Antike und Abendland Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens herausgegeben von
Werner von ...
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Antike und Abendland Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens herausgegeben von
Werner von Koppenfels · Helmut Krasser Wilhelm Kühlmann · Peter von Möllendorff Christoph Riedweg · Wolfgang Schuller Rainer Stillers
Band LV
2009 Walter de Gruyter · Berlin · New York
Manuskripteinsendungen werden an die folgenden Herausgeber erbeten: Prof. Dr. Werner von Koppenfels, Boberweg 18, 81929 München – Prof. Dr. Helmut Krasser, Institut für Altertumswissenschaften, Universität, Otto-Behaghel-Str. 10, Haus G, 35394 Gießen – Prof. Dr. Wilhelm Kühlmann, Universität Heidelberg, Germanistisches Seminar, Hauptstr. 207–209, 69117 Heidelberg – Prof. Dr. Peter von Möllendorff, Institut für Altertumswissenschaften, Universität, Otto-Behaghel-Str. 10, Haus G, 35394 Gießen – Prof. Dr. Christoph Riedweg, Kluseggstr. 18, CH-8032 Zürich – Prof. Dr. Wolfgang Schuller, Philosophische Fakultät, Universität, Postfach 5560, 78434 Konstanz – Prof. Dr. Rainer Stillers, Institut für Romanische Philologie der PhilippsUniversität Marburg, Wilhelm-Köpke-Str. 6 D, 35032 Marburg. Korrekturen und Korrespondenz, die das Manuskript und den Druck betrifft, sind an den Schriftleiter Prof. Dr. Helmut Krasser zu richten. Buchbesprechungen werden nicht aufgenommen; zugesandte Rezensionsexemplare können nicht zurückgeschickt werden. Abstracts sind publiziert in / indexiert in: Arts and Humanities Citation Index · Current Contents Arts and Humanities · Dietrich’s Index philosophicus · IBR – Internationale Bibliographie der Rezensionen geistes- und sozialwissenschaftlicher Zeitschriftenliteratur / IBZ – Internationale Bibliographie geistes- und sozialwissenschaftlicher Zeitschriftenliteratur
ISBN (Print): 978-3-11-020791-0 ISBN (Online): 978-3-11-020792-7 ISBN (Print + Online): 978-3-11-020793-4 ISSN (Print) 0003-5696 ISSN (Online) 1613-0421 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Satz: Dörlemann Satz, Lemförde
Inhaltsverzeichnis Gyburg Radke-Uhlmann Über eine vergessene Form der Anschaulichkeit in der griechischen Dichtung . .
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Ursula Gärtner « $ . Schiffe als Unheilsbringer in der antiken Literatur . . . . . .
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Irmgard Männlein-Robert Klage im Kontext oder Allegorie hellenistischer Spolienpoetik: Überlegungen zu Kallimachos’ Sepulchrum Simonidis (frg. 64 Pf.) . . . . . . . . . . . . . . . .
45
Bardo Maria Gauly Verba imperfecta: Reden, Erzählen und Verstummen in Ovids «Metamorphosen»
62
Christian Kiening Narcissus und Echo. Medialität von Liebe und Tod . . . . . . . . . . . . . . .
80
Helga Scholten Göttliche Vorsehung und die Bedeutung des Griechentums in Plutarchs De sera numinis vindicta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
David Engels Der Hahn des Honorius und das Hündchen der Aemilia. Zum Fortleben heidnischer Vorzeichenmotivik bei Prokop . . . . . . . . . . . . . . . . . .
118
Achim Aurnhammer Sünder – Narr – Held. Korrekturen des Odysseus-Mythos bei Heinrich von Veldeke, Sebastian Brant und Martin Opitz . . . . . . . . . . .
130
Hertha Franz Euripides-Reminiszenzen in Goethes ‹Faust›. Vom Sonnenflug Fausts zu AY – Phorkyas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
152
Nils Steffensen «Am größten ist’s, sich selbst zu besiegen». Der Dictator L. Cornelius Sulla in der dramatischen Verarbeitung Friedrichs des Großen . . . . . . . . . . . . .
160
Mitarbeiter des Bandes Prof. Dr. Achim Aurnhammer, Albert-Ludwig Universität, Deutsches Seminar II, Institut für Neuere Deutsche Literatur, Platz der Universität 3, 79085 Freiburg Prof. Dr. David Engels, Université Libre de Bruxelles, Avenue F.D. Roosevelt 50, CP 175, Bureau NA 5–203, 1050 Bruxelles, Belgium Dr. Hertha Franz, Arno-Holz-Str. 20, 12165 Berlin Prof. Dr. Ursula Gärtner, Universität Potsdam, Klassische Philologie, Am Neuen Palais 10, Haus 11, 14469 Potsdam Prof. Dr. Bardo Gauly, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Universitätsallee 1, Gebäude Universitätsallee, 85072 Eichstätt Prof. Dr. Christian Kiening, Universität Zürich, Deutsches Seminar, Schönberggasse 9, 8001 Zürich, Schweiz Prof. Dr. Gyburg Radke-Uhlmann, Freie Universität Berlin, Institut für Griechische und Lateinische Philologie, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin Prof. Dr. Irmgard Männlein-Robert, Universität Tübingen, Philologisches Seminar, Wilhelmstr. 36, 72074 Tübingen PD Dr. Helga Scholten, Universität Duisburg-Essen, Fakultät für Geisteswissenschaften, Historisches Institut, 45117 Essen Nils Steffensen, Universität Tübingen, Historisches Seminar, Wilhelmstr. 36, 72074 Tübingen
Gyburg Radke- Uhlmann
Über eine vergessene Form der Anschaulichkeit in der griechischen Dichtung 1 Einleitung Ausstellungen über antike Kulturen haben Konjunktur. Das ist ein erstaunliches Phänomen. Außer über dieses Faktum an sich gibt es aber auch Grund, darüber zu staunen, in welcher Weise in der gegenwärtigen musealen Didaktik Bild und Text aufeinander bezogen und miteinander verflochten werden. Nie gab es eine Ausstellungsdidaktik, die mehr darum bemüht war, ihre Gegenstände dem Besucher mit Hilfe aller Sinne anschaulich und sinnlich erfahrbar zu machen: Es wird mit statischen und bewegten Bildern, mit Musik, mit atmosphärischen Klängen, mit in Musik und Klangwelten integrierten gesprochenen Texten, sogar mit Möglichkeiten haptischer Erfahrungen gearbeitet.1 Bilder und Worte fließen in einem Gesamtbild unmittelbarer Erfahrung zusammen, in dem das Sinnliche immer stärker gegenüber dem ‹nackten› Wort die Oberhand gewinnt. Das Phänomen steht nicht isoliert dar, sondern fügt sich ein in Diskurse, die von Iconic turns, von einer Rehabilitation mythischer Bilder und der Entdeckung ursprünglicher poetischer Bildlichkeit handeln. In Frage steht dabei in zunehmender historischer Beschleunigung die Potenz des Wortes und besonders des dichterischen Wortes zur Anschaulichkeit überhaupt, die in die Suche nach der Sinnlichkeit des Bildes immer mehr absorbiert zu werden scheint. Wie ist es, so muß man also fragen, möglich, sowohl die Eigenmacht des Bildes als auch des Wortes zu bestimmen, ohne das eine gegen das andere aufzuheben und mit dem Maßstab des anderen zu messen? Wenn man diese Tendenz kritisch betrachten will, ist es immer noch Lessing, der mit seiner Abhandlung «Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie» die Grundlinien dieser Diskussion bis heute vorgegeben hat.2 Auch mein Beitrag also wird mit ihm beginnen. Ziel dieser Überlegungen ist die Entwicklung von Anschaulichkeitskategorien und die Entdeckung von Formen der Anschaulichkeit, die über Lessing hinausgehen und zeigen, daß Lessings Entwurf zu den Tugenden von Bild und Text seinen Vollständigkeitsanspruch in Bezug auf die künstlerischen Möglichkeiten der beiden Medien nicht erfüllen kann.3 1
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In München etwa wurde Anfang 2006 eine Ausstellung zur ägyptischen Kunst eröffnet, die antike Kultur für Blinde und Sehende ‹begreifbar›, d. h. mit dem Tastsinn erfahrbar machen will: «Das Alte Ägypten (be)greifen – 40 Berührungspunkte für Sehende und Blinde» im Staatlichen Museum Ägyptischer Kunst: München 9. 2.–17. 09. 2006. Buch (1972), 26–63 (mit dem Versuch einer historischen Einordnung der Klassifizierungen Lessings); ebenso und zusammenfassend: Schweizer (1972), 55–71; Harth (1993); Lenz (1995); Wellbery (1984); Mülder-Bach (1992); dies., (1998). Eine Metadiskussion über die Grenzen der Theorie führt Wellbery (1993). Mein Beitrag hingegen betrachtet nicht den theoriereflexiven Überbau von Lessings Laokoon, sondern seine (von ihm nicht explizit auf-
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2 Lessing in Raum und Zeit Lessing4 baut bekanntlich seinen Versuch einer Bestimmung der Grenzen und Tugenden von Bildwerken und Dichtung auf der Dichotomie zwischen zwei möglichen Gegenständen, denen sich die Nachahmungskunst zuwenden kann, auf: Diese Dichotomie ist die Unterscheidung zwischen Körpern, die nebeneinander im Raum existieren, und Handlungen, die sich nacheinander in der Zeit vollziehen. (Laokoon, 103 (Kap. XVI)). 5 Bei diesen handele es sich um zwei abgeschlossene Systeme, denen unterschiedliche Darstellungsformen und -medien ebenso wie unterschiedliche Rezeptionsformen zugehörten. Lessing interessiert für seine Kunsttheorie an dieser Unterscheidung vor allem die Frage, wie bei der Nachahmung dieser Gegenstandsarten Vorstellungsbilder entstehen können, die ein unmittelbar erfahrbares Ganzes sind.6 Denn es ist, nach Lessing, das Wesen der
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gedeckten) Prämissen. Es ist eine Lektüre gegen die Oberfläche der Argumentationsstrategie, die gleichwohl an deren fundierenden Prämissen festhält und die vordergründige Intention und Strategie mit diesen enttarnten Prämissen konfrontiert. Zitiert nach Lessing: Laokoon, Barner (hg.) (1990). Buch (1972). Buch deutet die Unterscheidung Lessings als Instanz der Dichotomie zwischen geistigem und körperlichem Menschen. Die Malerei stelle nach Lessing die körperliche Existenz des Menschen dar, die Poesie die geistige. Diese Interpretation aber geht nicht tief genug. Denn sie reflektiert nicht hinreichend die für Lessings Ästhetik zentrale Idee, daß das Telos der Kunst das sinnliche Erfahrbarmachen von unmittelbarer Einheit und Ganzheit ist, die im Sinn der Aufklärungsphilosophie eine spezifische Leistung der Anschauung (sei sie nun sinnlich oder geistig) ist und diese von der Zergliederungsleistung des Verstandes grundsätzlich und unvermittelbar unterscheidet. Erst aus dieser erkenntnistheoretischen Perspektive, die der anthropologischen vorausgeht, erweist sich die Schlußfolgerung, daß Lessing seinem eigenen Unternehmen, die Geistigkeit und Überlegenheit der Dichtung aufzuzeigen, selbst den Boden entziehen muß, als zwingend. Die Zentralität dieser Fragestellung wird auch durch den zeichentheoretischen Kontext, in dem Lessing seine Unterscheidung zwischen den Qualitäten von Bild und Sprache entwickelt und die in dem von Lessing selbst nicht veröffentlichten zweiten Teil des Laokoon weiter in den Vordergrund rücken, nicht eingeschränkt. Dazu grundlegend für die semiotische Deutung des Laokoon: Todorov (1995), 133–142; Wellbery (1984), der eine regelrechte Semiotisierung, oder anders formuliert: die Aufdeckung des semiotischen Kerns des Laokoon in Angriff nimmt; s. außerdem die Beiträge in: Gebauer (1984); aus altphilologischer Perspektive unterzieht Primavesi (2002) die Semiotik des Laokoon nicht wie die bisher genannten Arbeiten in einem allgemeinen semiotischen Kontext, sondern konkret mit Blick auf die Lehre von den natürlichen und konventionellen Zeichen und die Adäquatheit der Beschreibung der Erzählweise Homers einer kritischen Revision. Die Malerei arbeite nach Lessing mit natürlichen Zeichen, die Dichtung mit konventionellen. Natürliche Zeichen sind solche, die unmittelbar und anschaulich rezipiert und verstanden werden können, konventionelle hingegen sind so definiert, daß sie eines rationalen Schlusses bedürfen, um dekodiert zu werden. Das heißt: die Rezeption von Sprache besteht so wie das begriffliche Denken aus Akten des analysierenden Zergliederns von Anschauungsdaten. Die poetische Sprache aber suche nach sprachlichen Bildern (Metaphern), die diese wesentliche Rationalität und diesen Mangel an Unmittelbarkeit und sinnlichem Reichtum auszugleichen imstande sind. Denn die poetische Sprache suche qua Kunst die Unmittelbarkeit reicher sinnlicher Erfahrungen, nicht die Vermitteltheit bewußter Zergliederungen. Ebenso ist die These, der Dichter (z. B. und in vorbildlicher Weise Homer) stelle keine Gegenstände im Raum, sondern nur Handlungen in der Zeit dar, Resultat dieser Unmittelbarkeitsvorgabe; denn mit der zeitlichen und kausalen Verknüpfung von Handlungen und Handlungsteilen ahme der Dichter die Ganzheit und Einheit nach, die der Maler in der Momentaufnahme eines Gegenstandes im Raum erzielt. Die zeitliche Einheit einer Handlungsfolge sei als Nachahmung der räumlichen Einheit einer instantanen Anschauung begreifbar. Diese räumliche Einheit der Anschauungsganzheit eines Gegenstandes aber ist ein natürliches Zeichen oder besteht aus solchen. Die zeitliche Einheit ist also in abgeleiteter Weise ebenfalls ein natürliches Zeichen, etwas, das die wesentliche Konventionalität und Mittelbarkeit der Sprache umgeht, einschränkt oder gar ganz aufhebt. Aus diesem Grund behandelt Lessing diese quasi-natürlichen Zeichen der poetischen
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Poesie und der Malerei schlechthin, eine solche täuschende Illusion zu erzeugen, daß der Rezipient die «wahren sinnlichen Eindrücke ihrer Gegenstände zu empfinden» glaubt (Laokoon, 110). Die Kunst erschaffe Nachahmungen dieser sinnlichen Empfindungen, die so deutliche Vorstellungen seien, daß sie den Rezipienten so täuschen können, daß er meint, sie seien wahre Empfindungen. Alles hängt damit an der Frage, welche Eigenschaften sinnliche Empfindungen an sich haben, die in der Kunst nachgeahmt werden müssen, damit eine solche Täuschung wirklich werden kann. Lessing diskutiert diese Frage nicht, sondern setzt ihre Antwort als gegeben voraus: Sinnliche Empfindungen seien durch eine besondere Form der Ganzheit gekennzeichnet. Sie verwirklichten (ebenso wie unmittelbare Anschauungen) einen höheren Grad an konkreter Einheit und Ganzheit als Verstandesbegriffe, und in der Kunst gehe es um diese höheren Formen. Lessing aber läßt keinen Zweifel daran, daß eben daraus seine Probleme mit der Beschreibung von Gegenständen in der Dichtung entstehen: Die Sprache habe es an sich, die Ganzheit unmittelbarer Erfahrungen in ein Nacheinander einzelner Teile zu zergliedern, deren endliche Wiederzusammensetzung in einem Vorstellungsbild nur schwer, wenn überhaupt, zu verwirklichen ist (Laokoon, 113). Das Bild ähnele in seiner Koexistenz aller Teile und seiner Konzentration auf nur einen Augenblick 7 der Ganzheit der Anschauung, die Dichtung aufgrund ihrer Sprachlichkeit mehr der zergliedernden Deutlichkeit des Verstandes. Die Dichtung müsse sich damit mit aller Kraft auf ein Feld begeben, wo dieser Mangel an Illusionsfähigkeit nicht oder weniger zum Tragen komme. Dieses Feld aber sei die Darstel-
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Sprache, d. h. das Nacheinander einer Handlungsfolge, auch analog zu Metaphern, also poetischen Bildern, die nicht mehr über ein Schlußverfahren rezipiert werden, sondern unmittelbar wirken sollen (s. dazu Anm. 24). Es wird sich unten zeigen, daß diese Vorstellung von der unmittelbaren und quasi-sinnlichen Rezeption von dichterischen Metaphern in der aristotelischen Metapherntheorie einen Antipoden findet, der dafür argumentiert, daß auch Metaphern über Syllogismen geschaffen und rezipiert werden, daß aber in diesen besonderen Arten von Syllogismen gerade die eigentümliche Potenz der Sprache liege, Anschaulichkeit zu erzeugen. Für die Interpretation des Laokoon jedenfalls bedeutet es eine Verkürzung der erkenntnistheoretischen Prämissen, wenn man die zeitgenössische zeichentheoretische Diskussion, in der Lessing steht, von den erkenntnistheoretischen Zusammenhängen abtrennt, die von der Suche nach künstlerischer Unmittelbarkeit und sinnlichem Reichtum handeln. Seine Diskursbedingtheit ändert in diesem Fall nichts an der Zurückführbarkeit seiner dichotomischen Kategorien, mit denen er zwischen Bild und dichterischem Wort und deren spezifischen Potenzen, Schwächen und den eigentümlichen Aufgaben des Malers und Dichters unterscheidet, auf die bewußtseinsphilosophische Dichotomie zwischen reicher Anschauung und abstrakt zergliederndem Verstand. Die zeichentheoretische Perspektive ist nur eine weitere Instanz der oben skizzierten erkenntnistheoretischen Vorstellungen, die von Lessing auf ihre kunsttheoretischen Konsequenzen hin betrachtet werden. Wie Lessing immer wieder betont: z. B. Laokoon, 103. Heute wendet sich die medienwissenschaftliche Forschung diesem Momenthaften verstärkt im Zuge ihrer Überwindung klassischer Werkbegriffe und ihrer Performative turns zu: S. z. B. Mersch (2003); ders., o. J. Auch die Wiederentdeckung der ästhetischen Erfahrung ist in ihrer Absolutsetzung des singulären subjektiven Erlebens essentiell auf den Augenblick bezogen und findet in diesem ihre Vollendung. S. den inspirierten Sammelband von Küpper und Menke (2003). Wahrnehmungsphysiologische Fakten – etwa die Erkenntnis, daß auch die Sehwahrnehmung eines Bildes ein Prozeß ist, der aus verschiedenen Unterscheidungs- und Verknüpfungsakten besteht – haben in diesem Kontext keinen determinierenden Einfluß. Sie tragen zwar dazu bei, die Vorstellung der instantanen ‹Aufnahme› von Sinnesdaten und von der Passivität dieses Vorgangs in Frage zu stellen, bewegen sich aber außerhalb der absoluten Innerlichkeit, in der die ästhetische Erfahrung als Inbegriff subjektiven Erlebens lokalisiert wird.
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lung von Handlungen. Denn die Einheit von Handlungen entstehe anders als die räumliche Ganzheit von Körpern nicht unmittelbar in sinnlichen Empfindungen, sondern in der kausalen, zeitlichen Verknüpfung von Handlungsphasen. Es lohnt sich, genau zu beachten, welche Weichen hier gestellt werden. Denn es sind Weichen, die die Antwort auf die Frage, wie Dichtung anschaulich sein kann, ein für alle mal in eine bestimmte Richtung lenken. Lessing bekennt an einer Stelle seine Prämissen und Quellen deutlich: Ein poetisches Gemälde ist nicht notwendig das, was in ein materielles Gemälde zu verwandeln ist; sondern jeder Zug, jede Verbindung mehrerer Züge, durch die uns der Dichter seinen Gegenstand so sinnlich machet, daß wir uns dieses Gegenstandes deutlicher bewußt werden, als seiner Worte, heißt malerisch, heißt ein Gemälde, weil es uns dem Grade der Illusion näher bringt, dessen das materielle Gemälde besonders fähig ist, … (Laokoon, 100)
Lessing merkt dazu an: «Was wir poetisches Gemälde nennen, nannten die Alten Phantasien, wie man sich aus dem Longin erinnert. Und was wir die Illusion, das Täuschende der Gemälde heißen, hieß bei ihnen die Enargie.» (Laokoon, 100 f.)8
Lessing ist sich also der hellenistischen Herkunft seiner Begriffe bewußt, und er definiert die Aufgabe des Dichters auf deren Prämissen aufbauend, nämlich als das Sinnlichmachen der Gegenstände der Dichtung, das so sehr von der Materie der Dichtung, den Worten und ihrer kausal-logischen Verknüpfung ablenke, daß man meinen könne, man habe den Gegenstand als solchen selbst sinnlich präsent vor Augen. Auch der Dichter also entwirft ein Gemälde, ein Vorstellungsbild, das die Illusion erzeugen soll, selbst real, selbst unmittelbar gegenwärtiges Anschauungsobjekt zu sein. Der Verweis auf ‹den Longin› 9 ist wichtig. Denn die Enargie ist ein Begriff, der hauptsächlich in der hellenistisch-römischen Rhetoriktheorie und mit dieser verknüpften Poetik-
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Lessing bekennt sogar seine Vorliebe für den Begriff der poetischen Phantasie gegenüber dem Begriff ‹poetisches Gemälde,› weil letzteres materielle Assoziationen habe, die nicht zu dem Begriff gehörten. S. zu der Unterscheidung zwischen materiellen und semantisch bedeutsamen Aspekten des Bildes in Abgrenzung zu den Tugenden des sprachlichen Erzählens Giuliani (2003), 23–37. De subl. 15.2: ³« ’ π κ φ λ π « » , ’ Ρ « ξ " # $ « "λ % &«, « ’ " ' « "', $φ ’ Ρ)« * µ# ", - λ µ .' $ . «Es ist dir gewiß bekannt, daß die rhetorische Phantasia verschieden ist von derjenigen bei den Dichtern, und ebenso, daß das Ziel derer in der Dichtung die emotionale Erschütterung ist, derjenigen in den Reden aber die anschauliche Deutlichkeit, daß beide gemeinsam aber das Pathosgeladene und Aufgeregte anstreben.» Für Longin ist das Streben nach Enargeia ein Element, das spezifisch für die Vorstellungstätigkeit des Redners im Unterschied zur Dichtung ist. Der Grund für diese Unterscheidung bei Longin ist das Bestreben, hervorzuheben, daß es die wichtigste Aufgabe der Dichtung ist, nicht rational zu argumentieren, sondern unmittelbar, emotional zu bewegen und das Affektische und das Pathos so stark zu inszenieren, daß der Zuhörer sich unmittelbar betroffen fühlt und sich dem starken äußeren visuellen oder quasi-visuellen, d. h. vorgestellt-bildlichen, Eindruck nicht entziehen kann. Gerade dieser Unmittelbarkeitsaspekt und die ‹Freigabe› an die Phantasia, alles zu benutzen, das diese unmittelbare Beeindruckung fördert, ist aber das zentrale Moment des hellenistischen ebenso wie des neuzeitlichen Interesses für die Enargeia in Rede und Dichtung. Mit Blick auf diese zentrale Strategie unterscheidet sich Longins Konzeption der dichterischen Phantasia und der Rolle der Anschaulichkeit nicht von den anderen Theoretikern der Enargeia.
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diskussion eine prominente Rolle spielt:10 bei Dionysios von Halikarnass,11 bei Ps.-Demetrios, bei Quintilian 12 und bei den Rhetoren der Zweiten Sophistik. Wie Zanker 198113 nachweisen konnte, ist die Enargeia ein Konzept, das genuin zur Entwicklung der hellenistischen Erkenntnistheorie,14 in der die Phantasia die Zentralstellung einnimmt,15 gehört. Enargeia ist in diesem hellenistischen Kontext die vollendete Herstellung der Illusion singulärer,16 sinnlicher Präsenz in der Vorstellung durch eine möglichst facettenreiche und vollständige 17 Schilderung der begleitenden Umstände18 und mit dem Ziel, die Zuhörer emotional direkt anzusprechen und durch das Hören ein quasi-visuelles Bild19 vor dem
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S. Zanker (1981). Auf Dionysios von Halikarnass verweist Lessing noch im Zusammenhang mit der Schildbeschreibung Homers: Lessing, Laokoon, 119, Anm. 4. Dionys bezeichne Homer wegen des Schildes als Lehrer der Malerei – was Lessing freilich bestreiten muß. Inst. Or. 6.2.29–32., bes. 31 f.: Quintilian zitiert im Anschluß zur Exemplifizierung ausführlich aus der Aeneis: Aen. 9.476; 11.40; 11.89; 10.782: 4.426; s. das Zitat in Anm. 62; s. auch Inst. Or. 9.2.40 (s. Anm. 18). Und Zanker (1987), bes. 39–54. S. die Materialsammlung bei Manieri (1998); Watson (1988); und ders., (1994); außerdem Rosenmeyer (1986). Wellbery (1984), 168 f. betont die Bedeutung einer ‹freigelassenen›, neue Horizonte erschließenden Phantasie in Lessings Konzeption der Künste. Zanker spricht daher von einem «empiricist particularism in pictorial representation», der sich von einem «archaic intellectualism» unterscheide: Zanker (1987), 42. Ps.-Dem. Eloc. 209: '' ’ π "' / ξ "& $ '« λ - ξ ’ " $. «Enargeia entsteht zuerst durch genau beschreibende Sprache und dadurch, daß man nichts übergeht oder ausläßt.» Dion. Hal. Lys. 7; I.14.17 (Us.-Rad.): %0 ξ λ κ "' κ π 1. . $&«. 2 ’ "λ « « 3µ « 4#« Ν' . ', '' ’ " « / . ) #6)«. ² κ $0) κ « 1. . ' « 0 2)« % µ« ν . « ν 8« µ -, χ« 0 3 #6 ' ²» λ — - :« » ² #) 4'9 6 Ν' ''$ λ ’ " φ)« « / $) "', π»«.» «Die Hypotyposis aber ist insgesamt das, was uns das Geschehen vor Augen stellt und uns durch Beschreibung zu Zuschauern der Einzeldinge macht.» Hermogenes, Prog. 10. (2.16.32 Sp.): #Aλ ξ " φ)« ξ φ# λ "'· ' κ ? « $ « 0µ κ >6 0». «Die wichtigsten Qualitäten der Ekphrasis sind Deutlichkeit und anschauliche Klarheit ("'). Die kunstvolle Rede muß nämlich durch das Gehör beinahe die Illusion eines sichtbaren Bildes erzeugen.»
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geistigen Auge des Rezipienten entstehen zu lassen.20 Für Lessing ist sie wie für die hellenistische Poetikdiskussion die zentrale Aufgabe der Kunst überhaupt. Die Weichen, die in Lessings hellenistischem Konzept gestellt sind, sind demnach die folgenden: Die Dichtung muß Bilder in der Vorstellung nachahmen, wenn sie anschaulich sein will. Diese Vorstellungen müssen selbst quasisinnliche Qualitäten an sich haben. Die Dichtung muß vorstellbare Merkmale sammeln und so verknüpfen, daß deren Ganzheit und Einheit unmittelbar evident ist. Das hat weitreichende Konsequenzen für die Beantwortung der Frage, was der spezifische Unterschied ist zwischen der Anschaulichkeit von Bildkunst und von Dichtung. Lessing legt zwar Wert auf die Feststellung, daß die Dichtung weit mehr Möglichkeiten habe als die Bildkunst, sinnliche Vorstellungen und damit die Illusion der Präsenz von Gegenständen zu erzeugen: so stehe ihr das Klangliche offen, auch sei die Malerei an einen einzigen Augenblick gebunden, könne das Nacheinander nur in der Prägnanz des (transitorischen) Momentes andeuten und habe die Potenz, Geistiges und Übersinnliches darzustellen. Das alles kann aber nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, daß nach Lessings selbst mehrfach formulierten Prämissen, nichts eher der Forderung nach der Illusion sinnlicher Empfindungen gerecht werde als das sichtbare Bild. Die Dichtung ahme diesen Charakter der unmittelbaren Anschauung immer nur annäherungsweise nach. Sie muß ausweichen und andere Wege suchen zu dem, was im Bild direkt im Raum vor Augen geführt werden kann. So ist es auch kein Zufall, wenn Lessing die Art und Weise, wie Homer Gegenstände anstatt durch Beschreibung durch Erzählung vor Augen führt, als einen Zwang formuliert, dem der Dichter unterlegen sei: «Will uns Homer zeigen, wie Agamemnon bekleidet gewesen, so muß sich der König vor unsern Augen seine völlige Kleidung Stück für Stück umtun; das weiche Unterkleid, den großen Mantel, die schönen Halbstiefeln, den Degen; und so ist er fertig, und ergreift das Zepter. Wir sehen die Kleider, indem der Dichter die Handlung des Bekleidens malet.» (Laokoon, 105 [Kursive von mir])
Zweifellos: Lessing bewundert Homer für diesen Trick, aber er bewundert ihn eben für einen von dem Wesen der Dichtkunst erzwungenen Kunstgriff,21 «uns bei einem einzeln Ding verweilen zu machen, ohne sich in die frostige Beschreibung seiner Teile einzulassen.» (Laokoon, 107) Es ist ein Kunstgriff, der notwendig ist, «weil das Koexistierende des Körpers mit dem Konsekutiven der Rede [dabei] in Kollision kömmt, und indem jenes in dieses aufgelöst wird, uns die Zergliederung des Ganzen in seine Teile zwar erleichtert, aber die endliche Zusammensetzung dieser Teile in das Ganze ungemein schwer, und nicht selten unmöglich gemacht wird.» (Laokoon, 113). Es ist ein Kunstgriff, der notwendig ist, weil es das Wesen der Poesie ebenso wie der Malerei ist, die täuschende Illusion zu erzeugen, daß der Rezipient die «wahren sinnlichen Eindrücke ihrer Gegenstände zu empfinden» glaubt (Lao20
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Dazu Plut. Mor. 17f-18a: Dichtung sei eine mimetische Kunst, die analoge Potenzen wie die Malerei habe. Beide zielten auf die lebendige, exakte Malerei des Gegenstandes, so wie er in Wirklichkeit ist, um bestimmte emotionale Effekte beim Zuhörer zu erreichen. Vgl. auch Plut. Mor. 347a–c. Eine ähnliche Strategie kann man auch im Lob Ciceros, das dieser Homer zollt, erkennen: Cic. Tusc. 5.39.114; außerdem dazu Zanker (1981), 300–304; Quintilian zur sub oculos subiectio: Quint. Inst. Or. 9.2.40 ff.
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koon, 110). 22 Lessing sieht den Mangel der Sprache in ihrer strukturellen Rationalität,23 d. h. in ihrer zergliedernden Vorgehensweise. Die Dichtung soll, weil sie eine Kunst (und nicht nur Rede)24 ist, die die Illusion unmittelbarer reicher Anschauungsganzheit erzeugen müsse, diesen Mangel soweit wie möglich überwinden und einen Modus finden, in dem sie, so wie das Bildliche, die unmittelbare sinnliche Empfindung als Ganzes25 und in ihrem Reichtum nachahmen kann.26 Es gibt also tatsächlich in der Konsequenz der Lessingschen Kunsttheorie gar nicht zwei streng getrennte Tugenden von Kunst, eine Tugend des Bildlichen und eine der Dichtung, sondern Lessing ordnet die Potenzen der Dichtung denen der Bildkunst klar unter, und er tut dies mit Blick auf dieses eigentliche Wesen der Illusionskunst, zu der beide gehören, mit Blick also auf die Potenz, Anschaulichkeit zu erzeugen.27 Wendet man sich, mit diesen Maßstäben ausgestattet, erzählender griechischer Dichtung zu, trifft man bei einer bestimmten Gruppe von Texten auf erstaunliche Affinitäten.
3 Hellenistische poetische Gemälde Das trifft etwa auf die Argonautika des hellenistischen Epikers Apollonios von Rhodos zu. Dessen Streben nach einer bestimmten Art der sinnlichen Empfindung und sinnlichen Anschaulichkeit28 kann man exemplarisch anhand einer Szene im ersten Buch, der Szene, in der die Argo aus dem Hafen ausläuft, verdeutlichen: Im ersten Morgengrauen bricht die Argo auf. Der Blick schwenkt von der Außenansicht des göttlichen Schiffes sogleich weiter in dessen Inneres, zu den Ruderern: Ankaios und Herakles sitzen in der Mitte. Herakles hat
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Die Begründung dafür ist, daß die Anschaulichkeit der zeitlichen Folge in Anschauungskategorien selbst etwas räumlich Vorgestelltes ist: nämlich etwas, was als kontinuierliche Linie gedacht wird, die das Räumlich-Dreidimensionale ins Zweidimensionale abbildet und in jenes zurückübersetzt werden kann. Die Begründung also ist, daß das Sichtbare anschaulicher ist. S. dazu im Kontext neuer Diskurse: Weiss (1968). Lessing, Laokoon, 109 f. Lessing definiert das sprachliche Wirken der Kunst im Unterschied zur (gewöhnlichen) Rede: Diese sei damit zufrieden, klar und deutlich zu sein. ‹Klar und deutlich› aber sind die Qualitäten der zergliederten und bewußt gemachten Vorstellung, die durch die rationale Zergliederung auch ihres sinnlichen Reichtums verlustig gegangen ist. S. auch Laokoon, 112 f. Lessing, Laokoon, 110. Vgl. ebenda, 111 f. Lessing, Laokoon, 108: [zum Zepter des Agamemnon und des Achill]: «Dem Homer war nicht sowohl daran gelegen, zwei Stäbe von verschiedener Materie und Figur zu schildern, als uns von der Verschiedenheit der Macht, deren Zeichen diese Stäbe waren, ein sinnliches Bild zu machen.» [Kursive von mir]. Entgegen seiner eigenen Argumentationsstrategie, die die Überlegenheit der Dichtung beweisen will, und der modernen Forschung, die Lessing in Bezug auf diese Hierarchisierung als Interpretation des Laokoon gefolgt ist und Lessing deshalb ob seiner rationalistischen Kunsttheorie kritisiert, hat also schon Lessings Laokoon de facto in gewisser Weise einen postmodernen Iconic turn avant la lettre vollzogen. Wenn man Lessing folgt, übernimmt man daher auch diese Diskurse und ihre Prämissen. Die Dichtung muß sich unterordnen, weil sie als Kunst eine Anschaulichkeit zu suchen habe, die sich an dem Reichtum der unmittelbaren sinnlichen Empfindung orientiert und diesen durch eine größtmögliche Fülle an Vorstellungsmerkmalen zu simulieren versucht. Die Ästhetik der klassischen Moderne und Aufklärung beweist damit auch hier wieder ein antirationalistisches, d. h. antimodernes Potential. Nicht erst die Postmoderne führt diesen Kampf gegen die Abstraktheit des Verstandes und des Bewußtseins. Zanker diskutiert derartige Phänomen unter dem Stichwort «Pictorial Realism» in seiner Monographie: Zanker (1987), 58–112.
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seine Keule29 neben sich gelegt, unter seinem Gewicht wird der Kiel des Schiffes tief ins Wasser getaucht (531–533).30 Es ist, als führte der große Held gleichsam sein ikonographisches31 Attribut mit sich,32 um sich dem Blick des vorgestellten Zuschauers zu erkennen zu geben. Sein großes Gewicht im wörtlichen und übertragenen Sinn wird ebenso malerisch umgesetzt. Man hört nicht nur, daß Herakles der stärkste aller Argonauten ist, man sieht es mit eigenen Augen. Er ist – auch – der Kraftheld Herakles der hellenistischen Bildkunst.33 Ebenso ist es, wenn danach die Kamera auf Jason, den Anführer der Argonauten, schwenkt (534 f.): Der Gegensatz der beiden Bilder – Herakles auf der einen, Jason auf der anderen Seite – könnte größer nicht sein. Jason aber ( #I#) 534) wendet weinend seine Augen ab von dem Land, das er verläßt ('« $µ « >’ % ).34 Wir sehen Herakles’ Kraft. Wir sehen ihn wie ein Bild,35 das sich vor uns zu erkennen gibt, das sich dechiffrieren lassen will. Jason hingegen ist selbst ein Beobachter. Sein Blick führt zum Gestade und davon wieder weg: Tief bewegt ist er von diesem Eindruck. Er weint
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Auch das Ruder des Herakles wird später ein solches Attribut sein, das in der Handlung als ikonographisches Attribut und mit seiner starken visuellen Präsenz bedeutsam sein wird. Denn nachdem das Ruder in einem Ruderwettkampf unter den Argonauten zerbrochen ist, benötigt der Held ein neues Ruder. Er geht in den Wald, um ein neues Ruder zu schlagen. Dies kann natürlich nicht einfach ein fester Ast sein, sondern Herakles benötigt als Ruder einen ganzen Baum, den Stamm einer Fichte (A. R. 1.1187–1206). Zur Entwicklung eines ikonographischen Formelbestandes, mit dem die Charaktere, besonders Herakles, wie Bilder in der Erzählung inszeniert werden, s. Radke-Uhlmann (2007), Kapitel 5. Herakles’ Ausscheiden ist die Verabschiedung eines Bildes, das seine eigene Bildlichkeit nicht reflektieren kann. Bei genauer Analyse erweisen sich die dichtungstheoretischen Implikationen dieses Heldenbildes, das in der Forschung zumeist unter sittlichen und moralischen Aspekten und mit Blick auf die These von der Entwicklung eines neuen homerkritischen Heldenbildes bei Homer diskutiert wird (s. eine konzise Kritik an der Forschung zum Charakter Jasons: Pietsch (1999), 99–104), als die eigentliche Begründungsebene. A. R. 1.531–533. Tatsächlich wird Herakles auch auf Münzen am über den Kopf gezogenen Löwenfell und der Keule identifizierbar, so identifizierbar, daß sie als politisches Bildprogramm Alexanders des Großen verwendet werden konnten. Alexander nahm Herakles zum Vorbild wegen der mühevollen Arbeiten, die dieser auf sich genommen hatte und wegen der Aufnahme in den Olymp, die ebenfalls im Hellenismus auch in der Dichtung ein Thema ist. Dazu Hölscher (1971). An anderen Stellen der Argonautika ist es das Löwenfell, das Herakles ikonographisch identifizierbar macht: so in der Hylas-Episode (A. R. 1.1194 f. und 1205 f.). Vgl. auch den Herakles im Herakliskos des Theokrit: Id. 24.136. Vgl. auch Id. 17.28 ff.; Id. 13.57 f. Herakles wird von Apollonios als durchaus problematischer Charakter jenseits von Recht und Gerechtigkeit, als bloßer, aufbrausender Kraftmensch (als Bild seiner selbst) geschildert: so in der Vorgeschichte der Hylas-Episode, die zum Ausscheiden des Herakles aus dem Argonautenzug führt. Apollonios erzählt hier die Geschichte von Theiodamas (anders als Kallimachos: Aet. Fr. 24 (Pf.)) in der Weise, daß Herakles als der Untäter und Ungerechte erscheint, der dem armen Bauern Theiodamas aus mutwilliger Kriegswut seinen Pflugstier stiehlt, um aus dessen Gegenwehr einen Kriegsgrund zu fingieren. (A. R. 1.1211–1220). Apollonios knüpft damit an eine Möglichkeit der Herakles-Figur an (zur Tradition der Herakles-Darstellung in der Literatur s. Anm. 42), die er allerdings ins Ikonische radikalisiert und als unveränderbares Monument festschreibt. Wurde auch bei Sophokles die Problematik der Ichbezogenheit des starken Helden und sein übermäßiges Vertrauen in seine übermenschliche Stärke in den Trachinierinnen behandelt, so reduziert Apollonios den Charakter des Herakles auf die bildlich inszenierte körperliche Präsenz überhaupt. Wir hören nichts von seiner glanzvollen Rüstung, seine Abfahrt ist nicht von der Aussicht auf die glanzvollen Taten geprägt, sondern von Niedergeschlagenheit. Auch die zweite Szene, in der er bedeutsam auftritt, ist vor allem bildlich eindrucksvoll: Herakles steht, nachdem er von den Argonauten zum Führer gewählt ist, noch nicht einmal auf, sondern hebt nur die Hand zum Zeichen, daß er sich zu der Wahl äußern – und sie ablehnen will: Arg. 1.343 ff.
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( .« 535).36 Indem der Erzähler diesen Blicken folgt, erzeugt er beim Rezipienten, der ja selbst ein Betrachter der Szene ist, sympathetische Gefühle. Ganz kurz nur verweilt der Zuschauer bei Jasons Tränen und wendet sich gleichsam verschämt von dieser emotionalen Szene ab. Die Gefühle des Betrachters gehen sogleich unter in dem das Meer aufschäumenden Ruderschlag der Argonauten, die nur, wie so oft bei Apollonios mit einem Demonstrativpronomen eingeführt werden: ¹ ’ 536 und @« ¹ 540: rhythmisch wie junge Reigentänzer schlagen sie nach dem harmonisierenden Kitharaspiel des Orpheus ihre Ruder auf die Wasserfläche. Der Erzähler sucht die Nahaufnahme des von dieser Gewalt aufgewühlten Wassers. Die dunkle Flut (542 κ # Ϊ) schäumt, gewaltiges unheilvolles Rauschen begleitet den Ruderschlag; das Schiff zieht eine weiße Spur in den Fluten hinter sich her (545 λ ’ 4ξ ". $. ), ein Licht, das im unheilvollen dunklen Rauschen der Flut (543 µ .) wie ein hoffnungsvolles Zeichen erscheint; es findet in der Erzählung in dem funkelnden Glänzen der Waffen, auf die die Sonne scheint, einen Kontrapunkt (540–546).37 Apollonios malt ein cineastisch anmutendes Bild von der Abfahrt der Argo.38 Er lenkt den Blick des Rezipienten auf den sinnlichen Reichtum des beeindruckendes Ereignisses: So wie Jason im Innern aufgewühlt ist, so wird auch die Meeresflut von der gewaltigen Stärke der Heroen aufgewühlt. Selbst das Meer erfährt eine eigene Beschreibung mit reichen sinnlichen Details. Auch Herakles ist ein beeindruckendes Bild,39 ist eine Figur, die machtvoll in Erscheinung tritt. Die Illusion unmittelbarer Autopsie wird erzeugt: die unmittelbare Illusion einer großen beeindruckenden und emotional bewegenden Erscheinung. 40 Das ist es, was Bilder können. Wird also schon hier Herakles als ein Held einge36 37 38
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Die melancholische Gemütsstimmung wird von Jason mehrfach berichtet: s. auch A. R. 1.458–461. A. R. 1.534–546. Er malt ein Bild, in dem phantastisch-märchenhafte Züge wie der sprechende Balken verbunden sind mit realistischen Zügen, d. h. mit mimetisch-detailreicher Abbildung eines unmittelbar erfahrenen sinnlichen Eindrucks. Diese Verbindung von Realismus und Märchenhaft-Wunderbarem, die Apollonios’ Epos durchzieht, ist keineswegs ein innerer Widerspruch, sondern ist Ausdruck dafür, was das Prinzip dieses Realismus ist. Die poetische Vorstellungstätigkeit des Dichters setzt die Grenzen und tut einen eigenen poetischen Raum auf, indem über die sinnliche Eindrücklichkeit und die Expressivität des Eindrucks Märchenhaft-Erstaunliches und Schaudererregendes mit Alltäglichem, mit Eindrücken, die real geschehen können, zusammen existieren können, ohne einen unharmonischen Anblick zu hinterlassen. Theokrit sucht in seinem Entwurf der Amykos-Episode, des Abenteuers, das Apollonios am Anfang des zweiten Buches seines Argonautenepos schildert, die Nähe zu Bildwerken noch expliziter, wenn er von dem Bebrykerkönig sagt, er sei «φ.# « : «» (Theokr. Id. 22.47): wie eine Statue, die mit einem Hammer getrieben wurde. Die Bildlichkeit dieser Beschreibung hat ihre Wirkung nicht verfehlt: Viele Forscher haben versucht, den ‹Thermen-Boxer› mit diesem Amykos Theokrits zu identifizieren. S. Hunter (1996), 62; und s. Pollitt (1986), 145–147. Paul Zanker hat kürzlich in einem Aufsatz die Bezüge zwischen der Boxerstatue und der Herakles-Ikonographie betont. Im selben Kontext stellt er außerdem die stark expressive Räumlichkeit der Statue, die den Zuschauer dazu auffordere, um die Statue herumzugehen, heraus: Zanker (2005). Schaubildhafte Personifikationen und Heldenfiguren ahmen die Bildlichkeit und das Beeindruckende des gegenwärtigen Erscheinens nach. Es sind Übersetzungen aus der Bildkunst und ihrer Tradition in die Dichtung, es sind Versprachlichungen dieser Bildwerke – freilich nicht (notwendig) bestimmter einzelner Bildwerke, sondern der Bildtradition als ganzer in ihren charakteristischen Aspekten. Von der Pseudo-Hesiodeischen Aspis angefangen über Vergils Fama bis hin zu den Furien der kaiserzeitlichen Epik: bis zu Lukans Erichtho und den Furien bei Statius. In diesem Kontext der Versprachlichung gegenwärtiger Erscheinungen von Bildwerken wird auch die räumliche Gestalt der Sprachkunstwerke relevant; hier entsteht das Phänomen ‹Wortmalerei› und hier beginnt die Bedeutung der räumlichen Anschaulichkeit des Versbaus. S. dazu Radke-Uhlmann (2007), bes. Kapitel 5.
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führt, der nicht in die Dichtung paßt,41 dessen Dimensionen nur in die Bildkunst, nicht aber (mehr) in die Dichtkunst passen? Ist Jason der literarische Held, Herakles hingegen der isolierte Held, der ikonisiert wird,42 der seine Narrativität und seine (in der Gegenwart aktuelle oder aktualisierbare) Exemplarität einbüßt43 und als großes Bildwerk (fast) das Fassungsvermögen der Dichtung zu sprengen scheint? Apollonios spielt mit diesen Grenzen. Die Figuren werden wie Schaubilder und mit ikonographisch anmutender Erscheinung präsentiert und in die Atmosphäre der Situation, in den Raum eingefügt. Der Begriff ‹Schaubild› zur Beschreibung epischen Erzählens wurde von dem Mediävisten Joachim Bumke44 zur Benennung sinnlich eindrucksvoller Szenen terminologisch eingeführt, die als Bilder die Aufmerksamkeit der Rezipienten auf sich ziehen.45 Mit eben solchen Schaubildern, in denen Handelnde durch Bilder von Handelnden ersetzt werden, haben wir es bei dieser Abfahrtsszene der Argonauten zu tun. Es sind prägnante symbolische Bilder, die Apollonios reich mit sinnlichen Details ausstattet. Apollonios also malt diese Szene ganz im Sinn der Enargeia-Poetik, auf die auch Lessing verweist. Seine poetischen Gemälde werden mit sprachlichen, poetischen Mitteln erschaffen, sie ahmen aber bildliche Merkmale nach.46 Er will poetische Illusionen unmittelbarer sinnlicher Empfindungen erschaffen und verwirklicht die Tugenden der Anschaulichkeit mit autarker expressiver Bildlichkeit,47 also einer Bildlichkeit, die nur mit den ihr eigenen sinnlichen Mitteln arbeitet.48 Es ist die quasi-visuelle Verortung einer Handlung in einer 41
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Damit rezipiert er die Herakles-Figur sehr selektiv, er konzentriert sich auf die beeindruckende Kraft in ihrer bildlichen Präsenz. Die Figur wird dadurch entindividualisiert und ikonisiert. Vgl. Hölscher (1973), 72. Zum Wandel des Herakles-Bildes in der hellenistischen Dichtung: Effe (2003); ders., (1980); ders., (1994). Effe beschreibt sehr erhellend viele Aspekte des Wandels der Herakles-Figur im Hellenismus; er benennt aber nicht die ‹Ikonisierung› der Figur, die für die neue Ausprägung des Mythos zentral ist. S. außerdem den Überblick zu Herakles-Darstellungen in der Literatur bei Galinsky, (1972). Er verliert damit auch seine Funktion als Exempel vorbildlichen Verhaltens, d. h. seine Funktion eines «Leitbildes persönlicher Aktionskraft», das für den Adel in archaischer Zeit maßgebend war. Dazu Hölscher (1993), bes. 71. Bumke (1960). Dabei rückt die Handlungsführung und die Motivationen der Charaktere als poetische Strategie in den Hintergrund und wird durch ikonographische Symbole, anschauliche Bilder ersetzt. Es findet im Hellenismus eine radikale Verlagerung statt, worin der Dichter zu reüssieren versucht. Das Bildlich-Unmittelbare tritt ins Zentrum des Interesses, die charakterliche Motivation der Handlung und die Durchführung der Handlung als Instanz bestimmter charakterlicher Möglichkeiten hingegen zieht weniger Aufmerksamkeit und ‹dichterische Energie› auf sich. Es wäre einmal als allgemeine kunsttheoretische Analyse erforderlich, eine Bilanz über Gewinne und Verluste zu entwickeln, in der der Blick nicht nur auf das Neue, die Entdeckungen der hellenistischen und römischen Dichtung gerichtet wird (diese aber auch nicht als Produkte einer epigonischen Gelehrsamkeitskunst in eine Kontinuität mit der vorangehenden Tradition gezwängt werden, die sie nicht mehr besitzen), sondern in der auch danach gefragt wird, welche Qualitäten diese Dichtung nicht mehr als spezifisch poetisch und spezifische Aufgabe des Dichters erachtet und folglich ausblendet. Der sinnliche Eindruck des großen Schaubildes wird in einer Götterszene gespiegelt. Wieder folgt der Erzähler dem Blick eines Handelnden für seine perspektivische Kunst: Denn die Götter schauen herab auf das Geschehen; ebenso die Nymphen vom Pelion: sie werden staunend ergriffen von dem beeindruckenden Schauspiel (A. R. 1.547–552). Asper hat für Kallimachos’ Metaphernverwendung ebenfalls gezeigt, daß es dem Dichter mehr auf die «starke Wirkung eines expressiven Bildes auf den Rezipienten» als auf begriffliche Klarheit angekommen sei: Asper (1997), 70; 100. Auch die Beobachtung von Asper (Asper (1997), bes. 70 f.), die Ergebnis gründlicher philologischer Analysen ist, daß die Metaphern des Kallimachos sich dadurch von denen seiner Vorgänger unterscheiden, daß sie
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imaginierten Szenerie. Solche Kontextualisierungen des Kunstwerks in einer artifiziellen quasi-natürlichen Situation sind etwas, das sich auch in der hellenistischen Bildkunst, etwa in der Perspektivenpluralität von Statuen49 oder der Aufstellung von Großplastiken oder Gruppen von Plastiken nachweisen läßt:50 auch hier sollen emotionale Reaktionen provoziert werden, indem der Betrachter in den Bildkontext als einer (etwa mythischen) Parallelwelt einbezogen wird (freilich mit dem Bewußtsein von diesem Imaginären und mit der Distanz des Betrachters).51 Betrachtet man hingegen Homers Szenenorganisation, dann staunt man:52 Der große, von Lessing hochgelobte Meister des Erzählens, Homer, vermeidet in seiner Erzählung geradezu alles, was im Sinn sinnlich eindrucksvoller Schaubilder Anschaulichkeit erzeugen kann.53 Theodore M. Andersson54 und Scott Richardson haben dieses Phänomen benannt und erzählanalytisch diskutiert. Bei Homer fehle etwas, an das der Leser moderner Romane essentiell gewöhnt sei: es fehle die Ausmalung des Hintergrunds der erzählten Handlung. Homer lasse seine Charaktere zumeist vor einer schemenhaft blassen, nicht mit bunten Farben gemalten Szenerie agieren. Versucht man, sich ein anschauliches Bild etwa der Umgebung vor Troja zu entwerfen, so scheitert man an der Spärlichkeit der Informationen, die man mühsam aus verschiedenen Szenen und Handlungsabschnitten zusammensuchen muß. Man kann sich als Zuhörer kein vollständiges Bild des Raumes und der äußeren Umstände machen, in denen sich die Handlung bewegt. Auch von der genauen Tageszeit und Wetterlage erfährt man wenig. Raum und Zeit sind für Homer offenbar keine zentralen Kategorien seiner Anschaulichkeit.
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den Akzent eindeutig auf die Bildlichkeit der gewählten Metapher, d. h. des gewählten vehicles setzen und demgegenüber die Kontur des Tenors bewußt undeutlich und wie unter einem Schleier belassen. Es ist nicht die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Tradition, mit Gattungskonventionen und vorgeprägten bildlichen und semantischen Topoi, sondern die Suche nach einer neuen Sprache expressiver Anschaulichkeit, in deren Dienst die Metaphern sich aus dem Kontext ihrer literarischen Geschichte lösen und eine neue Autarkie beanspruchen. S. dazu Radke-Uhlmann (2007) das Kapitel zur ‹Dynamisierung der Tradition›. S. Anm. 40. Andreae (1991), Schneider (2000), Bol (1999). Ich gehe diesen Zusammenhängen einer neuen Wirklichkeit als Anschaulichkeitsfülle simulierenden Kunstwelten mit dem vergleichenden Blick auf Text und Bildkunst in einer monographischen Studie nach: Radke-Uhlmann (2007). Die Gegenüberstellung zwischen Homer und Apollonios sucht auch Zanker (1987), 73 f. mit Bezug auf die Hylas-Episode. Er stellt klar heraus, wie Apollonios den Detailreichtum sucht und eine besonders starke Form bildlich-anschaulicher («pictorial realism») Beschreibung, die man mit den griechischen Rhetoren auch als «ecphrastic narration» bezeichnen kann: «The passage takes time to draw a series of graphic pictures; sequence and causation are explained with particular reference to the visual, one effect of which is to define the myth’s relation with reality as it is perceived, right from the moment, when Heracles breaks his oar, which renders natural his separation from Hylas, as he goes in search of a tree for a new one, till the appearance of the morning star which motivates the Argonauts’ departure. The emphasis on the visual for motivating narrative is not evidenced to such a degree in earlier Greek epic as we know it: the narration of Odysseus’ adventure with the Cyclops at Odyssey 9.166–566, for example, is both extended and brilliantly detailed, and offers an admirably clear exposition of the circumstantial details necessary to the development of the tale, but perusal of it will reveal the actual pictorial content is small in comparison with Apollonius’ narrative of the Hylas episode» (ebenda, 74). Der Begriff der narrativen Ekphrasis begegnet bei Theon, Hermogenes, Aphthonios. S. dazu Richardson (1990), 50–69. Andersson (1976).
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Der Befund ist also: Homer erzielt nicht die Illusion der Gegenwart sinnlicher Empfindungen, indem er den anschaulichen Reichtum der konkreten Sinneserfahrung der Handlungen, die er schildert, in einem poetischen Gemälde malt, das Raum und Zeit illusioniert. Nach Lessings Prämissen habe Homer recht gehandelt, daß er sich nicht mit der Beschreibung von Körpern für sich aufgehalten habe – denn hier hätte er die gewünschte anschauliche Illusion a priori nicht erreichen können –, sondern daß er das, was ein Maler als Momentaufnahme vorgestellt hätte, in eine Folge von Handlungen zerlegt habe: Wenn er zeigen wolle «wie Agamemnon bekleidet gewesen, so muß sich der König vor unseren Augen seine völlige Kleidung Stück für Stück anlegen.» (Laokoon, 105); so also werde das Räumliche als Nachahmung der angestrebten unmittelbaren, sinnlichen Anschauung ins Zeitliche übersetzt. Denn nur darin könne der Dichter reüssieren. Das macht seine Dichtung aber nicht anschaulich, sondern nur zu einer Folge von Ursache und Wirkung. Wie wird also – so muß man das Paradox formulieren – Homer anschaulich, ohne anschaulich zu sein? Oder weniger paradox formuliert: Wie gelingt es ihm, seine Gegenstände konkret vorstellbar zu machen, ohne eine Fülle von Anschauungsmerkmalen anzuhäufen und also ein Schaubild aus diesen Daten zu konstruieren? «Und was wir die Illusion, das Täuschende der Gemälde heißen, hieß bei ihnen die Enargie.» (111) – sagt Lessing. Ich hatte darauf hingewiesen, wie Lessing diese Vorstellung aus hellenistischen Theorien entnimmt, die diese Frage, die Frage nach der Enargeia, ins Zentrum ihrer kunsttheoretischen Betrachtungen gerückt haben und unter Enargeia wesentlich die Illusion sinnlicher Anschauungsfülle verstanden hatten. Man findet den Begriff aber auch noch in einem ganz anderen theoretischen Kontext, nämlich in der aristotelischen Rhetorik im 3. Buch an einer Stelle, an der Aristoteles erläutert, wie es in einer Rede gelingen kann, das, wovon man spricht, deutlich sichtbar vor Augen zu führen (µ C) $).55 Er stellt zunächst fest, daß das Vor-Augen-Führen und die anschauliche Deutlichkeit Tugenden vor allem der poetischen Sprache sind. Die Kunst der Rede übernimmt diese Möglichkeiten und Tugenden, soweit es für sie angemessen ist, aus der Dichtung. Die Rhetorik-Theorie geht daher in dieser Hinsicht in die Poetik über.
4 Aristoteles und die Enargeia der Energeia «Unter Vor-Augen-Stellen», so beginnt Aristoteles die Ausführungen, die Paul Ricoeur als die aenigmatischste Stelle der ganzen Rhetorik bezeichnet hat, 56 «Unter Vor-AugenStellen verstehe ich, solche Ausdrücke zu verwenden, die etwas in Aktion zeigen.» («$') κ µ C) - Ρ "' - ) (Rh. III.11, 1411b25). Die Energeia der dargestellten Sache also ist das Prinzip der Enargeia, der Anschaulichkeit, mit der diese Darstellung gelingt. Aristoteles sucht die Anschaulichkeit der poetischen Rede damit nicht in dem Erzeugen einer quasi-gegenwärtigen visuellen Illusion, die mit einer Fülle sinnlicher Details ausgestattet ist. Was Aristoteles stattdessen als Inbegriff der genuin poetischen Anschaulichkeit betrachtet, und wie sich in dem Leben-
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S. dazu den Kommentar zum Kapitel 21 der aristotelischen Poetik von Schmitt (2008). Ricoeur (1975), 54.
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digmachen der Dinge 57 durch die Bezeichnung ihres Aktes die wahre poetische Potenz verwirklicht, 58 versteht man anhand der Beispiele, bei denen er Homer für ein Höchstmaß an poetischer Energeia lobt: Homer veranschauliche, so sagt Aristoteles, die Energeia von Dingen oft durch eine metaphorische Redeweise, die das Unbelebte mit Worten charakterisiert, die Belebtes beschreiben. So mache er etwa deutlich, was die Leistung eines Pfeils, nämlich die Leistung, schnell ein Ziel zu treffen, sei, indem er sage: «Er flog dahin, ‹begierig heranzufliegen›» "$ ) (Il. 4.126) (Rh. 1411b35).59 Sie seien in höchstem Maß poetisch anschaulich.60 Die vitalistische Metapher von dem ‹gierig heranfliegenden Pfeil› mache die spezifische Potenz des Pfeils, sein 4 , anschaulich, indem es diese Potenz als Akt des Strebens nicht nur behaupte, sondern durch die Verwendung einer Tätigkeit belebter Dinge, das gierige Streben, als Wirken vorführe. Homer also habe Enargeia auch bei der Darstellung von Dingen nicht durch Abbildung des sinnlichen Phänotyps erreicht, nicht durch etwas, von dem man wegen seiner exakten sinnlichen Beschreibung glauben könnte, es sei tatsächlich etwas Echtes, eine echte Taube, eine echte Kuh, ein echter Pfeil – denn es ist nicht das Aufzählen beliebig vieler wahrnehmbarer Merkmale, die begreifbar macht, was diesen Pfeil wirklich ausmacht: wie er wirkt; was ihn von einem gewöhnlichen Stück Holz unterscheidet. Daß die Funktion eines Pfeils das Erreichen und Durchbohren eines Ziels ist, kann man nicht an den Details seiner äußeren Erscheinung sehen. Homer konzentriere sich auf die sprachliche Vermittlung eben dieser spezifischen Leistung des Gegenstands. Es werden in dieser Technik keine Dinge mit Leben versehen, denen eigentlich keine Lebendigkeit zukommt. Homer versetze nicht die unbelebte Welt in Bewegung, um die Beschreibung ansprechender, plastischer und dynamischer zu machen, um dem an sich Abstrakten Farbigkeit zu verleihen. Er füge den Dingen gerade keine Eigenschaften hinzu, die ihnen fremd sind: Er läßt nicht die Rüstungsteile des Hektor einen 57
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Von «lebendigen Bildern» spricht auch die hellenistische Tradition, wenn es um das Veranschaulichen und die Hervorbringung perfekter Illusionskunst geht. Dazu gehören die Künstleranekdoten, die die Künstler für ihre vollkommene Illusion der lebendigen Gegenwart sinnlich wahrnehmbarer Dinge preisen, aber auch und im Zusammenhang damit die Erläuterungen in der Rhetorik, wie ein Redner seine Bilder lebendig werden lassen müsse und könne: Quintilian s. Anm. 12, 62 und 63; Herodas, Mimiamb. 4.33–38; ebenda 72–78. Theocr.15.82 f. (mit Bezug auf Herodas’ Mimiambus); Plin. N.H. 35.84 f.; 35.88; 35.89; 35.95; 35.6 f. (Zeuxis’ Trauben); 36.21 f. Zur Illusionskunst des Zephisodotus: Plin. N.H. 36.24. S. dazu auch Gombrich (1972), 99–125; Sörbom (1975), 44–53. Beispiele solcher sinnlicher Illusionskunst in der Dichtung: s. die Ekphrasis des Mantels des Jason in Apollonios’ von Rhodos Argonautika. Das dritte Bild – Aphrodite betrachtet sich im Schild des Ares (A. R. 1.742–746) – und das letzte Bild – Phrixos im ‹Gespräch› mit dem Widder – reflektieren besonders auf die anschaulich-sinnliche Illusion der Bilder. Dazu auch Palm, 1965–6, 142. Kann man begrifflich herleiten, wenn man sich mit Aristoteles’ von Platon übernommenen Begriff des Ergon einer Sache und dem Unterschied zwischen Akt und Potenz, bzw. erster und zweiter Dynamis bzw. erster und zweiter Potenz, zuwendet. Bei solchen Formulierungen bewirke nämlich die Beschreibung unbelebter Dinge mit Eigenschaften von belebten Wesen, daß das Tun der Dinge zum Vorschein komme: " » ' 8 « µ %6.0 ρ "' - φ (Rh. III.11, 1412a2 f.) µ Ν6.0 %6.0 « φ »« (Rh. III.11, 1411b32). Der anonyme Kommentator zur Rhetorik sieht in der Potenz der Dichtung, die Dinge als "' - darzustellen, die spezifische Fähigkeit des Dichters, nämlich die Fähigkeit zu guter Mimesis: «Die Energeia ist eine Art Mimesis. Wenn man nämlich die ' einführt und als "' - darstellt («), dann genau erscheint man als einer, der sie nachahmt» (Anonym. in Rhet. III,11, 210, 20–22).
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lustigen Tanz aufführen oder die Webutensilien Penelopes zum Leben erwachen und sprechen. Dies wäre märchenhaft und folgte lediglich einer Obsession der Dynamisierung und visuellen Verlebendigung, die Handlung als ein atmosphärisches Bild betrachtet und nicht als ein aus Gründen verstehbares Geschehen. Man muß bei diesen alternativen Möglichkeiten, die Aristoteles nicht meint, wenn er Homer für sein Vor-Augen-Stellen durch die sprachlich-konkrete Vermittlung des spezifischen Ergon einer Sache lobt, noch einen Moment verweilen. Denn sie sind in der Nachfolge der hellenistischen Rhetoren und Dichtungstheoretiker, vor allem in der Nachfolge Quintilians so wirkmächtig geworden, daß sie die aristotelische Alternative fast vollständig verdrängt haben und es uns heute sogar schwer machen, den spezifischen Unterschied des aristotelischen Gedankens zu erfassen. Quintilian weist den Redner an, seine Gegenstände zu beleben, ihnen Leben einzuhauchen, weil auf diese Weise die unmittelbare Illusion der lebendigen Gegenwart des Ereignisses und der Dinge erzeugt werde. Die emotionale und unmittelbar beeindruckende Wirkung auf den Rezipienten steht in dieser Belebungstheorie also im Zentrum des Interesses. 61 So lobt Quintilian Vergil für die Formulierung «pontem indignatus Araxes» «der Fluß Araxes, der die Brücke verachtete» (d. h. den die Brücke nicht in Schranken halten konnte); denn er habe in einer gewagten Formulierung einem Gegenstand, der keine Wahrnehmungen hat, ein Tun und Seele zugesprochen.62 Solche Formulierungen geben, so Quintilian, der poetischen Rede Farbe und eindrückliche Erhabenheit. Die Atmosphäre der Erzählung werde damit insgesamt in eine poetische Farbe getaucht. Nicht das einzelne Objekt, sondern die farbige Dynamik der ganzen Erzählung steht in diesem Lob Vergils im Zentrum. Die Handlungsträger verschwimmen mit der Szenerie und Landschaft in einem atmosphärischen Gesamtbild, das als Ganzes auf den Rezipienten einwirkt. Quintilians Vorstellung von lebendig anschaulicher Rede und seine mit dieser verquickte Metapherntheorie waren in der neuzeitlichen Rezeption wirkmächtig.63 In ihr hatte der Rhetoriktheoretiker der diskursiven Sprache ein Mittel an die Hand gegeben, das ihre strukturelle Abstraktheit überwinden zu helfen versprach. Er machte das Wort lebendig, ließ es sichtbar und nicht mehr nur hörbar wirken. Die lebendige Metapher Quintilians verleiht der Sprache eben die Potenzen, die auch Lessing als Qualitäten der Kunst sucht. Sie verleiht der Sprache die Möglichkeit, unmittelbar zu bewegen, unmittelbar einen stimmungshaften Eindruck zu verschaffen und da, wo sie belehren will, diese Belehrung durch schöne Bilder einzukleiden und angenehm zu machen. Das Lebendigmachen unbelebter Dinge ist als eine Form metaphorischer Redeweise aber nicht nur ein Erbe Quintilians, sondern ist auch Teil von Aristoteles’ Konzeption der Metapher innerhalb der Disziplin der Rhetorik. Sie steht bei Aristoteles in einem grundsätzlich verschiedenen Theoriekontext und zielt auf etwas anderes ab, auf etwas, das in der neuzeitlichen Rezeption eine vergessene Form der Theorie der Anschaulichkeit ist und daher in einer Archäologie neu erschlossen werden muß. Zu dieser archäologischen Arbeit, die eine Differenzierungsarbeit ist, will dieser Aufsatz einen Beitrag leisten. 61
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Quint. Inst. Or. 6.2.29–32., bes. 31 f. Quintilian zitiert im Anschluß zur Exemplifizierung ausführlich aus der Aeneis: Aen. 9.476; 11.40; 11.89; 10.782: 4.426. Quint. Inst. Or. 8.6.11. Dazu und zur aristotelischen Metapherntheorie s. Schmitt (2008).
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Dazu, daß die Existenz und Möglichkeit einer zweiten Form der Anschaulichkeit neben der sinnlich-unmittelbaren vergessen wurde, haben viele Faktoren beigetragen. Zu diesen gehört auch, daß die untergeordnete Behandlung der Metapher in der aristotelischen Poetik und Rhetorik im Kontext der Frage, wie man die Rede anschaulich machen könne, vielen modernen Theoretikern als Sündenfall in der Rhetorik- und Dichtungstheorie gilt. Denn sie verkenne die Bedeutung von schaffenden und Welt erschließenden Potenzen der Sprache, die in der Metapher angelegt seien.64 Dahinter stehe eine naive rationalistische Haltung. Diese gehe davon aus, daß sich die Welt uns, und das heißt: dem Logos offenbare, wie sie ist. Der Logos könne sie als solche ganz und vollständig umfassen und begreifen. Es gebe nichts, was über den Logos hinausweist. Das aber sei naiv, weil wir die Welt tatsächlich nicht als begrenzten Raum, sondern als Ungeheures, das immer über unsere Wahrheitsfähigkeit hinausgeht, erleben. 65 Wegen dieses wesentlichen Ungenügens des Logos angesichts des Ungeheuren der Welt, angesichts ihrer unendlich reichen sinnlichen Bestimmtheit, aber brauche der Mensch Bilder, die ihn über die Grenzen des abstrakten Logos hinausführen. Die poetische Sprache biete solche Bilder. Sie schaffe Metaphern und mit ihnen einen unendlichen Möglichkeitsraum der Übertragung und Erweiterung von Bedeutung. Die Metapher überwinde die Abhängigkeit des einzelnen Wortes von seinem kommunikativen Kontext und erkläre die Potenz der Sprache überhaupt, neue Bedeutungen zu erschaffen: sie beweise so die Kreativität der Phantasie als Instrument der Bewältigung der Nicht-Bewältigbarkeit der Wirklichkeit 66 im Unterschied zur Leblosigkeit des abstrakten Begriffs.67 Dies sind Wege, die von den Theorien neuer Metaphorologien beschritten werden.68 Aristoteles selbst aber negiert in diesem Kontext der Rhetorik nicht die Möglichkeiten, die in diesen modernen Metapherntheorien über die heuristische Funktion von Metaphern diskutiert werden, er hat vielmehr etwas anderes, nämlich deren spezifisch poetische Potenzen im Blick, die er nicht gegen die Potenzen des abstrakten Logos, sondern gegen rein sinnlich-anschauliche Potenzen von autarken Bildern abgrenzt. Er betrachtet nicht – wie Lessing – die Wirklichkeit mit ihrer unendlichen sinnlichen Präsenz und schreibt so den Eindruck der Inferiorität der poetischen Sprache gegenüber dem Bild indirekt fest; sondern er definiert eine genuin eigenständige poetische Anschaulichkeit, die die Potenzen der Sprache zur Suche nach verstehbaren Gründen und denkbaren Möglichkeiten, die über das nur Sinnlich-Anschauliche hinausgehen, auslotet und nutzt. Er definiert diese Anschaulichkeit auf dem Weg der poetischen Konzentration auf die Energeia der für den poetischen Gegenstand selbst jeweils spezifischen Potenzen unter Ausblendung der szenischen Atmosphäre, in die ein Gegenstand oder eine Handlung eingefügt sein kann. 64
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S. dazu den grundlegenden Aufsatz des Sprachwissenschaftlers Roman Jakobson zur konstitutiven Funktion von Metapher und Metonymie in sprachlichen Prozessen: Jakobson (1979). Blumenberg (1960), 62: «… gegen die morphische Statik des Aristotelismus mit seiner Unterstellung der Möglichkeit eines definitiven Kompendiums der Weltdinge …» Auch die «Arbeit am Mythos» Hans Blumenbergs (1979) ist nichts anderes als eine Geschichte der Bewältigung dieser nicht zu bewältigenden Wirklichkeit mithilfe der Transformation des Ungeheuren in das Bildliche und Anschauliche. S. Haverkamp (1996), 501: «Das ist nicht so zu verstehen, daß die Metapher als Teil einer vorbegrifflichen Sphäre begrifflich doch einzuholen wäre, sondern daß sie die Überschreitbarkeit des vorläufig Begriffenen, dessen fortwährendes Differential darstellte.» Diese Wege führen zum Beispiel zur absoluten Metapher Blumenbergs (1960); oder auch zur lebendigen Metapher Ricoeurs (1975).
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Dieser Weg bindet die Dichtung nicht an die Möglichkeiten des Wahrnehmbaren, sondern emanzipiert sie von diesen. Denn die Funktion eines Pfeils kann man nicht sehen, man kann sie nur mit dem Denken aus dessen Tun als dessen allgemeine Potenz erschließen. Die ‹lebendige Metapher› der aristotelischen Rhetorik leistet diese Erschließung, indem sie die Aufgabe der Metapher nicht in der Ersetzung eines Vorstellungsbildes durch ein anderes,69 sondern in der Ersetzung von etwas Begreifbarem durch etwas bildlich Vorstellbares erkennt. Dafür wird gerade eine besonders strenge Auswahl dessen, was Prägnanz, prägnante Erkennbarkeit in die Beschreibung legt, notwendig und keine möglichst große Detailfülle mit Bezug auf die umgebende Szenerie. Der Dichter muß eine Differenzierungsund Erkenntnisarbeit leisten, die seiner Metaphernbildung und seinen Strategien der Veranschaulichung vorausgeht, die die Sinnlichkeit übersteigt. Er darf sich an diese nicht binden und strebt nicht nach ihrer illusionierenden Imitation. Das äußere Erscheinungsbild der Dinge möglichst getreu abzubilden, ist nicht sein Ziel. Er will die Dinge prägnanter beschreiben, als sie in der unmittelbaren Anschauung erkennbar werden können. Die Dichtung bewegt sich aber nicht im Begrifflichen, sondern beschreibt Dinge und Ereignisse, die man sehen und sich vorstellen kann. Sie benutzt sinnliche Merkmale, um etwas, das selbst nicht sinnlich ist, erschließbar zu machen, um dem Rezipienten die Erkenntnis zu ermöglichen, was dieser Mensch, was dieser Gegenstand wirklich ist, was ihn von allem anderen unterscheidet und als dieses Individuum, als diese besondere Sache erkennbar macht. Dazu benötigt man kein farbiges Panoramabild der erzählten Handlung, sondern eine poetische Ordnung von prägnanten Charakteristika. Aristoteles sucht, wie Paul Ricoeur erkannt hat, die Erschaffung einer neuen, poetisch-prägnanten ‹Welt›, die lebendige Ähnlichkeiten schafft und den Zuhörer an diesem Prozeß der Bedeutungserschließung teilnehmen läßt und nicht nach der abspiegelnden Wiederholung der ‹realen› Welt strebt. Die Anschaulichkeitsstrategie des Mimeten, der aristotelisch vorgeht, ist kein Prozeß der detailgetreuen Rekonstruktion des Sinnesbildes, sondern einer Durchdringung dessen, was einen bestimmten Menschen und sein Handeln wirklich ausmachen. Der aristotelische Mimet ist nicht imitativ, sondern kreativ. Er erschafft etwas neu, und er nutzt die Potenzen der Sprache zu diesem Schaffensprozeß und der Erzeugung von poetischer Prägnanz. Daß dieser ganz andere Ansatz, der nach spezifisch sprachlich-poetischen Möglichkeiten der Erzeugung von Bedeutung und nicht nach einer Imitation anschaulicher Bildlichkeit fragt und der nicht von der selbst unhinterfragten Prämisse der essentiellen Abstraktheit des Denkens und der begrifflichen Erschließung einer Sache ausgeht, nicht nur für die Archäologie eines Begriffes, also für die Theorie, sondern für die Interpretation der homerischen Erzählkunst heuristisch wertvoll sein kann, kann ich nur noch anhand eines eben bereits erwähnten Beispiels andeuten:
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D. h. in einer dimensionalen Gleichheit von tenor und vehicle. Diese Begriffe wurden bekanntlich von Richards eingeführt, um das Wesen der Metapher, zu erhellen: Richards (1936), 96. Sie legen die Verwendung von Metaphern allerdings auf die Ebene bildlicher Vorstellungen fest, die in Aristoteles’ Konzeption auch benutzt werden, aber geleitet von einer begrifflichen Einsicht, die vermittelt werden soll und die die Vorstellungsebene dimensional überschreitet.
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5 Homer und die poetische Prägnanz Es handelt sich um die Szene im zweiten Gesang der Ilias, in der sich Agamemnon ankleidet. Lessing nimmt die Szene als Beleg dafür, daß Dinge nur in der Form von Handlungen beschrieben werden können: Nicht die Kleidung Agamemnons wird Gegenstand der Erzählung, sondern die Handlung des Ankleidens. Er sieht in ihr also lediglich die ausweichende Technik des Dichters, seine Unvollkommenheit in der anschaulichen Präsentation räumlich wirkender Bilder zu verdecken. Dabei ist ihm die Potenz der Szene für das VorAugen-Stellen dessen, was den Charakter Agamemnon in der Ilias bestimmt, entgangen. Aristoteles’ Konzept kann die Verengung dieser Perspektive korrigieren: Die von Lessing kommentierte Szene ist Teil einer längeren Sequenz von Szenen. Diese beginnt mit einer Vorgeschichte, nämlich mit dem Versprechen, das Thetis Zeus abringt, Agamemnon und die Griechen für ihren Frevel an Achill zu bestrafen. Dieses Versprechen beginnt Zeus, zu Beginn des zweiten Gesangs einzulösen. Er schickt Agamemnon den ‹ σ « > «›, den verderblichen Traum, der Agamemnon in falscher Sicherheit wiegen wird.70 Fµ« $ Ν''« 4, χ« - Ν. "Ω $' # ’ ". «Von Zeus herkommend bin ich dir ein Bote, !von Zeus", der auch aus der Ferne sich sehr um dich sorgt und Mitleid mit dir hat.» (Il.2.26 f.)
Pathetisch inszeniert der Traum zu diesem Zweck die intime Verbindung zwischen Zeus und dem Herrscher Agamemnon. Die Zeit sei jetzt günstig, so weiß es Zeus, und wer sollte es besser wissen? Zeus weiß, daß der Kairos für den Angriff da ist, und er teilt dieses Wissen mit seinem Liebling Agamemnon. Diese Worte verfehlen ihre Wirkung nicht: Agamemnon fühlt sich über die Maßen gestärkt durch diese Beziehung zum Herrscher der Götter und weiß diese Zuneigung des Zeus in seinem eigenen Herrschertum begründet. In diesem Kontext steht die von Lessing abstrakt erzähltechnisch gedeutete Ankleidungsszene. Sie ist ein anschauliches Bild, das etwas verstehbar macht, was man nicht sehen kann: die Selbstverliebtheit Agamemnons in sein Herrschertum.71 Als er aus dem Traum erwacht, klingt ihm noch die göttliche Stimme im Ohr, schon wirft er sich das weiche Gewand um: Schön ist dieses und neugewebt, darum herum legt er einen Mantel, unter die strahlenden Füße bindet er schöne Sandalen. Dazu ergreift er den Schild mit silbernen Buckeln und den Herrscherstab. Er eignet sich diese – untechnisch gesprochen – Insignien im Ankleiden an. Herrscherlich will der Erzähler diesen Agamemnon in seiner falschen Selbstsicherheit durch diesen Akt der Aneignung charakterisieren. Daher betont er dessen Handeln mit den Symbolen der Macht. So läßt er sich Agamemnon, nachdem die Versammlung aller Griechen vor Troja einberufen ist, auf das Zepter stützen – auf das Zepter, dessen lange Ahnenreihe der Erzähler sich nicht nehmen läßt, breit (in 8 Versen) zu erzählen. Homer muß die Gewandung des Agamemnon nicht als Ankleidungshandlung berichten. Er tut es aber aus einem bestimmten Grund. Er benutzt das Ankleiden Agamemnons, 70 71
S. dazu Schmitt (1990), 85–89. Il. 2.41–47.
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um das – überzogene – Selbstvertrauen, das dieser aus seinen Herrscherinsignien ableitet, in dessen Handeln, in dessen Vorbereitung für seinen Auftritt vor der Versammlung des Heeres, anschaulich zu machen, er tut es nicht, um die Kleidung bildlich-malerisch anschaulich zu machen, sondern um diesen Charakter Agamemnons poetisch-energetisch vor Augen zu stellen. Die Szenenfolge ist der zweite große Auftritt Agamemnons in der Ilias. Damit weist sie zugleich zurück auf den ersten Gesang und die Streitszene und voraus auf die Zorneshandlung der mittleren Ilias-Gesänge. Agamemnons Selbstsicherheit und sein herrscherliches Gehabe sind das spezifische Ergon dieses Gegenspielers des Achill. Diese anschaulich vor Augen zu führen, gelingt dem Erzähler in dieser Szenenfolge des zweiten Gesanges und in der Ankleideszene meisterlich. Nicht das anschauliche Detail, auch nicht das der Kleidung des Herrschers steht im Zentrum und ist das Mittel, mit dem Anschaulichkeit erreicht wird. Der Erzähler macht nicht den Versuch, die Illusion visueller Gegenwart zu erschaffen. Er kürzt diese vielmehr bewußt ab, um die Aufmerksamkeit ganz auf die prägnante Charakterdarstellung in ihrer spezifischen Energeia zu lenken.
6 Schluß Aristoteles entwirft in der Rhetorik eine Theorie der poetischen Anschaulichkeit, die dem Wort selbst eine besondere Potenz einer (nicht rationalistisch verkürzten) Anschaulichkeit zutraut und diese nicht aus einem anderen Medium hinzuholt: Anschaulichkeit kommt aus dem Begreifen der spezifischen Energeia einer Sache: Bilder benötigen, wie Aristoteles auch etwa in der Politik sagt, 72 eine rationale Deutung, da sie nur Zeichen und keine Homoiomata der Dinge sind, nicht etwas, das von gleicher Qualität wie die Dinge ist. Sie sind nicht aus sich selbst heraus verständlich. Homers Dichtung leistet genau diese hermeneutische ‹Arbeit›: Sie ahmt nicht die sinnlich-anschaulichen Qualitäten des Bildes nach, so wie es der hellenistische Epiker Apollonios meisterhaft tut. Apollonios schafft eine Illusion, die sich vor allem auf Potenzen stützt, über die das Bildmedium von sich her und autark verfügt. Sein sinnlich-visuelles Erzählen genügt den Prämissen und Anforderungen hellenistischer Enargeia-Theorien, zu denen auch Lessing sich ausdrücklich bekennt. Lessings Grenzziehung zwischen Bild und Dichtung erweist sich vor diesem Hintergrund als verkürztes Konzept. Er kennt nur eine Form der Anschaulichkeit, und diese ist die des autarken, sinnlich rezipierten Bildes. Deren Diktat unterwirft er auch die Dichtung. Lessings Analyse will formal sein.73 Er will eine Bestandsaufnahme der Techniken geben, in denen Homer die Mängel der Sprache zu kompensieren versucht, die ihr wesentlich sind und auf die der (moderne) Dichter reflektieren muß. Dennoch kann man Lessings andere Antwort auf die Frage, was die Ankleidungsszene Agamemnons bedeutet, nicht gänzlich von der eben skizzierten isolieren und einer anderen Beurteilungsebene zuordnen. Denn 72
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Arist. Pol. 8.5, 1340a28–35. Die Anschauung (in der Malerei) verschafft keine Homoiomata (Ähnlichkeiten), sondern nur Semeia (Zeichen) von Charakteren oder Pathe. Stierle (1984) hat diese Potenz der Lessingschen Konzeption, zu einer ‹Medienästhetik› zu avancieren, aufgegriffen und daraus eine Theorie entwickelt, in der nicht die Sprache als ihre Inhalte Handlungen transportiert, sondern selbst Handlung, Sprachhandlung ist.
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sie stehen in einem Konkurrenzverhältnis. Beiden Interpretationen gemeinsam ist das Bestreben, zu erklären, warum Homer in aller Ausführlichkeit erzählt, wie Agamemnon sich für seinen Auftritt vor der Versammlung ankleidet, während er solche Ekphrasen sonst eher meidet. Beide Interpretationen wollen eine Erklärung für diese Ausnahme geben. Lessing meint, diese Erklärung nur im Formalen suchen zu können; die hier entworfene Deutung hingegen findet eine Erklärung in der Kontextualisierung der Szene in einer Handlungssequenz und als Ausdruck des allgemeinen Charakters des Agamemnon, wie er in der Ilias charakterisiert wird, d. h. als Interpretation von Handlung und nicht von anschaulicher, aus Bildern zusammengesetzter Szenerie. Lessings Prämissen für diese formale Erklärung stehen ebenfalls in einem Spannungsverhältnis zu der von Aristoteles’ Anschaulichkeitskonzept inspirierten Deutung. Er nimmt an, daß die Dichtung als Kunst unmittelbar anschaulich, intuitiv wirken will, und tritt mit dieser Prämisse an den Homerischen Text heran. Nach Aristoteles und im Sinn der hier vorgestellten Deutung ist eben diese Prämisse problematisch. Erst sie und nicht die Dichtung Homers und auch nicht die Intention, diese Ankleideszene poetisch auszuwerten, zwingen zu einer (semiotischen) Formalisierung der Interpretation. Dazu zwingt erst die Absolutsetzung anschaulicher Illusion, die die Sprache mit Ansprüchen konfrontiert, die nur sinnlich gegenwärtige Bilder – in bestimmten Grenzen – und deren Vergeistigungen als Phantasiebilder erfüllen können. Lessings Prämissen bedeuten eine fokussierende Einschränkung dessen, was diskutiert werden kann. Viele Diskurse wurden von dieser Festlegung bestimmt. Die Archäologie der homerischen und aristotelischen Alternative kann demgegenüber neue Horizonte eröffnen und Verkrustungen der Diskussion aufbrechen. Denn auf der Basis der Wiederentdeckung der aristotelischen Konzeption können neue, vielversprechende Wege beschritten werden, um den alten Streit zwischen Bild und Dichtung zu einer Kunsttheorie weiterzuentwickeln, die die spezifischen Potenzen beider Künste erhellt und nicht als kompetitiv, sondern komplementär zu verstehen vermag. Der Blick auf Aristoteles eröffnet die Möglichkeit, zwischen den autarken Potenzen des Anschaulich-Bildlichen und den prägnant-poetischen Potenzen, die primär das Wort hat, zu unterscheiden und von da aus nach Synergieeffekten zwischen diesen beiden Qualitäten in antiken Erzähltexten ebenso wie in antiken Bildkunstwerken zu forschen.74 Er eröffnet die Möglichkeit jenseits der klassisch neuzeitlichen kunsttheoretischen Diskurse auch dem Denken und Schlußfolgern eine kreative Potenz zuzutrauen und der Rationalität (wieder) in die Dichtung, insofern sie Dichtung ist, Einlaß zu gewähren. Die Wiederentdeckung einer vergessenen und wirkungsgeschichtlich verschütteten Form der Anschaulichkeit kann eine neue Antwort auf die Frage, was genau Bilder, und was genau poetische Sprache leisten, zur Diskussion stellen.
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Es kann autarke Bildlichkeiten und deren Strategien geben, es kann spezifisch poetische Anschaulichkeitsformen geben, und es kann das Zusammenwirken zwischen den Tugenden beider Kunstformen geben, die zur Anschaulichkeit des Kunstwerkes beitragen, etwa in der bildlichen Darstellung von (literarischen) Mythen (S. Giuliani (2003), passim). Alle diese Möglichkeitsräume sind ein Terrain, das – auf der Basis vielversprechender Ansätze – in der interdisziplinären Forschung noch weiter ausgelotet werden kann.
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Ursula Gärtner
« $0$ Schiffe als Unheilsbringer in der antiken Literatur1 In der Dreigroschenoper von Kurt Weill und Berthold Brecht2 singt Polly das Lied von der Seeräuberjenny, die in Lumpen in einem lumpigen Hotel Gläser abwäscht und für einen Penny das Bett macht, dabei aber denkt, wie es sein wird, wenn ein Schiff mit acht Segeln und mit fünfzig Kanonen am Kai liegen wird, die Stadt beschießt, allein das Hotel verschont und schließlich Hundert vom Schiff kommen und fragen, wen sie töten sollen, und sie dann sagt: «Alle!» und wie sie, wenn dann der Kopf fällt, sagt: «Hoppla!», und das Schiff mit acht Segeln und mit fünfzig Kanonen mit ihr entschwindet. Johann Hermann Schein lässt in einem fast genau 300 Jahre früher, nämlich 1624 entstandenen Gedicht ebenfalls ein Schiff das Meer befahren: «Mein Schifflein lief im wilden Meer, | Geschlagen von Sturmwinden; | Das Segel war zurissen sehr, | Kein Ruder konnt ich finden; | Kein Schiffmann da vorhanden war; | Auf allen Seiten war Gefahr, | Kein Sternlein ließ sich blicken. | Wie bet’t, wie gab ich gute Wort, | bis endlich durch gewünschten Port | Mich Amor tät erquicken. | Drum ich dem Göttlein blind zum Dank | Mein Herz vovier mein Lebelang.»3 Mancher wird an das alte Kirchenlied denken, in dem ein Schiff kommt, geladen bis an sein’ höchsten Bord, 4 oder an das Bild des Staatsschiffs. Dichtungen aus unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlichem Inhalt, sei es Rachelust, Leben und Liebe, Glaube und Hoffnung oder Staat und Politik, sie alle benutzen das gleiche Bild: das Schiff. Es scheint, als habe wenig die Phantasie der Menschen zum Gebrauch als Metapher, Allegorie, Gleichnis oder Symbol so angeregt wie das Gefährt, mit dem man sich auf die See hinauswagt. Die Stellen, an denen das Bild des Schiffs in der Literatur verwendet wird, sind unübersehbar, und es ist beinahe ebenso unmöglich, allein die verschiedenen Bereiche anzuführen, für die das Bild steht. Doch hat dies auch einen besonderen Reiz; es sei daher zu einem Spaziergang durch die antike Literatur eingeladen oder vielleicht besser zu einer Spazierfahrt, bei welcher wir betrachten können, wie ein Bild, das uns in den verschiedensten Literaturen begegnet, schon in der Antike seine Ausprägung erhält. Es lässt sich feststellen, dass im Großen und Ganzen in der Antike bereits fast alle Grundmuster dieses Bilds zu finden sind.5 Die wohl bekanntesten sind die des Staatsschiffs – man denke an die berühmten Gedichte des Alkaios und des Horaz –,6 dann das 1 2 3 4 5
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Im Folgenden handelt es sich um die schriftliche Fassung meiner Antrittsvorlesung an der Universität Potsdam. Uraufführung: Berlin, 31. August 1928. Zitiert nach Conrady (1997), 14. Daniel Sudermann (um 1626) nach Johannes Tauler (14. Jh.) oder einem Marienlied aus Straßburg (15. Jh.). Zum Überblick vgl. Kahlmeyer (1934); Saint-Denis (1935); Rahner (1964), 313 ff.; Heydenreich (1970), 55 ff. Vgl. z. B. Alk. 326 LP; Theogn. 671–82; Aischyl. sept. 1 ff. 208 ff. 652. 758 ff. 795 ff.; Soph. Ant. 162 f.; Plat. polit. 302a; rep. 488a-e; Aristot. pol. 1276b; Cic. Pis. 20 f.; Hor. carm. 1, 4; Quint. inst. 8, 6, 44; vgl. van Nes (1963), 71 ff.; Schäfer (1972).
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Bild des Schiffs für das Leben – wie etwa bei Platon –,7 für die Seele, 8 für die Welt überhaupt,9 ferner für die Liebe,10 den Wankelmut und Tod – wie der Nachen des Charon –,11 später für den Glauben bzw. die Kirche 12 und schließlich für die Dichtung selbst.13 Indes ist die Zahl der Aspekte zu groß, um sie allein schon für die Antike a prora ad puppim14 aufzählen zu können. Es soll daher genügen, nur einem einzigen Aspekt nachzugehen, nämlich weniger dem Schiff als Metapher oder Symbol für etwas ganz anderes als vielmehr dem Motiv des Schiffs als Unheilsbringer. Es soll versucht werden zu zeigen, wann und aus welcher Situation ein solches Motiv entstehen konnte, wie es sich entwickelte und schließlich zum Topos erstarrte und wie dieser dann selbst verwendet wurde. Da auch dies den Rahmen noch sprengen würde, soll ein, wie ich meine, besonders interessanter Aspekt im Vordergrund stehen, und zwar soll der Frage nachgegangen werden, wie und wann Schiffe für persönliches Unglück verantwortlich gemacht wurden. Hierzu sollen nach einer kurzen Einführung zur antiken Seefahrt einige Stellen aus der frühen griechischen bis zur späteren lateinischen Literatur vorgestellt werden, wobei die bekannteren nicht fehlen sollen, aber ebenso einige weniger bekannte Passagen die Facetten dieses Motivs beleuchten mögen.
1. Einführung 15 Für Griechenland wie für Italien als Anrainerstaaten des Mittelmeers war die Seefahrt von großer Bedeutung. Heute mag diese Feststellung banal wirken, doch stellte die Schifffahrt für die Menschen in der Antike eine ungeheure Herausforderung dar. Es gab sie im Mittelmeer freilich schon früh; für Siedlungen auf Inseln wie Skyros, Kephallenia oder Zakynthos ist dies schon für das 10. Jt. anzunehmen; sichere Belege haben wir seit dem 4./3. Jt. v. Chr. aus dem östlichen Mittelmeer.16 Die Griechen der mykenischen Zeit entwickelten Schiffbau und Navigation nicht selbst, sondern übernahmen sie von Nachbarvölkern; die Römer lernten wiederum von den Griechen, Etruskern und vor allem von den Karthagern, entwickelten aber insbesondere die Kriegsschiffe weiter. Schiffbau blieb demnach eine 7
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Vgl. Plat. leg. 803af.; ferner: Pind. Ol. 12, 3 ff. 10 ff.; 13, 28; Isthm. 1, 36 ff.; 4, 5 f.; 6, 10 ff.; AP 10, 65; Cic. Cato 71; Hor. carm. 2, 10, 1 ff.; Ov. Pont. 4, 3, 5 ff.; Sen. dial. 6, 26, 1; Greg. Naz. carm. 1, 2, 9, 141 ff.; vgl. Lesky (1947), 209 f. Aristot. de an. 413a; Thomas von Aquin schrieb diesen Vergleich Platon zu: de anima a. 1c; vgl. Rahner (1964), 324 ff., insbesondere zu der christlichen Ausprägung des von Christus gelenkten Seelenschiffchens. Vgl. Cic. nat. deor. 1, 52; Sen. dial. 6, 6; Lukian. Iupp. trag. 46 ff.; Greg. Nyss. anim. et res. 2, 3 (PG 46, 24a); Euseb. Syr. Teophanie 1, 1; 2, 26; Ps.-Aristot. de mundo 400b; Plut. de defectu oraculorum 29 (429b). Vgl. AP 5, 156; 190; 9, 415; 416; 12, 157; 167; Hor. carm. 1, 5, 6 ff.; Prop. 3, 24, 15 ff.; Ov. am. 3, 11, 29 f. 51 f.; Apul. met. 2, 11, 3; Hieron. epist. 128, 3. Vgl. Plat. Phaid. 114; Greg. Nyss. anim. et res. 7, 3 (PG 46, 45b). Vgl. Bas. or. 22 (PG 85, 265a. 267a. 269a). Vgl. Ambr. sacr. 5, 34. Rahner (1964), 239 ff., 335 ff. Vgl. Hor. carm. 4, 15, 1 ff.; Prop. 3, 3, 15 ff.; Stat. silv. 4, 4, 87 ff.; Claud. rapt. Pros. prooem. Vgl. SaintDenis (1935), 319, 365; Heydenreich (1970), 59 ff. Vgl. Cic. ad fam. 16, 24, 1. Vgl. Köster (1923); Casson (1971); Wachsmuth (1975); Höckmann (1985); Meijer (1986); Horden/Purcell (2000); Schulz (2005 I) mit einem ausführlichen Forschungsüberblick; Schulz (2005 II). Hier ist z. B. auf Zeugnisse aus Ägypten zu verweisen; vgl. Casson (1971), 11 ff.; Höckmann (1985), 9 ff.; Meijer (1986), 1 ff.; Nissen (2001), 160.
« $0$ Schiffe als Unheilsbringer in der antiken Literatur
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übernationale Sache, was bewirkte, dass die einzelnen Schiffstypen wenige Abweichungen aufwiesen; dies konnte mitunter in Seeschlachten absichtliche oder unabsichtliche Verwechslungen hervorrufen. In klassischer Zeit setzte man Kriegsschiffe nur an der Küste ein, die größeren Handelsschiffe waren dagegen schon hochseetauglich, und die Strecke von Ostia nach Gibraltar, die immerhin 935 sm beträgt, konnte bei günstigen Bedingungen in etwa 7 Tagen zurückgelegt werden.17 Spielte die Seefahrt sowohl in strategischer Hinsicht eine enorme Rolle als auch für den Handel, d. h. vor allem für die Getreideversorgung, so war die Beziehung zu ihr doch immer von Ambivalenzen bestimmt.18 Die Gefahren waren immens, im Winter (Nov.-März) wagte man sich in der Regel nicht hinaus, die Wiederaufnahme des Verkehrs im Frühjahr war seit dem 3. Jh. v. Chr. mit Sakralakten verbunden,19 wie überhaupt Glaube und Aberglaube die Seefahrt wie wenige andere Bereiche bestimmten. Gefürchtet blieb der Schiffbruch, und weit verbreitet ist das Motiv der Angst, als Ertrunkener keine rituelle Bestattung erhalten zu können.20 Die Ambivalenz im Verhältnis zur Seefahrt war demnach stark, und es verwundert nicht, dass sie sich in der Literatur niedergeschlagen hat; vielleicht am deutlichsten in dem berühmten Chorlied der sophokleischen Antigone aus dem 5. Jh. v. Chr. (332 ff.; ed. Pearson): ξ $