MARBURGER THEOLOGISCHE STUDIEN
DIE BLEIBENDE GEGENWART DES EVANGELIUMS FESTSCHRIFT für
OTTO MERK
N. G. ELWERT VERLAG ...
9 downloads
937 Views
17MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
MARBURGER THEOLOGISCHE STUDIEN
DIE BLEIBENDE GEGENWART DES EVANGELIUMS FESTSCHRIFT für
OTTO MERK
N. G. ELWERT VERLAG MARBURG
MARBURGER THEOLOGISCHE STUDIEN
76
begründet von
Hans Graß und Werner Georg I [rilc;;'IouöaLac;;] in Mk 1,4 bzw. Mt 3,1 - und nun in Bezug auf seine Lebensweise herausgestellt 47. Die nächsten beiden Nachrichten über die Lebensweise des Täufers, die sich in Mk 1,6 par finden, betreffen seine Ernährung von Heuschrecken und (wildem) Honig: 1.3 Kai Ea8ütJv aKp{t5ar;(Mk 1,6) - ~ t5€ rpor/J~ 7fv aumu aKp{OEr; Kai f-LEAl &YPLOV(Mt 3,4) Auch die Notiz darüber, daß Johannes der Täufer nach Mk 1,6 par Heuschrekken aß, wird - wie schon die Hinweise auf die Kleidung - rituell oder religionssoziologisch ausgewertet und dabei mit den übrigen synoptischen Notizen über die Fastenpraxis des Täufers in einen Zusammenhang gebracht48 : Demzufolge radikalisierte Johannes, "indem er Heuschrecken aß, die von den Pharisäern und den meisten Juden als blutlos betrachtet werden, das bibl(ische) Verbot des Blutgenusses (Lev 17,10fQ"49. Doch auch im Blick auf die Deutung der Heuschrecken als Nahrungsmittel ist eine praktische Erklärung näherliegend: Für "den nicht Ackerbau treibenden Beduinen" gehören Heuschrecken zu typischen und üblichen Nahrungsmitteln so . kleidung; vgl. H. WEIPPERT, Art. Kleidung, NBL 2, Lfg. 9, 1994,495-499, bes. 496). Wehrle, Gürtel (s. Anm. 37), 958 verweist darauf, daß Schurze aus Ziegenhaarstoff um die Lenden auf ansonsten bloßem Leib getragen wurden (vgl. 1 Kön 21,27). 43 Insofern hätte es sich bei dem ledernen Gürtel um einen Riemen, der über dem Obergewand getragen wurde, gehandelt (so etwa Böcher, Johannes [so Anm. 6], 173; Gnilka, Evangelium [so Anm. 31],47). 44 J. J. HESS, Beduinisches zum Alten und Neuen Testament, ZAW 35, 1915, 120-136: 131. 45 Vgl. H. WEIPPERT, Art. Leder und Lederbearbeitung, BRU 1977, 203-204 mit dem Hinweis auf Gräberfunde in Jericho: Jer I 454 (203). 46 Zu dieser Einschätzung kommen auch Meier, Jew II (s. Anm. 16), 48 und Gnilka, Jesus (s. Anm. 33), 83. 47 Insofern stimme ich Vielhauer, Tracht (s. Anm. 4), 53f hier zu. 48 Vgl. Tilly, Johannes (s. Anm. 6), 176ff. 49 So Lupieri, Johannes (s. Anm. 26), 514. 50 Hess, Beduinisches (s. Anm. 44), 124; vgl. auch Dalman, Arbeit Bd. 6 (s. Anm. 25), 68; ders., Orte und Wege Jesu, Gütersloh 1919, 78f; Stegemann, Essener (s. Anm. 34),298.
"Kamelhaare ... und wilder Honig"
21
Heuschrecken zählen zur Tierwelt der Wüstenlandschaft 51 . Nicht nur Lev 11,2252 , sondern auch die Qumranrexte sprechen selbstverständlich vom Verzehr von Heuschrecken (vgl. CD 12,14f.; 11Q19 48,3-4). Es existieren Berichte über ein äthiopisches Volk der Heuschreckenfresser (UKpLöocpayoL; vgl. Diodorus Siculus, 3,29; Plinius, Nat hist, 6,195; 7,29; Strabo, 16,4,12[772])53; den Parthern und Griechen galten Heuschrecken sogar als "Delikatesse" (vgl. Plinius, Nat hist 11,107; Aristophanes, Achar 116)54. Aber auch arme Leute fingen Heuschrecken und aßen sie (vgl. Theocritus, I, 52). Bis in die Gegenwart "essen Völkerschaften Arabiens noch H(euschrecken), die sie zerstampfen und rösten"55. Daß der Täufer Heuschrecken verzehrte, erscheint nicht nur ,historisch' möglich, sondern verlangt auch keine religiös motivierte Interpretation. Es ist wahrscheinlich, daß sich ein Wüstenbewohner der Heuschrecken, die in der Kulturlandschaft sogar als Delikatesse gelten, als gewöhnlicher Nahrung bediente 56 • 1.4 MiA.l aYPwlI
Auch die Ernährung mit Honig läßt sich aus den beduinischen Lebensbedingungen des Täufers erklären. Während kultivierter Honig als wertvolles Lebensmittel galt 57 , existierten auch wilde Bienen, die "in Felsen und in hohlen Eichen ... ihren Honig erzeugen"58. Auf diesen Honig "wildlebender Bienen" könnte der Täufer, der im Unterschied zu den Essenern keine Bienenzucht betrieben hat, zurückgegriffen haben 59 . In der Wildnis lebende Menschen beraubten immer wieder
51 V gl. J. A. MACMAHON, DesertS. A comprehensive field guide, fuHy illustrated with color photographs ... , New York 1992, bes. 511ff. 52 Vgl. auch Dalman, Arbeit Bd. 6 (s. Anm. 25), 108. 53 "Diese Leute füllten im Frühling eine Schlucht mit Gestrüpp und zündeten es an; die H(euschrecken) , durch den Rauch erstickt, fielen nieder und wurden von ihnen gesammelt; gegen Fäulnis übergossen sie sie mit Salzlake" (H. GOSSEN, Art. Heuschrecke, RE 8, 1913, 1381-1386: 1386; vgl. ebd. auch die Literaturbelege). 54 C. HÜNEMÖRDER, Art. Heuschrecke; DNP 5, 1998, 526--528: 528 (vgl. ebd. auch die Literaturbelege). 55 Gossen, Heuschrecke (s. Anm. 53), 1386. 56 Grundsätzlich gilt für die Ernährung der Wüstenbewohner: " ... the actual diet of indigenous desert peoples, who are mostly poor, is dictated largely by availability, ease of preservation and by strong historical and cultural influences" (G. N. Louw / M. K. SEELY, Ecology of Desert Organisms, London 1982, 162). 57 V g. A. GUTSFELD, Art. Honig, DNP 5, 1998, 710. 58 M. SCHUSTER, Art. Mel, RE 15, 1932, 364-384: 367. - "H(onig) wilder Bienen als Nahrung der Menschen wurde aus hohlen Bäumen ... oder Felshöhlen ... gesammelt, hauptsächlich aber durch gezielte Bienenzucht gewonnen" (A. SALLINGER / O. BÖCHER, Art. Honig, RAC 16, 1994,433-473: 435 [mit weiteren Quellenbelegen]; vgl. auch Dalman, Arbeit Bd. 6 [so Anm. 25], 106). 59 Vgl. Sallinger / Böcher, Honig (s. Anm. 58), 463; vgl. auch G. DALMAN, Arbeit und Sitte in Palästina Bd. 7, SDPI 10, Gütersloh 1942, 294. - Dagegen existieren Hinweise darauf, daß in Qumran Bienenzucht betrieben wurde (Belege bei Sallinger / Böcher, 461). Trotz dieser Differenz stellt
22
Eve-Marie Becker
wilde Bienenstöcke und bereiteten dann - "wenn der Fund reich war" - aus dem Honig Met60 • So legt es sich nahe, die Notizen über die Ernährungsweise des Täufers als Hinweis darauf zu verstehen, daß Johannes in unkultivierten Lebensbedingungen lebte. Eine asketische Deutung dieses Ernährungsverhaltens entweder in Analogie zu den Propheten oder zu den Nasiräern 61 erscheint aus den genannten pragmatischen Erwägungen nicht zwingend erforderlich 62 • Auch das Ebionäerevangelium deutet die Notiz über die Ernährung des Täufers mit wildem Honig als Zeichen des Wüstenaufenthaltes (vgl. Epiphanius, haer, 30,13,4f mit Anspielung auf Ex 16,31). 1.5 Zwischen bilanz: Historische Nachrichten und ihre theologische Bedeutung Bei der Untersuchung von Mk 1,6 par ließen sich für alle vier dort genannten Notizen über die Lebensweise des Täufers Analogien in der altorientalischen und antiken Lebenspraxis von Beduinen finden, die es wahrscheinlich machen, daß die Bekleidung mit Kamelhaar und mit einem ledernen Lendengürtel sowie die Ernährung von Heuschrecken und Honig die realistische Lebenspraxis eines Wüstenbewohners widerspiegeln. Damit erübrigt sich - zumindest auf markinischer Bearbeitungsstufe - eine religiöse Motivierung für die Hinweise auf Kleidung und Nahrung des Täufers. Es finden sich in Mk 1,6 bis auf die Beschreibung des ledernen Gürtels keine topischen Bezüge zu Elija oder überhaupt zu einer prophetischen Gestalt63 • Die Notizen über Kleidung und Nahrung geben, wenn sie eine realistische Beschreibung beduinischer Lebensumstände darstellen 6 4, außerdem keinen Hinweis darauf, daß der Täufer ein asketisches Leben führte 65 • Böcher in seinem Art. dann aber doch Johannes in die Nähe der Essener, indem er die Nahrungsweise des Täufers als asketische versteht: "Der mit den Asketen von Qumran verwandte jüd(ische) Wüstenprophet u(nd) Bußprediger Johannes ... ernährte sich ... von Heuschrecken u(nd) wildem H(onig), d.h. er verzichtete auf den Genuß von Fleisch u(nd) Wein" (ebd., 461; vgl. dazu die kritischen Überlegungen bei Ernst, Johannes [so Anm. 6], 28m. 60 V. HEHN, Kulturpflanzen und Haustiere in ihrem Übergang aus Asien nach Griechenland und Italien sowie in das übrige Europa, Berlin 8 1911, 136. 61 V gl. etwa Böcher, J ohannes (s. Anm. 6), 173 und ausführlich Tilly, J ohannes (s. Anm. 6), 176ff. 62 Ernst, Johannes (s. Anm. 6), 288 schlägt zunächst vor, die Notizen über die Ernährung so zu verstehen: "Johannes lebt wie Jedermann'" (im Original kursiv). Ernst schließt dann aber aus, daß wilder Honig eine dauerhafte Nahrung von Wüstenbewohnern sein könne und bevorzugt das "prophetische Selbstbewußtsein" (im Original kursiv) als dominierenden "Interpretationsschlüssel" (289). 63 Gegen z. B. R. PESCH, Markusevangelium. 1. Teil, HThK 2/1, Freiburg 1976, 81. - Die Einschätzung teilt Meier, Jew II (s. Anm. 16),49: " ... the clothing and the diet of John point first of all simply to his habitation in the desert". 64 Darauf weist Stegemann, Essener (s. Anm. 34),298 nachdrücklich hin. 65 In Umkehrung der üblichen Zuordnung wäre zu überlegen, ob sich die Hinweise auf die Lebenspraxis des Täufers in Q (Mt 11,7ff; 11,18f; Lk 7,24ff; 7,33Q nicht von Mk 1,6 her interpretieren ließen.
"Kamelhaare ... und wilder Honig"
23
Der Aufenthaltsort des Täufers in der Wüste und sein Wirken am Jordan sind durch mehrere Quellen bezeugt: Daß sich J ohannes in der Wüste aufhielt, ist in Q (Q 7,24), im lukanischen Sondergut (vgl. Lk 1,80), beiJoh (1,23) und schließlich in der Mk vorliegenden Tradition (1,4) belegt; daß Johannes am Jordan taufte, ist durch Q 3,3a, durch Joh 1,28 und wiederum durch die Mk vorliegende Tradition in 1,5 und 1,9 belegt. Wüste und Jordan scheinen daher historisch zuverlässige Ortsangaben für das Auftreten und Wirken des Täufers zu sein. Sollte sich der Täufer tatsächlich in der Wüste, die mehr als ein "theologischer Topos" wäre66 , aufgehalten haben, so verlangt dieser Aufenthaltsort seinem Bewohner per se eine Reduktion an Kleidung und Ernährung ab, ohne daß damit eine spezielle Buß- oder Fastenpraxis verbunden wäre. Die Lebensbedingungen des Täufers 67 sind in Mk 1,6 also durchaus realistisch geschildert; sie dienen umgekehrt dazu, die Wüste als den Aufenthaltsort des Täufers narrativ hervorzuheben. An diese Beobachtung schließen sich zwei Folgerungen an: Erstens darf, wenn die Wüste als historischer Aufenthaltsort des Täufers verstanden werden kann, auch die biographische Notiz in Mk 1,6 par als historisch zuverlässig gelten, beschreibt sie doch durchaus realistisch die Lebensbedingungen eines Wüstenbewohners. Darüber hinaus erweist sich die Wüste als Schlüssel für die Rekonstruktion der Traditionsgeschichte von Mk 1,1-8 und für die theologische Interpretation der Täufer-Gestalt auf der Ebene der markinischen Redaktion 68 • Beides knüpft an das Verhalten des Täufers an: seine selbstgewählte zivilisationsferne beduinische Lebensweise in der Wüste, die zur Folge hatte, daß die Bevölkerung J erusalem-Judäas zu ihm,kommen mußte. 2 Herkunft und Funktion der biographischen Täufer-Notiz in Mk 1,6
Bevor die narrative Funktion und die theologische Bedeutung der biographischen Notiz über den Täufer in Mk 1,6 erhoben wird, muß zunächst nach ihrer traditions geschichtlichen Herkunft gefragt werden. Als Bindeglied in der Traditionsbildung bietet sich die Ortsbestimmung der Wüste an.
So Gnilka, Evangelium (s. Anm. 31), 41. Dies stellt jedoch etwa Luz, Evangelium (s. Anm. 9), 204 (bes. Anm. 20) in Frage. 68 Das führt Vielhauer, Tracht (s. Anm. 4), bes. 53f zu seiner eschatologischen Deutung der Täufer-Gestalt aus. Stegemann, Essener (s. Anm. 34), 296ff versteht die Wahl dieses Aufenthaltsortes als prophetische Zeichenhandlung, die an den Übergang Israels vom Exodus in das Gelobte Land erinnert. 66
67
24
Eve-Marie Becker
2.1 Die traditionsgeschichtliche Herkunft von Mk 1,2ff
Die Ortsbestimmung in Mk 1,4 parr ist - wie oben gesehen - historisch 69 und geographisch: J ohannes der Täufer hält sich zwischen Jordan und Araba auf und tauft vermutlich östlich des Jordans, im Herrschaftsgebiet des Herodes Antipas 70 • Am Beginn der Täufer-Tradition steht die historische Notiz über den Aufenthalt in der Wüste. Diese Tradition nahm das Zitat aus Jes 40,3 LXX (vgl. Mk 1,3 parr)71, das in den Evangelien als Zitat nur hier angeführt wird 72 , auf, und zwar mit der Absicht, die Wirksamkeit des Täufers dem Auftreten J esu sinnvoll zuordnen zu können 73 • Die Tradition vom Aufenthaltsort des Täufers (1,4a) und ihre Deutung mit J es 40,3 wurden wahrscheinlich bereits vormarkinisch verknüpft und ausgebaut (V 4-6). Es ist wahrscheinlich, daß der Evangelist 1,2a.3-6 vorgefunden 74 und diesen Komplex um das Mischzitat (Ex 23,20; Mal 3,1) in 1,2a, das schon in Q 7,27 mit der Täufer-Tradition verbunden war, erweitert hat. Die redaktionelle Arbeit des Mk wird außerdem an der U mformulierung des Zitates aus J es 40,3, die christologisch akzentuiert ist, erkennbar 75 • Jes 40,3 wird auch sonst von den synoptischen Evangelien und dem Johannesevangelium redaktionell in die jeweilige Evangelienkonzeption eingepaßt: Mt und
69 Vgl. auch Pesch, Markusevangelium (s. Anm. 63), 79; anders R. BULTMANN, Die Geschichte der synoptischen Tradition, Göttingen 10 1995, 261, der die topographische Angabe zum Zuwachs der Tradition unter christlichem Einfluß rechnet. 70 Vgl. dazu Stegemann, Essener (s. Anm. 34), 294ff. 71 Dabei bereitet die LXX-Version, wie Gnilka, Evangelium (s. Anm. 31),44 bemerkt, diese mögliche Bezugnahme auf den Täufer vor, da hier - im Unterschied zu anderen frühjüdischen Rezeptionen von Jes 40,3 (vgl. etwa auch 1 QS 8,13f; 9,19D - EV L11 EP~Il4l auf die <jJwv~ ßowvm~ bezogen werden kann. n Lk 1,76 darf als lukanisches Sondergut (so Böcher, J ohannes [so Anm. 6], 174) oder als redaktionelle Wiederaufnahme von J es 40,3 parallel zu Lk 3,4 gelten. 7J Es wird auch die Meinung vertreten, daß der Bezug des Täufers zu J es 40,3, das bereits innerhalb des AT rezipiert wird (vgl. Mal 3,1), bereits auf den Täufer selbst oder die Täuferkreise zurückgeht (vgl. Frey, Bedeutung [so Anm. 41], 172). 74 Gnilka, Evangelium (s. Anm. 31), 41 wertet V 3-6 als "geschlossenen Bericht". - R. PESCH, Anfang des Evangeliums Jesu Christi. Eine Studie zum Prolog des Markusevangeliums (Mk 1,1-5), in: Die Zeit Jesu. FS H. Schlier, hg. v. G. Bornkamm u. a., Freiburg 1970, 108-144, 113f versteht V 2-8 als traditionell (vgl. auch D. LÜHRMANN, Das Markusevangelium, HNT 3, Tübingen 1987, 32D· 75 Während die LXX liest: EU8El.a~ lTOLElLE LO:~ LPI.ßOU~ LOU eEOU ~Ilwv, gibt Mk in 1,3 den Text so wieder: EU8El.a~ lTOLElLE LO:~ LPI.ßOU~ aumu (vgl. auch Gnilka, Evangelium (s. Anm. 31), 41: Gnilka rechnet Mk 1,2b.7f, die in der Nähe zu Q stehen, ebenfalls zur mk Redaktion [ebd.]). ~ Diese Form von Schrift-Zitat ist überdies für Mk singulär: Mk "bevorzugt sonst die Reflexion eines Geschehens mit einem Zitat im Munde Jesu oder wie in 1,11 im Munde Gottes" (D. DORMEYER, Mk 1,1-5 als Prolog des ersten idealbiographischen Evangeliums von Jesus Christus, BI 5,1997, 181-211: 197).
"Kamelhaare ... und wilder Honig"
25
Lk haben das J esaja-Zitat aus der markinischen Vorlage übernommen 76 ; bei Mt gewinnt es im Anschluß an die Kapitel 1-2 den Charakter eines Erfüllungszitates 77 ; Lk fügt dem Zitat aus Jes 40,3 die Verse 4.sb bei. Im Johannesevangelium (vgl. Joh 1,23) deklariert sich der Täufer selbst (EYW) mit dem Zitat aus Jes 40,3 als ,Zeuge' für den in die Welt gekommenen AOY0C; (vgl. Joh 1,19 sowie 1,6fD und weist eine Elija-Typologisierung von sich (1,21). Die redaktionelle Leistung des Mk wird schließlich auch an der parallelen Anordnung von Täufer-Überlieferung (1,2-6) und Jesus-Überlieferung (1,9fD, die auf unterschiedliche Überliefe'rungskomplexe zurückgehen, deutlich (v gl. [Kat] EYEVE'rO in Mk 1,4.9/8. Auch hierbei ist der Topos der Wüste ein verbindendes Element (vgl. 1,4 und 1,12). Die Wüste als historisch-geographischer Lebensbereich des Täufers bildet also bereits in der vormarkinischen Überlieferung das Scharnier erstens zur Deutung der Täufer-Gestalt mit Hilfe von J es 40,3 und zweitens zur Notiz über Kleidung und Nahrung des Täufers (Mk 1,6 par). Drittens stellt die Wüste in Mk 1,4 - spätestens auf der redaktionellen Stufe des Markusevangeliums - auch das Bindeglied zur Notiz über Ort und Umstand der Versuchung Jesu (Mk 1,12 parr) im Anschluß an die Taufe im Jordan (1,9-11) dar. 2.2 Die narrative Funktion von Mk 1,6 im Kontext von Mk 1,1-15 Wie gesehen wird Mk 1,6 durch das Motiv des Wüsten-Aufenthaltes des Täufers in die Täufer-Tradition (Mk 1,2a.3fD integriert. Die narrative Funktion und die theologische Bedeutung der biographischen Notiz erschließt sich nur dann weiter, wenn der Topos der Wüste nicht nur historisch als Integrationsfaktor für Mk 1,6 reklamiert, sondern auch narrativ und theologisch gedeutet wird. Aus geologischer Sicht wird ,Wüste' wie folgt definiert: Eine Wüste ist "a hot, dry area of the earth's surface where the vegetation is usually stunted, often bizarre in form and either absent or patchily distributed"79, oder: "a region where the moisture that could evaporate, if it were available, is at least double the amount of actual precipitation"8o. Die Semantik der Lexeme vom griechischen Stamm EPllll- ist grundlegend mit der Vorstellung von Verlassenheit und Vereinsamung verbunden. In den synoptischen Evangelien ist mit ~ EPllll0C; ein Ort ohne 76 Dies läßt sich lediglich vermuten (vgl. Robinson, Q-Synopsis [so Anm. 2), 4ft), ist allerdings auch dadurch wahrscheinlich, daß Mt und Lk die schon bei Mk vorliegende Veränderung des LXXTextes in Jes 40,3b übernommen haben. 77 Darauf weist Luz, Evangelium (s. Anm. 9), 203 hin. 78 Vgl. z. B. Lührmann, Markusevangelium (s. Anm. 74),32.36. 79 Louw / Seely, Ecology (s. Anm. 56), 1. 80 B. A. PORTNOV, Introduction, in: ders. / A. P. Hare (Hg.), Desert Regions. Population, Migration and Environment, Hcidelberg 1999, 3 gibt eine solche Definition wieder.
Eve-Marie Becker
26
Bewohner bezeichnet. 50 geht J esus, wenn er den Menschenmengen zu entkommen sucht, in menschenleere, einsame Gegenden (EPTlIJ.OL tGirOL, vgl. Mk 1,45; Mt 14,13 u. ö.). Diese semantische Linie bleibt dominierend, wenn man die Wüste in neutestamentlichen Texten heils geschichtlich in Anknüpfung an die Geschichte Israels im Alten Testament interpretiert81 • Denn daß Gott in der Wüstenzeit Israels an seinem Volk in besonderer Weise gehandelt hat und daß die Erinnerung an die Wüstenzeit zu einer Erinnerung an das Heilshandeln Gottes wii-d82 , setzt einen menschenleeren, einsamen Topos, dem die Kennzeichen der Zivilisation - zum Beispiel Nahrungsvorkommen - fehlen, voraus. Wenn im Judentum einerseits die Erinnerung an die Wüstenzeit Israels gepflegt wird und andererseits an die Wüste messianische Erwartungen geknüpft sind83 , so sind beide Perspektiven durch das Angewiesensein auf das Handeln Gottes angesichts der Ferne menschlicher Hilfe verbunden. Vor diesem Hintergrund wird nun evident, mit welcher narrativen Funktion der Evangelist den Topos der Wüste in Mk 1,1-15 nutzt. Er setzt die TäuferÜberlieferung (1,2ft) und die Jesus-Überlieferung (1,9ft) nicht nur dadurch parallel8 \ daß er die Taufszene in 1,9ff sprachlich analog zu 1,4 gestaltet, sondern auch dadurch, daß er den Aufenthaltsort des Täufers in 1,12 wieder aufnimmt und zum Ort der Bewährung des getauften J esus macht. Um diese 5trukturanalogie auszubauen, hat Mk - parallel zur biographischen Notiz über den Täufer in 1,6 ~ mit der Wendung I..I.EtIX tWV e1lpLWV (1,13b), die redaktionell sein dürfte 8S, die Lebens-
So etwa G. KITTEL, Art. EPT]~O~ KtÄ, ThWNT 2,1935,654--657: 655f. Innerhalb des AT kommt der Wüstentradition eine heilsgeschichtliche Bedeutung zu (vgl. T. L. BURDEN, The Kerygma of the Wilderness Traditions in the Hebrew Bible, AmUSt.TR 163, New Y ork 1994, 227: "The wilderness traditions are utilized in biblical texts in two basic ways. First, biblical writers recite the historical accounts of Yahweh's actions in the past, within which Yahweh interacts with the Israelite community (Heilsgeschichte) ... Second, the wilderness period afforded biblical writers a wealth of language and imagery that reflect the events and experiences of Yahweh and the community... The use of the material from Israel's history ... is not necessarily intended to recite history as such, but to express certain aspects of Yahweh's relations hip with the community"). 83 Vgl. dazu E. W. STEGEMANN / W. STEGEMANN, Urchristliche Sozialgeschichte. Die Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in der mediterranen Welt, Stuttgart 1995, 150ff. Sie rechnen die Täufer-Bewegung allerdings zu den prophetisch-charismatischen Protestbewegungen (vgl. auch O. BÖCHER, Johannes der Täufer in der neutestamen1;lichen Überlieferung, in: Rechtfertigung - Realismus - Universalismus in biblischer Sicht. FS A. Köberle, hg. v. G. Müller, Darmstadt 1978, 45-68: 49). 84 Auf die parallele Erzählstruktur weist grundsätzlich u. a. H.-J. KLAUCK, Vorspiel im Himmel? Erzähltechnik und Theologie im Markusprolog, BThSt 32, Neukirchen-Vluyn 1997, 21ff hin. Böeher, J ohannes (s. Anm. 6), 178 sieht die Parallelität zwischen Täufer und J esus in dem asketischen Kampf. 85 Daß es sich bei Mk 1,13b um eine redaktionelle Einfügung handelt, macht eine Kompositionskritik von Mk 1,9-13 deutlich. 81
82
"Kamelhaare... und wilder Honig«
27
bedingungen Jesu in der Wüste benannt. Denn auch diese Notiz weist auf die Menschen- und Zivilisations ferne zu Beginn des Auftretens J esu hin (vgl. in ähnlicher Bedeutung Dan 4,15; 4,17a; 4,33; Dan 4,15 und 5,21 8). Die Notiz über Kleidung und Nahrung des Täufers in Mk 1,6 hat also dieselbe Funktion wie die Wendung IlEtU 'tWV 81lPLWV in Mk 1,13b86 : Es werden die Lebensumstände und der Lebensbereich beschrieben, in dem der Täufer lebte und in dem die Wirksamkeit Jesu begann. Die Notiz über den Täufer in Mk 1,6 stellt also die Wüstentypologie hera~s87. 2.3 Die theologische Bedeutung von Mk 1,6 im Kontext von Mk 1,1-15
Nach diesen Überlegungen scheint es fraglich, ob Mk den Täufer in 1,2ff primär theologisch als ,prophetische' Gestalt zu deuten sucht 88 : Wie oben festgestellt wurde, liegt in 1,6 keine prophetische Replik vor. Jes 40,3, also die bereits vormarkinisch formulierte Deutung der Täufer-Gestalt, hat Mk redaktionell zwar bearbeitet, dabei aber pointiert christologisch und in Bezug auf den Täufer nicht prophetisch akzentuiert. Auch der Umstand, daß der Evangelist in Mk 1,2b das Mischzitat, das bereits in Q 7,26 auf den Täufer gedeutet wird, redaktionell integriert, verleiht der Täufer-Gestalt in Mk 1,2-6 gerade keine prophetischen Züge. Denn in Q 7,24-28 wird der Täufer über die Propheten gestellt 89 . Wenn Mk also dem JesajaZitat bewußt in 1,2b das Mischzitat voranstellt, stellt er den ,Rufer in der Wüste' über eine prophetische Gestalt 90 . Daß Mk im Verlauf seines Evangeliums die Täufer-Gestalt dann doch als Elija redivivus interpretiert (Mk 9,11-13; Mk 11,13), stellt insofern keinen Widerspruch zu Mk 1,2-6 dar, als es - sogar noch auf der redaktionellen Ebene des Markusevangeliums - den vielfältigen und durchaus unabgeschlossenen Prozeß der Zuordnung vom Täufer zur Person Jesu im frühen Christentum widerspiegelt91 . 3 Zusammenfassung: Mk 1,6 in historiographischer Hinsicht
Johannes der Täufer trat in der Wüste auf und taufte im Jordan. Beide Angaben sind historisch wahrscheinlich. Sie sind durch die vormarkinische Überlieferung, 86 Insofern besteht die Lücke nicht, die Windisch, Notiz (s. Anm. 1), 85f hinsichtlich einer Mitteilung über die Bekleidung J esu in Analogie zu der des Täufers konstatiert. 87 Vielhauer, Tracht (s. Anm. 4), 54 mißt der Wüstentypologie dann eine eschatologische Bedeutung bei: "Seine Kleidung und Nahrung haben ihren Sinn als eschatologische Demonstration." 88 Vgl. z. B. Lührmann, Markusevangelium (s. Anm. 74),35. 89 Darauf weist auch Müller, Johannes (s. Anm. 35), 48f. hin. Um das Q-Logion auf Elija beziehen zu können, fügt Mt - im Unterschied zu Lk -11,14 in diesen Zusammenhang ein. 90 Joh weist im Umfeld des Jes-Zitates eine Täufer-Elija-Typologie explizit ab (vgl. Joh 1,21). 91 Die Problematik typologischer Identifikationen führt Mk sogar in Bezug auf die Person Jesu an (vgl. Mk 6,14-16).
28
Eve-Marie Becker
durch Q, durch lukanisches Sondergut und durch vorjohanneische Traditionen belegt. Die biographische Notiz in Mk 1,6 stellt zwar ein singuläres vormarkinisches Überlieferungsgut dar; sie scheint aber deswegen historisch wahrscheinlich, weil die darin geschilderte Lebensweise des Täufers den beduinischen Lebensbedingungen entspricht. Mk hat diese historische Notiz in sein Evangelium übernommen, ohne sie -)m Unterschied zu Mt - redaktionell zu bearbeiten: Während Mk den Täufer in 9,11-13 und in 11,32 in die Nähe eines Proph~ten oder einer Elija-Typologie rückt, repliziert er weder durch die Septuaginta-Zitate in Mk 1,2f noch durch die biographische Notiz in Mk 1,6 deutlich auf das Prophetenamt oder speziell auf die Elija-Gestalt. Diesen Bezug stellt erst Mt in seiner Bearbeitung der biographischen Notiz (3,4) her, so wie er auch andernorts die Ansätze zu einer prophetischen Deutung der Täufer-Gestalt im Markusevangelium ausarbeitet (vgl. Mt 17,13 im Unterschied zu Mk 9,13). Lk hingegen verzichtet vermutlich deswegen auf die historische Notiz in Mk 1,6, weil sie seinem Konzept der TäuferDeutung in Lk 1-2, das vornehmlich aus lukanischem Sondergut stammt, nicht entspricht. Ähnlich wie Mk verzichtet Lk sonst auf eine explizit prophetische oder elija-typologische Deutung des Täufers. Die Interpretation von Mk 1,6 führt abschließend zu einer wesentlichen Beobachtung: Mk benutzt die biographische Notiz in 1,6 nicht zu einer prophetischen Deutung des Täufers, sondern überliefert sie um ihrer selbst willen bzw. dazu, den Aufenthaltsort des Täufers in der Wüste hervorzuheben. Mk arbeitet hier also nicht theologisch, sondern historisch. Daher hat 1,6 einen historiographischen Aspekt. Im Kontext von Mk 1,1-15 charakterisiert Mk 1,6 folglich einerseits den Lebensbereich des Täufers und ermöglicht es andererseits, parallel dazu, im Anschluß an die Taufe auch das Wirken Jesu mit der Notiz über die Versuchung (1,12f) in der Wüste beginnen zu lassen. Über die Taufe hinaus sind das Auftreten des Täufers und das Auftreten J esu durch die parallele Erzählstruktur und den Topos der Wüste miteinander verbunden. Indem Mk also durch 1,6 die Wüstenexistenz des Täufers und in 1,13b den Wüstenaufenthalt Jesu hervorhebt, läßt er die apx~ 'tOU EuaYYEÄlou in doppelter Weise in der Wüste beginnen.
Wolfgang Kraus DAS JÜDISGHE EVANGELIUM UND SEINE GRIECHISCHEN LESER Zum lukanischen Verständnis der Passion Jesu
1
Die Frage nach der Inkulturation des Evangeliums kann nie endgültig ·beantwortet werden. Sie stellt sich jeder Generation in jedem Kontext neu, dabei ist sie so alt wie die urchristliche Mission selbst. Der Jubilar ist den meisten Fachkollegen aufgrund seines ausgeprägten wissenschaftsgeschichtlichen Interesses, das sich in vielen seiner Publikationen niederschlägt, wohlbekannt. Hier wird mit Detailkenntnis und Überblickswissen zugleich der Gang der Forschung ausgebreitet und analysiert. Weniger bekannt dürfte sein, daß Otto Merk in seinen Lehrveranstaltungen durchaus unmittelbar praxisrelevante Themen angeboten hat: unter anderem Gebet, Seelsorge, Mission im N euen Testament. Im folgenden soll ein Aspekt solch praxisrelevanter Exegese Thema sein. Die Beschäftigung mit der Passion Jesu bei Lukas könnte dabei deutlich machen, wie die Korrelation von Botschaft und Adressaten das kreative Potential des Theologen herausfordert und wie Lukas seiner Aufgabe gerecht geworden ist. Zugleich könnte etwas von der Bandbreite der Interpretation des Todes Jesu im Neuen Testament deutlich werden und von der Notwendigkeit, die Frage nach der Inkulturation des Evangeliums offen zu halten. 1 Aspekte der Verkündigung des Todes Jesu bei Lukas
Es ist allgemeiner Konsens in der Exegese, daß Lukas die soteriologische Interpretation des Todes Jesu im Sinn eines Sühne geschehens oder Sterbens "für uns" gegenüber Markus zurückgedrängt und im Vergleich zu Paulus nahezu marginalisiert hat: - Das Jesuswort aus der synoptischen Tradition Mk 10,45, wonach der Menschensohn gekommen sei, sein Leben als Lösegeld für viele zu geben, fehlt bei Lukas. Statt dessen spricht er in Lk 19,10 davon, daß der Menschensohn gekommen sei, zu suchen und zu retten, was verloren ist. I Im folgenden wird nur direkt zitierte, nicht eingesehene Literatur genannt. Eine ausführliche Bibliographie zur Passionsgeschichte des Lukas bietet R. BROWN, The Death of the Messiah. From Gethsemane to the Grave, Bd. 1, AncB RL, New York u. a. 1994, 102-104 und jeweils zu Beginn der einzelnen Paragraphen.
Wolfgang Kraus
30
- Lukas hat den Rangstreit unter den Jüngern, auf den Jesus bei Markus mit dem Lösegeldwort antwortet (Mk 10,35-45), in die Situation des letzten Mahles umgestellt und anders ausgerichtet (Lk 22,24-27). In Lk 22,27, dem Wort, das überlieferungsgeschichtlich vermutlich eine frühere Stufe als Mk 10,45 repräsentiert, bezeichnet sich Jesus als den "u~ter euch Dienenden,,2. - In der Abendmahlsüberlieferung wird zwar das Kelchwort "mein Blut, für euch vergossen" bei Lukas weitertradiert (Lk 22,20), und in Apg 20,28 findet sich ein Hinweis auf "sein eigenes Blut", durch das die Ekklesia Gottes "erkauft" wurde, aber diese Aussagen tragen nirgends wirklich den Ton - zumal sich "durch sein eigenes Blut" (Apg 20,28) syntaktisch auf Gott bezieht. Lukas hat hier "eine geläufige Redewendung mehr oder weniger mechanisch wiederholt'cJ. Auch wenn Lukas das sühnetheologische Verständnis des Todes J esu also kennt und nicht ablehnt, so hat er es für seine Leser offensichtlich für weniger wichtig oder erhellend erachtet 4. Dies dürfte mit der Herkunft der Adressaten seines Evangeliums zu tun haben. So wie bei Lukas nicht die Auferstehung, sondern die Erhöhung J esu den entscheidenden Akzent trägts - und ich meine, dies ist aufgrund der griechischen Leser so -, so trägt beim Tod J esu nicht die Vorstellung vom Sühnetod den Akzent, sondern andere Aussagen treten in den Vordergrund und dies wohl ebenso aufgrund der Leser. Welche anderen Akzente hat Lukas nun gesetzt? Im Anschluß an E. Schweizer möchte ich drei Aspekte zum Verständnis des Todes J esu bei Lukas besonders herausstellen6: 1. Lukas betont gegenüber Markus das Leiden Jesu noch stärker, indem er zeigt: Dieses Leiden steht über dem ganzen Weg Jesu. 2. Lukas betont die Heilsbedeutung des gesamten Dienstes Jesu und nicht nur seines Todes. 3. Lukas stellt das Paradigmatische des dienenden Leidens heraus. Zu 1: Nach Lukas ist es "geradezu die Funktion des Christus, daß er ,leiden muß"', eine weder im Judentum noch durchgängig im Christentum zu findende 7 Vorstellung • - Über die drei Leidensankündigungen hinaus weisen nach Lukas 2 Zur überlieferungsgeschichtlichen Einordnung von Mk 10,45 und Lk 22,27 siehe J. ROLOFF, Anfänge der soteriologischen Deutung des Todes Jesu (Mk X,45 und Lk XXII.27), in: ders., Exegetische Verantwortung in der Kirche. Aufsätze, hg. von M. Karrer, Göttingen 1990, 117-143. 3 E. SCHWEIZER, Theologische Einleitung in das Neue Testament, GNT 2, Göttingen 1989, 132. 4 Warum das so ist, können wir nach Meinung von J. J ervell nur hinnehmen und nicht einmal erraten ]ERVELL, Die Apostelgeschichte, KEK 3, Göttingen 1998, 104 Anm. 345). Ich bin hier zuversich tlicher. 5 Vgl. dazu Jervell, Apg (s. Anm. 4), 105 mit Anm. 347. 6 Weitere Aspekte ließen sich nennen, etwa jener, den M. MÜLLER, Die Hinrichtung des Geistträgers. Zur Deutung des Todes Jesu im lukanischen Doppelwerk, in diesem Band S. 45-61 herausgestellt hat. 7 E. SCHWEIZER, Das Evangelium nach Lukas, NTD 3, Göttingen 1982, 225 (kursiv im Original).
a.
Das jüdische Evangelium und seine griechischen Leser
31
auch Elija und Mose in der Verklärungsszene auf die Notwendigkeit des Leidens hin (Lk 9,31). - Der ganze Weg J esu nach J erusalem ist als Weg zum Leiden gestaltet (Lk 9,51)8. - Jesus selbst spricht von seinem Tod als einer "Taufe", die ihn erwartet (Lk 12,50) und versteht seine" Vollendung" als Prophetenmartyrium. Er ist der leidende Gerechte 9 bzw. der leidende Prophet (Lk 13,31-33)10. Im Gleichnis von den bösen Winzern (Lk 20,9-19) wird nach Lukas (im Unterschied zu Mk 12,1-12; Mt 21,33-46) auch nur der Sohn getötet (20,15). Die Übersetzung von auvEXw / auvExojlIXL in Lk 12,50 stellt ein Problem dar. Das Verbum ist bei Lukas beliebt (vgl. 4,38; 8,37.45; 19,43; 22,63; Apg 7,57; 18,5; 28,8). Das deutsche "bange sein" bzw. "geängstigt sein", wie es sich in den gängi1 gen Übersetzungen findet \ bezieht sich zu sehr auf innerseelische Bereiche. Mit Recht weist H. Koester darauf hin, daß es sich erstens um einen Septuagintismus handelt und daß zweitens an das ganze Lebenswerk J esu zu denken ist, das er noch vor seinem Tod zu erfüllen hat. Er übersetzt deshalb positiv: "wie bin ich ganz davon beherrscht" 12. Vor Beginn des letzten Mahles betont Jesus, wie sehr es ihn verlangt habe, das Mahl mit seinen Jüngern zu halten, bevor er "leide" (Lk 22,15)13. - Im Anschluß an das letzte Mahl und vor dem Gang nach Getsemane deutet J esus selbst den Jüngern das, was ihm bevorsteht, mit einem Zitat aus J es 53,12: "Denn ich sage euch, was geschrieben steht: ,Er wurde unter die Gottlosen / Verbrecher (äVOjlOL) gerechnet', muß an mir erfüllt werden; denn was mir bestimmt ist, kommt jetzt zu Ende" (22,37)14. Dabei ist dieses Leiden nicht undurchschaubares Verhängnis, son-
8 Lk 9,51a blickt nicht auf die Verklärung zurück, sondern auf Jerusalem voraus. Dies gilt unabhängig von der Frage, ob man mit der bisherigen Forschung von einem lukanischen "Reisebericht" ausgeht, oder mit R. V. BENDEMANN, Zwischen DOXA und STAUROS. Eine exegetische Untersuchung der Texte des sogenannten Reiseberichts im Lukasevangelium, BZNW 101, Berlin 2001, einen solchen ablehnt. 9 In der Verspottungsszene (Lk 23,35) ist der bereits in der Vorlage (Mk 15,27m vorhandene Anklang zu Ps 22(21),8 verstärkt und damit das Motiv des leidenden Gerechten betont; vgl. M. DIBELIUS, Die Formgeschichte des Evangeliums, Tübingen 51966, 188 (Anm. 1), wobei Dibelius diese Veränderung nicht "der Sonderart des Lukas", sondern bereits "dem Traditions-Wachstum in der Gemeinde" zuordnen möchte (ebd., 200), was mir fraglich erscheint. 10 Es handelt sich bei Lk 13,31-33 um Sondergut. 11 Vgl. etwa Lutherbibel (1984): "wie ist es mir so bange"; Jerusalemer Bibel (1972): "wie ängstigt es mich"; etwas anders Bruns (1964): "wie drängt es mich innerlich"; New English Bible (1970): "what constraint I am under". 12 H. KOESTER, Art. OUVEXW KtI..., ThWNT 7, 1969, 875-885: 883; vgl. F. BOVON, Das Evangelium nach Lukas. 2. Teilband: Lk 9,51-14,35, EKK 3/2, Zürich / Neukirchen-Vluyn 1996,344.353: "wie drängt es mich". 13 Es handelt sich bei Lk 22,15 um Sondergut. 14 Vgl. dazu Schweizer, Einleitung (s. Anm. 3), 131. Mk 15,28, wo die gleiche Formulierung auftaucht, ist als textkritisch sekundär zu beurteilen; vgl. z. B. J GNILKA, Das Evangelium nach Markus. 2. Teilband: Mk 8,27-16,20, EKK 2/2, Zürich / Neukirchen-Vluyn 1979,309 Anm. 1.
32
Wo/fgang Kraus
dern es entspricht Gottes Ratschluß und Bestimmung (Lk 22,22). Das göttliche ÖEL steht hinter diesem Leiden (Lk 24,26; Apg 2,33). Sein Leiden ist eine Notwendigkeit vor dem Endgeschehen (Lk 17,25). Die genannten Belege zeigen das Leiden J esu als ein durchgängiges Motiv in der Darstellung des Lukas. Was den traditionsgeschichtlichen Hintergrund angeht, so kommen darin unterschiedliche Aspekte zusammen: Der leidende Gerechte ist eine aus dem alttestamentlich-jüdischen Kontext bekannte Gestalt 15 . Es ist mehrfach gezeigt worden und muß hier nicht wiederholt werden, daß dieser Hintergrund ohne Frage zum Verständnis der lukanischen Passionsgeschichte heranzuziehen ist 16 . Daneben scheint es mir aufgrund der Betonung des "muß" (zumal ihm kein hebräisches Äquivalent entspricht)17 aber ebenso wichtig, die Berührungspunkte zu griechischem Denken nicht zu übersehen, speziell zur Vorstellung der unentrinnbaren "Verstrickung einer tragischen Gestalt"18 (Sophokles, Oed Tyr 825ff.830-833) und zum griechischen Schicksalsglauben: Ganz Attika "mußte" nach Gottes Weisung den Persern unterworfen werden (Herodot, 8,53; vgl. Herodot 2,161)19. - Zwar gibt es in der Apokalyptik auch ein endzeitliches "muß" (Dan 2,28 LXX). Damit könnte eine Beziehung vom 20 Tod Jesu zum Äonenumbruch angedeutet sein, doch das bleibt unsicher • Durch den Verweis auf die Schrift (Lk 22,37; 24,44.46) wird bei Lukas verhindert, den 2 Tod Jesu der gemeinantiken Tragik schlicht einzuordnen \ dennoch bleiben die Bezüge zu griechischen Vorstellungen bestehen. Schon an dieser Stelle zeigt sich, wie Lukas jüdische und griechische Motive verschmolzen hat. Zu 2: Nicht die Heilsbedeutung des Todes Jesu, sondern die seines gesamten 22 Dienstes, der letztlich in den Tod führt, wird bei Lukas thematisiert • So wird in Lk 19,10 der Dienst Jesu zusammenfassend als "Suchen und Retten des Verlorenen" bezeichnet. Konsequenterweise zieht sich Jesus nicht von den "Verlorenen" zurück, sondern ist unter ihnen zu finden (Lk 19,7; 22,37; 23,33f.42f). "Retten" bzw. "heilen" und "helfen", was sich mehr als 30 mal bei Lukas findet, steht dabei
15 Belege mit neutestamentlichen Bezugsstellen bei M. KARRER, Jesus Christus im Neuen Testament, GNT 11, Gättingen 1998, 89f. 16 Hier ist bereits Dibelius, Formgeschichte (s. Anm. 9), 202-204 zu nennen; zu den Fragen der jüdischen Märtyrertheologie und der Benutzung eines Modells aus diesem Bereich bei Lukas s. u. Abschnitt 2. 17 Vgl. Karrer, Jesus Christus (s. Anm. 15),88. 18 Ebd. 19 Schweizer, Lk (s. Anm. 7),225; Karrer, Jesus Christus (s. Anm. 15),88. ZD Karrer, Jesus Christus (s. Anm. 15), 88. ZI Ebd. 22 Schweizer, Lk (s. Anm. 7), 226; vgl. P. POKORNY, Theologie der lukanischen Schriften, FRLANT 174, Gättingen 1998, 147.
Das jüdische Evangelium und seine griechischen Leser
33
23
nirgends in direktem Zusammenhang mit Jesu Tüd • "Während der Gekreuzigte nach Mk 15,34 nur die schreckliche Einsamkeit dieses Sterbens betont und nach J üh 19,26-28.30 königlich für Mutter und geliebten Jünger sürgt, die Schrift bewußt erfüllt und mit dem Siegesruf stirbt, zeigen alle drei Kreuzeswürte bei Lukas die Zuwendung J esu zu den Menschen und zu seinem Vater im Himmel. ,,24 Zu 3: Durch diese Schilderung der Passiün J esu als eines Prüzesses, der den ganzen Dienst Jesu umfaßt, wird nach Lukas für die Glaubendenden "eine neue Möglichkeit menschlichen Lebens und Sterbens geschaffen,,25. Es geht hierbei um die U r- und Vürbildlichkeit des Geschickes J esu, die Lukas herausstellt. Die Gemeinde ist aufgefürdert, die Erfahrung Jesu ,nachzuerfahren,26. Wie sehr das Geschick J esu ur- und vürbildhaften Charakter hat, wird vün Lukas in seiner Darstellung des Stephanusmartyriums und der Geschichte des Paulus deutlich zum Ausdruck 27 gebracht : Wie der Gekreuzigte bittet Stephanus, der erste "christliche" Märtyrer, für seine Mörder (Apg 7,60). Und wie bei Jesus geht es beim Sterben des Stephanus um die Aufnahme des Geistes in die himmlische Welt (Apg 7,59)28. Die Reise des Paulus nach J erusalem unter der Leitung des Geistes (Apg 19,21; 20,22; 21,4.11-15) erinnert an Jesu Weg in die heilige Stadt. Selbst hinsichtlich verschiedener Etappen des Geschickes gibt es Parallelen: Leidensankündigung durch Gütt (Lk 9,31 / Apg 9,16), Abschiedsrede (Lk 22,24-38 / Apg 20,18-25), vür dem Synhedrium (Lk 22,66-71 / Apg 22,30), vür dem römischen Präfekten (Lk 23,1-7 / Apg 23,33), vür Herüdes (Lk 23,8-12 / Apg 25,23)29. Die Vorbildlichkeit Jesu zeigt sich auch in der Kreuzigungsszene (Lk 23,39-46). Die drei Persünen am Kreuz scheinen drei Möglichkeiten zu repräsentieren, mit dem Sterben umzugehen: ühne Gütt (so' der eine Schächer), vür Gütt (so' der andere Schächer) und in Gütt (so' Jesus)30. Anders als bei Markus, wo. Jesus mit einem vürwurfsvüllen "mein Gütt, mein Gott, warum hast du mich verlassen?" auf den Lippen stirbt, befiehlt Jesus in äußerer und innerer Gefaßtheit seinen Geist in Güttes Hände. Das erinnert wieder an die jüdische V ürstellung vüm leidenden Gerechten, speziell an die Märtyrer, die gefaßt dem Tüd entgegenblickten: Eleazar (2 Makk 6,18-31) und die sieben Brüder und ihre Mutter (2 Makk 7,1-42; vgl. die Wiederaufnahme in 4 Makk). 23 So mit Recht Schweizer, Lk (s. Anm. 7), 225. Ebd. 25 Ebd., 226. 26 Ebd. 27 Nach Brown, Death (s. Anm. 1), 74f sollte bei der Darstellung der Passion Jesu der Wille, Jesus und Paulus in Parallele zu setzen, als Gestaltungsprinzip nicht unterschätzt werden. 28Vgl. Brown, Death (s. Anm. 1),70: Stephanus stirbt "for (and in imitation o~ Jesus". 29 Dazu Schweizer, Lk (s. Anm. 7), 226. 30 A. STROBEL, Der Tod Jesu und das Sterben des Menschen nach Lukas 23,39-49, in : ders. (Hg.), Der Tod - ungelöstes Rätsel oder überwundener Feind?, Stuttgart 1974, 81-102: 82. 24
34
Wolfgang Kraus
Bei näherem Hinsehen läßt die Haltung J esu meines Erachtens jedoch nicht nur Anklänge an die jüdischen Märtyrer, sondern durchaus noch andere Beziehungen erkennen, und zwar zu Topoi aus dem genuin griechischen Bereich. Es ist dies vor allem eine Affinität zum Tod des Sokrates31 . Beziehungen zwischen der Darstellung des Todes Jesu und dem des Sokrates wurden mehrfach festgestellt. Insbesondere das J ohannesevangelium und seine Christusdarstellung schien für einen Vergleich geeignet32 • Die Frage stellt sich, ob man dies bereits für Lukas nachweisen 33 kann • Bevor wir hierauf näher eingehen, soll in einem kurzen Übe~blick zunächst gefragt werden, wie man im zeitgenössischen Umfeld den Tod des Sokrates verstan34 den hat • 2 Der Tod des Sokrates im Verständnis spätantiker Schriftsteller
Das Sterben' und der Tod bedeutender Persönlichkeiten faszinierte die Men35 schen der Spätantike nicht minder als dies heutzutage der Fall ist • Dies führte zur Entstehung einer literarischen Form: der tEAEUtat bzw. zu der Untergattung des exitus illustrium virorum 36 • In diesem Kontext wurde auch das Sterben und der Tod des Sokrates literarisch verarbeitet. Die wichtigsten Quellen dafür waren die platonischen Dialoge (Apologie, Kriton, Phaidon und Eutyphron) sowie Xenophons Apologie und seine Memorabilia. Die antiken Schriftsteller, die die sokratische Tradition verarbeiten, kommen aus allen Bereichen. Vor allem Plutarch, Lucian und Tacitus sind hier zu nennen, aber auch Cicero und Seneca, Dio, Epic37 tet, Maximus von Tyrus,. Philostratos und andere • Tacitus hat die sokratische 31 Strobel, Tod (s. Anm. 30), 87 im Anschluß an E. LINDENBAUR, Der Tod des Sokrates und das Sterben Jesu, CH 113, Stuttgart 1971; Karrer, Jesus Christus (s. Anm. 15), 91. 32 J. HERZER, Freund und Feind. Beobachtungen zum alttestamentlich-frühjüdischen Hintergrund und zum impliziten Handlungsmodell der Gethsemane-Perikope Mk 14,32-42, leqach 1, 2001, 107-136: 113, mit Bezug auf E. FASCHER, Christus und Sokrates. Eine Studie zur aktuellen Aufgabe des Religionsphänomenologie, ZNW 45, 1954, 1-40. 33 Daß die Beziehung zwischen dem Tod Jesu und dem Tod des Sokrates in der Kirchengeschichte eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt hat, steht außer Frage. 34 Die folgenden Überlegungen wurden erstmals im Rahmen eines Gastvortrags im April 2001 in Bern vorgetragen. Inzwischen ist die schöne Studie von G. STERLING, Mors philosophi: The Death of Jesus in Luke, HThR 94, 2001, 383-402, erschienen. Ich freue mich über vielfache Übereinstimmung. 35 Ebd., 384f. 36 Ebd., 384ff. 37 Näheres bei K. DÖRlNG, Exemplum Socratis. Studien zur Sokratesnachwirkung in der kynisch-stoischen Popularphilosophie, der frühen Kaiserzeit und im frühen Christentum, Hermes Einzelschriften 42, Wiesbaden 1979; eine Auswahl antiker Belege auch bei Sterling, Mors (s. Anm. 34), 387-390; vgl. daneben, v. a. für die Rezeption in der Alten Kirche: A. V. HARNACK, Sokrates und die alte Kirche, in: ders., Reden und Aufsätze I, Gießen 1908, 29-48; Fascher, Christus; E. BENZ, Christus und Sokrates in der Alten Kirche. Ein Beitrag zum altkirchlichen Verständnis des
Das jüdische Evangelium und seine griechischen Leser
35
Tradition mit der vom exitus illustrium virorum kombiniert (etwa beim Tod des Seneca [Tacitus, Ann 15.62fj)38. Neben dieser Wirkungs geschichte im griechischen Bereich finden wir aber auch Aufnahme sokratischer Tradition in der jüdischen Märtyrertheologie. Prototypen jüdischer Märtyrertheologie sind Eleazar (2 Makk 6,18-31) und die sieben Brüder samt ihrer Mutter (2 Makk 7,1-42). Bedeutsam ist nun, daß gerade in diesen Märtyrerberichten eine Aufnahme von Motiven aus sokratischer Tradition festzustellen ist - auch wenn dies nicht explizit geschieht und deshalb auf den ersten Blick nicht sogleich ins Auge fällt 39 • In 4 Makk wird diese Tradition noch ausgeweitet, indem die Märtyrer zugleich als Philosophen dargestellt werden (vgl. 4 Makk 7,21_23)40. Wir dürfen festhalten: Der Tod des Sokrates wurde bei spätantiken Schriftstellern in seiner Vorbildhaftigkeit weithin als Modell benutzt. Eine Kenntnis aufgrund der Dialoge Platons und der Wirkungsgeschichte in den Schriften anderer Schriftstellern darf bei vielen Zeitgenossen vorausgesetzt werden. Solche Kenntnis gehört zum Bildungsstandard. Aber auch im jüdischen Bereich ist die Vorbildhaftigkeit des Todes des Sokrates bekannt. Dabei spielt besonders die Tatsache, daß Sokrates sich treu geblieben ist und nicht die Flucht wählte, eine Rolle. 3 Der TodJesu und der Tod des Sokrates nach Lukas
Lukas hat nun nicht einfach die gängigen Vorstellungen über den Tod des Sokrates mit dem Tod Jesu verbunden. Seine Darstellung weist sowohl Analogie als auch Differenz auf. Von Interesse ist, an welchen Stellen Lukas Analogie und an welchen er Differenzen erkennen läßt 41 • Ich will auf drei Aspekte eingehen: Märtyrers und des Martyriums, ZNW 43,1950/51, 195-224; TH. BAUMEISTER, ,Anytos und Meletos können mich zwar töten, schaden können sie mir nicht', in: H. D. Blume / F. Mann (Hg.), Platonismus und Christentum. FS H. Dörrie, JAC Erg.bd. 10, Münster/W. 1983,58-63. 38 Sterling, Mors (s. Anm. 34), 390 resümiert zutreffend: "They (sc. Tacitus, Plutarch, Lucian) demonstrate how different writers could appropriate the tradition in multiple ways. They also represent different literary genres: Tacitus was ahistorian, Plutarch was a philosoph er, and Lucian was a literary figure who was influenced by philosophy." 39 Ebd., 392f, unter Bezug u. a. auf: U. KELLERMANN, Auferstanden in den Himmel. 2. Makkabäer 7 und die Auferstehung der Märtyrer, SBS 95, Stuttgart 1979, 46--50.51-52; J. A. GOLDSTEIN, II Maccabees, AncB 41A, Garden City 1983,285; J. W. VAN HENTEN, The Maccabean Martyrs as Saviours of the Jewish People. A Study of 2 and 4 Maccabees, JSJ.S 57, Leiden 1997,270-294. 40 Sterling, Mors (s. Anm. 34), 392f. 41 Ich gehe mit Brown u. a. davon aus, daß Lukas das Mk-Ev vorliegen hatte und zur Erklärung der Differenzen zu Mk die Annahme einer weiteren Quelle für die Passionsgeschichte des Lk zwar denkbar erscheint, daß hier aber keinerlei Sicherheit zu gewinnen ist (vgl. Brown, Death [so Anm. 1], 67). Browri selbst entscheidet sich im Anschluß an Soards und Matera bezüglich der Lk-Passion gegen eine weitere Quelle des Lukas und erklärt Differenzen entweder redaktionsgeschichtlich oder durch Annahme von mündlicher Tradition (ebd., 75).
Wo/fgang Kraus
36
3.1 Die Ergebung in den Willen Gottes
Das in der Antike schlechthin gültige Sterbeideal war der noble, vornehmheroische Tod. "Dieses Ideal lebte davon, dass der dem Tod Ausgesetzte, zum Sterben Genötigte, den Tod nicht von außen an sich geschehen ließ, sondern ihn sich zu eigen machte und aktiv vollzog. ,,42 So versammelt Sokrates die Freunde und Schüler, erklärt, warum er dem Tod nicht ausweicht, nimmt den Becher ohne Zittern in die Hand43 und trennt sich, den Göttern im Gebet verbunden, von den Freunden (platon, Phaed 117Bff). - Nach Lk 9,51 geht Jesus zielstrebig nach Jerusalem in dem Wissen, daß sich jetzt die Tage seiner Hinwegnahme erfüllen werden. Er weiß, daß sein Leiden "notwendig" ist (Lk 17,25), daß dies Jerusalem zu geschehen hat (Lk 13,33) und daß seinem Weg eine göttliche Bestimmung zugrunde liegt (Lk 22,37). - Auch Sokrates wußte, daß seine Zeit zu sterben gekommen war (Ap 40a-c.41d)44. Platon betont, es sei der Wille der Götter, daß Sokrates sterben solle (C~ito 43b.54e). Und Sokrates sagt explizit zu Kriton: "Wenn es der Wille der Götter ist, dann laß es jetzt geschehen" (Crito 43d). - In Getsemane steht die Ergebung Jesu in den Willen des Vaters von vornherein fest. Zwar betet er, daß, wenn der Vater es wolle, der Kelch vorübergehen möge, aber Gottes Wille möge geschehen (Lk 22,42). Die Bezüge sind frappierend. Und dennoch besteht keine völlige Übereinstimmung zwischen J esus und Sokrates. Die lukanische Passionsdarstellung setzt auch noch andere Akzente: So hat Lukas - wie bereits erwähnt - in Lk 22,15 die Aussage Jesu eingefügt: "Sehnlich hat es mich verlangt, das Paschamahl mit euch zu essen, bevor ich leide." Er hat damit die Geschichte von Jesu Sterben und Tod erstmals zusammenfassend als "Passion" qualifiziert. Es scheint mir deshalb nicht gerechtfertigt zu sein, die Ruhe J esu einseitig als positive Analogie zum Sterben des Sokrates 45 zu interpretieren . Lukas hat den Verlassenheitsruf Jesu am Kreuz, den Markus überliefert (Mk 15,34), weggelassen 46. Dennoch stirbt Jesus nach seinem Passionsbericht nicht in solcher Ruhe und Gelassenheit wie Sokrates 47. Wir gehen hierzu etwas näher auf die Getsemane-Perikope (Mk 14,32-42; Lk 22,39-46) ein. Wie Jens Herzer festgestellt hat, spielt sie bei einem Vergleich von
42 Karrer, Jesus Christus (s. Anm. 15),87. Man fühlt sich unwillkürlich an D. Bonhoeffers Gedicht "Von guten Mächten wunderbar geborgen" erinnert: "Und reichst du uns den schweren Kelch, den bittern des Leids, gefüllt bis an den höchsten Rand, so nehmen wir ihn dankbar ohne Zittern aus deiner guten und geliebten Hand." 44 Weitere Belege bei Sterling, Mors (s. Anm. 34), 397. 45 So aber ebd., 395ff. 46Vgl. dazu Herzer, Freund (s. Anm. 32), 112f. 47 So auch Strobel, Tod (s. Anm. 30), 87. 43
Das jüdische Evangelium und seine griechischen Leser
37
J esus und Sokrates interessanterweise häufig keine Rolle 48. In der alten Kirche entstanden aus dieser Szene, vor allem aus der markinischen Fassung, Probleme größeren Ausmaßes, wie dies etwa aus Justins Auseinandersetzung mit Celsos deutlich wird 49 . Lukas hat die Getsemane-Szene keineswegs unterdrückt. Er hat sie jedoch in einer Weise gestrafft und gegenüber Markus entdramatisiert, daß sich der 50 Charakter damit entscheidend verändert hat . Lukas hat weggelassen, Jesus habe 51 angefangen zu zittern und zu zagen . Die drei Begleiter, die Jesus nach Mk 14,33f / Mt 26,37f mitnimmt, hat Lukas gestrichen. Gegenüber Markus fehlt auch die Notiz vom schwachen Fleisch und der dreifache Gang zum Gebet (Mk 14,38-42). Bei der Gebetsanrede ist das aramäische "Abba" ersetzt durch "Vater". Das mag mit der Tendenz des Lukas zusammenhängen, aramäische Ausdrücke zu vermeiden 52 , es nimmt dem Gebet aber auch ein Stück Vertrautheit. Jesus beginnt sein Gebet nicht mit der Formulierung, daß für Gott alles möglich sei, deshalb solle er den Kelch an ihm vorübergehen lassen (Mk 14,36; ganz ähnlich Mt 26,39b), sondern mit der positiven Einschränkung "wenn du willst ... " (Lk 22,42). Lukas no5 tiert aber auch, daß ein Engel kommt \ um Jesus auf seinem letzten Gang zu stärken (Lk 22,43)54. Danach berichtet er gegenüber Markus, daß Jesus unter äußerster Anspannung (aywv(o:) noch inständiger betet und sein Schweiß wie Blutstropfen auf die Erde fällt (Lk 22,44). Die Blutstropfen sind kein Hinweis auf Jesu Todes55 angst, sondern unterstreichen die äußerste Anspannung . Es geht hier um das 56 Einstimmen in das göttliche "muß". Im Gebet ringt sich Jesus dazu durch • Insgesamt läßt sich feststellen: Lukas hat gegenüber Markus die Niedrigkeitsaussagen zurückgedrängt. Wenn die Getsemane-Perikope den Schlüssel für die Mar57 kus-Passion darstellt , in der es darum geht, die Gottessohnschaft Jesu aus seiner Niedrigkeit zu begreifen, dann hat Lukas diesen Aspekt nicht übernommen, sondern bewußt modifiziert. J esus erscheint bei ihm erhabener und souveräner. Es ist Herzer, Freund (s. Anm. 32), 108 Anm. 6. Ebd., l1f; Sterling, Mors (s. Anm. 34), 383f. 50 Brown, Death (s. Anm. 1),68: Menschliche Schwäche paßt nicht zur lukanischen Christologie. 51 Siehe hierzu im Detail Sterling, Mors (s. Anm. 34), 395f. 52 Brown, Death (s. Anm. 1),68. 53 Lukas hat die dienenden Engel aus der Versuchungsgeschichte gestrichen, aber hier spielen die himmlischen Helfer eine Rolle; vgl. Brown, Death (s. Anm. 1),69. 54 Dieser Vers wird zusammen mit V 44 von wichtigen Textzeugen ausgelassen, ist aber wohl doch ursprünglich; vgl. dazu die ausführliche Diskussion bei Brown, Death (s. Anm. 1), 179-185. Die Streichung der beiden Verse kann ein Hinweis darauf sein, daß die Niedrigkeitsaussagen zunehmend in den Hintergrund traten. 55' AywvLa heißt nicht Todesangst o. ä.; vgl. Pokorny, Theologie (s. Anm. 22), 150. 56 Andererseits ist Schweiß Zeichen der Entrüstung und Reue GosAs 4,9; 9,1); vgl. Schweizer, Lk (s. Anm. 7), 228. 57 So R. FELDMEIER, Die Krisis des Gottessohnes. Die Gethsemaneerzählung als Schlüssel der Markuspassion, WUNT 2/21, 1987. 48
49
Wolfgang Kraus
38
58
noch nicht die Souveränität wie bei J ohannes , die eine Kohorte zurückweichen läßt Goh 18,3-11). Aber Jesus ist nach Lukas auch nicht mehr derjenige, dessen Gottessohnschaft sich im Leiden offenbart, wie das bei Markus der Fall ist (Mk 15,28); sondern ein Wandel ist feststellbar 59 • Gleichwohl: Die Getsemane-Perikope verhindert, eine völlige Analogie zwischen der Darstellung des Todes J esu bei Lukas und dem Tod des Sokrates zu pos60 tulieren . Von einem noblen, vornehm heroischen Tod läßt sich hier nicht sprechen. J esus nimmt den Tod auf sich, aber er muß sich dazu durchringen. Mit Gottes Hilfe - aber nur so - schafft er das 61 . 3.2Jesus, der Gerechte
Blicken wir nun auf eindeutig positive Bezüge. Wir gehen dabei aus vom Wort des Hauptmanns unter dem Kreuz (Lk 23,47): "Als der Hauptmann aber das Geschehene sah, lobte er Gott und sprach: ,Wahrhaftig, dieser Mensch war ein Gerechter'''. Nun läßt sich öLKtlWC; bekanntermaßen als Adjektiv oder auch als Substantiv verstehen: " Wahrhaftig, dieser Mensch war gerecht", oder: "Dieser Mensch war ein Gerechter!" Für beide Möglichkeiten finden sich Vertreter in der Forschung. Nach G. Schrenk geht es in dem Ausspruch des Hauptmanns um Jesu "gerecht sein" im Sinn seiner intakten Beziehung zu Gott. Und Schrenk fügt hinzu: Auch Zacharias, Elisabeth, J oseph von Arimathia und Kornelius heißen bei Lukas "gerecht,,62. Jüngst hat auch F. Wilk für das adjektivische Verständnis plädiert: Die Pointe liege darin, daß mit der Aussage über J esu Gerechtsein Gott ge63 lobt werde . Es gehe nicht um die Bestätigung der Unschuld Jesu im Sinn der Anklage, denn in Lk 23,4.14f.22 - das sind jene Stellen, an denen Pilatus die Unschuld Jesu feststellt - werde der Begriff öLKtlWC; nicht gebraucht. Die nächste Parallele liege vielmehr in Lk 2,25a, der Charakterisierung Symeons. Ein christologisches Verständnis sei wegen des Imperfekts ~v ausgeschlossen, und auch deshalb, weil cSLKtllOC; in Apg 3,14; 7,52; 22,14 jeweils mit Artikel stehe. Brown, Death (s. Anm. 1), 192. Die Einschätzung von Herzer, Freund (s. Anm. 32), 113, aufgrund von Apg 2,25ff (mit Zitat aus Ps 16,8-11), wonach Jesu Herz angesichts des Todes sich gefreut und seine Zunge gejubelt habe "im Vertrauen auf Gott und die Gewissheit der Auferstehung", geht aber doch einen Schritt zu weit. Der Schwerpunkt liegt, wie der nachfolgende Text zu erkennen gibt, auf der Auferstehung und nicht auf dem bevorstehenden Tod. 60 Sterling, Mors (s. Anm. 34), 396 kommt zu einem anderen Ergebnis, weil er Lk 22,43f als sekundäre Interpolation eines Schreibers aus dem 2. Jh. ansieht, mit der jener die Menschlichkeit Jesu akzentuieren wollte (unter Bezug auf B. D. EHRMAN IM. A. PLUNKETT, The Angel and the Agony: The 'fextual Problem of Luke 22:43-44, CBQ 45, 1983,401-416). 61 Aufgrund der Getsemane-Perikope allein legt sich eine Analogie zur sokratischen Tradition nicht zwingend nahe; anders Sterling, Mors (s. Anm. 34), 395-398. 62 G. SCHRENK, Art. OLKIUOC;, ThWNT 2,1935, 189-193: 193. 63 F. WILK, Jesus und die Völker in der Sicht der Synoptiker, BZNW 109, Berlin 2002, 208. 58
59
Das jüdische Evangelium und seine griechischen Leser
39
Die Argumente sind gewichtig, ich halte sie dennoch nicht für durchschlagend. Denn es fehlt nicht an deutli'chen Hinweisen für einen substantivischen Gebrauch von öl.KaLOe;; bei Lukas im Sinn einer singulären positiven Qualifikation. Werfen wir einen Blick auf die Belege: - In Lk 2,25 heißt es von Symeon: 6 livepwlToe;; Oll"Cüe;; öl.KaLOe;; KaI. EUAaß~e;; ... - In Lk 1,6 heißt es von Zacharias und Elisabeth: ~oav ÖE ÖI.KaWL cXllct>61:EPOL EVaV1:LOV
1:0U eEOU.
- In Lk 23,47 lobt der Hauptmann Gott und sagt über J esus:
ÖV1:We;;
6 &.vepWlTOe;;
OU1:0e;; öl.Kawe;; ~v.
- In Lk 23,50 wird J oseph von Arimathia beschrieben als cXv~p cXyaeoe;; KaI. öl.KaLOe;;.
- In Apg 3,14 wird den Hörern vorgeworfen: ullE'ie;; ÖE
1:0V
äywv KaI. ÖI.KaLOV
~pv~oaOeE.
- In Apg 7,52 wird den Hörern vorgeworfen: KaI. IllTEK1:ELVaV 1:0Ue;; lTpOKa1:ayYELAaV1:ae;; lTEPI. 1:ile;; EAElJOEWe;; 1:0U ÖLKaI.OU. - In Apg 10,22 wird Kornelius cXv~p öl.Kawe;; KaI. ct>OßOUIlEVOe;;
- In Apg 22,14 sagt Paulus: 6 eEOe;; 1:0 eEA~f.La aU1:0U KaI. tÖELV
1:0V
1:WV
1:0V
eEOV genannt.
lTa1:EpWV ~f.LWV lTPOEXELpl.oa1:6 OE yvwvaL
ÖI.KaLOV KaI. cXKouoaL ct>WV~V EK 1:0U 01:6f.La1:0e;;
av
1:OU. Überblickt man die Belege, so fällt auf: LlLKaLOe;; (Singular), absolut gebraucht, ohne Beifügung von livepwlToC; bzw. cXv~p oder in Parallele zu anderen Adjektiven, steht als positive Qualifikation im lukanischen Doppelwerk überhaupt nur in Lk 23,47; Apg 3,14; 7,52; 22,14 - und das heißt: stets als Bezeichnung für Jesus! Die Frage der Artikelsetzung hat demgegenüber untergeordnete Bedeutung. Ich plädiere also dafür,' Lk 23,47 substantivisch zu übersetzen: "Wahrhaftig, dieser Mensch war ein Gerechterl" Der Begriff ist eine Zusammenfassung alles dessen, was vorher auf der erzählerischen Ebene im Verlauf des Passionsberichts geschildert wurde. So betonten die Aussagen des Pilatus dreimal J esu Unschuld (Lk 23,4. 14f.22). Auch Herodes kam zu keinem Schuldspruch (23,15). Das Synhedrium hat anders als bei Matthäus und Markus keine "Schuld" festgestellt (Lk 22,70f diff. Mk 14,63f; Mt 26,65f). Und der eine Schächer am Kreuz bestätigt, daß Jesus nichts Schlechtes (li-rolToc;) getan habe. Dies alles gipfelt in der zusammenfassenden Qualifikation: ÖV1:WC; 6 livepwlToC; OU1:0C; öl.KaLoc; ~v. Wenn jedoch das einmalige, nur auf J esus bezogene, substantivische Verständnis von öl.Kawc; in Lk 23,47 als gesichert gelten kann, dann lassen sich auf der Erzählebene noch weitere - positive - Anklänge an den Tod des Sokrates finden: Eine Ursache für den Tod J esu ist darin zu suchen, daß die Mehrzahl Israels nicht verstanden hat, was Jesus wollte. "Er ist gesetzt zu einem Zeichen, dem widersprochen wird", sagt bereits Symeon zu den Eltern Jesu (Lk 2,34). "Wenn doch auch du erkannt hättest an diesem Tage, was zu deinem Frieden dient. Nun aber
40
Wolfgang Kraus
ist es verborgen vor deinen Augen", klagt Jesus über Jerusalem (Lk 19,42 [Sondergut]). Jesus wird angeklagt, weil man ihn nicht verstanden hat. - Auch Sokrates wurde mit seiner Botschaft nicht verstanden. Die Neuheit seines Denkens blieb seinen Anklägern und Richtern verborgen. Sokrates scheitert letztendlich an dem Neuen, das nicht verstanden wird. Beim Tod Jesu handelt es sich nach Lukas um eine widerrechtliche Hinrichtung. Im Verhör vor Pilatus wird die Anklage für römische Ohren formuliert: "Wir haben festgestellt, daß dieser unser Volk aufwiegelt und es abhält, dem Kaiser Steuern zu zahlen, und er sagt, er sei der Messiaskönig" (Lk 23,2). Hiernach handelt es sich zweifelsohne um ein politisches Delikt, dessen Jesus angeklagt wird. Und obwohl er auf die Frage, ob er der Messias sei, nicht verneinend antwortet (Lk 23,3)6\ stellt Pi latus dreimal Jesu Unschuld fest (Lk 22,4. 14f.22). Dann aber - völlig unerwartet - gibt Pilatus der Forderung der Ankläger statt und gibt Jesus preis (V 24). Anders als bei Markus und Matthäus, wo die Schuld Jesu durch Gotteslästerung ausdrücklich festgestellt wird, gibt es bei Lukas keine eigentliche 65 Schuldfeststellung. Jesus ist und bleibt unschuldig . Die Hinrichtung erfolgt ausschließlich deshalb, weil Pilatus der Forderung der Ankläger nachgibt und ihnen einen Gefallen tut. Sokrates nennt seine Verurteilung ebenfalls widerrechtlich. Das ist für ihn das größte Übel, einen anderen widerrechtlich hinzurichten (Ap 30d). In seiner Verteidigung führt er aus: "Der. Richter ist nicht dazu gesetzt, das Recht zu verschenken, sondern es zu beurteilen, und er hat geschworen, nicht sich gefällig zu erweisen, sondern Recht zu sprechen nach den Gesetzen" (Ap 34c)66. Von Richtern, die der Ungerechtigkeit (aölKlu) überführt sind (Ap 38b), wird Sokrates ums Leben 67 gebracht . Am Schluß des Phaidon (118; vgl. Ap 17c) lesen wir: "So war das Ende. Oh Enchekrates ... von all jenen, mit denen wir Umgang hatten, war er der beste und der weiseste und der gerechteste (ÖlKUlO'tU'tOC;).,,68 "Das Leiden des Gerechten", so schreibt M. Karrer mit Recht, "entlarvt die Verstrickung der gesamten Civitas, des menschlichen Gemeinwesens von Israel bis Rom, in Ungerechtigkeit.,,69 Jesus, der Gerechte, kann sich nicht auf ein allgemei64 Die Antwort GU AEYEL ist typisch römisch und besitzt keine griechische Entsprechung. Ein auctor ist zunächst der eigentliche Inhaber eines Rechts (Imperiumsträger), dessen auctoritas auf der Eignung, ,maßgeblichen Einfluß auf die Entschließung der anderen kraft überlegener Einsicht auszuüben', gründet" (1276; Zitat von R. Heinze, Auctoritas, in: Hermes 60, 1925, 354). 20 G. WILLEMS, Art. Literatur, in: Das Fischer Lexikon. Literatur 2,1996,1006-1039: 1006. 21 Ebd., 1007. 22 Ebd. 23 P. V. ZIMA, Art. Literaturtheorie, in: Das Fischer Lexikon. Literatur 2,1996,1118-1155: 1118.
138
Oda Wischmeyer
vorstellt, als das geht sein Text in die literarische Kommunikation ein. Und nur in dem Maße, in dem der für den Autor konstitutive Literaturbegriff bei seiner Rezeption zur Geltung kommt, gelangt er überhaupt als literarischer Text zur Gegebenheit; wo dieser Begriff bei Lektüre, Interpretation ... und Kritik unwirksam bleibt oder gar bewußt ausgeschaltet wird, da handelt es sich nicht etwa um eine besonders kreative Form der Rezeption des Textes, sondern um die Vernichtung seines literarischen Charakters"24. Hier wird auch die Grenze der dekonstruktivistischen Kritik am Begriff des Autors deutlich. Produktion und Reproduktion eines literarischen Textes durch einen Autor bleiben an den Literaturbegriff des Autors gebunden. Daß von hierher die Frage nach Paulus als Autor neu und dringend ist, liegt zutage. Sie stellt sich folgendermaßen: - Verstand Paulus der Autor seine Briefe als Literatur? Und in welchem Sinne? - Vernachlässigt die neutestamentliche Wissenschaft den literarischen Charakter der paulinischen Texte, wenn sie von dem Fragenkomplex nach Autor, Text, Literatur und sachgemäßer Rezeption weitgehend zugunsten historischer und theologischer Fragen absieht? - Vollzieht die neutestamentliche Wissenschaft unter Umständen unbewußt den Kanonisierungsprozeß der Paulusbriefe insoweit noch einmal nach, als sie die Briefe nicht als literarische Texte eines Autors, sondern als religions geschichtliche Dokumente oder als Glaubens- und Theologietexte des Urchristentums liest? . Die Antwort auf diesen Fragenzusammenhang hat durchaus nicht nur Bedeutung für die innerneutestamentliche und innertheologische Wahrnehmung des Paulus, sondern auch für seine Wahrnehmung als eines individuellen Schriftstellers im Bereich der Literaturwissenschaften. Weitere Fragen ergeben sich von der Literaturtheorie her 25 , die die "philosophisch-ästhetischen Grundlagen" der Literaturwissenschaft reflektiert26 • Ich kann in diesem Zusammenhang nur auf die eine Frage verweisen, wie nämlich die Texte des Paulus in die literarische Kommunikation des Urchristentums eingehen, wenn es denn eine solche gegeben hat 27 • 3. Paulus als Autor? Diese Frage kann man auch aus der Perspektive der Textwissenschaft bzw. der Textlinguistik stellen. Sie würde eine Antwort auf die Frage allerdings eher verweigern, denn die Textwissenschaft fragt nicht nach dem Autor,
Willems, Literatur (s. Anm. 20), 100M. Weitere einführende Literatur zur Literaturtheorie: P. V. ZIMA / F. HARZER, Art. Literaturtheorie, RDLW 2,2000,482-485; J. HAWTHORN, Grundbegriffe (s. Anm. 4); T. EAGLETON, Einführung in die Literaturtheorie, Sammlung Metzler 246, Stuttgart 19974 • 26 Zima, Literaturtheorie (s. Anm. 23), 1119. 27 Dies berührt das Gebiet der Intertextualität, die für die orthonymen und pseudonymen Paulusbriefe des Neuen Testaments eine wichtige Rolle spielt. Einführende Literatur: R. ACZEL, Art. Intertextualität und Intertextualitätstheorien, MLLK, 22001, 287-289. 24
25
Paulus als Autor
139
sondern nach dem Text, der anderen großen Konstituenten im texttheoretischen Viereck von Textproduzent, Kommunikationssituation, Text und Rezipient 28 • Wenn an die Stelle des Autors ein Textproduzent tritt, stellt sich das gesamte Verständnis des oben dargestellten Zusammenhanges von Autor, Text und Leser noch einmal anders dar. Die Bedeutung für Paulus ist offensichtlich, wenn er nun nicht als Autor verstanden wird, sondern wenn seine Briefe als Texte, und das heißt als Schnitt- und Kristallisationspunkte unterschiedlicher semantischer, argumentativer, literarischer und religiöser Muster, Traditionen und Strömungen gelesen werden. Käme also gerade im' Rahmen der Textwissenschaft unerwarteter Weise die historische Frage in neuer Form wieder zur Geltung, zwar noch differenzierter als bei den alten Fragen nach Einflüssen, Übernahmen, Traditionsstücken, Formeln, Zitaten und geprägten Ausdrücken - aber überraschenderweise eben doch als historische Frage? Wichtig bleibt der Umstand, daß gerade die Textwissenschaft neu auf den Begriff des Autors verweist, wenn sie ihn entbehren oder aber durch den sogenannten "Textproduzenten" ersetzen zu können glaubt. 4. Nachdem ich die drei relevanten Problemzusammenhänge dargestellt habe, in denen die Frage "Paulus als Autor" eine Rolle spielt, fasse ich zusammen. Paulus als Autor? Zwischen antiker Brieftheorie und antiker Rhetorik als Teilbereichen klassischer Philologie einerseits und Literatur- sowie Textwissenschaft andererseits ist diese Frage neu und notwendig zu stellen. Die bisherigen Zugänge neutestamentlicher Wissenschaft zu dieser Frage waren literarkritisch, gattungs kritisch, historisch-biographisch und theologisch. Der Autor Paulus begegnete als Verfasser im Zusammenhang der Kommentierung der einzelnen Briefe und der Einleitungswissenschaft. Er trat auch als Verfasser bestimmter Textformen im Zusammenhang der Gattungsbestimmung der Briefe im Rahmen antiker Literaturgattungen auf. Schließlich ist er eine historische Größe im Rahmen der Paulusbiographie und eine theologische Größe im Rahmen einer Theologie des N euen Testaments. Hier müssen nun neue Aspekte integriert werden. Die Literaturwissenschaft läßt uns die Frage nach dem Autor als Frage nach dem Schriftsteller, das heißt dem literarischen Autor verstehen, und sie unterscheidet zwischen dem historischen und dem impliziten Autor. Die gegenwärtige Rhetorikforschung ermöglicht uns, den Autor Paulus als auctor zu sehen. Die Textwissenschaft fragt am radikalsten, nämlich nach einem sinnvollen Autorenbegriff überhaupt. Von daher ist die 28 Vgl. dazu O. WISCHMEYER, Was ist ein Text? Zusammenfassung des Kolloquiums und Perspektiven für die Interpretation neutestamentlicher Texte, in: DIES. / E.-M. BECKER (Hg.), Was ist ein Text?, Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie (NET) 1, Tübingen / Basel 2001, 211-225: 222f; einführend: TH. LEWANDOWSKI, Linguistisches Wörterbuch 3, Heidelberg 61994, 1171 (Textproduktion); ausführlich: W. HEINEMANN / D. VIEHWEGER, Textlinguistik. Eine Einführung, Reihe Germanistische Linguistik 115, Tübingen 1991,88-93.
140
üda Wischmeyer
neutestamentliche Wissenschaft gezwungen, das Verhältnis zwischen Autor und Text für die Paulustexte neu und selbständig zu bedenken. Die Fragen, die sich hieraus an die Paulusbriefe stellen, sind deutlich. Antworten werden wir nicht nur in theoretischen Überlegungen, sondern vor allem in den paulinischen Texten selbst suchen müssen. Hier müssen sich die Fragestellungen aus der Literaturwissenschaft, Literaturtheorie und Textwissenschaft als hilfreich erweisen.
3 Paulus als Autor Im Kanon der 27 Schriften des Neuen Testaments begegnet uns, wie schon erwähnt, nur ein Verfasser, dessen authentischer Name und dessen Person historisch sicher faßbar sind: Paulus, der sich den Gemeinden als Apostel J esu Chris~i vorstellt. Weitere Angaben zu seinem Namen und seiner Herkunft macht er nicht29 • Die Briefe des Paulus bilden zeitlich den Beginn der kanonischen Schriftensammlung des Neuen Testaments und darüber hinaus der christlichen Literatur überhaupt. Alle anderen missionierenden Apostel der ersten christlichen Generation haben unseres Wissens nicht "geschrieben", das heißt sie waren nicht Verfasser von Schriften oder gar Autoren. Das ist in besonderer Weise für Petrus zu bedenken, der ebensoviel Anlaß zur Abfassung von Gemeindebriefen und ähnliche Voraussetzungen zur Rezeption seiner Schreiben wie Paulus gehabt hätte. D.araus ergibt sich erstens, daß es in keiner Weise notwendig oder selbstverständlich für die urchristlichen Missionare der ersten Generation war, sich ausführlich schriftlich an die Gemeinden zu wenden. Zweitens werden wir darauf hingewiesen, daß Paulus eben dies getan hat. Damit sind wir zunächst historisch an Paulus als Verfasser verwiesen. 13 neutestamentliche Briefe haben den Präskripten nach Paulus zum Verfasser. Die historisch-kritische Analyse hat mit großer Wahrscheinlichkeit sechs der 13 Briefe als deuteropaulinische Schreiben dem Verfasser Paulus selbst abgesprochen. Sieben der Briefe, die Paulus als Verfasser angeben, betrachten wir also als orthonym, sechs dagegen als deutero- oder pseudonym. Die entsprechenden Briefanfänge und -schlüsse lauten: Röm 1,1: Paulus, Knecht J esu Christi ... Paulus, berufener Apostel Jesu Christi... und Sosthenes der 1 Kor 1,1: Bruder ... 1 Kor 16,21: Der Gruß [ist] von meiner Hand, des Paulus. 2 Kor 1,1: Paulus, Apostel Christi J esu ... und Timotheus der Bruder ... Gal1,1: Paulus, Apostel... durch Jesus Christus ... , und alle Brüder, die bei mir sind ... Phil1,1: Paulus und Timotheus, Knechte Christi Jesu ... 29
Das ist bemerkenswert, da die Paulusbriefe häufig autobiographische Reminiszenzen enthalten.
Paulus als Autor
141
Paulus und Silvanus und Timotheus ... Paulus, Gefangener Christi Jesu, und Timotheus der Bruder ... Phlm 19: Ich, Paulus, schreibe mit meiner eigenen Hand. Weitere Stellen, in denen Paulus sich selbst nennt, sind: 2 Kor 1.0,1; Gal 5,2; 1 Thess 2,18 Geweils "ich, Paulus ... ")3o. Aus den deuteropaulinischen Briefen ergibt sich nun auch für die Frage nach Paulus dem Autor eine positive Antwort. Die Briefe des Paulus werden rezipiert und regen zusätzlich eine eigene sekundäre Literatur an. Paulus muß also als Autor verstanden werden. Er war als der erste Verfasser von Briefen in der entstehenden christlichen Kirche zugleich ein erfolgreicher, das heißt rezipierter, und ein maßgeblicher Autor. Daß Paulus mit seinen Briefen Beachtung fand und Maßstäbe setzte, geht nicht nur aus den Paulusbriefen selbst (2 Kor 10,10) und aus der deutero- und tritopaulinischen Literatur hervor. Eines der deutlichsten expliziten neutestamentlichen Beispiele für Intertextualität gilt den Paulusbriefen: 2 Petr 3,15. Und beides, die Rezeption und die auktoriale Bedeutung, sind die konstitutiven Elemente des Autorenbegriffs. Wertet man diese Analyse für die Autorenfrage aus, dann wird Folgendes deutlich: - Am Anfang der christlichen Literatur steht Paulus, der nicht nur Verfasser von Gemeindebriefen, sondern historischer Autor ist. - Paulus hat literaturbildend gewirkt, und Paulusschüler haben pseudepigraphe Briefe unter dem fingierten Verfassernamen des Paulus geschrieben. - Die Sammlungen von Paulusbriefen bilden den Kern des entstehenden neutestamentlichen Kanons. Ich beleuchte noch einige weitere Aspekte. Paulus ist nach "Lukas" - Lukasevangelium und Apostelgeschichte umfassen 186 Nestle-Seiten - der produktivste kanonische Autor mit 100 Nestle-Seiten. Da mit weiteren verlorenen Gemeindeund Privatbriefen zu rechnen ist, darf man vermuten, daß er ursprünglich nicht nur der produktivste Autor der ersten christlichen Generation, sondern des gesamten Urchristentums war, gerade wenn man den ungewöhnlichen Umfang seiner großen Briefe bedenkt (Römerbrief: 32 Seiten; Erster Korintherbrief: 31 Seiten; Zweiter Korintherbrief: 20 Seiten)31. Angesichts der Lebens-, Arbeits- und Missionsumstände des Paulus wird diese schriftstellerische Leistung umso deutlicher. 1 Thess 1,1: Phlm 1:
30 V gl. dazu die Tabelle bei E.-M. BECKER, Schreiben und Verstehen. Paulinische Briefhermeneutik im Zweiten Korintherbrief, NET 4, Tübingen / Basel 2002, 149-155, bes. 151. 31 Hier ist allerdings Vorsicht angesichts möglicher Teilungen geboten. Zu den Teilungshypothesen zum 2 Kor vgl. zuletzt Becker, Schreiben (s. Anm. 30), 43-102, bes. 96.
142
Oda Wischmeyer
Paulus verbindet überall seine Argumentation mit seiner Person und mit seiner Biographie. Weite Passagen seiner Briefe sind in einem persönlichen Ich-Stil gehalten 32 • Hinzu treten narrativ gestaltete autobiographische Passagen, die uns erlauben, das Leben des Paulus aus seinen Briefen teilweise zu rekonstruieren. Paulus als sogenannter historischer Autor hat sich in seinen sieben Briefen ausführlich dargestellt. Das gilt sowohl für seine vorchristliche Zeit als auch für seine Zeit als Apostel Jesu Christi, das heißt als Missionar. Dies ist umso wichtiger, wenn man berücksichtigt, daß nicht nur die urchristliche, sondern auch die frühjüdische Literatur ganz überwiegend anonym oder pseudepigraph, in jedem Fall aber ohne deutlichen Bezug auf den Autor und seine Geschichte verfaßt wurde33 • Am Anfang der christlichen Literatur steht also ein namentlich bekannter und sich selbst ungewöhnlich deutlich darstellender Autor. Nun bezieht sich aber diese deutliche Selbstdarstellung des Paulus nicht mir auf seine äußere Vita, sondern auch auf seine innere Biographie34 • Er stellt sein Inneres geradezu rücksichtslos dar, offenbart seine Schwäche und Furcht (1 Kor 2,3) und stellt sich bloß, indem er sein rätselhaftes Leiden beschreibt, das ihm ja gerade als Schwäche vorgeworfen wird (2 Kor 12,6-10; GaI6,17; vgl. 2 Kor 4,10)35. Er offenbart seine Trauer (Röm 9,1-3; PhiI3,17ff) und seine Freude (PhiI4,10) ebenso wie seinen radikalen Eifer (Gal 1,8f) und seine Liebe zu Christus (phil 1,21f) und zu den Gemeinden (2 Kor 6,11-13), seine Gebete (2 Kor 12,8) wie seine Offenbarungen (2 Kor 12,1-10). Über Paulus als Autor läßt sich bisher Folgendes sagen: Am Anfang der christlichen Literatur steht ein produktiver Autor, der sein Inneres, seine ganze Person in ungewöhnlicher" Weise offenlegt und seine Adressaten an seiner Person anteilhaben läßt. Paulus ist ein individueller Autor, der seine Individualität mit seiner Autorenschaft verbindet.
4 Paulus als Schriftsteller Ein literarischer Autor läßt sich von den Gattungen her erfassen, in denen er schreibt. Paulus als Autor schreibt nur in einer einzigen Gattung, dem Brief36 . Wie Vgl. dazu ebd., 232-234. Ausnahmen: Jesus Sirach und sein Enkel, Philo, Josephus. 34 V gl. dazu O. WISCHMEYER, Paul' s Religion: A Review of the Problem, in: Paul, Luke and the Greco-Roman World. FS A. J. M. Wedderburn, hg. v. A. Christophersen u. a., JSNTSS 217, Sheffield 2002, 74-93. 35 Vgl. dazu O. WISCHMEYER, 2 Kor 12,1-10. Ein autobiographischer Text des Paulus, in: Wischmeyer / Becker, Text (s. Anm. 28),29-42. 36 Vgl. dazu allgemein: Art. Der Brief und andere Textsorten im Grenzbereich der Literatur, in: H. L. ARNOLD / H. DETERING, Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 1996,357-364; J. GOLTZ, Art. Brief, RDLW 1, 1997,251-255; P. L. SCHMIDT u. a., Art. Brief, Der Neue Pauly 2, 32 33
Paulus als Autor
143
kam es zur Wahl dieser Gattung? Der Brief läßt sich als "ein (1) nicht-fiktionaler, (2) an eine explizit genannte bzw. angeredete Person (oder Mehrzahl von Personen) gerichteter, (3) nicht zur weiteren Veröffentlichung bestimmter Text beschreiben ... Für den offiziellen Brief gelten nur die Kriterien (1) und (2)."37 Die Gattung ist situations bezogen, adressaten bezogen , kommunikativ und in der Handhabung flexibel. Allerdings führen diese gattungsspezifischen Merkmale nicht einfach zu den umfangreichen Gemeindeschreiben des Paulus, sondern vielmehr zu den kurzen Gemeindeanschreiben wie dem Zweiten Johannesbrief. Alle authentischen Paulusbriefe sind erheblich länger als antike Privatbriefe und als offizielle Schreiben38 • Sie lassen sich äußerlich höchstens mit den philosophischen Lehrbriefen Epikurs, Ciceros und Senecas vergleichen, die allerdings rein literarischen Charakter haben 39 • Der berühmte Text 4 Q MMT (4 Q 394-399), wenn er denn eine Epistel gewesen sein mag, wäre ein formales Lehrschreiben, das an eine Einzelperson, nicht an eine Gemeinde gerichtet war40 • Wirkliche Vorbilder für die großen paulinischen Gemeindebriefe lassen sich nicht nachweisen. Der Autor Paulus nimmt also die geläufige Gattung Brief in einer innovativen und individuellen Weise in Anspruch und schafft damit eine neue literarische Textsorte, den christlichen Gemeindebrief, der von vornherein zum lauten Vorlesen in der jeweiligen Gemeindeversammlung und möglichst auch in Nachbargemeinden bestimmt war 41 • Diese neue Textsorte wird erfolgreiche Trägerin altchristlicher Gemeindeliteratur42 • Die Situation der Mission erforderte diese christlichen Gemeindebriefe nicht. Paulus hätte - wie schon gesagt - kurze Gemeindebriefe schreiben können, die der Nachrichtenübermittlung und der gegenseitigen Verbindung dienten. Daß er mit Sicherheit auch solche Briefe geschrieben hat, zeigt der Hinweis auf mögliche Empfehlungbriefe des Paulus für die Kollekte nach Jerusalem (1 Kor 16,3). Interessanterweise sind derartige Briefe nicht rezipiert worden 43 • Darüber hinaus hätte er 1997, 771-775; Klauck, Briefliteratur (s. Anm. 17); zuletzt Becker, Schreiben (s. Anm. 30), 46ff.123133. 37 Goltz, Brief (s. Anm. 36), 251. 38 Zu den Privatbriefen vgl. Klauck, Briefliteratur (s. Anm. 17), 71ff; zu den offiziellen Schreiben ebd.,80ff. 39 Ebd., 95ff. 40 Ebd., 192f. 41 Vgl. dazu Becker, Schreiben (s. Anm. 30), 54f. 42 Vgl. dazu W. A. LÖHR, Art. Brief, Lexikon der Antiken Christlichen Literatur, 32002, 131f. 43 Jedenfalls ist uns ein solcher Brief nicht erhalten. Denn auch der Philemonbrief trägt durchaus offizielle Züge und ist auch vom Umfang her nicht ganz kurz. Unter Umständen sind allerdings aktuelle Kurzbriefe in den uns überlieferten längeren Schreiben enthalten; vgl. dazu Becker, Schreiben (s. Anm. 30), 43-102, bes. 96 (tabelle): Der Brief B (7,5-16) wäre ein solcher Brief. Meine Ausführungen zu diesem Punkt gelten daher nur vorbehaltlich einer weiteren Prüfung der Beckerschen literarhistorischen Hypothese (vgl. ebd., 94).
144
Oda Wischmeyer
lehrhafte Traktate in unterschiedlichen Gattungen oder zusammenhängende Schriftauslegungen zu wichtigen Themen wie Eschatologie, Fragen gemeindlichen Lebens, Gesetz, Judentum usw. verfassen können, wie er sie aus der reichen frühjüdischen Literatur kannte und wie sie urchristliche Schriftsteller später schreiben sollten. Paulus dagegen war als Aut()r innovativ und schuf sich eine eigene Textsorte, die seinen schriftstellerischen Absichten entsprach. Nach Paulus als Autor zu fragen, heißt daher des näheren, nach Paulus als Schriftsteller zu fragen. Denn als Autor langer und formal wie inhaltlich anspruchsvoller Briefe ist Paulus Schriftsteller. Er konstituiert nicht-fiktionale Texte, das heißt er findet Schreibsituationen und nimmt sie wahr. Er entdeckt Themen. Er findet Begriffe. Er schafft grammatische, stilistische, semantische und argumentative Sprachzusammenhänge. Er ordnet diese zu Teiltexten, die den Umfang kleinerer Traktate erreichen können (1 Kor 15). Die Teiltexte verbindet er zu einem Gesamttext, eben dem Brief, der in eine kommunikative Situation hinein geschrieben wird. Daher muß gefragt werden: Wie konstituiert der Autor Paulus seine Texte 44 ? Diese Frage führt zunächst zu einer differenzierten Beschreibung der Einzelelemente, die den Gesamttext konstituieren. Diese Elemente lassen sich anhand der klassischen exegetischen Stil-, Formen- und Gattungstermini benennen45 • Ich füge einige weitere Beobachtungen hinzu. Paulus beantwortet in kleinen thematischen Abhandlungen Fragen der Gemeinden wie in 1 Kor 5f, die Themen für seine Ausführungen werden. Dabei muß er sich nicht dauernd auf die jeweilige Gemeinde beziehen, sondern kann Gemeindeanfragen zu grundsätzlichen theologischen Überlegungen ausweiten und andere Themen wie in 1 Kor 6,1-11 einbeziehen. Persönliche und auktoriale Zuwendung zur Gemeinde kennzeichnet besonders die paränetischen Passagen seiner Briefe (zum Beispiel Röm 12,1f), die er wieder von der Situationsgebundenheit lösen und thematisch verallgemeinern kann wie in Röm 13 und 14f. Oder er führt eigene Fragen einer Klärung zu wie in Röm 9-11. Er führt innere Halbdialoge wie mit Petrus (GaI2,14f), er rechtet mit konkurrierenden Missionaren (2 Kor 11,22f; 44 Vgl. dazu K. BRINKER, Linguistische Textanalyse, Grundlagen der Germanistik 29, Berlin 52001, pass.; Art. Textualität, in: Lewandowski, Wörterbuch 3, 1177f; Vertiefung bei R.-A. DE BEAUGRANDE / W. U. DRESSLER, Einführung in die Textlinguistik, Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 28, Tübingen 1981, 50-215. Beaugrande beschreibt die Textkonstitution mit den sieben bekannten Begriffen: Kohäsion - Kohärenz - Intentionalität und Akzeptabilität - Informativität - Situationalität - Intertextualität. Die Paulusbriefe anhand dieser zunächst textlinguistisch gemeinten Kriterien als Texte darzustellen, wäre eine lohnende Aufgabe, die ich hier nicht erfüllen kann. Ich beschränke mich auf einige literaturgeschichtliche Überlegungen. Dabei beziehe ich mich auf Becker, Schreiben (s. Anm. 30), 123-133 ("Das Briefeschreiben"), bes. 127ff ("Zur Produktion eines schriftlichen Textes"). 45 Vgl. dazu besonders K. BERGER, Formgeschichte des Neuen Testaments, Heidelberg 1984.
Paulus als Autor
145
Phil 3,18ft), wendet sich an Gott (Röm 11,33ft) und denkt, spricht und schreibt stets vor Christus (Röm 9,1-3). In die Argumentationsgänge, die auf die Gemeinden bezogen sind, fügt er autobiographische Passagen und Planungen ein46 • In 1 Kor 10; Gal 3 und 4; Röm 4; Röm 10 und 11 legt er die Schrift aus. Immer wieder verwendet er kleinere Traditionsstücke unterschiedlicher Art sowie Schriftzitate, die seinen Texten eine diachrone Tiefenstruktur geben (zum Beispiel 1 Kor 15,1t). Diese verschiedenen Elemente, die zum Teil distinkte Einzeltexte darstellen (etwa 1 Kor 13), ordnet der Autor Paulus nach einem internen Bauplan. Er konstituiert Brieftexte. Wie dies im einzelnen geschieht, ist für die Paulusbriefe noch nicht hinreichend untersucht worden. Hier können nur einige allgemeine Hinweise zum Thema gegeben werden. Bisher fragt die neutestamentliche Wissenschaft in zwei Richtungen: literarkritisch und historisch. Bei der Frage nach der Textkonstitution werden im Bereich der Exegese traditionell literarkritische Überlegungen angestellt: Sind die sieben orthonymen Paulusbriefe in ihrer uns vorliegenden Form ursprünglich einheitliche Textgebilde oder aber Kompilationen? Die Frage läßt sich zuspitzen: Haben wir überhaupt einen einheitlichen Text des Autors Paulus? Für diese Frage lassen sich jetzt die textwissenschaftlichen Überlegungen zu Kohärenz und Kohäsion von Texten, die auf der strukturell beschreibenden Ebene angestellt werden, hinzuziehen 47 • Die Frage nach kohärenten Paulustexten läßt sich am ehesten vom Römerbrief aus stellen, da allein der Römerbrief "allgemein als durchaus integrer Paulusbrief" gilt, "abgesehen einzig von Kapitel 16"48. Seit H. D. Betz' Aufsatz zum Galaterbrief von 1975 49 und G. A. Kennedys Buch von 198450 wird in diesem Zusammenhang bewußt die rhetorische Analyse herangezogen 51 • Die inventio und dispositio der Rede sind dem modernen Terminus der Textkonstitution durchaus zu vergleichen. Und in dieser Perspektive sind die rhetorischen Begriffe hilfreich für die Frage nach dem Aufbau der paulinischen Briefe im Sinne der Textproduktion und ihrer Beschreibung. Die kritische Frage diesem Neuansatz gegenüber lautet dann aber: Läßt sich Paulus als ein Autor verstehen, Röm 1,8ff; 15,19ff; 1 Kor 1,14-17; 16,1ff; 2 Kor pass.; Ga11,13ff; Phi13,5ff u. ö. V gl. dazu E.-M. BECKER, Was ist Kohärenz? Ein Beitrag zur Präzisierung eines exegetischen Leitkriteriums, ZNW 94, 2003,97-121. 48 U. WILCKENS, Der Brief an die Römer. 1. Teilband: Röm 1-5, EKK 6/1, Zürich / Neukirchen-Vluyn 1978, 27. 49 H. D. BETZ, The Literary Composition and Function of Paul' s Letter to the Galatians, NTS 21, 1975,353-379. 50 G. A. KENNEDY, New Testament Interpretation Through Rhetorical Criticism, Chapel Hill 1984. 51 Vgl. dazu D. F. WATSON, Rhetorical Criticism of the Pauline Episdes since 1975, Currents in Research. Biblical Studies 3,1995,219-248; vgl. auch Klauck, Briefliteratur (5. Anm. 17), 176ff. 46
47
146
Oda Wischmeyer
der bewußt die rhetorische dispositio verwendet, oder folgt der Autor Paulus lediglich einigen allgemeinen Grundstrukturen von Textkonstitution, die die antiken Rhetorikhandbücher ihrerseits erhoben, ausgearbeitet und gelehrt haben? Ich neige mit H.-J. Klauck zur zweiten Annahme. Denn so deutlich Paulus als literarischer Autor in Erscheinung tritt, so wenig tritt er als geschulter Rhetor auf, besonders wenn man das Urteil der korinthischen Gemeinde ernstnimmt:. Ai. ETTLOtOAal. flEV ... ßapE'iaL KaI. loxupaL .. 6 AOYOC; E~ou8EVT]flEVOC; (2 Kor 10,10). Die Rhetorik aber bezieht sich eben auf die mündliche Rede in der ÖffentlichkeitS2 . Sie läßt sich nur bedingt auf Texte übertragen. Diese Differenz zwischen mündlicher und brieflicher Rede, die Cicero beschworen hat S3 , wird von diesem korinthischen Votum ja gerade gestützt und von Paulus selbst bestätigt: ~A8ov ou Ka8' iJ1TEPOX~V AOYOU (1 Kor 2,1). Der Rekurs auf Paulus als Autor führt also von e-iner überzogenen rhetorischen Analyse der paulinischen Briefe sowie von einer unkritischen Anwendung "persuasiver Kommunikation"S4 in der sogenannten Neuen Rhetorik fort und öffnet statt dessen die Frage nach der Textkonstitution durch den Autor neu. Genauer formuliert: Die Frage nach Paulus als Autor ist zugleich die Frage nach dem inneren Bauplan und der inneren Dynamik seiner Briefe. Dabei können geläufige Muster der antiken Rhetoriklehre durchaus vorausgesetzt bzw. im Text aufgewiesen werden. Der Autor als Textkonstituent muß von seiner produktiven Seite her in den Blick genommen werden. Paulus als Autor größerer literarischer Textzusammenhänge erschließt sich damit neu von seiner Produktivität nicht nur äußerer, sondern vor allem innerer Art. Er ist also nicht nur im formalen Sinne Autor als Textproduzent, sondern Autor im literarischen Sinn. 5 Paulus als auctor
Die Rhetorik ist, wie schon gesehen, noch in einem anderen Aspekt für Paulus als Autor von Bedeutung, und zwar in der Vorstellung des Verfassers als des auctors, das heißt von seiner Autorität her. Wie verhält es sich mit Paulus als auctor? Zur Frage der Autorisierung hat sich Paulus in der superscriptio der Briefpräskripte unterschiedlich geäußert, wenn auch alle echten Paulusbriefe mit dem Verfassernamen ITauAoc; beginnen. Den Ersten Thessalonicherbrief eröffnet er mit der bloßen Nennung seines Namens. Im Philipperbrief führt er sich selbst als "Knecht Christi Jesu" ein, im Philemonbrief als "Gefangener Christi Jesu". Der beiden Korintherbriefe dagegen enthalten die Selbstbezeichnung IXiTOO'WAOC; Xpw'Wu' ITJoou.
V gl. Klauck, Briefliteratur (s. Anrn. 17), 167. Cicero, Farn IX 21,1. 54 Klauck, a.a.O. (s. Anrn. 17), 169.
52
53
Paulus als Autor
147
Zu "Apostel" tritt beide Male die primäre Autorisierung: "durch Gottes Willen", im Ersten Korintherbrief zusätzlich das Adjektiv KArreO