41 J"I
Geschichte - Politik - Philosophie
Festschrift für Willem van Reijen zum 65. Geburtstag
Herausgegeben von Ber...
15 downloads
1298 Views
44MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
41 J"I
Geschichte - Politik - Philosophie
Festschrift für Willem van Reijen zum 65. Geburtstag
Herausgegeben von Bert van den Brink, Marcus Düwell, Herman van Doorn und Wolfgang Eßbach
Wilhe1m Fink Verlag Wilhelm
Bibliografische Information Der Deurschen Bibliothek Die Deulsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deulschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internel über ~abrufbar.
Das \\ierk einschließlich aller seiner Teile iSI urheberrechdich geschützt. Jede Vern'ertung außcrhalb der engen Grenzen des Urheberrechrsgesetzes iSI ohne Zustimmung des Verlages unzulissig und strafbar. Das gih insbesondere für Verviclfaltigungen, übcrsttzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in dekuonischen S)'slemen.
ISB 3-7705-3880-3 o 2(0) Wilhclm Fink Verlag, München Einbandgeslaltung: E\'el)'n Zieglcr, München Her5leUung: Fcrdinand Schöningh GmbH, Padcrborn
Inhaltsverzeichnis 7
VorwOrt
J Geschichte
Keimpe Algrn
Vi/tU philoJophio dlix. Zum Verhältnis von Philosophie und Politik bei Cicero
11
Herta Nagl-Docekal und Ludwig Nagl Augustilluslektüren im Kontext der Gegenwansphilosophie
24
Ria van der Lecq Thonuls von Aquin: Geschichte, Philosophie und Politik
39
Henning Ottmann Was ist neu im Denken Machiavellis?
48
Theo Verbeek ..Göttliche Verwaltung", Spinoza über Demokratie und Theokratie
60
11 Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts Ton van den Beld Der Philosoph Masaryk: Zwischen Lilxralismus und Kommunitarismus
7t
Bernd Stiegler Profane Erleuchtung als photographische Belichtung. ßildordnungen in der Berliner Kindheit um Neunzehnhundert
83
Rob van Gerwen Hauch auf dem Spiegel
96
Uwe Sleiner Philosophische Um- und Abwege. Aus dem Schwarzwald über Heidelberg nach Paris: Hcidcgger, i\hx Weber, Benjamin
106
Rolf Wiggershaus Was ist deutsch? Was iSI normal? Anrwonversuche der Frankfurter Schule
117
6
InhaJlsverzeichnis
Wolfll"ng Eßbach Subversion. Kritik und Korrektur als Theorie-Praxis-Modelle
129
Hermann Schwengel Von Luhmann zu Hege!. Zum Wandel politischer Konstellationen
138
Gerard Raulet Demokratie, Republikanismus, Multikulturalismus. Zur Problematik der französischen Cüo}"cnnetC:
146
Ben van den Brink Politische Philosophie und Geschichte. Plädoyer für eine aspektivische Flexibilität des politischen Denkens
155
111 Aktuelle Debatten Wilhelm Berger Gibt es eine politische Ethik in der technologischen Zivilisation?
167
Marcus Düwell Naturbeherrschung und Versöhnung. Probleme einer philosophischen Reflexion auf das Verhältnis von atur, Technik und Politik
179
Gunzelin Schmid Noerr Was hilft die Ethik bei der Einschätzung der Technik? Zur Legitimität der moralischen Fragen nach dem Allgemeinwohl
191
Jan Bergsrra und Albert Visser Heilserwartung in der Informatik
204
Jan Hein Hoogsrad The revolution shou1d be te1evised
217
Norben Bolz Warum es intelligent ist, nett zu sein
225
Raimar Zons Ruby Tuesday
235
Herman van Doorn Philosophie und PholOgraphie oder Triumph des Bildes?
246
Kurzbiographie und Bibliographie Willem van Reijens
255
Die Autoren
265
Personenregister
267
Vorwort
"Die Frage nach Versöhnung, Glück und Heil ist die Folie, vor der sich in der Philosophie, von Anfang an, die Frage nach der Wahrheit artikuliert.'
Jenseits der "binären Klarheit des animus" (CA 47): Lyotards Augustinusiektüre Ein weiteres wichtiges Dokument dafUr, daß in der Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts das Interesse an Augustinus anhältJ Das Resultat ist theokratisch: "dies war weder Demokratie, noch Aristokratie, noch Monarchie, sondern Theokr3tie".16 Dafür gibt es nach Spinoza folgende Gründe: 1) ein Tempel soll gebaut werden, wie ein Palast für den Souverän; 2) der Hohe Priester ist Interpret des Gesetzes; 3) das Land wird aufgeteilt zwischen den Stämmen Israels; 4) Josua erhält das Recht, Gott zu
10 11
12 lJ
14
IS 16
TIP, xvii, Gebhardt 111, $.206; siehe 2. Mase 19.8. TIP, v, Gebhardt 111,75; siehe Letiathon, xxxvi (Hobbes, English Works, ed. Moles+ worth, 111, $. 421-422). TIP, xvii, Gcbhardt 111, S. 206-207. TrP, xvii, Gebhardt 111, $. 207. TIP, xvii, Gebhardl 111, $. 207 (vcrweisend nach 5. Mose 5:22 and 18:15-16). TIP, xvii, Gebhardl 111, $. 208. TrP, xvii, Gcbhardt 11I. S. 208; cf. 111,211.
64
Geschichte
befragen; 5) endlich sollen alle Männer zwischen zwanzig und sechzig Waffen tragen und Treue schwören, nicht ihrem Hauptmann oder dem Priester, sondern GouY Was macht diese Verfassung theokratischer als die Regierung von Mose? Nicht der Tempel und der Eid der Soldaten, denn gleiches könnte man sich leicht unter Mose vorstellen. Außer der Teilung des Landes ist das einzig Neue die Tatsache, daß d.ie weltliche und die geistige Macht auf zwei Instanzen verteilt sind, die aber, weil heide unter dem göttlichen Gesetz stehen, aufeinander angewiesen sind. 18 Der Staat ist also nie Gesetzgeber, sondern allein Dic+ oer des einmal gegebenen Gesetzes. Andrerseits kann auch keiner das Gesetz usurpieren, weil der Staat von einem delikaten Spiel von cbuk! ond bolonct! gekennzeichnet ist. Spinozas Vorstellung hat allerdings mythische Züge. Sein Haupuext ist ja 4. Mose 27:21: "Und er 00sua1 soll treten vor Eleazar, den Priester, der soll für ihn mit deo heiligen Losen den Herrn befragen. Nach dessen Befehl sollen aus- und einziehen er und alle Israeliten mit ihm und die gotnze Gemeinde."19 Hobbcs interpretiert diesen Text ..theokratisch" in dem Sinne, daß Josua dem Priester im strikten Sinne untergeordnet sei - Eleazar wäre also der eigentliche Verwalter (zwar im Namen Gottes, aber dasselbe gilt auch für Mose).20 Spinoza dagegen betont Josuas relative Unabhängigkeit. Josua sei "Fürst" (pn"ncepJ).2l Er habe das Recht, Gou zu befragen, Gehorsam zu erzwingen und Kriege zu führen - alles gemeinsam mit den Priestern und den anderen Fürsten, also nicht wie ein Souvcrän. Aber seinerseits könne der Hohe Priester GOtt nur dann befragen, wenn er dazu von der weltlichen Führung beauftragt wird - wie Josua war er also Dicner des Gesetzes. 22 Endlich habe die wirkliche Macht das Volk, Das ganze Volk sollte jedes siebte Jahr zusammenkommen an einem gewissen Platz. um sich vom Priester über das Gesetz unterrichten zu lassen. Auch war jedermann verpflichtet, das Buch des Gesetzes andächtig zu lesen und wieder zu lesen (5. Mose 31:9, usw., und 6:7). Wenn die Fürsten also vom Volke respektiert werden wollten, dann mußlen sie, in ihrem eigenen Inu:resse, regieren nach dem Gesetz, das ja jedermann kannte. 23 Das Volk wäre sich selbst sein Gesetz - und sei es nur, weil es in Freiheit den göttlichen Willen als Gesetz umarmt hatte. Auch diese Verfassung mutet daher
17
18
19 21)
21 22 2J
TIP, xvii, Gebhardl 11I, S. 208-209. Die Teilung des Landes erzeugte eine föderale Struktur, die "theokratisch" sei, da ein Bund keiner höheren irdischen Macht unterworfen ist (es ist nur in dieser Hinsicht, daß die Niederlande als Ganzes ftir Spinoza eine "Theokratie" waren). TIP, xvii, Gebhardt 111, S. 208. LtI:iathnn, 111, xl (English Warks 111, S. 468-469). Adn. in TIP, xxxvii, Gebhardt 11I, S. 265. TIP, xvii, Gebhardt 11I, S. 209. Für diese Behauptung, die für die Imerpretation der Verfassung ungeheuer wichtig ist, linde ich keinen biblischen Beleg. TIP, xvii, Gebhardt 111, S. 212.
Verbeek, "Göttliche Verwaltung"
65
"demokratisch" an, besonders weil aUe gleich waren unter dem Gesetz. Und tatsächlich, wenn Spinoza später auf die Episode der "Richter" verweist, spricht er davon als von einer, "in det das Volk regiere"?' Spinoza sieht diese Episode also als ein zweites demokratisches Experiment, das aber, anders als das erste, für einige Zeit wenigstens gelingt, nicht nur weil es jetzt ein geschriebenes und unveränderliches Gesetz gibt (denn das macht es für das Volk unnötig, sich selbst ein Gesetz zu geben), sondern auch weil es eine Teilung der Mächte gibt (denn sie macht es unmöglich, das Gesetz zu IISNrpienn). Theokratie wäre also eine An republikanisch+konstitutioneller Verfassung, die grundsätzlich "demokratisch" wäre, weil sie sich auf Freiheit und Gleichheit stützt.
II Die posltlve Beziehung zwischen Theokratie und Demokratie soll dennoch nicht übertrieben werden. Denn nach Spinoza ist in jeder Verfassung das Volk faktisch die mächtigste Instanz. Schließlich sei ja das Recht des Souveräns (iNS SI/"'I/Iot POfUfofis) nichts anderes als "natürliches Recht, wie es von der Macht, nicht eines jeden Individuums, aber der Menge des Volkes, einguchriinkf wird".2s Das Paradoxon jeder Staatsbildung ist ja, daß der Staat nur zustande kommen kann, wenn das Volk sich dem Willen eines Mächtigeren unterwirft, aber daß diese Unterwerfung an sich eine Einheit erzeugt, die dem Volk mehr Macht gibt als dem Souverän. Keine Regierung kann also völlig absolut sein wenn das Volk die ~hcht eines Souveräns nicht länger fürchtet (weil es seine Freiheit, se;ne Religicn oder seine 2.lten Sitten für wichtiger häl~), dann hat er keine. 26 Die Begrenzung der souveränen Macht wird nur in der "Demokratie" aufgehoben, da in ihr das Volk selber Souverän ist. Sie wäre also die einzige "völlig absolutc" (omnino oIHOINIn) Verfassung. 27 Angenommen, daß Spinoza diese MaximaJisicrung von Macht für wünschenswert (oder "natürlich'') hält (weil gegründet im \'(fesen "Goltes"), dann wäre die einzige wichtige Frage, ob eine "demokratische" Verfassung auch möglich sei. Das scheint tatsächlich der Fall zu sein: Ohne das natürliche Recht zu vereinbaren, ist es möglich eine Gemeinschaft zu formen und einen Venrag in guter Treue zu behahen, wenn nur jedermann alle seine Macht der Gemeinschaft übertrage, die also als einzige das souveräne natürliche Recht über alles behalte 1.../ Ein solches Recht der Gemeinschaft wird ,Demokratie' genanOl, die man also definiere als eine einheitliche Versammlung von Menschen, die gemeinsam das souveräne Rechl besitzen über alles, das in ihrer Macht sei. 28 TfP, xviii, Gebhardt JII. S. 224. 2$ TP, iii, p. U TIP, xvii, Ge-bhardt 111, S. 202. Es fallt schwer, hier nicht an ~bchiaveJli zu denken (Principt, Kap. 19; DiJ(Orsi, 111, $. 6). 27 TP,viii.§3. 28 TIP, xvi, Gebhardt 111, S. 193. 24
66
Geschichte
Demokratie ware also möglich in der Gestalt eines freiwillig eingegangenen Vertrags - und weil dieser eine Möglichkeit der Narur ist (sie wird ja auch pdvatrechdich realisiert), wäre also auch die Demokratie prinzipiell rnöglich. 29 Aber das scheint zu implizieren, daß jedes im Namen eines solchen Kollektivs ausgeübte Recht prinzipiell "demokratisch" wäre, ungeachtet der Frage, ob das Kollektiv .,demokrat.isch", "aristokratisch" oder sogar "tyrannisch" verwaltet wird. Daß es hier ein Problem gibt, wird deutlich, wenn man die relevanten Passagen des Politüchm Traktais hinzuzieht. Nicht nur hejßt es don, daß "Demokratie" diejenige Verfassung ist, worin aUe tatsächlich regimn. Zudem wird die Übenragung individuelJer Rechte, die nach der Definition des ThtologiJclJ.poliliJdJtn TraklalJ schon konstitutiv für die "Demokratie" wäre, als vorangehend an die eigentliche Verfassungswahl vorgestellt - zuerst kommt das Gemeinwesen zustande, dann überlegt man sich, in welcher \'(leise man verwaltet wird. JO Wäre also, wie im Theologisch-politischen Traktat, "Demokratie" jede Ausübung kollektiver Rechte, dann wäre jede Regierung "demokratisch". Das scheint auch wirklich die Idee Spinozas zu sein: Hätten sie [das Volk, die Bürger] irgendwelches Recht fur sich selbst behalten wollen, dann hätten sie dazu auch das Nötige tun sollen. Aber weil solches nicht möglich ist ohne die Teilung, und deswegen die Vernichtung, des Staates, unterwarfen sie sich völlig dem Willen des Souveräns. 31 Spinozas Auffassung ist also, daß, weil iedc nicht-demokratische (monarchische oder aristokratische) Regierung sich nur dann in Frieden und Einheit bewähre, wenn dem Volke möglkhst viel Freiheit gelassen wird, jede Verfassung faktisch "demokratisch" ist. Wahrscheinlich gibt es hier eine polemische Spitze entweder gegen Hobbes oder gegen Verteidiger der Demokratie, wie Franc;ois van den Enden (1602_1674).32 Das hieße aber, daß die Frage für Spinoza nicht lautet, ob Demokratie wünschenswert oder möglich ist, sondern ob Friede und Einheit in einer Demokratie leichter gefahrdet werden als in einer Monarchie und Aristokratie.
29
JO 31 32
t'tbnche lesen hier eine Verteidigung der Vcnragstheorie (und sehen darin einen "(liderspruch mit dem PotitiJ(hen Traktat). Das scheim mir unzutreffend, nicht nur weil in diesem Passus nichts mehr als die prinzipielle Möglichkeit eines Vertrags angesprochen wird, sondern auch weil die Verbindlichkeit des Vertrags. wenn es eine solche gibt, nicht auf dem Vertrag als solchem, wohl aber auf dem Imeresse beruht, das die Kontraktanten daran haben, am Vertrag festzuhahen. TP, ii. § 13-17; cf. Eth. IV, prop. 35, cor. 1-2. Für die Definition von "Demokratie" siehe TP. xi, § 1. TIP, xvi. Gebhard[ 111, S. 193. Über Van den Enden siehe ie[zt Israel, Rodifol Enlightennltnt. S. 175-184.
Verbeek, "Göttliche Verwaltung"
67
III Nach Spinoza ist dcr Zweck des Staates, den ,,\Vahnsinn der Lust zu vermeiden und die Menschen innerhalb der Grenzen der Vernunft zu behalten".33 Dies soll natürlich nur im kollektiven Sinne verstanden werden - Zweck des Staates sei es nicht, aus jedermann einen Philosophen zu machen, sondern eine Umwelt zu schaffen, in der die meisten "vernünftig" handeln (das heißt in Frieden zusammen leben). Zunächst soll diese praktische "Vernünftigkeit" wesemlkh unvernünftige Motive haben und allein von dcr Macht des Souveräns (bzw. der Furcht der Untertanen) abhängen. Jot Macht und Furcht allein genügen aber njemals. Im Gegenteil, die Leute gehorchen am besten, wenn sie die Idee haben, "frei" zu sein. JS Diese Idee vermag nur subjektiv zu sein - einzig wichtig sei, daß die Regel, die sich jeder "freiwiHig" als Norm auferlegt, auf dasselbe abzielt: nämljch auf Friede und Einheit. Das Beispiel der Juden zeigt, wie wichtig in dieser Hinsicht die Reljgion sein kann. Denn Mose gab seinem Volke eine Religion, damit es seine Pflicht nicht nur aus Furcht, sondern aus Zuneigung (dttlOlio) erfüllt. 36 Zwar gründet devotio auf Einbildungskraft, kann also nie wahre Freiheit erzeugen, macht aber den Menschen weniger abhängigY Jemand, der seine Pflicht aus Liebe zu Gon tut, wäre aJso "freier" als jemand, der dasselbe aus Furcht tut. Endlich, da man nicht annehmen kann, daß eines Tages alle r\'lenschen vernünftig sein werden - jedenfalls gibt es bei Spinoza nicht den geringsten Hinweis darauf -, müssen wir zu dem Schluß kommen, daß Demokratie als sich auf Freiheit und Gleichheit stützende Verfassung nur in ihrer "theokratischen" Gestalt prinzipiell bestehen kann. Das macht die Frage, warum ;heokra~je nicht länger möglich sei (wie Spirioza versichert), übera;.as wichtlg.
IV Am Anfang des 18. Kapitels des TbeologiJ(lJ.politisrlJen Traktats behauptet Spinoza, daß tJI/ sielJ die theokratische Verfassung der Juden dauerhaft hätte fortbestehen können J8 - Ursache ihres Untergangs wäre also nicht das theokratische Prinzip als solches, sondcrn entweder die konkrcte \X!cise, wie es von Mose ausgearbeitet wurde, oder die historische Lage des Volkes Israels. ßeides
JJ J4
JS }6
.H
J.8
TTP, xvi, Gebhardllll, S. 194. TI'P, iii, Gebhardt 111,48; cf. TP, v, §2; Eth. IV, prop. 59, Gebhardt 11, S. 254-255. TP, x, §8; über die Asymmetrie von Furcht und Hoffnung siehe TTP, v, Gebhardt 111, S. 74. TTP. v, Gcbhardt 111,75; siehe auch 111, 77, 78; vi, Gebhardt IIl, 90; xii, Gebhardt 111, S. 146. Eth. 111, aff. def. 10, Gebhardt 11, S. 193. 'n'p, xviii, Gebhardt 111, S. 221.
68
Geschichte
scheint der Fall zu sein. Denn einerseits betont Spinoza ausdrücklich die Tatsache, daß dje konstitutionelle Lage der Priester verfehlt sei (weil ihre Privi1cgi. co sie verhaßt machten); andrerseits führt er aus, daß Theokratie jetzt unmöglich sei. 39 Nicht allein sei sie nur für eine geschlossene Gesellschaft geeignet, sondern Gon hätte auch "durch seine Jünger" offenbart, daß "sein Vertrag nidit ist festgelegt auf steinernen Tafeln, aber vom Geist Goues in des Menschen Herzen geschrieben".40 Das Argument über die Priester ist komplex und kann dahingestellt bleiben - offensichtlich handelt es sich um einen Vcrfassungsfchler, der korrigiert werden könnte. Wichtiger sind die beiden anderen Argumente. Das erste ist leicht zu verstehen. Das Fundament einer Theokratie ist eine Offenbarungsre1igion, das heißt eine Erzeugung der Einbildungskraft. Und da diese veränderlich ist, könne die Religion nur in ihrer Reinheit erhalten werden, wenn die Gläubigen nicht fortwährend fremden Vo'Csrellur'lgen au~geset7.t sind. Der zweite Grund aber bezieht sich auf die Natur des Christentums, dabei handelt es sich um eine Anspielung auf den Zwtiten Korintberbritj: Ihr seid unser Brief in unser Herz geschrieben, erkannt und gelesen von aUen Menschen. Ist doch offenbar geworden, daß ihr ein Brief Christi seid, durch unsern Dienst zubereitet, geschrieben nicht mit Time, sondern mit dem Geist des lebendigen Goues, nicht auf steinerne Tafeln, sondern auf fleischerne Tafeln, nämlich eure Herun. (2 Kor. 3:2-3).
Was man mit diesem Text hier machen kann - Spinoza zitiert ihn auch um die Idee eines Kanons zurückzuweisen 4l -, läßt sich wahrscheinlich auf zwei oder drei Punkte reduzieren: 1) das Won des christlichen Gottes ("Liebet euch') hat nicht die Form eines Gmtzu (es ist nicht auf steinerne Tafeln geschrieben), sondern es ist ein sentimentalülhu Prinzip (aber im Herzen); 2) es beansprucht universale Gültigkeit (es wird von allen Men1Chen gelesen) oder aber 3) es ist an sich irrelevant (es wird von aUen schon gekonnt). A.lso, zum erSten, wäre der Wille des christlichen Gottes kein Gesetz (im Sinne eines Handlungsgebors), sondern ein Gesinnungsgebot. 42 Um Gesetz zu werden, muß man es "interpretieren", und dafür braucht man einen irdischen Souverän, den es in einer Theokratie grundsätzlich nkht gibt. Eine christliche Theokratie wäre demnach eine Verfassung ohne Gesetz. Dann gälte Gones Wille für alle Menschen, oder aber er wäre an sich trivial - jedenfalls könnte GOtt demnach nicht Souverän einer spezifischen Nation sein. Eine christliche Theokratie wäre somit undenk~ bar.
39 TTP. xvii, Gebhudt 111, S. 218. ~ TTP, xviii, Gebhardt 111, S. 221. 41 TTP, xii, Gebhardt III, S. 162. 42 Spinozas Argument scheint dasselbe zu sein wie Kant.s; cf. Grundltgul/g zur Mttaphyile der Sillen, Akademie-Ausgabe, IV, S. 399; Kdfile der praletiSlhen Vernunft, V, S. 83-84; Religiol/ il/nerhalb der Grel/zen der rtinen Vernunft, VI, S. 182.
Verbeek, ..Göttliche Verwaltung"
69
Macht das Christentum auch die Demokratie unmöglich? Vom Standpunkt Spinozas scheint dies allerdings der Fall zu sein, da das Christentum eine theo~ logische und sektarische Religion ist - "theologisch", weil sie nicht aus Handlungsvorschriften, sondern aus theoretischen Sätzen besteht, für die Wahrheit beansprucht wird; "sektarisch", weil ihre "Dokumente" (die Heilige Schrift) unzählige Interpretationen zulassen. Eine demokratische Verfassung würde also gewiß zur Diktatur einer der christlichen Sekten führen. 43
v Spinoza zeigt also das Folgende: Falls es für das Fortbestehen des Staates notwendig ist, daß die Bürger das Gemeinwesen als höchstes Ziel ihres Handeins wählen, dann müßten sie sich entweder einem starken Souverän unterwerfen, oder aber sehr spezifische Handlungsmaximen miteinander teilen. Das letztere konnte Spinoza sich nur in Form einer nationalen Religion vorstellen - der Gedanke Rousseaus, das Gemeinwesen könne als solches Gegenstand leidenschaftl.icher - quasi reljgiöscr - Gefühle sein, ist ihm noch fremd. Eine Demokratie wäre also unmöglich und ein starker Souverän notwendig. Die Tatsache, daß wir heute einerseits demokratisch regiert werden, ohne eine gemeinschaftliche Religion zu haben, während andererseits der Rousseausche Nationalismus seine Glaubwürdigkeit völ.lig eingebüßt hat, könnte der wichtigste Grund sein, dieses Problem bei Spinoza zu studieren.
4}
J\hn möchte an England (Cromwell) oder auch an Florenz (Savonarola) denken.
II Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
Ton \'an den Beld
Der Philosoph Masaryk: Zwischen Liberalismus und Kommunitarismus 1. Einleitung Kürzlich stellte der tschechische Präsiden! Väclav Havel einen treffenden Ver· gleich an. Er verglich das Schicksal der intellektuellen Erbschaft des Philosophen und ersten, großen Präsidenten der Tschechoslowakei, Thomas G. MasaTyk (1850-1937), mit dem wechselhaften Schicksal seiner Statuen. I Zu Zeiten von f\lasar}'ks Tod konnte man sie im ganzen Land antreffen. Während der Besetzung dt.!rch die Nazis ab September 1938 versch'vanden dil'" Statuen au!': dem Blickfeld, um einige Jahre später, nach der deutschen Niederlage, wieder zu erscheinen. Die kommunjstische Machtergreifung im Jahre 1948 brachte eine weitere Veränderung. Ich kann mich nicht erinnern, während meines Studiums in Prag (1963--1964) irgendeine Masaryk-Statue gesehen zu haben, weder inncrhalb noch außerhalb der Goldenen Stadt. Das einzige was ich gesehen habe, war ein Sockel in der Stadt meiner Freundin, von dem man sagte, daß er zu besseren Zeiten eine Statuc Masaryks getragen habc. Der Prager Frühling (1968) war zu kurz, um daran viel zu ändern. Erst nach der friedlichen Revolution von 1989 erschien f\'lllsar}'k wieder auf tschechischen Straßen und Plätzen. Die öffentliche Achtung und auch die Zugänglichkeit von Masar)'ks Ideenreichtum unterlag vergleichbaren Schwankungen. Obgleich die Flut seiner eigenen Veröffentlichungen nach seiner Wahl zum Präsidenten (1918) langsam verebbte, entstand eine Vielzahl von Studien über sein imellekrueUes Werk. 2 Je-
2
In sdn~m VON'Ort \"on AI:ain Soubigous großartig~r Biogr:aphie \'00 Masar)'k, Tho· IWas MasaryJ!.. Paris, 2002. Sieh~:t. ß. Masaryks ßibliographi~ in Teil IV von O. A. Funda. TINmfal Garril,lIr Malilryk. Still philolDphiJrhtl, rrligi;m IIl1d PDlitilfhrJ Dtdlll. ßero 1978. Bei der Gdegeoheil von Masar)'ks 80. G~buftstag wurde zum ßeispid ein~ F~slSchfift in z""'ei Bin-
72
Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
doch änderte sich auch dieser Tendenz durch die deutsche Besetzung. Und wiederum wurde die Wiederbelebung von Masaryks Studien nach dem Krieg durch die politischen Ereignisse des Jahres 1948 unterbrochen. Als die Nachfolger von unin an der Macht waren, war es kaum zu erwarten, daß sie die Ideen des Mannes propagieren würden, den Lenin selbst als seinen wichtigsten ideologischen Gegner beschrieben hatte. 3 Zur Zeit der Kommunisten konnte man u'cder an tschechischen Univccsitiit'en noch In anderen öffentlichen BiblJotheken \'(lerke von oder über Masaryk finden," Als ich an meiner Dissertation über die politische und soziale Phjlosophie Masar)'ks arbeitereS, gelang es mir, mit der Direktorin der Pager Universitii.t'sbibljothek in Kontakt zu kommen. Im Vertrauen berichtete sie mir, daß die Masaryk-Kollektion nicht zerstört, sondern "nur" vor der Öffentlichkeit weggesperrt worden sei. All dies wurde anders nach der friedLichen Revolution. Außer dem ständigen Strom neu herausgegebe. ner und übersetzter Werke Masaryks 6 erschienen auch zahlreiche Studien über ihn, entweder Monographien, Sammelbände oder Aufsätze - oft in Folge von Konferenzen oder Kolloquien - oder auch Zeitschriftenartikel. Jetzt werde ich dieser Flut von Veröffentlichungen einen neuen Aufsatz hinzufügen. Ich weiß, daß Willem an meinem "Helden" inreressiert ist. "Ich sollte mehr über diesen Mann wissen", gestand er mir während einer Umerhal· tung nach meiner Rückkehr von einer Masaryk-Konferenz, die kürzlich in Paris stattfand. Es war daher nicht schwer fur mich, ein passendes Thema fur diese Festschrift zu finden. Alle Themen, die die Herausgeber der Festschrift mir antrugen, konnten mit Masaryk in Beziehung gebracht werden. So hat er - was PoHtik und Geschichte angeht - eine wichtige Rolle bei den Versuchen gespielt, Österreich-Ungarn zu reformieren und seit 1914 sogar zu revolutionie· ren. Dabei wirkte er sowohl als Philosoph wie auch als Politiker. Während des Ersten Weltkriegs reiste er von den Vereinigten Staaten nach Rußland - dessen Philosophie und Kultur er besser kannte als jeder andere ausländische Sachyerständige -, um für die Unabhängigkeit des tschechoslowakischen Staates zu kämpfen. Er war in Moskau, als die bolschewistische Revolution ausbrach, und
J
•
) 6
den veröffentlicht. Herausgeber war B. Jakowenko (Bonn, 1930). Darin erschienen Beiträge unter anderem von L. Brunnschvicg, $. Bulgakov, B. eroce. H. Driesch, J. L. Hromadka und N. Lossky. O. Odlo"filik (Hrsg.), 1: G. MOJoryA:. HiJ Liftmfd WorA:, New York 1960, $. 4. Lenins Ansicht dürfte den Kenner von Muaryks großen Werken nicht überraschen: Dir phiIOJDphiJ(ht1l Il1Id sD'{jolo,giJ(htfl Cnl1ldlo,g," dll MOfXiu1IIIS, Wien, 1899. und RJisslo"d lI11d ENropO. ZNr nl/liuhtll Cmhithts- Nlltl FJli,giollSphilosophit, 2 Bände, Jena 1913. Von ideologisch belasteten regimefreundlichen Autoren einmal abgesehen. wie efWa F. Ne~äseks DoA:N",rllrJ 11 pr"Otilidoti 0 protli1lör"Otl1Ii politiu T. C. A-IoJorylw (Doh",tntr iibtr T. G. MOJoryv PolitiA:l/U" Jos VolA: N1Id di, Notio1l), Prag 1953. M. Macho\'ecs T.",al C. MOJoryA: (Prag, 1968) Vo'at eine Ausnahme und bejubelte den kurzlebigen Prager Frühling im Jahre 1968. Antonie \'an den Beld, H.",o"i!J. Tht Politirol o"J StHiol Philosopb:! Ij TbtI",os C. MOJoryA:. Den Haag und Paris. 1975. Auf tschechisch: SpiV T. C. Mosoryu, Prag, Masaryk Institut.
van den Beld, Der Philosoph Masaryk
73
arbeitete am Aufbau einer tschechoslowakischen Legion aus tschechischen und slowakischen Soldaten, die an der Ostfront aus der öSlerreichischen Armee desertiert und zu den Russen übergelaufen waren. Als Präsident der neu gegründeten tschechoslowakischen Republik benutzte er sein Wissen über Rußland lind den Marxismus, das er ja aus erster Hand besaß, um - hinter den Kulissen - den reformgesinnten sozialdemokratischen Flügel der starken sozialistischen Bewegung in seinem Land im Kampf gegen die revolutionären Bolschewisten zu unterstützen. Zum Schluß sei darauf venviesen, daß Masaryk - als ein ausgesprochener Gegner des tschechischen und slowakischen nationalen Chauvinismus - sehr zufrieden war, als im Jahre 1926 Vertreter der deutschsprachigen Minderheitspaneien an der tschechoslowakischen Regierung teilnahmen. 7 In meinem Beitrag werde ich jedoch nur am Rande auf Geschichte und Polir.ik eingehen. Ich habe vielmehr vor, relativ Außenstehenden - so wie WiIlem van Reijen - ein Bild von Masaryks politischer und sozialer Philosophie zu vermitteln, deren Aktualität, wie wir - vielleicht zu unserer Überraschung sehen werden, nicht bestritten werden kann. Dies werde ich tun, indem ich versuche, die Frage zu beannvorten, wo Masaryk in der Kontroverse zwischen Liberalen und Kommunitaristen eingeordnet werden kann. Der Leser, der mit der Kontroverse vertraut ist, wird hier die Stirn runzeln, denn das Thema scheint anachronistisch und überholt zu sein. Obwohl die Diskussion jedoch erSt Jahre nach Masaryks Tod aktuell wurde, ist sie sehr hilfreich, um seine politischen und sozialen Gedanken zu veranschaulichen. Außerdem gibt es keinen Grund, diese Diskussion als beendet anzusehen. 8 Das Vorgehen, das ich wählen werde, ist einfach und besteht nur aus zwei Schritten. Erst werde ich einige wichtige Themen der Kontoverse zwischen Kommunitaristen und Liberalisten kurz beschreiben. Danach werde ich versuchen, unsere Hauptfrage zu beantworten, wo J\hsar)'k zwischen den konfligierenden Gruppen positioniert werden kann.
-
2. Der Streit zwischen Liberalen und Kommunitaristen Um das komplexe Thema kurz, aber doch klar darstellen zu können, werde ich die kommunitaristische Kritik am modernen (anglo-amerikanischen) Liberatis1
,
Für DClails über Masaryks Leben siehe die in Anmerkung 1 genanOle Biographie von A. Soubigou. i\bn könnte darauf etwa kommen durch P. Rijpkemas Sltllt J>ujtrfionism and Ptrsona/ FrudolN (Diss. Universität Amsterdam, 1995), wo er das Konzept eines kommuniraristischen Liberalismus einführt, S. 77 ff. Aber SOg,lr Rijpkema häh die Diskussion nicht für abgeschlossen. In bezug auf die Bedeutung dieser Debatte siehe (trotz eini+ ger Vorbehalte) auch D. f\'!ilIer, "Communitarianism: Left, Right and Center", in: ders., CiliZtnJhip {wd Nalion{l/fdenlity, Cambridge, 2001, S. 97-109.
74
Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
mus in meinen Beitrag auf dessen hervorragenden Vertreter zuspitzen: John Jtawls. Außerdem werde ich mich auf dje Kritiken der Kommunitaristen I-IacInt}'re, Sande! und Taylor beschränken. 1 ur zwei Elemente aus Rawls' opus magnum, Eine Theode der Gerrrhligletit, werde ich auf diese Weise kritisch beleuchten. Das erste bezieht sich auf die anthropologischen Bedjngungen des Begriffs der Gerechtigkeit. Das zweite auf die Frage, ob die zwei Prinzipien der Gerechtigkeü akzeptabel sind. Die Wahl gende dieser heiden Themen Ist nicht zufalljg. Die Kritiken an beiden Punkten hängen miteinander zusammen, und außerdem ist es gerade das Bild, das sich überale (und Rawls) \'on der menschlichen Person machen, das die kommunüarischen Denker in ihrer .ntik an diesem Bild eint. 9
2.1 Kommunimristische Kritik an der liberalen Konzeption des menschlichen Subjekts Die Prinzipien der Gerechtigkeit in John Rawls' Theorie sind - wie wir wissen - Ergebnis eines Vertrags, den Menschen im sogenannten Urzustand hinter ei· nem Schleier des Nichtwissens geschlossen haben. 1o Obwohl diese Personen nicht in einer bestimmten Zeit situiert sind, sollen sie jeden von uns repräsentieren. Sie sind echte menschliche Subjekte, abzüglich einiger Merkmale. Sie sind zum Beispiel unwissend in bezug auf die Gesellschaft, der sie angehören, ihre gesellschaftliche und ökonomische Stellung, ihre Religion, ihr Geschlecht und ihre Hautfarbe. Sie kennen weder ihre besonderen Fähigkeiten und Behinderungen noch ihre Ziele, Werte und Lebenspläne. Einige basale \'('ene werden jedoch geteilt, zum Beispiel basale Freiheiten, Chancen, Einkommen, \,(/ohlstand und Selbstachtung. Außerdem sind sie rational, in dem Sinne, daß sie auf effektive Weise darüber diskutieren können, was sie wollen und wie sie das erreichen können. Sie haben kein besonderes Interesse aneinander, was jedoch nicht bedeutet, daß sie keinen Gerechtigkeitssinn besitzen, Die Informationen, über welche die Menschen im Urzustand \ferfügen, sind von allgemeiner Art. Sie kennen alle allgemeinen Tatsachen, die für die Wahl eines Prinzips der Gerechtigkeit von Bedeutung sind. Sie sind also vertraut mit allgemeinen Gesetzen und mit den Anwendungsverhältnissen, das bedeutet - kurz gesagt - die menschlichen Nöte unter Bedingungen von Knappheit und mangelndem AItruismus. 11 John Rawls macht sehr deutlich, daß seine Beschreibung des Urzu·
9 Siehe Miller, "Communilarianism", S. 101, .. Insofar as we clin describe (... ) communitarians liIS a group, whlilt uniles them are their 1••. 1 philosophical lIOIhropologies:' 10 Diese Prinzipien sind, um nur die wichtigslen zu nennen: Erstens sollte es gleiche Blisisfreiheiten für lilie geben, und zweitens sind nur die sozialen und ökonomischen ngleichheilen lIkzeplabel, die denjenigen GesellschaflSmilgliedern zugute kommen. die am schlechtesten geslellt sind. (D:u zweite iSI du sogenllnnte Differenzprinzip.) Siehe J. Kawis, Ei"t ThttJrit Jtr Ctrubtij,ktit. Frankfufl 2. M. 1975. S. 336-337. 11 Ibid., S. 14S-152, 159-174.
•
van den Beld, Der Philosoph Masaryk
75
stanCls als eine Interpretation des Menschen als freies und rationales Wesen zu verstehen ist. "Diese unsere Natur kommt zur Geltung, wenn wir gemäß den Grundsätzen handeln, die wir wählen würden, wenn djese unsere Nawr sich in den Bedingungen der Entscheidung ausdrückt."12 Eine wichtige Kritik der Kommunitaristen richtet sich auf genau diese Beschreibung der Charakteristika der menschlichen Person hinter dem Schleier des Nichtwissens. Sie halten diese Beschreibung für eine Konstruktion, die essentielle Eigenschaften des echten menschlichen Subjekts ignoriert. Wenn die4 se essentiellen Eigenschaften nicht berücksichtigt werden, dann verlieren die Gerechtigkeitsprinzipien, die im Urzustand gewählt würden, viel von ihrer Glaubwürdigkeit. Es geht nicht so sehr darum, welche essentiellen Eigenschaften das repräsentative menschliche Subjekt hat, sondern welche ihm fehlen. Demnach ist es - gemäß Maclntyre - essentiell für ein menschliches Wesen, daß es am sozialen Leben teilnimmt und somit eine soziale Identität aufbaut; daß es Teil einer Gemeinschaft ist und somit in sich entwickelnden Traditionen eingebunden ist. Die Identität des Menschen wird im Grunde konstituien durch seine Lebensgeschichte, das heißt durch eine historische Erzählung, worin auch andere als die Person selbst - der Autor der Erzählung - auftreten. Diese Erzählung soll zur Einheit gebracht werden, welche den höchsten Wen im menschlichen Leben darstelh. 13 Sande I erachtet Rawls' sogenanntes "ungebundenes Selbst" für unrealistisch. Die menschl,iche Person ist gebunden, das heißt, sie hat Bindungen, die für sie bestimmend sind. Niemand kann sich selbst begreifen, ohne die eigenen Beziehungen und Bindungen an andere Personen und Institutionen zu berücksichtigen. 14 CharIes Taylor ist nicht weniger kritisch gegenüber der liberalen, "atqmistischen" Konzeption der menschlichen Person als Macintyre und San4 del. ls Aber für seine Kritik ist es typisch zu betonen, daß Güter und Werte für =in richtiges Versteh.'\acht- und Herrscha(tskonzcptionen vorausgeschickt: H. M., MOfhl Jif/d HtrruhaJt im DtJlkm I/()n Htidrggtr lilld Adorno, Srungart 1980. Ebd., S. 24. I-{ans Ebe1ing, "Adornos Heidegger und die Zeit der Schuldlosen", in: PhiltJJOphiuht RlindJfholl 29 (1982), S. 194.
110
Diskussionen des zwanzigsten Jahrhundens
konnte deshalb Narben Bolz Webers Rede von der Entzauberung der Welt als Kontrastfolie evozieren, um den philosophischen Diskurs der zwanziger Jahre als einen "Auszug aus der entzauberten Welt" zu begreifen, in dessen Sog die politisch-philosophischen Extreme sich berühren. 13 Hier lohnt es sich jedoch, die Ausgangslage ein wenig näher ins Auge zu fassen. Als Marun Heidegger in einem Fernsehinterview aus Anlaß seines 80. Geburtstages um Stellungnahme zum zum al an den Universitäten laul werdenden Wunsch nach Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnjsse gebeten wurde, antwortete er mit einem Selbstzitat. Offenbar schien es ihm im studentenbewegren Jahr 1969 den Zeitgeist ebenso treffend auszudrücken, wie schon vor vierzig Jahren: "Die Gebiete der Wissenschaften liegen weit auseinander. Die BehandJungsart ihrer Gegenstände ist grundverschieden. Diese zerfallene Vielfaltigkeit von Disziplinen wird heute nur noch durch die technische Organisation von Universitäten und Fakultäten zusammen- und durch die praktische Zwecksetzung der Fächer in einer Bedeutung gehahcn. Dagegen ist die Verwurze!ung der Wissenschaften in ihrem Wesensgrund abgeslOrben.,,14 Auf diese Passage hatte er bereits in dem drei Jahre zuvor gewährten, jedoch erst posthum zur Veröffentlichung bestimmten Spitgtl-Interview verwiesen. Das Zitat entstammt der Antrittsvorlesung, die er 1929 unter dem Titel: "Was ist Metaphysik?" bei der Übernahme des Husserl-Lehrstuhls in Freiburg gehalten hatte. Im Kontext des Spiegel-Gesprächs sollte das Zitat das Grundmotiv erhellcn, das ihn im Jahre 1933 bestimmt hatte, in ebenfalls politisch bcwegten Zeiten das Rektorat der Universität Freiburg zu übernehmen. 15 Die Wurzeln des in dem Zitat ausgedrückten Gedankens lassen sich bis auf die Vorbetrachtung zur "Wisscnschaft und Universitätsreform" zurückvcrfolgen, mit denen der Privatdozent 1919 seine Vorlesung über die "Idee der Phi· losophie und das Weltanschauungsproblem" eröffnete. Mit Max Weber, dessen Münchner Rede im selben Jahr im Druck erschien, teilt Heidegger, wie Stcven Crowcll gezeigt hat,16 die Einsicht, daß die zunehmende Spezialisierung in den \'I?issenschaften den Charakter der Universitäten grundsätzlich geändert habe und dementsprechend das Selbstverständnis derjenigen, die die Wissenschaft als Beruf betreiben, einer Neubestimmung bedürfe. Man kann jedoch durchaus Webers Diagnose zustimmen, ohne sich dessen Folgerungen zu eigen zu machen.
13 14
15
Norben Bolz, AUJzug aUJ der mtzaubertm IFe/t. PhiloJophmher ExtremiJ1IluJ
~iJ(:ht1l dtn
IVtltlt.ritgen, t-,'Iünchen 1989. "Martin Heidegger im Gespräch mit Richard Wisser", in: Martin Htidtggtr im GtJprärh. Hrsg. von Günther Neske und Ernil Kenering. Tübingen 1988, S. 21. "Spiegel-Gespräch mit Marcin Heidegger", in: Marfin Htidtgger illl Gupriich, S. 83. Vgl. Martin Heidegger, "Was ist Metaphysik?" in: M. H., IVtgmnrktn, Frankfurt :10. M.
1967.5.2. 16
Vgl. Steven Gah Crowell: ..Philosophy as a Vocation: Heidegger and Universit}· Reform in the E:Iorly Interwar Years", in: S. G. c., HUJJerl, Htidtggtr, and fhtSpoct ojMtoning. PafhJ tou'ard TranJctndtnfa/ Phtnomtn%gy, Evanston, IL 2001, S. 152-166.
Steiner,
P~ülosophische
Um- und Abwc=ge
111
\'leber zufolge kann die Fachdisziplin Philosophie in der ~'Ioderne einzig dazu dienen. dem Einzelnen dabei zu helfen, "sich selbst Ruhtn1thafl Zu gtbtn iibtr dtn Itfi/tn Sinn dtr tigtntn Tuns". Dabei aber hat sie den Grundsachverhah in Rechnung zu stellen, .,daß das Leben, solange es in sich selbst beruht und aus sich selbst verstanden wird, nur den ewigen Kampf jener Götter miteinander kennt, - unbildlich gesprochen: die Unvereinbarkeit und also die Unaustragbarkeir des Kampfes der letzten überhaupt 1/Jöglichtn Standpunkte zum Leben, die Notwendigkeit also zwischen ihnen sich zu tnlJ(htidm".17 Demgegenüber eröffnet für Heidegger die von der Philosophie gefordene Besinnung auf .,innere Wahrhaftigkeit" den Weg zur Idee der Philosophie als "Urwissenschaft", letztlich also zu einer transzendentalen Phänomenologie des faktischen Lebens, die in der Fundamentalomologie des Daseins dann ihre \'orläufig abschließende Formulierung finden wird. Mag das Pathos der .,inneren Berufung", wie Heidegger es beschwön. 18 auch noch so sehr an \X/ebers nicht weniger pathetischen Appell erinnern, das Schicksal der Zeit männlich zu ertragen - die "Forderung des Tages", der es gerecht zu werden gilt, wird von beiden doch höchst unterschiedlich ausgelegt. Während Weber die Frage nach einem abschließenden Sinn des Lebens dem ewigen Streit der Werte überantwortet, gewinnt Heidegger sie affirmativ der Philosophie zurück. Als erneut zu stellende und konkret auszuarbeitende "Fragt nach dUlI Sinn Ilon Stift" hat er sie seinem philosophischen Hauptwerk ostentativ vorangestclh. 19 Die Webers Befund grosso lIIodo bestätigende Analyse der Welt des "Man" beschreibt denn auch weniger das Schicksal der Moderne, sondern vielmehr eine Welt, die ihr Schicksal noch nicht ergriffen hat. Niclu zuletzt die vorsätzliche Vermischung des individuellen mit dem kollektiven Geschick, auf die Heidegger in der Analyse der "Grundverfassung der Geschichtlichkeü" in Stin und Ztit zusteuen. liefen ihm sodann das Formular fur die retrospektive Selbstdeutung seines Frühwerkes, deren Spannweite von der Rektoratsrede bis zur Spätphilosophie reicht. 20 In jedem Fall gilt es gegen den Polytheismus der \X'ene, der im disparaten Apparat der modernen Universität unmittelbar greifbar wird, dem "abgestOrbenen Wesensgrund" der Wissenschaften philosophisch die Treue zu halten.
Max \X'eber, ..Wissc=nschaft als Bcruf", in: f\'I. W., Guommtlle AllfltilZt ZIiT Il7illt1lf(h4I1!thn, hrsg. \'on Johannes Winckelmann, Tübingc=n. 7. Aufl. 1988, S. 608 (I-Iervorhebung im Original). 18 Marun Heideggc=r, Vit lJu dtr Phil()lophit lI11d das lWtllallsthoNN1IgsprtJbltm. In: M. H., Gt· samlaNsgobt. Bd. 56/57, hrsg. "on Brend Hc=imbüchel, Frankfurt a. M. 1987, S. 5. 19 Heidc=ggc=r, Still Nlld 2til, unpag. eS. 1) (Hervorhebung im Original). 20 Heideggcr, Stin lind 2til, § 74, S. 382-387. Hierzu Jürgen Habermas: Der philosophisdN ViskoliTS dtr Modtnu. 211'iilJ Vorlmmgm, Frankfurt a. J\L 1985, S. 184-190. sowie Ders., .,Hc=idegger - Werk und Wdtanschauung, in: Viclor Farias, Htidrggtr u"d fitr Noli01l01IOZitllislfllll. Mit einem Vorwon von Jürgen J-1abermas, Frankfurt a. M. 1987, bc=s. S. \'7
21-22.
112
Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
Das Bild der Universität, wie es sich Weber und Hcidcggcr unmittelbar nach dem Krieg darstellt, entspricht weitgehend dem, das der junge Benjamin kurz VOf dem Krieg in seiner Rede als neu gewählter Präsident der Berliner Freien Studentenschaft zeichnet. 1m Spannungs feld von Universität und Staat. Studium und Beruf, ist fUf das LLbtn du S/I/dtnltn, will sagen rur ein von der Idee der Wissenschaft und nicht von Amt und Beruf bescimmtes Leben, kein PI:HZ. Ähnlich wie Heidegger scheint 2uch fUf Benjamin alJein mctaph)'sische Besinnung der rilligen Erneuerung den Weg weisen zu können. In seinen berJegungen bestimmt die Metaphysik jedoch nicht die Substanz, sondern die Struktur des Gedankens. Er versteht seine Aufgabe als eine kritische. Nur als Ab· bild, als Gleichnis eines höchsten metaphysischen Standes der Geschichte sei die jetzt gegebene Form studentischen Lebens wert, beschrieben zu werden. Aufgabe der Kritik sei es, "das Künftige aus seiner verbildeten Form im Gegenwärtigen erkennend zu befreien". 2\ Auf den ersten Blick überraschend und sicher nicht ohne provokativen Hintersinn rückt Benjamin dem Leben der Studenten dasjenige der Cafehausliteraten an die Seite. Die Literaten als Repräsentanten des modernen Großstadtle· bens, des von Heidegger verachteten .. 1an", werden ihm zu Trägern einer neuen geistigen, religiöse Züge tragenden Kultur. Nicht anders als in Georg Lukacs' 1910 erschienener Essaysammlung Die Sede und die Formtn hat auch in Benjamins frühen Schriften die Kulturphilosophie Georg Simmels deutliche Spuren hinterlassen. In seinem Dialog iibtr die Rtligiositiil der Gtgenll1arl Stellt er die Literaten als r,.'{ärT)'rer der neuen KultuneLigion dar, weil sie die ..Werte ins Leben, in die Konvention umsetzen woUen".12 Indem sie in der Unbedingtheit ihrer Kunstliebe zu gesellschaftlichen Außenseitern werden, führen sie gerade im Widerspruch gegen die Gesellschaft deren religiöse Bedürftigkeit vor Augen, demonstrieren sie, wie fern die Gegenwart von einer Kultur ist, in der der Dualismus von Sein und Sollen letztlich überwunden wäre. In TolstOi, Nietzsehe und Strindberg, so Benjamin, habe diese Religion und der in ihr verhieße· ne neue Mensch, mit dem die Zeit schwanger gehe, bereits ihre Propheten gehabt. Mit den Großstadtiiteralen als philosophischem Gegenstand und der Überzeugung, daß der Philosophie einzig die Kritik als gangbarer Weg offenstehe, bewegt sich Benjamin in einem Rahmen, den Webers Theorie der Moderne nachgezeichnet hat. Unter Berufung auf die praktische Philosophie Kants be· kennt er sich in seinen frühen Schriften und zahlreichen Briefen zu einer "streng dualistischen Lebcnsauffassung".23 Im Dialog trifft diese Überzeugung
21
22
W:aher Benj:amin, ,.D:as Ldxn der Srudenu:n", in; W. B., Gua","'tlft S(hrijttll. 7 Bde. und Supp!., unter M-itwirkung '·on Theodor W. Adorna und Gershom Schalem, hrsg. von RolfTiedemann, Frankfurt a. M. 1972-1999, Bd. li/I, S. 75. W:aher Benj:amin, "Di:aJog tiber die Rdigiosit2r der Gegenw:art;;, Gua",,,,tlte S(hrijttll.
Bd. 11/1. 5.29. lJ
An Ludwig Strauss vom 10. Oktober 1912, in: Walter Benjamin: Guamlltllte 6ritJt,
Steiner, Philosophische Um- und Abwege
113
auf einen Anhänger des Monismus. Die auf die Lehren Gustav Theodor Fechners sich gründende pantheistische \X1eltanschauung des Monismus übte um die Jahrhundertwende einen nicht zu umerschätzenden Einfluß auf das geistige Leben im wilhelminischen Deutschland aus. Als eine Ersatzreligion, deren Credo die unbegrenzte Perfektibilität der Welt preist, ersetzt der Monismus die traditionelle Religion und Metaphysik durch den Glauben an Wissenschaft und technischen Fortschritt. Dieser Religion des Kapitalismus setzt Benjamin in seinem Dialog die "Ehrlichkeit des Dualismus" entgegen. 24
IV Von dem Dialog über die Religiosiliit der Gegenwart von 1912/13 führt ein direkter Weg zu dem vermutlich 1921 niedergeschriebenen Fragment über Kapitalismus als Religion, in dem Benjamin Mal' Webers Rede von der "schicksalsvoUsten Macht unsres modernen Lebens: dem KapitalüllI1u"25 in den religiösen Klartext zurückübersetzt. Weber beim Wort nehmend, will Benjamin den Kapitalismus seiner Struktur nach als eine essentiell religiöse Erscheinung beschreiben. In dem Fragment wird der Kapitaljsmus als eine Religion beschrieben, in der der doppelsinnige Begriff der Schuld die Stelle vertritt, die in Webers Theorie der Moderne der Begriff der Rationalüät eingenommen hatte. Wenn Benjamin ausdrücklich erklärt, den "Abweg einer maßlosen Universalpolemik" vermeiden zu wollen,26 macht er sich eine wichtige Prämisse der Religionssoziologie Webers zu eigen: Das Fragment wender das Verfahren der beschreibenden, sich jeder Wertung enthaltenden Soziologie auf Webers eigene Gegenwarrsdiagnose an. Die Rechtmäßigkeit, den Kapitalismus als "eine" Religion zu betrachten, hatte das Fragment aus der Beobachtung abgeleitet, daß er sich derselben Be· dürfnisstruktur verdanke wie die "sogenannten Religionen". Demnach würde eine Religion, die sich als Religion vom Kapitalismus provoziert sicht, nur diese fundamentale Gemeinsamkeit bekräftigen und damit letztljch im Bann dessen verbleiben, wogegen sie sich polemisch abzugrenzen trachtet. Die unaufhaltsame Dynamik, die der Kapitalismus entfaltet, finder in den Unrergangsvisionen der Apokalypse reiches Anschauungsmaterial, aber keinen religiösen Sinn. Deshalb macht es auch keinen Sinn, ihm theologisch entgegenzutreten. Nicht mit religiöser Polemik, sondern einzig mit revolutionärer Politik iSt dem Kapitalismus auf seinem eigenen Terrain zu begegnen.
2. 2S 26
hrsg. vom Theodor W. Adorno Archiv, 6 Bde., hrsg. von Christoph Gödde und I-Ienri Lonitz, Frankfurt a. M. 1995-2000, Bd. I, S. 71. Walter Benjamin... Dialog über die Religiosität der Gegenwart", CutllHINtlle Schriften. ßd. 11 /1, S. 32. ~hx \X/eber: ..Vorbemerkung". in: M. W., GuaflllHtlft AJljiiit!{t !{Jlr RtiigioIlSlo!(jologit, hrsg. von Johannes \Vinckelmann, 3 Bdc., Tübingen, 9. Aufl. 1988, Bd. I, S. 4. Walter Benjamin, .,Kapitalismus als Religion". GuaINmtllt Schriften, Bd. VI, 100.
114
Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
Es ist ein hier sich abzeichnender, spezifischer Begriff des PoLitischen, der Benjamin eine Alternative zum Abweg der Universalpolemik eröffnet. In seinen Bemühungen um ein Verständnis dessen, was das Politische philosophisch sei, bezeugt sich in seinen frühen Schriften ein grundsätzliches Bemühen, durch eine Abgrenzung unterschiedlicher ,Ordnungen' die Geltung tradierter Begriffe und die in ihnen nicht zuletzt sprachlich kodifizierten Bereiche des Denkens und der Wirklichkeü zu überprüfen. Dies, und nicht etwa etymologisches Interesse, Liegt dem Versuch zugrunde, "die alten Worte Schicksal und Charakter aus der terminologischen Fron zu befreien und ihres ursprünglichen Lebens im deutschen Sprachgeiste aktual habhaft zu werden", 27 den Benjamin in einem diesen heiden ,Worten' gewidmeten Aufsatz unternahm. Wenn denn nach Webers resignierter Einsicht der Kapitalismus das ,Schicksal' unsrer Epoche ist, dann erkundet Benjamins Aufsatz, welches sprachliche Leben unter der verkrusteten Oberfläche des Schicksalsbegriffs sich philosophischer Einsicht eröffnet. Eine Ordnung, so lautet sein Befund in dem ungefahr gleichzeüig mit dem Fragment entstandenen Essay, "deren einzige konstitutive Begriffe Unglück und Schuld sind und innerhalb deren es keine denkbare Straße der Be~ freiung gibt (denn soweit etwas Schicksal ist, ist es Unglück und Schuld), eine solche Ordnung kann nkht religiös sein". Sie bezeuge vielmehr cine "dämonische Existenzstufe der Menschen", die im Recht Gestalt angenommen habe. 28 Die Ordnung des Rechts, in der die Menschen ihre Beziehungen untereinander und zu den Göttcrn regeln, ist in einem Akt sich fortzeugender Gewalt gegründet. Diesen Gedanken verfolgt Benjamin in der um die Jahreswende 1920/21, also ebenfalls in zeitlicher Nähe zu dem Fragment über den KapitalisnIli! 011 Religion niedergeschriebenen Kn'tik der Gewalt, die in dem zu Lebzeitcn von Max Weber mitherausgegebenen Archiv für S0i!aluJiJJemchajJ und Sozialpolitik crschjen. Einmal mehr geht es Benjamin auch in diesem Aufsatz darum, den Geltungsbereich bestimmter ,Ordnungen': des Rechts und der Politik, der Moral und der Religion, voneinander abzugrenzen. Ganz ähnlich wie die Wertsphären bei Weber einander ausschljeßen, sind auch die Konturen dieser Ordnungen allein durch den Akt der Grenzziehung, durch wechselseitigen AusschJuß, bestimmt. Vor dem Hintergrund dieser nur schemenhaft sich abzeichnenden Lehre von den Ordnungen ist das Theologisch-PolitiJCbe Fragfnent als einer ihrer Grundtexte zu lesen. In Scbicklal und Charakter hatte es geheißen, daß "Glück und Seligkeit" ebenso aus der dämonischen Sphäre des Rechts und des Schicksals herausführen "wie die Unschuld".29 Im TheologilCb-Polititchen Fragment wird die "ldee des Glücks" zur zentralen Koordinate der "Ordnung des Profanen" und damit einer Ordnung, deren Geltungsbereich sich aus ihrer Abgrenzung gegen
An Hugo VOll Hofmannsthai vom 13. Januar 1924, GtJommelle Brieft, Bd. 11, S. 409. 28 Walter Benjamin, "Schicksal und Charakter", GtJomme!le Schriften, Bd. 11/1, S. 174. 29 Ebd. 21
Steiner, Philosophische Um- und Abwege
115
"das Messianische" erschließt. Das Profane an der Idee des Glücks auszurichten aber heißt für Benjamin zugleich den Gedanken des Gottesreiches aus dieser Ordnung auszugrenzen. Deshalb hat die Theokratie für ihn "keinen politischen sondern allein einen reHgiösen Sinn". Als von der Theologie abgegrenzter Bereich aber bleibt die Politik gleichwohl auf die Theologie bezogen. Eben deshalb nennr Benjamin ihren Geltungsbereich ,profan'. Im Gedankengefüge der "mystischen Geschichtsauffassung", die das Theologisch-Politiuhe Fragment darlegt, ist alles Irdische letztlich allein um den Preis seines Untergangs mit dem Gonesreich verbunden. Das Ziel der Politik ist Glück; ihre Methode aber, wie es abschließend heißt: "Nihilismus·'.30 Sofern sich Politik Ziele setzt, hat sie diese auf die Ordnung des Profanen zu beschränken. Indem sich Politik auf das Profane beschränkt, sind ihre Zielsetzungen, jenseits des ihren Geltungsbereich begrenzenden Horizonts, letztlich nichtig.
v Unter der Voraussetzung einer Limitierung religiöser Ansprüche wird das Glück Benjamin zur zentralen Kategorie der irdischen, profanen Bestimmung des Menschen. Damit ist keineswegs gesagt, daß sich seine Bestimmung darin erschöpft. Vielmehr ist das Profane per definitioneni auf das Heilige bezogen. Die wie immer spannungsgeladene Abgrenzung einer von unbedingten moralischen und reljgiösen Ansprüchen freien, im spezifischen Sinne politischen Ordnung ist keineswegs gering zu schätzen. Immerhin gehörte es zu den Kernstücken von Webers Theorie der Moderne, die Politik als Beruf von den POStulaten religiös überanstrengter ethischer Postulate zu befreien. Das zentrale Argument seiner überlegungen, daß nämlich "das spezifische Minel der legitifllen Geulall!afllkeil rein als solches" es sei, was die Besonderheit aUer ethischen Probleme der Politik bedinge,31 dürfte in Benjamin einen aufmerksamen Leser gefunden haben. Es ist nicht auszuschließen, daß der veriorengegangene, großangelegte Aufsatz über den "wahren Politiker", als dessen Bruchstück sich die Kn'lik der Geulalt erhalten hat, seine entscheidende Inspiration ebenso einer inversen Lektüre von Webers Politik aIJ Beruf verdankte, wie das Fragmenr über Kapilamom! aIJ Religion eine enrsprechende Lektüre der ReligionJJo~jologiuhen Au/Iiitze zur Voraussetzung hatte. In beiden Fällen macht sich Benjamin die Prämissen Webers zu eigen, um sie radikal weiterzudenken. Das Gradnetz der Ordnungen, das Benjamins seinem philosophischen Nachdenken zugrunde legt, beschreibt eine irreduzible Komplexität, wie sie Max Weber als entscheidendes Kennzeichen der Moderne erkannt hatte. Erst
30
Walter Benjamin: "Theologisch-Politisches Fragment", Gesal1Jl1Jelte Schriften, Bd. li/I,
S. 203-204. 31
Max \X'eber; "Politik als ßerur', in: M. \'(I., Gesal1Jl1Itlte Politiuhe Schn'ften, hrsg. von )0hannes Winckelmann, Tübingen, 5. Aufl. 1988, S. 556.
116
Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
vor diesem Hintergrund ist Heideggers Verteidigung der Provinz ebenso vielsagend wie Benjamins Exil in Paris, der von ihm sogenannten Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts. Gleichsam auf dem Umweg über Heidc1berg gelangt Benjamin in das Herz der Moderne, in die Stadt Baudelaires, der die ~'Io derne in seiner Dichtung zur Anschauung brachte und in seiner Poecik zum
Begriff erhob.
Rolf Wiggershaus
Was ist deutsch? Was ist normal? Antwortversuche der Frankfurter Schule l
"Wer wird denn die Deutschen für die Nazis verantwortlich machen: wir wissen doch ganz genau, daß sie mit der gleichen Begeisterung zu Stalin oder den General Motors übergehen!" So im November 1944 Max Horkheimer in einem Brief an Theodor \VI. Adorno. Das war eine sarkastische Anspielung njcht etwa auf eine deutsche Strategie der Exkulpierung, wie sie ja erSt nach Kriegsende auftreten konnte und dann tatsächlich auftrat. Es war vielmehr eine sarkastische Anspielung auf eine Sicht der Vorgänge in Europa, wie Horkheimer sie im Exilland USA als Konsequenz der don herrschenden Mentalität erlebte. Mjt selbstbestimmten und verantwortlichen Individuen wurde gar nicht mehr gerechnet - weder in der Realität noch in der Wissenschaft. So jedenfalls sah es Horkheimer, der sich um diese Zeir als Wissenschaftlicher Leiter eines großangelegten Projekts zur Erforschung des Antisemitismus in New York aufhielt. Dabei kooperierte das emigrierte Institut für SoziaJforschung mit dem American Jewish Committee. Das Ziel war, in Amerika zur Verhinderung dessen beizutragen, was sich in Europa ereignete. In einem nach Kriegsende in den USA entstandenen Aufsatz über "Freudian Theory aod the pattern of Fascist propaganda" meinte Adorno: "lt may weil be the secret of fascist propaganda that it siropl)' takes men for wh at they are: the true children of today's srandardized mass culture, largely robbed of autonomy and spontaneity, instead of setting goals the reaJization of which would transcend the psychological slaJlu quo no less than the sodal one 1... 1 Fascist propaganda has only to reproduct the existent mentality for its own purpose 1... 1"2 Nicht zufallig standen in der Dialtklik der Aufkliimng die Verarbeitung der amerikanischen und die der deutschen Erfahrung, das Fragment über "Kulrurindustrie" und das über "Elemente des Antisemitismus", und zwar in dieser Reihenfolge, in direkter Nachbarschaft. Die empirischen Untersuchungen, für die die "Elemente des Antisemitismus" den philosophischtheoretischen Interprerationsrahmen abgaben, fanden ihren Niederschlag vor allem in der AUlhon'lnn'an Persof/alily, an der Adorno leitend mitwirkte. Die Per-
Gekürzte und überarbeiteie Fassung eines 1997 im AmSlerdamer "Duitsland lnstilUut" gehaltenen Vortrags. 2 Theodor W. Adorno, GrMmllldu 5(brijltfl (GS), Frankfurt a. M. 1970-1986, Bd. 8, S. 429.
118
Diskussionen des zwanzigsten Jahrhundens
sonen, die dabei auf ihr faschistisches Potential hin untersucht wurden, waren also US-Amerikaner. Die Resultate erinnerten an die Ergebnisse einer ersten empirischen Untersuchung des Instituts im Europa der frühen dreißiger Jahre. So wie man seinerzeit wenig entschiedene Sozialjsten entdeckt hatte, so in den USA wenig entschiedene Demokraten. Dieser Kontext macht noch einmal deutlich, wie Horkheimers Sarkasmus zu verstehen ist. Es war schwierig, hart über Deutsche zu urteilen, wo doch ohne eine weitverbreilete gesellschaftliche und ökonomische Konstellation und ohne Duldung, ja Zustimmung und sogar Unterstützung von außen nicht hätte geschehen können, was das nationalsozialistische Deutschland in Europa an Ungeheurlkhem anrichtete. Horkheimer und Adorno erlebten als emigrierte jüdische LinksinteUektueUe ..Auschwirz" von den USA aus und sahen darin einen Tiefpunkt westlicher Kultur. Weil sie die Dialektik und die Desrruktivität des westlichen Modernisierungsprozesses fur gravierend und umfassend hielten, war die Bedeutung von "Auschwitz" als deutschem Verbrechen in ihren Augen relativiert. Für den eine Generation später geborenen Jürgen Habermas, der 1956 ans nach Deutschland zurückgekehrte Institut für Sozial forschung kam und Adornos Assistent wurde, fielen nach Kriegsende Befreiung vom Nationalsozialismus und Information über "Auschwitz" ungefahr zusammen. Er entwickelte eine Theorie des westljchen Modernisierungsprozesses, in der dessen Pathologien relativ leicht genommen wurden, "Auschwitz" aber als von Deutschen verschuldetes und von Deutschen zu bewältigendes Verbrechen um so schwerer wog. Damit sind zugleich Gemeinsamkeiten und Unterschiede von älterer Frankfuner Schule und Habermas angedeutet. In beiden Fällen spielt Auschwitz als Signatur des 20. Jahrhunderts die entscheidende Rolle. Aber für die älteren Emigranten Horkheimer und Adorno bedeutet es die Katastrophe der europäischen Zivilisation. Für Habermas, der sich einmal selbst aJs Produkt der reeducation bezeichnete, ist es im wesentlichen ein deutsches Problem, das das europäische Projekt der ["loderne nicht in Frage stellt. Ein nach Auschwitz proble. matisiertes deutsches Geschichtsbewußtsein könnte in seinen Augen sogar die Tendenz des westlichen Modernisierungsprozesses hin zu postnationalen Identitäten fördern.
Horkheimer: "Nationale Aufbrüche sind der erlaubte Ersatz für die Revolution" Als Horkheimer, seit Anfang der dreißiger Jahre Philosophieprofessor und DirektOr des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main, sich 1933 aus Deutschland zurückzog, tat er es unter offiziellem Protest. "Ob die gegen mich gerichteten Maßnahmen mehr im Hinblick auf meine Gesinnung oder auf mein
Wiggershaus, Was ist deutsch? Was ist normal?
119
Judentum getroffen werden, weiß ich nicht. Beide Beweggründe widersprächen jedenfalls den besten Traditionen der deutschen Philosophie", schrieb er im April 1933 von Genf aus an den Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung in Berlin. Bis zum Zweiten Weltkrieg erschien das Organ des Instituts, die Z~iluhrijtfür SoiJa!fOruhllng, auf deutsch...\Y/ir sind heute die einzige SteHe, in der die Tradition der klassischen deutschen Philosophie und Soziologie in deutscher Sprache gepflegt wird", beschied Horkheimer 1934 einen Mitarbeiter in der Genfer ZweigsteUe des Instituts, der davor gewarnt hatte, die Zeitschrift könnte den Stempel der Emigration bekommen. Dies Risiko sei in Kauf zu nehmen, so Horkheimer, angesichts der Verpflichtung, ..beste deutsche Kulturwerte zu bewahren."3 Daß er Deutschland nicht unter traumatischen Bedingungen verlassen mußte und als Leiter eines finanziell unabhängigen Instituts in den USA freundliche Aufnahme fand, erlaubte es Horkheimer, Deut'schland und die USA gleichsam von einem archimedischen Punkt aus zu sehen - nicht unter dem Blickwinkel ihrer Rolle fürs eigene Überleben, sondern unter dem Blickwinkel ihrer Bedeutung für eine "freiere l'vlenschheit". Bei aller Dankbarkeit für das Exilland USA, dessen Bürger Horkheimer und Adorno während des Zweiten Weltkriegs wurden, bewahrten sie sich gegenüber Deutschland eine erstaunliche Ambiguititstoleranz. Beispielsweise meinte Horkheimer 1946 in einem Brief im Anschluß an einige Zitate des Romantikers ovalis, in denen dieser von einer Art totalitärer Bürokratie schwärmte: .. Die Deutschen w:uen doch ein merkwürdiges Volk. Beethoven und Hitler sind untrennbar."4 Das klang nicht nach Abscheu, nach Verwerfung, sondern nachdenklich. Zum Bild nationalsozialistischer Deutscher gehört der Topos vom folternden Bildungsbürger, der tags seine Pflicht tut und Menschen quält und mordet und nach Feierabend Hausmusik pflegt oder sich an Kant und Beethoven erbaut. Horkheimer suchte das zu begreifen mittels der These von der split personality, der gespaltenen Persönlichkeit, die zum Dauer-, zum 'ormalzustand, zur in Regie genommenen Form der Anpassung an paradoxe, unbegreiflich scheinende Verhältnisse werden konnte. In der Auseinandersetzung mit Franz Neumann und dessen in dem einflußreichen Buch Bthelllolh entwickelter marxistisch-strukturalistischer Theorie des nationalsozialistischen Staafes bzw. Unstaates vertrat Horkheimer die Auffassung: I suppose the optimistic idea of the break dOIJm of the "split personality" :lIS promoted b)' the mechanisms of ational SociaJism does nOi quite reflect what you realJ)' think. As a mauer of faci the split of Ihe ego wh ich, as )"ou know, is one of the main theses of the anicle on the End of Reason, has a long pre-histOry. What happe.ns tOda)' is on!)" the consumation of a trend which permeates the whole modern eT2. It has made itself feit nOI onl)' within the old juxtaposition of theological und scientific
, •
Brief\1;echsel Horkheimer-Slernheim. 8. Oktober 1934, in; Max Horkheimer, CUQ",mtllt Sthn'flttr (GS), FT2nkfun a. M. 1985-1996, Bd. 15, 5.239. Brief Horkheimer-Hirsch, 31. Augusl 1946, in: Horkhcimer, GS, Bd. 17, S. 752.
120
Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
lruth, but much more draSlically within the division of labor and leisuTe, of private morals and business principles, of private and public life, and in innumerable other aspects of the existing order. Whar Facism docs with respecl tO the personaliry is only tO manipulatc consciously and skillfully a break which irself is based on the most fundamental mechanisms of this socicry . [... 1 I cannot see any reason why this anempl of the Nazis should collapse from within, fOt intrinsic reasans. 5
Die Pointe dieses InterpretationsmodeUs bestand darin, daß das, was auf den erSten Blick als ..Sprengstoff', als Zersetzungs- und Verfallssymptom erschien, bei genauerem Hinsehen als erfolgreiche Herrschaftsform, als dynamische dauerhafte Struktur begriffen werden konnte. Auch dabei lief die Sicht der deutschen Verhältnisse wieder darauf hinaus, daß es sich dabei teils um eine extre· me Ausformung, teils um einen radikalen Schub kapitalistisch-bürokratischer Modernisierung handle. Man kann in der Tat sagen: Was der Erste Weltkrieg gewissermaßen nebenbei bewirkt hatte, nämlich die Enteignung der Erfahrung und der Fähigkeit zur Wahrnehmung von Zusammenhängen, wurde im Dritten Reich und im Zweiten Weltkrieg zu einer ständig gezielter verfolgten Strategie, nämlich zur Heran züchtung bzw. Forcierung eines gespaltenen Bewußtseins mittels Konsum· kultur und l\hssenmedien, Volksgemeinschaftsideologie und rassistischer Propaganda. Untersuchungen wie die unter dem Titel Das gespaltene Bewußtseill vereinigten Aufsätze Hans Dieter Schäfers über deutsche Kultur und Lebenswirklichkeit von 1933 bis 1945 haben deutlich gemacht, wie gut die Strategie der nationalsozialistischen Diktatur funktionierte, die Verbindung zu den Werten der Vorkriegszeit und des künftigen Friedens nicht abreißen zu lassen und Hand in Hand mit der Aufrüstung eine Konsumkultur nach US-amerikanischem Muster und mit US-amerikanischen Waren zu fördern. Wollte man Horkheimers Bild von Deutschland knapp formulieren, dann könnte man sagen: an Deutschland mit seiner KJassik- und Idealismus·Tradition, seinen linkshegelianischen Radikalismen und seiner Arbeiterbewegung knüpfte ein Outsider des Bürgertums wie Horkheimer besonders hohe Erwartungen, die in besonderem Maße enttäuscht wurden, Statt die bürgerliche Welt mit ihrer Unterwerfung unter die AutOrität des Marktes, ihrer gesellschaftlichen Ungerechtigkeit und ihrer Unfahigkeil zu einem wirklich kultivierten Lebensstil, mit dem "Nebeneinander zar· tester Rücksichtnahme, harmloser Gutmütigkeit und zynischer Härte"6 hinter sich zu lassen, bOl Deutschland das e,rschreckende Schauspiel einer beschleunigten und äußersten Zuspitzung des glücks verneinenden und Erkenntnis verachtenden Ethos der bürgerlichen Wirtschaftsgesellschaft, eines antidemokratischen nationalen Aufbruchs.
5 Brief Horkheimer-Neumann, 2, Juni 1942. in; Horkheimer es, Bd, 17, S, 292. 6 Max Horkheimer, .. Egoismus und FreiheilSbewegung". in; Zeitsrhrijt ftir Sotf'olforsrhNng (Zl'S) 1936. S. 227.
Wiggershaus, Was ist deutsch? Was ist normal?
121
Adorno: Künstlerische Mündigkeit als wesentliches Element von Demokratie Ein intimer Kenner und Kritiker der Frankfurter Schule wie Herben SchnädeJbach hat bis hin zu Habermas' Unterscheidung zwischen Lebenswelt und System bei Vertretern der Frankfurter Schule ein Weiterwirken des als spezifisch deutsch gehenden Gegensatzes von Kultur und Zivilisation festgestellt - von Kultur als Zentrum einer dem Geistigen, Innerlichen, Tiefen, Eigentlichen verpOichteten Lebensform und Zivilisation als einer auf daS Materielle und Äußerliche, auf Wirtschaft und Technik, Nützlichkcit und Amusement fixierten Lebensform. Manches spricht für Schnädelbachs Sicht. Könnte es denn sonst beispielsweise in einem Memorandum des Instituts für ein Projekt über "DeUt'schlands Erneuerung nach dem Krieg und die Funktion der Kultur" hei~ ßen, daß Nietzsehe recht gehabt habe, als er den Sieg Deutschlands über Frankreich beklagte als "die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes wgunsten des ,deutschen Reiches.. '?7 Und zeugte es nicht von ungebrochenem Festhalten an jener spezifisch deutschen Entgegensetzung von Kultur und Zivilisation, wenn es in dem er\vähnten Memorandum in elitär-kulturpessimistisehern Sinne hieß: "Die bekannten, mit dem Deutschtum einhergehenden Züge, wie etwa der Hurra-Patriotismus, der Untertanengeist, dje seibstgefaUige Sentimentalüät und der Eigensinn, sind nur die deursche Spielart eines Musters, das universell geworden ist: aggressive Mittelmäßigkeü, der selbstgerechte Glaube an die durchschnittliche, billige Unterhaltung als Ersatz für Freude, pseudoaufgekläne Fonschrin.lichkeit, die konformistische VorsteIJung, aUes im eigenen Lande und Volk sei grundsätzlich gesund. I... J Sollte dieser Typus die unverblümtere und offenkundigere Barbarei Hitler-Deutschlands ersetzen, dann wird dessen Geist durch die Umwandlung der ganzen Welt in eine große, breite Autobahn überleben. Gerade bei der Abwehr dieser Gefahr, und nicht so sehr der Gefahr einer deutschen Weltherrschaft, deren Gespenst schon sichtbar zu schwinden beginnt, müßten die oppositionellen deutschen Kräfte, die kulturellen nämlkh, erneut aufgerufen werden, auch wenn sie heute als teils altmodisch, teils utopisch erscheinen mögen. ,,8 Berücksichtigt man aber das Ganze und die letztliehe Intention der Texte, in denen solche Passagen vorkommen, dann wird deutlich, daß es nicht um konservative Kulturkritik, um die elitäre Spiritualisierung von Kultur und die Ignoranz gegenüber den materiellen Lebensbedingungen und gesellschaftlichen Verhältnissen ging, sondern um die Rettung kritischer Potentiale. "Aber", so heißt es in dem erwähnten Memorandum, "indem die Idealisten die engen und oft zwanghaften Grenzen des ,Praktischen' innerhalb des gegebe-
,
•
Horkheimer, GS, Bd. 12, S. 190. Deutsche Überselzung des englisenen Originals, ebd., S. 190 f.
122
Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
neo sozialen Gefüges durchbrachen, hjehcn sie auch gewisse Grundmocivc des Kampfs um politische Emanzipation am Leben, die in der geschäftigen Atmosphäre der in den westlichen Ländern herrschenden politischen Realitäten vergessen worden waren. [...] Die Tatsache, daß die große deutsche Philosophie weniger und mehr war als nur politische Philosophie, bringt eine Ambiguität der Deutschen selbst zum Ausdruck. Wenn sie niemals wirkliche Citoyen wur~ den und so teilweise unzivilhiert blieben, wurden sie doch auch niemals völlige Bourgeois, söhnten sich also nicht selbstgefallig mit dem intellektuellen und poLitischen starus qua aU5,,,9 Bei eben dieser Ambiguität der Deutschen setzten Horkheimer und Adorno an. Vor allem gilt das für Adorno, der darin eine erstaunliche Kontinuität bewies und darin seit den Zeiten der Weimarer Republjk einig war mit der Frankfurter Schule mehr oder weniger nahestehenden Linksintellektuellen wie Wal· ter Benjamin und Ernst Bloch. Es ging um ein Ansetzen bei der Ambiguität der Deutschen auf dreifache Weise: es galt, diese Ambiguität klar darzulegen; es galt, ohne Berührungsängste nach dialektisch brauchbaren Erbschaften Ausschau zu halten; es galt schließlich, die Deutschen zum renektierten Umgnng mit ihrer eigenen Ambiguität zu bringen, so daß an die Stelle einer split personaliry Ambiguitätstoleranz trat. 1n seiner Antwort "Auf die Frage: Was ist deutsch" führt Adorno vorsichtig als spezifisch deutsch an "dies Ineinander des Großartigen, in keiner konventionell gesetzten Grenze sich Bescheidenden, mit dem Monströsen".10 Aber was heißt das? Adorno gibt eine dreifache Antwort darauf. Die eine heißt: "Drang zu unendlicher Herrschaft [im politischen Bereich, R. W.] begleitete die Unendlichkeit der Idee, das eine war nicht ohne das andere."l1 Damit ist offenbar gemeint, daß ein alle Grenzen mißachtender großartiger Radikalismus des Geistes untrennbar verknüpft ist mit einem alle Grenzen mißachtenden monStrösen Radikalismus imperialistischer Politik. Andererseits heißt es bei Adorno auch, daß "die idealistischen Philosophien und Kunstwerke nichts tolerierten, was nicht in dem gebietenden Bannkreis ihrer Identität aufging".12 Damit wäre bereits jegliches Grenzüberschreiten, gleich in welchem Bereich, dem geistigen oder dem politischen, monstrÖS, weil es kein Grenzüberschrejten mit offenem Sinn für das jenseits der Grenze liegende Andere war, sondern ein Ausweiten des Herrschaftsbereichs und eine ignorante Integration des Anderen. Eine dritte Antwort besagt, daß das Großartige grenzüberschreitenden Geistes unter geeigneten Bedingungen zum Wegbereiter der Monströsität einer grenzüberschreitenden Politik werden kann.
, Ebd., S. 192 f. 10 Theodor W. Adorno, "Auf die Frage; Was ist deutsch", in: ders., a. M. 1969, S. 105. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 105 f.
SlidJ}JIOrlt,
Frankfurt
Wiggershaus, Was ist deutsch? Was ist normal?
123
Die drei Antworten bezeichnen kaum voneinander trennbare Aspekte und wollen letztlich das Bewußt.sein dafür schärfen, daß es darauf ankommt, sich durch das Monströse nicht den Blkk für das Großartige verstellen zu lassen, ohne aber das Monströse durch das Großartige zu rechtfertigen. Eine wichtige Rolle spielte dabei der Gedanke, daß nur durch großartige Kunst die Relevanz der Kultur gewahrt oder regeneriert werden kann. Wegen des Ineinanders von Großartigem und lv[onströsem etwas gänzlich zu verwerfen oder aus Furcht vor dem Monströsen das Großartige an der Entstehung zu hindern könnte monströse Folgen haben. Die vor allem von Adorno vertretene These war: Neutralisierung der Kultur lahmte die Widerstandskraft gegen autoritäre Regime und lag in deren Interesse. "Der Kulrurbegrifr', so heißt es am Ende des erwähnten ]\'lemorandums über "Deutschlands Erneuerung nach dem Krieg", "widersetzt sich seinem Wesen nach der administrativen Manjpulation und Reglementiemng. Das kommt nicht nur in der Entstellung der Kultur im Wege ihrer Aneignung durch die westliche Geschäftswelt zum Vorsche,in, sondern viel mehr noch im Nazi-Deutschland. Dort führt die Eingliederung aller kulturellen Aktivitäten in den imperialistischen Machtapparat zut völligen Sterilität aller Bereiche der Künste und der Geisteswissenschaften."13 Daß im nationalsozialistischen Deutschland die Kultur regredierte und die Kulturindustrie funktionierte und ein gespaltenes Bewußtsein stabilisierte, bestärkte Adorno in der Überzeugung, daß es darum ging, gegen die Neutralisierung der Kultur anzukämpfen, indem man zum Kulturgut Geschrumpft.es oder Aufgeblähtes auf seine in der Gegenwart verbindlichen Gehalte hin untersuchte. Ein besonders brisantes Beispiel für Adornos "Rettung" eines deutschen Extremismus für die westliche j"loderne stellte sein Umgang mit Wagner und dessen Musik dar. "Die eigentümliche Transzendenz Wagners zur Kultur - er ist immer über der Kultur und unter der Kultur zugleich - ist an ihm eminent deutsch", meinte Adorno 1963 in einem Vortrag über "Wagners Aktualiliü".14 Wo Wagner ins Extrem gehe, habe das aber immer seine genaue ästhetische Funktion. Dabei werde das Chaotische objektiviert, das Barbarische distanziert. Dem Zwiespältigen von Wagners Werk suchte Adorno Rechnung zu tra· gen durch die Enrschlüsselung des Doppelcharakters seiner Musik. Kennzeichnend für Adornos Verfahren war dabei der Zugang gerade von den am wenigsten oder nur einseitig rezipierten Teilen, Schichten, Momenten des Werkes aus. Gemessen an der herrschenden Rezeption Wagners suchle Adorno ihn also gegen den Suich zu bürsten, und er kam dabei zu dem Resümee: "Gewiß ist sein Gestus, das, wofür seine Musik plädiert - und Wagners Musik, nichr nur die Texre, plädiert unenrwegt -, ein Gesrus zugunsten der Mythologie. Er wird, könnte man sagen, zum Advokaten der Gewalt, so wie das Hauprwerk den Gewaltmenschen Siegfried verherrljchr. Aber indem die Gewalt in seinem
13 Horkheimer, es, ßd. 12, S. 194. l~ Adorno, GS, ßd. 16, S. 556.
124
Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
Werk rein, ohne aUes Verdeckende in ihrem Furchtbaren und Verstrickten laut wird, ist es trotz seiner mythologisierenclen Neigung doch, es mag wollen oder nicht, AnkJage gegen den Mythos."15 Die stets argumemative, vor dem Hintergrund der Überzeugung von der Vielschichtigkeit und dem Bedeutungswandel der Werke auf konkrete ästhetische Sachverhalte eingehende Adornosche Art des emphatischen Umgangs mit Kunst praktizierte beispielhaft Offenheit für AmbivaJemes und Eindringen in die Komplexität von Gegenständen. Was Adorno anzustoßen suchte, war nicht weniger als die Bildung der deutschen Hörer. Betrachter, Leser zu künstlerischer Mündigkeit. Verdächtiger war da das Harmlose als das mit Monsuösität Behaftete. "Today". so Adorno in dem oben erwähnten Entwurf für eine Umersuchung dar· über...Wh at National Socialjsm Has Done to the Ans". "we find the heritage of this denunciatory notion [of Kulturbolschewismus, R. W.) among some of the sincerest foes of the Hiderian system. The world has become so ugly and terrifying. so runs the argumem. that an should no longer dweil upon distorted forms. discords and everything branded as being destructive, but should return to the realm of beauty and harmony. The world of destruction. terror and sadism is the world of Hit.ler. And art should show its opposition to it by going back to its tradition al ideals."16 Wenn Habermas unter anderem in einem umer dem Titel "Die Hypotheken der Adenauerschen Restauration" 1994 veröffentlichten Interview daran erinnerte. daß die kulturelle Öffnung der Bundesrepublik nach Westen gegen die restaurative Dumpfheit der Adenauer-Periode mühsam genug durchgesetzt werden mußte, dann hatte er dabei vor allem Adorno als herausragende Schlüsselfigur im Sinn. Adorno war nach dem Zweiten Weltkrieg und seiner endgültigen Rückkehr nach Westdeutschland Anfang der fünfziger Jahte vielleicht der einzige, der eine Verbindung herstelhe, ja verkörperte zwischen deutscher, bis ins 18. Jahrhundert zurückreichender ambivalenter kultureller Tradition und westlicher Moderne.
Habermas: "Man kann mit spezifisch deutschen Erfahrungen reflektiert umgehen, ohne sich eine Sonderrolle zuzuschreiben" Horkheimer und Adorno benachteten die im nationalsozialistischen Deutschland praktizierte Kombination von gewaltsamem partikularem Fortschritt auf technischem, wirtschaftlichem und sozialpoljtischem Gebiet und komplementärer rassistischer Volksgemeinschafts- und Ursprünglichkeits-Ideologie als
15 16
Ebd., S. 549 f. Adorno, es, Bd. 20.2, S. 422.
Wiggershaus, Was
iSI
deutsch? Was ist normal?
125
Extremform des westlichen l'vlodernisierungsprozesses. Die Rückkehr nach Deutschland nach dem Krieg hatte für sie vor allem den Sinn, don, wo sich die historische Tendenz zur verwalteten Gesellschaft am explosivsten manifestiert hatte, zur Entschleunigung und Verzögerung mit den vor Ort gegebenen und ihnen am ehesten vertrauten und zugänglichen Mineln beizutragen. Für Habermas, wesentlich geprägt durch dje reeducation, war Auschwitz eher eine Mahnung, den deutschen Sonderweg aufzugeben und sich in den westlichen Entwicklungspfad als Garanten einer wie immer auch ambivalenten Normalität zu integrieren. Die These eines deutschen Sonderwegs, seit der Französischen Revolution aktuell, haue wechselnde Bedeutungen. Im Zeüalter der preußischen Reformen und in den Regionen eines rheinischen Kapitalismus vor 1848 stand sie für die Überzeugung, daß Deutschland durch politische Reformen bzw. einen sozial verantwortlichen Kapitalismus auf friedliche, gemäßigte, konfliktlose Weise erreichen könne, was westliche Länder wie Frankreich und England in krisenhafter und gewaltsamer Form erreichten. Später war die Sonderwegsthese autoritär-konservativ geprägt und diente zur Rechtfertigung eines deutschen Wegs, der gekennzeichnet war durch einen starken Staat und ein schwaches Parlament, eine starke Wirtschaft und eine nationalj· stische Kultur. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg und der Adenauer-Ära wurde die Sonderwegsthese in einer kritischen Variante aktuell. Nun wurden die Schwäche des Bürgertums und des Parlaments, der Überhang konservativer Elüen und die Staatsideologie als Ursachen für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und das Scheitern der Weimarer Republik mit all seinen Folgen zum Beleg für einen deutschen Sonderweg mit negativem Vorzeichen. Dabei wurde allerdings eine kritisch gesehene deutsche Realüät an einem unkritisch gesehenen Amalgam von französischem und englischem Ideal gemessen. Nach dem Ende der sozialliberalen Phase der Bundesrepublik wurde immer ausgeprägter erneut eine konservative positive Variante der Sonderwegsthese vertreten, die durch die deutsche Wiedervereinigung Stärkung erfuhr. Sie besagt, daß Deutschland dann endlich wieder eine normale Rolle spiele, wenn es im Bewußtsein seiner besonderen Funktion als mitteleuropäische Macht zwischen West und OSt die Balance halte und auf der weltpolitischen Bühne so selbstbewußt und im stolzen Bewußtsein einer zustimmungsfahigen Vergangenheit auftrete wie andere starke Nationen. Wohl keiner hat so beharrlich und entschieden jedem ungeduldigen Normalisierungsverlangen durch den Hinweis auf den deutschen Zivilisationsbl"Uch und eine spezifisch deutsche Dialektik der Normalisierung widersprochen wie Habermas. Für ihn sind mit dem spezifisch Deutschen nicht wie für Horkheimer und Adorno auch besondere Chancen für einen erträglichen westlichen Fonschritt verbunden, sondern einzig besondere Bedingungen für eine Anglei. chung Deutschlands an den Westen. "Nach Auschwitz", so Habermas 1986 im Rahmen des sogenannten HistOrikerstreits in einem Zeitungsartikel "Vom öffentlichen Gebrauch der Historie", "können wir nationales Sclbstbewußtsein allein aus den besseren Traditionen unserer nicht unbesehen, sondern kritisch
126
Diskussionen des zwanzigsten Jahrhundens
angeeigneten Geschichte schöpfen. Wir können einen nationalen Lebens· zusammenhang, der einmal eine unvergleichliche Versehrung der Substanz menschlicher Zusammengehörigkeit zugelassen hat, einzig im Lichte von solchen Traditionen fortbilden, die einem durch die moralische Katastrophe be· lehrten, ja argwöhnischen Blick standhalten. Sonst können wir uns selbst nicht achten und von anderen Achtung nicht erwarten,"I' Es gehr dabe,i um historische Interpunktionen, um Akzentsetzungen beim Blick auf historische Tradi· oonen, letztlich darum, ob Deutsche ohne Verharmlosung von Auschwitz und unter Betonung von deutschen Traditionen, in deren Licht Auschwitz erschrecken läßt, eine schwierige Normalität wählen, oder ob sie um den Preis einer Verharmlosung von Auschwitz und unter Betonung von deutschen Traditionen, in deren Licht Auschwitz nichts nachhaltig Erschreckendes hat, eine unkomplizierte Normalität wählen, in der eine homogene Gemeinschaft Selbstbestätigung findet und durch ihren kollektiven Narzißmus eine ständige Bedrohung für die übrige Welt darstellt. Schwierige Normalität würde bedeuten, die Opfer, tote wie überlebende, ins deutsche Gedächtnis, in die deutsche historische Identität aufzunehmen und die starke wirtschaftliche und zuneh+ mend auch politische Position auszubalancieren durch das Bewußtsein der erfahrenen eigenen Schwäche im moralisch-ethischen Bereich - kurz: durch den wachen Sinn für die in Deutschland in extremer Form zutage getretene und weiterhin deutliche Dialektik des Fortschritts. Nahe daran, eine solche Vorstellung von schwieriger deutscher Normalität öffentlich zur Diskussion zu stellen, war in den sechziger Jahren einmal Hork+ heimer. In der Frankfurter Allgemeinen Zeit/mg hatte er gelesen, der damalige langjährige Präsident des deutschen Bundestages, Eugen Gerstenmaier, habe erklärt, es gebe in der Bundesrepublik keinen Antisemitismus mehr. Daraufhin verfaßte Horkheimer einen Brief, in dem er prägnant umriß, was Habermas später Dialektik der NormaUsierung nannte. "Die gemeinschaftliche Sclbstbezichtigung war unrecht und unwahr, denn sie bezog nicht nur die Anständigen, sondern die zahllosen Helden und Märtyrer ins falsche Wir der Hitlerzeit mit ein. Schuld betrifft die Einzelnen und sei· en es noch so viele; aUes andere ist verhängnisvoller Mythos. Wäre jenes falsche Bekenntnis wahr und aufrichtig gewesen, dann würde das deutsche Volk jedem ins Won fallen, der heute davon spräche, Antisemitismus, Haß, Gewalttat könne in ihm nicht mehr sich ausbreiten, [... 1 und nur die draußen oder die möglichen Opfer dürften, von sich aus, darauf beharren, die Gefahr des Hasses sei in Deutschland vorbei."18 Horkheimer wollte keinen Aufruf zur Buße. Die Jugend sollte die eigene Geschichte kennenlernen ohne das Gefühl der t'vlindecwcrtigkeit, des Neids
11
18
Jürgen Habermas, "Vom öffentlichen Gebrauch der Historie", in: ders., Eint Arl S(hadtnJab.ridehutg, Frankfurt a. M. 1987, S. 142. Brief Horkheimer-Gerslenm2ier, 10. Juni 1963, in: Horkheimer, GS, Bd. 18, S. 549.
Wiggershaus, Was ist deutsch? Was ist normal?
127
und des geheimen Grolls. "Mit dem Hitlerreich, als es noch groß und mächtig war, dje Arbeitslosigkeit durch Diktatur kurierte und fast den Krieg gewann, ebenso wie mü der Niederlage, haben die Deutschen eine Erfahrung gemacht, die andere Völker, etwa Frankreich, durch ältere, umjubelte Diktaturen und deren Niederlagen, einmal gewon.nen und fast schon wieder vergessen haben. Die Gewaltherrschaft war in Deutschland krasser, weil sie in der Entwicklung später kam, wirksamerer Techniken sich bedienen konnte und ein schlechteres Gewissen übertönen mußte als frühere Tyranneien anderswo. Einmal haben die Alliierten Frankreich von Bonaparte befreit, der sonst Europa erobert hätte. Wenn die Jugend in Zukunft für ihre demokratische Verfassung einstehen und dje Verächter der Menschenrechte im Osten oder Westen selbst verachten soll, so muß sie in einem schwierigen inneren Prozeß die Unverletzlichkeit der Person erst als Idee sich zu eigen machen und an der deutschen Geschichte die unendliche Bedeutung individueller wie kolJektiver Freiheit einsehen lernen. I... J Die Nazi-Episode darf nicht bloß ein dunkler Fleck in der eigenen Geschichte blejben, sie kann als eines der schmerzlichen historischen Erlebnisse des eigenen Volks erinnert werden, durch die es mündig wird. [... 1Um ihre gefährdete Kultur zu bewahren, müssen die Völker dieses Kontinents [... J daran denken, daß sie jeden Augenblick in Frage steht. Sie bedürfen der Fähigkeit, auf die Illusion zu verzichten, die in ihrem Innern lauernde Barbarei sei tot."19 Horkheimer schickte den Brief dann nicht dem Präsidenten des deutschen Bundestags, sondern einen Durchschlag dem hessischen Minister für Erziehung und Volksbildung als Anregung für den Unterricht. Worauf HOtkheimer resigniert verzichtete und was ja in der Tat ohne entsprechende Partner auf seiten der Vertreter einer postfaschistischen deutschen Identität nicht von einem Überlebenden getan werden konnte, hat Jürgen Habermas sich zur Aufgabe gemacht: das Gespür dafür wachzuhalten, daß "nur die schmerzhafte Vermeidung eines doch nur zudeckenden Bewußtseins von ,Normalität'" auch in Deutschland nach der Adenauerzeit einigermaßen normale Verhältnisse ermöglichte, daß Normalität in Deutschland nur eine schwierige sein kann. Spezifisch deutsch wäre dann nicht mehr das Ineinander von Großartigem und Monströsem, sondern eine besonders verständigungs bereite und weitgehende Akzeptierung des Anderen, Abweichenden dank einem besonders ausgeprägten Bewußtsein fur die Zerbrechlichkeit und Gefährdetheit der eigenen Identitat. In der von Habermas entwickelten Variante kritischer Gesellschaftstheorie liegt der Akzent auf einer Kritik der Verständigungsverhältnisse. Im Licht seiner Teilnahme als Intellektueller an der öffentlichen Erörterung deutschen Selbstverständnisses zeigt sich, daß das eng zusammenhängt mit einer generationsspezifischen Erfahrung. Eine traumatische Vergangenheit verlangt nach der Auflösung scheinhafter Akzeptanzen und der Herausbildung einer poljti-
19
Ebd., S. 551 f.
128
Diskussionen des zwanzigsten Jahrhundens
sehen Kultur, in der die öffentliche und argumentative Auseinandersetzung als selbsrverständlkh gilt. Wird eine traumatische Vergangenheit verdrängt gehaltcn - sei es durch Beschweigcn, sei es durch bloß entlastende Rituale und Denkmäler - hat das fatale Folgen, die in der zeitlichen Distanz eher noch an· wachsen. Zu solchen Folgen gehören eine dauernde Dumpfheit des gesdJschaftliehen Klimas und die Fortsetzung einer einseitigen Modemisierung, die die moralische und zivilgeseUschaftliche Dimension vernachlässigt.
Wolfgang Eßbach
Subversion, Kritik und Korrektur als Theorie-Praxis-Modelle
I Wissen soll anwendbar sein. Prax..isferne Bildung, Grundlagenforschung, wissenschaftliches Liebhabertum, v3!folbunclierencle Renexion - sie sind vielleicht dann noch eine gewisse Zeit an Universitäten geduldet, wenn sie glauben machen können, daß in ihrem Bereich auf wundersame Weise demnächst etwas entsteht, das irgendwo zum Wohle eines kJcineren oder größeren Teils der Menschheit angewandt werden kann. In dieser rarendrangvoUen Atmosphäre von WissensgeseLlschaft haben Disziplinen, die zur Erfindung, Herstellung verkaufbarer Güter oder der AusbiJdung von Fachpersonal mit unersetzbaren Fähigkeiten beitragen können, massenkommunikative Vorteile vor den Fächern, deren Identität an große Theorie gebunden islo Es ist das Glück der Soziologie, daß sie zumindest in Europa die spannungsvolle Nähe zu der Art von Philosophie gewahrt hat, die nicht als historische oder kognitivistische Spezialdisziplin abgedankt halo Wer heute in Sozial- und Kulrurwissenschaften nach anspruchsvollen Modellen für Theorie-Praxis-Verhiltnisse Ausschau hält, in denen nicht praxisorientiert theoretisiert, sondern theorieorientiert Praxisformen thematisiert werden, wird bald auf drei Theorietraditionen und DenkSchulen stoßen, deren umerschjedliche Auffassungen über Jahrzehnte Gegenstand von zum Teil sehr unfruchtbaren Abgrenzungsdebanen gewesen sind: "Poststrukturalismus", "Kritische Theorie" und "Philosophische Anthropolo· gie". Die intellektuellen Grabenkämpfe von "Struktur" versus "Geschichte", "Geschichtlichkeit" versus "Anthropologie", "Subjektverendung" versus "Authentizität", "Vernunft" versus "biologistischer Irrationalismus" und andere mehr haben dabei aHzuoft verdeckt, daß mit diesen Richtungen drei Themen im 20. Jahrhundert aufgebrochen sind, die für das sehr alte Iheona Cilltl praxi einen neuen Zugang versprechen. Nimmt man zum Beispiel Michel Foucauh, Theodor W. Adorno und Helrnuth Plessner als Repräsentanten, so ließe sich sagen: Bei Foucault geht es neben vielem anderen um das Verhältnis von Surrealismus und Strukturaljsmus, um dje Beziehungen zwischen Kunstpraxis und Wissenschaftspraxis, zwischen Poesie und Präzision, zwischen Suggestion und Rationalität. - Bei Adorno geht es um das Risiko der Fortsetzung des Marxismus aJs einer Fortsetzung der revolutionären Tradition Europas, ob man sie nun in der alten Welt, im
130
Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
Mittelalter oder in der Neuzeit beginnen läßt. - Bei Plcssncr geht es um das Verhältnis von Biologie und Kultur des Menschen, das sich mit den dramatischen Fortschritten der Humanwissenschaften und ihrer technischen Anwendungen neu stellt. - Foucault, Adorno und Plcssner sind insofern beliebige Namen, sie dienen als Abkürzung von Problem beschreibungen, die sich im 20. Jahrhundert bei zahlreichen InteilekrueUcn wiederfinden lassen. Man könnte auch sagen, es geht um die drei Antinomien von Lebenskunst und Wissen schaft, von Glücksversprechen und Herrschaft, von Würde und Vercinseiti4
gung. Subversion, Kritik und Korrektur sind drei Thcorie-Praxis·Modclle, die ich an die genannten Theorietraditionen anschließen möchte und die ich auch diesen Theorietraditionen entnommen habe. Ich werde in einem erSten Schritt eine grobe s)'stematische Skizze von Theorie-Praxis-Rahl1lUngen versuchen und dann in einem zweiten Schritt ein Stück weit in die theoriegeschichtlichen Verwicklungen einsteigen. Schließlich werde ich einige Elemente für eine Beschreibung der heutigen Situation herausstellen.
II Das Verhältnis von Theorie und Praxis stellt sich je nach Wahl des Rahmens etwas anders dar. Die wichtigsten bekannten Rahmungen seien hier provisorisch gegliedert. Dabei werden die Differenzen überbetont. In der Denkge~ schichte des Theorie-Praxis-Problems sind vermutlich Mehrfachnutzungen der Rahmenbestimmungen das eigentlich Interessante. Den historisch frühesten Rahmen bildet vielleicht der Rahmen des Heiligen und des Profanen. Die TheoriesteIle nimmt hier eine Prophetie oder ejne Vision ein, oftmals handelt es sich um Erscheinungen des Traumes. Es ist eine besondere Qualität spiritueller Erfahrung, die sich dann einstellen kann, wenn der Druck des Alltags ruht und die Tätigkeit der praktischen Lebensgestaltung ausgesetzt ist. Daß das Bereitmachen für die göttliche Inspiration seinerseits zum Teil sehr umständliche rituelle Praktiken erforderlich macht, ist bekannt. Aber diese Praktiken sind Pseudo-Praktiken, sie sind abgehoben von dem, was in unheiligen Handlungsbereichen getan wird. Theorie ist in diesem Rahmen transzendierend, Praxis verbleibt in der Immanenz. Theorie richtet sich auf den Bereich des AußeraUtäglichen, sie soll gerade in Spannung zum gewöhnlichen Tun und Lassen treten und weitabgewandt ein Reich eröffnen, das nicht von dieser Welt ist. Neben die religiöse Rahmung kann diejenige gestellt werden, die in der Formel "Philosophie und Leben" vorljegt. So sei Thales, während er sich mit den Sternen beschäftigte, in einen Brunnen gefallen und habe sich von der lachenden Dienstmagd aus Thrakien sagen lassen müssen, er wolle Dinge am Himmel zu wissen bekommen, während ihm doch schon das, was ihm vor den Füßen liege, verborgen bleibe. Hans Blumenberg hat die zahlreichen Versionen dieser
Eßbach, Subversion, Kritik und Korrektur
131
Geschichte von Platon bis Heidegger als eine "Urgeschichte der Theorie" nacherzählt. Das Denken wird hier als eine Abstraktion vorgestellt, die von der RaumzeitstelJe des Körpers wegführt, so daß schon ein kJeiner Schritt zum nfall führt. Diese Theorie kann auch graue Theorie werden, die vom bunten Traum des Lebens Abschied genommen hat. Es ist die unempirische Theorie, die gegen das Pathos des "Wirklichen", sei es als "wirkJichen Menschen" Feu· erbachs, sei es als "Studium der Wirklichkcit" bei Kar! ,fanc in Anschlag ge· bracht wird. Oft ist es eine Art Idealismus, der diese TheoriesteIle einnimmt. eine handlungslose Selbstbesinnung oder Reflexion, in der man Arnold Gehlen zufolge gar keine \'(/irklichkeit erfahrt. Umgekehrt entsteht solche Reflexion als ein Kreisen in sich, wenn Handlungschancen verwehrt sind oder wenn Praxisräume verschlossen erscheinen, weil die Fallhöhe zwischen dem orientierenden Leuchten der Sterne und den banalen Hindernissen einer Wegstrecke zu groß ist. Eine insistente DauerreOexion ist nach Helmut Schelsky bekanntlich nicht institutionalisierbar, und wo sich Reflexionseliten gebildet haben, gilt für ihn buchtitclgebend "Die Arbeit tun die anderen". Sonntägliche Vision und Alltag, die Theorie des Himmelsgewölbes und die praktischen Schritte - in beiden Rahmungen ist die Praxisseite nur umrißhaft als eine Seite, die einen Abstand zur Theorie hat, eingeführt. Wollte man weitere Differenzierungen entwickeln, so ließen sich in idealtypischer und heuri· stischer Hinsicht drei differenziertere Theorie-Praxis-ModeUe bilden: I. Kopfarbeit und Handarbeit, 2. \Xlissen und l'o-lacht sowie 3. Projekt und Experiment. 1. Die Theorie·Praxis· Vermittlung kann in der marxistischen ünie als Unter· schied von Intellektuellen und Proletariern, von Kopfarbeit und Handarbeit profiliert werden. Der junge Mars: hat in Anschluß an Moses Heß' europapolitisches Konzept eines Bündnisses deutscher Theorie und französischer Praxis sein generalisiertes k1assentheoretisches Bündnis von Philosophie und Proletariat entwickelt. Dabei ist die Theorieseite als gründliche Philosophie oder spä. ter häufiger als Kritik bestimmt, während auf der Praxisseite schwankend mal "Herz" und mal "Hand" als Metaphern dienen werden. Beide könnten heute als Solidaritätsfahigkeit des Einzelnen und als Organisation der Arbeit übersetzt werden. Darüber hinaus erscheim die Praxisseite als in verschiedener Weise so .. materialistisch" konnotiert, daß der a.Ite Gegensatz von Geist und Natur weitertransportiert werden kann. Die marxistische Arbeitsteilungslehre ist in den Narrativen \'on der Entstehung der Arbeitsteilung schwankend. Zunächst ist die Arbeitsteilung von Mann und Frau im Geschlechtsakt begründet. dann gilt als größte Teilung der geistigen und körperlichen Arbeit die Trennung \'on Stadt und Land. In der Kritischen Theorie jedenfalls ist das Motiv hochpräsent. Bei Adorno mit einem besonderen Interesse am Einzelsubjekt. Meine These ist. daß das Theorie·Praxis-ModeU vom Typ Kritik wesent.lkh dieser Tradjtion, Theorie-
132
Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
Praxis-Vermittlungen anzulegen, entspringt: Theorie ist Kritik der Praxis; Kritik richtet sich gegen ein Denken, das vom Boden der Praxis als Herz oder Hand oder vom Boden des Landes, später der Industriearbeit, heute vielleicht der Computcrarbeit, als primärer Produktion einer Lebcnswelt abhebt; in jedem Fall gegen ein Denken, das die materiellen Bedingungen seiner Einzelexi· stenz ignoriert. Kritik ist hier eine Doppelwaffe. sie ist einmal Kritik bestehender Praxis und das andere Mal mit Bezug auf die best,ehende Praxis, Kritik des
Denkens. das sich dieses Bezuges enthebt. 2. \'Vissen und Macht profiliert die Theorie.Praxis-Beziehung anders. Das Thema gewinnt mit Bacons "Wissen ist Macht" an Fahrt und ist lange um das Verhältnis neuzeitlicher Wissenschaft zur staatlkhen Macht zentriert. 1n der stilbildenden Vergesellschaftungsform neuzeitlicher Naturwissenschaft geht es um die Kreation harmloser wissenschaftljcher Gegenstände, die so gemacht sind, daß die Risiken kjrchlicher und staatlicher Verfolgung und Verfemung minimiert werden. Zuerst gelingt dies im Bereich des praktischen Umgangs mit Sachobjekten. Der Streit zwischen Boyle und Hobbes über die politischen Konsequenzen oder die Harmlosigkeit etwa der Theorie des Äthers ist hier paradigmatisch. Wissen erscheine als so fachlich sortiert, daß die aneinander angrenzenden Thematiken in ihrem Bestand nicht gefährdet werden, es gibt Zuständigkeiten und Mandate für Aussagengebiete. und diese Institutionen, die Stätten sachhingegebenen Forschens sind, kodieren sich selber als unpolitische Einrichtungen. die gleichwohl eine l\:lehrung des Wohls eines kleinen oder großen Teils der Menschheit versprechen: ungemein praktisch und ungemein unpolitisch. \'Vissen und Macht ist das zentrale Thema der Diskursanalysen Foucaults. l'vleine These iSt, daß das Theorie-Praxis-ModeU vom Typ Subversion wesentlich dieser Thematik entspringt. Das sich selbst neutralisierende und sich selbst verharmlosende Wissen, das seinen letzten Boden in der reinen Wahrheitssuche finden möchte. wird von Foucault einer strukturalistischen Analyse un· terzogen, die die Reinheit und Klarheit des epistcmischen Modells oder Paradigmas redupliziere, um diese dann als eine surreale Welt erscheinen zu lassen, die mit dem Politischen von Gewalt. Eroberung, Ausschluß, Einsperrung, das heißt der Organisation gesellschaftlicher Macht, zutiefst verflochten ist. Die Erschünerung der unpolitischen wisscnschaftlkhen Wahrheit geschieht auf dem Wege der Subversion, und sie bedient sich der poetisch-politischen Prak· tiken des Surrealismus. 3. Schließlich Projekt und Experiment. Diese Profilierung des Theorie-Prax.is· Verhälmjsses nimmt dje krisenhaften Verwerfungen zwischen Philosophie und Naturforschung zum Ausgangspunkt. Auf der Theorieseite wird der Entwurfscharakter des Geistigen, sein utopisches, planerisches und gestalterisches Potential akzentuiert. Es geht nicht um die Subversion einer hinter den Epistemen liegenden ruhigen Wahrheit, auch nicht um die nachträglich kritisch fest-
Eßbach, Subversion, Kritik und Korrektur
133
zustellenden Bedingtheiten von Theorie, vielmehr ist mit der Leib-Körperlichkeit des Menschen schon im Ansatz eine Verschränkung von Theorie und Praxis gegeben. Der werdende Mensch als ein Projekt steht im Zentrum der Philosophischen Anthropologie I\lax Schelers. Bei Plessner ist menschliche Existenz von vornherein essa)'istisch, im Sinne eines: Es immer wieder von neuem versuchen. Dies gehört zu seiner Würde. Praxis berührt sich hier mit den Traditionen des amerikanischen Pragmatismus, dem freilich nicht unbedingt eine prädestinierte Garantie des JIInit'ol mügegeben ist, sondern bei dem insgesamt der \'(/agnischarakter mit aU er Tragik und Komik betont wird. Akzentuiert werden dabei gerade die spielerischen und empfindlkhen Seiten, die sowohl Praxis wie Theorie haben können. I n der lebensphilosophischen Grundierung spielt das Motiv der Kreativität eine besondere Rolle. Das Spiel liegt zwischen Revolution und Zerstreuung. Künstlerisches und technisches Handeln haben gleichen Wen. Meine These ist, daß das Theorie-Praxis-Modell vom Typ Korrektur wesentlich dieser Theorie.Praxis-Auffassung entspringt. Die Ausarbeitung der naturalen Seiten menschlicher Existenz korrigiert die Überbetonung des Geistigen, und ebenso wird eine Naturalisierung und Biologisierung menschlkhcr Kultur zurückgewiesen, die den Bruch im Evolutionsgeschehen der atur nicht wahrhaben wilJ. den menschliche Geistigkeit durch ihr Neinsagenkönnen verursacht hat. Es ist ein heterogenes Erbe, das Plessner, Adorno und Foucault hinterlassen haben. Es verführt zum Spiel mit Hegemonien und gegenseitigen Verwerfungen, sei es, das man der Subversion die Kraft zubilligt, Kritik und Korrektur mau zu machen, oder sei es, daß Korrektur und Subversion von Grund auf kritisiert werden oder daß im Gegenzug Kritik und Subversion ihre Korrekturen erfahren. \'he immer auch die Rosse vor der \'\Iagen gespannt werden, anspruchsvolle Theorie-Praxis-Beziehungen heute halten das Disparate zusammen, es sei denn, man nähme in Kauf, alles zu verfehlen.
III Nach dieser systematischen Skizze möchte ich Verflechtungen der drei Modelle ein Stück weit theoriegeschichtlich entwickeln. Subversion, Kritik und Korrektur haben jeweils eine enorme inteJIektuelle Vorgeschichte, bis sie die Gestalt gewonnen haben, die Foucault, Adorno und Plessner ihr gegeben haben. Hilfreich ist es, genauer auf die Urszene um 1900 zurückzugehen, in der in der Grundlagenkrise moderner Wissenschaft die Einheit von Natur- und Geisteswissenschaften so zerbricht, daß diese Kernspaltung sich innerhalb der einzelnen Domänen fortlaufend fortsetzt. Natur- und Geisteswissenschaften treten in dem Moment auseinander, da sowohl für den Naturbegriff wie fur den Geistbegriff neue wissenschaftliche Rahmungen erforderlich werden. Sowohl Philosophische Anthropologie und das Modell der Korrektur als auch Kriti-
134
Diskussionen des zwanzigsten Jahrhundens
sehe Theorie und das Modell der Kritik wie auch die Spannung zwischen Sur4 realismus und Strukturalismus, die für den späteren Poslstrukturalismus maßgeblich werden wird, haben in derselben Krise ihren Ursprung. Ich erinnere nur stichwortartig an einige Zusammenhänge. Oie alte VorsteUung einer Gesetzesratio, die der atur immanent ist und die menschlicher Intellekt nach und nach durchsichtig machen kann, weil er selbst de,r narurimmanenten Gesetzlichkeit angehört, muß angesichts biologischer und psychologischer Forschung fallengelassen werden. Die stabile Beziehung physikalischer Naturgesetzlichkeit, die sich im zeitlichen empirischen Geschehen zeigt, zum erkennenden Vernunftsubjekt, das sich seiner zeitlosen Vernunftfunktion sicher ist, wird fraglich, wenn z. B. nach Hirnschädigungen bei Aphasikern oder bei Versuchspersonen nach Einnahme von Rauschmitteln nicht nur Ausfallerscheinungen zu vermelden sind, sondern aus dieser Natur heraus sich relativ geschlossene Sonderwelten einer anderen Wahrnehmung lind eines anderen Denkens bilden. Mit diesen und anderen Forschungen, z. B. mit Uexkülls protokybernetischer Umweltlehre, werden biologische Phänomene vom physikalischen Naturbegriff ein Stück weit distanziert und in eine neue Beziehung zu psychischen Erfahrungs- und Erlebniswelten gebracht, für deren Emschlüsselung nicht zuletZf die Psychoanalyse genutzt werden konnte. Die Aphasiker von Gelb und Goldstein, Freuds Traumdeurung und die Rauschmittelexperimeme, sie kehren als Bezugspunkte bei Plessner und Adorno ebenso wieder wie im Surrealismus und Strukturalismus als den beiden Hauprquellen für das Denken Foucaults. Während biologische und psychologische Forschung sich aus dem allgemeinen Physikalismus des Naturbegriffs herausarbeiten, in dem Zug um Zug Differenzierungen zwischen Anorganischem und Organischem und solchen zwischen Organischem und Psychischem hervortreten, pluralisiert sich mit den Fortschritten von ethnologischer, soziologischer und histOrischer Forschung das, was als menschlicher Geist bislang kohärent und eindeutig vorgestellt wurde. Kunst, Religion und das Wissen selbst stehen nicht mehr niederen Lebensphänomenen absolut entgegen, sondern werden daseinsrclativ. Ausgearbeitet werden Korrelationen von Natürlichkeit lind Künstlichkeit, einmal Marx weiterschreibend - der natürlichen Lebensgrundlagen und der Wirtschaftsweise, dann - Freud weiterschreibend - der biologischen Sexualfunktionen und der Familienformen mit allen Sex-Gendcr-Verhältnissen, sowie schließlich - Nietzsehe weiterschreibend - des vitalen Dominanzstrebens und der Formen von Recht und Politik. Über Wahrheit und Wissen kann man seitdem nicht mehr sprechen, ohne sich mü Fragen von Historizität und Kulturrelativität auseinanderzusetzen. Die GeschichtJichkeit der \'(lehsicht und die topologische Streuung nebeneinanderliegender und ineinander verschachtelter Wehen ist in den Referenzen z. B. Plessners auf Dilthey, Adornos auf Man: und Foucauhs auf den Surrealismus stets präsent. lvlit diesen Entwicklungen erwies sich die philosophische Bastion des Neukantianismus, das heißt der strikten Scheidung ideographischer Wertewissen-
Eßbach, Subversion, Krilik und Korrektur
135
schaften und nomothetischcr Gesetzeswissenschaften als viel zu sperrig. Dies ist freilich nur die Sicht auf die innerakademische Problemlage. Die Grundlagenkrise der Wissenschaften war zugleich eine allgemeine Kulturkrise, in der um es hier einmal mit luhmannschen Vokabeln zu sagen - die stabilisierenden Interpenetrationen und strukturellen Systemkopplungen so gelockert und außer Betrieb gesetzt waren, daß die Funktion des Wissenschaftssystems und der Universität für andere Systeme und damit eben auch das Denken von TheoriePraxis-Vermittlungen neu bestimmt werden mußten. Exemplarisch Ließe sich dies an der neukamianischen Debatte um die Wert~ freiheit der Wissenschaft zeigen. Die Wertfreiheitsforderung, aus der innerwissenschaftlichen Scheidung von Wer[ und Wissen abgeleitet, ermächtigt die Welt der politischen, technischen und ästhetischen Praxis in ganz neuartiger Weise zu eigenen Werrsetzungen und Sinnstiftungen, die als legitime Interessen-Ideologie, als Selbstbindung in religiöser Überzeugung, als arbiträre Selbstbeschreibung oder als unhintergehbare Weltanschauung dem alten Aufklärungsanspruch der Wissenschaft im Kern entzogen werden. Umgekehrt suchen Wirtschaft, Technik und Politik ihre mehr und mehr entbürgerl.ichten wilden Wensetzungen durch exklusive Beziehungen zu Teilen der Wissenschaft argumentativ aufzubessern. Die Bündnisse Wissenschaft und Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, Wissenschaft und Technik, Wissenschaft und Verwaltung usw. beginnen zu wuchern. Die Scheidung von Wen und Wissen führt so im 20. Jahrhundert zu kontingenten Theorie-Praxis-Kopplungen. Es handelt sich um jeweils an isolierten, speziellen Praxisbereichen orientierte Theoretisierungen von bisweilen sehr kurzer Reichweite, die über irgend einen zusammenhängenden Theorie- oder Wissenschaftsbegriff nicht mehr zu fassen sind. Gegen solch okkasionelle und opponunistische Praxisorientierung von Theorie waren Poststrukruraiismus, Kritische Theorie und Philosophische Anthropologie bei aUen Unterschieden in dem, was sie als wirksames philosophi~ sches Ferment herausstellten, an theorieorientienen Praxis formen interessiert. Es ließe sich gerade an den Schriften von FOllcault, Adorno und Plessner auch zeigen, welche Anstrengungen nötig sind, das Prinzip der Wertfreiheit der Wissenschaft nicht zum Vorwand werden zu lassen, sich der Theorie-Praxis-Vermittlung überhaupt zu verweigern oder sich nur an die Vorgaben zu halten. Subversion, Kritik und Korrektur können somit auch als drei Versuche gelesen werden, der Zerreißprobe zwischen wenfreier Wissenschaft einerseits und den kontingenten Praxisanschlüssen an politische Ersatzreligionen bzw. technokratische Markrverwertung andererseits zu entkommen. Im Theorie·Praxis-Modell Kritik geschieht dies zum Beispiel in der Formel, daß philosophische Kritik sich am Leben hält, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt wurde. Das theoretisch Wichtigste ist praktisch unabgegohen. Also gilt es mit langem philosophischem Atem zu warten u.nd in gewisser Weise die alt jüdische Figur der Umerschiedslosigkeit von Leben und Lehre, das heißt das Dasein als eine Darstellung des Gesetzes durchzuhalten. Im Theorie~Praxis~Modell Korrektur ist die Formel vom hOlJlo abscolldi/UI das
136
Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
Medium, die praktischen Einseitigkeiten von erstelltem und angewandtem Spezialwissen sowie systemischen Verhaltenserwartungen zurechtzubiegen. Der praktische Experimentalismus der Neuzeit wird dabei philosophisch-anthropologisch auf den Menschen als Frage rückbezogen. So sind Korrekturen von VergegenständLichungen und Verfügbarmachungen möglich und sichern menschliche Möglichkeiten in eine menschliche Zukunft hinein. Im Theorie-Praxis·ModeU Subversion fühn die Verfremdung von wissenschaftlichen und denksystematischen Plausibilitäten und Evidenzen zu einer Neutralisierung zweiten Grades und zu einem praktischen ethisch-ästhetisch gebundenem Spiel mit Kontingenz. Der Hauptgegenspieler Kritischer Theorie ist vielleicht die politische ErsatzreLigion gewesen, sei sie nun eine bolschewistische, sozialdemokratische, christlich-soziale oder -liberale Weltanschauung. Im Zentrum steht die Dialektik jeder Aufklärung und Emanzipation. Der Kern bei Adorno ist die Ideologiekritik als eine negative Theorie-Praxis-Identität. - Die Philosophische Anthropologie hat ihren Widerpart in den sich ausdifferenzierenden Wissenschaften vom .Menschen, und zwar insbesondere in den Wissenschaften, die die Erforschung des menschlichen Organismus und dje Erforschung des menschlichen Geistes nicht zum Ausgleich bringen können. Der Kern Philosophischer Anthropologie ist die Korrektur von Biologismus und Kulturalismus, und deren entsprechenden technisch·wirtschaftlichen und technisch-administrativen Anwendungen. - Der Poststrukturalismus Foucaults hat seinen Widerpart in den neutralen Wissenssystemen. Sie werden aber nicht mit Blick auf ihre innere ZerkJüftung wie bei Plessner korrigiert, auch nicht mit Blick auf ihre Ideo10gieHihigkeit für politische Ersarzreligionen der Emanzipation kritisiert wie bei Adorno, vielmehr geht es um die Subversion des Wissens durch Surrealisierung. Die Absurdität, der Wahnsinn und die Verkehnheit der Evidenzen, die wir für wahr halten, enthüllt sich durch die Praxis poetisch-präziser Gesten. Zielpunkt ist dabei eine Ästhetik der Existenz, das heißt - um zu differenzieren - nicht Würde wie bei Plessner, nicht Utopie der Versöhnung wie bei Adorno.
IV Abschließend noch emige Überlegungen zu der Frage: Tragen die drei Theorie·Praxis·Modelle noch heute und für die Zukunft? Die Antwort ist einfach: Solange keine neuen Konzepte erkennbar sind, bleiben uns nur die, die skizziert wurden. Wenn nun keine neuen Konzepte vorliegen, sondern wir auf eine postmoderne Reflexion der Konzepte der Moderne des 20. Jahrhunderts verwiesen sind, so bleibt freilich immer noch die Umwegfrage: wie steht es mit den gesellschaftlkhen Bedingungen, an die Subversion, Kritik und Korrektur, an die ein Denken im Geiste Foucaults, Adoroos und Plessners gebunden waren. Wie haben sie sich verändert und wie werden sie sich vielleicht verändern?
Eßbach, Subversion, Kritik und KorreklUr
137
Ich gehe davon aus, daß die drei Theorie-Praxis~Modelle historisch auf verschiedene Weise mit Institutionen und Bewegungen verflochten waren: das Korrekturmodell Philosophischer Anthropologie mit der Idee und Institution der niversität, das Subversionsmodell des PostslrukturaLismus mit dem Avamgardismus in der Kunst und seinen Ansprüchen auf die Gestalt des lebens, das Kritikmodell der Kritischen Theorie mit dem Schicksal des InteUek~ tuelIen in revolutionären Bewegungen. Wenn wir also die Chancen des Modells Korrekrur heute abschätzen wollen, ist der Blick auf den Zustand der Institution Unh'ersität zu werfen. Dabei geht es nicht nur um die innerwissenschaftliche Frage, wie nach der Verwandlung der Philosophie in ein Spezialfach zwischenfachliche Korrekturen kommuniziert werden können, wie Wissenschaft als Lebensform möglich ist. Es geht genauso darum, welche Chance zu an Würde orientierter Korrektur von Staats~ praxis heute noch bestehen. Es ist nämlich fraglich, wie lange sich die Universität als staatliche Anstalt gegen die Korruption des Staates und der staatstragenden Parteien zu verteidigen in der Lage sein wird. Korruption entsteht bekanntlich da, wo es nicht gelingt, Macht und Würde zu verbinden. Wenn wir die Chance des Modells Subversion heute abschätzen wollen, ist das Verhältnis von Künsten und J\'ledien in den Blick zu nehmen. Viele surreale OarsteUungstechniken sind heute integraler Bestandteil der Massen~ kultur geworden, und man ist unsicher, ob es überhaupt noch ästhetische Avantgarde geben kann. Auf l\'fedienwirkung berechneter Terrorismus hat die Schockwirkung der Kunst bei weitem überboten. Wenn wir schließlich die Chance des Modells Kritik heute abschätzen wollen, gilt es als Intellektueller wie eh und je nach revolutionären Bewegungen Ausschau zu halten, die aus ihrer Lage heraus Gerechtigkeit fordern, weil sie ein Glücksversprechen empfangen haben. Gegenwärtig sieht es so aus, als ob das Molekül aus Revolution und Bewegung zerfallen ist. Denn die derzeit größte und dramatischste Bewegung, die weltweite Migration, hat noch keinen revolutionären Charakter angenommen. Subversion, Kritik und Korrektur als drei Theorie-Praxis-Modelle sind in ihrer historischen Gestalt bei Foucault, Adorno und Plessner an Voraussetzungen gebunden, von denen nicht sicher ist, ob sie noch gegeben sein werden. Es ist ungewiß, ob für die Antinomie von Heilsversprechen und Herrschaft in weltweiten Prozessen der Migrationen ein identifizierbarer Ort sich findet, von dem aus Kritik möglich ist. Es ist nicht minder ungewiß, ob die Antinomie von Lebenskunst und Wissenschaft im Horizont der Ausbreirung massenmedialer Apokal)'psen und Erregungskünsle noch durch subversive Praktik bearbeitet werden kann. Es ist schließlich auch ungewiß, ob in der Antinomie von Würde und Vereinseitigung angesichts der Erosion der Idee einer "unbedingten Uni· versität" und ihrer technischen Umstellung von Institution auf funktionale Organisation noch wesentliche Korrekturmöglichkeiten bestehen. Es sind vielleicht gerade diese drei geschichtlich-praktischen Ungewißheilen, die das Fortleben subversiver, kritischer und korrektiver Philosophie: sichern.
Hermann Schwengel
Von Luhmann zu Hege!. Zum Wandel politischer Konstellationen
Wenn in unserem Zusammenhang vom Wandel polilischer KonsteUacionen die Rede ist, kann es in erster Linie nicht darum gehen, die theoretischen Linien, die von Hege! zu Luhmann und zurück führen - mit Max Weber in der Mitte -, geisresgeschichtlich nachzuziehen. Es gilt vielmehr, die polemische Umkehrung der geistesgeschichtlichen Folge - warum wieder Hege! lesen? - zu verstehen. Für politische Soziologen ist die enrwickelte Luhmannsche Gesellschafrstheorie der interessanteste Ausgangspunkt, um hier Boden unter den Füßen zu bekommen. Wenn ich von politischen Konstellationen spreche, dann wie Jacob Taubes über die Konslellalion NitlZSfhe gesprochen hat: Es gibt einen AUlOr, es gibt Texte, es gibt Diskurse, es gibt Handlungsketten, es gibt Referenzen, die auf sozialnrukturellen Wandel, Modernisierungs- und Globalisierungsschübe, Verschiebung politischer Mentalitäten und Spannungen zwi· sehen Religion und Kultur ven.veisen, ohne daß die Verknüpfung schon zu Erklären und Verstehen reichte. Das Vorbewußte strukturellen \'('andels manifestiert sich in solchen Konstellationen wie der Konslellalion Nitlzscbe, die auf eine Reihe weiterer der krisen haften Dekaden vor dem Ersten Weltkrieg verweist. Im folgenden will ich eine kleine atmosphärische Skizze der Konstellation Luhmann zeichnen (1), zu der Diedrich Diederichsen vor einjger Zeit angeregt hat.' Danach will ich drei Felder beschreiben, auf denen die Luhmannsche Theorie an kritische Grenzen Stößt, kritisch in dem Sinne, daß sie theoretische t.'laße zur Weiterführung über sich selbst hinaus bereitstellen (2). Danach will ich drei komplementäre Motive bei Hegcl nennen, die eine erneute Lektüre und Rezeption der Debatte unter dem Vorzeichnen politischen Konstellationswandels nahelegen (3). In der Zusammenfassung will ich schließlich die Oberlegung nahelegen, daß die stagnierende politisch-soziologische Globalisierungsdeb:ltte durch die Inversion: von Luhmann zu Hege! in Bewegung gesetzt werden kann.
,
Vgl. Diedrich Oiederichsen. FranJeßlrltr RMndscball, 17. Januar 2001.
Schwengel, Von Luhmann zu Hegel
139
Systemischer Optimismus und Pessimismus In der Debatte um die Person des Bundesaußenministers Fischer, einem Exzeß an 68er bl1Ibing, hat Diedrich Diederichsen die These illustriert, "die empirischen 68et in Deutschland [seienJ im Verlauf der 80er Jahre Luhmannianer ge~ worden. Das hält zwar nicht jung, aber cool l...} Nicht vergessen sollte man, dass die 68er nicht nur ein moralisches, sondern durchaus auch ein lebensstilistisches Anliegen hatten. Ihre Eltern waren ja nicht nur alte Nazis oder Nazi~ Verdränger, sie waren auch geschwätzige Spießer, bis zum heimatvertriebenen Rand voller Provinzialität, ängstlich und traumatisiert." Die Trennung davon fühlt sich heute bei einem systemtheoretischen Weltbild gut aufgehoben: "Das iSt angenehm unfanatisch, steht weit über den konkreten Dingen und hat trOtz~ dem kein Verständnis für Leute, die aus einer Position, die nur ein bisschen über oder neben den Dingen lokalisiert, Einschätzungen formuliert, von denen aus ein Eingriffsrecht oder gar eine Eingriffspflicht abgeleitet wird, mithin po~ litisierte oder politisierende Nachwachsende. Denen kann man dann vorhalten, die eigene Beobachterposition nicht reflektiert zu haben. So hält man sich den Nachwuchs vom Leibe. Und diejenigen, die 68 zurecht weitertreiben wollten, ob mit Deleuze oder Jameson, Butler oder Derrida." Der Abkühlungsprozeß hat auffallend viele Ex-Maoisten in Wirtschaft und Verwaltung landen lassen, so Diedetichsen - wo Mobbing, CliGuen und als Sachdiskussion camouflierte lVIachtpolitik nützliche Sozialisation war, er hat in nächtelangen Fraktionskämpfen gestählte Jungsozialisten zu realpolitischem Führungspersonal und die Sprache der Differenz zur Rhetorik von Kulrurmanagern und Kulrurdezernenten gemache. Dieser Normalisierungs- und Abkühlungsprozeß läßt sich in der Tat vielleicht am besten im elastischen Netz der System theorie durchführen und aushalten. Das führt aber auch zu einem system ischen Pessimismus, der bei Luhmann selbst im Laufe des Lebens immer stärker geworden ist. Sy~ stemischer Optimismus dagegen macht sich dann, wie Diederichsen zeigt, nur an einzelnen Figuren aus - Joschka Fischer hat noch etwas VOll Herbert Wehner, der eine sitzt immer noch irgendwie im Hotel Lux und der andere besetzt immet noch irgendwelche Häuser - oder er wanden in die positive politische Ökonomie aus, läßt deren Kritik und ihre alte Arbeitswerttheorie hinter sich, um als voluntaristische Handlungstheorie wieder aufzuerstehen. Wenn Luh· mann und das elastische Netz der Systemtheorie den systemischen Pessimismus repräsentiert, der den Individuen aber eine souveräne Distanzleistung er· möglicht, hat der systemische Optimismus - in der Regel von der gesellschafts~ wissenschaftlichen Linken unbemerkt - ebenfalls ein Gesicht gewonnen, nämlich das Josef Schumpeters. Bei den Beratern Lafontaines standen bereits Keynes und Schumpeter gleichberechtigt nebeneinander im Regal Der zerstörerisch-schöpferische unternehmerische Typus, der die Komplexität der Verhähnisse nicht mehr in souveränem Stil reduziert, sondern durch Risiko- und Aggressionsbereitschaft, aristokratische Attitüde und Management der AI/ellge, funktionale AGuivalente für "Integration" schafft - wogegen sich die Menge
140
Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
wiederum aJs Akteur zu behaupten sucht 2 - dringt vor. Integration ist in mancher Hinsicht die Schwundforrn der alten politischen Figur der Aufhebung, der die Widersprüche, die einmal zur Notwendigkeit der Aufhebung führten, gar nicht mehr bewußt sind, der ein trivialisierter Begriff der politischen Gemeinschaft ausreicht. Integration ist in so vieler Hinsicht ein Nicht-Begriff geworden, der der Schärfe des liberalen Denkens der Differenzierung nur ein Gefühl entgegenzusetzen vermag. Atmosphärisch bilden Luhmann und Schumpeter zwei Seiten derselben Medaille, der die politisch-symbolische Welt des Integrationsdenkens - und IdentitälSdenkens - keine eigene Währung entgegenzusetzen vermag. Diesen Zusammenhang gilt es zu durchbrechen.
An den politischen Grenzen der Sysremtheorie Zunächst gilt es, die politische Herausforderung der System theorie, die in der Skizze Diederichsens ankJang, zu beschreiben. Sie besteht in einer klareren Fassung der Problemlagen von Globalisierung, Arbeit und Elite. Luhmanns Ansatz der Weltgesellschaft hat Vorteile, die nicht von der Hand zu weisen sind. J Die \'.L Montinari, München, Beflin, New York 1988; Michel Foucault, ObtTIJ1achen lind Strafen, Frankfurt a. M. 1977; James Tully, Slrange Mulliplicity: ConJJilulionaliJf11 in an Age of Dit'trJity, Cambridge 1995; Quentin Skinner, Libtrty bifore UbtraliJm, Cambridge 1998.
van den Brink, Politische Philosophie und Geschichte
159
storischen Periode scheinbar auf allgemeine Verbindlichkeit zielen, werden als normativ gehaltvolle, ja identitiitskonstiwierende Renexionen historisch situierter Praktiken gesehen. 6 Damit verliert die genealogische l\'lethode - die auch den eigenen Standpunkt als einen situierten versteht - einerseits per definifionem die Möglichkeit, einen archimedischen Punkt zu finden, von dem aus eine möglichst zeit- und ordose Kritik an politischen Praktiken der Gegenwart oder Vergangenheit geübt werden kann. Sie gewinnt aber andererseits die Möglichkeit, im Laufe der Geschichte entwickelte Praktiken und Begriffe zu beschreiben, ohne sie entweder auf einen allgemeinen Begriff solcher Praktiken, der jede hjstorische Situiertheit übersteigt, zurückführen oder aber sie nur aus den eigenen normativen Deuwngsmuslern wahrnehmen zu müssen. Die Relevanz dieser Zugangsweise für dje politische Philosophie besteht meines Erachtens darin, daß sie eine große Pluralität politischer Formen zunächst einmal be+ schreibt und bestehen läßt, um gerade dadurch politischen Subjekten einen Freiheitssinn vermitteln zu können, der aus der Perspektive einer nur aufs AUgemeine zielenden Theorie verborgen bleiben muß. Dazu werden in jüngster Zeit häufig folgende Worte des Historikers Quentin Skinners zitiert: ..The history of philosophy, and perhaps especially of moral, sodal and political philosophy, is there co prevcnt us from bccoming tOO readily bewitched. Thc intellectual hisrorian can help us co appreciate how far the values embodied in our present way of Me, and our present wa)'s of thinking about those values, renect aseeies of choices made at different times between different possible worlds. This awareness can help to liberate us from the grip of any one hege+ monal account of those values and how they should be interpreted and und erstOod. Equipped with a broadcr sense of possibility, we can stand back from the inteLlecwal commitmenrs we have inherited and ask ourselves in a new spi. rit of enquiry what we should think of thern."7
III leh habe bereits festgestellt, daß die genealogische Zu~ngsweise eine große Pluralität politischer Formen zunächst beschreibt und bestehen läßt, um gerade dadurch politischen Subjekten einen ganz spezifischen Freiheitssinn vermitteln zu können, der aus der Perspektive einer aufs Allgemeine zielende Theorie verborgen bleiben muß. Das Problem dieses letzteren Theorietypus ist es, daß er fast zwangsläufig der Suche nach einem normativen Kern, nach Quellen der Legitimität verhaftet bleiben muß. Die Geschichte ist für die normativ-theoretische, systematische Philosophie eben sehr oft ejn Sich-Entfalten eines ganz bestimmten - ehen des nebligen - Denk- und Handlungsrypus. Vielleicht muß
(, 7
Siehe Tully, .,CriticaJ Activity," S. 544. Quentin Sk.inm:r, Ube'!), 116-117.
160
Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
die normative politische Philosophie in diesem Sinne rechthaberisch sein. Wenn etwas richtig ist, ist es schließlich gut zu wissen, woher dieses Richtige stammt. Problem ist dabei allerdings, daß eine Konzentration auf jene Denker, soziale EntwickJungen, soziale Bewegungen und soziale Formen, die dieses Richtige bereits im voraus geahnt haben, in ein eindimensionales Bild des Politischen münden kann. Dies können wir uns an Jürgen Haberrnas' Umgang mü der politischen Geschichte klarmachen, der Geschjchte bekanntlich in einem normativen Sinne im Lichte einer Entfaltung der kommunikativen Vernunft interpretiert. Habermas' Konzentration auf die kommunikative Vernunft als wichtigste Garantie politischer LegitimitätS führt in den historisch-rekonstruie~ renden Teilen seiner Arbeiten zu einem durchaus fragwürdigen Poljtikverständnjs. Ein gutes Beispiel ist der Essay "Volkssouveränität als Verfahrcn".9 in dem Habermas fragt, ob ..die Ideen-Revolution von 1789" - die Französische Revolution - ..eine Lesart [erlaubtl, die für den eigenen Orientierungsbedarf noch informativ ist".10 Einer der zentralen Ausgangspunkte des Essays besteht in folgender Feststellung: "Das Revolutionsbewußtsein ist die Geburtsstätte einer neuen Menta~ lität, dje geprägt wird durch ein neues Zeitbewußtsein, einen neuen Begriff der politischen Praxis und eine neue Legitimationsvorstellung. Spezifisch modern ist das historische Bewußtsein, das mit dem Traditionaljsmus naturwüchsiger Kominuitäten bricht; das Verständnis von politischer Praxis, welches im Zeichen von Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung steht; und das Vertrauen auf den vernünftigen Diskurs, an dem sich jede politische Herrschaft legiti~ mieren soll. Unter diesen drei Aspekten dringt ein radikal innerweldicher, nach metaphysischer Begriff des Politischen ins Bewußtsein der mobil gewordenen Bevölkerung ein. ,,11 Nach einer Diskussion dieser sehr substantiellen Definition (man muß sich vor allem fragen, wie "innerwc1dich" und "nachmetaphysisch" das Revolutionsbewußtsein am Ende des 18. Jahrhunderts wirklich warl~ wird dann festgestellt, daß Spuren des "Revolutionsbcwußtseins" in der demokratischen Öffentlichkeit und in der Massenkultur als Zeugen einer im besten Fall ambivalencen Mentalität verstanden werden können, mit deren Hilfe die Ausgangsfrage nicht beantwortet werden kann. 1J Wohl um dieses Problem der vieldeutigen, alles andere als vollends aufgeklärten kulturellen
8 Siehe für eine ausführliche Diskussion und Kritik, van den Brink, Tbe Trager!Y oj Ube+ ralism, Albany, NY, 2000, S. 85-125. Siehe auch Michael Walzer, VmJHnjt, Politik Hltd Ltidmsrhafl. De.fitite liheraler Theon·e, Frankfurt a. M. 1999. 9 Jürgen Habermas, "Volkssouveränität als Verfahren", in: Habermas, Faktizitöt Hltd CeltHltg: ZNr Dis!r.Jlrstheone du Ruhts Nnd du demo!r.ratiJrhtJt Ruhtsstaats, Frankfurt :l. M. 10 11 12
13
1992, S. 600-631. Ebd., S. 601. Ebd., S. 604-605. Siehe dazu Dale K. Van Kley, The ReligiONS Ongim oj the Frtnrb RevolNtion: Fro'" Colt-in 10 the eh·il ConstiJHtion, New Haven 1999. Habermas, "Volkssouveränität", S. 608-609.
van den Brink, Politische Philosophie und Geschichte
\6\
Praxis zu entfliehen, stellt Habermas sodann fest, daß aus "der Sicht politischer Theorie [...] Geschichte zum Laboratorium rur Argumente [wird]."I" Was folgt, ist nicht so sehr eine politisch theoretische Reflexion auf historische EntwickJungen, sondern eine konzeptuelle Analyse ideologischer Interpretationskämpfe des 19. und 20. Jahrhunderts zwischen Demokraten und Liberalen, zwischen Sozialisten und Anarchisten sowie zwischen Konservativen und Progressiven. Die Analyse endet in Habermas' bekannter prozeduraler Auffassung des demokratischen Rechtsstaats. Habermas muß am Ende der konzeptuellen bung feststellen, daß eine .,prozeduralisierte ,Volkssouveränität' nicht ohne die Ruckendeckung einer entgegenkommenden politischen Kultur, nicht ohne jene durch Tradition und Sozialisation vermittelten Gesinnungen einer an politische Freiheit gitllOön/in Bevölkerung [wird] operieren können: keine vernünftige poljtische Willensbildung ohne das Entgegenkommen einer rationalisierten Lebenswelt."IS Wahrscheinlich um diese auf individuell-dispositioneller Ebene stark unterbelichtete Lebenswclt als "radikal" innerwe!tlich und nach metaphysisch denken zu können, weist Habermas tugendethische und neo-aristotelische Verständnisse ziviler Verantwortung (die auch schon am Ende der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts aufgrund des Einflusses des Kommunitarismus gewiß nicht uneinflußreich waren) kurzerhand zurück. ,."(fenn das normativ angesonnene politische Verhalten zumutbar sein soll, muß die moralische Substanz der Selbstgesetzgebung, die bei Rousseau kompakt zu einem einzigen Akt zusammengezogen war, über viele Stufen des prozeduralisierten Meinungs- und WiUensbildungsprozesses auseinandergezogen werden und in \'iele kleine Partikel zerfallen. Es muß gezeigt werden, daß die politische Moral nur noch in kleiner Münze erhoben wird. ,,16 Habermas meint hier wohl, daß es in einer indi\,jdualistisehen, pluralistischen, privatistischen und systemisch immer komplexer gewordenen Kultur weder weise noch wünschenswert wäre, das Funktionieren der verfahrensrechtlichen Republik in ethisch anspruchsvollen, perfektionistischen zivilen Attituden zu gründen. Und es ist gewiß auch besser, die dezentrierte Bürgerschaft mit Hilfe sorgfaltig gestalteter Prozeduren der Meinungs- und Willensbildung und des Rechtsstaates in stabile Institutionen einzubinden. Das heißt nun aber nicht, wie vor allem die jüngere libuo!t Literarur zeigt, daß eine verfahrensrecht.liche Republik ohne einen gewissen an Tugenden sich orientierenden zivilen Perfektionismus auskommen kann. 17 Habermas' schlecht verhüllte Wut auf den politischen Aristorclismus und auf den durch Edmund Burke inspirierten politischen Konservatismus - Traditionen, die sich bekanntlich
H
15
,16
Ebd.. S. 610. Ebd., S. 626-627. Ebd.. S. 62 . Sithc= z. B. Peler Btrkowitz, VirlNt o"J rM Moki"l ~ MtNiu." Libtro/islft, Princc=ton: PrincC=t'On Universiry Press 1999; John Tom2lsi. Ubtro/islll h!JrnuJ flurin, PrinCC=lOn: PrinCC=lOn niversit)' PrtSS 2001.
162
Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
mit Fragen der zivilen Tugend ernsthaft auseinandergesetzt haben - kann nicht verhindern, daß sein eigenes Plädoyer für eine radikal inncrweltliche, nachmetaph)fSiSche, egalitäre "emgegenkommende" Lebenswelt unverständlich bleibt, solange wir uns darunter keine substantiellen, zivil-ethischen Dispositionen vorstellen,t8 Zudem wäre es nicht nur unmöglich. sondern auch intolerant, Bürger dazu zu verurteilen, allein "nach metaphysische" Motivationen für ziviles Handeln zu haben. Das dem demokratischen Rechtsstaat ,,[E]ntgegenkommen" von Lebenswelten ist in westlichen Demokratien gewiß nkht immer nldikal innerweltlich und nachmetaphysisch motiviert gewesen und ist es auch heute nicht immer. Davon zeugen nicht nur die ernstzunehmende Demokratieauffassungen vieler Kirchen, religiös inspirierter sozialcr Bewcgungen und christdemokratischer Parteien, sondern auch die lebhaften philosophischen Debatten der Gegenwart über dje moralische Begründung der Menschenwürde. 19 Habermas' Essay illustriert eine gewisse Inflexibilüät des normativ+theoretisehen politischen Denkens, die darin besteht, im Umgang mit der politischen Geschichte Aspekte politischen Handels nicht ernst nehmen zu können, die nicht in den Rahmen der eigenen normativ-theoretischen Perspektive passen. Die Zugangsweise leidet sozusagen unter einer großen aspektivischen Inflexibilität. 2O Noch vor kurzem hat Michael Walzer mit wünschenswerter KJarheit gezeigt, wie nicht primär deliberative Kernphänomene der Demokratie wie die soziale Organisation von Solidarität, Loyalüät, Mitgliedschaft und das Aushalten von kommunikativ vorcrst unlösbaren Spannungen des Pluralismus aus der Sicht des deliberativen Paradigmas nicht ausreichend beschriebcn, geschweige denn verstanden werden können. 21 Die Ausblendung solcher nicht diskursiver Aspekte der PoUtik führt allzu häufig in ein recht eindimensionales und idealjsierendes Verständnis der Politik als eine Arena der reinen Argumcntation zwischen völlig aufgeklärten Bürgern, in der die Komplexüäten der nur zum TeiJ wirkJich diskursiv strukturierten alhägljchen politischen Praxis fast vollständig ausgeblendet werden. Aspektivische Inflexibilität im normativ-theoretischen Denken führt zu einem verarmten theoretischen Politikbegriff, mit dessen Hilfe die Kluft zwischen Idealtheorie und politischer Praxis gerade deshalb so
Siehe van den Brink, Tragedy oJ UberaliJfn, S. 95-106. 19 Siehe dazu z. B. Michael J. Perry, Tbe ldea rif Human RightJ: Four Inquin'u, Oxford 1998; Leroy S. Rouner (I-Irsg.), HJlnlan Righu and Ihe lf/orld'J ReligiOllJ, Notre Dame 1994; Charles Taylor, Die FOmJm du Religiiiun in der Cegenu.'art, Frankfurt a. M. 2002. Zugegebenermaßen wird Habermas' Position diesbezüglich in den neunziger Jahren milder. Siehe z. B. "Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch" und "Kampf um Anerkennung im demokratischen Rechtsstaat", heide in: Habermas, Die Einbeziehung du Anderen, Frankfurt a. M. 1996. 20 Siehe zu der Idee aspektivischen politischen Denkens: James TuUy, Jtrange MlIltiplici(y: ConstitutionaliJm in an Age oJ Dillmity, Cambridge 1995, pauim, und David Owen, "Wiugenstein and Genealogy", in; SAT5: Nordi{ jOllrnal oJ Philosophy 2 (2001) 1-28. 21 Walzer, J/enlllnJt, Politik Nlld l.....eidenJ(hajt. 18
van den Brink, Politische Philosophie und Geschichte
163
schwer zu überbrücken ist. weil die eindimensionale Theoriekonstruktion sie unnötig breit hat werden lassen.
IV Bekanntlich hat Michel Foucauh in Auseinandersetzung mit Kants Aufsatz .. Beann.\'orrung der Frage: Was ist Aufklärung?"12 die kritische. aufkJärerische Halrung definiert als ..die Kunst, nicht regien zu werden bzw. die Kunst, nicht auf diese Weise und um djesen Preis regiert zu werden".23 Foucault zufolge hängt diese kritische Haltung nicht so sehr mit dem re\'olutionären Bewußtsein des späten 18. Jahrhunderts zusammen, sondern vielmehr mit der christlichen Operation der "Lenkung zum Heil", der ..Menschenregierungskunst", die sich von der frühen Neuzeit an über immer mehr soziale Bereiche, also nicht nur innerhalb des religiösen Bereichs, verbreitct. 24 Diese Entwicklung der religiösen, sozialen, moralischen, iuridischen und wissenschaftlichen Regierungstech. nik rief nun aber Foucault zufolge des öfteren eine Haltung hervor, die sich dem Regierrwerden nicht fügen will, die er - wie oben zitiert - als eine kritische Halrung beschreibt. In der für Foucauit so wichtigen Konstellation von Macht, Wahrheit und Subjekt bedeutet dies folgendes: "Wenn es sich bei der Regierungsintensivierung darum handelt, in einer sozialen Praxis die Individuen zu unterwerfen - und zwar durch i\lachtmechanismen, die sich auf \'(Iahr· heit berufen, dann würde ich sagen, ist die Kritik die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt. die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die lacht auf ihre Wahrheüsdjskurse hin. Dann ist die Kritik die Kunst der freiwilligen nknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In dem SpieJ, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Enrunterwerfung."25 Aus normativ-theoretischer Sicht ist diese Sichrweise in komplett, wenn überhaupt verständlich. In einer legitimen politischen Ordnung wäre das Ziel der Regierungsimensivierung nicht die Unterwerfung, sondern die Befreiung der Subjekte. In einer solchen Ordnung wäre Kritik nicht bloß zur "Entunterwerfung" der Subjekte da, sondern zur (\Xlieder-)Herstcllung der Legitimität der politischen Ordnung. Die Konstellation "Macht, Wahrheit, Subjekt" wäre in einer solchen legitimen Ordnung des "Spielens" mit Macht, Wahrheit und den Subjekten enthoben. Macht wäre legitime Macht, Wahrheit gründete in ei-
Imm.anuel K:lnt, "ße.ant\1.·ortung der Fr.ag~; \'(/28 ist Auf'kJirung?'\ in; Imm.anuel K.ant. ll?t'rka.lfSgaM ßd. XI (Schrifl~n zur Anthropologi~, G~schichlSphilosophi~, Po· lilik und Pid.agogik). hrsg. \"On Wilhdm Weisch~del, Ff1lnkfurt a. M. 1977, S. 53-61 (A 481-494). II Michel FOUC1Uh, U71lJ ;J/ Krifild B~rhn 1992. S. 12. 24 Ebd.. S. 10. II Ebd. S. 15. !2
164
Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
nern genuinen Verständnis der Grenzen unserer Erkenntnisvermögen, das Subjekt wäre der autOnome Amor des eigenen Schicksals. Diese Sichrweise ist an erster Stelle mit .,kritischen". epistemologischen Kriterien verbunden, nicht mit einer "aufklärerischen" regierungskr-itischen Disposition, die von Foucauh als Tugend verstanden wird. Foucaulr formuliert dies so: .. Die Kritik also wird sagen: um unsere Freiheit geht es weniger in dem, was wir mit mehr oder wcni· ger Mut unternehmen als vielmehr in der Idee, die wir uns von unserer Er· kenntnis und ihrer Grenzen machen, und folglich braucht man sich nicht von einem anderen ,Gthor(htl' sagen lassen, um das Prinzip der Autonomie zu ent· decken, vielmehr hat man sich von seiner eigenen Erkenntnis eine richtige Idee zu machen. Dann wird das ,Gehorrh/I' auf der Autonomie selbst gegründet sein... 26 Damit ist natürlich gemeint, daß, wenn man nur die Grenzen der eigenen Erkenntnis anerkennt (hier: die der praktischen Vernunft), man auch im· stande sein wird, die unvernünftigen Seiten der ..Spiele" von Macht, Wahrheit und Subjektivität zu transzendieren, um ideal theoretisch zu der Formulierung einer kritischen normativen Theorie des praktischen, politischen Handclns zu gelangen. Hier prallen zwei phiJosophische \Veltsichtcn aufeinander. Wir haben oben bereits gesehen, welche Kosten die Habermassche Sichtweise, die mit ihrer Suche nach Legitimität dem Foucaultschen Kritikverständnis diametral gegen· übersteht, fUr den idealtheoretischen Purismus zahlen muß: nämlich ein bezüglich dispositioneller und nicht-diskursiver Phänomene verarmtes Politikverständnis. Man könnte nun natürlich leicht zeigen, daß mit Foucaults ent-ideali· siertem Politikverständnis die wichtige Frage nach der Legitimität institutioneller Ordnungen nicht ausreichend beantwortet werden kann. Mich interessiert hier aber eine andere Frage: Wie könnte die von Foucault verteidigte, genealo· gische Sichtweise einem philosophischen Geschichtsverständnis aspekti\fische Flexibilität verleihen? Foucault kennzeichnet seine historisch.philosophische Vorgehensweise als archäologisch, genealogisch und strategisch. Archäologisch ist sie, weil sie sich nicht um Gesetze der Legitimation kümmert, sondern ..den Zyklus der Positi· vität ldurchläuft]. indem es vom Faktum der Akzeptiertheit zum System der Akzeptabilität übergeht".27 Dabei versteht sie historische Fakten und Systeme nicht als notwendig, nicht als durch ein "Aprioi vorgeschrieben".28 Sie verweilt "im Immanzenzfcld der reinen ingularitäten"29 und nimmt Erscheinungsfor. men von Macht, Wissen und Subjektivität wahr. Dies tut sie auf genealogische Weise, indem sie ..die Erscheinungsbedingungen einer Singularität in viclfaltigen bestimmenden Elememen ausfindig Imachtl und sie nicht als deren Pro·
26 Ebd., 27 Ebd., 28 Ebd., " Ebd.,
S. 17-18. S. 34. S. 35. S. 36.
van den Brink, Politische Philosophie und Geschichte
165
dukt sondern als deren Effekt erscheinen päßtJ".30 Ein Produkt wäre ein zwin· gendes Resultat einer Konstellation von sozialen Einnüssen und Intentionen. Foucault spricht von einem Effekt, weil das Resultat anders hätte sein können: "Subjekte. Verhahenstypen, Entscheidungen, Optionen" spielen beim In·Er· scheinung.Treten einer Singularität eine so große RoUe. daß der Eindruck historischer Determinierung vermieden werden muß. 31 Auch wird dem Eindruck entgegengewirkt, daß das Entstehen von Instanzen und Systemen der Akzep. tabilität Resuhat eines - im wesentlichen stets gleichförmigen - 1 etzes von Beziehungen verstanden werden kann. Er spricht von strategischen, gegenseitigen Einwirkungen verschiedener Macht-. Wissens- und Subjektivitätsfaktoren. Gerade in dieser antideterministischen, antagonistischen Sichrweise ver· birgt sich die aspektivische Flexibilität eines Denkens, das vor allem in Foucaults späteren Schriften zu erkennen ist. Nicht nur in der Offenheit angesichts verschiedener Hintergründe spezifischer Verständnisse von Wahrheit, Subjektivität, Wahnsinn, Sexualität und politischer Freiheit, sondern auch und gerade in dem Aufklärungsgedanken, "nicht regiert zu werden, jenes entschiedenen Willens - einer individuellen und zugleich kollektiven Haltung, aus seiner Unmündigkeit herauszutreten".32 Die genealogische Umgangsweise mit der Geschichte wird hier zu einem philosophischen tlbOl, das dem Ziel des Verstehens der Bedingungen politischer Freiheit in einer nicht ideal(theoretisch)en Welt gewidmet ist. 33 Wo das idul· und normativ-theoretische Denken bezüglich der kontingenten. nichtidealen Welt immer wieder - an sich richtig - deren Nichtlegitimität feststellt, versucht die genealogisch inspirierte Sicht zu erkunden, wie ein Leben unter noch so nicht-idealen Bedingungen doch mit einem Sinn für politische Freiheit verbunden werden kann. Politische Freiheit ist nicht nur gegeben, wenn die Gesellschaft gerecht und wohlgeordnet ist. Sie ist auch und gerade dort gege· ben, wo Subjekte sich mit mehr oder weniger Erfolg organisieren, um Teilaspekte ihrer Unterworfenheü, ihrer nmündigkeit zu bekämpfen. Die Organisation kann Kommunik:uionsverhälrnisse oder gerechte sozial·ökonomische Veneilungsmechanismen betreffen, sie kann Formen der Anerkennung und der M.ißachtung betreffen, der Organisation von Solidarität und Loyalität, Prinzipien oder auch Anwendungsprobleme der demokratischen Repräsentation, symbolische Formen des Widerstands, des Verständnisses und der histori· sehen Bedeurung beStimmter ziviler Tugenden usw. Eine politische Philosophie, die versucht, in ihren historischen und s)'stematischen Aspekten die Vid· falt politischer Probleme und poLitischer Praktiken nirhl auf einen wesentlichen normativen Kern der einen praktischen Vernunft zurückzuführen, schildert
Jl
Ebd., . 37. Ebd., S. 38. Ebd .. S. 41.
H
Eine gUie allgemeine Beschreibung \"on diesem tfhol gibt J2mes Tull}' in .,Critic21 Ac-
:w.l )1
li\,iIY···
166
Diskussionen des zwanzigsten Jahrhunderts
keine ideale Weh, sondern vermittelt einen Freiheitssinn, der in der um'cr· söhnten Welt vielleicht fundamentaler ist als die Suche nach politischer Legitimität: den Sinn, anders denken und handeln zu können aJs vorgegeben. M.it diesem Sinn fangt Freiheit an, und zu ihm muß die politische Philosophie, wenn sie ihren Hang nach grolkr. aber allzu idealistischer Theorie zügeln will, immer wieder zurückkehren. Damit überlasse ich die vorgestellten Aspekte dem Freiheitssinn des Lesers.
III Aktuelle Debatten
Wilhelm BergeT
Gibt es eine politische Ethik in der technologischen Zivilisation?
I Wer nur mit einer gewissen Verkrampfung an Diskussionen teilnimmt, in denen die Probleme der Welt zur Debatte stehen, wird auch in eine Stimmung des Unbehagens geraten, wenn die Frage nach der Relevanz der eigenen philosophischen Arbeit für die polhisehe Praxis aufgeworfen wird. Es wäre ein Kurzschluß, diese Stimmung auf den alten Widerspruch zwischen Theorie und Praxis zu projizieren: Eine Philosophie formu!jert Konzepte. von denen sie meint, sie könnten von der politischen Praxis vernünftigerweise nicht zurückgewiesen werden. Die Praxis aber verweigert nicht erst die Annahme der Ansprüche, die an sie adressiert sind, sie nimmt schon den Zustellversuch gar nicht oder allenfalls nur als Emertainment wahr. Der Widerspruch wurde vom deutschen Karikaturisten Seifried zumindest zeichnerisch schon vor Jahren aufgehoben: Da steht ein Philosoph vor einer großen Menge von Leuten und ruft: Proletarier aller Länder, vereinigt Euch! Und die Proleta~ rier antworten im Chor: Gute Idee, gebongt, machen wir! Die Stimmung des Unbehagens wird also eher mit einem anderen Problem zu tun haben. Die Vermutung liegt nahe: Es handelt sich um das Problem der Selbstda rstell ung. Jeder kennt die Szene: Ein Philosoph referiert, zum Beispiel vor einem Publikum von Politikern zum Beispiel über das Thema Ethik und Medizin. Kaum iSI der Vortrag zu Ende, kommt die Frage: Schön und gut, aber was sagen Sie denn jetzt konkret: Ist Sterbehilfe ethisch vertretbar, ja oder nein? Der Referem ist weder Utilitarist noch Theologe. Die daraus folgende Verweigerung ei~ ner definitiven Antwort provoziert sogleich die Feststellung: Mit Ihrem Gerede können wir politisch nichts anfangen, das hat keinerlei praktische Relevanz! Das ist für den Philosophen unangenehm, denn immerhin wurden seine Reise und sein Aufenthah, sogar ein kleines Honorar gezahlt, und da möchte er am
168
Aktuelle Debatten
liebsten rufen: Sie irren sich, meine Damen und Herren, meine Rede ist ebenso vorausserzungsvoll wie reich an Konsequenzen, es folgen daraus Imperative für das politische Handeln und sogar eine politische Ethik in der technologischen Zi\·ilisation! Und wenn Sie es bis jetzt nicht verstanden haben, werde ich es eben noch einmal in einfachen Worten wiederholen. Auf der anderen Seite gibt es nicht wenige, die haben Schwierigkeiten mit einem bestimmten Gestus der Selbstdarstellung, der weit verbreitet ist, mit einem Gestus, der immer schon weiß, was Sache ist, und mit einer Form der Selbstdarstellung, die oft das Wort "wir" gebraucht: "Wir" stehen VOf der Herausforderung, und daher sollen "wir" und daher müssen "wir" l... J Und wer diese Schwierigkeiten hat, will am liebsten gleich zugeben: Ja, Sie haben recht, was ich gesagt habe, hat keinerlei praktische Konsequenzen und soll auch keine haben, es folgt daraus insbesondere keine politische Ethik in der technolo+ gisehen Zivilisation. Was also tun in dieser Ambivalenz? Ein alter Trick liegt nahe, den schon Aristoteles empfohlen hat: Man wende seine persönliche Ambivalenz ins Objektive, indem man sage: Diese Ambivalenz hat nichts mit meinen persönlichen Defekten, sondern mit den Problemen des Themas selbst zu tun. Zunächst ist damit folgendes erreicht: Das persönliche Problem der Selbstdarstellung wird zum philosophischen Problem der Darstellung, und dieses Problem ist tatsächlich eines der wichtigsten Probleme insbesondere der gegenwärtigen Philosophie. Denn schon prinzipiell gilt: Vielleicht im Gegensatz zu anderen Formen des Wissens kann kein Denken, das den Namen Philoso+ phie für sich in Anspruch nehmen will, sein Gedachtes einfach als gegeben voraussetzen und ihm dann Begriffe zuordnen oder Ansprüche zustellen. Clemens-Carl Härle hat das auf die Formel gebracht: "Zwischen dem Denken und dem Gedachten waltet ein Intervall, dergestalt, dass die Darstellung des Gedachten für die Philosophie zu einer Aufgabe sui generis wird.'" Dieses Imer+ vall ist letztlich eine unaufhebbare Differenz, und die Philosophie ist nicht ihre Leidtragende, sondern ihre Sachwalterin. Darstellung heißt dann nicht das didaktische, sondern das theoretische Problem einer Über-setzung, eines Setzens über dieses Intervall, das Problem einer Über-setzung, die zugleich die Differenz nicht kurzschließt. Also steckt in diesem Inrervall zweierlei: einerseits "die Möglichkeit der Philosophie" und andererseits die Gefahr, daß die Philosophie zu einem "Jargon" oder zur "Etikette" wird, das sind wieder zwei Wone von Clemens-Carl Härle. Jargon wiederum heißt wörtlich: Sprache der jeweils Eingeweihten, allgemeiner also: Darstellung, die um die jeweilige Sache immer schon weiß. Und Etikette ist eine erstarrte, offizielle Umgangsform, die in einem bestimmten gesellschaftlichen Bereich gilt, Etikett ist zugleich ein Klebeschild, somit kann über+
Clemens-Carl Härle, "Karte des Unendlichen", in: ders. (Hrsg.). Karten Zu "Tauund Plo/ea/u", Berlin 1993, S. 104.
Berger, Gibt
(:5
(:in(: politisch(: Ethik?
169
setzt werden: Darstellung, die ein jeweils schon existierendes "Wir" repräsentieren, also gleichsam mit sich selber bekleben, somit etikettieren will. ach diesen Vorkehrungen kann dem Thema nahegetreten werden: Gibt es eine politische Ethik in der technologischen Zivilisation? Die Frage scheim unsinnig: Gibt es nicht eine Inflation ethischer Diskurse? Die Frage lautet jetzt aber präziser: Gibt es eine politische Ethik jenseits von Jargon und Etikette? Wenn so gefragt wird, dann wird nach den Bedingungen der Möglichkeit gefragt, jenseits von Jargon und Etikeue zu gelangen.
II Zwei Diskurse. mit denen Philosophen in jüngerer Zeit entweder öffentliche Aufmerksamkeit erregt haben oder sich von dieser Aufmerksamkeit erregen ließen. fuhren die Denkfiguren des Jargons und der Etikette genauer vor Augen: die Debatte über Humangenetik und die Diskussionen zu den Ereignissen am 11. Septem ber 200 I. Wenn der Vortrag Rrgtln flir dtn Mtnsrbtnparlr.. Ein Anlll-'Orlscbrtibtn Zl/nI Bntl iibtr drn HIIHJOflÜ",,,S2, den Peter Sloterdijk 1999 gehalten hat, als Beispiel fü.r den Jargon herangezogen wird, ist die Bemerkung wichtig: Damit steht nicht ein "gegenaufklärerisches Raunen" zur Kritik, und das Motiv kann auch nicht jene Eifersucht sein, die ein Autol'" der Wochenzeitung DIE ZEIT empfunden hat, als er auf deI'" Fahrt zum 18. Deutschen Kongreß für Philosophie in Konstanz vom Taxifahrer gefragt wurde: Ah, Sie fahren zum Sioterdijk? Es geht viel mehl'" um eine ernst zu nehmende Konsequenz. Es ist bekannt, daß rur Sioterdijk die Enn.vicklungen der Gentechnologie zu einer " mstelJung vom Geburtenfatalismus zur optionalen Geburt und zur pdinatalen Selektion" führen. Das ist richtig: Selektion geschieht, indem sich beStimmte. zum Beispiel von KnnkeO\'ersicherungen definierte Normen durchsetzen. was dazu fühn, daß für eine pränatal diagnostiziene Krankheitswahrscheinlichkeit kein Risiko übernommen und der Fötus abgetrieben wird. Also fordert Siotcrdijk eine bewußte genetische "Merkmalsplanung". Diese braucht Kriterien. Die Herausforderung wäre nun nicht die Korrektur schon vorhandener Eigenschaften, sondern die Denkmäglichkeit ihrer aktiven Züchtung. Deshalb fordert Sioterdijk eine "gattungspolitische Entscheidung", eine Entscheidung gegen ein Progl'"amm von "KJeinzüchtern" und fül'" ein Programm von ..G1'"Oßzüchtern des Menschen (... ) Superhumanisten 1... 1 und Übermenschenfreunden". Die Frage: wer sind diese G1'"Oßzüchter? ist nicht einfach abzuweisen. Die Mehrheit will ihre Kinder ja vielleicht wirklich nul'" als
,
Peter Sloierdijk, "Rrgrln fLir den Menschenpark. Ein Am\vorlSchr(:iben zum Brief über den Humanismus", Vortrag im Schloß Elmau 1999. (Die folgenden Zitate stammen aus der vom Verlag Suhrkamp über Inlernet verbreiteten Texlversion.)
170
Akruelle Debatten
Kopien ihrer selbst, oder, wenn es hoch kommt. als Klone von Arnold Schwarzenegger oder Pamela Anderson. Sioterdijk lobt Platon, und bei Platon ist es der philosophische Staarshine, der über ein "züchterisches Königswissen" verfugt. der diejenigen .. auskämmt", deren "Eigenschaften" verhin+ dem, daß "der Menschenpark zur optimalen Homöostase gelangt". Das philosophische Königswissen steht in Differenz zum Ganzen, weil es dieses Ganze noch einmal darstellt: Wo die Gattung sich längst kleingezüchtet hat, wissen dje Philosophen um die Bedingungen der Möglichkeit des "Höherzüchrens", sie wissen um eine gauungsgeschichtliche Differenz, die zugleich aus sich heraus inhaltlich über den augenblicklichen Zustand hinausweist: Das ist die allgemeine Denkfigur des Jargons. Eine Distanzierung von Sloterdijk ist möglich, aber die Denkfigur trin in vielen Kontexten auf: Wer zum Beispiel im Namen des ökologischen Fortschritts spricht, nimmt ein Königswissen in Anspruch, über das die Masse nicht verfugt: Ich weiß, was war, was jetzt ist, und was sein wird oder zu sein hätte, und während dje Leute ihre überschwemmten Keller auspumpen, rede ich davon, daß ich mich schon vor zehn Jahren bei den Grünen engagiert habe. Damit geschieht gleichzeitig eine Entpolitisierung im klassischen Sinne, nämlich die Distanzierung des Problems aus seinem Kontext heraus und in eine schon fertige Lösung hinein. In den Diskussionen zu den Ereignissen am 11. September 2001 sind viele Beispiele für die Denkfigur des Jargons zu finden, aber mehr noch für die Denkfigur der Etikette. Eine Illustration ist nur scheinbar leichter, weil die plakative Formel vom Kampf der Kulturen zum Ausgangspunkt genommen werden kann, die Samuel P. Huntington ausgearbeilet hat. J Auch hjer ist eine billige Distanzierung nicht möglich. Der eigentlich problematische Gehalt dieser Formel ist kein prognostischer, sondern ein erkenntnistheoretischer: Die kulturelle Differenz wird als absolute dargestellt, aber dabei muß die Existenz der Kulturen ihrer Praxis, zum Beispiel der Praxis der Konfrontation oder der Begegnung, vorausgesetzt werden. Selbst im Zustand der globalen Durchmischung existieren Kulturen primär, um sekundär in Konflikt zu treten. Sie sind Entitäten, denen das Merkmal der Präexistenz zukommt: Sie laufen ihrem gegenwärtigen Sein immer vor4 aus. Huntingwn liefen damit ein Modell des kJassischen Kulturbegriffs. Denn wie auch immer man Kultur definiert., ob mü Johann Gonfried Herder als Lebensgestalt und Lebensform von 1 ationen, Völkern und Gemeinschaften, oder mit Ernst Cassirer aJs "symbolisches ni versum", stets ist mit diesem Begriff das Faktum einer je schon existierenden und damit jeder konkreten Begegnung und Konfrontation histOrisch vorauslaufenden Einheit angesprochen. Das ist offensichtljch, wenn von westlichen Werten gesprochen wird. Aber auch ein positiver Begriff der Multikulturalität, die Aufforderung, Differenzen
)
VgJ. Samuel P. Huntington, Kamp! Jt, KNll1mn, München 1997.
Berger. Gibt es eine politische Ethik?
171
zu respektieren, setzt je schon existierende Kulturen voraus, deren Unterschie• denheit eben zu respektieren wäre. Slavoj Ziiek zögert daher nicht, den Multi~ kulturaLismus als "verleugnete, verkehrte, selbstreferentielle Form des Rassis4 mus" zu bezeichnen. als .. Rassismus, der Abstand hält", indem er ..das andere aJs eine in sich geschlossene ,authentische' GeseLischaft,,4 wahrnimmt. Hier heißt Entpolitisierung, daß PoLitik in einem Kampf um die Anerkennung eines Anderen verwandelt wird, der "nicht der reale Andere ist, sondern der aseptische Andere"s ist, ein Anderer, dem ich von mir aus bereits den Wert des Unterschieds und damit eine bestimmte Gestalt zugeschrieben habe, ehe ich ihm begegne.
III Gibt es eine politische Ethik jenseits von Jargon und Etikene? Es wurde behauptet, daß Jargon und Etikene zugleich andeuten, worin "die Möglichkeit der Philosophie" bestehen könnte. Zunächst repräsentieren Jargon und Etikene zwei Bedingungen der Möglichkeit \'on Ethik: die Bedingung der Denkbarkeit einer gattungsgeschichtlichen Perspektive und die Bedingung der Denkbarkeit einer ihrer Praxis je schon vorauslaufenden Kultur. Zwei der wichtigsten Ethikenrwürfe in der gegenwärtigen Philosophie zeigen das auf. Sie zeigen gleichzeitig auf, daß diese heiden Bedingungen nur gesetzle Bedingungen sein können, rur die man sich zu entscheiden hat. Das Modell rur den erSten Enrwurf ist jene Ethik, die Hans Jonas schon 1989 vorgestellt hat. 6 Jonas kjppt den kategorischen Imperativ Immanuel Kanrs aus der Kritik du Prakliuhtfl I/trnllnft von 1788: .. Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein aUgemeines Gesetz werde", in eine geschichtliche Dimension: Handle so, daß du auch die zukünftige j\'lenschheit in deine Überlegung einbeziehst. Diesem Kunstgriff ist die Kontinuitäl der Gattungsgeschichte als Bedingung der Möglichkeit von Ethik vorausgesetzt: Geschiclne ist ein Werden, das durch eine kohärente Dynamik vorangetrieben wird, eine Kette von Gründen, die sich über die Zeit und daher auch in die Zukunft hinein fortpflanzen. Nur so ist ein wirkliches Erbe der Gegenwärtigen denkbar, das die Künftigen betreffen wird. Aber zugleich weiß Jonas zweierlei: Erstens, daß, anders als bei Kam, im Imperativ nicht das eigene Interesse und das Allgemeine zusammenfallen: \,\'ährend es vernünftig ist, die Zeitgenossen so zu behandeln, wie man es von ihnen auch in bezug auf sich selber erwartet, kann den Heutigen die zukünftige ~
Slavoj Zilek, Ein Pllit/(!Jtr fir dit Inloltra"v "'lien 1998, S. 73.
S
Ebd., S. 77. Vgl. Hans Jonas, DaJ Pn'"tfp I 'ml1lBVJl111"1.. Vtmub tin" ElbiJeftir dir Irrh"ologüdn Zi,;·
6
Iilalion, Frankfurt
:11.
M. 1989.
172
Aktuelle Debatten
Menschheit auch völlig egal sein. ncl zweitens, daß man heute, vor allem we· gen der Komplexität technologischer Konstruktionen von Wirklichkeit, eben nicht wissen kann, welche Auswirkung ein bestimmtes Tun oder Umerlassen fut die Künftigen haben wird: Eine bestimmte Erfindung kann eine andere Erfindung ermöglichen, die heute noch undenkbar ist. und diese Erfindung kann segensreiche oder katastrophale Folgen haben. Daher muß man sich im vollen Sinne des Wortes dafür entscheiden. die Kontinuität der Gattungsge. schichte zu wollen. Und wenn man sie will, muß man immer wieder neu Fra· gen beantworten, die nicht beantwonbar sind. Für die Figur der Diskursethik kann die Thtorit du leoltmllmiJealiL'tn HondtlnI von Jürgen Habermas zum Beispiel genommen werden. 7 Hier gilt der Dissens als Bedingung der Möglkhkeit von ethischer Kommunikation. Konsens muß unterstellt werden im Hinblick auf Regeln, die den kommunikativen Streit möglich machen: Im Prinzip ist das die doppelte Übereinkunft, daß man nicht ein letztes, gewalttätiges WOrt sprechen wird und daß man immer auf eine Metaebene ausweichen wird, um den Dissens zu managen. Damit ist aber ein Wille vorausgesetzt: In das "Haus der Verständigung" erhält nur Eintritt, wer fa· hig oder willens ist, diese Regeln zu befolgen, nur jemand, für den der Wille zur Verständigung der Praxis der Verständigung schon vorausläuft, also jemand, der im Sinne der bisherigen Argumentation "Kultur" hat. Habermas ist davon überzeugt, daß dieser \'(lille vernünftig ist. Sein ganzes Projekt einer Rekonstruktion des historischen Materialismus im Geiste der Kritischen Theorie ist auf diesen achweis ausgerichtet. Aber er weiß gleich. zeitig, daß man sich fur diesen Willen entscheiden muß, oder präziser: daß seine Möglichkeit politische, soziale und auch individuelle Voraussetzungen hat.
IV Mkhcl Foucault diskutiert die Frage, warum die Vererbungsgesetze des Gregor Mendcl im 19. Jahrhundert von den Wissenschaften nicht wahrgenommen werden konnten: "Ein Satz muß komplexen und schwierigen Erfordernissen entsprechen, um der Gesamtheit einer Disziplin angehören zu können. Bevor er als ,wahr' oder ,falsch' bezeichnet werden kann, muß er [... ) ,im Wahren sein'."s Das kann paraphrasiert werden: Eine Handlung oder ein Denken muß komplexen und schwierigen Erfordernissen entsprechen, um überhaupt Gedachtes einer bestimmten Ethik sein zu können: Es muß bereits "im Guten sein", ehe der ethische Diskurs anheben kann, oder es selber bleibt dem ethischen Diskurs unzugänglich. In diesem Sinne markiert das Wissen um die Voraussetzungen von Habermas und Jonas gewisse Grenzen: Weil sie die Denk•
,
Vgl. Jürgen Habermas. Thtorit JtJ 1eD",,,,NnileD,iI'tn HOllJtlns, 2 Bände. Ftankfun a. M. 1981. Michel Foucault, Di, OrJ"M"1. JtJ DisleMrm, München 1974, S. 24.
Berger, Gibt es eine politische Ethik?
173
möglichkeit einer vorauslaufenden Kultur und die Denkmöglichkeit einer gat+ cungsgeschichtlichen Perspektive reaJ dementieren, müssen die Ereignisse des 11. September 2001 und die Entwicklungen in der Humangenetik jeweils der Diskursethik und der Veranrwortungsethik inkommensurabel sein. Denn was zeigt sich am 11. September? Sichtbar wird eine Praxis der Rclationierung und Differenzierung. In vielleicht gleichgültige, vielleicht interessierte, vielleicht freundschaftliche, vielleicht feindschaftliehe, vielleicht produktive, vielleicht destruktive Relationen und Differenzen, die im Inneren der Türme des World Trade Center genauso existieren wie zum Beispiel im Gewühl von Kairo, bricht ein Gewaltakt ein, als dessen Resultat wieder Relatio+ nen und Differenzen entstehen. Schon empirisch ist klar, daß nicht zwei je schon existierende Kulturen aufeinandertreffen: lto'lenschen aus allen Teilen der Erde, Arme und Reiche, BörsenmakJer und PU[zkräfte haJten sich in den Türmen auf. Die Attentäter vereint jedenfalls nicht eine gemeinsame soziale Herkunf!. Dem Rückgriff in den inkohärenten religiösen Fundus des Islam, der sie ideologisch motiviert, entspricht ein von sehr unterschiedlichen Akteuren bewohnter politischer Echoraum, aber keine Klasse oder Schicht, die das Han+ dein der Artentäter in einem konkreten sozialen Sein fundiert. Weil dieses Poliversum keinen sicheren Kern, keine tragende Ebene hat, besteht es nur aus der prozessualen Praxis der Relationicrungen und Differenzierungen. Eine Dis+ kursethik kann diese Praxis nur von außen, also aus der Position von verstän+ digungswilligen Dritten reflektieren, die selbst vom Anlaß der gewollten Verständigung nicht direkt tangiert sind. Und es existieren in djeser Praxis keine Adressaten, denen erwaige iaßstäbe zugestellt werden könnten. Auch die technologischen Emwicklungen, von denen die Züchtungsphamasien eines Sioterdijk erregt worden sind, markieren eine Grenze. Durch die Möglichkeit zum verändernden genetischen Eingriff wird die atur in radikaler Weise zu einem Moment der Geschichte. Jenseits des klassischen Dualismus von arur und Geschichte kann der verändernde genetische Eingriff nicht mehr als Intervention in einen eindimensionalen deterministischen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung gedacht werden. Wer über "Gene" spricht, ist vielmehr mit einer \'(lirklichkeit konfrontiert, für die HansJörg Rhejnberger den Begriff "epislemische Dinge" verwendet 9: Das sind Mischgebilde zwischen Objekten und Zeichen, die das, was sie sind, immer nur sein können im Rahmen der Kontextc, in denen sie existieren, und djcsc Kontexte wiederum sind selbst hybride Konstruktionen, immer zugleich lokale, soziale, technische, institutionelle, instrumcntelle, ökonomische Schauplätze. Das "Gen" ist. was es konkret ist, nur in den Komex[en, die: es objekti,tieren. Eben weil diese: Kontexte und ihr Verhälmis vieldeutig sind, kann ihrer Praxis keine g.littungsgeschichtliche: Kontinuitä[ vorausgesetzt werden, in der aus dem, was war und was jetzt ist, in irgend einer konkreten Weise folgt, was sein wird oder zu sein häue.
,
I-Ians-Jörg
Rheinb~rger.
r:... .ptriI1Unlll/{}/Itl1lt Jlnd tpislt",ürht Dintt, Göt[ing~n 2001.
174
Aktuelle Debanen
Gcnau dieses Königswissen um sein strukturelles lichtwissen, um die Unmöglichkeit der Voraussetzung einer ganungsgeschichtlichen Kontinuität, hat schon Plaron, allerdings nicht SIOtcrdijk. Und genau wegen der Unmöglichkeit einer Voraussetzung von Kulturen muß George W. Bush den ältesten Feuerwehrmann New Yorks auf den Trümmern des World-Trade-Centers umarmt haben: Die Unmöglichkeit wird zugleich dargestellt und noch einmal etikettiert. gleichsam mit einem "wir" verklebt, und dieses "wir" auf Zeit und in verschiedenster Weise in verschiedensten gesellschaftlichen Wirklichkeiten etabliert: Ein New Yorker Taxifahrer läßt seine arabische Kleidung lieber im Kasten. Auf einem amerikanischen Kriegsschiff formieren sich Matrosen zu ei· nem lebenden Tableau, das vom Flugzeug aus als Darstellung patriotischer Gefühle lesbar wird.
v Gibt es eine poLitische Ethjk jenseits auch der Bedingungen, die eine Ethik der Verantwortung und eine Diskursethik annehmen? Es ist bekannt, daß der Begriff Ethik sich wortgeschichtlich herleitet vom griechischen WaTt ttbor. eigentlich der Ort des Wohnens, erst abgeleitet: Sitte, Gewohnheit, was auch vom Wohnen kommt, also: der Ort des gemeinsamen Wohnens. AristoteIes sagt: .. Das Edle und Gerechte ([ ... J) zeigt solche Unterschiede und solche Unbeständigkeit, daß man vermuten könnte, es beruhe nur auf dem Herkommen und nicht auf der Natur."lo Damir ist das Problem einer politischen Ethik präzise umschrieben: Was das Konkreteste regelt, beruht in radikalster Weise auf einer politischen Übereinkunft. Weil diese Spannung nje aufzuheben ist, bedeutet Ethik bei Aristoteles kein System \'on fertigen lösungen, sondern die ständige Aufgabe, den ethos zu gestalten: Ethik ist im Gegensatz zur l\'loral, wie sie schon Cicero als System von morts, als System von Regeln definiert hat, im radikalen Sinne prozessual. Unter den Bedingungen der technologischen Zivilisation ist der präexistierende Boden dieses Prozesses, sind die vorausgesetzte gattungsgeschichtliche Kontinuität und die vorausgesetzte Kultur nicht denkbar. Gibt es eine politische Ethik in der technologischcn Zivilisation? Zwci zentrale Bedingungen ih· rer Möglichkeit wurden suspendiert. Es bleibt als Ausgangspunkt nur die These: Der prozessierende ethos kann aus dem Ereignis gestaltet werden. Die Verwendung dieses Begriffs ist mißverständlich, weil der Begriff in ein Lab)'rimh philosophischer Traditionen hineinweist. und schwierig, weil die geistige Grundmöblierung so beschaffen ist. daß in der Konfrontation mit dem Ereignis sofort ejn metaphysischer Kurzschluß eintritt. Friedrich Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang von einer tiefen ps)'chologischen nmög-
10
ArislOteles, Nikolf/(1{hiuh, Ethik, I094b 14 f.
Berger, Gib[ es eine politische Ethik?
175
lichkeit. die nterbrechung einer Kausalit2t zu akzepcieren. Man springt also vom Geschehen auf die Ebene der sicheren Koncinuit2ten und Einheiten, um von dort aus deduktive Kausalüäten zu konstruieren. Das gilt im Alltag genauso wie in extremen Situacionen. Jemand tut etwas Unverständliches: Ein Sohn tötet seine Mutter, schneidet ihr den Kopf ab und stellt ihn im Schaufenster eines Geschäftes aus. Das ist in Wien vor einigen Jahren geschehen. Das erSte, was getan wird, ist: i\hn springt auf eine Metaebene, zum Beispiel auf eine ps)'· chologische i\letaebene, man sucht ein Modell oder einen Begriff, und von dort aus strahlt die Kausalität hinab bis zum konkreten Ereignis, das durch ihre Konstruktion erklärt werden soll: Er wurde so und so erzogen, er hatte Probleme mit Frauen, er hat seine Mutter dafür gehaßt. Eine Konstruktion des prozessierenden etbos aus dem Ereignis muß zu allererst gegen diese Deduktion plädieren und für die Vermeidung des metaphysischen Kurzschlusses eintreten. Dagegen wäre die Induktion methodisch zu stärken. Der Einwand ist zu beachten, daß die Induktion immer schon in konstruierten Allgemeinheiten stattfindet: Ich sehe etwas, aber während ich meine, vom Ereignis ausgehen zu können, hat eine Kamera längst den Gesichtspunkt besetzt und eine Metaebene gebaut. Umgekehrt aber kennt die Philosophiegeschichte, vom Begriff der Gegenwart bei Walter Benjamin bis zu den von Manin Heidegger beschriebenen Stimmungen, eine Vielzahl konkurrierender Methoden, diesseits dieser Metaebenen zu gelangen. Gibt es eine politische Ethik jenseits von Jargon und Etikette? Flugzeuge schlagen in das World Trade Ceorer und in das Pentagon. Das KJonschaf Dolly tritt in einer TaJkshow auf. \'(/as ist? Kein höherer oder tieferer Sinn ist sichtbar, keine Möglichkeit, zu sagen, jemand wäre für dies oder jenes, den Islam oder für Amerika gestorben, oder im Schaf komme der wissenschaftliche Fortschritt zu seiner Vollendung. All das wird erst später gesagt werden, wenn der vielstimmige Diskurs der Prediger und Politiker schon begonnen hat. Aber das Ereignis selbst drängt zu einem lodelI. \'(las ist, wenn diesem Drängen zumindest rur kurze Zeit nicht nachgegeben wird? In einem ähnlichen Sinne geht es Slavoj Zizek darum, "den abstrakten moralischen Rahmen zu suspendieren oder [... 1 um eine Art politiJtbe Aussetzung du EtbiJtlmt". Ausgangspunkt ist dann nicht die allgemeine Symmetrie eines wie auch immer geteilten Geschicks, sondern die konkrete Situation. In dieser Situation will sich Slavoj Zizek "auf ein Universales [beziehenJ, das nur in einem partikularen Element zu existieren beginnt i... 1, das strukturell deplazien ist, ,aus den Fugen' ... \I Ein wenig einfacher als bei Zizek iSI ein solches Universales gemeint, das nur in einem partikularen Element zu existieren beginnt, wenn gesagt wird: Das Faktum der Entblößthcit von allen Metaebenen wirft das Geschehen von seinem Platz, und es fallt heraus aus allen Gemeinschaften, die durch diese
11
Slavoj Zifek. InIOkrtJ1r~ S. 85, S. 88.
176
Aktuelle Debanen
Metaebenen erzeugt werden: Amerika. und die islamische Welt. die Gemein· schaft der Gesunden und die Gemeinschaft der Kranken [... 1Was ist, ist singuläres Ereignis. Aber es ist gerade nicht außerhalb jeder Wirklichkeir. Es ist doch, es exiscien, und zwar aJs Deplazienes, als völlige Abwesenheit eines zu· reichenden Grundes und eines tragenden Bodens, und gerade daher kann es, was es ist, nur sein einzig als Exponienheit in Relationen und Differenzen.
VI Damü sind zwei Bezugspunkte fUf ein ethisches ·foddl gewonnen: ein Ausgangspunkt: Ereignis, und ein Horizont: Relationen und Differenzen. Aber heide Pole blieben starr, wären sie nicht für ein Denken und für ein Sein problematisch. Das sich selbst problematische Ereignis trägt den Namen Existenz oder Dasein: ein Sein, dem sein Da zum Problem wird, eben weil es nicht in sich ruht, sondern nichts anderes ist als Exponiertheit in die Relationen und Differenzen. Es gibt eine politische Ethik in der technologischen Zivilisation: Sie ist eine Praxis in dem durch diese beiden Pole bestimmten Spannungsfeld. \'\las ist dieses Spannungsfeld konkret? achdem alles mögliche suspendiert wurde, kann nur mehr gesagt werden: Die Existenzen sind, was sie sind, als Exponiertheit in die Relationen und Differenzen, und die Relationen und Differenzen sind die Relationen und Differenzen der Existenzen. Aber das heißt positiv und konkret: Der tlhoJ ist die Ko-existenz: nicht Amerika oder Europa, nicht die Kultur oder die Natur, sondern die Relationen und Differenzen, als die sich die singulären Existenzen exponieren. Jean-Luc Nancy hat einen Begriff für diese extreme Spannung erfunden: "undarsl'ellbare Gemeinschaft". .,Die singulären Seienden erscheinen zusammen: Dieses Zusammen-Erscheinen macht ihr Sein aus." Und weiter: ..[...] das Sein der Gemeinschaft iJll ... 1 die Exposition der Singularitäten. "12 Was für eine Praxis kann in einem solchen Spannungsfeld geschehen? Aus den zwei Polen ergeben sich zwei Werte: Soll das weitgehend reduzierte Modell funktionieren, impliziert es die Entscheidung, Existenz und Ko-cxistenz aJs unhintergchbare Werte anzusetzen. Es handelt sich tatsächlich um eine Entscheidung, die inhaltlich nicht weiter begründet werden k2nn. Ist das zugegeben, wird das Eingeständnis leichter, daß ein Denken und ein Handeln, das die beiden genannten Werte nicht annehmen kann, dem r-.·Iodell ebenso inkommensurabel bleibt. Diese Grenze resultiert nicht aus den schon komplexeren Voraussetzungen einer Diskurs- oder Veranrwortungsethik, sondern aus dem Gedanken, daß die Akzeptanz des bloßen Daseins eines anderen und die Annahme, daß dieses Dasein zugleich ein Mitsein mit Anderen ist, Minimalbedingungen von Ethik überhaupt darstellen. 12
Jean-Luc Nancy, Dit N1IJorsltllbarr Gtltlti,mbaft, Sluttgart 1988, S. 129, S. 68.
Berger, Gibt es eine politische Ethik?
177
Es ist daher wichtig, auf beiden Minimalbedingungen zu beharren. Die Entscheidung für die Wene der Existenz und der Ko-existenz wäre eine doppelte: zuerst eine Entscheidung für die Unterscheidung, für die extreme Spannung der bei den Pole, dann eine Entscheidung für zwei ethische Kriterien, die unverzichtbar sind. Das Problem der ersten Entscheidung wird don evident, wo Existenz und Ko-existenz ineinanderfaUen und der Bindestrich verschwindet. Die Konsequenzen daraus hat am schmerzlichsten Martin Heidegger deutlich gemacht. Eine Frage, aus der sich die Rtkloralsrede von 1933 motiviert, lautet: Ist kollektive Existenz, also Koexistenz mögljch? Anders als Nancy, bei dem sich die Existenzen in ihrer Singularität als Gemeinschaft exponieren, denkt Heidegger das Volk selbst als Existenz, als Dasein: "So ausgesetzt in die äußerste Fragwürdigkeit des eigenen Daseins, wiII dies Volk ein geistiges Volk sein." Das in seine Fragwürdigkeit exponierte Volk hat seine geschichtliche Kontinuüät widerrufen, weil das Vergangene als gewesene Fraglichkeil eben keine Antworten gibt. Also versammelt es sich im Augenblick. "Wir fragen, hier und jetzl, für uns." Aber im Hier und Jetzt kann nicht ausgeharrt werden: "Der Anfang ist als das Größte im voraus über alles Kommende und so auch schon über uns hinweggegangen," Das Volk begibt sich auf den Marsch, folgt einem Führer, der die "Kraft zum AUeingehenkönnen" hat, und gewinnt im Vorrücken .. in den äußersten Posten der Gefahr der ständigen WeItungewißheit" seine konkrete kollektive Existenz als "wissender Kampf der Fragenden".13 Die Entscheidung, eine Verschmelzung der Werte Existenz und Ko-existenz zu vermeiden, hält das Feld jener Spannung offen, in dem sich der ethos als Prozeß entfaltet. Die Entscheidung wird durch eine Transformation der Werte in Imperative konkret. Eine weitere Formulierung des kategorischen Imperativs von Kant lautet: "Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Minel brauchst." Das kann übersetzt werden: Erstens: Respektiere einen Anderen und ein Anderes wie dich selbst in radikaler \X'eise als Selbstzweck, und eben nicht als J\1.inel für ein Allgemeines, für eine Geschichte oder Kultur. Damit wird dazu aufgerufen, die singuläre Existenz im Sinne der bisherigen Ableitung zu respektieren, denn was ist eine singuläre Existenz anderes als Zweck in sich selbst? Und zweitens: Respektiere die Welt in radikaler Weise als Selbstzweck, also nicht als ein MÜtel für etwas anderes, für den Fonschritt, den Umweltschutz oder die Gelüste eines Gottes. Damit wird dazu aufgerufen, die reine Relation zu respektieren, denn was wäre die Welt als Selbstzweck anderes als ihre Relationen und Differenzen.
lJ
~hrtin
l-lcidegger, Die StlbsthrbauplJutg dry dtufsrhtn Un;/Itrlitiil. Dos Rektorat 19))/34, Frankfurt 3. M. 1990, S. 15, S. 21, S. 12, S. 14, S. 18.
178
Aktuelle Debatten
Und wieder AristoteIes: In der von ihm intendierten ethischen Praxis geht es um die rechte Mitte. Das ist nicht der faule Kompromiß oder das Mittelmaß, sondern der ständig neue Ausgleich zwischen im Grunde nicht auszugleichenden Positionen. Im hier skizzierten Modell heißen die Positionen Existenz und Relationen und Differenzen. Ebenfalls von AristoteIes stammt der Satz: "Die Extreme scheinen einander gegenüberzustehen, weil die Mitte keinen Namen har."14 Der ständig neue Ausgleich zwischen nicht auszugleichenden Positionen ist die konkrete Praxis der Politik. Die Aufrechrerhaltung der Spannung zwischen den Positionen und die Verteidigung einer Namenlosigkeit im aristotelischen Sinne ist ihre Voraussetzung. Die Praxis und dje Voraussetzung darzustellen ist die Aufgabe einer politischen Ethik: An diesem Punkt kommuniziert sie mit einer Institutionstheorie: Institutionen wären dann dynamische Wirklichkeiten, in denen Widersprüche prozessiert werden. 15 Was folgt für das Problem der Selbstdarstellung? Die Ambivalenz bleibt bestehen. Aber ihren beiden Seiten können jetzt zwei würdigere Selbstdarstellungcn zugeordnet werdcn: der einen Seite, der Verweigerung von Praxis, die Selbstdarstellung des Heraklit. Über ihn schrieb Friedrich Nietzsehe: "Er brauchte die Menschen nicht."16 Das heißt positiv: Sein Denken verweigert sich dem Apriori der Praxis und der Verständigung, dem Apriori der Geschichte und der Kultur. Seine Schriften, die er auf den Stufen des Tempels der Artemis niederlegt, gewinnen den Sinn aus der hermetischen Abgeschlossenheit ihrer Sätze. Damit aber halten sie die Möglichkeit eines Außen fcst, dic Möglichkeit eines Werdens, das sich keiner geschichtljchen Gewordenheit, kei· ner vorausgedachten Geschichte oder Kultur unterwirft. Diese Abwendung macht es leichter, die zweite Seite der AmbivaJenz zu entfalten: die Hinwendung zur Praxis, zu den Relationen und Differcnzen. Das ist dic Haltung des Sokrates. Aber nicht des platonischen, didaktischen Sokrates, der unter der Maske der Bescheidenheit um seine Wirkung besorgt ist, sondern die eincr Figur, die ununterbrochen schwätzt, und die nicht aufhören kann zu schwätzen, einer Figur, von der Sören Kierkegaard anerkennend schreibt: "Er hat nichts hinterlassen, darnach eine spätere Zeit ihn beurteilen könnte."17
AristoteIes, Nikoma(hiuhe Ethik, 1126 b. IS Vgl. Perer Heime! und Wilhelm Berger, Die Organisation der Philosophen, Frankfurt a. M. 1998. 16 Fricdrich Nietzsche, .. Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen", Kn'h'Jehe Stlldienallsgabe, Band I, München, Berlin, New York 1980, S. 834. 17 Sören Kierkegaard, Ober den Begriff dtr Ironie, Frankfurt a. M. 1976, S. 16. 1.(
i\hrcus Düwell
aturbeherrschung und Versöhnung Probleme einer philosophischen Reflexion auf das Verhältnis von Natur, Technik und Politik
1. Einlei tung Das Verhältnis des 1enschen zur Narur isr heute in unterschiedlichen Kontexten Gegenstand von Diskussionen. eue technologische Möglichkeiten erleichtern das Leben der Menschen, haben jedoch auch einen gravierenden Ver~ brauch an Rohstoffen mit sich gebracht. Das quantirative Wachsrum der Welr~ bevölkerung sowie veränderte Ansprüche an die Lebensqualität in den reicheren Ländern geben der Erfahrung von Knappheit eine neue Qualität. Naturveränderungen von teils bedrohlichem Ausmaß sind aJs Ergebnis von Umweltverschmutzung zu beobachten. Immer gezieltere Eingriffe in die Natur werden technisch möglich und scheinen auch ökonomisch erforderlich, wobei viele Langzeitauswirkungen kaum absehbar sind. Schließlich verändert sich das Narurverhälmis dadurch, daß auch die biologische atur des Menschen in neuer \X'eise zum Gegenstand gezieher Gestaltung gemacht werden kann. Nuur bzw. unser Umgang mü atur ist für dje Philosophie insofern nicht mehr allein zentraler Gegenstand von Erkenntnistheorie und aturphilosophie, sondern wird vielmehr zu einem Thema der praktischen Philosophie. NalurbthtrrHhung iSI zugleich mit den philosophischen Selbstinterpretationen der Moderne tief verbunden. Das gilt für die Spekulationen des Deutschen Idealismus ebenso wie für Marx und Nierzsche. Lange Zeit bewegte sich die aufkommende technik philosophische Diskussion in den Bahnen jener Deutung von Naturbeherrschung sowie vom Verhältnjs von Technik und Narur, die durch die frühe kritische Theorie, durch Martin Heidegger oder die kulrurphilosophischen und anthropologischen berlegungen Arnold Gehlens und anderer vorgegeben waren. 1 Im Hinblick auf das Phänomen der arurbeherrschung verlieren die philosophischen Differenzen dabei zum Teil ihr Gewicht. aturbeherrschung wird nicht allein im Komext der Moderne siru-
Vgl. etwa Hans Achterhuis (Hrsg.), Vi milo! van Je !uhnitk., Bllarn 1992.
180
Aktuelle Debatten
ien, sondern vielmehr in einem breiteren Horizont von Anthropologie, Geschichtsphilosophie und politischer Philosophie "erortet. Naturbeherrschung ist in diesem Kontext aus dem Gmndverhii..ltnis des r.,'lenschen zur Welt zu verstehen und mit den Möglichkeiten seiner Geschichte zutiefst verbunden. Die Geschichte von Naturheherrschung und der Stand der Technik geben in die· sem Sinne zugleich Auskunft über den Stand der Entfremdung des Menschen und über die Möglichkeiten von Versöhnung. Mit den angedeuteten mweltproblemen und philosophischen Interprctationsbemühungen sind Diskussionszusammenhinge angedeutet. die heute vielfach unverbunden nebeneinanderstehen. Die politische Philosophie der Ge· genwart versucht sich von anthropologischen und geschichtsphi1osophischen Voraussetzungen möglichst frei zu halten. Die Umweltprobleme erscheinen häufig als Herausforderungen, die weitere technische Lösungen erfordern und somit geradezu eine Spirale weiterer Naturbeherrschung hervorbringen. Oder aber sie sind Gegenstand umweltethischer Erörterungen, die nicht von geschichtsphilosophischen Voran nahmen abhängig sein möchten. Eine an Naturbeherrschung und Versöhnung orientierte Deutung von Geschichte und Politik wurde entweder verabschiedet oder hat mit den genannten konkreten Entwicklungen allein dahingehend eine Berührung, daß der Stand von Technik und aturbeherrschung zur IlJustration der unheilvollen historischen Situation herhalten muß. Wenn zwischen beiden Diskursen eine Berührung zustande kommt, so ist sie teilweise geradezu gespenstisch, wie die Debatte um Peter Sioterdijk zeigt.2 Impressionen von Entwicklungen in aturwissenschaft und Technik werden dort zu einem Szenario extrapoliert, in dem die Technik zur weitgehenden KonrroUe der biologischen Grundlage des 'Ienschen genutzt wird. Das Szenario einer Menschenzüchtung wird dabei in einen an Heidegger angelehnten Diskussionskonrext gerückt. der jedoch auch recht ungezwungen mit theoretischen Versatzstücken aus bisweilen totalitären Zusammenhängen assoziativ verflochten wird. Das Problem der Menschenzüchtung scheint in Zukunft vornehmlich darin zu bestehen, daß die für den Menschenpark Verantwortlichen mit den Möglichkeiten auch sorgsam umgehen müssen. Trotz spätcrcr Erläuterungen des Autors bleibt im Text undeutlich, ob hier Enrwick· lungen extrapoliert oder Handlungsempfehlungen abgegeben werden. Allein schon der Gestus des unentschiedenen Flirrens mit totalitären Theoremen weckt nicht ebcn Vertrauen. Zudem macht sich die Distanz des Autors gegcn~ über den konkreten gen- und biotechnologischen Diskussionen durchaus ne· gativ bemerkbar. Man wird nämlich bezweifeln können, ob das Steuerungspotential der Technologien eine so gezielte Manipulation ermöglichen wird, daß nur noch ein verantwortungsbewußter Zoodirektor gesucht werden muß. Wahrscheinlicher erscheint es vielmehr, daß die technologischen Möglichkei-
,
Peter Sioterdijk. ~,gtl" pr JM MtlmM"parl!. Ei" A""YlrtSfh,.,iM,, ZN HtiJrggm Bn,! iMr Je" HII",O"isJltIlS, Frankfurt a. M. 1999.
DüwelJ, Naturbeherrschung und Versöhnung
181
ten gerade nicht so zielgerichtet zur Anwendung kommen. Die moralische und soziale Problematik ist vielmehr darin zu suchen, daß diese Techniken mit allen Möglichkeiten und Begrenzungen in komplexen Gesellschaften zur An· wendung kommen und die Rückwirkungen und unkontrollierbaren Effekte, die daraus entstehen, kaum absehbar sind. Gendiagnostik und Selektion fUhren nicht zwangsläufig zur Menschenzüchrung, sondern erzeugen soziale Dynami. ken, deren soziales PotentiaJ wir gar nicht überschauen. Dabei ist nicht nur an die weitere EmwickJung der l\·Jedizin zu denken, sondern auch an die Erwartungen gegenüber der 1I.·ledizin, an den mgang mit Behinderungen oder die Wahrnehmung und Erfahrung von Schwangerschaft. Die Extrapolation von Sioterdijk vereindeutigt ein komplexes Szenario in einer Weise, daß die moralischen, politischen und philosophischen Herausforderungen überhaupt njcht in den Blick geraten. Aufklärung und Handlungsorientierung werden auf diese Weise wohl kaum erreicht. Die Diskussion wird eher zu einem Beispiel dafür, wie eine Diskussion über konkrete Probleme des Umgangs mit Natur umer den Begriffen von Naturbeherrschung und Versöhnung besser nicht geführt werden sollte. Aus Anlaß der Festschrift für Willem van Reijen sollen die genannten Diskurse aufeinander bezogen werden. Dabei geht es mir zunächst einmal um eine Verortung der gegenwärtigen Situation des 1 aturverhältnisses, in einem weite· ren Schritt um eine Beschreibung des klassischen Diskurses von t aturbeherrschung, um anschließend einige Perspektiven für die weitere Diskussion zu skizzieren. Die gegenwärtigen Umweltdiskurse tauchen dabei in philosophi. sehen Konstellationen auf, die viel faltige Berührungen mit dem Denken Willern van Reijens aufweisen.
2. Natur - Technik - Politik Die gegenwärtige Dramatik im Verhältnis des Menschen zur Natur spielt sich in sehr verschiedenen Dimensionen ab. Zum einen erwächst aus dem Natur· verbrauch einer technologischen Zivilisation eine zunehmende Dramatik im Hinblick auf internationale KonOikte. Die Knappheit natürlicher Ressourcen und der durch technologische ]\'Iöglichkeiten gesteigerte Bedarf an Ressour. cenverbrauch entfaltet eine Dynamik, die für internationale Machtpositionen von entscheidender Bedeutung ist. Internationale Konflikte konzemrieren sich daher auf den Zugang zu zentralen Energiequellen, werden aber langfristig auch mit dem ungehinderten Zugang zu natürlichen Ressourcen wie Luft und Wasser zu tun haben. Zudem ist zu erwarten, daß Emigrantenströme in Zu· kunft auch mit ökologischen Engpässen zusammenhängen werden. Darüber hinaus werden bedrohliche Phänomene, wie et\\'a der Klimawandel durch die Folgen unseres Narurverbrauchs, zumindest verscharft, wenn nicht gar verursacht. \X'enn man sich vor Augen fUhrt, was fur Auswirkungen mit dem Unfall eines Itankers oder mit Katastrophen wie einem Hochwasser, das durch Fla-
182
Aktuelle Debatten
chenversiegelungen in seiner Wirkung zumindest massiv verstärkt wird, verbunden sind, dann wird deutlich, in welchem Ausmaß politische Gestaltungsmöglichkeiten vom Umgang mit der uns umgebenden Natur verbunden sind. Auch die vorauslaufenden Planungen im Blick auf internationale Machtpositioneo und die damit verbundenen politischen Handlungsmöglichkeitcn sind im wesentlichen darauf bezogen, sich auf den Feldern der technischen Nawrbeherrschung zukunftsträchtige Optionen zu sichern. Politische Konflikte scheinen weitgehend mit dem Verhältnjs der Politik zu Technik und Narurbeherrschung zusammenzuhängen; Tendenz steigend. Darüber hinaus erlebt der Mensch die eigene Natur in zunehmendem Maße als Gegenstand technologischer Eingriffe. Dabei handelt es sich teils lediglich um Vertiefungen humanbiologischen Wissens und Verfeinerungen medizini· scher Eingriffe. Teils entwickelt sich ein verändertes Verständnis der eigenen biologischen Konstitution, wie es etwa im Kontext des Humangenomprojekts zu beobachten ist. Die Selbstdeutung verändert sich durch den Einblick in eine der phänotypisch wahrnehmbaren Natur zugrunde liegenden gcnotypischcn Ebcne. Auch wenn die faktischen Erklärungsmöglichkeiten der molekularen Humangenetik noch sehr begrenzt sind und ihre Aussagekraft häufig unklar, beginnt der Mensch sich von genetischen Dispositionen her zu interpretieren. Diese neuen Forschungen an den biologischen Grundlagen der menschlichen Existenz haben zudem nicht allein Auswirkungen auf sein Selbstverständnis, sondern auch auf die medizinischen Möglichkeiten. Diese liegen etwa in der Eröffnung pränataler Diagnose. und Selektionsmöglichkeiten, aber auch teilweise in der Veränderung therapeutischer Optionen. Dabei entsteht nicht sei· ten die Frage, was denn eigentlich das Ziel medizinischen Handelns ist und wO die Grenzen zwischen medizinischen Therapien im klassischen Sinne und gezielten Eingriffen zur Verbesserung des Menschen genau verlaufen. Von min· destens ebenso einschneidendcr Bedeutung sind die Entwicklungen der Neurobiologie, mit denen Erklärungsmodelle für die Wirk weise des menschlichen Gehirns und teilweise auch therapeutische Eingriffsmöglichkeiten verbunden sind. Der zunehmenden Dichte technischer Ausgriffe auf die Natur steht nun ein vielfach artikuliertes Bedürfnis nach einem anders gearteten Naturverhältnis gegenüber, das die Dynamik zivilisatorischer Naturbeherrschung hinter sich läßt oder aber zumindest andere Formen der Naturerfahrung ergänzend, korrigierend oder kompensierend ermöglicht.) Angesichts immer stärkerer Steuerungs· und Gestaltungsmöglichkeiten der Natur erwächst der Wunsch nach der Begegnung mit Elementen in der atur, die nicht vollständig vom Menschen bestimmt und beabsichtigt sind. Sosehr der Kampf gegen die Übermacht
,
Besonders die Debatte um die dup u%g] ist hier zu nennen. Vgl. etwa die Beiträge von Arne Naess und Holmes Roiston in dem Band von Angelika Krebs (Hrsg.), Nallirtihile, Frankfurt a. M. 1997.
Düwell, Naturbeherrschung und Versöhnung
183
der Natur als Triebfeder hinter technologischen Unternehmungen stand, so bedrohlich erscheint eine Zivilisation, die keine Kontingenz mehr aufweist oder bei der das Zurückschlagen der Natur als Bedrohung der gesamten Zivilisation erscheint. Aber es geht auch um das Selbsrverhähnis des Menschen als eines naturhaften Wesens. Wenn wir davon ausgehen, daß auch das Selbstbewußtsein des Menschen mit den Strukturen seiner Leiblichkeit zusammenhängt 4 ; wenn das menschl.iche Selbstbewußtsein sich nur von der prä-reflexiven Einheit her interpretieren kann, die im menschlichen Leib gegeben ist, dann benötigen wir auch einen anderen Zugang zu unserem Leib als einen allein technischen, um dieses Selbstbewußtsein noch verstehen zu können. Damit der .Mensch sich selbst nicht allein in technischen Begriffen interpretiert, bedarf er scheinbar der Möglichkeit, eine zumindest nicht vollständig inrendjerte, hergestellte Natur zu erfahren. In einer Welt, in der der Mensch "draußen" überall mit eigenen Sinn konstruktion und Weltentwürfen konfrontiert ist, fehlen ihm die Begriffe, Metaphern und Deutungsressourcen, die es ihm ermöglichen, sich selbst als nicht-artifiziell zu deuten. Im Naturverhältnis artikuljert sich ein zentraJes Moment des eigenen Selbstverständnisses, wie auch immer das philosophjsch zu interpretieren ist. Der technische Umgang mit der Natur hat Konsequenzen für die Möglichkeiten, unser Lebensumfeld und teilweise auch unser SeJbstverhältnis zu gestalten, für die Art unserer politischen Konfliktsituationen und für das Verständnis von uns selbst und der sub-humanen Natur. Nun steht diese skizzierte politische und philosophische Bedeutung des Naturverhältnisses in krassen Gegensalz zur Bedeutung, die dieses Thema in der politischen Philosophie und der politischen Praxis erfahrt. Trotz der Bedeutung des Naturverhältnisses für unser Selbstverständnis und für alle politischen und sozialen Dimensionen gibt es keinen herausgehobenen Ort djeser Dimension im Sclbstbild einer liberalen Demokratie, die es von anderen materialen Themen, die es poliLisch zu regeln gilt, unterscheiden würde. Zu den essentiellen Momenten einer rechtsstaatlichen Demokratie zählen bestimmte Verfahren zur Partizipation an Institutionen und Beschlußfassungen, zur Ermöglichung eines Interessenausgleichs und zur Sicherung zentraler Grundrechte. Nun taucht in diesem Zusammenhang Natur weitgehend als Randbedingung gesellschaftlichen Handelns auf, der bei politischen Regelungen Rechnung zu tragen ist. Die benannten Probleme und Konflikte sind in diesem Kontext also vornehmlich Knappheirsgesichtspunkte, die einer gerechten Verteilung zugeführt werden müssen oder aber Herausforderungen im Hinblick auf die Spätfolgen technischen Handeins, die es durch erneute technische Anstrengungen zu verarbeiten gilt.
,
Etwa: i\hnfred Frank, "Ist Selbstbewußtsein ein propositionales Wissen?" In: ders., SdbJlbeullWlsein lind SelbJltrlemnlniJ. EJJf!JJ ZNr analyHJrhtn Phi/ofoph;e der Subjele/;v;liil,
Stullgan 1991, S. 206-251.
184
Aktuelle Debatten
Ein weitergehender Schutz der Natur scheint im Widerspruch mit den Fundamenten einer liberalen Fre,iheitsordnung. Eine Beschränkung von Freiheitsrechten im Hinblick auf den Schutz der Natur bedarf einer eigenen Rechtfertigung, die in einer liberalen Rechtsordnung schon deshalb problematisch ist, weil die Natur oder Teile derselben nicht selbst als Rechtsträger auftreten können und die Erhebung von Natur zu einem KolJektivgut, das Freiheitsrechte be~ schränkt. den Bereich vertretbarer Freiheitsbeschränkungen problematisch erweitern würde. Alle Versuche, den Kreis der Rechtsträger seinerseits auf natürliche Einheiten auszudehnen, scheinen aber die Struktur von Rechtsverhältnissen in problematischer Weise zu gefährden. In weitgehend anthropozentrisch kon struierten Rechtsverhältnissen sind Belange des Naturschutzes allein dann zu berücksichtigen, wenn (nachweisbar) zentrale Belange des Menschen berührt werden, also seine Lebensgrundlage bedroht ist. Das klingt alles recht einfach, ruft jedoch eine ganze Reihe von wichtigen Debatten in der Umweltethik hervor. 4
3. Naturbeherrschung in geschichtsphilosophischer Perspektive Nun bietet sich in der Geschichte der Philosophie des 20. Jahrhunderts eine Reihe von Deutungszusammenhängen an, die Naturbeherrschung weit zentraler mit Grundelementen der praktischen Philosophie, Geschichte, Politik und dem Selbstverhältnis des Menschen vermitteln. Naturbeherrschung scheint für die Dialeklik der Alljkliirung mit fundamentalen Momenten der menschlichen Existenz zusammenzuhängen. Die Emanzipationsgeschichte des Menschen ist als Widerstand gegen die Übermacht der Natur zu begreifen. Naturbeherr schung mithin in der Sprachenrwicklung gegeben, im Versuch des Menschen, der Übermacht der Natur ein Fratzenbild entgegenzuhalten, den Schrecken der Natur durch Benennung zu bannen und schließlich sprachlich eine eigene Ordnung der Dinge zu erschaffen. Naturbeherrschung gibt das Vorbild für jenes Ausgreifen von Herrschaft ab, das dann als Totalität von Herrschaft auch in allen Sozialverhältnissen und dem Selbstverhältnis des Menschen zur Anwendung kommt. Auch wenn die Herrschaft über Natur nicht als von anderen Herrschaftsformen isoliertes Thema in Erscheinung tritt, wird das Drama der Naturbeherrschung anschaulich benannt: Der Mensch muß sich von der Übermacht der Natur emanzipieren und wird gleichzeitig durch die Konsequenzen der Totalisierung von Herrschaft gefa'.hrdet. Naturbeherrschung wird in Sprachentwicklung, Subjekt-Objekt-Spaltung und Rationalitätskonstruktion verankert gleichsam in der conditio humana. 5 Der Mensch schwingt sich zum Herrscher über die Natur 4
s Mall: Horkheimer und Theodor W. Adorno, "Begriff der AufkJärung", in: dies., Diulektik der AMfkliirung. Philosophüche Fragl1lente, Frankfurt
2.
M. 1969, S. 7-41.
185
Düwdl, Nalurbeherrschung und Versöhnung
auf, und aus dieser Grundbewegung und den daraus erwachsenden, wenngleich nicht beabsichtigten dialektischen Gegenbewegungen sind Geschichte und Po· litik zu verstehen. In der Lokalisierung von Narurbeherrschung in der mensch· lichen Sprachlichkeit gibt es zudem einen breiten Konsens. Wenn Adorno und Horkheimer Sprache als Abwehrbewegung gegen Narurübermacht ausmachen, Benjamin in der Sprache eine "totalitäre Nützlichkeitsideologie"6 am Werke sieht und Heidegger den Verlust an Gelassenheit - "als Möglichkeit, das Sein· zu·lassen'" -, so wird deutlich, daß die TOtalität von Herrschaft fundamental in die Sprachlichkeit eingelassen ist. un isr diese Interpretationsfolie einer TOtalität von Herrschaft, die aturbeherrschung und gesellschaftlkhe Zusammenhänge in einen gemeinsamen In· terpretationshorizont rückt, durchaus aus einer Reflexion auf Sozialverhältnis· se erwachsen. In Frankfurt wurden Studien zu sozialen, politischen und kultu· rellen Phänomenen durchgeführt, in Utrechr Modernisierung als Projekt mit allen Paradoxien untersucht. 8 Kritische Sozialwissenschaft war in erster In· stanz Betrachtung des Sozialen und legte die Totalität von Herrschaft und somit auch von Naturbeherrschung als tieferliegende Interpretationsebene hinter der Betrachtung deformierter Sozialverhältnisse frei. Dieser Schritt wird je· doch im Hinblick auf die Veränderungen im Umgang mit der atur bedeut· sam. Der Stand \'on Technik und Naturbeherrschung hat dann etwas zu tun mit den Grundlagen von Humanität und Gesellschaftsformung. In Zeiten, in denen Natürlichkeit bedroht ist und zugleich die Reaktionen von Natur auf technische Enrwicklungen als Bedrohung erlebt werclen, bekommt diese Tiefenhermeneutik der Abgründe der Moderne eine besondere Dramatik. Zukünftigen Frankfurter Generationen wollte es nicht mehr so recht ein· leuchten, das Drama des historischen und sozialen Geschehens im Horizont eines Natur und Geschichte übergreifenden Herrschaftsgeschehens zu inter· pretieren. Stau Geschichte und Politik als Ausfluß einer Dramatik des Subjekts hinsichtlich des aturverhältnisses zu sehen, sollte die Sphäre des Historisch· Politischen in ihr eigenes Recht gesetzt werden. Das Drama instrumenteller Rationalität wurde im Rahmen vorgängig kommunikativer Verhältnisse inter· pretien und Anerkennungsrelat.ionen als Interpretationsfolie von histOrischen Zusammenhängen gewählt. Das Drama der Naturbeherrschung verschwand so weitgehend aus dem Blick, erschien als Relikt einer sprach philosophisch noch unerleuchreten Subjekt-Objekt.Metaph)'sik. licht allein in Frankfurt. sondern auch an vielen anderen Orten erfuhren seit den siebziger Jahren praktische Philosophie, politische Philosophie und Ethik eine Renaissance. In diesem Zu·
6 Willem van Reijen, Dtr S{hu:(J'Z"'ald "nd Pan·i. Htidtggtr untl Benjamin, München 1998, 157.
s.
7
Ebd., S. 145.
8
Hans van dn 1..00 und Willem van Reijen. Modmrüitnllll.' Projtlu ehen 1992.
,,"t1 PariJtlox,
Mun-
186
Aktuelle Deb2uen
sammenhang wurden Kategorien des Politischen, des Sozialen, des Handeins und der lormauvitih in vielfacher Hinsicht weiterentwickelt, so daß auch differenzierte Lageeinschätzungen und -bewertungen möglich werden. Einzelne politische Phänomene. konkrete Entwicklungen von Kultur und Technik wer· den nicht mehr nur als Symptom oder als Vorboten einer (un-)heilsgeschichtlichen Großwetterlage interpretiert, sondern sind Phänomene mit individueller Signatur. Es werden Kriterien für gute oder veranrwortbare Politik diskutiert. Es werden Unterscheidungen möglich. Geschichte ist nicht mehr Unheilsgeschichte, das Ganze nicht eo ipso das Unwahre. Für geschichtliche Veränderungen kann weder von Fonschrittsgarantie noch von apokalyptischen Erwartungen selbstverständlich ausgegangen werden. Nun scheim es so zu sein, daß .. aturbeherrschung" als 'Iotiv ihren zentralen Platz bei der Konstituierung von Politik, Kultur und Geschichte eingebüßt hat. Allenfalls am Rande diskutiert Habermas neuerlich Probleme des Eingriffs in die menschliche Nacur. 9 Im Zuge neuer gen- und bio technologischer Möglichkeiten ergibt sich für Habermas die Frage, ob nicht Fundameme sozialer Anerkennungsverhältnisse problematisch werden, sobald das biologische So-Sein von Menschen zum Gegenstand von Emscheidungen gemacht wird. Auch J\'lichel Foucault, der in der hier angedeuteten Theorienfamilie vielleicht als französischer Kousin in Erscheinung treten mag, emdeckt Naturbeherrschung als Randphänomen sozialer Machtrelationen. Nach Analysen von Machtkonstellationen in Klinik, GeHingnis, Wissenschaft und Sexualität erscheint ihm die sich formierende "BioMacht" als radikale Strategie der ße-mächtigung der menschlichen Natur. Radikale Naturbeherrschung ist insofern nicht mehr Konstituens von Kultur, Politik und Geschichte, sondern vielmehr ein Grenzphänomen und zugleich eine Bedrohung derselben. Aber es wird als Phänomen von anderen Projekten des Menschen umerscheidbar und ist nicht mehr notwendig in die conditio humana eingelassen. Jndem die aturbeherrschung ihren geschichl'sphilosophischen Ort einbüßt, verändert sich allerdings auch der Ort der damit verbundenen Versöhnungsperspektiven. 1O Vor allem wird das Ästhetische nicht mehr in gleicher Weise der Ort von Versöhnungserw:\rtungen. In verschiedenen theoretischen Kontexten wurde erwartet, daß im Kontext ästhetischer Bemühungen Spuren anderer Welt- und SeJbstverhältnisse aufscheinen. Laut Heidegger entreißt das Kunstwerk die Elemente der Lebenswelt ihren alltäglichen Zusammenhängen und rückt sie in einen anderen Horizont, der als Auf-riß der Wahrheit des Seins gesehen werden kann und wodurch auch außerhalb des Ästhetischen
9
10
Jürgen I-Iabermas, Die ZlilelinJi dtr mtnJthlirhtn Na/llr. Allf dtl1/ W'tg ZII ti,ur libtralm Eil· gmile? Ff2nkfurt 2. 1\-1. 2001. Albrecht \l'e11mer, ..Wahrheit. Schein. Versöhnung. Adornos 2sthetische Renung der Modernität", in: ders., ZNr Dif1lt1eJi!e JYJ" Modmlt lI"d POJ/",odmlt. Vtnullljikritile nf1rb Adomo, Fra.nkfurt 3.. M. 1985, S. 9-47.
Düwell, Naturbeherrschung und Versöhnung
187
Wahrheit ge-stiftet wird. 11 Benjamin erwartet eine neue Perspektive auf die Geschichte von einer ästhetischen Radikalisierung der Moderne. In Adornos Ästhetik, die so stark auf abstrakte Kunsrwerke konzentriert ist, erhäh das Narurschöne geradezu eine Schlüsselposition. Das Naturschöne ist für Adorno nicht ein Residuum von ästhetischer nmittelbarkeit vor aUer kultureUen Ord4 nung. Es ist auch nicht - wie rur Hegel - allein ein Element, das in die Vorgeschichte der Ästhetik eingeordnet werden muß. Noch weniger ist es als ästhetische Kompensation für technische Naturbeherrschung zu begreifen l2 . Adorno erhofft vielmehr Rettung des Nicht-Identischen in künstlerischen Konfigurationen. Technik, also Narurbeherrschung, wird im Medium des ästhetischen Scheins radikalisiert, und in diesem Vorgang läßt das Kunstwerk Versöhnung aufblitzen. Dabei denkt sich Adorno das Naturschöne als die Zielvorstellung des Kunstwe,rks. Das Kunstwerk strebt dem 1 aturschönen nach, um in der Weh technischer Artefakte den Schein von Versöhnung auf-scheinen zu lassen, den das Naturschöne bewußtlos antizipiert. 1J Nicht Natur als solche, aber das Naturschöne scheint ein Versprechen abzugeben auf Versöhnung jenseits des Banns von Herrschaft!4. Die Einlösung dieses Versprechens ist geschichtsphilosophisch weder garantiert, noch hat das Versprechen selbst irgendeine andere Basis als das Erleben des Menschen, darüber kann Adornos objektivi 4 stische Schreibweise nicht wirklich hinwegtäuschen. Und gleichwohl wird hier ein Moment von Versöhnung faßbar, ohne das wir vielleicht nicht einmal eine Vorstellung hätten, wie ein versöhntes Verhältnis zur Natur überhaupt vorstellbar wäre. Zugleich ist diese Idee des Narurschönen auf eine Realisierung im Kunstwerk angewiesen, um zur Anschaulichkeit zu gelangen. In der neueren Diskussion ist diese Entdeckung des Naturschönen vielfach wieder aufgegriffen worden.!5 Charakteristisch für diese Diskussion ist jedoch die Ablösung von geschichtsphilosophischen Perspektiven. Das alurschöne
Die KunSI iSI Geschichle in dem wesentlichen Sinne, daß sie Geschichle gründel." Martin Heidegger, Dtr UrSpTH"1, dn KunsllNTkJ, Slullgart 1982, S. 80. 12 joachim Riller, "Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft;', in: ders., SNbjeklit:iliil, Frankfurt a. M. 1974, S. 141-163. 13 "Kunst fislj, anstalt achahmung der Nalur, Nachahmung des Naturschönen." Theodor w. Adorno, AJlhrliJ{he Theorir, Frankfun a. ~1. 1970, S. 111." atur hat ihre Schön heil daran, daß sie mehr zu s:agen scheint, als sie iSI. Dies Mehr seiner Kontingenz zu entreißen. seines Scheins mächlig zu werden, als Schein ihn selbsl zu bestimmen, :als unwirklich :auch zu negieren, ist die Idee von Kunst:' Ebd., S. 122. Jot "D:as alUrschöne ist der in die Im:aginalion tr:lnsponiene, d:adurch vielleicht :abgegoltene Mythos. Schön gilt allen der Gesang de.r Vögel; kein Fühlender. in dem e[w:as von europäischer Tradition überlebl, der nicht vom Laut e.iner Amsel nach dem Regen geruhrt würde. Dennoch lauen im Ges:ang der Vögel d:as Schreckliche, weil er kein Gesang ist, sondern dem Bann gehorchl, der sie befangt." Ebd., S. 104 f. 15 Martin Seel, E;,tt AJIIHtik drr NalNr, Frankfurt a. M. 1991. Marcus Dü",,'e1I. ASlhrlü{hr Erjahf'1inl, Nnd Moral ZNr BedeMlunl, dn ASlbtlisrhm Jiir dir HanJlNngupielräMme du Mmuhrn, Freiburg, 2. AuO. 2000. Anne Kemper, Unt!erftigbare NatNr. /iJlbelik. A"lhropologit M"d Elhik du UmlJ'el/JlhNlzu, Frankfurt a. M.. New York 2000. 11
••
188
Aktut:llt: Debatten
wird nicht aufgrund seines utopischen Poremials geschätzt. Die ästhetische Erfahrungsmöglichkeit von Natur ist vielmehr eine wesentliche Dimension des menschlichen Lebens, die Wertschätzung verdient, da uns hier ästhetische Formationen begegnen, ohne von r...lenschenhand mit der Absicht geschaffen zu sein, eine ästhetische Wirkung zu enrfaJten. Das aturäSlheusche ist auch deshalb wertvoll, weil es uns eine bestimmte Distanz zur Kultur eröffnet, ohne damit eine Sphäre vor-kultureller Unschuld zu eröffnen. Angesichts der Bedrohung von Landschaften und natürlichen Räumen hat das Offenhahen dieser Erfahrungsmöglichkeir auch eine moralische Dimension. Aber ist damit auch eine Perspektive auf Versöhnung verbunden?
4. Natur als Thema der praktischen Philosophie Die Interpretation des Verhältnisses von Geschichte und Natur in der Perspektive von Entfremdung, Herrschaft und Versöhnung scheint dem Drama des Menschen mit der ihn umgebenden arur und seiner eigenen biologischen atur Rechnung zu tragen. Die EntwickJung von Technik und Politik sind nicht zu verstehen, ohne die Dynamik, die aus dem Kampf um Narurressourcen und die Beherrschung der Natur erwächst. aturbeherrschung und soziale und politische Herrschaft hängen intern zusammen. ~:Gt der wachsenden Beherrschbarkeit der Natur des J\·fenschen wird dieses Herrschaftsverhältnis qualitativ noch einmal gesteigert. Nun ist diese Dimension jedoch in den Ansätzen liberaler politischer Philosophie sowie den an Anerkennung von AutOnomie orientierten modernen Moralphilosophien kaum zu erfassen. Natur erscheint hier als Ressource, die allenfalls unter Aspekten der Veneilungsgerechtigkeit wichtig erscheint; atur wird unter Begriffen von Nutzungsrechten und Besitzansprüchen reflektiert. Liberale politische Philosophie konzentriert sich darauf, wie die Freiheit des Einzelnen zu der aller anderen in einem Verhältnis steht (oder stehen sollte) und ob bzw. wie Ungleichheiten an Besitz und EntwickJungschancen ausgeglichen werden können oder sollen. Dabei können diese Verhältnisse als Verfahren des Interessenausgleichs im gleichförmigen Interesse aUer, als Selbsterhaltung bestimmter Gruppen, als Anerkennungsverhältnisse oder als Respekt:ierung moralischer Rechte konzipiert werden. Wir müssen uns an dieser Stelle nicht auf ein spezielles Konzept \'on ·foralphilosophie oder politischer Philosophie festlegen. In der Moderne scheint das aturverhältnis den sozialen, moralischen oder rechtlichen Verhältnissen äußerlich, als Besitzverhältnis nur in Verlängerung der individuellen Freiheit interpretierbar. Die Diskussion ist in der Umweltethik natürlich weit differenzierter, als es meine schematischen Überlegungen erscheinen lassen. So wird versucht, die auf Menschen bezogenen Rechtsverhältnisse durch Einbeziehung künftiger Generationen und durch einen Schutz von Landschaften, als Lebensraum des Menschen, weiter und differenzierter zu fassen. Von anderen Umweltethikern
Düwell, Naturbeherrschung und Versöhnung
189
wird dafür plädiert, die bisherigen ganz auf den Menschen orientierten Konzeptionen von Moral und Politik hinter sich zu lassen und auch nicht-menschliche Naturentitäten jcne moraljsche Rücksicht zukommen zu lassen, die wir uns gegenseitig schulden. Dieser leuere Schrin stellt jedoch einen weitgehend inflationären Gebrauch sozialer, moralischer und poLitischer Begriffe und Kategorien dar, der im Hinblick auf die Konsequenzen für den Schutz von Individualrechten extrem fragwürdig iSt. 16 Ohne das hier im einzelnen begründen zu können, scheim es zumindest plausibel, die kJassischen Schutz konzepte in Moral, Recht und Politik um Aspekte des Umwelt- und Naturschutzes zu erweilern und zugleich die Begriffs- und Kategorienbildung, die aus menschlichen Sozialverhältnissen emstammen, zu belassen. Für diese Operation ist eine philosophische Reflexion, die auf Versöhnung jenseits von Herrschaftsverhältnissen orientiert ist, wohl kaum erforderlich. un ist auch in anderer Hinsicht der Erklärungs- und Orientierungswert eines Geschichts- und Politikkonzepts fraglich, das aus der Beherrschung von Natur seine Dynamik gewinm. In einem Versöhnungskonzept sind im Grunde alle Fragen auf das Verhältnis von Geschichte zu einem ihm transzendemen Zustand gerichtet. Angesichts des stetcn Rückbezugs zur Transzendenz bleibt die D).namik innerhalb der Geschichte gleichsam stabil. Die konkreten historischen Phänomene sind allesamt nur ein Verweis auf ein Jenseitiges. Wenn Naturbchcrrschung und ihre fatale Dynamik in das Wesen von Technik und Poljtik eingelassen ist, steht alle geschichtsinterne Entwicklung untcr dem steten Vorzeichen der fatalen Entwicklung, ohne das weitere Differenzierungen möglich und sinnvoU sind. Die Erläuterung histOrischer Enrwicklungszusammenhänge steht unter diesem abstrakten Vorzeichen, und die Möglichkeit, konkrete Entwicklungen von aturbeherrschung und Technjkenrwicklungen normativ zu beurteiJen, emfallt. Die geschichtsphilosophische Rückbindung des Mensch-Natur- Verhältnisses scheint also aus vielerlei Gründen problematisch, wenn es um das Verständnis und die moralische und politische Beurteilung unseres praktischen Umgangs mit Natur gehl. Zugleich ist das Naturverhältnis jedoch von zemra· ler Bedeutung für unsere politischen Gestaltungsräume und das eigene Selbstverhältnis. Insofern ist die Auseinandersetzung mit Narurbeherrschung oder aIlgemciner dem Umgang mit atur nicht ein materiales Thema neben andercn, sondern eine unvermeidliche Herausforderung für unser moralisches und politisches Selbstverständnis. Wenn wir aber Natur jenseits totaler aturbeherrschung denken, setzen wir den Standpunkt der Versöhnung zwar nicht als
16
Dazu: ta Eser. "Einschluss St2tt Ausgrenzung _ Menschen und ':uur in der Umwehethik". in: Marcus Düwell und Kbus Sleigleder (Hrsg.), BitNthik. Ehre Ei".flihnmg, Fnnkurt 3. M. 2003. S. 344-353. l\hrcus Dü",'ell. "Zum Verhältnis von Elhik und Recht - umweltelhische Perspektiven", in: Monik3 Bobben, l\hrcus Düwell und Kurt Jax (Hrsg.), UmM,tlt- Ethik - Ruht. Tübingen 2002, S. 8-28.
190
Aktuelle Debatten
utopisches Telos voraus, aber doch als Bezugspunkt der Reflexion; zumindest transzendieren wir die Bahnen unserer jetzigen kulrucellen und zivilisaroci· sehen Möglichkeiten. Das Verhältnis zur arur, die Begrenzung technischer Verftigba.rkeir und die Möglichkeit, das eigene Selbsrverhälrnis anders als in technischer Selbstverfügung zu denken, sind von zentraler Bedeutung für die Konstüuierung moralischer und poLitischer Subjektivität. Naturressourcen sind nicht allein Gegenstände des Besitzes, die allein unter Vertcilungsgesichtspunkten bedeutsam sind. Die Existenz freiheitlicher Gesellschaften, die Möglichkeiten von eigenverantwortlichem Handeln und die Selbstwahrnehmung als moralische Subjekte sind mit der philosophjschcn Antwort auf das Verhältnis des Menschen zur Natur in der fortgeschrittenen Moderne intern verbunden. Dabei ist es keine verantwortbare Möglkhkeit. den Differenzierungsgewinn von Demokratie, Menschenrechten und geregelten Machtverhältnissen mit eschatologischen Versöhnungsperspektiven einzuebnen. Für Ethik und politische Phjlosophie ist es jedoch eine zentrale Aufgabe, ihre Kategorien, Begriffe und materialen Gegenstände unter der Perspektive zu reflektieren, ob ein Verhältnis zur Tarur gedacht werden kann, das nicht auf Naturbeherrschung reduzien bleibt, und seinen Stellenwert zu bestimmen.
Gunzelin Schmid
1
oerr
Was hilft die Ethik bei der Einschätzung der Technik? Zur Legitimität der moralischen Fragen nach dem Allgemeinwohl
1. Technikethische Argumentation: ein Beispiel Ethik der Technik ist der Versuch, philosophische Grundsätze für den Umgang mit der Technik zu formulieren. Dieser Ansatz geht über die ..Ingenieurethik" und die entsprechenden "codes of ethics", wie sie lange Zeit bestimmend waren, weit hinaus. Abgesehen davon, daß diese Form der Technikethik überwiegend als Erbauungsrhethorik gefragt war, können die Möglichkeiten und Folgen des technjschen Handelns nicht einzelnen Entwicklern allein zugeschrieben werden. Start dessen geht es bei der Ethik der Technik heute um nicht weniger als um die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben wollen und welches Verständnis vom Menschsein wir haben. Wie zweifelhaft die Einschätzung der Technik fortwährend ist, wird beispielsweise in bezug auf die Gentechnologie deutlich, eine der neuen Biotechnologien, bei der auf der Basis der Molekularbiologie an der Veränderung von Erbinformationen gearbeitet wird. Zur alltäglichen Realität gehört, trotz entsprechender Ankündigungen, bislang zwar noch nicht der geklonte Mensch, wohl aber die gentechnologische Veränderung von Pflanzen im Interesse ihrer effizienteren ökonomischen Verwertung bei der Erzeugung von Lebensmitteln. Die Rjsiken und Nebenwirkungen werden in diesem Fall in der Packungsbeilage nicht aufgelistet, sie sind teilweise immer noch ungeklärt. Für die Politik ergab sich daraus die über mehrere Jahre hinweg erörterte Frage, ob gemechnisch veränderte Lebensmitt.e1 im Verkauf entsprechend gekennzeichnet sein müßten. In der Diskussion darüber vertrat ein Genforscher die Ansicht. ein solches Gesetz sei abzulehnen, da es in sich unlogisch sei. Emweder nehme man ein gesundheitliches Risiko genmanipulierter Lebensmittel an, dann müsse man deren Herstellung umersagcn, oder man sei von ihrer Unschädlichkeit überzeugt, dann bedürfe es keiner Kennzeichnungen und entsprechender Oberwachungsregelungen. Welcher gesetzgeberische mgang bezügljch dieser Frage war also erforderlich, Verbot oder Kennzeichnungsverzicht? Diese Frage ist inzwischen durch einen formeIJen Beschluß zugunsten der
192
Aktuelle Debatten
Kennzeichnungspflicht politisch entschieden. 1 Gerade weil der Fall (wenigstens vorläufig) abgeschlossen ist. erlaubt er start ungewisser Vermutungen in Richtung Zukunft eine Fallstudie am überschaubaren Objekt. Gegenstand der Ethik ist dabei weder die Beurteilung des tatsächlich vorhandenen gesundheitlichen Risikopotentials noch die Analyse politischer Enrscheidungsverfahren, sondern die kritische Sichtung von Argumenten und die Bewertung der Entscheidung unter Kriterien des Allgemeinwohls, d2S heißt der moralischen Ausgewogenheit konfligierender Interessen. Was ist von der Argumentation jenes Genfofschers zu halten? Er selbst gab keine direkte Empfehlung, sondern wollte die politische Entscheidung nur eindeutig an die Einschätzung des Gefahrdungspotentials dieser Lebensmittel gekoppeh wissen. Das Mißliche daran war und ist allerdings - und das scheint typisch für alle komplexen technologischen Projekte in der .,RisikogesellschaÜ" zu sein -, daß keine Einigkeit hinsichtlich der Abschätzung der Folgen besteht. Die Experten sind oft nicht weniger uneins als die Laien. Und was als wissenschaftlich objekti\'e FeststelJung präsentiert wird, ist dem Verdacht ausgesetzt, durch politische. ökonomische oder persönliche Interessen mit bestimmt zu sein. Das läßt ein eindeutiges und alJseits überzeugendes rteil über die nschädlichkeit gentechnisch veränderter Lebensmjttel bis auf weiteres kaum zu. Würde wenigstens umgekehrt, aus einer erwiesenen Schädlkhkeit solcher Lebensmittel, zwingend folgen, daß sie zu verbieten seien? Ein logisch gültiger Schluß wäre dies nicht unbedingt. Denn eine normative Schlußfolgerung ("Gentechnisch veränderte Lebensmittel sind zu verbieten") kann nur dann gezogen werden, wenn auch unter den Prämissen schon ein normativer Satz ist. wenn also die Prämissen nicht nur aus TatsachenfeststelJungen (..Gentechnisch veränderte Lebensmittel sind schädlich'') bestehen. Allerdings scheint der Genforscher impli~t genau eine solche normative Voraussetzung gemacht zu haben, nämlich die Annahme: "Schädliche Lebensmittel dürfen nicht produziert werden". Dies leuchtet aber als Regel nur dann ein, wenn keinerlei Vorteile mit diesen ahrungsmitteln verbunden wären. Daß ansonsten auf negative Folgen eines Produkts nicht unbedingt mit dessem Verbot reagiert wird, zeigen Beispiele wie strahlenbelastete Pilze, Zigaretten, Automobile oder AtOmkraftwerke. Deren Schadensporentiale gelten als Risiken, die entweder von den einzelnen nach ihrem eigenen Ermessen in Kauf genommen werden oder von einer f\'lehrheit der politischen Repräsentanten allen Gesellschaftsmitgljedern zugemutet werden. Die Unbutimmthtil der tatsächlichen negativen Folgen erlaubt es, daß die Risiken trotz allem akzeptiert werden.
Ende November 2Q02 einigten sich die EU-Agrumi ni ster auf Regeln zur Kennzeichnung technisch \'erindener Ld)(:nsnUuel. Demnach müssen ubensmiuel dann zwingend ~kennzeichnet werden. u'enn sie mindestens zu 0,9-/. gentechnisch veriindene Organismen beinh:ahen. Diese Prozentzahl ist weile:r umstriuen. Immerhin bezeichnete ein Sprecher der Umweltorganis:ation Greenpeace die Regelung 1lIis weltweit beispielhaft.
Schmid Noerr,
W20S
hilft die Ethik bei der Einschätzung der Technik?
t 93
Wir kommen so zu einem erSten Ergebnis, daß die bei den alternativen Annahmen einerseits zu unsicher. andererseits in sich unstimmig sind. Das bedeu· tet a~r auch. daß die AI/erna/it't selbst JalSfh kons/f7/ierl ist. Tatsächlich beging unser Genforscher den - wiederum typischen - Fehler, einen Teilbereich sei· nes eigenen, engeren Tätigkeitsfeldes als maßgeblich für das Problem im gan· zen auszugeben. Dieser Teilbereich ist die Verträglichkeit der Lebensmittel in bezug auf die körperliche Gesundheit, wobei er offenbar auch annahm, daß dies hier und jetzt feststellbar sei, also von der Unbestimmtheit langfristiger Folgen absah. Nun gibt es jedoch offensichtlich auch andere wichtige Bereiche, die von technologischen Eingriffen betroffen sein können, z. B. die natürliche Umwelt oder die persönliche Autonomie. Diese dürfen bei einer solchen Entscheidungsfindung nicht unberücksichtigt bleiben. Hinsichtlich der na/iirlichen UmnIl blendete der Experte die Folgen aus, die dadurch eintreten können, daß die genmanipulierte Pflanze unter Freilandbedingungen teils weiter mutieren, teils auf andere Bios)'steme einwirken kann. Damit können. so wird gelegentlich behauptet, gefahrliehe Kettenreaktionen ausgelöst werden. die schlechthin unüberschaubar sind. Allerdings betrifft diese Frage tatsächlich nicht erst die Kennzeichnung der Waren für den Verkauf, sondern schon die Zu lässigkeit der Produktion der Ausgangsorganismen. Ein anderer zu beachtender Bezugspunkt ist die Autonomie der Konsumenten. Er ist hier von maßgeblicher Bedeutung. Selbst wenn die Mehrzahl der Experten von der Unschädlichkeit der neuen Technologieprodukte überzeugt wäre, dürfte diese Ansicht den KOnJNmenten nicht oktroyiert werden, solange es bei einem quantitativ relevanten Anteil der Bevölkerung Vorbehalte gegenüber genmanipuliert'en Lc:bensmitteln gibt. Ein gesetzlicher Verzicht auf Kennzeichnung genmanipulierter Lebensmittel, der vorrangig den Verkaufsinteressen folgte. würde die Autonomie der Konsumenten unangemessen beeinträchtigen, zu der, im Rahmen der eigenen Belange, auch die Freiheit des Nichtwissens und der persönlichen EOlscheidung aufgrund von Irrtum gehört. Unter Einbeziehung vor allem der Respektierung der persönlicher Entscheidungsfreiheit kommen wir also zu dem Ergebnis, daß eine Kennzeichnung der Lebensmittel moralisch geboten ist, und zwar selbst dann, wenn die Mehrzahl der Experten von ihrer Unschädlichkeit überzeugt wäre. Das unter diesem Aspekt erfreuliche Resultat der tatsächlich so erfolgten politischen Entscheidung demonsuien die ethische Folgerichtigkeit wenigstens einer EinzeIentscheidung. Das besagt allerdings noch wenig über ethisch geforderte Steuerungs. möglichkeiten in anderen Bereichen technischer Entwicklungen und ihrer Auswirkungen. Charakteristisch für die politische Entscheidungsfmdung ist, daß ethisc.he Argumente niemals in der hier angeführten Reinform vorkommen, sondern immer in einer komplexen Gemengelage von Meinungen, Interessen, Kompetenzen und Betroffenheiten. Deshalb ist im nächst.en Schrift zu überle· gen: Wie bewerten wir Technik?
194
Akruelle Debatten
2. Bewenungsweisen der Technik In der gegenwärtigen Technjk-Philosophie wird die Technik zu Recht nicht mehr als Inbegriff von Maschinen aufgefaßt, sondern als HandJungss)'stem, das angemessen nur als komplexe, sich geschichtlich wandelnde Konstellation von Nawf, Apparatur, technologischem Wissen, Gesellschaft und Kultur verstanden werden kann. "Technik" ist nicht nur die Gesamtheit der Verfahren und Geräte zur Bearbeitung der Nawr. sondern um faßt auch deren Erzeugung, Gebrauch, Beseitigung und Wirkungen. Damit ist sie als sozin/tI JjslenJ zu verstehen. "Sozial" bestimmt sind Techniken, insofern ihre Einführung und ihr Gebrauch von gesellschaftLichen (ökonomischen, politischen, kulturellen) Fak4 [Oren maßgeblich mitbestimmt werden und wiederum auf die Gesellschaft zurückwirken. "System" ist die Technik in ihren am weitesten entwickelten GeHalten, insofern wir sie nicht mehr, wie Werkzeuge btnNfZtn oder wie Maschinen btditntn. sondern in ihr Itbtn. 2 Das heißt, wir können uns ihren Auswirkungen oft auch dann nicht entziehen, wenn wir von ihr selbst keinen Gebrauch machen wollen. Die Technik Stellt ein Mtdium dar, in dem wir leben, in dem der geselJschaftliche Austausch vor sich geht und das selbst eine Art sozialer Ordnungsmacht wird. Aber die rechnische Enrwicklung ist, so übermächtig und eigendynamisch sie sich auch vollzieht, doch niemals ahernativlos. Technik iSt keineswegs wert neutral, sondern in sich normativ determiniert und determinierend. Unabdingbar wird sie von den Beteiligten und Betroffenen btJJltrltf. Die Bewertung geschieht implizit oder explizit, auf Grund von scheinbar selbstverständlichen Voran nahmen, Wunschbildern oder in Form von Argumentation. Für deren Rationalität gibt es verschiedene Kriterien. Die nächstliegende Form der Bewertung iSt die insl17ilfltnltllt, die die Frage beantwortet: Ist das technische Mittel tauglich zur Erreichung des damit verbundenen Zwecks? Sodann wird iikonollliscb bewertet: Lohnt sich der Aufwand angesichts des Ertrags? Des weiteren stellen sich polifiscb-slroltgüc!Jt Fragen: Schadet oder nützt das Produkt dem Image des HerstelJers? Lassen sich Produktion und Verkauf politisch durchsetzen? Alle solche instrumentellen. öko nomischen und politisch stratcgischen Bewertungen stellen Nlltzm-Kolkiile dar, wobei sich der Nutzen auf einen einzelnen, eine Gruppe, eine Institution oder die Gesellschaft als ganze beziehen kann. Bewertet wird Technik hjer unter Regeln der Klughtit: .. Es ist klug, A zu tun. um B zu erreichen." Betrachtet man die Technjk nach KJugheitsregeln unter einem übergeordneten, möglichst objektiven Gesichtspunkt, dann betreibt man dtsknplillt Technikfolgenabuhiitzung. Diese zeigt die faktischen oder zu erwartenden Resultate und damit das Spektrum der Handlungsmöglichkeiten unter gegebenen Bedingungen und Zielvorstellungen auf. 4
4
4
2
Vgl. Christoph Hubig, Eva Jelden, "Werkzeug, Maschine, System", in: Christoph Hubig,Jürgen Albers (Hrsg.), TuhniJebunrlung, \Xleinheim 1995, S. 13 fr.
Schmid Noerr, \,\'as hilft die Ethik bei der Einschät2ung der Technik?
195
Dieses Spektrum wird nun eingegrenzt durch die normotivt Technikfolgenbtll,trlung. ..Tue A, wenn du B erreichen willst" bleibt eine bloße ModeUreeh· nung, solange nicht entschieden ist, ob tatsächlich B oder vieUeicht besser C erreicht werden soll. Die Kriterien der Technikbewertung, der Abwägung positiver und negativer Wirkungen, sind in der Gesellschaft heute vielfach kodifi· ziert. Solche Regelungen reichen von berufsspezifischen Verhaltensnormen über die politischen Grundrechte bis hin zu speziellen Gesetzen (zum Beispiel der Gefahrdungshaftung) und technischen Normen (zum Beispiel Sicherheits· vorsch ri ften). Darüber hinaus gibt es aber auch ein breites Spektrum von ungeschriebenen, im geschichtlichen Fluß befindlichen moralischen Überzeugungen und Wertvorstellungen. Sie betreffen beispielsweise das, was wir uns unter Begrif. fen wie Menschenwürde oder Freiheit inhaldich vorstellen. \'(lelche moralischen Normen Geltung beanspruchen können und welche nicht, dies ist nun die Fragestellung der Ethik. Implizit kommt sie mit jeder moralischen Ausein· andersetzung ins Spiel. In expliziter Form ist sie eine Theorie der moralischen ormen und \'(/erte und der Prüfung ihrer Geltungsansprüche. So geht es bei der Ethik der Technik unter den Bedingungen einer technologisch bestimmten Gesellschaft darum, die unerläßlichen Entscheidungen darüber, wie wir leben wollen, auf die ihnen zugrundeliegenden moralischen Prinzipien hin zu klären und der Überprüfung zugänglich zu machen. Die verschiedenen Bewertungsweisen der Technik lassen sich folgendermaßen zusammenfassend darstellen: Kriterien der Bewertung
-----------
KJugheitsregeln
lOstru· ökonomcnleU misch
ethische Prinzipien
politisch Wene
individuelle \'(/ette
Grundrechte
soziale Werte
Gesetze
Normen
soziale Normen
moralische Normen
Standesregeln
Poscul:He der Technikfolgenabschätzung
196
Akluell~
Debatten
Nun ist mit dieser formalen Aufgliederung noch nicht gesagt, welche Bedeurung den einzelnen Bewerrungsinstanzen tatsächlich zufallt. So könnte die Annahme. daß wir heute üben.viegend nicht mit, sondern in der Technik leben, auch bedeuten, daß ethische Erörterungen kaum mehr liefern als nachträgliche Rechtfertigungen im Kampf widerstreitender Interessen. Die neuere Diskussi· on um die Möglichkeiten der Technikethik schließt dabei fast nahtlos an die Auseinandersetzungen um das Verhälmis von Politik und Philosophie an, die ihrerseits so alt wie diese selbst sind.
3. Distanz der Philosophie von der Politik Seit jeher hat die Philosophie Maßstäbe für Vernunft und Gerechtigkeit formul.iert, die für das soziale Leben und so auch für die politische Praxis gehen sollten. Doch die Erwartung, mit ihren Theoremen auf dje politische Praxis einzuwirken, wäre heute mehr denn je naiv. Auch muß der plamnische Gedanke, poljtische Macht und Philosophie sollten in einer Hand zusammenfallen, der Philosophie heute zutiefst suspekt sein. Als Strukturmerkmal demokratischer Herrschaft gih die Gewaltenteilung. Nicht nur die poljtischen und recht· lichen Institutionen sollen unabhängig voneinander agieren und sich wechselseitig kontrollieren, auch die öffentliche Meinung und die sie beeinflussenden Kräfte der Publizistik, der Wissenschaften - und gegebenenfalls auch der Phi· losophie - übernehmen im Idealfall autonome Funktionen. Durch die Pluraljtät aller gesellschaftlichen Beobachtungsinstanzen sollen die negativen Folgen von hchtballungen möglichst eingegrenzt werden. Dabei lebt die Fruchtbar· keit der philosophiuhtn Beobachtung nicht zuletzt von der gedanklichen Risikobereitschaft und Radikalität, während die f"tthllidu und dtmoleroliJtht Zähmung der politischen Macht eher auf die Minimierung von Lebensrisiken zieh. Die gesellschaftlichen Teilsysteme, auch und gerade das der Technik, haben gegenüber moralischen Einwänden eine uneinholbare Eigendynamik ange· nommen. In dieser Perspektive erscheint die Ethik dann weniger als Mittel zur Krisenbewältigung denn selbst als ein Krisensympmm. Diese Ethikskepsis bezieht sich nicht auf die mangelnde Stichhaltigkeit dieses oder jenes ethischen Arguments oder auch eines bestimmten ethischen Ansatzes, sondern grundsätzlich auf die Möglichkeit einer moralisch motivierten Beeinflussung gesell. schaftlieher Systeme. Einer entsprechenden Illusion gilt Ulrich Becks Spott, der im technik philosophischen Diskurs fast schon zu einem geflügelten Wort geworden ist: "Die Ethik spielt im Modell der verselbständigten Wissenschaften die RoUe einer Fahrradhremse am Interkontinental flugzeug."] Der Grund damr liegt in der Erfahrung der Omnipräsenz der Technik und den damit zusammenhängenden Steuerungsproblemen. Die heute erreichte
)
UIrich Beck. Gege"giftt. Die orgnnisitrle UfII'trn"lWorllühluil, Fnnkfurt a. l'.1. 1988, S. 194.
Schmiel Noerr, Was hilfl die Ethik bei der Einschätzung der Technik?
197
Stufe der TechnikenrwickJung ist durch die Dominanz der wissenschaftlichen Technologie bestimmt. Mit ihrer Hilfe durchdringt die Technik die Welt als ganze, beherrscht und vereinheitlicht sie zunehmend. Selbst aUtägJjche Gebrauchsgüter werden zunehmend zu technologischen Produkten, deren Konzeption, Design, Herstellung, Verteilung und Restebeseitigung mit wissenschaftlichen Methoden berechnet werden. Da der mögliche Gebrauch der Technik nicht durch ejnen einmal vorgesteUten Zweck determiniert ist, ist sie in ihrer Funktion und in ihren Folgen unbestimmbar. Das wird an Risiken von Folgewirkungen deutlich, dje die natürlichen oder gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen sie auftauchen, nachhaltig verändern. Diese sogenannten "evolutionären Risiken"4 (neben denen des gemechnischen Eingriffs in die biologischen Erbsubstanzen zum Beispiel die der Klimaveränderung durch Abgase) sind erst in dem Maße in ihren ökologischen, ökonomischen, gesundheitlichen oder sozialen Folgen bestimmbar, in dem sie eimreten. Die Reichweite der Wirkungen technischer Handlungen hat extrem zugenommen, und je abstrakter die Ursache-\XIirkungs-Zusammenhänge werden, desto weniger individuell verantwortbar wird Technik. Durch die Vorherrschaft der technologischen Rationalität wird die Moral in die ische privat-exjstentieller Wertemscheidungen zurückgedrängt, und dadurch moralische Vernunft rur unmöglich und das Bedürfnis danach für uneinlösbar erklärt. Daß auf die ethische Diagnose hin die politische Intervention erfolgt, ist höchst unwahrscheinlich. So hat sich das Mißverhältnis zwischen instrumenteller Rationalität und moralischer Kultur zur Identitätskrise unserer Zivilisation ausgewachsen. Die Feststellung, die Möglichkeiten moralischer Einsprüche stünden in einem krassen J\'lißverhältnis zur Dynamik der technologischen Ent\.\'ickJung, ist selbst eine ethische Diagnose. Angesichts der unmittelbaren Ohnmacht ethischer Reflexion gibt es immerhin tintn Grund, an dieser festzuhalten, einen Grund, der sich aus dem Zweifel an ihrer Wirksamkeit selbst ableiten läßt: Solange wir ihre Wirkungslosigkeit beklagen, setzen wir voraus, daß das Richtige oder Bessere doch erkennbar bleibt. Aber noch dieser mögliche Haltepunkt ethischer Reflexion wird jedoch von s}'stemtheoretisch-soziologischen Einwänden gegenüber der Ethik für unmöglich erklärt.
4. Zu Luhmanns Kritik der Ethik Niklas Luhmann hat seine Kritik der Ethik auf die Formel gebracht, die Ethik könne sich selbst nicht unter das subsumieren, was sie zum Gegenstand habe, nämlich das moralisch Gute. nler "Ethik" versteht Luhmann zunächst allge-
•
Vgl. Wolfg.lIng Krohn, Gerh2rd Krücken (Hrsg.), RisluJ"fe Tubnoltlgü,,: &jk:o..·ion lind Rq,ltlo/;on. Fnnkfurt a. M. 1983.
198
Aktuelle Deballcn
mein die theoretische Reflexion dessen, was moralisch für richtig oder gUI gehalten wird, wobei er dann allerdings die deskripLive Ethik (als soziologische Beschreibung und Deutung des Moralischen) gegenüber der normativen Ethik (als philosophische Begründung und Rechtfertigung des moralischen Sollens) privilegien. Als empirisch faßbare Entsprechungen rur moralische Werte sieht Luhmann Achtung und Mißachtung an. Entsprechend bestimmt er Moral als "eine besondere An von Kommunikation, die Hinweise auf Achtung und ~'Iiß achtung mitführr",5 Luhmann hält die - sei es deontischen, sei es konsequentialistischen - Begründungen der normativen Ethik zwar nicht von vornherein für falsch, aber angesichts des heutigen Stands der Moral und des ethischen Problem bewußtseins für unangemessen. "ivtoraJ" erscheint so in einer soziologisch-externen Perspektive und nicht, wie in der philosophischen Ethik vorrangig, in der internen Perspektive der moralisch Urteilenden selbst. Luhmann konzeptualisien die moderne Gesellschaft (etwa seit dem Ende des 18. Jahrhunderts) als System, das nicht mehr hierarchisch, sondern funktional gegliedert ist. Auf diese \'(leise differenziert sich die Gesellschaft in jeweils autonome Teilsysteme, zum Beispiel \'(lissenschaft, Politik, Recht, Kultur, Schule, Liebesbeziehungen (und eben auch Technik). Diese funktionieren entsprechend einer je besonderen binären Codierung. In der Wissenschaft gilt vorwiegend das Kriterium "wahr/unwahr", in der demokratischen Politik die Entgegensetzung "Regierungs macht/Opposition" usw. Das Neuartige dieser Codierungen gegenüber vormodernen Gesellschaften besteht nun nicht zuletzt darin, daß sie sich von der Codierung "moralisch gut/schlecht" abgekoppelt haben. Während die vormodernen Gesellschaften durch weitgehend statische Rollenzuweisungen und moralische Normierungen integriert waren, existiert in der ~Ioderne kein normatives Zentrum mehr, das den Anspruch erheben könnte, die Entfaltung der djsparaten Handlungssysteme zu steuern. Auch d:as moderne Leitbild individueller Autonomie taugt nicht zu einem solchen Zen trum, weil es bloß formaler Art ist und die einzelnen in ihren Handlungspräferenzen inhaltlich gerade nicht festlegt. Jedes gesellschaftliche Handlungssystem hat also seine eigenen Funktionskriterien, die mit dem moralisch Guten und Schlechten nichts zu tun haben, ja mit diesen Bewertungen im Interesse ihres Funktionierens nicht vermischt werden dürftn. Die moralische Kommunikation ist nun aber auch kein Funktionssystem unter anderen, denn sie bezieht sich nicht auf jeweils systemspezifische Leistungen, sondern eben :auf die Achrung oder Mjßachrung einer Person als ganzer. Das bedeutet, daß sie soziologisch gesehen orllos und adress:atenlos geworden ist, über:all und nirgends zugleich, fast immer störend. Keineswegs, so Luhmann, fördert die moralische Kommunikation die ihr zumeist zugesprochene Bereitschaft zu Gewaltlosigkeit, vielmehr ist ihr die Tendenz zum pole4
,
Niklas Luhm:mn. l'aradigm 10$1: Ober dit elhiJrh, PJPt:x·io" dtr ,oHoral, Frankfurt 1989, S. 17 f.
t. 1\'1.
Schmid Nocrr, Was hilft die Ethik bei der Einschätzung der Technik?
199
mischen Überengagement inhärent. Keineswegs haben dje besten Absichten immer die besten Folgen, wie ja auch umgekehrt verwerfliches Handeln auch gute Folgen haben kann. Das macht es grundsätzlich zweifelhaft, nach moralischen Gesichtspunkten zu entscheiden. Keineswegs lassen sich Risiken, die von Großtechnologien wie der atomaren oder biochemischen Industrie ausgehen, mit Aussicht auf Konsens moralisch bewerten, da die damit zusammenhängenden Präferenzen bei den verschiedenen Handelnden und Betroffenen ganz unterschiedlich verteilt sind. Kurz, die I"loral ist grundsätzlich zu schwach, um den einzelnen Funktionssystemen Imperative aufzuzwingen und so deren Pluralität noch in eine Einheit zu integrieren, aber stark genug, um andere Personen mit Eifer und Aufdringlichkeit aus dem Bereich des vorgeblich Guten auszuschließen. Moral ist, so eine von Luhmanns feinsinnigen, eher entlarvungspsychologischen Beobachtungen, eine Kompensation des latent gehaltenen Willens zum Totschlag. 6 Vor diesem Hintergrund gesehen, bestand die den verschiedenen philosophischen Ethikentwürfen der Moderne gemeinsame Hauptaufgabe darin, die Moral durch vernünftige Begründungen gleichsam zu zivilisieren. Luhmann bestreitet nun aber, daß ihnen dies gelungen sei. Während sie immer weiter nach der vernünftigen Begründung moralischer Urteile fahndeten, geriet ihnen die wirkliche moralische Kommunikation in der Gesellschaft aus dem Blick. Der Einwand richtet sich gegen das Herzstück dieser Ethiken, den Praxisbezug ihrer Theorie. Die ethische Reflexion der Moral sollte rationale Begriindtmg des richtigen HandeIns und zugleich anleitende Motivation zu diesem Handeln sein. Dieser Spagat zwischen Theorie und Praxis mußte, so Luhmann, mit dem Ausschluß des moralisches Codes aus den autOnomen Funktionssystemen mißlingen. Wodurch die moralische Praxis tatsächlich geleitet wurde, dies waren nicht vernünftige Begründungen, sondern Restbestände hierarchischer Sozialstrukturen und Sozialisationsleistungen. Indem die herkömmliche Ethik dies und die schwerwiegenden Ambivalenzen des r-,'loralischen ausblendet, schreibt sie sich selbst eben das fraglos zu, wovon sie handelt, nämlich moralischen Wert. Kurzschlüssig unterstellt sie, daß die moralische Unterscheidung "gut/ schlecht" und die ethische Empfehlung der ;"Ioral selbst immer schon moralisch gut seien. Luhmann zufolge steckt die normative Ethik also in einer doppelten Schwierigkeit. Sie ist blind gegenüber den Ambivalenzen und Grenzen der Moral, und sie begeht den logischen Fehler der Anwendung eines Codes auf sich selbst, die, analog zu einer Aussage wie der: "Dieser Satz isr falsch", unweigerlich zu Selbstwidersprüchlichkeitcn führe. 7 Die Frage, ob die Ethik 010-
, 7
Luhmann, "Ethik als Rcnexionstbeorie eier Moral", in: ders., GtJt/luhaflJJtntlUNr Hnd StouUJlik. Studien !{Hr lf/iJJtnssOiio1ogit dtr modtrntn Gtstlluhajt, Bd. 3, Frankfurt a. 1\'1. 1989, S. 367. Aber iSI die Analogie wirklich zwingend? Die AUloren des Glossars zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer SYSleme (Claudio Baraldi, Giancarlo Corsi und Elena Espo-
200
Aktuelle Debauen
raUsch gut ist, erweist sich, im Sinne Luhmanns, damit als unentscheidbar. Sie ist Ausdruck seiner Infrageste1lung des moralischen Selbstverständnisses der Ethik. Luhmann zieht daraus den Schluß, daß es "die vielleicht vordringlichste Aufgabe der Ethik [heute istJ, vor Moral zu warnen"a, oder, weniger appellativ formuliert, den Anwendungsbereich der moralischen Kommunikation gesellschaftsrheorctisch zu limitieren und "sinnvolle Anwendungsbereiche von I\'[o~ Tal zu spezifizieren"9. Das klingt immerhin vernünftig. 1O Gerade im Fall des besonderen Gegenstands unserer Überlegungen, der Ethik der Technik, gibt es genug ernst zu nehmende Gründe, sich vor IUusionen zu hüten. Appelle an das Gute im Menschen haben zumeist keine Chance auf Gehör, vor allem wenn machtvolle interessen ihnen entgegenstehen. Und bloßes Moralisieren hilft nicht nur nichts, sondern lenkt auch die Aufmerksamkeit von den entscheidenden Problemen ab. Aber muß nicht gerade auch eine ambivalenzbewußte und morallimitierende Ethik ihren Differenzierungen und Warnungen einen moralischen Wert zuschreiben? Ist der Zirkel der Selbstreferentialität überhaupt vermeidbar? Luhmann betont selbst, daß dies unmöglich ist, daß also "jede Begründung von Aussagen über Ethik und Moral selbstreferentiell angelegl sein muß"ll. Jedoch bleibt bei ihm unklar, was dies für die Ethik bedeuten soll. Einerseits will er den engen Zirkel der tIIoralischtIJ Selbstreferentialität durch den weiteren und unverfanglicheren Zirkel der so':(jologisdJen Selbstreferentialität (nach der auch Ethiker als Beschreiber moralischer Kommunikation gesellschaftlich kommunizieren) ersetzen. Andererseits gesteht er zu, daß die Ethik als Selbstreflexion der Moral in ei.nem strikten Sinn gar nicht anders kann, als sich selbst als etwas Gutes (und nicht erwas Schlechtes) zu wollen. Wenn es
SilO, Frankfurl a. r-,,1. 1997), das von einem souveränen überblick über die weitläufige Luhmannsche Theorielandschaft zeugt, paraphrasieren ausführlich das klassische Lügnerparadoxon, während sie dessen logische übertragung auf die funktionalen Systeme (5. 133) oder die Moral (5. 120) nur behaupten, nicht aber begründen. Die gesamte Lehre von den unvermeidlichen Paradoxien und ihrer "kreativen Asymmeuisierung" scheint vor allem dazu notwendig zu sein, um den theoretischen GebUrisfehler zu kompensieren, der in der sachlich unangemessenen Starrheit der ,.binären Codes" liegt. Wie ließe sich im Ernst Demokratie auf die Alternative Regierung-Opposition, wie die der Wissenschaft auf wahr-falsch, und wie die Moral auf die alternative Zuschreibung gut-böse reduzieren? 8 Luhmann, Paradigm 10$1, S. 41. - Warum aber sollte das Warnen und Mahnen des deskriptiven Ethikers grundsätzlich weniger steril sein als das von Moralisten, wie Luhmann es an Theologen des 17. Jahrhunderts .-ism and Alttrnant-'ts. Towards Iht Conttp/uallnltrorlion omong SO/litt Philosophy, Nto-Thomism, Pragmotism ond Phmomenology (Dordrecht, 1981), in: TijdHhn"jt t-'Oor Thtonlische Gtschitdenis 11/2 (1984), S. 229-232. "Ideologiekritiek en romantiek", in: A. de Ruyter (I-Irsg.), Op t,otle naar dt juislt maat, Rotlerdam 1984, S. 31-49. "Da lilosolia a pos-filosofia", in: RLvislo dt filosojia t tpisltmologia 5 (1984), S. 227-246. (portugiesische Übersetzung von "Interview with Richard Rony", 1982). Mit W. Hudson (I-Irsg.), Modtrntn vtrJus POJtmodtrntn, Utrecht 1985. "Postscriptum", in: Modtrnen t'trSHJ POJtmodtrntn (1985), S. 9-49. "Miss Marx and (he t.erminals", in: Modtrnen vertUS Poslmodtrnen, S. 341-387. Besprechung von M. Evert, Dit prohltmatischt Kn"tik dtr Idtologit, in: Mnl-Sludien 76/2 (1985), 5. 225-226. "Die Deutschen wollen klare Verhältnisse", in: Frank/Hr/tr RJtndsrhaN, 4. Mai 1985 (Sonderheft). "L'art de la criti'lue", in: H. Wismann (Hrsg.), Walltr Btnjomin el Pan"s, Paris 1986, S. 421-432. Horkhtimtr t,Nr EinJiihnmg, Hamburg 1986, 2. Auflage. Adorno t,Nr Einfiihrung, Hamburg 1986, 3. Auflage. Philosophit als Kn"lik, Königsrein/Ts. 1986, 2. Auflage. Mit R. Gönzen, "Mn Horkheimer oggi; La sua opera e la sua ricezione", in: Ftnomeno· logia e Snent! dell'Uomo 3 (1986), S. 327-341. i\·lit D. Kamper (I-Irsg.), Die Nnt'OlIendelt VtrnNnjt, Frankfurt a. ivl. 1986. .. Posrscriptum", in: Dit NnI.'OlIendtlt Vtnl1mjt (1986), S. 9-36 (Deutsche Übersetzung von .. PoSIScriptum" 1985). "i\'fiss Marx and the Terminals", in: Die IIm!olltndtle VtrnHnji (1986), S. 536-569 (Deutsche Übersetzung von "i\Iiss Man; and the Terminals" 1985). Mit G. Schmid Noerr (Hrsg.), Vit~g Jahn FlaHhtnpOJI. Dialtktik der Aufklörung 19471987, Frankfurt a. M. 1987. .,Die Dialtklik der ANfldiinmg gelesen als Allegorie", in: Vit'tll. Jahn FlauhtnpoJl. Dialek· tik der Aujleliirung 1947-1987 (1987), S. 192-209. Mil J. Bransen, "Das Verschwinden der Klassengeschichte'\ in: M. I-Iorkheimer, Cu. Srhriften. Bd. 5, Frankfurt a. M. 1987, S. 453-457 . .,Philosophie und Soziologie. Luhmanns ,Soziale Systeme' und der Neo-Strukturalismus", in: Sot/alu'issenschajtlirhe Lileratllr RJJndHhaN 14 (1987), S. 80-83. Horkhtimtr ZNr Einflihnmg, I-Iamburg 1987,3. Auflage. ..Der Andere in der Kommunikation", in: 1-1. Klmrnerle (I-Irsg.), Das Anden Nnd ,las Denkm der Vtr!chitdtnhtit, Amsterdam 1987, S. 233-248.
258
Kurzbiographie und Bibliographie
Adorno ZNr Einflihrong, Hamburg 1987,4. Auflage. "Political Experience and the Renewal of marxist Theory", in: P. Dews, Autonomy and So/Man'l), Londen 1987, S. 73--92 (Erneuter Abdruck von "Interview with Jürgen Habermas", 1979). "KJein policiek nawoord", in: J.-F. Lyotard, Hel pOl/modeme wtlen, Kampen 1987, S. 175184. Oe onvoltooide ndt, Kampen 1987. "l\'lodcmc vcrsus postmoderne policieke filosofie", in: At/a Polilico 23/2 (1988), S. 199223. Mit W. van der Burg, "lnleiding", in: J. Habermas, RJdJf tn Moraal, Kampen 1988, S. 9-47. l\lit G. Schmid Noerr, Grand Hoftl Abgrund, Hamburg 1988. "Grand Hotel Abgrund", in: Grolld HOltl Abgnmd (1988), S. 7-13. "Mythos und Bedürfnis", in: W. Lefevre & H. Kimmerle (Hrsg.), Htgtl Jahrbuch 1984/ 85, Bochum 1988, S. 261-265. ;"li, D. Veerman, "Les lumieres, le sublime. Entretien avecJ.-F. L)'otard", in: Lu Cahiers tle Philosophie 5 (1988), S. 63-98. "An Interview with J.-F. L)'otard", in: Theory, Culture anti Soa"tfy, 5/2&3 (1988), S. 277309 (Englische Übersetzung von "Les lumieres, le sublime. Entretien avec J.-F. L)'otard", 1988). Mit D. Veerman, "Die Aufklärung, das Erhabene, Philosophie, Ästhetik", in: W. ReeseSchäfer, Lyotartl, Hamburg 1988, S. 101-147 (Deutsche Übersetzung von "Les lumi· eres, le sublime. Entretien avec J.-F. Lyotard", 1988). "The Dialectic of Enlightenment Read as Allegory", in: Theory, Cultllre anti Socitty, 5/2&3 (1988), S. 409-429 (Englische Übersetzung von "Die Dialeleti!e tier AuJleliirung gelesen als Allegorie", 1987). Mit M. Frank und G. Raulet (Hrsg.), Die Frage nach dem Subjelet, Frankfurt a. M. 1988. "Das unrettbare leh", in: Die Frage noch dem Subje!et (1988). "Das unrettbare Ich", in: ArbtitshifteJiir KintltrpJYchoano!yse 9 (1988), S. 80-102. "Die Aushöhlung der abendländischen Kultur", in: D. Horster, Hobm!1(IJ, Hamburg 1988, S. 75-96 (Deutsche Übersetzung von "Oe uithoJling van de westerse cultuur", 1983). Besprechung von Adorno-Konftrenz 1983, L. v. Friedeburg, J. Habermas, (H rsg.), in: ZeitIfhrift Jitr philoJophiJche Fomhung 42/1 (1988), S. 162-165. Besprechung von H. Ebcling, Vernunft und l17idmtand, in: FiloJojie en Pro!etij'!e 9/2 (1988), S. 104-108. "Voorwoord", in: V. Farias, Htideggeren htt Nazi/nlt, Hilversum 1988, S. 8-12. "Zerstörung des moralischen BewußtSeins?" In: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hrsg.), ZmJiirung du moralilfhtn Bell'ujtuins, Frankfurt a, M. 1988, S. 299-305. Mit U. Maas (Hrsg.), Gettiltt Sprache. Futschrift pr Rainer Marlen, Amsterdam 1988. "Paris. Die Hauptstadt als Unterweh", in: Geteilte Sprache (1988), S. 321-330. "Der Flaneur und Odysseus", in: H. Kunneman, H. de Vries (Hrsg.), Die Aletuali/iit tier Diale!etile dtrAuJleltirung, Frankfurt 11. M, 1989, S. 100--113. "Moderne versus Postmoderne. Die Allegorisierung unserer Zeit", in: S. Burtscher, \VI. Donner u. a. (Hrsg.), Postmoderne: PhiloJophem und Arabulee, Bern 1989, S, 171-196. ,,'" der Widerspruch sein Vater und die Nachahmung seine Mutter. Zu Benjamins Bestimmung des Schöpferischen in der Fotographie" , in: Fotogmhichte 32 (1989), S. 3336. "Verständigung über die Grenzen der Verständigung", in: SoifalwimnJrhajtliche Uteratllr RN"dlthall 12/19 (1989), S. 53-58. Mit D. Kamper (Hrsg.), Dit unvollendete Vernunjt, Frankfurt a. M. 1989,2. Auflage.
Kurzbiographie und Bibliograpbie
259
..Polideke filosofie - actueel in Nederland?" In: Cit:is MJl1Idi 28 (1989), S. 31-34. .. Heidegger en bet nationaalsocialisme", Besprecbung von V. Farias, Htidegger en het nai/Jme, in: NRC Handelsblad, 25 Febr. 1989. "Hoe kan de wetenschap menselijk zijn?" Besprecbung der Utrechter Antrittsvorlesung von H. Geensema, in: PhiloJopbia R4jormata 54/2 (1989) S. 194-195. "Die Melancholie des Verbarrens - das Verharren der Melancholie. Einige Bemerkungen zu Freuds Deutung der Gradiva Novelle", in: L. Nagl, H. Vener (Hrsg.) PhiloiOpbie und Psychoana!]Je, Frankfurt a. 1\1. 1990, S. 235-244. Erneuter Abdruck in: journal 22 (1990). S. 69-75 und in: H. Oosterling, F. deJong (Hrsg.) Denken Unterwegs. FeitJChrijt fiir Htinz Kimnllrle, Amsterdam 1990, S. 253-262. "Das zerrissene Selbst", in: U/re(ht Renaiuan(e Studiu 7 (1990), S. 56-76. .. Replik auf M. Frank", in: SoiiallJüuns(bajtlicht Li/tratur RundJCball 13/20 (1990), S. 74-76. .. Lab)'rinth und Ruine. Die Wiederkehr des Barock in der Postmoderne", in: jahrbu(h 4 der Kiiniglichen BrqeriJ(hen Akadtmit dtr Schönen Kiinitt, München (1990), S. 267-300. "Gesamtkunstwerk und Postmoderne", in: Ph. v. Engeldorp Gastelaars u. a. (Hrsg.): 1l7irkungtn. KritiJ(ht Thtorit Nnd KritiJChu Dtnken, Rotterdam (1990), S. 267-285. "Philosophical-political pol)'theism. Habermas versus L)'otard", in: Theory, Cl/ltNTt and
S,d,,, 7/4 (1990), S. 95-103.
Adorno, Hamburg 1990, 5. erweiterte Auflage. Grand Hottl Abgrund, Hamburg 1990, 2. Auflage. Mit D. Veerman, ..Die Aufklärung, das Erbabene, Philosopbie, Ästhetik", Interview mit J.-F. Lyotard, in: W. Reese-Schäfer, YOfard (2. Auflage), Hamburg 1990. Mit M. Frank und G. Raulet (Hrsg.), Die Fragt na(h dem Subjekt, Frankfurt a. M., 2. Auflage. Mit H. Van der Loo, Paradoxtn van modtrnisering, Muiderberg 1990. Habermas lJidraad, Utrecht 1990. .. Ich habe ein Gedankenmotiv," Laudatio aus Anlaß der Verleihung des EhrendokoralS der Universität Utrecht an J. Habermas, in: Soiialutiuenuhajtliche Literatur RJlndJ(haN 13/20 (1990), S. 67-71, (erneuter Abdruck in: Habt""M LtMraad (1990), S. 1-6). .,Oe droom van de vooruitgang", in: D. Schram, C. Geljon (Hrsg.), Ovtral Sportn. Dt IltrJJltrleing t'an dt TJJ'ttdt Wereldoorlog in literatuur en kunJt, Amsterdam 1990, S. 349-364. "Inleiding", in: J. Habermas, Na-l11ttaJpiub denken, Kampen 1990, S. 7-16. "Met de hamer in het labyrinl. Nictzsche en her Postmoderne", in: E. Kuypers (Hrsg.), Nietzuht, Leuven, S. 35-47. Besprechung von N. Bolz, Auszug aNi derentzaubtrltn 117tlt, in: SozialJJtiutnuhajtlicht Uttratur RNndubau 13/21 (1990), S. 110-111. Mil N. Bolz, l17alttr Benjamin, Frankfurt a. M. 1991. M-it N. Bolz, 117alttr Benjamin, Kampen 1991 (Niederländische Übersetzung der deutschen Fassung, 1991). "Adorno und das Barock", in: K. Garber (Hrsg.), Europiiis(ht Baro(k-ReZtption, (\'";s 22/3 (1992), S. 272-279. Erneuter Abdruck in: Information Philosophir, Winter 1992, S. 24-32. "Interview met VU-magatfnt," März 1992, S. 12-16. "The Erosion of Western Culture", in: D. Horster, Habmnas, Philadelphia 1992, S. 5975. Mit D. Horster, "Interview with Jürgen Habermas", in: D. Horst.er, Habtrma! (1992), S. 77-100. "Aufgeklärte oder ästhetische Subiektiviliil?" In: H. Kunneman, H. de Vries (Hrsg.), Enligbtrnmtnts, Kampen 1993, S. 272-285. "Das Politische - eine Leerstelle?" In: Transit 5, Winter 1992/93 S. 109-122. Wiederabgedruckt in: W. Müller-Funk (Hrsg.), Die btnchntndt Vml1mft, \'Venen 1993, S. 81-99. "The Crisis of the Subjeu", in: Philosophy Today 36/4 (1993), S. 310-323. "Politieke filosofie zonder fundament", in: F. Ankersmit, A. Kibedi Varga (Hrsg.), Akodtmücbt Btscboli»-ingrn Ol.'(r htt postmodern;smr, KNA \V,l, Mededelingen van de afdeling Letterkunde 56/1 (1993), S. 25-29. "Inleiding", in: J. Habermas, Na-mtta!fSüch denletn, Kampen 1993,2. Auflage, S. 7-16. Mit H. van der Loo, Paradoxen van modtrnisrn'ng, Muiderberg 1993, 2. Auflage. Dir aJithrntischt Kritik drr MoJtrnt, München 1994.
Kurzbiographie und Bibliographie
261
Crro/;,..;/ti/ ,,, du/nu/ü, Kampen 1994 iederlindische Übersetzung von Texten aus Dü oll/hmtiHh, Kn·/iJe d,r- Mod",,,, 1993). Mit B. van den Brink (Hrsg.), Ht/ ruh/ ~'a" de mor-aa/, Muiderberg 1994. ..Oe be\\'ijslast \'an de politieke filosofie", in: H,t ruht ca" d, ",or-aa/ (1994). S. 135-156 (Niederländische übersetzung von ..Die Beweislast der politischen Philosophie", 1995). ..Du postmoderne Subjekt - Ruine oder Renaissance?" In: L. l ag l, H. Silvennan (Hng.), Textlla/i/ti/ du Philol0phit, Wien 1994, S. 218-235. ..Authentizität und Selbsterhaltung", in: JOllnta/ jiir- P!JtH/ogi, 2/2 (1994), S. 37-46 (u~nubeitete F:assung von ..O:as postmoderne Subjekt", 1994). •,Darstellungen und Reflexionen", in: Chr. H:an-Nibbrig (Hrsg.), WOJ heiß/ .. Dar-l/t/It,,"? Frankfurt a. M. 1994, S. 139-151. ,.U teOr1:a critic:a:al borde deI :abismo", in: I"tmtia"ol. RL,.';J/a d, Filolojia, 1994, S. 97-103 (Sp:anische Übersetzung von ..Grand Hotel Abgrund'') . ..Tot:alit:air of redelijk 10l2:a1?" In: L. H:agendoorn u. a. (Hrsg.), Sam,nhang dtr- 10a"ale IVetm· Hhapptn, Houten/Z:aventem t 994, S. 95-111. "Derrid:a - ein unvollendeter Haberm:as?" In: D'JlIJ,ht Zti/lthnJt für- PhiloJophü, 42/6 (1994),5. 1037-1044. Mit N. Bolz, Walt,r- Benjamin. En In/rodNlt~tion, Göteborg 1994 (Schwedische Übersetzung von Wal/tr- Bt/ljami", 1991). "Het einde van de ideologiekritiek?" In: D, ideologü,,,, St'udium Generale (Hrsg.), Uerecht 1994, S. 71-92. Mit B. v:an den Brink (Hrsg.), Bii'1.''1.mlb,hajt, RL,hl lind D,moJer-a/;" Frankfurt a. M. 1995. "Die Be\\'eisl:ast der politischen Philosophie", in: Bii'1.ugm/b,hajt, RL,h/ lind D,moluati, (1995), 5. 466-489. •,Rettet die fnnzösische politische Philosophie die deutsche aus der Be\I,'eisnot?" In: J. Schoeps, H. Simon (Hrsg.), D'!7ßa II1,tI die FoJu", Berlin 1995, S. 327-355. .. lational Pride and Uncertainty", in: NI1/i01faliJmlll lI"tl SlIbj,Jeti,';ttit. Milltilllngtn du Insti111/1 t,lIr E1onthll"g dir jrNht" Ntll~i/, Beiheft 2, Fnnkfun :a. M. 1995, S. 2J-38. Besprechung von F. van Peperstraten: Lyo/ard und: R. Brons, H. Kunnem:an: yotanJ le~n. In: FiloJoji, MagatJ'ne 4/6 (1995), S. 56-57. .'postmodern Extremisme. Vernietiging van de Rede - Redding v:an de filosofie", in: Htl POltmoderne ""'isi/td, hrsg. von Srudium Generale der Universität Utrecht, Unecht 1995, 5. 27...