STUDIEN ZU JUDENTUM UND CHRISTENTUM
Das Buch stellt die in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen entwickelten Vor...
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STUDIEN ZU JUDENTUM UND CHRISTENTUM
Das Buch stellt die in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen entwickelten Vorstellungen von Apokalyptik und Apokalypse in einen interdisziplinären Zusammenhang. Bibel- und Religionswissenschaftier, systematische Theologen, Philosophen, Althistoriker und Literaturwissenschaftier analysieren aus ihrem jeweiligen Blickwinkel exempl~risch ausgewählte Texte und fragen nach der spannungsreichen Beziehung dieser Texte' zur Apokalyptik. Im ersten Teil des Bandes werden unte~schiedliche Zugänge zum antikewB.uch Daniel erprobt, dessen apokalyptische Vorstellungsweit auch die christliche Tradition stark geprägt hat. Der zweite Teil geht im Anschluß an Jacques Derridas Apokalypsedeutung der Frage nach, inwiefern die Aufklärung des 18. Jahrhunderts ein besonderes Verhältnis zur Apokalyptik unterhält. In diesem Zusammenhang werden prominente Texte von Herder, Lessing und I(ant analysiert. Das Buch wendet sich an Theologen, Religionswissenschaftler, Philosophen, Historiker und Literaturwissenschaftler sowie an alle, die an dem Phänomen Apokalyptik interessiert sind .
Die Herausgeber: Jürgen Brokoff, geb. 1968, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistischen Seminar der Universität Bonn. Veröffentlichungen u. a.: Die Apokalypse in der Weimarer Republik, . München 2001; Apokalypse und Erinnerung in der deutsch-jüdischen Kultur des frühen 20. Jahrhunderts , hg. v. Jürgen Brokoffu. Joachim Jacob, Göttingen 2002; Politische Theologie. Formen und Funktionen im 20. Jahrhundert, hg. v. Jürgen Brokoff u. Jürgen Fohrmann, Paderborn 2003. Bernd U. Schipper, geb. 1968, Dr. theol., M.A., ist Juniorprofessor für Bibelwissenschaften und Religionsgeschichte am Studiengang ReligionswissenschaftjReligionspädagogik der Universität Bremen. Veröffentlichungen u. a.: Israel und Ägypten in der Königszeit, GöttingenjFribourg 1999; Apokalyptik und Ägypten. Eine kritische Analyse der relevanten Texte aus dem griechisch-römischen Ägypten, hg. v. Andreas Blasius u. Bernd U. Schipper, LeuvenjParisjSteriing 2002
ISBN 3-506-72367-7
Brokoff / Schipper (Hg.) Apokalyptik in Antike und Aufklärung
STUDIEN ZU JUDENTUM UND CHRISTENTUM HERAUSGEGEBEN VON JOSEF WOHLMUTH
2004
Ferdinand Schöningh Paderborn . München· Wien· Zürich
••
JURGEN BROKOFF/BERND U. SCHIPPER (HG.)
Apokalyptik in Antike und A
2004
Ferdinand Schöningh Paderbom . München · Wien · Zürich
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Umschlagabbildung: Papyrusfragment mit Temusschnitt Dan 7,6-8, pKölnTheol 22v (erstellt im Projekt >lDigitalisierung der Kölner Papyrusbestände« mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Förderungsprogramms IRetrospektive Digitalisierung von BibliotheksbeständenApokalyptik:< zeichnet sich nicht durch eine bestimmte Geisteshaltung aus, sondern erweist sich als eine sprachliche StruktUT.
Stehen sich somit auf literaturwissenschaftlicher Seite mindestens zwei Möglichkeiten, >Apokalyptik< zu denken, gegenüber, so ist dies im Rahmen der bibelwissenschaftlichen und religionsrustorischen Forschung nicht anders . Der Grund hierfür liegt nicht zuletzt im Begriff selbst. Das griechische Wort Ct1tOXcXAIJo/tC;;, fmdet sich zwar in einigen antiken Texten (prominentestes Beispiel ist der Prolog der Johannesoffenbarung, Off. l , l),jedoch bezeichnet sich keiner dieser Texte als >ApokalypseApokalyptik, Apokalypse< letztlich um wissenschaftssprachliche Kunstworte 7 • die als solche zwangsläufig höchst unterschiedlich bestimmt werden können. 8 Das Tertium comparationis der verschiedenen Defmitionsversuche besteht allein darin, dass sie jeweils durch Zuordnung oder auch Ausgrenzung bestimmter Texte zu ihren Begriffsbestimmungen kommen; es handelt sich - methodisch gesprochen jeweils um die Ergebnisse spezifischer LektÜTeverfahren. An diesem Punkt setzt der vorliegende Band an. Er möchte zu einer Klärung der Begriffsbildung beitragen und der Verwendungsweise der Begriffe in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen nachspüren . Ziel ist es, die in denjeweiligen Fachdisziplinen entwickelten Vorstellungen und Konzepte von >Apokalyptik< in ein interdisziplinäres Gespräch zu bringen. 9 Dabei werden bewusst Fachwissenschaften miteinander korreliert , die Texte zum Gegenstand haben und sich mit TextIektüren befassen. 10 Diese TextIektÜTen sollen einander gegenüber-
S Vondung, a.a.O., 48.
6 Dazu J. Brokoff, Die Apokalypse in der Weimarer Republik, München 200 J. 7 P. Vtelhauer, Geschichte der urchristlichen Uteratur, BerlinlNew York 21978, 486. 8 Vgl. dan- F. Dexinger, Henochs Zehnwochenapokalypse und offene Probleme der Apoka1yptikforschung, Leiden 1977 (StPB 29), 6f. und den knappen Überblick zu verschiedenen Dcfmitionsversuchen bei Bedenbender, Gott, 33- 6l. 9 Damit unterscheidet sich das Anliegen dieses Bandes von anderen Versuchen, wie z. B. dem Sanunelband von W. Bader (Hg.), ))Und die Wahrheit wurde hinweggefegt«. Daniel 8 Linguistisch interpretiert, TübingeniBasel 1994 (fHLI 9), der zwar verschiedene Lektüreverfahren bietet, jedoch nicht den Apokalyptikbegriff als solchen the matisiert. 10 Vgl. zu )Apokalyptik( und Messianismus im ethnologische n Bereich W.E. Mühlmann, Qliliasmus und Nativismus. Studien zur Psychologie, Soziologie und historischen Kasuistik der Umsturzbewegungen, Berlin 2 1964 und als Fallbeispiel A. Lommel, Der ))Cargo-Kuh« in Melanesien. Zeitschrift für Ethnologie 78 (I953) 17-63.
Einleitung
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gestellt werden. Bibel- und Religionswissenschaftier, Dogmatiker, Philosophen, A1thistoriker und Literaturwissenschaftier untersuchen von ihrem Blickwinkel aus ein Corpus ausgewählter Texte und stellen so exemplarisch ihr jeweiliges Lektüreverfahren vor. Die skizzierte Fragestellung soll in der Folge anband der Lektüre von vier Texten untersucht werden. Diese Texte stammen aus zwei unterschiedlichen Bereichen, die bislang in dieser Form noch nicht Gegenstand einer Untersuchung waren: Das Phänomen der Apokalyptik soll an einem antiken Text und an drei Texten der Aufklärung untersucht werden.
I. Antike Apokalyptik Für den Bereich der Antike wurde das alttestamentliche Buch Daniel ausgewählt, das seit Beginn der bibelwissenschaftlichen Apokalyptikforschung immer wieder Ausgangspunkt einer inhaltlichen Bestimmung dessen war, was von bibelwissenschaftlicher und religionshistorischer Seite aus unter ~Apoka lyptik< verstanden wird. II Bereits der Begründer der modemen Apokalyptikforschung, Friedrich Lücke, ging in seiner wegweisenden Studie zur Offenbarung des Johannes aus dem Jahr 1832 auch auf die andere »apokalyptische Litteratur« seiner Zeit ein und äußerte sich dabei u.a. zum alttestamentlichen Danielbuch. 12 Dabei bestimmte Lücke den von ihm geprägten Begriff )Apokalyptik< als die Enthüllung zukünftiger, am Ende der Weltperiode eintretender Ereignisse. Apokalyptik bezeichnet >~nicht bloß das Bekanntmachen des Verborgenen überhaupt, sondern, vorzugsweise auf das Geheimnis (!Luaflpwv) {sic!] des göttlichen Reiches oder des göttlichen Heiles bezogen, die Enthüllung eben dieses Geheimnisses auf dem Grund göttlicher Offenbarung«. 13 Während Lücke den Schwerpunkt auf die Offenbarung des Johannes legte, nahm sein FachkoUege Adolf Hilgenfeld vor allem das Danielbuch in den Blick. Hilgenfeld interessierte sich rur die »geschichtliche Entstehung der Apokalyptik« und sah diese wesentlich durch die »Verflechtung« der Geschichte des jüdischen Volkes mit der Geschichte der sie umgebenden Weltreiche bestimmt. 14 Beide Forscher, Lücke und Hilgenfeld, bereiteten durch ihre Arbeiten den Boden für alle weitere Forschung zum Thema. Dabei standen über ein Jahr11 Vgl. daVJ den forschungsgeschichtlichen Überblick bei J.M. Schnlidt, Die jüdische Apokalyptik.
Die Geschichte ihrer Erforschung von den Anfangen bis zu den Textfunden von Qumran, Neukirchen-Vluyn 21976. 12 Commentar über die Schriften des Evangelisten Joh. IV, I. Versuch einer voUständigen EinJeitung in die Offenbarung Johannis und in die gesammte apokalyptische Uneratur. Bonn 1832 (2 1852). 13 Lücke, a.a.O., 23. 14 Die jüdische Apokalyptik in ihrer geschichtlichen Entwickelung, Jena 1857. Auszüge daraus sind wiederabgedruckt bei K. Koch/J.M. Schmidt (Hg.), Apokalyptik, Dannstadt 1982 (WdF 365), 41 - 54.
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Jürgen Brokoff/ Bemd U. Schipper
hundert lang vor allem die )biblischen< Apokalypsen, namentlich das Daniel· buch und die Offenbarung des Johannes, im Mittelpunkt des Interesses. Dies änderte sich erst Mitte des 20. Jahrhunderts mit der Entdeckung der Qumrantexte. Durch die Funde neuer aramäischer Fragmente des Henochbuches ergab sich ein völlig anderes Bild. Es zeigte sich, dass die frühen Texte der Henochtradition, wie z. B. das astronomische Buch. das Wäcbterbuch, die TIervision und die Zehnwochenapokalypse zum Teil bis ins 3.Jh. v.ehr. datieren und somit deutlich ä1ter sind a1s das biblische Danielbuch,ls Wenn in diesem Band nun wieder beim Danielbuch eingesetzt wird, so soll dies keine Rückkehr zu einem längst überholten Forschungsstand darstellen, der sich zudem in den Grenzen des biblischen Kanons bewegt. Vielmehr gilt
es generell zu bedenken, dass die antik-jüdische Apokalyptik weder allein an biblischen Texten festgemacht werden kann, noch bibelwissenschaftlich enggefiihrt werden darf. Eine Sichtweise, welche die apokalyptischen Schriften des antiken Judentums einlinear aus dem Alten Testament herleitet und genauso eindimensional ins Neue Testament überführt 16, ist angesichts der Breite der apokalyptischen Literatur des antiken Judentums forschungsgeschichtlich überholt. 11 Andererseits war jedoch das Danielbuch für die Entwicklung der Apokalyptikforschung nicht nur besonders prägend, sondern bildet auch den Ausgangspunkt einer Rezeptionsgeschichte, die über das Neue Testament bis in die christliche Tradition wirkt. 18 Gerade die Vision von den vier Tieren in Dan 7 hat alle weitere Apokalyptik stark geprägt, angefangen von der Offenbarung des Johannes (Offb 13) über die mittelalterliche Eschatologie bis hin zur jüngeren europäischen Religionsgeschichte. 19 So bietet es sich an, die Danielvisionen in den Mittelpunkt der Textlektüren zu stellen, wobei die einzelnen Beiträge zeigen, dass rur die Erhebung dessen, was man unter )Apokalyptik< verstehen kann, der Blick über die Kanongrenzen des Alten oder Neuen Testaments hinaus erforderlich ist. 15 Grundlegend dem F. Garcia MartinezJE.T.C. Tlgchelaar, The Books of Enoch (I Enoch) and the Ar.unaic Fragments from QUmnllI, RQ 14 (1989/90) 141 - 146.
16 Beispielhaft sei an den berühmten Satz des Neutestamentlers Ernst Käsemann erinnert, nach der die Apokalyptik die »Muner aller christlichen Theologie« ist, was letztlich in einer Sichtweise begründet war, welche die Botschaft Jesu vom nahenden Gottesreich allein vor dem Hintergrund der apokalyptischen Tradition bestimmen wolhe. vgl. dazu K. Müller, Art. lApokalyptikl Apokalypsen 111zwischentestamentlicherGeschichtee weder real abgebildet noch konstruiert wird . Geschichte erscheint im Horizont der durch Gort gewirkten Weltordnung und bekommt dadurch eine Funktion jenseits bloßer Ereignisgeschichte. >Geschichte< wird in apokalyptischen Texten zur Sinngeschichte. 20 Besteht somit das Spezifikum einer theologischen Lektüre der Geschichtsentwürfe des Danielbuches gerade in der Betonung der essentiellen Verbindung von Ereignisgeschichte und göttlicher Metahistorie, so versucht der Historiker an dieser Stelle scharf zu unterscheiden. Der Althistoriker und Ägyptologe Andreas Blasius thematisiert in seinem Beitrag den Umgang mit dem Danielbuch im Rahmen der althistorischen Forschung und liefert damit zugleich einen Einblick in die Auseinandersetzung und lnstrumentalisierung des Danielbuches in antiken und aktuellen Diskursen. Die Beantwortung der Frage, ob die im Danielbuch geschilderten Ereignisse >wahr< oder >unwahr< sind - und somit die Beantwortung der Frage nach dem profanhistorischen Gehalt - kann zur Bewertung eines Autors als glaubhaft oder nicht-glaubhaft führen. Dementsprechend wurde sie im anti- bzw. prochristlichen Konflikt des ersten bis
20 Zum Beg. iff der Sinngescruchte vgl. J. Assmann, Ägypten. Eine Sinngescruchte. MünchenlW!en 1996. 11.
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Jürgen Brokoff/ Bemd U. Sdlipper
dritten Jahrhunderts n. Chr. vielfach diskutiert (Porphyrios, Adversus Christianos 12). Blasius untersucht den realhistorischen Charakter der apokalyptischen Geschichtsentwürfe. Interessant ist dabei der Umgang der Historiker mit den Texten selbst. Es scheint die Eigenart der apokalyptischen Geschichtsentwürfe auszumachen, dass diese vom Leser auf die eigene Zeit bezogen werden können . So sieht etwa der jüdische Historiker Josephus auch die Zerstörung des sogenannten zweiten Tempels im Jahr 70 n . ehr. im Danielhuch angekündigt, d. h. er betrachtet den Danieltext nicht einfach als einen Geschichtsentwurf aus ferner Vergangenheit, sondern bezieht ihn auf die eigene Zeit. Dabei vollzieht sich hier in der Praxis das, was der Beitrag von Stefan Beyerle in bezug auf die Theorie betont hat: Apokalypsen sind Sinngeschichten und fungieren als hermeneutische Schlüssel zur Deutung aktueller Welterfahrung. Letztlich stehen sich damit zwei im Grundansatz völlig entgegengesetzte Formen des Umgangs mit dem Danielbuch gegenüber: einerseits der Ansatz des Josephus, der die Danielapokalypse auf seine eigene Zeit bezieht und zur Sinn stiftung erlebter Geschichte heranzieht, und andererseits der Ansatz des Porphyrios, der im DanieJbuch keine Möglichkeit der Gegenwartsdeutung sah, sondern vielmehr durch die Untersuchung der )Profanhistorie( und Ereignisgeschichte die Dignität der Apokalypse anzweifeln wollte. Der Religionshistoriker und Ägyptologe Bemd U/rich Sdllpper vertritt in seinem Beitrag einen religionsgeschichtlichen Ansatz. Dabei korreliert er zwei Texte, die in dieser Form bislang noch nicht miteinander verglichen wurden : Daniel 7 und das sogenannte )Lamm des Bokchorisbegründet< werden kann . Die entscheidende Frage für die Theologie lautet, ob durch solche philosophischen Interpretationsversuche die dogmatische Lehre von den letzten Dingen erledigt sei. Karl Rahners christologisch gefasste Eschatologie und die »unzeitgemäße« Apokalyptik von Rahners Schüler Johann Baptist Metz scheinen eher auf das Gegenteil hinzudeuten. Dabei stellt die Re-Apokalyptisierung der Theologie nicht notwendigerweise eine Rückkehr vor die Aufklärung dar. Es könnte nämlich sein, dass damit nur der zwischenzeitlich stillgelegte ethische Impuls der Apokalyptik wieder aufgegriffen wird.
TEILA: DAS BUCH DANIEL ALSP IGMA ANTIKER APOKALYPTIK
STEFAN BEYERLE
Die apokalyptische Vision in Daniel 8 J.
Hinfiihrung
Theologische Bedeutung bezeugen die Traditionen des apokalyptischen Danie)·
buchs in diversen Bezugssystemen, die wiederum sehr unterschiedliche Methoden bemühen. Etwa auftextgeschichtlicher Ebene können die Textgestalten aus Qumran sowie der Masoreten, der SephJaginta oder der Syriaca in ihrem Entstehungs- und Deutungsrahmen profiliert werden. Daran anschließend wären kanon- und rezeptionsgeschichtliche Aspekte zu beachten.' Außerdem sollte das bereits an terminologischen Eigentümlichkeiten (vgl. nur tz:Ilto' i~:l in Dan 7,13)' festgeschriebene mythologische Inventar in Dan 7- 12 Beachtung finden. So stellen die Anspielungen auf Heilsbringer. verortet »)zwischen Gott und Mensch«, den immer wieder betonten messianischen Aspekt im apokalyptischen Denken vor Augen. J Sodann wäre die besondere historische Situation zu beachten. Auch die ältesten Apokalypsen des äthiopischen Henochbuchs dürften nicht sehr weit in das 3. Jahrhundert v. Chr. zurück reichen. Somit entstammen die antik..jüdischen Apokalypsen einer Epoche, in der zwei »Kulturen«, »Judentum« und »HeUenismus«4, aufeinander stießen. Die lebenswirklichkeit und die damit eng verknüpfte Krisenbewältigung der Apokalyptik lässt den Blick also zunächst auf Traditionszusamrnenhänge aus heUenistischer Zeit und Kultur gerichtet sein. Die folgenden Ausführungen können natürlich nur einen Einblick in die traditionsgeschichtlichen Verweisungszusamrnenhänge des apokalyptischen Danielbuchs geben . Der gewählte geschichtstheologische Schwerpunkt begründet sich durch drei Beobachtungen: Zum einen legen Apokalypsen insgesamt signifikant ihr besonderes Augenmerk auf geschichtliche Erinnerung (vgl. nur die Zeh"woche"apokalypse [äthHen 93,1 - 10; 91,11 - 17] oder die Tierapokalypse I vgl. K. KDch, Kanonisierung, v.a. 9- 25. 2 Vgl. hierzu vorläufig K. Beyer, in: dersi l. Kotuieper, Art. t%ilM, 61. ) AUerdings fiillt auf, dass die i1teste jüdische Apokalyptik keinen eindeutigen messianischen Beleg ausweist; die Bedeutung des »weiBen BulJen41 in äthHen 90,37 ist höchst umstritten (vgl. die Diskussion bei G .w.E. Nickelsburg, I Enoch I, 406f). Möglicherweise ändert sicb dies erst unter christlichem Einfluss (vgl. etwa 4. Esr 13,1- 3 u. die Bildeiltdetl in itbHen 37- 71). Trotz der t~ logisch engen Verknüpfung von Messianismus und Apokalyptik (vgl. J. MoJtmann, Kommen, 167- 182) saUte man neutraler die Funktionen einer Heilsmittler-Gestah im apokalyptischen Kontext beachten (vgl. etwa zur Fortschreibung der Tradition um den »MenschensohM C.H.T. Aetche,...Louis, Revelation, 247-298). 4 Vgl. zur PlOblematik dieser Unterscheidung jetzt JJ. Collins, Cult. v. a. 38-42, 52-55.
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Steflm Beyerle
[äthHen 85- 90]). Dann bietet auch das Danielbuch selbst in Dan 2; 7 und 1012 einen entsprechenden Entwurf. Zum anderen schließlich fmdet und fand die Geschichtskonzeption der Apokalyptik und vor allem des Danielbuchs in der Forschung besondere Berücksichtigung. S Hinzu kommt ein explizit theologisches Problem: UntersteUt man doch der antik-jüdischen Apokalyptik seit langem die Abwesenheit Gottes in ihren Geschichtsentwürfen. Eine Mutma-
ßung, die zumindest im deutschsprachigen Raum zur häufigen Missachtung oder Abwertung jenes Schrifttums im Kontext einer alttestamentlichen Theologie geführt hat. 6 Demgegenüber wäre schon an clieser Stelle festzuhalten : Gott begegnet in apokalyptischen Texten zwar trallSze"dien, jedoch niemals vom kosmischen Geschehen suspendiert. Neben seiner Bedeutung für die Traditionen der Apokalyptik besticht das Thema der )~Geschichte{( also auch durch seine besondere theologische Brisanz.
2. Die Danielapokalypse als geschichlslheologisches Werk Apokalyptik reflektiert Geschichte, i. S. v. »Geschehenem«, verweist dabei sowohl auf die Heilsgeschichte des Gottesvolkes als auch auf Ereignisse ihrer unmittelbaren Zeitgeschichte. 7 In diesen Zusammenhängen reflektiert das Geschichtskonzept auf Eindeutigkeit - auch wenn uns diese Eindeutigkeit nicht selten versteUt bleibt. Vom Standpunkt des »realen AutorsTheolcratie« und »Eschatologie« in Geltung weiß. 11 Dagegen haben rezente Untersuchungen den engen Bezug zahlreicher Apokalypsen zu priesterlich-kultischen Themen aufgewiesen (vgJ. nur äthHen 6- 11), womit eine Überwindung jener Trennung einherginge. 32 Die leicht unterschätzte Bedeutung des ,~cn-Opfers in der Daniel-Apokalypse passt also durchaus in das Bild, das andere jüdisch-apokalyptische Überlieferung im Blick auf priesterliche Themen zeichnen. Auch apoka1yptische Weltdeutung bedarf der Gottesnähe, die nicht unmittelbarer und zugleich angefochtener als im Opfer bzw. der kultischen Begehung abbildbar ist. Schon diese wenigen Anmerkungen, die den )U rnweg« über das Opfer einschlugen. zeigen, wie unsachgemäß die Rede von einer »Geschichte der Gottlosigkeit« in apokalyptischen Traditionszusammenhängen ist.
3.2 Die Geschichte als Vision in Dan 8 Die literarische Konzeption des Danielbuchs erweckt den Eindruck, die endzeitlich orientierte Geschichte sei nur in ihrer Wiederholbarkeit plausibel zu machen . Neben der Wiederaufnahme der Vier-Weltreiche-Idee aus Dan 2 in Kap. 7 wird auch die nähere Vergangenheit des Visionärs gleich zwei Mal thematisiert. EinmaJ ausführlich in der umfassenden Sch1ussvision (Dan 10- 12), dann zuvor im hier interessierenden Kap. 8. Trotz aller Differenzen in den Einzelheiten haben alle vier Geschichtskompendien eine Gemeinsamkeit: Sie sind aJs (Traum-)Visionen und somit aJs vaticinia ex eventu gestaltet. Geschichte hat also neben dem »realen« Standpunkt des Erzählers auch jenen »fiktiven« des Protagonisten Daniel. Und zur »apokaJyptischen« Geschichtsschreibung gehört außerdem, dass der Standpunkt des Erzählers im Erz.ählziel noch überboten wird. Jeweils ist die der Anfechtung ausgesetzte Situation des oder der Tradenten durch ein transcendens eingeholt und damit überwunden. Letzteres markiert beim Vergleich von Dan 10- 12 mit Dan 8 eine auffaIlige Differenz: Während nämlich die Vision von Dan 10-12 auf das Ziel der Auferstehung (I 2, 1- 3) hin ausgerichtet ist, hat Dan 8 die Restauration des Tempelkults nach dem Eingriff unter Antiochus IV. im Blick (vgl. V. 14: »Abende - Morgen,
31 Vgl. dazu O. Plöger, Theokratie, passim. 32 Vgl. dazu jetzt M. Himmelfarb, Ascent. v.a. 25-28 mit 125f. [Anm.l. wo sich die Autorin mit den "Thesen Plögers und P.D. Hansons auseinandel'setzl. Zum »Sitz im Leben« von Dan 8 formuliert JJ. CoUins, Daniei, 343: »... tbe central ooncem with the desecration of the temple does not necessari1y require that the authol' was a priest, but it bespeaks a stl"Ollg and immediate interest in the Jerusalem cuh.«
Die apokalyptische VISion in Daniel8
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2.300« 33). 34 Wollte man ausschließlich die )Transzendierung einer geschichtlichen Situation« zum Kriterium der Gattung »Apokalyptik« erklären. könnte streng genommen die zweite Vision der Daniel-Apokalypse nicht dem Genre genügen. sondern wäre eher der Idee der Restauration verpflichtet. Doch griffe letzte Schlussfolgerung zu kurz. Denn die Vision vom Widder und vom Ziegenbock betont am Ende den Geheimnischarakter des Geschauten. das fiir das Ende der Zeiten bestimmt sei (V. 26), dem sich der Tradent des Kapitels nahe wähnt." Dies bedeutet, dass die Heilshoffnung durch die Einbindung in ein durch Engel zu offenbarendes Geheimnis die vorfindliche W"trklichkeit übersteigt und damit über rein restaurative Ziele hinausgeht. 36 Schließlich bietet das Inventar an Bildern in Dan 8 Verweise auf kosm~ logisch-mythologische Sinnzusammenhänge. 37 Zum einen zeigt die Tiennetaphorik (Widder" '" und Bock/'"Ol) Anklänge, die die babylonische Astrologie in altpersischer Rezeption erinnern, wo beide Capriden als Namen von Sternbildern im Zodiakus bekannt sind. 38 Andererseits entwickelt Dan 8 eine Angelologie. die auf die Kap. 10-12 vorausweist. Da erscheint zunächst der Deute-Engel Gabriel in einer Angelophanie (Dan 8,15- 18; vg!. 9,21; 10,10- 13).
33 Vgl. aber auch die Angabe ...on »1.290 Tagen« für die Zeit (Dan 12,11), da der Opferkult in Jerusalem unmöglich war; an der Spekulation über die (Be-)Deutung der Angaben beteilige ich mich nicht. Erwähnt sei aber der Vorschlag O . P1ögers (...gI. ders .. Buch, 127, 130), der einerseits darauf ...erweist, dass die sich aus der Zeitangabe in Dan 8,14 ergebenden 1.1SO Tage annähernd mit der Zeit der Tempel-Entweihung (168/ 67- )65 /64 .... Chr.) übereinstimmen. Dann wäre fUr den historischen Standpunkt des Verfassers das Ende des genannten Zeitraums zu erwägen, da bei eits die enten militärischen Erfolge der Makkabäer die Hoffnung auf die Wledereinweihung des Jerusalemer Tempels nährten. Als zweite Interpretatkmsmöglichkeit erwägt P1öger, ob durch die Situierung am Ende der neubabylonischen Herrschaft unler 8elschazzar (...gI. Dan 5,1ff.; 8,1) nicht die Zeil zwischen der Entweihung der Tempelgeräle durch den Fremdherrscher und dem Kyros-Edikt gemeini sein könnte. 34 Vgl. hierzu J.1. Collins, Meaning, 163, und zuletzt G. Boccaccini, Calendars, 32tr., der diese Beobachtungen zu weiler reichenden Schlüssen für eine Unterscheidung in »henochische« und »danielische« ApokaJyplik nutzt. 35 Die FonnuJierung zur Bezeichnung einer langen zeitlichen Distanz in Dan 8,26, O'Y' 0'1:)" , begegnet zwar noch prophetisch (...gI. Ez 12,27), muss aber ruchl notwendig ein eschat010gisches Zeitmaß assoziieren, wie ihr Gebrauch etwa in einem kultischen Zusammenhang des Qumrantextes 4QTeharoi A (4Q274) Frgm. I, KoJ. I, 6 zeigt (s.u., bei Anm.. 62r.). 36 Zu ono vgl. neben Dan 8,26 noch Ps 5 I ,8; Dan 12,4. Außerdem wäre in diesem auf die Engel-Epiphanie in Dan 8,15- 18 zu verweisen (5.0 .. im Text). 37 Vgl. dam die AufaJbeilung der Metaphorik in Dan 8 (und Kap. 7) durch PA Porter, Metaphors, v.a. 3-42, der allerdings den mesopotamischen Vergleichstexten zu viel zutraut. 38 Vgl. daVJ PA. Porter, Metaphors, 36; K. Koch, V-'siOJUbericht, 151; S.Niditch, Vision, 227. JJ. Collins. Daniel, 330. gtbt allerdings zu bedenken, dass die ldentifmerung des Ziegenbocks mit dem gtie ch. Syrien in den astro1ogischen Quellen nicht 1ll Dan 8 passt, da dort Alexander als Reprä.sentanl identifiziert wird und nicht die Diadochen (...gI. V. 5.8.21). Außerdem bleibt unsicher, ob den Daniel-Tradenten die entsprechenden Vorstellungen geläufig waren (eher zurückhaJtend auch o. Plöger. Buch, 124: S.B. Reid, &och, 97: llhar-dly convincing«).
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S Ie/an Beyerle
Weiterhin »überhebt« sich in der Vision das »k1eine Ho rn«, also Antiochus IV. (s.o.), und macht sich groß bis zum »Himmelsheer« (V. 10: o~o!Z)i1 M:l:I), wirft
einige aus dem »Heer« sowie von den Sternen (O~:l~D) zur Erde.]9 Sodann reicht der Fremdherrscher bis zum »HeeresfUrsten« (V. 11 : H:lliT "iV), dem er das tägliche Opfer entreißt. Ganz unabhängig davon, ob man jenen »Heeresfijrsten~( nun mit dem Engel Michael oder mit Gott identifiziert 40, wird schon hier deutlich, dass Dan 8 nicht nur durch die fonnale Einbindung in ein Visionsgeschehen, sondern auch mit Hilfe von Engeln und ihrer Funktionalisierung eine »Transzendierung« von Geschichte erzielt. Schließlich fügt Dan 8, 13 4 1 eine U nterredung zwischen Engeln (~"i') ein und wiederholt das Vergehen am »Heiligtum« (tD,p) sowie am »Heer« ("'::13), bevor in der Deu]9 AJs Anfechtung der Ausschlteßlichkeitsforderung begegnet das )l Himmelsheer« mit den »Sternen« noch im )lMKlrasch« zum zweiten Gebot (Dtn 4, 19). Entsprel . Zur EngelterminoJog:ie und den himmlischen Heiligtümern (sie!) in den Sabbalopferliedem vg!. C.A. Newsom in J.H. Charlesworth/dies.. üturgy. 6-8.
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Stefon Beyerle
samen Ort« zugewiesen erhält. 51 Darüber hinaus ist eine sehr viel spezifischere Gemeinsamkeit zu benennen:
Gleich an mehreren SieDen erwähnen die Abschriften aus Qumran die Vokabel "n:Ii1, und zwar entsprechend Dan 8 absolut. 52 Allerdings reduziert sich bei genauerer Hinsicht das Vergleichsmaterial durch die Zuordnung der Fragmente und den Wortart-spezifischen Gebrauch der Wurzel ,"on: So bieten zwei Fragmente (4Q403 Frgm. I, Kol. I, 22 und 4Q405 Frgm. 3 [',bJ, Kol. 11, 14) lediglich verschiedene Abschriften eines Textes. 53 Zusammen mit den verbleibenden Texten in 4Q405 Frgm. I3 [',bJ, 6"; II QI 7 Frgm. 12-15, Kol. 11 [VIJ, 8 und 4Q405 Frgm. 20-22, Kol. 11, I I ss wären .Iso insgesamt nur vier unabhängige Bezeugungen festzuhalten. Schließlich kö nnen zwei Bezeugungen, die ,"on adverbial, i. S. v. »beständig«, gebrauchen (vgl. 11 Q 17 Frgm. 12- 15, Kol. 11 [VIJ, 8 und 4Q405 Frgm. 20-22, Kol. 11, (1) fiir den Vergleich mit Dan 8 ausgeschlossen werden . Es verbleiben tUr den Opferterminus zwei Belege in den Sabbatopferliedern (vgl. 4Q403 Frgm. I, Kol. I, 22 par. 4Q405 Frgm. 3 [a,bJ, Kol. 11, 14; 4Q405 Frgm. 13 [a,h], 6), wobei die Textedition von C.A. Newsom den ersteren dem sechsten und 4Q405 Frgm. 13 dem lextzusammenhang aus dem achten Sabbatopferlied zurechnet. S6 Da die heiden Passagen nahezu gleichlautend fomlULieren, verweisen somit alle drei Bezeugungen, trotz Ideinerer Differenzen, auf einen Sinnzusammenhang. Dieser findet sich jedoch im gewichtigen Zentrum der Sabbatopferlieder, das C.A. Newsom in den Psalmen 6- 8 identifiziert. S7 In formaJ gleich gestaJteten, sich wiederholenden Segens- bzw. Lobsprüchen der sieben ~~Hauptfursten{( rahmen sechstes und achtes Lied den an der Spitze der pyramidenartigen Komposition stehenden siebten PsaJm , der wohl das Tempelinnere (dtbir) beschreibt. Die Gesamtkomposition der SabbatopferJieder bewahrt durch Terminologie und Themen stets ihren Bezug zum Kultischen,
SI Die Rekonstruktion von C.A. Newsom (in l .H. Charlesworthldies~ Liturg)'. 168) ordnet das Fragment dem achten Sabbatopferlied zu. Zum himmlischen Opferdienst der 0 "'1:' im antiken Judentum vgl. B. Ego. Diener, v.a. 361-365. S2 Es handelt sich um die folgenden Bezeugungen: 4Q403 Frgm. I, Kai. I. 22; 40405 Frgm . 3 Ia,bl. Kat 11. 14: 40405 Frgm. 13 Ia,bl. 6; 40405 Frgm. 20-22. KaI. 11. 11: 11QI 7 FlgJ.Ii. 12- 15. KaI. 11 [VII, 8: zur Zuordnung der Fragmente s.o. S] CA Newsom (a.a. O.• 50r.. 76f.• 158r.). ordnet die Fragmellte dem sechsten Sabbatopferlied w. S4 Nach C.A. Newsom., •.• . 0 .• 86f., l72f., gehört dieses Fragment zum achten Sabbatopferlied. SS Dieses Fragment begJejft C.A. Newsom• •. a.O .. 94f~ 182f.• als Teil des zwölften Sabbatopfer-
lieds. S6 Vgl. insgesamt die Rekonstruktion bei CA. Newsom, a.3.0 .. 154- 161 , 168- 173, und zur Identirlzierung der drei Fragmente ebd., 50 [mit Anm.55 f.1. 761mit Anm.29J. 861mit Anm.95J. 158. 172. S7 Vgl. zum Folgenden C.A. Newsom••.• .0., 3f.
Die apokalyptische Vision in Daniel 8
39
jedoch in einem himmlischen Heiligtum verortet. 58 Entsprechend nimmt der sechste Segen des sechsten Lieds das Motiv des täglichen Opfers auf. Der Text lautet in Z . 54- 57: (54) Der sechste unter den Hauptfürsten (t!:!1i "",.t!:!:l:::l) wird im Namen der Macht der Göttergestruten (0"'" [n]",::n) segnen alle. die machtvoUe Einsicht haben, mit sieben (55) Worten seiner Wunderkrafl. Und er wird aUe segnen, deren Weg vollkommen, mit sieben Wunderworten, aJs tägliches Opfer für alle kommenden (56) Weltzeiten (O[']c('Uj'"1i1 ,,;, OY ,·on'). Und er wird al1e die segnen mit sieben Wunderworten, die auf ihn warten, um der Rückkehr der Barmherzigkeiten seiner Gnadenerweise willen.
Im Vergleich mit Dan 8 (v.a. V. IO- 12.13- 14) zeigt sich eine eigentümliche »Distanzierung( vom Kult, die beide Texte durch die Verknüpfung der genannten Motivkomplexe »Engelwesen« und »tägliches Opfer« erreichen. 59 Beide Traditionen sprechen nämlich streng genommen der Abschaffung des Opfers das Wort . Während dies Dan 8 ganz vordergründig unter Verweis auf das Ansinnen Antiochus' IV. deutlich macht, ergibt sich die »Distanz« zum Opfer in den Sabbatopferliedern erst aus dem Kontext, der mit ,'on nicht den konkreten Vollzug, sondern offensichtlich die »Spmtualisierung( der Liturgie insgesamt meint - man vergleiche etwa die Rede vom )}Hebeopfer ihrer Zungen« in Lied 8, Z. 9 (vgl. dazu 4Q403, Frgrn. I, Kol. 11, 26: C~'l'1Z>7 no,"m). Hinzu kommt noch die in Dan 8 und den Sabbatopferliedern betonte Einbindung der Geschehenszusammenhänge in die Engelsphäre, wodurch eine Jenseitigkeit zur Geltung kommt, die weitere »Distanz« scham. Eine »Distanz«, die sich von den zugrunde liegenden historischen Ereignissen abgrenzt. Während in Dan 8 die Tempelschändung Antiochus' IV. als historischer Ereignisrahmen dient, wollen sich die Sabbatopferlieder offenbar von der Opferpraxis am Jerusalerner Tempel abgrenzen .~ Um dem apokalyptischen Schema gerecht zu werden, tritt noch ein weiterer Aspekt hinzu. Sowohl die Deutung der Geschichtsvision in Dan 8 als auch das , ' on-Opfer in Lied 6 sind durch Engelmund eschatologisiert. Einmal rahmt Gabrie! seine Deutung vor Danie! durch den Hinweis, die Vision von der geschichtlichen Ergründung der Abschaffung des ,~on-Opfers sei ))fiir we Endzeit« (Dan 8,17bß: i"n~ fi' nY7) bzw. »fur die fernsten Tage« (Y.26bß: 58 Diese Feststellung gilt auch. wenn man mit Newsom u.a. den Liedern eher eine mystische denn liturgische Funktion unterstellt. S9 Allerdings muss festgehalten werden, dass sich die Funktion der Engel in Lied 6 bzw. 8 gegenüber Dan 8 direkt auf die, wenn auch im Segen »spiritualis~rt~ Opfergabe des ,"on bezieht, während sich im Danieltext nur eine Verbindung beider MotivkonsteUationen über die Frage in V. 13 f. eTglbt - wenn nicht der "':::Jm ,~ in V. I1 mit einem Engel zu identifIZieren ist (s. aber 0., Anrn.40). 60 Die in der Uedkomposition deutliche Abgrenzung muss nicht von Anfang an mit ))Cssenischen« Haltungen in Verbindung gestanden haben. Allerdings war den Qumraniten späterhin leicht möglich, jene kritische EinsteDung für ihr eigenes Selbstverständnis zu instrumentalisieren.
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Ste[aJI Beyerle
bestimmt. Zum anderen gilt das für den Segen stehende
,~on
Opfer nach Lied 6 »fur alle kommenden Weltzeiten« (c[']o['"Y] ",~ .,,~ CY). Zur »ax.iologischen Eschatologie« tritt nun auch die chronologisch orientierte »teleologische Eschatologie«, die dezidiert den Hoffnungsaspekt einbringt.61 Jeweils steDen die Belege eine Zeitperiode in Aussicht, die in ganz unterschiedlicher Weise aufgefasst werden kann. Insbesondere wäre zu fragen, ob je ein Ende der Geschichte schlechthin oder nur das Ende einer noch innergeschichtlich gedachten Wrrklichkeit vor Augen steht. 62 Der Unterschied zwischen Dan 8 und dem sechsten bzw. achten Sabbatopferlied besteht nun wohl darin, dass letztere durch die Verortung im himmlischen Tempel sich bereits in der neuen, transzendenten Wtrklichkeit wähnen und die eschatologische Hoffnung in Dan 8 sich zunächst noch auf das innerwe1tlich gedachte Ende der Tempelschändung bezieht. Sprachlich geht es in Dan 8 aJso nicht um das Ende von Geschichte schlechthin. 63 Diese apokalyptische Nuance ergibt sich erst in kompositorischer Perspektive: zum einen durch die Anbindung von Dan 8 an die Menschensohnvision (vgl. Dan 8,1 b), zum anderen durch kataphorische SignaJe wie die Konzentration der Geschichtsdarstellung auf Perser und Griechen 64. ja die zügige Zuspitzung auf das entscheidende Ereignis unter dem Seleukidenherrscher (vgl. Dan 8,10- 12 u. V.13f.), das in der folgenden visionären Schau (vgl. auch Dan 11,21-45) durch die Auferstehung erst seine »Lösung« finden wird (vgl. Dan 12,1 - 3).
61 Zum von P. A1thaus in die Diskussion eingefUhrten Begriff der »axiologischen Eschato logie« und
seiner Abgrenzung von der »teleologischen Eschatologiet( vgl. G . Oblau, Gottesu:it, 5-7. 62 Die Wendung fi' n» begegnet nur im (apokalyptische n) Danielbuch (vgl. neben 8, 17 noch 11 ,3 5.40; 12,4.9). Während es in Dan 12 jeweils um das Versiegeln der Botschaft »bis zur Endzeit« geht, vollzieht sich auch der Kampf des Kö nigs des Südens gegen den des Nordens in der »Endzeit« (11 ,40). Nach Dan 11 ,35 reinigen sich die »Weisen« in der Erwartung jener »Endzeit«. Damit deutet die Wortverknüpfung f i' n» im Danielbuch jene Periode an. die noch bis zum Ende der Krise unter Antiochus IV. ansteht (so J.1. Collins, Daniel, 337f. (u. ebd., 3891, der ein Verständnis i.S.v. p,nMi1 fi'i1 in lQpHab 7,7 nahe legt). 63 Vgl. dan! Dan 8, 19aß.b und die Anmerkunge n von P.L Redditl, Daniel, 142. Die obige Bedeutung bestätigt sich im Befund zu O' J ' 0' 0' (V. 26bß): Die Wendung beschreibt im AT lediglich eine lange Zeitspanne (vgl. Gen 21 ,34; 37,34; Num 9, 19 (4Q365 Frgm. 31a--c. 7]; Dtn 1,46 (4Q364 Frgm. 22. 2J: Jos 22,3: Jer 35,7; Hos 3,3f. u. TR 59.21; 4Q274 Frgm. I , Kol. 1, 6). Allerdings dürfte sich mit Dan 8.26 ein Wandel im Verständnis ergeben, auf den auch Ez 12.27 und 38,8 hinweisen. Letzter Beleg macht dies an der ParaUelisierung von 0' : :1 , 0' 0' mit O')"'i1 n·,n~ deutlich, auch wenn ein wirldiches »Ende der Zeit(( noch nicht gemeint sein kann (vgl. W. Zirnmerli, EV'Chiel. 949f.). Und auch das Wo rt aus Ez 12.27, wo es im Munde ~Israels«, wo hl der ExiJsgemeinschaft, heißt : »Oie Visionen, die er (i.e. Ezechiel] schaut, sind für viele Tage. und für feme Zeiten (mi',n, o-n::v) prophezeit er~ zielt auf eine Zeitauß"assung, die das Erwartete zumindest außerhalb der Wahrnehmung der H örenden verortet (vgl. Zimmer!i, a.a.O ., 279f.; außerdem JJ. Collins, Daniel, 342). 64 Etwa im Gegensatz zu den Geschichtsaufrissen in Dan 2 und 7 oder späterhin Dan 10-12. wo auch die Diadochen über Antiochus IV. hinaus eine Rolle spielen.
Die apokalyptische VISion in Daniel 8
4.
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Ergebnis
Abschließend wird man des Apokalytischen in Dan 8 erst gewahr, wenn unter traditionsgeschichtlichem Gesichtspunkt sowohl die »Transzendierung«, etwa in der Hybris des Fremdberrschers (vgl. Jes 14,12- 15), als auch die »Eschatologisierung( der mit dem ,~on-Opfer verknüpften (Geschichts-) Ereignisse, etwa als Taten bzw. Worte des angelus interpres oder als »Segnungen fiir ewige Zeiten« (vgl. die Sabbatopferlieder), in einer Gesamtschau Berücksichtigung finden. Zwar fungieren die Engel in der Ziegenbockvision im Gegensatz zu den Sabbatopferliedern nicht als Priester, doch ihre Sorge um den rechten Kult in V. 13f. und die besondere RoUe des ;'on-Opfers in der apokalyptischen Geschichtsdeutung von Dan 8 zeigen, dass sich »Priesterliches« oder »Theokratisches(( und »Eschatologisches« oder »Apokalyptisches« keineswegs ausschließen. Mehr noch: Dem Opfer kommt im apokalyptischen Aufriss von Dan 712 zentrale Bedeutung zu. An ihm lässt sich das Spezifikum apokalyptischer Geschichtsautrassung erläutern. Insofern sind Opfer, Kult und Priesterliches untrennbar mit der apokalyptischen »Ideologie« verknüpft. 65 Zumindest fiir Dan 8 dürfte sich also die These O . Plögers von einer nachexilischen Trennung in »theokratische« und »eschatologische« Überlieferungen nicht halten lassen. Mit der Abschaffung des .,~on-Opfers verbindet sich das historische Ereignis der Tempelschändung durch Antiochus IV. Die sich in der Vision ausdrückende Hoffnung zielt daher auch auf ein innerweltliches Ereignis: die Wiedereinweihung des Tempels. Dieses Verständnis unterstützen zunächst die v.a. in den Scharnier- bzw. Rahmenteilen des Kapitels gebotenen Zeitangaben. Doch bef6rderten sowohl kompositorische als auch traditionsgeschichtliche Erwägungen (etwa zu Jes 14,12- 15 u. den Sabbatopferliedem) sachliche Anhaltspunkte, die eindeutig über den immanenten Horizont in der spät-israelitischen Geschichte hinausweisen. Die Berücksichtigung der Komposition von Visionen in Dan 7- 12, die Verarbeitung der MotivkonsteUationen »Hybris des Fremdherrschers« bzw. »Angelologie( ergaben, dass Dan 8 bereits eine Eschatologie konnotiert, die die weltimmanente Historie hinter sich lässt. In kompositorischer und traditionsgeschichtlicher Hinsicht verdeutlicht die Ziegenbockvision also die innere Verwobenheit von immanenter (als Ereignisgeschichte) und transzendenter »Geschichte«. Auch deswegen behält K. Koch gegenüber M. Noth Recht.
65 Dass dies nicht nUT für Dan 8 gilt, hat M . Himmelfarb, Ascent, passim, gezeigt, auf de,en Arbeit hier wiederholt verwiesen sei. Dagegen dürfte D. Suters Beitrag (vgl. ders., Angel, 11 5- 135) zu äthHen 6-16 etwas zu weit gehen.
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BERND
U.
SCHIPPER
Tradition und Innovation Eine religionsgeschichtliche Lektüre von Daniel 7
Texte sind Ausdruck kulturellen Handelns. Als solche sind sie in einen jeweils
ku1turspezifischen Kontext eingebunden und stehen in Relation zu anderen Texten, seien es solche der eigenen Kultur oder auch fremder bzw. Nachbarkulturen. Die Apokalyptikforschung hat diesen Sachverhalt in den vergangenen Jahrzehnten unterschiedlich interpretiert. Mal wurde versucht, das Phänomen der antik-jüdischen Apokalyptik aus dem alttestamentlichen Schrifttum herzuJeiteo, mal tendierte man dazu, eher religionsgeschichtliche Einflüsse geltend zu machen. 1 Im ersten Fall sah man die apokalyptischen Texte innerhalb ihres
kulturimmanenten Kontextes, im zweiten hingegen korrelierte man sie mit Texten des kulturellen Umfeldes. Dabei zeigt sich seit dem Ende der siebziger
Jahre des 20. Jahrhunderts verstärkt der Trend zu einer religionsgeschichtliehen Fragerichtung. Seitdem sich die Erkenntnis durchgesetzt hatte, dass die antik-jüdische Apokalyptik etwas geistesgeschichtlich gesehen deutlich Neues ist, galten die Versuche der älteren Forschung, die Apokalyptik aus der alttestamentlichen Prophetie oder Weisheit abzuleiten, als forschungsgeschichtlich überholt. 2 Die Apokalyptik, wie sie in den Schriften des alttestamentlichen Danielbuches, des 4. Esra- oder des äthiopischen Henochbuches greifbar ist, wurde eher im Kontext zeitgleicher Texte ihrer Umwelt als der alttestamentlichen Literatur selbst gesehen. Dabei spielten insbesondere iranische Parallelen eine Rolle. wobei zugleich auch mit Textmaterial aus dem griechisch-römischen Ägypten argumentiert wurde. 3 Unterzieht man jedoch die jeweiligen Argumen" tationen einer kritischen Uberprüfung, so zeigt sich, dass der religjonsgeschichtliehe Ansatz in der bislang durchgefiihrten Fonn nur bedingt tragfahig ist. So werden oftmals einzelne Motive korreliert, ohne dass der jeweilige traditionsund kulturspezifische Hintergrund beachtet würde. Demgegenüber gehört es zu den Grundeinsichten religionswissenschaftlicher Forschung. dass religiöse Fonnen zunächst innerhalb des je eigenen kulturellen Sinnsystems zu untersuchen sind und nicht vorschnell mit religiösen Phänomenen anderer Kulturen I Vgl. den Forschungsüberblick von Ven.lA. Blasius, TelCte, sr. und A. Bedenbender, Gott, Kap. 1.2 und 1.3. 2 Vgl. S. Beyerle, Wiederenldeclrung, 42f. 3 Die iranischen Parallelen wurden beispielsweise von K. Koch herangezogen (vgl. seine Arbejlen lIDie Reiche der Weh« und lIVor der Wende der Zeilenlapokalyptische< Charakter des vermeindlichen ParaUeltextes letztlich eine ganz andere Ursache hatte und mit der Geisteshaltung >Apokalyptik( 5 nicht verbunden werden konnte. Demgegenüber macht es die Eigenart eines religionsgeschichtlichen Ansatzes - sieht man ihn im Kontext religionswissenschaftlichen Arbeitens 6 - aus, die Texte zwar durchaus zu korrelieren, jedoch von der Relation der Texte aJs ganzes und ihrer Funktion innerhaJb der jeweiligen Kultur auszugehen. Der folgende Beitrag setzt bei dieser Erkenntnis an und stellt ein lektüreverfahren vor, dass um zweierlei bemüht ist: Einerseits die Texte auf reHgionsgeschichtlicher Ebene miteinander zu korrelieren und andererseits diese im Kontext kulturimmanenter Tradition zu sehen. Methodisch gesehen, wird damit die skizzierte religionsgeschichtliche Fragestellung mit einem traditionsgeschichtlichen Ansatz verbunden . 7 In der konkreten Durchführung sollen zwei Texte verschiedener Kulturen in Beziehung zueinander gesetzt werden . Gegenstand der Untersuchung ist zum einen die Vision von Daniel 7, die in der Apoka1yptikforschung von jeher eine prominente Rolle spielte und Gegenstand zahlreicher Untersuchen war. 8 Dieser Text soU mit einem Literatwwerk aus seinem zeitlichen Umfeld korreliert werden, das bislang vor allem im Rahmen einer religionsgeschichtlichen Ableitung des Phänomens ~Apokalyptik ( herangezogen wurde. So wollten einige Forscher in einer Prophezeiung aus dem hellenistischen Ägypten, dem sogenannten ~L.amm des BokchorisKrise der Weisheit< an, bei der ein Aufsprengen des Tun-Ergehens-Zusammenhangs erfolgt und die Gesetzmäßigkeit von Tat und Folge nicht mehr gilt. Steht somit das Lamm des Bokchoris sowohl in seiner entpersonalisierten HeilsvorsteUung aJs auch der Problematik der Gottesfeme zeitgleichen Texten nahe, so reflektiert es zugleich eine konkrete zeitgeschichtliche Krise. Es kann mittlerweile als erwiesen gelten, dass unter dem im Text mehrfach genannten »Meder« niemand anderes als der seuleukidische Herrscher Antiochos IV. Epiphanes gemeint ist. S4 Er ist jener Meder, der nach Ägypten kommt und Unheil über das Land bringt 0 22) und sich in der geweissagten Heil...it wieder zu den Fremdländem entfernt (11 21 f.). Der Text spielt offensichtlich auf politische Ereignisse an, die im Kontext des sechsten syrischen Krieges (168 v. Chr.) stehen, im Rahmen dessen Antiochos IV. Ägypten eroberte und sich in Memphis zum Pharao krönen ließ. 55 Dabei ist bemerkenswert, dass der Text nicht explizit von Antiochos IV. spricht, sondern lediglich von pJ Mty ()>der MederHJ.npeJ'SÖnliche Bezeichnung des jeweiligen Herrschers von Asientsettings( 11 und häJt damit am Prophetie--Charakter der geschilderten Ereignisse fest 12, gleichzeitig beginnt jedoch auch er bereits - wie später Porphyrios - die in Dan 7 und 11 geschil· derten Greueltaten und Errettungsszenarien >profanprophezeite< Ereignis qllasi in doppelter
10 Jos., Ant. X 10-11 §§ 186-28 1; XI 8.S §337, XII 7,6 §322. 11 Der Daniel-Text wird von Josephus - seinem chronologisch orientierten Raster der >Antiquitates< entspr~hend - in die Schilderung der Zeit König Nebukadnezars eingesetzt, vgl. G. Vermes, Josephus' Treatment, ISOr. Dabei scheut sich Josephus indes nicht, das Danielsche Bild dieses KÖßi8s seiner eigenen Vorstellung gemäß zu ~schönen Antiquitates< sowie die genannte Doppelung der Untat können indes als Indizien fur eine spätere, aktualisierende Interpolation gewertet wer-
den. Unklar bleibt nun, in welchem Unfang Josephus auch bereits in dem ca. 15 Jahre vor den >Altertümern< erschienenen >Bellum ludaicUß1< das DanielBuch bzw. Daniel-Traditionen verarbeitet hat. Erwähnt er den Propheten im >Jüdischen Krieg< auch nicht namentlich, so scheint doch recht sicher, dass er
sich dessen Anschauungen und Visionen dort zu eigen gemacht hat. 1S Einen deutlichen Beleg steUt dabei die Kunbeschreibung der TempelplÜDderungen durch Antiochos IV. dar: ... als Antiochos, genannt Epiphanes, vor der Stadt lagerte und sich frevelhaft gegen den Gon erhoben hane, sind unsere Vo rfahren mit Waffen gegen ihn vorgegangen; sie wurden in der Sch1acht niedergemacht, die Stadt wurde von den Feinden geplündert, und das Heiligtum lag drei Jahre und sechs Monate verödet (itpl)p.w9T}) da.
Jos., Bell. V 9,4 § 394; Obers. nach O . Miche1/ 0. Bauernfeind. Sowohl das Motiv des >sich frevelhaft gegen den GottKorrekturzweideutigen WeissagungenVerhängnis< u. a. auf das Auftreten des Vespasian bezogen werden, außerjüdisch war es primär das )Verhängnis< des fatalen Irrtums der freudig hoffenden Juden. Die verschleiernde Ambivalenz der Josephusschen Position prägte dabei bis heute die unterschiedlichen Interpretationsansätze in der Forschung, die sich letztlich auf die Frage hin fokussieren, welche der Danielschen Visionsaussagen genau für Josephus als Vorlage der )zweideutigen ProphezeiungMenschensohn< verwirklicht 20, in der es heißt: (13) . .. mit den Wolken des Himmels kam jemand, der aussah wie ein Mensch(enkind), und er gelangte zu dem Uralten an Tagen und wurde ihm vorgestellt. (14) Und 17
s. St. Manson, Josephus, 187-189. Die Geschichte wurde dann auch von Sueton in seiner lvita
Vespasianil (4,5) weiterzitiert. 18 Tacitus musste hier kawn, wie SI. Mason, Josephus, 188(. vermutete, einen negativen Tenor luminterpretierenl.. Des Josephus versucht neutraler Spagat zwischen jüdischer Identität und Bewunderung fur Rom brachte ihm schnell das Misstrauen und die Ablehnung seiner judäischcn Heimat als Verräter ein. 19 Vgl. K. Koch, Danielrezeption, 114f. 20 R.T. 8eckwith, Danicl 9, 532- 535. So bereits R . Meycr, Der Prophet, 52-58.
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Andreas Blasius ihm wurde Macht und Ruhm und Herrschaft gegeben und alle Völker, Nationen und Zungen dienten ihm; seine Macht ist eine ewige Macht, die nicht aufhört, und seine Herrschaft (so beschaffen), daß sie nicht zerstört wird! Dan 7, 13f.; Übers. O. Plöger.
Dem hielt Steve Mason entgegen, dass Josephus die Herrschaft des Vespasian zwar keineswegs offen kritisierte, jedoch wohl ebenso wenig an irgendeiner SteDe in seinem Werk deren ewige Dauer propagiert hätte. 21 Josephus' Behandlung des Themas von Dan 2,42-45 in Ant. X 10,4 §209f. gibt hier jedoch zu denken . Aus dem heUenistisch aufzulösenden Reich aus Eisen lmd Ton, das laut Daniel in einzelne untereinander heiratende und kriegführende Herrschaften unterschiedlicher Qualität zerfallt, formt Josephus ein rein eisernes Königreich: )))(PCl"[~O'tl 5& tl.; &1tClvtCl ~hCt 'tT}v 'tOÜ Ol&i}pOU /flieH\!« (§ 209), was sich i.d.R. tempora1 als >>das aber rur immer durch die Beschaffenheit des Eisens herrschen wird« 22, übersetzt findet. Die Deutung des ja eigentlich im Anschluss zerstörerisch wirkenden Steines der Daniel-Prophezeiung übergeht Josephus zudem mit der wenig überzeugenden Bemerkung, dass er das Vergangene und nicht das Zukünftige schildern wolle. Ist die >Vollständigkeit< des dzweideutig< empfunden und gar von den Juden auf einen ihrer eigenen Anfuhrer bezogen worden sein. Auch fehlt das Herkunftsmotiv aus Judäa, das ja die Fehlinterpretation begünstigt haben sollte. 28 In einem ähnlichen Dilemma befindet man sich mit der u. a. von Frederick F. Bruce und Lester L Grabbe vorgeschlagenen Verbindung der JosephusProphezeiung mit den in Dan 9,24-27 vorliegenden Angaben." Der in 9,27 genannte >Verwüstendevorgesehenes EndeVerwüstende< eindeutig als negativ charakterisiert, und der nicht genannte positive Weltherrscher - so überhaupt intendiert 30 - wäre wohl erneut zu heilig, um auf Vespasian gedeutet werden zu können. Jörg-Dieter Gauger suchte den von Josephus angesprochenen Weissagungstext denn auch eher in außerkanonischen Traditionen verankert. In enger Verbindung zu den jüdischen Sibyllinen-Orakeln 31 handle es sich um eine »revitalisierte Prophezeiung« als »Zeugnis für eine neben den or.Sib. herlaufende Tradition«.12 Auf welch konkreten Fundamenten diese »Sibyllen-Prophezeiung 66 n. Chr.« ruht, muss indes weiterhin offen bleiben. Deutlich wird jedoch an den wenigen offen erkennbaren Rückgriffen auf das Daniel-Buch im >Jüdischen KriegAltertümernnichttheologischerechten Vision< übersah (s. u.) und den in 11 ,42-43 postulierten siegreichen Feldzug des Antiochos gegen Ägypten, Libyer und Kuschiten - gegen die Realität - zu einem tatsächlich im 11. Jahr des Königs stattgefundenen Unternehmen erklärte. B Dabei hatte er den Daniel-Text grundsätzlich durch Heranziehung weiterer QueUen erfolgreich auf historisch-kritische Weise untersucht : Um aber die letzten Abschnitte Daniels zu verstehen, ist eine vielschichtige Geschichtsforschung der Griechen notwendig, nämlich Suctorius Kallinikos, Diodor, Hieronymos [von Kardial, Polybios, Poseidonios, Oaudius Theon und Andronikos genannt Alipius, denen gefolgt zu sein auch Porphyrios behauptet. Hieron., in Dan ., prologus; PL XXV, Co!. 494 ; Harnack F43C; Porph. FGrHist. 260 F 36; Stern 11 464c.
Auch des Porphyrios Kritiker Hieronymus scheint sich hier hinsichtlich des Wertes externer Quellen zum Verständnis des Daniel-Buches - wenn auch in apologetischer Absicht - ausnahmsweise mit diesem einig, und Porphyrios' breit angelegter >profan-historischer< Ansatz bei der kritischen Analyse des religiös geprägten Apokalyptik-Textes lässt diesen in den Augen vieler moderner Forscher zum Heroen kritisch-exegetischer Forschung werden: Porphyry's work now emerges as a creditable scholarly achievement. His main results, the MacHistoire politique du monde hellenistique< zitiert: Le document le plus ancien remonte a J'Cpoque meme d'Antiocbos IV: c'esl Je w 're de Daniel, compilation de reals romanesque pseudunverdächtig< geltender historischer Quenen als recht vel b auenswürdig eingeschätzt 38 - wird jedoch im >Wettstreit< mit den überlieferten Passagen der >römischen Geschichte< des Polybios i. d.R. ebenfalls mit skeptischer Zurückhaltung betrachtet. 39
35 Hier sollen lediglich die Haupnendenzen der althistorischen Forschung unter Nennung einiger
ihrer Vertreter kun skizziert werden. 36 Dies gilt primär für die im folgenden vor allem angesprochene politische Ereignisgeschichte und Sozialhistorie. Vgl. etwa Ch. Habicht, The Seleucids, 346-350, der zwar das Danie1-Buch in Anm. 77 auf S. 346 zu den )principal souroeS( zählt, die Inhalte des Kapitels jedoch aßein durch Hinweise auf I. und 2. Makk untennauert. Äußerst sk.eptisch äußerte sich bereits 1914 einer der großen Nestoren der Ptolemäer- und Seleukidenforschung, A. Bouche-Leclercq. in seiner Histoire des 5eleucides über den Quellenwert des Daniel-Buches, hier konkret zur Problematik. der drei ausgerissenen Hörner in Dan 7,8: »Quand il s'agit d'Epiphane, ... , un JOO ne peut avoir qu'un mediocre souci de Ja verite.- (a. O. Bd. Il, 581). Kultur- und religionshistorisc.he Arbeiten - vor aDern von jüdischen bzw. israelischen Althistorikern - greifen oft in wesentlich ausführlicherer Fonn auf das Daniel-Buch zurück, vgl. etwa E. Bi(c)kerman(n)s Studien: Four Strange Bocks, 51-138; The Jews; E.S. Gruen, Jewish Perspecti\'eS, 62- 93; aber natürlich auch auf christlich theologischer Seite die großangelegte Untersuchung M . Hengels, Judentum. ]7 E.. Will, Histoire 11, 326. Vgl. F.W. WaIbank. Die hellenistische Welt, 227. Mitunter wird auch der Kommentar des Hieronymus (PQrphyrios) aDein als Quelle genannt, so etwa: U. Wtlcken., RE 1.2, Stuttgart 1894, Sp. 2470-2476 S.v. Antiochos (27); W. Otto, Beiträge zur SeleuJcidengeschichte; den., Zur Geschichte; F.W. Walbank. A Hislorica.l Commentary. ] 8 »Bei diesem liegen nun letzten Endes beste Quellen zugrun~ urteilt z. B. W. Otto, Zur Ge5chichte, 2 Anm.4. 39 Vgl. etwa E. Bikerman, Sur Ja chronologie, 402 mit Anm. 2.
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Setzt sich die Forschung indes mit dem Daniel-Buch selbst auseinander, so ist es meist allein das in seinem Chronikcharakter einzigartige Kapitel 11 (5. u.), das als historisch relevant herangezogen wird, da es - so etwa Elias Bi(c)kerman(n) - einen »genauen Abriß der Geschichte des Ostens von der persischen Zeit bis zur Verfolgung des Epiphanes« 40 bietet, und von dessen Autor bereits lohann Gustav Droysen im 3. Band seiner >Geschichte des Hellenismus< diesbezüglich zuversichtlich schrieb, dass der Apoka1yptiker »das Faktische dieser Zeit gewiß richtig hat; ... «41. Diese Ansicht hat sich im wesentlichen bis heute durchgesetzt 42: Die fraglichen Verse sind Teil einer als Weissagung verfremdeten Darstellung der damaligen Zeitgeschichte. Diese ist, was die Folge der Ereignisse anbelangt, völlig zuverlässig, und sie musste es sein, wenn die Prophezeiungen über das Ende des Verfolgerkönigs und den Anbruch des Reiches Gottes den Bedrängten, die unter der Verfolgung litten, glaubwürdig erscheinen soUten,
urteilt Klaus Bringmann. 4) Victor T cherikover ging in seiner Einschätzung dieser Daniel-Passagen sogar so weit, sie den Angaben der Makkabäerbücher vorzuziehen, da der Autor des Daniel-Buches als unmittelbarer Zeitzeuge anzusprechen sei 44 : The scholars who reject ApoUo nius' second visit »amend« Daniel by I Macc. (. .. ), that is, they correct an eye-witness according to a book written sorne fifty years after the events. This rnethod seerns wrang to the writer. It is indeed harn to utilize Daniel as an authority, o n account of his picturesque and obscure style ( ... ), but in those passages where he is clear ( ... ), Daniel is a historical source ofthe highest importance.
Diese überaus wohlwollende Argumentation muss jedoch insofern mit Vorsicht genossen werden, als das Alter einer Quelle - und selbst wenn sie zeitgenössisch entstanden ist - noch keine Garantie flir eine der >Realität< der Ereignisse zwingend nahestehende Glaubwürdigkeit bietet, ist doch das apokalyptische Motiv im ganzen Daniel-Buch das zentrale Konzeptionsschema . Dabei verwundert es dann auch nicht, dass sich zu den genannten positiven 40 E. Bickermann, Der Gott, 169. 41 J.G. Droysen, Geschichte des Hellenismus Bd.3 (im Nachdruck der Ausgabe Tübingen 19521953), 256(. (Originalausgabe Seite 395f.). 42 Vgl. z.B. E.$. Gruen, Hellenism (mit einem einzigen Verweis außerhalb Kap. 11); D . Gera, Judaea. in der J973 erscruenenen englischsprachigen Neubearbeitung des ersten Bandes von EmiJ Schürers Geschichte des jüdischen VoUces fehlt das Daniel-Buch unter der Rubrik )Sources< vößig. Zur )First PeriodAntiochus IV of Syria< zu bedenken: Their prophetie form makes verses 10-39 [von Dan 11] rather difficult to understand by themselves, and their fundamental trustworthiness has only been estabtished by a oomparison with other historical materia1. 4S
Noch einen Schritt weiter in der Daniel-Kritik geht Fergus Millar 46 : .. . as history, Daniel's brief and allusive representations of selected episodes, taken largely out of oontext and seen from a very precise and limited. vie\lo'PDint, cannot of course compare with Polybius' profound oonception ofhow events in different parts of the oikumem! had come to be interlinked and to form a single causative sequence.
Diese Vorwürfe gehen indes ins Leere, muss doch der Daniel-Apokalypse zugute gehalten werden, dass sie - anders als Polybios - bewusst keine universalhistorische Perspektive anstrebt. Ihr Blick ist - und bleibt (auch unter Nutzung universalhistorischer Modelle) - auf die Situation in Judäa konzentriert. Eine derartige Kritik bleibt nun jedoch keineswegs auf die Geschichtsauffassung der )Profan-Historiker< beschränkt. So erklingt aus dem alttestamentlich exegetischen Lager mitunter eine in ihrer Schärfe die Worte Millers überbietende Schelte - im folgenden repräsentiert durch das vernichtende Urteil Klaus Kochs 47 : Die Art, wie im Danielbuch Geschichte dargestellt wird, hat ihre tiefen Mängel - trotz aller Großartigkeit des Entwurfs. Von einem Bestreben, aus der Fülle des Überlieferten nur auszuwählen, was sich bei näherer Prüfung als stichhaltig erweist, also von einer historischen Kritik, ist nichts zu spüren. Selbst die Zielstrebigkeit der Geschichte, das Gefcille, in das aUe politischen Bewegungen hineingesteUt sind - das wird mehr behauptet als bewiesen . ...
Der Althistoriker Thomas Fischer urteilte zwar zunächst auf ähnliche Weise: Im historischen Sinne bedeutet das Buch Damel für modeme Begriffe allerdings eine Geschichtsfatschung ersten Ranges. Derartige Ansätze zur Verdrehung der Wirklichkeit. wie man polemisch formulieren könnte, enthält auch das 2. Makkabäerbuch, ...
aber das Daniel-Buch vertrete eben - so Fischer - als )historischen< Ansatz )>eine zwingende Umkehrung von Sichtbarem und Unsichtbarem, Idee und Realität« und enthülle »)ln einem )Heilsplan Gottes< sogar )(ien Sinn der GeschichteProfan-Historie< angesiedelte Sicht Fischers 4S O. Merkholm, Antiochus IV of Syria, 19. 46 F. Millar, HeUenistic History, 104. 47 K. Koch. Spätisraelit1sches Geschichtsdenken, 309. Dagegen C.C. Caragourus, History, 388: »11 must be recogniz.ed that lhis highly symbolica1 Book is concemed not merely with history, but with supra·history where hi$torica1 events are interpreted not ont)' from the Jewish point of view but also in adynamie waYI>COded history« nicht gerecht 49. Zweifellos liegt dem Danielschen Autor ein grundsätzlich anderes Verständnis von )fact and fierion< zugrunde, als es die modeme Geschichtswissenschaft vertritt, womit sich das Daniel-Buch allerdings auf seine Weise durchaus in die klassisch antike Literatur einpasst. so Alle codes zu entschlüsseln, gestaltet sich indes mehr als
schwierig: Anyaße desiring 10 utilize Daniel as a historicaJ source must first discover the key 10 its allusive language. This is not easy, for we da not know all the fine details of the period 10 an extent enabling us 10 understand every reference in the book with the same facility as Daniel's contemporaries,
gJbt Victor Tcherikover sl zurecht zu bedenken, und Erieh S. Gruen S2 verweist zudem auf die besondere Intention und damit den spezifischen >Anteil< des
Genres >Apokalyptik. an diesem Geflecht: The very character of apoca1yptic texts fosters ambiguity, their allusions deliberately designed for adaptability to diverse settings. OracuJar voices resonate beyond the particular and give greater meaning to the whole text.
Sicherlich ist nun auch Arnaldo Momigliano in dem Punkt beizupflichten, dass biblische Historiker und Propheten - und zu letzteren müsste man Daniel zählen - in einem ähnlichen Spannungsverhältnis zu betrachten sind, wie auf ldassisch antiker Seite die Historiker und die Philosophen S3 , doch hinderte keine dieser >Gruppen{Königs)noveU~ der ersten sechs Kapitel scheiden ss und chronologisch eindeutig in die späten 60er Jahre des 2. Jh. v.u.z. datieren S6, so treten doch auch innerhalb des zweiten, an >aktueller< Ereignisgeschichte orientierten Blockes - wie bereits angedeutet deutliche Unterschiede in der Behandlung und apokalyptischen Darstellung der )facts( auf. Am deutlichsten wird dies hier im Vergleich der beiden Kapitel 7 und 11. 51 Beide folgen grundsätzlich historischen Entwicklungslinien die in den Untaten des ,lI. Horns< (7,8.20-26) bzw. des >Verächtlichen< (11,21-45), d.h. in den Aktionen Antiochos' IV. Epiphanes und dessen unrühmlichem Ende gipfein. 58 Kapitel 11 ist dabei nach kurzer Einleitung, in der die Bezwingung der Perserkönige durch A1exander den Großen sowie die Nachfolge durch die Diadochen thematisiert wird (11,2b-4), ganz den Auseinandersetzungen zwischen den sich um Judäa streitenden >Königen des Südens und des NordensGold! Tiere hin zum 11. seleukidischen Horn widersprechen würde. Ausgehend vom vierten Tier (= Reich) spitzt der Autor des 7. Danie!Kapitels in seinen ex eventu-Visionen die Dramaturgie des deutlich drohenden Untergangs im Symbol der Hörner dieses Wesens auf einzelne hellenistische Herrscher und dabei schließlich auf die FIgur des nicht nament1ich genannten, doch in historischer Anspielung als Antiochos rv. Epiphanes identifizierbaren Königs zu, dessen Verhalten nicht als ein Vorgehen gegen die aufmüpfigen Jerusalemer Untertanen, sondern als im Kern gegen JHWH gerichtetes gottloses Vergehen charakterisiert wird. Beschrieben wird dieser letzte Fremdherrscher in Dan 7 als das elfte und jüngste, außerplanmäßig entstandene Horn des nach Löwe, Bär und Panther unbenanmen vierten schrecklichen Tieres ( Reiches). Die Charakteristik dieses Tieres konnte von Urs Staub einleuchtend als der Bibel genereU ungeläufig und deshalb vielleicht als Wesen ohne Namen auftretender Elefant gedeutet 82 13 84 U 8(i
J. l..ebram, Apokalyptik, 5t1f. C.C. Caragounu, History, 390; vgI. E. Bickennan, Foot Strange 8ooks, 102(. C.C. Catagounis, History, 391. C.C. Cangounis, History, 394. K. Koch. Das Buch, 199.
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werden. 87 Dieser wurde von den Seleukiden stets als ein besonders wertvolles Kampfmittel betrachtet und entsprechend häufig auf Münzen dargestelit. Die Hörner, die das Wesen trägt, müssen dabei ebenso wie die den anderen drei Tieren zugewiesenen >Accessoires( nicht der zoologischen Realität entspre-
chen. Sie begegnen indes mitunter als Helmzier auf MünzdarsteUungen der Seleukidenkönige. Das elfte Horn nun, dessen nachträgliches und gewaltsames Erscheinen auf die außerordentlichen Umstände bei der Thronbesteigung
Antiochos' IV. anspielt, »das Augen und einen Mund hatte, der anmaßend redet~( (Dan 7,20) und »lästert über den Höchsten« (7.25), sieht der Visionär »gegen die Heiligen kämpfen . Es überwältigte sie« (7,21). Doch damit nicht genug: .>die Festzeiten und das Gesetz will er ändern« (7,25), d.h., Maßnahmen gegen heilige, die eigene Identität betreffende Vorgaben ergreifen, doch dies gelingt nur: bis das Tier - wegen der anmaßenden Worte, die das Horn redete - getötet wurde. Sein Körper wurde dem Feuer übergeben (7,11).88
Das zentrale todbringende Motiv der Schilderung ist die Hybris des Kö nigs. In der modemen Forschung wurde dabei gerne auf Münzdarstellungen und · Iegenden des Antiochos IV. verwiesen, die des Königs Selbstverständnis als Inkarnation des olympischen Zeus belegen und damit den unglaubHchen Got· tesfrevel veranschauJjchen sollen, dass Antiochos in seiner Umwidmung des Jerusalemer Tempels an Zeus sich eigentlich selbst an die Stelle JHWH s habe setzen wollen. Konnte diese Identifikationstheorie bezüglich der bildli· chen DarsteUungen bereits von Otto M0rkholm widerlegt werden 89 , so kann auch betreffs der hier faktischen Erstbelegung eines mit Theos, »)Gott(~ gebilde.ten Beinamens eines lebenden Seleukidenherrschers deutlich gemacht werden, dass dieser nicht mit dem Göttervater Zeus in Verbindung steht, sondern als Reaktion auf die auch in den Münzbeischriften erkennbaren Neuerungen im ptolemäischen Herrscherselbstverständnis eingestuft werden kann .90 Die starke Affinität Antiochos' IV. zu Zeus ist dabei grundsätzlich nicht zu leugnen. Hier zeigt sich auf göttlicher Ebene ebenfalls eine im wesentlichen politische Komponente: im Kontext der bestehenden Machtblöcke des Mittelmeerraumes bildete der höchste Gott der Griechen im Gegensatz zum bislang von den Seleukiden favorisierten ApolIon 91 ebenso ein gleichrangiges Gegengewicht zum Iuppiter Roms wie zum Dynastiegott Zeus-Sarapis der Ptolemäer. 92 Dass im Zuge dieser Umorientierung nun die höchsten Landes- oder 87 U. Staub, Das 1ier (1978), 351 - 397 bzw. (2000), 37- 85. 88 AJIe genannten Dan 7 Zitate sind in der Übersetzung von O. PI~r wiedergegeben . 89 O. M0rkholm. Studies, 58. 72-74. 90 VgJ. dan' bald Verf.. Anriochos IV. und Ä8fpten. Machlpotiti1c und Ideologie, in VorlJ. 91 S. LB. 1.G. Bunge, IAntiochos HeliosrevisionDaniel-Analysen< versucht, die dort vorliegenden mehr oder weniger verschlüsselten historischen Angaben in ihnen bekannte bzw. von ihnen überprüfbare ereignisgeschichtliche Abläufe einzufUgen oder von ihnen abzugrenzen. Ihre Intentionen waren dabei in der jeweiligen Ausprägung zwischen Kritik und Apologie begründet und gingen über eine reine Schilderung >dessen, was gewesen< weit hinaus, arbeiteten somit ebenso auf zwei verschiedenen Ebenen mit dem Text und seinen Inhalten, wie es zuvor der Autor des Buches als historisch orientierter Apokalyptiker getan hatte. Vor allem aus diesen miteinander im Text verwobenen historischen und theologischen Ebenen resultiert der zumeist doch recht zögerliche Umgang der modemen Althistorie mit den im Daniel-Buch formulierten Angaben zu historischen Ereignissen und Sachverhalten - d. h. gerade im Hinblick auf ein deutliches Misstrauen bezüglich des die Historie vermeintlich >kontaminierendenfact and fiction< angesiedelten Informationen im Sinne historisch-kritischer Analyse gestaltet sich heute zudem deutlich schwieriger als es einem Porphyrios im 3.Th. u.Z. möglich war, ist doch die zur Verfiigung stehende Vergleichsbasis der QueUen über 1700 Jahre nach dessen Untersuchung als wesentlich bescheidener zu bezeichnen. Dem Daniel-Buch deshalb jeden historischen Wert abzusprechen 94 Zu den grieprofanWegweiserGebrauchsanweisung für den Idealfallriddles( bieten, verbleiben dabei jedoch - bis auf weiteres - im Bereich der Indizienanalyse und Plausibilitätsargumentation.96
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Aus diesem Keime an einem (ast verborgenen Orte entstand rur mich in der ersten Ausgabe dieser Einleitung die Aufgabe einer Charakteristik und Geschichte der apokalyptischen Lineratur überhaupt..: (Hervorhebung im Original; vgl. auch ders., Venuch l 23). - Nitzschs Te"t ist heute verschoUen und lediglich durch umfangreiche Zitate in der ersten Auflage von Uickes eigener Untersuchung bekannt (35(,40; weitere Passagen zitiert Bcyschlag, Karl lmanuel Nil7SCh, IVVIII): vgl. auch Schmidt, Apokalyptik. 98f. Anm.3: Otristophersen. Friedrich Lücke (1 791 1855) J 368 f. Anm. 2. Erstmals in: Lücke, Studien, 291. Vgl. Schmidt. Apokalyptik, 98 8'.; Zager, Begriff, 21 ff.; Christophersen, Begründung, 158- 179, Vgl. Uicke, Versuch2, 18: »Der Name der a:n:ox6J.\xJ.u; scheint vornehmlich durch die authentische Überschrift der Joh. Apok. 1, 1. technischer Iineranscher Ausdruck in der Griechischen Kirche geworden zu seyn. Da derselbe den wesentlichen l.nhaJt dieser Lilleratur in charakteristischer Weise bezejchnet, SO gehen wir in der genaueren Untenuchung über das Wesen der Apokalyptik mit Recht von dem Begriff der a.1tox.uu4ot( aus .• Ebd.. 25. Ebd.. 18. Ebd., 20,22. F. Dexinger spricht in diesem Sinne von einem ItArbeitsbegriff.c., »der es ermöglicht, eine A.nzahI literarischer &zeugnisse auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen.c., bzw. von einem »Hilfsausdruck zur Bezeichnung einer im vorwissenschaftlichen Bereich intuitiv erlaBten Literaturgattung« (Zehnwocbenapok.alypse, 6,7). Vgl. da?" die Überbliclc:e bei Dexinger. Zchnwochenapoka.lypse, 78'.: 8edenbender, Gon, 32 1J.
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schiede zwischen einzelnen Phänomenen wahrzunehmen und zu beschreiben. Das bedeutet jedoch nicht, dass Begriffe die Funktion haben, die Wtrklichkeit abzubilden. Sie stellen vielmehr Wrrklichkeit her. Als sprachliche Zeichen gehören sie darum auch nicht in den Bereich der Mimesis, sondern in den der Poiesis, denn sie konstruieren in ihrer Gesamtheit eben jenen aus Bedeutungen zusammengesetzten universalen Sinnzusammenhang, den wir >Wll'klichkeit< nennen. 13 Ob die Begriffe >stimmenStimmigkeit< eines Zeichens ist darum auch nicht lediglich sein Verhältnis zum Bezeichneten, sondern vor allem seine Sinnhaftigkeit innerhalb derjenigen symbolischen Sinnwelt, in der die Zeicbenbenutzer leben. Kriterium tur die Sinnhaftigkeit eines bestimmten Begriffs ist dementsprechend, ob die ihm zugeschriebenen Merkmale eine Matrix bilden, die die genannte Ordnungsfunktion so wahrnehmen kann, dass die Verwendung des Begriffs zu plausiblen und akzeptablen Ergebnissen fuhrt. 2. In diesem Sinne stehen auch die Begriffe »Apokalyptik« und »apokalyptisch« tur ein wissenschaftliches Konstrukt, das einer Mehrzahl von Einzelphänomenen einen gemeinsamen Nenner zuweisen will. Mit der wissenschaftlichen Apokalyptik-Forschung setze ich voraus, dass es sich bei diesen Einzelphänomenen um Texte handelt. 14 Dementsprechend sind auch die Merkmale, aus denen wir das semantische Profil der Begriffe konstruieren, aus Texten zu erheben und besteht das Ziel unserer Frage nach typologischen Gemeinsamkeiten zwischen den Texten in zweierlei: zum einen in der fonngeschichtlichen Zuweisung eines Textes zur Gattung >Apokalypse< sowie zum anderen in der Bestimmung der Intention der Fonn, die allen Exemplaren dieser Gattung gemeinsam ist. Unsere Fragestellung lautet also: Aufgrund welcher Merkmale können wir einer Schrift die Gattung )Apokalypse< zuschreiben? Oder allgemeiner: aufgrund welcher Kriterien bezeichnen wir einen Text als einen >apokalyptischen< Text? Oder noch einmal anders: was macht die Apokalyptizität eines Textes aus? Wenn wir unseren Ausgangspunkt bei denjenigen Texten nehmen, an denen sich wissenschaftsgeschichtlich »Begriff und Vorstellung der Apokalypse gebildet haben« 15, werden wir zu umfangreichen Katalogen gefiihrt, in denen sich -
13 Vgl. Berger/ Luckmann, Konstruktion, 36ff..12ff.
14 Damit lasse ich den heute recht weit verbreiteten Sprachgebrauch unberücksichtigt, der den Begriff ltApok.a.l)'pSCM im Sinne von »Katastrop~ ltUnheil« oder "Untergang. versteht; s. auch Vondung, Apokalypse. 21 . 15 Vondung, ebd.; vgl. auch Schmidt. Apokalyptik, 315: »Der Einsatzpunkt ... wird zunächst dort bleiben, wo ihn die Forschung gesucht und auch gefunden hat - bei den sprachlichen Formen der Schriften, von deren Namen der Begriff IApokalyptik( stammt. Sie dienen als Muster für die Suche nach weiteren QueUen.«
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Michael Wolter
wie dies z. B. bei Pb. Vielhauer 16 und K. Koch 17 der Fall ist - literarische, inhaltliche und historische Merkmale mischen. - Wenn wir uns nun die genannten Merkmale im Einzelnen anschauen t ist zu unterscheiden zwischen
- unspezifischen Merkmalen, die auch in apokalyptischen Texten (aber eben auch in nichtapokalyptischen) vorkommen können und die einen Text darum noch lange nicht zu einem apokalyptischen Text machen 18, - /akultatwen Merkmalen, die in einigen, aber nicht in aUen apokalyptischen Texten vorkommen und die darum fiir einen apokalyptischen Text prinzipieU auch entbehrlich sind 19, und konslilulivell Merkmalen, ohne die kein apokalyptischer Text auskommt. Hierbei handelt es sich um Merkmale, die nicht durch andere substituierbar sind, d. h. Fonnelemente, die als notwendige Bedingung fungieren, um einen Text als apokalyptischen Text identifizieren zu können und die darum aufgar 16 Vielhauer, Geschichte. 486-492: »Mit dem Ausdruck ,Apokalyptik! ... . einem späten .. . Kunstwort. pflegt man zweierlei zu bezeichnen: 1. die Literaturgattung der Apokalypsen. d. h. Offenbarungsschriften. die zukünftige und jenseitige GeheiuUlisse enthüllen, und 2. die Vorstellungswelt, aus der diese Literatur stammtK(486). - »Literarische MerkmaleK (»Stilelemente«): »Pseudonymitätll; »VisionsberichtII; " Bildersprache.:; »E.ntschlüsselungK; »Systematisierungll: »sie (versuchen) die Vielfalt der Phänomene durch Ordnungsschemata, insbesondere Zahlen. übersichtlich zu machen«; als ))kleinere Formen« gelten: llGeschichtsüberblicke in FuturformK; »Jenseitsschilderungen«; »Thronsaalvisionen. ; »Paränese«; »GebeteK (487-490). - »Vorstellungswelt«: »Dualismus der zwei Äonen«; ))Universalismus und Individualismus«; »Pessimismus und Jenseitsholfuung((: »Determinismus und Naherwartung« (490-492). 17 Vgl. Koch. Ratlos, 20-30 mit der Unterscheidung zwischen literarischen und historischen Merkmalen: Zu den erstgenannten zählt er: »große Redezyklen .. ., die ... ein langes Zwiegespräch zwischen dem apokalyptischen Seher und seinem himmlischen Gegenüber wiedergeben«; »seelische ErschütterungenII: »paränetische Reden an seine Gemeinde, seine Jünger oder ,Söhnec «; »Pseudonymität«; Verschlüsselung der Sprache »durch symbolreiche mythische Bilder«; »ein längeres literarisches Wachstum ... Kompositionscharak!erl(. - Als Merkmale, die »Apokalyptik als historische Strömung« kennzeichnen. gelten: lleine drängende Naherwarrung der Umwälzung aller Verhältnisse«; »das Ende encheint als kosmische Katastrofe von ungeheurem Ausmaß«; »die Weltzeit ist in feste Abschnine geteilt, die inhaltlich seit den Tagen der Schöpfung vorherbestinunt sind«; »Um den Ablauf der geschichtlichen und endzeitlichen Vorgänge zu erklären. wird ein nach Klassen abgestuftes Heer von Engeln und Dämonen aufgeboten ... Die irdische. allen Menschen einsichtige Geschichte steht mit einer überirdisch-unsichtbaren Geschichte in Wechselwirkung, von der nur auserwählte Seher auf apokalyptischem Wege Kunde erhalten«; »jenseits der Katastrofe taucht ein neues Heil auf. das paradiesischen Charakter haN; »der Übergang vom Unheilszustand zum endgültigen Heil wird von einem Akt erwartet, der vom Thron Gottes ausgeht«; »zur Durchführung und Gewährleistung des Endheils (wird) gern ein Vermittler mit königlichen fUnktionen eingeschaltet«; »das Stichwort Herrlichkeit wird dort gebraucht, wo der Endzustand von der Gegenwart abgehoben und eine endgühige Verschmelzung zwischen irdischem und hinunlischem Bereich geweissagt wird«. 18 Dies gilt 2:.8. für das MerkmaJ der Pseudonymität. das auch in eindeutig nicht-apokalyptischen Texten begegnet wie LB. in den deuteropaulinischen Briefen. Dasselbe gilt für das Merkmal des Äonendllalismus, das wir L B. auch in Gal 1,4 antreffen. 19 Dies gilIZ.B. für das Motiv der Jensensreise.
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keinen Fall feh1en dürfen. - Hierbei gilt: Je größer die Zah1 der konstituti· ven Fonnelemente ist, desto enger und trennschärfer wird der Begriff. Er ist am weitesten, wenn nur ein einziges unersetzbares Merkmal ausreicht, um einen TeX1 einer bestimmten Gattung zuzuweisen. Umgekehrt gilt aber auch, dass man mindestens ein Merkmal braucht, um mehrere TeX1e einer gemeinsamen Gattung zuordnen zu können. In Bezug auf die anderen Elemente gilt das Gegenteil: Je niedriger die Zahl der unspezifischen und fakultativen Fonnelemente ist, d. h. je enger ein Begriff gefasst wird, desto trennschärfer kann er gebraucht werden. Dementsprechend geht naturgemäß mit der numerischen Zunahme derartiger Formelemente immer ein Verlust an Trennschärfe einher. Aus diskursökonomischen Gründen empfiehlt es sich nun immer, bei der Bestimmung einer Gattung zunächst mit nur einem einzigen konstitutiven Form·Element zu beginnen und dann auf der Grundlage der gewonnenen Ergebnisse weiter zu differenzieren . In diesem Sinne identiflZiere ich als konsti· tutives und d. h . unersetzbares Form·E1ement, das als hinreichende Bedingung fungiert, um einen TeX1 als Apokalypse bezeichnen zu können, die einleitende Milleilung an die Leser, dass es sich bei den folgenden Inhalten um die Wieder·
gabe von Sachverhalten handelt, die konventionellem menschlichen Erkenntnis· vermögen unzugänglich sind und deren Kenntnis darum im Wege von esoterischer Enthüllung erfolgt. Dem vorliegenden Text wird dabei gleichzeitig die Funktion zugeschrieben, diesen Inhalt mfmals bekannt zu machen~ so dass dann auch er EnthüUungscharakter bekommt. »Apokalyptik« soll darum hier nicht mehr hei· Ben als >Offenbarungs- oder Enthüllungsrede< oder anders gesagt: Apokalyptik sei nichts anderes als >Enthüllerek 20 Zur Erläuterung sei das Vorstehende noch einmal aus anderer Perspektive formuliert: »Jeder TeX1 hat eine Form«21 Sie eTglbt sich aus der Interaktion einer begrenzten Menge von Form·Elementen, d.h. der semantischen, struk·
20 Die größte Nähe %U diesem Verständnis weisen die Näherbeslimmungen auf, mit denen H. SIegemann die 8eg:iiffe .Apokalyptik~ und .Apokalypse< erläutert (wobei ich das von Siegemann benutzte Adjektiv »himmlischtl durch .transzendentc ersetzen würde; s. dam u. S. 115): liMit .Apokalyptik( bezeichne ich ausschließlich ein literarisches Phänomen, nämlich die Anfertigung von )()ffenbarungsschriftenim Auftrag des Herrn>das Revier« zu betreten, von dem es heißt, dass >>dort irgendeine deutsche Verwaltung sitzt« und )>daß die Aussichten, als Jude lebend aus diesem Haus herauszukommen, sehr gering sind« 30. Durch die zufatlig offenstehende Tür eines Zimmers hört er aus einem Radio die Stimme des Nachrichtensprechers, der berichtet, dass die russische Annee »zwanzig Kilometer vor Bezanika« steht. 31 Diese Mitteilung wird von ihm sofort als Herannahen der Befreiung gedeutet: »Jakob steht still, er hat viel gehört, Bezanika ist nicht sehr weit, kein Katzensprung, nein, aber nicht so unendlich weit . ... Es sind vielleicht gut vierhundert Kilometer, vielleicht sogar funfhundert, hoffentlich nicht mehr, und da sind sie jetzt. Ein Toter hat eine gute Nachricht gehört und freut sich ... «. 32 - Nach seiner Rückkehr ins Ghetto beginnt Jakob sofort, das Gehörte unter seinen Leidensgenossen zu verbreiten: »Er wußte, daß es schwer sein würde, die Nachricht für sich zu behaJten, kaum zu machen, immerhin handelt es sich um das Beste vom Besten, gute Nachrichten sind dazu da, weitergegeben zu werden.« 33 - Im Roman findet diese >Audition< tatsächlich statt; sie ist, wie man so sagt, >erlebnisechtApokalypse< haben, sondern nur als unbestimmte: Ohne dass Inhalte folgen, wäre eine apoka1yptische Rezeptionsanweisung sinnlos. Es muss also Inhalte geben, und dann kann man auch danach fragen, ob bestimmte Inhalte häufiger vorkommen als andere, so dass von ihrer besonderen Affinität zur Gattung >Apokalypse< gesprochen werden kann. Erst auf dieser Ebene lassen sich dann wieder die eschatologischen Inhalte ins Spiel bringen, denn es ist nicht zu übersehen, dass auf apokalyptische Rezeptionsanweisungen überdurchschnittlich häufig eschatologische Inhalte folgen . Das ist nun aber aus einem ganz bestimmten Grund alles andere als überraschend, denn im Hintergrund steht das von WIlfiied Härle so genannte »)Crkenntnistheoretische Hauptprohlem jeder Eschatologie: ' " wie ein Mensch zu begründeten Aussagen über eine (noch ausstehende) vollendete Welt gelangen kann, während er doch vollständig in die unvollendete, fragmentarische irdisch-geschichtliche Welt eingebunden ist« 40. Im Blick auf das damit angesprochene Problem der Glaubwürdigkeit eschatologischer Aussagen lässt sich plausibel erklären, warum gerade sie bevorzugt zum lnhalt von Apokalypsen gemacht werden: Es sind zu allererst die apokalyptischen Rezeptionsanweisungen, die die eschatologischen Aussagen mit jener Wahrheitsgewissheit versehen können, die den genannten erkenntnistheoretischen Einwand gegen sie zu überwinden vermögen. Auch hierbei geht es natürlich um nichts anderes als darum, wie gegenstandsbezogenes menschliches Reden die zwischen Immanenz und Transzendenz bestehende Grenze überschreiten kann, und im Blick auf diesen Sachverhalt lässt sich zusammenfassend formulieren: Die Intention der apokalyptischen Redeform besteht darin, das erkenntnistheoretische Gewissheitsproblem zu lösen, dem jede menschJiche Rede unterliegt, die den Anspruch erhebt, immanenter menschlicher Verifikationsmöglichkeit entzogene und trotzdem glaubwürdige Aussagen über transzendente Sachverhalte zu formulieren.
11. Apokalypsen als Enthüllung von Stories John Collins hat in seiner überaus einflussreichen Definition den nomUivell Rahmen (»narrative framework«) als eines derjenigen Fonn-Elemente identifiziert, die für die literarische Gattung )Apokalypse< charakteristisch sind. 41 An 39 Vgl. danl Stegemann, Bedeutung, 504fJ. 40 Härle. Dogmatik. 604 (Hervorhebungen im Original).
41 Collins, lntrodudion. 9: »There is aJWIYS a narrative framework in which the manner ofrevelatk>n is descnbed«; vgl. auch ebd.: » )A~ is a genre of revelalory literature with a narrative
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Michael Wo/ler
anderer SteDe in demselben Aufsatz sieht er in diesem Rahmen einen der beiden Hauptteile (»main sections«), die das »master-paradigm( jeder Apokalypse bildeten. 42 Hinzu kommt nun aber noch, dass auch der Inhalt der Enthüllung als der zweite Hauptteil des »master-paradigm« in vielen Apokalypsen über weite Strecken ebenfalls aus narrativen Texten besteht. 43 WIr woUen sie hier
mit dem ~)schönen und typisch englischen Wort«44 Story bezeichnen, weil sich dieses Wort aufgrund seiner semantischen Polyvalenz ausgesprochen dafUr eignet, die besondere lntention herauszuarbeiten, die der narrativen Gestaltung der Apolallypsen zugrunde liegt.
[11. Israel als Story. Israels Story und Israels Stories Die Fonnulierung der Überschrift soU zweierlei signalisieren: Sie zeigt an, dass im folgenden (I .) zwischen drei Bedeutungsebenen des Story-Begriffs unterschieden wird und dass es (2.) die Identität Israels als erwähltes Gottesvolk ist, die den maßgeblichen Referenzrahmen fur das Anliegen der frühjüdischen Apokalyptik im Allgemeinen sowie von Dan 7 im Besonderen konstituiert. I.
Versuch einer Story-Typologie
a)
Eine Story ist die sprachliche Wiedergabe von Ereignissequenzen (Iat. lIarratio, griech. örfrrTJOtc; eng!. narrative). Die prägnanteste Defmition fur diesen
Oebmuch h.be ich bei Edward M . Forster gefunden: Als Story gilt ihm
narrative of events arranged in therr timesequence«.45
».
b) Der Begriff Story ist weiterhin anwendbar aufidentitätsbegründende Ereignisse der Vergangenheit, die im Modus koUektiver oder individueller Erinnerung in der Gegenwart präsent sind und hier durch »Erinnerungsfiguren«46 wachgehalten werden können. Ich möchte sie darum im Folgenden >erinnerte Stories 45 Foster, Aspects. 116. 46 Assmann, Gedächtnis, 12. 47 Ritschl. _Storylanwendetdeute jederAllesKomme< der Vereinigung stehen. Und »wer bist du Koth, daß du das Bild nicht fUhlest! «Sl Die Spannung zwischen idea1isierter Proposition und Metapher wird von Herder also eingeebnet. AJles, was Text ist, ist redurierbar auf das >Kommreine Paraphrasenkommen< immer wieder und - bei genauer Adressierung - jeweils spezifisch, verständlich zu sagen. Es geht Herder in diesem Sinne nicht um eine histori-
sche Bibelexegese, sondern um die auch historische Ostentation einer transzendenten Wahrheit, die geschichtlich kontextualisiert, um die geschichtliche Dimension hinter sich zu lassen. Das )komm, gilt (auch) dem Leser. Es sagt: Schlag Dich auf meine Seite und akzeptiere diese Botschaft der Apokalypse, die Dich durch meinen Text anspricht . Mein Text allein bereitet den Boden für eine Lektüre der Offenbarung des Johonnes, der es gelingt, das >reine Komm< freizulegen, indem es das >Komm< wiederholt, Objekt- und Metaebene ineinsfallen läßt. Mein Text nämlich isl, indem ich ihn in jenes >reine Komm<wieder einschreibe. durch das er zugleich legitimiert wird. Auf diese Weise verfaßt auch Herder einen heiligen Text. Heilig ist er als die ErfuUung des >Ko mm< beim Leser, der sich so verhalten soll, als sei er der erste Hörer. Düferenztheoretisch refonnuliert : Was Herder sich zu verhindern genötigt sieht, ist die Beobachtung der Beobachtung, also eine Beobachtung zweiter Ordnung, mithin die Geburt des modemen Kommentars. Seine Offenbarung gilt - gegen die res publica Iiteraria - einer virtueUen Öffentlichkeit, die auf eine Lesehaltung hin trainiert werden soLi, in der der Bedeutungsfindung keinerlei Zeit, keinerlei Aufschub gewährt wird. Das, was in der Schleiennacherschen Henneneutik später als bewusstes und damit längere Zeitverhältnisse konstitutiv voraussetzendes Mit- und Gegeneinander von grammatischer und psychologischer Interpretation gedacht wird, kommt in Herders apokalyptischer Henneneutik als apokalyptischer Rhetorik nicht vor. »SchneU war ich im Geist«: Dieser Satz ist zumindest zweifach zu lesen. Erstens kennzeichnet es das Himmelfahrtstempo des Interpreten; und zweitens markiert es die Zeitraffung in der DarsteUung der Wolkenbewegungen, die - sobald der Deuter ohen angelangt - den interpretatorischen Himmelsweg charakterisiert. Herder schreibt einen Kommentar, damit kein Ko mmentar mehr sein soU; er macht den Weg zur »Offenbarung« frei, da leer. Die persuasio einer so verstandenen apokalyptischen Rheto rik läge also darin, in der Eröffnung der Rede einen Status des eigenen Textes zu fingieren , der ausschließlich an der Legitimität und Bedeutungssicherung des Redenden interessiert ist und seine Geltung!W\sprüche als Mo rtifikatio nsgeschäft durch-
S3 Ebd.. 11.
ApoktJlyptisdle Hermeneutik (nach Herder)
145
zuführen versucht. Zu diesem Zweck reoralisiert er die eigene Schrift, in deren vermeintlicher Aüchtigkeit er dem Leser ein Hier und Jetzt imaginieren will, das nur den einen Augenblick eröffnet und in ihm verlangt, fiir Freund oder Feind zu optieren. Die dieser Rhetorik zugrundeliegende Hermeneutik behauptet dabei, analog zu kommunizieren und damit der Augustinischen )Sach~ Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Unterschiede sind ihr jene auszurottende Vielheit, die manche Namen haben kann: Parlamentarismus, Geschwätz, Vielweiberei. Es geht also um mehr als nur die Auslegung eines geoffenbarten Textes. Auf dem Spiel steht, alle vom Schreiber gedeuteten Texte als geoffenbarte zu validieren und damit den Raum nur fiir die eigene Stimme zu öffnen. Eine apokalyptische Hermeneutik kennzeichnet so der Versuch, alle anderen Stimmen im Text nur erscheinen zu lassen, um sie schnellstmöglich zu überschreiben. Die Souveränität des Interpreten ist (als eine politische) immer an die Überwindung eines Feindes gebunden, der nicht nur eine andere Meinung vertritt, sondern fiir die Gleichwertigkeit unterschiedlicher Meinungen als Prinzip steht - fiir Babel eben. Babel aber versucht die Apostrophe den Garaus zu machen.
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JÜRGEN BROKOFF
Ende der Aufklärung Apokalyptik und Geschichtsphilosophie in Lessings Erziehung des Menschengeschlechts
1. Gotthold Ephrairn Lessing steht nicht im Verdacht, fiir apokalyptisches Denken empfanglich gewesen zu sein. ln seinem theologischen NachJass gibt es eine His-
torische Einleitung in die Offimbarung Johannis, die nach eigenem Bekunden die widerspruchsvoUe »Geschichte« 1 des neutestamentlichen Textes erzählen will. Diese - Fragment gebliebene - ErzähJung einer Textgeschichte ist im Umkreis von weiteren Schriften Lessings anzusiedeln, die sich alle einer historisch-kri-
tischen Methode bedienen und die damit in enger Verbindung zum neologischen Schrifttum der Zeit stehen. 2 Ohne mit den Zielen der »neuen Lehre« der Bibelauslegung übereinzustimmen, geht es auch Lessing bei der Anwendung der historisch-kritischen Methode darum, in »freier Untersuchung«) zu zeigen, dass die Aufuahrne der Johannesapokalypse in den biblischen Kanon auf historisch zufallige Weise erfolgt und der Kanon selbst )>Ohne allen P1an«4 zustande gekommen sei. In diesem Zusammenhang bezeichnet Lessmg die Evangelisten »als bloß menschliche Geschichtschreiber«s. Unschwer ist zu erkennen, dass sich Lessmg mit diesen provokativen Formulierungen gegen den überkommenen Otfenbarungsbegriff wendet, der etwa von der lutherischen Orthodoxie m Gestalt des Hamburger Hauptpastors Johann Melchior Goeze verteidigt wird. Denn mit den Hypothesen von der historisch zufalligen, »)planlos[en]«6 Kanonbildung und der menschlichen Verfasserschaft wird der Wahrheitsanspruch der biblischen Offenbarungsschriften relativiert. Diese Relativierung betrifft selbstverständlich auch die Johannesapo1 Lessing, Historische Einleitung, 656. 2 Vgl. Scholder, GrundzÜge; Aner, Theologie der Lessingzeit. ] Der Theologe Johann Sa1omo SemJer hatte in den Jahren 177 1- I 775 seine Abhandlung l'On freier Untersuchung des Canon veröffentlicht. ln einem Brief vom 11 . November 1774 kündigt Lessing gegenüber seinem Bruder eine eigene »noch freiere Untersuchung des Canons alten und neuen Testaments etc.« an. Eine Arbeit mit diesem TItel, die wohl im wesentlichen in der kommentierten Edition eines weiteren Reimarus-Pragml!l1u bestanden hätte. ist in Lessings Nachlass allerdings nie gefunden worden. - Zu Semier vgl. den 0 1x .. blick in: Reventlow, Epochen, 175-189. 4 Lessing, Historische Einleitung, 655. 5 Lessing, Neue Hypothese. 6 Lessing, Historische Einleitung, 655.
148
Jürgen BrokoJJ
kalypse. Wenn die heiligen Schriften, historisch-kritisch betrachtet, das Werk
»bloß menschlicher Geschichtschreiber« sind, wie können sie dann einen Wahrheitsanspruch erheben, der über ein menschliches Maß hinausgeht? Nun besteht aber der Wahrheitsanspruch, den etwa die JohannesapokaIypse für sich erhebt, gerade darin, das geoffenbarte Wort Gottes zu verkünden. Und nicht nur das. Da die Wahrheit über das Ende der Geschichte, d. h. den Untergang der Welt und das kommende Gottesreich nicht allein in, sondern zugleich von der Johannesapokalypse offenbart wird, beansprucht dieser Text, selbst am geoffenbarten Wort Gottes teilzuhaben. 7 Auch wenn der Offenbarung,text dabei die Behauptung auf'teUt, die Wahrheit auf dem Wege der Inspiration mitgeteilt bekommen zu haben, so ist doch der Text selbst die einzige Mitteilung dieser Wahrheit. Wie der Philosoph Jacques Derrida in seiner Analyse des apokalyptischen Tons herausgearbeitet hat, beansprucht der Text der Johannesapokalypse so gesehen )~her die Wahrheit des Offenbarens als die geoffenbarte Wahrheit.«8 Wie immer man die komplizierte Erzählstruktur des neutestamentlichen Textes im einzelnen bewerten mag: Sicher ist, dass die erzählende Instanz der Johannesapokalypse fiir sich eine privilegierte Redeposition in Anspruch nimmt und von sich behauptet, ein übernatürliches Wissen von der Zukunft der Welt zu besitzen. Von dieser Redeposition aus ist es dem apokalyptischen Text nicht nur möglich, über das Ende der Geschichte, d. h. den Untergang der Welt und das kommende neue Jerusalem zweifelsfrei zu berichten: »Diese Worte sind gewiss und wahrhaftig« (OfIb 22,6). Das uneingeschränkte Wissensmonopol in Fragen der Zukunft versetzt ihn auch in die Lage, die Wahrheits- und Geltungsansprüche anderer Texte zunichte zu machen. Es gibt aus der Sicht der Johannesapokalypse schlechterdings keinen Text, der in Fragen der Zukunft gleichberechtigt neben ihr stehen könnte. Die Johannesapokalypse setzt deshalb nicht einfach nur einen Diskurs über das Ende der Geschichte frei, sondern ist selbst ein beendender Diskurs, der, so ließe sich zeigen, tief von einer Struktur sprachlicher Gewalt durchzogen ist. 9 Gegen einen solchen Wahrheitsanspruch, der sich auf eine privilegierte Redeposition und den Besitz eines übernatürlichen Wissens grundet, ist in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sowohl die historisch-kritische Theologie als auch Lessing zu Felde gewgen. Bei Lessing geht jedoch die Relativierung des Wahrheitsanspruchs der Johannesapokalypse und der anderen biblischen Offenbarungsschriften mit einer erheblichen Verkomplizierung des Wahrheits-
7 Vgl. dazu meine Analyse in: Brokoff, Apokalypse, 15- 30. 8 Vgl. Derrida, Apokalypse. 73. 9 Vgl. Brokoff, Apokalypse. 26-30.
Apokalyptik in Lessingr Erziehung des Menschengeschlechts
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problems insgesamt einher. 10 Diese Verkomplizierung hat auch Auswirkungen auf den Wahrheitsanspruch von Lessings eigenen Texten. Vor allem in seinen theologiekritischen Spätschriften, die im Zusammenhang des Streits um die von ihm herausgegebenen Reimarus-Fragmenle entstanden sind, 3J beitet Lessing an einer Vervielfattigung seines Wahrheitsbegriffs. Bevor die Frage diskutiert werden kann, welchen Wahrheitsanspruch Lessings letzte zu Lebzeiten veröffentlichte Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts für sich erhebt und wie sich dieser zum kritisierten Wahrheitsanspruch der Johannesapokalypse verhält, ist deshalb der Blick zunächst auf die Vervielfaltigung des Wahrheitsbegriffs bei
Lessing zu richten.
II. Lessing unterscheidet in bezug auf die biblischen Offenbarungsschriften mehrere »Klasse[n] von Wahrheiten« 11: die »Geschichtswahrheiten«, die sogenannte »innere Wahrheit« und die »Vernunftwahrheiten«. An erster SteDe steht dabei die Kritik an den »zufalligen Geschichtswahrheiten« 12. Um solche »Geschichtswahrheiten« handelt es sich nach Lessing beispielsweise bei den »Weissagungen und Wundern« I) Christi, von denen die biblischen Texte berichten. Insofern diese Texte zwar »glaubwürdig« 14 und »zuverlässig« lS von den Weissagungen und Wundem Christi berichten, aber doch eben bloß »Nachrichten« 16 von denselben sind, können sie nicht als »Beweise für die Wahrheit der christlichen Religion« 17 herangezogen werden. Die Q1la1ifmerung der bit>-tischen Texte als »Nachrichten«, die als »menschliche Zeugnisse« 18 so oder auch anders lauten können, macht deutlich, dass Lessing den Offenbarungsschriften aufgrund ihrer Geschichtlichkeit und Kontingenz einen ernsthaften Wahrheitsanspruch nicht zubilligen kann. Für ihn ist »alle historische Gewiß-
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Oies unterscheidet Lessing von zeitgenössischen Neologen und Deisten. die mit Hilfe der historischen BibelJcritik bzw. durch den Nachweis der Unmöglichkeit einer göttlichen Offenbarung versucht haben., sich des Wahrheitsprob1ems zu entledigen. Vgl. dall! Smend, Lessing, 309. Lessing, Über den Beweis. 443. Ebd.. 441. Ebd. Ebd. Ebd.
16 Elxt.44O.
17 Lessing antwortet mit seiner Schrift Oberden ßeM'eisdes Geislt!S und der Kroj/ auf eine AbhandJung des Theologen und Gymnasialdirelclors Johann Daniel Schumann, die den TitelOberdie E~idenz der Beweisefor die Wahrheit der dlriJllidlen RL!igkm trägt. 18 Lessing, Ober den Beweis. 440.
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heil viel zu schwach« 19, als dass sie etwas beweisen könnte, das außerhalb des Historischen selbst steht. Um den Wahrheit,begriff in bezug auf die Offenbarungsschriften dennoch nicht ganz aufgeben zu müssen, differenziert Lessing zwischen dem »Buchstaben«20 und dem »Geist«21 der Bibel, zwischen einer äußeren und einer »inneren Wahrheit«22 der schriftlichen Überlieferungen. 23 Als Geist und innere Wahrheit versteht er denjenigen Teil der biblischen Texte, >>der Religion ist«24. Die Religion ist dabei nicht notwendig, sondern nur zuf:illig an die biblischen Texte gebunden. Dies zeigt sich für Lessing unter anderem an der Tatsache,
dass die christliche Religion bereits vor der Abfassung der biblischen Texte ()~he eine Bibel war«2J) existiert hat. Nach seiner Auffassung muss es deshalb »3uch mögtich sein, daß alles, was Evangelisten und Apostel geschrieben haben, wiederum verloren gänge. und die von ihnen gelehrte Religion doch bestände.«26 Es handelt sich bei der inneren Wahrheit aJso streng genommen nicht um eine Wahrheit der schriftlichen Überlieferungen. sondern um eine Wahrheit der christlichen Religion, die von den schriftlichen Überlieferungen nur getragen wird . 21 Eines der wichtigsten Kennzeichen der inneren Wahrheit der christlichen Religion ist deren ) Vernunftmäßigkeit« 28 . Damit ist zunächst gemeint. dass ein auf den .)Geist der Bibel« 29 ausgerichtetes Christentum sich nicht im Widerspruch zu den Grundsätzen der Vernunft befmdet. »)Wir sind Christen. biblische Christen, vernünftige C hristen. Den woUen wir sehen, der unser Christentum des geringsten Widerspruchs mit der gesunden Vernunft überfuhren kann!«30 Die Widerspruchsfreiheit bedeutet allerdings nicht, dass die innere Wahrheit der christlichen Religion einfach auf »notwendige Vemunftswahrheiteo«l l reduziert 19 Ebd .. 441. 20 Leuins, Gegensätze, 312: den.. Axiomata, 63. 21 Ebd. 22 Lessing, Gegensätze, 313. 2l Vgl. Bohnen, Geist und Buchstabe; Bollac her, Lessing: Vernunft und Geschichte. 130-157. 24 Lessing, Axiomata, 63 . 25 Lessins. Gegensätze, 312. 26 Ebd.• 313. 27 Lessings Formulierungen sind in diesem PunkI nicht SO eindeutig, wie man vieUeicht denken könnte, Der Begriff der »inneren Wahrheit_ bezieht steh sowohl auf die Religion als auch auf die schriftlichen Überlieferungen. Wahrend der in den Gegmstitzm formulierte Satz »Aus ihrer lnnem Wahrheit mflssen die schril'Uk.hen Überlieferungen erklärt werden. und alle schriftlichen Überlieferungen können ihr keine innere Wahrheit geben. wenn $le keine hat_ (Gegensätze, 313) die innere Wahrheit der Religion meint, spricht Lessing in den Axiomata von der »inneren Wahrheit eines geoffenbarten Satze~ (Axiomata, 79). 28 Lessing, Axiomata, 81 . 29 Ebd.,63. 30 Lessing, l'Zu Reimarus: Von Dukluns der DeistenJ. 133. 31 Lessing. Über den Beweis. 441 .
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werden kann, obwohJ Lessing diese den kritisierten »zufälligen Geschichtswahrheiten« gegenübersteUt. Lessings Auffassung ist auch in diesem Punkt wo einiges komplizierter und unterscheidet sich deutlich von rationalistischen oder deistischen Positionen. So hält Lessing im Gegensatz zu dem >ungenannten< Theologen und Orientalisten Hermann Samuel Reimarus an einem Offenbarungsbegrifffest, der nicht mit dem VernunftbegriffzusammenfaJJt. »Denn was ist eine Offenbarung, die nichts offenbaret?«)2 Lessing stellt zwar einerseits die Nichtidentität von Vernunft und Offenbarung fest, aber im Gegenzug startet er die Vernunft mit einem Entscheidungsmonopol aus und räwot ihr damit eine VorrangsteUung gegenüber der Offenbarung ein: »Ob eine Offenbarung sein kann, und sein muß, und welche von so vielen, die darauf Anspruch machen, es wahrscheinlich sei, kann nur die Vernunft entscheiden.«)) Die Verwendung des Adjektivs »wahrscheinlich«, die eine letzte Gewissheit ausschließt, bezieht sich wohJgemerkt nur auf die Pluralität der Offenbarungsansprüche (mit denen die unterschiedlichen positiven Religionen gemeint sind), nicht aber auf die viel grundsätzlichere Frage, ob eine Offenbarung )}sein kann, und sein muß«. Erkennbar wird an dieser Stene, dass sich Lessings Argumentation gegen zwei Gegner richtet . Gegen den Rationalismus und den Deismus betont er die Nichtidentität von Vernunft und Offenbarung, gegen die lutherische Orthodoxie fuhrt er die Vorrangstellung der Vernunft ins Feld. )4 Diese doppelte Gegnerschaft fuhrt Lessings Texte zuweilen hart an die Grenze der Paradoxie. Wrr werden dies später auch bei der Eniehung des Menschengeschlechts sehen. Doch nicht nur das Festhalten an einem von der Vernunft verschiedenen Begriff der Offenbarung verdeutlicht den Vorbehalt Lessings, die innere Wahrheit der Religion in rationalistischer Weise auf »Vernunfts wahrheiten« zu reduzieren. Einer solchen Reduktion steht vor allem sein lnteresse am »Praktischen«)S des Christentums entgegen. Es ist dieses Interesse, durch das der Wahrheitsanspruch der biblischen Offenbarungsschriften bei Lessing am stärksten relativiert wird. Die innere Wahrheit der Religion erschöpft sich bei weitem nicht in dem, was von ihr in den biblischen Texten enthalten ist. Sie manifestiert sich nicht nur in den überlieferten Texten der Bibel, sondern auch und vor allem in einem >gelebten< Christentum. Diese Ausrichtung auf das »Praktische« des Christentums ist in Lessings Werk von Beginn an vorhanden. Schon in seinen um 1750 entstandenen Gedanken über die Herrnhuter mahnt er im Blick auf die Geschichte des Christentums an, dass »das ausübende Christentum von Tag zu Tag abgenommen hat, da unterdessen das beschauende durch phantastische Grillen und menschliebe Erweiterungen zu einer Höhe 32 Lessing, Gegensätze, 316. 33 Lessing, Gegensätze, 316. ) 4 Vgl. dam grundlegend Schilson, Geschichte. )5 Lessing, Das Testament Johannis, 453.
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stieg, zu welcher der Aberglaube noch nie eine Religion gebracht hat.«16 Und bereits in diesem frühen Fragment schließt die Kritik am Christentum, bei dessen Siegeszug nach Lessing die theoretische und die praktische Seite immer weiter auseinandergefaJlen sind, zumindest indirekt die Kritik an einer einseitigen Wahrheitsorientierung ein: »Der Aberglaube fiel . Aber eben das, wodurch ihr ihn stürztet, die Vernunft, die so schwer in ihrer Sphäre zu erha1ten ist, die Vernunft führte euch auf einen andem Irrweg, der zwar weniger von der Wahrheit, doch desto weiter von der Ausübung der Pflichten eines Christen entfernt war.(17 Das Christentum hat nach Lessings Auffassung mit einer christlichen Praxis nicht mehr viel zu tun . Das Verhältnis zwischen Theorie (»Wahrheit«) und Praxis (»Ausübung«) ist aus dem Gleichgewicht geraten. In den Blickpunkt der Kritik rückt damit die Theologie insgesamt, die sich nach Lessings Auffassung isoliert mit theoretischen Wahrheitsfragen beschäftigt und durch die Erforschung der Offenbarungsschriften den wesentlichsten Teil der christlichen Religion außer Acht gelassen hat. Die in Lessings Spätwerk vor allem in den Streitschriften mit Goeze exponierte Unterscheidung zwischen dem »)Theologen« und dem »Christen« hat hier ihren tieferen Sinn. 38 Es geht Lessing dabei nicht allein um eine Rechtfertigung seiner von der SchuJtheologie abweichenden Schreibweise, sondern auch darum, den )Mehrwert( des Christen herauszustellen: »Ich habe noch immer die besten Christen unter denen gefunden, die von der Theologie am wenigsten wußten.«3\! Verbunden ist mit der Theologiekritik auch die Kritik an einem falsch verstandenen Christentum, das sich der theologisch beglaubigten Autorität der biblischen Offenbarungsschriften unterwirft . Wenn der wertvollste Teil der christlichen Religion nicht in den biblischen Texten, sondern im Leben zu finden ist, wenn die innere Wahrheit der Religion etwas anderes ist als theoretische und abstrakte Wahrheit, dann muss nach Lessing ein recht verstandenes Christentum nicht nur zur Theologie Abstand haJten; es muß sich letztlich von den Texten selbst abwenden und deren Wahrheitsanspruch weniger wichtig nehmen . 4O In diesem Verständnis des Christentums manifestiert sich der veränderte Wahrheitsbegriff Lessings: Die innere Wahrheit der christlichen Religion. die »keiner Beglaubigung von außen bedarf «41, ist eine Wahrheit auf dem Gebiet des »Praktischen« . Bei Lessing rückt deshalb ganz die Subjektivität des Christen und dessen Lebensvollzug ins Zentrum : »Was gehen den Christen des Theologen Hypothesen. 36 1 essin&. Gedanken, 940. 17 I enmg, Gedanken, 941. 18 Vgi. etwa Lessing, Axiomata, 83.
l\! Ebd~ 87. 40 In Lessiogs Drama NarJum der Wdse manifesrien sich diese Abwendung von den Texten beispielsweise in einer Aussage Reclw. der PfIegetochler Nathans. gegenüber der Schwesler des Sultans: ~Mein Valer liebT I Die kalle Buchgelehrsamkeit. die sich I Mit toten Zeichen ins Gehirn drüclcl l Zu wenig.1( (V. 6). 41 Lessing, Axiomata, 79.
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und Erklärungen, und Beweise an? lhm ist es doch einmal da, das Christentum, welches er so wahr, in welchem er sich so seüg fühJet.( 42 Die weitreichenden Konsequenzen, die sich aus dem veränderten Wahrheitsbegriff der Spätschriften Lessings ergeben, soUen hier nicht weiter verfolgt werden .4) Soviel dürfte aber klar geworden sein: Die Abwendung von theoretischen Wahrheitsfragen ist als der eigentliche Grund anzusehen, warum Lessing auch dem Wahrheitsanspruch von Texten wie der Johannesapokalypse so distanziert gegenübersteht. Die Hinwendung zum »Praktischen«, zum »ausübenden ChristentumK:OUektive Ding, das menschliche GeschJecht.c. ist bekanntlich von Less ings Freund Moses Mendelssohn kritisiert woroen. Vg1. Mendelssohn, Jerusalem, 92.
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Geltungsanspruch des Textes lässt sich kaum denken: Sie trägt gewaltsame Züge. 63 Diese Gewaltsarnkeit erstreckt sich aber nicht nur auf den Leser, sondern auch auf andere Texte. Indem der Sprecher des Lessmgschen Textes jeden Zweifel an der Gilltigkeit seiner Aussagen mit dem Ausruf »)lästerung! Lästerung!« beendet, macht er die Wahrheits- und Geltungsansprüche anderer Texte zunichte. Durch den Ausruf wird unmissverständlich deutlich, dass der Sprecher des Lessingschen Textes keinen anderen Sprecher neben sich dwdet. Der Text lässt dabei keinen Zweifel daran, in wessen Namen der Ausruf geschieht. Er geschieht im Namen der Wahrheit, deren Autorität anzutasten unmöglich ist . Da nun aber die Wahrheit, aus der heraus gesprochen wird, zugleich das vom Text vorgestellte Ende der Entwicklung, d . h. deren letzte Stufe - >.völlige Aufklärung~( - ist, manifestiert sich in dem Ausruf .>Lästerung! Lästerung!« der apokalyptische Einbruch des dargestellten Endes in die Darstellung selbst. Alles, was es zur Zukunft der Welt und zum Ende der Geschichte, zur Erreichung des Endziels, zu sagen gibt, ist hier, im eigenen Text, bereits gesagt. Selbst wenn der Text das Endziel einer zukünftigen Entwicklung schildert, er hat selbst durch das Zunichtemachen anderer Wahrheits- und Geltungsansprüche die gewaltsame Enthüllung der Wahrheit - die Apokalypse bereits vollzogen. Dass dieser Einbruch des Endes, der enthüllende Einbruch der Wahrheit apokalyptische Züge trägt, macht auch die Zeitstruktur des Ausrufs deutlich. Er geschieht plötzlich, ohne Vorankündigung, mit jener schlagenden Unvennitteltheit, die rur die zeitverkürzende, augenblickhafte Struktur der Apoka1ypse so charakteristisch ist. Auch wenn das vom Ausrufenden vorgesteUte Endziel der Entwicklung von Gewalt frei sein mag, der Ausruf selbst trägt alle Kennzeichen apoka1yptischer Gewalt. In ihm manifestiert sich die perfonnative Gewalt der eigenen apoka1yptischen Redefonn. Mit der perfonnativen Gewalt seiner apoka1yptischen Redefonn handelt sich der Lessingsche Text ein nicht unbedeutendes Problem ein . Dieses Pr0blem wird vom Text selbst benannt, allerdings nicht in einem auf sich bezogenen, selbstkritischen Sinne. In den Paragraphen 87 bis 90 spricht der Text über die apoka1yptischen »Schwänner des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts«, die das Kommen eines dritten Zeitalters » SO nahe verkündigten«. Interessant ist für unseren ZlIsammenhang nicht so sehr, dass der Lessingsche Text sein eigenes GeschichtsmocleU mit den mittelalterlichen Geschichtsspekulationen des Joachim von Fiore und seiner Nachfolger in Beziehung setzt. Wichtiger scheint mir die ambivalente Position zu sein, die Lessings Text in §90 gegenüber den »Schwännern« einnimmt: Der Schwänner tut oft sehr richtige Blicke in die Zukunft: aber er kann diese Zukunft nur nicht erwarten. Er wünscht diese Zukunft beschJeuniget; und wünscht, daß sie 63 v gl. da m auch den Beitrag von Jiirgen Fohnnann in diesem Band.
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durch ihn beschleuniget werde. Wozu sich die Natur Jahrtausende Zeit nimmt, soU in dem AugenbLicke seines Daseins reifen.
Man kann sagen, dass das, was Lessings Text beim mittelalterlichen »Schwärmer« kritisiert, in gewisser Hinsicht auf ihn selbst zutriffi:. Durch ihn, den
Lessingschen Text, soll die Zukunft beschleunigt werden. Die performative Struktur der apokalyptischen Redeform lässt die Zukunft - die »völlige AufIdärung«( - schon hier und jetzt, in die Gegenwart des Textes, gewaltsam einbrechen: »in dem Augenblicke seines Daseins«, AUerdings, und auch das gilt es festzuhalten. wird dieser Einbruch der Zukunft in die Gegenwart vollständig von der geschichtlichen auf die performative Ebene verschoben. Gerade darin, in dieser Verschiebung, liegt die Besonderheit des Lessingschen Textes. Die performative Struktur der apokaJyptischen Redeform hat aber nicht allein zur Folge, dass man in Lessings Text eine »Schwännerei« der Aufklärung sehen kann . Zu Ende gedacht, wird durch die Gewaltsamkeit dieser Struktur die Aufklärung, die der Text für sich in Anspruch nimmt, selbst in Frage gestellt. Dies kann durch den Rückgriff auf Lessings Text oder genauer: auf die bereits angefUhrte Differenz zwischen Mitteilung und Erwerbung verdeutlicht werden. Lessings Text hatte mit dieser Unterscheidung den voreiligen Charakter der anfanglichen Offenbarung Gottes kritisiert, die den Menschen nicht genügend Zeit gegeben habe, die Offenbarung vernunftmäßig zu erwerben. Gleiches gilt auch für Lessings Text. Der gewaltsame Vollzug der Enthüllung der Wahrheit, der jeden Zweifel an dieser Wahrheit zurückweist, lässt seinerseits keine Zeit für eine vernunftmäßige Erwerbung. Die Enthüllung der Wahrheit in Lessings Text ist bloße Mitteilung, ist Offenbarung, die nur anerkannt oder aber - in den Worten des Textes - »gelästert« werden kann . Die performative Struktur der apokalyptischen Redeform sorgt in Lessings Text dafur, dass die als Erwerbungsvorgang verstandene Aufklärung im Mo ment ihrer gewaltsamen Einsetzung als »völlige Aufklärung« zugleich suspendiert ist. Das im Namen der Aufklärung in die Darstellung einbrechende Ende bedeutet zugleich das Ende der Aufklärung. Nicht das Ende der Aufklärung insgesamt, sondern das Ende der Aufklärung, das in Lessings Texl auf apokalyptische Weise herbeigeführt wird.
v. Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Erziehungsschrift in einem starken Spannungsverhältnis zu der im ersten Teil der Untersuchung beschriebenen, offenbarungskritiscben Position Lessings steht. Für dieses Spannungsverhältnis ist vor allem die apokalyptische Redefo rm der Erziehungsschrift verantwortlich. Dabei ist es nicht allein die performative Gewalt dieser Redeform, sondern deren Verknüpfung mit einem auf das Ende der Menschheitsgeschichte ausgerichteten Wahrheitsanspruch, durch die die Erziehungsschrift in einen
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Gegensatz zur offenbarungskritischen Position Lessings tritt. Wie zu Beginn ausgefuhrt wurde, bestand die Pointe dieser Position gerade in einer Enthaltsamkeit gegenüber theoretischen Wahrheitsfragen. Und diese Enthaltsamkeit kulminierte in der Forderung, jenen Positionen, die den Anspruch erheben, über das Zukünftige »)ganz ungezweifelt«64 zu unterrichten, »kein Gehör«65 zu geben. Es spricht einiges dafür, dass Lessing dieses Spannungsverhältnis zwischen seiner offenbarungskritischen Position und der Erziehungsschrift bewusst gewesen ist. 66 Die daraus resu1tierende Sonderstellung der Erziehungsschrift mag ihm vor Augen gestanden haben, als er sich entschloss, für diesen Text keine Autorschaft zu beanspruchen. Letztendlich kann die Frage, warum Lessing sich dazu entschlossen hat, nur spekulativ beantwortet werden. Die apoka1yptische Redeform der Erziehungsschrift und das in dieser Redeform zum Ausdruck kommende Ende der Aufldärung könnten aber als mögliche Gründe dafür angesehen werden. Dies hätte gegenüber Erklärungsversuchen, die Lessing bloß taktische Gründe unterstellen, zwnindest den Vorteil, dass man ein Argument angeben kann, das aus der Sache selbst gewonnen wird, ein Argument, das aus der Analyse des Textes hervorgeht. Die Erziehung des Menschengeschlechts war nicht das letzte Wort Lessings. In der neueren Lessing-Forschung zeichnet sich in bezug auf die Entstehungszeit der Erziehungsschrift die Tendenz ab, ein früheres Datum der Fertigstellung anzusetzen, ohne freilich dieses Datum genau angeben zu können. Demnach kann man davon ausgehen, dass die Erziehungsschrift noch vor Lessings letztem großen Drama Nathan der WeLSe abgeschlossen wurde. 67 Den inhaltlichen Argumenten, die fiir eine solche - zeitlich frühere - Einordnung der Erziehungsschrift sprechen, könnte durch die hier geleistete Analyse ein weiteres an die Seite gestellt werden. Dies soU zum Schluss kurz angedeutet werden. Dazu muss man sich noch einmal die Sonderstellung der Erziehungsschrift 64 Lessing, [Womit sich die geoffenbarte Religion ... ). 663 .
65 Ebd. 66 Neben dem bereits behandelten »Vorbericht des Herausgebers'ewig dauernde Veränderung seines Zustandes (des sittlichen sowohl als physischen)«. Für einen »unendlichen Progressus« wäre nach dieser Fonnulierung in der Tat die Unsterblichkeit des ganzen Menschen mit Leib und Seele anzunehmen. Dabei verbessert sich nach Kants Worten nicht nur beständig der sittliche Zustand des Menschen. Auch der physische Zustand verbessert sich demnach beständig. Weil nun der Mensch in diesem »)unendlichen Progressus« offenbar immer noch den Bedingungen der Sinnenwelt unterliegt und daher seine Glückseligkeit durch sittliches Handeln allein nicht bewirken kann, muss man annehmen, dass die beständige Verbesserung des physischen Zustandes des Menschen durch Gott bewirkt wird. lnjenem »unendlichen Progressus«, von dem die Kritik der praktischen Vernunft sprach, würde folglich der Mensch seinen sittlichen Zustand unendlich verbessern, während Gott den physischen Zustand des Menschen unendlich verbessert, indem er dem Menschen Glückseligkeit jeweils genau entsprechend der erreichten Sittlichkeit zuteilt. Mit dieser - man muss schon sagen: merkwürdigen - Vorstellung von Unsterblichkeit kann der Mensch keine Zufriedenheit verbinden, stellt Kant in Das Ende aller Dinge fest. Deshalb führt er die Annahme eines Endes aller Dinge ein, durch das das höchste Gut verwirklicht wird . Damit revidiert Kant seine bisherige Vorstellung von Unsterblichkeit. Denn mit dem Ende aller Dinge hat alle Veränderung und damit auch der )}Progressus« des Menschen ein Ende. Dieser »Progressus« kann folglich nur potentiell unendlich sein. Ist aber der »)Progressus« nur potentiell unendlich 7 dann entfallt die Notwendigkeit, die Unsterblichkeit des ganzen Menschen mit Leib und Seele zu postulieren. Denn es war eine Implikation der Idee eines tatsächlich niemals endenden »Progressus«, dass der Mensch jederzeit ein Wesen der Sinnenwelt bleiben muss, also mit Leib und Seele unsterblich ist. Wird dagegen der »Progressus« durch ein Ende aller Dinge beendet, dann entf3.llt die Notwendigkeit, die Unsterblichkeit des ganzen Menschen mit Leib und Seele zu postulieren. Deshalb schreibt Kant, das Ende aller Dinge sei der Anfang der Existenz der Menschen als übersinnliche Wesen . Die Idee einer übersinnlichen Existenz des Menschen, die Kant in Das Ende aller Dinge entfa1tet, widerspricht der Idee der Unsterblichkeit des ganzen Menschen, die in der Argumentation der Kritik der praktischen Vernunft impliziert war. Sie entspricht aber der Idee der »Unsterblichkeit der Seele
Kants Das Ende aller Dinge und die Eschalologiekririk bei Levinas
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wird, der seinerseits die Moral widerlegt. Wenn Levinas erneut auf die Philosophie und ihr Ideal, der Erfahrung gerecht zu werden, um gegen Illusion und Phantasie gefeit zu sein, zu sprechen kommt, dann fragt sich, ob nicht gerade »die Eschatologie des Friedens«, eines eschatologischen Friedens, umso mehr auf Meinungen und subjektive D1usionen hereinfant. (vgl. TU 24f.) SOU Philosophie durch Eschatologie e ...tz! werden? Oder soU »die Philosophie die eschatologischen >Wahrheiten< zu >beweisendie erneute lnfragesteUung der Wahrheit, die sie verspricht«. Umgekehrt fordert die Wahrheit »eine Zeit, auf die sie das Siegel setzen kann - eine voUendete Zeit« 01J 416). Und dann heißt es lapidar: »Die VoUendung der Zeit ist nicht der Tod, sondern die messianische Zeit, in der das Fortwährende sich in Ewigkeit verwandelt.« {TU 416). Der messianische Triumph sei der reine Triumph, der als solcher gegen die Rache des Bösen geschützt ist, >>dessen Rückkehr die unendliche Zeit nicht untersagt«. Levinas endet mit der Frage, ob die Ewigkeit eine neue Struktur der Zeit ist »oder eine äußerste Wachsamkeit des messianischen Bewußtseins« und lässt die Frage offen. Man kann nur ahnen, dass die zweite Möglichkeit in die Richtung seines . 17 Dnk e . ens weist. Was aber könnte das Fortwährende sein, das sich in der messianischen Zeit in Ewigkeit verwandelt? Am Ende des fiinften Kapitels, das zugleich das Ende von TOialiliil und Unendlichkeil ist, spricht Levinas von der Bedeutung der menschlichen Subjektivität, die nicht vom AUgemeinen. nicht vom Staat her, zu verstehen sei. Der Staat produziere das heroische Seiende, das dem Subjekt, >>das in der unendlichen Zeit der Fruchtbarkeit lebt« (11J 446), polar entge17 Eirunal gefragt, ob die messianische Idee für ihn. Levinas, noch einen Sinn habe und ob es notwendig sei, die Idee eines aDerletzten Stadiums der Geschichte anzunehmen, in dem endlich alle menschliche Gewalttätigkeit eine Ende nähme, also der messianische Friede wirklich anbräche, antwOT1ete er, »daß man, um der messianischen Ära würdig zu sein, zugestehen müfke,. die Ethik habe einen Sinn, selbsI ohne die Verheißungen eines Messw4C.. E. Levinas, Ethik, 88.
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gengesetzt sei. Das heroische Seiende übernimmt den Tod »als Übergang, der das Sein ohne Diskontinuität endlos fortsetzt « (TU 447). Die heroische Existenz oder einsame Seele suche für sich das Heil als ewiges Leben. In diesem Zusammenhang taucht bei Levinas ein dreifaches als ob auf, das letztlich, wenn ich recht verstehe, darauf hinausläuft, das einsame Heil als ewige Langeweile gegen eine Verwandlung in Ewigkeit abzusetzen, die sich sehr wohl von Kanls VorsteUung der Erstarrung unterscheidet. Doch statt Kant zitiert Levinas Baudelaire, bei dem die Langeweile (l'ennui) als »Frucht des trübsinnigen Mangels
an Neugier, die die Gestalt der Unsterblichkeit annimmt«, umschrieben wird (TU 447). Ich will noch auf einige wenige Aspekte im zweiten Hauptwerk hinweisen. Abgesehen davon, dass Levinas in Jenseits des Seins das Thema Krieg nicht mehr explizit behandelt, klingt es doch schon im ersten Kapitel deutlich an. »Der Krieg ist der Vollzug oder das Drama des Interessiertseins am Sein.~< 18 Der Friede, der nicht der eschatologische sein muss, erweist sich jedenfalls als besser. Handel ist besser als Krieg (Vgl. JS 28). Zeigt sich hier bereits ein )~Anders~als-sein« an? Mit Bezug auf Kant - allerdings nicht auf Das Ende aller Dinge, sondern auf die Antithese der vierten Antino mie - kann dieses »Andersals-sein« )~ nicht in irgendeiner ewigen, der Zeit enthobenen Ordnung liegen und auf unerklärliche Weise die Zeitenfolge beherrschen« (JS 37). Levinas steDt der kontinuierlichen Ordnung der Ewigkeit sogleich eine »transzendentale Diachronie« gegenüber (JS 38). Sie basiert auf der Phasenverschiebung des Jetzt, die das Fließen der Zeit und somit die Differenz des Identischen ausmacht (Vgl . JS 37). Diachronie ist das »Nicht-Totalisierbare und in diesem Sinne genau Unendliche« (JS 42). Die Verantwo rtung gegenüber dem Anderen, Erstbesten, in die das Subjekt vor aller eigenen Entscheidung gesteDt ist, wird im zweiten Hauptwerk hier verankert . »SteDvertretung als die eigentliche Subjektivität des Subjekts, Unterbrechung der unumkehrbaren Identität [... ], Unterbrechung dieser Identität in der Übernahme der Verantwortung, die mir aufgebürdet wird« (JS 47). Subjektivität des Subjekts wird hier in einem sehr wörtlichen Sinn als »Unter-werfung unter alles« und als »Sensibilität« (JS 49) verstanden . Die Sprache wird noch gesteigert bis hin zur Unerträglichkeit, um das )}Anders-a1s-sein« des Subjektes und seiner Verantwortung entsprechend hervorzuheben . Um eine Parusie des Seins geht es dabei nicht mehr. (vgl. JS 57). Wenn Diachronie das )~Auseinanderfallen der Identität« bedeutet (JS 126) und das Subjekt als alterndes zugleich einzig und unersetzbar ist, aber sich auch »in einem Gehorsam ohne Ausflucht« vorfindet, dann ist die Verantwortung letztlich älter als eine freie Entscheidung, die ein entsprechendes Engagement hervonuft. Ist das Subjekt von einer fremden Macht beherrscht ? Levinas bringt
18 E. Uvinas, Jenseits des Seins. 26.
Kants Das Ende aller Dinge und die E.schatologiekritik bei LeYinas
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tatsächlich den Terminus )Herrschaft< ins Spiel. Doch Herrschaft welcher Art? Es sei die »Herrschaft eines unsichtbaren Königs«. Es geht um die Herrschaft des Guten, von dem Levinas sagt, seine Idee sei bereits eine Weltzeit. Solcher Weltzeit aber stehe der biblische Begriff der Gottesherrschaft gegenüber, von der Levinas sagt, sie sei die »Herrschaft eines nicht thematisierbaren Gottes eines un-zeitgenössischen, das heißt un-gegenwärtigen Gottes« OS 126). Diese darf nicht als ontisches Bild der Seinsgeschichte gedacht werden. Von der Weltzeit als Zeit der Herrschaft gilt es zurückzugehen auf die Gottesherrschaft, von der Levinas nun bezeichnenderweise ausführt, dass sie in Gesta1t der Subjektivität bedeutet, in Gestalt der Einzigkeit, die vorgeladen ist in der passiven Synthesis des Lebens - in Gestalt der Nähe des Nächsten und des Schuldens einer unbezahlbaren Schu1d - in Gestalt einer endlichen Conditio - der Zeitlichkeit, die, als A1tem und als Tod des Einzigen, einen Gehorsam ohne Ausflucht bedeutet (J S 127).
Während das Bewusslsein von ... den Anderen immer noch von mir fernhält, ist die Nähe zu ihm ein Ausgesetztsein, ebe er erscheint. Der Nächste ist un-vorstellbar, ihm gegenüber komme ich immer zu spät. »Die Nähe ist Störung der wiedererinnerbaren Zeit.« (JS 200) Levinas meint, man könne »dies apokalyptisch Zersplittern der Zeit nennen« (JS 200), wenn man darunter eine nicht zu bändigende Dia-chronie versteht~ die sich weder durch Erinnerung noch durch Geschichtsschreibung in eine Gegenwart hinein synchronisieren lasse. An einer Stelle heißt es in Jensei/S des Seins: »In der unbedingten Vorladung des Subjekts wird auf rätselhafte Weise das Unendliche vernehmbar: das Diesseits und das Jenseits.« (JS 307). Das Unendliche ist, wie es später in JenseilS des Seins heißt, »weder Thema noch Telos noch Gesprächspartnen< (JS 324). Es geht um einen Frieden, »welcher Verantwortung für den Anderen ist« OS 324). Solches Verständnis der Subjektivität bereitet den Boden fiir eine Theorie der »Gastlichkeit«, in der sich der Vorrang der Ethik vor der Ontologie konkretisiert, wie Levinas schon in TOIaliläl und Unendlichkeil ausgeführt hat: »)!n der Gastlichkeit erfiillt sich die Idee des Unendlichen.« (TU 28f.)." In Jenseits des Seins spricht Levinas in diesem Zusammenhang vom Ethischen. Das Ethische ist jenes Feld, das durch das Paradox eines mit dem Endlichen in Beziehung stehenden Unendlichen beschrieben wird, welches sich g1eichwohJ durch diese Beziehung nicht Lügen straft. Das Ethische ist das Zerbcrsten der Ureinheit der transzendentalen Apperzeption - das heißt das Jenseits der Erfahrung (JS 325).
Das Subjekt erhält eine Verantwortung auferlegt, die es nicht selbst frei gewählt hat: »Gehorsam, der allem Hören des Gebotes vorausgeht.« (JS 325). Autonomie und Heteronomie werden dabei auf bemerkenswerte Weise miteinan19 1. Derrida hat in einem großen Referat zum Gedenken an Emmanuel Levinas die Gastfreund· schaft aJs SchJiisselbegz iff der Levinas'schen Philosophie entfaJtet. Vgl. J. Derrida, Das Wort zum Empfang, 32- 170.
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der versöhnt. Eine Ontologie, die vom Logos bestimmt ist, steht hingegen immer in der Gefahr, alle Brüche zu überdecken oder )}sie sich einzuverleiben als stillschweigenden Ursprung oder als Eschatologie« (JS 366). Das Ethische
aber lässt sich weder protologisch noch eschatologisch ableiten. GleichwohJ geschehe es, dass die »Extravaganz der Annäherung« (JS 367) nachträglich begrifflich eingeordnet wird. So treten auch Worte wie »Einer«( oder »Gott« in den Wortschatz ein und werden philologisch behandelt, }>anstatt die philosophische Sprache aus den Angeln zu hehen« (JS 367).
3. Ergebnis der bisherigen Analysen Dass Ernrnanuel Levinas in vieler Hinsicht von Kant inspiriert ist und die These von der ethischen Valenz des Apokalyptischen bzw. Eschatologischen
noch radikalisiert, dürfte schon aus der bisherigen Aneinanderreihung beider Positionen hervorgegangen sein. Übereinstimmend sind heide Autoren davon überzeugt, dass es eine Eschato- Logie im strengen Sinn theoretisch gesicherten Wissens über die Grenzen der Zeit hinaus nicht gibt. Beide stimmen auch darin überein, dass dadurch die Eschatologie samt des apokalyptischen Bilclmaterials nicht einfach irrelevant ist, sondern dass beide im Gegenteil ihr voUes Gewicht erst entfalten, wenn sie >ethischmoralischx:ler Andere-im-Selben«, wie sich Levinas auszudrücken pflegt.
4. Heraus[orderungjür die christliche Eschatologie Wtrd durch diese philosophischen Interpretationsversuche die biblische Tradition und die theologische Lehre von den letzten Dingen zerstört? Während Kant sich vor allem mit den apokalyptischen Texten auseinandersetzt, sind es bei Emmanuel Levinas vor allem zwei Texte, auf die er wiederholt rekurriert: Mt 25,31 ff. und Jes (III) 58. Beide Texte steUen für l.evinas Schlüsseltexte dar, wobei in der ntl. »Übersetzung« des jesaianischen Textes der apokalyptische Rahmen unübersehbar ist. Was die Exegese von Mt 25,31-46 betriffi, ist in zwei neueren Kommentaren von Ulrich LUZ 21 und Hubert FrankemöUe 22 aUes Wichtige geschrieben worden . Der Streit der Auslegung geht vor allem darum, ob die »geringsten 20 Vgl. Taubes, Abendländische Eschatologie, bes. 147f. Schon zuvor bemerkt Taubes auch, dass Kant von der Aporie der Gnade umklammert sei, lKI.ie erst den )Sieg des guten Prinzips über das böse und die Gründung eines Reiches Gottes auf Erdent ermöglicht'" (146). 21 Luz, Matthäusll3, SI S-S44, (544-561). 22 Luz, Matthäus 112, 42 1-430.
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Jose! Wohlmuth
Brüder und Schwestern« Gemeindemitglieder sein müssen, oder ob die Stelle eine universal-menschliche Bedeutung hat. 23 Die universale Auslegung scheint Übergewicht zu haben, auch wenn Luz historisch seine Zweifel anmeldet. 24 In der Begegnung mit dem Nächsten, dem Menschen in Not, also in einer konkreten Einzelsituation, ergeht ein Ruf an mich, den ich beantworten soll, ohne zu wissen, ob es sich letztUch lohnt, mich selbst oder meine Habe zur Disposition zu stellen und sie einem wildfremden Menschen abzutreten, der mir auch seinerseits keinen Beweis liefern kann, dass ihm geholfen werden muss. Offensichtlich steht das christliche Handeln vor dem Dilemma, schon handeln zu müssen, weil die Situation es verlangt, und zugleich noch nicht zu wissen, ob es absolute Pflicht ist, jetzt zu handeln. Während bei Matthäus die universale Gerechtigkeit an das apokalyptische Szenarium des letzten Gerichts gebunden wird, erfahrt bei Levinas die Gerechtigkeit folgende Begründung: »Die Gerechtigkeit bleibt Gerechtigkeit nur in einer Gesellschaft, in der zwischen Nahen und Femen nicht unterschieden wird, in der es aber auch unmöglich bleibt, am Nächsten vorbeizugehen; in der die Gleichheit aDer getragen ist von meiner Ungleichheit, durch den Mehrwert meiner Pflichten über meine Rechte.« (JS 347). Ist von solch bedrängender Eschato- Ethik die systematisch-theologische Lehre von den Letzten Dingen geprägt? Um auf diese Frage eine Antwort zu versuchen, müsste eine umfassende Bestandsaufnahme vorgelegt werden. Ich muss mich hier leider begrenzen und gehe nur auf zwei Positionen ein, die im Bereich der katholischen Theologie von großem Einfluss (geworden) sind. Karl Rahner ging in einem seiner bekannten Aufsätze 25 davon aus, dass es )>einer grundsätzlichen erkenntnistheoretischen Besinnung auf Wesen und Tragweite solcher Aussagen sowohl auf dem Gebiet der Theologie als auch auf dem der profanen Erkenntnis« bedürfe (403). Seine erste These richtet sich gegen eine radikale Existentialisierung und fordert: »Es muß im christlichen Glaubensverständnis und seiner Aussage eine Eschatologie geben, die wirk-
Umstritten ist die Frage, wer die »Geringsten der Brüdert< sind, denen Gutes getan wird. Sind es nur die geringen Leute in der christlichen Gemeinde? Sind es die unteTStützungsbedürftigen Wanderprediger? Ulrich Luz vertritt die These, der ursprüngliche Sinn bei Matthäus beziehe sich auf die Gemeinde, tritt aber dennoch für eine universale lnterpretation des Textes ein. FrankemöUe plädiert grundsätt1ich für eine universaJe Auslegung. AUe Menschen soUen durch die Gerichtsrede zu einem solidarischen Handeln bewegt werden. 24 Für Luz ist die universale Auslegung auf aDe notleidenden Brüder und Schwestern zunächst gedeclct durch die radikale Webe, mit der Jesus seinen Weg bis zu Ende durchsteht. Ferner möchte Manhäus nicht, dass die Gemeinde im Gmcht eine Sondentellung erhält. Auch die Gemeinde wird von ihrem Herrn zur Rechenschaft gezogen, und zwar nicht ZUerllt nach ihrem Bekenntnis, sondern nach den Taten der Liebe. Schließlich ölfnet die universale Interpretation des Textes unsere Augen, lldie Armen der Welt ... ,ja Gott selbst auf eine Weise neu zu entdecken, daß daraus die Liebe entsteht, von der der Text sprichtK(543). 2S K. Rahner, Prinzipien der Hermeneutik, 401 - 28. 2J
Kimts Das Ende aller Dinge und die Rrrhalologiekritik bei Levinas
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lich das Zukünftige, das in einem ganz gewöhnlichen, empirischen Sinn zeitlich noch Ausständige meint.« (404). Für Rahner gilt: ))Anamnese und Prognose gehören zu den unausweichlichen Existentialien des Menschen.« (410). Doch wie weit reicht das eschatologische Wissen? Rahner führt in der vierten These aus: ))Das Wissen um das Zukünftige wird das Wissen um die Zukünftigkeit der Gegenwart sein, das eschatologische WISSen ist das Wissen um die eschatologische Gegenwart.« (412). Es verneht sich, dass hier auch bei Rahner der Begriff des WISsens gesprengt werden muss. Die Zukunft ist einerseits da, aber als undurchschaute und unverfügbare, auf die sich der Mensch glaubend-hoffend einlassen kann; zugleich muss diese Zukunft aber so da sein, dass von ihr überhaupt noch etwas ausgesagt werden kann. Solche ZuJrunfI kann im Grunde nur in der Weise umschrieben werden, )x:la6 sie sein kann und sein soll die Vollendung des ganzen Menschen durch den unbegt eiflichen Gott im Heil, das uns verborgen in Christus schon gegeben ist.« (413). Daraus ergibt sich nach der fünften These, ))(1a6 der Mensch von dieser wirklich ausständigen Zukunft das und nur das, auch durch Offenbarung, weiß, was davon prospektiv aus und an seiner heilsgeschichtlichen Erfahrung in seiner Gegenwart ablesbar ist.« (414). So kommt Rahner zu seiner eigentlichen Hauptthese, die lautet: Eschatologie ist aJso nicht die antizipierende Reportage später erfolgender Ereignisse (die Grundansicht faJscher Apokalyptiker im Unterschied zu echter Prophetie) aus den künftigen Ereignissen heraus und von ihnen her [ ... ], sondern der für den Men· sehen in seiner geistigen Freiheits· und Glaubensentscheidung notwendige Vorblick aus seiner durch das Ereignis Christi bestimmten heilsgeschichtlichen Situation heraus (aJs dem ätiologischen Erkenntnisgrund) auf die endgültige VoUendung dieser seiner eigenen, schon eschatologischen Daseinssituation zur Ennöglichung seiner eigenen, erheUten und doch glaubend wagenden Entscheidung ins dunkel Offene hinein, damit der Christ darin seine Gegenwart annehme aJs Moment an der Verwirklichung der im Anfang (der letztlich Christus ist) gestifteten Möglichkeit und als schon jetzt verborgen gegenwärtige und endgültige Zukunft, die dann gerade als Heil sich gibt, wenn sie angenommen wird aJs die auf Zeitpunkt und Weise nicht berechenbare Tat Gones, der alJein verfugt, und wenn so der Skandal des noch gegebenen Widerspruchs zu dem schon gegebenen Heil in Christus [... ] in hoffender Geduld ausgehaJten wird aJs Teilnahme am siegreichen und erlösenden Kreuz Christi . (414)
Hier liegt einer der Mammutsätze Rahners vor, aus dessen Struktur hervorgeht, dass das noch Ausstehende gar nicht der Reihe nach aufgelistet werden kann, sondern in einem einzigen Satz als das Ganze christlicher Eschatologie gesagt werden soll. Eschatologie wird fiir Rahner zur Christologie im Modus der Vollendung. (vgl. 415) Oder noch grundlegender: »Christliche Anthropologie und christliche Eschatologie sind letztlich Christologie in der Einheit der verschiedenen und doch nur in einem möglichen und greifbaren Phasen des Anfangs, der Gegenwart und des vollendeten Endes.« (416). Somit gründet das eschatologische Wissen in der ))Erfahrung von dem Heilshandeln Gottes an uns selbst in Christus.« (417). Rahner kann seine bisherigen Überlegungen
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lose[ Wollfmuth
so zusammenfassen: »Biblische Eschatologie muß immer gelesen werden als Aussage von der Gegenwart als geoffenbarter her auf die echte Zukunft hin, nicht aber als Aussage von einer antizipierten Zukunft her in die Gegenwart hinein. Aus-sage von Gegenwart in Zukunft hinein ist Eschatologie. Ein-sage aus der Zukunft heraus in die Gegenwart hinein ist Apokalyptik.« (418). »Die
apokalyptische Einsage ist entweder Phantasie oder Gnostik [ ... ]« (418f.). In einer christlichen Eschatologie könne deshalb ausgesagt werden, daß die Zeit ein Ende haben wird, daß sich auf das Ende hin der Antagonismus zwischen Christus und der Welt verschärft, daß die Geschichte im ganzen im definitiven Sieg Gottes in seiner Gnade endet, daß diese Vollendung der Welt, insofern sie eben die unberechenbare Tat des freien Gottes ist, Gericht Gottes heißt, insofern sie die Vollendung der mit Christus endgilltig siegreich gewordenen HeilswirkJichkeit ist, Wiederkunft und Gericht Christi heißt, insofern sie die Vollendung des einzelnen ist, der nicht einfach aufgeht in seiner Funktion, Moment der Welt zu sein, Partikulärgericht, und insofern die Welt nicht einfach die bloße Summe der individuellen einzelnen ist, allgemeines Gericht genannt wird, insofern sie die Vollendung der Auferstehung Christi ist, Auferstehung des Fleisches und Verklärung der Welt heißt. (425f.)
Rahner spannt also den Bogen wesentlich weiter, als Kant ihn spannen konnte, auch wenn Rahner Eschatologie eine docta ignoranlia nennt. Der Logos vom Äußersten ist Rahner zufolge zwar auf Gegenwärtigkeit zu konzentrieren, aber aus deren existentia1-anthropologischer Analyse ergibt sich ein christologisch bedingtes eschatologisches Wissen. Doch geht es dabei nicht um ein Jenseitswissen esoterischer Art, sondern um ein Gegenwartswissen. Eschatologisches Verstehen basiert auf christologischem Verstehen und entspricht somit dem anthropologisch-existentialen Verstehen des anamnetischen und prognostischen Bewusstseins. Dass ein solches, christologisch bedingtes eschatologisches Verstehen in die Gefahr geraten kann, dennoch einen letzten logischen ScWüssel zum Verständnis von Gott, Welt und Mensch besitzen zu wollen, ist nicht von der Hand zu weisen. Die Logik droht das letzte Wort der EschatoLogie haben zu woUen, nicht die Ethik wie bei Kanl und Levinas. Hat Rahners Meisterschüler, Johann Baptist Metz, die eschatologische Logozentrik seines Lehrers aufgebrochen? In seinen »)Unzeitgemäße{n) Thesen zur Apokalyptik«26, die zu Ehren Blochs verfasst sind, obwohl sie mehr den 26 Vgl. J. B. Metz, Hoffnung als Naherwartung, 149-58.
Die Thesen kreisen um folgende Punkte: I. Symptome der Zeitlosigkeit (These 1- 12); 2. Zeitlosigkeit als System (These 8- 13); 3. Theologie im Bann der Zeitlosigkeit (These 14- 21); 4. Wider den Bann de Zeitlosigkeit: Erinnerung an die Apokalyptik (These 22-29); 5. Wider die falschen Alternativen in der christlichen Eschatologie (These 30-35). Die Thesen von Mett sind Bloch zu Ehren fonnulien. I1eshaJb konzentrien sich die Kritik R. Schaeßlers besonders auf den Bloch'schen, marxistischen Aspekt. Mit Bloch teile Metz das Bewusstsein von der drängenden Stunde; dem marxistischen Aufruf zum letzten Gefechi entspreche bei Metz die neu betonte Naherwartung, wobei zuzugeben sei, dass Marxisten und Christen tatsächlich das Bewusstsein von der Unaufschiebbarkeit der Entscheidung teilen. Wenn
Kanu Das Ende alJer Dinge und die Eschalologiekrilik bei Levinas
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Geist Benjamins atmen. geht es Metz maßgeblich um eine »Nachfolge unter Zeitdruck« (149), um eine Überwindung des Eindrucks. wir hätten - kosmisch und somit wissenschaftlich gesehen - unendlich viel Zeit. Metz kommt zu seiner kürzesten These 6. die lautet: )}Kürzeste Definition von Religion: Unterbrechung.« (150). Metz plädiert dafur, die Theologie dürfe um Gottes willen nicht die »Naherwartung« streichen. Geschichte sei nicht einfach der kontinuierliche Zeitablauf, den der Historismus im Auge hat. WIr glauben an einen Gott, der auch die Toten nicht in Ruhe lasse. (vgl. 153) Gott sei nicht das Andere der Zeit, sondern deren Grenze, deren Abbruch. Wenn das Christentum den Aspekt des apokalyptisch Überraschenden ausscheide, verliere es auch das Messianisch-Überraschende. Statt dessen müsse sich die Theologie zuriickbesinnen auf den katastrophischen Charakter der Zeit (vgl. These 24); denn »Christologie ohne Apokalyptik wird zur Siegerideologie« (These 25). Nachfolge Jesu aber, radikal gelebt, sei nicht möglich, wenn die Zeit nicht abgekürzt wird. »Jesu Ruf: >Folge mir nach!