FS Dahs, 2005, S. 261, der bis zu einer gesetzlichen Regelung die Zulässigkeit von Vorermittlungen in dem hier für zulässig erachteten Umfang (keine Zwangsbefugnisse usw.) gewohnheitsrechtlich „auf niedrigstem Eingriffsniveau“ legitimiert (aaO S. 262, 263, 265); aA Hilger in: FG Hilger, 2003, S. 24; Egon Müller (Fn 47) S. 7; Linden (Fn 20) S. 3. 71
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ermittlungsverfahren“ in die StPO zu implantieren. Ein Weg dazu wäre die Einfügung eines § 152 Abs. 3 StPO, der folgendem Wortlaut haben könnte: „Die Staatsanwaltschaft ist befugt, im Rahmen der Prüfung des Anfangsverdachtes von allen Behörden Auskunft zu verlangen, frei zugängliche Informationen zu sammeln und zu verwerten sowie auf freiwilliger Grundlage informatorische Befragungen durchzuführen oder durch ihre Ermittlungspersonen durchführen zu lassen. Prozessuale Zwangsmaßnahmen und richterliche Untersuchungshandlungen sind unzulässig“.
VI. Anhang: Auswertung von ARP-Verfahren der Bundesanwaltschaft 1. Rechtstatsachen Die rechtstatsächliche Auswertung bezieht sich auf 342 von 347 ARP-Vorgängen der Bundesanwaltschaft einer Jahreshälfte (2003). Bezüglich der Gründe für die Anlegung dieser Vorgänge hat sich folgendes Bild ergeben: – 186 Vorgänge gingen auf Vorlagen von Strafverfolgungsbehörden und Sicherheitsbehörden zurück, um dem Generalbundesanwalt die Prüfung zu ermöglichen, ob eine in die Zuständigkeit der Bundesanwaltschaft fallende Straftat 74 in Betracht kommt. – 94 Vorgängen lagen Strafanzeigen und Eingaben zugrunde, die – häufig anonym – keine Hinweise auf strafbare Verhaltensweisen enthielten und über bloße Vermutungen nicht hinausgingen. – 44 ARP-Vorgänge wurden durch Hinweisgeber veranlasst, deren Mitteilungen keinen Hinweis auf ein strafbares Verhalten enthielten oder von vornherein unglaubwürdig waren. In 13 dieser ARP-Verfahren konnten persönliche Rachemotive nicht ausgeschlossen werden. In weiteren neun Fällen waren die Hinweisgeber offenbar psychisch krank. – 5 Vorgängen lag die Übersendung von Häftlingspost durch den Kontrollrichter oder eine Justizvollzugsanstalt zugrunde. – 3 Vorgänge gingen auf die Auswertung von Presseberichten zurück. – 10 Vorgänge wurden durch sonstige Umstände (Anfragen, Rechtshilfeersuchen, Sammelvorgänge u.a.) veranlasst. Die Art der in den ARP-Vorgängen durchgeführten Maßnahmen schlüsselt sich – in einigen Fällen mit Mehrfachnennungen – wie folgt auf: – In 157 Fällen fand lediglich eine Prüfung der Rechtslage statt; von der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wurde ohne weiteres abgesehen. 74
Vgl. § 120 Abs. 1, Abs. 2 GVG.
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– In 120 Fällen wurden Erkenntnisanfragen an Polizei- oder Sicherheitsbehörden gerichtet, in polizeiliche Ermittlungsvorgänge eingesehen oder Rückfragen gehalten. – In 25 Fällen wurden Auskünfte anderer Behörden eingeholt. – In 24 Fällen wurden Auskunftspersonen befragt. Hierbei handelte es sich in 14 Fällen um den Hinweisgeber und in 7 Fällen um Personen aus dem Umfeld des Betroffenen (Arbeitgeber, Kollegen, Freunde). – In 21 Fällen wurde der Betroffene unmittelbar angesprochen. – 18 ARP-Vorgänge wurden in Ermittlungsverfahren (BJs-Vorgänge) übergeleitet. 2. Bewertung Die erhobenen Daten weisen aus, dass sich in 46 % der 342 ARP-Verfahren ein Tätigwerden der erstinstanzlichen Abteilungen der Bundesanwaltschaft allein auf die Prüfung der Rechtslage beschränkte. Wurden Vorermittlungen durchgeführt, handelte es sich dabei überwiegend (76 %) um die Einholung von Auskünften bei Behörden, meist bei Polizei- oder Sicherheitsbehörden. Außenwirkungen waren damit nicht verbunden. Nur in 7 % aller Fälle wurden Auskunftspersonen befragt. Soweit es sich dabei um die Hinweisgeber handelte, erscheint diese Vorgehensweise von vornherein unbedenklich. Problematisch könnten allein die Fälle sein, in denen Personen aus dem Umfeld des Betroffenen (2 %) 75 oder der Betroffene selbst (6 %) befragt wurden. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass alle Befragungen auf freiwilliger Basis erfolgten; die Weigerung, Angaben zu machen, blieb dem gemäß folgenlos. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass für die Verwertung der Anhörung in einem späteren Strafverfahren alle prozessualen Sicherungen gelten. Praktische Bedeutung kam den sich hieraus ergebenden Fragen kaum zu. Denn während des Erhebungszeitraumes wurde lediglich ein ARP-Vorgang, in dem Personen aus dem Umfeld des Betroffenen befragt wurden, in ein Ermittlungsverfahren übergeleitet. In einschlägigen Fällen wurden und werden die informatorisch befragten Personen vorsorglich nach den für Beschuldigte und Zeugen geltenden Vorschriften belehrt. Die von der Bundesanwaltschaft mit Vorermittlungen beauftragten Polizeibehörden des Bundes und der Länder wurden und werden auf die Notwendigkeit solcher Belehrungen hingewiesen. Die Auswertung der ARP-Vorgänge hat nicht in einem einzigen Fall einen Hinweis auf Missbrauch oder Rechtsverletzungen erbracht. Nachforschungen im Vorfeld von Ermittlungsverfahren mit Außenwirkung waren und sind
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Derartige Maßnahmen werden nach einer Entscheidung des GBA in ARP-Verfahren nicht mehr durchgeführt.
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die Ausnahme. Die Sorge, die Staatsanwaltschaften könnten trotz des Vorliegens eines Anfangsverdachtes in ein „Vorermittlungsverfahren“ ausweichen, um Rechte von Beschuldigten, Verteidigern oder Zeugen zu umgehen, die ihnen im Ermittlungsverfahren zustehen, ist danach, jedenfalls für den Zuständigkeitsbereich der Bundesanwaltschaft, unbegründet.
Auf der Rutschbahn in die Überwachbarkeit Das Beispiel der Online-Durchsuchungen Bettina Sokol 1. Allgemeine Tendenzen Es schien eigentlich so, dass nach dem enormen Ausbau der Befugnisse für die Sicherheitsbehörden mit den sog. „Otto-Katalogen“ 1 des früheren Innenministers Schily kaum noch Betätigungsfelder im Hinblick auf den Abbau von Grundrechten für seinen Nachfolger verblieben seien. Doch weit gefehlt. Mit vielen Ideen – nicht nur des Bundesinnenministeriums – wird ein Präventionsdenken etabliert, dem die Maßlosigkeit immanent ist und das uns Stück für Stück in die komplette Überwachbarkeit stolpern lässt. Ungeachtet des Trennungsgebots von Polizei und Nachrichtendiensten wird die gemeinsame Informationsverarbeitung in der Antiterrordatei betrieben, in der nach wenig präzisen Kriterien Terroristen,2 aber auch Kontaktpersonen3 gespeichert und in Freitextfeldern kommentiert werden können. Geplant ist die europaweite Vernetzung, also der gegenseitige Abgleich der nationalen Dateien mit Fingerabdrücken und DNA-Analyse-Daten sowie der OnlineZugriff auf die Kraftfahrzeugregister.4 1 Diese Bezeichnung hat sich umgangssprachlich für die umfänglichen Gesetzespakete durchgesetzt, die nach dem 11.9.2001 unter der Überschrift der Terrorismusbekämpfung verabschiedet und teilweise inzwischen sogar noch erweitert worden sind, etwa mit dem Terrorismusbekämpfungsergänzungsgesetz BGBl. 2007 I S. 2. 2 Der Begriff „Terroristen“ wird zwar nicht verwendet, aber auch die in § 2 Nrn. 1 und 2 ATDG genannten Kriterien stellen keine gelungenen Definitionsversuche dar. 3 Der in § 2 Nr. 3 ATDG vorgenommene Eingrenzungsversuch kann ebenfalls nicht als geglückt bezeichnet werden. 4 Vgl. www.heise.de/newssticker/meldung/print/91039 am 12.6.2007; diese Dateien enthalten enorme Datenbestände mit hohen Wachstumsraten; allein die in Deutschland seit 1998 geführte DNA-Analyse-Datei wuchs im März 2007 bundesweit um knapp 10.000 Datensätze von 561.883 auf 571.821 DNA-Profile, wobei die Delikte Diebstahl und Unterschlagung in Nordrhein-Westfalen mit weitem Vorsprung die meisten Eintragungen aufwiesen (alle bisherigen Zahlen aus Aufstellungen des LKA NRW); 2006 waren europaweit die Daten von 1,13 % der Bevölkerung in DNA-Analyse-Dateien erfasst, in Großbritannien sogar von 5 % der Bevölkerung, obwohl dort nach einer Untersuchung der Universität Leicester in den Jahren 2004 und 2005 nur 0,35 % der Straftaten mit Hilfe von DNA-Vergleichen aufgeklärt wurden (www.spiegel.de/netzwelt/tech/0, 1518, druck-465388,00.html am 5.3.2007).
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Die Pässe der neuen Generation enthalten künftig neben dem digitalisierten Lichtbild auch die Fingerabdrücke des rechten und linken Zeigefingers.5 Zwar ist die Speicherung der Fingerabdrücke bislang nur auf dem RFIDChip des Passes gesetzlich vorgesehen, doch wurden schon erste Begehrlichkeiten laut, sie – wie die Lichtbilder – auch bei den Passbehörden vorzuhalten.6 Dafür, dass die Lichtbildregister zur Fahndungsdatei werden können, ist inzwischen jedenfalls gesorgt. Zur Verfolgung von Straftaten und Verkehrsordnungswidrigkeiten können die Bilder übermittelt werden, nach Dienstschluss und am Wochenende ist in eiligen Fällen sogar ein OnlineZugriff darauf erlaubt.7 Der automatisierte Abgleich dieser Lichtbilder mit Bildern, die aus der boomenden Videoüberwachung oder aus erkennungsdienstlichen Behandlungen stammen, dürfte technisch bald machbar sein. Wie leicht von ursprünglichen gesetzlichen Zweckbindungen abgerückt werden kann, veranschaulicht zum wiederholten Male die Diskussion um die Nutzung der – gesetzlich noch8 allein zu Abrechnungszwecken verwendbaren – LKW-Mautdaten zur Strafverfolgung. Es wird sich zeigen, welche Stellen letztlich mit den Steuer-Identifikationsnummern arbeiten werden, die ab dem 1.7.2007 allen Menschen lebenslang zugeteilt werden.9 Es wird nicht einfach werden, falls es überhaupt gelingt, zu verhindern, dass sich diese Nummer zu einem verfassungswidrigen einheitlichen Personenkennzeichen10 entwickelt. Die Zahl der überwachten Telefongespräche steigt explosionsartig an.11 Der Gesetzentwurf zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG („Vorratsdatenspeicherung“) 12 sieht zwar die Streichung einiger Tatbestände vor, die bisher Anlass zur Gesprächsüberwachung geben können,13 erweitert den Gesamtkatalog der Taten jedoch ganz erheblich.14 Ein Rückgang der abgehörten Gespräche dürfte somit nicht zu erwarten sein, sondern im Gegenteil die weitere Zunahme. Flankiert wird die 5
§ 4 Abs. 4 PaßG. Solche und andere Pläne hegt z.B. der Bundesinnenminister Schäuble nach einem Bericht des Spiegel 16/2007, S. 24. 7 Vgl. § 22a Abs. 2 PaßG, gleichlautend § 2c Abs. 2 PAuswG. 8 § 4 Abs. 2 Sätze 4 und 5, § 7 Abs. 2 Sätze 2 und 3 ABMG; die Entwicklung nach dem 30.6.2007 konnte in diesem Beitrag nicht mehr berücksichtigt werden. 9 § 139b AO. 10 Vgl. BVerfGE 65, 1 (53). 11 Ausweislich der Jahresstatistik nach § 110 Abs. 8 TKG (BT-Drs. 16/3054, S. 8) stieg die Zahl der Überwachungsanordnungen von 34.374 im Jahr 2004 auf 42.508 im Jahr 2005; die Zahl der davon betroffenen Kennungen wuchs im gleichen Zeitraum von 40.973 auf 49.243 an. 12 Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 27.4.2007, BR-Drs. 275/07. 13 Z.B. Anstiftung oder Beihilfe zur Fahnenflucht oder Anstiftung zum Ungehorsam. 14 Ausführlich zur Novelle Eckhardt CR 2007, 336. 6
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Änderung der Strafprozessordnung von Änderungen im Telekommunikationsgesetz mit dem Hauptziel der Einführung einer Vorratsdatenspeicherung.15 Danach sollen die Dienstleistungsunternehmen im Bereich der Telekommunikation, des Internetzugangs und der E-Mail-Dienste erstmals verpflichtet werden, die Verkehrsdaten sechs Monate lang auf Vorrat zu speichern, um sie für einen möglichen Bedarf der Behörden vorzuhalten. Auskunft darf zu Strafverfolgungszwecken erteilt werden, aber auch zur Gefahrenabwehr und an die Nachrichtendienste.16 Mit wem wann wie lange und von wo aus telefoniert wurde oder mit wem wann von wo aus E-Mails ausgetauscht wurden, ist dann ebenso nachvollziehbar wie der Umstand, welche Internetseiten informationshalber oder für Einkäufe aufgerufen wurden und an welchem Standort sich eine Person aufgehalten hat, die mit einem eingeschalteten Handy unterwegs war. Die anlass- und verdachtslose, generelle Speicherung der elektronischen Kommunikationsdaten ausnahmslos der gesamten Bevölkerung stempelt mit der Maßlosigkeit des Präventionsdenkens alle Menschen zu potentiell verdächtigen Personen ab. Eine unverhältnismäßige Maßnahme verträgt sich mit unserer Verfassung aber nicht.17
2. Besondere Tendenz: Die Online-Durchsuchung 2.1 Die dunkle Seite der Technik Die technische Entwicklung ermöglicht immer neue und ausgefeiltere Überwachungs- und Kontrollmöglichkeiten. Eine davon ist die in verschiedenen technischen Varianten denkbare Online-Durchsuchung. Unter einer Online-Durchsuchung wird mittlerweile gemeinhin die Suche nach im jeweils entsprechenden Zusammenhang relevanten Inhalten auf Datenträgern verstanden, die sich nicht im direkten physikalischen Zugriff der Behörden befinden, sondern nur über Kommunikationsnetze erreichbar sind.18 Mit anderen Worten wird mit Hilfe der Technik „von außen“, nämlich über das Internet, heimlich auf Computerfestplatten oder andere informa-
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Eine kritische Auseinandersetzung mit den Details der neuen Regelung findet sich bei Eckhardt CR 2007, 405. 16 Vgl. § 113b TKG-E. 17 Ganz überwiegend ist die Vorratsdatenspeicherung, über die ja bereits seit Jahren gestritten wird, bisher als verfassungswidrig erachtet worden – vgl. nur LeutheusserSchnarrenberger ZRP 2007, 9 und die Ausarbeitung des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages „Zulässigkeit der Vorratsdatenspeicherung nach europäischem und deutschem Recht“, Berlin 2006, sowie die Entschließungen der Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder seit 2002, z.B. vom 27./28.10.2005: „Keine Vorratsdatenspeicherung in der Telekommunikation“, www.ldi.nrw.de. 18 So fast wörtlich die Formulierung in BT-Drs. 16/3231, S. 11.
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tionstechnische Systeme zugegriffen.19 Dafür muss zunächst der auszuforschende Rechner in einer Weise präpariert werden, dass er in der Folge auf Anforderung oder automatisch die gewünschten Aktionen durchführt und die hierbei gewonnenen Informationen an die überwachende Stelle übermittelt oder für sie bereitstellt. Um heimlich in Zielsysteme einzudringen, ist es möglich, entweder Lücken der Sicherheitsprodukte auszunutzen oder Veränderungen an den Systemen vorzunehmen. Manipulierbar ist sowohl die Hardware als auch die Software.20 Veränderungen an der Hardware sind nur bei einer physikalischen Präsenz des Geräts möglich. Die Software kann demgegenüber leichter unbemerkt manipuliert und ergänzt werden, sei es über Datenträger (z.B. CD, DVD und USB-Stick), auf denen unter anderem eine spezielle Ausspähsoftware installiert ist, oder über eine Einschleusung der Ausspähsoftware mittels elektronischer Post, aber auch während der Nutzung von Angeboten des Internet. Derzeit meistdiskutiert 21 ist die Variante des Einschleusens sog. Trojaner. Programme werden als Trojaner bezeichnet, wenn sie als nützliche Anwendungen getarnt sind, im Hintergrund aber ohne Wissen der Nutzerinnen und Nutzer andere Funktionen erfüllen. Trojaner laufen eigenständig auf dem Rechner und können – je nach Programmierung – Funktionen beliebiger Art ausführen. So können sie beispielsweise bestimmte Daten von der Festplatte auslesen und diese Daten bei der nächsten Internetnutzung innerhalb des ohnehin stattfindenden Datenflusses an vorher festgelegte Adressen übermitteln. Sog. Keylogger können Tastatureingaben aufzeichnen und es damit ermöglichen, an Passwörter oder Schlüssel für verschlüsselte Dateien zu gelangen. Backdoor-Programme können die auf der Festplatte des Zielrechners gespeicherten Programme im Sinne einer Fernsteuerung eigenmächtig in Gang setzen. Alle Ausspähprogramme setzen dort an, wo die Informationen im Klartext vorliegen, also unverschlüsselt. Möglich ist damit auch das Abhören verschlüsselter Internettelefonie, wenn vor oder nach der Ver- bzw. Entschlüsselung angesetzt wird. Je nach Programmierung kann die Übertragung der ausgespähten Daten einmalig oder wiederholt erfolgen. Abgesehen von ihrer Heimlichkeit unterscheidet sich die Online-Durchsuchung somit auch dadurch von herkömmlichen Rechnerdurchsuchungen, dass sie nicht nur vergangenheits-, sondern auch zukunftsgerichtet ist. Das Programm kann sowohl solche Informationen ausspähen, die vor seiner Installation gespeichert worden sind, als auch solche, die nach seiner Installation noch entstehen.22
19 Von der Informationsbeschaffung auf diesem Wege können Stand-alone-PCs nicht betroffen sein, außer Rechnern mit Internetanschluss aber z.B. auch internetfähige Mobiltelefone; in Betracht kommen könnte auch der Zugriff auf Server oder Knotenrechner. 20 Ausführliche Darstellung bei M. Gercke CR 2007, 245. 21 Siehe z.B. nur Jahn/Kudlich JR 2007, 57 (58) und Rux JZ 2007, 285 (286). 22 Vertiefend zu den technischen Möglichkeiten insgesamt Buermeyer HRRS 2007, 154.
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2.2 Rechtsgrundlagen für Online-Durchsuchungen? Im Januar 2007 entschied der Bundesgerichtshof,23 dass es im geltenden Strafprozessrecht 24 keine Norm gibt, auf deren Grundlage es den Strafverfolgungsbehörden gestattet sein könnte, Online-Durchsuchungen durchzuführen. Seitdem diese Entscheidung ergangen ist, an der es nichts zu kritisieren gibt, außer „dass sie überhaupt notwendig wurde“,25 ist ein heftiger Streit über das Für und Wider der Schaffung einer solchen Rechtsgrundlage entbrannt.26 Nicht so stark im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit stehen demgegenüber die Geheimdienste, die für sich eine entsprechende Befugnis bereits nach dem geltenden Recht als gegeben ansehen.27 Ob § 9 Abs. 1 und § 8 Abs. 2 BVerfSchG allerdings eine tragfähige Grundlage für die Durchführung von Online-Durchsuchungen darstellen könnten, ist mehr als zweifelhaft. Die allgemeine Befugnisnorm des § 8 Abs. 2 BVerfSchG für diejenigen Methoden, Gegenstände und Instrumente, die der Verfassungsschutz bei der heimlichen Informationsbeschaffung anwenden darf, lässt nicht hinreichend normenklar und bestimmt genug erkennen, dass davon womöglich auch Online-Durchsuchungen erfasst sein sollen.28 Und angesichts der Intensität, mit der solche Maßnahmen in Grundrechte eingreifen können, kann ihre Regelung – wenn überhaupt – verfassungskonform nur mit einer speziellen Bestimmung erfolgen.29 Die Einschränkungen, denen insbesondere Art. 10 Abs. 1 GG und Art. 13 Abs. 1 GG durch den Verfassungsschutz unterworfen werden können, sind explizit nicht nur im G 10 normiert, sondern auch z.B. hinsichtlich der besonderen Auskunftsverlangen in § 8a BVerfSchG genannt und betreffend die Wohnraumüberwachung in § 9 Abs. 2 BVerfSchG. Für Online-Durchsuchungen kann nichts anderes gelten. 23
BGH NJW 2007, 930. So war die Rechtslage auch noch beim Abfassen dieses Beitrags Ende Juni 2007. 25 Hamm NJW 2007, 932. 26 Dafür sprechen sich z.B. Bär MMR 2007, 239 und Kemper ZRP 2007, 105 aus, gegen eine Legalisierung von Online-Durchsuchungen sind wohl z.B. Hamm (Fn. 25) 932, Leipold NJW-Spezial 2007, 135 und Kutscha NJW 2007, 1169 zu verstehen; dezidiert ablehnend auch die Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder, Entschließung der 73. Konferenz am 8./9.3.2007: „Keine heimliche Online-Durchsuchung privater Computer“, www.ldi.nrw.de sowie der Zusammenschluss von 34 Firmen der Deutschen IT-Sicherheit zur Initiative „IT Security made in Germany“, DANA 1/2007, 47. 27 Ausweislich der im März erteilten Antworten auf schriftliche Anfragen von Abgeordneten (Arbeits-Nrn. 3/93, 94 und 3/107) benennt die Bundesregierung als Rechtsgrundlagen für heimliche Online-Durchsuchungen §§ 9 Abs. 1, 8 Abs. 2 BVerfSchG, §§ 5, 4 Abs. 1 MADG i.V.m. §§ 9 Abs. 1, 8 Abs. 2 BVerfSchG und § 3 BNDG, teilt zugleich aber auch mit, dass geprüft werde, ob im Hinblick auf den BGH-Beschluss (NJW 2007, 930) ggf. für das Recht der Nachrichtendienste gesetzgeberischer Änderungsbedarf bestehe. 28 Gleiches gilt erst recht für §§ 5, 4 Abs. 1 MADG i.V.m. §§ 9 Abs. 1, 8 Abs. 2 BVerfSchG und für § 3 BNDG. 29 Vgl. zur Notwendigkeit spezieller Befugnisnormen auch Rux (Fn. 21), 288. 24
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2.3 Online-Durchsuchungen durch den Verfassungsschutz 2.3.1 Befugnisnorm Im Dezember 2006 wurde in das Verfassungsschutzgesetz NordrheinWestfalen 30 eine spezielle Regelung aufgenommen, mit der dem Verfassungsschutz Online-Durchsuchungen ermöglicht werden sollen. Nach § 5 Abs. 2 Nr. 11 VSG NRW kann der Verfassungsschutz zu unterschiedlichen Maßnahmen greifen: Er darf heimlich das Internet beobachten und sonstig aufklären, insbesondere an seinen Kommunikationseinrichtungen teilnehmen bzw. nach ihnen suchen.31 Weiter soll dem Verfassungsschutz der „heimliche Zugriff auf informationstechnische Systeme auch mit Einsatz technischer Mittel“ 32 zur Verfügung stehen. Die Entwurfsbegründung ist knapp gehalten, hält lediglich „eine wirksame Nachrichtenbeschaffung auch in diesem technischen Umfeld“ 33 für erforderlich und beschränkt sich auf die Erläuterung: „Hierzu soll zukünftig neben der Beobachtung der offenen Internetseiten auch die legendierte Teilnahme an Chats, Auktionen und Tauschbörsen, die Feststellung der Domaininhaber, die Überprüfung der Homepagezugriffe, das Auffinden verborgener Webseiten sowie der Zugriff auf gespeicherte Computerdaten ermöglicht werden.“34 Der heimliche Zugriff auf informationstechnische Systeme ist der Sache nach somit nichts anderes als staatliches „Hacking“, das Ausspähen von Rechnerfestplatten und das Begleiten oder Nachvollziehen von Informations- und Kommunikationsprozessen. Festplatten können heutzutage nicht nur gleichsam als „ausgelagertes Gehirn“35 bezeichnet werden, auf ihnen werden automatisch auch die bei der bloßen Nutzung des Rechners entstehenden Funktionsdaten protokolliert. 2.3.2 Erforderliche Differenzierungen Bei einer Online-Durchsuchung, also bei einem Besuch auf der Festplatte können Daten von höchst unterschiedlicher Qualität aufgefunden werden. Grob lässt sich zunächst danach differenzieren, ob die Daten einen Kommu30
Gesetz vom 20.12.2006, GV NRW S. 620. Diese Maßnahmen werfen ihre ganz eigenen Probleme auf, die aus Platzgründen nicht thematisiert werden können. Da die Maßnahmen jedoch unter Umständen auch der Identifizierung von Zielpersonen für Online-Durchsuchungen dienen können, sollten sie hier zumindest benannt werden. 32 § 5 Abs. 2 Nr. 11 Halbsatz 2 VSG NRW; in Nr. 11 Satz 2 wird die Zulässigkeit solcher Maßnahmen, soweit sie einen Eingriff in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis darstellen bzw. in Art und Schwere diesem gleichkommen, an das Vorliegen der Voraussetzungen des G 10 gebunden. 33 LT-Drs. 14/2211, S. 17. 34 LT-Drs. 14/2211, S. 17. 35 Mit diesem Vergleich wird der frühere Bundestagsvizepräsident Hirsch im Spiegel 6/2007, S. 18 zitiert. 31
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nikationsbezug besitzen. Das nicht zur Kenntnisnahme durch Dritte bestimmte, aber auf der Festplatte abgelegte Tagebuch hat ebenso wenig einen Kommunikationsbezug wie alle anderen selbst angelegten Dateien, für die die Festplatte bloßes Speichermedium ist. Solche Dateien sind den ausschließlich zur eigenen Kenntnisnahme bestimmten, mit Papier gefüllten Aktenordnern im Regal vergleichbar. Diejenigen Daten, die demgegenüber einen Kommunikationsbezug aufweisen, sind weiter auszudifferenzieren. Es kann sich dabei um Daten in laufenden Kommunikationsprozessen oder über laufende Kommunikationsprozesse handeln. Im Online-Betrieb kann dies das Absenden oder Empfangen von E-Mails betreffen, die Teilnahme an Internetforen, die Internettelefonie oder das bloße „Surfen“ im Netz. Auf der Festplatte finden sich dann aktuelle Informationen sowohl über die Inhalte der Kommunikation als auch über ihre näheren Umstände. Die Spuren davon, mit welchen Inhalten wann mit wem wie lange oder wie häufig kommuniziert wurde, oder welche Internetseiten besucht wurden, können auf der Festplatte letztlich denjenigen Daten entnommen werden, die ursprünglich aus stattgefundenen Kommunikationsprozessen stammen, also abgeschlossene Kommunikationsvorgänge betreffen. Als Paradebeispiel seien nur abgespeicherte E-Mails und Verbindungsdaten zu besuchten Internetseiten genannt. Die vom heimischen Rechner aus aktuell laufenden Kommunikationsprozesse stehen auf einer Stufe mit Telefonaten oder auch Gesprächen in einer Wohnung. Die Spuren abgeschlossener Kommunikationsvorgänge einschließlich deren Inhalte, können zwar nicht gänzlich, aber annähernd verglichen werden mit in der Wohnung befindlichen Briefen, Gesprächsprotokollen von Telefonaten oder auch Anruflisten. Für die Beurteilung der grundrechtlichen Relevanz von Online-Durchsuchungen spielt es eine Rolle, welche verschiedenen Funktionen der Rechner für die Person, die ihn nutzt, jeweils situationsabhängig besitzt. Der Rechner kann erstens bloßes Speichermedium für Daten sein, die keinesfalls für Kommunikationszwecke bestimmt sind. Er kann zweitens der aktuellen Kommunikation dienen. Und er kann drittens Speichermedium für Spuren abgeschlossener Kommunikationsvorgänge sein. In allen drei Fällen sind auch die bei der bloßen Nutzung des Rechners automatisch entstandenen Daten einzubeziehen. Hinzu kommt, dass zwar sicherlich kein Interesse am kompletten Inhalt einer Festplatte 36 besteht, sondern es nur um diejenigen Daten gehen kann, die im jeweiligen Zusammenhang für die Aufgabenerfüllung relevant erscheinen. Problematisch ist dabei aber, wie diese Daten gefunden werden sollen. Denn die Daten von Relevanz müssen erst einmal
36 Dies schon allein deshalb, weil bei der Übermittlung größerer Datenmengen das hohe Übertragungsvolumen zu leicht auffallen und damit die Heimlichkeit der Maßnahme gefährden könnte; darauf weist auch M. Gercke (Fn. 20) 247 Fn. 17 hin.
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aus dem Gesamtdatenbestand heraussortiert werden, was zwangsläufig auch – in mehr oder weniger großem Umfang – die Kenntnisnahme zwar „irrelevanter“, aber möglicherweise höchst sensibler Daten bedeuten kann. Den Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung sicherzustellen, ist auch hier zwingend erforderlich.37 2.3.3 Grundrechtsbetroffenheit Bei Online-Durchsuchungen heimischer Rechner liegt der Gedanke nahe, den grundrechtlichen Schutz der Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 Abs. 1 GG als Prüfungsmaßstab heranzuziehen. Soweit jedoch keine räumlichen Barrieren überwunden werden, sondern die spezifischen Besonderheiten eines durch Dritte vermittelten Kommunikationsvorgangs genutzt werden, ist Art. 10 Abs. 1 GG einschlägig.38 Die im Rahmen einer OnlineDurchsuchung wahrgenommenen aktuell laufenden Kommunikationsvorgänge unterstehen damit eindeutig vorrangig dem Schutz von Art. 10 Abs. 1 GG.39 Abgeschlossene Kommunikationsprozesse nehmen allerdings grundsätzlich nicht mehr am Schutz von Art. 10 Abs. 1 GG teil.40 Hier greift – je nach dem – der Schutz des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung alternativ oder kumulativ zum Grundrechtsschutz der Wohnung,41 wobei insbesondere im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung ein gleichsam „nachwirkender“ ergänzender Schutz von Art. 10 Abs. 1 GG zu berücksichtigen ist, eben weil die betreffenden Daten ursprünglich aus Kommunikationsprozessen stammen.42 Der Grundrechtsschutz der Wohnung stellt grundsätzlich wiederum eine Spezialregelung gegenüber dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar.43 Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bleibt aber neben Art. 13 Abs. 1 GG anwendbar, wenn sich die Schutzbereiche nur partiell überschneiden oder ein eigenständiger Freiheitsbereich mit festen Konturen entstanden ist.44 Für die Daten aus abgeschlossenen Kommunikationsprozessen wie für diejenigen Daten, denen
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Vgl. BVerfGE 109, 279 (313 f); 113, 348 (391 f). Siehe nur Hermes in: Dreier, Tübingen 2004, Rn 119 zu Art. 13 GG, Gornig in: v. Mangoldt/Klein/Starck, München 2005, Rn 49 zu Art. 13 GG. 39 Vgl. BVerfGE 115, 166 (187); auch gegenüber dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist Art. 10 Abs. 1 GG grundsätzlich lex specialis – vgl. nur BVerfGE 100, 313 (358), wenngleich die Maßgaben, die das Bundesverfassungsgericht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG entwickelt hat, grundsätzlich auf die spezielle Garantie in Art. 10 Abs. 1 GG übertragbar sind – vgl. BVerfGE 110, 33 (53). 40 Vgl. BVerfGE 115, 166 (183 ff). 41 Vgl. BVerfGE 115, 166 (187). 42 Vgl. BVerfGE 115, 166 (188 ff, 198). 43 Vgl. BVerfGE 51, 97 (105); 109, 279 (325 f); 113, 29 (45). 44 Vgl. BVerfGE 115, 166 (187). 38
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der heimische Rechner lediglich als Speichermedium dient, ist demnach zunächst Art. 13 Abs. 1 GG als Prüfungsmaßstab heranzuziehen und daneben das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu prüfen. 2.3.4 Laufende Kommunikationsprozesse Mit der Möglichkeit, auf die vom Rechner aus stattfindende laufende Kommunikation zuzugreifen, ist der Schutzbereich von Art. 10 Abs. 1 GG betroffen. Das Fernmeldegeheimnis schützt die unkörperliche Übermittlung von Informationen an individuelle Empfängerinnen und Empfänger mit Hilfe des Telekommunikationsverkehrs.45 Das Grundrecht ist entwicklungsoffen und umfasst nicht nur die bei Entstehung des Gesetzes bekannten Arten der Nachrichtenübertragung, sondern auch neuartige Übertragungstechniken, unabhängig von konkreten Übermittlungsarten und Ausdrucksformen.46 Für einen Schutz durch Art. 10 Abs. 1 GG genügt es, wenn die Möglichkeit besteht, dass auf einem fernmeldetechnischen Übermittlungsweg individuelle Kommunikationsvorgänge stattfinden.47 Somit erstreckt sich der Schutz auch auf jede elektronische Kommunikationsform durch das Internet,48 unabhängig vom Standort des Rechners oder eines sonstigen Zugangsgeräts. Das Fernmeldegeheimnis schützt sowohl den Inhalt als auch die näheren Umstände der Kommunikation.49 Die am Telekommunikationsverkehr Beteiligten sollen weitgehend so gestellt werden, wie sie bei einer Kommunikation unter Anwesenden stünden.50 Damit soll vermieden werden, dass der Meinungs- und Informationsaustausch mittels Telekommunikationsanlagen deswegen unterbleibt oder nach Form und Inhalt anders verläuft, weil die Beteiligten damit rechnen müssen, dass staatliche Stellen sich in die Kommunikation einschalten und Kenntnisse über die Kommunikationsbeziehungen oder Kommunikationsinhalte gewinnen.51 Staatliche Eingriffe in den Schutzbereich von Art. 10 Abs. 1 GG können grundsätzlich auch zu nachrichtendienstlichen Zwecken gerechtfertigt sein.52 45 Vgl. BVerfG vom 30.4.2007 – 2 BvR 2151/06, Absatz-Nr. 16 unter Verweis auf BVerfGE 67, 157 (172); 106, 28 (35 f); 115, 166 (182). 46 Vgl. BVerfGE 106, 28 (36); 115, 166 (182 f). 47 Gusy in: v. Mangoldt/Klein/Starck, München 2005, Rn 44 zu Art. 10 GG; Hermes in: Dreier, Tübingen 2004, Rn 39 zu Art. 10 GG. 48 So auch Jarass in: Jarass/Pieroth, München 2006, Rn 5 zu Art. 10 GG; Hömig in: Hömig (Hrsg.) Baden-Baden 2007, Rn 7 zu Art. 10 GG; Hermes (Fn. 47) Rn 40 zu Art. 10 GG. 49 St. Rspr., vgl. nur BVerfGE 85, 386 (396); 100, 313 (358); 106, 28 (37); 107, 299 (312 f); 110, 33 (53); 113, 348 (364 f); 115, 166 (183). 50 Vgl. BVerfGE 115, 166 (182). 51 St. Rspr., vgl. nur BVerfG vom 30.4.2007 – 2 BvR 2151/06, Absatz-Nr. 16 unter Verweis auf BVerfGE 100, 313 (359); 107, 299 (313). 52 Vgl. BVerfGE 100, 313.
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Das Mitlesen von E-Mail-Kommunikation, das Belauschen von mittels Internettelefonie geführten Gesprächen oder das Begleiten der Bewegungen einer Zielperson kann der Gesetzgeber dem Verfassungsschutz im Netz prinzipiell ebenso ermöglichen wie außerhalb des Netzes.53 Dabei müssen gesetzliche Eingriffsermächtigungen aber die Anforderungen des Bestimmtheitsgrundsatzes und des Gebots der Normenklarheit erfüllen.54 Dies soll unter anderem sicherstellen, dass die gesetzesausführende Verwaltung für ihr Verhalten steuernde und begrenzende Handlungsmaßstäbe vorfindet, was gerade bei heimlichen Überwachungsmaßnahmen von besonderer Bedeutung ist.55 Den insoweit bestehenden verfassungsrechtlichen Anforderungen dürfte die neue Regelung im nordrhein-westfälischen Verfassungsschutzgesetz nicht genügen. Zwar wird die Überwachung aktueller Kommunikationsvorgänge sich immer nach den Voraussetzungen des G 10 richten müssen, auf das die Bestimmung verweist, doch ist die Reichweite der Verweisung unklar. Es ist insbesondere nicht deutlich erkennbar, welchen Regeln der weitere Umgang mit den gewonnenen Daten folgen soll. Die Verwendung erlangter Informationen, Datenübermittlungen und Mitteilungen an Betroffene unterliegen nach dem G 10 teilweise durchaus anderen Regelungen als nach dem Verfassungsschutzgesetz NRW. Welche Bestimmungen einschlägig sind, ist damit für die Bürgerinnen und Bürger nicht einschätzbar. Es kommt hinzu, dass der Verfassungsschutz es sich nicht gleichsam aussuchen können darf, nach welchen Regeln er arbeitet. Beides ist verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar. Wie bei der akustischen Wohnraumüberwachung kann es auch bei der Überwachung von mit elektronischen Hilfsmitteln geführter, laufender Kommunikation Inhalte und Ausdrucksformen geben, die zum Kernbereich der privaten Lebensgestaltung 56 gehören und unter absolutem Schutz vor staatlicher Ausforschung stehen. Notwendige Regelungen über Vorkehrungen zum Schutz eben dieses Kernbereichs trifft das Gesetz ebenfalls nicht. 2.3.5 Speichermedium Soweit der heimische Rechner nicht Kommunikationszwecken, sondern als bloßes Speichermedium dient, ist als Prüfungsmaßstab zunächst der grundrechtliche Schutz der Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 Abs. 1 GG heranzuziehen, der als speziellere Grundrechtsnorm regelmäßig
53 Hier würde es zu weit führen, die von beachtlichen Argumenten getragene Kritik am ausufernden Ausbau der geheimdienstlichen Tätigkeiten zu erörtern. 54 Vgl. BVerfGE 110, 33 (52 ff); 113, 348 (375 ff). 55 Vgl. BVerfGE 110, 33 (54). 56 Vgl. BVerfGE 109, 279 (313 f); für das Erfordernis von Vorkehrungen im Bereich von Art. 10 Abs. 1 GG vgl. BVerfGE 113, 348 (391 f).
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Vorrang vor dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung hat.57 Erst wenn Daten betroffen sind, die Aufschluss über einen Kommunikationsvorgang geben können – wie z.B. Verkehrsdaten –, tritt Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG ausnahmsweise wegen seiner Ergänzungsfunktion zu Art. 10 Abs. 1 GG nicht hinter Art. 13 Abs. 1 GG zurück, so dass beide Grundrechte zu prüfen sind.58 Art. 13 Abs. 1 GG sichert das Recht, in der eigenen Wohnung als räumlicher Sphäre der Privatheit und als Mittelpunkt der menschlichen Existenz in Ruhe gelassen zu werden.59 Das Grundrecht enthält die Bestimmungsbefugnis über die physische Anwesenheit weiterer Personen und gewährleistet die Beherrschung von Informationen über die Vorgänge und Gegenstände in der Wohnung.60 Der Grundrechtsschutz besteht auch gegenüber dem Einsatz technischer Mittel zur Ausforschung von Lebensvorgängen innerhalb der Privatsphäre, wozu neben optischen oder akustischen auch alle sonstigen elektronischen Ausforschungsmittel zählen.61 Würde Art. 13 Abs. 1 GG den Schutz vor der Überwachung durch technische Hilfsmittel, auch bei ihrem Einsatz von außerhalb der Wohnung, nicht gewährleisten, so würde gar der Schutzzweck der Norm „vereitelt“.62 Eine Online-Durchsuchung ist zwar nicht unmittelbar auf die Raumüberwachung 63 gerichtet, doch werden mit ihr zwangsläufig auch Informationen über die Vorgänge in der Wohnung bekannt. Dies beginnt beim Betrieb des Rechners und reicht über die Nutzungsart (z.B. Arbeit in einer Datei, Surfen im Internet, E-MailVerkehr oder Internettelefonie) und über die Möglichkeit, Tastatureingaben und Mausbewegungen nachzuvollziehen bis hin zu den wahrnehmbaren Inhalten der jeweiligen oder auch schon abgeschlossenen Tätigkeiten. Es ist nicht auszuschließen, sondern vielmehr sehr wahrscheinlich, dass solcherart ausgeforschte Informationen in etlichen Fällen aussagekräftiger sein können als Ergebnisse akustischer Raumüberwachungen. Die Einwände, mit denen versucht wird, heimische Computer aus dem Schutzbereich von Art. 13 Abs. 1 GG auszunehmen, vermögen letztlich nicht 57 St. Rspr., vgl. BVerfGE 115, 166 (187) mwN; da Besucherinnen und Besucher nicht am Schutz von Art. 13 Abs. 1 GG teilhaben, können sie sich ausschließlich auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung berufen – BVerfGE 109, 279 (326). 58 So in BVerfGE 115, 166 (jeweils ab 187 und 196). 59 St. Rspr., vgl. nur BVerfGE 115, 166 (196 mwN). 60 Hermes (Fn. 38) Rn 12 zu Art. 13 Abs. 1 GG. 61 Berkemann AK-GG, Okt. 2001, Rn 59 zu Art. 13 GG benennt u.a. das Messen des Verbrauchs an Strom und Wasser; Gornig (Fn. 38) Rn 43 zu Art. 13 GG erwähnt das Ausspähen über Satellit. 62 So wörtlich in BVerfGE 109, 279 (309). 63 Es sei denn, die in etlichen Rechnermodellen bereits eingebauten Mikrofone oder Webcams würden aus der Ferne für Aufnahmen aktiviert – vgl. dazu Buermeyer (Fn. 22) 161 f – diese Variante eines großes Lausch- oder Spähangriffs steht hier jedoch nicht zur Diskussion.
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zu überzeugen. Eine Online-Durchsuchung ist nämlich gerade nicht mit einem „Blick durch das Fenster“ 64 vergleichbar, weil ihre Durchführung eines nicht unerheblichen technischen Aufwandes bedarf und ggf. sogar technische Zugangssperren und andere Schutzvorkehrungen überwunden oder umgangen werden müssen.65 Diese Umstände verkennt auch die Argumentation, wer an das Internet angeschlossen sei, öffne das eigene System selbst für einen Zugriff des Verfassungsschutzes und begebe sich damit regelmäßig aus der Privatsphäre heraus in die Sozialsphäre.66 Im Vergleich käme niemand auf die Idee, den Schutz durch Art. 13 Abs. 1 GG mit der Begründung zu verneinen, dass eine Wohnung mit Türen und Fenstern Öffnungen nach außen hat. Der Grundrechtsschutz kann nicht davon abhängen, ob ein Computer über einen Internetanschluss verfügt und deshalb potentiell von außen ausgespäht werden kann. Im Gegenteil: Aus welchem Grund soll ein heimischer Rechner nicht wie jeder andere in der Wohnung befindliche Gegenstand am Schutz durch Art. 13 Abs. 1 GG teilhaben können? Die auf der Festplatte gespeicherten Daten können nicht allein deshalb aus dem Schutzbereich ausgegrenzt werden, weil sie sich statt auf Papier im Schrank in elektronischer Form im Rechner befinden. Jede andere Sichtweise würde letztlich die sich stetig verändernden technischen Rahmenbedingungen ignorieren und den Grundrechtsschutz nur deshalb reduzieren, weil moderne Speichermedien genutzt werden. Eingriffe in den Schutzbereich von Art. 13 Abs. 1 GG müssen den in seinen übrigen Absätzen errichteten Schranken genügen. Online-Durchsuchungen passen allerdings nicht in diese Systematik. Bei dieser heimlichen Maßnahme wird die Wohnung nicht körperlich und offen betreten, so dass sie keine Durchsuchung im Sinne von Art. 13 Abs. 2 GG darstellt.67 OnlineDurchsuchungen durch den Verfassungsschutz dienen weder Strafverfolgungszwecken im Sinne von Art. 13 Abs. 3 GG noch der Eigensicherung ermittelnder Personen nach Art. 13 Abs. 5 GG oder der Abwehr der in Art. 13 Abs. 7 GG genannten Gefahren. Gesetzliche Aufgabe des Verfas-
64 So M. Gercke (Fn. 20) 250, der zu eng auf die Überwindung räumlicher Barrieren abstellt. 65 Wie hier auch Rux (Fn. 21) 292; einen Eingriff in den Schutzbereich bejahen ebenfalls z.B. B. Gercke in: Roggan/Kutscha (Hrsg.) Handbuch zum Recht der inneren Sicherheit, Berlin 2006, S. 169; Jahn/Kudlich (Fn. 21) 60; Bär (Fn. 26) 240; ders. MMR 2007, 175 (176); Huster Stellungnahme gegenüber dem Landtag NRW vom 16.10.2006, 14/0641, S. 4 und die Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer 4/2007, www.brak.de/BRAK-Intern/ Ausschüsse, S. 3. 66 Vgl. die Stellungnahme des Bundesamtes für Verfassungsschutz gegenüber dem Landtag NRW vom 16.10.2006, 14/0639, S. 6. 67 Zur Offenheit als Kennzeichen der Durchsuchung, vgl. Gornig (Fn. 38) Rn 65 zu Art. 13 GG; Hömig in: Hömig (Hrsg.) Baden-Baden 2007, Rn 7 zu Art. 13 GG; Bär (Fn. 66) 176.
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sungsschutzes ist nach § 3 Abs. 1 VSG NRW die Sammlung und Auswertung von Informationen. Ob Maßnahmen der präventiven technischen Überwachung im Sinne von Art. 13 Abs. 4 GG überhaupt durch den Verfassungsschutz ergriffen werden dürfen, kann bezweifelt werden. Wird dies verneint, bedürfte es für die Schaffung einer gesetzlichen Ermächtigung zur OnlineDurchsuchung zunächst einer Verfassungsänderung. Selbst wenn jedoch unterstellt wird, dass die technische Überwachung zur Gefahrenabwehr grundsätzlich auch durch den Verfassungsschutz vorgenommen werden dürfte, trägt § 5 Abs. 2 Nr. 11 VSG NRW den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht hinreichend Rechnung. Schon die Regelung des großen Lauschangriffs nach § 7 Abs. 2 VSG NRW ist mangels Bestimmungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung verfassungswidrig.68 Erst recht gilt dies für § 5 Abs. 2 Nr. 11 VSG NRW, der ebenfalls keine Vorkehrungen zum Schutz dieses Kernbereichs trifft, aber noch nicht einmal einen Vorbehalt richterlicher Entscheidung normiert, geschweige denn das Zitiergebot aus Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG in Bezug auf Art. 13 GG erfüllt.69 Sind außerhalb laufender Kommunikationsprozesse bei einer OnlineDurchsuchung Daten betroffen, die Aufschluss über einen Kommunikationsvorgang geben können, ist neben dem Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung in seinem Schutzbereich betroffen. Gleiches gilt, wenn sich der Rechner nicht in der heimischen Wohnung befindet und keine dem Schutz von Art. 10 Abs. 1 GG unterstehende Kommunikation stattfindet. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützt vor jeder Form der Erhebung personenbezogener Informationen einschließlich deren Speicherung, Verwendung und Weitergabe. Das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG gewährleistet insoweit die Befugnis, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung der Daten zur eigenen Person zu bestimmen.70 Im Schutzbereich befinden sich somit alle auf der Festplatte gespeicherten Daten, die einer bestimmten Person als personenbezogene Daten zugeordnet werden können. Die im Rahmen der Prüfung von Art. 10 Abs. 1 GG formulierten Bedenken hinsichtlich der Bestimmtheit und Normenklarheit 71 gelten grundsätzlich auch hier. Dabei wird davon ausgegangen, dass wegen der Eingriffsintensität der Maßnahme der Zugriff auf den Rechner nach § 5 Abs. 2 Nr. 11 Satz 2 VSG NRW immer an die Voraussetzungen des G 10 gebunden ist.
68 Dies nimmt ausweislich der Gesetzesbegründung selbst die Landesregierung NRW an, vgl. LT-Drs. 14/2211, S. 16. 69 Die verfassungsrechtlichen Probleme, die die Norm auch im Hinblick auf ihre Bestimmtheit und Verhältnismäßigkeit aufwirft, bedürfen danach hier keiner weiteren Erörterung. 70 St. Rspr. seit BVerfGE 65, 1 (43). 71 Oben 2.3.4.
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Unabhängig davon gilt zudem auch hier, dass Regelungen fehlen, die Vorkehrungen zum Schutz des Kernbereichs privater Lebensgestaltung treffen. Zudem dürfte es Personen mit technischem Sachverstand möglich sein, sich gegen Zugriffe wirksam zu schützen.72 Wenn die Maßnahme allerdings nur gegen „virtuelle Eierdiebe“73 zur Anwendung kommen könnte, wäre sie spätestens wegen fehlender Verhältnismäßigkeit verfassungswidrig.
3. Ausblick Gegen die Ermächtigungsnorm für Online-Durchsuchungen durch den Verfassungsschutz in Nordrhein-Westfalen sind Verfassungsbeschwerden in Karlsruhe anhängig. Das Bundesverfassungsgericht hat gerade in den letzten Jahren mehrfach mit Nachdruck dem Abbau grundrechtlicher Gewährleistungen entgegentreten müssen.74 Es bleibt zu hoffen, dass es auch die Verfassungswidrigkeit der nordrhein-westfälischen Befugnis zu OnlineDurchsuchungen feststellen wird. Sie ist ein Werkzeug im Baukasten eines Präventionsdenkens, dessen Logik zwangsläufig mit der Ausdehnung anlassund verdachtsloser Überwachung einhergeht. Aktueller denn je ist die Warnung, „dass die Guten im Begriff sind, sich unter einem Schleier staatlicher Totalüberwachung gemeinsam mit den Bösen einzurichten.“ 75
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Dazu ausführlich Buermeyer (Fn. 22). Buermeyer (Fn. 22) 165. 74 Neben der Entscheidung zur akustischen Wohnraumüberwachung (BVerfGE 109, 279) und zur Rasterfahndung (BVerfGE 115, 320) betraf dies insbesondere den Telekommunikationsbereich (z.B. BVerfGE 110, 33; 113, 348). 75 Hamm NJW 1998, 2407 (2409). 73
Beschlagnahme von Computerdaten und E-Mails beim Berater Rainer Spatscheck Die EDV durchdringt unser berufliches und privates Leben. Wenn man sich über neue Gesprächspartner vorinformieren möchte, braucht man keine Auskunftei und keinen Privatdetektiv mehr. Man „googelt“ einfach oder sieht sich die Homepage des zukünftigen Gegenüber im Internet an. Immer häufiger wird man von Mandanten mit dem Satz begrüßt: „Ich kenne Sie schon. Ihr Bild habe ich mir auf Ihrer Homepage angesehen.“ Ferner erfolgt der Informationsaustausch zwischen Mandant und Berater mehr und mehr elektronisch via E-Mail. Dass heute Stammdaten, Texte, Auswertungen etc. bei Beratern in deren EDV-Anlagen gespeichert werden, überrascht niemanden mehr. Deshalb ist es nur verständlich und bis zu einem bestimmten Grad auch zu tolerieren, dass die Ermittlungsbehörden ein großes Interesse an den in Beratungsbüros kompakt gespeicherten EDV-Daten, gleich welcher Art, hegen. Davor zu bewahren, dass sich dieser schmale Grat zwischen berechtigter Ermittlungshandlung und Übergriff in die berufliche bzw. private Geheimsphäre, die nicht nur den „Kernbereich“ umfassen darf, nicht zu Ungunsten der Betroffenen verschiebt, war stets ein Anliegen des Jubilars, dem dieser Beitrag gewidmet ist. I. EDV-Einsatz im Büro des Rechtsanwalts, Steuerberaters, Wirtschaftsprüfers und anderer Berater 1. Früher Die jüngeren Kollegen werden sich vielleicht schon nicht mehr daran erinnern. Vor noch ca. 15 Jahren bestand die technische Ausstattung eines klassischen Anwaltsbüros aus einem Telefon, einem Faxgerät, einem Diktiersystem mit „Bändchen“ und einer IBM Kugelkopf-Schreibmaschine. Die moderneren hatten schon eine Speicherschreibmaschine oder einen Schreibcomputer. Vernetzte Anwaltssoftware war noch wenig bekannt – die traditionelle Soldan-Hängeakte der Regelfall. Vor diesem Hintergrund war der Gegenstand von Durchsuchungs- und Beschlagnahmeaktionen der Ermittlungsbehörden im Berater-Büro eindeutig bestimmbar. Betroffen war die Akte des Mandanten X. Beschlagnahmefreie
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Beraterkorrespondenz etc. wurde ausgesondert 1 und alles andere, wie z.B. allgemeine Buchhaltungsunterlagen etc., beschlagnahmt und mitgenommen. Der einzige Fehler, den man als Berater machen konnte, war, Akten nicht eindeutig zu führen und z.B. beschlagnahmbare und beschlagnahmefreie Dokumente zu mischen, oder Unterlagen verschiedener Mandanten in einer Sammelablage zu halten und somit den Ermittlern mehr in die Hand zu geben als erforderlich. Das hat sich grundsätzlich geändert. 2. Heute Inzwischen ist eine Anwaltssozietät mit mehreren Berufsträgern ohne eine vernetzte Anwaltssoftware oder jedenfalls ein logisches, serverbasiertes Ablagesystem nicht mehr denkbar. Die moderne Software verwaltet Mandanten-Stammdaten, Word-Dateien, Behörden-, Gerichtsdetails und die übrigen gespeicherten Informationen regelmäßig als „Verbunddaten“. Hinter dieser Bezeichnung verbirgt sich der programmlogische Umstand, dass es nicht für jeden Mandanten einen Ordner gibt, in dem – für Ermittler nachvollziehbar – alle Daten ausschließlich für diesen Mandanten gespeichert sind. Vielmehr verfügen die Anwaltsprogramme z.B. über Adressspeicher, in denen die Kontaktdaten aller Mandanten, Gerichte, Behörden etc. gespeichert sind. Ferner werden die geschriebenen Schriftstücke ebenso in einem allgemeinen Korrespondenzordner gespeichert, wie Abrechnungsdaten zentral abgelegt werden. Beim Aufrufen eines konkreten Mandanten „verbindet“ das Anwaltsprogramm alle im Zusammenhang mit diesem verknüpften Daten von unterschiedlichen Speicherorten und stellt sie in einer Maske auf dem Bildschirm zusammen. Das beschriebene, für den Berater zu vermeidende Vermischen von Informationen über unterschiedliche Mandanten, wird heute im Normalfall mit der Anwaltssoftware unvermeidbar mitgeliefert.2 Mit der flächendeckenden Einführung schneller Internetzugänge (DSL/ UMTS/HSDPA) vollzog sich in Anwaltsbüros nochmals ein Quantensprung in der Datenverarbeitung und Speicherung. Seitdem HochgeschwindigkeitsDSL-Anschlüsse auch für kleinere Sozietäten zu Flatrates verfügbar sind, sind mehrere Standorte häufig so verbunden, dass die Daten zentral an einem Ort gespeichert werden. Die anderen Niederlassungen verfügen bei sich nur noch über Anwendungsprogramme, während die Daten selbst für jeden Anwendungsfall vom Zentralrechner über das Internet in einem verschlüsselten VPN-Tunnel (Virtual Private Network) angefordert und auf den Rechner des jeweiligen Benutzers übertragen werden. Dies geschieht sowohl
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Zur Abgrenzung vgl. Streck/Spatscheck Die Steuerfahndung, 4. Aufl. 2006, Rn 729 ff. Siehe unter Ziff. II., wie man dennoch damit umgehen kann.
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deutschlandweit als auch international. Die Arbeit mit nur einem Datenstamm lässt Probleme bei dem Abgleich der Datensätze verschiedener Standorte sowie Unsicherheiten bei der Datenspeicherung ausgelagerter PCs entfallen. Einen weiteren Schritt im Umgang mit vernetzten Computern bringt gerade die immer besser werdende Leitungskonstanz sowie die Leistungsfähigkeit von Servern mit sich. So ist es heute auch für kleinere Unternehmen oder Anwaltssozietäten möglich, zentral einen Terminalserver zu betreiben. Nur auf diesem Terminalserver laufen alle Anwendungsprogramme. Er allein hat Zugriff auf den zentralen Datenspeicher. Die Anwender selbst haben auf ihren Computern und Notebooks keine eigenen Daten mehr gespeichert. Dort laufen auch keine Anwendungsprogramme. Vielmehr werden ausschließlich die Bildschirmdaten vom Terminalserver hin zum Anwender und die Tastatur- bzw. Mausbefehle vom Anwender hin zum Terminalserver übertragen. Diese Anwendungsvariante benötigt nur noch einen Bruchteil der Leitungskapazität, die bei der Übertragung vollständiger Datensätze anfällt. Es ist somit auch völlig unerheblich, ob der jeweilige Anwender im gleichen Gebäude sitzt, in dem sich der Terminalserver befindet oder nur über eine VPN-Anbindung verfügt. Wegen der geringeren Menge übertragener Daten gibt es in der Performance keinen Unterschied. So ist es beispielsweise problemlos möglich, von unterwegs mit dem Notebook und einer UMTS-Verbindung auf dem Terminalserver zu arbeiten. Dies geht im Zusammenspiel mit Rechnern im In- und Ausland. Das Internet kennt keine Landesgrenzen. Diese Anwendungstechnik ist im ASP (Advanced Service Providing) perfektioniert. Hier kaufen die Anwender keine Programme mehr, sondern bekommen von einem Anbieter die Nutzungsmöglichkeit der auf den Rechnern des Anbieters laufenden Programme lediglich gegen Entgelt eingeräumt. Die DATEV e.G. bietet beispielsweise ihr Programm Phantasy für Anwälte als ASP-Lösung an. In diesem Fall laufen alle Programme (Phantasy, Word, Outlook etc.) auf den Rechenanlagen der DATEV e.G. in Nürnberg, wo auch die Daten gespeichert und gesichert werden. Der Benutzer selbst hat nur noch die Einwahldaten auf seinem Computer. Parallel hierzu hat sich die Kommunikation des Beraters mit seinen Mandanten, aber auch mit Behörden und Gerichten verändert. Ein reger E-MailKontakt zwischen Berater und Mandant ist heute normal.3 Nachfragen von Steuerfahndungsstellen und Staatsanwaltschaften kommen immer häufiger per E-Mail. In Umfangs-Strafverfahren gehen die Strafgerichte dazu über, die
3 Überraschend ist, dass trotz des Angebots von E-Mail-Verschlüsselungstechnik durch das Beratungsbüro Mandanten diese nicht annehmen. Ab und zu gibt es Nachfragen, welches Programm genau man anböte, akzeptiert wird es regelmäßig jedoch nicht.
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Kommunikation mit den Verteidigern weitestgehend per E-Mail abzuwickeln. Die Akteneinsicht wird alternativ in Papierform oder in eingescannter Form durch die Überlassung von CDs/DVDs gewährt. Letzteres hat den entscheidenden Vorteil, dass in den Hauptverhandlungsterminen alle Verfahrensbeteiligte, so sie über ein Notebook verfügen, alle Aktenstücke „auf Knopfdruck“ zur Verfügung haben,4 ohne vorher selbst umfangreiches Aktenmaterial einscannen zu müssen. Das hat dazu geführt, dass nicht nur in amerikanischen Gerichtsfilmen, sondern auch in deutschen Strafgerichtssälen das Gericht, die Staatsanwaltschaft und alle Verteidiger vor Notebooks sitzen,5 um Aussagen und verlesene Urkunden besser verfolgen zu können. Neben dem Informationsaustausch via E-Mail spielen Handy, SMS und – vor allem in Großbüros – der Blackberry eine immer größere Rolle im Berateralltag. Mittels der Blackberry-Technik, die inzwischen von mehreren Mobilfunkunternehmen unter eigenem Namen angeboten wird, findet eine permanente Synchronisation der Termine, Kontakte und E-Mails des mobilen Blackberrys mit dem Server des Anwaltsbüros statt. Ähnlich wie bei E-Mails hat der Anwender keinen Einfluss darauf, welche Wege die Daten im In- und Ausland nehmen. So ist gerade im Hinblick auf die BlackberryHersteller und -Betreiberfirma RIM bekannt, dass deren Zentralcomputer in Kanada steht und der gesamte Datenaustausch hierüber abgewickelt wird. Ob und wie dort die Beraterdaten dem Zugriff von Ermittlungsbehörden offenstehen, entscheidet sich nach kanadischem Recht, das der deutsche Berater kaum abschätzen kann. Während bei E-Mails nur die konkrete Nachricht mit deren Anhang übertragen wird, findet bei Blackberrys auch der Austausch hochsensibler Kalendereinträge und Kontaktinformationen statt, was der Berater beim Einsatz dieser Technologie wissen muss. Das technische Equipment des modernen Beratungsbüros wird durch ein digitales Diktiersystem abgerundet, bei dem die noch nicht geschriebenen, aber regelmäßig auch die bearbeiteten Diktate für einen Übergangszeitraum auf dem Büro-Server, z.B. als DSS-Dateien, gespeichert werden. Neben der Text-Datei (z.B. Word) auf dem Server und der ausgedruckten Version des Schriftstücks steht den Ermittlungsbehörden folglich zusätzlich noch die „Sprach-Version“ zur Verfügung. Der Ermittlungszugriff hierauf ist bislang nur wenig bekannt und praktiziert. 4
Je nach EDV-technischem Stand der Ermittlungsbehörden, werden immer häufiger die Schlussberichte „verlinkt“. D.h., wird im Bericht auf Beweismittel Bezug genommen, so können diese durch „Doppelklicken“ im Text aufgerufen und deren Inhalt überprüft werden. 5 Im Saal 1 des Landgerichts Stuttgart wird man gerne darüber informiert, dass dessen vorbildliche Ausstattung mit Steckdosen für Notebooks auch an den Verteidigerbänken auf den Einsatz des Jubilars zurückgeht. Dieser scheute sich nicht, als einer der Ersten das Notebook mit in die Hauptverhandlung zu nehmen und den Befürchtungen der hierin ungeübten Vorsitzenden zu entgegnen, man mache Computerspiele.
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Diese Vorgänge lassen sich mit der klassischen Vorstellung des Gesetzgebers von einer Durchsuchung und Beschlagnahme nur schwer erfassen. Die Rechtsprechung stößt an ihre Grenzen.
II. Durchsuchung und Beschlagnahme von EDV-Daten 1. Sache oder „was sonst“? Während zu Beginn des Einsatzes von Datenverarbeitungsanlagen unklar war, ob und wie diese durchsucht und beschlagnahmt werden dürfen, ist heute eindeutig geklärt: Eine verdeckte Online-Durchsuchung und eventuelle Sicherung von EDV-Daten ist mangels Ermächtigungsgrundlage unzulässig. Insbesondere § 102 StPO kann hierfür nicht herangezogen werden.6 Die Durchsuchung und Beschlagnahme von „Daten“ betrifft rein körperlich immer die Datenträger, auf denen die Daten gespeichert sind. Kommen also Datenträger, wie z.B. Festplatten, Disketten, CDs und DVDs oder Computerausdrucke als Beweismittel in Betracht, können sie als bewegliche Gegenstände beschlagnahmt werden.7 Die Fertigung von Kopien stellt insofern das mildere Mittel dar und geht der Beschlagnahme der gesamten Computeranlage z.B. eines Unternehmens vor.8 Ist es möglich, die Beweismitteleigenschaft im Vorfeld auf konkrete Dateien zu beschränken, muss die Beschlagnahmeanordnung dem entsprechen. Nur wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass sich verborgende oder verschlüsselte Daten auf einem Datenträger befinden, darf der entgegengesetzte Weg eingeschlagen werden, bei dem der Original-Datenträger beschlagnahmt wird, während dem Betroffenen zur Aufrechterhaltung des Geschäftsbetriebs eine oder mehrere Kopien überlassen werden.9 Das Argument, dass bei der bloßen Fertigung von Kopien für die Ermittlungsbehörden die Gefahr bestehe, Daten könnten unerkannt auf der zurückgelassenen Festplatte verbleiben, ist – nur – in diesem Fall nicht zu entkräften. Umstritten ist, was die Ermittlungsbehörden unternehmen dürfen, um sich über das EDV-System des Betroffenen zunächst einen Überblick zu verschaffen und anschließend beschlagnahmte Dateien zu sichten und auszuwerten. Inzwischen ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass die EDVAnlagen in Betrieb genommen werden dürfen, um überhaupt an die Daten 6
BGH StB 18/06 vom 31.1.2007, StV 2007, 115; aA noch z.B. Hofmann NStZ 2005, 121. Meyer-Goßner § 94 Rn 4; 2 BVerfG BvR 1027/02 vom 12.4.2005, BVerfGE 113, 29, mit dem Hinweis auf den neu eingefügten § 483 StPO, in dessen Rahmen der Gesetzgeber offensichtlich die moderne Datenverarbeitung akzeptiert. 8 BVerfG 2 BvR 372/01 vom 18.2.2003, NStZ-RR 2003, 176. 9 BVerfG 2 BvR 1027/02 vom 12.4.2005, StraFo 2005, 286; Spatscheck/Spatscheck PStR 2000, 188. 7
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zu gelangen.10 Sind Spezialprogramme erforderlich, um die Daten zu lesen, dürfen auch diese Programme auf der EDV-Anlage des Betroffenen beschlagnahmt werden.11 Die auf dem Speichermedium enthaltenen Daten stellen keine einheitliche Masse dar. Vielmehr sind bei der EDV-Beschlagnahme zwar als Beschlagnahmeobjekt z.B. der Server als Gegenstand, aber in einem zweiten Schritt noch differenzierter die auf dem Speichermedium einzeln enthaltenen Daten anzusehen.12 Auf dem Speichermedium ist zu unterscheiden zwischen den Anwendungsprogrammen, wie z.B. Word for Windows, und den hiermit erzeugten oder bearbeiteten Daten und Datenbanken, d.h. etwa der WordDatei (doc) oder einer SQL-Datenbank. In einem Strafverfahren können regelmäßig nur die Datenbanken als Beweismittel dienen. Dort sind die materiellen Informationen gespeichert, die für die Ermittlungsbehörden von Bedeutung sind. Einer Beschlagnahme hingegen nicht zugänglich sind die Anwendungsprogramme, mit denen die Daten erzeugt oder bearbeitet wurden. Sie haben keinen Beweismittelcharakter, sondern dienen nur der „Verwaltung“ der eigentlichen Beweismittel, nämlich der Daten.13 Von diesem Grundsatz sind nur zwei Ausnahmen anerkannt: Der Ablauf des Datenverarbeitungsprogramms wurde so manipuliert, dass diesem Umstand eine eigene Beweisrelevanz zukommt oder die Daten sind verschlüsselt abgespeichert worden, so dass man ohne das Anwendungsprogramm die Daten auch auf andere Weise nicht lesbar machen kann.14 Wird hiergegen verstoßen und beispielsweise eine Daten-Auswertung mit dem Anwendungsprogramm des Betroffenen durchgeführt, kann u.a. wegen Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ein Beweisverwertungsverbot bestehen. Einem solchen unterliegen unverhältnismäßige strafprozessuale Zwangsmaßnahmen regelmäßig. Die rechtlich geschützten Interessen des Beschuldigten überwiegen – vergleichbar mit einem Verstoß gegen Beschlagnahmeverbote i.S.d. § 97 StPO 15 – die Interessen des Staates an einer Tataufklärung. Das Lesen und Verarbeiten der Dateien geschieht auf der Grundlage des § 110 StPO. Die Norm war zum Zeitpunkt ihrer Entstehung, zu dem Computerdaten noch nicht von Bedeutung waren, dem Wortlaut nach nur für die 10
Meyer-Goßner § 102 Rn 10a. LG Trier v. 16.10.2003 – 5 Qs 133/03, NJW 2004, 869. 12 Unstr. seit BVerfG v. 12.4.2005 – 2 BvR 1027/02, NJW 2005, 1917; aA noch Kemper NStZ 2005, 538. 13 Schäfer in: Löwe/Rosenberg StPO, 25. Aufl. 2004, § 94 Rn 23; Spatscheck/Spatscheck PStR 2000, 188 (191 f). 14 LG Trier v. 16.10.2003 – 5 Qs 133/03, NJW 2004, 869 f; Meyer-Goßner StPO, 49. Aufl. 2006, § 94 Rn 4; Nack in: Karlsruher Kommentar StPO, 5. Aufl. 2003, § 110 Rn 2. 15 Hierzu Meyer-Goßner StPO, aaO, § 97 Rn 46. 11
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„Durchsicht von Papieren“ konzipiert, wird jedoch auf Computerdaten analog angewandt.16 Als Konsequenz hieraus ist vom betroffenen Berater stets darauf zu achten, dass nur die in § 110 Abs. 1 StPO bezeichneten Personen die Durchsicht vornehmen. In der Praxis ist festzustellen, dass die Anwendung dieser Norm auf die „Durchsicht von EDV-Daten“ Probleme mit sich bringt, wenn die Datenspeicherung nicht vor Ort, z.B. auf einer Festplatte, sondern „dislokal“, z.B. auf einem Terminalserver oder einem sonstigen Speichermedium, gegebenenfalls viele hundert Kilometer entfernt erfolgt. Dies ist insbesondere bei der oben beschriebenen Anwendung von Terminalservern oder dem Einsatz von ASP der Fall, wo sich auf dem Computer vor Ort, d.h. im eigentlichen Durchsuchungsobjekt, keine gespeicherten Daten befinden. Lediglich die Zugangsmöglichkeit hierzu ist auf dem „durchsuchten“ Computer angelegt. Da die Ermittlungsbehörden nach derzeitiger Rechtssituation diesen Zugang zur heimlichen Durchsicht der an einem anderen Ort gespeicherten Daten nicht benutzen dürfen,17 wird in einem aktuellen Gesetzesvorschlag 18 versucht, Abhilfe zu schaffen. Es soll ein § 110 Abs. 3 StPO eingeführt werden, der die Durchsichtmöglichkeit elektronischer Speichermedien auf „räumlich getrennte Speichermedien, auf die der Betroffene den Zugriff zu gewähren berechtigt ist“ ausweitet und gleichzeitig eine Download- und Speichermöglichkeit einräumt. In seiner Weite geht dieser Vorschlag deutlich über das hinaus, was nach Art. 19 Abs. 2 des Übereinkommens über Computerkriminalität (Cybercrime-Convention des Europarats) von Deutschland umgesetzt werden muss. Nach dem aktuellen Vorschlag enthält die Norm keinerlei Begrenzung auf für das Verfahren relevante Daten oder solche des Betroffenen. Allein schon deshalb ist sie mangels Bestimmtheit als verfassungswidrig anzusehen.19 Das Bedürfnis der Ermittlungsbehörden, dem technischen Fortschritt entsprechend Zugriffsmöglichkeiten auf dislozierte Datenträger zu erhalten, ist grundsätzlich zu respektieren. Wegen der erheblichen Eingriffsintensität ist hierzu jedoch eine eindeutige Regelung direkt in §§ 102 ff StPO erforderlich; ein „Anhängsel“ an § 110 StPO reicht hingegen nicht aus. Bis zur Einführung einer eigenen, neuen Ermächtigungsgrundlage sind die Ermittlungsbehörden darauf verwiesen, eine selbständige Durchsuchung und Beschlagnahme mit allen formalen Erfordernissen am Ort der tatsächlichen Datenspeicherung durchzuführen. 16
Park Handbuch Durchsuchung und Beschlagnahme, 2002, Rn 223. S. BGH 3 StB 18/06, aaO; ebenso Bär Handbuch zur EDV-Beweissicherung im Strafverfahren, 2007, Rn 369; str. 18 Referentenentwurf für ein „Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und andere verdeckte Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie 2006/24/EG“ (Stand bei Drucklegung: Gesetzesentwurf der Bundesregierung 18.4.2007). 19 Ausführlich: Stellungnahme des DAV-Strafrechtsausschusses hierzu unter www. anwaltverein.de. 17
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2. Beim Berater Besonderheiten gelten bei der sensiblen Beschlagnahme von EDV-Daten bei Berufsgeheimnisträgern, wie z.B. in Steuerberater-, Wirtschaftsprüferoder Rechtsanwaltsbüros. Im Rahmen eines Verfahrens hat sich das BVerfG 20 grundsätzlich und ausführlich mit der Frage der EDV-Beschlagnahme befasst.21 Es hatte über den Fall einer räumlich und persönlich mit einer Steuerberatungsgesellschaft verflochtenen Rechtsanwaltskanzlei zu entscheiden. Gegen einen der Sozien bzw. Gesellschafter, einen Rechtsanwalt und Steuerberater, lief ein Ermittlungsverfahren, in welchem dem Berater vorgeworfen wurde, zugunsten von Mandanten an Steuerhinterziehungen mitgewirkt zu haben. Im Rahmen der gegen den Berater in den Kanzleiräumen durchgeführten Durchsuchung der Staatsanwaltschaft wurde im Ergebnis der gesamte Datenbestand der beiden Beratungsgesellschaften, der vor allem Informationen über Mandanten enthielt, die mit dem Ermittlungsverfahren nichts zu tun hatten, beschlagnahmt. Hiergegen wurde von den Beratern Verfassungsbeschwerde erhoben. Sehr deutlich stellte das BVerfG einen Eingriff in Grundrechtspositionen fest. Jedenfalls ist das Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) der nicht vom Ermittlungsverfahren betroffenen, quasi nur zufällig beteiligten Mandanten, betroffen. In einer Vielzahl von Fällen werden so personenbezogene Daten unberechtigt von den Behörden gespeichert und ausgewertet. Ferner ist das Recht auf ein rechtsstaatliches faires Verfahren, Art. 2 Abs. 1 GG, betroffen. Der Zugriff auf den gesamten Datenbestand einer Rechtsanwaltssozietät und einer Steuerberatungsgesellschaft beeinträchtigt wegen des Umfangs in schwerwiegender Weise das für das jeweilige Mandatsverhältnis vorausgesetzte und rechtlich geschützte Vertrauensverhältnis zwischen den Mandanten und den für sie tätigen Berufsträgern. Rechtsanwalt und Steuerberater sind Organe der Rechtspflege. Um dieser Position gerecht zu werden, muss das Vertrauensverhältnis gewährleistet sein. Eine „freie Advokatur“ genießt Grundrechtsschutz. Soweit Eingriffe in die grundrechtlich geschützten Positionen auf der Grundlage von § 94 StPO und der hiermit verbundenen Zweckbestimmung zulässig sind, muss die jeweilige Zwangsmaßnahme im Einzelfall am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und insbesondere am Übermaßverbot gemessen werden. Nur so kann verhindert werden, dass die Ermittlungsbehörden Durchsuchung und Beschlagnahme zum verbotenen Suchen nach „Zufallsfunden“, § 108 StPO, missbrauchen. Im Einzelnen: 20 21
Vom 12.4.2005 – 2 BvR 1027/02, NJW 2005, 1917. Vgl. Spatscheck AnwBl. 2005, 566.
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– Ein dauerhafter Zugriff auf den Gesamtdatenbestand ist dann nicht erforderlich, wenn auch nur so die beweiserheblichen Daten sichergestellt werden können. – Die Möglichkeit einer Trennung der potenziell erheblichen von den restlichen Daten ist intensiv zu überprüfen. Als technische Umsetzung kommt die Erstellung einer Kopie in Betracht, aus der die für das Verfahren irrelevanten Daten herausgelöscht werden. – Der Zugriff kann durch die Möglichkeit der materiellen Datenzuordnung im Rahmen einer Datenstruktur begrenzt werden. Gegebenenfalls sind Suchbegriffe oder Suchprogramme einzusetzen. – Die Prüfung der Verfahrensrelevanz ist im Rahmen einer „vorläufigen Sicherstellung“ des Datenträgers vorzunehmen. Dieses Verfahrensstadium der „Durchsicht“, § 110 StPO, soll intensiv genutzt werden, um nur die verfahrensrelevanten und verwertbaren Daten letztlich einer Beschlagnahme zuzuführen. – Von technischer Seite wird häufig vorgetragen, eine Beschlagnahme des Datenträgers sei insgesamt erforderlich, um verborgene oder verschleierte Dateien später sichtbar machen zu können. Dieses Argument gilt nicht ungeprüft und allgemein. Nur wenn im Einzelfall diese Gefahr vorgetragen wird, ist das Übermaßverbot nicht verletzt. – Eine Beschlagnahme des gesamten Datenbestands ist hingegen zulässig, wenn eine materielle Zuordnung der Daten nach Mandanten, Verfahren etc. aufgrund der Struktur des Datenbestands nicht möglich ist. Praxiskenntnis zeigt das BVerfG, indem es zumindest bei schwerwiegenden, bewussten oder willkürlichen Verfahrensverstößen ein Beweisverwertungsverbot als Folge einer fehlerhaften Durchsuchung und Beschlagnahme von Datenträgern und der darauf vorhandenen Daten für geboten hält. Nur zu häufig neigen Ermittlungsbehörden dazu, im Eifer der Datensuche großzügig mit Beschlagnahmen umzugehen. Das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung bzw. Effektuierung des Vertrauensverhältnisses im Mandat kann nur gesichert werden, wenn von Anfang an klar ist, dass unberechtigt erhobene Daten später nicht zu Beweiszwecken herangezogen werden dürfen.22 Der Beschluss des BVerfG gibt den Beratern Anlass, die in der eigenen Kanzlei vorhandene Datenstruktur auf Trennbarkeit, Zuordenbarkeit und Eindeutigkeit hin zu überprüfen. Problematisch ist dieses Postulat des BVerfG, da moderne EDV-Systeme mit „Verbunddaten“ 23 arbeiten. In Datenbanken sind Informationen in unterschiedlichen Feldern abgelegt, z.B. alle personenbezogenen Daten in einer Oracle-Datenbank. Textdateien oder 22 23
Spatscheck AnwBl. 2005, 566 (567). S. hierzu Ziff. I.
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ähnliche Daten werden in Sammelordnern gespeichert und lediglich mit den Stammdaten verknüpft. Auf diese Weise ist eine Trennung, z.B. nach Ordnern, nicht möglich. Als einzige Lösung kommt in Betracht, die Programme mit Selektions- und Export-Funktionen zu versehen, die z.B. alle für den Mandanten X in Betracht kommenden Daten auf einen externen Datenträger kopieren. Ist keine Absonderung möglich, riskiert der Berater, dass z.B. sein gesamtes Sicherungsband mit Daten betreffend alle Mandanten beschlagnahmt wird, was Schadensersatzansprüche nach sich ziehen kann. Durch die Verwendung von Terminalservern oder die Anwendung von ASP 24 ergibt sich für die Berater nichts anderes. Auch insofern ist auf eine eindeutige Speicherung oder Exportmöglichkeit zu achten. So die nicht in den Kanzleiräumen vorhandenen Daten am Ort ihrer Speicherung, also z.B. bei der DATEV e.G. durchgesehen und beschlagnahmt werden, gelten die beschriebenen Beschlagnahmeeinschränkungen des BVerfG. 3. Beim EDV-Berater als Berufshelfer? § 53a StPO dehnt das Aussageverweigerungsrecht auf sog. Berufshelfer aus. Gehilfen und Auszubildenden der Berufsgeheimnisträger steht das Aussageverweigerungsrecht zu. Hierzu zählen alle Mitarbeiter, Angestellte und zur Ausbildung befindlichen Personen der Beratungspraxis.25 Berufshelfer sind nicht nur diejenigen, die berufsmäßig in das Beratungsverhältnis eingeschaltet sind, sondern auch sonstige Gehilfen. Auf das Aussageverweigerungsrecht kann sich die Ehefrau des Beraters berufen, die gelegentlich Telefongespräche entgegennimmt, ebenso die Kinder oder Eltern des Beraters, die kurzfristig an der Beratungstätigkeit durch Hilfsdienste teilnehmen.26 Voraussetzung ist, dass ein Zusammenhang zwischen der Hilfstätigkeit und der Beratungstätigkeit besteht.27 Während Anwalts-Großbüros häufig schon über eine eigene EDV-Abteilung verfügen, bedienen sich kleinere und mittlere Kanzleien häufig der Unterstützung von EDV-Systemhäusern. Deren Aufgabe ist die Wartung aller Hardware sowie die Installation, Unterhaltung und das regelmäßige Updaten aller Software. Es liegt in der Natur der Sache, dass gerade bei diesen EDV-Spezialisten Kenntnisse über alle Speicherstrukturen und Passwörter sowie teilweise Sicherungskopien vorhanden sind oder der Berater über einen Online-Service-Zugriff auf die Computeranlage verfügt. Bei der Anwendung von ASP, z.B. phantasy der DATEV e.G., sind sogar alle Daten 24
Zu den Begriffen s. Ziff. I. Vgl. Dahs in: Löwe/Rosenberg § 53a Rn 2, 5. 26 Meyer-Goßner § 53a Rn 2; Dahs in: Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Aufl., 1999, § 53a Rn 2. 27 Dahs in: Löwe/Rosenberg, StPO, § 53a Rn 2. 25
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und Programme auf den EDV-Anlagen der DATEV, als „Dritter“ gespeichert. Handelt es sich bei den EDV-Experten um „Berufshelfer“ des Beraters oder kann durch Ermittlungsmaßnahmen bei diesen das Beraterprivileg umgangen werden? Zu Recht werden in der Literatur nur selten EDV-Experten allgemein als Berufshelfer angesehen.28 Vielmehr ist zu differenzieren: Für den Fall, dass selbständige Gewerbetreibende aufgrund von Einzelaufträgen für den Berufsträger tätig werden, ist § 53a StPO nicht anwendbar. Hierunter ist z.B. der Detektiv zu fassen. Hier fehlt es an der Eingliederung in die Organisation des Berufsträgers und die hiermit zusammenhängende Stellung als Wissensträger. Hingegen ist derjenige, der aufgrund eines Dauervertragsverhältnisses für seinen Kunden oder z.B. für seinen DATEV-Genossen tätig wird, als Berufshelfer anzusehen.29 Da EDV-Systemhäuser und Organisationen wie z.B. die DATEV lediglich die – dauerhafte – Auslagerung von Abteilungen von Beratungskanzleien darstellen, sind diese und alle dort tätigen Mitarbeiter Berufshelfer der Berater i.S.v. § 53a StPO. Ferner zeigt die für Ärzte geltende Regelung in § 97 Abs. 2 Satz 2 StPO, nach der das Beschlagnahmeverbot auch für – hier vergleichbare – ärztliche Abrechnungsstellen gilt, dass der Gesetzgeber das permanente Outsourcing von Hilfstätigkeiten als eine die Beschlagnahmefreiheit nicht tangierende Gestaltungsmöglichkeit ansieht. Da diese Rechtsansicht bislang noch nicht höchstrichterlich bestätigt ist, sollte der EDV-Anbieter des Beraters jedenfalls keine Datensicherungen, Passwort-Listen etc. aus dem räumlichen Bereich des „sicheren“ Beratungsbüros in seine eigenen Räume verbringen. Die Subunternehmer des EDVDienstleisters, wie z.B. das Sicherheitsunternehmen, das Festplatten abholt und einschmilzt, teilen das rechtliche Schicksal des EDV-Dienstleisters. Wird der Berufshelfer von Ermittlungsbehörden zur Mitarbeit aufgefordert, erklärt nicht der Beschuldigte selbst die Freigabe. Die Entscheidung darüber, ob dieser Aufforderung nachgekommen wird, liegt in der Hand des Beraters. Verweigert dieser die Freigabe, ist der nachfolgende Streit um die Herausgabepflicht mit ihm zu führen.30
III. Durchsuchung, Beschlagnahme und „Abhören“ von E-Mails Die E-Mail löst den Brief und das Fax immer mehr ab. Vor diesem Hintergrund hat die Überwachung des E-Mail-Verkehrs für die Ermittlungsbehörden stark wachsende Bedeutung. Da Mails häufig nicht automatisch völlig 28
Tipke in: Tipke/Kruse, § 102 Rn 13 (Mrz. 2004); Dahs in: Löwe/Rosenberg, StPO, 25. Aufl. 1999, § 53a, Rn 5. Von den Autoren wird das Problem nicht differenziert erkannt. 29 Meyer-Goßner § 53a Rn 2. 30 Vgl. hierzu Streck/Mack Stbg. 1988, 82; dazu sodann Sebiger Stbg. 1988, 164.
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gelöscht, sondern z.B. bei Outlook in dem Ordner „gelöschte Objekte“ noch jahrelang archiviert werden, unterfallen häufig tausende von Mails dem Fahndungszugriff.31 Die Überwachung der E-Mail-Kommunikation ist in der StPO nicht ausdrücklich geregelt. Aus diesem Grund ist eine exakte rechtliche Beurteilung des Zugriffs bei den einzelnen Sende- und Abrufvorgängen zuweilen schwierig. Ferner existiert selbst in der Rechtsprechung keine einheitliche Einordnung der zur Verfügung stehenden Eingriffsmaßnahmen. Die E-Mail-Kommunikation ist, entgegen der Ansicht des LG Hanau,32 in verschiedene Phasen aufzuteilen. Denn, wie zu zeigen sein wird, ist es entscheidend für die Beurteilung der jeweiligen Maßnahme, wo sich die E-Mail zum Zeitpunkt des Zugriffs befindet. Es können folgende Phasen unterschieden werden: In einer ersten Phase sendet der Absender der E-Mail diese über seinen Zugangsprovider in dessen Netz an die Mailbox des Empfängers. In einer zweiten Phase „ruht“ die dort angekommene Nachricht auf dem MailboxSystem des Netzbetreibers des Empfängers. Die dritte Phase kennzeichnet den Abruf der E-Mail durch den eigentlichen Empfänger der Nachricht, indem dieser über seinen Zugangsprovider die E-Mail von dem Speichermedium des Mailbox-Betreibers abruft. In der weiteren Phase ist die E-Mail auf dem Computer des Empfängers, sei es auf der Festplatte oder einem anderen Speichermedium, auf das er Zugriff hat, als gespeicherte Datei vorhanden. MAILBOX DES EMPFÄNGERS BEI SEINEM NETZBETREIBER
▼
EMPFÄNGER ▼
ABSENDER
Phase 2
Phase 3
▼
„Ruhen“ auf Mailbox des Empfängers
Abrufvorgang durch den Netzbetreiber des Empfängers
▼
Phase 1
▼
▼
Sendevorgang durch den Netzbetreiberdes Absenders
Existenz auf Speichermedium im Zugriff des Empfängers Phase 4
31 S. auch: Streck/Spatscheck Die Steuerfahndung, 4. Aufl. 2006, Rn 443 ff, Spatscheck/ Schmidt PStR 2005, 288. 32 Beschluss v. 23.9.1999 – 3 Qs 149/99, NJW 1999, 3647.
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1. Phasen 1 und 3 Für die Überwachung in den Phasen 1 und 3, also beim jeweiligen Datentransfer zu bzw. weg von der Mailbox des Empfängers, gelten die Regeln der Telefonüberwachung in §§ 100a und 100b StPO.33 Dies ist weitgehend unstreitig.34 Bedenken hinsichtlich dieses Ergebnisses könnten lediglich insoweit bestehen, als sämtliche, den Betreibern von Telekommunikationsnetzen zur Übermittlung anvertrauten Kommunikationsvorgänge und -inhalte dem Schutz des Art. 10 Abs. 1 GG unterfallen 35 und die Kommunikation per E-Mail nicht ausdrücklich von § 100a StPO bezeichnet wird. Nach absolut herrschender Ansicht lässt § 100a StPO die Überwachung des Fernmeldeverkehrs jedoch nicht nur in den herkömmlichen Formen des Telefonierens und Fernschreibens, sondern in jeglicher Art der Nachrichtenübermittlung zu.36 Bereits 1997 hat das BVerfG 37 darauf hingewiesen, dass auch neue Formen der Nachrichtenübermittlung als Betrieb von Fernmeldeanlagen i.S.d. damaligen § 1 Abs. 1 Fernmeldeanlagengesetz (FAG) anzusehen waren; der Begriff der Fernmeldeanlage sei vom Gesetzgeber bewusst für neue, seinerzeit noch nicht bekannte Techniken der Nachrichtenübertragung offen gehalten worden. Gleiches muss auch für § 3 Nr. 16 TKG gelten, in dem es heißt, dass Telekommunikation der technische Vorgang des Aussendens, Übermittelns und Empfangens von Nachrichten jeglicher Art in der Form von Zeichen, Sprache, Bildern oder Tönen mittels Telekommunikationsanlagen ist. Es kann demzufolge kein Zweifel daran bestehen, dass E-Mails dem Telekommunikationsbegriff des § 100a StPO unterfallen. Daraus folgt, dass für die Überwachung und Aufzeichnung der Nachrichtenübermittlung bei den jeweiligen Datentransfers hin bzw. weg von der Mailbox des Empfängers eine Überwachung nur in den engen Grenzen der §§ 100a und 100b StPO stattfinden kann. Der eigentliche Absende- und Abrufvorgang einer E-Mail stellt demzufolge rechtstechnisch nichts anderes als die Kommunikation per Telefon dar. Bei Eingriffen in diese Art der Kommunikation werden, da es sich um eine Einschränkung des Grundrechts aus Art. 10 Abs. 1 GG handelt, strenge Anforderungen gestellt. Dies wird deutlich an dem eng umgrenzten Katalog schwerwiegender Straftaten, wegen der eine solche Überwachung angeordnet werden darf. 33
Nack in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 5. Aufl. 2003, § 100a, Rn 7 aE. Meyer-Goßner StPO, 49. Aufl. 2006, § 100a Rn 2; BGH-Beschluss v. 31.7.1995 – 2 BJs 94/94-6 u.a., NJW 1997, 1934; Palm/Roy NJW 1996, 1791 (1793). 35 BVerfG-Beschluss v. 20.6.1984 – 1 BvR 1494/78, NJW 1985, 121 ff; Beschluss v. 25.3.1992 – 1 BvR 1430/88, NJW 1992, 1875 ff; Urteil v. 14.7.1999 – 1 BvR 2226/94, NJW 2000, 55 ff. 36 BGH-Beschluss v. 31.7.1995, aaO; Nack aaO, § 100a Rn 6 aE; Meyer-Goßner § 100a Rn 2. 37 Vom 12.10.1977 – 1 BvR 216/76, 1 BvR 217/75, BVerfGE 46, 120 (142 f). 34
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2. Phase 2 Die rechtliche Beurteilung der „ruhenden“ E-Mails in der zweiten Phase, also beim Stillstand auf der Mailbox des Netzbetreibers des Empfängers der Nachricht, ist umstritten. Der Praxisfall könnte so sein: Den Ermittlern ist bekannt, dass der wegen gewerbsmäßiger Steuerhinterziehung verdächtige B regen Austausch per E-Mail mit anderen Personen pflegt, um geeignete Methoden für Umsatzsteuerkarusselle zu besprechen. Der Staatsanwalt hat konkrete Anhaltspunkte dafür, dass sich B nach dem nächsten „Deal“ ins Ausland absetzen wird und beschlagnahmt daraufhin wegen Gefahr im Verzug bei dem inländischen Netzbetreiber des B dessen E-Mail-Account mit sämtlichen E-Mails. Die Beschlagnahme wird am übernächsten Tag von einem Richter am Amtsgericht bestätigt. Für die zweite Phase wird zum Teil die Beschlagnahmevorschrift § 94 StPO angewandt.38 Begründet wird dies damit, dass die Überwachungsvorschriften der StPO von der technischen Entwicklung überholt worden seien und dass keine der in Betracht kommenden Vorschriften – weder § 94 noch § 100a StPO – ausdrücklich passt. Die Nachricht sei zwar beim Empfänger noch nicht angekommen, liege aber beim Provider – der quasi Empfangsbote des Empfängers sei – zum jederzeitigen Abruf bereit. Demnach würden die Nachrichten wegen der Empfangsboten-Überlegung – ähnlich wie der Brief, der im Fach eines Hotelgastes zur Abholung bereitliege – der einfachen Beschlagnahme nach § 94 StPO unterliegen. Ein anderer Erklärungsansatz liegt darin, den eigentlichen – besonders schützenswerten – Kommunikationsvorgang mit der Übermittlung durch das Eintreffen der Nachricht auf dem Speichermedium des Mailbox-Betreibers als beendet anzusehen.39 Darüber hinaus führte das LG Ravensburg (aaO) aus, eine E-Mail unterfalle nicht dem Schutz des § 100a StPO, weil es sich hierbei nicht um einen Kommunikationsvorgang im Sinne gesprochener Worte handele, sondern um eine Vereinfachung des Schriftverkehrs. Statt schriftlicher Post liege elektronische Post vor. Nutzer der E-Mail-Technik sparten Porto und verkürzten in der Regel den Postweg. Daher sei die E-Mail-Technik mit der Informationsübermittlung des traditionellen Postverkehrs vergleichbar und entspräche nicht der Informationsübermittlung via Fernsprecher. Insofern zieht das LG Ravensburg die Überlegung des § 99 StPO in die Entscheidungsfindung mit ein. Da für eine Postbeschlagnahme keine Katalogstraftat
38 LG Ravensburg, Beschluss v. 9.12.2002 – 2 Qs 153/02, NStZ 2003, 325; Nack aaO, § 100a, Rn 8. 39 So Jäger Anmerkung zum Beschluss des LG Mannheim v. 30.11.2001 – 22 KLs 628 Js 15705/00, StV 2002, 243 als Kritik an der von Lesch Strafprozessrecht, 2. Aufl. 2001, 3/105 vertretenen Auffassung, der Kommunikationsvorgang sei nicht zerlegbar.
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i.S.d. § 100a StPO erforderlich sei, dürfe dies auch nicht bei der Beschlagnahme von E-Mails gelten. Mangels ausdrücklicher gesetzlicher Regelung der Beschlagnahme nicht verkörperter Gegenstände in den §§ 94, 98 StPO komme allerdings nur eine analoge Anwendung der Vorschriften in Betracht. Das LG Hanau 40 vermag den Übermittlungsvorgang vom Absenden der Nachricht bis zum Ankommen im Speicher des Mailbox-Betreibers, das „Ruhen“ der Nachricht auf dem Speichermedium des Mailbox-Betreibers und das Abrufen der Nachricht durch den Empfänger vom Netzzugang des Mailbox-Betreibers bis zum Netzzugang des Empfängers rechtlich nicht in unterschiedliche Phasen aufzuteilen. Deswegen sei das „Ruhen“ der Nachricht auf dem Speichermedium des Mailbox-Betreibers begrifflich nicht mehr als Übermittlung anzusehen. Sämtliche, den Betreibern von Telekommunikationsnetzen zur Übermittlung anvertraute Kommunikationsvorgänge und -inhalte würden den Schutz des Art. 10 Abs. 1 GG genießen. Dieser Schutz könne nicht zufällig davon abhängen, zu welchem Zeitpunkt der Empfänger einer Nachricht diese vom Speichermedium des Mailbox-Betreibers abrufe. Der gesetzliche Schutz des Fernmeldegeheimnisses ende erst dann, wenn die Nachricht bei dem Empfänger angekommen sei. Dies sei bei E-Mails der Fall, wenn sie am PC des Empfängers zur Entgegennahme zur Verfügung stehe. Bedinge diese Entgegennahme noch die Übermittlung vom Speicher des Mailbox-Betreibers zum Empfänger-PC, so sei sie vorher noch nicht beim Empfänger angekommen. Eine Aufspaltung des komplizierten Übermittlungsvorgangs würde dem Schutz des Fernmeldegeheimnisses zuwiderlaufen. Der Ansicht, den gesamten Vorgang als einheitliche Informationsübermittlung anzusehen und dem Schutz des § 100a StPO zu unterstellen, folgen weite Teile in Literatur und Rechtsprechung.41 Diesem Schutz würden alle Eingriffe in das von Art. 10 Abs. 1 GG geschützte Fernmeldegeheimnis unterfallen, da § 100a StPO die im Rahmen der strafprozessualen Befugnisse zulässigen Eingriffe abschließend regele. Das Fernmeldegeheimnis schütze die Vertraulichkeit jeder Form der Übermittlung von Informationen unter Raumüberwindung in nicht-körperlicher Weise mittels technischer Einrichtungen 42 und umfasse somit auch die Übermittlung von Informationen per E-Mail. Das bloße Ruhen der Nachricht stelle noch keinen Abschluss des Kommunikationsvorgangs dar und unterfalle dem grundrechtlich geschützten Bereich. Das LG Mannheim (aaO) leitet dies aus dem Wortlaut des § 100a StPO her. Der Vorgang der „Kommunikation“, also des Austauschs, sei erst dann abgeschlossen, wenn die Nachricht bei dem Empfänger angekommen sei. Dies sei bei der Übermittlung von E-Mails mit dem bloßen Ein40
Beschluss v. 23.9.1999 – 3 Qs 149/99, NJW 1999, 3647. Meyer-Goßner aaO, § 100a, Rn 2; LG Mannheim, Beschluss v. 30.11.2001 – 22 KLs 628 Js 15705/00, StV 2002, 242. 42 BGH-Beschluss v. 31.7.1995 – 1 BGs 625/95, NJW 1997, 1934 ff. 41
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gang auf einer Mailbox noch nicht der Fall, sondern erst, wenn sie in einem Datenspeicher des Empfängers zur Entgegennahme zur Verfügung stünden. Gleiches folge aus dem Zweck des Fernmeldegeheimnisses: Es schütze die freie Entfaltung der Persönlichkeit durch einen privaten, vor den Augen der Öffentlichkeit verborgenen Austausch von Nachrichten, Gedanken und Meinungen und gewährleiste damit die Würde des denkenden und freiheitlich handelnden Menschen.43 Die Gefährdung der Unbefangenheit der Kommunikation sei im Rahmen der Telekommunikation ebenso wie bei der Kommunikation mittels Briefverkehr gegeben, soweit und solange die zu übermittelnde Information dem – insbesondere von dem Betroffenen zunächst nicht bemerkten – Zugriff öffentlicher Stellen bzw. des Kommunikationsunternehmens unterliegen würde. Zu Recht hat deshalb das BVerfG 44 dem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz in einem Fall stattgegeben, bei dem das E-Mail-Account des Betroffenen unmittelbar bei dessen Service-Provider nach § 94 und § 98 StPO beschlagnahmt wurde. Solange sich die E-Mails in der Einflusssphäre des Telekommunikationsunternehmens befinden, gelten dessen Zugriffsregeln für den beschuldigten Endnutzer. Letzterer hat noch nicht die alleinige Verfügungsmacht erhalten. Vielmehr ist er auf den Provider als Dritten zwingend angewiesen. Ein Vergleich mit einem vom Teilnehmer selbst vorgehaltenen Speichergerät, etwa wie bei Terminalservern oder dem ASP,45 scheidet aus. Anders als dort tritt der Teilnehmer seinem Telekommunikationsunternehmen über das öffentliche Internet quasi als Dritter entgegen. Wird hingegen, abweichend von dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt, von dem Nutzer ein Terminalserver oder eine ASP-Lösung verwendet, ist anders zu entscheiden. In beiden Fällen hat er ein „eigenes“, nach seinen Regeln arbeitendes, wenn auch nicht räumlich unmittelbar bei ihm befindliches Speichermedium. Der Kontakt dorthin ist nur ihm über eine verschlüsselte und für andere nicht sichtbare, d.h. getunnelte Verbindung möglich. Ruft z.B. die DATEV e.G. im Rahmen einer ASP-Lösung für einen Steuerberater Mails beim Provider ab und speichert diese in dem auf den DATEV-Rechnern laufenden Outlook des Kunden, ist der Kommunikationsvorgang abgeschlossen.46 Nach überwiegender, zutreffender Ansicht ist demzufolge für den Zugriff auf die Mailbox bei dem Netzbetreiber des Empfängers einer E-Mail eine Überwachung nur dann statthaft, wenn ein richterlicher Beschluss gem. § 100a StPO vorliegt, für den die hohen Anforderungen einer dort genannten Katalogstraftat gelten. Der „Zugriff“ auf die Mailbox ist rechtswidrig. 43 44 45 46
BVerfG-Beschluss v. 20.06.1984 – 1 BvR 1494/78, NJW 1985 121 (122). BVerfG v. 29.6.2006 – 2 BvR 902/06, StraFo 2006, 365 ff. Zu den Begriffen s. Ziff. I. S. „Phase 4“.
Beschlagnahme von Computerdaten und E-Mails beim Berater
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3. Phase 4 In der vierten Phase, in der sich die vom Empfänger abgerufenen E-Mails in dessen Eingangsbox bzw. auf dessen Festplatte befinden, liegt endgültig und seit der Entscheidung des BVerfG vom 2.3.2006 47 eindeutig kein dem Schutz des Art. 10 Abs. 1 GG unterfallender Kommunikationsvorgang mehr vor. Diese Phase hat die Grenzen des eigentlichen Überwachungsvorgangs überschritten, denn die Daten der E-Mail sind vom Empfänger bereits abgerufen worden. Mit dem Abruf ist der Kommunikationsvorgang abgeschlossen.48 Nach Abschluss des Übertragungsvorgangs sind die Mails nur noch durch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung geschützt, das durch die regulären Beschlagnahmevorschriften der §§ 94 ff StPO beschränkt werden kann.49 Neben Computerausdrucken sind auch Massenspeicher, die EDV-Daten enthalten – wie Disketten, CDs, Festplatten, Magnetbänder, optische Speicher und sonstige verkörperte Informationsspeicher – beschlagnahmefähig.50 Zur Begründung wird ein Vergleich mit der Beschlagnahme eines Faxes angeführt. Ein Zugriff auf ein angekommenes Fax – sei es der Ausdruck oder die Speicherung im Faxgerät oder PC – erfolge nach §§ 94ff StPO.51 Etwas anderes kann demzufolge nicht für E-Mail-Daten auf der Festplatte gelten.
IV. Fazit Die technische Entwicklung hat die StPO überrollt. Allein mit Richterrecht und Auslegung der alten für die körperliche Beschlagnahme vorgesehenen Gesetzesnormen ist eine Wahrung der Grundrechte der Betroffenen nicht sichergestellt. Folglich ist der Gesetzgeber gefordert, ein kompaktes und in sich geschlossenes System der EDV- und IT-Ermittlungen zu erstellen, in dem der Schutz des Betroffenen sowie Dritter einen Platz findet. Der Gesetzgebungsausschuss Strafrecht des DeutschenAnwaltVereins, dem Jubilar und Autor 52 angehören, ist hierbei gerne mit seinen Stellungnahmen behilflich.
47 BVerfG v. 2.3.2006 – 2 BvR 2099/04, BVerfGE 115, 166 ff, entgegen noch BVerfG v. 4.2.2005 – 2 BvR 308/04, NJW 2005, 1637 ff, wo das Auslesen einer in den Räumen des Betroffenen vorhandenen Mobilfunk-SIM-Karte als unzulässig angesehen wurde. 48 Decker StraFo 2002, 109 (112). 49 BVerfG 2 BvR 2099/04 aaO. 50 Nack aaO, § 94 Rn 4; speziell zur EDV-Beschlagnahme bei Beratern vgl. BVerfG v. 12.4.2005 – 2 BvR 1027/02, PStR 2005; hierzu Spatscheck AnwBl. 2005, 566. 51 Nack aaO, § 100a Rn 6 aE; Palm/Roy NJW 1996, 1791. 52 Beide verbindet unter anderem die Bereitschaft, sich Hard- und Softwareneuerungen im EDV- und Kommunikationsbereich durch intensives Testen frühzeitig zu stellen.
Zum Beschlagnahmeschutz der Handakten des Unternehmensanwalts Jürgen Taschke I. Der Unternehmensanwalt in Strafverfahren Richten sich im Zusammenhang mit (tatsächlichen oder vermeintlichen) unternehmensbezogenen Straftaten die strafprozessualen Ermittlungen einer Staatsanwaltschaft gegen Mitarbeiter eines Unternehmens, gehört es inzwischen zu den gesellschaftsrechtlichen Mindeststandards, einen eigenen Anwalt für das betroffene Unternehmen zu beauftragen, den so genannten Unternehmensanwalt 1 im Strafverfahren. Der Jubilar, der in einer Vielzahl von großen Wirtschaftsstrafverfahren der letzten 30 Jahre tätig war, hat nicht nur herausragende Individualverteidigungen geführt, sondern auch vielfältig unternehmensbezogen beraten und verteidigt.2 Die Tätigkeit des wirtschaftsstrafrechtlich beratenden Anwalts erstreckt sich auf eine Vielzahl von Aspekten (nachstehend II.). Es stellt sich die Frage,
1 Ausführlich Kempf in: Volk (Hrsg.) Münchener Anwaltshandbuch, Verteidigung in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen, 2006, § 10, insbesondere zur Typologie des Unternehmensanwalts Rn 3; Salditt in: Volk (Hrsg.) Münchener Anwaltshandbuch, Verteidigung in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen, 2006, § 9, insbesondere Rn 14; Verjans in: Volk (Hrsg.) Münchener Anwaltshandbuch, Verteidigung in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen, 2006, § 8, Rn 1ff; Wessing II in: Volk (Hrsg.) Münchener Anwaltshandbuch, Verteidigung in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen, 2006, § 11 Rn 146 ff; Minoggio Firmenverteidigung, 2005, S. 87 ff jeweils mwN; Taschke Die Verteidigung von Unternehmen – Die wirtschaftsstrafrechtliche Unternehmensberatung, StV 2007, 495 ff. 2 Aus den vielfältigen Publikationen des Jubilars zur Verteidigung seien beispielhaft einige seiner letzten Veröffentlichungen genannt: Ist die Entformalisierung des Strafrechts und des Strafprozessrechts unaufhaltsam? in: Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie Frankfurt a.M. (Hrsg.) Jenseits des rechtsstaatlichen Strafrechts, 2007, S. 521 ff; Ist Strafverteidigung noch Kampf? NJW 2006, 2084 ff; Von Transparenzdelikten im neuen Strafrecht und transparenter Verteidigung, in: Kempf/Jansen/Müller (Hrsg.) FS für Christian Richter II, 2006, S. 179 ff; Das Plädoyer des Strafverteidigers, in: Rouven Soudry (Hrsg.) Rhetorik – Eine interdisziplinäre Einführung in die rhetorische Praxis, 2. Aufl., Heidelberg 2006, S. 65 ff. Zu spektakulären Strafprozessen der 90er Jahre siehe die Schrift des Jubilars: Große Strafprozesse und die Macht der Medien – eine Vorlesungsreihe im Wintersemester 1995/96, 1997.
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ob und in welchem Umfang die Beratung durch den Anwalt rechtlich geschützt ist oder ob eine Beschlagnahme von Unterlagen des Unternehmensanwalts zulässig sein könnte und ob und in welchem Umfang Beschlagnahmeverbote (und darauf aufbauend dann Durchsuchungsverbote) eingreifen könnten (nachstehend III.).
II. Zum Umfang der Beratungstätigkeit des Unternehmensanwalts Das Beratungsspektrum des unternehmensberatenden Anwalts ist vielfältig. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien folgende Aspekte genannt: 1. Begleitung bei der Durchsuchung Beginnen die Ermittlungen mit einer Durchsuchung, besteht die Aufgabe des Unternehmensanwalts zunächst einmal darin, das Unternehmen im Rahmen der Durchsuchung und Beschlagnahme zu begleiten und die rechtlichen Maßnahmen gegen die Durchsuchung bzw. Beschlagnahme zu beurteilen.3 Er wird dazu rechtliche Einschätzungen abgeben und ggf. dokumentieren. Im Rahmen der Durchsuchung wird der unternehmensberatende Anwalt auch darauf zu achten haben, dass sich Unternehmensmitarbeiter, seien sie beschuldigt oder nicht, nur in den schützenden Formen der Strafprozessordnung äußern. Zweckmäßigerweise wird zu einem derart frühen Verfahrensstadium der Rat an einen Beschuldigten sein, (zunächst) von seinem Schweigerecht Gebrauch zu machen und einen Verteidiger zu beauftragen. Bei Zeugenvernehmungen hat der unternehmensberatende Anwalt darauf zu achten, dass Zeugen auf mögliche Aussageverweigerungsrechte nach § 55 Strafprozessordnung (StPO) hingewiesen werden und auch das Recht haben – von dem sie sinnvollerweise Gebrauch machen sollten –, sich vor einer Vernehmung durch die Staatsanwaltschaft oder die Polizei anwaltlich beraten und sich in der Vernehmungssituation gegebenenfalls dann auch durch einen anwaltlichen Zeugenbeistand begleiten zu lassen.4 Auch diese Ratschläge wird der Anwalt dokumentieren.
3 Dierlamm in: Wabnitz/Janovsky (Hrsg.) Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 3. Aufl. 2007, Kap. 27 Rn 65 ff; Kempf (Fn. 1) § 10 Rn 18 ff; Park Handbuch Durchsuchung und Beschlagnahme, 2002, Rn 883; Taschke in: Dölling (Hrsg.) Handbuch der Korruptionsprävention, 2007, Kap. 11 Rn 1 ff; Wessing II (Fn. 1) § 11 Rn 104 ff. 4 Kempf (Fn. 1) § 10 Rn 36; Minoggio (Fn. 1) S. 197 Rn 413 ff; Taschke (Fn. 3) Kap. 11 Rn 5 ff.
Beschlagnahmeschutz der Handakten des Unternehmensanwalts
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2. Umfassende interne Sachverhaltsaufklärung Der unternehmensberatende Anwalt hat an der notwendigen internen Sachverhaltsaufklärung mitzuwirken. Die interne Sachverhaltsaufklärung kann unter mehreren Gesichtspunkten erforderlich sein. Beispielhaft und ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien folgende Aspekte genannt: Risikobewertung: Das Unternehmen muss zu einer Bewertung der Risiken aus den verfahrensgegenständlichen Vorwürfen kommen, sowohl in strafrechtlicher als auch in zivilrechtlicher Hinsicht. In strafrechtlicher Hinsicht ist eine Bewertung dahingehend erforderlich, ob die Verdachtsmomente der Staatsanwaltschaft eine Grundlage haben könnten und ob und gegebenenfalls wie eine Risikobegrenzung erfolgen kann. Stehen zivilrechtliche Ansprüche im Raum, etwa Ansprüche, die von Wettbewerbern, Kunden oder anderen Markteilnehmern (beispielsweise Prospekthaftung) geltend gemacht werden könnten, muss das Unternehmen zu einer Bewertung dieser zivilrechtlichen Risiken kommen. Dies ist spätestens dann notwendig, wenn es um die Berücksichtigung von Haftungsrisiken im Jahresabschluss geht, etwa über die Bildung von Rückstellungen.5 Bewertung von Schadensersatzansprüchen: Eine Sachverhaltsaufklärung ist erforderlich, um zu einer (schnellen) Bewertung kommen zu können, ob das Unternehmen Opfer einer Straftat geworden sein und gegebenenfalls Schadensersatzansprüche gegen Mitarbeiter und Geschäftspartner geltend machen könnte und unter Umständen auch müsste.6 Mitteilungspflichten: Das Unternehmen muss beurteilen (können), ob es gesetzliche Mitteilungspflichten gibt, etwa bei börsennotierten Gesellschaften nach dem Wertpapierhandelsgesetz (WpHG),7 oder ob der Vorstand bzw. die Geschäftsführung Mitteilungs- oder Informationspflichten gegenüber Beiräten oder Aufsichtsräten hat.8 Einschätzung der aktuellen Geschäftstätigkeit: Eine Sachverhaltsaufklärung ist weiter erforderlich, um abschätzen zu können, ob die Geschäftsvorfälle, die Auslöser für die staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen waren, neue Risiken für die Zukunft schaffen können oder nicht.9 Das Unternehmen muss
5 Minoggio (Fn. 1) S. 61 Rn 1 ff; Verjans (Fn. 1) § 8 Rn 46 ff; Wessing II (Fn. 1) § 11 Rn 199. 6 Kempf (Fn. 1) § 10 Rn 81; zur Rückgewinnungshilfe vgl. Kempf (Fn. 1) § 10 Rn 137 ff; Rönnau in: Volk (Hrsg.) Münchener Anwaltshandbuch, Verteidigung in Steuer- und Wirtschaftsstrafsachen, § 12. 7 Etwa § 15 WpHG. 8 Vgl. allgemein zum Kapitalmarktstrafrecht: Benner in: Wabnitz/Janovsky (Hrsg.) Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 3. Aufl. 2007, Kap. 9; Schröder in: Achenbach/Ransiek (Hrsg.) Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 2004, S. 712 ff; Taschke in: Semler/Peltzer (Hrsg.) Arbeitshandbuch für Vorstandsmitglieder, 2005, § 10 Rn 156 ff. 9 Taschke (Fn. 3) Kap. 11 Rn 45; Taschke (Fn. 1), 495 (496).
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dabei nicht die Perspektive der ermittelnden Staatsanwaltschaft einnehmen,10 gleichwohl muss es bei der Beurteilung der aktuellen Geschäftstätigkeit in das Kalkül ziehen, dass die tatsächliche oder rechtliche Bewertung der Staatsanwaltschaft zutreffend sein könnte. In diesem Fall könnte die Fortsetzung der unter Verdacht geratenen Geschäftspraxis zu weiteren strafrechtlichen Risiken führen.11 Bewertung früherer Steuererklärungen: Eine Sachverhaltsaufklärung kann weiter erforderlich sein, um die Korrektheit früherer Steuererklärungen beurteilen zu können. Besteht etwa der Verdacht, dass Aufwendungen für möglicherweise strafbare Vorteilsgewährungen oder Bestechungen als Betriebsausgaben abgesetzt worden sind und dass damit gegen das Abzugsverbot des § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 10 Einkommensteuergesetz verstoßen worden sein könnte,12 hat die Geschäftsführung, sofern sie in früheren Jahren nicht für die Abgabe der Steuererklärung verantwortlich war,13 eine Korrekturverpflichtung nach § 153 Abgabenordnung (AO).14 Auch hierzu bedarf es gegebenenfalls umfassender Sachverhaltsaufklärung. Einschaltung von Sachverständigen zur Schadensfeststellung: Im Rahmen der Sachverhaltsaufklärung kann es notwendig sein, Sachverständige zu beauftragen, zum einen für die vergangenheitsbezogene Beurteilung, zum anderen für zukunftsbezogene Bewertungen.15 Zwei Beispiele: Im Rahmen strafrechtlicher Produkthaftung ist es häufig notwendig, einen externen Experten hinzuzuziehen, der beurteilen soll, was schadensauslösendes Moment gewesen sein könnte. Diese Aufklärung dient zum einen der Verteidigung des Unternehmens und der handelnden Verantwortlichen.16 Zum 10
Taschke (Fn. 3) Kap. 11 Rn 45; Taschke in: FS für Klaus Lüderssen 2002, S. 663 (665). Taschke (Fn. 1) 495 (496); Wessing II (Fn. 1) § 11 Rn 210 ff; Verjans (Fn. 1) § 8 Rn 4 ff. 12 Ausführlich Lembeck in: Dölling (Hrsg.) Handbuch der Korruptionsprävention, 2007, Kap. 5 Rn 23; Greeve/Dörr in: Volk (Hrsg.) Münchener Anwaltshandbuch, Verteidigung in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen, 2006, § 19 Rn 286 ff; Heinicke in: Schmidt Einkommensteuergesetz, 24. Aufl. 2005, § 4 Rn 607 ff. 13 Liegt hingegen eine Verantwortlichkeit der Geschäftsführung für die Abgabe der Steuererklärung vor, ist die Möglichkeit einer strafbefreienden Selbstanzeige in Betracht zu ziehen, wenn sich etwa ein Durchsuchungsbeschluss gegen „namentlich noch nicht genannte Verantwortliche“ eines Unternehmens richtet, Bohnert in: Volk (Hrsg.) Münchener Anwaltshandbuch, Verteidigung in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen, 2006, § 30 Rn 526 ff. 14 Cöster in: Pahlke/Koenig (Hrsg.) Abgabenordnung, 2004, § 153 Rn 6; Taschke (Fn. 3) Kap. 11 Rn 47. 15 Knierim in: Volk (Hrsg.) Münchener Anwaltshandbuch, Verteidigung in Wirtschaftsund Steuerstrafsachen, 2006, § 7 Rn 258 ff; Schiller in: Volk (Hrsg.) Münchener Anwaltshandbuch, Verteidigung in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen, 2006, § 13 Rn 16 ff; Wessing II (Fn. 1) § 11 Rn 172 ff; Minoggio (Fn. 1) Rn 349 ff. 16 Im sog. Ledersprayverfahren, in dem der Jubilar einen der Angeklagten im Ausgangsverfahren bei dem Landgericht Mainz und später in der Hauptverhandlung vor dem Bundesgerichtshof vertreten hat, hat der Bundesgerichtshof die rechtliche Bewertung der Vorinstanz akzeptiert, dass es für die Feststellung strafrechtlicher Kausalität nicht erforder11
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anderen – und dies ist teilweise sogar vorrangige Aufgabe – hat der Sachverständige eine Entscheidungsgrundlage zu erarbeiten, ob ein bestimmtes Produkt weiter vertrieben werden kann, ob Warnhinweise anzubringen sind oder ob das Produkt wesentlich zu verändern ist. Diese Fragen betreffen ausschließlich das Unternehmen. Denn der Vorstand hat in eigener Verantwortung zu entscheiden, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Produkt weiter vertrieben werden kann. Ein Sachverständiger, der hierfür eine Entscheidungsgrundlage erarbeiten soll, muss vom Unternehmen beauftragt werden. Die unter Mitwirkung eines solchen Sachverständigen erfolgende Sachverhaltsaufklärung ist daher Unternehmensangelegenheit; die Beurteilung, Einschätzung und Bewertung der zukünftigen Geschäftspolitik ist und bleibt Unternehmensaufgabe bzw. Vorstandsaufgabe und kann nicht auf einen Unternehmensmitarbeiter übertragen werden, dessen Verteidiger einen Sachverständigen beauftragt. Vorbereitung einer Verteidigung: Eine umfassende Sachverhaltsaufklärung ist weiterhin erforderlich, um die notwendige Verteidigung des Unternehmens und der Mitarbeiter (siehe dazu nachstehend) vorbereiten zu können.17 Die für die Verteidigung notwendige Sachverhaltsaufklärung wird sich im Regelfall zunächst einmal auf interne Aspekte beschränken, also etwa die Klärung der verfahrensgegenständlichen Prozesse und Abläufe.18 Beispiele: Was könnte schadensstiftendes Ereignis gewesen sein (etwa bei Umweltdelikten, Produkthaftungsfällen u.a.)? Ist die Geschäftspolitik des Unternehmens generell auf die Einhaltung der gesetzlichen Standards verpflichtet (etwa bei der Zusammenarbeit mit Amtsträgern: Einholung der Genehmigung des Dienstvorgesetzten, Einhaltung des Transparenz-, Dokumentations- und Äquivalenzprinzips)? Wer könnte unternehmensintern Beschuldigter sein? Schließlich dient die unternehmensinterne Sachverhaltsaufklärung auch der Vorbereitung einer Unternehmensstellungnahme.19 3. Sockelverteidigung und Koordination der Verteidigung Der unternehmensberatende Anwalt wird dem Unternehmen und den betroffenen Organen oder Mitarbeitern Vorschläge machen, wer die Verteidigung der individuell betroffenen Personen übernehmen könnte. Der unterlich sei, diejenigen Wirkstoffe zu identifizieren oder naturwissenschaftlich den Mechanismus festzustellen, der für ein bestimmtes Schadensbild – hier das Auftreten lebensbedrohlicher Lungenödeme nach dem Einatmen von Lederspray – verantwortlich sei, vgl. BGHSt 37, 106 ff. Zum Revisionsrecht siehe das von Werner Sarstedt begründete und vom Jubilar fortgeführte Standardwerk zur Revision: Sarstedt/Hamm Die Revision in Strafsachen, 6. Aufl. 1998. 17 Dierlamm (Fn. 3) Kap. 27 Rn 63; Wessing II (Fn. 1) § 11 Rn 177; Taschke (Fn. 1) 495 (498/499). 18 Taschke (Fn. 3) Kap. 11 Rn 48. 19 Vgl. dazu nachstehend 4.
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nehmensberatende Anwalt hat sodann mit sehr viel Gespür die Koordination der Verteidigung zu übernehmen.20 Im Rahmen der Koordination der Verteidigung wird der unternehmensberatende Anwalt eine Vielzahl von Informationen erhalten, gegebenenfalls auch Mitteilungen von Verteidigern, von einzelnen Beschuldigten, potentiellen Zeugen, unternehmensinternen oder auch externen Auskunftspersonen. Diese Informationen wird der Unternehmensanwalt – im Regelfall auf einer funktionsorientierten Basis – mit anderen Verteidigern, mit Beschuldigten oder auch Ansprechpartnern im Unternehmen, etwa dem Chefsyndikus, Vorständen, Kommunikationsabteilungen u.a., austauschen.21 Diese Kommunikation wird oft schriftlich erfolgen. Auch wenn die Schriftlichkeit nach außen nicht immer eingehalten wird, weil der Anwalt keine Dokumentation bei verteidigungsexternen Stellen haben möchte (Wegfall von Beschlagnahmeverboten) oder weil die Schnelligkeit des Informationsaustausches Schriftlichkeit nicht zulässt, wird der unternehmensberatende Anwalt für eine entsprechende Dokumentation in seinen Akten, etwa in Form von Vermerken, Notizen u.a., sorgen.
4. Die Erarbeitung einer Unternehmensstellungnahme Obwohl der Unternehmensanwalt formal in der Strafprozessordnung nicht vorgesehen ist,22 steht es dem unternehmensberatenden Anwalt selbstverständlich frei, Schriftsätze an die Staatsanwaltschaft zu richten. Dies gilt nicht nur dann, wenn es um den Schutz berechtigter Interessen des Unternehmens geht, etwa bei dem Widerspruch zur Gewährung von Akteneinsicht in Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse an Dritte, sondern selbstverständlich auch hinsichtlich der verfahrensgegenständlichen Vorwürfe. Die Praxis hat gezeigt, dass Staatsanwaltschaften die Stellungnahmen des unternehmensberatenden Anwaltes akzeptieren, zur Kenntnis nehmen und bei der weiteren Sachbehandlung berücksichtigen.23 Dies ist auch dem Amtsaufklärungsgrundsatz geschuldet. Eine Unternehmensstellungnahme hat gegenüber der Stellungnahme eines Individualbeschuldigten eine Reihe erheblicher Vorteile: Im Unternehmen fließen eine Vielzahl von Informationen zusammen, die der unternehmensberatende Anwalt im Rahmen der Sachverhaltsaufklärung (siehe vorstehend)
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Kempf (Fn. 1) § 10 Rn 109; Dierlamm (Fn. 3) Kap. 27 Rn 18 ff; Salditt (Fn. 1) § 9 Rn 14; Taschke (Fn. 3) Kap. 11 Rn 71 ff; Richter NJW 1993, 2152 ff. 21 Taschke (Fn. 3) Kap. 11 Rn 73 ff; Wessing II (Fn. 1) § 11 Rn 146 ff und 218 ff. 22 Ausnahme: Verteidiger des Unternehmens als Einziehungs- oder Verfallsbeteiligter, siehe dazu nachstehend. 23 Taschke (Fn. 3) Kap. 11 Rn 71; Wessing II (Fn. 1) § 11 Rn 234.
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zusammengetragen hat.24 Diese Informationen sind meist sehr viel umfassender als die teilweise doch sehr limitierten Einblicke, die ein einzelner Beschuldigter in Unternehmensabläufe haben kann. Ein Vertriebsmitarbeiter wird beispielsweise sagen können, welche Geschäftspraktiken die Unternehmensführung für zulässig erachtet hat, er wird aber im Regelfall nichts dazu sagen können, welche Entscheidungsprozesse und rechtlichen Erwägungen auf Seiten der Geschäftsführung zugrunde lagen. Ein in der Produktion Verantwortlicher wird möglicherweise sagen können, wie die für ihn geltenden Anweisungen lauteten, er wird im Regelfall aber nicht beurteilen können, ob die von der Geschäftsführung erlassenen Anweisungen dem Betrieb der Anlage tatsächlich gerecht geworden sind und eventuell auftretende Bedienungsfehler oder Risiken angemessen berücksichtigt haben. Schließlich vermeidet eine Unternehmensstellungnahme auch den möglicherweise bei der Stellungnahme eines Individualbeschuldigten entstehenden Eindruck, es solle eine Verschiebung von Verantwortlichkeiten stattfinden. Eine solche Unternehmensstellungnahme lässt sich im Regelfall aber nur durch entsprechende Abstimmung mit den Individualverteidigern herstellen.25 Auch diese Kommunikation findet ihren Niederschlag in Korrespondenz, ausgetauschten und abgestimmten Entwürfen, Vermerken u.a. 5. Verteidigung des Unternehmens Bei dem Verdacht unternehmensbezogener Straftaten bestehen immer auch Haftungsrisiken für das Unternehmen. In Betracht kommen zum einen Geldbußen nach §§ 29a, 30 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (OWiG), gegebenenfalls auch in Verbindung mit § 130 OWiG 26 und zum anderen Vermögensabschöpfungen über Verfall und Einziehung nach §§ 73 ff StGB.27 Zu einem wesentlichen Teil sind die vorstehend geschilderten Aktivitäten des unternehmensberatenden Anwaltes (auch) darauf gerichtet, Haftungsrisiken von dem Unternehmen fernzuhalten oder mögliche Sanktionen (Geldbuße nach §§ 29a, 30 OWiG oder Verfallsanordnungen nach §§ 73ff StGB) in ihren Auswirkungen zu minimieren. Da Anknüpfungstat für derartige mögliche Sanktionen immer ein strafbares Handeln von Mitarbeitern
24 Dierlamm (Fn. 3) Kap. 27 Rn 58 ff; Kempf (Fn. 1) § 10 Rn 124; Taschke (Fn. 3) Kap. 11 Rn 60 ff. 25 Dierlamm (Fn. 3) Kap. 27 Rn 18; Kempf (Fn. 1) § 10 Rn 124; Wessing II (Fn. 1) § 11 Rn 234 und 238; Taschke (Fn. 1) 495 (499); Taschke (Fn. 3) Kap. 11 Rn 60 ff. 26 Eidam Unternehmen und Strafe, 2. Aufl. 2001, S. 202 ff; Große Vorholt Wirtschaftsstrafrecht, 2. Aufl. 2007, Rn 202 und 223. 27 Eidam (Fn. 26) S. 202 ff; Große Vorholt (Fn. 26) Rn 202 und 223; Schmitz/Taschke WiB 1997, 1169 (1172 ff).
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ist,28 kann eine unternehmensbezogene Verteidigung nicht losgelöst von der Verteidigung der individuell Beschuldigten erfolgen. Die Tätigkeit des unternehmensberatenden Anwaltes in der Unterstützung der Verteidigung von Mitarbeitern und Vorstand stellt sich daher als genuine Verteidigung des Unternehmens dar. Zwei Aspekte sind gesondert zu erörtern: Die Verteidigung im Vorfeld: Die Praxis bei der Verfolgung (tatsächlicher oder vermeintlicher) unternehmensbezogener Straftaten zeigt, dass Sanktionen gegen das betroffene Unternehmen von wenigen Ausnahmen abgesehen (beispielsweise Verfallsanordnung zu Beginn eines Ermittlungsverfahrens) im Regelfall erst zu einem späteren Zeitpunkt im Ermittlungsverfahren überhaupt in Erwägung gezogen werden. Mithin stellt sich die Frage, ob, wenn die Staatsanwaltschaft eine mögliche Nebenbeteiligung (noch) nicht angeordnet hat und sie auch (noch) nicht in Betracht zieht, bereits von einer Verteidigung des Unternehmens gesprochen werden kann. Diese Frage ist zu bejahen: Auch die Bemühungen eines Unternehmens, die Einleitung von strafprozessualen Maßnahmen oder Maßnahmen nach dem Ordnungswidrigkeitenrecht zu vermeiden, sind eindeutig als Verteidigung zu qualifizieren. So kann Verteidigung auch schon dann stattfinden, wenn gegen einen Betroffenen noch nicht förmlich ermittelt wird, weil etwa einzelne Beschuldigte noch nicht konkretisiert wurden. Auch in diesem Stadium nimmt der Unternehmensanwalt bei funktionaler Betrachtungsweise bereits Verteidigeraufgaben wahr.29 Eine „erfolgreiche“ Verteidigung wird sich möglicherweise dann als besonders wirkungsvoll zeigen, wenn Maßnahmen gegen das Unternehmen unterbleiben, etwa weil das Verfahren gegen die Mitarbeiter mangels Tatverdacht oder wegen geringer Schuld eingestellt wird. Gemengelage zwischen laufender Beratung und Verteidigungstätigkeit: Soweit die Beratung des Anwaltes nicht nur die Vergangenheit (und damit die Verteidigung) betrifft, sondern auch gegenwartsbezogene Aspekte (also zur laufenden Beratung) aufweist, könnte man die Auffassung vertreten, dass insoweit keine Verteidigung des Unternehmens mehr vorliege. Insofern ließe sich möglicherweise theoretisch zwischen verteidigender Tätigkeit und laufender Beratung unterscheiden. Praktisch erscheint eine derartige Unter-
28 Bohnert Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, 2003, § 30 Rn 7; Göhler Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, 13. Aufl. 2002, § 30 Rn 15; Schmitz/Taschke (Fn. 27) 1169 (1173); vgl. zum Verfall ferner Britz in: Volk (Hrsg.) Münchener Anwaltshandbuch, Verteidigung in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen, 2006, § 5 Rn 45 ff; Rönnau (Fn. 6) § 12 Rn 373 ff. 29 Zur Verteidigung im Vorfeld bei natürlichen Personen: BGHSt 29, 99 (105); ferner Dierlamm (Fn. 3) Kap. 27 Rn 28; Schäfer in: Löwe-Rosenberg, StPO-Großkommentar, 25. Aufl. 2004, § 97 Rn 83; vgl. auch zur Verteidigerbestellung bei namentlich noch nicht benannten Verantwortlichen eines Unternehmens, Michalke Umweltstrafsachen, 2. Aufl. 2000, Rn 514.
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scheidung nicht unbedingt sinnvoll, da sich die vom Unternehmensanwalt zu behandelnden Fragen nicht scharf von einander trennen lassen, sondern in einer Gemengelage zusammengehören: Die Frage einer Korrekturverpflichtung nach § 153 AO lässt sich sinnvoll nur dann beantworten, wenn man sich eine Meinung gebildet hat, ob es in der Vergangenheit zu strafbaren Handlungen gekommen ist und die als Vorteilsgewährung oder Bestechung zu qualifizierenden Zahlungen auch tatsächlich gewinnmindernd angesetzt worden sind. Diese Gemengelage findet sich beispielsweise auch bei Produkthaftungsfällen: Die von einem Sachverständigen zu beantwortende Frage, was schadensauslösend bei einem bestimmten Produkt gewesen sein kann, dient – wie vorstehend dargelegt – zum einen der (vergangenheitsbezogenen) Verteidigung, zum anderen der (zukunftsbezogenen) Beratung des Unternehmens, wie es sich von nun an schadensmindernd oder -vermeidend verhalten kann oder sollte. In den Fällen, in denen es zu einer Gemengelage zwischen laufender Beratung und verteidigender Tätigkeit kommt, wird man übergeordnet daher auch von verteidigender Tätigkeit sprechen können. Dies ist bedeutsam für die Frage des Beschlagnahmeschutzes. 6. Zusammenfassung Es lässt sich festhalten, dass die Tätigkeit des unternehmensberatenden Anwaltes eine Vielzahl von Aspekten betrifft. Die beratende Tätigkeit des unternehmensberatenden Anwaltes deckt gleichsam „großflächig“ alle Aspekte ab, die im Zusammenhang mit dem verfahrensgegenständlichen Vorwürfen auftreten können.
III. Zum Beschlagnahmeschutz der Akten des Unternehmensanwalts 1. Das Erkenntnisinteresse der Staatsanwaltschaft an den Handakten und Unterlagen des Unternehmensanwalts Das vorstehend – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – geschilderte Spektrum der Tätigkeit und Beratung des Unternehmensanwalts bringt es mit sich, dass er eine Vielzahl von Erkenntnissen recherchiert, dokumentiert, niederlegt und bewertet, die gleichermaßen für die Staatsanwaltschaft von Interesse sein können. Die unternehmensinterne Sachverhaltsaufklärung geht im Regelfall um ein Vielfaches schneller als die Ermittlungsarbeit der staatlichen Behörden, der Staatsanwaltschaft und der ihr zugeordneten Ermittlungsbehörden. Gleichermaßen besteht ein Erkenntnisinteresse von Seiten der (tatsächlich oder vermeintlich) Geschädigten, qua staatlicher Beschlagnahme und dann erfolgender Akteneinsicht nach § 406e StPO umfassend über den Stand der internen Erkenntnisse und Bewertungen informiert zu sein.
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Es stellt sich daher die Frage, ob und in welchem Umfang eine Beschlagnahme der Unterlagen des Unternehmensanwalts zulässig sein könnte oder ob Beschlagnahmeverbote eingreifen. 2. Zum Meinungsstand zu den Beschlagnahmeverboten Die Frage der Beschlagnahmefähigkeit anwaltlicher Handakten eines Unternehmensanwalts wird unter verschiedenen Aspekten diskutiert: Beschlagnahmeschutz aus § 97 StPO: Zum Teil wird die Auffassung vertreten, der Beschlagnahmeschutz folge unmittelbar aus § 97 StPO.30 Das Beschlagnahmeprivileg aus § 97 StPO kann jedoch nur dann herangezogen werden, wenn § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO in dem Sinne zu interpretieren wäre, dass sämtliche Unterlagen bei einem anwaltlichen Berater geschützt wären.31 Diese Auffassung lässt sich nur schwerlich begründen, da § 97 StPO schon dem Wortlaut nach auf das Verhältnis zwischen Beschuldigtem und Verteidiger beschränkt ist und daher nicht auf einen Nicht-Beschuldigten ausgedehnt werden kann.32 Dies betrifft auch § 97 Abs. 1 Nr. 3 StPO, der lediglich einen Auffangtatbestand zur Nr. 2 darstellt.33 Insofern ist § 97 StPO nicht geeignet, in unmittelbarer Anwendung einen Beschlagnahmeschutz für Unterlagen des Unternehmensanwalts zu begründen. Schutz der Vertraulichkeit aus dem Recht (und der Pflicht) zur Zeugnisverweigerung: Weiterhin wird die Auffassung vertreten, dass ein Beschlagnahmeschutz sich aus dem materiell und prozessual abgesicherten Berufsgeheimnis des Anwaltes, dem darauf basierenden Recht (und der Pflicht) zur Zeugnisverweigerung und der daraus abgeleiteten Absicherung gegen Durchsuchungen folgen soll.34 Diese – konsequent an der Pflicht zur Verschwiegenheit ausgerichtete – Argumentation wäre dann Erfolg versprechend, wenn die Rechnung aufgemacht werden könnte, dass das, was der Berufsverschwiegenheit unterliegt, auch beschlagnahmefrei ist. Diese Aussage ist in dieser allgemeinen Form aber nicht möglich: Zwar ist allgemein anerkannt, dass die Entbindung von der Verschwiegenheitspflicht zugleich
30 OLG Köln NStZ 1991, 452; P. Schmitt wistra 1993, 9 (12); Rudolphi in: SK-StPO, § 97 Rn 7a; Ciolek-Krepold Durchsuchung und Beschlagnahme in Wirtschaftsstrafsachen, 2000, Rn 256; Huber-Lotterschmid Verschwiegenheitspflichten, Zeugnisverweigerungsrechte und Beschlagnahmeverbote zugunsten juristischer Personen, 2006, S. 110, 111 und 114. 31 OLG Köln NStZ 1991, 452; Gülzow NJW 1981, 265 (266); Huber-Lotterschmid (Fn. 30) S. 105 ff. 32 BVerfG NStZ-RR 2004, 83 ff; LG Koblenz MDR 1983, 779; Nack in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 5. Aufl. 2003, § 97 Rn 1; Meyer-Goßner StPO, 50. Aufl. 2007, § 97 Rn 10; Schäfer (Fn. 29) § 97 Rn 21. 33 LG Hildesheim NStZ 1982, 395; Schäfer (Fn. 29) § 97 Rn 3; Meyer-Goßner (Fn. 32) § 97 Rn 10; Ciolek-Krepold (Fn. 30) Rn 252. 34 Salditt (Fn. 1) § 9 Rn 25.
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auch den Beschlagnahmeschutz entfallen lässt.35 Umgekehrt ist aber auch anerkannt, dass ein Berufsgeheimnisträger nach § 53 StPO zwar nur dann aussagen darf, wenn er vom Mandanten von der Verschwiegenheitspflicht entbunden worden ist, der Beschlagnahmeschutz aber dahinter zurückbleibt, mithin nicht so umfassend ist wie die Verschwiegenheitspflicht.36 Denn das Zeugnisverweigerungsrecht gilt umfassend und unabhängig davon, ob das Vertrauensverhältnis zu einem Dritten oder zu dem Beschuldigten besteht.37 Das Unternehmen als Verfalls- und Einziehungsbeteiligte: Zum Teil wird die Auffassung vertreten, die Unterlagen des unternehmensberatenden Anwaltes seien deshalb geschützt, weil das Unternehmen Verfahrensbeteiligte sein kann und deshalb die entsprechenden Schutzvorschriften der StPO eingreifen müssten.38 3. Lösungsansätze Bei der Vielzahl der möglichen beim Unternehmensanwalt befindlichen Unterlagen ist eine pauschale Bewertung nicht möglich, sondern eine Differenzierung vorzunehmen: Der Unternehmensanwalt als „Verteidiger“ des Unternehmens: Wie vorstehend geschildert, besteht die Aufgabe des unternehmensberatenden Anwalts zu einem wesentlichen Teil darin, Sanktionen gegen das Unternehmen zu verhindern oder zu minimieren. Aus Art. 6 Abs. 3 Europäische Menschenrechtskonvention i.V.m. dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz ist zu folgern, dass dem Beschuldigten jederzeit die Möglichkeit einer geordneten und effektiven Verteidigung gegeben werden muss.39 Dies gilt auch für die Beratung und Verteidigung des Unternehmens. Soweit die unternehmensberatende Anwaltstätigkeit also darauf abzielt, Sanktionen gegen das Unternehmen zu vermeiden oder die Sanktionen in der Höhe zu reduzieren, ist der unternehmensberatende Anwalt damit als „Verteidiger“ des Unternehmens im Sinne von § 137 StPO zu qualifizieren.40 Es gilt daher 35 Gülzow (Fn. 31) 265 (267); Lemke in: Heidelberger-Kommentar zur StPO, 3. Aufl. 2001, § 97 Rn 31; Nack (Fn. 32) § 97 Rn 5; Pfeiffer StPO-Kommentar, 5. Aufl. 2005, § 97 Rn 1; Dahs Handbuch des Strafverteidigers, 7. Aufl. 2005, S. 278 Rn 389; Quedenfeld/Richter in: Bockemühl (Hrsg.) Handbuch des Fachanwalts Strafrecht, 3. Aufl. 2006, S. 890 Rn 70. 36 LG Koblenz MDR 1983, 779; P. Schmitt (Fn. 30), 9 (12); Amelung in: AK-StPO, 1992, § 97 Rn 14; Ciolek-Krepold (Fn. 30) Rn 252; Huber-Lotterschmid (Fn. 30) S. 112 Fn. 482. 37 Dahs in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl. 2004, § 53 Rn 3a; Ciolek-Krepold (Fn. 30) Rn 252. 38 Wessing II (Fn. 1) § 11 Rn 152 ff; Minnogio (Fn. 1) S. 113 ff; ähnlich Krause in: FS für Hans Dahs 2005, S. 373 Fn. 65. 39 BGH NJW 1998, 1963; Nack (Fn. 32) § 97 Rn 24; Rudolphi (Fn. 30) § 97 Rn 50; Schmidt StV 1989, 421 (422); Minoggio (Fn. 1) S. 15 Rn 172. 40 LG Frankfurt am Main StV 1993, 351; Meyer-Goßner (Fn. 32) § 53 Rn 15; Wessing II (Fn. 1) § 11 Rn 151 und 153.
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folgender Anknüpfungspunkt: Ein Unternehmen hat als (potentielle) Einziehungs- oder Verfallsbeteiligte nach den §§ 431 ff StPO verschiedene Rechte.41 Dazu gehört nach § 434 Abs. 1 Satz 1 StPO unter anderem, dass die Verfalls- oder Einziehungsbeteiligte sich jederzeit des Beistands eines Verteidigers nach § 137 StPO bedienen kann, die Kommunikation zwischen dem Anwalt und dem Unternehmen nach § 148 StPO frei ist, mithin weder telefonisch noch sonst überwacht werden kann, und die sich daraus ergebenden Beschlagnahmeverbote eingreifen.42 Soweit eine Einziehungs- oder Verfallsbeteiligung nicht in Betracht kommt, bleiben die Sanktionsmöglichkeiten nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, §§ 29a, 30 OWiG. Auch insoweit hat das betroffene Unternehmen das Recht, sich von einem Verteidiger beraten zu lassen. Die Anwendbarkeit des § 137 StPO wird über die Generalklausel des § 46 Abs. 1 OWiG hergestellt.43 Soweit sich die unternehmensberatende Tätigkeit (auch) als Verteidigung des Unternehmens darstellt, greifen daher die strafprozessualen Beschlagnahmeverbote des § 97 StPO in entsprechender Anwendung. Der unternehmensberatende Anwalt steht in diesen Fällen dann dem Verteidiger eines Individualbeschuldigten rechtlich gleich. Die bei ihm befindlichen Unterlagen sind ebenso beschlagnahmefrei wie die Handakten des Verteidigers eines Beschuldigten. Das Beschlagnahmeverbot von zu Verteidigungszwecken angefertigten Unterlagen des Unternehmensanwalts gilt unabhängig davon, in wessen Gewahrsam sich die Unterlagen befinden. Zwar unterliegen nach § 97 StPO nur solche Unterlagen dem Beschlagnahmeverbot, die sich im Gewahrsam des Zeugnisverweigerungsberechtigten befinden. Aufgrund der Regelung des § 148 StPO, der den freien Verkehr zwischen Verteidiger und Beschuldigten garantiert, hat das Gewahrsamserfordernis des § 97 Abs. 2 StPO bei Verteidigungsunterlagen aber zu entfallen, so dass sämtliche Verteidigungsunterlagen beschlagnahmfrei sind, und zwar unabhängig davon, wo die Unterlagen aufbewahrt werden.44 Mithin sind auch solche Verteidigungsunterlagen beschlagnahmefrei, die sich nicht im Gewahrsam des Zeugnisverweigerungs41
Wessing II (Fn. 1) § 11 Rn 152 ff; Kempf (Fn. 1) § 10 Rn 91; Minoggio (Fn. 1) S. 80 Rn 5, 6 und 10. 42 Zu den Beschlagnahmeverboten aus § 148 StPO für Korrespondenz zwischen Beschuldigten und Verteidiger siehe: Roxin NJW 1995, 17, 21; Laufhütte in: KK-StPO, 5. Aufl. 2003, Vor § 137 Rn 17; Lüderssen in: Löwe-Rosenberg StPO, 25. Aufl. 2004, § 137 Rn 53; Ciolek-Krepold (Fn. 30) Rn 308; Gürtler in: Wabnitz/Janovsky (Hrsg.) Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrechts, 3. Aufl. 2007, Kap. 23 Rn 30; Huber-Lotterschmid (Fn. 30) S. 116; Kempf (Fn. 1) § 10 Rn 93; Wessing II (Fn. 1) § 11 Rn 153. 43 Laufhütte (Fn. 42) Vor § 137 Rn 14; Lüderssen (Fn. 42) § 137 Rn 56; Pfeiffer (Fn. 35) Vor § 430 Rn 1. 44 Park (Fn. 3) Rn 556 und 586; Nack (Fn. 32) § 97 Rn 24 mwN.
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berechtigten befinden.45 Daher werden auch solche Unterlagen vom Beschlagnahmeverbot des § 97 StPO erfasst, die im Gewahrsam des Unternehmens sind. Es lässt sich insoweit also als Zwischenergebnis festhalten: Soweit die Aktivitäten und die beratende Tätigkeit des Anwaltes sich auf die Verteidigung des Unternehmens erstreckt, greifen die Beschlagnahmeverbote des § 97 StPO. Die Unterlagen sind insoweit umfassend vor einer Beschlagnahme geschützt.46 Beratung zur Beurteilung der aktuellen Geschäftstätigkeit, zu steuerlichen Fragen (§ 153 AO) oder zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen u.a.: Soweit sich die Tätigkeit des unternehmensberatenden Anwaltes – teilweise in einer Gemengelage mit der verteidigenden Tätigkeit, siehe vorstehend – damit befasst, eine Beurteilung der laufenden Geschäftstätigkeit oder die Einschätzung der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen u.a. vorzunehmen, sind wegen der untrennbaren Verknüpfung der verschiedenen beratenden Aspekte 47 hierzu erstellte Unterlagen der Verteidigungstätigkeit zuzurechnen und in entsprechender Anwendung von § 97 StPO gleichfalls beschlagnahmefrei.48 Im Ergebnis kommt man zu keiner anderen Beurteilung, wenn man die Auffassung vertritt, dass sich die beratende Tätigkeit bei der Verteidigung des Unternehmens klar von der sonst beratenden Tätigkeit abgrenzen lässt. Wenn die in Frage kommenden Unterlagen allein die rechtliche Beratung des Unternehmens zu aktuellen Fragen betreffen, scheitert eine Beschlagnahme dann jedenfalls daran, dass es am Beweismittelbegriff nach § 94 StPO mangelt. Denn Beweismittel kann nur das sein, was unmittelbar oder mittelbar Beweis für die Begehung einer Straftat erbringt.49 Zu fordern ist ein sachlichinhaltlicher Zusammenhang zwischen dem Beweismittel einerseits und dem im Durchsuchungsbeschluss niedergelegten Anfangsverdacht andererseits.50 Die laufende Rechtsberatung eines Unternehmens, wie Schadensersatzansprüche eingeschätzt werden, wie die aktuelle Geschäftstätigkeit beurteilt wird, wie steuerliche Fragen zur Absetzbarkeit von Aufwendungen derzeit, also nach Einleitung des Ermittlungsverfahrens, beurteilt werden u.a., lassen keinen Rückschluss auf die Begehung einer Straftat in der Vergangenheit zu 45 BVerfG NStZ 2002, 377; BGHSt 44, 46 ff; Huber-Lotterschmid (Fn. 30) S. 115; Nack (Fn. 32) § 97 Rn 24 mwN. 46 In entsprechender Anwendung des § 97 StPO ergeben sich dann auch die Grenzen des Beschlagnahmeverbots: Gegenstände, mit denen die Straftaten begangen worden sind oder die aus ihnen herrühren, können auch bei dem anwaltlichen Berater beschlagnahmt werden. 47 Siehe vorstehend II.5. 48 Vgl. zu Durchsuchungen und Beschlagnahmen im Steuerstrafverfahren Bohnert (Fn. 13) § 30 Rn 337 ff. 49 Park (Fn. 3) Rn 49. 50 Dierlamm (Fn. 3) Kap. 27 Rn 71; Meyer-Goßner (Fn. 32) § 94 Rn 6.
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und können daher nicht als „Beweismittel“ herangezogen werden. Stellungnahmen des Anwaltes oder die Korrespondenz des Unternehmens mit dem Anwalt zu diesen Fragen sind daher kein geeignetes Beweismittel und können daher auch nicht beschlagnahmt werden. 4. Durchsuchungsverbot Soweit – wie vorstehend dargelegt – ein aus § 97 StPO abgeleitetes Beschlagnahmeverbot eingreift, besteht zugleich auch ein uneingeschränktes Durchsuchungsverbot, wenn die Durchsuchung allein dazu dienen soll, Gegenstände sicherzustellen, die einem Beschlagnahmeverbot unterliegen. Denn der Zweck der Ermittlungsmaßnahme ist in einem solchen Fall gänzlich unzulässig, weshalb ein Durchsuchungsverbot greift.51 Das gilt auch dann, wenn die Durchsuchung nicht darauf gerichtet ist, „Beweismittel“ im Sinne des § 94 StPO sicherzustellen.52
IV. Zusammenfassung Werden Ermittlungen gegen Mitarbeiter eines Unternehmens wegen des Verdachts (vermeintlicher oder tatsächlicher) unternehmensbezogener Straftaten geführt, gehört es zu den gesellschaftsrechtlichen Mindeststandards, für eine eigene Beratung des Unternehmens Sorge zu tragen. Der unternehmensberatende Anwalt wird mit einer Vielzahl von Aspekten befasst – Sachverhaltsaufklärung, Koordination der Verteidigung, Unternehmensstellungnahme, Verteidigung des Unternehmens, Beurteilung aktueller Fragen der Geschäftspolitik u.a. –, die einen umfassenden Einblick in Unternehmensinterna und die Verteidigungsbemühungen geben. Das Interesse einer ermittelnden Staatsanwaltschaft und das Interesse eines (tatsächlich oder vermeintlich) Geschädigten könnten sich darauf richten, im Wege der Beschlagnahme an die Unterlagen zu gelangen, die sich bei dem unternehmensberatenden Anwalt (oder bei dem Unternehmen) befinden. Eine Beschlagnahme wäre nicht zulässig, da die Beschlagnahmeverbote des § 97 StPO entsprechend greifen. Soweit das Unternehmen (auch nur potentiell) als Verfalls- oder Einziehungsbeteiligte in Betracht kommt oder eine Unternehmensgeldbuße nach §§ 29a, 30 OWiG droht, kann sich das Unter-
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LG Fulda NJW 1999, 1508 (1509); Schäfer (Fn. 29) § 97 Rn 4; Meyer-Goßner (Fn. 32) § 103 Rn 7 mwN; vgl. auch BGH NJW 1973, 2035, wonach die Durchsuchung nicht auf solche Papiere erstreckt werden darf, die vom Beschlagnahmeschutz des § 97 StPO erfasst werden. 52 Meyer-Goßner (Fn. 32) § 102 Rn 2: Eine Durchsuchung zur „bloßen Ausforschung“ ist unzulässig.
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nehmen in jeder Lage des Verfahrens, auch vor der förmlichen Beiordnung als Verfallsbeteiligte, eines Verteidigers bedienen (§§ 434 i.V.m. 137 StPO bzw. § 46 Abs. 1 OWiG i.V.m. § 137 StPO). Insoweit gilt der unternehmensberatende Anwalt als „Verteidiger“. Das Beschlagnahmeverbot greift unabhängig davon, ob die Unterlagen sich bei dem beratenden Anwalt oder im Unternehmen befinden. Dies folgt aus entsprechender Anwendung von § 148 StPO i.V.m. § 97 StPO. Die Beschlagnahmeverbote erstrecken sich auch auf diejenigen Unterlagen, die sich mit der laufenden Beratung des Unternehmens zur Geschäftspolitik, zu etwaigen steuerlichen Fragen (Korrekturverpflichtung nach § 153 AO) oder zu Schadensersatzansprüchen u.a., beschäftigen. Das Beschlagnahmeverbot leitet sich daraus ab, dass die verteidigende Tätigkeit des Anwalts sich von der sonst beratenden Tätigkeit nicht trennen lässt, die beratende Tätigkeit mithin der verteidigenden Tätigkeit zuzurechnen ist. Wenn man die Auffassung vertritt, dass die verschiedenen Beratungsbereiche sich klar trennen lassen, können in den Unterlagen zur laufenden Geschäftstätigkeit u.a. keine Beweismittel gesehen werden, weshalb eine Beschlagnahme ebenfalls ausscheidet. Liegt ein Beschlagnahmeverbot vor, so greift darauf aufbauend ein Durchsuchungsverbot ein, soweit die Durchsuchung allein dem Zweck dienen soll, Gegenstände aufzufinden, die gemäß § 97 StPO beschlagnahmefrei sind.
Das allgemeine Schädigungsverbot des § 266 Abs. 1 StGB Sven Thomas In seiner – je nach Standort und Perspektive – hoch gelobten oder heftig kritisierten Mannesmann-Entscheidung vom 21. Dezember 2005 1 führt der 3. Strafsenat des BGH aus: „Das Gebot, alle Maßnahmen zu unterlassen, die den Eintritt eines sicheren Vermögensschadens bei der Gesellschaft zur Folge haben, gehört – ohne dass es dazu weiterer gesetzlicher oder rechtsgeschäftlicher Regelungen bedürfte – zu den Treuepflichten, die ein ordentliches und gewissenhaftes Präsidiumsmitglied (§§ 93 Abs. 1, 116 Satz 1 AktG) zwingend zu beachten hat. Diese aktienrechtliche Pflicht stellt sich im Sinne des § 266 Abs. 1 StGB als Pflicht zur Wahrnehmung fremder Vermögensinteressen dar (vgl. BGHSt 47, 187 (200 f. m.w.N.))“.2 Der Regress des Senats auf das allgemeine Schädigungsverbot erstaunt, weil das Aktienrecht – wie der Senat nicht verkennt – einen Rahmen für das pflichtgemäße Verhalten eines Aufsichtsratsmitglieds zur Verfügung stellt, die Ausfüllung durch ARAG/Garmenbeck (BGHZ 135, 244) und BGHSt 47, 187 erfolgt ist und an der Vermögensbetreuungspflicht eines Mitglieds des Aufsichtsrats ohnehin kein Zweifel besteht. Tatsächlich soll mit der Bewertung der Prämienzahlungen im Mannesmann-Fall als „sicherer Vermögensschaden“ die keineswegs zwingende – weil einer hinreichenden Grundlegung entbehrende – spätere Differenzierung des Senats zur Bewilligung nachträglicher Sonderzahlungen eine dogmatische Fundierung erfahren. Dass die Ableitung der Pflichtverletzung aus dem allgemeinen Schädigungsverbot nicht tragfähig ist, zeigt bereits die sich in der Entscheidung anschließende Darstellung der ARAG/Garmenbeck-Grundsätze des II. Zivilsenats und deren Übernahme durch den 3. Strafsenat: 1 BGHSt 50, 331; in der Folge zitiert nach der auf der Homepage des BGH abrufbaren Urteilsausfertigung (BGH v. 21.12.2006 – 3 StR 470/04); zustimmend Rönnau NStZ 2006, 218; Vogel/Hocke JZ 2006, 568; im Ergebnis Schünemann NStZ 2006, 199; kritisch Krause StV 2006, 308; Deiters ZIS 2006, 152, 160; Ransiek NJW 2006, 814; vgl. im übrigen die Zusammenstellung bei Lackner/Kühl 26. Aufl., § 155 Rn 20 b. 2 BGH aaO (Fn 1) Tz. 13.
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„Deshalb ist eine Pflichtverletzung nicht gegeben, solange die Grenzen, in denen sich ein von Verantwortungsbewusstsein getragenes, ausschließlich am Unternehmenswohl orientiertes, auf sorgfältiger Ermittlung der Entscheidungsgrundlagen beruhendes unternehmerisches Handeln bewegen muss, nicht überschritten sind (vgl. BGHZ 135, 244, 253 f.; BGHZ 111, 224, 227; BGHSt 46, 30, 34 f.; BGHSt 47, 148, 149 f., BGHSt 47, 187, 192).“ 3 In der Folge unterscheidet der 3. Senat den Fall der vereinbarten nachträglichen Prämie, der freiwilligen Prämienzahlung, von der für den Empfänger oder „andere(n) aktive(n) oder potenzielle(n) Führungskräfte(n)“ eine „für das Unternehmen vorteilhafte Anreizwirkung“ ausgehen muss, und die kompensationslose Anerkennungsprämie, die „ausschließlich belohnenden Charakter hat und der Gesellschaft keinen zukunftsbezogenen Nutzen bringen kann“. Diese stelle sich als „treupflichtwidrige Verschwendung des anvertrauten Gesellschaftsvermögens dar“, weil eine „Anreizwirkung für die Begünstigten, für andere aktive Vorstandsmitglieder oder potenzielle zukünftige Führungskräfte von den Sonderzahlungen nicht mehr ausgehen (konnte).“ 4 Das Fazit des Lesers der Entscheidung: Eine belohnende Zahlung ohne Anreizwirkung ist mit dem „Griff in die Kasse“ gleichzusetzen. Folgt man der Ansicht des Senats, so ist ein Aufsichtsrat gehindert, eine andere Auffassung zur Nützlichkeit einer bestimmten Vergütungsform zu vertreten. Deutlicher formuliert: Die wohl gerechteste Form der Vergütung, nämlich die ex-post am Leistungsbeitrag ausgerichtete und belohnende Honorierung – ohne Anreizwirkung – wäre strafbare Untreue, die vorher festgelegte – variable – Anreizvergütung, die sich im Nachhinein immer noch als zu hoch darstellt, hingegen eine zulässige Form der Entlohnung. Eine Auseinandersetzung zu der Frage, ob nicht auch eine freiwillige belohnende Vergütung der Kapitalgesellschaft Nutzen bringt, fehlt in der Entscheidung. Der Rückgriff auf das allgemeine Schädigungsverbot stand dem im Weg. Die Diskussion unterblieb.
Zum Meinungsstand Es liegt nahe, sich in einem ersten Schritt mit der Figur des allgemeinen Schädigungsverbots zu befassen, sodann die denkbaren (und praktisch vorfindbaren) Formen einer Geldverwendung des Treuepflichtigen im Rahmen geschäftlichen Handelns ohne kurz-, mittel- oder langfristigen finanziellen Ertrag für das Unternehmen zu beleuchten und sich schließlich der Frage zuzuwenden, ob § 266 StGB auch dann eine Pönalisierung fordert, wenn 3 4
BGH aaO (Fn 1) Tz. 15. BGH aaO (Fn 1) Tz. 16 ff.
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„kompensationslose“ Aufwendungen getätigt werden, die weder eine „Anreizwirkung“ für Mitarbeiter aufweisen noch das Ansehen des Unternehmens in der Öffentlichkeit fördern, gleichwohl aber eine hinreichende soziale Sinnhaftigkeit aufweisen. Die Konstituierung einer Pflichtverletzung über einen Verstoß gegen das allgemeine Schädigungsverbot bewegt sich in der Tradition einer weitgehenden Negierung des Merkmals der Pflichtwidrigkeit und der Dominanz der Schadensfrage für die Strafbarkeit nach § 266 Abs. 1 StGB. Das allgemeine Schädigungsverbot wird von Schünemann in der 11. Auflage des Leipziger Kommentars wie folgt umrissen: „Soweit an Hand dieses allgemeinen Standards für den Einzelfall kein eindeutiges Gebot feststellbar ist, bleibt in der Regel das Verbot, den Geschäftsherrn zu schädigen, als Minimalpflicht übrig. Die Pflichtwidrigkeit wird in diesen Fällen also aus der Vermögensschädigung rückgeschlossen (materielle Bestimmung der Pflichtwidrigkeit durch die Schadensverursachung)“.5 Bei Lenckner/Perron findet sich eine noch knappere Formulierung: „Aus dem Gebot, die Vermögensinteressen eines anderen wahrzunehmen, folgt zugleich das Verbot, ihn zu schädigen“.6 Tröndle/Fischer betonen den offensiven Charakter eines Verstoßes gegen das allgemeine Schädigungsverbot: „Tathandlung kann auch ein unmittelbarer schädigender Angriff auf das betreute Vermögen sein (z.B. Diebstahl, Unterschlagung, vertragswürdige Nutzung fremder Sachen)“.7 Erwähnung findet in der Kommentarliteratur regelmäßig der Beitrag von Tiedemann in der Tröndle-Festschrift, in der die strafrechtlich relevante Pflicht der Aufsichtsratsmitglieder einer AG angenommen wird, „das Vermögen der AG nicht durch eigenes Verhalten zu schädigen“.8 Die Kontroverse im Schrifttum, ob und welche einschränkenden Kriterien für die Annahme einer Pflichtverletzung bei einer Schädigung anzulegen sind und inwieweit überhaupt ein solches Institut Anerkennung finden kann,9 haben auf die Entscheidung des 3. Strafsenats – mit seiner ausdrücklichen Postulierung dieser Figur – ersichtlich keinen Einfluss gehabt. Fest steht indes, dass die bisherige Judikatur ein solches allgemeines Schädigungsverbot nicht anerkannt hat und regelmäßig einen besonderen funktionalen Zusammenhang zwischen der Vermögensbetreuungspflicht und der
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LK-Schünemann § 266 Rn 94. Schönke/Schröder-Lenckner/Perron 27. Aufl., § 266 Rn 36. 7 Tröndle/Fischer 54. Aufl., § 266 Rn 38. 8 Tiedemann in: FS-Tröndle, 1989, S. 319, 322 f. 9 Ausführlich zum Meinungsstand in der Literatur und zur begrenzten obergerichtlichen Judikatur (OLG Hamm NJW 1973, 1809, 1810; OLG Köln JMBl NRW 1958, 208) MüKo-Dierlamm § 266 Rn 163 ff. 6
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Schädigung des Treugebers verlangt.10 Seit jeher betont die Rechtsprechung, dass auch bei einem bestehenden Treueverhältnis differenziert werden muss, das heißt, auch eine Treuebeziehung kann Verpflichtungen enthalten, deren Wahrung nicht von § 266 Abs. 1 StGB geschützt wird. So ist die Nichtabführung von Provisionen, die ein Vorstand einer AG vom Vertragspartner für den Abschluss eines Geschäfts erhalten hat – sofern dieses nicht nachhaltig ist – ungeachtet der Abgabeverpflichtung nach § 667 BGB nicht als Untreue nach § 266 Abs. 1 StGB behandelt worden.11 Wäre ein allgemeines Schädigungsverbot anzuerkennen, so hätte der Vorstand im vorstehend geschilderten Fall wegen seiner Vermögensbetreuungspflicht dafür Sorge tragen müssen, dass die allein der AG zustehende Provision (§ 667 BGB) auch in das Vermögen der Gesellschaft gelangt. Auch der 3. Strafsenat kommt in seiner Mannesmann-Entscheidung nicht umhin, die Gültigkeit dieser Judikatur anzuerkennen. Bei seinen Hinweisen für die neue (zwischenzeitlich erfolgte) Hauptverhandlung ist zu lesen: „Zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass sich der Angeklagte Dr. E. durch seine Mitwirkung an der Vorbereitung und der Umsetzung der Beschlüsse über die ihm und den anderen Vorstandsmitgliedern gewährten freiwilligen Sonderzahlungen lediglich wegen Beihilfe zur Untreue strafbar gemacht haben kann; denn ihn traf im Zusammenhang mit diesen Beschlüssen keine Vermögensbetreuungspflicht gegenüber der Mannesmann AG“.12 Zieht man ein erstes Fazit, so erscheint das allgemeine Schädigungsverbot als „Auffangstatbestand“ weder erforderlich noch sachgerecht. Der Blick auf die Historie des allgemeinen Schädigungsverbots im Schadensersatzrecht ist dabei hilfreich. Das „alterum non laedere“ in seiner klassischen Formulierung im 1. Titel des 1. Buches der Institutionen Justinians „Über Gerechtigkeit und Recht“ beinhaltet als Gebote des Rechts „ehrenhaft leben, keinen anderen verletzen, jedem das Seine gewähren“,13 hat aber keine durchgängige Anerkennung als Generalnorm für das Schadensersatzrecht gefunden. Viel-
10 Ausführlich zum funktionalen Zusammenhang Lenckner/Perron aaO Rn 23; Seier in Achenbach/Ransiek (Hrsg.) Handbuch Wirtschaftsstrafrecht, 2004, Kapitel V 2, Rn 155 („Zwischen der Vermögensbetreuungspflicht und dem Täterhandeln muss ein innerer Zusammenhang bestehen“; unter Hinweis auf BGH NJW 1992, 251, BGH NJW 1988, 2483, BGH wistra 1986, 256). 11 Geradezu „klassisch“ der Fall ASS (BGH NStZ 1995, 233); vgl. ferner BGHR StGB § 266 Abs. 1 Vermögensbetreuungspflicht 17; BGH NStZ 1986, 361. 12 BGH aaO (Fn 1) Tz. 79. 13 Einen Überblick über die historischen Wurzeln des allgemeinen Schädigungsverbots im Haftungsrecht bietet Schiemann JuS 1989, 345, der zu der Schlussfolgerung gelangt (aaO S. 350), dass „Schädigungen – nicht unbedingt rechtlich, wohl aber statistisch gesehen – in unserer Gesellschaft unvermeidlich sind“. Gleiches gilt für Treuhänder.
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mehr bestimmt § 280 Abs. 1 BGB als Grundnorm des Schadensersatzrechts im Schuldverhältnis, dass der Schuldner „eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis“ verletzen muss, § 241 Abs. 1 BGB definiert – wenngleich wenig konkret und lediglich generalisierend – die Pflichten aus dem Schuldverhältnis. Es besteht also kein Anlass, beim Fehlen konkretisierender Pflichtenbestimmungen – solche liegen für Vorstand und Aufsichtsrat in Form der aktienrechtlichen Vorschriften und deren Ausfüllung durch Rechtsprechung und Literatur vor – auf ein allgemeines Schädigungsverbot zurückzugreifen. Nicht nur für das Schadensersatzrecht, sondern auch für § 266 StGB gilt der Satz, dass ein Übermaß an Pflichtenkonstituierung in Konflikt mit den erwünschten Handlungsaktivitäten geraten kann. Hierzu mit Blick auf Pflichtwidrigkeit und Schaden bei § 266 StGB:
Schaden gleich Pflichtverletzung? Bestimmt man – in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung 14 – den Schaden durch einen Vergleich der Vermögenslage vor und nach der vermeintlichen Tathandlung, so sind eine Vielzahl von Maßnahmen eines Vermögensbetreuungspflichtigen – weil das Vermögen zwingend mindernd – unmittelbar schadensstiftend. Wenden wir uns – die großen Unternehmen negierend – einem Geschäft auf der Düsseldorfer Königsallee zu, das hochpreisige Lederwaren einer italienischen oder französischen Edelmarke an die aufstrebende russische oder bereits vertraute nahöstliche Kundschaft veräußert und dessen Geschäftsführer über einen Zugang zur gut gefüllten Kasse verfügt, deren Einnahmen er auf ein von ihm eingerichtetes Bankkonto einzahlt und – nach Abzug der Aufwendungen – an den Geschäftsherrn abführt. Greift er in die Kasse, um eigene Bedürfnisse zu befriedigen, wird niemand an einer Pflichtverletzung zweifeln. Verwendet er einen 20 EuroSchein hingegen, um den zur Öffnungszeit vor der Tür positionierten Bettler zu bewegen, vor dem Eingang der Konkurrenz Quartier zu machen, schädigt er zwar den Treugeber; ob er indes pflichtwidrig handelt, ist bereits deshalb fraglich, weil die eine oder andere potentielle Kundin ansonsten den Weg in das Ladenlokal nicht gefunden hätte. Hält er es schließlich – im Weihnachtsgeschäft – für eine schlichte Anstandspflicht, einer zehn Stunden ohne Pause arbeitenden erschöpften Angestellten am Samstagabend die Heimfahrt mit einem Taxi aus Kassenmitteln zu erstatten, so ist der Schaden im Sinne des § 266 StGB – die Kasse ist reduziert – nicht zu bezweifeln, wohl aber das Verdikt einer Pflichtverletzung mit Blick auf die von Fürsorge gegenüber einem Arbeitnehmer geprägte Verhaltensweise des Geschäftsleiters. Anders verhält
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Grundlegend BGHSt 16, 220, 221.
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es sich, wenn er die augenscheinlich unlimitierte Ausgabefreudigkeit seiner Kundschaft für überflüssige Luxusartikel und die hohen Einnahmen zum Anlass nimmt, großzügig und flächendeckend durch Barspenden an Obdachlose für eine Verteilung von Vermögen Sorge zu tragen: Das ethisch hochstehende Motiv kann die Pflichtwidrigkeit nicht kompensieren.15 Sie ergibt sich – ebenso wie im Fall der Verwendung der Gelder für eigene Ausgaben – aus der exklusiven Befriedigung individueller Bedürfnisse ohne jeden Bezug zur Funktion und Aufgabenstellung. Das Kaleidoskop der Geldverwendungsvarianten in der Miniatur des Edeltrödel – allesamt einen Schaden i.S.d. § 266 StGB begründend – zeigt auf, dass eine fehlende präzise Ermittlung der jeweiligen Pflicht nicht durch ein allgemeines Schädigungsverbot ersetzt werden kann. Dabei gilt indes: Das ausschließliche Interesse des Treugebers an Vermögensmehrung und Vermögensbewahrung als alleiniger Maßstab für die Beurteilung eines pflichtgemäßen Verhaltens mag mit einer der kurzfristigen Gewinnmaximierung verpflichteten kapitalistischen Wirtschaft ohne Einbindung in die Gesellschaft noch kompatibel sein, für eine den grundlegenden Maximen der Gesellschaft gerecht werdende und den „ultima ratio“-Gedanken des Strafrechts aufgreifende Ökonomie taugt es nicht.
Die Philosophie von John Rawls Zu den überragenden Arbeiten des zwanzigsten Jahrhunderts im Bereich der politischen Ethik gehört „Eine Theorie der Gerechtigkeit“ des amerikanischen Philosophen John Rawls.16 Nach Otfried Höffe zählt die Anzahl der Publikationen, die sich mit seinem Werk befassen, einige Tausend.17 Es ist 15
Allerdings zeigte der BGH in BGH GA 1956, 121, 122 Verständnis für eine solche Praxis. Der Angeklagte hatte als Bürgermeister „gegen Zahlung von Geldbußen darauf (verzichtet), Anzeigen wegen Beleidigung städtischer Beamter zu erstatten. Das eingenommene Geld verwahrte er in einer Zigarrenkiste und verwandte es für die Armen“. Vom Vorwurf der Untreue befreite der BGH den „Wohltäter“ mit der Begründung, dass dem Urteil nicht zu entnehmen sei, „dass der Angeklagte den Nachteil erkannt hat, den er durch seinen Verstoß gegen die Buchführungspflicht der Stadt zufügte, und daß er einen solchen Schaden billigte, zumal er die Gelder für Gemeindezwecke verwendet hat“. 16 John Rawls A Theory of Justice, 1971; zu Deutsch: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1. Aufl, Frankfurt/Main 1975. 17 Höffe in: Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit (Hrsg. Höffe) 2. Aufl., Berlin 2006, Vorwort S. 1; die Philosophie von John Rawls hat inzwischen Eingang in die Rechtsphilosophie gefunden; vgl. dazu die instruktive Darstellung von Schwill JA 2002, S. 433; siehe ferner van Aaken/Hegemann Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 2002, 29, 45f; Haucke Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 2005, 49 ff; Mathis Effizienz statt Gerechtigkeit, Schriften zur Rechtstheorie, Heft 223, 2. Aufl., Berlin 2006, S. 131ff; Zippelius Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 2007, S. 85 ff; Ellscheid in: Kaufmann/Hassemer/Neumann (Hrsg.) Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl. 2004, S. 186 ff.
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hier nicht der Ort, sich mit dem großen Entwurf der von Kant beeinflussten Philosophie Rawls’ und der damit verbundenen Gegenposition zum Utilitarismus auseinanderzusetzen. Das Bundesverfassungsgericht hat es einmal gewagt, einen zentralen Begriff der Philosophie von John Rawls in seine Entscheidung zum Länderfinanzausgleich einzubringen und als Argumentationstopos zu verwenden – „Auch wenn sich nicht ein allgemeiner ,Schleier des Nichtwissens‘ (Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1. Aufl. 1975, S. 29 ff, 159 ff) über die Entscheidungen der Abgeordneten breiten lässt, kann die Vorherigkeit des Maßstäbegesetzes eine institutionelle Verfassungsorientierung gewährleisten, die einen Maßstab entwickelt, ohne dabei den konkreten Anwendungsfall schon voraussehen zu können“ 18 – und sich dafür herbe Kritik eines Verwaltungsbeamten eingehandelt (eine hypothetische Denkfigur aus dem Bereich der politischen Ethik dürfe nicht „auf die ‚Echt-Situation der grundgesetzlichen Finanzverfassung‘ übertragen werden“).19 Wie dem auch sei: Person und Werk sind so unbedeutend nicht, als dass das Strafrecht nicht Gewinn aus seiner Arbeit ziehen könnte. Hilfreich – und als Grundlegung für „richtiges“ Handeln tragfähig – ist daher allemal das von Rawls eingebrachte Prinzip der „Gerechtigkeit als Fairness“, das er – als Grundsatz für den einzelnen Menschen – wie folgt definiert: „Wenn sich mehrere Menschen nach Regeln zu gegenseitiger nutzbringender Zusammenarbeit vereinigen und damit ihre Freiheit zum Vorteil aller beschränken müssen, dann haben diejenigen, die sich diesen Beschränkungen unterwerfen, ein Recht darauf, daß das auch die anderen tun, die Vorteil davon haben. Man darf bei der Zusammenarbeit nicht die Früchte fremder Anstrengung in Anspruch nehmen, ohne selbst seinen fairen Teil beizutragen“.20 An anderer Stelle erläutert Rawls den Grundsatz der Fairness in ähnlicher Form: „Wie schon bemerkt, ist der intuitive Gedanke folgender: Nehmen mehrere Menschen an einem gegenseitig nutzbringenden gemeinsamen Unternehmen nach gewissen Regeln teil und beschränken damit ihre Freiheit, so haben diejenigen, die sich diesen Beschränkungen unterwerfen, einen Anspruch auf entsprechende Unterwerfung bei denen, die davon Vorteile haben. Man darf keinen Nutzen aus der Mitarbeit anderer ziehen, ohne selbst seinen fairen Beitrag zu leisten“.21 18
BVerfG NJW 2000, 1097, 1098. So Lindner NJW 2000, 3757, 3760, der immerhin konzediert, dass John Rawls mit seinem Werk der politischen Philosophie 1971 neues Leben eingehaucht habe. 20 Rawls aaO S. 133 unter Hinweis auf H.L.A. Hart Are There Any Natural Rights? Philosophical Review 64 (1955) 185 f. 21 Rawls aaO S. 378. 19
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Von Bedeutung ist dabei, dass Rawls den Fairnessgrundsatz für eine Unterscheidung von Pflichten (duty) und Verpflichtungen (obligation) heranzieht; in seiner Sprache: Er (scil: der Fairnessgrundsatz) dürfte eine bessere Unterscheidung von Pflicht und Verpflichtung ermöglichen. Der Ausdruck „Verpflichtung“ bleibt also moralischen Forderungen vorbehalten, die sich aus dem Fairnessgrundsatz ableiten, die anderen heißen „Pflichten“.22 Darf nun ein so verstandener Fairnessgrundsatz eine Rolle bei der Vermögensbetreuungspflicht des § 266 StGB – im Verhältnis zwischen Treugeber und Treunehmer – spielen? § 266 StGB ist Vermögensdelikt, der Vermögensbetreuungspflichtige ist aufgerufen, die wirtschaftlichen Werte seines Treugebers nicht zu schädigen, sie zu erhalten und – wenn konkrete Chancen bestehen – zu mehren. Für „Fairness“ ist auf den ersten Blick kein Raum, die Diskussion solcher Topoi mag den Moralphilosophen vorbehalten bleiben, da auch der Begriff des Unternehmenswohls nicht zwangsläufig mit so explizierten Ethikregeln verbunden ist.
Der Fairnessgrundsatz in Wirtschaft und Gesellschaft Wendet man sich – um ein erstes Segment einer globalisierten Wirtschaft aufzurufen – dem internationalen Handel zu, so wird der Stellenwert der „Fairness“ als Synonym normativer Ansprüche für Form und Inhalt der Handelsbeziehungen zwischen hoch entwickelten Industriestaaten und Entwicklungsländern rasch erkennbar. In ihrem Buch „Fair trade for all“ befassen sich Stiglitz und Charlton – der Erstere Nobelpreisträger für Ökonomie – mit der Gewinnung von Prinzipien für den freien Welthandel.23 Sie stellen die Frage nach den Kennzeichen eines „fairen“ Verhandlungsablaufs und den Kriterien eines „fairen“ Vertrages und konstatieren: „There are no universal answers to these questions, but there are answers that derive legitimacy from commonly agreed values implemented in a democratic process“.24 Stieglitz/Charlton erheben die Forderung, dass „any agreement should be fair“ und „any agreement should be arrived at fairly“, wobei sie beide Prinzipien als notwendige Voraussetzung sowohl für ein Wachstum der armen Länder als auch eine weitere Entwicklung der technisierten Länder postulieren.25 Auch wenn die Kategorie der Fairness hier aus dem Ungleichgewicht 22 Rawls aaO S. 134 ff, 368 ff; zu der Differenzierung ausführlich Forst in: Höffe aaO (Fn 17) S. 188 ff. 23 Stiglitz/Charlton Fair Trade For All, New York 2005. 24 Stiglitz/Charlton aaO S. 67. 25 Vgl. Stiglitz/Charlton aaO S. 68.
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zwischen den „developing countries“ resultiert und daher für Gleichgewichtssituationen – einen unbeschränkten freien Welthandel unter Gleichen – durch die Marktmechanismen substituiert werden soll, ist nicht zu verkennen, dass sich die moralische Verpflichtung in diesem bedeutsamen Bereich des Wirtschaftslebens zu einer vernunftbegründeten Maxime wandeln kann und bereits wandelt. Nun wäre es verfehlt, den Vorstand einer global tätigen AG bei Leistungs- und Lieferbeziehungen mit Lieferanten in Entwicklungsländern auf Kategorien des „Fair trade for all“ zu verweisen und von ihm Rücksicht auf den Vertragspartner beim Abschluss von Rahmenverträgen zu verlangen. Umgekehrt aber wäre es schlechterdings nicht vertretbar, die Waffe des Strafrechts – in Gestalt von § 266 StGB – dafür einzusetzen, dass das zuständige Vorstandsmitglied oder der Gesamtvorstand von dem äthiopischen Kaffeebauern den letzten Cent an Preisnachlass herauspresst. Dabei hilft es wenig, dass § 266 Abs. 1 StGB – wie der Wortlaut der Vorschrift belegt – nicht die unterlassene Vermögensmehrung pönalisiert, sondern nur die Nachteilszufügung.26 Die insoweit maßgebende Entscheidung BGHSt 31, 232, 234 hebt darauf ab, dass der Treuhänder, der in Verhandlungen einen Preis erzielt hat, der dem Verkehrwert entspricht, grundsätzlich nicht verpflichtet sei, in weiteren Verhandlungen einen höheren Preis zu erzielen. Der Verlust – so der Senat – „einer nur mehr oder minder gesicherten Aussicht eines Geschäftsabschlusses (kann) noch nicht als Vermögensschaden im Sinne des § 266 StGB angesehen werden“.27 Die Exspektanz einer Vermögensmehrung, nämlich eine – wie BGHSt 31, 232, 235 ausführt – „deutlich gewordene Möglichkeit eines dem betreuten Vermögen vorteilhaften (sich vermögensmehrend auswirkenden) Vertragsschlusses darf der Treupflichtige nicht vereiteln oder unberücksichtigt lassen.“ Wenngleich diese Fallkonstellation bislang – soweit ersichtlich – von der Judikatur nur in den Schmiergeldfällen bejaht wurde,28 ist der Grat schmal: Erkennt der Vorstand, dass es anderen Marktteilnehmern gelungen ist, billiger einzukaufen, und er diese Preisvorstellungen – die dem (unfairen) Marktpreis entsprechen – ebenfalls realisieren könnte, läge eine Anwartschaft im Sinne von BGHSt 31, 232 nicht fern. Dem lässt sich nicht entgegenhalten, dass eine Akzeptanz höherer Preise und der Verzicht auf ein „optimiertes“ Preisniveau dann von § 266 StGB verschont bleiben, wenn das Unternehmen – aus Imagegründen – diese Haltung gegenüber Kunden, Mitarbeitern und der Öffentlichkeit kommuniziert und damit – mittel- und langfristig – zielgerichtet die Reputation und das Standing eines nach ethischen Regeln ver26 So die hM; vgl. die Nachweise bei Schünemann NStZ 2006, 200; anders aber NKKindhäuser 2. Aufl., § 266 Rn 97 f. der beispielhaft auf die unterlassene Anlage von Mündelgeld durch den Vormund verweist. 27 Sogenannte Pfarrpfründe-Entscheidung (BGHSt 31, 232, 234). 28 Siehe zuletzt BGH NStZ 2006, 210, 213 – Kölner Müllskandal.
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fahrenden Marktteilnehmers generiert. So selbstverständlich – seit BGHSt 47, 187 – sich die Zulässigkeit eines breit gefächerten Sponsoring aus strafrechtlicher Sicht darstellt, so wenig genügt dieser Ansatz für die Implementierung von Fairnessregeln, da er – quasi als Kompensation für den Anstand gegenüber dem wirtschaftlich massiv unterlegenen Vertragspartner – die Vermarktung dieser Haltung als notwendige Bedingung zur Vermeidung einer Strafverfolgung voraussetzt. Es ist nicht einzusehen, weshalb die von einer „Tue Gutes und rede darüber“-Kommerzialisierung freie Verfahrensweise dem Verdikt der Untreue ausgesetzt sein soll, weil sie – in Form der bewussten Inkaufnahme schlechterer Einkaufskonditionen – gegen das allgemeine Schädigungsverbot verstoßen könnte. Der Themenkreis lässt sich erweitern: Bernsmann hat kürzlich unter Hinweis auf Beiträge im gesellschaftsrechtlich-betriebswirtschaftlichen Schrifttum im Anschluss an die Mannesmann-Entscheidung die Fragestellung aufgeworfen, ob ein auf Arbeitnehmerinteressen bezogenes Unternehmensinteresse dann noch gewahrt ist, wenn in einem profitablen Unternehmensbereich – der bereits dauerhaft 10–12% Rendite erwirtschaftet – ein drastischer Abbau von Arbeitsplätzen durch die Verlagerung von Betriebsstätten ins Ausland mit dem Ziel der Steigerung der Rendite auf 15 % erfolgen soll.29 Er hat dabei die offenkundige Hintanstellung von Arbeitnehmerinteressen als Ausprägung eines Verstoßes gegen das Unternehmenswohl im Auge und kommentiert diese jedenfalls nicht nur theoretische Fallgestaltung mit den Worten: „Wenn es denn wirklich zureffen sollte, dass ,Untreue immer geht‘, würde der geschilderte Sachverhalt Gelegenheit geben, dies in einer ungewohnten Richtung zu bestätigen“.30 Ein Wechseln der Perspektive – das Podest des „allgemeinen Schädigungsverbots“ einnehmend – könnte den Blick auf eine – strafrechtlich bewehrte (?) – Pflicht des Vorstands richten, die diesen dazu zwingt, den Abbau von Arbeitsplätzen deshalb zu bewirken, weil eine höhere Rendite mit weniger Beschäftigten sicher zu erzielen ist. In diesem Sinne wäre die Aufrechterhaltung einer bestimmten Anzahl von Arbeitsplätzen (mit laufenden Lohnzahlungen) eine Schadenzufügung für die Kapitalgesellschaft, weil der – überflüssige – Personalaufwand keinen zusätzlichen Ertrag erbringt und sich als vorsätzliche Schädigung darstellt. Der Begriff der „Fairness“ – als Handlungsmaxime auch von Organen von Kapitalgesellschaften – kann es gebieten, auf die Entlassung von Arbeitnehmern, soweit Lage und Ertrag der Gesellschaft dies zulassen, zu verzichten, auch wenn mit dieser Entscheidung zugleich eine höhere Rendite vermieden wird. Nun ist nicht zu verkennen, dass auch der 3. Strafsenat bei
29 30
Vgl. GA 2007, 219, 228 mit Hinweis unter anderem auf v. Werder ZGR 1993, 69, 84 ff. Bernsmann aaO S. 229.
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einer solchen Konstellation das Interesse der Arbeitnehmer als Bestandteil des Unternehmenswohls begreifen und deshalb schwerlich zu einer Tatbestandsmäßigkeit nach § 266 Abs. 1 StGB gelangen würde. Indes wären hierfür nicht Fairnessaspekte maßgebend, sondern allein die tradierte gesellschaftsrechtliche Doktrin, wonach – wie es im Mannesmann-Urteil heißt – das „Interesse der Gesamtheit der Aktionäre, der Gesellschaftsgläubiger, der Arbeitnehmer oder der Öffentlichkeit“ bei der Frage, ob Mitglieder des Aufsichtsrats „im Unternehmenswohl handelten, mit zu berücksichtigen wäre.“ 31 Kategorien der Fairness spielen dabei keine Rolle; die im Aktienrecht vorherrschende pluralistische Bestimmung des Unternehmensinteresses schließt – ohne dass dies eine besondere Konkretisierung erfährt – die Arbeitnehmerinteressen ein, da sie zum Erfolg des Unternehmens beitragen. Der Faktor „Arbeit“ darf wegen seiner Bedeutung nicht ausgeblendet werden, eine Akzeptanz des Fairnessgrundsatzes für Entscheidungen im Verhältnis zu den Arbeitnehmern – und zugleich eine Sperre gegenüber der Annahme eines Verstoßes gegen das allgemeine Schädigungsverbot – ist damit keineswegs verbunden. Befasst man sich – in einem weiteren Schritt – mit dem Verhältnis des Unternehmens zu Vertragspartnern im Rahmen des Leistungsaustauschs, so wird offenkundig, dass auch hier Fairnesselemente nur in Ausnahmefällen Eingang in die Gestaltung der Beziehungen finden, jedenfalls aber nicht konstituierende Bausteine von Geschäftsverbindungen sind. Dies können sie regelmäßig auch nicht sein, weil das Wirtschaftsleben von der jeweiligen Wahrnehmung der eigenen Interessen geprägt ist und jede Vertragspartei auf die Realisierung der optimalen Konditionen ausgerichtet ist. Hiergegen ist nichts zu erinnern, die Regulative über GWB und UWG sowie § 263 StGB bedürfen keiner Ergänzung. Sehr wohl aber stellt sich erneut die Frage, ob § 266 StGB – über das Institut des allgemeinen Schädigungsverbots – als strafrechtliches Vehikel dienen soll, um eine von jedweder Rücksichtnahme befreite radikale Durchsetzung von Interessen zu flankieren. Konkret: Muss ein Vorstand – wenn ein Zulieferer über viele Jahre oder Jahrzehnte zuverlässig seine Leistungen erbracht hat – den Preis auch dann noch „drücken“, wenn dies mit der Gefahr der Illiquidität oder Überschuldung (für den Zulieferer) verbunden ist, oder darf er zur Sanierung des Vertragspartners schlechtere Bedingungen akzeptieren – und zwar ohne die sichere Perspektive, dass zukünftig die alte Leistungsstärke wieder hergestellt wird? Das weite Feld des Profisports wird in einem noch vor einem halben Jahrhundert unvorstellbaren Maß von kommerziellen Interessen bestimmt, das Wachstum der Brache ist allenfalls noch mit den Exzessen des Neuen Marktes Ende der 1990er Jahre des letzten Jahrhunderts vergleichbar. Transfer-
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BGH aaO (Fn 1) Tz. 27; hierzu Bernsmann aaO S. 223.
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summen beim Wechsel von Fußballspielern liegen routinemäßig im Millionen Euro-Bereich, die Gehälter und Prämien mancher gerade wahlberechtigten „Kicker“ entsprechen den Vorstandsvergütungen bei DAX-30 Unternehmen. Man könnte auf die Idee verfallen, diesen Kreis hochbesoldeter Angestellter der ausgegliederten Fußball-GmbHs und KGaAs der Vereine als vermögensbetreuungspflichtig zu begreifen und sie mit der Frage der Pflichtwidrigkeit zu konfrontieren. Naturgemäß ist der Handlungsspielraum im Rahmen der Wahrnehmung der Pflichten extensiv zu bestimmen: Der Stürmer darf selbst entscheiden, welche Laufwege er zurücklegt und ob er das Soll seines Trainers erfüllt. Konflikte sind indes programmiert, wenn es um das „Fair Play“ versus sportlichen Erfolg geht: Ist der Spieler berechtigt, die von ihm verübte Regelwidrigkeit bei einem Torerfolg gegenüber dem Schiedsrichter zu offenbaren und damit zugleich Millionenverluste seines Arbeitgebers durch die Nichtteilnahme an einem internationalen Wettbewerb in der kommenden Saison sicher zu produzieren? Oder ist Voraussetzung für seine Straffreiheit die Kompensation des entgangenen Gewinns über das so gewonnene Image des „sauberen Vereins“, dessen operativ tätigen Kräfte den Grundsatz der Fairness auch dann aufrechterhalten, wenn der überforderte Spielleiter seine Einhaltung nicht garantieren kann? Welche Konsequenzen – in Form der allmählichen Vernichtung eines Sportsegments – eine allein auf Gewinnstreben über sportliche Erfolge ausgerichtete Missachtung von „Fair Play“-Regeln zeitigen kann, belegt etwa die Entwicklung im drogenverseuchten Profi-Radsport. Die sich abzeichnende Imageerosion der Velo-Protagonisten und der Rückzug ihrer Sponsoren resultieren aus einem dauerhaften Verstoß gegen den Fairnessgrundsatz.32 Noch vor wenigen Jahren wäre die für das Überleben der Marktteilnehmer entscheidende Wahrung dieses Prinzips in Abrede gestellt worden, heute ist jedem die faktische Bedeutung des Grundsatzes – das Regelwerk als solches kennt niemand – bewusst.
BGHSt 47, 187 – Egoismus und Altruismus Die wegweisende Entscheidung des 1. Strafsenats zum Sponsoring ist wegen der von ihr installierten Distinktion zwischen der aktienrechtlichen und der strafrechtlichen Pflichtverletzung – die sich als gravierender Verstoß gegen das Aktienrecht darstellen muss – Gegenstand kontroverser Stellung-
32 Man hätte sich dort auf das von Schiemann aaO S. 347 mitgeteilte Beispiel aus den Erörterungen von Cicero (De Officies 3, 10, 42) besinnen sollen: „Es ist richtig, wenn ein Wettläufer im Stadion mit allen Kräften danach strebt, den Sieg zu erringen. Es ist aber Unrecht, einem Konkurrenten ein Bein zu stellen oder ihn anzustoßen“.
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nahmen im Schrifttum geworden.33 Der 3. Strafsenat verweist in der Mannesmann-Entscheidung darauf, dass die Sponsoring-Entscheidung des 1. Strafsenats allein für den Bereich der Unternehmensspenden Geltung beanspruche: „Anliegen des Urteils ist es, speziell für den Bereich der Unternehmensspenden in ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen unter Berücksichtigung der diese Fallgruppe prägenden Besonderheiten – insbesondere auch mit Blick darauf, dass sich deren Werbewirkung keinesfalls exakt messen lässt und der wirtschaftliche Nutzen für das spendende Unternehmen nicht genau bestimmt werden kann – die Notwendigkeit eines weiten Handlungsspielraums des Entscheidungsträgers zu betonen […]“.34 Und weiter: „Desgleichen bedarf es keiner Auseinandersetzung damit, ob die Problematik der Unternehmensspenden dadurch sachgerechter gelöst werden könnte, dass die Annahme eine strafbaren Untreue nach dem Grundsatz ‚in dubio pro reo‘ ausscheidet, solange nur ein die Spende kompensierender Nutzen für das Unternehmen möglich erscheint (vgl. Samson, Untreue durch Unternehmensspenden? in Non Profit Law Yearbook 2004, S. 233, 241)“.35 Tatsächlich zeigt eine tiefergehende Analyse der Entscheidung, dass der 1. Strafsenat keineswegs zwingend einen – lediglich nicht messbaren – wirtschaftlichen Nutzen und eine Werbewirkung als notwendige Voraussetzung für Sponsoring-Maßnahmen bzw. Spenden ansieht. Sehr viel weitsichtiger betont nämlich der Senat die Unmöglichkeit der Unterscheidung zwischen altruistischem und egoistischem Verhalten mit folgender zentralen Aussage: „Darüber hinaus kann und darf sich der Vorstand als Träger der Unternehmensfunktion nicht der Einsicht verschließen, dass die Aktiengesellschaft für ein dauerhaft erfolgreiches Wirtschaften auf den Rückhalt aller Bezugsgruppen angewiesen ist. Zwischen einem rein altruistischen und einem – langfristig – egoistischen Verhalten, das auf eine für den Erfolg des Unternehmens wesentliche Umweltstabilisierung – ‚good will-Verfestigung‘ – zielt, wird sich daher kaum je eine scharfe Unterscheidung treffen lassen“.36
33 Vgl. beispielhaft Schünemann NStZ 2006, 197; siehe ferner Schünemann NStZ 2005, 476 einerseits, Dierlamm StraFo 2005, 397, 402 und Wollburg ZIP 2004, 646, 656 f. andererseits. 34 BGH aaO (Fn 1) Tz. 36. 35 BGH aaO (Fn 1) Tz. 36. 36 BGHSt 47, 187, 195.
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Dies entspricht der tatsächlichen Situation im Spendenwesen, die nicht auf eine Publikation der „guten Taten“ ausgerichtet ist. Jene Vorstände (und Geschäftsführer einer GmbH), die sich an alljährlichen Sammlungen für Schulen, Jugendarbeit, Kirchengemeinden, karitative Einrichtungen oder Sportvereine beteiligen, bleiben unerwähnt und wollen auch nicht, dass der Name des Unternehmens aufscheint. Auch im Bereich der sehr viel höheren Spenden ist ein „Nutzen“ für das Unternehmen – in Form eines transportfähigen Imagegewinns – keineswegs intendierter Bestandteil der Zahlung. Im Gegenteil: Seit Jahrzehnten gewähren die großen deutschen Kapitalgesellschaften und eine Vielzahl mittlerer Kapitalgesellschaften dem Stifterverband für die deutsche Wissenschaft jährliche – nennenswerte – Spenden. Der Verband kann über die Bündelung allgemeine Wissenschaftsförderung betreiben, ohne dass das einzelne Unternehmen hiervon profitiert. Die Spender handeln mithin altruistisch, der Gewinn für die Gesamtheit der Unternehmen liegt in der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses; ob sich die Spende für die jeweilige Kapitalgesellschaft „rechnet“, bleibt offen. Untreue? Sicher nicht! Von der Einbeziehung altruistischer Zahlungen in der Entscheidung des 1. Strafsenats bis zur Anerkennung eines Fairnessgrundsatzes als begrenzendes Element sowohl der Auslegung der Pflichtwidrigkeit als auch der Indizwirkung eines Vermögensverzichts (Schaden) für eine Pflichtwidrigkeit (allgemeines Schädigungsverbot) ist es nicht mehr weit. Die Sponsoring-Entscheidung liefert also durchaus die Plattform für eine vom schlichten – besser: nackten – Gewinnstreben wegführende Unternehmenskultur, die eine solche Orientierung zwar nicht mit den Mitteln des Strafrechts untersagt, andererseits aber denjenigen nicht einer Gefahr der Pönalisierung aussetzt, der seine Entscheidungen nicht allein von ökonomischen Kriterien abhängig macht, sondern grundlegende Regularien der Ethik in sein Handeln einbezieht. In seiner Rezension der Mannesmann-Entscheidung befasst sich Schünemann – nachdem er die deutschen Strafverfolgungsbehörden dafür lobt, dass sie sowohl den Untreuetatbestand als typisches Wirtschaftsverbrechen unserer Zeit begriffen als auch seine exemplarische Ausprägung in der Organuntreue verstanden hätten – mit der Frage, ob die vom 3. Strafsenat vorgenommene Differenzierung der Zulässigkeit von Anerkennungsprämien bei einer „Anreizwirkung“ für den Destinatär haltbar ist, und verwirft diesen Ansatz mit dem Hinweis, dass eine Prämie sicher dann gerechtfertigt gewesen wäre, wenn „sich der Mannesmann-Vorstandsvorsitzende in der Abwehr der feindlichen Übernahme gesundheitlich aufgerieben und im Moment des Scheiterns einen zur Invalidität führenden Schlaganfall erlitten hätte, der jegliche Anreizwirkung für ihn wie für andere unmöglich gemacht hätte: Wenn ihm daraufhin vom Aufsichtsrat nach eingehender Prüfung der
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Gesamtsituation nachträglich freiwillig eine angemessene Gratifikation gewährt worden wäre, hätte darin niemand eine Untreue finden können“.37 Nun erscheint das Synallagma „Gesundheit gegen Geld“ einigermaßen bizarr, gleichwohl verdeutlicht die Überlegung von Schünemann, dass Kriterien der Fairness nicht aus dem Subsumtionsprozess ausgeblendet werden dürfen. Entscheidend ist danach allein, ob – im Sinne Rawls’ – Anlass bestand, jemandem eine nachträgliche Prämie zuzuerkennen, weil man „bei der Zusammenarbeit nicht die Früchte fremder Anstrengung in Anspruch nehmen (darf), ohne selbst seinen fairen Teil beizutragen“. Ob dem im Mannesmann-Fall so war, wäre Tatfrage gewesen und soll hier nicht debattiert werden.38 Der 1. Strafsenat hat in der Sponsoring-Entscheidung indes zugleich jene Kriterien geliefert, die für eine Abgrenzung zwischen einer vom Fairnessgrundsatz bestimmten – für das Unternehmen nachteiligen – Verfahrensweise und dem pflichtwidrigen Verhalten maßgebend sind: die Angemessenheit mit Blick auf die Ertrags- und Vermögenslage sowie das Vorliegen sachwidriger Motive, namentlich die Verfolgung rein persönlicher Präferenzen und die fehlende innerbetriebliche Transparenz. Alle diese in die
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Schünemann NStZ 2006, 198 f. Anlass für eine Prämiengewährung bot nicht nur der immense Wertzuwachs für die Aktionäre – in deren Interesse der Vorstand die langwierigen Verhandlungen mit Vodafone führte, da sie über die Desinvestition ihres Vermögens zu entscheiden hatten – und die dabei von dem Vorstandsvorsitzenden erbrachten Leistungen und bewirkten Wertsteigerungen, die im Urteil des LG Düsseldorf (NJW 2004, 3275, 3278) zurückhaltend wie folgt umschrieben werden: „Zwar ist unbestreitbar, dass sich der Angekl. Dr. Esser unter hohem persönlichen und fachlichen Engagement zunächst für die Selbständigkeit der Mannesmann AG eingesetzt hatte und dann, als sichtbar wurde, dass die Aktionäre gegen die Mannesmann AG und für Vodafone votierten, deren Position beim Umtauschangebot und im zukünftigen gemeinsamen Unternehmen erheblich verbesserte“. Ergänzend kam vielmehr hinzu, dass – insoweit in LG Düsseldorf NJW 2004, 3275 nicht abgedruckt – das Gericht folgende Feststellung traf: „Am 14.11.1999 kam es zu einem Treffen der Zeugen Gent, CEO Vodafone […] mit dem Angeklagten Dr. Esser und dem Zeugen Dr. K. In diesem Gespräch überreichte der Zeuge Gent ein schriftliches Übernahmeangebot mit Datum vom selben Tage, in dem Vodafone der Mannesmann AG […] einen Zusammenschluss der beiden Unternehmen vorschlug und für jede Mannesmann-Aktie 43,7 Vodafone-Aktien bot, was auf der Grundlage des damaligen Börsenkurses für jede Mannesmann-Aktie einen Gegenwert von ca. 203 Euro bedeutete. Die Mannesmann Aktionäre sollten ca. 42 % des zusammengeschlossenen Unternehmens halten. Mündlich offerierte der Zeuge Gent dem Angeklagten Dr. Esser die Position des CEO oder des Co-CEO in dem fusionierten Unternehmen. Dies wurde von diesem ebenso wie das Übernahmeangebot an sich abgelehnt“ (UA S. 11). Die Zurückstellung persönlicher Interessen hatte zur Folge, dass die letztlich vereinbarten Konditionen sich wie folgt darstellten: Umtauschverhältnis 1: 58,96; Wert pro Mannesmann-Aktie 360 Euro und Beteiligungsverhältnis von 49,5 %. Die Erhöhung für die Aktionäre zwischen dem 14.11.1999 und der Einigung am 3.2.2000 belief sich auf 63 Milliarden Euro (UA S. 20 f). Das Stichwort „Fairness“ lag mithin nicht fern. 38
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Gesamtschau einzubeziehenden Umstände beanspruchen für die „Fairnessprägung“ einer unternehmerischen Entscheidung Geltung – und zwar über die Thematik Sponsoring bzw. Spenden hinaus. Ihre Heranziehung ist geeignet, die vermeintlich „fairen“, tatsächlich aber pflichtwidrigen Nachteilszufügungen ihrer Legitimationsbasis zu entziehen. Ein angemessener Preis – mit dem Verzicht auf eine konkrete Optimierung – beruht gleichwohl auf einer Pflichtwidrigkeit, wenn er von einer persönlichen Schmiergeldzahlung infiziert ist; die Verschleierung durch Falschbuchungen lässt den Rückschluss auf sachwidrige Motive zu, und die Angemessenheit mit Blick auf die Ertrags- und Vermögenslage verhindert die ungerechtfertigte Zurücksetzung der Interessen des Treugebers.
Noch einmal: Gerechtigkeit als Fairness Zippelius hält dem Ansatz von Rawls entgegen, dass „auch ‚Fairness‘ eine ausfüllungsbedürftige Form (ist), die allzu vieles offenläßt.“ 39 Dem zu widersprechen, fällt schwer. Indes geht es nicht um die Frage, wie der Begriff im Kontext vermögensrechtlicher Beziehungen im Einzelfall zu interpretieren ist, sondern um den Dualismus zwischen dem strafrechtlichen Postulat einer ungebremsten Durchsetzung der Vermögensinteressen des Treugebers und einer die Strafbarkeit limitierenden Berücksichtigung des Fairnessgedankens bei wirtschaftlichem Handeln – auch um den Preis der Nachteilszufügung. Das allgemeine Schädigungsverbot ist eine allzu verführerische Figur zur Eliminierung der hier eingeforderten Akzeptanz von Fairnesskriterien, eine Funktion weist es ohnehin nicht auf. Rainer Hamm hat jüngst vehement die Unsicherheiten bei der Auslegung des § 266 StGB und der darauf beruhenden Verfolgungspraxis gegeißelt, mit der Generalklausel des § 242 BGB (Verstoß gegen „Treu und Glauben“) verglichen und den Beitrag mit der – pointierten – Überschrift „Kann der Verstoß gegen Treu und Glauben strafbar sein?“ 40 betitelt. Man kann es indessen auch wenden: Ist die Ausrichtung an „Treu und Glauben“ geeignet, Verfolgungsgefahren heraufzubeschwören?
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Zippelius aaO S. 87. Hamm NJW 2005, 1993.
Neuregelungen der Maßregeln der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt in Bund und Ländern Günter Tondorf Vorbemerkung Eine Gesellschaft wird auch danach beurteilt, wie sie mit ihren am meisten Benachteiligten umgeht. Dazu gehören die Menschen im Maßregelvollzug (im Folgenden abgekürzt MRV). Sie sind doppelt stigmatisiert, wie es der unvergessene forensische Psychiater Wilfried Rasch einmal ausgedrückt hat, „krank und kriminell“. Die für schuldlos bzw. vermindert schuldfähig, aber gefährlich beurteilten psychisch oder abhängigkranken Patientinnen und Patienten erbringen der Allgemeinheit durch ihr intensives, langfristiges und unbefristetes Eingesperrtsein ein Sonderopfer. Eine humane Gesellschaft gewährt solchen Menschen Entfaltungsspielräume, indem sie der staatlichen Gewalt Grenzen setzt, dem Gesetzgeber, den Gerichten und den Verwaltungen kein weites Ermessen bei ihren Maßnahmen gegen Patientinnen und Patienten gibt und ihnen, den Kranken und Abhängigen, Rechtsansprüche garantiert.
I. Die Reform des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt Die Reform des Maßregelrechts im StGB und des StPO des Bundes ist ein „leidiges“ Thema.1 Sie hat sich seit den 1990er Jahren dahingeschleppt: Ausgangspunkt war die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Peter Paul Stein vom 8.10.1985,2 die Maßstäbe für die Dauer der Unterbringung setzt und noch heute geeignet ist, überlangen Unterbrin1 U. Schneider Überlegungen zur Änderung des Maßregelrechts, in: Dokumentation der Fachtagung vom 6./7. Mai 2004 in Merzig, Maßregelvollzug – ein neuer Weg oder einfach nur Weg? Hrsg. Ministerium für Justiz , Gesundheit und Soziales Saarland, Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, E-Mail
[email protected], S. 69. 2 BVerfG NJW 1986, 767.
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gungszeiten entgegenzuwirken. Am 20. April 1989 forderte der Deutsche Bundestag die Bundesregierung mit Beschluss vom 20.4.1989 3 auf, ein Konzept zur Novellierung der §§ 63, 64 StGB zu erarbeiten und dabei sicher zu stellen, dass an die Stelle der ausnahmslos unbefristeten Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus eine differenzierte Regelung tritt“. Die Reform wurde wegen der Arbeiten an der Verwirklichung der Deutschen Einheit zurückgestellt. Es bedurfte einer weiteren Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 16. März 1994 zu § 64 StGB („Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nur bei hinreichend konkreter Aussicht auf Behandlungserfolg“),4 um die Reform weiterzubringen. Eine Bund-Länderarbeitsgruppe tagte von 1995 bis September 1997 und legte einen ersten Regierungsentwurf im Februar 1998 vor. Es folgte im Juni 1998 eine Arbeitsgruppe, die vom Strafrechtsausschuss der Justizministerkonferenz eingesetzt wurde. Ein zweiter überarbeiteter Referentenentwurf wurde am 7. März 2000 erstellt. Standen bisher die Grundrechte der Betroffenen und die Ausgestaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Vordergrund der Reformarbeiten, waren es seitdem die Diskussionen um die Sicherheit der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten der Patientinnen und Patienten in den forensischen Anstalten, die durch den Fall „Schmökel“ ausgelöst wurden. Der Freistaat Bayern, ausgewiesener Protagonist des aufkeimenden neuen Zeitgeistes „Sicherheit“ und „Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten“ brachte seinen umstrittenen Gesetzesantrag zur „Verbesserung der Vollstreckung freiheitsentziehender Maßregeln der Besserung und Sicherung“ in den Bundesrat ein.5 Aufgrund von Änderungsanträgen mehrerer Bundesländer kam es zu weiteren Verzögerungen bis schließlich der Bundesrat einen zweiten Referentenentwurf 6 in den Deutschen Bundestag einbrachte. Der Entwurf konnte nicht mehr beraten werden und fiel der Diskontinuität anheim. Der Freistaat Bayern gab nicht auf. Auf seine Initiative wurde im Herbst 2002 eine weitere Arbeitsgruppe des Strafrechtsausschusses der Justizministerkonferenz „Fragen der Maßregelvollstreckung“ eingesetzt. Daraus erwuchsen zwei Initiativen: der gemeinsame Gesetzesantrag der Länder Bayern und Sachsen-Anhalt7 und der Referentenentwurf des Bundesjustizministeriums.8 Am 25.4.2007 wurden schlussendlich der Gesetzentwurf der Bundesregierung verabschiedet, der Gesetzentwurf des Bundesrates glücklicherweise abgelehnt.9 3
BT-Drs. 11/2597. BVerfGE 91, 1. 5 BR-Drs. 775/01. 6 BT-Drs. 14/8200. 7 BR-Drs. 455/04 = nach Einbringung in den Bundestag = BT Drs. 15/3652, alsdann wegen Diskontinuität entfallen; neu eingebracht = BT-Drs. 16/1344. 8 BT-Drs. 16/1110. 9 Ausführlich zur Gesetzesgeschichte Schneider aaO (Fn. 1). 4
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Über 20 Jahre wurde über die Reform des Maßregelrechts diskutiert und gestritten: im Bund, der die Gesetzgebungskompetenz für das Maßregelrecht hat, in den Ländern, die für den Vollzug zuständig sind, in den psychiatrischen Anstalten, die für die Heilung und Besserung der Patientinnen und Patienten zu sorgen haben, und schließlich in der Justiz, die sich mit den Defiziten der Gesetze zu befassen hatte. So war der Bundesgerichtshof des Öfteren gezwungen, in Revisionsverfahren die im Urteil häufig nur eingeschränkt dargelegten Gründe für die Anordnung der Maßregel des § 64 StGB, insbesondere der Vollstreckungsreihenfolge zu überprüfen – ein weites Feld für Verteidiger in Revisionssachen, an deren vorderster Front der Jubilar tätig ist. Begleitet wurden die jeweiligen Reformbestrebungen von den Experten auf wissenschaftlichen Symposien zum MRV wie in Bad Lippstadt/Eickelborn oder Maria Laach, die an konstruktiver Kritik (hoffentlich sehen es die Gesetzesverfasser auch so!) nicht sparten. Viel Tinte ergoss sich in wissenschaftliche Beiträge, die heute Makulatur sind. Der Gesetzgeber blieb nicht ganz untätig. Er ersetzte – sozusagen an der eigentlichen MRV-Reform vorbei – in einer Ad-hoc-Aktion die „Verantwortungs- und Erprobungsklausel“ 1998 durch eine „Sicherungs- und Verantwortungsklausel“ (§ 57 Abs. 1 Nr. 2 StGB) bzw. eine „Erwartungsklausel“ (§ 67d Abs. 2 StGB) einerseits und änderte anderseits den prozessualen Prognosemaßstab in den §§ 454 Abs. 2 StPO und 463 Abs. 3 StPO mit verhängnisvollen Folgen für die Patienten in den MRV-Kliniken. Die Einweisungen nahmen signifikant zu. Die Entlassungen gingen erheblich zurück. Die psychiatrischen Kliniken sind voll, wenn nicht gar überfüllt. Schott,10 Leitender Arzt des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Moringen, sieht den heutigen Maßregelvollzug am Scheideweg: „Um das Ergebnis meiner Einschätzungen vorweg zu nehmen, glaube ich, das entschieden werden muss, ob man bei der Behandlung von Maßregelpatienten Beziehung, psychodynamisches Verstehen, Integration, Nähe, Menschlichkeit, Warmherzigkeit, Natürlichkeit und soziale Entwicklung ernst nimmt, oder ob Distanz, Entwertung, Mystifizierung des Bösen, paranoide Abwehr, institutionell-herrschaftliche Bürokratisierung, tendenziöse Pseudoverwissenschaftlichung, Denaturierung, Entmündigung, Hospitalisierung, soziale Entfremdung und architektonischer Sicherungswahn ein Gebilde beherrschen, das oft nur noch der Verwahrung dient und sich von Heilung verabschiedet hat. No cure, but control, wie es vermeintlich therapeutisch so bescheiden heißt.“
10 M. Schott Recht und schlecht – Über die Organisation von Menschenleben im Maßregelvollzug, in: Schriftenreihe des Instituts für Konfliktforschung, Bd. 29 (Hrsg. I. A. Rode et al.), LIT Verlag Berlin 2007, S. 99.
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Wie ist nun das Gesetz zur Reform des Rechts der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus und in einer Entziehungsanstalt vom 25.4.2007 zu beurteilen? Die wichtigsten Änderungen erfuhr § 64 StGB. Die Vorschrift wurde in eine Soll-Bestimmung umgeändert. Es bleibt aber dabei, dass das Gericht die Unterbringung anordnen muss, wenn die Voraussetzungen des § 64 StGB vorliegen. Lediglich in besonderen Ausnahmefällen darf es von der Unterbringung absehen. Es soll ausweislich der Gesetzesbegründung dabei bleiben, dass die Sprachunkundigkeit eines Ausländers alleine nicht Grund sein kann, auf seine Unterbringung zu verzichten. Die Gründe für die Umkehr der Vollstreckungsreihenfolge bei Ausländerinnen und Ausländern mit ungesichertem Aufenthaltsstatus wurden eng gefasst. Sie beschränkt sich auf tatsächlich zeitnah ausreisende Menschen, § 67 Abs. 2 Satz 4 StGB. Der Vorab-Vollzug kann bei Freiheitsstrafen von über drei Jahren so erfolgen, dass der Betroffene künftig nach der Therapie direkt in die Freiheit entlassen werden kann, § 67 Abs. 2 Satz 2 und 3 StGB. In der Gesetzesbegründung wird festgehalten, dass dies nicht zu einer Verlängerung der Gesamtdauer des Entzuges führen darf. Die einstweilige Unterbringung nach § 126a StPO kann jetzt – ebenso wie die Untersuchungshaft – außer Vollzug gesetzt werden und wird strenger als bisher vom Gericht kontrolliert, § 126a Abs. 2 StPO. Zudem wird der Einsatz externer Gutachter gestärkt. So können die Unterbringungszeiten gekürzt und Fehleinweisungen korrigiert werden. Eine frühzeitige Überweisung in den Maßregelvollzug wurde bei Anordnung der Sicherungsverwahrung ermöglicht, wenn bei dem oder der Verurteilten ein Zustand nach §§ 20, 21 StGB vorliegt. Zwei Kröten muss Rainer Hamm schlucken: • Die eine Kröte ist die Durchbrechung des Verbots der reformatio in peius für Fälle, in denen eine wegen angenommener Schuldunfähigkeit gemäß § 20 erfolgte Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach erfolgreicher Revision des Angeklagten aufgehoben werden muss und sich in der neuen Hauptverhandlung herausstellt, dass der Angeklagte voll schuldfähig war, § 358 Abs. 2 Satz 2 Satz 2 StPO. • Die andere Kröte findet sich im neuen Recht der Führungsaufsicht: Das neue Recht der Führungsaufsicht ist ergänzend zur Reform des Maßregelrechts zu lesen. Die Führungsaufsicht, der die Patienten des Maßregelvollzugs nach ihrer bedingten Entlassung unterliegen, kann jetzt auf unbestimmte Zeit verlängert werden 11; außerdem gibt es neuerdings bei
11 Zur Kritik vgl. H. Pollähne Die Praxis des Rechts der Führungsaufsicht, in: Was kommt nach dem Strafurteil – Aufsicht, Hilfe, Haft? Zu den geplanten Änderungen im Recht der Führungsaufsicht, Dokumentation der Anhörung vom 26.6.3006, Bündnis 90/ Die Grünen, Bundestagsfraktion (Hrsg.) Berlin, S. 16 (35).
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Verstößen gegen die Mitarbeit des Entlassenen an den nachträglichen ambulanten Betreuungsmaßnahmen eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren, § 145a neu StGB! 12 Ich hoffe, dass sich der Jubilar nicht daran verschluckt hat. Insgesamt ist die Neuregelung moderat ausgefallen, bedenkt man, dass die unausgegorenen Gesetzentwürfe aus dem Bundesrat abgelehnt wurden und bei den gutwilligsten Kritikern 13 Entsetzen auslösten, z.B. § 63 StGB E-BR (Verzicht auf das Erfordernis positiv festgestellter Schuldunfähigkeit oder verminderter Schuldfähigkeit – Erweiterung der Anordnungsvoraussetzungen) oder § 72 StGB E-BR (Wegfall der bisherigen Subsidiaritätsklausel). Inhaltlich erfolgten nur wenige Änderungen des StGB und der StPO zum MRV-Recht. Um zu diesem Ergebnis zu kommen, benötigte der Gesetzgeber mehr als 20 Jahre! Das Reformvorhaben geriet zum Reförmchen! Eine Entkopplung des § 21 StGB als tatbestandliche Eingriffsvoraussetzung für die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) wurde erst gar nicht erörtert. Sie wurde von Haffke 14 schon 1991 in Anlehnung an das österreichische Strafrecht gefordert und wird von Saimeh,15 der ärztlichen Leiterin der Forensik Bad Lippstadt/Eickelborn, in Anlehnung an das Schweizer Strafrecht (§§ 43, 44 Schweizer StGB) neuerdings vertreten. Eine Unterbringung gemäß § 63 ergibt sich danach dann, wenn bei einem Straftäter mit erheblicher Deliktschwere ein direkter Kausalzusammenhang besteht zwischen Anlasstat und krankhafter Störung, Intelligenzminderung oder schwerer anderer seelischer Abartigkeit. Auf das Kriterium der erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit wird verzichtet. Ich könnte mich mit dem Modell anfreunden. Hätte das Justizministerium diesen Vorschlag aufgegriffen, hätten die Gesetzesänderungen das Wort Reform verdient.
II. Die Reform der Maßregelvollzugsgesetze der Länder Die Ausführungen wären unvollständig ohne einen Blick auf den Vollzug der Maßregeln in den Ländern zu werfen. Nach der Föderalismusreform können die Länder den Straf- und Maßregelvollzug eigenverantwortlich regeln, Sie haben hierzu die entsprechende Gesetzgebungskompetenz. Kammeier hat 12 Zur Kritik vgl. statt aller A. Boetticher Was ist vom neuen Bundesgesetzgeber zur Änderung des Maßregelrechts noch zu erwarten? In: Schriftenreihe des Instituts für Konfliktforschung, Bd. 39 (Hrsg. I.A. Rode et al.), LIT Verlag Berlin 2007, S. 43 (51, 67). 13 Statt aller A. Boetticher (Fn. 12) S. 43 (59 ff). 14 B. Haffke Zur Ambivalenz des § 21 StGB, Recht und Psychiatrie 1991, 94. 15 Nahlah Saimeh Maßregelvollzug neu denken – Gedanken zu modifizierten Aufgaben der forensischen Psychiatrie, in: Maßregelvollzug in Zeiten ökonomischer Begrenzung, Sonderdruck, Forensik 2007, 22. Eickelborner Fachtagung.
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die bereits bestehende Rechtszersplitterung mit ihren negativen Auswirkungen für die Patientinnen und Patienten vor der Reform geschildert.16 Nach der Reform entwerfen die 16 Bundesländer nicht nur eigene Strafvollzugs-, sondern auch eigene MRVG. Am Beispiel der Novellierung des Hamburger MRVG (HbgMVollzG) vom 14.6.1989, zuletzt geändert am 11.4.1959, sollen einige wesentliche und typische Fehlentwicklungen aufgezeigt werden: 1. Terminologie Leider hat der Entwurf ohne Not mehr oder weniger stillschweigend die Terminologie von „Patientinnen und Patient“ in schrecklichem Amtsdeutsch in „untergebrachte Person“ geändert. Wir sind in NRW stolz auf die dort gewählte Begrifflichkeit Patientinnen und Patienten, wohl wissend, dass nicht alles, was im MRV geschieht, ärztliche Behandlung bedeutet. Mit der Wahl der Begriffe Patientinnen und Patienten sollte ein Signal gesetzt werden, um einem bloßen Verwahrcharakter im MRV vorzubeugen. 2. Der Konflikt zwischen Resozialisierung und Sicherheit im MRV Sicherheit der Allgemeinheit und Kontrollen verstehen sich im MRV von selbst, sie gehören zum Wesen der Maßregel, ob sie ihr Ziel sind, ist allerdings mehr als fraglich. Eine Überbetonung der Sicherungsaufgabe führt jedenfalls dazu, dass die Patientinnen und Patienten am Ende keine Luft mehr zum Atmen haben, sie sozusagen zu Tode therapiert werden und aus dem sozialen Kontext, auf den doch eingewirkt werden soll, herausgerissen werden. „Freiwilligkeit des Lernens ist unter der Bedingung der Unfreiwilligkeit nur schwer vorstellbar und kaum durchzuhalten“.17 In § 2 Abs. 1 Satz 3 des E HbgMvollzG soll neben dem Ziel, die Patienten zu heilen, als gleichrangig aufzunehmendes Ziel der Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten aufgenommen werden: Es geht bei dieser Erörterung nicht um bloße Gedankenspiele. Dem Gesetzgeber dient die Höherstufung dieses Ziels ganz konkret zur Verschärfung des Gesetzes. Zu nennen sind bspw. die §§ im Entwurf § 3 Abs. 3,18 4 Abs. 2,19 5 Abs. 4,20 23 Abs. 5,21 24 Abs. 3 22 und 26 HmbMVollzG 23. 16
H. Kammeier Föderale Vielgestaltigkeit im psychiatrischen Maßregelvollzug – Empirische und rechtspolitische Anmerkungen, in: Schriftenreihe des Instituts für Konfliktforschung, Bd. 29 (Hrsg. I.A. Rode et al.), LIT Verlag Berlin 2007, S. 75. 17 J. Feest (Hrsg.) Kommentar zum Strafvollzugsgesetz , 5. Aufl. 2006, Rn. 18. 18 § 3 (3) Hbg. MRVollzG: „Soweit dieses Gesetz keine besondere Regelung enthält, dürfen der untergebrachten Person Beschränkungen auferlegt werden, die zur Abwehr einer Gefahr für die Sicherheit […] unerlässlich sind, […]“ 19 § 4 (2) Hbg. MRVollzG: „Vollzugseinrichtungen sind so auszustatten […] dass […] der erforderliche Schutz der Allgemeinheit gewährleistet wird.“
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Das Bundesverfassungsgericht hat die im Strafgesetzbuch geregelten Maßregeln der Besserung und Sicherung ohne weiteres zum Strafrecht gerechnet: 24 „Im Strafrecht liegt der Sachzusammenhang darin begründet, das sich beide Arten von Sanktionen auf die Anlasstat beziehen: die repressive Strafe hat einen direkten Bezug zur Tat, weil die Umstände der Tat das Maß der Schuld und damit die Strafzumessung wesentlich bestimmen. Aber auch die auf Spezialprävention gerichteten Rechtsfolgen stehen in unmittelbarem Zusammenhang zu einer Straftat, die notwendige Voraussetzung – wenn auch nicht hinreichender Grund für ihre Verhängung ist. Die tatsächlichen Feststellungen zum Tathergang, zur Genese der Tat und zum Nachtatverhalten sind nicht nur auf der Ebene der Schuld und Straffrage entscheidungsrelevant, sie stellen zugleich ein wesentliche Entscheidungsgrundlage für die Gefahrprognosen dar. In den Vorschriften über die Maßregeln der Besserung und Sicherung kommt der verfassungsrechtlich notwendige Zusammenhang mit einer Anlasstat durch die Formulierung zum Ausdruck, die Gefährlichkeit des Täters müsse sich aus einer Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat(en) ergeben (vgl. etwa § 63 – Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus […]) Die Anlasstat bildet somit einen wesentlichen Prognosefaktor, so dass der Sachzusammenhang die gemeinsame Normierung von vergeltender und vorbeugender Sanktion rechtfertigt.“ Im Strafgesetzbuch sind in den Bestimmungen der §§ 61 ff die freiheitsentziehenden Maßregeln – darunter an erster Stelle die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus – ihre Anordnung, die Prognose über die Gefährlichkeit des Täters und die Entlassungs- oder Aussetzungsprognosen sowie der hinter dem Gesetz stehende Regelungszweck (Strafzwecke) abschließend vorgegeben. Im Vollzug der Freiheitsstrafe treten an die Stelle der Strafzwecke die Aufgaben des Vollzuges. Als deren ranghöchstes Ziel bestimmt das Bundesverfassungsgericht seit eh und je die Resozialisierung
20 § 5 (4) Hbg MRVollzG: „Die Vollzugseinrichtung unterrichtet die Vollstreckungsbehörde über die Verlegung einer untergebrachten Person in eine andere Vollzugseinrichtung.“ 21 § 23 (5) Hbg MRVollzG: „Vor der erstmaligen Bewilligung einer Vollzugslockerung auch nach einem Widerruf […] unterrichtet die Vollzugseinrichtung die zuständige Polizeidienststelle über die Art der Maßnahme und den Namen, den Vornamen, das Geschlecht, den Geburtstag und -ort sowie das Geburtsland der untergebrachten Person.“ 22 § 24 (3) Hbg MRVollzG: „Wird Urlaub gewährt, unterrichtet die Vollzugseinrichtung die zuständige Polizeidienststelle […]“ 23 § 26 (1) Hbg MRVollzG: „Vor der ersten Bewilligung von Vollzugslockerungen […] ist die Vollstreckungsbehörde zu hören.“ 24 Vgl. BVerfG, 2. Senat, Urteil vom 10.2.2004 – 2 BvR 834/02, 2 BvR 1588/02.
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oder Sozialisation oder neuerdings die „soziale Integration“. Wegen der Bedeutung der Streitfrage möchte ich zwei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zitieren, die eine eindeutige Sprache sprechen: • „Vom Täter aus gesehen erwächst das Interesse an der Resozialisierung aus seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz in Verbindung mit Absatz 1 Grundgesetz. Von der Gemeinschaft aus betrachtet verlangt das Sozialstaatsprinzip staatliche Vor- und Fürsorge für Gruppen der Gesellschaft, die aufgrund persönlicher Schwäche oder Schuld, Unfähigkeit oder gesellschaftlicher Benachteiligung in ihrer persönlichen und sozialen Entfaltung behindert sind; dazu gehören die Gefangenen und Entlassenen.“ 25 • „Der Vollzug der Freiheitsstrafe muss auf das Ziel ausgerichtet sein, dem Inhaftierten ein künftiges straffreies Leben in Freiheit zu ermöglichen. Dieses – oft auch als Resozialisierungsziel bezeichnete – Vollzugsziel der sozialen Integration, für den Erwachsenenstrafvollzug einfachgesetzlich in § 2 Satz 1 StVollzG festgeschrieben, ist im geltenden Jugendstrafvollzug als Erziehungsziel verankert (§ 91 JGG). Der Verfassungsrang dieses Vollzugsziels beruht einerseits darauf, dass nur ein auf soziale Integration ausgerichteter Strafvollzug der Pflicht zur Achtung der Menschenwürde jedes Einzelnen und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit staatlichen Strafens entspricht. Mit dem aus Art. 1 GG folgendem Gebot, den Menschen nie als bloßes Mittel zu gesellschaftlichen Zwecken, sondern stets auch selbst als Zweck – als Subjekt mit eigenen Rechten und zu berücksichtigenden eigenen Belangen – zu behandeln, und mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist die Freiheitsstrafe als besonders tief greifender Grundrechtseingriff nur vereinbar, wenn sie unter Berücksichtigung ihrer gesellschaftlichen Schutzfunktion konsequent auf eine straffreie Zukunft des Betroffenen gerichtet ist. Zugleich folgt die Notwendigkeit, den Strafvollzug am Ziel der Resozialisierung auszurichten, auch aus der staatlichen Schutzpflicht für die Sicherheit aller Bürger. Zwischen dem Integrationsziel des Vollzugs und dem Anliegen, die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen, besteht insoweit kein Gegensatz.“26 Der Vorrang dieses vom BVerfG bundesgesetzlich vorgeschriebenen Vollzugsziels gilt für alle Gefangenen 27 – auch die im Maßregelvollzug. Bundesrecht geht dem Landesrecht vor – „vor und über allem“ das Verfassungsrecht, insbesondere die Grundrechtsbestimmungen.“ 28 Daran kann die Herausnahme des „Strafvollzugs“ aus dem Katalog des § 74 GG nichts ändern. Die Länder sind nicht berechtigt, eine konkurrierende 25
BVerfGE 35, 202 ff (236). Urteil des BVerfG zum Jugendstrafvollzug vom 31.5.2006, NJW 2006, 2093 (2095). 27 J. Feest/W. Lesting in: J. Feest (Hrsg.) Kommentar zum Strafvollzugsgesetz, 5. Aufl. 2006, § 2 Rn 6. 28 H. Pollähne in: J. Feest (Hrsg.) Kommentar zum Strafvollzugsgesetz, Rn 9 vor § 136. 26
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Gesetzgebungskompetenz dort in Anspruch zu nehmen, wo sie eine abschließende Regelung für unzulänglich und deshalb reformbedürftig halten. Sie können den Vollzug heute abweichend von den Regeln des Strafvollzugsgesetzes anordnen, nicht aber von denen der Verfassung, des StGB und der StPO. § 63 StGB gibt für eine Höherstufung dieses Ziels nichts her. Feest 29 bezeichnet mit der hM „den Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten“ als eine sekundäre Vollzugsaufgabe, die dem allgemeinen Vollzugsziel (Resozialisierung) nachgeordnet sei. Dabei gehe es ausschließlich darum, die Mitglieder der Gesellschaft vor Straftaten der Gefangenen während der Zeit der Inhaftierung zu schützen. Dazu gehörten auch Anstaltsbeamte bzw. Mitgefangene. Es gehe nicht um den Schutz vor Straftaten, welche der Gefangene nach seiner Entlassung begehen könnte. Vor diesen soll (die Gesellschaft) durch (re-)sozialisierende Angebote geschützt werden. § 63 StGB wird vom heutigen Gesetzgeber im Land Hamburg falsch interpretiert. Es wird so getan, als wäre die Höherstufung des Vollzugsziels „Sicherheit“ durch die Vorschrift vorgegeben. Das wurde von dem Hamburger Gesetzgeber bisher nicht so gesehen. Wie in § 2 Abs. 1 Satz 2 Strafvollzugsgesetz wurde bisher in § 2 HmbMRVG als Satz 3 der „Schutz der Allgemeinheit“ hintangestellt. Einen sachlichen Grund für die vorgesehene Änderung nach einer jahrelangen – im Ergebnis gut gelaufenen Praxis (wenn auch nicht immer im Interesse der Patienten) vermag ich in der von Medien geprägten Freien und Hansestadt Hamburg nicht zu erkennen. Es bleibt nach alledem dabei: Das vorrangige Ziel der sozialen Integration ist auch in Zeiten strafrechtlicher Gefahrenabwehr nicht verhandelbar – eine Formulierung die Hassemer in seiner berühmten Frankfurter Rede verwandte.30 3. Prognosegutachten im Vollzug a) Belastung der Patienten und Patientinnen Patienten des MRV werden von Beginn des gegen sie gerichteten Strafverfahrens mit Prognosen befasst. Dabei geht es um die Beurteilung ihrer Schuldfähigkeit sowie um ihre Gefährlichkeit. Im Erkenntnisverfahren werden die Patienten im Ermittlungs- oder Zwischenverfahren, in jedem Fall im Hauptverfahren gehört. Weitere Explorationen erfolgen ständig im Maßregelvollzug: bei der Aufnahme in die Klinik, im Rahmen der Therapien durch die Therapeuten und die Anstaltsärzte, im besonderen vor Lockerun29
In: Feest (Hrsg.) Kommentar zum Strafvollzugsgesetz, 2006, § 2 Rn.12. W. Hassemer Sicherheit durch Strafrecht, Eröffnungsvortrag Strafverteidigertag 24.3.2006, Frankfurt/M., Paulskirche. 30
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gen und Urlaub, vor Gerichtsterminen, in denen es um die Aussetzung der Maßregel geht, bei Änderung der Vollstreckungsreihenfolge, einem späteren Beginn der Maßregel und der Beendigung der Maßregel. Immer wieder wird in die Persönlichkeit des Patienten eingedrungen, sein Vorleben erforscht, die Vorstrafen und besonders die Umstände der Anlasstat werden ihm vorgehalten und mit ihm erörtert. Er hat Checklisten mit hunderten Fragen geduldig zu beantworten. Prognostiker unterscheiden zwischen Einweisungs-, Behandlungs-, Lockerungs- und Entlassungsprognosen. Wer als Strafverteidiger einen Patienten von Beginn des Strafverfahrens zum Ende der Vollstreckung begleitet und erlebt hat, weiß um die Belastungen durch die vielen Explorationen, die der Patient durchmacht, insbesondere nerven die immer wiederkehrenden Fragen nach der Straftat. Suizidversuche als Folge sind keine Seltenheit. Dies alles ist Fachleuten geläufig. Der Maßregelvollzug ist kein Krankenhausaufenthalt, vor allem für die hohe Zahl der falsch Positiven, d.h. derjenigen, die einsitzen, weil ihnen fälschlich eine hohe Gefährlichkeit attestiert worden ist.31 b) Die ersten Lockerungs- und ersten Urlaubsprognosen „Der MRV ist von seiner Idee her auf Therapie angelegt. Deshalb müssten innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums alle Anstrengungen unternommen werden, die bei den Untergebrachten vorliegenden psychischen Störungen zu behandeln, womit eine baldige Entlassung aus dem Maßregelvollzug möglich wird. Entsprechend dieser Idee muss die strenge Verwahrung des Untergebrachten aufgehoben werden, sobald – auch nur für einen begrenzten Zeitraum – übersehen werden kann, dass es während der Gewährung der Lockerungen nicht zu einer Gefährdung der Allgemeinheit kommt.“ 32 Nach dem MRVG muss mit der Behandlung sofort begonnen werden, damit stufenweise mit Lockerungen begonnen werden kann. „Aus therapeutischen Sicht dienen sie neben der Motivation für die Patienten der Erprobung von gewachsener Autonomie, von vermehrter Selbstverantwortung und von erlernten, pro sozialen Verhaltensstrategien. Sie sind erforderlich, um die Patienten mit lebensnahen Konfliktfeldern zu konfrontieren und die in der Therapie gewonnenen Copingstrategien in einem lebensnahen Umfeld mit sukzessiv weniger sicherem Schutzraum zu erproben.“ 33 Voraussetzung für die ersten Lockerungen sind das Erreichen eines therapeutischen Zwischenschnittes und die Prognose, dass durch das Erreichen dieses Zwischenschnittes der Patient in die Lage versetzt wird, die Belastun-
31 Dazu näheres bei: N. Nedopil Prognosen in der forensischen Psychiatrie, Lengerich 2005, S. 160 f. 32 W. Rasch/N. Konrad Forensische Psychiatrie, 3. Aufl., Stuttgart 2004, S. 107, 108. 33 N. Nedopil aaO (Fn. 31) S. 137.
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gen der nächsten Lockerungsprognose zu bewältigen und den Verlockungen in dieser Lockerungsstufe zu widerstehen.34 c) Rückfälle bei Entweichungen Nach kriminologischen Erkenntnissen 35 erfolgten bei 99.515 Lockerungen 190 Entweichungen, also bei nur 0,2 % aller Lockerungen, wobei jede 10. Entweichung zu einem Delikt führte (= 0,02 %). Die Rate von schweren Delikten lag bei 0,008 %. In jedem schweren Fall ist penibel untersucht worden, welche Fehler gemacht wurden und welchen Folgen daraus zu ziehen waren. Festgestellt wurden dabei u.a. erhebliche Auffälligkeiten in den Tagen vor den Zwischenfällen. Diese Untersuchungen dienten zur Entwicklung von Lockerungshindernissen, die von Nedopil tabellarisch zusammengestellt wurden. Unterbringungsmodus, diagnostische, therapeutische und Sicherungsaufgaben im Verlauf einer Maßregelbehandlung sind dort dargestellt.36 d) Mindestanforderungen Inzwischen hat eine Arbeitsgruppe beim Bundesgerichtshof Mindestanforderungen für Schuldfähigkeitsgutachten 37 und für Prognosegutachten 38 verabschiedet, die sich ausdrücklich auch an Gutachter im Maßregelvollzug richten. Die Prognostiker in den MRV – Anstalten, forensische Psychiater und Rechtspsychologen, sind heute professionell aufgerüstet und daher in der Lage, gründliche Gutachten zu erstellen e) Beteiligung der Vollstreckungsbehörde (§ 26 HmbMVollzG) Die Bestimmung ist umständlich konzipiert und wird zu weiterer Bürokratisierung – sowohl in der Klinik als auch bei der Staatsanwaltschaft – führen. Offenbar sind dafür aber Gelder im Etat vorhanden, während Geldmangel herrscht, wenn es um ausreichend Raum für die Therapie und genügend Personal zur Behandlung von Patienten geht.39 Zur Sache: Es gibt nur einen Grund, die Staatsanwaltschaft zu hören, nämlich um zu erfahren, ob gegen den Patienten neue Erkenntnisse vorliegen. 34
N. Nedopil aaO (Fn. 33). J. Mahler Wie groß ist die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit bei Entweichungen aus dem Maßregelvollzug, Recht und Psychiatrie 2000, 3. 36 Ausführlich bei Nedopil aaO S. 136–146. 37 A. Boetticher NStZ 2005, 57. 38 A. Boetticher NStZ 2006, 537. 39 Vgl. z.B. Protokoll des Gesundheitsausschusses der Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg vom 29.8.2002. 35
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Ich teile im Übrigen die zahlreichen Bedenken, die die Sachverständigenkommission im ihrem Abschlussbericht im Oktober 2001 gegen eine Beteiligung der Staatsanwaltschaft bei Prognosen geäußert hat (keine zusätzliche Informationsquelle).40 In der Begründung zu § 26 wird der Diskussionsstand in der Kommission allerdings nicht zutreffend wiedergegeben.41 Die besseren Argumente hatten die Gegner einer Beteiligung vorgetragen. Deshalb hatte die Kommission auch empfohlen, zunächst einmal die Erfahrungen in der Praxis abzuwarten und die jetzt im E vorgesehene Vorschrift nicht zu erlassen.42 Neue Fakten und Argumente wurden in der Begründung nicht genannt. Die Politik in der Hamburger Bürgerschaft will offenbar in ihrer Mehrheit die Beteiligung. Dass sie dies damit begründet, erfahrene Prognostiker sollten dadurch angehalten werden ihre Entscheidung nochmals „systematisch zu durchdenken“, müsste diesen eigentlich die „Zornesröte ins Gesicht treiben“. Die Staatsanwaltschaft in Hamburg hat den Gesetzesvorschlag im Gesetzgebungsverfahren zu Recht abgelehnt. Nach § 451 StPO ist die Staatsanwaltschaft nur für die Vollstreckung, nicht aber den Vollzug zuständig. Bei der Staatsanwaltschaft bearbeitet im übrigen ein Rechtspfleger nach § 31 Abs. 2 Satz 1 RPflG in der Regel die Vollstreckungssachen, womit nichts gegen die Tüchtigkeit von Rechtspflegern gesagt werden soll. Für den Vollzug ist das Land zuständig, untere Vollzugsbehörde sind die öffentlichen Krankenhäuser.43 Der ehemalige Generalstaatsanwalt Linden aus Köln hat auf dem 25. Symposion des Instituts für Konfliktforschung in Maria Laach zur Rolle der Staatsanwaltschaft bei Prognosen im Straf- und Maßregelvollzug folgendes gesagt: 44 • Die Verantwortung für die Verlegung in den offenen Vollzug, für Vollzugslockerungen, für Urlaub und für die damit verbundenen Prognosenentscheidungen tragen die Vollzugsbehörden. • Eine Entscheidung der Staatsanwaltschaft in den hier in Rede stehenden Vollzugsentscheidungen sieht das Strafvollzugsgesetz nicht vor. Dies liegt in der Natur der Sache.
40 Sachverständigenkommission zur Untersuchung des Maßregelvollzugs in Hamburg, Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Oktober 2001, S. 70,71. 41 Sachverständigenkommission aaO (Fn. 39) S. 25. 42 Sachverständigenkommission aaO (Fn. 39) S. 72. 43 G. Pfeifer StPO Kommentar, 5. Aufl., München 2005, § 451 Rn 1, 2; F. Baur in: H. Kammeier (Hrsg.) 2. Aufl., Berlin 2002, C 14, 15. 44 G. Linden Zur Rolle der Staatsanwaltschaft bei Prognosen im Straf- und Maßregelvollzug vor dem Hintergrund der Einschaltung der Landesjustizministerien, in: Schriftenreihe des Instituts für Konfliktforschung, Bd. 25 (Hrsg. I. A. Rode et al.), damals Münster 2004, S. 101 (114).
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• Nach den bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschriften zum Strafvollzug sind die Vollstreckungsbehörde und Ermittlungsbehörde nur ganz ausnahmsweise im Vorfeld entsprechender Entscheidungen zu hören. • Vom Justizministerium des Landes Nordrhein-Westfalen erlassenen Richtlinien lassen ihrem Wortlaut nach die Staatsanwaltschaft im Vorfeld von Prognoseentscheidungen außen vor. Dies entspricht der bereits dargestellten gesetzlichen Konzeption und den sich daraus ergebenden unterschiedlichen Verantwortlichkeiten. • In der Praxis gibt es insbesondere im Bereich der organisierten Kriminalität und der sonstigen schweren Kriminalität Kontakte im Vorfeld der Vollzugsentscheidungen. Dies ist im Hinblick u.a. auf berechtigte Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit zu begrüßen. Vollzugsbehörden sind aufgerufen, solche Kontakte zu intensivieren. Dabei dürfen die vom Gesetz der jeweiligen Behörden zugewiesene Verantwortlichkeiten nicht vermischt werden. • Einflussnahme des Justizministeriums auf Einschätzungen oder Entscheidungen der Vollstreckungsbehörden im Einzelfall gibt es nicht. • Die Beteiligung des Justizministeriums bei Entscheidungen der Vollstreckungsbehörden über Verlegung in den offenen Vollzug, Vollzugslockerungen und Urlaub ist die seltene Ausnahme. Sie beschränkt sich auf bestimmte Fälle lebenslanger Freiheitsstrafen. Zumindest dies ist im Hinblick darauf, dass der Justizminister letztlich die politische Verantwortung für solche Entscheidungen trägt, und im Hinblick darauf, dass er der parlamentarischen Kontrolle unterliegt, nachvollziehbar. Dem ist nicht mehr viel hinzuzufügen. Nur einige Fragen, die die Entwurfsverfasser bedenken und sich selbst beantworten mögen: • Soll die Staatsanwaltschaft auf der Justizministerkonferenz eine Sonderregelung für eine Unzahl von Lockerungen und Urlaubsbewilligungen für das Land Hamburg erwirken, wozu die bundeseinheitlichen Richtlinien geändert werden müssten? • Soll die Staatsanwaltschaft bei Entweichungen und dabei begangenen Delikten ihren Justizsenator „im Regen stehen lassen“, d.h. konkret Angriffen der Boulevardpresse und aus der Bürgerschaft aussetzen? • Haben die Entwurfsverfasser eigentlich daran gedacht, dass die betroffenen Patienten nicht nur unter einem Zeitverlust durch Einschaltung der Staatsanwaltschaft bis zu Entscheidung über die Lockerung zu leiden hätten, sondern auch unter einen noch überzogenerem Sicherheitsdenken bei bereits bestehender restriktiver Lockerungspraxis (vgl. Begründung zu § 26 E S. 25). • Wenn die Staatsanwaltschaft eingeschaltet werden soll, warum eigentlich nur bei belastenden und nicht auch bei verweigerten begünstigenden Maßnahmen, ist sie doch die „objektivste Behörde der Welt“?
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4. Die Regelung der Grundrechtseingriffe Verlegung und Fixierung und unmittelbarer Zwang a) Verlegungen, §§ 5 und 26 HmbMRVollzG Die Verlegung in eine andere Anstalt wird in § 5 Abs. 4 HmbMRVollzG nur rudimentär angesprochen. Die Vollstreckungsbehörde soll unterrichtet werden. In § 23 Abs. 3 HmbMRVollzG geht es um die Verlegung in den offenen Vollzug, die wohl kaum streitig sein wird. In § 26 Abs. 5 HmbMRVollzG wird § 5 Abs. 4 HmbVollzG wörtlich wiederholt, ohne dass etwa § 5 Abs. 4 gestrichen worden ist. Die Voraussetzungen der Verlegung in eine andere Anstalt ohne Zustimmung des Betroffenen sind aber nirgends geregelt. Zur Verlegung in eine andere Anstalt bedarf es wegen des schwerwiegenden Grundrechtseingriffs (vgl. BVerfG, Beschluss vom 27.6.20006 – 2 BvR 1295 –) grundsätzlich der Zustimmung des Untergebrachten; ansonsten ist eine Verlegung nur bei einer schwerwiegenden Störung der Ordnung oder aus zwingenden Gründen der Vollzugsorganisation oder anderen wichtigen Gründen zulässig. Das Land Brandenburg hat in § 16 Abs. 1 und 2 BbgPsychKG eine passable Regelung getroffen. b) Fixierungen, § 33 HmbMVollzG Fixierungen sind die eingriffsintensivste Ausprägung der besonderen Sicherungsmaßnahmen und daher zu Recht in einer gesonderten Vorschrift festgeschrieben. Sie greifen nicht nur in Freiheitsrechte ein, sondern stoßen bis zum Kern der Menschenwürde vor.45 „Diese Sicherungsmaßnahmen“, so lässt uns ein Betroffener wissen, „schlagen bei uns tiefe Wunden in unsere Seele. Sie verstärken das Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins bis ins Unermessliche. Was empfindet jemand, wenn er sich bereits psychisch in einer Krisensituation befindet, wenn er auf seinem Bett angeschnallt wird, ruft, warten und warten muss, bis ihm das Personal Gelegenheit gibt, auf die Toilette zu gehen.“ 46 Ein großes dicht bevölkertes Land wie NRW hat deshalb davon abgesehen, eine Fixierung in das Gesetz aufzunehmen. In der Begründung zum Hbg MRVollzG wird für die Erforderlichkeit von Fixierungen in tatsächlicher Hinsicht nichts vorgetragen. Schade! In § 33 HmbMVollzG ist – anders als in der vorausgehenden Vorschrift § 32 „Besondere Sicherungsmaßnahmen, die sich – abgesehen von Ziff. 4 (Unterbringung in einem besonders gesicherten Raum ohne gefährdende Gegenstände) mit weniger intensiven Eingriffen befasst, – nicht mehr von
45
D. Rzepka in: Kammeier MRVR, 2. Aufl. 2002, H 90. W. Voelzke „Anmerkungen zum „Musterentwurf eines Gesetzes für psychisch Kranke“, Recht und Psychiatrie 1993, 18. 46
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einer Gefahr in erhöhtem Maße die Rede. Ferner werden die Tatbestandsmerkmale gewalttätig und sich verletzt nicht eingegrenzt auf ernsthafte und schwerwiegende Gewalttätigkeiten und Selbstverletzungen. § 33 Abs. 1 Satz 2 bleibt im Hinblick auf die Art und Weise der Betreuung blass. Es heißt dazu nur in geeigneter Weise! Das Land Brandenburg ist wesentlich sensibler und schreibt in § 20 Abs. 3 Satz 1 2. Halbsatz BbgPsychKG die ständige Anwesenheit von therapeutischem Fachpersonal während der Sicherungsmaßnahme vor. Dies muss angesichts der Schwere des Eingriffs Standard sein! Nur so kann man den negativen Folgen der Sicherungsmaßnahme entgegenwirken und ganz pragmatisch für eine schnelle Beendigung der Fixierung sorgen. Angesichts des Leidens des Patienten bei dem Eingriff kommt eine Betreuung durch lückenlose Videoüberwachung – wie sie klammheimlich in der Gesetzesbegründung vorgeschlagen wird, überhaupt nicht in Frage. Wenn überhaupt, muss eine Sitzwache im Raum her, bestehend beispielsweise aus einem Mediziner, Psychologen, erfahrenen Sozialarbeiter oder einem geschultem Oberpfleger – therapeutisches Fachpersonal – eben. Abschließend seien zu diesem Komplex die Leitsätze des Beschlusses des Landgerichts Kiel vom 5.12.2003 angeführt: 47 • Kommt es im Rahmen des strafprozessualen Ermittlungsverfahrens zu einer einstweiligen Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 126a Strafprozessordnung), ist für die Überprüfung der im Rahmen der Unterbringung getroffenen richterlichen Maßnahmen analog § 98 (2) Strafprozessordnung der Rechtsweg zu den Amtsgerichten eröffnet. • Auch die Fixierung eines nach § 126a Strafprozessordnung in einem psychiatrischen Krankenhaus einstweilig untergebrachten Beschuldigten ist nur unter den in § 119 Abs. 5 Strafprozessordnung genannten Voraussetzungen oder nach Genehmigung des Richters (§ 119 Abs. 6 Strafprozessordnung) rechtmäßig. • Soweit § 7 MRVollzG SH eine Fixierung unter anderen Voraussetzungen zulässt, ist die Vorschrift mangels Gesetzgebungskompetenz des Landesgesetzgebers verfassungswidrig.“ In den Gründen des Beschlusses heißt es zu Ziff. 3: „Die anderslautende Vorschrift des § 7 SH MRVollzG ist nach Auffassung der Kammer verfassungswidrig, weil der Bundesgesetzgeber in den §§ 126a Abs. 2, 119 Abs. 5 und 6 Strafprozessordnung auf dem Gebiet der konkurrierenden Gesetzgebung im Bereich des Strafrechts und des Strafverfahrensrechts eine Regelung vor dem Erlass des MRVG als Landesgesetz getroffen hat. Somit bestand eine Gesetzgebungskompetenz des 47
LG Kiel Gr. Strafk. Beschluss v. 5.12.2003 – 3 Qs 10/03.
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Landes SH im Bereich der Fesselung einzellig untergebrachter Beschuldigter jedenfalls wegen der Gefahr der Gewaltanwendung gegen andere Personen nicht.“ c) Unmittelbarer Zwang, § 34 HmbMRVollzG Auch diese Vorschrift ist nachzubessern, will sich der Gesetzgeber der Freien und Hansestadt Hamburg nicht mangelnde Rechtstaatlichkeit vorwerfen lassen. • Es fehlt – anders als z.B. in § 22 Abs. 2 NW MRVG – eine Benennung der Personen, die Gewalt anwenden dürfen z.B. das ärztliche, therapeutische oder mit der Aufsicht betraute Personal. • Es fehlt auch eine Begriffsbestimmung des unmittelbaren Zwangs. Dabei ist eine enge Definition wie in § 33 Abs. 2 PsychKG Bremen zu bevorzugen. Ein Waffengebrauch muss ausgeschlossen werden. • Auch ist weder in § 34 HmbMRVollzG noch sonst wo eine Androhung unmittelbaren Zwangs vorgesehen. Dies gebietet aber der Ultima-RatioGrundsatz. In Brandenburg (§ 20 Abs. 1 Satz 3 BranPsychKG und Schleswig-Holstein § 7 Abs. 3 SH MRVG sind daher die vorherige Androhung des unmittelbaren Zwangs vorgeschrieben (es sei denn es ist Gefahr in Verzug bzw. die Umstände lassen eine Androhung nicht zu).48 5. Privatisierung a) M.-J. Jehle hat in der Festschrift für Ulrich Venzlaff zum 85. Geburtstag (Forensische Psychiatrie die Argumente gegen eine Privatisierung kurz und knapp zusammengefasst. Sie geben die ganz überwiegende Meinung der Literatur wieder: 49 Ich mache Sie mir – sicherlich zum Ärger der Finanzminister und -Senatoren – zu eigen: • Maßregelvollzug ist eine öffentliche Aufgabe; er zählt zu den eingriffsintensivsten staatlichen Maßnahmen mit potentiell lebenslanger Verwahrung und Zwangshandlung. • Als strafrichterlich angeordnete und kontrollierte Freiheitsentziehung gehört er zum Kernbereich staatlicher Gewalt; er unterliegt dem Gewaltund Strafmonopol des Staates. 48
Zum nachstehenden s. auch Rzepka in: Kammeier MRVR, H 119 und H 129 ff. J.-M. Jehle in: Forensische Psychiatrie (Hrsg. Dunker et al.), Lengerich 2006, S. 211; zur Privatisierung s. auch Dokumentation des Symposiums „Perspektiven der Landeskrankenhäuser“ vom 25.11.05 in Hannover, SPD-Landtagsfraktion Niedersachsen; neuere Lit.; J. Feest Strafvollzugsgesetz, 5. 2006: daselbst J. Feest/W. Lesting vor § 1 Rn 12; H. Pollähne vor § 136 Rn 24 und 25, R. Grünebaum Zur Privatisierung des Maßregelvollzugs – Wie eine Diskussion haarscharf am Kern vorbei geht, Recht und Psychiatrie 2006, 55; K. Willenbruch/K. Bischoff Verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Privatisierung des Maßregelvollzugs, NJW 2006, 1776. 49
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• Nach Art. 33 Abs. 4 GG ist die Ausübung hoheitlicher Befugnis, insbesondere der sog. Eingriffsverwaltung, in der Regel Beamten übertragen. Eine Ausnahme von diesem Funktionsvorbehalt kommt im Kernbereich des staatlichen Gewaltmonopols nicht in Betracht. • Daher ist die Übertragung des Maßregelvollzugs als Ganzes auf Private nicht möglich. • Soweit mit der Wahrnehmung öffentliche Aufgaben keine grundrechtlichen Eingriffe verbunden sind (z.B. Errichtung und Unterhaltung der Gebäude, äußerer Anstaltsbetrieb, Ernährung der Insassen) kommt eine Übertragung auf Private – als Verwaltungshelfer oder Beliehene – in Betracht. • Zu den nicht übertragbaren hoheitlichen Befugnissen zählen Bewachung, Zwangsmaßnahmen und Lockerungsentscheidungen; auch Behandlungsmaßnahmen scheiden für eine Privatisierung aus, weil sie unmittelbar den Zweck der Unterbringung betreffen und in der Praxis untrennbar mit Eingriffen verwoben sind. • Ob eine so gestaltete Teilprivatisierung des staatlichen Maßregelvollzugs funktional und ökonomisch Sinn macht, müsste sorgfältig überprüft werden. • Übernähme ein privater Betreiber den vollen Betrieb, müsste er darauf abzielen, dass sich seine Investitionen mittelfristig über – erhöhte – Pflegesätze amortisieren. Eine Haushaltsentlastung wäre von daher nur kurzfristig zu erwarten. • Eine Kostenersparnis könnte ein privater Betreiber im wesentlichen durch den Einsatz von weniger oder schlechter qualifiziertem Personal erzielen. Dies könnte zu Lasten der Therapie und Entlassungsvorbereitung gehen. • Wenn die Befürchtung zuträfe, dass der private Betreiber kein ökonomisches Interesse an einer raschen Entlassung von Untergebrachten hat und sogar Abstriche an therapeutischen Bemühungen macht, so würde sich die Verweildauer der Untergebrachten verlängern – mit der Folge, dass sich der Maßregelvollzug weiter verteuern würde. b) Das entscheidende Argument gegen die Privatisierung ist der Funktionsvorbehalt des Art. 33 Abs. 4 GG: „Die Ausübung hoheitsrechtlicher Befugnisse ist als ständige Aufgabe in der Regel Angehörigen des öffentlichen Dienstes zu übertragen, die in einem öffentlich rechtlichen Dienstund Treueverhältnis stehen.“ Die ausführliche Erläuterung der Grundgesetznorm durch Grünebaum 50 überzeugt: Beamte dürfen nicht streiken. „Man stelle sich einmal vor, die gesamte Belegschaft eines Maßregelvollzugskrankenhauses beteiligt sich an einem arbeitsrechtlich zulässigen Streik“. In der Tat eine apokalyptische Vorstellung, der höchste anzunehmende Gau im Maßregelvollzug! Dieser Artikel des GG lässt sich auch nicht durch den Abschluss enger Vorgaben mit dem Privatunternehmen bezüglich der Er50
R. Grünebaum aaO (Fn. 48).
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messensausübung und durch ein ausgeklügeltes Kontrollsystem umgehen. Dazu wieder Grünebaum: Es werde verkannt, dass auch hier der zweite Schritt vor dem ersten gemacht werde; in erster Linie gehe es gar nicht darum, ob (und unter welchen Umständen) man (überhaupt) Teile an Privatunternehmer verkaufen könne, sondern ob man mit diesen Aufgaben Nichtbeamte betrauen dürfe.51 Wie wahr, Grundgesetz bleibt Grundgesetz! c) Selbst strengste Befürworter einer Privatisierung haben es bisher nicht gewagt, eine Privatisierung im Bereich der §§ 81 und 126a StPO vorzunehmen. Das Land hat dazu keine Gesetzgebungsbefugnis. Der Bund hat die Materie bereits geregelt. § 81 StPO bestimmt eindeutig, das der Beschuldigte in ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus gebracht und dort beobachtet wird. Nichts anders gilt für den soeben novellierten § 126a; dazu verweise ich auf den Beschluss des LG Kiel aoO und Pollähne.52 Der Haftrichter wird sich verbitten, einen Beschuldigen unter Verstoß gegen die Gesetzgebungskompetenz, das Grundgesetz (Art. 33 Abs. 4) und § 89 UVollzO in eine Privatklinik einzuweisen. Der Gesetzgeber der Freien und Hansestadt Hamburg begibt sich mit der E § 4 Abs. 7 auf ein glattes Parkett. 6. Es ist bedauerlich, dass sich die Verfasser des Entwurfs zu folgenden Punkten überhaupt keine Gedanken gemacht haben: • Die Verteidigerinnen und Verteidiger der Patientinnen und Patienten sind bspw. bei schweren Grundrechtseingriffen, zu denen die Sicherungsmaßnahmen im Abschnitt 5 – vor allem die „Besonderen“ – gehören, zu benachrichtigen. Über eine Benachrichtigungspflicht der Verteidigung sollte ferner in folgenden Fällen des E des HmbMRVollzG nachgedacht werden: § 5 Abs. 3 Widersprüche von Patienten, Abs. 4 Unterrichtung über Verlegungen, § 7 Abs. 1 Bekanntgabe von Entscheidungen, § 9 Abs. 4 Bekanntgabe des Behandlungsplans und Abs. 6 vor Einholung eines externen Gutachtens, § 10 Abs. 2 Behandlung ohne Einwilligung, § 24 Abs. 2 Unterrichtung der Strafvollstreckungskammer bei vorgesehenem Entlassungsurlaub, § 26 Abs. 1 von der Stellungnahme der Vollstreckungsbehörde, Abs. 2 vor Einholung des Sachverständigengutachtens, § 30 nach einer Festnahme. • An das Schicksal der weiblichen Gefangenen wurde überhaupt nicht gedacht. Derzeit sind im HmbMRVZ 31 Frauen untergebracht: Der Gendermainstreaminggrundsatz gehört einfach in ein heutiges Gesetz hinein! Die Einzelheiten können in einer Verwaltungsverfügung niedergeschrieben werden.53
51 52 53
R. Grünebaum aaO (Fn. 48). H. Pollähne in: J. Feest (Hrsg.) StVollzG, vor § 136 Rn 24. S. Charlotte Wetton Women in prison projekt 2006, in: http://www.quaker.org//qcea.
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• Schließlich fehlt im Entwurf eine Regelung eines Rechtswegs. Dabei ist eine „gütliche Streitbeilegung“ heute sozusagen en vogue, die anstelle des kritisierten Vorverfahrens treten sollte.54 Nach der Föderalismusreform habe ich keine Bedenken gegen die Abschaffung des Vorverfahrens (§ 109 Abs. 3), eine vom Strafvollzugsgesetzes abweichende Regelung, nämlich die Einführung eines Antrages auf aufschiebende Wirkung unter Aufhebung des § 114 Abs. 1 StVollzG sowie der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung, § 115 Abs. 1 StVollzG. Zu den Rechtsschutzdefiziten im Maßregelvollzug führen Lesting und Kammeier 55 zutreffend aus: „Der Rechtsschutz in der totalen Institution ist geprägt von einer überlangen Verfahrensdauer, hohen Zulässigkeitsanforderungen und minimalen Erfolgsquoten. Hinzu kommt eine (die richterliche Kontrolle reduzierende) Normstruktur mit zahlreichen Generalklauseln, Beurteilungsund Ermessensspielräumen sowie nicht selten auf Rechtsvereitelung abzielende Anstaltsstrategien.“ Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil den komplizierten Rechtsweg im Jugendstrafvollzug beanstandet und eine Neuregelung angemahnt. Seine Überlegungen treffen auf den MRV ebenfalls zu. Eine Reform des Rechtsweges ist auch hier ein Gebot der Stunde.
54
S. dazu § 91 Abs. 1 des Entwurfs des BMJ zur Änderung des JGG und anderer Gesetze vom 13.4.2007; vgl. Gesetzesvorschläge der GAL-Fraktion zu einem neuen JStVollzG für Hbg vom 20.10.2006, §§ 69 und 70. 55 W. Lesting/H. Kammeier in: Beck’sches Formb. f. den StrafV, München 2002, S. 781.
Untreue und Gesellschaftsrecht Ein Dschungelbuch Klaus Volk I. Einleitung Es war einmal eine Zeit, da fragten die gestrengen Strafrichter, wenn sie über einen Mann der Wirtschaft zu urteilen hatten, ganz einfach, ob er „in gesetzwidriger Weise oder unter Verstoß gegen die Grundsätze eines ordentlichen Kaufmanns“ gehandelt habe. Ein Märchen aus uralten Zeiten ist das nicht. Das Zitat stammt aus einer Entscheidung des BGH, die vor 20 Jahren ergangen ist.1 Diese Zeiten aber sind längst vorbei, gefühlt länger als 20 Jahre. Inzwischen prüfen die Strafgerichte unternehmerische Entscheidungen mit einer Kontrolldichte nach, die mit der Arbeitsweise eines Wirtschaftsprüfers vergleichbar ist. Ein Beispiel: die Entscheidung des BGH zu Leistungen, die einseitig erbracht werden, wie etwa bei Sponsoring, Spenden und Mäzenatentum.2 Hier muss ermittelt werden, wie lose oder wie eng der Bezug zum Unternehmensgegenstand ist, wie die Ertragslage der Gesellschaft beschaffen und ob, daran gemessen, die Leistung etwa unangemessen ist, ob die innerbetriebliche Transparenz gewahrt wurde und aus welchen Motiven gehandelt wurde.3 So entwickelt das Strafrecht eigene Direktiven für das Risikomanagement und betreibt nachträgliches Risikocontrolling. Diese Leitlinien sind mit den spezifisch wirtschaftsrechtlichen Normierungen wie etwa dem KonTrAG, dem TransPuG und dem DCGK nicht abgeglichen. Das Strafrecht lebt seine Parallelwelt. Wie abgehoben darf diese Parallelwelt sein, wie sehr muss sie dem Gesetz der Materie (wie ich die vorgelagerten Normen nenne) verpflichtet bleiben, wie „akzessorisch“ darf und sollte Strafrecht sich verhalten? Einerseits werden also die strafrechtlichen Rasterpunkte immer enger gesetzt. Andererseits verzeichnen wir als gegenläufige Entwicklung eine typisch strafrechtliche Simplifizierung der Sachverhalte. Sie ist prinzipiell durchaus legitim. Strafrecht als die schärfste Waffe und das letzte Mittel des
1 2 3
BGH Urt. v. 29.5.1987 – 3 StR 242/86, BGHSt 34, 379 (385). BGHSt 47, 187 („SSV Reutlingen“). BGH aaO.
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Staates kann es nur mit handgreiflichen, manifesten Verstößen zu tun haben. Es ist ungeeignet, Feinschnitte unter dem Mikroskop vorzunehmen oder als makroökonomisches Steuerungsinstrument zu dienen. Strafrecht handelt vom Unerträglichen, nicht vom Unerwünschten. Daher rührt auch die Neigung der Justiz, schwierige Sachverhalte auf Bekanntes aus dem Alltagsleben zu reduzieren. Ihr verdanken wir die BGH-Sprüche vom Gutsherrn und den Gutsverwaltern. Wer aber die hochkomplexe Wirtschaft auf die überschaubare Landwirtschaft versimpelt, pflügt einiges unter. Noch einmal also: wie autonom oder wie akzessorisch ist das Strafrecht?
II. Strafrecht und Zivilrecht Was zivilrechtlich erlaubt ist, kann strafrechtlich nicht verboten sein. Das ist nahezu trivial. Es folgt aus dem Prinzip von der Einheit der Rechtsordnung. In manchen Rechtsgebieten macht sich das Strafrecht damit allerdings vom Ermessen der Verwaltungsbehörden und politischen Opportunitäten abhängig (besonders massiv im Umweltstrafrecht). Es gerät damit in Gefahr, seine Legitimation zu verlieren und effektiven Rechtsgüterschutz nicht mehr garantieren zu können. Im Verhältnis zum Zivilrecht drohen solche Einbußen nicht. Hier geht es vielmehr um die umgekehrte Frage, ob zivilrechtliche Pflichtverletzungen automatisch zu einer strafrechtlichen Pflichtwidrigkeit führen. Das ist eines der zentralen Probleme des „Mannesmann“Falles gewesen. Zuvor waren einige Entscheidungen des BGH ergangen, die nur „gravierende“ Verletzungen vorgelagerter Pflichten als strafrechtlich relevant ansahen.4 Diese Denkweise hat im Vermögensstrafrecht Tradition. Nicht jede Vertragsverletzung darf strafbar sein. Der 3. Strafsenat hat mit dieser Tradition gebrochen. Jede gesellschaftsrechtliche Pflichtverletzung könne, unabhängig von ihrer Schwere, zugleich eine Verletzung der Vermögensfürsorgepflicht im Tatbestand der Untreue sein. Wenn einfache Pflichtverletzungen herausgefiltert werden sollen, müsse das im Gesetz der Materie (hier also: dem Gesellschaftsrecht) geschehen. Eine besondere Pufferzone zwischen dem Strafrecht und dem Zivilrecht gebe es nicht. Das Strafrecht enthalte keine eigenen Kriterien zur Erhöhung der „Ansprechschwelle“.5 Der Straftatbestand rastert nun allerdings aus allen denkbaren Pflichtverletzungen diejenigen heraus, die nicht „fremdnützige“ Pflichten betreffen. Untreue begeht nur, wer das Geschäft eines anderen ungetreu führt. Über4
Besonders deutlich: BGHSt 46, 30; 47, 187. Und so seien auch die erwähnten BGH-Urteile zu verstehen; in ihnen seien zivilrechtliche Kriterien übernommen worden (ARAG-Entscheidung), die einen weiten Handlungsspielraum für unternehmerische Entscheidungen anerkannt und damit erst eine eindeutige, massive Überschreitung als pflichtwidrig gekennzeichnet hätten. 5
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dies muss es sich um Hauptpflichten handeln, die das Verhältnis der Vertragspartner dominieren. Ist das nicht restriktiv genug, wozu also noch ein besonderes Filter, das zum Strafrecht nur die gravierenden Pflichtverletzungen durchlässt? Haben der BGH und diejenigen im Schrifttum nicht Recht, die dem „Schulterschluss“ zwischen Strafrecht und Zivilrecht das Wort reden? Es ist bisher nicht erörtert (und vom BGH wohl auch nicht gesehen) worden, welche Rückwirkungen diese Ansicht im System der zivilrechtlichen Haftung auslöst. Wenn durch eine Verletzung vertraglicher Pflichten zugleich der Tatbestand der Untreue erfüllt ist, kann der Geschädigte über § 823 Abs 2 BGB iVm § 266 StGB vorgehen. Jede Verletzung vertraglicher Fürsorgepflichten 6 wird auf diese Weise zu einem Fall der deliktischen Haftung. So war § 823 Abs 2 BGB sicher nicht gedacht. Es entsteht überdies ein Wertungswiderspruch zu § 826 BGB. Das Vermögen als Rechtsgut ist nur gegen vorsätzlich sittenwidrige Schädigungen geschützt. Ist aber nicht jede Straftat per se auch sittenwidrig? Das kann man gerade für den Tatbestand der Untreue im Vergleich mit § 826 BGB nicht behaupten. Beide Tatbestände setzen übereinstimmend die vorsätzliche Schädigung eines anderen voraus. Dann trennen sich ihre Wege: Die Untreue verlangt als zusätzliches Merkmal, dass dies pflichtwidrig sein müsse, die Schadensersatznorm jedoch ein sittenwidriges Vorgehen. Da nicht jede Pflichtwidrigkeit zugleich sittenwidrig ist, landet man bei dem systemwidrigen Ergebnis, dass das Vermögen im Zivilrecht über § 823 Abs 2 BGB in wesentlich weiterem Umfang geschützt ist als über § 826 BGB.
III. Pflichtverletzung und Schaden Mit diesem Einwand hat das verbreitete Unbehagen am dem Straftatbestand der Untreue allerdings nichts zu tun. Es rumort aus anderen Gründen. Die vorherrschende Ansicht moniert mit Recht, dass der Begriff der „Pflichtverletzung“ amorph ist. Mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Bestimmtheit eines Tatbestandes ist er nur mit Mühe vereinbar. Es kommt hinzu, dass der Begriff des Schadens uferlos geworden ist (dazu später). Ein entscheidender, kaum beachteter Schwachpunkt liegt aber darin, dass der Tatbestand in der Praxis auf ein einziges Tatbestandsmerkmal reduziert wird. Das ist der Dammbruch, der den Tatbestand zum strafrechtlichen Sumpfgebiet macht, das man als Unternehmer nicht ohne Gefahr durchqueren kann. Die Rechtsprechung schließt nämlich entweder aus dem Schaden auf die Verletzung der Vermögensfürsorgepflicht zurück oder aus der Pflichtverletzung auf den Schaden und macht so aus zwei (Tatbestandsmerkmalen) eins. Nähern wir uns dieser ersten These dieses Beitrags systematisch. 6
Die zu den Hauptpflichten zählt.
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1. Die Struktur des Tatbestandes Der (objektive) Tatbestand der Untreue weist bekanntlich zwei Merkmale auf, die kumulativ gegeben sein müssen, die Pflichtverletzung und den Vermögensschaden. Ihre innere Verbindung besteht darin, dass die Pflichtverletzung den Schaden verursacht haben muss und dass sich in ihm überdies die Gefahr realisiert, die durch die pflichtwidrige Entscheidung gesetzt wurde.7 Die innere Widerspiegelung dieser Merkmale ist der Vorsatz. Die StandardVerteidigung gegen einen Untreuevorwurf bringt also vor, dass der Mandant nichts falsch gemacht und, selbst wenn doch, keinen Schaden angerichtet und jedenfalls, sollte ihm all das nachgewiesen werden, es nicht gewusst, für möglich gehalten und einkalkuliert habe. So kann man in Wirtschaftsstrafsachen und vor allem, wenn es um unternehmerische Entscheidungen geht, kaum noch erfolgreich verteidigen. Die klassische strafrechtliche Denkweise trennt die äußere und die innere Tatseite, objektive Fehler und subjektive Annahmen. Das Gesellschaftsrecht verfährt anders. Es vermengt beide Kategorien. Der in § 93 Abs 1 AktG normierte Verhaltensstandard hat eine „Doppelfunktion“: er benennt Sorgfaltspflichten und den Verschuldensmaßstab in einem.8 Die business-judgementrule schließt die objektive Sorgfaltswidrigkeit für eine bestimmte subjektive Lage aus: „Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln“ (§ 93 Abs 1 Satz 2 AktG). Im Strafrecht hat sich, von der Wissenschaft unbemerkt, eine vergleichbare Entwicklung vollzogen. Die Rolle der Pflichtwidrigkeit hängt von der Vorsatzform ab. Das ist die zweite These des Beitrags.
7 Der Schaden muss also objektiv zurechenbar sein. Diese Kategorie ist in der Dogmatik des Besonderen Teils noch nicht ausgeprägt (vgl Schünemann NStZ 2005, 473 ff [475]), aber unverzichtbar. Das kann und muss in den hier erörterten Zusammenhängen nicht näher ausgeführt werden. Vgl nur BGH NStZ 2000, 656: ein Vermögensnachteil muss auf die Pflichtwidrigkeit „zurückzuführen“ sein. 8 Hüffer AktG, § 93 Rn 3a: „Nach ganz hM hat § 93 Abs 1 Satz 1 Doppelfunktion in dem Sinne, daß einerseits Verschuldensmaßstab umschrieben wird (insoweit unstr, vgl noch Rn 4), andererseits obj Verhaltenspflichten in Form einer Generalklausel bezeichnet werden, aus der sich durch Konkretisierung Einzelpflichten ergeben können, soweit sie nicht schon anderweitig tatbestandlich umschrieben sind (Hefermehl/Spindler in: MünchKomm AktG 17; Mertens in: Kölner Komm 6 f). Auch Gesetzgeber des UMAG (Rn 1) muß von Doppelfunktion des § 93 Abs 1 Satz 1 ausgegangen sein, weil Ausschluß einer Pflichtverletzung in § 93 Abs 1 Satz 2 die obj Sorgfaltspflicht meint (s noch Rn 4 c), also deren Begründung durch § 93 Abs 1 Satz 1 voraussetzt.“
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2. Der Schluss vom Schadensvorsatz auf die Pflichtwidrigkeit Wer weiß, dass sein Vorhaben schädlich sein wird, begeht Untreue. Gegen dieses sichere Wissen um die Folge hilft der Einwand nicht, pflichtgemäß entschieden zu haben. Denn, so hat der BGH in seinem „Mannesmann“Urteil festgeschrieben, „das Gebot, alle Maßnahmen zu unterlassen, die den Eintritt eines sicheren Vermögensschadens bei der Gesellschaft zur Folge haben, gehört – ohne dass es dazu weiterer gesetzlicher oder rechtsgeschäftlicher Regelungen bedürfte – zu den Treuepflichten, die ein ordentliches und gewissenhaftes Präsidiumsmitglied (§§ 93 Abs 1 Satz 1, 116 Satz 1 AktG) zwingend zu beachten hat. Diese aktienrechtliche Pflicht stellt sich iS des § 266 StGB als Pflicht zur Wahrnehmung fremder Vermögensinteressen dar“.9 Der BGH implementiert also die allgemeine und jeden treffende Pflicht, andere nicht zu schädigen, als quasi naturrechtliche, immer und überall geltende Pflicht in das Aktienrecht und erklärt überdies, dass es sich dabei um eine Fürsorgepflicht handele, also die Pflicht, das Geschäft eines anderen in seinem Interesse getreulich zu führen. Damit ist ein gordischer Knoten der Untreue, den man einmal sorgfältig entflechten müsste, einfach durchgehauen: Ist denn die Pflicht, nichts gegen einen anderen zu unternehmen, zugleich die Pflicht, für ihn an seiner Stelle tätig zu werden? Wie auch immer: Bei sicherem Wissen um den Nachteil, den die Entscheidung nach sich zieht, gibt es nur noch eine Sondersituation, in der man dem Vorwurf der Untreue entgehen kann. Man müsste darlegen können,10 dass die isoliert betrachtete Entscheidung nur Teil eines exakt geplanten, langfristig angelegten Sanierungs- oder Umstrukturierungskonzepts war, bei dem vorübergehende Einbußen unvermeidlich sind. Halten wir fest, dass ansonsten in der Praxis aus dem direkten Schadensvorsatz die bewusste Pflichtwidrigkeit folgt. Wie ist es aber, wenn der Schaden nicht als sicher, sondern nur als möglich vorhergesehen wird? 3. Der Schluss von der Pflichtwidrigkeit auf den Schaden Hat man auch die Pflicht, eventuelle Schädigungen zu vermeiden? Das ist, nach der Rechtsprechung des BGH, die falsche Frage. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Wer bedingt vorsätzlich ein Risiko eingeht, nimmt auch den Schaden in Kauf. Darauf läuft die neuere Judikatur hinaus. Bei riskanten Unternehmungen kann man es nicht vom Ergebnis abhängig machen, ob das Vorgehen fehlerhaft war. Das gilt für „Operationen“ aller 9
BGH NStZ 2006, 214 (215). Das ist bewusst in der Sprache der Beweislast formuliert, die es als Darlegungslast auch im Strafverfahren gibt, weil sich nämlich die Aufklärungspflicht des Gerichts nur bei greifbaren, konkreten Anhaltspunkten für einen anderen Geschehensablauf aktualisiert, die das Gericht nicht von sich aus sucht. 10
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Art, medizinische wie geschäftliche. Entscheidend ist, ob man lege artis an die Sache herangegangen ist.11 Für unternehmerische Entscheidungen hat das ARAG-Urteil den Weg vorgezeichnet. Danach ist ein Verhalten pflichtwidrig im Sinne des Aktienrechts (und Grundlage eines Schadensersatzanspruchs), wenn – nicht alle Entscheidungsgrundlagen sorgfältig ermittelt worden sind – es sich nicht ausschließlich am Unternehmenswohl orientiert – die Bereitschaft, unternehmerisches Risiko einzugehen, überspannt worden ist und diese Grenzen „deutlich überschritten“ sind bzw die Risikobereitschaft „in unverantwortlicher Weise überspannt“ wurde.12 In Strafsachen hat der BGH für die Kreditgewährung einen ganz ähnlichen Katalog von Kriterien erstellt, der, wenn man ihn verallgemeinert, für alle riskanten Entscheidungen gilt: „Tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass die Risikoprüfung nicht ausreichend vorgenommen worden ist, können sich … insbesondere daraus ergeben, dass – die Informationspflicht vernachlässigt wurde – die Entscheidungsträger nicht die erforderliche Befugnis besaßen – im Zusammenhang mit der Maßnahme (im Original: Kreditgewährung) unrichtige oder unvollständige Angaben gegenüber Mitverantwortlichen oder zur Aufsicht befugten oder berechtigten Personen gemacht werden – die vorgegebenen Zwecke nicht eingehalten wurden – Höchstgrenzen des Engagements (im Original: Höchstkreditgrenzen) überschritten wurden – die Entscheidungsträger eigennützig handelten“.13 Das sind Indizien 14 für die Pflichtwidrigkeit. Sie indizieren aber zugleich auch den bedingten Vorsatz: Wer von solchen Regeln abgewichen ist, kann sich nicht mehr darauf berufen, dennoch darauf „vertraut“ zu haben, dass 11 Exemplarisch: „Jede Kreditbewilligung ist ihrer Natur nach ein mit einem Risiko behaftetes Geschäft. Bei einer Kreditvergabe sind auf der Grundlage umfassender Informationen diese Risiken gegen die sich daraus ergebenden Chancen abzuwägen. Ist diese Abwägung sorgfältig vorgenommen worden, kann eine Pflichtverletzung nicht deshalb angenommen werden, weil das Engagement später notleidend wird.“ (BGH NStZ 2000, 656). 12 BGHZ 135, 244. 13 BGH NStZ 2000, 656. 14 Oder Definitionsmerkmale für den Begriff der Pflichtwidrigkeit. Das macht keinen Unterschied (zur Austauschbarkeit von Begriff und Beweis Verf Wahrheit und materielles Recht im Strafprozess, 1980, und öfter, zB in: 50 Jahre Bundesgerichtshof, Bd IV, 2000, S 739 ff).
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alles seine Richtigkeit habe. Und wer ein Risiko in Kauf nimmt, kalkuliert auch den eventuellen Schaden ein. Denn der Schaden liegt schon in der Vermögensgefährdung. Mit jedem nicht sorgfältig eingegrenzten Risiko ist die Gefahr verbunden, dass es ausufert und sich zum Verlust auswächst. Fazit also: bei sicherem Wissen um den Schaden ist die Pflichtwidrigkeit automatisch gegeben, und bei eventuell überhöhtem, dennoch eingegangenen Risiko ist der Schaden automatisch inklusive. Die beiden Ausgangsthesen haben sich bestätigt. Bei unternehmerischen Entscheidungen hängt die Struktur der Untreue von der Vorsatzform ab, und der Tatbestand reduziert sich auf nur ein entscheidendes Merkmal.
IV. Schaden Wenn sicheres Wissen um die Folge des Schadens immer Untreue ist, müsste man immer sicher wissen, was ein Schaden ist. Dieses Wissen aber, um das ganze Ausmaß der Tragödie mit Homer zu kennzeichnen, liegt im Schoß der Götter, in deren Hand man dann nicht nur auf hoher See, sondern auch vor Gericht ist. Ein finanzieller Aufwand ist dann kein Schaden, wenn die Einbuße von Vermögenswerten kompensiert wird. Stehen sich Leistung und Gegenleistung gegenüber, ist das relativ leicht auszurechnen. Bei Austauschgeschäften ist die Welt des Strafrechts noch einigermaßen in Ordnung. Sie gerät aus den Fugen, wenn es um einseitige Leistungen geht (Spenden, Sponsoring, oder die Mannesmann-Situation des zukünftigen Nutzens nachträglicher Leistungen). Auch davon muss man „etwas haben“. Aufwendungen dieser Art können letztlich aber nur durch immaterielle Werte aufgewogen werden. Nun könnte man allerdings versuchen zu differenzieren und diejenigen Fälle aus den einseitigen Leistungen herausnehmen, die gewissermaßen Vorleistungen auf einen bezifferbaren zukünftigen Gewinn sind, wie etwa Ausgaben für Werbung, die den Kundenkreis erweitern soll. Man muss nicht Experte für die betriebswirtschaftlichen Lehren oder die psychologischen Effekte der Werbung sein, um zu sehen, dass das nicht gelingen kann. Die Rechnung scheitert an dem nicht berechenbaren Anteil. Den running gag der Werbebranche kennt man ja: Ich weiß, sagt der Boss, dass die Hälfte meiner Ausgaben für Werbung nutzlos ist, ich weiß nur nicht, welche. Wenn man das als Jurist so interpretiert, dass es sicheres Wissen um einen Schaden bedeutet, hat er schon Untreue begangen, falls er nicht sein eigenes Geld ausgibt. Die Strafjustiz hat sich durchaus bemüht, dem Denken der Wirtschaft gerecht zu werden. Sie akzeptiert als Kompensation von Aufwendungen das Bemühen, ein „good corporate citizen“ sein zu wollen, den „good will“ zu steigern, das „standing“ zu verbessern, etc Niemand wird nachprüfbar belegen können, dass sich die entsprechenden Ausgaben „gelohnt“ hätten. Ihre
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Kompensation durch immaterielle Werte ist eine Fiktion. Folglich muss sich die Rechtsprechung äußerste Zurückhaltung auferlegen, wenn sie diese Kompensation verweigern und einen Schaden annehmen will. Die Einschätzungsprärogative liegt bei der Wirtschaft. Nur dann, wenn das Missverhältnis von Aufwand und erwartetem Nutzen sowie von Aufwand und Ertragslage des Unternehmens krass und eindeutig ist oder wenn ein Bezug zum Unternehmensinteresse nicht mehr erkennbar ist, darf das Strafrecht eingreifen.
V. Unternehmensinteresse Damit ist ein Stichwort gefallen, das noch einmal auf einen bereits erörterten Punkt zurück verweist. Für die Untreue ist, je nach Fallkonstellation und subjektiver Tatseite, nur ein einziges Merkmal entscheidend, die Pflichtwidrigkeit oder der Schaden. Ich habe wirklich nicht vor, den Begriff des Unternehmensinteresses zu definieren. Ich möchte nur anmerken, dass er, wie auch immer verstanden, die Unterschiede zwischen Pflichtwidrigkeit und Schaden verschwimmen lässt. Er ist nicht eindeutig zuordenbar. Auch das lässt sich aus der ARAG-Entscheidung herauslesen. Voraussetzung für einen Schadensersatzanspruch ist danach (unter anderem und vor allem), dass sich der Vorstand nicht am Unternehmenswohl orientiert hat. Das Interesse der Gesellschaft muss aber vom Aufsichtsrat nicht verfolgt und ein Schaden darf ersatzlos hingenommen werden, wenn ausnahmsweise gewichtige Interessen und Belange der Gesellschaft überwiegen oder zumindest annähernd gleichwertig sind.15 Diese „gewichtigen Interessen und Belange“ der Gesellschaft gehören ihrerseits ebenfalls und unbestreitbar zum Unternehmenswohl. Die zunächst konstatierte Verletzung des Unternehmensinteresses, die den Schadensersatzanspruch auslöst, wird also „overruled“ durch gegenläufige Interessen des Unternehmens. Wenn der Aufsichtsrat den Schaden nach gehöriger Abwägung hinnimmt, begeht er nicht etwas seinerseits Untreue, sondern tut seine Pflicht, weiteren Schaden zu vermeiden. Solche retrospektiven Entscheidungen lassen sich in den Tatbestand der Untreue noch einigermaßen sicher einordnen. Bei zukunftsbezogenen unternehmerischen Entscheidungen aber wird das weiche Kriterium 15 Das kann insbesondere der Fall sein, wenn zu befürchten sind – negative Auswirkungen auf die Geschäftspolitik – negative Auswirkungen auf das Ansehen der Gesellschaft in der Öffentlichkeit – Behinderung der Vorstandsarbeit – Beeinträchtigung des Betriebsklimas und in seltenen Sonderfällen nicht das Wohl des Unternehmens betroffen ist, aber dem Vorstandsmitglied einschneidende persönliche Folgen drohen, die zu dem Maß seiner Pflichtwidrigkeit und dem entstandenen Schaden außer Verhältnis stehen.
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Unternehmensinteresses zum Maßstab sowohl der Pflichtwidrigkeit wie des Schadens. Der ohnehin konturenlose Tatbestand der Untreue inkorporiert sich ein diffuses Element und zerfließt damit vollends. In der Begründung des Referentenentwurfs zum UMAG heißt es: 16 „Unternehmerische Entscheidung beruht häufig auch auf Instinkt, Erfahrung, Phantasie und Gespür für künftige Entwicklungen“. Man kann nur hoffen, dass die Justiz soviel Instinkt, Erfahrung, Phantasie und Gespür aufbringt, das irrationale Genie nicht mit dem kriminellen Hasardeur zu verwechseln.
VI. Die Zustimmung der Eigner Ist man ein krimineller Hasardeur, wenn man sich der Zustimmung aller Gesellschafter versichert hat? Es liegt nahe zu antworten, dass es darauf ankomme, ob die Zustimmung ihrerseits ein Spiel mit dem Feuer sei. Das war einmal so, in jenen eingangs erwähnten, gar nicht uralten Zeiten. Inzwischen sieht das die herrschende Ansicht differenzierter. Sie unterscheidet dabei nach der Art der Gesellschaft. Das läuft darauf hinaus, dass das Risiko, Untreue zu begehen, von der Rechtsform der Gesellschaft abhängt. 1. Personengesellschaften Bei Personengesellschaften soll es auf die Qualität der Zustimmung ankommen. Sie wird an der Satzung gemessen. Ein Verstoß dagegen führt zur Pflichtwidrigkeit der Zustimmung, und die schlägt durch auf die Pflichtwidrigkeit der Maßnahme.17 Das ist inkonsequent. Der Gesellschaftsvertrag ändert nichts daran, dass jeder Gesellschafter seine eigenen Interessen verfolgt und begründet nicht die Pflicht, ein Geschäft der anderen Gesellschafter zu führen. Die gesellschaftsrechtlichen Treupflichten sind nicht Vermögensfürsorgepflichten im Sinne der Untreue. Ein Schaden kann nicht bei der Gesellschaft, sondern nur beim einzelnen Gesellschafter eintreten. Wenn er damit einverstanden ist, entfällt die Untreue, und es macht wenig Sinn, die Maßnahme, der zugestimmt wurde, dennoch als pflichtwidrig zu bezeichnen. 2. GmbH Bei der GmbH entscheidet nach der neueren Rechtsprechung nicht die Qualität der Zustimmung, sondern ihre Folge für die Lage der Gesellschaft. Seit BGH 35, 333 kommt es nicht mehr darauf an, auf welche Weise die 16
S 17. Vgl Tröndle/Fischer § 266 Rn 51 f mwN. Die dort (Rn 52) zum Beleg angeführte Entscheidung BGHZ NJW-RR 1986, 372 sagt allerdings nur, dass auch die formwidrig erteilte Zustimmung wirksam ist. 17
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Gesellschafter an das Geld der Gesellschaft gekommen sind, sofern sie es sich im Ergebnis nehmen durften. Sie mögen sich so unordentlich und satzungswidrig verhalten wie sie wollen, wenn sie nur das Stammkapital nicht antasten (§ 30 GmbHG) oder die Existenz der GmbH nicht auf andere Weise gefährden. Auch das ist verfehlt.18 Die Schöpfungsgeschichte der Juristischen Person reicht weit zurück. Vor allem die deutsche Doktrin des 19. Jahrhunderts hat einem Geldklumpen ein Eigenleben eingehaucht und diesem Wesen Organe und Glieder verliehen. Die Gesellschaft hat aber kein Recht auf Existenz und darf von ihren Erzeugern sogar getötet (liquidiert) werden.19 Auch ihre Gläubiger können nicht verlangen, dass sie gesund ernährt und am Leben gehalten wird. Es gibt weder eine Vermögensfürsorgepflicht der Gesellschafter gegenüber der Gesellschaft noch etwa gegenüber der „Wirtschaftsgesellschaft“. Die Untreue ist kein Insolvenzverhinderungsdelikt. 3. Aktiengesellschaft Die BGH-Regeln für eine Zustimmung durch die Anteilseigner einer GmbH sollen „entsprechend“ für die AG gelten.20 Diese Analogie trägt nicht weit. Es überwiegen nämlich die fundamentalen Unterschiede. Das Vermögen der AG ist nicht frei, sondern gebunden. Die Aktionäre müssen den festgestellten Jahresabschluss hinnehmen und können nur über die Gewinnverwendung entscheiden (§ 174 Abs 1 AktG). Auch darin sind sie nicht frei (§ 174 Abs 2 AktG). Darüber hinaus gehende „Zustimmungen“ zu Maßnahmen der Geschäftsleitung sind mangels Kompetenz schlicht wirkungslos. Das hat der 3. Strafsenat des BGH wohl übersehen, als er in seiner „Mannesmann“-Entscheidung den Aufsichtsräten des Präsidialausschusses vorhielt, sie seien doch nur Gutsverwalter und hätten für eine Zahlung an Vorstandsmitglieder die 100 %ige Zustimmung der Gutsherren, der Aktionäre, gebraucht. Die Hauptversammlung hätte in der Tat eine solche Prämie bewilligen dürfen, wenn das in der Satzung vorgesehen gewesen wäre (als Zuwendung an Dritte, § 58 Abs 3 Satz 2 AktG – falls man Vorstandsmitglieder als „Dritte“ behandeln darf). Das war aber nicht der Fall. Und wäre es so gewesen, hätte es nur der einfachen Mehrheit bedurft, und nicht der Zustimmung aller.21 So kann es gehen, wenn man als Strafrichter mit dem Aktienrecht nach Gutsherrenart umspringt.
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Vgl die Zusammenfassung der Kritik bei Tröndle/Fischer aaO Rn 53. BGH 49, 147 (157): Kein Anspruch gegenüber den Gesellschaftern auf Gewährleistung des Bestands der Gesellschaft. 20 Tröndle/Fischer aaO Rn 54. 21 Hüffer AktG, 7. Aufl, § 58 Rn 25. 19
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Vielleicht aber sollte sich das Strafrecht vom Aktienrecht lösen und ganz autonom einen eigenen Rechtfertigungsgrund bzw Tatbestandsausschluss für die Untreue etablieren und eine Maßnahme des Vorstands für nicht pflichtwidrig erklären, wenn die Zustimmung aller Anteilseigner 22 vorliegt (ohne damit deren aktienrechtlichen Handlungsspielraum zu erweitern).23 Damit wären GmbH und AG gleichgestellt, was das Strafbarkeitsrisiko der Untreue betrifft. Davon sind wir derzeit meilenweit entfernt. Die Frage nach der Harmonisierung könnte grundsätzlicher kaum sein. Das Gesellschaftsrecht bewertet das „Zusammenspiel von Vermögenstrennung und Vermögensbindung einerseits sowie die Haftungsbeschränkung andererseits“24 unter dem Aspekt des Gläubigerschutzes, der aber für die Auslegung des Untreuetatbestandes keine Rolle spielen sollte (dafür gibt es das Insolvenzstrafrecht). Im Gesellschaftsrecht markiert vor allem auch die korporative Struktur der AG – sie ist ein Verein – den Unterschied zu GmbH. Andererseits wird dort die am Bestandsinteresse entwickelte Lösung für die GmbH für die AG übernommen.25 Dieses Bestandsinteresse jedoch spielt für die strafrechtliche Dogmatik der Untreue keine Rolle.26 Im Gesellschaftsrecht stellt man die Fälle einverständlichen Handelns der Aktionäre und der GmbH-Gesellschafter gleich, um die Haftung qua Durchgriffslösung zu begründen – im Strafrecht geht es um die gegenläufige Frage, ob in dieser Situation die „strafrechtliche Haftung“ ausgeschlossen ist. Diese Polarisierungen legen die Vermutung nahe, es ginge hier um die sprichwörtliche „Befreiung des Strafrechts vom zivilistischen Denken“. Das wäre ein sinnloses Scheingefecht in einer nur fingierten Kampflage. Die Zeiten dieses Totschlagsarguments sind längst vorbei. Es geht vielmehr darum, dass sich Strafrecht und Gesellschaftsrecht an ihren je unterschiedlichen Zielen orientieren und in sich konsistent organisieren.27 Sonst droht die Gefahr, dass der pure Verstoß gegen Treu und Glauben strafbar wird. Rainer Hamm, dem dieser Beitrag freundschaftlich gewidmet ist, hat sie eindrucksvoll beschrieben.28
22 Mit Blick auf die Minderheiten-Regelungen in §§ 148, 142 Abs 2 AktG könnte man auch mehr als 99 % ausreichen lassen. Der Gedanke an 95 % (§§ 327a ff AktG) liegt ferner; vgl dazu aber D. Krause StV 2006, 307 ff. 23 Ein derartiger Beschluss wäre nicht „gesetzmäßig“ iS § 93 Abs 4 Satz 1 AktG. 24 BGH NJW 2002, 3024 (3025) zum Verlust des Haftungsprivilegs aus § 13 Abs 2 GmbHG. 25 Vgl den Überblick bei Hüffer Aktiengesetz, § 1 Rn 25. 26 Nach der richtigen Ansicht, die den gläubigerschützenden Kapitalerhaltungsgrundsatz nicht als Schranke der Zustimmungsfähigkeit ansieht, so. 27 Das Untreue-Strafrecht sollte zum Beispiel nicht der pragmatische Ersatz für ein nicht vorhandenes GmbH-Konzernrecht sein. 28 NJW 2005, 1993 ff.
Rainer Hamm und das Strafrecht in der NJW Hermann Weber
Fast genau vor zwanzig Jahren, im Oktober 1987, ist Rainer Hamm in den Kreis der NJW-Herausgeber eingetreten. Erstmals in Heft 41/1987 erscheint sein Name auf dem Umschlagblatt und im Titelkopf der Zeitschrift. Anlass für seine Berufung war nicht zuletzt die Erwartung von Verlag, Herausgebern und Redaktion, Rainer Hamm werde sich in seiner Herausgebertätigkeit in besonderer Weise für eine angemessene Berücksichtigung des Strafrechts (und gleichzeitig der Interessen der auf diesem Rechtsgebiet tätigen Praktiker) im Redaktionsprogramm der NJW einsetzen und damit – als später Erbe von Hans Dahs senior, dem langjährigen Doyen der Strafrechtsanwälte (und Prominentenverteidiger in Bonn) 1 – die nach dessen Tod im Jahre 1972 über lange Jahre hin verwaiste Position eines Fürsprechers des Strafrechts und der Strafverteidiger im Herausgebergremium der NJW einnehmen. Die geschilderten Erwartungen sind in den nunmehr zwei Jahrzehnten seiner Tätigkeit als Herausgeber der NJW voll in Erfüllung gegangen: Über all diese Jahre hinweg hat das besondere Interesse von Rainer Hamm stets einer angemessenen Repräsentanz (auch) des Strafrechts und der Bedürfnisse der Strafverteidiger in der NJW gegolten – Grund genug für den langjährigen NJW-Schriftleiter, dem Thema „Rainer Hamm und das Strafrecht in der NJW“ einen Beitrag aus der Sicht des Insiders zu widmen (und dem Jubilar damit zugleich für fast fünfzehn Jahre reibungsloser und stets fruchtbarer Zusammenarbeit zu danken). Dabei darf freilich nicht übersehen werden, dass das Thema „Rainer Hamm und die NJW“ sich nicht auf die Herausgeberjahre und die Herausgebertätigkeit Hamms beschränkt. Vorangegangen sind diesen schon sehr viel früher erste indirekte Verbindungen zur NJW über Hamms Mentor Erich Schmidt-Leichner 2, in dessen Kanzlei er (nach einem kurzen Zwischenspiel bei Dahs/Redeker in Bonn) von 1973 bis 1979 – zunächst als
1 Zu Hans Dahs senior vgl. den Geburtstagsartikel von Heinrich Vigano Hans Dahs zur Vollendung des 65. Lebensjahrs. Zugleich eine Besprechung seines Werks „Handbuch des Strafverteidigers“, AnwBl. 1969, 38 ff (mit Porträtphoto), und den Nachruf von Verlag, Herausgebern und Redaktion, NJW 1972, 921. 2 Zu Schmidt-Leichner vgl. den Geburtstagsartikel von Walter Lewald NJW 1980, 2565, und den Nachruf von Alfred Flemming NJW 1983, 1037.
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Mitarbeiter, später als Sozius – seine ersten Berufsjahre als Strafverteidiger verbracht hat. In dieselbe Zeit zurück reicht auch eine erste Betätigung als NJW-Autor – eine Tätigkeit, die Hamm in seinen Herausgeberjahren zunächst fortgeführt und dann als Verfasser immer wieder neuer Beiträge für die NJW – insbesondere von Beiträgen für die 1993 eingeführte Rubrik „Kommentare“ – noch ausgebaut hat. Auf Hamms frühe Beziehungen zur NJW ist kurz einzugehen, bevor der Blick auf seine Herausgebertätigkeit und seine Aktivität als NJW-Autor in den Herausgeberjahren gerichtet wird.
I. Indirekte Kontakte Rainer Hamms zur NJW über Erich Schmidt-Leichner Erich Schmidt-Leichner, der sich in den 50er Jahren zu einem der prominentesten Strafverteidiger der jungen Bundesrepublik Deutschland entwickeln sollte, war der – 1947 gegründeten 3 – NJW schon seit Ende der 40er Jahre eng verbunden: Von seiner Niederlassung als Anwalt in Frankfurt am Main im Jahre 1949 an gehörte er der Redaktion als freier Mitarbeiter an. Seine Aufgabe – wie die aller nebenamtlichen Mitglieder der Redaktionskonferenz – war es dort, Manuskripte (Aufsätze und Entscheidungen – was ihn betraf, aus dem Strafrecht) zu prüfen, in der Konferenz zur Annahme oder Ablehnung vorzuschlagen und – im Falle der Entscheidungen – bei Annahme auch für den Druck zu bearbeiten.4 Schon in dieser Zeit hat er darüber hinaus als Autor in der NJW eine Unzahl kleinerer und größerer Abhandlungen, Urteilsanmerkungen und Buchbesprechungen veröffentlicht.5 Auch als Schmidt-Leichner sich im Jahre 1958 im Hinblick auf das ständige Wachsen seiner Praxis und auf die damit verbundene Zunahme seiner hauptberuflichen Belastung genötigt sah, die Tätigkeit als freier Mitarbeiter der NJW aufzugeben, blieb er der Redaktion als Ratgeber und Autor in vielfältiger Weise verbunden: Eine sicher nicht zu unterschätzende Rolle
3 Zur Gründung der NJW vgl. die Darstellung bei Alfred Flemming Aus der Gründungsgeschichte der NJW, NJW 1987, 2653 ff; ferner das Kapitel „Die Gründung der NJW im Jahre 1947“ in: Hermann Weber Juristische Zeitschriften im Verlag C. H. Beck, 2007, S. 15 ff. 4 Zu der – seit damals unveränderten – Rolle der freien Mitarbeiter in der Redaktionskonferenz der NJW und ihrer Zusammenarbeit mit den hauptberuflichen Redakteuren vgl. Martin W. Huff Der montägliche Aktenberg – oder wie die NJW entsteht. Von der NJWKonferenz zur konkreten NJW-Fundstelle, in: NJW 50 Jahre Jubiläumsheft, 1997, S. 30 ff (31 f). 5 Einen ersten Eindruck jedenfalls von der rein zahlenmäßigen Fülle der Veröffentlichungen Schmidt-Leichners in der Frühzeit der NJW vermittelt die Aufzählung im NJWGesamtregister 1947–1960, 1961, S. XVII (aus der freilich leider nicht die einzelnen Aufsatztitel zu entnehmen sind).
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hat dabei die Tatsache gespielt, dass Schmidt-Leichner in dieser Zeit unmittelbarer Hausnachbar von Alfred Flemming in Niederhöchstadt bei Kronberg im Taunus geworden war. Flemming war von Gründung der NJW im Jahre 1947 an – trotz seiner nach außen eher unscheinbaren Rolle als „stellvertretender Schriftleiter“ 6 – nicht nur Organisator des Alltagsbetriebs der Redaktion, sondern auch – zusammen mit Walter Lewald – maßgeblicher Inspirator des Konzepts der Zeitschrift.7 Nicht zuletzt als Folge dieser Nachbarschaft hielt Schmidt-Leichner nach wie vor ständigen Kontakt mit Flemming und über diesen mit der NJW und „überließ“ deren Redaktion auch in dieser Zeit „nahezu alle seiner zahlreichen Aufsätze, Urteilsanmerkungen und sonstigen Publikationen zur Veröffentlichung“:8 Insgesamt hat Schmidt-Leichner in den Jahren von 1959 bis 1977 (also in der Zeit nach seinem Ausscheiden als freier Mitarbeiter aus der NJW-Redaktion) 16 größere und kleinere Aufsätze zu Fragen des Strafrechts, insbesondere der Strafverteidigung, in der NJW veröffentlicht; nicht gerechnet sind dabei die (allerdings nicht mehr allzu zahlreichen) Urteilsanmerkungen und die Buchbesprechungen. Die Aufsatzthemen reichen von „Strafverteidigung und Parteiverrat“ (1959) bis zu „Befangenheitsrüge und Rechtszug im politischen Strafrecht“ (1977)9 – und illustrieren damit zugleich die unveränderte Aktualität vieler der Fragen, die Schmidt-Leichner in seinen Beiträgen für die NJW behandelt hat.
II. Rainer Hamm als NJW-Autor vor 1987 Es ist nicht vorstellbar, dass die engen Kontakte Schmidt-Leichners zur NJW Rainer Hamm in seiner Zeit in dessen Kanzlei entgangen und nicht schon dadurch – über die für einen Juristen seines Formats selbstverständliche – NJW-Lektüre hinaus – erste zumindest indirekte Beziehungen zur NJW und ihrer Redaktion entstanden sind. Sehr viel direkter wurden diese Kontakte durch das Hervortreten Hamms als NJW-Autor, mit dem er ab 1973 in die literarischen Fußstapfen SchmidtLeichners getreten ist. Hamms Veröffentlichungen in der NJW setzen ein mit
6 Auch in dieser Eigenschaft ist Flemming – der zuvor, obwohl spiritus rector der NJW-Gründung und von Anfang an der maßgebliche Redakteur der Zeitschrift, in dieser nach außen überhaupt nicht in Erscheinung getreten ist – erst im Januar 1957 erstmals im Impressum erwähnt worden. 7 Vgl. dazu ausführlich Hermann Weber Alfred Flemming und Walter Lewald – die „Gründerväter“ der NJW, NJW 1990, 665 ff (668 ff). 8 So die Feststellung im Nachruf von Alfred Flemming NJW 1983, 1037. 9 Die genauen Seitenzahlen dieser Aufsätze (ebenso wie der im Folgenden erwähnten NJW-Publikationen aus der Feder Rainer Hamms) – lassen sich über die Fünfjahresregister der NJW unschwer ermitteln; auf den zeilenfüllenden Ballast genauerer Seitennachweise wird daher hier wie im Folgenden durchgängig verzichtet.
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dem kurzem Beitrag „Können Ablehnungsgründe bei rechtzeitigem und zulässigem Ablehnungsgesuch verspätet sein?“ aus dem Jahre 1973 – der Besprechung eines damals aktuellen BGH-Urteils, in deren knapper und pointierter Diktion in nuce bereits der spätere Verfasser ebenso knapper und pointierter NJW-Kommentare erkennbar scheint. Die Neigung Hamms zur kurzen Form bleibt auch in späteren Jahren erhalten: Das zeigen in der Folgezeit veröffentlichte weitere kurze Beiträge über „Recht des Verletzten zur Richterablehnung im Strafverfahren?“ (1974) und „Auslagenentscheidung bei der vorzeitig erledigten Verfassungsbeschwerde“ (1977). 1979 folgt der erste größere Aufsatz zum Thema „Die Besetzungsrüge nach dem Strafverfahrensänderungsgesetz 1979“, ein Beitrag, der im Schwerpunkt einer Darstellung und verfassungsrechtlichen Kritik der – mit dem genannten Gesetz eingeführten – Präklusion der Besetzungsrüge gewidmet ist. Nur erwähnt sei noch, dass 1982 mit der Festschrift für Werner Sarstedt erstmals eine von Hamm als Herausgeber verantwortete Publikation in der NJW besprochen wurde 10 und dass er 1986 ein einziges Mal auch seinerseits als Rezensent eines Buchs – der damals veröffentlichten Dissertation des späteren Rostocker und Frankfurter Strafrechtslehrers Cornelius Prittwitz zum Thema „Der Mitbeschuldigte im Strafprozeß“ – in Erscheinung getreten ist.11
III. Rainer Hamm als NJW-Herausgeber Die Beziehungen von Hamm zur NJW waren also noch relativ lose, als er 1987 in den Kreis der NJW-Herausgeber eintrat und dort die Rolle des Fürsprechers des Strafrechts übernahm. Die Zeitschrift stand in dieser Zeit bei der Gestaltung ihres Strafrechtsteils in einer schwierigen Übergangsphase:12 Es waren die Jahre der Ergänzung der NJW durch eine wachsende Reihe von Spezialzeitschriften zu verschiedenen Rechtsgebieten, nicht zuletzt dem Strafrecht.13 Zu Beginn des Jahres 1981 war als erste dieser – nach ihrem an die NJW anknüpfenden Namensbestandteil „Neue“ auch kurz „N-Zeitschriften“ genannten – Ergänzungszeitschriften zur NJW die „Neue Zeit-
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Besprochen von Günter Gribbohm NJW 1982, 372. NJW 1996, 2628. 12 Die „strafrechtlich-publizistische Landschaft“ zum Zeitpunkt seines Eintritts in das Herausgebergremium der NJW hat Rainer Hamm selbst in seinem Beitrag „50 Jahre NJW: Das Strafrecht“, NJW 1997, 2636 ff (2636), anschaulich geschildert. 13 Zur Entstehung allgemein der Ergänzungszeitschriften zur NJW und speziell der NStZ vgl. ausführlich das Kapitel „Expansion und Spezialisierung. Ergänzungszeitschriften zur NJW in den 80er Jahren“, in: Hermann Weber (Fn 3), S. 131 ff. 11
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schrift für Strafrecht“ (NStZ) gegründet worden. In der Ankündigung der neuen Zeitschrift durch die NJW-Redaktion deuten sich die damit entstandenen Abgrenzungsprobleme und Zielkonflikte bereits unüberhörbar an: „Seit Januar 1991 gibt es für die Strafrechtspraxis ein neues Periodikum, das den gesamten Bereich des Strafrechts … aktuell und umfassend abdeckt. Die NStZ knüpft an die Tradition der NJW an. Das kommt schon in der äußeren Form zum Ausdruck. … Darüberhinaus versteht sich die NStZ aber auch ihrer inhaltlichen Konzeption nach als Ergänzung und Erweiterung der NJW, in der seit langem nicht mehr alle wichtigen Entscheidungen zum Strafrecht veröffentlicht werden konnten. … Ein zwischen der NJW und der NStZ vereinbartes Abstimmungssystem sorgt dafür, daß Doppelveröffentlichungen von Entscheidungen auf ein Mindestmaß beschränkt werden. Eine Ausnahme gilt nur für zentral wichtige Entscheidungen der Strafsenate des BGH, auf deren Abdruck die NStZ als eigenständige strafrechtliche Zeitschrift nicht verzichten kann. … Die Schriftleitungen beider Zeitschriften gehen davon aus, daß durch die Zusammenarbeit von NJW und NStZ sowohl den Bedürfnissen der NJW-Leser nach Beibehaltung des Strafrechtsteils in unveränderter Form als auch dem Interesse der vorwiegend mit Strafrecht befaßten Praktiker nach einer zusätzlich umfassenden Strafrechtszeitschrift entsprochen wird.“ 14 Der Versuch, den Strafrechtsteil der NJW in unveränderter Form fortzuführen, Doppelveröffentlichungen von Entscheidungen in NJW und NStZ so weit wie irgend möglich zu vermeiden, aber auch das Interesse der NStZ zu wahren, den Strafrechtspraktikern – nicht zuletzt auch im Wettbewerb mit der fast zur gleichen Zeit in der Europäischen Verlagsanstalt entstandenen, heute von Luchterhand verlegten Zeitschrift „Der Strafverteidiger“ – einen möglichst vollständigen Überblick über die gesamte Entwicklung des Strafrechts zu geben, glich dem Versuch einer Quadratur des Kreises und führte zu einem schwierigen Spagat der NJW-Redaktion zwischen dem Bemühen um vollständige Veröffentlichung aller praktisch wichtigen Entscheidungen zumindest des BGH auf dem Gebiete des Strafrechts und der Rücksichtnahme auf die geschilderten Interessen der NStZ – ein Konflikt, der bei strikter Vermeidung von Doppelveröffentlichungen nur durch den Verzicht entweder der NJW oder der NStZ auf die jeweils angestrebte Vollständigkeit hätte gelöst werden können, in der Praxis dann allerdings im Ergebnis durch die Inkaufnahme einer zunehmenden Zahl von Doppelveröffentlichungen zumindest von BGH-Entscheidungen in beiden Zeitschriften gelöst worden ist. 14
Notiz der NJW-Redaktion „Neue Zeitschrift für Strafrecht“ (NStZ), NJW 1981, 103.
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Als Rainer Hamm 1987 NJW-Herausgeber wurde, hatte sich dieser Weg zur Lösung der sonst unlösbaren Zielkonflikte bereits angedeutet. Schon in der ersten Herausgeberkonferenz nach dem Eintritt Hamms in den Kreis der Herausgeber am 2. November 1987 ließ dieser sein grundsätzliches Einvernehmen mit einer solchen Lösung erkennen und setzte sich gleichzeitig mit Nachdruck für eine ausreichende Berücksichtigung des Strafrechts im Redaktionsprogramm der NJW ein. Das Protokoll vermerkt: „In der Diskussion begrüßte Herr Hamm, daß sich die Befürchtungen, mit Erscheinen der NStZ werde das Strafrecht von der NJW abgekoppelt, nicht bewahrheitet hätten. Die Strafrechtler seien im allgemeinen mit dem jetzigen Zustand zufrieden: Sie nähmen es auch in Kauf, daß gelegentlich wichtige strafrechtliche Entscheidungen allein in der NJW publiziert werden. Umgekehrt halte er Doppelveröffentlichungen für kein gravierendes Problem. … Wichtig sei aber nach wie vor, daß auch in der NJW die wichtigsten strafrechtlichen Entscheidungen abgedruckt werden.“ 15 Diese Linie hat Rainer Hamm als NJW-Herausgeber auch in den kommenden Jahren konsequent durchgehalten. Immer wieder ist er in den Herausgeberkonferenzen für eine ausreichende Berücksichtigung des Strafrechts eingetreten, und oft hat er Anregungen für Verbesserungen gegeben; meist hat er aber gleichzeitig der Redaktion bescheinigt, daß in der Praxis hier keine unerfüllten Desiderate beständen, und nur gelegentlich (vor allem in der Zeit eines Rückgangs der Zahl der strafrechtlichen Aufsätze in der NJW in der ersten Hälfte der 90er Jahre) hat er – dann freilich auch deutliche – Kritik geübt. Einige weitere Zitate aus den Konferenzprotokollen mögen das näher veranschaulichen: „Der nach wie vor gelegentlich zu hörende Vorwurf, das Strafrecht finde in der NJW zu wenig Berücksichtigung, wurde von Herrn Hamm ausdrücklich zurückgewiesen: Er betonte, allenfalls ausschließlich als Strafverteidiger tätige Rechtsanwälte kämen ohne den Rechtsprechungsteil der NJW aus; auch diese jedoch benötigten zumindest die in der NJW publizierten strafrechtlichen Aufsätze.“ (Herausgeberkonferenz 1990) 16 „Herr Hamm äußerte sich sehr zufrieden, daß die in der NJW abgedruckten strafrechtlichen Entscheidungen heute immer sehr aktuell seien. Es sei auch gut, daß die Entscheidungen ausführlich abgedruckt würden; in anderen Zeitschriften finde man oft nur eine verstümmelte Fassung. Er regte an, die amtlichen Leitsätze teilweise noch durch eigene redaktionelle
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Protokoll der NJW-Herausgeberkonferenz vom 7. November 1987 (unveröff.), S. 11. Protokoll der NJW-Herausgeberkonferenz vom 7. Februar 1990 (unveröff.), S. 9.
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Leitsätze zu ergänzen, gerade wenn die Entscheidungsgründe vom amtlichen Leitsatz ausgesparte Probleme enthielten.“ (Herausgeberkonferenz 1991) 17 „Herr Hamm gab zu verstehen, ihn schmerze die Reduktion strafrechtlicher Aufsätze um etwa ein Drittel, zumal die Herausgeber vor einigen Jahren beschlossen hätten, daß das Strafrecht seinen Stellenwert in der NJW behalten und nicht in die NStZ ‚weggedrückt‘ werden solle. … Herr Hamm plädierte außerdem dafür, in der NJW verstärkt kurze Urteilsanmerkungen unmittelbar im Anschluß an die abgedruckte Entscheidung zu veröffentlichen. Frau Stab18 verwies demgegenüber auf eine Absprache mit der NStZ-Redaktion, nach der in der NJW keine strafrechtlichen Entscheidungsanmerkungen veröffentlicht werden sollen.“ (Herausgeberkonferenz 1993) 19 „Herr Hamm monierte, dass die Zahl der NJW-Aufsätze zum Strafrecht im Jahre 1993 auf 16 zurückgegangen sei, nachdem sie 1991 noch 32 betragen habe. … Entsprechend dem vorjährigen Herausgeberbeschluss müsse das Strafrecht im Aufsatzteil der NJW verstärkt Berücksichtigung finden; die NJW dürfe das Feld der Strafrechtspolitik, welche ja auf dem geltenden Recht aufbaue, nicht allein der ZRP überlassen.“ 20 „Herr Hamm berichtete, dass er die MDR abbestellt habe, weil dort das Strafrecht völlig eliminiert worden sei; eine Nichtberücksichtigung des Strafrechts wäre für die NJW ‚furchtbar‘.“ 21 „Herr Hamm stellte fest, im Strafrecht sei die NJW in dieser Hinsicht“ (gemeint: in Schnelligkeit und Aktualität des Abdrucks der Entscheidungen) „unschlagbar“.22 Natürlich hat sich Rainer Hamm bei den Herausgeberkonferenzen nicht auf die hier dokumentierte Rolle als Fürsprecher des Strafrechts beschränkt, sondern darüber hinaus vieles Bedenkenswerte auch zur Aufgabe allgemeinjuristischer Fachzeitschriften im elektronischen Zeitalter und speziell zu einer dieser Aufgabe gerecht werdenden Konzeption der NJW geäußert. Mit einer detaillierten Behandlung dieses Aspekts würde freilich das Thema des
17
Protokoll der Herausgeberkonferenz vom 25. Mai 1991 (unveröff.), S. 14. Die – im Jahre 1999 früh verstorbene – Ulrike Stab war damals die für das Strafrecht (und zugleich für die Kontakte zur NStZ-Redaktion) zuständige NJW-Redakteurin (vgl. zu ihr die Nachrufe von Hermann Weber NJW 1999, 3474, sowie von Rudolf Gerhardt und Martin Kriele ZRP 1999, 487). 19 Protokoll der Herausgeberkonferenz vom 29. Januar 1993 (unveröff.), S. 9 f. 20 Protokoll der Herausgeberkonferenz vom 5. Februar 1994 (unveröff.), S. 8. 21 Protokoll der Herausgeberkonferenz vom 30. Januar 1999 (unveröff.), S. 10. 22 Protokoll der Herausgeberkonferenz vom 11. September 2004 (unveröff.), S. 5. 18
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vorliegenden Beitrags verlassen (und darüber hinaus auch der für ihn zur Verfügung stehende Raum überschritten). Hamms jede Verkürzung der NJW-Konzeption auf eine platte Alltagsnützlichkeit und jeden mit einer solchen Verkürzung verbundenen Niveauverlust konsequent ablehnender Standpunkt sei daher abschließend nur noch durch ein Zitat aus einer Diskussion dokumentiert, in der es um die Umsetzung der Ergebnisse einer vom Verlag veranstalteten Leserumfrage ging. In dieser Umfrage hatte sich ein Großteil der Befragten nicht nur für einen noch rascheren Abdruck der Entscheidungen, sondern auch für eine deutliche Verkürzung des Aufsatzteils zugunsten einer umfangreicheren Dokumentation der Rechtsprechung ausgesprochen. Hamm mahnte zur Vorsicht: „Herr Hamm warnte nachdrücklich davor, die in der Leserumfrage zum Ausdruck kommende Erwartungshaltung eins zu eins umzusetzen. Die gestiegene Schnelligkeit der NJW, insbesondere beim Abdruck von Entscheidungen … sei sehr positiv aufgefallen. Er gab ferner zu bedenken, dass früher bereits die Professoren in ihren Vorlesungen die NJW als Pflichtlektüre empfohlen hätten. Auch heute habe es immer noch große Bedeutung, dass die NJW von den Hochschullehrern empfohlen werde. Der Jurist müsse die NJW ‚bereits mit der Muttermilch‘ kennen und schätzen lernen.“ 23
IV. Der NJW-Herausgeber Rainer Hamm als NJW-Autor Es verwundert nicht, dass Rainer Hamm auch in seiner Zeit als NJWHerausgeber der Zeitschrift auch als Autor treu geblieben ist und in ihr in zunehmender Zahl Aufsätze, kurze Beiträge, Buchbesprechungen und – nach Schaffung der Kommentarspalte im Jahre 1993 – eine Vielzahl geschliffener Kommentare veröffentlicht hat. 1. Aufsätze, Kurze Beiträge und Buchbesprechungen Fünf große Aufsätze und die gleiche Zahl von Beiträgen in den Rubriken „Zur Rechtsprechung“, „Umwelt und Recht“ und „Kurze Beiträge“ (davon einen zusammen mit Regina Michalke) hat Rainer Hamm in den Jahren seit 1987 in der NJW veröffentlicht. Kaum verwundern kann, dass ein Großteil dieser Beiträge Grundsatzfragen der Strafverteidigung gewidmet ist. Zu nennen sind hier die Aufsätze „Notwendige Verteidigung bei behinderten Beschuldigten“ (1988), eine Kritik an dem Hin und Her in der seinerzeitigen Gesetzgebung, und „Der Standort des Verteidigers im heutigen Strafprozeß“ (1993), hervorgegangen 23
Protokoll der Herausgeberkonferenz vom 23. Januar 2004 (unveröff.), S. 8.
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aus einem Vortrag auf einem DAV-Kolloquium am 6. November 1992 in Heidelberg. Hierher gehören aber auch die Entscheidungsbesprechung in Aufsatzform „Staatliche Hilfe bei der Suche nach Verteidigern – Verteidigerhilfe zur Begründung von Verwertungsverboten“ (1996), in der Hamm das damals grundlegende Urteil des 5. Strafsenats des BGH zur Verteidigerkonsultation vor der ersten Vernehmung 24 analysiert, die Rechtsprechung des Senats gegenüber ihren Kritikern verteidigt, aber auch in der Entscheidung noch offen gebliebene Fragen (und Lösungsmöglichkeiten für sie) aufzeigt, und der Beitrag „Geldwäsche durch die Annahme von Strafverteidigerhonoraren?“ in der Rubrik „Zur Rechtsprechung“ (2000), eine Auseinandersetzung mit einem damals viel diskutierten, den Geldwäschevorwurf im Regelfall verneinenden Urteil des OLG Hamburg.25 Gewissermaßen die Summe seines Nachdenkens über Aufgaben und Rolle des Strafverteidigers (und damit die Summe auch all seiner zuvor zu Teilaspekten der Tätigkeit des Strafverteidigers veröffentlichten Beiträge) zieht Hamm in seinem erst kürzlich veröffentlichten grundlegenden Aufsatz „Ist Strafverteidigung noch Kampf?“ (2006), wiederum ein Vortrag (diesmal auf dem XI. Kolloquium der Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des DAV in Karlsruhe am 12. Mai 2006). Die Formulierung des Vortragsthemas greift eine Feststellung von Hans Dahs senior auf, mit der dieser schon die erste Auflage seines Handbuchs des Strafverteidigers eingeleitet hat und die bis heute unverändert auch in alle späteren Auflagen des Handbuchs übernommen worden ist: „Strafverteidigung ist Kampf. Kampf um die Rechte des Beschuldigten im Widerstreit mit Organen des Staats, die dem Auftrag zur Verfolgung von Straftaten zu genügen haben.“26 In Auseinandersetzung mit neueren, von ihm so genannten „Harmonielehren“ hält Hamm diese Feststellung auch heute noch für gültig und bejaht damit im Ergebnis die Titelfrage seines Aufsatzes: „Es spricht nach wie vor mehr für als gegen eine streitbare Strafverteidigung. … Ein ‚Prinzip‘ der zur Kooperation oder gar zur Mithilfe an der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs verpflichteten Verteidigung gibt es nicht und ist auch für die Zukunft abzulehnen. Es gibt in einem liberal-rechtsstaatlichen Strafverfahren – außerhalb der Fälle einer ehrlichen Entscheidung des gut beratenen Mandanten für ein Geständnis und Reueverhalten im Einzelfall – keine Alternative zu einer kämpferischen Strafverteidigung mit dem einer argumentativ erstrittenen, vertretbar milden, der Person des Mandanten gerecht werden Sanktion oder mit dem Ziel eines Freispruchs.“ 27
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BGHSt 42, 15 = NJW 1996, 1547 = NStZ 1996, 291. OLG Hamburg, NJW 2000, 673. Dahs Handbuch des Strafverteidigers, zuletzt 7. Aufl. 2005, Rn 1. Rainer Hamm Ist Strafverteidigung noch Kampf? NJW 2006, 2084 ff (2089).
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Daneben finden sich aber auch Beiträge zu Grundsatz- und Detailfragen der Strafrechtsdogmatik und des Prozessrechts. Zu erwähnen sind hier zunächst die Beiträge „Rechtsstaatliche Bedenken gegen die Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde im Ordnungswidrigkeitenrecht“ (1990, mit Regina Michalke) und „Öffentliche Urteilsberatung“ (1992) – eine Auseinandersetzung mit zwei divergierenden Urteilen der Strafsenate des BGH zu den Fragen, unter welchen Voraussetzungen ausnahmsweise eine kurze Nachberatung des Urteils durch Verständigung am Richtertisch in der nach der eigentlichen Urteilsberatung noch einmal eröffneten Hauptverhandlung („öffentlich-geheime Beratung“) zulässig ist und welche Bedeutung der Sitzungsniederschrift für die Beweisfrage zukommt, ob (und gegebenenfalls inwieweit zureichend) eine solche Verständigung tatsächlich stattgefunden hat.28 Ein ganz grundsätzliches Thema behandelt schließlich der Beitrag „Das Ende der fortgesetzten Handlung“ (1994) – eine zustimmende Besprechung des von Hamm als „Jahrhundertentscheidung“ bezeichneten Beschlusses des Großen Strafsenats des BGH vom 3. Mai 1994, mit dem der BGH Abschied von der in der Rechtsprechung des RG kreierten und seither über viele Jahrzehnte weitertradierten Rechtsfigur des Fortsetzungszusammenhangs und der fortgesetzten Handlung genommen hat.29 Einem letzten Aufsatz – der Bilanz „50 Jahre NJW: Das Strafrecht“ (1997) – soll wegen seiner besonderen Bedeutung für das Thema „Rainer Hamm und das Strafrecht in der NJW“ ein eigener kurzer Abschnitt am Ende des Beitrags gewidmet werden. Nicht vergessen sei allerdings, dass Rainer Hamm in seiner Zeit als Herausgeber nun häufiger als früher auch als Autor von Buchbesprechungen in der NJW hervorgetreten ist. Eine solche Besprechung ist der Sache nach bereits der 1991 in der Rubrik „Umwelt und Recht“ veröffentlichte Beitrag „Die Strafjustiz und ihre Bindung an das Recht“. In ihm stellt Rainer Hamm den im selben Jahr erschienenen, von Udo Ebert herausgegebenen Sammelband „Aktuelle Probleme der Strafrechts“ vor, in dem die im November 1989 auf einem aus Anlass des 60. Geburtstags von Ernst-Walter Hanack veranstalteten Symposion gehaltenen Vorträge zusammengefasst und der juristischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sind. Auch darüber hinaus hat Hamm – von der Besprechung der 4. Auflage des Standardwerks „Die Revision im Strafprozeß“ von Dahs/Dahs im Jahre 1988 30 bis hin zur Rezension der 2002 erschienenen Dissertation „Beweisführung im Strengbeweisverfahren“ von Jens Dallmeyer im Jahre 2003 31 – immer wieder als Rezensent für den Literaturteil der NJW zur Feder gegriffen. 28 29 30 31
BGH NJW 1992, 3181 (3. Strafsenat); NJW 1992, 3182 (4. Strafsenat). BGH (Großer Senat), BGHSt 40, 138 = NJW 1994, 1663 = NStZ 1994, 383. NJW 1988, 477. NJW 2003, 194.
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Nur erwähnt sei schließlich noch, dass umgekehrt auch in dieser Zeit einige von Hamm selbst (mit)herausgegebene oder (mit)verfasste Werke in der NJW besprochen worden sind: Zu nennen sind hier das von ihm und Ingram Lohberger herausgegebene „Beck’sche Formularbuch für den Strafverteidiger“,32 die von Hamm bearbeitete und völlig umgestaltete 6. Auflage der von Werner Sarstedt begründeten „Revision in Strafsachen“ 33 und das von ihm zusammen mit Winfried Hassemer und Jürgen Pauly verfasste Gemeinschaftswerk „Beweisantragsrecht“ in der Reihe „Praxis der Strafverteidigung“.34 2. Kommentare Schon lange hatte vor allem Konrad Redeker in den Herausgeberkonferenzen (unterstützt nicht zuletzt auch von Rainer Hamm) darauf gedrängt, in der NJW wieder eine Spalte für knappe, pointierte Meinungsbeiträge zu aktuellen Zeitfragen des Rechts und der Rechtspolitik vorzusehen und damit an die Beiträge anzuknüpfen, die vor allem Adolf Arndt in den 60er Jahren in der Rubrik „Umwelt und Recht“ veröffentlicht hatte. Die Redaktion, die zunächst – nicht zuletzt wegen des von ihr für den Fall der Einführung einer solchen Spalte befürchteten Arbeitsaufwands – eher Zurückhaltung gezeigt hatte, ließ sich schließlich überzeugen, und so wurde im Juni 1993 mit einem ersten Beitrag von Rudolf Wassermann 35 die neue NJW-Rubrik „Kommentare“ eröffnet. In ihrer Vorbemerkung nahm die Redaktion ausdrücklich Bezug auf die Beiträge Adolf Arndts in der Rubrik „Umwelt und Recht“ und kündigte – zunächst noch sehr vorsichtig – an, dass in der neuen Rubrik „prominente Autoren in unregelmäßigen Abständen in knapper und pointierter Form aktuelle Zeitfragen des Rechts behandeln werden“.36 Schon im zweiten Halbjahr 1993 freilich wurden 16 Kommentare veröffentlicht, und von 1994 an gehörte der Kommentar zum Standardinhalt nahezu eines jeden Hefts.37 Im Interesse einer gleich bleibenden Qualität der Manuskripte hatte es sich die Redaktion zum Prinzip gemacht, in aller Regel Kommentare nur aus der Feder einer sorgfältig ausgewählten Riege ständiger Kommentatoren zu veröffentlichen. Ein fruchtbares Mitglied dieser Riege war schon vom ersten Jahr an Rainer Hamm, dem – wie sich rasch zeigen sollte – die knappe, eine 32
Besprochen von Karl-Adolf Günther NJW 1988, 1310. Besprochen von Gerhard Schäfer NJW 1999, 555. 34 Besprochen von Klaus Detter NJW 2002, 204. 35 Rudolf Wassermann Das Ende des Honecker-Verfahrens, NJW 1993, 1567. 36 NJW 1993, 1567. 37 Ausführlicher zur Geschichte der Kommentare in der NJW vgl. das Kapitel „Die NJW in der Zeit der zweiten Zeitschriftenexpansion“ bei Hermann Weber (Fn 3) S. 251 ff (277 ff). 33
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Zuspitzung der Argumentation herausfordernde literarische Form des Kommentars geradezu auf den Leib geschnitten war. Die Reihe seiner Kommentare wurde 1993 mit einem Beitrag zum Thema „,Draufhauen‘, oder ‚verstehen‘ – Strafjustiz, Strafverteidigung und jugendliche Gewalttäter“ eröffnet – wer Rainer Hamm kennt, wird wenig Zweifel haben, wie seine Antwort auf die in der Überschrift gestellte Frage ausgefallen ist. Diesem ersten Kommentar sind in den Jahren bis 2005 fünfzehn weitere gefolgt. Den Löwenanteil bilden natürlich auch hier Beiträge zu Strafverteidigung und Strafverfahren, aber auch zum Strafrecht allgemein. Die meisten Titel sprechen dabei für sich selbst: „Hauptverhandlungen in Strafsachen vor Fernsehkameras auch bei uns?“ (1995), „Strafverteidigung – Kampf oder Kuschelkurs?“ (1997), „Auch das noch – Strafrecht für Verbände!“ (1998), „Schluss der Debatte über Ausnahmen vom Folterverbot!“ (2003). Andere bedürfen einer Konkretisierung: „Mißbrauch des Strafrechts“ (1996), eine Auseinandersetzung sowohl mit – angeblichen oder tatsächlichen – Missbräuchen strafprozessualer Mittel auf der Seite der Angeklagten und der Verteidiger einerseits und der Ermittlungsbehörden andererseits, aber auch dem Mißbrauch strafrechtlicher Ermittlungen für zivilprozessuale Zwecke; „Strafverfolgung recht und billig?“ (1996) und „Viel Lärm um nichts“ (1999), beide zum Streit um Regelungen in Richtlinien im Strafverfahren, die einen Verzicht auf Rechtsmittel durch die Staatsanwaltschaft auch bei Rechtsfehlern in bestimmten Fällen für sinnvoll und zulässig halten; „Monokeltests und Menschenwürde“ (1999), eine kritische Würdigung der damals neuen Rechtsprechung des BGH zum Lügendetektor; „Vom Grundrecht der Medien auf das Fischen im Trüben“ (2001), ein Plädoyer gegen die Einführung eines autonomen Redaktionsgeheimnisses für die Medien; „Wie man in richterlicher Unabhängigkeit vor unklaren Gesetzeslagen kapituliert“ (2001), eine Darlegung der Bedenken gegen die Form der Einstellung des Strafverfahrens wegen Untreue gegen Helmut Kohl nach § 153a StPO durch eine Strafkammer des LG Bonn;38 „Deutschland – ein Fall für den Staatsanwalt?“ (2004), eine dezidierte Absage an die damals publizierte These eines ehemaligen Bundesrichters, die fünf die Senatsmehrheit bildenden, die Entscheidung des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts zur Sicherungsverwahrung 39 tragenden Richter seien ein Fall für den Staatsanwalt (und gleichzeitig eine generelle Absage an die ständig zunehmende Tendenz zum Ruf nach dem Staatsanwalt in Deutschland); schließlich „Kann der Verstoß gegen Treu und Glauben strafbar sein?“ (2005), eine Gegenrede gegen die Heranziehung des Untreuetatbestands in § 266 StGB als „Allzweckwaffe“.
38 39
LG Bonn, NJW 2001, 1736. BVerfGE 109, 190 = NJW 2004, 750.
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Andere Kommentare erinnern daran, dass Rainer Hamm nicht nur Strafverteidiger, sondern eine Reihe von Jahren auch hessischer Datenschutzbeauftragter gewesen ist – „Bürger im Fangnetz der Zentraldateien“ (1998) und „‚Überwachungssicherheit‘ – wer soll sicher vor wem und was sein?“ (2001) – oder greifen wie der Kommentar „Sind die USA als Rechtsstaat noch vorbildlich?“ (2002) über Deutschland hinaus und konstatieren rechtsstaatliche Defizite auch in anderen Rechtsordnungen, hier in der Rechtsordnung der USA. 3. Die Summe: der Aufsatz über 50 Jahre Strafrecht in der NJW Ein Aufsatz Rainer Hamms in der NJW ist oben bereits erwähnt, aber noch nicht im Detail gewürdigt worden: der im Oktober 1997 im Festheft zum 50jährigen Jubiläum der NJW erschienene Artikel „50 Jahre NJW: Das Strafrecht“. Im Jahresregister (und in Konsequenz davon auch im Fünfjahresregister 1995–1999) ist der Artikel umgetauft worden: Der dort verwendete Titel „Das Strafrecht im Spiegel von 50 Jahren NJW“ gibt den Inhalt deutlicher wieder als die zitierte, etwas blasse Überschrift im Heft. Der Aufsatz steht im Kontext mit vier parallelen Artikeln zu 50 Jahren Rechtsentwicklung im Spiegel der NJW: Drei – zur Entwicklung der Anwaltschaft und des Anwaltsrechts, zur Europäisierung der Rechtsordnung und zur Rolle des öffentlichen Rechts vor allem in der Frühzeit der Bundesrepublik – stammten von Hamms Mitherausgebern Rudolf Nirk, Hans-Jürgen Rabe und Konrad Redeker, der vierte – zum Prozess der deutschen Teilung und Wiedervereinigung – von Martin Weber, noch heute Mitglied der NJWRedaktion. In der Einleitung zu seinem Artikel hat Hamm die Rolle von Strafrecht und Strafverfahren innerhalb der rechtsstaatlichen Ordnung – und in Folge daraus die Aufgabe des strafrechtlichen Teils einer juristischen Fachzeitschrift – wie folgt definiert: „Die Reaktion eines Rechtsstaats auf Gesetzesverletzungen sowie das Procedere bei der Täterschaft und Schuld sind wichtige Indikatoren für den Zustand der verfaßten Gesellschaftsordnung. Deshalb ist der strafrechtliche Teil in einer juristischen Fachzeitschrift so etwas wie die Gegenprobe für die Bewährung des in den übrigen Teilen dokumentierten, sich dynamisch entwickelnden Rechts.“ Im Anschluss daran folgt ein Rückblick, wie die NJW in den 50 Jahren ihrer Geschichte bis 1997 dieser Aufgabe gerecht geworden ist. Schon die Kapitelüberschriften zeigen die enzyklopädische Anlage des Beitrags: „Strafrechtsreform und kein Ende“, „Wechselwirkung zwischen Strafrecht und Strafverfahren“, „Das Strafprozeßrecht und seine Reform durch Gesetzgebung und Rechtsprechung“, „Politisches Strafrecht“. Wie sehr Hamm
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auch selbst an dieser Entwicklung interessiert und von 1987 auch mit eigenem Engagement an ihr beteiligt war, zeigt der einführende Abschnitt des Artikels, der nicht nur einige persönliche Reminiszenzen an Hamms Begegnungen mit der NJW seit seiner Studienzeit, sondern auch sehr grundsätzliche Betrachtungen zu ihrer Rolle allgemein und speziell innerhalb der (seit dem Beginn der 80er Jahre veränderten) „strafrechtlich-fachpublizistischen Landschaft“ enthält – Betrachtungen, die nicht zuletzt auch als knapp gefasstes Programm für Hamms (inzwischen schon zwanzig Jahre währende) Herausgebertätigkeit gelesen werden können. Sie seien daher zum Abschluss etwas ausführlicher zitiert: „Die NJW war … immer eine Fachzeitschrift für die praxisrelevante Rechtswissenschaft. Der klare und weitsichtige Blick der Redaktion für den justiziellen Anwendungsbereich wissenschaftlicher Streitfragen, aber auch für die Wissenschaftsrelevanz von Praktikerstimmen ist bis heute ein Merkmal der Jubilarin, das ihr freilich nicht immer nur Freunde zutreiben konnte. Jenem Staatsanwalt, der mir in meiner Referendarzeit stolz berichtete, er habe mit seiner Ernennung zum Beamten auf Lebenszeit ‚als erste Amtshandlung‘ die … NJW abbestellt, weil ‚die Praxis‘ eben doch ‚anders laufe‘, wäre jede Fachzeitschrift ‚zu theoretisch‘ gewesen. Aber es wird auch immer Strafrechtswissenschaftler geben, denen der Strafrechtsteil der NJW zu praxisbezogen, zu wenig dogmatisch abstrakt daherkommt. Die Redaktion sollte sich weder von den einen noch von den anderen beirren lassen. … Als ich 1987 gebeten wurde, Herausgeber der NJW zu werden, hatte sich die strafrechtlich-publizistische Landschaft gegenüber meiner Studentenzeit völlig verändert. Es gab seit sieben Jahren zwei sich ergänzende … strafrechtliche Spezialzeitschriften, von denen die eine, die NStZ, eine der immer zahlreicher werdenden ‚NJW-Töchter‘ ist … Diese Entwicklung war auch deswegen notwendig, weil ‚die Mutter‘ neue große Rechtsgebiete zu erschließen hatte … Aber es konnte nicht ganz ausbleiben, daß eine Zeitlang bei der ausschließlich strafrechtlich interessierten Leserschaft der NJW der Eindruck entstand, die NJW habe sich aus diesem wichtigen Rechtsgebiet ganz zurückgezogen. Inzwischen dürfte jedoch keinem aufmerksamen Leser entgangen sein, daß die NJW ihre Stellung als alle Rechtsgebiete abdeckendes und Dank ihrer wöchentlichen Erscheinungsweise aktuellstes Blatt auch im Strafrecht behalten hat und daß sie nicht nur über alle wesentlichen Entwicklungen informiert, sondern auch dem reinen Strafrechtler den Einstieg in die schier unüberschaubare Flut von Spezialliteratur erleichtert.“ 40
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Rainer Hamm 50 Jahre NJW: Das Strafrecht, NJW 1997, 2636 ff (2636 f).
Menschliche Gattung als Rechtsgut? Menschenbilder im Recht Kristiane Weber-Hassemer
I. Einleitung Rainer Hamm ist mir vertraut als professioneller Vertreter eines liberalen Strafrechts, dem auf der Suche nach der Verletzung eines Rechtsgutes Wortgetöse und die Berufung auf vermeintlich gesicherte Wahrheiten immer ein Graus waren. Dies reizt zu einem Streifzug durch Rechtsbereiche, die den meisten Strafrechtlern weniger vertraut sind, die aber gespickt sind mit strafbewehrten Verbotsnormen unter Rückgriff auf eben solche Wahrheiten: es geht um Rechtsnormen am Beginn und am Ende menschlichen Lebens. Die rasante Entwicklung in der biowissenschaftlichen Forschung hat zu einschneidenden Veränderungen geführt. Die Erkenntnisse in die Entstehungsbedingungen des Menschen und die Möglichkeiten ihres Einsatzes für Forschung oder Diagnostik, die Entschlüsselung des menschlichen Genoms und die Entwicklungen in der Genetik sind in ihren Auswirkungen so ambivalent, ungewiss und in den Konsequenzen für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft so problematisch, dass man sich nach einer Richtschnur für richtiges Handeln, nach ethischen Sicherheiten und nach verbindlichen normativen Vorgaben sehnt. Ähnliches gilt für die Entscheidungen am Lebensende, die immer weniger durch sogenannte natürliche Lebensabläufe vorgegeben sind. In dieser Unsicherheit suchen deshalb viele nach stabilen Verankerungen und Vergewisserungen und deren rechtliche, insbesondere strafrechtliche Absicherung. Offensichtlich ist, dass wir uns dabei angesichts unserer pluralen Werthaltungen regelmäßig nicht auf moralische Intuitionen verlassen können. Als Ausweg bietet sich der Rückgriff auf fundamentale Grundentscheidungen der Verfassung an, die Menschenwürde nach Art. 1 GG und den Lebensschutz nach Art. 2 GG. Ihr angeblich klarer und kontextunabhäniger Interpretationsgehalt ermöglicht scheinbar eine Entscheidungssicherheit. Dabei ist auffällig, dass bei den politischen Entscheidungsträgern, bei den Kirchen und Verbänden weithin die verfassungsrechtlich gesicherten Grundrechte uminterpretiert werden. Der Charakter der Grundrechte als Abwehrrechte tritt in den Hintergrund, die Schutzpflichten des Staates
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werden hervorgehoben, paternalistische Töne sind unüberhörbar. Nicht mehr der Eingriff in die Grundrechtsposition ist rechtfertigungsbedürftig, sondern die Wahrnehmung der Handlungsfreiheit. Dies kontrastiert auffällig mit dem Abbau von Schutz für den Einzelnen im ökonomischen und sozialen Bereich, man ist versucht zu vermuten, dass die moralische Aufladung im Bereich der Lebenswissenschaften eher symbolischer Natur ist, weil sie unmittelbar relativ folgenlos ist, aber für die Selbstvergewisserung der Gesellschaft für notwendig erachtet wird.1 Meine These ist – und dies dürfte für methodentheoretisch geschulte Juristen nicht erstaunlich sein –, dass nicht die Dogmatik von Art. 1 und Art. 2 GG zu bestimmten Ergebnissen führt, sondern dass Vorverständnisse, Werthaltungen und bestimmte Menschenbilder die Interpretation und ihren strategischen Umgang bestimmen. Der zentrale personale Bezugspunkt der Verfassung, die Menschenwürde, wird vom Menschen auf die Gattung, die Menschheit oder das Menschenbild umgeleitet. Diese Orientierung wird vom Strafrecht flankiert. Natürlich gibt es Gegenpositionen, insbesondere in der verfassungsrechtlichen und strafrechtlichen Literatur, aber sie haben es schwer, sich in der Politik Gehör zu verschaffen. An drei Beispielen von zentralen bioethischen Konflikten soll diese Umorientierung exemplifiziert werden, der Stammzellforschung, der Präimplantationsdiagnostik und der Sterbehilfe.
II. Stammzellforschung In der biowissenschaftlichen Forschung wird heute im allgemeinen davon ausgegangen, dass sich aus humanen embryonalen Stammzellen unter geeigneten Bedingungen wohl alle Gewebetypen des Menschen entwickeln lassen, dass diese Zellen aber nicht die Fähigkeiten besitzen, sich zu einem Menschen zu entwickeln. Diese Zellen werden aus Embryonen gewonnen, die bei der künstlichen Befruchtung in der Petrischale, der so genannten InVitro-Fertilisation (IVF), entstehen.2 Trotz intensiver weltweiter Forschung ist es bisher nicht gelungen, durch Reprogrammierungstechniken, Parthenogenese oder andere Verfahren auf anderem Wege embryonale Stammzellen herzustellen. Gelungen ist es trotz aller Versuche auch nicht, die Zellen herzustellen, ohne den Embryo dabei zu zerstören. In den westlichen Staaten werden deshalb bisher fast ausschließlich Stammzellen aus überzähligen Embryonen gewonnen, die bei der IVF entstanden sind, aber der Frau nicht mehr eingepflanzt werden können, aus welchen Gründen auch immer. 1 Vgl. hierzu Seelmann Haben Embryonen Menschenwürde? Überlegungen aus juristischer Sicht; in: Kettner (Hrsg.) Biomedizin und Menschenwürde, 2004, S. 63 ff (75). 2 Weltweit dürften etwa drei Millionen Menschen inzwischen dieser Technik ihr Leben verdanken. In Deutschland kommen jedes Jahr einige Tausend hinzu.
Menschliche Gattung als Rechtsgut?
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Seit der Herstellung der ersten Stammzelllinien ist es zu erheblichen ethischen und rechtlichen Kontroversen über die Zulässigkeit der Forschung mit embryonalen Stammzellen gekommen. Diskutiert wird regelmäßig der moralische und rechtliche Status des Embryos, um die Grenzen der Zulässigkeit der Embryonenforschung möglichst abwägungsfest zu fixieren. Hier kann der umfangreiche und facettenreiche Meinungsstand nicht aufbereitet werden, die Literatur ist fast unübersehbar geworden. Meiner eingangs dargestellten These entsprechend soll nur der argumentative Einsatz der Rechtsgüter Menschenwürde und Lebensschutz betrachtet werden. Es findet insoweit eine weithin konsentierte Verschiebung der Menschenwürde vom geborenen Menschen zum Embryo als Träger der Menschenwürde statt.3 Dies gilt auch für den Embryo vor seiner Nidation bzw. vor seiner Implementierung in den Uterus. Vereinzelt wird die Auffassung vertreten, der Menschenwürdeschutz würde auch schon für die Eizelle vor der Befruchtung greifen 4. In den ethischen Argumenten wird vielfach darauf abgestellt, dass der Embryo sich von Anfang an als Mensch entwickelt, und dies nicht nur in artspezifischer sondern auch in individueller Hinsicht. Von der Befruchtung an besitze er individuelles Leben und die Möglichkeit, dieses zu entfalten. ( Sog. Spezies-, Kontinuums -, Identitäts- und Potentialitätsargument).5 Die verbrauchende Embryonenforschung verletze ausnahmslos nicht nur wegen der „Verzwecklichung“ die Menschenwürde des Embryos sondern sei auch ausnahmslos ein unzulässiger Eingriff in das Grundrecht auf Leben nach Art. 2 Abs. 2 GG, unabhängig von der Zielsetzung der Forschung. Die Richtigkeit dieser angeblichen Entwicklungsstadien ist vielfach wegen ihrer biologisch-medizinisch Annahmen kritisiert worden.6 Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist vor allem die Relevanz dieser Entwicklungsverläufe für die Zuschreibung der Menschenwürde und die Verknüpfung mit dem Lebensschutz verneint worden.7 Die Beantwortung der Frage nach der Schutzwürdigkeit menschlicher Entwicklungsphasen lässt sich nicht umstandslos
3 Zur verfassungsrechtlichen Kritik vgl. Dreier GG, Kommentar, 2. Aufl. 2004, Art. 1 I Rn 66 ff. 4 Starck Die künstliche Befruchtung beim Menschen – Zulässigkeit und zivilrechtliche Folgen; Teilgutachten, verfassungsrechtliche Probleme, Gutachten A für den 56. Deutschen Juristentag, 1986, S. A 17. 5 Statt aller Honnefelder Die Frage nach dem moralischen Status des menschlichen Embryos, in: Höffe/Honnefelder/Isensee/Kirchhof (Hrsg.) Gentechnik und Menschenwürde, 2002, S. 79–110 (90 ff); kritisch Dreier (Fn 3) Rn 85 f. 6 Von juristischer Seite etwa Heun Embryonenforschung und Verfassung – Lebensrecht und Menschenwürde des Embryos, JZ 2002, 517 ff (518 ff); aus naturwissenschaftlicher Sicht Nüsslein-Volhard, Wann ist der Mensch ein Mensch? Embryologie und Gentechnik im 19. und 20. Jahrhundert, 2003. 7 Eingehend Dreier (Fn 3) Art. 1 I Rn 81 ff.
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bestimmten biologischen Vorgängen entnehmen, sondern ist letztlich Ergebnis einer wertenden normativen Betrachtung. Die kategoriale Differenz zwischen dem Schutz geborener Menschen und dem erst wachsenden Schutz vorgeburtlichen Lebens ist kulturell tief verankert, hat eine lange Tradition auch im christlichen Abendland und prägt sowohl unsere soziale Handlungspraxis als auch unsere Rechtsordnung. Um zu zeigen, dass in unserer Rechtsordnung ein solcher abgestufter Lebensschutz existiert, braucht nicht auf die Abtreibungsregelungen zurückgegriffen werden, die sich immerhin berufen können auf den Widerstreit konfligierender Rechtsgüter. Die „Pille danach“ und insbesondere die Nidationshemmer, gegen die heute niemand mehr zu Felde zieht, zeigen mit aller Deutlichkeit, dass unsere Rechtsordnung den Embryo in vivo am Beginn seines Lebens überhaupt nicht schützt. Diese Differenzierungen hat das Embryonenschutzgesetz (ESchG), aus dem Jahre 1990 bekanntlich nicht aufgenommen. Es stellt alle Verwendungen eines Embryos, die nicht seiner Erhaltung dienen, mit Berufung auf die Menschenwürde und den Lebensschutz unter Strafe.8 Es hat dabei unter Ausdehnung des Schutzbereiches menschlicher Würde die Annahme zugrunde gelegt, dass bereits die einzelne totipotente Zelle in vitro der Träger der nicht abstufbaren Menschenwürde ist.9 Diesen Ansatz kann das Gesetz allerdings selbst nicht durchhalten. Denn § 6 Abs. 2 ESchG statuiert faktisch ein Tötungsgebot für einen durch Klonierungstechniken entstandenen Embryo, indem die Implantierung in die Gebärmutter einer Frau unter Strafe gestellt wird.10 Diese Inanspruchnahme von Menschenwürde und ihrer Verknüpfung mit dem Lebensschutz wird noch fragwürdiger, wenn man das Stammzellgesetz (StZG) von 2002 betrachtet, das die Einfuhr sog. pluripotenter Stammzellen regelt, die unter keinem Gesichtspunkt mehr Grundrechtsträger sind. Nach § 1 StZG ist es Zweck des Gesetzes, die Menschenwürde und das Recht auf Leben zu schützen und die Freiheit der Forschung zu gewährleisten. Rechtsgutsträger können danach allenfalls ausländische Embryonen sein, die vor ihrem Verbrauch durch Forschung geschützt werden sollen. Strafbar machen sich nach § 13 StZG Forscher im Inland, wenn sie ohne Genehmigung Stammzellen einführen und verwenden, die nach dem Stichtag (1.1.2002)
8 Vgl. § 6 Reg.EntwESchG, BT-Drs. 11/5460, 11; Günther, § 1 Rn 2, § 6 Rn 3 in: Keller/ Günther/Kaiser (Hrsg.) Embryonenschutzgesetz, Komm. 1992. 9 Die Strafbewehrung führt dazu, dass sich ein deutscher Forscher bei der Gewinnung embryonaler Stammzellen nicht nur in Deutschland strafbar macht, sondern das Strafbarkeitsrisiko auch bei grenzüberschreitenden Kooperationen nach §§ 2 ESchG, 9 Abs. 1 und 2, 25 Abs. 2, 26, 27, 5 Nr. 12 StGB besteht, auch wenn die Forschung im Ausland völlig legal ist. 10 Kritisch hierzu Gutmann „Gattungsethik“ als Grenze der Verfügung über sich selbst? S. 235 ff (251) in: Van den Daele (Hrsg.) Biopolitik, Leviathan, Sonderheft 23/2005.
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gewonnen wurden. In der strafrechtlichen Literatur 11 ist streitig, ob der ausländische Embryo tatsächlich das Schutzgut ist oder ob es sich insoweit um einen bloßen Schutzreflex handelt. Diese Frage ist durchaus bedeutsam, weil das Strafbarkeitsrisiko bei internationalen Kooperationen sehr hoch ist, sofern man einen weiten Schutzbereich durch eine Erstreckung auf ausländische Embryonen annimmt, hingegen sehr viel niedriger ausfällt, wenn Schutzzweck nur die geregelte Stammzellforschung im Inland sein soll. Obwohl diese Problematik im Gesetzgebungsverfahren gesehen und diskutiert wurde, ist es zu keiner Klarstellung gekommen, man wird diesem Gesetz im strafrechtlichen Bereich wohl durchaus das Etikett „Symbolik“ verpassen dürfen. Während in der Politik, den Verbänden und Standesorganisationen, mitunter auch der Kirchen die Ausweitung des Postulats der Menschenwürde eher plakativ zum Einsatz kommt, wird die Entwicklung weg vom personalen Bezug zum Menschen hin zu einem objektiven Gehalt in der Literatur durchaus thematisiert und verteidigt. Deutlich klingt dies an bei Benda,12 der auf den eigenständigen objektiven Gehalt des Menschenwürdeprinzips verweist und nicht in erster Linie auf die „umstrittene Subjektposition des Embryos“ abstellen will. Zu Unrecht beruft er sich allerdings dabei auf das Bundesverfassungsgericht, denn in der zitierten Entscheidung 13 votiert das Gericht nicht etwa für ein Kollektivsubjekt von Menschenwürde, sondern stellt nur klar, das jeder Mensch unabhängig von Eigenschaften, Leistungen usw. Menschenwürde besitzt. Ähnlich argumentiert Isensee, der Würdeschutz des Grundgesetzes beziehe sich „auch auf die Menschheit überhaupt, auf das Menschengeschlecht“ 14.
III. Präimplantationsdiagnostik Als Präimplantationsdiagnostik (PID) wird die genetische Untersuchung von Embryonen bezeichnet, die wenige Tage alt sind und durch extrakorporale Befruchtung erzeugt wurden. Für die Übertragung in die Gebärmutter 11 Hilgendorf Strafbarkeitsrisiken bei der Stammzellforschung mit Auslandskontakten, ZRP 2006, S. 22 ff; Dahs/Müssig und Eser/Koch Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen, in: Deutsche Forschungsgemeinschaft (Hrsg.) Rechtsgutachten zu den strafrechtlichen Grundlagen und Grenzen der Gewinnung, Verwendung und des Imports sowie der Beteiligung daran durch Veranlassung, Förderung und Beratung, 2003. 12 Benda Das Verhältnis vom Menschenwürde und Lebensrecht, in: Klein/Menke (Hrsg.) Menschenrechte und Bioethik, 2004, S. 49 ff (54 f) 13 BVerfGE 87, S. 209 ff (228). 14 Isensee Die alten Grundrechte und die biotechnische Revolution. Verfassungsperspektiven nach der Entschlüsselung des Humangenoms, in: Bohnert/Gramm/Kindhäuser/Lege/ Rinken/Robbers (Hrsg.): Verfassung – Philosophie – Kirche, 2001, S. 243 ff (S. 253); kritisch hierzu Dreier (Fn 3) Rn 116 f; Gutmann (Fn 10) S. 242.
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der Frau werden von mehreren Embryonen diejenigen ausgewählt, bei denen bestimmte Chromosomenstörungen bzw. Mutationen mit großer Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden können. Zu diesem Zweck werden dem Embryo drei Tage nach der Befruchtung, wenn er aus sechs bis zehn Zellen besteht, ein bis zwei Zellen zur Diagnostik entnommen. Beim Vorhandensein von mindestens acht Zellen wird im Allgemeinen kein Risiko für die Fortentwicklung des Embryos angenommen. Nach herrschender Meinung ist die PID durch das Embryonenschutzgesetz in Deutschland verboten, und zwar nicht nur dann, wenn sie an einer totipotenten Zelle durchgeführt wird, sondern auch dann, wenn die Zelle nur noch pluripotent ist und der Embryo bei der Untersuchung keinen Schaden nimmt ( § 2 Abs. 1 EschG).15 Zur Rechtfertigung der Verbotsnorm werden verschiedene Argumente verwandt: eine „Zeugung auf Probe“, also unter dem Vorbehalt eines unproblematischen Befundes, sei ein Verstoß gegen die Menschenwürde des Embryos, mit der Verwerfung des genetisch geschädigten Embryos werde ebenfalls gegen dessen Menschenwürde verstoßen, wegen seiner Mangelhaftigkeit werde ihm das Lebensrecht abgesprochen. Es ist unschwer erkennbar, dass wieder der moralische und rechtliche Status des Embryos unter dem Blickwinkel von Art. 1 und Art. 2 GG zur Debatte steht mit allen oben beschriebenen Inkonsistenzen. Es geht aber um mehr. Auch wenn bei der PID als Diagnoseverfahren nicht etwa genetische Merkmale gezüchtet, sondern nur genetische Schäden identifiziert werden, die ausschließlich aus dem Erbgut der beiden Eltern stammen, ist das Verfahren theoretisch geeignet, Einfluss auf die genetische Ausstattung von Nachkommen zu nehmen. Damit ist die PID zu einem Einfallstor, zu einem Symbol der Humangenetik, zu einem ersten Schritt in die „Menschenzüchtung“ geworden. Nachdem die anfänglichen Horrorszenarien von der Machbarkeit der menschlichen Ausstattung im Wege der Humangenetik nach Entschlüsselung des menschlichen Genoms einer realistischeren Betrachtung gewichen sind, sind zwar manche angebliche Optionen als Utopien erkannt worden, die Debatte um die Zulässigkeit genetischer Interventionen, insbesondere bei der PID, ist aber nicht zum Erliegen gekommen. Noch stärker als bei der Stammzellforschung wird die Würde der menschlichen Gattung als Schutzgut, als objektiver Wert hervorgehoben. Gegen das individualbezogene Verständnis der Menschenwürde wird nicht nur die Würde der Gattung betont sondern der Einzelne ist diesem Kollektivgut verpflichtet, die Menschen schulden sich mit Blick auf die Menschenwürde „die Unantastbarkeit ihres Erbguts“.16 Diese Würdepflichten lassen keinen Raum
15 AA Schroth Forschung mit embryonalen Stammzellen und Präimplantationsdiagnostik im Lichte des Rechts, JZ 2002, 170 ff. 16 Isensee (Fn 14) S. 262.
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für eine Güterabwägung bei existentiellen Konflikten der Eltern bei genetischer Vorbelastung. Zugleich wird das „Natürliche“, die genetische Ausstattung als Schutzgut normativ und ethisch überhöht. Der Eingriff in die biologische Natur wird zur Würdeverletzung.17 Durch diese Definition ist die biologische Ausstattung jeder Abwägung entzogen und wäre, zu Ende gedacht, auch jedem regelnden Eingriff durch den Staat, etwa durch Zulassung einer PID in engen Grenzen, entzogen. Die Ableitung des Sollens aus dem Sein ist so oft als naturalistischer Fehlschluss charakterisiert worden, dass hier auf eine Darstellung verzichtet werden kann.18 Der Appell an die Unverfügbarkeit der genetischen Ausstattung des Menschen übt dennoch eine gewisse Faszination und Überzeugungskraft aus, weil die Sorge vor dem „Dammbruch“ und die Angst vor unbekannten Risiken nach verlässlichem Schutz suchen lassen und unser christliches Erbe uns – wenn auch sehr vermittelt und säkularisiert – als Geschöpfe sehen lässt, die nicht beliebig mit sich selbst umgehen dürfen. Dem vielbeachteten und vielzitierten Ansatz vom gattungsethischen Selbstverständnis durch Habermas 19 soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Obwohl sich gerade Verfassungsrechtler gern auf seine Argumente berufen, wollte er selbst keinen Beitrag zu einer verfassungsrechtlichen Interpretation der Menschenwürde liefern und verneint die Möglichkeit, Maßstäbe für eine solche Interpretation aus seinem Ansatz gewinnen zu können. Es geht ihm um Bilder, die wir uns als dem Gattungswesen „Mensch“ gemacht haben, die Deutungsmuster seien aber aus guten Gründen den moralischen Grundlagen des weltanschaulich neutralen Staates untergeordnet und zu „friedlicher Koexistenz verpflichtet“.20
IV. Sterbehilfe Auf den ersten Blick scheint die Diskussion um die strafrechtlichen Grenzen der Sterbehilfe nicht so recht in die bisher diskutierten Koordinaten zu passen. Selbstbestimmung als Kern der Menschenwürde im bisherigen individualbezogenen Verständnis begründet in breitem Konsens das Recht des Individuums, selbst zu entscheiden, ob es einen ärztlichen Eingriff wünscht, duldet oder ablehnt. In der Konsequenz bedeutet dies, dass der Einzelne einen Arzt zwingen kann, ihn sterben zu lassen. Der Lebensschutz wird zurückgedrängt zugunsten der individuellen Autonomie. 17
Zur Kritik vgl. Neumann Die Menschenwürde als Menschenbürde – oder wie man ein Recht gegen den Berechtigten wendet, in: Kettner (Fn 1) S. 42 ff (48 f). 18 Ders. aaO S. 49 f. 19 Habermas Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? 4. erweiterte Aufl. 2002. 20 Ders. aaO S. 72 f.
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In den herkömmlichen strafrechtlichen Kategorien gesprochen, ist dies weder aktive Sterbehilfe noch Tötung auf Verlangen, es geht vielmehr um den Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen, üblicherweise als passive Sterbehilfe bezeichnet. Bei der Tötung auf Verlangen und bei Vorausverfügungen über den verlangten Behandlungsabbruch im Falle der verloren gegangenen Äußerungsfähigkeit kehrt sich dieses Verhältnis aber um, ohne dass im Regelfall plausible Begründungen geliefert werden. Die Patientenverfügungen, die sich nicht auf infauste Prognosen und die letzte letale Phase beziehen, werden vielfach, wie jetzt in der parlamentarischen Debatte, abgelehnt als Missachtung des Lebensschutzes und als antizipierte Tötung auf Verlangen. Das Rechtsgut Leben sei unverfügbar, wie dies auch für § 216 StGB gelte. Das Recht auf einen „menschenwürdigen Tod“ wird infragestellt, die Menschenwürde könne sich nicht gegenüber dem Leben als Basis der Menschenwürde durchsetzen. Art. 1 Abs. 1 GG stehe in einem partiellen Verhältnis der Subsidiarität zu den übrigen Grundrechten, namentlich auch zur Gewährleistung des Lebensgrundrechts.21 Wird bei dieser Argumentation bereits nicht ganz deutlich, ob wirklich die Menschenwürde des einzelnen Patienten in einem Subsidiaritätsverhältnis zum Lebensschutz verstanden werden soll, so wird jedenfalls von anderen der individuelle Bezug noch stärker verneint. In der Tradition Kants, aber auch christlichen Gedankenguts, unterliegt der Einzelne Würdepflichten, die seinem – möglicherweise verständlichen Wünschen nach Beendigung seines Lebens – Grenzen setzen. Das Rechtsgut Menschenwürde und das Rechtsgut Leben werden überindividuell verstanden, die Vernichtung des Lebens ist danach ein Verstoß gegen das Sittengesetz, das unzulässige Unwerturteil über das Menschsein. Die Unterscheidungen von Suizid, Tötung auf Verlangen und Behandlungsabbruch verschwimmen in der Bewertung.22
V. Pluralität von Menschenbildern Die beispielhaft beschriebenen Konfliktfelder kennzeichnen moderne Entwicklungen in der Biomedizin, in denen es schwierig ist, Rechtsgüter oder die Schutzrichtung von staatlichen Eingriffen durch rechtliche, insbesondere strafrechtliche Sanktionen zu begründen oder zu identifizieren. Die biotechnologischen Möglichkeiten und ihre Einflussnahme am Beginn und am Ende des Lebens, aber auch die Entwicklungspotentiale in den 21 Höfling Forum – „Sterbehilfe“ zwischen Selbstbestimmung und Integritätsschutz, JZ 2000, 111 ff (114). 22 Kritisch Hufen In dubio pro dignitate, NJW 2001, 849 ff (851): „Menschenwürde schützt den Menschen davor, zum Objekt der Menschenwürdedefinitionen eines anderen zu werden.“
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Neurowissenschaften, in der Chimärenforschung usw. berühren uns und können unser Selbstbild, unser Selbstverständnis verletzen. Die Deutungsmuster sind aber aus vielerlei Gründen sehr verschieden. Im modernen Verfassungsstaat haben sie sich dessen Grundentscheidungen unterzuordnen. Diese sind aber ihrerseits durch politische bzw. soziale Entwicklungen und veränderte Herausforderungen Wandlungen unterworfen und bedürfen der Deutung. Sie werden offensichtlich bestimmt durch divergierende Menschenbilder. Vorstellungen vom autonomen Individuum, das auf Selbstbestimmung setzt, konfligieren mit dem Bild eines Menschen, der sich fügt, sei es in religiöse oder paternalistisch agierende Institutionen. Das Bundesverfassungsgericht hat ganz früh auf das Spannungsverhältnis im Menschenbild des Grundgesetzes zwischen Gemeinschaftsbezogenheit und Selbstwert des Individuums hingewiesen, der Kontext war aber die Stärkung der Inpflichtnahme des Einzelnen für die Gemeinschaft.23 Später hat es weitgehend von solchen Bezugnahmen auf ein Menschenbild des Grundgesetzes abgesehen. In modernen Gesellschaften mit pluralen Werthaltungen kann es keine einheitlichen sinnstiftenden Menschenbilder geben. Deshalb sind alle Bemühungen um angeblich apriorische objektive Kriterien für das „Unverfügbare“ wie die Gattungswürde oder die Würde des Menschen bis auf einige Fundamentalkonsense in einer von individuellen Grundrechten geprägten Demokratie nicht geeignet, Maßstäbe im legislativen Bereich zu setzen. Jenseits von Fundamentalkonsensen, in denen es unzweifelhaft um Verletzungen der Menschenwürde geht, müssen politisch konsensfähige Kompromisse ausgehandelt werden. Die apodiktisch verkürzte Inanspruchnahme der Würde der Gattung oder der Menschheit oder aber die kontextunabhängige Berufung auf die Menschenwürde sind zwar verführerisch und scheinbar abwägungssicher, aber in einer pluralistischen Gesellschaft nicht konsensfähig. Das Abwägen von Grundrechten unter Einbeziehung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und unter Berücksichtigung von Folgen ist mühsam, aber unumgänglich. Die Vergesellschaftung des Menschen, die Erfordernisse des Zusammenhalts einer Gesellschaft einerseits und die Wahrung von individuellen Freiräumen andererseits müssen immer wieder neu austariert und reflektiert werden. Gemeinschaftsinteressen an Normstabilisierung und Orientierungsschutz können legitime Gründe sein, strafrechtlichen Rechtsgüterschutz zu implementieren, jede Ausweitung derartiger Schutzbereiche muss der Staat aber begründen, sie müssen sich an der Systematik und Werthaltigkeit der Grundrechte messen lassen.
23
BVerfGE 4, 7 ff (15).
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VI. Konsequenzen Welche Konsequenzen sich für die hier benannten Konfliktfelder unter dem Gesichtspunkt gesellschaftlicher und staatlicher Interessen an Normschutz und Orientierungsschutz ergeben, kann nur angedeutet werden. In der Stammzellforschung geht es um den Einsatz lebendiger menschlicher Substanzen. Für viele ist dies ein Tabubruch, weil diese Substanzen wie Sachen behandelt werden. Die Unabsehsehbarkeit der Konsequenzen solcher Manipulationen löst erhebliche gesellschaftliche Ängste aus, das Schutzgut Leben wird zum strafrechtlich geschützten Rechtsgut, das Embryonenschutzgesetz und das Stammzellgesetz sollen rigide jeden unkontrollierten Einsatz von Embryonen unterbinden. Ob diese strafrechtliche Reaktion aber heute noch adäquat und konsensfähig ist, ist zu bezweifeln. Die Forschung ist neue Wege gegangen, für die Forschung an embryonalen Stammzellen werden kaum noch Embryonen verbraucht, es gibt genügend Stammzelllinien. Deutschland finanziert im Europäischen 7. Forschungsrahmenprogramm diese Forschung mit, eine Strafdrohung für deutsche Forscher scheint nicht angemessen und ist normativ inkonsistent. Das Verbot der Präimplantationsdiagnostik auf der Basis der Strafrechtsnormen des Embryonenschutzgesetzes dürfte heute immer weniger zur Stabilisierung gesellschaftlicher Interessen an Achtung vor menschlicher Würde und Leben beitragen und stößt zunehmend auf das Unverständnis der Bevölkerung. Auch wenn heute deutlicher erkennbar wird, dass die Humangenetik keineswegs zur „Menschenzüchtung“ imstande ist, kann ein Interesse nach wie vor daran bestehen, wegen der unabsehbaren Folgen, auch für das Selbstverständnis und den Zusammenhalt der Gesellschaft, genetische Eingriffe zu unterbinden. Die PID soll aber nur schwere genetische Defekte aufspüren, die pränatal eine Abtreibung rechtfertigen würden. Sofern die Voraussetzungen ihres diagnostischen Einsatzes eng begrenzt sind, gibt es keine plausiblen Gründe zu ihrem Verbot, die Wertungsinkonsistenzen gegenüber dem Recht der Abtreibung sind kaum verständlich, falls es sich hier nicht nur um einen symbolischen Appell zum Lebensschutz handeln soll. Zumindest müssten das Leid und die Konflikte belasteter Paare in die Abwägung mit einbezogen werden. Mit dem Verweis auf die Menschenwürde und den unbedingten Lebensschutz sind derartige Abwägungen aber gerade abgeschnitten. Bei der Sterbehilfe wird man von einem starken gesellschaftlichen Interesse an einer Stabilisierung der allgemeinen Achtung vor dem Leben durch Schutz des Tötungsverbots ausgehen dürfen, sodass es legitim erscheint, sowohl die Tötung auf Verlangen als auch die aktive Sterbehilfe weiter unter Strafe zu stellen,24 obwohl dogmatisch die Abgrenzung zur erlaubten passiven Sterbe-
24
NK-StGB-Neumann, 2. Aufl. 2005, § 216 Rn 1.
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hilfe nicht ganz ohne Argumentationsbrüche verläuft. Hingegen kann dieses Interesse kaum noch zur Begründung herangezogen werden, um Patientenverfügungen nur für die Phase zuzulassen, wenn der Sterbeprozess bereits begonnen hat, sofern man die Selbstbestimmung aus Art. 2 GG ernst nimmt und dem Patienten das Recht auf Behandlungsabbruch in jeder Lebensphase einräumt. Schutzzweck einer solchen Regelung könnte allenfalls sein zu verhindern, dass Menschen aus Mangel an Information oder Vorstellungsvermögen Verfügungen über ihr Leben treffen, die sie später nicht mehr aufrechterhalten wollen, ihre Willensänderung aber nicht mehr berücksichtigt werden kann, weil sie nicht mehr äußerungsfähig sind. Insofern steht die Durchsetzung des Lebensschutzes beim nicht mehr autonomen Menschen in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis zu der ursprünglich unterstellten Autonomie, gegen die der Lebensschutz nicht durchgesetzt werden kann. Jeder gesellschaftliche Diskurs stößt allerdings, wie sonst auch in ethisch relevanten Fragen der Vergesellschaftung des Menschen, bei den bioethischen Konfliktfeldern an seine Grenzen. Die differenten Menschenbilder, die sich vor allem in der Kontroverse über die Reichweite von Selbstbestimmung einerseits und Gemeinschaftsbezogenheit andererseits niederschlagen, wurzeln tief in persönlichen, aber auch kollektiv erworbenen Werthaltungen und geschichtlichen Erfahrungen und sind rationalen Argumenten nur schwer zugänglich. Die Einführung neuer Schutzgüter wie die Würde der menschlichen Gattung oder die Würde der Menschheit erscheinen als Versuch, den Diskurs vorzeitig zu beenden, sie beschwören Werte – so der Appell –, die für alle gelten müssten. Es ist der untaugliche Versuch, der Pluralität einer modernen Gesellschaft zu entkommen.
Regelungsdefizite und Regelungspannen im Achten Buch der Strafprozessordnung Edda Wesslau
In der Alltagspraxis der Strafverteidigung bleiben die Vorschriften des Achten Buches der Strafprozessordnung regelmäßig eine Randerscheinung. Auch den Gerichten scheint nicht unbedingt geläufig zu sein, dass sich dort z.B. Regelungen über die Zulässigkeit der Speicherung von Strafverfolgungsdaten sowie über Löschungspflichten finden. So konnte man kürzlich erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass eine Entscheidung des OLG Zweibrücken vom 9.8.2006, die sich mit einem auf Löschung seiner bei der Staatsanwaltschaft gespeicherten Daten gerichteten Begehren eines Bürgers zu beschäftigen hatte, zwar einen Beschluss des Kammergerichts aus dem Jahre 1999 zitiert, jedoch auf die einschlägige gesetzliche Bestimmung in § 489 Abs. 2 StPO mit keinem Wort eingeht.1 Das Kammergericht wiederum hatte bei seiner Entscheidung 2 diese Norm noch gar nicht berücksichtigen können, da der Zweite Abschnitt des Achten Buches mit den Dateiregelungen erst durch das Strafverfahrensänderungsgesetz vom 2.8.2000 3 eingeführt worden ist. Ein Blick in das Gesetz hätte die Rechtsfindung erleichtert! Dabei ist die verbreitete Ignoranz der forensisch tätigen Strafjuristen gegenüber dem bereichsspezifischen Datenschutz- und Informationsrecht durchaus unberechtigt. Keiner weiß das so gut wie Rainer Hamm. Er hat sich für die Belange des Bürgers, der mit der Strafjustiz in Kontakt gekommen ist, nicht allein in seinem Beruf als Strafverteidiger eingesetzt; er hat seine Erfahrungen mit dem Zusammenhang zwischen Grundrechtsschutz und Datenbzw. Informationsverarbeitung insbesondere auch während seiner Zeit als Datenschutzbeauftragter des Landes Hessen machen können. Nicht allein um die Verfügbarkeit von Informationen für Zwecke der Strafverfolgung wird stets gerungen; für den betroffenen Bürger ist auch von Bedeutung, über welche Kenntnisse er selbst verfügt, um sich beispielsweise von einem unberechtigten Verdacht befreien oder gegen eine fortgesetzte Zuordnung zum Kreis der potentiellen (künftigen) Straftäter wehren zu können. Sicher,
1 2 3
OLG Zweibrücken NStZ 2007, 55. KG 4. StS Beschl. v. 6.8.1999 – 4 VAs 10/99. BGBl. I S. 1253 ff.
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die wesentlichen Gefahren für die Bürgerrechte entstehen zunächst einmal bei der Erfassung von Spuren, Daten, Äußerungen … eben allem, was kriminalistisch verwertbar erscheint – das von Rainer Hamm verwendete Bild vom Ausbreiten eines „Fangnetzes“4 trifft heute noch mehr zu als schon vor zehn Jahren. Demgegenüber scheint es bei den Vorschriften des Achten Buches eher um die harmlose, ja bürgerrechts-freundliche Seite des Wirkens der Strafjustiz zu gehen. Hier werden dem Bürger Auskunftsrechte eingeräumt, Übermittlungen von Strafverfolgungsdaten an andere Stellen beschränkt, Zweckbindungen für gespeicherte und übermittelte Daten festgelegt, Löschungspflichten konkretisiert und dadurch Rechtsschutz gegen unzulässige Datensammlungen oder -verwendungen ermöglicht. Doch dieses Regelwerk darf – das soll hier die These sein – keineswegs als das genommen werden, was es zu sein beansprucht: eine umfassende Umsetzung der verfassungsrechtlichen, im Volkszählungsurteil ausformulieren Anforderungen an den Umgang mit Informationen im Bereich der Strafverfolgung.5 Das Achte Buch ist trotz eines außerordentlich langwierigen Gesetzgebungsprozesses 6 an durchaus nicht unwesentlichen Stellen lückenhaft, inkonsequent und – gemessen an datenschutzrechtlichen Standards – defizitär.
Normenklarheit für den Bürger? Angesichts der berühmten Formulierung aus dem Volkszählungsurteil, wonach für den Bürger erkennbar sein müsse, „wer was wann und bei welcher Gelegenheit über ihn weiß“,7 war der Gesetzgeber gefordert, die Verarbeitung von personenbezogenen Informationen aus Strafverfahren umfassend zu regeln und dabei das Gebot der Normenklarheit zu beachten. Klar und verständlich müssen nicht nur die Eingriffsermächtigungen sein, derer es zur Erhebung der benötigten Informationen bedarf, sondern auch alle Regelungen, die sich auf die weiteren Stadien der Informationsverarbeitung beziehen, namentlich auf die Aufbewahrung bzw. Speicherung, die Verwendung für weitere Zwecke und die Weitergabe an andere Stellen. Regelungsgegenstand des neu zu schaffenden bereichsspezifischen Datenschutz- und Informationsrechts musste deshalb sowohl der Umgang mit personenbezogenen Informationen in Akten sein als auch die Speicherung und Übermittlung in Form von Daten. 4
Hamm Bürger im Fangnetz von Zentraldateien, ZRP 1998, 2407 ff. Zur verfassungsrechtlichen Erforderlichkeit der Regelungen des Achten Buches s. Hilger in: Löwe-Rosenberg, StPO-Großkommentar, 25. Aufl., Vor § 474 Rn 5 ff. 6 Die Vorarbeiten begannen bereits unmittelbar nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Volkszählungsgesetz, vgl. BT-Drs. 11/1878. Zur Gesetzgebungsgeschichte s. Hilger aaO., Vor § 474 Rn 1. 7 BVerfGE 65, 43. 5
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Hier zeigt sich jedoch bereits eine Lücke: Die Befugnis zur Aufbewahrung von personenbezogenen Informationen in Akten ist nicht geregelt, während sich für die Speicherung und Verarbeitung in Dateien Rechtsgrundlagen in den Dateiregelungen des Zweiten Abschnitts befinden. Dass solche Unstimmigkeiten nicht nur Schönheitsfehler sind, sondern tatsächlich im Einzelfall eine gesetzeskonforme Antwort auf das datenschutzrechtliche Begehren eines Bürgers verhindern können, sollte der eingangs zitierte Fall hinreichend deutlich machen.8 Der Umgang mit personenbezogenen Informationen in Akten ist nur insoweit Regelungsgegenstand des Achten Buches, als es um die Übermittlung an andere Stellen in Form von Akteneinsicht oder Auskünften geht. Die Befugnis zur Aufbewahrung von Strafakten ist dagegen bisher nur lückenhaft gesetzlich geregelt, nämlich im Schriftgutaufbewahrungsgesetz,9 das als Bestandteil des Justizkommunikationsgesetzes erst im Jahre 2005 in Kraft getreten ist. Eine Konzeption sollte man dahinter nicht vermuten. Vielmehr hinkt hier das bereichsspezifische Datenschutz- und Informationsrecht einfach hinter der allgemeinen Entwicklung dieses Rechtsgebiets hinterher. So ist die ursprüngliche Absicht, im BDSG den Datenschutz auf „organisierte bzw. organisierbare und deshalb leicht zugängliche und auswertbare Datensammlungen“ zu beschränken10 und darum Akten und Aktensammlungen aus dem Schutzbereich auszuschließen, für den Bereich der öffentlichen Verwaltung wieder aufgegeben worden.11 Das BDSG verfährt nunmehr umgekehrt: Personenbezogene Daten, die in Akten enthalten sind, werden grundsätzlich in den Schutzbereich der Vorschriften einbezogen, es sei denn, in einzelnen Bestimmungen finden sich Sonderregelungen, die allein auf Akten zugeschnitten sind.12 Und noch in einer weiteren Hinsicht erschwert die Zersplitterung der Regelungsmaterie dem Bürger die Übersicht – das Gebot der Normenklarheit bleibt auf der Strecke. Schlägt man die Strafprozessordnung auf, so 8 Das OLG Zweibrücken hat – im Anschluss an die (damals womöglich richtige) Argumentation des Kammergerichts – die Zulässigkeit der Datenspeicherung unmittelbar aus der Befugnis zur Aufbewahrung der entsprechenden Strafakten abgeleitet. Dass hier eine spezielle Regelung erforderlich ist, welche eine Speicherung der Daten über die Aufbewahrung der Informationen in den Akten hinaus erlauben muss, wurde verkannt. 9 Art. 11 des Justizkommunikationsgesetzes, BGBl. 2005 I S. 837. Die Bundesregierung hatte zunächst ein Justizaktenaufbewahrungsgesetz geplant, das für alle Akten von Gerichten, Staatsanwaltschaften und Justizvollzugsbehörden gelten sollte. Letztlich sind jedoch Zweifel an der Gesetzgebungskompetenz aufgetreten, so dass das SchrAG nur für Gerichte des Bundes und die Bundesanwaltschaft gilt; vgl. BT-Drs. 15/4952. Das SchrAG legt selbst keine bestimmten Aufbewahrungsfristen fest, sondern überlässt die näheren Bestimmungen einer Rechtsverordnung. 10 S. Regegierungsentwurf zum BDSG, BT-Drs. 7/1027, zu § 3. 11 Dammann in: Simitis u.a., BDSG, 6. Aufl. 2006, § 46 Rn 32. 12 Vgl. etwa § 20 Abs. 1 Satz 2, Abs. 4 BDSG.
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glaubt man zu erfahren, unter welchen Voraussetzungen personenbezogene Informationen aus Strafverfahren an andere Stellen übermittelt bzw. von diesen verwendet werden dürfen: Das Gesetz trennt zwar wiederum zwischen Auskunft aus Akten bzw. Akteneinsicht einerseits (§§ 474–478 StPO) und Übermittlung sowie zweckändernder Nutzung von Strafverfolgungsdaten andererseits (§§ 483–487 StPO); durch die Zusammenschau dieser Regelungen wird aber – so erscheint es dem Betroffenen – doch erkennbar, welche Behörden und öffentliche Einrichtungen bei ihrer Aufgabenerfüllung auf Informationen aus Strafverfahren zugreifen dürfen. Aber der Eindruck täuscht. Denn da ist zunächst der „Vorbehalt für Spezialvorschriften“,13 der auf die Existenz weiterer besonderer Übermittlungsbefugnisse immerhin ausdrücklich hinweist.14 Mag dies den Anforderungen an Normenklarheit noch entsprechen, so ergibt sich die eigentliche Überraschung erst daraus, dass der Gesetzgeber nahezu zeitgleich mit den Beratungen zum Achten Buch das EGGVG ergänzt und dort einen „Zweiten Abschnitt“ mit Vorschriften über „verfahrensübergreifende Mitteilungen von Amts wegen“ geschaffen hat.15 Alleiniger Regelungsinhalt: Übermittlung von personenbezogenen Informationen aus Strafverfahren! Hier handelt es sich also nicht um vereinzelte „Spezialvorschriften“, sondern um ein komplettes Normengeflecht neben den Übermittlungsvorschriften des Achten Buches der StPO. Aus der Sicht des Bürgers, dessen Recht auf informationelle Selbstbestimmung betroffen ist, leuchtet dieses Nebeneinander allerdings wenig ein: Warum sollte die Unterscheidung zwischen Auskunft auf Ersuchen – geregelt in der StPO – und Auskunft von Amts wegen – geregelt im EGGVG – eine auf verschiedene Gesetze aufgeteilte Normierung rechtfertigen? Sollte nicht für den Bürger überschaubar sein, „wer was wann und bei welcher Gelegenheit über ihn weiß“?. Die mit dem EGGVG und der StPO geschaffene Rechtslage trägt diesem Ziel schwerlich Rechnung. Im Gesetzgebungsprozess hat sich offenbar eine andere Logik durchgesetzt. Allein aus dem Bedürfnis nach bürokratischen Routinen ist erklärbar, warum der Gesetzgeber schlicht die aus den vormaligen behördeninternen Richtlinien (MiStra einerseits, RiStBV andererseits) gewohnte Aufspaltung der Vorschriften über die Informationsweitergabe unhinterfragt übernommen hat. Für die administrative Praxis ist es nämlich durchaus ein erheblicher Unterschied, ob Mitteilungen von Amts wegen zu veranlassen sind oder „nur“ auf ein Ersuchen zu reagieren ist. Ausdruck einer wirklichen Neuorientierung bei der Schaffung
13 So die (inoffizielle) Benennung des Paragraphen, vgl. etwa Meyer-Goßner Strafprozessordnung, 50. Aufl., 2007. 14 § 480 StPO: Besondere gesetzliche Bestimmungen, die die Übermittlung personenbezogener Informationen aus Strafverfahren anordnen oder erlauben, bleiben unberührt. 15 Eingeführt durch das Justizmitteilungsgesetz vom 18. Juni 1997, BGBl. I S. 1430.
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gesetzlicher Regelungen wäre ist es aber gewesen, wenn diese Denkweise zugunsten einer grundrechtsorientierten Konzeption in den Hintergrund gestellt worden wäre.
Datenschutzrechtliches Auskunftsrecht für den Betroffenen? Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht muss der Staat, der über seine Bürger personenbezogene Daten in Dateien sammelt und verarbeitet, schützende Verfahrensvorschriften schaffen.16 Eine solche Verfahrensvorschrift ist das Auskunftsrecht des Betroffenen, das als „magna charta des Datenschutzes“ gilt.17 „Betroffener“ ist jeder, über den personenbezogene Daten gespeichert sind.18 Das Auskunftsrecht ermöglicht dem Bürger nicht nur, die weiteren Rechte auf Berichtigung, Sperrung und Löschung geltend zu machen, sondern gibt ihm auch unmittelbar die Chance zu erfahren, „wer was wann und bei welcher Gelegenheit über ihn weiß“. In den Dateiregelungen des Achten Buches ist nun in der Tat ein Rechtsanspruch des Betroffenen auf Auskunft über die zu seiner Person gespeicherten Daten in Strafverfolgungsdateien geschaffen worden. Im Rahmen ihres Anwendungsbereichs ist § 491 StPO als bereichsspezifische Spezialregelung aufzufassen, die den in § 19 BDSG normierten Auskunftsanspruch verdrängt.19 Bemerkenswert sind die Abweichungen gegenüber § 19 BDSG zum einen im Hinblick auf die inhaltliche bzw. zeitliche Beschränkung des Auskunftsrechts. Besondere Geheimhaltungsbedürfnisse im Zuge strafprozessualer Ermittlungen können eine darauf zugeschnittene besondere Regelung tatsächlich rechtfertigen. Problematisch ist dagegen die Beschränkung des Auskunftsrechts in persönlicher Hinsicht: Auskunft ist dem Betroffenen nur zu erteilen, „soweit die Erteilung oder Versagung von Auskünften in diesem Gesetz nicht besonders geregelt ist“.20 Das bedeutet im Klartext, dass ein Recht auf Auskunft über die zu seiner Person gespeicherten Daten nach § 491 StPO ausgerechnet dem Beschuldigten nicht zusteht; das Gleiche gilt für andere Verfahrensbeteiligte. Durch den Verweis auf „besondere“ Regelungen innerhalb der StPO soll nämlich nach dem Willen des Gesetzgebers ein Recht auf Auskunft für alle Personen ausscheiden, denen grundsätzlich ein Akteneinsichts- oder Auskunftsrecht nach den §§ 147, 385 Abs. 3, 397 Abs. 1 Satz 2, 406e, 475 StPO 16 17 18 19 20
BVerfGE 65, 44. Mallmann in: Simitis u.a., BDSG, 6. Aufl. 2006, § 19 Rn 1. Vgl. § 3 Abs. 1 BDSG. Vgl. § 1 Abs. 3 S. 1 BDSG. Vgl. § 491 Abs. 1 S. 1 StPO.
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zusteht.21 In diesen Fällen erfährt der Berechtigte allerdings lediglich, welche Informationen über ihn in den Akten enthalten sind; ein Anspruch auf Auskunft aus Dateien ergibt sich daraus in der Regel nicht. Nur wenn eine Datei ausnahmsweise Bestandteil der Akten ist, erstreckt sich der Akteneinsichtsanspruch auch auf den Inhalt der Datei.22 Der Gesetzgeber hat diese Konsequenzen der Ausschlussklausel durchaus gesehen, wollte aber dennoch den Personengruppen, denen die StPO einen prozessrechtlichen Anspruch auf Akteneinsicht bzw. auf Auskunft aus Akten einräumt, das Recht verwehren, nach § 491 StPO Auskunft über die gespeicherten Daten zu erhalten.23 Gerechtfertigt wird diese beschränkte Reichweite des datenschutzrechtlichen Auskunftsanspruchs nach § 491 StPO mit dem Argument, in einer Datei sei nichts gespeichert, was nicht auch in den Akten stehe.24 Dem ist aber zu widersprechen. Im Hinblick auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist es durchaus ein Unterschied, ob Informationen außer in Akten auch noch in Dateien zur weiteren Verfügung der Strafverfolgungsbehörden und Gerichte stehen. Hinzu kommt, dass das Recht auf Auskunft sich nicht nur auf den Inhalt der fraglichen Datei bezieht, sondern auch zu der Mitteilung verpflichtet, welchem Zweck die Speicherung dient und an welche Empfänger die Daten weitergegeben worden sind.25 Diese Informationen, die für den Betroffenen und seine datenschutzrechtlichen Ansprüche durchaus eigenständige Bedeutung haben, werden aber erst durch das Anlegen von Dateien generiert und befinden sich folglich nicht in den Akten. Die Strafakten dokumentieren lediglich die Ermittlungsarbeit und das prozessuale Geschehen. Durch § 491 StPO wird den entsprechenden Personengruppen – namentlich den Beschuldigten – die Möglichkeit abgeschnitten, diese Informationen zu erlangen. Die Betroffenen könnten allerdings abwarten, bis das Akteneinsichtsrecht nach § 147 StPO usw. erlischt,26 wenn sie eine Auskunft über die zu ihrer Person gespeicherten Daten in Strafverfolgungsdateien begehren. Nach Erlöschen des von den speziellen Vorschriften der StPO gewährten Akteneinsichts- bzw. Auskunftsanspruchs – i.d.R. also nach Abschluss des Verfahrens – wird die Ausschlussklausel nämlich gegenstandlos. Aber ein solches Zuwarten ist insbesondere bei Speicherungen nach § 484 StPO zur Strafverfolgungsvorsorge nicht hinnehmbar. Die Aufnahme der Daten eines Beschuldigten in derartige Dateien stellt für sich genommen eine Belastung
21
BT-Drs. 14/1484, S. 35. Wohlers in: Systematischer Kommentar StPO, § 147 Rn 25. 23 BT-Drs. 14/1484, S. 35; Brodersen NJW 2000, 2541. 24 BT-Drs. 14/1484, S. 35; zustimmend Hilger in: Löwe-Rosenberg, StPO Großkommentar, 25. Aufl., § 491 Rn 2. 25 Vgl. § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 BDSG. 26 Vgl. dazu Wohlers in: Systematischer Kommentar StPO, § 147 Rn 23. 22
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für den Betroffenen dar, da eine solche Speicherung nur statthaft ist, wenn die Strafverfolgungsbehörden eine negative Prognose gestellt und deshalb die Verfügbarkeit der Daten für künftige Ermittlungszwecke für erforderlich gehalten haben.27 Die getroffene Regelung stimmt demnach nicht mit der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung und den erforderlichen schützenden Verfahrensvorkehrungen überein. Sie ist mehr als missglückt und bedarf unbedingt einer Korrektur. Der Betroffene muss grundsätzlich einen Anspruch auf Auskunft entsprechend § 19 BDSG auch und gerade im Strafverfahren haben. Denkbar wäre etwa eine Lösung, wonach die in der StPO „besonders geregelten“ prozessrechtlichen Ansprüche auf Akteneinsicht bzw. auf Auskunft aus Akten das datenschutzrechtlich bestehende Auskunftsrecht des Betroffenen nicht blockieren, sondern daneben bestehen. Das hätte zur Konsequenz, dass dieses – im Vergleich zu den „besonders geregelten“ strafprozessualen Ansprüchen – weniger umfangreiche Auskunftsrecht lediglich dort aktiviert wird, wo jene an sich weitergehenden prozessrechtlichen Ansprüche nicht greifen, nämlich bei Dateien. Jedem Betroffenen würden auf diese Weise jenseits der in der StPO „besonders geregelten“ und auf die jeweilige Prozessrolle zugeschnittenen Auskunfts- und Akteneinsichtsrechte stets auch datenschutzrechtliche Auskunftsansprüche zustehen.
Lösung für das Problem der Spurenakten? Die im Zuge strafrechtlicher Ermittlungen gesammelten Erkenntnisse werden seit jeher von der Staatsanwaltschaft bzw. der Kriminalpolizei in Akten gesammelt und später – im Fall der Anklageerhebung – an das erkennende Gericht weitergegeben. Spätestens nach Abschluss der Ermittlungen kann auch die Verteidigung Einsicht in die Akten nehmen. Der Zugang zu dem verfahrensbezogenen Erkenntnismaterial gehört zu den wesentlichen Verfahrensrechten des Beschuldigten, die seine Stellung als Prozesssubjekt ausmachen. Ähnliches gilt für den Verletzten, soweit ihm das Verfahrensrecht eine hervorgehobene Rechtsstellung zubilligt. Insofern handelt es sich beim Akteneinsichtsrecht um eine zentrale Materie des Prozessrechts. Anders verhält es sich, wenn Informationen aus Strafakten zu verfahrensfremden Zwecken begehrt werden oder wenn ein Verfahrensbeteiligter Erkenntnisse heranziehen möchte, die nicht in den verfahrensbezogenen Strafakten, sondern in anderen Dokumenten festgehalten sind. Hier handelt es sich um die Materie des Informations(zugangs)rechts. Eben diese Fragen
27
Weßlau in: Systematischer Kommentar StPO, § 484 Rn 11, 15 mwN.
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sollten durch die Vorschriften des Achten Buches – genauer durch den Ersten Abschnitt über „Erteilung von Auskünften und Akteneinsicht, sonstige Verwendung von Informationen für verfahrenübergreifende Zwecke“ – einer gesetzlichen Regelung zugeführt werden. Ausweislich der Gesetzesmaterialien wurde „im wesentlichen das Ziel“ verfolgt, „für … die Verwendung von personenbezogenen Informationen, die in einem Strafverfahren erhoben worden sind, … die verfassungsrechtlich gebotenen, im Interesse der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit sowie aus strafprozessual-systematischen Gründen notwendigen präzisen Rechtsgrundlagen zu schaffen“.28 Dieses Ziel ist jedoch in einem wesentlichen Punkt verfehlt worden: Ausgerechnet bei dem umstrittenen und für die Aktionsmöglichkeiten der Strafverteidigung so brisanten Problem des Einsichtsrechts in Spurenakten schweigt das Gesetz weiterhin. Nach herrschender Auffassung bezieht sich das Akteneinsichtsrecht des Verteidigers nach § 147 StPO auf diejenigen Dokumente, die die Staatsanwaltschaft dem Gericht mit der Erhebung der öffentlichen Klage nach § 199 Abs. 2 Satz 2 StPO vorzulegen hat. Dies sollen alle aus der Sicht der Staatsanwaltschaft entscheidungserheblichen Akten sein. Der Aktenbegriff ist damit durch die Identität der Tat und die Identität des mutmaßlichen Täters festgelegt. Sog. Spurenakten gehören nach dieser Auffassung also grundsätzlich nicht zu den Verfahrenakten,29 da sich darin Ermittlungsvorgänge befinden, die sich entweder der Tat oder dem Beschuldigten, der schließlich angeklagt wird, letztlich nicht zuordnen ließen. Nur wenn die Staatsanwaltschaft solche Dokumente wegen der Bedeutung für die konkrete Strafsache zu den Akten hinzugenommen hat, erstreckt sich das Akteneinsichtsrecht der Verfahrensbeteiligten ausnahmsweise auch darauf.30 Die berechtigte Kritik an dieser Auffassung 31 hat an der Rechtspraxis bis heute nichts geändert, zumal das Bundesverfassungsgericht diese Praxis für verfassungsrechtlich unbedenklich erklärt hat.32 Allerdings ist das Bundesverfassungsgericht davon ausgegangen, dass der Beschuldigte gegenüber der Staatsanwaltschaft prinzipiell ein Recht zur Einsicht in Spurenakten hat, das jedoch über § 96 StPO hinaus eingeschränkt sei: Die Akteneinsicht dürfe weder den Untersuchungszweck in einem anderen Strafverfahren gefährden, noch zur nachhaltigen Bloßstellung Dritter führen.33 Seither entscheiden die 28
BT-Drs. 14/1484, S. 16. BGHSt 30, 138 f; Laufhütte in: Karlsruher Kommentar StPO 5. Aufl., 2003, § 147 Rn 4; Meyer-Goßner StPO, 50. Aufl., § 147 Rn 18. 30 Wohlers in: Systematischer Kommentar StPO, § 147 Rn 36 mwN. 31 Vgl. Wohlers in: Systematischer Kommentar StPO, § 147 Rn 27, 36 ff; Paeffgen ebd., § 199 Rn 5, jew. mwN; s.a. Velten Befugnisse der Ermittlungsbehörden zu Information und Geheimhaltung, 1995, S. 69 ff. 32 BVerfGE 63, 45; st. Rspr. 33 BVerfGE 63, 67. 29
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Staatsanwaltschaften über entsprechende Begehren namentlich von Strafverteidigern, ohne sich dabei auf eine gesetzliche Grundlage stützen zu können. Rechtsprechung und Literatur schweigen sich nämlich zu der Rechtsgrundlage eines solchen Einsichtsrechts in Spurenakten aus 34 und führen lediglich an, dass dem Beschuldigten, wenn ihm diese Einsicht verwehrt wird, im Verfahren nach §§ 23 ff EGGVG gerichtlicher Rechtsschutz zur Verfügung stehe.35 Und so konnten die Staatsanwaltschaften bis zum Inkrafttreten der §§ 474 ff StPO allein nach RiStBV Nr. 185 Abs. 3 (a.F.) verfahren. Darin hieß es noch in der mit Wirkung vom 1.8.2000 bekanntgemachten Fassung: „Einem bevollmächtigten Rechtsanwalt oder Rechtsbeistand wird Akteneinsicht gewährt, wenn er ein berechtigtes Interesse (z.B. für die Prüfung bürgerlich-rechtlicher Ansprüche oder für die Vorbereitung eines Verwaltungsstreitverfahrens) darlegt und wenn sonst keine Bedenken bestehen“. Diese Regelungsebene genügte aber nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Aus dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts wurde zu Recht abgeleitet, dass Auskunftsansprüche und deren Begrenzungen gesetzlich geregelt werden müssen. Eben deshalb ist der Gesetzgeber tätig geworden und hat die Vorschriften des Achten Buches geschaffen. Was bisher in RiStBV Nr. 185 Abs. 3 (a.F.) geregelt war, sollte nun in § 475 StPO eine verfassungsrechtlich einwandfreie gesetzliche Grundlage erhalten36 Die einschlägigen Bestimmungen der RiStBV sind dann entsprechend neu gefasst worden.37 Allerdings deckt § 475 StPO mitnichten den Regelungsbereich der ehemals in Nr. 185 Abs. 3 der RiStBV (a.F.) enthaltenen Bestimmung ab. So war in sämtlichen einschlägigen Vorschriften der RiStBV schlicht von „Akteneinsicht“ die Rede, die unter bestimmten Voraussetzungen gewährt werden darf; deshalb konnte Nr. 185 Abs. 3 der RiStBV (a.F.) im Hinblick auf die Spurenaktenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts dahin gehend ausgelegt werden, dass hier auch solche Akten gemeint waren, die nicht ohnehin über § 147 StPO dem jeweiligen Verteidiger zur Einsicht zur Verfügung stehen. Dagegen bezieht sich das Recht auf Akteneinsicht bzw. Auskunft 34 Vgl. Meyer-Goßner NStZ 1982, 353 (358), der ausdrücklich darauf verweist, dass es für den Verteidiger kein gesetzlich verankertes Recht auf Einsichtnahme in Spurenakten, wohl aber einen Weg gibt, Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen; ebenso Wasserburg NJW 1980, 2444. Siehe auch Beulke in: FS für Dünnebier, 1982, S. 285 ff. 35 BVerfGE 63, 45 (67); vgl. auch Pfeiffer in: Karlsruher Kommentar StPO, 5. Aufl., Einl. Rn 72. 36 Vgl. Hilger in: Löwe-Rosenberg, StPO Großkommentar, 25. Aufl., § 475 Rn 1 mit Fn 2: „… bisher Nr. 185 Abs. 3 RiStBV“. 37 Siehe Nr. 182, wo der „Geltungsbereich“ der „nachfolgenden Bestimmungen“ über die Erteilung von Auskünften, die Überlassung von Abschriften und die Gewährung von Akteneinsicht näher beschrieben und insbes. klargestellt wird, dass nur „ergänzende“ Regelungen zu den gesetzlichen Vorschriften der §§ 474 ff StPO getroffen werden.
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nach § 475 StPO ausdrücklich und ausschließlich auf diejenigen Akten, „die dem Gericht vorliegen oder diesem im Falle der Erhebung der öffentlichen Klage vorzulegen wären“. Unter diese Definition fallen nur die Verfahrensakten, deren Umfang sich – wie gesagt – am Verfahrensgegenstand auszurichten hat. Mit der Begrenzung auf die Verfahrensakten wurde offenbar bezweckt, die Handakten der Staatsanwaltschaft und andere innerdienstliche Vorgänge auszunehmen. Das Gesetz schließt jedoch mit dem Verweis auf den Aktenbegriff in den §§ 147, 199 Abs. 2 Satz 2 StPO über dieses an sich berechtigte Anliegen hinaus. Denn auch Spurenakten gehören ja nach herrschender Ansicht und ständiger Praxis nicht zu den Verfahrensakten. Dementsprechend könnte ein Antrag auf Einsicht in Spurenakten nicht auf § 475 StPO gestützt werden. Ob diese Konsequenz bei der Formulierung des Gesetzes überblickt worden ist, kann bezweifelt werden, denn sie widerspricht dem Ziel des Gesetzgebers, mit den §§ 474 ff StPO eine umfassende und abschließende Regelung für die Übermittlung von Informationen zu treffen, die zum Zweck der Strafverfolgung erhoben worden sind.38 Spurenakten dokumentieren aber eindeutig Strafverfolgungstätigkeiten, so dass es sich um Informationen handelt, die bei der Wahrnehmung der Aufgabe der Strafverfolgung angefallen sind. Das Problem des Einsichtsrechts in solche Akten, die später keinem bestimmten Strafverfahren zugeordnet werden, ist offenbar im Gesetzgebungsverfahren übersehen worden. So gesehen liegt ein gesetzgeberisches Versehen vor. Zur Schließung dieser Regelungslücke im bereichsspezifischen Datenschutz- und Informationsrecht kann entweder an eine analoge Anwendung des § 475 StPO auf Spurenakten oder an einen Rückgriff auf § 16 Abs. 1 Nr. 2 BDSG bzw. entsprechende landesdatenschutzrechtliche Regelungen gedacht werden. Obwohl die Vorschriften des BDSG bzw. der Landesdatenschutzgesetze herangezogen werden dürfen, wenn keine bereichsspezifische Regelung existiert,39 ist einer Analogie-Lösung der Vorzug zu geben. Die bereichsspezifischen Rechtsgrundlagen der StPO erfassen die besonderen Interessenlagen, die bei einem Informationszugang zu Strafakten zu berücksichtigen sind, besser als eine Querschnittsmaterie wie das Datenschutzrecht.
38 39
Vgl. BT-Drs. 14/1484, S. 16, 17. Vgl. § 1 Abs. 3 BDSG.
Verzeichnis der Schriften von Rainer Hamm 1973 1. Der gesetzliche Richter und die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit Dissertation, Berlin 1973 2. Können Ablehnungsgründe bei rechtzeitigem und zulässigem Ablehnungsgesuch verspätet sein? In: NJW 1973, S. 178 1974 3. Recht des Verletzten zur Richterablehnung im Strafverfahren? In: NJW 1974, S. 682 1977 4. Festschrift für Erich Schmidt-Leichner München 1977 (Mithrsg.) 5. Zur Auslagenentscheidung im Verfassungsbeschwerdeverfahren In: NJW 1977, S. 2343 1979 6. Die Besetzungsrüge nach dem Strafverfahrensänderungsgesetz 1979 In: NJW 1979, S. 135 ff. 1981 7. Festschrift für Werner Sarstedt Berlin/New York 1981(Hrsg.) 8. Entwicklungstendenzen der Strafverteidigung In: Hamm, Rainer (Hrsg.), Festschrift für Werner Sarstedt, Berlin/New York 1981, S. 49 ff. 9. Hilfsstrafkammer als Dauereinrichtung In: StV 1981, S. 315 ff.
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Verzeichnis der Schriften von Rainer Hamm
10. Konzentrationsgrundsatz bei Wirtschaftsstrafkammern In: StV 1981, S. 249 ff. 11. Zur Unverzüglichkeit bei der Anbringung eines Richterablehnungsgesuchs In: StV 1981, S. 315 1982 12. Die Verteidigungsschrift im Verfahren bis zur Hauptverhandlung In: StV 1982, S. 490 1983 13. Die Revision in Strafsachen 5. Auflage, Berlin/New York 1983, (gemeinsam mit Werner Sarstedt) 1984 14. Wert und Möglichkeiten der „Früherkennung“ richterlicher Beweiswürdigung durch den Strafverteidiger In: Festschrift für Karl Peters (II), Heidelberg 1984, S. 169 ff. 15. Sich-nicht-Entfernen aus einer Demonstration nach hoheitlicher Aufforderung als Straftat? In: AnwBl 1984, S. 57 ff. 1985 16. Der friedliche, aber „ungehorsame“ Demonstrant – ein Straftäter? – zur beabsichtigten Reform des Demonstrationsstrafrechts In: Hess PolizeiRdsch. 1985, S. 3 ff. 17. Strafrechtliche Produktverantwortung In: PHI (Produkthaftpflicht international) 1985, S. 15 ff. 18. Das Bundesverfassungsgericht und die geheimen Zeugen im Strafprozess In: Lüderssen, Klaus (Hrsg.), V-Leute. Die Falle im Rechtsstaat, Frankfurt 1985, S. 483 ff. 19. Anmerkung zu BGH 2 StR 166/84 – Urteil vom 03.10.1984 (BGHSt. 33, 44) – Anforderungen an die Revisionsbegründungsschrift (Lesbarkeit von schriftlichen Beweisanträgen) In: StV 1985, S. 137 20. Nachruf auf Werner Sarstedt (gest. 04.05.1985) In: NJW 1985, S. 2246
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1986 21. Rechtsbehelfe im Ermittlungsverfahren In: AnwBl. 1986, S. 66 ff. 22. Anmerkung zu BGH 1 StR 583/84 – Beschluss vom 21.03.1985 (BGHSt 33, 163) – Tateinheit bei Verkürzung verschiedener Steuern In: NStZ 1986, S. 68 f. 23. Besprechung: Cornelius Prittwitz, Der Mitbeschuldigte im Strafprozeß, Frankfurt von Metzner 1984 In: NJW 1986, S. 2628 24. Zur Prognosegenauigkeit der Haftentscheidungen In: StV 1986, S. 499 ff. 25. Tendenzen der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung aus anwaltlicher Sicht In: Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des DAV (Hrsg.), Die revisionsgerichtliche Rechtsprechung der Strafsenate des Bundesgerichtshofs, Essen 1986, S. 9 ff. 1987 26. Werner Sarstedt: Rechtsstaat als Aufgabe Berlin/New York 1987 (Hrsg. gemeinsam mit Gisela Sarstedt, Wolfgang Köberer, Regina Michalke) 27. Tendenzen der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung aus anwaltlicher Sicht In: StV 1987, S. 262 ff. 28. Wenn das Tragen von Handschuhen in Räumen strafbar wäre … In: Frankfurter Rundschau vom 3. Dezember 1987, S. 17 29. Die Wirklichkeit des Untersuchungshaftvollzugs – aus der Sicht eines Rechtsanwalts In: Untersuchungshaft im Übergang. Hofgeismarer Protokolle, Band 243, Hofgeismar 1987, S. 32 ff. 1988 30. Vermummung als Straftatbestand? In: StV 1988, S. 40 31. Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger München 1988 (Hrsg. gemeinsam mit Lohberger)
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32. Besprechung: Hans Dahs/Hans Dahs: Die Revision im Strafprozeß, 4. Aufl. In: NJW 1988, S. 476 33. Der Vergleich im Strafprozeß Frankfurt 1988 (gemeinsam mit Friedrich Dencker) 34. Anmerkung zu BGH 4 StR 30/87 – Urteil vom 30. April 1987 – (BGHSt 34, 365) – Verwertungsverbote wegen Vernehmungsmängeln In: NStZ 1988, S. 233 ff. 35. Notwendige Verteidigung bei behinderten Beschuldigten In: NJW 1988, S. 1820 36. Empfehlen sich Änderungen im strafrechtlichen Umweltschutz, insbesondere in Verbindung mit dem Verwaltungsrecht? In: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages (Hrsg.), Verhandlungen des Siebenundfünfzigsten Deutschen Juristentages Mainz 1988, Band II (Sitzungsberichte), München 1988, Referat nebst Thesen L 61–L 84 37. Aktuelle Rechtsfragen und Rechtsprechung zum Umwelthaftungsrecht der Unternehmen, RWS-Skript Nr. 191 Köln 1988 (gemeinsam mit Raeschke-Keßler) 38. Verteidigung bei Zwangsmaßnahmen – Untersuchungshaft – In: Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des DAV (Hrsg.), Der Bürger im Ermittlungsverfahren, staatliche Eingriffe und ihre Abwehr, Essen 1988, S. 61 ff. 1989 39. Besprechung: Schmidt-Salzer, Produkthaftung I, Strafrecht, 2. Aufl., Heidelberg 1988 In: NJW 1989, S. 1209 40. Anmerkung zu Hans. OLG Bremen Ws 232/88 – vom 24.01.1989 – Besorgnis der Befangenheit bei „Deal“-Gesprächen In: StV 1989, S. 145 41. Anmerkung zu BGH 2 StR 66/89 – v. 7. Juni 1989 In: Deutsche Rechtsprechung IV (457), S. 93 ff. 42. Im Zweifel für die Natur, nicht für das Strafrecht im Umweltschutz In: DIE ZEIT Nr. 44 vom 27.10.1989, S. 64 43. Besprechung: Horst Henrichs und Karl Stephan, Ein Jahrhundert Frankfurter Justiz. Gerichtsgebäude A: 1899–1989. Studien zur Frankfurter Geschichte Band 27., Frankfurt 1989. In: NJW 1989, S. 3210.
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1990 44. Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Strafrechtsänderungsgesetzes – Zweites Gesetz zur Bekämpfung der Umweltkriminalität – des Bundesministers der Justiz. In: StV 1990, S. 219 ff. 45. Besprechung: R. Brüssow, N. Gatzweiler, G. Jungfer, V. Mehle, Ch. Richter (Hrsg.), Strafverteidigung und Strafprozess, Festgabe für Ludwig Koch, In: NJW 1990, S. 1467 46. Aktuelle Rechtsfragen und Rechtsprechung zum Umwelthaftungsrecht der Unternehmen. RWS-Skript Nr. 191 2. neubearbeitete Auflage, Köln 1990 (gemeinsam mit Raeschke-Keßler und Grüter) 47. Absprachen im Strafverfahren. Grundlagen, Gegenstand und Grenzen In: ZRP 1990, S. 337 48. Rechtsstaatliche Bedenken gegen Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde im Ordnungswidrigkeitenrecht (zugleich Anmerkung zu OLG Koblenz, NJW 1990, S. 2398) In: NJW 1990, S. 2369 (gemeinsam mit Regina Michalke) 49. Besprechung: Jescheck, Hans-Heinrich und Vogler, Theo (Hrsg.) Festschrift für Herbert Tröndle zum 70. Geburtstag In: NJW 1990, S. 3189 1991 50. Schutz individueller Freiheiten und Grundrechte durch den Staat und gegen den Staat In: Justiz und Polizei im Europa ohne Grenzen. Protokolldienst der Evangelischen Akademie Bad Boll 3/1991, S. 47 ff. 51. Die Beweisführung zum tatsächlichen Vorbringen des Beschwerdeführers in der Revisionsinstanz In: Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des DAV (Hrsg.), Grundprobleme des Revisionsverfahrens, Karlsruhe 1991, S. 105 ff. 52. Die Strafjustiz und ihre Bindung an das Gesetz; Zugleich Besprechung: Udo Ebert (Hrsg.), Aktuelle Fragen der Strafrechtspflege, Symposium für Ernst Hanack In: NJW 1991, S. 2884 53. Vorschläge zur Entlastung der Strafjustiz In: StV 1991, S. 530 ff.
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1992 54. Besprechung: Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. neubearbeitete Aufl., München 1990 In: NJW 1992, S. 887 55. Die revisionsgerichtliche Kontrolle der Beweiswürdigung des Tatrichters In: Arbeitsgemeinschaft Strafrecht des DAV (Hrsg.), Rechtssicherheit versus Einzelfallgerechtigkeit, Karlsruhe 1992, S. 20 ff. 56. Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger 2. Aufl. München 1992 (Hrsg. gemeinsam mit Lohberger) 57. Öffentliche Urteilsberatung In: NJW 1992, S. 3147 58. Besprechung: Blaese/Wielop, Die Förmlichkeiten der Revision in Strafsachen, 3. Aufl. München 1991. In: NJW 1992, S. 3151 59. Umweltstrafrecht aus der Sicht eines Strafverteidigers In: Was taugt das Strafrecht heute?, Loccumer Protokolle, 8/92, S. 124 ff. 1993 60. Der Standort des Verteidigers im heutigen Strafprozeß In: NJW 1993, S. 289 ff. 61. Besprechung: Vogtherr, Die Rechtswirklichkeit und Effizienz der Strafverteidigung In: ZRP 1993, S. 447 62. Eigentum im Wandel der Zeiten, Eigentumsschutz durch Strafrecht und Entkriminalisierung im Bereich der Eigentums- und Vermögensdelikte In: KritV 1993, S. 213 ff. 63. Anmerkung zu BGH 5 StR 279/93 vom 6. Juli 1993 (BGHSt 39, 251) – Beweistatsachen und Beweisschlussfolgerungen In: StV 1993, S, 455 ff. 64. Der Standort des Verteidigers im heutigen Strafprozeß In: StraFo 1993, S. 42 ff. 65. „Draufhauen“ oder „verstehen“ – Strafjustiz, Strafverteidigung und jugendliche Gewalttäter In: NJW 1993, S. 3180
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1994 66. Besprechung: Eidam, Unternehmen und Strafe, Köln 1993 In: NJW 1994, S. 990 67. Das Ende der fortgesetzten Handlung In: NJW 1994, S. 1636 68. Was wird aus der Hauptverhandlung nach Inkrafttreten des Verbrechensbekämpfungsgesetzes? In: StV 1994, S. 456, ebenso: BRAK-Mitteilungen 1994, S. 132 69. Entkriminalisierung im Bereich der Vermögens- und Eigentumsdelikte In: Bertram Börner/Margarete Fabritius-Brand (Hrsg.), 3. Alternativer Juristinnen- und Juristentag. Dokumentation. Baden-Baden 1994, S. 77 ff. 1995 70. Die Entdeckung des „fair trial“ im deutschen Strafprozeß – ein Fortschritt mit ambivalenten Ursachen In: Albin Eser, Hans Josef Kullmann, Lutz Meyer-Goßner, Walter Odersky, Rainer Voss (Hrsg.), Festschrift für Hannskarl Salger, Köln 1995, S. 273 ff. 71. Beweis, Überzeugung und Zweifel als Rechtsbegriffe In: Gerhard Herdegen, Beweisantragsrecht, Beweiswürdigung, strafprozessuale Revision. Abhandlungen und Vorträge, Baden-Baden 1995, S. 9 ff. 72. Hauptverhandlungen in Strafsachen vor Fernsehkameras – auch bei uns? In: NJW 1995, S. 760 73. „Täter-Opfer-Ausgleich“ im Strafrecht In: StV 1995, S. 491 74. „Täter-Opfer-Ausgleich“ im Strafrecht In: Aktuelle Probleme der Strafverteidigung unter neuen Rahmenbedingungen, Schriftenreihe der Strafverteidigervereinigungen, 19. Strafverteidigertag 1995, S. 187 ff. 75. Die alltäglichen Gesetzesumgehungen durch die Strafjustiz In: Institut für Kriminalwissenschaften Frankfurt a.M. (Hrsg.), Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, Frankfurt 1995, S. 367 ff. 1996 76. Strafverfolgung recht und billig In: NJW 1996, S. 236
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77. Staatliche Hilfe bei der Suche nach Verteidigern – Verteidigerhilfe zur Begründung von Verwertungsverboten In: NJW 1996, S. 2185 78. 5. Forum Datenschutz 28. November 1996, Strafrecht und Datenschutz – ein Widerspruch in sich? In: DuD 1996, S. 582 (gemeinsam mit Möller) 79. Mißbrauch des Strafrechts In: NJW 1996, S. 2981 80. Leitlinien für „Bagatellstrafsachen“ In: KritV 1996, S. 325 1997 81. 25. Tätigkeitsbericht des Hessischen Datenschutzbeauftragten. Wiesbaden 1997. (Hrsg.) 82. Der strafprozessuale Beweis der Kausalität und seine revisionsrechtliche Überprüfung In: StV 1997, S. 159 83. Kryptokontroverse In: DuD 1997, S. 186 ff. 84. Strafverteidigung – Kampf oder Kuschelkurs In: NJW 1997, S. 1288 85. Strafrecht und Datenschutz – ein Widerspruch in sich? Baden-Baden 1997 (Hrsg. gemeinsam mit Möller) 86. 50 Jahre NJW: Das Strafrecht In: NJW 1997, S. 2636 87. Große Strafprozesse und die Macht der Medien – eine Vorlesungsreihe im Wintersemester 1995/96 Baden-Baden 1997 88. Datenschutz im Internet durch Verschlüsselung von E-Mails In: DRiZ 1997, S. 418 89. Das nichtöffentliche Ermittlungsverfahren und die Medienarbeit der Staatsanwaltschaft In: Günter, Bandisch (Hrsg.), Festgabe für Heino Friebertshäuser, Bonn 1997, S. 267 ff.
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1998 90. Revision. Antworten auf 30 oft gestellte Fragen In: Brüssow/Krekeler/Mehle, Strafverteidigung in der Praxis, Bonn 1998, S. 473, 531 ff. 91. Besprechung: Herbert Tröndle, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 48. Auflage, München 1997. In: NJW 1998, S. 587 92. Besprechung: Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 43. Auflage In: NJW 1998, S. 1930 93. Besprechung: Lemke et al. Strafprozeßordnung, Heidelberger Kommentar, 1. Auflage, Heidelberg 1997 In: NJW 1998, S. 1929 94. Auch das noch: Strafrecht für Verbände In: NJW 1998, S. 662 95. Datenschutz durch Kryptographie. Tagungsband zum 6.Wiesbadener Forum Datenschutz am 19. Juni 1997 Baden-Baden 1998 (Hrsg. gemeinsam mit Möller) 96. 26. Tätigkeitsbericht des Hessischen Datenschutzbeauftragten Beilage I: Datenschutzfreundliche Technologien Beilage II: Datenschutzfreundliche Technologien in der Telekommunikation Wiesbaden 1998 (Hrsg.) 97. Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger 3. Auflage München 1998 (Hrsg. gemeinsam mit Lohberger) 98. Die Revision in Strafsachen 6. Auflage, Berlin/New York 1998 99. Datenschutz und Forschung, Vorschau auf das 7. Wiesbadener Forum Datenschutz In: DuD 1998, S. 248. 100. Bürger im Fangnetz von Zentraldateien In: NJW 1998, S. 2407 101. Datenbanken mit genetischen Merkmalen von Straftätern, Erwiderung auf Peter M. Schneider In: DuD 1998, S. 330 ff., 457 ff. 102. Gerhard Hammerstein zum 75. Geburtstag In: NJW 1998, S. 3099
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103. Verwertung rechtswidriger Ermittlungen – nur zugunsten des Beschuldigten? In: StraFo 1998, S. 361 ff. 104. Die juristische Person als Angeklagte – Überlegungen aus der Sicht eines Strafverteidigers In: Herzog, Felix (Hrsg.), Quo vadis, Strafprozess?, Baden-Baden 1998, S. 33 ff. 105. Geben moderne Technologien und die europäische Integration Anlass, Notwendigkeiten und Grenzen des Schutzes personenbezogener Informationen neu zu bestimmen? In: Referate, Thesen und Diskussionsbeiträge in der öffentlichrechtlichen Abteilung des 62. Deutschen Juristentages 1998 in Bremen. Verhandlungen des 62. DJT Bände II/1 und II/2 – Sitzungsberichte – München 1998, S. M 75 ff.; 198, 230, 282. 1999 106. Datenschutz und Forschung Tagungsband zum 7. Wiesbadener Forum Datenschutz am 18. Juni 1998 Baden-Baden 1999 (Hrsg. gemeinsam mit Möller) 107. Monokeltests und Menschenwürde Zu den BGH-Entscheidungen über den „Lügendetektor“ im Strafprozeß (NJW 1999, 457 und 662). In: NJW 1999, S. 922 108. 27. Tätigkeitsbericht des Hessischen Datenschutzbeauftragten Wiesbaden 1999 (Hrsg.) 109. Die normative Kraft des Technischen In: Kommunikation und Recht. Heft 6/1999, S. I 110. Das neue Hessische Datenschutzgesetz In: Bäumler/v.Mutius (Hrsg.), Datenschutzgesetze der dritten Generation, Neuwied 1999, S. 68 ff. 111. Ochroma danych a prawo karne In: Wirzykowskiego, Miroslawa (Hrsg.), Ochrona danych osobowych, Warschau 1999, S. 73 ff. 112. Kryptographie im Geschäftsverkehr – Die Anforderungen an den Datenschutz In: Möller, Klaus-Peter (Hrsg.), Elektronische Geschäftsprozesse in der öffentlichen Verwaltung. Fachtagung des Hessischen Landtages am 5. November 1997, Wiesbaden 1999, S. 89 ff.
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113. Pyrrhussiege und Danaergeschenke im strafprozessualen Rechtsmittelsystem. Zu Problemen mit den §§ 331 Abs. 2, 358 Abs. 2 Satz 2 und 357 StPO In: Udo Ebert, Peter Rieß, Claus Roxin, Eberhard Wahle (Hrsg.), Festschrift für Ernst W. Hanack, Berlin 1999, S. 379 ff. 114. Viel Lärm um nichts. Kommentar zur Aufhebung eines Erlasses des Hessischen Justizministers In: NJW 1999, S. 3097 2000 115. Ein Fall von symbolischem Strafrecht: „Graffitigesetz“ In: Albrecht/Denninger u.a. (Hrsg.), Sonderheft KritV Winfried Hassemer zum sechzigsten Geburtstag, Baden-Baden 2000, S. 56 ff. 116. Geldwäsche durch Annahme von Strafverteidigerhonorar? In: NJW 2000, S. 636 ff. 117. Datenschutz und Strafrecht – ein Widerspruch in sich? Versuch einer Antwort am Beispiel des Spannungsverhältnisses zwischen dem Anonymitätsanspruch und der Forderung nach neuen Strafverfolgungsmethoden. In: Lamnek/Tinnefeld (Hrsg.), Zeit und kommunikative Rechtskultur in Europa, Baden-Baden 2000, S. 244 ff. 118. Zur Revisibilität der Beweiswürdigung in Fällen von „Aussage gegen Aussage“ In: StraFo 2000, S. 253 ff. 119. Unfertige Gedanken beim Lesen eines offenbar unfertigen Vorschlages des Deutschen Richterbundes für eine Rechtsmittelreform in Strafsachen In: StV 2000, S. 454 120. Beweisantragsrecht Heidelberg 2000 (gemeinsam mit Winfried Hassemer und Jürgen Pauly) 121. Verfahrensspaltung bei gegenläufigen Revisionen des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft In: StV 2000, S. 637 ff. 122. Laudatio auf Gerhard Herdegen anlässlich der Verleihung des Max-Alsberg-Preises 1999 In: Lagodny, Otto (Hrsg.), Der Strafprozess vor neuen Herausforderungen, Schriftenreihe des Deutsche Strafverteidiger e.V., Band 20, Baden-Baden 2000, S. 17 ff.
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123. Fraudes de ley cotidianos en la justicia penal In: Area de Derecho Penal de la Universidad Pompeu Fabra (Hrsg.), La insostenible situación del Derecho Penal, Granada 2000 2001 124. Vom Grundrecht der Medien auf das Fischen im Trüben In: NJW 2001, S. 269 ff. 125. Der Einsatz heimlicher Ermittlungsmethoden und der Anspruch auf ein faires Verfahren (Vortrag auf dem 2. Symposium der Zeitschrift Strafverteidiger am 10. Oktober 2000 „Europäisches Strafrecht 2000“) In: StV 2001, S. 81 ff. 126. Täter-Opfer-Ausgleich In: Strafrechtsausschuss des DAV (Hrsg.), Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems, Alternativentwurf des Strafrechtsausschusses des Deutschen Anwaltvereins, Bonn 2001, S. 112 ff. 127. Von der Unmöglichkeit, Informelles zu formalisieren - das Dilemma der Urteilsabsprachen In: Albin Eser, Jürgen Goydke, Kurt Rüdiger Maatz, Dieter Meurer (Hrsg.), Strafverfahrensrecht in Theorie und Praxis, Festschrift für Lutz Meyer-Goßner zum 65. Geburtstag, München 2001, S. 33 ff. 128. Wie man in richterlicher Unabhängigkeit vor unklaren Gesetzeslagen kapituliert (zum Helmut Kohl-Beschluss des LG Bonn, NJW 2001, S. 1736). In: NJW 2001, S. 1674 129. „Überwachungssicherheit“ – wer soll sicher vor wem oder was sein? In: NJW 2001, S. 3100 f. 130. Gerhard Herdegen zum 75. Geburtstag In: NJW 2001, S. 2953 f. 131. Die NJW im Spektrum der strafrechtlichen Fachzeitschriften In: NJW Sonderheft für Rechtsanwalt Prof. Dr. Hermann Weber zum 65. Geburtstag am 10.11.2001, S. 23 ff. 132. Anmerkung zu BGH 2 StR 500/00, Beschluss vom 10.01.2001 – Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts des Angeklagten In: NStZ 2001, S. 493 ff. 133. Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger 4. Auflage, München 2001 (Hrsg. gemeinsam mit Lohberger)
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134. TKÜV – ein Kompromiss auf dem Boden der Verfassung? In: Holznagel/Nelles/Sokol (Hrsg.), Die neue TKÜV (Telekommunikations-Überwachungs-Verordnung), Die Probleme in Recht und Praxis, München 2001, S. 81 ff. 2002 135. Die (notwendige) Verteidigung während des Vorverfahrens im Lichte der Vertragstheorie und der neueren Rechtsprechung In: Cornelius Prittwitz, Michael Baurmann, Klaus Günther, Lothar Kuhlen, Reinhard Merkel, Cornelius Nestler, Lorenz Schulz (Hrsg.), Festschrift für Lüderssen zum 70. Geburtstag, Baden-Baden 2002, S. 717 ff. 136. „Was wird aus der Rieß’schen Fußnotologie im juristischen Schrifttum des Informationszeitalters?“ In: Ernst-Walter Hanack, Hans Hilger, Volkmar Mehle, Gunter Widmaier (Hrsg.) Festschrift für Peter Rieß, Berlin/New York 2002, S. 907 ff. 137. Zum Vereidigungsrecht von Untersuchungsausschüssen des Deutschen Bundestages In: ZRP 2002, S. 11 ff. 138. Besprechung: Tido Park, Handbuch Durchsuchung und Beschlagnahme In: NJW 2002, S. 3451 139. Glückwunschadresse für Herrn Prof. Dr. Rudolf Nirk zum 80. Geburtstag In: NJW 2002, S. 3004 140. Sind die USA als Rechtsstaat noch vorbildlich? In: NJW 2002, S. 3150 141. Thesen zum Thema: Strafrechtliche Freiräume der Strafverteidigung In: NJW-Sonderheft zum 65. Geburtstag für Gerhard Schäfer am 18.10. 2002, S. 32 f. 142. Strafverfahren und vierte Gewalt In: Strafverteidigervereinigungen (Hrsg.) 25. Strafverteidigertag 09.– 11. März 2001 in Berlin, Berlin 2002, S. 214 ff. 143. Kein Vereidigungsrecht von Untersuchungsausschüssen In: ZRP 2002, S. 11 ff. 2003 144. Besprechung: Jens Dallmeyer, Beweisführung im Strengbeweisverfahren. Die Beweisbefugnisse als Voraussetzung der Wahrheitsforschung im Strafprozess. In: NJW 2003, S. 194
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145. Schluss der Debatte über Ausnahmen vom Folterverbot! In: NJW 2003, S. 946 f. 146. „Vergessene Texte“ am Beispiel des Themas: Vermeidung von Untersuchungshaft durch eine „Fristenlösung“ und durch frühzeitige Verteidigermitwirkung In: Strafrechtsausschuss des DAV (Hrsg.), Liber Amicorum für Eberhard Kempf, Essen 2003, S. 79 ff. 147. Geleitwort In: Schaefer, Hans Christoph (Hrsg.), Rechtsstaat und Strafverfahren, Baden-Baden 2003, S. 7 ff. 148. Contra: Neues Strafrecht gegen Schwarzarbeit In: ZRP 2003, S. 476 149. Nachruf, Gerhard Mauz (29.11.1925–14.08.2003) – Trauerrede anlässlich der Gedenkveranstaltung am 06. September 2003 in Hamburg In: StV 2003, S. 699 f. 150. Innere Sicherheit – Terrorismusbekämpfung auf Kosten der Freiheit? In: Adolf-Arndt-Kreis (Hrsg.), Sicherheit durch Recht in Zeiten der Globalisierung, Berlin 2003, S. 45 ff. 151. Grundprinzipien eines Europäischen Strafrechts In: Anagnostopoulos, Ilias G. (Hrsg.), Internationalisierung des Strafrechts, Baden-Baden 2003, S. 55 ff. 2004 152. Deutschland – ein Fall für den Staatsanwalt In: NJW 2004, S. 1301 ff. 153. Große Dealereignisse werfen ihre Schatten voraus Zur Urteilsbegründung des Landgerichts Augsburg in der Sache Max Strauß In: NJW 2004, Editorial Heft 41 154. Zehn Gebote für Strafverteidiger In: Heinz Kammeier und Regina Michalke (Hrsg.), Streben nach Gerechtigkeit, Festschrift für Prof. Dr. Günter Tondorf zum 70. Geburtstag, Münster 2004, S. 311 ff. 2005 155. Der strafrechtliche Schutz personenbezogener Daten in Gegenwart und Zukunft
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In: Aschke/Hase/Schmidt-De Caluwe (Hrsg.), Selbstbestimmung und Gemeinwohl – Festschrift zum 70. Geburtstag von Prof. Dr. Friedrich von Zezschwitz, Baden-Baden 2005, S. 193 ff. 156. „Feindstrafrecht - Bürgerstrafrecht - Freundstrafrecht“ In: Institut für Konfliktforschung (Hrsg.), Neue Lust zu Strafen, Münster 2005, S. 105 ff. 157. Verdachtsberichterstattung und Persönlichkeitsrechte im Strafverfahren – Regeln und ethische Grenzen für Berichterstattung In: netzwerk recherche e.V. (Hrsg.), nr-Werkstatt, Pressrecht in der Praxis, Chancen und Grenzen für den Recherche-Journalismus, Wiesbaden 2005, S. 16 ff. 158. Rechtgespräch oder Urteilsabsprachen? – Der Deal erreicht die Revision In: Gunter Widmaier, Heiko Lesch, Bernd Müssig, Rochus Wallau (Hrsg.), Festschrift für Hans Dahs, Köln 2005, S. 267 ff. 159. Kann der Verstoß gegen Treu und Glauben strafbar sein? In: NJW 2005, S. 1993 ff. 160. Einige praxisbezogene Aspekte des Verhältnisses zwischen Verfassungsrecht und Strafprozess In: Festschrift für Prof. Ioannis Manoledakis, Athen-Thessanoliki 2005, S. 787 ff. 2006 161. Wie muss das Strafrecht beschaffen sein, damit wir uns wieder ein Legalitätsprinzip leisten können? In: Pieth/Seelmann (Hrsg.), Prozessuales Denken als Innovationsanreiz für das materielle Strafrecht, Kolloquium zum 70. Geburtstag von Detlef Krauß, Basel 2006, S. 1 ff. 162. Das Plädoyer des Strafverteidigers In: Soudry, Rouven (Hrsg.), Rhetorik – Eine interdisziplinäre Einführung in die rhetorische Praxis, 2. Auflage, Heidelberg 2006, S. 65 ff. 163. Von Transparenzdelikten im neuen Strafrecht und transparenter Verteidigung – Ein Beitrag zur prozessualen Klimaforschung In: Kempf/Jansen/Müller (Hrsg.), Verstehen und Widerstehen, Festschrift für Christian Richter II, Baden-Baden 2006, S. 179 ff. 164. Braucht die StPO, um wieder zu gelten, ein Dealgesetz? In: Nelles/Vormbaum (Hrsg.), Strafverteidigung in Forschung und Praxis, Kriminalwissenschaftliches Kolloquium aus Anlass des 70. Geburtstages von Jürgen Welp, Berlin 2006, S. 57 ff.
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165. Ist Strafverteidigung noch Kampf? In: NJW 2006, S. 2084 2007 166. Ist die Entformalisierung des Strafrechts und des Strafprozessrechts unaufhaltsam? In: Institut für Kriminalwissenschaften und Rechtsphilosophie Frankfurt a.M. (Hrsg.), Jenseits des rechtsstaatlichen Strafrechts, Frankfurter kriminalwissenschaftliche Studien 100, Frankfurt/M. 2007, S. 521 ff. 167. Beweisantragsrecht 2. neu-bearbeitete und erweiterte Auflage, Heidelberg 2007 (gemeinsam mit Winfried Hassemer und Jürgen Pauly) 168. Anmerkung zu BGH StB 18/06, Beschluss vom 31. Januar 2007 – Unzulässigkeit einer „verdeckten Online-Durchsuchung“ In: NJW 2007, S. 932 f. 169. Besprechung: Klaus Volk, Münchener Anwaltshandbuch Verteidigung in Wirtschafts- und Steuerstrafsachen In: NJW 2007, S. 2165 f. 170. Gleicher Schutz vor guten und bösen Trojanern, NJW-Editorial In: NJW 2007, Heft 42 171. ZRP – Im Spiegel der Justiz In: ZRP 2007, S. 241 f. 172. Verkümmerung der Form durch Große Senate oder: Die Pilatusfrage zum Hauptverhandlungsprotokoll In: NJW 2007, S. 3166 ff.
Autorenverzeichnis Peter-Alexis Albrecht, Dr., Professor an der Johann Wolfgang GoetheUniversität, Frankfurt am Main Werner Beulke, Dr., Professor an der Universität Passau Hans Dahs, Dr., Rechtsanwalt, Honorarprofessor der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn Rüdiger Deckers, Dr. h.c., Rechtsanwalt in Düsseldorf Thomas Fischer, Dr., Richter am Bundesgerichtshof, Karlsruhe, Honorarprofessor an der Julius-Maximilians-Universität, Würzburg Klaus Foerster, Dr., Professor an der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Tübingen Thomas Giesen, Dr., Rechtsanwalt in Dresden Gina Greeve, Dr., Rechtsanwältin in Frankfurt am Main Bernhard Haffke, Dr., Professor an der Universität Passau Nikolas Hamm, Diplom-Sozialpädagoge, frei schaffender Theaterpädagoge und Dozent für Theaterpädagogik an der Fachhochschule Frankfurt am Main Winfried Hassemer, Dr. Dr. h.c. mult., Professor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Karlsruhe Jochen Heidemeier, Dr., Rechtsanwalt in Stolzenau an der Weser Felix Herzog, Dr., Professor an der Universität Bremen Alexander Ignor, Dr. Dr., Rechtsanwalt und Apl. Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin Gabriele Jansen, Rechtsanwältin in Köln Walter Kargl, Dr., Professor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main Eberhard Kempf, Rechtsanwalt in Frankfurt am Main Stefan Kirsch, Rechtsanwalt in Frankfurt am Main Claudia Koch, Dr., Rechtsanwältin in Frankfurt am Main Wolfgang Köberer, Dr., Rechtsanwalt in Frankfurt am Main Stefan König, Dr., Rechtsanwalt in Berlin Daniel M. Krause, Dr., LL.M., Rechtsanwalt in Berlin Detlef Krauss, Dr. Dr. h.c., em. Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin Christoph Krehl, Dr., Oberstaatsanwalt beim BGH, Karlsruhe, Lehrbeauftragter an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main
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Autorenverzeichnis
Christoph Kulenkampf, Staatssekretär a. D., Rechtsanwalt in Frankfurt am Main Werner Leitner, Rechtsanwalt in München Klaus lüderssen, Dr., em. Professor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main Lutz Meyer-Gossner, Dr., Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof a.D., Honorarprofessor an der Universität Marburg Regina Michalke, Dr., Rechtsanwältin in Frankfurt am Main Jenny Miller-Hamm, Diplom-Psychologin in Frankfurt am Main, Lehrbeauftragte an der Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf Egon Müller, Dr., Honorarprofessor an der Universität des Saarlandes, Rechtsanwalt in Saarbrücken Wolfgang Naucke, Dr., Richter am OLG a.D. und em. Professor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main Norbert Nedopil, Dr., Professor an der Ludwig Maximilians-Universität München Ulfrid Neumann, Dr., Professor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main Martin Niemöller, Richter am BGH a.D., Ettlingen Jürgen Pauly, Rechtsanwalt in Frankfurt am Main Cornelius Prittwitz, Dr., Professor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main Christian Richter II, Rechtsanwalt in Köln Alexander Sättele, Rechtsanwalt in Berlin Franz Salditt, Dr., Honorarprofessor an der Fernuniversität Hagen und Rechtsanwalt in Neuwied Heide Sandkuhl, Dr., Rechtsanwältin, Lehrbeauftragte der Universität Potsdam Gerhard Schäfer, Dr., Vorsitzender Richter am BGH a.D., Stuttgart Hans-Christoph Schaefer, Dr., Generalstaatsanwalt a.D., Leimen Reinhold Schlothauer, Dr., Rechtsanwalt und Honorarprofessor an der Universität Bremen Klaus Schroth, Rechtsanwalt in Karlsruhe Bernd Schünemann, Dr. Dres. h.c., Professor an der Ludwig-MaximiliansUniversität München Lothar Senge, Bundesanwalt beim Bundesgerichtshof a.D., Karlsruhe Bettina Sokol, Landesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf Rainer Spatschek, Dr., Rechtsanwalt in München Jürgen Taschke, Dr., Rechtsanwalt in Frankfurt am Main Sven Thomas, Dr., Rechtsanwalt in Düsseldorf Günter Tondorf, Dr., Rechtsanwalt in Düsseldorf, Honorarprofessor an der Universität zu Köln
Autorenverzeichnis
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Klaus Volk, Dr. Dr. h.c., Professor an der Ludwig Maximilians-Universität München Hermann Weber, Dr., Rechtsanwalt und Honorarprofessor an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main Kristiane Weber-Hassemer, Staatssekretärin a.D., Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht a.D., Frankfurt am Main, Vorsitzende des Nationalen Ethikrates, Berlin Edda Wesslau, Dr., Professorin an der Universität Bremen