Heinz G. Konsalik
Und das Leben geht doch weiter
Inhaltsangabe Ein ergreifender, von tiefer Wehmut überschatteter Lie...
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Heinz G. Konsalik
Und das Leben geht doch weiter
Inhaltsangabe Ein ergreifender, von tiefer Wehmut überschatteter Liebesroman. Vor einem Schneesturm retten sich die junge Carola Burghardt und Detlev Padenberg, Deichbau-Architekt, in eine Alpenhütte und finden dort kurzes Glück. Nach Monaten begegnen sie sich in einer Fischerkate an der Nordsee wieder. Hier muß Carola schmerzlich erfahren, daß sich ihre Träume nie erfüllen werden. In ihrer Verzweiflung flieht sie zum Meer. Ein Wettlauf mit dem Tod beginnt.
Sonderausgabe des Lingen Verlags, Köln © by Autor und AVA Autoren- und VerlagsAgentur GmbH, München/Breitbrunn Gesamtherstellung: Lingen Verlag, Köln • fgb Printed in West Germany Alle Rechte vorbehalten Dieses eBook ist umwelt- und leserfreundlich, da es weder chlorhaltiges Papier noch einen Abgabepreis beinhaltet! ☺
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S
teil ragten die Wände des Wettersteingebirges, gekrönt vom Zugspitzmassiv, in den fahlgrauen Schneehimmel. Eingebettet in Felsengestein lag wie eine blinde Spiegelscheibe der zugefrorene Eibsee mit den hingeduckten Häusern am Ufer. Der Schnee gab allem seine Farbe, und nur die kleine Gondel der Seilbahn, die von Obermoss zur Zugspitze, Deutschlands höchstem Berg, hoch durch die Luft zog, hob sich dunkel gegen den fast nebelig-milchigen Hintergrund ab. Carola Burghardt beschattete mit der Hand die Augen, ihnen Schutz bietend gegen die Blendkraft des Schnees, und spähte ins Tal. Sie war ein bildhübsches Mädchen, 19 Jahre jung, und besaß auch noch das, was außerordentlich attraktiven Damen, ob jung oder alt, leider gar nicht so selten zu fehlen pflegt – Intelligenz. Blondgelockt, blauäugig, schlank, einssiebzig groß, langbeinig, mit einer aufregenden Figur, entsprach sie fast zu sehr dem Schönheitsideal einer Menschheit, die den adäquaten Vorstellungen vergangener Jahrhunderte und ihrer großen Maler (Rubens!) radikal abgeschworen hatte. Wo Carola auftrat, wo sie erschien, weckte sie gefährliche Gefühle: das Begehren der Männer, den Neid ihrer Geschlechtsgenossinnen. (Solcher Neid darf nicht auf die leichte Schulter genommen werden, ist er doch, wofür die große Weltgeschichte und der kleine menschliche Alltag tausendfach Beispiele parat haben, eine ständige Quelle bösester Intrigen und tödlicher Anschläge.) Carola Burghardt war also, wenn man so will, eine zwiespältige 1
Existenz. Davon ahnte sie selbst aber nichts. Sie war nämlich auch noch überdurchschnittlich naiv, so naiv, daß es Leute gab, die sich weigerten, ihr das ›abzunehmen‹; das sei eine raffinierte Masche von ihr, sagten die Betreffenden. Die Gutgläubigeren fanden sich bereit zu dem Urteil, sie sei ein romantisches Mädchen. Paul und Gertrud Burghardt, Carolas Eltern, hatten ihre einzige Tochter zum erstenmal allein in Urlaub ziehen lassen (besser gesagt: in Ferien, denn Carola ging noch zur Schule). Paul Burghardt war Reeder, an Finanzen fehlte es der Familie also nicht. Gertrud Burghard pflegte die Künste, sie ging ins Theater und in die Oper, malte selbst ein bißchen und las Hölderlin. Sie fand die Jugend von heute ›schrecklich‹, besonders die Mädchen, denen man es am allerwenigsten verzeihen konnte, daß sie, wie Frau Burghardt zu sagen pflegte, ›schon bald alle in Kommunen lebten‹. Ihre Carola Gott sei Dank – noch – nicht. Die Burghardts harmonierten untereinander bestens und rechneten auch nicht damit, daß sich diesbezüglich plötzlich etwas ändern könnte. Sie wohnten in Hamburg. Vater Burghardt hatte Tochter Carola zwischen Weihnachten und Neujahr zum Bahnhof gebracht und sie mit dem Seufzer verabschiedet: »Brich dir bloß nicht die Beine!« Carola steckte in einem Schianzug feschester Machart, und auf ihren Schultern lagen die dazugehörigen Bretter. Paul Burghardt, ein geborener Küstenmensch, empfand diese bedrohlichen Dinger als Instrumente einer absolut unnatürlichen Art der Fortbewegung. »Die Zeiten sind verrückt«, hatte er erst kürzlich gesagt. »Die Bayern huldigen mehr und mehr dem Segelsport, unsere jungen Leute dagegen wenden sich den Lawinen zu.« Eine etwas beruhigende Wirkung auf Paul Burghardt ging von der Tatsache aus, daß Carola im Hotel am Eibsee von einem seriösen jungen Mann friesischen Geblüts namens Jens Kosten erwartet wurde, dem man zutrauen durfte, daß er das Mädchen nicht nur vor 2
anderen zu schützen wußte, sondern es auch selbst nicht antastete. Jens war einige Jahre älter als Carola, er studierte Medizin. Karl Kosten senior betrieb einen florierenden Teehandel in Hamburg und hatte seinem Sohn einen flotten Sportwagen gekauft, mit dem dieser in die Berge vorausgefahren war. Die Ehepaare Burghardt und Kosten waren miteinander befreundet. Auf beiden Seiten war man der Meinung, daß Carola, nachdem sie sich unter Jens' Schutz befand, aus den Alpen an Leib und Seele unversehrt zurückkehren würde. In diese Überlegung schien den alten Herrschaften auch die ihnen bekannte Tatsache zu passen, daß Carola und Jens einander schon längst nicht mehr, wie man zu sagen pflegt, gleichgültig waren. Bei Carola hielt sich das entsprechende Gefühl allerdings noch in Grenzen, was man von Jens jedoch nicht behaupten konnte. Beide hatten getrennte Zimmer, aber der Zeitpunkt, an dem eines davon verwaisen würde, war eigentlich schon abzusehen. Jens schlief gern lange, Carola dagegen war Frühaufsteherin. So kam es, daß Carola wieder einmal ohne seine Begleitung in voller Schiausrüstung das Hotel verlassen hatte. Die Brust war ihr weit geworden angesichts der sogenannten weißen Pracht, von der sie sich umgeben sah. Sie liebte den Betrieb an den Liften nicht gerade, suchte mehr die Abgelegenheit, scheute keinen Anstieg, schwitzte und stand nun, zufrieden mit sich selbst, oben auf einem Hang und spähte, wie bereits erwähnt, hinunter ins Tal. So schön war der Blick, daß ihr jeder, der ihn versäumte, weil er noch im Bett lag (Jens!), nur leid tun konnte. Carola Burghardt war im Flachland aufgewachsen. Für die Gefahren der Berge, die urplötzlich hereinbrechen konnten, hatte sie kein Gespür. Noch einmal wollte sie das ganze Bild, das sich ihr darbot, in sich aufnehmen. Langsam drehte sie sich um ihre eigene Achse, was, mit den Brettern an den Füßen, gar nicht so einfach war. Auf diese Weise mit sich selbst beschäftigt, merkte sie nicht, daß von 3
der Seite ein ebenso einsamer Schifahrer wie sie auf sie zukam und kurz vor ihr mit einem eleganten Schwung hielt. »Na«, sagte er lachend, »wohin des Weges?« Woher, mußte er nicht fragen, denn das war deutlich an den Spuren zu sehen, die Carola im Schnee hinterlassen hatte. Er sprach hochdeutsch, aber mit einem leichten Akzent, den Carola sofort als den ihrer Heimat erkannte. Der Unbekannte stammte also auch von der Waterkant. Er war groß, schlank, sportlich; er konnte, wie er schon ein wenig nachgewiesen hatte, Schi fahren. Wenn er lachte, zeigte er schöne Zähne. Er sah überhaupt nicht schlecht aus. Trotzdem trennte ihn von Carola, wie diese innerlich ganz spontan feststellte, feststellen mußte, eine Welt, genauer gesagt, eine Welt der Jahre. Er war – schätzungsweise – schon ein Enddreißiger. Ein alter Mann also! Er hätte grüßen können, dachte Carola hanseatisch kühl, das ist bei uns zu Hause so üblich. Obwohl das überall so üblich ist, glauben die Hanseaten, diesbezüglich gegenüber anderen einen Vorsprung zu haben. »Nun«, sagte der ›Greis‹, »Sie wissen anscheinend noch nicht, wohin Sie sich wenden wollen, oder Sie wollen es mir nicht sagen.« »Ich bin mir noch nicht schlüssig.« Jetzt war ihm der hanseatische Akzent nicht entgangen, den auch Carola nicht völlig unterdrücken konnte. »Wir sind Landsleute«, sagte er erfreut. »Kommen Sie regelmäßig hierher zum Wintersport?« »Dazu bin ich noch zu jung«, antwortete sie leicht boshaft. »Ich habe es heuer zum erstenmal geschafft.« »Und wo haben Sie Schifahren gelernt?« »Im Schwarzwald. Ich kann es aber noch gar nicht richtig, ich rutsche nur so herum«, erwiderte Carola und fügte hinzu: »Dort wohnt eine Tante von mir.« Warum erzähle ich ihm das eigentlich? rügte sie sich innerlich. 4
Das geht ihn doch gar nichts an. Außerdem wirft es ein schlechtes Licht auf mich, wenn ich so viel rede. Erstens bin ich Hamburgerin und zweitens eine junge Dame. Vergiß das nicht, hat meine Mutter immer gesagt. »Sie haben recht, ich bin ein alter Sack«, schreckte er sie aus ihren Gedanken auf. »Wie bitte?« »Das wollten Sie mir doch vorhin unter die Nase reiben.« »Aber nein!« »Doch, doch, und warum auch nicht, es stimmt ja. Ich trage an der Last meiner Jahre. Einundvierzig sind's bald.« »Ich hätte Sie jünger geschätzt.« »Methusalem«, meinte er lachend, »wird auch von manchen jünger geschätzt. Die glauben, daß er nur 960 Jahre alt wurde, und nicht 990.« Trübsalbläser ist er keiner, fand sie und lachte ebenfalls. Ein verdammt hübsches Mädchen, dachte er. Wie kommt es allein hierher? Wenn es lacht, stellt es alle Mädchen in den Schatten, deren ich mich entsinnen kann. Und das waren nicht wenige, sei hinzugefügt, auch wenn Detlev Padenberg daran in diesem Augenblick nicht dachte. Detlev Padenberg hieß der Mann. Er war Architekt, Fachmann für Deichbauten, und kam aus Flensburg. Mit Schiern hatte er sich in frühesten Kindheitsjahren vertraut gemacht, als seine Mutter im Krieg zusammen mit ihm ins Allgäu evakuiert worden war. »Sie sagten, wir seien Landsleute«, setzte Carola gegen ihren Willen das Gespräch fort. »Ja. – Etwa nicht?« »Sind Sie …« Carola stockte. Sind Sie Hamburger? hatte sie ihn fragen wollen, doch das tut man nicht, sagte sie sich rechtzeitig und bewältigte das Problem von der anderen Seite. 5
»Ich bin Hamburgerin«, korrigierte sie sich. »Ich bin Flensburger, aber in Hamburg habe ich studiert.« »Eine Schulfreundin von mir kommt aus Flensburg. Ihr Vater wurde nach Hamburg versetzt.« »Ich dachte es mir.« »Was dachten Sie sich? Daß der von Flensburg nach Hamburg versetzt wurde?« »Nein«, erwiderte er grinsend. »Daß Sie noch zur Schule gehen. Darf ich fragen, in welche Klasse?« »Oberprima.« »Dann haben Sie's ja bald hinter sich.« »Ich gehe gern zur Schule.« »Das konnte ich damals von mir nicht gerade behaupten.« Wie kommt die allein hierher? fragte er sich noch einmal. Ahnt sie überhaupt, daß die Alpen nicht der Jungfernstieg in Hamburg sind? Er hätte sich aber diese Gedanken nicht nur über das Mädchen machen sollen, sondern auch über sich selbst. Die Gefahren, an die er dachte, drohten ihm nämlich nicht weniger. Über das weite Schneefeld, von dem die beiden umgeben waren, näherte sich ein großer dunkler Fleck. Es war der Schatten einer Wolke, die über die Sonne hinwegglitt. Ein zweiter folgte, dann ein dritter. Carola fand auch dieses Spiel der Schatten noch schön. Sie blickte empor zum Himmel und sagte schwärmerisch. »Sehen Sie, die Sonne muß plötzlich kämpfen.« Obwohl Padenberg ebenfalls Flachländer war, verfügte er doch schon über größere Erfahrungen mit der hiesigen Natur. »Verdammt!« stieß er hervor. Ich hatte nur Augen für das Mädchen, dachte er, nun wird's aber Zeit. Warnend zeigte er mit ausgestreckter Hand hinüber zur österrei6
chischen Seite. Dort hatte sich eine dichte graue Wand vor die Felsen geschoben. Man konnte förmlich sehen, wie rasch sie sich ausdehnte und sich ins Tal hinunterwälzte. »Was ist das?« fragte Carola, sich über das stürmische Wachstum der Wand wundernd. »Nebel?« »Nein, Schnee.« »Aber davon liegt doch hier schon genug herum«, meinte das Mädchen und hoffte, einen kleinen Witz anbringen zu können. »In Afrika …« »Mein liebes Kind«, schnitt er ihr das Wort ab, »es ist jetzt keine Zeit mehr für Späße. Wir müssen schleunigst weg hier. Folgen Sie mir.« Das war leichter gesagt als getan. Er war ein leidlich guter Schifahrer, sie aber nicht. Immer wieder mußte er anhalten, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Bald war sie völlig außer Atem, keuchte und fragte ihn: »Wohin wollen Sie eigentlich?« »Zu einer Schutzhütte.« »Und mein Hotel am Eibsee?« »Ihr Hotel am Eibsee können Sie vergessen. Der junge Toni Sailer würde es vielleicht noch erreichen, bevor der Schneesturm losbricht, nicht aber Sie. Also weiter!« Windstöße machten sich bemerkbar. Die Sonne blieb nun ständig hinter Wolken verborgen. Die ganze Herrlichkeit der winterlichen Hochgebirgslandschaft hatte sich aufgelöst. Grau in grau erschien jetzt alles und wirkte von Minute zu Minute bedrückender, bedrohlicher. Nach einem kurzen, jedoch scharfen Anstieg sah Carola, daß der Mann, dem sie folgen mußte, einen noch schärferen Anstieg begann. »Ich kann nicht mehr«, jammerte sie und blieb stehen. »Noch drei Minuten«, log er sie an. »Sind Sie sicher?« 7
»Ja.« Das Tageslicht schwand dahin. Nach zehn Minuten sank Carola in den Schnee. »Ich kann nicht mehr.« »Noch dreihundert Meter.« »Ich kann nicht mehr.« »Noch zweihundert Meter, dann sehen Sie die Hütte.« »Ich kann …« Er riß sie hoch. »Auf, verdammt noch mal! Es geht um Leben oder Tod, falls du das noch nicht gemerkt haben solltest, faules Stück!« Die Empörung verlieh ihr noch einmal Kräfte für einen halben Kilometer. Dann war der Schneesturm da, aber auch die Hütte. Die letzten zwanzig Meter legten die beiden, umgeben vom Höllentanz der Flocken, zurück. »Geschafft!« sagte Padenberg, die Tür der primitiven Unterkunft aufstoßend. Er schob Carola in die Hütte, folgte ihr und warf die Tür hinter sich zu. Erst drinnen entledigten sich die zwei ihrer Schier. Carola sank auf eine Bank. Sie sagte kein Wort. Die Empörung in ihr hätte immer noch ausgereicht, ihm Gift in den Kaffee zu streuen. Wohin? In den Kaffee? Können vor Lachen. Von Kaffee konnte man an diesem Ort und zu diesem Zeitpunkt nur träumen. Padenberg gönnte sich keinen Augenblick Ruhe. Als erstes nahm er die Schier und lehnte sie neben der Tür an die Wand der Hütte. Dann suchte er nach einer Möglichkeit, Licht zu machen. Infolge des Schneetreibens war es draußen schon ziemlich finster, im Innern der Hütte aber konnte man fast überhaupt nichts mehr unterscheiden. Von Carola und der Bank, auf der sie kauerte, nahm Padenberg nur noch vage Umrisse wahr. Bald fand er jedoch eine jener Petroleumlampen, mit denen Schutzhütten im Hochgebirge 8
ausgerüstet sein müssen. Die alte Lampe war längere Zeit nicht benutzt worden. Es dauerte also eine Weile, bis er sie wieder so weit hatte, daß sie brannte. Während Padenberg an ihr herumfummelte und mit seinem Schnappmesser hauptsächlich den eingetrockneten Docht putzte und auflockerte, sagte er zu Carola: »Wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen, könnten Sie sich eigentlich hier drinnen nach Holz und Stroh umsehen.« »Wozu?« fragte sie ihn wenig freundlich. »Zum Feuer anmachen.« »Um mich hier zurechtzufinden, brauche ich Licht.« Darin hatte sie auch wieder recht. Padenberg nickte zustimmend. Endlich brannte dann die Laterne mit blakendem Docht und hüllte das Hütteninnere in einen warmen, wenn auch schwachen Schein. Carola erhob sich von ihrer Bank. »Bleiben Sie sitzen«, sagte er. »Nun kann ich das selber machen.« »Nein, das besorge ich.« Die beiden standen sich gegenüber. Carolas Augen glühten wie die einer Katze im Dunkeln. »Können Sie das überhaupt?« fragte er sie. »Was?« »Feuer anmachen.« »Selbstverständlich.« Er ging auf seinen Platz am Tisch zurück und setzte sich. Carola nahm die Petroleumlampe, um sich zu leuchten, und fand dann auch rasch das nötige Heizmaterial, das sie in den Ofen stopfte, wobei sie von Padenberg unterbrochen wurde, als er ihr den Rat gab: »Nach Möglichkeit Stroh sparen, bitte.« »Wieso?« fragte sie, sich nach ihm umdrehend. »Weil es auch noch zum Schlafen reichen muß.« »Wozu?« »Zum Schlafen. Oder wollen Sie lieber auf dem blanken, harten Boden schlafen?« 9
»Soll das heißen …«, sie mußte schlucken, »… daß wir hier nächtigen werden?« »Ich kann Ihnen leider nichts anderes in Aussicht stellen.« »Aber … aber …« Carola verstummte. Dann hörte sie auf, Stroh in den Ofen zu stopfen, und legte nur noch Holz nach. Padenberg sah ihr wieder zu, und als es ihm genug zu sein schien, sorgte er selbst mit zwei Streichhölzern für ein prasselndes Feuer, das der Hütte rasch ihre unwirtlichsten Züge nahm. Er vergaß auch nicht, hinten am Ofen die Luftklappe zu öffnen. »Sonst würden wir im Rauch ersticken«, meinte er dabei. Das würde dir nicht schaden, dachte Carola. Immer noch war sie voller Zorn gegen ihn, und das konnte man ihr ansehen. »Sie haben mich beleidigt«, sagte sie plötzlich. »Wann?« »Draußen im Schnee, bei dieser schrecklichen Tour hierher, die vielleicht gar nicht nötig gewesen wäre. Im Hotel wartet man auf mich. Ich hätte doch die Abfahrt riskieren sollen.« Er blickte sie ernst an. »Erstens«, sagte er, »war die Tour verdammt nötig. Zweitens hätten Sie Ihr Hotel nicht mehr erreicht. Und drittens habe ich Sie nicht beleidigt, es sei denn, es ist eine Beleidigung, wenn man das einzige Mittel anwendet, das einem das Leben zu retten hilft.« »Ich bin kein faules Stück!« »Nein, das sind Sie nicht, ich bescheinige es Ihnen jetzt gerne. Sie haben sich phantastisch gehalten. Es gab nur einen Augenblick, da dachte ich, ich müßte Sie liegen lassen, und das wollte ich um keinen Preis. Eher hätte ich versucht, Sie zur Hütte zu tragen, aber da ich selbst ein sehr faules Stück bin, wollte ich mir das ersparen. Es wäre wohl auch schiefgegangen, und als Folge davon lägen wir beide jetzt unter dem Schnee begraben.« »Wieso wir … wir beide?« stotterte Carola. 10
»Wieso nicht wir beide?« »Liegengeblieben wäre doch nur ich.« »Und ich wäre weitergegangen, denken Sie?« »Etwa nicht?« »Nein«, sagte er ohne Aufhebens. »Wahnsinn!« rief sie. »Was hätte ich davon gehabt, wenn Sie sich dazugelegt hätten? Ich glaube Ihnen nicht!« »Von Dazulegen kann keine Rede sein. Ich hätte, wie gesagt, versucht, Sie zu schleppen, und wäre dann wohl mit Ihnen zusammengebrochen, sicher voll von Selbstvorwürfen über meine Blödheit, so gehandelt zu haben. Es ist also nicht nötig, mein Kind, von Ihnen vielleicht heiliggesprochen zu werden.« Gewollter Zynismus war das, der bei Carola aber nicht verfing. Mit großen Augen blickte sie ihn an. Nach einer Weile sagte sie: »Warum hätten Sie das getan? Sie kennen mich doch kaum.« »Weil kein anderer da war, der sich für Ihre Rettung hätte zuständig erklären können. Die Aufgabe blieb also an mir hängen.« »Sie sind anscheinend sehr versessen darauf, Ihre Tat zu schmälern?« »Reden wir nicht mehr davon. Wichtiger ist, daß Sie endlich erfahren, wer ich bin. Mein Name ist Detlev Padenberg. Ich bin Architekt aus, das wissen Sie schon, Flensburg.« »Ich heiße Carola Burghardt und bin, das wissen Sie auch schon, Oberprimanerin aus Hamburg.« »Wer wartet im Hotel auf Sie? Ihre Eltern?« »Nein.« »Ihr …«, er zögerte eine halbe Sekunde, »… Verlobter?« »Nein«, entfloh es ihr rascher, als es ihr lieb war. Warum eigentlich? Sie hätte sich diese Frage selbst nicht beantworten können. »Sie tragen ja auch keinen Ring«, sagte Padenberg. »Aber das erlaubt heutzutage keine hundertprozentig zutreffenden Rückschlüsse mehr.« 11
»Interessiert Sie das?« »Was?« »Ob ich verlobt bin oder nicht.« »Ja«, erwiderte er und fuhr, ehe sie darauf reagieren konnte, fort: »Aber nur, weil ich mich frage, an wessen Adresse die Vorwürfe zu richten sind, daß er Sie so allein in der Gegend herumschwirren ließ.« »Ich habe niemanden um Erlaubnis gebeten.« »Nun aber raus mit der Sprache: Wer trägt für Sie die Verantwortung?« »Nur ich selbst«, sagte sie trotzig. »Fräulein Burghardt, seien Sie doch nicht kindisch. Was ich gerne wissen möchte, ist: Wer ist damit beauftragt, seine schützende Hand über Sie zu halten? Ich nehme an, Sie kommen aus einem guten Haus, in dem auch heute noch auf solche Regeln geachtet wird.« Carola mußte sich zwingen zu sagen: »Er heißt Jens Kosten und studiert Medizin. Seine Eltern sind mit meinen befreundet.« »Und wo war er, als er sich an Ihrer Seite hätte befinden sollen?« »Heute morgen?« »Ja.« »Er schlief noch.« »Vielleicht tut er das sogar jetzt noch«, sagte Padenberg in ziemlich abfälligem Ton. »Schon möglich!« »Und er merkt erst heute abend an der Bar, daß Sie fehlen.« Carola mußte lachen. »Sie halten nicht viel von ihm, wie?« »Ich als junger Mann hätte Sie jedenfalls keine Sekunde aus den Augen gelassen. Dazu hätte es übrigens nicht des gefährlichen Hochgebirges bedurft. Auch auf dem nächstbesten Bummel hätte mir nichts anderes am Herzen gelegen.« 12
Obwohl Carola noch ein naives Mädchen war, wußte sie schon, wie das zu verstehen war. Trotzdem sagte sie: »Wie soll ich das verstehen?« »Auch der nächstbeste Bummel ist für ein junges Mädchen mit Fährnissen gepflastert, die es abzuwenden gilt.« »Mit welchen Fährnissen?« »Tun Sie doch nicht so, als ob Sie das nicht wüßten.« Schroffer als beabsichtigt sagte er dies und raubte ihr dadurch die Lust, auf diesem Feld den Dialog fortzusetzen. Das Feuer im Ofen hatte inzwischen für Wärme gesorgt, so daß es den beiden in ihren Schianzügen allmählich unbehaglich wurde. Sie spürten, daß sie bald zu schwitzen anfangen würden, und beugten dem vor, indem sie sich der Kleidungsstücke, die auszuziehen erlaubt waren, entledigten. Dazu gehörten vor allem die unförmigen Schuhe, die dicken Socken und die Mützen. Carola stellte mit Erstaunen fest, daß Padenbergs Haar gewissermaßen schon silberdurchwirkt war und sich an den Schläfen weiß färbte. Bei meinem viel älteren Vater, dachte sie, ist das noch nicht der Fall. Trotzdem … Sie führte den Gedanken nicht zu Ende. Auch den nächsten nicht. Wenn wir hier nächtigen … »Haben Sie Durst?« fragte er sie. »Nein.« »Hunger?« »Auch nicht, aber …« »Ein Stück Kuchen wäre jetzt nicht schlecht, wollten Sie sagen«, meinte er, als sie verstummt war. »Erraten.« »Mir stünde der Sinn mehr nach bayerischem Geräucherten und Schwarzbrot, aber weder Ihr Wunsch noch der meine wird hier eine Erfüllung finden. Der Tod des Verdurstens droht uns allerdings nicht.« 13
»Wieso nicht? Gibt's hier etwas zu trinken?« »Ja, en masse – Schneewasser.« Carolas Miene wirkte nicht gerade begeistert; die seine auch nicht, als er das sagte.
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J
ens Kosten erwachte um 11.10 Uhr am späten Vormittag. Als ihm dies nach einem Blick auf die Uhr bewußt wurde, entschloß er sich, das Frühstück ausfallen zu lassen. Daß Carola längst aufgestanden war und auch schon gefrühstückt hatte, war ihm sonnenklar. Hoffentlich hat sie mich nicht vermißt, dachte er gähnend, schwang die Beine aus dem Bett und schleppte sich mehr, als er ging, ins Bad. Ein zusätzliches Stündchen Schlaf wäre durchaus nach seinem Geschmack gewesen. Als er dann herunter in die Hotelhalle kam, sah er sich vergebens nach Carola um. Draußen war es herrlich, die Sonne blendete, der Schnee glitzerte, kein Lüftchen regte sich. Jens stellte seine Beobachtungen, wie es draußen war, durch die großen Fenster der Halle an. Er ließ sich in einen schweren Sessel fallen und zündete sich die erste Zigarette des heutigen Tages an. Viele sollten ihr noch folgen, obwohl Jens normalerweise ein mäßiger Raucher war. Herr Senden, der Hoteldirektor, durchquerte die Halle. »Guten Morgen, Herr Kosten«, grüßte er Jens, der es wieder einmal nicht geschafft hatte, dem wesentlich älteren zuvorzukommen. »Guten Morgen, Herr Senden.« »Wie geht's?« Senden hatte sich entschlossen, eine Minute bei Jens stehenzu14
bleiben und ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Aus jungen Leuten konnten Stammgäste werden, und darauf war Direktor Senden stets bedacht. »Danke, gut, Herr Senden. Und Ihnen?« »Danke. Was sagen Sie zu unserem Wetter?« Im Zusammenhang mit dieser Frage fiel dem jungen Küstenbewohner an vordringlichster Stelle ein, zu welchem Zweck er am Tag zuvor in Garmisch gewesen war. Er habe sich Schneeketten besorgt, teilte er dem Direktor mit. »Fast hätten die keine mehr gehabt«, fügte er hinzu. »So was dürfte aber nicht passieren«, meinte Senden. »Ist der Trubel in Garmisch immer so groß?« fragte Jens. »Meistens.« »Ich hatte gedacht, Garmisch sei nicht Ruhpolding.« Darauf hätte der Direktor dem jungen Burschen gern seine wahre Meinung gesagt, was ihm jedoch verwehrt war, und so erwiderte er: »Vergleiche hinken meist, Herr Kosten. Ich bin sicher, daß Sie stets einen Bogen um Ruhpolding machen werden.« »Haben Sie Fräulein Burghardt schon gesehen?« »Nein. Ich war allerdings auch den ganzen Vormittag in meinem Büro. Vermissen Sie sie etwa?« »Nein«, erwiderte Jens und grinste. »Ich frage nur, weil sie heute das Frühstück ohne mich einnehmen mußte und vielleicht Schwierigkeiten mit den abgepackten Marmeladeportionen hatte. Sie kriegt die Dinger nämlich meistens nicht auf, wissen Sie.« »Und dann springen Sie ein?« »Wenn ich anwesend bin, ja.« Nun hatte Direktor Senden bereits zwei Minuten seiner kostbaren Zeit verschwendet. »Haben Sie schon nachgesehen«, sagte er, sich abwendend, »ob die junge Dame nicht auf unserer Sonnenterrasse liegt?« Aber auch dieser Tip erwies sich als Schlag ins Wasser. Carola war 15
nicht aufzufinden, weder auf der Terrasse noch auf ihrem Zimmer noch im oder am geheizten Schwimmbecken des Hotels. Zum Mittagessen wird sie sich schon einfinden, beruhigte sich Jens Kosten selbst. Irrtum. Das Wetter schlug um. Sich von den Bergen herunter in die Täler ausdehnend, erreichte der Schneesturm, einigermaßen abgeschwächt freilich, auch den Eibsee. Jens Kosten suchte den Direktor. Er fand ihn im Büro. »Herr Senden«, sagte er, »kann man nicht feststellen, ob Fräulein Burghardt vielleicht mit jemandem nach Garmisch hinuntergefahren ist?« Sendens rechtes Augenlid zuckte einmal, zweimal. Bei Menschen, die von Haus aus nervös sind, hat das nichts zu besagen. Direktor Senden war aber nicht von Haus aus nervös, sondern nur, wenn sich ein Anlaß dazu bemerkbar machte. »Suchen Sie die junge Dame immer noch, Herr Kosten?« »Ja, und ich kann sie nicht finden.« »Dann mag Ihre Annahme, daß sie nach Garmisch hinuntergefahren ist, zutreffen.« Hoffentlich, fügte Senden in seinem Innern hinzu. »Läßt sich das nicht feststellen?« wiederholte Kosten. Sendens Augenlid kam nicht mehr zur Ruhe. »Wichtiger wäre«, sagte er, »festzustellen, ob die Schier der jungen Dame da sind.« Sehr rasch stellte sich heraus, daß das nicht der Fall war. »Und was heißt das?« fragte Jens Kosten. »Das kann immer noch heißen, daß die junge Dame mit Schiern nach Garmisch hinuntergefahren ist.« »Sicher, dann wird das wohl zutreffen«, meinte Jens erleichtert. »Sehr wahrscheinlich ist das aber leider nicht.« »Wieso nicht?« 16
»Sie hätte sich doch fragen müssen: Wohin in Garmisch mit den lästigen Brettern?« Betroffen blickte Jens den Direktor an. Der Wind hörte nicht auf, um die kleine Schutzhütte zu heulen. Der ganze Himmel schien nur noch aus Schnee zu bestehen und sich entladen zu wollen. »Wie lange kann das dauern?« fragte Carola. »Das weiß man nie«, antwortete Padenberg. »Aber ich möchte wetten, daß das heute nicht mehr aufhört.« Er erhob sich und legte Holz im Ofen nach. Dabei sagte er: »Erfrieren müssen wir nicht. Heizen können wir tagelang, so groß ist der Vorrat.« »Ich habe Angst«, ließ sich Carola plötzlich vernehmen. »Wovor?« Sie schwieg. »Vor mir?« Ja, das hatte sie, aber sie log: »Nein.« »Wovor dann?« »Wir könnten verhungern«, sagte sie. »Ausgeschlossen! Man verhungert nicht in einigen Tagen. Dazu braucht man Wochen. Sie glauben nicht, wie lange es der Mensch ohne Nahrung aushält. Etwas anderes ist es mit dem Verdursten. Doch in dieser Hinsicht besteht für uns überhaupt keine Gefahr, das sagte ich Ihnen bereits.« »Sie glauben also, daß wir hier rechtzeitig wieder rauskommen?« Er lächelte sie beruhigend an. »Ich bin sicher, Carola.« »Und wenn wir vorher ersticken?« »Wie kommen Sie darauf?« »Wir könnten doch zuschneien. Ich habe noch nie solche 17
Schneemassen vom Himmel herunterkommen sehen.« »Sollte es nicht vorher aufhören, so ist das lockerer, luftdurchlässiger Schnee, der auf die Hütte zu liegen kommt, und nicht eine zusammengepreßte Lawine. Keine Sorge, mein Kind, wir sind hier so sicher wie in Abrahams Schoß.« Erstens ärgerte sie Abrahams Schoß. So plump könne man ihr nicht kommen, fand sie. Und zweitens sagte sie mit Nachdruck: »Ich bin kein Kind!« »Nein«, antwortete er schlicht. »Und sicher wie in Abrahams Schoß sind wir bestimmt auch nicht.« »Doch, doch, das sind wir.« »Sie vielleicht, ich nicht!« »Wie meinen Sie das?« »Für Ihre Sicherheit mag es Ihnen ausreichend erscheinen, daß Sie nicht verhungern, nicht verdursten, nicht erfrieren und nicht ersticken. Für mich kommt noch etwas hinzu.« »Was?« Nun wollte sie nicht länger lügen, sondern ihm die Wahrheit ins Gesicht sagen. »Ich bin Ihnen ausgeliefert«, erklärte sie. »Vor einer Minute noch versicherten Sie mir, daß dieser Umstand keinerlei Befürchtung in Ihnen auslösen würde.« »Von einer Minute auf die andere hat schon oft etwas ganz anders ausgesehen.« Jeder andere Mann wäre wahrscheinlich beleidigt gewesen, aber Detlev Padenberg behielt seinen heiteren Gleichmut. Er entgegnete: »Eigentlich sollte ich sagen, Ihr Verdacht, den Sie plötzlich gegen mich hegen, ehrt mich. Sie sehen in mir keinen Eunuchen. Aber …« Carola weinte plötzlich. »Was ist denn, was haben Sie?« rief er und kam rasch auf sie zu. Die Antwort war ganz einfach. Carolas Nerven waren gerissen, 18
nachdem sie ohnehin schon viel zu lange standgehalten hatten. Das gräßliche Abenteuer, das hinter ihr lag, nein, in dem sie noch mittendrin steckte, ging über ihre Kräfte. Padenberg setzte sich zu ihr auf die Bank und legte den Arm um ihre Schulter. Er sprach kein Wort mehr, hielt sie nur fest, und das tat ihr gut. Mit der Zeit begann ihr Tränenstrom wieder zu versiegen. »Entschuldigen Sie«, bat sie. »Was denn?« »Ich bin sonst nicht so … so unbeherrscht.« »Sie sind ein sehr, sehr tapferes Mädchen. Ihre Tränen sind die natürlichste Sache der Welt. Eigentlich wären die längst fällig gewesen, und ich habe mich gefragt, wo sie so lange bleiben.« Er nahm den Arm von ihrer Schulter und rückte ein bißchen von ihr weg. Sie empfand das als Verlust. Sie wußte jetzt, daß ihr von diesem Mann keine Gefahr drohte. War das wirklich der Fall? Woher wollte sie das eigentlich wissen? Jens Kosten riß eine neue Zigarettenpackung an; den Inhalt der ersten hatte er inzwischen verbraucht. Er sprach wieder mit Direktor Senden. »Man muß doch etwas tun!« sagte er aufgeregt. Senden zuckte ratlos mit den Schultern. »Was denn?« »Das fragen Sie mich?« antwortete Jens. »Sie müssen das doch wissen, nicht ich!« Im Hotel war herumgefragt worden. Dabei hatte sich, wie bei einem Mosaik Steinchen um Steinchen, die erschreckende Wahrheit herausgestellt. Ein Kochlehrling hatte Abfall weggebracht und gesehen, daß sich eine junge Dame vor dem Haus die Schier angeschnallt hatte. »Welche junge Dame?« war er gefragt worden. 19
Wie sie hieß, wußte er nicht. Ihre Zimmernummer auch nicht. »Welche Farbe hatte ihr Schianzug?« »Blau.« »Die Mütze?« »Rot.« »Sprach sie mit dir?« Das hatte sie nicht getan, es war auch kein Anlaß dazu gewesen. »War sie groß, klein, schlank oder mollig? Wie sah sie aus?« Die Antwort darauf faßte der Vierzehnjährige in einem Wort zusammen. Sie lautete: »Spitze.« Gegenüber den beiden anderen Lehrlingen in der Küche äußerte er sich später noch folgendermaßen: »Ein Rasseweib, sage ich euch. Genau mein Geschmack.« Alle Angaben paßten auf Carola Burghardt. Von einer Lederwarenfabrikantin aus Offenbach, die aus dem Fenster geschaut hatte, war sie gesehen worden, wie sie auf ihren Brettern bergwärts entschwunden war. Es sei ein wunderschönes Bild gewesen: die einsame, bunte Schifahrerin, langsam kleiner werdend in der weiten weißen Pracht. Echte Zweifel daran, daß es sich um Carola Burghardt gehandelt hatte, waren nicht mehr erlaubt. »Besteht denn Lawinengefahr?« fragte Jens Kosten den Hoteldirektor. »Das kommt ganz darauf an, wohin die junge Dame sich gewandt hat.« »Läßt sich eine solche Gefahr rechtzeitig erkennen?« Senden entschloß sich, sein stereotypes ›die junge Dame‹ unter den Tisch fallen zu lassen und sich mit Verkürzungen wie ›die‹ oder ›sie‹ zu begnügen. »Die«, sagte er, »kann das wohl nicht.« »Warum nicht?« »Weil sie keinerlei Erfahrung auf diesem Gebiet hat.« 20
»Aber man darf sie doch nicht ihrem Schicksal überlassen!« »Die Hauptgefahr droht ihr nicht von den Lawinen, Herr Kosten. Der wahnsinnige Schneefall ganz allgemein ist das schlimme. Wenn da jemand hinein gerät, sieht er kaum mehr die Hand vor den Augen und verirrt sich unweigerlich.« »Großer Gott!« stieß Jens hervor. Über eine kleine Beruhigungspille verfügte Senden immerhin noch. »Sie kann eine Schutzhütte gefunden haben, Herr Kosten.« Im Grunde jedoch scheute sich der Direktor seit einem Jahr nicht mehr, in solchen Fällen das zu tun, was man ›reinen Wein einschenken‹ nennt. Im vergangenen Winter war nämlich ebenfalls eine Frau im Schnee umgekommen, die Gattin eines Besitzers großer Schafherden in der Lüneburger Heide. Zu lange hatte ihm Senden die Lage als nicht so gefährlich dargestellt, um ihn zu beruhigen. Mit welchem Resultat? Mit einem unangenehmen. Der Mann hatte gegen das Hotel einen Prozeß angestrengt. Man habe ihm, so seine Klage, etwas vorgegaukelt zu einem Zeitpunkt, als vielleicht noch etwas zur Rettung der Frau hätte unternommen werden können – und wenn er selbst aufgebrochen wäre, um sie im Schnee zu suchen. Daran sei er durch das ständige Einlullen des Direktors gehindert worden. Was den Fall brisant machte, war die Tatsache, daß man die Tote keine dreihundert Meter vom Hotel entfernt unterm Schnee fand. Zwar erreichte die Direktion vor Gericht mit Mühe und Not einen Freispruch, aber es mußte erst Berufung eingelegt werden. In erster Instanz war der schwer getroffene Witwer mit seiner Anklage durchgedrungen. Seitdem empfand sich Direktor Senden, wie gesagt, als gebranntes Kind und bemäntelte nicht mehr den Ernst der Lage, der man ins Auge sehen mußte. »Und wenn sie keine Schutzhütte gefunden hat, was dann?« »Dann kann man nur hoffen und beten, daß sie sich nicht verirrt 21
hat und zum Hotel zurückfindet.« »Sie sagten aber vorhin, daß man sich unweigerlich verirrt?« Senden schwieg. »Hat es denn schon einmal einen ähnlichen Fall gegeben«, fragte ihn daraufhin Jens, »in dem sich unter vergleichbaren Umständen jemand nicht verirrt hat?« »Nein.« »Carola«, sagte Detlev Padenberg, »wissen Sie, was jetzt das beste wäre?« »Was?« »Wenn Sie versuchen würden, ein bißchen zu schlafen.« »Schlafen?« Das Wort hatte ihr einen Schreck eingejagt. »Ja.« »Ich?« »Ja.« »Und Sie?« »Ich?« antwortete er ruhig. »Ich bleibe wach und beobachte das Wetter. Sollte es sich nämlich noch vor Einbruch der Dunkelheit bessern – womit freilich nicht zu rechnen ist –, könnten wir hier, wie es so schön heißt, unsere Zelte abbrechen. Ich brächte Sie dann runter zu Ihrem Hotel.« »Das würden Sie tun?« »Muß ich doch«, meinte er grinsend. »Hat sich denn nicht gerade gezeigt, wohin es führt, wenn man Sie allein herumkurven läßt?« »Wo wohnen Sie denn?« »Bei einem Bergbauern, ziemlich abgelegen. Das gefällt mir besser. Wissen Sie«, erklärte er lachend, »da muß ich mich nicht zu jedem Essen umziehen.« Sie saßen nun beide am Tisch. Die Petroleumlampe stieß schwarze Rauchwölkchen aus und stank furchtbar. Trotzdem empfand Ca22
rola plötzlich den Wunsch, das Ganze hier möge noch eine Weile so weitergehen. Wenn jetzt die Tür aufginge, dachte sie, und jemand käme herein und sagte: Kommen Sie, wir sind mit dem Hubschrauber da – ich glaube, ich wäre gar nicht erfreut darüber. Und er? Wie würde er reagieren? Dieser Frage wollte sie nachgehen. Junge Mädchen sind von Natur aus neugierig. »Was würden Sie sagen«, begann sie also, »wenn plötzlich die Tür aufginge und …« »Die geht nicht auf«, fiel er ihr ins Wort. »… und unser Retter erschiene, ein Hubschrauberpilot?« »Ausgeschlossen, Carola. Bei diesem Wetter völlig ausgeschlossen. Auch Hubschrauberpiloten haben ihre Grenzen.« »Nehmen wir an, sie hätten sie nicht. Was würden Sie dann sagen?« »Ich würde ihn fragen, ob er der Geiger ist.« »Wer?« »Der Geiger. So heißt ein berühmter Gletscherpilot in der Schweiz. Er bringt Landungen zustande, bei denen jeder andere passen müßte.« »Sonst würden Sie nichts sagen?« fragte Carola enttäuscht. Er dachte kurz nach. »Nun, ich würde sehen, wie Sie sich freuen, und Sie dazu beglückwünschen, daß Ihr sehnlichster Wunsch, hier rauszukommen, so rasch in Erfüllung geht.« »Vielleicht …« Carola verstummte. Was sie hatte sagen wollen, war der helle Wahnsinn, so erschien es ihr jedenfalls. Vielleicht sei dies gar nicht ihr Wunsch, genau das wäre ihr beinahe herausgerutscht. »Vielleicht hätte ich Angst vorm Fliegen«, sagte sie statt dessen. »Sie sind doch sicher schon öfter geflogen?« »Ja, aber nicht im Hubschrauber.« »Ich auch nicht, deshalb kann ich nicht beurteilen, ob es da gro23
ße Unterschiede gibt.« »Ich bin davon überzeugt.« »Wenn Sie davon überzeugt sind, dann läge es nahe, daß Sie lieber noch eine Nacht hierbleiben würden, bis Sie mit den Schiern abfahren könnten.« Carola blickte ihn mit ihren großen, wunderschönen blauen Augen ehrlich an. »Ich hätte wirklich Angst vorm Hubschrauber, Herr Padenberg.« »Wissen Sie, was das heißt, Fräulein Burghardt?« »Bleiben Sie bitte bei ›Carola‹, das gefällt mir besser.« »Mir gefiele ›Detlev‹ aus Ihrem Munde auch besser, aber …« »Was aber?« »Der Altersunterschied zwischen uns beiden …« »Stört er Sie?« »Es ist so, daß ich mich nicht gern lächerlich mache, Carola.« »Sie machen sich nicht lächerlich.« »Doch.« »Nein, Detlev.« Damit war dieses Thema abgeschlossen, und man konnte durchaus neugierig sein, welche ungeahnten Seiten dieser naiven, ängstlichen, unerfahrenen, männerscheuen Hanseatin mit wachsender Geschwindigkeit ihres Wandels noch zutage treten würden. »Sie deuteten Konsequenzen aus meiner Angst vorm Hubschrauber an, Detlev«, nahm Carola das Gespräch wieder auf. »Die ausschlaggebende Konsequenz wäre, daß ich mir diese Angst ebenfalls zu eigen machen müßte.« »Sie ließen mich also nicht allein in der Hütte zurück? Oder verstehe ich Sie falsch?« »Nein, Sie verstehen mich richtig.« »Sie blieben ebenfalls da!« »Ja.« »Warum?« 24
Nun war die Reihe an ihm, mit seinen dunklen Augen, die längst nicht so hübsch wie die ihren waren, sie ehrlich anzublicken. »Weil das meine Pflicht wäre, Carola.«
3
D
irektor Senden war sich im klaren darüber, daß der Hotelbetrieb heute keinen normalen Verlauf nehmen würde. Auch der letzte Gast wußte inzwischen, was passiert war, beziehungsweise, was mit Sicherheit angenommen werden mußte: daß es passiert war. Die allgemeine Aufregung war groß und schlug durch auf das Personal des Hauses, das sich den Fragen der Gäste nicht entziehen konnte. Vor allem Direktor Senden sah sich einem regelrechten Trommelfeuer ausgesetzt. Er war der Hauptleidtragende. Wurde denn alles getan? Hat man Leuchtkugeln abgeschossen? Warum war nichts von akustischen Signalen zu hören? Sollte auf dem Dach eines Gebäudes in solch alpiner Lage nicht eine Sirene angebracht sein? Wer hat schon einmal an die Anschaffung von Hunden nach Art der Bernhardiner auf dem St. Gotthard gedacht? Zu Jens Kosten sagte ein Studienprofessor aus Celle: »Haben Sie eigentlich schon an die Bergwacht gedacht?« »An die Bergwacht?« »Ja.« »Hat denn die damit auch etwas zu tun?« »Aber sicher. Die hat mit allem zu tun. Die Zeitungen sind doch immer wieder voll von solchen Berichten.« 25
Jens stürzte in Sendens Büro, zum wer weiß wievielten Male. »Warum haben Sie mich noch nicht auf die Bergwacht hingewiesen, Herr Direktor Senden?« »Weil das keinen Sinn hätte.« »Wie bitte?« »Weil das bis jetzt völlig sinnlos gewesen wäre.« »Was soll denn das heißen? Die sind doch für alles zuständig!« »Solange der Schneesturm anhält, können auch die nichts unternehmen.« Jens verlor jegliche Beherrschung und Vernunft. »Ich verlange aber, daß die etwas unternehmen! Wozu sind sie schließlich da?« »Nicht dazu, sich selbst auch noch sinnlos zu opfern, Herr Kosten.« »Kann ich mit der Bergwacht sprechen?« »Bitte.« Senden zeigte aufs Telefon. »Die Nummer ist 30 31 32. Aber ich warne Sie. Diese Leute sind wie die Berge hier – rauh und ungeschliffen.« »Was soll das heißen?« »Die haben keinerlei Hemmungen, Ihnen erst einmal klipp und klar zu sagen, was sie von den leichtsinnigen Touren derjenigen halten, für die sie immer wieder ihr Leben aufs Spiel setzen müssen. Und außerdem kann es Ihnen auch noch passieren, daß man Sie auffordert, die Suche doch selbst aufzunehmen bei diesem Schneetreiben.« »Wenn nur einer mit käme, würde ich das auch tun«, beteuerte Jens und meinte das sogar ernst. Ein Feigling war er nämlich nicht. Am Ende blieb ihm jedoch nichts anderes übrig, als einzusehen, daß er zur Untätigkeit verurteilt war und es außerdem vorläufig auch keinen Zweck hatte, unsinnige Telefonate mit der Bergwacht zu führen. Mit zusammengepreßten Lippen verließ er Sendens Büro. Drau26
ßen war die nächste Zigarette fällig. Als der Direktor allein war, stellte er selbst die Verbindung mit der Bergwacht her. Dies geschah schon zum drittenmal. »Ich bin's wieder, Andreas«, eröffnete er das Gespräch. »Der hört nicht auf, mich zu nerven. Hast du dich mit deinen Leuten besprochen?« »Ja, Karl, nur den Leo konnte ich noch nicht erreichen. Wir sind uns alle völlig einig, daß im Augenblick nicht das geringste unternommen werden kann. Das gilt bombensicher auch für den Leo.« »Wann frühestens?« fragte Senden nur. »Morgen bei Tagesanbruch.« »Vorausgesetzt, das Wetter spielt mit!« »Selbstverständlich. Inzwischen ist die natürlich mit hundertprozentiger Sicherheit im Eimer, aber es muß ja schließlich auch die Leiche gefunden und geborgen werden.« »Vielleicht hat sie doch noch eine Schutzhütte entdeckt.« »Dann erfriert sie dort, weil sie zu blöd ist, Feuer anzumachen.« Harte Worte waren das, aber einem Gruppenführer der Bergwacht sollte man das nicht verübeln. Was diese Männer jahraus, jahrein mit Urlaubern aus Deutschlands Ebenen erlebten, ging, wie sie sich auszudrücken pflegten, auf keine Kuhhaut. »Anderl«, sagte Senden, der sehr gut wußte, warum er sich mit Bergführern und Männern ähnlichen Kalibers duzte, »der Bekannte dieses Mädchens wollte dich vorhin schon selbst anrufen. Mit Müh und Not konnte ich ihn davon abhalten. Ich weiß aber nicht, ob mir das noch einmal gelingt. Wenn nicht, mach's gnädig mit ihm.« »Sag ihm, er soll mich gefälligst in Ruhe lassen. Ich habe einfach nicht mehr die Nerven, mir das dumme Geschwätz von Besserwissern anzuhören. Wie viele von uns haben heuer schon wieder dran glauben müssen! Drei Mann. Und der vierte liegt gelähmt in Murnau im Versehrtenkrankenhaus. Sag ihm das!« 27
»Was machen Sie denn da, Detlev?« fragte Carola. »Ich schütte Stroh auf«, antwortete er. Genau das tat er, er bedeckte einen verhältnismäßig schmalen Streifen des Fußbodens dick mit Stroh. Dabei sagte er: »Ich sagte Ihnen doch, Sie sollten versuchen, ein bißchen zu schlafen.« Carola verfolgte sein Tun mit skeptischer Miene. »Soviel ich sehe«, sagte sie nach einer Weile, »ist das alles Stroh, das wir hier zur Verfügung haben.« »Ja.« »Dann müssen Sie es besser verteilen.« »Wieso? Ist Ihnen das zu schmal?« »Mir nicht, aber Sie brauchen ja auch noch einen Liegeplatz.« »Ich?« Er zeigte zum Tisch. »Ich schlafe da – wenn überhaupt.« »Im Sitzen?« »Ja.« Anders als zum Schlafen im Sitzen hätte sich für ihn kein Platz mehr in der sehr beengten Hütte gefunden, es sei denn an Carolas Seite auf dem Fußbodenstreifen zwischen Ofen und Wand. »Detlev, das kommt nicht in Frage.« »Was kommt nicht in Frage?« »Daß ich hier den ganzen Platz zum Liegen für mich in Anspruch nehme.« »Doch, das wird so gemacht.« »Nein.« »Sie haben mir zu gehorchen.« »Wie bitte?« »Jawohl, das haben Sie, und zwar aus dem einfachsten Grund der Welt …« »Den würde ich gerne hören.« »Ich könnte Ihr Vater sein.« Das mußte ja einmal gesagt werden. Die beiden blickten einander an, dann sagte Carola: »Ich habe schon einen.« 28
Kein Bedarf an einem zweiten, hieß das. Carola schob ihren Widersacher energisch beiseite, bückte sich und nahm von ihrem dickgepolsterten Lager Stroh weg und verteilte es auf eine größere Fläche. Detlev wartete nicht ab, bis sie fertig war, sondern ging zurück zum Tisch und setzte sich. Er fand, daß er sich beruhigen mußte. Am besten beruhigte er sich jedoch mit einer Pfeife Tabak. »Ich würde gerne rauchen«, sagte er. Carola richtete sich erstaunt auf. »Sie sind Raucher?« fragte sie ihn. »Ja.« »Das überrascht mich.« »Warum?« »Weil ich davon bisher noch nichts gemerkt habe. Ein anderer hätte doch längst die Bude vollgequalmt.« »Die Bude vollgequalmt, ja, das ist es. Das wollte ich nicht, sehen Sie.« »Mit Rücksicht auf mich?« Er fuhr sich durch die Haare. Das war bei ihm eine Geste der Verlegenheit. »Ich will mal so sagen: Das bißchen Luft hier drinnen sollte in seiner Qualität nicht durch Rauchen verschlechtert werden.« Carola ließ das Büschel Stroh, das sie gerade in der Hand hielt, fallen und kam ebenfalls zum Tisch. »Detlev«, sagte sie, sich halb auf einen Stuhl setzend, »ich möchte Ihnen etwas beichten: Ich hatte Angst vor Ihnen …« Sie verstummte und wartete, daß er sich dazu äußern würde. Das tat er jedoch nicht. »… aber das war schrecklich dumm von mir«, fuhr sie deshalb fort. Nun nickte er bestätigend. »Warum rauchen Sie nicht? Was ist denn jetzt damit?« fragte sie 29
ihn. »Darf ich denn?« »Aber natürlich. Sie können mir auch eine geben.« »Eine Zigarette?« »Ja.« »Habe ich leider keine«, sagte er bedauernd. »Ich rauche Pfeife.« Sein Bedauern trug mit dazu bei, daß er ihr noch sympathischer wurde. Das war gefährlich. In der Stille, die eintrat, stopfte er seine Pfeife und zündete sie an. Carola beobachtete den ineinandergreifenden Rhythmus der anund abschwellenden Streichholzflamme über dem Pfeifenkopf und das Aufsteigen der Rauchwölkchen, die Detlev ausstieß. Hübsch fand sie das. Noch nie in ihrem Leben war ihr bewußt geworden, daß es so etwas überhaupt gab. Seine Hände, die sie nah vor Augen hatte, gefielen ihr. Ring trug er keinen. Sein Tabak roch angenehm. Alles fand sie positiv. »Ich höre bald wieder auf«, sagte er, die Pfeife, nachdem sie richtig in Brand gesteckt war, aus dem Mund nehmend. »Warum?« »Um Ihre Gelüste nicht unnötig anzuregen.« »Das tun Sie nicht.« »Sie rauchen doch selbst auch.« »Nur ganz, ganz selten; oft monatelang überhaupt nicht.« »Prima«, sagte er sichtlich erfreut. »Warum finden Sie das prima?« »Weil Rauchen ungesund ist, höchst ungesund.« Carola zeigte auf seine Pfeife. »Zwischen Ihren Worten und Ihren Taten besteht aber keine Harmonie.« »Was dieser Disharmonie die Bedeutung nimmt, ist die Tatsache, daß es um mich, wenn mich mein Laster einmal hinwegrafft, nicht schade sein wird …« 30
»Blödsinn!« »… während das für Sie keinesfalls gelten würde, Carola.« »Blöds…« Mitten im Wort brach Carola ab. Sie hatte dasselbe noch einmal sagen wollen, als ihr plötzlich klar wurde, daß das falsch gewesen wäre. »Wie war das, Detlev?« »Ich habe damit sagen wollen, daß es um Sie außerordentlich schade wäre.« »Detlev, Sie … ich … war das Ihr Ernst?« Er wandte den Blick von ihr ab. »Ja«, sagte er, sich mit seiner Pfeife beschäftigend. »Ein so dickes Kompliment hat mir noch keiner gemacht.« »Das glaube ich nicht. Ich kann mir nur vorstellen, daß die jungen Leute, von denen Sie verehrt werden, Sie diesbezüglich auch nicht darben lassen.« »Ach die!« Carola machte eine wegwerfende Handbewegung. »Wie die sich ausdrücken, das sollten Sie einmal erleben. Wollen Sie einige Kostproben hören?« »Ja, ganz gern.« »Nein, lieber nicht«, änderte sie dann doch ihre Meinung. »Warum nicht?« »Weil das eine verderbliche Wirkung auf Sie ausüben könnte. Sie könnten infiziert werden, und das wäre sehr, sehr bedauerlich.« »Tatsächlich?« »Ja, bleiben Sie bitte der Kavalier alter Schule, der Sie sind. Der sind Sie doch?« »Ich hoffe es.« »Bisher habe ich von solchen nur in Romanen gelesen und mir nicht vorstellen können, wie schön es ist, einem wirklichen Kavalier zu begegnen.« »Da sehen Sie«, witzelte er, »daß sogar ein Schneesturm noch sein 31
Gutes haben kann.« Und wieder blickte sie ihn mit ihren wunderschönen blauen Augen an. »Detlev.« »Ja?« »Sie sind ein sehr, sehr netter Mensch.« Er schwieg. »Kein Vater«, fügte sie hinzu. Weiter konnte sie nicht mehr gehen. Das empfand auch er. »Carola«, sagte er, »ich bin ein sehr, sehr schwacher Mensch, und deshalb bitte ich Sie, kein Feuer zu entfachen, mit dem Sie zu spielen gedenken.« »Das will ich nicht, Detlev.« »Dann ist es gut.« »Sie verstehen mich falsch. Ich will nicht mit dem Feuer spielen, nein …« »Aber?« »Aber anzünden möchte ich es schon.«
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nter den Hotelgästen befand sich ein neunundzwanzigjähriger Südtiroler, der von Beruf Weinvertreter war. In dieser Woche und an diesem Ort interessierten ihn allerdings nicht die Geschäfte, sondern er hatte nur ein paar schöne Tage im Sinn. Ein bißchen ausspannen wollte er, nachdem er in der Woche zuvor München abgegrast und glänzende Abschlüsse erzielt hatte, die es ihm erlaubten, auch wieder einmal ein bißchen zu bummeln. Er hieß Trenker, 32
und um das Maß vollzumachen, lautete sein Vorname Alois. Fast niemand, der ihn kennenlernte, ersparte es ihm, den ›Alois‹ in ›Luis‹ umzuändern. Schon am zweiten Abend war ihm das in der Bar auch von Jens Kosten angetan worden, mit dem er an der Theke zusammengetroffen war. Kosten hatte einen Whisky vor sich, Trenker einen Obstler. An diesem unterschiedlichen Getränk entzündete sich ihre Diskussion. Zuvor hatten sie in entgegengesetzten Ecken der Bar an Tischen gesessen und Wein getrunken, der Südtiroler natürlich roten, Kosten weißen. In Kostens Gesellschaft hatte sich Carola Burghardt befunden, der es dann aber zu spät geworden war, so daß sie sich von Jens verabschiedet hatte, um schlafen zu gehen. Gelegenheit für Jens, den ›Abend an der Theke ausklingen zu lassen‹. Dieselbe Idee hatte Alois Trenker, der solo war. Stumm kletterten die beiden nebeneinander auf ihre Barhocker, stumm trank jeder sein erstes Glas, wobei der Südtiroler dem Hamburger etwas vorauseilte. Ersterer setzte also sein Glas ein, zwei Sekunden früher wieder ab. Als dies dann auch letzterer tat, wobei ihm der Südtiroler zusah, sagte dieser kopfschüttelnd: »Pfui Teufel!« »Was?« entrüstete sich der Hamburger, nachdem ihm aufgegangen war, daß diese Bemerkung ihm gegolten hatte. »Wie kann man nur einen solchen Dreck trinken?« sagte der Südtiroler, auf das Whiskyglas seines Nachbarn zeigend. »Das gleiche frage ich mich bei Ihrem Obstler«, entgegnete Kosten, sich Trenkers Fingerzeig und Kopfschütteln zu eigen machend. Der Einstieg in die Diskussion war also geschafft, dem Blödsinn Tür und Tor geöffnet. Die notwendige Voraussetzung, nicht mehr nüchtern zu sein, erfüllten beide. »Ihr perverser Geschmack ist mir schon den ganzen Abend aufgefallen«, fuhr der Südtiroler fort. »Sie haben nur Weißwein getrunken.« »Und Sie nur roten.« 33
»Ich kann das nicht verstehen.« »Genau wie ich, Sie sprechen mir aus der Seele.« »Darf ich Sie hier an dieser Stelle zu einem Obstler einladen?« fragte der Südtiroler. »Und ich Sie zu einem Whisky?« Die beiden nickten einander zu, der Austausch fand statt. Diesen quittierend, setzte der Südtiroler sein Glas mit einem abermaligen »Pfui Teufel!« ab. Ins gleiche Horn stieß der Hamburger: »Zum Kotzen!« Um aber gegeneinander nicht unhöflich zu sein, beantworteten beide die Frage des Barkeepers, ob er die alte Regel wieder herstellen sollte, mit einem klaren »Nein«. Kosten fuhr also fort, Obstler zu trinken, Trenker Whisky. Die beiderseitigen Ausrufe des Abscheus mehrten sich. Der Entschluß der beiden, sich gegenseitig zu duzen, ließ dann auch nicht mehr lange auf sich warten. »Wie heißt du?« fragte der Südtiroler. »Jens Kosten. Und du?« »Alois Trenker.« »Alois? Was ist denn das? Ein Vorname? Ich kenne keinen Hamburger, der Alois heißt.« »Und ich kenne keinen Südtiroler, der Jens heißt.« »Stammst du aus Südtirol?« »So wie du aus Hamburg.« »Sag mal, welche Sprache ist das eigentlich, die ihr sprecht?« »Dasselbe wollte ich dich auch schon fragen.« »Wie war dein Nachname? Sagtest du Trenker?« »Ja.« »Dann verstehe ich dich nicht. Warum schreckst du die Leute mit deinem ›Alois‹? Nenn dich doch Luis. So kennt euch doch die Welt.« Wieder einmal war es also soweit. 34
Der solchermaßen oft geprüfte Weinvertreter aus Kaltem erklärte darauf, daß er kein Sakrileg begehen wolle. Jener andere Trenker sei etwas viel zu Einmaliges, als daß er ein Double vertragen würde. »Jeder Mensch verträgt ein Double«, behauptete Kosten eigensinnig. Das bot dem Südtiroler Gelegenheit, die Kurve, auf die er schon lange gewartet hatte, zu nehmen. »Nein, das stimmt nicht«, sagte er. »Gerade in deiner Umgebung befindet sich ein Beispiel, das dich widerlegt.« »Welches?« »Deine Schwester.« »Meine Schwester?« »Die ist auch etwas absolut Einmaliges.« »Ich habe keine Schwester. Von wem sprichst du, Luis?« »Von dem Mädchen, das den ganzen Abend bei dir am Tisch saß. Es muß deine Schwester sein.« »Wieso?« »Weil du nicht mit ihm schlafen gegangen bist.« Dafür erntete Trenker einen langen, vorwurfsvollen Blick von Kosten. Dann sagte der Hamburger mit düsterer Miene: »Und trotzdem ist das Mädchen meine Braut.« Ungläubig schüttelte Trenker den Kopf. Das war für ihn einfach undenkbar – in Südtirol. »Seid ihr verlobt?« fragte er. Zögernd verneinte Kosten. »Was seid ihr dann?« Dieses Thema ging dem Hamburger anscheinend auf die Nerven, denn er stieß ärgerlich hervor: »Was geht das dich an?« Alois Trenker, ein Draufgänger wie alle Südtiroler Gipfelstürmer und Weinvertreter, wußte damit genug. Es schien ihm jetzt kein aussichtsloses Unterfangen zu sein, dieses tolle Mädchen, dem alle Blicke in der Bar zugeflogen waren, ins Visier zu nehmen. Man 35
mußte nur darauf bedacht sein, sich entsprechend in Szene zu setzen. Die Gelegenheit dazu sollte eher – und ganz anders – kommen, als er gedacht hatte. Jens und Alois kamen in dieser Nacht erst sehr spät ins Bett. Den nächsten Tag verschlief der Südtiroler fast ganz, während Jens Kosten immerhin schon um 11.10 Uhr erwachte, sich zum Aufstehen zwang und feststellen mußte, daß Carola verschwunden war. Der Tag der Katastrophe war angebrochen. Alois Trenker kam erst am Spätnachmittag aus seinem Zimmer und erfuhr wohl als letzter, was passiert war. Im ganzen Hotel brannten die Lichter, da der draußen tobende Schneesturm den Tag in finstere Nacht verwandelt hatte. Trenkers erste Reaktion auf die schlimme Nachricht lautete: »Das gibt's doch nicht!« Die zweite war, daß er sich fragte, warum es das nicht geben sollte. Als Tiroler war er geradezu mit solchen Hiobsbotschaften, in deren Mittelpunkt leichtsinnige, dem Tod in die Arme laufende Urlauber standen, groß geworden. Vielleicht gab's aber diesmal noch eine Rettungsmöglichkeit. Welche? Alois Trenker ging vor die Tür. Rasch kehrte er jedoch wieder um. Draußen war nichts, aber auch gar nichts zu machen. Drinnen suchte er Jens Kosten und fand ihn bei einer Flasche Bier und einem vollen Aschenbecher in der Halle. Jens stand noch ganz unter dem Eindruck der Abfuhr, die ihm in Sendens Büro zuteil geworden war, als er geglaubt hatte, auf dem Einsatz der Bergwacht bestehen zu können. »Hast du endlich ausgeschlafen?« empfing er barsch den Südtiroler. Trenker setzte sich schweigend zu ihm. »Hast du schon gehört, was passiert ist?« fuhr Kosten fort. »Ja.« 36
»Die machen mich hier noch wahnsinnig.« »Warum?« »Weil sie nichts unternehmen.« »Die können im Augenblick nichts unternehmen.« »Danke für die Belehrung. Du auch noch. Hau ab, du gehst mir auf die Nerven. Ich kann euch alle nicht mehr sehen.« Trenker beeindruckte das gar nicht, und er blieb sitzen. »Wir haben etwa die gleiche Statur«, sagte er so, als ob nichts gewesen wäre. »Was?« »Geh auf dein Zimmer und zieh deine Schiklamotten aus. Ich muß sie haben. Auch die warme Unterwäsche, die Socken, die Schuhe. Bring mir alles …« »Welche Schuhgröße hast du?« unterbrach er sich, dem anderen auf die Füße schauend. »Vierundvierzig. Wieso?« »Schöne Latschen. Die reinsten Elbkähne, so sagt ihr doch? Bring ein zweites Paar dicke Socken mit, damit mir die Schuhe nicht im Schnee steckenbleiben.« »Meine Schuhe? Wozu? Bist du verrückt?« »Ich brauche deine vollständige Ausrüstung, damit ich aufbrechen kann, sobald der Schneesturm nachläßt.« »Um Carola zu suchen?« »Heißt sie Carola? Hattest du mir noch nicht gesagt. Hübscher Name. Ganz was anderes als Jens. Gibt's auch in Südtirol.« »Luis«, sagte Kosten, stockte aber dann, weil er spürte, daß das jetzt fehl am Platze war, und korrigierte sich: »Alois, das finde ich großartig von dir. Endlich einer, der was tut. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Eine Ausrüstung müssen wir für dich aber von woanders beschaffen.« Kosten hatte sich erhoben. »Wieso?« fragte Trenker. »Bleib sitzen.« 37
»Weil ich mitkomme!« »Das wirst du sein lassen!« sagte Trenker energisch und wiederholte: »Bleib sitzen.« Nur widerwillig ließ sich Kosten wieder auf seine vier Buchstaben nieder. »Warum willst du mich nicht dabeihaben?« fragte er. »Weil du mich schon nach wenigen Minuten aus den Augen verlieren würdest. Das muß nämlich dann möglichst rasch gehen, verstehst du, und deine Schifahrerei kann ich mir vorstellen.« »Bist du denn so viel besser?« »Als Südtiroler?« antwortete Trenker nur. Seine Frage klang stolz. Kosten erhob sich, um auf sein Zimmer zu gehen und sich umzuziehen. »Dann will ich mal rasch«, sagte er, »damit du sofort aufbrechen kannst.« »Laß dir Zeit. Erst muß, das sagte ich schon, das verheerende Schneegestöber aufhören. So lange sitze ich hier fest. Außerdem ist meine Ausrüstung noch nicht komplett.« »Das kann aber noch Stunden dauern.« Alois Trenker zuckte die Achseln. »Vielleicht sogar die ganze Nacht.« »Hoffentlich nicht«, stöhnte Jens Kosten. Der Südtiroler versprach ihm: »Sobald die Sauerei einigermaßen aufhört, bin ich jedenfalls der erste, der rausgeht.« Während Jens Kosten die Kleidung wechselte und seine Schier bereitstellte, machte sich Trenker daran, die Komplettierung seiner Ausrüstung vorzunehmen. Unbedingt brauchte er noch eine starke Taschenlampe mit neuen Batterien, einen Kompaß und eine genaue Karte vom Gebiet oberhalb des Eibsees, auf der sämtliche Schutzhütten, Scheunen und dergleichen eingezeichnet waren. Die Hoteldirektion stellte ihm die Zusatzausrüstung zur Verfügung. Vergessen wurde auch nicht ein sogenannter ›Flachmann‹, gefüllt mit einem Viertelliter Cognac. Und dann hieß es warten, warten … 38
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arola!« »Detlev!« »Was sagten Sie da?« »Ich will nicht mit dem Feuer spielen …« »Aber?« »Aber es anzünden.« »Carola!« »Ja?« »Das heißt doch …« Er verstummte. »Ja, das heißt es«, sagte sie. Er atmete tief. »Bist du verrückt?« »Wie bitte? Spricht so ein Kavalier alter Schule mit einer Dame?« Detlev Padenberg nahm hastig die Pfeife in den Mund und legte einen Schleier von Qualm um seinen Kopf. Dann sagte er: »Leg dich jetzt schlafen.« Sie nickte, ging zu dem von ihr auf Gemeinsamkeit hergerichteten Strohlager, setzte sich, ließ sich nach hinten sinken und streckte sich auf dem Lager aus, das zur Hälfte frei blieb. Eine lautlose, bleierne Stille trat ein. Nur das Feuer im Ofen knisterte von Zeit zu Zeit, wenn es auf Harzklümpchen in den Holzscheiten stieß. Nach einer Ewigkeit, so schien es ihm, sagte Carola unnatürlich laut: »Komm!« Da war er mit seiner Kraft am Ende. Die Leidenschaft der Umarmungen hätte in einem Hotelbett der Luxusklasse nicht größer sein können. Mit verzehrender Glut wurden Küsse getauscht. Carola 39
entpuppte sich, so fand er, als Naturgewalt. Wenigstens bin ich, so glaubte er, nicht der erste bei ihr. Das war ihm ein seltsamer Trost im Sturm seiner Gefühle. Aber dann kam der Schock, der ihn fast noch einmal auf seinen Ausgangspunkt zurückgeworfen hätte, als er merkte, daß er doch der erste war. Detlev Padenberg erstarrte. »Carola«, sagte er verstört, »das habe ich nicht gewußt.« »Was hast du nicht gewußt?« »Daß du … daß ich …« »Das konntest du auch nicht wissen.« Er wollte sich aus ihr entfernen, aber sie hielt ihn fest. »Bleib. Es ist so schön …« Im Widerstreit seiner Gefühle sagte er: »Schön ist es für mich, dir tut's weh.« »Mir hat's weh getan, aber jetzt scheint mir das Gegenteil der Fall zu sein.« Verblüfft blickte er auf sie herab. »Oder es verhält sich all das nicht so«, fügte sie, zu ihm emporlächelnd, hinzu, »wie es nun schon seit einigen Jahren an mein Ohr geklungen ist …« »Carola … du … du bist …« Was? Was wollte er sagen, daß sie sei? Es blieb sein Geheimnis. Statt zu reden, überließ er sich wieder dem Drang, etwas zu tun – ein unwiderstehlicher Drang. Und als Carola dann ihren ersten Orgasmus erlebt hatte, war das erste, was zu sagen ihr nach einer Pause glückseliger Erschöpfung gelang, dies: »Das, was so an mein Ohr gedrungen ist, erwies sich als absolut zutreffend.« Man glaubt ja nicht, wie sich ein so naives, braves, unschuldiges Mädchen über Nacht ändern kann, wenn die Zeit dazu gekommen ist. Detlev und Carola liebten sich, nachdem bei ihm der Damm gebrochen war, bis zur Erschöpfung. Nicht einen Augenblick zweifel40
te er daran, daß ihm – in seinem Alter – ein solches Erlebnis kein zweitesmal beschert werden würde. Es bis zur Neige auszukosten war daher sein elementares Bestreben, und die gar nicht so unerklärlichen Kräfte, die ihm dabei noch einmal zuwuchsen, waren die eines Zwanzigjährigen. Sowohl er als auch Carola merkten nicht, daß im Laufe der Nacht draußen der Sturm nachließ. Im Morgengrauen schliefen sie ein und erwachten erst wieder, als sich jemand an der Tür ihrer Hütte zu schaffen machte. »Hallo!« drang eine Männerstimme dumpf herein. »Hallo!« Carola war als erste aufgeschreckt. Sie rüttelte Detlev am Arm. Er brauchte etwas, bis er völlig wach war. »Hallo!« rief es wieder. Detlev legte den Finger auf die Lippen, Carola dadurch auffordernd, sich still zu verhalten. Das war natürlich unüberlegt, mehr noch: dumm. Schon wenig später mußte Detlev Padenberg über sich selbst den Kopf schütteln. »Hallo, Fräulein Burghardt!« Detlevs Finger lag immer noch auf den Lippen. Das Rumoren an der Tür ließ nicht nach. Zu vermuten war, daß es von den Bemühungen eines Mannes herrührte, der den Schnee – oder wenigstens einen Teil desselben – von der Tür wegschaffte. Plötzlich waren diese Bemühungen von Erfolg gekrönt. Die Tür flog auf, und ein Berg Schnee stürzte ins Hütteninnere. Dahinter erschien eine Gestalt im Schianzug, die der Schneemasse auf ihrem Weg in die Hütte fast ebenso unaufgefordert und formlos und polternd folgte. Es war der Mann, der gerufen und keine Antwort erhalten hatte und daher mit dem Schlimmsten hatte rechnen müssen. Es überraschte ihn deshalb, daß er nicht auf die Leiche einer Erfrorenen stieß. Er fand sogar zwei Lebende, und das war eine noch größere Überraschung für ihn. Alois Trenker starrte auf Carola Burghardt und Detlev Padenberg, die sich auf ihrem Strohlager aufgerichtet hatten. Daß dieses ein La41
ger der Liebe gewesen war, dafür gab's einige untrügliche Anzeichen. Das untrüglichste war Carolas Schlüpfer, der ein Plätzchen zwischen Detlev und der Wand gefunden hatte. In ihrer Verwirrung hatte Carola nicht mehr daran gedacht, als der Lärm an der Tür begonnen hatte. Trenkers Gedanken, die ihm durch den Kopf gingen, ließen sich auf den einen Nenner bringen: Ich Idiot! »Wer sind Sie?« fragte Padenberg barsch. »Wer sind Sie?« fragte Trenker zurück. »Mein Name ist Padenberg. Und der Ihre?« »Trenker.« »Was wollen Sie hier?« Ich Riesenidiot, dachte Alois Trenker noch einmal, machte in Richtung Padenberg eine wegwerfende Handbewegung und wandte sich an Carola. »Sie sind doch Fräulein Burghardt aus Hamburg?« »Ja.« Carola sprach auffallend leise und einsilbig. Sie hatte inzwischen Ihren Schlüpfer entdeckt und war sehr verlegen. »Wissen Sie, was Sie angerichtet haben?« fuhr Trenker fort. »Nein.« »Nein. Können Sie sich das denn nicht denken?« »Nein.« »Man wird es Ihnen im Hotel erzählen, wenn Sie zurückkommen.« Carola schwieg. »Erkennen Sie die Klamotten, die ich anhabe?« fragte Alois weiter. »Nein.« »Könnten es nicht die Ihres – sagen wir einmal: Beschützers aus Hamburg sein?« Carola blickte genauer hin. 42
»Doch«, erwiderte sie nickend. »Sie gehören ihm. Ich habe sie mir, einschließlich Schier, ausgeliehen, um Sie suchen zu können. Das war gestern. Dann wartete ich bis weit nach Mitternacht auf Wetterbesserung. Endlich konnte ich raus. Ihr Beschützer war inzwischen längst besoffen. Um drei Uhr bin ich aufgebrochen. Jetzt ist es«, er schaute auf seine Armbanduhr, »zehn nach neun. Es war nicht einfach, Sie zu finden.« Er machte eine kurze Pause, während der er, mit einem Blick auf den Schlüpfer, grinste. »Aber wenigstens leben Sie noch.« Alois Trenker hatte eine ungeheure Leistung vollbracht. Über sechs Stunden mit Schiern unterwegs im Tiefschnee, eine Kreuzund-quer-Strecke von mehr als 20 Kilometern, meistens bergauf, Tonnen von Schnee vor den Türen zweier Schutzhütten und zweier Scheunen – das alles summierte sich zu einer Strapaze ohnegleichen. Doch über die sprach Alois Trenker mit keinem Wort, wenn man einmal davon absah, daß er gesagt hatte: »Es war nicht einfach, Sie zu finden.« Das genügte. Dabei waren neben den physischen Anstrengungen auch noch unwägbare psychische mit im Spiel gewesen: Erstens die Angst um das eigene Schicksal. Er hätte sich in der Finsternis der ersten Stunden hoffnungslos verirren können; das Gelände war ihm unbekannt. Das Wetter hätte wieder umschlagen können. Lawinen drohten. Er hätte in Felsspalten, die vom Schnee zugeweht waren, stürzen können. Zweitens wurde mit jedem Kilometer die Hoffnung geringer, daß sich das Ganze überhaupt lohnen würde, daß also noch eine Lebende aufzufinden wäre. Hundertmal hatte sich deshalb Trenker gesagt: Kehr um! Einmal hatte er es sogar getan, aber nach einem halben Kilometer Talfahrt hatte er sich wieder bergwärts gewandt. Drittens sah er sich zuletzt auch noch um den erhofften Lohn ge43
prellt. Seine Spekulation war folgende gewesen: Wenn sie noch lebt und ich sie finde, bin ich für sie der Größte. Dann gelingt's mir gewiß, jeden anderen, zumindest für eine Weile, aus dem Feld zu schlagen. Ein solches Mädchen habe ich noch nie gehabt, so eine fehlt mir noch in meiner Sammlung. War Alois Trenker deshalb in moralischer Hinsicht ein minderwertiges Subjekt? Auf keinen Fall. Wenn man bedachte, was er für ein Mädchen, mit dem er gern ins Bett gestiegen wäre, gewagt hatte, war er eher als ein Held anzusehen. Wer wäre denn nicht gern mit Carola Burghardt ins Bett gestiegen? Jeder hätte das gerne getan – und zwar ohne vorher Kopf und Kragen zu riskieren. Aber nun stand Alois Trenker vor den Scherben seiner Überlegung. Er mußte sogar annehmen, daß Carola gar nicht erst durch den Schneesturm gezwungen wurde, eine Schutzhütte aufzusuchen, sondern sich dort schon vorher planmäßig mit ihrem Liebhaber getroffen hatte. Ihrem Liebhaber? Schöner Liebhaber! Alter Sack – das stimme eher. Dies sagte sich Alois Trenker, nachdem er sich angesichts der Situation, der er sich gegenübersah, ein rasches Urteil über Padenberg gebildet hatte. Was will sie denn mit dem? fragte er sich. Ich hätte ihr einen anderen Geschmack zugetraut. Na schön, da kann man nichts machen, dachte er, und das war eine Südtiroler Lebensweisheit schlechthin. »Dann hau' ich also wieder ab«, sagte er zu Carola. »Oder wollen Sie mit runterfahren? Im Tiefschnee werden Sie vielleicht Probleme haben.« »Danke, Herr Padenberg«, erwiderte sie, zu diesem hinnickend, »wird mich begleiten.« »Gut. Und wann ungefähr werden Sie im Hotel erscheinen? Die werden mich nämlich danach fragen.« 44
Carola zögerte, blickte dann Padenberg an. Trenker konnte es sich deshalb nicht verkneifen hinzuzufügen: »Wissen Sie das etwa noch nicht?« »Bald.« »Hoffentlich noch bevor die Bergwacht hier erscheint.« »Wer?« stieß Padenberg konsterniert hervor. »Die Bergwacht.« Trenker, dem der Schreck Padenbergs wohl tat, grinste schadenfroh. »Die wurde nämlich ebenfalls alarmiert. Ich wundere mich eigentlich, daß ich noch nichts von ihr gesehen habe. Wahrscheinlich liegt das daran, daß sie bei ihrer Suche systematisch vorgehen. Das dauert dann länger, als wenn einer über den Daumen peilt, so wie ich.« Carola und Padenberg rappelten sich auf. »Das ist doch lächerlich«, meinte Padenberg, und als er stand, fügte er hinzu: »Wir haben die nicht bestellt.« Sarkastisch erwiderte Trenker: »Das ist meistens so, daß die, die in den Felswänden hängen oder unter Lawinen begraben liegen, die Bergwacht nicht bestellen. Um so weher tut den Angehörigen am Schluß die Rechnung.« »Welche Rechnung?« »Für den Einsatz der Bergwacht. Die ist nämlich nicht billig.« Carola und Padenberg blickten einander an. Das kann ja noch lustig werden, dachte jeder spontan. Und Trenker fragte sich schadenfroh: Was mögen die jetzt denken? – Wahrscheinlich: ein paar teure Nummern. Südtiroler sprechen deftig und denken auch so.
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renkers Rückkehr ins Hotel wurde allseits mit der gebührenden Aufregung zur Kenntnis genommen. Man umringte ihn bereits, als er die Schier noch gar nicht abgenommen hatte, bestürmte ihn mit Fragen. »Haben Sie sie gefunden?« »Lebte sie noch?« »In welchem Zustand?« »In bestem, sagen Sie?« »Wie denn das?« »Das sollen wir uns von ihr selbst erzählen lassen?« »Warum denn?« »Warum nicht gleich von Ihnen?« »Wann kommt sie denn?« »Wo ist sie überhaupt?« »Warum haben Sie sie nicht gleich mitgebracht?« Und so weiter und so weiter … Trenker wimmelte die Leute ab und ging mit Direktor Senden in dessen Büro. Als die Tür hinter den beiden zugefallen war, sagte Trenker: »Das war ein absolut blinder Alarm.« »So?« »Wo ist Kosten?« Den hatte Trenker nämlich draußen in der Schar der Neugierigen als einzigen vermißt. »Ich nehme an, er schläft noch«, antwortete Senden. »Sie wissen ja, was er sich in seiner Verzweiflung gestern noch hinter die Binde gegossen hat.« »Die Verzweiflung war höchst überflüssig.« »Wieso? Erzählen Sie.« 46
Trenker berichtete aber nur das Notwendigste. Die verfänglichen Dinge ließ er weg; er behielt sie für sich zu späterer Verwendung, wenn er mit Kosten sprechen würde. Dem mußte wohl reiner Wein eingeschenkt werden. »Die ist also wohlauf?« fragte Senden noch einmal, als Trenker seinen Kurzbericht beendet hatte. »Ja.« »Wie kam sie in die Hütte?« Trenker zuckte mit den Schultern. »Weiß ich nicht. Das müssen Sie sie selber fragen.« »Und der Mann in der Hütte, wie kam der hin?« »Weiß ich auch nicht. Er bringt sie her.« »Ist Ihnen zwischen den beiden was aufgefallen?« »Nein. – Geht mich ja auch nichts an.« Senden stutzte. »Was machen Sie da?« Trenker hatte angefangen, Kompaß, Landkarte und Taschenlampe auf den Schreibtisch zu legen. Als letztes folgte der ›Flachmann‹ mit dem Cognac. »Ihre Sachen, Herr Direktor.« Dem Aluminiumgefäß war nicht anzusehen, ob es noch voll war. Senden nahm das auch nicht im Traum an. »Hat er Ihnen gute Dienste geleistet?« fragte er. »Wer?« »Der Cognac?« Trenker lachte kurz. »Den habe ich Ihnen wieder mitgebracht.« »Waas?« Der Südtiroler hob noch einmal die Flasche vom Tisch hoch, schüttelte sie, so daß man es gluckern hören konnte, und stellte sie wieder hin. »Wurde nicht gebraucht, Herr Direktor. Ich sagte Ihnen ja, nie47
mand mußte aus der Bewußtlosigkeit zurückgeholt werden.« »Aber wenigstens Sie hätten ihn sich dann zu Gemüte führen können!« »Den Dreck?« wehrte Alois Trenker aus Kaltem lachend ab. »Nicht um die Welt! Was anderes wäre ein richtiger Obstler gewesen.« Er wandte sich zur Tür. »Was ich jetzt brauche, ist ein heißes Bad«, sagte er im Gehen. »Und dann nichts wie schlafen. Wiedersehen.« Senden blickte ihm nach. Der Bursche gefiel ihm. »Herr Trenker«, stoppte er ihn noch einmal, als dieser schon die Türklinke in der Hand hatte, »Sie sind ein großartiger junger Mann. Unser Haus ist Ihnen zu Dank verpflichtet.« In Trenkers Gesicht leuchtete es verschmitzt auf. »Ihr Haus ist mir zu Dank verpflichtet?« »Ja, zu außerordentlichem.« »Ich weiß zwar nicht, warum, aber ich wäre schön dumm, wenn ich Sie davon abbringen wollte.« »Das könnten Sie auch gar nicht.« »Wissen Sie, warum das dumm wäre von mir?« »Nein.« »Weil ich Weinvertreter bin. Ich wollte zwar keine Geschäfte, sondern nur ein paar Tage Urlaub machen, aber wenn mir, wie soeben, eine größere Bestellung aufgedrängt wird …« Der Rest ging unter im Gelächter der beiden, und fünf Minuten später konnte sich die Kälterer Winzergenossenschaft eines saftigen Auftrags erfreuen, der voraussichtlich der erste einer Kette weiterer in den kommenden Jahren sein würde. Das heiße Bad wurde dann doch noch einmal zurückgestellt. Alois Trenker entschloß sich, vorher noch Jens Kosten aufzusuchen, 48
denn diesem stand es in allererster Linie zu, daß man ihm Bescheid sagte. Am Ende konnte Trenker freilich nicht umhin, seinen Entschluß zu bereuen. Hätte ich den Dummkopf nur schlafen lassen, dachte er, doch dazu war es bereits zu spät. Der junge Hamburger rieb sich verschlafen die Augen, als er geweckt wurde. »Was gibt's? Was willst du?« fragte er gähnend. Er war noch nicht ganz da. »Ich habe sie gefunden.« »Wen?« »Carola.« Als er den Namen hörte, wurde Kosten richtig wach. »Wo? Wie?« »In einer Schutzhütte. Wohlauf.« Jens sprang aus dem Bett. »Gott sei Dank!« Die plötzliche Bewegung machte ihm zu schaffen. Er faßte sich an den Kopf, ließ sich wieder auf die Bettkante sinken. »Mann«, stöhnte er, »mir zerspringt die Birne. Die verpassen einem anscheinend nur Fusel hier.« »Das kommt von deinem Scheißwhisky.« »Wo ist Carola? Auf ihrem Zimmer?« »Nein, sie kommt nach.« »Kommt nach? Woher?« »Vom Berg runter.« Jens blickte den Südtiroler ungläubig an. »Soll das heißen, daß du nicht auf sie gewartet hast?« »Das brauchte ich nicht.« »Was brauchtest du nicht?« »Auf sie warten. Sie war nicht allein.« Kostens Miene wechselte von Ungläubigkeit zu totaler Verständnislosigkeit. 49
»War nicht allein? Bist du noch mit jemandem unterwegs gewesen?« Trenker räusperte sich. »Hör zu, Jens«, sagte er, »du mußt da etwas erfahren, damit's keinen Skandal gibt, wenn die kommen. Du sollst darauf vorbereitet sein, finde ich. Du weißt doch, wie die Leute sind. Für die wäre das ein gefundenes Fressen.« »Worauf soll ich vorbereitet sein? Was wäre ein gefundenes Fressen?« Alois räusperte sich noch einmal. »Jens, du hast mir doch gesagt, wie du zu Carola stehst …« »Ich habe dir gesagt, wie ich zu Carola stehe?« wunderte sich Jens Kosten außerordentlich über sich selbst. »Ja, natürlich.« »Das kann ich mir gar nicht vorstellen. Über solche Dinge sprechen wir Hamburger nicht gern.« »Du hast dich sogar ganz klar ausgedrückt.« »Wie denn?« »Carola sei deine Braut, sagtest du.« »Nein!« »Doch!« Jens schien an sich selbst zu verzweifeln. »Was muß ich betrunken gewesen sein!« rief er kopfschüttelnd aus. »So schlimm war's gar nicht.« »Freund«, sagte Jens, die Rechte ausstreckend, »gib mir deine Hand darauf, daß du mit niemandem darüber sprichst. Ich müßte mich zu Tode schämen – als Hamburger. Vor allem Carola darf nichts davon erfahren.« Trenker schlug zögernd ein, sagte dann jedoch: »Du solltest dir über Carola weniger Gedanken machen. Sie macht sich über dich auch keine.« 50
»Was?« »Sag mir ehrlich, bist du sicher, daß das etwas Ernstes ist zwischen euch beiden? Von deiner Seite, meine ich? Bist du da ganz sicher?« Jens nickte. »Ja.« Es fiel ihm sichtlich schwer hinzuzufügen: »Da du nun schon so viel weißt – ich liebe sie.« Sich selbst entblößend, schloß er: »Ich werde sie heiraten.« »Dann«, erklärte Alois Trenker ohne Umschweife, »gibt's für dich einen harten Brocken zu schlucken.« »Ich … ich verstehe dich nicht.« »Du wirst sie, glaube ich, nicht heiraten.« Langsam wurde das Gespräch unerträglich für Jens Kosten. Er fand, daß da einer in einer Sache, die ihn nichts anging, entschieden zu weit ging. Er wollte deshalb die Unterhaltung abbrechen. Er erhob sich und erklärte: »Ich möchte jetzt ein Bad nehmen und mich anziehen.« Hau ab, hieß das, stör mich nicht länger. Doch Trenker sagte: »Ein Bad nehme ich dann auch, ich hab's nötiger als du, aber vorher muß ich dir noch reinen Wein einschenken. Du wirst mir dankbar sein.« »Ich wüßte nicht, wieso«, entgegnete der Norddeutsche arrogant. Verärgert darüber, entschloß sich der Südtiroler, mit der Wahrheit nicht mehr scheibchenweise herauszurücken, sondern sie dem anderen knüppeldick um die Ohren zu schlagen. »Die pfeift auf dich!« »Carola?« »Während du hier um sie gezittert hast und wir alle uns Sorgen um sie machten, hat sie sich da droben«, Trenker zeigte zum Fenster hinaus zu den Bergen hin, »mit einem amüsiert, daß die Bude nur so gewackelt hat.« 51
»Was?« Kosten sank langsam wieder auf die Bettkante nieder. »Die haben mir nicht einmal die Tür aufgemacht, eine Ewigkeit nicht, obwohl ich ständig gerufen habe. Wahrscheinlich waren sie gerade wieder dabei.« Jens Kosten sagte kein Wort. Er blickte den Südtiroler nur groß und stumm an. »Als ich reinkam, lagen die beiden noch da. Erst dann rappelten sie sich auf.« Kostens Erstarrung hielt an. »Ihr Schlüpfer hatte sich aber immer noch selbständig gemacht.« Endlich fand der Hamburger seine Sprache wieder. »Ich hoffe«, sagte er mit heiserer Stimme, »du weißt, was du da sagst.« »Sehr genau, mein Lieber.« »Du kannst schwören, daß die …« Noch einmal schienen ihm die Worte zu fehlen. »Ich kann jeden Eid darauf leisten, Jens. Schlag dir die aus dem Kopf. Mir kann das zwar egal sein, und es ist auch nicht der Grund, warum ich mich entschlossen habe, dir die Augen zu öffnen, aber es soll, wie ich schon sagte, keinen Skandal geben, daran liegt mir. Deshalb habe ich dich präpariert. Wenn ich das nicht getan hätte, brauchte ich mich nur in deine Lage zu versetzen, um zu wissen, was passieren würde, wenn die beiden herunterkämen und mir die Wahrheit vollkommen unvorbereitet, sozusagen ins Gesicht schleuderten. Ich würde den Kerl zusammenschlagen und müßte mich dann dafür auch noch einsperren lassen. Muß das denn sein?« Nein, das mußte nicht sein. Nichts ist einem echten Hamburger mehr zu wider als ein Skandal. Und die echten Hamburger sind noch lange nicht ausgestorben. Der junge Jens Kosten war sogar, obwohl seine Vorfahren aus Friesland stammten, die Uraltausgabe eines waschechten Hanseaten. 52
Und das hatte nun seinerseits eine Reaktion zur Folge, die ein Südtiroler überzogen finden mußte. »Für mich gibt's nur eins«, sagte Jens Kosten und eilte zum Kleiderschrank. »Was?« fragte Alois Trenker. »Ich reise ab.« »Wann?« »Sofort.« »Aber warum denn? Ignoriere den Kerl doch einfach.« »Es geht mir weniger um ihn.« »Als um sie?« Jens nickte. »Ich möchte ihr nicht mehr begegnen.« »Blödsinn. Lach dir eine andere an, und zwar hier, vor ihren Augen. Damit ärgerst du sie am meisten. Ich kenne die Weiber. Hast du noch nicht bemerkt, wie dir das Zimmermädchen auf eurer Etage Augen macht?« »Das Zimmermädchen?« antwortete Jens Kosten gedehnt. Alois Trenker hatte noch nie in eine wirklich und echt gute, stockkonservative Hamburger Familie hineingerochen, sonst wäre er nie auf eine solche Wahnsinnsidee gekommen. Jens Kosten schüttelte ungläubig den Kopf. Er glaubte, nicht recht gehört zu haben. »Ein hübscher Käfer«, untermauerte Alois Trenker seine Empfehlung. »Danke«, beendete Kosten das Thema. »Kein Bedarf.« »Dann werde vielleicht ich sie mir unter den Nagel reißen.« »Viel Vergnügen.« »Und du bleibst dabei, daß du Leine ziehen willst?« »Eisern.« Jens war inzwischen fast ganz angezogen. Waschen und Rasieren gedachte er anscheinend ausfallen zu lassen. 53
»Willst du nicht wenigstens warten, bis die vom Berg herunterkommen?« »Nein.« »Und wer soll ihr Bescheid sagen, wo du geblieben bist und warum du Leine gezogen hast?« »Du.« Alois streckte abwehrend beide Hände aus. »Du bist der Geeignetste dafür«, bekräftigte Jens Kosten. »Du kennst den ganzen Fall wie kein anderer, und du hast ja auch, wenn ich so sagen darf, den Stein ins Rollen gebracht.« Alois faßte sich an die Stirn. »Ich Idiot!« stöhnte er.
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ie Situation zwischen Carola Burghardt und Detlev Padenberg hatte sich mit Trenkers Erscheinen in der Schutzhütte, auf das sie nicht im entferntesten vorbereitet gewesen waren, merklich verändert. Das überraschende Ereignis schien besonders Padenberg an die Nieren gegangen zu sein. Nachdem Trenker ihnen das Erscheinen der Bergwacht in Aussicht gestellt und die Hütte wieder verlassen hatte, um zum Eibsee hinunterzufahren, sagte Padenberg zu Carola: »Das hätte nicht passieren dürfen.« Carolas erste Aufgabe war es, ihre Kleidung endlich wieder zu vervollständigen. Während sie dies tat, erwiderte sie: »Warum haben wir ihm eigentlich nicht bedeutet, daß er draußen bleiben soll?« »Das hätten wir tun sollen, ja. Wenigstens wäre ihm dann dieses Beweisstück Nr. 1«, er zeigte auf ihr Höschen, das sie gerade an 54
sich hochzog, »entgangen.« Mit dieser Ausdrucksweise wollte sich Carola nicht einverstanden erklären. »Du redest wie ein Polizist«, sagte sie. »Haben wir vielleicht etwas Kriminelles getan?« Er versuchte zu lächeln. Es mißlang. »Ich denke an deinen Ruf. Was glaubst du, wie die im Hotel sich die Mäuler über dich zerreißen werden.« »Du meinst, daß ihnen der etwas erzählt?« Während die beiden miteinander sprachen, war jeder bestrebt, sich möglichst rasch zum Aufbruch fertigzumachen, saß ihnen doch die Bergwacht im Nacken, mit deren Auftauchen sie ständig rechnen mußten. »Es würde mich sehr wundern, wenn der das nicht täte«, antwortete Detlev. »Du mußt dir im klaren sein, daß wir Ressentiments geweckt haben. Die haben, was dein Schicksal anbelangt, mit dem Schlimmsten gerechnet, und dieser Trenker – Trenker, sagte er doch, ja? – riskierte sein Leben, das muß jeder, der sich in den Bergen ein bißchen auskennt, zugeben. Was aber stellt sich heraus? Daß du mit mir hier …« Zum Strohlager hindeutend, verstummte er. Carola verfiel auf einen Ausweg. »Weißt du was?« sagte sie. »Wir holen im Hotel nur rasch meine Sachen, und ich ziehe um zu deinem Bergbauern. Dann können die im Hotel reden, was sie wollen.« Doch Detlev schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Erstens gibt's dort im ganzen Hof nur ein einziges Fremdenzimmer …« »Das genügt doch für uns beide«, unterbrach ihn Carola. »Und zweitens ist das eine Familie, von der du dir ein Bild machen kannst, wenn ich dir sage, daß zwei Söhne im Priesterseminar sind und die Tochter erst kürzlich als jüngste Nonne Bayerns ins 55
Kloster ging.« »O ja«, seufzte Carola. »Fertig?« fragte er sie und blickte zur Tür. Sie mußten nur noch die Schier anschnallen, dann konnte es losgehen. Nein, noch nicht ganz. Sie mußten sich noch einmal vergewissern, daß im Ofen nichts mehr brannte oder auch nur glühte. Padenberg öffnete das eiserne Türchen und stopfte einfach eine Menge Schnee hinein. Schifahren im Tiefschnee kann ein Vergnügen sein oder auch nicht. Wenn man aber die zwei jetzt gefragt hätte, welche der beiden Möglichkeiten im Augenblick zutraf, hätte keiner eine Antwort gewußt. Zu viel anderes ging ihnen im Kopf herum. Padenberg fuhr voraus, hielt sich in Trenkers Spur, von dem jedoch nichts mehr zu sehen war. Carola folgte kurz dahinter. Von Zeit zu Zeit hielt er an, um ihr eine Verschnaufpause zu gönnen. Von der Bergwacht war weit und breit nichts zu sehen. Wie sich später herausstellte, hatte sie um diese Zeit einen viel dringenderen Einsatz. Auf der österreichischen Seite hatte eine Lawine eine ganze Gruppe von Schifahrern verschüttet. Eine Einzelperson wie Carola Burghardt, auf deren Leben man ohnehin keinen Pfifferling mehr gab, mußte in diesem Fall zurückstehen. Auf halber Strecke, als Padenberg wieder einmal kurz angehalten hatte, sagte Carola zu ihm: »Aber besuchen kann ich dich doch tagsüber?« »Ich weiß nicht«, entgegnete er unbestimmt. »Lächerlich! Das können die doch nicht verbieten!« »Du hast keine Ahnung, wie die sind.« »Aus dem Mittelalter, was?« Er zuckte die Achseln. »Da fehlt nicht viel. Aber sonst sind es prima Leute, glaub mir. Ich wohne schon zum fünftenmal bei ihnen.« »Wie heißen sie denn?« 56
»Die Alten Josef und Maria Anthofer. Die Söhne Christian und Christoph. Den Namen der Tochter weiß ich nicht, wahrscheinlich auch wieder Maria. In der ganzen Gegend hießen sie alle zusammen jedenfalls ›die heilige Familie‹.« Carola lachte. »Armer Detlev!« rief sie und fügte frivol hinzu: »Wenn die wüßten, auf welchen Pfaden du heute nacht gewandelt bist.« »Nein«, sagte Padenberg mit überraschend ernster Miene, »das dürfen die nicht wissen.« »Aber wo werden sie dich vermutet haben? Du warst doch für die auch abgängig, du bist das jetzt noch.« Er schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Ach du liebe Zeit, daran habe ich noch gar nicht gedacht. Hoffentlich alarmierten die nicht auch Tod und Teufel.« »Den Teufel bestimmt nicht«, witzelte Carola. »Die nicht. Eher haben sie Gebete für dich zum Himmel gesandt.« Genau das hatten, wie sich später herausstellte, die Anthofers getan, unterstützt von einer Kerze, die sie, als der Schneesturm einsetzte, anzündeten und brennen ließen bis zum Augenblick, da der Vermißte wieder gesund und munter vor ihnen stand. »Wir wußten es«, sagte Josef Anthofer, nickte und blies die Kerze aus. »Habt ihr die Bergwacht alarmiert?« fragte Padenberg nervös. »Nein«, beruhigte ihn der Bauer, für den Gebete und die Flamme einer geweihten Kerze stärker gewesen wären als ein ganzes Regiment von Bergwachtleuten. Und wäre Padenberg vom Schnee begraben worden, hätten Josef und Maria Anthofer auf jeden Vorwurf geantwortet: »Wie oft bemüht sich die Bergwacht vergebens! Da sagt niemand etwas. Das liegt alles in Gottes Ratschluß.« Im übrigen verfügte der hoch droben liegende Anthofersche Bergbauernhof noch gar nicht über einen Telefonanschluß. »Können wir wieder, Carola?« fragte Detlev, talwärts blickend. 57
»Oder möchtest du noch etwas verschnaufen?« »Nur zu!« sagte sie, die Stöcke in den Schnee stoßend. Bei der nächsten Rast fragte sie ihn: »Möchtest du nicht eine Pfeife rauchen?« Der Vorschlag begeisterte ihn aus zwei Gründen. »Erstens«, teilte Detlev ihr mit, »weil ich eben nikotinsüchtig bin und heute meinem Laster noch gar nicht gefrönt habe. Und zweitens, weil das bekanntlich ein Mittel gegen den Hunger ist. Mir kracht nämlich der Magen, meine Liebe.« »Mir auch«, stimmte Carola zu. Die beiden hatten schließlich über 24 Stunden keinen Bissen mehr gegessen. Außerdem trug ihr nächtlicher Zeitvertreib auch noch dazu bei, ihren Kalorienverbrauch zu erhöhen. »Ich habe einen Kohldampf«, erklärte Detlev, »daß ich das gar nicht beschreiben kann.« Rasch stiegen aus seinem Pfeifenkolben die blauen Wölkchen hoch. »Willst du auch einmal ziehen?« fragte er Carola. Sie dankte lachend. »Aber küssen kannst du mich endlich wieder einmal«, meinte sie. »Das stillt auch einen gewissen Hunger bei mir.« »Später«, erklärte er. »Warum?« »Weil ich mir heute die Zähne noch nicht geputzt habe.« »Das ist mir doch egal. Ich ja auch noch nicht.« »Dann komm her«, sagte er, die Pfeife für eine längere Zeit aus seinem Mund verbannend. Bis das Hotel vor ihnen auftauchte, wiederholten sie diese Zeremonie zwei- oder dreimal. Dann hieß es aber Schluß machen. Als sie den Parkplatz überquerten, um die Treppe zum großen Eingang zu erreichen, bemerkte Carola, daß Kostens roter Sportwagen fehlte. Sie dachte sich aber nichts dabei. Jens konnte ja mal rasch nach 58
Garmisch hinuntergefahren sein. »Ein solcher Schlitten braucht Bewegung, am besten täglich – wie ein Pferd«, pflegte Jens oft grinsend zu sagen. Oben am Eingang standen bereits etliche Gäste, welche die beiden schon von weitem hatten kommen sehen. Besonders Padenberg spürte, welche Neugierde, die ihm zuwider war, ihnen entgegenschlug. Carola schnallte an der Treppe die Schier ab. Detlev zögerte. »Wollen wir uns nicht lieber gleich hier voneinander verabschieden?« fragte er Carola mit unterdrückter Stimme. »Wieso?« antwortete sie überrascht. »Ich möchte mit denen kein Wort sprechen, ich hasse das.« »Mußt du doch nicht. Wir gehen an ihnen vorbei.« »Sie werden uns folgen.« »Nicht bis auf mein Zimmer.« »Auf dein Zimmer? Du denkst doch nicht, daß ich mit auf dein Zimmer komme?« »Selbstverständlich. Warum nicht?« »Nein, was hast du für Vorstellungen?« »Ich habe sogar die Vorstellung, daß du ein Bad bei mir nimmst. Anschließend wird gefrühstückt.« »Ein Bad bei dir? Ausgeschlossen! Du bist verrückt!« Leise schüttelte Carola den Kopf, um nicht aufzufallen. »Detlev«, sagte sie, »komm, laß dich fragen, was für Vorstellungen du hast. Aus dem vorigen Jahrhundert, wie? Stoß mir doch nicht immer die Nase auf den Altersunterschied zwischen uns beiden.« »Und die Leute?« fragte er noch einmal schwach. »Die sind mir doch völlig egal, Detlev. Ich hoffe, dir auch. Komm.« Auf Carolas Zimmer blieben sie aber nicht lange ungestört. Es klopfte an die Tür. »Herein!« 59
Alois Trenker erschien. Er hatte schon gebadet und sich umgezogen. Zum Schlafen war er allerdings noch nicht gekommen. Bei sich trug er die Schiklamotten, die er sich ausgeliehen hatte. Er grüßte und setzte hinzu: »Mein Name ist Trenker.« »Das wissen wir bereits«, antwortete Carola mit freundlicher Miene, obwohl ihr die Störung durchaus nicht behagte. Sie mußte aber nicht mehr darauf hingewiesen werden, wie Trenkers Leistung für sie einzuschätzen war. »Es hätte ja sein können«, meinte der Südtiroler, »daß Sie den Namen nicht richtig verstanden haben oder daß er Ihnen inzwischen entfalten ist.« »Nein, nein.« Sie wies auf Detlev, der am Fensterbrett lehnte. »Herrn Padenberg kennen Sie ja schon. Und ich bin Carola Burghardt.« »Ich weiß«, erwiderte Trenker nickend. »Was führt Sie zu mir – zu uns?« korrigierte sie sich, und das war etwas sehr Bezeichnendes. Alois Trenker empfand seine Mission als sehr unangenehm, deshalb dauerte es eine Weile, bis er zum Kern der Sache kam. Er blickte sich im Zimmer nach einem Platz um, wo er die Klamotten, die er bei sich hatte, ablegen konnte. Dabei sagte er: »Ich bringe Ihnen die Sachen von Herrn Kosten.« »Mir?« fragte Carola erstaunt. »Ja. Er hat zwar gesagt, ich könnte sie behalten, aber das möchte ich nicht. Ich habe zu Hause eine komplette Ausrüstung, wissen Sie. In ein paar Tagen reut ihn das vielleicht, wozu er sich im ersten Moment hinreißen ließ.« »In welchem ersten Moment?« »Als ich ins Hotel zurückkam und er mit mir sprach.« In Carolas Gesicht leuchtete es verständnisvoll auf. »Ach so, jetzt verstehe ich. Er war sicher begeistert von Ihrer Tat und wollte sich auf diese Weise spontan erkenntlich zeigen. Eine 60
nette Geste von ihm. Daß es bei Ihnen am entsprechenden Bedarf fehlen könnte, hat er sicher nicht bedacht. Hat Sie das Angebot etwa verletzt?« »Fräulein Burghardt, Sie sehen das falsch.« »Falsch kann nur sein, daß Sie mit den Sachen zu mir kommen. Geben Sie sie doch ihm selbst zurück.« Carola bemühte sich immer noch um Freundlichkeit, obwohl ihr das langsam schwerfiel. »Ich kann sie ihm nicht zurückgeben, Fräulein Burghardt.« »Legen Sie sie ihm vor die Tür, wenn er die Annahme verweigert.« »Vor welche Tür?« Endlich war der Südtiroler zur Sache vorgedrungen. »Vor seine Zimmertür, Herr Trenker.« »Hier im Hotel?« »Natürlich, wo denn sonst?« »Das geht nicht mehr.« Die stille Gestalt am Fenster regte sich. Padenberg mischte sich ins Gespräch ein, indem erfragte: »Wollen Sie sagen, daß ein solches Zimmer nicht mehr existiert?« »Ganz recht«, antwortete Trenker. »Dann muß es der Herr aufgegeben haben?« »Ganz recht.« »Weil er abgereist ist?« »Ganz recht.« »Abgereist? Ist der verrückt?« rief Carola. »Ganz recht«, bekundete Trenker zum viertenmal hintereinander. »Aber warum?« rief Carola noch lauter. »Können Sie sich das nicht denken?« »Nein.« »Er hat mich gebeten, Ihnen den Grund seiner Abreise zu sagen, aber ist das wirklich noch notwendig?« »Sicher.« 61
»Nein«, mischte sich Padenberg wieder ein, »das ist nicht mehr notwendig, Herr Trenker. Legen Sie die Sachen auf die Couch. Wir danken Ihnen für alles, was Sie getan haben. Entschuldigen Sie, daß das nicht schon in der Hütte geschehen ist. Ich danke Ihnen, aber noch mehr Fräulein Burghardt – nicht wahr, Carola?« wandte er sich an diese. »Ja, aber …« »Darf ich mich nun verabschieden?« unterbrach Trenker sie, sich rasch der Klamotten entledigend. Schon war er an der Tür, verneigte sich leicht, schlüpfte hinaus und sagte sich draußen: Gott sei Dank, das wäre erledigt. Meinetwegen sollen die den ganzen Mist in den Eibsee schmeißen. Ich gehe jetzt schlafen – endlich. Drinnen im Zimmer begann Carola zu schimpfen. »Der kann doch nicht einfach abreisen. Es war verabredet, daß wir die Rückfahrt gemeinsam in seinem Auto machen. Nun habe ich wieder die Last mit dem Gepäck und den Schiern. Ich frage mich, was in diesen Idioten gefahren ist.« »Das fragst du dich wirklich?« antwortete Padenberg. »Wenn du damit andeuten willst, daß ich dem vielleicht Rechte auf mich eingeräumt habe, muß ich dem ganz entschieden widersprechen. Das ist nie geschehen. Gerade deshalb bin ich besonders wütend auf ihn, weil er mich dir gegenüber in eine Situation gebracht hat, die einen solchen Verdacht nährt.« »Aber er wird dir doch zu verstehen gegeben haben, daß du ihm nicht gleichgültig bist?« »Daß ich ihm nicht gleichgültig bin? Nun gut, meinetwegen, das hat er. Entscheidend ist jedoch, wie wenig das für mich bedeutet hat. Keiner weiß das besser als du.« »Ich? Ich hatte doch nie Gelegenheit, euch beide zusammen zu beobachten.« »Nein, aber du weißt ganz genau, daß ich bis gestern noch Jung62
frau war.« Das überwältigte ihn natürlich und hatte ein Resultat, das keineswegs überraschen konnte. Ehe sich die beiden versahen, lagen sie wieder miteinander im Bett. Und diesmal knisterte kein altes Stroh, das ziemlich hart war und auch nicht gut roch. Diesmal mußte er auch nicht immer wieder aufstehen, um im Ofen Holz nachzulegen. Diesmal stand ihnen ein Bad zur anschließenden Benutzung zur Verfügung. Diesmal war alles besser. Und doch, an die Hütte kam das Ganze nicht ran. Das wissen nur Leute, die beides schon einmal erlebt haben. Erschöpft waren sie hernach, umschlungen hielten sie sich. »Ich liebe dich«, flüsterte ihm Carola ins Ohr. Wahnsinn ist das, dachte er, Wahnsinn, sowohl hier als auch schon in der Schutzhütte. Nackter Wahnsinn. »Ich sehe mich schon oft von Hamburg nach Flensburg fahren«, fuhr sie fort. »Und dich von Flensburg nach Hamburg.« »Ich habe sehr, sehr viel zu tun«, antwortete er. »Ich nicht, ich habe Zeit, dann sehe ich mich halt noch öfter nach Flensburg fahren und dich dafür weniger nach Hamburg. Ist das eine Regelung?« »Du kitzelst mich im Ohr«, erwiderte er. »Aber vorläufig«, sagte sie, »bleibe ich ja noch neun Tage hier, und du wirst mich besuchen kommen.« Nackter Wahnsinn, dachte er. Nackter Wahnsinn. »Umgekehrt würde ich dich ja auch besuchen kommen«, fuhr sie fort, ohne darauf zu achten, daß seine Antworten mehr als sparsam waren. »Aber deine heilige Familie macht uns da ja einen Strich durch die Rechnung. Außerdem kommst du besser mit den Schiern zurecht als ich.« Jäh richtete er sich auf. »Sei nicht noch einmal so verrückt, dich allein in dieses Gelände 63
hier zu wagen.« »Nein«, versprach sie, »ich werde mich in mein Zimmer einschließen und nur noch auf dich warten … auf dich warten … auf dich warten.« »Und jetzt«, sagte er, sich aus dem Bett schwingend, »wenn ich nicht bald etwas zu essen kriege, sterbe ich vor Hunger.« »Ich auch.« Am Abend, als Detlev Padenberg das Hotel schon längst wieder verlassen hatte – gebadet, gesättigt und auch ein bißchen ausgeruht –, suchte Carola den Direktor auf, brachte ihm Kostens Sachen und sagte: »Schicken Sie das dem Herrn, bitte. Sie können das doch veranlassen. Schreiben Sie Ihre Auslagen auf meine Rechnung.« Sie gab ihm auch Kostens Anschrift. »Wird erledigt, gnädiges Fräulein«, erwiderte Senden nickend, während er sich die Adresse notierte. Dann fragte er: »Und Sie? Bleiben Sie noch?« »Natürlich«, entgegnete sie fast böse. »Haben Sie einen besonderen Wunsch? Soll etwas verändert werden? Möchten Sie den Frühstückstisch wechseln?« »Nein, es ist alles in Ordnung, danke.« Senden verneigte sich. »Oder doch«, besann sich Carola, »ich habe einen Wunsch: Sorgen Sie bitte dafür, daß ich an meinem Tisch allein bleibe. Auch mittags und abends. Geht das?« »Selbstverständlich, gnädiges Fräulein.« Dreieinhalb Tage lang hielt Carola das aus – allein an ihrem Tisch, allein auch auf ihrem Zimmer. Das war nämlich ihr Los, denn derjenige, auf den sie wartete und mit dem sie alles nur zu gern geteilt hätte – Tisch, Zimmer, Bett, alles –, ließ sich nicht mehr blicken. »Detlev«, flüsterte sie nachts, wenn sie kein Auge zutat, »wo 64
bleibst du, was ist los mit dir?« Und plötzlich wußte sie es, nach knapp drei Tagen. In den Medien war immer wieder vor Lawinen gewarnt worden. Er kann nur verunglückt sein, sagte sie sich, vielleicht noch am selben Tag, als wir uns hier getrennt haben. Sie stürzte zu Senden ins Büro. »Ich suche den Bergbauernhof der Familie Anthofer.« »Den was?« »Hier in der Nähe muß es doch einen Bergbauern namens Josef Anthofer geben. Seine Frau heißt Maria. Zwei Söhne sind im Priesterseminar, und die Tochter ist die jüngste bayerische Klosterschwester.« Senden mußte sich das Lachen verkneifen, als er erwiderte: »Sie meinen unsere allseits bekannte heilige Familie, gnädiges Fräulein.« »Ja.« »Und diese Familie suchen Sie?« »Ja.« »Wollen Sie sie besuchen?« Carolas Ungeduld wuchs. »Ja.« »Das sind zwei Stunden Weg, bergauf, bergab – schwer zu gehen.« »Kann man sie anrufen?« »Nein, die lehnen alles Moderne ab: Telefon, Fernsehen, sogar Kunstdünger.« »Beschreiben Sie mir bitte den Weg.« Carola mußte einige Widerstände überwinden, ehe ihre Bitte erfüllt wurde. Direktor Senden scheute sich nicht, ihr Vorhaben als eine Angelegenheit zu bezeichnen, die jeglicher Vernunft entbehrte. Carola war aber nicht umzustimmen. Das einzige, was ihr zugute käme, sagte Senden, sei die Tatsache, daß es tagelang nicht mehr geschneit habe und der Weg zum Hof regelmäßig von einem Tre65
cker befahren werde, der von den einsam gelegenen Gehöften die Milch abholte. Die Treckerspuren machten den Weg einigermaßen passierbar. »Täuschen Sie sich aber nicht, gnädiges Fräulein. Das, was Sie sich da in den Kopf gesetzt haben, ist immer noch, entschuldigen Sie den Ausdruck, Irrsinn.« Die ist nicht zu heilen, dachte er dabei. Man sollte meinen, ihr würde das, was sie erlebt hat, für einige Zeit reichen. Ich möchte nur wissen, was sie dort will. Fragen kann ich sie ja nicht, das wäre indiskret. »Gab es in den letzten Tagen hier in der Umgebung einen Unfall?« erkundigte sich Carola unbeirrt. »Unfall? Sicher, sogar mehrere. Die Haxen werden sich manche gebrochen haben.« »Ich meine, einen tödlichen. Ein Lawinenopfer oder so.« »Nein, davon hätte ich gehört. Außerdem hätte es in der Zeitung gestanden.« Dieses Gespräch fand gegen halb neun Uhr früh statt. Gute zwei Stunden später sah Frau Maria Anthofer, als sie zufällig aus dem Küchenfenster blickte, eine Gestalt auf das Gehöft zukommen, deren Bewegungen völlige Verausgabung verrieten. Der ist fertig, dachte sie, merkte aber dann, daß sie sich korrigieren mußte: Die ist fertig. Josef Anthofer traf im Stall die nötigen Vorbereitungen zur Fütterung des Viehs. Was sich draußen zutrug, entging ihm. Die Begrüßung zwischen der Bäuerin und Carola entbehrte jedes Überschwangs. »Guten Tag«, sagte Carola. »Grüß Gott«, antwortete Maria Anthofer mit Betonung. »Sind Sie Frau Anthofer?« »Wer sind denn Sie?« »Darf ich mich setzen?« fragte die schweißgebadete Carola, der 66
die Knie zitterten. Auf den nächsten Stuhl niedersinkend, sagte sie: »Mein Name ist Carola Burghardt.« »Sie sind ziemlich fertig, was?« »Ich habe den Weg hierher unterschätzt«, antwortete Carola mit einem gequälten Lächeln. »Warum waren Sie denn so dumm, diese Schinderei auf sich zu nehmen?« »Das erkläre ich Ihnen gleich. Kann ich erst noch einen Schluck Wasser haben?« »Mögen Sie ein Glas Milch?« »Gern, das wäre herrlich, danke.« Während die Bäuerin die Milch einschenkte und Carola brachte, fragte sie: »Woher kommen Sie denn?« »Aus Hamburg.« »Ich meine, woher Sie jetzt kommen, als Urlauberin. Sie sind doch eine?« »Vom Eibsee. Ich wohne dort im Hotel.« »Und dieses Stückchen Weg hat Ihnen so zugesetzt?« Carola trank wortlos ihre Milch aus, setzte das Glas ab und blickte die Bäuerin an. »Ich suche Herrn Padenberg.« Das Gesicht der Bäuerin wurde mißtrauisch. »Was wollen Sie denn von dem?« Carola war nach allem, was sie von den Anthofers gehört hatte, klug genug gewesen, sich innerlich auf solche Fragen vorzubereiten. »Ich möchte mich bei ihm bedanken.« »Für was?« »Er hat mir das Leben gerettet.« »Wann und wo?« »In dem Schneesturm vor einigen Tagen.« »Davon hat er uns gar nichts erzählt.« 67
»Sehen Sie, das ist typisch für ihn. Mir hat er nicht einmal Gelegenheit gegeben, mich zu bedanken.« »Mögen Sie noch ein Glas Milch?« »Sehr gern.« »So ist er, ja. Etwas in seinen Augen Selbstverständliches vergißt er. Wir schätzen ihn sehr.« Das Einschenken der Milch wiederholte sich. Carolas Durst war aber nun schon so weit gelöscht, daß sie nur noch das halbe Glas austrank. »Kann ich ihn sprechen, Frau Anthofer?« »Nein.« »Warum nicht?« fragte Carola enttäuscht. Sie dachte, er sei wieder mit den Schiern unterwegs. »Weil er nicht da ist.« »Wann kommt er zurück?« »Hierher?« »Ja.« »Im nächsten Jahr.« Carola brauchte ein Weilchen, bis sie das kapierte. »Was sagen Sie?« »Im nächsten Jahr kommt er wieder zu uns.« Carolas Herz krampfte sich zusammen. »Ist er … denn … abgereist?« »Ja. Vorgestern. Ganz planmäßig. Sein Urlaub war zu Ende.« Carolas Verstand setzte aus. »Aber das … das hätte er mir doch sagen müssen.« »Sehen Sie«, erklärte die Bäuerin, deren Trostworte völlig fehlgeleitet waren, »das ist wieder typisch für ihn, wie Sie selbst schon sagten. Dadurch ging er Ihrem Dank aus dem Weg. Das paßt genau zu ihm.« »Ja«, meinte Carola tonlos. »Was haben Sie denn? Sie sind ja plötzlich so blaß.« 68
»Ich weiß nicht. Vielleicht ist es die Hitze hier drinnen. Der Herd glüht ja.« »Das brauche ich. Die Kocherei muß bei uns schnell gehen. Auf dem Hof wartet noch andere Arbeit auf mich.« Carola erhob sich und fragte, was sie für die Milch schuldig sei. »Nichts, die schenke ich Ihnen für Gottes Lohn«, antwortete Maria Anthofer. »Aber möchten Sie denn schon wieder gehen? Ich rate Ihnen, sich noch ein bißchen auszuruhen.« »Nein, danke, Frau Anthofer. Die frische Luft wird mir guttun. Sie waren sehr freundlich zu mir. Ich danke Ihnen. Auf Wiedersehen.« Den Rückweg zum Hotel legte Carola wie in Trance zurück, ohne sich darüber klar zu werden, daß ihr eigentlich ständig der körperliche Zusammenbruch drohte. Es wäre ihr wohl auch gleichgültig gewesen, wenn die letzten Kräfte sie verlassen hätten und sie in den Schnee gesunken und erfroren wäre. Im Hotel war Direktor Senden, als er ihrer ansichtig wurde, entsetzt über ihr Aussehen. Sie ließ ihn aber nicht zu Wort kommen, sondern bat ihn, ihr die nächste Verbindung mit der Bahn nach Hamburg herauszusuchen. »Für Sie?« wunderte sich Senden. »Ja.« »Aber …« »Ich muß meinen Aufenthalt hier abbrechen«, fiel sie ihm ins Wort. »Es hat sich etwas ereignet, mit dem ich heute morgen noch nicht rechnen konnte.« Vierzehn Stunden später stieg sie in Hamburg aus dem D-Zug und fuhr mit dem Taxi nach Hause. Der Taxichauffeur war, als er Carolas Schier sah, von dieser Fuhre nicht besonders angetan. An der Alster ist man nicht so gut wie an der Isar darauf gerichtet, mit dem Transport solcher Utensilien per Auto fertig zu werden. Über Carolas vorzeitige Rückkehr aus dem Urlaub wunderten sich ihre Eltern natürlich, und sie fragten nach dem Grund. Ob es 69
ihr denn nicht gefallen habe? »Doch.« »Aber?« »Ich habe mir den Fuß verstaucht, und dann wäre es sinnlos gewesen, nur im Hotel herumzusitzen und teures Geld dafür auszugeben.« »Du hinkst aber gar nicht?« »Darüber bin ich selbst erstaunt. Während der Bahnfahrt ließen die Schmerzen plötzlich nach. Die hatten im Hotel anscheinend eine Wundersalbe.« »Fährst du im nächsten Winter wieder hin?« »Nicht mehr an den Eibsee.« »Wohin denn?« »Weiß ich noch nicht.« In den kommenden Wochen verließ Carola ihr Zimmer praktisch nur noch, wenn sie zur Schule ging. Ihre Eltern wunderten sich darüber deshalb nicht besonders, weil sie wußten, daß das Abitur näher kam.
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A
n einem Sonntag im Frühling saß Frau Dr. Gertrud Petersen in ihrem Studierzimmer, um sich auf den Unterricht der kommenden Woche vorzubereiten. Frau Dr. Petersen war Studienprofessorin an einem Mädchengymnasium und Klassenleiterin der Oberprima, in die zusammen mit 22 anderen Mädchen auch Carola Burghardt ging. Sie waren alle strahlend jung, hübsch, intelligent, aber die erste in jeder Beziehung war Carola. Wenn man nach dem 70
Aushängeschild der Klasse fragte, gab es nur eine Antwort: die Burghardt. Frau Dr. Petersen hätte nie gedacht, daß ihr an diesem Tag ausgerechnet Carola Burghard einen ungeahnten, unglaublichen, nicht zu fassenden Kummer machen würde. Es kam nicht oft vor, daß die Lehrerin von einer ihrer Schülerinnen privat aufgesucht wurde, und gerade Carola hatte das bisher noch nie getan. Frau Dr. Petersen war deshalb ziemlich überrascht, als es läutete und sie die Reederstochter vor ihrer Tür stehen sah. »Carola?« »Darf ich reinkommen?« »Natürlich.« Im Studierzimmer, wohin die Lehrerin das Mädchen führte, sagte sie, nachdem sie Platz genommen hatten: »Sie sehen nicht gut aus, Carola, seit einiger Zeit schon nicht mehr. Was ist los mit Ihnen? Lernen Sie zuviel?« »Nein.« Frau Dr. Petersen glaubte, einen kleinen Scherz anbringen zu können, mit dem sie jedoch eine Katastrophe auslöste. »Haben Sie Liebeskummer?« Und schon saß nur noch ein Häufchen Elend vor ihr. Carola schossen die Tränen in die Augen, und sie weinte bitterlich. »Carola«, stammelte die Lehrerin hilflos, »verzeihen Sie … ich wußte ja nicht … ist es denn so schlimm?« Carola weinte. Der nächste Gedanke der Lehrerin war typisch. »Ist er verheiratet?« »Nein.« »Woran hapert's?« Carola schüttelte den Kopf. Darüber wollte sie nicht sprechen. Minutenlang weinte sie. Frau Dr. Petersen saß stumm dabei und fand, daß Carolas Tränenstrom genau das Richtige sei. Ein junges 71
Mädchen müsse sich in einer solchen Situation ausweinen können. Helfen kann ich dir allerdings auch nicht, dachte die Lehrerin. Wenn du deshalb zu mir gekommen bist, muß ich dich leider enttäuschen. Frau Dr. Petersen ahnte den wahren Grund dieses Besuches nicht im entferntesten. Endlich begann Carola sich etwas zu beruhigen. Sie hörte auf zu weinen, putzte sich die Nase, steckte das Taschentuch ein und blickte ihre Lehrerin, mit der sie sich immer glänzend verstanden hatte, traurig an. Dann ließ sie die Bombe platzen. »Ich verlasse die Schule, Frau Doktor.« Noch dachte die Studienprofessorin, daß Carola an ein anderes Gymnasium wechseln wolle. »So kurz vor dem Abitur?« meinte sie erstaunt. »Wohin gehen Sie denn?« »Nirgendwohin. Ich will nicht mehr zur Schule. Ich steige aus.« »Waas? Sie?« Carola nickte. »Ich bin gekommen, um mich von Ihnen zu verabschieden. Das war mir ein Herzensbedürfnis. Ich wollte nicht einfach verschwinden.« Frau Dr. Petersen war aufgesprungen und stand erregt vor dem Mädchen. »Aber das ist doch nicht Ihr Ernst, Carola? Die Schule verlassen? Alles hinschmeißen? Und das alles wegen eines Mannes? Meinetwegen jede andere in der Klasse, doch nicht Sie.« »Mein Entschluß steht fest, Frau Doktor.« »Blödsinn, Carola, Sie sind noch so jung, Sie werden noch viele Männer kennenlernen, glauben Sie mir, viel, viel nettere. Ich will Ihnen etwas verraten: Auch ich befand mich einmal in einer ähnlichen Lage, ihr jungen Leute glaubt das nur nicht von uns älteren, aber damals dachte ich auch, die Welt ginge unter, und was war ein 72
halbes Jahr später? Der betreffende …« »Mein Entschluß steht fest«, wiederholte Carola, den aufgeregten Wortschwall der Studienprofessorin unterbrechend. »Was sagen Ihre Eltern dazu?« »Sie sind damit einverstanden«, log Carola. Ihre Eltern hatten noch keine Ahnung von der ganzen Sache. Morgen gehe ich zu ihnen, dachte Frau Dr. Petersen, und rede mit ihnen. Das wäre ja Wahnsinn. Heute geht's nicht mehr, in einer Stunde holt mich Albert ab. Albert, geschlagen mit einer frigiden Frau, war ihr Freund. Er arbeitete als Ingenieur im Schiffsbau. Auch Frau Dr. Petersen war verheiratet, mit einem impotenten Mann. Was den Schiffsbauingenieur und die Studienprofessorin zusammenführte, lag also auf der Hand. Sie trafen sich jeden zweiten Sonntag. Carola spürte, daß ihr schon wieder die Tränen kommen wollten. Sie machte es deshalb kurz, bedankte sich mit wenigen, aber herzlichen Worten für alles bei ihrer Lieblingslehrerin und verließ fluchtartig ihre Wohnung. Morgen spreche ich mit den Eltern, dachte Frau Dr. Petersen noch einmal, dem Mädchen nachblickend. Heute geht's nicht mehr. Albert holt mich ab. Ich freue mich, aber eigentlich könnte er sich auch einmal an den Kosten für unser Zimmer beteiligen. Als Frau Gertrud Petersen, Doktorin der Altphilologie und trotzdem eine Schiffsbauingenieurgeliebte par excellence, am Montag nachmittag im Haus Burghardt erschien, war es bereits zu spät. Carola hatte schon beim vormittäglichen Unterricht gefehlt. Die Studienprofessorin sprach mit Carolas Mutter, die ebenfalls Getrud hieß. Paul Burghardt, der Reeder, ging in seiner Firma Geschäften nach, die – wie immer – wichtig waren. Frau Dr. Petersen setzte an den Beginn ihres Gespräches mit Frau 73
Burghardt die Mitteilung, daß sie Carola heute im Unterricht vermißt habe. Davon zeigte sich die Reedersgattin leicht überrascht. Verwirrt fragte sie: »Wieso? Ich wüßte nicht, daß meine Tochter krank ist – oder doch?« »Was sagte sie denn?« »Zu mir? Nichts. Ich habe mit ihr heute noch gar nicht gesprochen.« »Ist sie da?« »Ich weiß es nicht. Moment…« Frau Burghardt bediente sich einer Glocke und läutete nach einem dienstbaren Geist. Adele, das Hausmädchen, erschien und wurde angewiesen nachzusehen, ob Carola in ihrem Zimmer sei. Wenn ja, möge sie kommen. Ihre Mutter wünsche sie zu sprechen. Adeles Mission war erfolglos. Das Hausmädchen kehrte unverrichteter Dinge zurück. Es teilte mit, das Zimmer leer vorgefunden zu haben, fügte aber etwas irritiert hinzu, daß auf dem Tisch ein Brief läge. »Was? Ein Brief?« fragte Frau Burghardt, nun ebenfalls irritiert. »Ja, gnädige Frau.« »Verschlossen?« »Ja, gnädige Frau.« »Steht etwas drauf?« »Ja, gnädige Frau. ›An meine Eltern‹.« Der Ausdruck im Gesicht der Reedersgattin steigerte sich zu völliger Hilflosigkeit. Sie blickte die Studienprofessorin an, die etwas sagen zu wollen schien, aber auch noch nicht die richtigen Worte fand. »Was soll denn das bedeuten?« fragte Frau Burghardt schließlich. Eine Antwort darauf konnte nur der Brief enthalten. Adele wurde angewiesen, ihn schnellstens herbeizuschaffen. Und dann las Frau Gertrud Burghardt den Abschiedsbrief ihrer 74
Tochter. »Meine lieben Eltern! Ich mußte gehen, mein Inneres zwang mich dazu. Stellt keine Fragen nach dem Warum, forscht nicht nach, wohin ich gegangen bin. Wenn sich meine Sehnsucht erfüllt, werdet Ihr ohnehin wieder von mir hören. Wenn nicht, bitte ich Euch, mir ein gutes Andenken zu bewahren. Anvertrauen konnte ich mich Euch vor meinem Schritt nicht, Dir, lieber Vater, nicht, weil ich wußte, daß Du kein Verständnis für mich aufgebracht hättest, und Dir, liebe Mutter, nicht, weil mich Deine Tränen in meinem Entschluß wieder wankend gemacht hätten. Verzeiht mir, ich suche mein Glück, von dem ich nicht glauben kann, daß es mich für immer verlassen hat. Eure Tochter Carola.« Frau Burghardt ließ die Hände mit dem Brief sinken. Sie war totenblaß geworden, fühlte sich vernichtet, wußte überhaupt nicht, was sie tun sollte, konnte kaum mehr einen Gedanken fassen. Ihr Instinkt reichte nur noch so weit, daß sie mit einem stummen Wink das Hausmädchen aus dem Zimmer schickte. Familiäre Katastrophen gingen das Personal nichts an. Auch andere Leute nicht. Doch Frau Dr. Petersen fragte: »Frau Burghardt, darf ich erfahren, was Ihre Tochter geschrieben hat?« Die Reedersgattin raffte sich auf. »Warum wollen Sie das wissen?« antwortete sie abweisend. »Ihre Tochter war gestern bei mir …« »Bei Ihnen?« stieß die schwer geprüfte Mutter hervor. »Sie hat mir mitgeteilt, daß sie die Schule verläßt.« »Die Schule …« Frau Burghard erstarb die Stimme. »Und zwar mit Ihrem Einverständnis.« »Mit unserem …« Neuerliches Verstummen. »Stimmt das etwa nicht?« 75
»Die Schule verläßt? Mit unserem Einverständnis?« wiederholte die Mutter, noch immer völlig konsterniert. »Es stimmt also nicht«, stellte Frau Dr. Petersen fest und streckte energisch die Hand aus. »Lassen Sie mich den Brief lesen, Frau Burghardt, ich glaube, das ist besser so.« Gebrochen fügte sich Gertrud Burghardt. Nachdem die Studienprofessorin Carolas Zeilen gelesen hatte, sagte sie: »Das paßt zusammen, dieser Brief und der gestrige Zusammenbruch Ihrer Tochter bei mir.« »Zusammenbruch?« »Was wissen Sie eigentlich von Ihrer Tochter, Frau Burghardt?« »Ich denke … alles.« »Alles? Dann muß Ihnen ja der Mann bekannt sein, der die Ursache für den entsetzlichen Liebeskummer Ihrer Tochter ist.« »Liebeskummer?« »Sehen Sie, auch das wissen Sie nicht. Ist Ihnen denn an Carola in den letzten Monaten keine Veränderung aufgefallen?« »Nur, daß sie kaum noch ihr Zimmer verließ. Wir dachten aber – mein Mann war derselben Ansicht wie ich –, daran seien die Vorbereitungen auf das Abitur schuld.« »Wann begann das?« »Was?« »Carolas Zurückgezogenheit.« »Wann?« Frau Burghardt strich sich über die Stirn. »Warten Sie mal … ja … ich glaube … nach ihrem Schiurlaub an Weihnachten.« »Aber mit Ihnen hat Ihre Tochter nicht über ihre Probleme gesprochen? – Nein, das geht ja auch aus ihrem Brief hervor.« Frau Burghardt senkte beschämt den Kopf. Sie war immer noch erschreckend blaß. Es blieb eine Weile still zwischen den beiden Damen, bis die Reedersgattin verzweifelt fragte: »Was soll ich jetzt bloß machen?« »Wo ist Ihr Mann, Frau Burghardt?« 76
»In der Firma. Wieso?« »Das nächstliegende wäre, den erst mal zu verständigen.« Das geschah telefonisch, und nachdem er gebeten hatte, daß Frau Dr. Petersen auf ihn warten möge, war er 35 Minuten später zu Hause. Sein Chauffeur hatte Anlaß zu einigen Strafanzeigen wegen Geschwindigkeitsüberschreitung geben müssen, mit deren Zustellung in nächster Zeit zu rechnen war. Paul Burghardt stürzte ins Zimmer, in dem ihn seine Frau und Carolas Klassenlehrerin, inzwischen bei Tee und etwas Gebäck angelangt, erwarteten. Seine ersten Worte lauteten: »Was ist da los? Das kann ja alles wohl nur ein Witz sein!« Seine Frau reichte ihm den Brief. Er las ihn, warf ihn auf den Tisch und quittierte ihn mit der Frage: »Ist die verrückt?« Die beiden Damen unterrichteten ihn nun abwechselnd über Einzelheiten. Als kühl rechnender Geschäftsmann, der er war, entdeckte er beim Zuhören sofort eine schwache Stelle bei der Studienprofessorin. »Carola war also gestern bei Ihnen?« »Ja, am Spätnachmittag.« »Am Abend war sie noch hier zu Hause. Ich habe selbst mit ihr gesprochen. Wenn Sie, Frau Doktor, uns sofort verständigt hätten, wäre ihr Verschwinden zu verhindern gewesen.« Frau Dr. Petersen ließ sich aber nicht ins Bockshorn jagen. »Erstens«, sagte sie, »hatte ich gestern keine Zeit mehr. Ich hatte eine unaufschiebbare Verabredung …« Eine absolut unaufschiebbare, fügte sie in Gedanken hinzu. »Es gibt schließlich auch das Telefon, Frau Doktor Petersen.« »Zweitens hatte Ihre Tochter vom Einverständnis zwischen ihr und ihren Eltern gesprochen. Ich durfte also annehmen, daß Sie über alles im Bilde wären.« »Aber warum sind Sie dann heute trotzdem hierhergekommen?« »Weil ich Ihnen Ihr angebliches Einverständnis mit dem Schulab77
gang Ihrer Tochter ausreden wollte.« Damit mußte sich der Reeder zufriedengeben. »Hinter der ganzen Sache steckt natürlich ein verdammter Kerl«, richtete er nun das Wort an seine Frau. »Das geht aus allem hervor.« »Aber wer?« fragte sie ratlos. »Wir müssen herumfragen.« »Bei wem?« »Herr Burghardt«, mischte sich Frau Dr. Petersen in das Gespräch der Eheleute ein, »ich habe Ihre Frau schon gefragt, seit wann Sie im Verhalten Ihrer Tochter Veränderungen bemerkt haben. Seit deren Schiurlaub in Bayern. Dort würde ich an Ihrer Stelle einhaken.« Paul Burghardt blickte zwischen seiner Frau und der Studienprofessorin hin und her. »Jens!« stieß er plötzlich hervor und ging zum Telefon. Er blieb jedoch noch einmal stehen und sagte zu seiner Frau. »Aber das kann ich nicht glauben. Oder hältst du es für möglich, daß Carola wegen diesem …«, er wollte ›Würstchen‹ sagen, korrigierte sich aber: »… wegen dem durchgedreht hat?« Gertrud Burghardt hielt neuerdings alles für möglich und entgegnete deshalb weinerlich: »Warum nicht?« Paul Burghardt setzte seinen Weg zum Telefon fort und rief im Hause Kosten an. Der alte Diener Jakob meldete sich. »Ist sonst niemand da?« fragte Burghard barsch. Jakobs gemessene Antwort lautete: »Der gnädige Herr ist im Geschäft, und die gnädige Frau in der Stadt; sie wollte aber bald wieder zurück sein.« »Was ist mit Jens?« »Der junge Herr befindet sich, soviel ich weiß, auf seinem Zimmer.« »Ich möchte ihn sprechen.« »Am Telefon?« 78
»Ja natürlich, wo denn sonst?« Der großmächtige Reeder war das Befehlen gewohnt. Höflichkeit gehörte nicht zu seinen hervorstechenden Eigenschaften; in seiner momentanen Verfassung ließ er sie ganz und gar vermissen. »Ich verbinde«, sagte Jakob ruhig. »Jens«, legte Burghardt los, »wo ist Carola, verdammt noch mal?« »Was?« »Bist du derjenige, der sie verrückt gemacht hat?« »Wie bitte?« »Ihr wart doch zusammen beim Schifahren? Seitdem stimmt's bei ihr nicht mehr.« »Herr Burghardt … entschuldigen Sie … ich verstehe nicht, was Sie wollen … was ist überhaupt los?« »Carola ist verschwunden.« »Nein!« rief Jens erschrocken. »Doch, doch«, erklärte Burghardt, »und ich hoffe, du verbirgst mir nichts; ich hoffe, du hast damit nichts zu tun.« »Herr Burghardt, ich schwöre Ihnen …« »Wo könnte sie sein? Hast du eine Ahnung?« »Nein.« »Hör zu, wir haben hier zwei Dinge festgestellt. Erstens: Ausgelöst wurde diese Verrücktheit bei ihr durch Liebeskummer. Lächerlich, sage ich zu so etwas. Und zweitens: Angefangen hat das wohl in eurem gemeinsamen Urlaub in diesem gottverdammten Bayern. Deshalb kamen wir auf dich, doch du sagst mir ja …« »Herr Burghardt, ich wiederhole meinen Schwur«, fiel Jens ihm ins Wort, »aber …« »Was aber?« »Aber …« »Raus mit der Sprache, Jens!« »Da war einer …« »Was für einer?« 79
»Ein Architekt aus Flensburg …« »Aus Flensburg? Also kein Bayer?« »Nein.« »Und? Weiter! Was war mit dem?« »Der hat ihr das Leben gerettet.« »Was hat der? Moment …« Paul Burghardt ließ den Hörer sinken und fuhr seine Frau an: »Warum verschweigt ihr mir alles? Warum wird mir in meinem Haus nichts gesagt? Warum muß ich am Telefon erfahren, daß einer meiner Tochter das Leben gerettet hat?« Frau Burghardt griff sich noch im nachhinein entsetzt ans Herz. »Hast du das gewußt?« schrie ihr Mann. Sie schüttelte den Kopf und fing zu weinen an. »Das dachte ich mir«, erklärte er wegwerfend. »Was weißt du denn überhaupt von deiner Tochter?« Dann preßte er den Hörer ans Ohr. »Jens, schön und gut, Lebensrettung hin, Lebensrettung her, das muß doch noch lange nicht zur Folge haben, daß … du verstehst, was ich meine?« »Ja.« »Und?« »Doch.« »Was doch?« »Das hatte das leider zur Folge, Herr Burghardt.« »Woher weißt du das so bestimmt?« »Das wußten dort alle.« »Alle? Großer Gott! Was wußten alle?« »Das.« Ein kleines Wörtchen – und doch wie vielsagend! Paul Burghardt stieß einen harten Fluch aus. Dann nahm er den armen Jens auf die Hörner. »Und du? Was hast du gemacht? Hast du dich eingeschaltet? An80
scheinend nicht. Wozu bist du eigentlich mitgefahren?« »Herr Burghardt«, antwortete Jens zerknirscht, »heute sehe ich ein, daß ich mich falsch verhalten habe.« »Wie hast du dich denn verhalten?« »Ich bin abgereist.« Der Reeder ließ erneut den Hörer sinken, atmete schwer und blickte abermals seine Frau an. Nunmehr nervte er sie mit Ironie. »Soeben erfahre ich, daß der Mann, den wir unserer Tochter zum Schutz mitgegeben hatten, seinen Urlaub vorzeitig abgebrochen hat. Sie kam also gar nicht mit ihm zusammen zurück. Ich danke dir, daß du mir diese Mitteilung, um mich zu schonen, bis heute vorenthalten hast. Herzlichen Dank.« Der Tränenfluß seiner Frau, der kaum versiegt war, setzte wieder ein. »Jens«, setzte der Reeder sein Telefonat fort, »ich kann noch nicht Schluß machen, ich brauche noch eine entscheidende Information von dir. Hoffentlich kannst du sie mir geben, Jens, wir hatten den Eindruck, daß dir Carola etwas bedeutet …« »Alles!« stieß Jens spontan hervor. »Nun, wie ging es mit euch beiden nach dem Urlaub hier in Hamburg weiter?« Jens seufzte. »Oder wolltest du sie nicht mehr sehen?« »Doch, Herr Burghardt.« »Und?« »Ich habe sie angerufen, aber sie lehnte ein Treffen, um das ich sie gebeten hatte, ab.« Hätte ich auch getan, dachte Burghardt und fragte: »Sie ließ sich nicht umstimmen?« »Nein, sie sprach nur von dem anderen. Ich sagte ihr trotzdem, daß ich immer auf sie warten würde.« »Wie lautete ihre Antwort?« 81
»Carola hat mich nicht ermutigt.« Hätte ich auch nicht getan, dachte Burghardt wieder. »Es ist noch nicht aller Tage Abend, Jens«, sagte er, um die entscheidende Information aus ihm herauszuholen. »Man muß diesem Flensburger das Wasser abgraben, meinst du nicht auch?« Darauf gab's für Jens Kosten natürlich nur eine Antwort: »Ja.« »Carola sprach von ihm, sagtest du?« »Ja.« »Dabei hast du erfahren, daß er Architekt ist?« »Ja.« »Wie heißt er?« »Detlev.« »Detlev und?« »Das kann ich leider nicht sagen. Carola nannte nur zweimal seinen Vornamen, nicht aber den Familiennamen. Ist das schlimm? Wozu brauchen Sie überhaupt den vollständigen Namen?« »Um den Kerl ausfindig zu machen und zu erschießen«, explodierte Paul Burghardt. »Herr Burghardt!« rief Jens erschrocken, »das dürfen Sie nicht!« »Du wirst schon sehen, was ich darf. Wir hatten eine Tochter, auf die wir stolz sein konnten. Und jetzt? Sie geht von der Schule, haut ab, brennt durch, hinterläßt uns einen Brief, der von totaler geistiger und seelischer Zerrüttung kündet, bringt sich vielleicht um. Das muß mich, den Vater, doch auf den Plan rufen. Dafür werde ich mir den Schuldigen kaufen. Ein Architekt in Flensburg, dessen Vorname Detlev ist. Ich finde ihn. Es wird keine zehn Architekten in Flensburg mit dem Vornamen Detlev geben. Noch heute abend fahre ich hin, aber vorher komme ich noch bei Euch vorbei. Kündige mich deinem Vater an, ja?« Paul Burghardt schmiß den Hörer auf die Gabel, seine Gattin weinte, Frau Dr. Petersen floh förmlich aus dem Haus. Arme Carola, dachte sie, armes Kind. Die Verhältnisse, in denen 82
ich aufgewachsen bin, waren weiß Gott bescheiden – aber viel, viel besser. In Zukunft werde ich in meinen Unterricht doch noch manches einfließen lassen, worauf ich bisher nicht geachtet habe. Paul Burghardts abendlicher Besuch bei seinem Freund Karl Kosten, dem Teehändler, nahm einen völlig unerwarteten Verlauf. Vor allem fiel er sehr kurz aus. Frau Kosten ließ sich überhaupt nicht blicken. Burghardt wurde relativ unfreundlich empfangen. »Sag mal, was hast du mit meinem Sohn gemacht?« »Mit Jens? Wo ist er?« »Weg. Fluchtartig auf und davon.« »Wißt ihr, wohin?« »Nach Flensburg, rief er unserem alten Jakob zu, nachdem er mit dir telefoniert hatte.« »Und der Grund?« »Er müsse eine Tragödie verhindern. Mehr hat er nicht verlauten lassen. Du weißt, unser alter Jakob verträgt solche Dinge nicht mehr ohne weiteres, er braucht dann ein paar Klare. Er war betrunken, als meine Frau nach Hause kam und er ihr Bericht erstattete. Deshalb muß ich jetzt von dir wissen: Was war da los am Telefon?« »Carola ist auch weg. Ebenfalls fluchtartig auf und davon.« »Was?! Sind denn die alle verrückt geworden?!« »Anscheinend.« »Und was ist bei Carola der Grund? Will sie auch eine Tragödie verhindern?« »Nein, im Gegenteil, sie löst die Tragödie aus.« »Möchtest du mir das bitte näher erklären?« Paul Burghardt tat dies und erzielte damit bei Karl Kosten eine beleidigende Reaktion. Der Teehändler quittierte nämlich Burghardts Bericht mit der Erklärung: »Nachdem Carola deine Tochter ist, hätte ich ihr mehr Verstand zugetraut. Nun sehe ich aber, daß 83
ich dich unzweifelhaft überschätzt habe.« »So?« nahm der Reeder den Fehdehandschuh auf. »Und was ist mit deinem Sohn? Erlaubt mir der nicht, den gleichen Schluß zu ziehen?« »Den hast du verrückt gemacht! Welchen Floh hast du ihm denn ins Ohr gesetzt, sag schon!« »Daß ich den Kerl, der meine Tochter verrückt gemacht hat, erschießen werde.« In dieser Geschichte hatte jeder jeden verrückt gemacht: Detlev Padenberg Carola Burghardt; Carola ihren Vater; dieser den nervenschwachen Jens Kosten; Jens den alten Diener Jakob, der sich nur noch in einen Vollrausch hatte flüchten können; und Karl Kosten hatte auch schon einige Schritte in diese Richtung zurückgelegt. »Hoffentlich triffst du auch gut«, sagte er zu Burghardt, »und schießt dich nicht ins eigene Knie. Auf jeden Fall verlange ich von dir, daß du vorher meinen Sohn, sollte er sich zufällig in der Nähe des Tatorts befinden, weit weg schickst.« »Ins eigene Knie?« spottete Burghardt. »Ich heiße doch nicht Kosten. Soll ich dir sagen, daß ich im Krieg der beste Schütze meines Regiments war?« »Hör auf, das einzige, was du wahrscheinlich mit einem Schützen zu tun hast, ist die Tatsache, daß du, soviel ich weiß, im Dezember geboren bist – im Zeichen des Schützen.« Auf diese Beleidigung des Teehändlers setzte der Reeder eine noch viel größere, indem er sagte: »So mußt ausgerechnet du daherreden! Du müßtest ja froh sein, wenn du mit deinem Sternzeichen überhaupt noch das geringste zu tun hättest …« Karl Kosten war im Zeichen des Stiers geboren. »… oder wollen wir deine Frau rufen«, fuhr Burghardt fort, »damit sie uns diesbezüglich etwas erzählt?« Der Streit der beiden alten Herren hätte die besten Voraussetzungen gehabt, sich bedenklich auszuweiten, wenn es für Paul Burg84
hardt nicht noch wichtiger gewesen wäre, noch am selben Abend nach Flensburg aufzubrechen. Er wüßte ja nicht, teilte er Kosten senior mit, welchen Mist dessen Junior dort anstellen würde.
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rei aus Hamburg – eine Dame und zwei Herren – reisten also nacheinander nach Flensburg, der Stadt im hohen Norden der Bundesrepublik Deutschland. Die erste war Carola Burghardt, sie fuhr mit der Eisenbahn; Jens Kosten, der zweite, mit seinem Sportwagen; Paul Burghardt ließ sich von seinem Chauffeur im schweren Tourenwagen hinbringen. Carola suchte ihren Detlev im Branchenadreßbuch und landete deshalb nicht in der Villa am Stadtrand, die er bewohnte, sondern in seinen Büroräumen im Stadtzentrum, in denen eine Sekretärin ihren Chef vertrat. Der Architekt weilte nämlich außerhalb, und dies schon seit längerer Zeit. Carola traf also ihren Detlev nicht an. War er überhaupt noch der ›ihre‹? Nun, um dies festzustellen, hatte sie die Reise von Hamburg nach Flensburg angetreten. Detlevs Abwesenheit stellte für sie die erste Enttäuschung dar, die gekoppelt war mit einer zweiten: Detlevs Sekretärin verfügte über ein beunruhigend gutes Aussehen; außerdem hatte sie einen verdächtigen Ton am Hals. »Ich möchte zu Herrn Padenberg«, erklärte Carola der Sekretärin, die umgekehrt von Carolas Aussehen ebenfalls ziemlich beunruhigt war, hatte sie doch als ganz normale Sekretärin ganz natürliche Absichten auf die Hand ihres Chefs. »In welcher Angelegenheit? Geschäftlich?« 85
Das empfand Carola schon als eine gewisse Unverschämtheit von Seiten der Sekretärin. »Ja.« »Wollen Sie etwa einen Deich bauen lassen?« »Nein.« »Herr Padenberg ist Spezialist für Deichbauten und Deichausbesserungsarbeiten.« »Als Architekt wird er auch in der Lage sein, ein ganz normales Haus zu bauen.« »Sicher«, steckte die Sekretärin etwas zurück. »Soll er das?« »Ja.« »Für wen?« »Für mich.« »Verfügen Sie über die nötigen Mittel?« Das sei ja der Gipfel der Unverschämtheit von dieser Person, fand Carola, und es fordere ein entsprechendes Kontra heraus. »Ja, so etwas ist für mich selbstverständlich. Ich sehe, daß dies – wohl aufgrund Ihrer eigenen Verhältnisse – Ihre Vorstellungskraft übersteigt. Deshalb nehme ich Ihnen Ihre Fragen auch nicht übel.« Nun wußte die Sekretärin, daß sie ein Duell in Gang gesetzt hatte, dem sie nicht gewachsen war. »Herr Padenberg ist leider nicht da«, sagte sie mit einem Lächeln, das plötzlich liebenswürdig sein sollte. »Wann kommt er zurück?« »Erst in ein paar Wochen. Er ist zur Zeit bei Deichausbesserungsarbeiten.« »Wo?« Die wirre gemachte Sekretärin teilte es Carola ohne weiteres mit. Das Resultat war, daß Carola kurz darauf wieder in einem Eisenbahnabteil saß. Der Zug ratterte durch das brettebene Land Husum entgegen. Auch Jens Kosten holte sich seine Auskunft aus dem Branchen86
adreßbuch, fand nur einen Architekten mit dem Vornamen Detlev, und auch er hatte es deshalb mit Padenbergs Sekretärin zu tun. Dabei lag es in der Natur der Sache, daß sich keine Spannungen entwickelten. Die Sekretärin horchte allerdings auf, als Jens im Verlauf des Gesprächs sagte: »Es könnte sein, daß vor mir schon eine junge Dame, ebenfalls aus Hamburg kommend, bei Ihnen war und zu Herrn Padenberg wollte.« Es sei eine dagewesen, erwiderte die Sekretärin und fügte hinzu: »Aber ob sie aus Hamburg war, das weiß ich nicht, darüber wurde nicht gesprochen.« »Wie sah sie aus? Sehr hübsch?« »Hübsch. Sehr gute Figur.« »Sehr schönes blondes Haar?« »Blondes Haar.« »Hat sie sich nicht vorgestellt?« »Nein, das hat sie nicht«, erklärte die Sekretärin mit Nachdruck, »obwohl man das ja hätte erwarten dürfen.« »Sie wollte auf alle Fälle zu Herrn Padenberg?« »Ja.« »Und wo ist der?« Diese Auskunft gab die Sekretärin sehr gerne dem aufgeregten jungen Mann, der ganz offensichtlich zu erkennen gab, daß ihm daran gelegen war, Herrn Padenberg jenes arrogante Weib vom Leib zu halten. Der Weg nach Husum wäre für Jens Kostens Sportwagen ein in kürzester Zeit zu bewältigender Katzensprung gewesen, wenn nicht ein Vergaserschaden einen Zwischenaufenthalt in einer Reparaturwerkstätte erforderlich gemacht hätte. Jens verlor dadurch Zeit. Paul Burghardt kam nachts nach Flensburg, stieg in einem Hotel ab, ließ sich früh wecken, fuhr mit dem Taxi zum Einwohnermelde87
amt, pickte sich einen Beamtenanwärter heraus, drückte ihm einen Hundertmarkschein in die Hand und sagte: »Ihr habt doch hier auch schon so was ähnliches wie einen Computer?« »Klar.« »Ich suche einen Flensburger Architekten, der mit Vornamen Detlev heißt.« »Mehr wissen Sie von dem nicht?« »Nein.« »Auch nicht sein Alter?« »Nein … oder doch«, unterbrach sich der Reeder, der an seine Tochter dachte. »Wenigstens ungefähr: nicht älter als dreißig.« Der Beamtenanwärter verschwand und kehrte nach drei Minuten achselzuckend zurück. »Tut mir leid, keiner vorhanden.« »Das gibt's nicht!« »Sie können sich auf unseren Computer verlassen.« »Dann gehen Sie mal bis fünfunddreißig.« Wieder dauerte es nur drei Minuten, und Paul Burghardt sah sich mit dem gleichen Ergebnis konfrontiert. Der Computer hatte keinen einzigen Detlev Soundso ausgeworfen. Paul Burghardt knirschte mit den Zähnen, nickte aber, als ihn der Beamtenanwärter fragte: »Soll ich bis vierzig gehen?« Nunmehr wurde sogar ein neuer Rekord aufgestellt. Bereits nach zweieinhalb Minuten lag das Ergebnis vor. Wieder negativ. Nur der Furcht des Beamtenanwärters, den Hundertmarkschein wieder herausrücken zu müssen, war es zu verdanken, daß ein letzter Vorschlag seinerseits erfolgte. »Wie wär's mit fünfzig?« In schonungsloser Selbstverhöhnung erwiderte Burghardt: »Warum nicht gleich mit hundert?« Dies faßte der Beamtenanwärter als Zustimmung auf und verschwand zum viertenmal. Glücklicherweise tat er dies, muß man sa88
gen, denn als er wieder kehrte, kündete schon von weitem sein strahlender Gesichtsausdruck, daß sich das Blatt gewendet hatte. »Wir haben ihn«, sagte er freudestrahlend und überreichte dem Reeder einen schmalen Papierstreifen mit Detlev Padenbergs Namen und Adresse: »Um ein Haar hätte ich ihn beim drittenmal schon kriegen müssen.« »Wieso?« »Weil er knapp über vierzig ist.« »Knapp über vierzig«, wiederholte Paul Burghardt mit steinerner Miene. »Sehr schön. Ein Grund, dankbar zu sein. Ich weiß auch nicht, wie ich auf dreißig kam.« Er blickte auf den Papierstreifen und las laut vor: »Harvestehuder Weg.« »Wo ist der?« fragte Herr Burghardt den Beamtenanwärter. Dieser erklärte es ihm, so gut es ohne Stadtplan ging. An sich wäre das aber gar nicht notwendig gewesen, denn Burghardt war ja mit dem Taxi gekommen, hatte es warten lassen und bestieg es jetzt wieder. Der Chauffeur kannte natürlich den Harvestehuder Weg am Stadtrand. Es war neun Uhr früh, als Paul Burghardt vor der Villa, die Detlev Padenberg gehörte, aus dem Taxi stieg. Eine unmögliche Besuchszeit. Paul Burghardt befand sich aber in einer Stimmung, die ihn auf Fragen der Etikette pfeifen ließ. Er läutete am Gittertor an der Straße. Die Villa lag etwa vierzig Meter entfernt in einem Garten. Grundstück und Gebäude verrieten, daß der Besitzer nicht von der Wohlfahrt lebte. Burghardts heftige Abneigung gegenüber Padenberg erfuhr eine leichte Abmilderung. Doch davon konnte dann sehr rasch wieder nicht mehr die Rede sein. Der elektrische Türöffner summte, der Weg durch den Garten zum Hauseingang lag frei vor Burghardt. Erwartet wurde er von einem Mädchen in weißer Schürze und mit einem Häubchen im 89
Haar. Ein dienstbarer Geist also. Noch einmal ein Pluspunkt für Padenberg – der letzte. »Sie wünschen?« fragte das Mädchen. »Ich möchte zu Herrn Padenberg«, antwortete Burghardt. »Herr Padenberg ist nicht da, ich kann Sie höchstens der gnädigen Frau melden, weiß aber nicht, ob sie Sie um diese Zeit schon empfängt.« Das war ein Hammerschlag für Burghardt. Wem kann die mich melden? wiederholte er im Geiste. Der gnädigen Frau? Im nächsten Augenblick beruhigte er sich wieder etwas. Da konnte doch nur ein Mißverständnis vorliegen. »Fräulein«, sagte er, »ich möchte nicht Herrn Padenberg senior sprechen, sondern den Sohn der alten Herrschaften.« Das Mädchen mußte lachen. »Hier gibt's keinen Sohn.« Paul Burghardt erstarrte. Also doch kein Mißverständnis. »Dann melden Sie mich der gnädigen Frau«, preßte er zwischen den Zähnen hervor. »Hier ist meine Karte.« Das Mädchen führte ihn in einen geschmackvoll eingerichteten Raum und verschwand. Burghardt hätte sich setzen können, tat dies aber nicht, sondern blieb mit äußerst angespannter Miene stehen, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Eine Viertelstunde verging, dann betrat eine große, schlanke, schwarzhaarige Dame den Raum und blickte den frühen Besucher mit leiser Mißbilligung an. Der Reeder sah sich einer exotischen Schönheit gegenüber. Verblüfft und im ersten Moment sprachlos, verbeugte er sich und trat dann näher. Sie hielt seine Visitenkarte in der Hand. »Herr Burghardt«, sagte sie, einen Blick auf die Karte werfend, »ich mußte Sie etwas warten lassen …« Verstummend bat sie ihn mit einer Geste, Platz zu nehmen. »Gnädige Frau«, erwiderte er, »verzeihen Sie meinen Überfall um 90
diese unmögliche Zeit, aber ich sah mich nicht in der Lage, ihn auch nur um eine Stunde aufzuschieben. Vielleicht verstehen Sie mich, wenn Sie mich angehört haben. Darf ich Ihnen drei Fragen stellen?« Langsam nickte sie. »Ist Herr Detlev Padenberg«, begann er, »ihr Mann?« »Sind Sie von der Polizei?« antwortete sie ironisch. »Auf Ihrer Karte steht etwas ganz anderes: Reeder.« »Ist er Ihr Mann?« wiederholte Burghardt stur, auf ihren ›Scherz‹ nicht eingehend. »Ja.« »War er im vergangenen Winter am Eibsee in Urlaub?« »Ja.« »Mit Ihnen oder ohne Sie?« »Ohne mich.« »Das genügt, jetzt habe ich Gewißheit.« Frau Padenberg schwankte zwischen Verwunderung und Unmut. »Was genügt?« antwortete sie. »Welche Gewißheit haben Sie? Was sind das für Fragen?« »Ihr Mann ist nicht da?« »Nein.« »Dann muß ich annehmen, daß er sich mit meiner Tochter herumtreibt.« »Wie … wie bitte?« »Gnädige Frau, ich bin keine Katze, die um den heißen Brei herumschleicht, verzeihen Sie meine Offenheit.« Yvonne Padenberg schien nur einen Moment die Fassung verloren zu haben. Sie war eine Dame und hatte sich wieder völlig in der Hand. »Was berechtigt Sie zu der von Ihnen geäußerten Annahme?« fragte sie kühl. Paul Burghardt rang kurz mit sich selbst, dann erwiderte er: »Dies 91
hier«, wobei er Carolas Abschiedsbrief aus der Tasche zog und ihn Frau Padenberg überreichte. Yvonne Padenbergs größter Wunsch in ihrer Ehe war es immer gewesen, ein eigenes Kind zu haben, egal, ob eine Tochter oder einen Sohn. Er war nicht in Erfüllung gegangen, und es bestand auch keine Aussicht, daß sich dies in Zukunft ändern würde. Sie hatte daher keine Mühe, als sie den Brief las, die Aufregung des Vaters der ›abtrünnigen‹ Tochter zu verstehen. Man gab nicht so leicht das eigene Kind hin, noch dazu unter solchen Umständen, also an einen Mann, der nicht einmal frei war. »Lassen Sie uns beide in Ruhe darüber reden«, sagte sie, den Brief an Burghardt zurückgebend. »Und betrachten Sie mich dabei, das liegt in der Natur der Sache, als Ihre Bundesgenossin.« »Leben Sie denn in Scheidung?« fragte Burghardt. »Nein, und ich habe dies auch in Zukunft nicht vor.« »Wissen Sie, wie alt meine Tochter ist?« »Nein.« »Neunzehn. Und Ihr Mann?« »Er wird einundvierzig.« »Er könnte also ihr Vater sein. Das hätte ihn doch davon abhalten müssen …« »Na, na«, unterbrach ihn Yvonne Padenberg bitter lächelnd, »wie vielen Männern könnte man das heutzutage sagen? Und es sieht so aus, als ob es immer noch mehr würden.« »Ich verstehe einfach die jungen Mädchen nicht.« Du verstehst deine Tochter nicht, willst du sagen, dachte Yvonne Padenberg. Aber würdest du auch eine andere nicht verstehen, wenn sie sich dir an den Hals werfen würde? »Der Brief allein enthält keine präzisen Angaben«, sagte sie, »die auf meinen Mann hindeuten.« »Er war doch am Eibsee?« »Ja.« 92
»Unsere Tochter ebenfalls. Dort hat er ihr das Leben gerettet. Und daraus entwickelte sich alles Weitere.« Yvonne Padenberg hatte kurz lächeln müssen. »Richtig, von dieser Geschichte hat er einmal erzählt. Lebensrettung nannte er das allerdings nicht. So dramatisch drückte er sich nicht aus.« »Näheres weiß ich auch nicht. Aber sei's, wie's will, er kann von mir nicht erwarten, daß ich ihm dankbar bin«, erklärte Paul Burghardt, der sich seines alten Zornes entsann. »Ich will ihm meine Tochter entreißen. Deshalb frage ich Sie: Wo könnte er sein?« »Herr Burghardt«, entgegnete Yvonne Padenberg ruhig, »ich weiß nicht nur, wo er sein könnte, sondern, wo er ist…« Er wollte sie unterbrechen. »… aber das sage ich Ihnen nicht«, ließ sie ihn nicht zu Wort kommen. »Warum nicht?« »Weil Sie in einer Verfassung sind, die mich Befürchtungen hinsichtlich des Wohles meines Mannes hegen läßt. Ich liebe ihn nämlich sehr.« »Immer noch?« »Immer noch, ja. Ich unterschätze das, was sich da möglicherweise am Eibsee zwischen ihm und Ihrer Tochter entwickelt hat, durchaus nicht. Ich will aber auch nicht glauben, daß daran meine Ehe zugrunde gehen könnte oder sollte. Er kam aus dem Urlaub zu mir zurück und war wie immer. Spricht das allein nicht eine deutliche Sprache? Ich hoffe, mich da keinem Trugschluß hinzugeben. Ich bin keine Schifahrerin und habe ihn deshalb im Winter nie begleitet, sondern bin immer zu Hause geblieben. Das war, wie sich jetzt herausstellt, ein Fehler, den ich künftig abstellen werde.« Yvonne Padenberg lächelte noch einmal. »Mit anderen Worten«, fuhr sie fort, »ich habe eingesehen, daß es auch für eine ältere Dame unerläßlich sein kann, Schikurse zu neh93
men.« »Für eine ältere Dame«, protestierte Paul Burghardt, dem so etwas wie Galanterie höchst selten unterlief; Yvonne Padenberg hatte ihm von Minute zu Minute mehr und mehr imponiert. »Daß ich nicht lache! Sie sind doch alles andere als eine ältere Dame, gnädige Frau.« »Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen, Herr Burghardt.« »Ja?« »Sie fahren nach Hamburg zurück – sagen wir: für drei, vier Tage – und überlassen es mir, die schwebende Angelegenheit zu regeln. Sie treten also gewissermaßen auf der Stelle. Sollte ich meine Kräfte überschätzen, sollte also bis spätestens nächste Woche Ihre Tochter nicht nach Hamburg zurückgekehrt sein, können Sie immer noch aktiv werden. Diese Vereinbarung zwischen uns hat natürlich nur Sinn, wenn sich Ihre Tochter tatsächlich bei meinem Mann befindet. Noch hege ich ja die leise Hoffnung, daß dies nicht der Fall ist.« »Einverstanden«, erwiderte kurz entschlossen Paul Burghardt, da er sah, daß ihm Frau Padenberg, eine willensstarke, zielbewußte Dame, heute ja doch nicht verraten würde, wo ihr Mann zu finden wäre. Er verabschiedete sich, nicht ohne zu erkennen zugeben, wie sehr er von einer Dame in diesem Haus, das er nur mit Abscheu betreten hatte, beeindruckt worden war. Draußen bestieg er wieder sein Taxi, ließ sich ins Hotel zurückbringen und trat von dort die Heimreise in seinem eigenen Wagen an.
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I
n einer kleinen, engen, nicht das ganze Jahr über bewohnten Fischerkate direkt an der Küste hinter dem Deich lebte seit einigen Wochen Detlev Padenberg. Von seinem Fenster aus konnte er das Feuer der Eider-Lotsen-Galiote sehen, und wenn er sich einmal des Sonntags die Zeit nahm, zum Endpunkt der Eisenbahn, nach St. Peter, zu wandern, stand er auf der Deichkuppe und blickte hinaus auf die grau verhangene Nordsee. Dann fühlte er das Fernweh in sich und bereute es, Architekt – und nicht Seemann – geworden zu sein. Unter der Woche kamen ihm solche Gedanken nicht. Da stapfte er die Deiche entlang und beaufsichtigte die Ausbesserungskolonnen. Da hockte er in seiner Stube über Plänen und Karten und zeichnete und rechnete, verglich die Tabellen und maß die Entwürfe nach. Am heutigen Abend spannte Padenberg einmal aus. Er hatte seinen Sessel, ein uraltes, knarrendes Stück, nahe an den Ofen herangerückt und las in einem Roman. Er hatte es sich gemütlich gemacht, seine Schuhe mit Pantoffeln vertauscht, den Rock ausgezogen und sich eine Pfeife angesteckt. Draußen war ziemlich starker Wind aufgekommen, der das Meer aufgewühlt hatte und die Fischer besorgt auf die Deiche blicken ließ, besonders auf die Stellen, wo Padenbergs Kolonne seit Wochen flickte und ausbesserte. Nach einer Weile ließ der Deichspezialist das Buch, welches er in Händen hielt, auf den Schoß sinken und blickte hin zu einem Wandschränkchen zwischen Fenster und Tür. Wie lange habe ich mir eigentlich keinen Grog mehr gebraut? fragte er sich. Es war eine Ewigkeit her. (Vier volle Tage!) Heute hätte ich aber wieder einmal Lust auf einen richtigen steifen Seemannsgrog, der die nötige Bett95
schwere verleiht. Ich brauchte ja nur hingehen zum Wandschränkchen und den Rum herausnehmen … Gedacht, getan. Detlev Padenberg erhob sich, sein Sesselveteran knarrte jämmerlich. Er legte das Buch auf den Tisch, zwängte sich am Ofen vorbei und streckte schon die Hand aus, um das Türchen des Wandschränkchens zu öffnen, als es draußen leise an den Holzladen des Fensters klopfte. Padenberg ließ die Hand sinken, sah zum Fenster und lauschte. Stille herrschte. Nur das Tosen des Windes war zu vernehmen. Hatte es nun geklopft oder nicht, fragte sich Padenberg. Ach was, ich werde mich getäuscht haben. Schon hielt er den Knopf des Schranktürchens wieder in der Hand, um dieses zu öffnen, als es wieder – und zwar etwas stärker – pochte. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr, draußen stand jemand und klopfte an seinen Fensterladen. Nicht gerade begeistert, ließ Padenberg vom Wandschränkchen ab, ging zum Fenster und öffnete es einen Spalt. »Ja?« rief er durch den Laden hindurch. Er rechnete damit, die Stimme eines bekümmerten Fischers zu vernehmen, und hatte die Antwort, die für Beruhigung sorgen würde, schon parat: Ja, der Deich hält, Sie können sich darauf verlassen. Ihr könnt euch alle ohne Befürchtung bis morgen früh aufs Ohr legen. Gute Nacht. Er täuschte sich aber, draußen meldete sich kein um den Deich besorgter Fischer. »Kann ich rein?« war jemand zu hören. Detlev Padenberg nahm erstaunt die Pfeife aus dem Mund. Das war nicht die Stimme eines Mannes. »Zu wem wollen Sie?« »Zu dir.« Sein Erstaunen wuchs. Draußen befand sich – daran war nicht zu zweifeln – eine Frau oder ein Mädchen – ein weibliches Wesen je96
denfalls – und begehrte Einlaß. Das Wesen duzte ihn. So gut kannte er aber hier droben, nördlich von Flensburg, weit und breit keine Frau. Sollte er etwa eine Unbekannte so sehr entflammt haben, daß sie beschlossen hatte, ihn das wissen zu lassen? Dann hatte die Betreffende aber einiges auf sich genommen. Der Zeitpunkt war keineswegs günstig. Finsternis herrschte, kein Stern stand am Himmel, der Wind wurde von Stunde zu Stunde stärker, man mußte damit rechnen, daß er sich zu einem Sturm auswuchs. Das Meer rumorte jedenfalls schon beträchtlich. Detlev Padenberg schüttelte den Kopf, schlüpfte in sein Jackett, ging zur Tür, durchquerte stolpernd den engen, unbeleuchteten Flur und öffnete die Haustür. In Umrissen stand eine vermummte Gestalt vor ihm, die keinen Augenblick zögerte, an ihm vorbeizuschlüpfen, um ins schützende Innere seiner Behausung zu gelangen. Bis er die Haustür wieder geschlossen hatte, stand sie schon im hellen Zimmer. Verblüfft über die Selbstverständlichkeit, mit der sie sozusagen ihren kleinen Eroberungszug durchgeführt hatte, folgte er ihr, blieb aber wie angenagelt auf der Schwelle stehen, als er sie erkannte. Sie hatte sich nach ihm umgedreht. Überflutet vom Schein der Lampe, unter der sie stand, nahm sie ihr Kopftuch ab und gab das prachtvollste Blondhaar frei, dem Detlev Padenberg je begegnet war. »Du?« brachte er völlig überrascht nur hervor. »Guten Abend, Detlev.« »Guten Abend, Carola.« »Mich hast du wohl nicht erwartet?« »Nein.« »Hat dieser gottverlassene Fleck Erde hier überhaupt einen Namen?« »Ja, Süderhöft. Wie bist du hergekommen?« »Mit der Bahn nach St. Peter und dann weiter zu Fuß. Es war kei97
ne schöne Wanderung.« »Das glaube ich … Entschuldigung«, unterbrach er sich, »leg doch ab und nimm Platz.« Seine Erstarrung, derer an der Türschwelle anheimgefallen war, löste sich allmählich, und er half ihr aus dem Mantel. Krampfhaft überlegte er, was er sagen sollte. »Kann ich dir etwas anbieten, Carola? Erwarte aber bitte nicht den Service eines Luxushotels.« »Was hättest du denn anzubieten?« »Eigentlich gar nichts«, gestand er verlegen. »Ein paar Konserven …« »Zutrinken, meine ich«, fiel sie ihm ins Wort. »Hunger habe ich keinen.« Appetit habe sie keinen, hätte sie zutreffender sagen sollen. »Alkohol oder Tee?« fragte er sie. »Tee – oder noch lieber, wenn du hast – Kaffee.« »Nescafe?« »Ja, gern.« Während er sich am Ofen zu schaffen machte, um für heißes Wasser zu sorgen, wurde von keinem der beiden viel gesprochen. Sowohl in seinem als auch in ihrem Kopf jagten sich die Gedanken. Sein Inneres war noch aufgewühlter als das ihre, weil ihn ihr Erscheinen völlig unvorbereitet getroffen hatte. Nur Carola trank Kaffee. Detlev machte sich eine Flasche Bier auf, von der er allerdings wußte, daß sie ihm wieder nicht kühl genug sein würde, da es in der Kate keinen Eisschrank gab. »Danke«, sagte Carola, als er ihr alles auf den Tisch gestellt hatte: heißes Wasser, Zucker, Büchsenmilch und natürlich löslichen Kaffee. »Bitte.« »Wer versorgt dich hier?« »Das mache ich selbst.« 98
»Nescafe ist etwas sehr Praktisches.« »Ja.« Wann fängt sie denn endlich richtig an, dachte er. Sie ist doch nicht gekommen, um sich mit mir über Nescafe zu unterhalten. Und ihr gingen ähnliche Gedanken durch den Kopf. Will er nicht bald konkret werden? Er muß sich doch fragen, warum ich gekommen bin. Carola trank eine zweite Tasse Kaffee. »Er schmeckt dir wohl«, bemerkte er. Sie nickte. »Das freut mich, Carola.« In Wirklichkeit war sie von dem Gebräu keineswegs entzückt. Sie war schließlich noch viel zu jung, um sich aus Kaffee allzu viel zu machen, schon gar nicht aus pulverisiertem. Tee mochte sie allerdings noch weniger. »Deiner Sekretärin in Flensburg – oder wer das ist – müßtest du einmal Bescheid stoßen.« Er zeigte sich überrascht. »Der Unhold?« »Ich weiß nicht, wie sie heißt. Sie hat sich mir ja nicht einmal vorgestellt.« »Wie bist du denn zu der gekommen?« »Ich werde dir alles erzählen. Ich habe einen Architekten namens Detlev Padenberg in Flensburg gesucht. Das Branchenverzeichnis führte mich in sein Büro. Privatadresse hatte ich nicht.« Er blickte sie stumm an. »Die Behandlung, die mir von besagter Dame widerfuhr, war empörend.« »Inwiefern?« »Ich hatte ihr erklärt, ich wolle mir von jenem Architekten ein Haus bauen lassen. Daraufhin hat die mir doch nicht zugetraut, die nötigen Mittel zu besitzen.« 99
Nun mußte Detlev allerdings lachen. Dadurch wurde nicht nur sein bis zum Zerreißen gespanntes Inneres, sondern die ganze Atmosphäre im Raum etwas aufgelockert. »Ich werde ihr den Kopf waschen, Carola. Verlaß dich drauf.« »Ihr Benehmen hat gezeigt, daß sie sich Kompetenzen anmaßt, die über die einer Sekretärin weit hinausgehen.« »Die Hunold ist sehr tüchtig, deshalb …« »Ich habe nur gesehen, daß sie recht hübsch ist«, unterbrach ihn Carola. »Vielleicht blendet dich das.« »Carola, soll das eine Andeutung sein?« »Ja«, erwiderte sie freiweg. »Dann befindest du dich im Irrtum. Ich gehöre nicht zu denen, die mit ihren Sekretärinnen zu schlafen pflegen.« Wie aus der Pistole geschossen kam aus ihrem Mund die Antwort: »Aber mit jungen Mädchen schon, wenn sie nicht gerade deine Sekretärinnen sind.« Nun lag also das Thema auf dem Tisch. »Carola«, sagte er, »wenn du dich diesbezüglich für eine von vielen hältst, bist du auf dem Holzweg.« »Soll das heißen, daß ich mich für eine von wenigen halten darf?« »Für die einzige.« Carola mußte sich sehr beherrschen, um nicht in Tränen auszubrechen. »Warum bist du dann heimlich verschwunden?« fragte sie ihn, nachdem sie ein paarmal geschluckt hatte. Er wand sich. »Heimlich verschwunden … das klingt so … so kriminell.« »Wie soll ich mich sonst ausdrücken? Warum warst du fort, als ich zu deinem Quartier kam? Hört sich das besser an?« »Du warst bei den Anthofers?« fragte er sichtlich betroffen. »Ja, nachdem ich tagelang vergeblich auf dich gewartet hatte.« »Ich hatte dir doch gesagt, du sollst dich dort nicht mehr allein 100
ins Gelände wagen.« »Was regst du dich auf, Detlev? Du wolltest mich nicht mehr sehen, und wenn mir etwas zugestoßen wäre, hättest du mich nicht mehr gesehen – nie mehr!« »Carola, sprich nicht so!« »Wie dann?« »Wenn du glaubst, daß ich deshalb verschw… abgereist bin, weil ich dich nicht mehr sehen wollte, bist du glattweg verrückt.« Ein kleiner Funke glomm in Carolas Augen auf. »Ja?« »Es hat mich eine unmenschliche Überwindung gekostet, das zu tun.« »Wirklich?« »Ich habe lange darunter gelitten.« Der Funke wurde immer strahlender. »Das ist dir recht geschehen.« »Ich leide …« Er verstummte. Er leide jetzt noch darunter, hatte er sagen wollen, korrigierte sich aber rechtzeitig: »Ich erweise dir keinen Gefallen, wenn ich bleibe, dachte ich. Außerdem war mein Urlaub ohnehin abgelaufen.« »Das weiß ich, aber darum geht's nicht. Du hättest mir das sagen müssen.« »Und dann? Was wäre dann geschehen? Mein fester Vorsatz, den ich mir in einer langen schlaflosen Nacht abgerungen hatte, wäre in sich zusammengebrochen.« »Ja?« »In meinem Büro ging's damals auch schon drunter und drüber.« »Du hättest ja auf alle Fälle fahren können.« »Nein, eben nicht, mir hätte die Kraft dazu gefehlt.« »Und wenn ich mitgekommen wäre?« »Carola!« rief er. »Mach mich nicht nachträglich noch wahnsin101
nig!« Warum sage ich ihr nicht die Wahrheit, fragte er sich. Warum verschweige ich ihr die einzig entscheidende Tatsache? »Detlev«, erwiderte sie, »ich mache dich gerne nachträglich noch wahnsinnig. Ich bin glücklich zu sehen, daß ich das kann. Ich hatte es nicht mehr erwartet. Du hast nichts anderes verdient.« Ich muß sie bremsen, dachte er. Sie und mich selbst auch. Ich muß, muß, muß! »Carola«, zwang er sich zu sagen, »du hättest nicht herkommen dürfen.« »Ich finde, doch, es war höchste Zeit.« »Nein.« »Warum nicht?« »Weil nicht noch einmal alles von vorne anfangen darf.« »O doch!« Schlagartig war alles an ihr Verführung. Mit blitzenden Augen sah sie sich in der Fischerkate um. »Wo schläfst du eigentlich?« »Nebenan steht ein Feldbett.« Carola scheute sich nicht, sozusagen einen Lokaltermin durchzuführen. Das knappe Urteil, mit dem sie aus dem Nebenraum zurückkehrte, lautete: »Zu schmal.« Detlev spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Das schaffe ich nicht, ihr zu widerstehen, dachte er. Aber es geht nicht anders. »Wo bist denn du untergebracht?« fragte er sie. »Nirgends. Ich bin von der Bahnstation direkt hierhergelaufen, weil ich hoffte, du würdest mich aufnehmen.« »Inzwischen hast du aber gesehen, daß das kaum möglich ist.« »Stroh steht uns hier keines zur Verfügung?« sagte sie lächelnd. »Nein, aber ich kann dich zunächst in der Nähe einmieten, bei den Fringolds.« Das wichtigste an diesem Satz war für sie das Wort ›zunächst‹. Es 102
eröffnete günstige Perspektiven auf die Zukunft. »Wer sind die Fringolds?« fragte sie. »Mutter und Sohn. Sie ist eine alte Fischerswitwe, er ein junger Heringsfahrer. Beide sind gute, treuherzige Menschen. Ein paar Mark nebenher zu verdienen wird ihnen guttun.« »Das hat aber noch ein bißchen Zeit.« »Was hat noch ein bißchen Zeit?« »Meine Einquartierung bei den Fringolds. Ich möchte noch eine Weile mit dir Zusammensein. Oder willst du das nicht?« »Doch.« »Das klang aber nicht gerade begeistert.« »Carola, darf ich … ehrlich sein?« »Ich bitte dich sogar darum. Ich kenne mich nämlich nicht aus mit dir. Auf der einen Seite gestehst du mir, unter unserer Trennung gelitten zu haben, auf der anderen Seite hält sich deine Freude über unser Wiedersehen offensichtlich in Grenzen.« »Carola, ich … ich würde dich am liebsten an mich reißen, glaub mir, aber …« »Dann tu's doch!« unterbrach sie ihn, sprang auf und warf sich ihm in die Arme. Ein Feuer loderte. Flammen der Leidenschaft schlugen über ihnen zusammen. Carolas junger, bebender Körper, der sich an den seinen preßte, ihre Küsse, ihre gestammelten Laute der Liebe, all dies summierte sich zu einer Herausforderung für ihn, die nur eine einzige Reaktion seinerseits hervorrufen konnte: Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Nur fehlte es seinem Körper an vergleichbarer Jugendlichkeit, aber dieses Manko war noch nicht so groß, daß es nicht – genau wie in der Schutzhütte im Schatten der Zugspitze – durch Erfahrung mehr als ausgeglichen werden konnte. Das Feldbett lief dem Stroh eindeutig den Rang ab. »Sagtest du nicht, es sei zu schmal?« fragte Detlev sie in der Pause nach dem ersten Sturm und vor dem zweiten. 103
»Da ging ich noch von anderen Voraussetzungen aus.« »Wär's nur bei denen geblieben«, seufzte er. »Was soll das nun wieder heißen?« »Carola, wie denkst du dir das eigentlich mit mir?« »Das siehst du doch«, erwiderte sie, ohne lange zu überlegen. »Ich liebe dich, und ich möchte, daß du mich heiratest. Ganz einfach, nicht wahr?« »Oder liebst du mich nicht?« fragte sie ihn, als er schwieg. Die Antwort darauf war der zweite Sturm, zu dem Detlev mit seinem buchstäblichen Crescendo die Voraussetzung schuf. Danach aber sagte er: »Ich weiß, du hörst das nicht gern, aber ich muß dich trotzdem daran erinnern: Du denkst überhaupt nicht an den Altersunterschied zwischen uns beiden.« »Von dem ich nicht das geringste merke«, meinte sie frivol. »Der aber da ist, Carola, schon jetzt. Du merkst ihn nicht, sagst du. Warum merkst du ihn nicht? Weil es dir an einschlägiger Erfahrung fehlt. Ich war dein erster und einziger Mann, bin es noch … oder?« zögerte er. »Natürlich! Denkst du, in der Zwischenzeit hätte sich daran etwas geändert?« Teils vorwurfsvoll, teils zornig, im ganzen beleidigt blickte sie ihn an. »Siehst du, und das ist der Fehler, Carola.« »Was ist das?« »Der Fehler. Wenn du neben mir einen Jüngeren kennengelernt hättest, einen, der altersmäßig zu dir paßt, sähe alles ganz anders aus.« »Für wen?« Sie hatte sich neben ihm aufgerichtet – ein schwieriges Unterfangen auf dem schmalen Lager, das sie sich teilten. »Für dich, Carola.« »Nein.« 104
»Doch, denke einmal weiter: In zwanzig Jahren bin ich über sechzig – ein Greis. In zwanzig Jahren bist du aber noch keine vierzig – eine blühende Frau. Und nun stell dir vor, du wärst an mich gekettet. Schauderhaft!« Carola legte eine kleine Pause ein, dann sagte sie: »Bist du deshalb am Eibsee ausgerissen, weil du in zwanzig Jahren sechzig sein wirst und ich vierzig?« Nein, nicht nur deshalb, dachte er, beileibe nicht nur deshalb. Die Rechnung ließe sich beliebig fortsetzen. »Vergegenwärtige dir, wenn dir ein Zeitraum von zwanzig Jahren nicht genügt, einen von dreißig – wie's dann aussieht.« »Weißt du was? Ich vergegenwärtige mir einen von vierzig Jahren. Dann bist du achtzig – ein Greis. Und ich bin sechzig – eine Greisin. Mit anderen Worten: Ich habe dich eingeholt. Also überhaupt kein Grund, am Eibsee auszureißen.« »Mit dir kann man nicht reden, Carola«, sagte er seufzend. Ich muß mir ein bißchen Zeit nehmen, dachte er, für sie, und auch für mich. Ich darf nicht glauben, daß in einer Stunde oder meinetwegen auch am heutigen Abend das Kapitel zwischen uns beiden zu bereinigen ist. Laß sie erst einmal ein paar Tage in der primitiven Kate der alten Fringold herumsitzen, während ich die ganze Zeit am Deich bin. Laß mich am Abend müde sein. Laß sie… »Woran denkst du?« unterbrach sie sein Schweigen. »Daran, was du morgen tagsüber machen wirst, wenn ich keine Zeit für dich haben werde.« »Auf den Abend warten«, sagte sie lächelnd. »Und übermorgen?« »Auf den Abend warten.« Plötzlich fiel ihm etwas ein. »Und deine Schule? Was ist eigentlich damit?« »Nichts mehr.« »Was – nichts mehr? Du stehst doch kurz vor dem Abitur?« 105
»Nicht mehr.« »Nicht mehr, nichts mehr … Was heißt das? Du willst mir doch nicht etwa sagen, daß du …« Der Rest erstarb ihm auf der Zunge. »Doch.« »Carola, bist du wahnsinnig?« Sie ist es, sagte er sich. Einen krasseren Beweis könnte es dafür gar nicht geben. Hierin zeigt sich eben der Altersunterschied. Es liegt einfach zuviel dazwischen. Ich stell' mir vor, meine Tochter – wenn ich eine hätte – würde das machen. Großer Gott! Oder mein Sohn – wenn ich einen hätte. Nein, nein! Und dann eine Ehe. Wie lange könnte die gut gehen? Keine fünf Jahre. Keine drei. Carola, dachte er, es ist ja nicht so, daß ich mich leichten Herzens von dir lösen würde, o nein, ich habe dich tief im Blut, und ich weiß zur Stunde nicht, ob ich dich aus diesem je wieder ganz herauskriege; ich fürchte, niemals. Aber … »Woran denkst du?« schreckte sie ihn wieder auf. »Du bist wahnsinnig, ich sagte es schon.« »Ich liebe dich wahnsinnig, ja.« »So weit darf es nicht gehen.« »Wer hat mich denn dazu getrieben?« »Sag nur nicht, ich sei das gewesen.« »Nein, der Kaiser von China.« »Carola!« rief er. »Du machst das rückgängig mit der Schule!« Sie lächelte. In der Tat, sie grinst, dachte er erregt. »Es gibt nur eine Position, aus der du mir das befehlen könntest, Detlev.« »Aus welcher?« »Als mein Ehemann.« Und wieder war er geschlagen. »Carola!« 106
»Ja?« »Wenn du schon auf mich nicht hörst, was haben denn deine Eltern zu diesem Wahnsinnsschritt gesagt?« »Ich weiß es nicht.« »Warum weißt du das nicht?« »Weil ich nicht mit ihnen gesprochen habe, sondern ihnen nur einen Brief hinterlassen habe.« »Großer Gott, das wird ja immer toller. Du bist also, wenn ich das richtig sehe, regelrecht durchgebrannt?« Nun nickte sie doch ziemlich zerknirscht. Sie mußte an ihre Mutter denken. »Mama wird sehr geweint haben«, sagte sie leise. »Und dein Vater?« »Getobt.« »Das kann ich mir denken. Wenn er ein richtiger Vater ist, werde ich mich vor ihm in acht nehmen müssen.« »Wieso du?« fragte sie bange. »Weil er der Sache nachgehen und dabei zwangsläufig auf mich stoßen wird.« »Die haben alle keine Ahnung von dir«, beruhigte sie sich selbst. Daß dies ein Irrtum war, ahnte sie nicht. Frauen tun sich oft schwer mit der Logik, das trat selbst bei der hochintelligenten Carola Burghardt gelegentlich in Erscheinung. Selbst wenn es zugetroffen hätte, daß Detlev Padenberg für ihren Vater noch eine vollkommen unbekannte Größe gewesen wäre, hätte sie sich sagen müssen, daß gerade ihre Bestrebungen der Erhaltung dieses Zustandes am wenigsten förderlich waren. Oder strebte sie keine Ehe mit Detlev Padenberg an? Im allgemeinen läßt es sich dabei nicht vermeiden, daß sich Schwiegervater und Schwiegersohn kennenlernen. Spätestens dann besteht Gelegenheit, daß der eine dem anderen – oder der andere dem einen – sagt, was er von ihm hält. 107
»Carola«, erklärte Detlev nach längerem Stillschweigen, »nach Lage der Dinge muß ich dich bitten, von mir Geld anzunehmen.« »Wieso?« antwortete sie kurz. »Weil ich mir nicht vorstellen kann, daß dein alter Herr deine Flucht groß finanziert hat.« »Ach, du denkst, da einspringen zu müssen? Erschreckt dich das?« »Sei nicht albern.« »Ich verfüge über ein eigenes Konto.« »Ein großes?« »Ja, und zwar …« »Schweig still!« fiel er ihr ins Wort. »Ich will es nicht wissen, mich interessiert das nicht. Solange du hier bei mir bist, geht das auf meine Kosten, verstanden?« »Das kann aber ins Geld laufen«, sagte sie vergnügt, »denn daran wird sich nicht schon morgen etwas ändern.« »Los!« forderte er sie abrupt auf. »Aufstehen! Wir müssen rüber zur alten Fringold, sonst geht die zu Bett, und wir können nicht mehr rein zu ihr.« Die Witwe Fringold entpuppte sich als eine gütige, dicke Frau, die Carola gerne aufnahm. Sie schwor einen Eid, daß man sich auf sie verlassen könne, als Detlev Padenberg zu ihr sagte: »Passen Sie auf das kleine Fräulein gut auf.« Das Wetter war noch schlechter geworden. Padenberg ging wieder. Dann saß Carola in einem warmen Raum am Ofen, ein junger Mann hockte in der Ecke und flickte Netze, und vor ihr auf dem Tisch stand rasch eine Tasse Tee, die sie gar nicht mochte, aber nicht ablehnen konnte, wenn sie die freundliche Witwe nicht vor den Kopf stoßen wollte. Carola dachte natürlich an Detlev, an das Feldbett, fühlte sich sehr, sehr müde, lächelte aber… und mit diesem glücklichen Lächeln schlief sie im Sitzen am Ofen ein. 108
Vorsichtig, um keinen Lärm zu machen, flickte Per Fringold seine Netze. Seine Augen leuchteten. Er hatte noch nie ein so schönes Mädchen gesehen. Gegen elf Uhr weckte Frau Fringold behutsam ihren Gast. »Sonst bleiben Sie die ganze Nacht hier sitzen«, sagte sie lächelnd. »Aber im Liegen schläft sich's doch besser. Ich habe Ihnen eine Wärmflasche ins Bett gegeben.« Und das im Frühjahr! Draußen heulte der Sturm. Was hieß schon Frühjahr, hoch oben am grauen Meer …
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as schlimme Wetter wollte und wollte nicht besser werden, auch den ganzen nächsten Tag nicht. Die Arbeiten am Deich mußten deshalb vorübergehend eingestellt werden. Das hieß aber nicht, daß der leitende Architekt die Hände in den Schoß hätte legen können. Für ihn gab es immer noch Papierkram genug zu erledigen, und so saß denn Detlev Padenberg in seiner Kate an der Schreibmaschine und tippte mit zwei Fingern mühsam Briefe und Stellungnahmen und Kostenerhöhungsbegründungen an die Landesregierung oder zwischengeschaltete Behörden. Diese Arbeit strengte ihn mehr an als der Außendienst auf dem Deich. Er erleichterte sie sich etwas mit einem halblauten Fluch und dem Wunsch: »Der Teufel soll sie alle holen!« Gemeint waren die Behörden. Padenberg überwand sich aber, setzte seine Arbeit fort und erlag nicht der Versuchung, sich zum Häuschen der Witwe Fringold zu 109
begeben und Carola auf den Gedanken zu bringen, daß eigentlich Gelegenheit für sie bestünde, auch tagsüber die Zweisamkeit mit ihm zu suchen. Gerade das wäre falsch gewesen, denn es ging ihm ja darum, ihr den Aufenthalt hier mehr oder minder rasch zu versauern, wenn es je zu einer Lösung kommen sollte, die Detlev unumgänglich schien. Die Primitivität, der sich Carola ausgesetzt sah, war der Hauptfaktor, auf den der Architekt setzen zu können glaubte. Sein eigener Verzicht auf das Mädchen, zu dem er sich dadurch verurteilte, fiel ihm schwer genug. Das stand jedoch auf einem anderen Blatt. Das Telefon läutete. Andere Einrichtungen, die ebenfalls an die moderne Zeit erinnert hätten, gab es dieser Hütte nicht. Das Telefon hatte ihm aber die Post, als er eingezogen war, unbedingt legen müssen, damit er in der Lage war, eine jederzeit effektvolle Bauleitung auszuüben. Er hob den Hörer ab und meldete sich: »Padenberg.« Am anderen Ende meldete sich niemand. »Padenberg«, wiederholte er. Wieder nichts. »Hallo!« Nichts. »Hallo, hier ist die Deichbauleitung in Süderhöft – Padenberg. Mit wem spreche ich?« Scheinbar mit niemandem, er bekam keine Antwort. Zornig legte er auf. Es war aber jemand in der Leitung gewesen, daran gab's keinen Zweifel. So etwas merkt man, wenn man mit dem Telefon vertraut ist. Detlev Padenberg kehrte an seine Schreibmaschine zurück. Zur gleichen Zeit näherte sich Jens Kosten in seinem Sportwagen dem Deich, hielt an und stieg aus. Er trug einen Ledermantel und eine tief in die Stirn gezogene Mütze. Der Sturm packte ihn mit Urgewalt und warf ihn fast um. Er blies ihm auf dem Weg zu Pa110
denbergs Kate ins Gesicht. Dieser Weg war ihm auf Befragen so genau beschrieben worden, daß er ihn – erst mit dem Auto und nun das letzte Stück auf Schusters Rappen – ohne weiteres gefunden hatte. Bei jedem Schritt versank Jens bis zu den Knöcheln in dem aufgeweichten Sand, als er sich gegen den Wind vorwärts kämpfte. Obwohl die Strecke, die er zu Fuß zurücklegen mußte, keine dreihundert Meter lang war, war er in Schweiß gebadet, als er Padenbergs Kate erreicht hatte und sich durch Klopfen bemerkbar machte. Er tat dies mit den Fingerknöcheln, hatte aber keinen Erfolg. Das erzeugte Geräusch schaffte inmitten des Sturms nicht einmal den Weg von der Tür bis zu Jens Kostens eigenen Ohren. Es mußte also die Faust her, mit der Jens, gegen die Tür trommelnd, einen zweiten Versuch unternahm. Detlev Padenberg wurde davon aufgeschreckt. Nicht gerade begeistert, fragte er den jungen Mann, den er vor seiner Tür entdeckte: »Was gibt's?« »Sind Sie Herr Padenberg?« »Ja.« »Mein Name ist Kosten. Kann ich Sie sprechen?« »Bitte.« »Darf ich reinkommen? Es wird nämlich etwas länger dauern.« »Länger? Ich habe wenig Zeit …« »Sie werden sie sich nehmen müssen.« Das klang ziemlich aggressiv. »Wieso? Geht's um den Deich?« »Nein, um Carola Burghardt.« Wortlos gab Padenberg jetzt den Weg ins Hütteninnere frei. Die Atmosphäre war natürlich sehr, sehr frostig. Drinnen fragte Padenberg: »Wie, sagten Sie, war Ihr Name?« »Kosten. Jens Kosten.« Padenberg musterte Jens kühl. »Setzen Sie sich. Was haben Sie mit Carola Burghardt zu tun?« »Ich war mit ihr am Eibsee. Ich nehme an, das sagt Ihnen etwas.« 111
»So, der sind Sie? Ja, das sagt mir etwas.« Daß ihm das wenig Erfreuliches sagte, ging deutlich aus Padenbergs Ton hervor. »Wo ist sie?« fragte Jens. »Nicht hier.« »Aber in der Nähe?« »Wie kommen Sie darauf?« »Sie hat Hamburg verlassen, um zu Ihnen zu fahren. Daran gibt es keinen Zweifel.« »Und warum sind Sie ihr gefolgt?« Kosten hielt Padenbergs Blick, der nichts an Geringschätzung zu wünschen übrigließ, stand. Mit klarer Stimme antwortete er: »Dafür gibt's zwei Gründe. Der erste ist, daß ich Carola liebe …« Padenberg unterbrach ihn: »Warum sind Sie dann am Eibsee verschwunden, statt …« »Das war falsch, heute weiß ich das«, fiel ihm Kosten ins Wort. »Damals war das aber vielleicht trotzdem nicht verkehrt, weil ich Sie, wenn ich geblieben wäre, vielleicht umgebracht hätte.« Padenbergs Blick veränderte sich etwas. Der Ausdruck der Geringschätzung minderte sich. »Das wäre jedenfalls ein Beweis für Ihre Liebe gewesen«, antwortete er, immer noch ironisch genug. »Ob ein echter, das ist eine andere Frage.« »Und der zweite Grund, warum ich hierherkam, ist, daß ich Sie warnen möchte.« »Mich warnen? Wovor?« »Vor Carolas Vater. Er ist Ihnen auf der Spur.« »Auf der Spur? Hören Sie, was ist das für ein Ausdruck? Ich bin keiner, dem jemand auf der Spur zu sein hat, wie etwa die Polizei einem, nach dem gefahndet wird.« »Er will Sie erschießen.« »Was?« 112
»Er sucht Sie, wie ich Sie gesucht habe, und wird Sie, wie ich, finden – und er hat gesagt, daß er Sie dann erschießen wird.« Detlev Padenberg ging zum Wandschränkchen, in dem sich neben der Rumflasche auch eine mit Kornbranntwein befand. Er nahm letztere heraus, goß sich ein Glas ein und kippte es hinunter. Dann fragte er Jens Kosten: »Zu wem hat er das gesagt?« »Zu mir am Telefon.« »So Ähnliches sagen viele.« »Unterschätzen Sie den nicht. Ich kenne ihn. Oder fragen Sie Carola, die wird Ihnen das bestätigen.« Padenberg schwieg eine Weile, deutete dann mit dem Zeigefinger auf die Flasche. »Auch einen?« »Danke, nein.« Detlev Padenberg füllte trotzdem ein zweites Glas und stellte es vor Kosten auf den Tisch. »Vielleicht später«, sagte er dabei. Dann fuhr er fort: »Warum warnen Sie mich? Um mich zu schonen oder vielleicht gar zu retten?« »Nein.« Das kam so spontan und dabei so ehrlich aus Kostens Mund, daß Padenberg kurz lachen mußte. »Warum dann?« »Weil ich nicht möchte, daß Carolas Vater eingesperrt wird. Das wäre doch schrecklich für Carola.« »Aber ich wäre Ihnen damit aus dem Weg.« »Durchaus.« Noch einmal mußte Padenberg lachen. »Doch auch dies«, fuhr Kosten mit leiser werdender Stimme fort, »würde Carola, wie ich leider annehmen muß, sehr, sehr weh tun. Deshalb möchte ich das ebenfalls nicht.« Er senkte seinen Blick und sah auf die Tischplatte. 113
Detlev Padenberg schien sprachlos zu sein. Erst nach einer längeren Pause sagte er: »Trinken Sie doch einen, Herr Kosten, Sie würden mir damit eine Freude machen.« Jens blickte zögernd das Glas an. »Bei Ihnen scheint es sich ja wirklich um eine große Liebe zu handeln«, fuhr Detlev fort. »Ja«, sagte Jens ganz leise, aber gerade deshalb absolut glaubhaft. »Daran habe ich bisher gezweifelt.« »Carola anscheinend auch«, meinte Jens seufzend. »Zum Wohl, Herr Kosten.« Detlev hob sein Glas und leerte es. Stumm folgte Jens dem Beispiel des älteren. Es sträubte sich allerdings noch viel in seinem Innern, in Herrn Padenberg einen Gastgeber zu sehen. In der nun eintretenden Stille stopfte sich Padenberg eine Pfeife, zündete sie an, stieß ein paar mächtige Rauchwolken aus, erhob sich und ging einige Male auf und ab. Es waren nur wenige Schritte, die ihm der enge Raum erlaubte. Dann setzte er sich wieder hin. »Hören Sie, Herr Kosten«, sagte er, »ich will mit Ihnen reden. Nehmen Sie vorab zur Kenntnis, daß ich Ihnen Carola nicht abspenstig machen möchte …« »Nicht?« rief Jens ungläubig. »Entscheidend ist, ob sie Ihnen überhaupt gehört – aber das müssen Sie mit ihr ausmachen.« »Herr Padenberg, dem hat noch vorauszugehen, daß Sie aus Carolas Leben verschwinden. Verstehen Sie, was ich meine?« »Natürlich. Aber lassen Sie sich sagen, daß ich das schon versucht habe, als ich mich am Eibsee klammheimlich aus Carolas Blickfeld entfernt habe. Das war nicht schön von mir, aber eine wohlüberlegte, mir selbst schwer abgerungene Handlung. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was Carola, dieses hinreißende junge Mädchen, in mir, einem Mann, der längst einer anderen Generation angehört, noch einmal alles entfacht hat. Vielleicht machen Sie in zwei Jahrzehnten 114
eine ebensolche Erfahrung, eher können Sie Empfindungen dieser Art nicht beurteilen. Ich wünsche sie Ihnen nicht. Ich kann Ihnen auch nicht sagen, was jetzt, in diesen Augenblicken, da ich so zu Ihnen spreche, in mir vorgeht, denn …« Das Telefon schrillte. Padenberg wollte nicht abheben, er winkte mit der Hand ab. Nach dem sechsten Läuten kapitulierte der Architekt jedoch. »Padenberg.« Keine Antwort. »Deichbauleitung in Süderhöft – Padenberg.« Nichts. »Hallo, verdammt noch mal, wer ist denn da?« Die Leitung, in der ohne jeden Zweifel wieder jemand war, blieb still. »Sie können mich mal …«, sagte Padenberg wutentbrannt und warf den Hörer auf die Gabel. Das sei heute schon das fünftemal, übertrieb er, zu Kosten gewandt, um eine Erklärung für seine Unbeherrschtheit zu liefern. »Wo waren wir stehengeblieben?« fragte er, sich mit der Hand über die Stirn streichend. »Ach ja, daß ich aus Carolas Leben verschwinden will bzw. wollte. Aber dann hat sie mich gesucht und tauchte gestern hier auf, genau wie Sie heute. Und nun fängt also das Ganze noch einmal von vorne an, denn es ist mir klar, daß ich das Carola schuldig bin, auch wenn sie selbst das im Moment noch ganz und gar nicht einsehen will. Eine Verbindung mit mir wäre ein Unglück für uns beide. Und das würde viel schneller der Fall sein, als sie glaubt. Möchten Sie noch einen Schnaps?« »Ja, gern, Herr Padenberg.« Während Detlev die Gläser füllte, meinte Jens: »Sie sind ganz anders, als ich Sie mir …« Er brach mitten im Satz ab. »Sagen Sie's ruhig«, ermunterte ihn Padenberg. »Als Sie sich mich 115
vorgestellt haben, nicht wahr? Nämlich als Schwein, als einen Lustgreis, der sich junge Mädchen unter den Nagel reißt …« »Nein, nein«, widersprach Jens, »ich wußte ja bis heute nicht, daß Sie schon ein älterer Mann sind.« »So? Hat Ihnen Carola das verschwiegen? Nett von ihr. Aber warum hat sie das getan? Sehen Sie, das ist doch sehr bezeichnend. Weil sie sich an diesem Punkt, meinem Alter nämlich, selbst stieß. Oder warum sonst?« Jens zuckte die Achseln. Ich weiß es nicht, sollte das heißen. In Wirklichkeit wußte er es sehr gut und stimmte Padenberg insgeheim zu. Detlev fuhr fort: »Machen Sie aber jetzt nicht den Fehler, in mir plötzlich einen Engel zu sehen. Ich bin weder das eine noch das andere, sondern ein ganz normaler Mann von einundvierzig Jahren, mit allen Fehlern und Tugenden behaftet, einer, der mit einem himmlischen neunzehnjährigen Mädchen noch einmal ein Wunder erlebt hat. Nur wenigen ist das vergönnt. Die Erinnerung daran werde ich mir bis zu meinem Lebensende als etwas Heiliges bewahren. Den Versuch jedoch, dieses Verhältnis bis zum unvermeidlichen Bruch fortzusetzen, werde ich unterlassen. Damit erweise ich auch, ich sagte es bereits, Carola einen Gefallen.« »Wo ist sie?« fragte Jens. »Ich habe sie einen guten Kilometer von hier bei einer treuen, zuverlässigen alten Frau untergebracht, der Witwe eines Fischers. Wir sehen uns untertags nicht. Ich hoffte, das primitive, langweilige Leben im Schatten des Deichs würde rasch dazu beitragen, einem verwöhnten, von Luxus umgebenen Mädchen aus Hamburg das Leben hier zu verleiden. Das war meine Erwartung. Ich will nicht noch einmal davon anfangen, welchen Zwang ich dabei auf mich selbst ausüben mußte. Nun ist es aber jedenfalls so, daß Sie auch noch vorhanden sind und ich mir das zunutze machen kann. Mit anderen Worten: Ich schalte Sie ein. Haben Sie etwas dagegen?« 116
»Nein!« rief Jens. »Sie lieben sie doch?« »Carola? Ja.« »Worauf es ankommt, ist, daß Sie diese Liebe auch in ihr zu Ihnen wecken müssen. Zusammenpassen würdet ihr beide in meinen Augen sehr, sehr gut.« »Ach«, seufzte Jens nur. »Nur keinen Pessimismus aufkommen lassen, Junge«, sagte Padenberg aufmunternd. »Wenn Sie das Handtuch immer so rasch werfen wie am Eibsee, kommen Sie nie auf einen grünen Zweig. Solchen Supermädchen wie Carola darf man keinen Augenblick von der Fährte weichen, sonst gehen sie einem durch die Lappen. Merken Sie sich das als Lebensweisheit, Jens. Ich werde es so einrichten, daß ihr beide euch hier trefft. Damit ist Ihnen die Möglichkeit eines Neubeginns geboten. Was Sie dann daraus machen, ist Ihre Sache. Carola wird nach Lage der Dinge von mir enttäuscht sein – ein günstiger Boden für Sie. Kapiert?« »Ja«, meinte Jens, teils glückselig, teils aber auch schockiert durch das Geschäftsmäßige der Vorschläge Padenbergs. Daß dieser damit seine wahren Gefühle überspielte, kam ihm nicht in den Sinn. »Wann müssen Sie nach Hamburg zurück, Jens?« »Warum?« »Weil Sie natürlich schon ein paar Tage Zeit haben müssen für Ihre Aufgabe hier. Wir wissen ja nicht, wie rasch oder wie zäh sich die Dinge hier entwickeln.« »Wenn's davon abhängt, bleibe ich ein ganzes Jahr hier.« »So ist's recht«, lobte Padenberg ein bißchen spöttisch. »Sie würden also sogar Ihr Studium unterbrechen. Ich nehme jedenfalls an, daß Sie studieren. Oder was machen Sie?« »Ich studiere.« »Welches Fach?« »Medizin.« 117
»Sehr aussichtsreich. Sie werden eine Frau ernähren können. In welchem Semester?« »Im neunten.« »Also bald fertig. Es paßt doch alles. Jens, wenn ich Carola wäre, wüßte ich, wie ich mich zu entscheiden hätte.« Das war aber nun doch eine Geschmacklosigkeit, die übers Ziel hinausschoß. Detlev Padenberg merkte es selbst auch und fragte rasch: »Wie sind Sie denn eigentlich hergekommen? Ebenfalls mit der Bahn, wie Carola?« »Nein, mit dem Wagen.« »Ihrem eigenen?« »Ja.« »Wo haben Sie ihn stehen?« Jens beschrieb die Stelle und fügte hinzu: »Den letzten Kilometer mußte ich zu Fuß gehen.« Es war bei weitem kein Kilometer gewesen, doch die Beschwerlichkeit des Weges hatte in dem jungen Mann diesen Eindruck erweckt. »Sichergestellt ist«, sagte Padenberg, »daß Sie den Weg zurück nach St. Peter finden. Von dort sind Sie ja gekommen, es gibt nämlich keine andere Möglichkeit. Ich werde Ihnen in der ›Post‹ ein Zimmer bestellen.« Er erledigte das telefonisch. Erst danach richtete er an Jens eine Frage, die er eigentlich schon vorher hätte klären müssen. »Haben Sie genügend Geld bei sich?« »Hätte ich gehabt«, antwortete Jens, »aber auf der Herfahrt mußte ich mit dem Wagen in die Werkstatt, und Sie wissen ja, wie das ist: Die sahnen heutzutage ganz schön ab.« »Sie scheinen mir kreditwürdig. Wieviel brauchen Sie?« »Von Ihnen?« Detlev nickte. »Kommt nicht in Frage«, entgegnete daraufhin Jens. »Ihr Angebot 118
finde ich zwar prima, aber Gott sei Dank bin ich nicht darauf angewiesen. Ich werde von St. Peter aus meinen Vater anrufen und ihn um eine telegrafische Überweisung bitten. Danke.« »Aber wenn Sie dann schon am Telefonieren sind, können Sie auch noch ein zweites Gespräch erledigen …« »Welches?« »Mit Carolas Vater.« »Mit …« Die Stimme erstarb dem erschrockenen Jens Kosten. »Er wollte doch kommen und mich erschießen. Oder haben Sie mir etwa einen Bären aufgebunden?« »Nein, nein.« »Na, sehen Sie. Und das sollte doch in unser aller Interesse vermieden werden. Ich glaube zwar nicht an meinen frühen Tod, aber es wäre ja schon vertrackt genug, wenn der Mann überhaupt hier auftauchen würde. Eine Art Berserker wird er ja sein, der alles verderben würde, glauben Sie nicht auch? Am meisten würde wohl Carola selbst erschrecken. Wer weiß, wie sie reagieren würde. Vielleicht gäbe sie Ihnen die Schuld am unerwünschten Erscheinen ihres Vaters …« »Um Gottes willen!« rief Jens Kosten. »Sorgen Sie deshalb dafür, daß er sich von der Szene hier fernhält. Sagen Sie ihm, daß alles gut läuft, auch in seinem Sinne, und daß Sie bald mit Carola nach Hamburg zurückkehren werden – aber nur, wenn er sich, wie gesagt, raushält. Vielleicht verlangt er, daß Sie ihm eine Frist nennen.« »Wenn er das tut, was dann?« »Nennen Sie ihm eine von … sagen wir: drei Wochen.« »Gut. Noch was?« Detlev Padenberg dachte noch einmal scharf nach. »Nein«, sagte er dann, »das wär's vorläufig. Ich halte telefonische Verbindung mit Ihnen in der ›Post‹.« Jens Kosten konnte verschwinden; er spürte, daß Padenbergs Be119
darf, ihn zu sehen, gedeckt war. An der Tür streckte er spontan noch einmal die Hand aus und sagte: »Ich danke Ihnen, Herr Padenberg.« Detlev blickte ihm nach, als er sich rasch entfernte. Nun blies der Sturm Jens in den Rücken und trieb ihn vorwärts. Drei Wochen, dachte Detlev, ob die reichen? Sie müssen reichen. Sie waren, wie sich herausstellen sollte, reichlich bemessen. Es verlief sogar alles viel, viel schneller – und katastrophaler. Detlev Padenberg ging zurück in seine Kate. Am Abend kam Carola zu ihm. Die Unterhaltung begann mit einem kleinen Schreck für Detlev. »Zu dir kam heute Besuch«, begann Carola. »Wieso? Wer sagt dir das?« antwortete er vorsichtig. »Ich sah zufällig von weitem aus dem Fenster ein Auto in deine Richtung fahren. Dort steht doch nur deine Villa, oder?« »Villa ist gut«, entgegnete Detlev ausweichend. »Weißt du, an wen ich dabei unwillkürlich habe denken müssen?« »An wen?« »An Jens Kosten. Der Name wird dir nichts mehr sagen. Jens war einmal mein Freund, der mich am Eibsee im Stich gelassen hat, statt mich deinen Klauen zu entreißen«, erklärte Carola lachend. »So? Und warum mußtest du an den denken?« »Weil derselbe Wagen, wie er ihn hat, zu dir unterwegs war – der gleiche Typ, die gleiche Farbe.« »Es gibt viele gleiche Autos.« »Aber auch wieder nicht so viele Austin Morris von derselben Sorte in Deutschland. Deshalb kam ich auf Jens, weißt du.« Detlev nahm einen inneren Anlauf. »Vielleicht dachtest du auch an ihn, weil er dir fehlt.« »Jens?« Sie lachte. »Nicht im geringsten.« »Wie lange hast du ihn nicht mehr gesehen?« »Seit damals. Er hat mich zwar angerufen und wollte mich noch 120
einmal treffen, aber ich habe abgelehnt.« »Warum? Ist er ein solches Scheusal?« »Scheusal? Nein, das nicht.« Sie blickte vor sich hin, schien sich Jens vorzustellen. »Damit würde man ihm sicher unrecht tun.« »Was macht er denn?« »Er studiert Medizin, will sich auf Chirurgie spezialisieren.« »Mann!« rief Detlev. »Etwas Tolleres gibt's doch heutzutage gar nicht! Denen schneit es geradezu Geld!« »Zahnärzten noch mehr.« »Hat sich das bei den jungen Mädchen rumgesprochen?« »Selbstverständlich. Deshalb halten sie ja auch ständig Ausschau nach solchen.« »Du auch?« »Natürlich«, erwiderte Carola lachend. »Leider hat mir aber ein Architekt das Konzept verdorben. Ich sitze in der Falle, die er mir gestellt hat, fest, und komme nicht mehr raus.« »Architekten halten keinen Vergleich mit Chirurgen aus, Carola.« »Für mich schon«, sagte sie und hängte sich ihm an den Hals. Detlev hatte sich ein Programm fest vorgenommen, in dem das Feldbett nicht mehr vorkam. »Was hast du heute gemacht?« fragte er sie nach einigen Küssen, bei denen sie gewissermaßen die treibende Kraft gewesen war. »Willst du mir nicht sagen, wer dein Besucher war?« kam sie noch einmal auf ihre erste Frage zurück. »Woher soll ich das wissen?« »Mach keine Witze. Er kam doch nicht maskiert zu dir.« »Höchstwahrscheinlich nicht, aber möglich wäre es dennoch gewesen.« »Wie soll ich das verstehen?« »Das sollst du so verstehen, daß ich über den Mann nichts sagen kann, weil ich nicht da war. Er hat mich also nicht angetroffen.« »Ach ja«, schien sie sich zu erinnern, »du warst ja den ganzen Tag 121
am Deich.« »Das sagte ich dir doch.« »Der hat aber dann lange auf dich gewartet.« »Woher willst du das wissen?« »Weil ich den Wagen erst viel später wieder zurückfahren sah.« Detlev blickte Carola ein Weilchen an, als wollte er sagen, vor dir muß man sich aber in acht nehmen. Dann meinte er achselzuckend: »Tut mir leid, er hätte sich anmelden müssen.« Nun blickte Carola ihn ein Weilchen an, ehe sie zu seiner Überraschung sagte: »Ein Mädchen kann's nicht gewesen sein, Detlev?« »Ach«, schaltete er, »von daher bläst der Wind. Nein, mein Kind, das kann es nicht gewesen sein. Mädchen sind nicht so verrückt, sich hierher zu verirren – von einer einzigen Ausnahme abgesehen.« Schon hing sie wieder an seinem Hals und erschwerte ihm die Einhaltung seines Programmes, in dem das Feldbett nicht mehr vorkommen sollte. »Du wolltest wissen, was ich heute gemacht habe«, sagte sie dann. »Ja.« »Lange geschlafen, aufgestanden, Toilette gemacht – frag mich nicht, wie, da gibt's ja kein Bad. Ich verstehe nicht, wie die Leute so leben können. Gefrühstückt, nichts Besonderes, Fisch bereits am frühen Morgen ist nicht mein Fall. Mich mit Frau Fringold unterhalten, ein liebes Mütterchen. Aus dem Fenster geguckt, an dich gedacht, wieder aus dem Fenster geguckt, festgestellt, daß es sich nicht lohnt. Man hat beim erstenmal schon alles gesehen. Zu Mittag gegessen. Kochfisch. Gebraten esse ich ihn lieber, aber auch nicht zu oft. Danach trotzdem wieder ein paarmal aus dem Fenster geguckt, den roten Austin Morris entdeckt, später beobachtet, wie er zurückkam. Mich gefragt, wer das wohl sein könnte, ob nicht doch ein Mädchen? Mit der Versuchung gerungen, zu dir herüberzugehen, um Gewißheit zu erlangen…« »Das untersage ich dir ein für allemal«, unterbrach er sie. »Das 122
Terrain hier ist zu gefährlich. Du befindest dich hier nicht auf einer Promenade am Tegernsee, merk dir das.« »Ich verstehe euch nicht«, sagte Carola kopfschüttelnd. »Auch Frau Fringold macht dasselbe Theater. Schlimm ist doch hier momentan nur das Wetter, der blöde Sturm, der kein Ende zu nehmen scheint. Alles andere finde ich eher langweilig.« Letzteres will ich ihr nicht ausreden, dachte Detlev und schwieg. »Ich halte es auch für überflüssig«, fuhr Carola fort, »daß mich Per, der Junge, rüberbringt zu dir, so wie heute. Er will das in Zukunft beibehalten. Du wünschst das, sagten mir die beiden. Ich bitte dich, ihnen das auszureden.« »Nein.« »Aber …« »Es hat keinen Zweck, Carola, darüber mit mir zu verhandeln. Du kannst mich nicht umstimmen, weil ich für dich verantwortlich bin.« »Wie für ein kleines Kind, nicht wahr?« »Ganz recht, den Jahren nach bist du ja auch noch eines«, sagte er barscher, als er eigentlich wollte. »Kann schon sein, Opa«, erwiderte sie in derselben Art. »Deinen Jahren nach sogar sicher.« Der erste Streit drohte zwischen den beiden, die ersten verletzenden Worte. »Ich mache uns etwas zu essen«, sagte er, sich von ihr abwendend. »An sich hatte ich an Fisch aus der Dose gedacht, aber …« »Nicht schon wieder Fisch«, bat sie, nachdem er verstummt war. »Was möchtest du? Um Konserven kommen wir allerdings nicht herum.« »Woraus besteht deine Auswahl?« »Komm, wir sehen nach.« Er führte sie in einen kleinen Nebenraum, wo in einem Regal ein mittlerer Vorrat an Büchsen und Dosen in verschiedenen Größen 123
aufgestapelt war. »Das hat die Fringold geahnt«, sagte Carola. »Deshalb wollte sie mir etwas Frisches mitgeben.« »Was denn?« »Eine Stunde vorher von Per heimgebrachte Schollen.« »Schollen?!« rief Detlev, sich die Fingerspitzen küssend. »Und die hast du ausgeschlagen?« »Hätte ich das nicht tun sollen?« »Ich sterbe für Schollen.« »Und wer hätte sie dir gekocht?« »Du!« sagte er, um sie auf die Probe zu stellen. Auch das gehörte zu seiner Taktik. »Ich?!« entsetzte sich Carola. »Mir wäre dabei übel geworden. Du ahnst nicht, wie empfindlich ich in dieser Beziehung bin.« Sie wandte sich wieder dem Regal mit den Büchsen zu und fuhr dabei fort: »Bin ich froh, daß dieser Kelch an mir vorübergegangen ist! Laß mich mal hier suchen …« Das Telefon läutete. Detlev ging zurück in den größeren Raum, wo sich das Telefon befand. »Padenberg.« Nichts. »Hallo, wer sind Sie denn, was soll der Quatsch, wie oft…« »Liebling!« rief Carola aus dem Nebenraum. »Hast du auch Lust auf einen Nachtisch? Ich sehe hier Ananas in der Dose …« »Bring sie her!« rief er zurück, sich nicht einmal die Mühe machend, die Sprechmuschel mit der Hand abzudecken. Dann setzte er das Telefonat fort: »Wie oft gedenken Sie mir Ihre Blödheit noch vorzuführen? Was Sie mich können, habe ich Ihnen heute schon gesagt. Vergessen hatte ich allerdings, hinzuzufügen: Und zwar kreuzweise! Das sei hiermit nachgeholt. Hängen Sie sich auf, damit die Welt möglichst bald Ruhe vor Ihnen hat.« Als könnte der Apparat dafür, warf Detlev den Hörer mit größ124
tem Grimm auf die Gabel. »Was war denn das?« fragte Carola verwundert. Sie stand auf der Schwelle zum Nebenraum und hielt ein paar Konserven an die Brust gedrückt. »Ein Verrückter«, schimpfte Detlev. »Ich weiß nicht, wer. Er ruft mich an, meldet sich nicht, führt mich an der Nase herum. Den ganzen Tag geht das schon so.« Das war unbedacht von Detlev und sollte ihn schon sehr bald in Schwierigkeiten bringen. »Woher willst du das wissen?« fragte Carola. »Was?« »Daß das den ganzen Tag schon so geht.« »Weil es schon ein halbes dutzendmal passiert ist.« »Ich denke, du warst nicht zu Hause?« »Ich … ich war auch nicht hier … aber zwischendurch … weißt du, am Deich werden immer wieder Unterlagen gebraucht, die ich holen mußte, Skizzen, Entwürfe, Berechnungen. Das kannst du dir doch denken?« Sie nickte, nicht recht überzeugt. »Und jedesmal hat das Telefon geläutet«, schloß er. »Du bist sicher, daß es keine Frau war?« Er verdrehte die Augen. »Carola, fängst du schon wieder damit an? Wie kommst du nur darauf?« »Weil ich die Männer kenne.« »Du kennst die Männer?« »Ja, du hältst mich zwar noch für ein Kind, aber ich kenne sie besser, als du denkst, und zwar aus zahlreichen Romanen, die ich aufmerksam gelesen habe.« »Aha.« »Am schlimmsten sind sie in der Einsamkeit. Da halten sie es ohne Frauen schon gar nicht aus.« 125
»Welchen Schwur verlangst du von mir, daß du mich im falschen Verdacht hast?« Sie blickte ihn an, plötzlich wieder gar nicht mehr wie ein Kind, lächelte, ging zum Tisch, entledigte sich der Büchsen. »Keinen Schwur, einen tätigen Nachweis, der ist am überzeugendsten«, erwiderte sie, nahm ihn an der Hand und führte ihn zum Feldbett, zeigte auf dieses. »Hier hast du Gelegenheit…« »Carola, nein.« »Siehst du, ich wußte es, mein Verdacht bestätigt sich.« »Nein, so habe ich das nicht gemeint.« »Wie dann? Es gibt keine andere Erklärung.« »Doch.« »Welche?« »Ich laufe von früh bis spät auf dem Deich herum …« »Holst Unterlagen, Skizzen, Entwürfe aus deiner Kate …« »Schlafe kaum …« »Weil dir die Arbeit auch noch nachts im Kopf herumgeht …« »Ich esse unregelmäßig …« »Trinkst aber dafür um so regelmäßiger …« Er stutzte. »Sag mal, du willst mich wohl auf den Arm nehmen!« »Das würde ich nicht wagen.« »Carola, du … du bist …« »Was?« »Ein Luder.« »Wie bitte?« »Ein süßes Luder«, sagte er, riß sie an sich, küßte sie leidenschaftlich und fing dabei an, sie auszuziehen, wobei er fortfuhr: »Auf gar keinen Fall bist du noch ein Kind, ich werde das nie mehr behaupten. Du raubst mir meinen Verstand, untergräbst meinen Willen. Du …« »Was?« 126
Er konnte nichts mehr sagen, er stöhnte nur noch. Sie war seinem Beispiel gefolgt und zog ihn noch rascher aus als er sie. Die Hände zu jenen Stellen des Körpers gewandt, die, wenn sie beim einsetzenden Liebesspiel berührt werden, Laute des Stöhnens auslösen. Dies zeigte sich hier wieder einmal nicht nur bei Detlev, sondern auch bei Carola. Detlev war ein reifer Mann, mit einem Erfahrungsschatz im intimen Umgang auf seiner Seite, aber es entging ihm nicht, in welch unglaublich kurzer Zeit sein Vorsprung an Erfahrung gegenüber Carola auf ein Nichts zusammengeschmolzen war. Gegessen wurde von den beiden an diesem Abend kein Bissen mehr. Von der Nacht blieb für den Schlaf nicht viel übrig. So kam es, daß sich die beiden, als sie am anderen Morgen reichlich früh vom Telefon geweckt wurden, ziemlich kaputt fühlten und Detlev den Apparat am liebsten aus dem Fenster geworfen hätte, dies um so mehr, als er wieder mit einem anonymen Anruf rechnete. Trotzdem hatte er keine andere Wahl als abzuheben, er konnte sich ja auch täuschen. Und so war es tatsächlich. Der Anruf erwies sich als wichtig. »Padenberg«, krächzte Detlev in die Muschel. »Guten Tag, Herr Padenberg«, antwortete eine Mädchenstimme. »Ich bin eine Mitarbeiterin von Herrn Baurat Jahnke bei der Baubehörde in Rendsburg. Herr Jahnke hat gestern anscheinend länger gearbeitet, denn ich fand soeben auf meinem Schreibtisch einen Zettel von ihm, mit der Bitte, Ihnen folgendes durchzugeben: Sie möchten heute morgen gegen halb zehn in Jevenstedt sein zu einer dringenden Besprechung im Zusammenhang mit einem Bauvorhaben am Westensee. Sie sollen so freundlich sein, sich in der Gastwirtschaft ›Weißer Schwan‹ einzufinden. Sie werden erwartet.« Padenberg rieb sich die Augen. Jevenstedt? Blödsinn! Was sollte er in Jevenstedt? Aber Auftrag ist Auftrag. Er schaute auf die Uhr. »Gut«, sagte er. »Da muß ich mich ja beeilen. Ich danke Ihnen.« 127
Nach Jevenstedt war es ziemlich weit und umständlich zu fahren. Detlev mußte sich, wenn er pünktlich im ›Weißen Schwan‹ eintreffen wollte, sputen. »Los, meine Liebe«, scheuchte er Carola auf, »ich werde erwartet, es eilt. Zieh dich an.« »Laß mich doch noch liegen«, jammerte sie. »Das ist ja Wahnsinn, ich bin todmüde. Ich kann doch hier auf dich warten.« »Ich weiß nicht, wann ich zurückkomme.« »Das ist doch egal. Zu essen habe ich hier.« Er ließ sich erweichen. »Dann muß ich aber auf alle Fälle noch bei der alten Fringold vorbeischauen«, meinte er, »und ihr sagen, daß du hier bist, damit sie sich keine unnötigen Sorgen macht.« »Danke.« Er klopfte mit dem Zeigefinger streng auf den Tisch. »Und du bleibst schön hier drinnen, verstanden! Du läufst mir nicht draußen rum, ich habe dir erklärt, warum. Versprichst du mir das?« »Ja.« »Ehrenwort?« »Ehrenwort.« Padenbergs Wagen stand in einem Schuppen abseits der Straße nach St. Peter. Dorthin zu gelangen kostete auch wieder kostbare Zeit. Erst gegen halb neun saß Padenberg am Steuer seines Mercedes und brauste über die regennasse Chaussee. Er fuhr wie der Teufel, traf jedoch trotzdem mit Verspätung in Jevenstedt ein, wo er vorher noch nie in seinem Leben gewesen war. Nun mußte er auch noch den ›Weißen Schwan‹ erfragen. Nervös fluchte er vor sich hin, als ihm zwei Leute achselzuckend gestanden, nicht zu wissen, wo dieses Gasthaus in Jevenstedt zu finden sei. Detlev hätte sich die ganze Raserei und Aufregung ersparen können. 128
Der nächste, den er um Auskunft bat, entpuppte sich als Däne, aber dann geriet er endlich an einen waschechten Einheimischen, der auf Detlevs Frage, ob er sich hier auskenne, verheißungsvoll wissen ließ, jeden Stein in Jevenstedt zu kennen. »Dann können Sie mir ja auch sagen«, meinte Detlev aufatmend, »wo der ›Weiße Schwan‹ ist.« »Wer?« »Der ›Weiße Schwan‹.« »Was soll das sein?« »Ein Gasthaus.« Der Einheimische faßte sich mit Daumen und Zeigefinger an seine Nase, deren auffallend rote Färbung eigentlich dazu hätte führen müssen, daß man ihm Glaubwürdigkeit zugestand, rieb sie nachdenklich und sagte: »Speziell die Gasthäuser kenne ich alle hier. ›Weißer Schwan‹ heißt keines von denen.« »Unmöglich«, stieß Detlev Padenberg hervor. »Man hat mich zu einer wichtigen Besprechung dorthin bestellt.« »Zu einer wichtigen Besprechung?« »Ja.« »In ein Gasthaus namens ›Weißer Schwan‹?« »Ja.« Der Einheimische ließ seine Nase los. »Dann könnte ich mir nur eine Möglichkeit vorstellen …« »Welche?« »Daß man Sie in den April geschickt hat.« Detlev Padenberg ließ diesen Idioten, wie er ihn innerlich nannte, stehen und suchte das nächste Polizeirevier auf. Hoffnungsvoll, wenn auch nicht mehr ganz sicher, betrat er es, total zerschmettert kam er wieder heraus. Es gab keinen ›Weißen Schwan‹ in Jevenstedt, auch Verwechslungsmöglichkeiten schienen nahezu ausgeschlossen zu sein. In der Fauna, an die man in diesem Zusammenhang dachte, existierte nur noch ein ›Roter Ochse‹. Trotzdem mein129
te ein freundlicher alter Wachtmeister, der anscheinend fast alles für möglich hielt: »Vielleicht hat man den gemeint.« Detlev fragte ihn nach dem nächsten Postamt. Ein Ferngespräch mit dem Baurat Jahnke in Rendsburg überzeugte ihn davon, daß sich jemand einen üblen Scherz mit ihm erlaubt hatte. Aber wer? »Die Person am Telefon«, sagte er zu Jahnke, »gab sich als eine Ihrer Mitarbeiterinnen aus.« »Mitarbeiterinnen?« antwortete er zynisch. »Die Weiber, von denen ich hier umgeben bin, sind etwas ganz anderes. Selbst der akuteste Größenwahn könnte ihnen einen solchen Titel nicht einflüstern.« »Ich stehe vor einem Rätsel.« »Gibt's bei euch junge Chaoten, die sich gegen eure Tätigkeit wenden?« »Doch nicht gegen die Arbeit am Deich.« »Dann müssen Sie die Täterin in Ihrem persönlichen Bereich suchen.« In meinem persönlichen Bereich? Das ging Detlev nicht mehr aus dem Kopf. Was mache ich jetzt mit dem verpfuschten Tag, fragte er sich, nachdem er das Postamt verlassen hatte. Er fühlte sich ausgelaugt – verständlich nach dieser Nacht – und verwirrt. Dumme Frage, gab er sich selbst die Antwort, ich muß zurück nach Süderhöft. Zuerst frühstückte er aber noch in Jeverstedt, da er schon mit knurrendem Magen hierhergekommen war. Wegen des überstürzten Aufbruchs in Süderhöft hatte er nicht einmal mehr einen Schluck Tee trinken können. In meinem persönlichen Bereich? Das ging ihm, wie gesagt, nicht mehr aus dem Kopf. 130
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E
s war an diesem Vormittag gegen zehn Uhr, als Carola Burghardt aufwachte, weil sie hörte, daß jemand Detlevs Hütte, in der sie auf dem Feldbett lag, betrat. Da sie nicht wußte, wie sie sich verhalten sollte, blieb sie mucksmäuschenstill. Das rettete sie aber nicht davor, daß die Person, die in die Kate eingedrungen war, bald vor dem Feldbett stand, sie überrascht musterte und dann spöttisch sagte: »Guten Morgen! Ich hatte nicht damit gerechnet, hier jemanden vorzufinden, der noch schläft.« Es war eine Dame, ja, unverkennbar nicht irgendeine weibliche Person, sondern eine Dame. Das sah Carola sofort. Für so etwas hatte sie ja, aufgrund ihrer eigenen Herkunft, einen Blick. Und diese Dame bemerkte umgekehrt ebenso rasch, daß sie nicht irgendein hergelaufenes junges Ding vor sich hatte, wenn auch der Rahmen, von dem die Betreffende umgeben war, nicht gerade überzeugend wirkte. Das Bett war ein Feldbett. Sachen lagen verstreut herum, darunter weibliche Intimwäsche, der wieder eine ganz bestimmte Aussagekraft innewohnte, wie damals Carolas Schlüpfer in der Schutzhütte am Fuß der Zugspitze. Nur ein Mann, der seinerzeit noch das Bild vervollständigt hatte, fehlte hier. »An sich«, sagte die Dame, »überrascht mich Ihre Anwesenheit nicht. Ich hatte freilich nicht damit gerechnet, daß der Tag für Sie so spät anfängt.« »Wer sind Sie?« fragte Carola. »Dazu kommen wir später. Zuerst möchte ich Ihnen Gelegenheit geben, sich in eine Verfassung zu bringen, die einem Gespräch zwischen uns beiden angepaßt ist«, erwiderte die Dame und verließ den Raum. Dadurch war klar, was sie meinte. Carola sollte aufstehen, sich anziehen und überhaupt ihr Äußeres, soweit das hier 131
möglich war, salonfähig machen. Dem stellten sich aber beträchtliche Schwierigkeiten entgegen. Carola hatte ja nicht gewußt, daß sie die ganze Nacht hier verbringen würde, daher lagen ihre ganzen Kosmetikartikel, jene Hilfsmittel, deren auch sie sich trotz ihrer Jugend zu bedienen wußte, im Häuschen der Witwe Fringold. Hier bei Detlev gab's praktisch nur ein Stück Seife und einen Kamm, worauf sie zurückgreifen konnte. Ihr Selbstbewußtsein hielt sich also erklärlicherweise in Grenzen, als sie der ihr unbekannten Dame, von der sie im Wohnraum erwartet wurde, gegenübertrat. Trotzdem hatte sie, was ihr Aussehen anbelangte, ein kleines Wunder vollbracht. Wie Mädchen das auch unter eingeschränktesten Verhältnissen immer wieder bewerkstelligen, ist ein immer wieder zu beobachtendes Rätsel. Sogar die unbekannte Dame, die sich schließlich in weiblichen Fähigkeiten auskennen mußte, konnte Carola ihren innerlich empfundenen Respekt nicht versagen. Donnerwetter, dachte sie, als Carola über die Schwelle trat. Erfreut war sie allerdings nicht darüber, eines der hübschesten Mädchen, die sie je gesehen hatte, vor sich zu haben. Die Erklärung dafür wurde bald geliefert. »Nehmen Sie Platz«, sagte die Dame, auf einen Stuhl weisend, zu Carola. »Sie nehmen mir das Wort aus dem Mund«, erklärte Carola. »Dasselbe wollte ich Ihnen gerade anbieten.« Die Unbekannte zog eine Augenbraue in die Höhe. »Das soll wohl heißen, daß Sie sich hier als die Dame des Hauses betrachten?« »Wollen Sie das etwa für sich beanspruchen?« Carola war also rasch dabei, ihr Selbstbewußtsein zurückzugewinnen. Man konnte das aus ihrem Auftreten schließen. »Gut, ich trete Ihnen diese Rolle ab«, erwiderte die Dame und entnahm ihrer Handtasche ein Päckchen Zigaretten. »Kann ich bitte einen Aschenbecher haben?« 132
Ihr Wunsch wurde erfüllt. »Danke, Fräulein Burghardt«, sagte sie. Natürlich war Carola überrascht. »Sie kennen mich?« »Ja.« »Woher?« »Von Ihrem Vater.« »Wer sind Sie?« fragte Carola zum zweitenmal. »Ihr Vater«, antwortete die Dame, »war bei mir und hat mir sein Leid geklagt. Welches Leid das war, können Sie sich denken.« Carola ärgerte sich sichtlich. Sie lief rot an. »Denken kann ich mir schon, daß er betrübt ist. Daß er bei Außenstehenden herumtratscht, hätte ich bis jetzt allerdings nicht gedacht.« »Wenn ich Sie richtig verstehe, halten Sie mich also für eine Außenstehende?« »Sicher. Sie sagen mir ja auch nicht, wer Sie sind.« »Wie wenig Ihr Vater eine Außenstehende in mir gesehen hat, beweist die Tatsache, daß er mich sogar den Brief, den Sie Ihren Eltern hinterlassen haben, lesen ließ.« »Wie geschmacklos!« »Geschmacklos finden Sie das? Ein Ausdruck der Etikette, nicht wahr? Haben Sie sich eigentlich schon einmal in die Verfassung Ihres Vaters hineingedacht? Oder in die Ihrer Mutter?« »Lassen Sie meine Mutter aus dem Spiel!« stieß Carola sichtlich betroffen hervor. »Nein, das tue ich nicht«, sagte die Dame unerbittlich. »Stellen Sie sich vor, in die Ehe Ihrer Eltern hätte sich eines Tages ein junges Mädchen hineingedrängt. Ihre Mutter, alt, reizlos, verbraucht …« »Ich verbiete Ihnen, so von meiner Mutter zu sprechen! Sie ist weder reizlos noch verbraucht!« fauchte Carola. »Sie kann sich je133
derzeit mit Ihnen messen!« »Aber nicht mehr mit Ihnen –?« Vorübergehend entstand betroffene Stille. Ein Nagel war auf den Kopf getroffen worden. Der Triumph der Jugend war angesprochen worden, gegen den in diesem Zusammenhang auch und gerade von Gertrud Burghardts eigener Tochter nichts vorgebracht werden konnte. Die Unbekannte ließ nicht locker. Sie war eine reife Schönheit, und es stimmte nicht, daß sich Carolas Mutter mit ihr hätte messen können, denn bei dieser hatten sich im Verhältnis Reife/Schönheit die Gewichte schon sehr zugunsten der Reife verschoben. Daß Carola das nicht gelten lassen wollte, sprach nur für sie. »Stellen Sie sich vor, sagte ich«, fuhr die Unbekannte fort, »Ihre Mutter hätte sich eines Tages in Ihrer Ehe der Konkurrenz eines jungen Mädchens ausgesetzt gesehen. Ihr Vater hätte den Verstand verloren, und Ihre Mutter wäre dadurch Gefahr gelaufen, abserviert zu werden …« »Nein, nicht von meinem Vater!« rief Carola. »Er mag andere Fehler zur Genüge haben – aber bestimmt nicht den!« »Jedenfalls hätte er – Sie sollen sich das ja nur vorstellen – beruflich ohne weiteres Gelegenheit gehabt, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen, sagen wir: ans Meer, und zu warten, bis ihm seine Lolita nachgefahren käme.« Die Dame legte eine kurze Pause ein, in der Hoffnung, der Name Lolita, den sie genannt hatte, würde bei Carola seine Wirkung nicht verfehlen: Lolita, das minderjährige Mädchen, ein Kind fast noch, die Titelfigur des berühmten Romans von Nabokov, der Inbegriff des Nymphchens, dem ein alternder Mann verfällt. Carola verriet aber mit keiner Wimper, daß sie das Buch kannte. Etwas anderes hatte angefangen, in ihr zu bohren: eine gewisse Parallelität. Die Dame zündete sich eine zweite Zigarette an. 134
»Ihr Vater, sagten Sie«, fuhr sie dann fort, »würde das nicht tun?« »Nein.« »Aber wenn er's dennoch täte, was würden Sie dann von ihm halten?« Carola wollte auf diese Frage nicht antworten. »Oder was würden Sie von einem Mädchen halten, dem Ihre Mutter ihre Abdankung zuzuschreiben hätte? Sie lieben doch Ihre Mutter?« »Worauf«, entgegnete nun Carola, »wollen Sie eigentlich hinaus? Wer sind Sie? Ich will das jetzt endlich wissen.« »Denken Sie mal nach, dann kommen Sie von selbst darauf. Sie sind doch ein hochintelligentes Mädchen. Ich kann das beurteilen, ich war früher Gymnasiallehrerin.« Zögernd erwiderte Carola: »Wenn ich nachdenke … könnte ich zu dem verrückten Schluß kommen … daß Sie …« Sie verstummte. »Daß ich was?« fragte die Dame. »Daß Sie … Detlev Padenbergs Frau sind.« Carola starrte, innerlich bebend, die Dame an, von deren Antwort ihr Leben abhing. Die Dame zog zweimal an ihrer Zigarette, ehe sie erwiderte: »Dieser Schluß schiene Ihnen verrückt, sagen Sie?« »Ja.« »Warum?« »Weil ich weiß, daß Detlev Padenberg nicht verheiratet ist.« Wieder ein Zug aus der Zigarette. »Von wem wissen Sie das?« »Von ihm.« »Hat er Ihnen das gesagt, daß er nicht verheiratet ist?« »Ja, natürlich hat er das.« »Ausdrücklich?« »Was heißt ausdrücklich? Ausdrücklich nicht. Das ist doch auch 135
gar nicht notwendig, wenn einer nicht verheiratet ist.« »Wenn er's aber ist?« Carola war längst totenblaß geworden. »Ist er's denn?« schrie sie aus wunder Seele. »Säße ich denn sonst hier?« lautete die Antwort, von der Carola vernichtet wurde. Sie preßte die Fäuste an den Mund. Ich muß schreien, dachte sie, ich muß laut und gellend schreien. Aber sie blieb stumm. Die lügt, dachte sie. Aber sie wußte, daß die Frau vor ihr nicht gelogen hatte. Warum säße sie sonst hier? Detlev, dachte sie, ich verstehe das nicht, warum hast du das getan? Ich verstehe das nicht. Du Schwein, dachte sie. Und sprang auf, stürzte zur Tür und rannte hinaus ins Freie, ungeachtet des Regens, den ihr der Sturm ins Gesicht peitschte. Sie stolperte vorbei an dem hübschen Zweitwagen, mit dem Yvonne Padenberg gekommen war. Er trug eine Flensburger Nummer. Auch darin sah Carola noch einmal eine Bestätigung dafür, daß man mit ihr während der letzten schrecklichen Viertelstunde in der Kate nicht mit falschen Karten gespielt hatte. Jens Kosten rief von seinem Hotelzimmer in St. Peter die Reederei Burghardt in Hamburg an. Er wollte den Chef sprechen. Herr Burghardt, erklärte man ihm, sei nicht in der Firma. Seine gesundheitliche Verfassung erlaube dies nicht. »Ist er krank?« fragte Jens fast freudig. Er sah den Reeder schon ans Bett gefesselt, also zur Passivität verurteilt. »Ja«, bestätigte der Direktionsassistent. 136
Krank im körperlichen Sinne war Paul Burghardt jedoch nicht. Die Geschichte mit seiner Tochter hatte ihn seelisch niedergeworfen. Für Geschäfte brachte er in diesen Tagen kein Interesse auf. Jens Kosten erreichte ihn schließlich unter der privaten Nummer. »Herr Burghardt«, begann er, »ich wünsche Ihnen gute Besserung.« »Was?« »Ich wünsche Ihnen gute Besserung, Sie sind doch krank?« »Jens, was redest du für einen Stuß, wer sagt das denn?« »Ich habe in Ihrer Firma angerufen.« »Ach, diese Idioten! Wo bist du eigentlich?« »In St. Peter.« »In welchem St. Peter? St. Peter gibt's 'ne ganze Menge. Eines zum Beispiel bei Kössen in Tirol. St. Peter gibt's wie Sand am Meer.« Das war das Stichwort für Jens. »In St. Peter am Meer«, erklärte er. »Was? An welchem Meer? Jens, mach mich nicht verrückt! Ich frage dich, wo du bist, weil du doch Carola nachgefahren bist. Hast du sie gefunden?« »Ja.« »Herrlich! Und den Ganoven, der ihr den Kopf verdreht hat, auch?« »Ja.« »Wo ist er? Ich habe dir gesagt, was ich mit dem mache.« »Darum geht's ja, Herr Burghardt. Sie müssen ihn in Ruhe lassen. Ich rufe Sie sogar in seinem Auftrag an, er steht auf unserer Seite. Er tut alles, damit Ihnen Carola bald wiedergegeben wird. Sie dürfen ihm nur nicht dabei in die Quere kommen. Sie müssen deshalb in Hamburg bleiben.« »Du hast dich von dem hoffentlich nicht einseifen lassen, Junge?« »Nein, bestimmt nicht.« 137
»Ich habe das jetzt satt, alle wollt ihr, daß ich in Hamburg bleibe. Die Frau von dem auch.« »Welche Frau?« »Die von dem.« »Von Padenberg?« »Ja.« »Ist der … verheiratet?« »Und wie! Mit einer Superfrau! Ich habe mit ihr gesprochen. Nach der kann er sich die Finger lecken. Aber was macht er?« Burghardt hustete vor Aufregung. »Also los, sag mir, wo er ist, damit ich ihn mir vorknöpfen kann.« Die Antwort blieb aus. Jens war so perplex, daß ihm wie von selbst die Hand mit dem Hörer herabgesunken war und er auflegte. Mit offenem Mund starrte er auf den Apparat. So stand er fast eine Ewigkeit da. Endlich raffte er sich auf, holte Mantel und Mütze aus dem Schrank und steckte den Zündschlüssel in die Tasche. Sein einziger Gedanke war: Ich muß so rasch wie möglich nach Süderhöft.
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vonne Padenberg schlüpfte, nachdem Carola fortgerannt war, in eine neue Rolle. Sie begann Ordnung zu schaffen in der Hütte. Daß dies notwendig war, stand unbestreitbar fest. Yvonne suchte sich Besen und Schaufel und fegte die Böden der drei Räume. Im Ofen entfachte sie ein prasselndes Feuer. Sie räumte lächelnd ein Paar Socken mit Löchern weg. Über den rohen Holztisch deckte sie eine Tischdecke aus Leinen, die sie aus ihrer Reisetasche holte und 138
dafür die durchlöcherten Socken hineinsteckte. Interessiert besah sie sich zwischendurch die herumliegenden neuen Zeichnungen und Pläne und legte sie zusammen. Ob sie damit dem, der sie angefertigt hatte, eine Freude bereitet hatte, mußte sich erst noch herausstellen. Nicht wenige Männer werden gerade von diesem spezifischen Drang der Frauen, Ordnung zu schaffen, an den Rand von Nervenzusammenbrüchen gebracht. Als Yvonne mit dem Putzen und Aufräumen fertig war, setzte sie sich an den Ofen und begann eine Handarbeit, nahm den Anruf eines Bauführers entgegen und notierte eine Durchsage der Oberbauleitung in Flensburg. Später machte sie sich Kaffee, aß aber nichts dazu, da sie streng auf ihre Linie achtete. Bei dem Angebot an Speisen, das vorhanden war, fiel ihr das Fasten nicht schwer. Ab ein Uhr mittags sah sie alle fünf Minuten auf die Uhr. Detlev war nach Jevenstedt gefahren. Wenn er sich dort nicht lange aufgehalten hat, muß er bald kommen, sagte sie sich. Woher wußte sie, daß er nach Jevenstedt gefahren war? Sie hatte keine Angst vor der bevorstehenden Aussprache. Draußen knirschten Schritte im Sand. Plötzlich hatte sich der Sturm gelegt. Als hätte er nur Atem geholt, setzte er kurz darauf mit der alten Wucht wieder ein. Yvonne Padenberg erhob sich von ihrem Stuhl, füllte eine Tasse mit Nescafe und stellte daneben einen Teller mit Gebäck, das sie ebenfalls mitgebracht hatte. Dann nahm sie wieder Platz. Detlev betrat die Kate. Er war keineswegs überrascht von Yvonnes Anwesenheit, da er draußen schon ihren Wagen gesehen hatte. Mit Auseinandersetzungen mußte er dennoch rechnen, bestand für ihn ja auch Grund zu der Annahme, daß Carola ebenfalls gegenwärtig war. Am Tisch saß aber nur Yvonne, die ihm lächelnd entgegenblickte. Hatte sie Carola gar nicht angetroffen? 139
War Carola, trotz Verbot, vorher aus der Hütte verschwunden? Hatte sie diese verlassen? War sie zur Witwe Fringold hinübergelaufen? »Guten Tag, Detlev«, begann Yvonne. »Tag, Yvonne. Was machst du hier? Du hättest dich ansagen müssen. Ich war in Jevenstedt.« »Ich weiß.« »Was weißt du?« »Daß du in Jevenstedt warst, und zwar vergeblich, das weiß ich auch.« »Woher weißt du das?« »Weil ich dich hingeschickt habe.« »Du warst das!« Detlev setzte sich vor Überraschung hin. »Ja, ich habe den Text am Telefon von einer Freundin sprechen lassen, die du bis heute nicht kennst. Für meine Freundinnen interessierst du dich ohnehin nicht sonderlich.« »Und warum der Blödsinn, wenn ich fragen darf?« »Ich mußte mir hier für ein paar Stunden freie Hand schaffen.« »Ich wäre nicht überrascht, wenn du mir nun noch sagen würdest, daß du auch hinter den anonymen Anrufen, mit denen ich belästigt wurde, gesteckt hast.« »Erraten, die habe ich sogar selbst inszeniert.« »Und warum, wenn ich auch das fragen darf?« »Um die beste Zeit, hierherzukommen, herauszufinden. Du solltest nicht hier sein; ich wollte aber auch vermeiden, von gähnender Leere empfangen zu werden. Verstehst du, was ich meine?« Als er schwieg, sagte sie ironisch: »Man hat doch gern eine Ansprache.« »Soweit ich mich erinnere, wurde ich bei deinen Anrufen zweimal recht ausfallend. Muß ich mich dafür entschuldigen?« »Weil du gesagt hast, was ich dich kann, sogar kreuzweise? Nein, mein Lieber. Ich hoffe nur, daß du die Einladung jetzt nicht noch 140
einmal wiederholst, nachdem du weißt, an wen sie gegangen ist.« Detlev stopfte sich eine Pfeife. Das erinnerte Yvonne an ihr Zigarettenpäckchen. Als sich die Rauchwolken der beiden über dem Tisch vereinigten, fragte Yvonne: »Hat der Nachtisch geschmeckt?« »Welcher Nachtisch?« »Gestern abend die Ananas. Ich hörte durchs Telefon, daß du gefragt wurdest, ob du Lust darauf hättest.« Detlev entschloß sich, dem Katz-und-Maus-Spiel ein Ende zu bereiten. Er nahm die Pfeife aus dem Mund. »Yvonne, sag's schon, du willst dich scheiden lassen.« »Ich?« »Etwa nicht?« fragte er mit ungläubiger und dennoch etwas hoffnungsvoller Miene. »Nein.« »Wann bist du hier angekommen?« »Gegen zehn Uhr vormittags.« »Na also, dann wurdest du ja wohl nicht von, wie du sagst, gähnender Leere empfangen?« »Nein.« »Und du willst dich trotzdem nicht scheiden lassen?« »Nein. Du?« »Ich doch nicht! Grund hättest du allerdings!« »Dein Grund wäre«, antwortete sie mit größter Selbstüberwindung, »dieses junge, unglaublich hübsche Mädchen. Dieser Grund würde vielen Männern ausreichen. Erwarte aber nicht von mir, daß ich sage, ich würde dich sogar verstehen.« Er blickte sie schuldbewußt an. »Yvonne, mach mich nicht fertig, du bist großartig, ich verdiene dich nicht. Du bist hier, Carola ist weg, du hast offenbar gesiegt. Was hat sie denn gesagt?« Ehe Yvonne antworten konnte, fragte er sie noch: »Weißt du überhaupt, daß sie Carola heißt?« 141
»Carola Burghardt, ja.« »Hat sie sich dir vorgestellt?« »Nein, das wußte ich schon vorher.« »Von wem?« »Ihr Vater war bei mir.« »Ihr Vater? Bei dir?« »Das scheint dich genauso zu überraschen wie Carola.« »Natürlich. Was wollte er? Wie kam er überhaupt zu dir?« »Detlev«, sagte Yvonne, »du siehst, ich habe dir noch manches zu erzählen. Du mir aber auch, ich glaube sogar, noch viel, viel mehr. Ich schlage vor, wir überstürzen nichts. Es muß sich noch einiges setzen in jedem von uns, meinst du nicht auch?« Er seufzte. »Yvonne, ich kann dir nur sagen, daß ich dieses Abenteuer nicht gesucht habe. Nein«, unterbrach er sich, »Abenteuer ist nicht der richtige Ausdruck, es war mehr, ich gebe das zu.« »Dein Kaffee ist sicher schon kalt, Detlev. Du hast ihn noch nicht angerührt. Auch die Plätzchen nicht.« »Ich habe in Jevenstedt gefrühstückt, danke.« »Wie lange dauern die Arbeiten hier noch?« »Einige Wochen. Auf den Tag genau kann man das nicht sagen.« »Ich überlege, ob ich diese Zeit hier bei dir bleiben soll.« »Yvonne, du bist nicht bei Trost, sieh dich um, diese Primitivität hier …« »Weißt du, was ich mir noch überlegt habe?« »Was?« »Schikurse mitzumachen. Gibt's da so eine Art Fernunterricht, den man vorab absolvieren kann?« »Yvonne«, meinte er lachend. »Und da auch diese Stricke noch reißen könnten, mußt du mir zusätzlich eines versprechen …« »Was?« 142
»Daß du dieser modernen Unsitte der Männer, keinen Ehering zu tragen, abschwörst.« »Einverstanden«, sagte er. »Aber ich weiß gar nicht mehr, wo der meine zu Hause liegt.« Yvonne lächelte und griff in ihre Handtasche. »Ich habe ihn dir mitgebracht.« Er steckte sich den Ring an, beziehungsweise wollte es tun, denn der Versuch schlug fehl. »Zu klein«, sagte er grinsend. »Er muß eingegangen sein.« »Oder du bist auseinandergegangen.« »Ich zu fett?!« protestierte er. »Sag das nicht noch einmal. Sieh mich an.« Er strich sich mit der Hand über den Bauch, der wirklich keiner war. »Den Ring«, erklärte sie lachend, »werden wir weiten lassen. Gib ihn her.« »Kauf doch einen neuen.« »Unter keinen Umständen. Das sähe dir ähnlich, du Banause. Was hätte denn ein solches Stück mit unserer Trauung zu tun? Ihr Männer seid doch schrecklich. Du brächtest es glatt fertig und …« Die Tür wurde aufgestoßen, und die alte Witwe Fringold stolperte in ramponiertem Zustand herein. Abgesehen von den Spuren des draußen herrschenden Unwetters, die sich an ihr zeigten, schien sie sich auch seelisch in einer schlimmen Verfassung zu befinden. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihre Lippen zitterten, sie war blaß. Sie sah nur Padenberg an, die Frau auf der anderen Seite des Tisches beachtete sie nicht. Sie brachte einen Brief zum Vorschein und streckte ihn Padenberg hin. »Hier«, sagte sie mit einer Stimme, die ihr kaum mehr gehorchen wollte. Gegrüßt hatte sie nicht, auch nicht angeklopft. Sie schien derart außer Rand und Band zu sein, daß sie beides vergessen hatte. 143
»Was ist das?« fragte Padenberg. »Vom Fräulein … an Sie.« Detlev betrachtete den Umschlag, drehte ihn um. Eine Anschrift war nicht zu entdecken. »Wieso an mich?« fragte er. »Ist das sicher?« Die Witwe nickte heftig. »Sie hat es mir zugerufen«, sagte sie dabei. »Zugerufen?« »Ehe sie davonlief.« »Wohin?« »Ich glaube … zum Deich.« Es war nicht leicht, die alte, völlig konsternierte Frau dazu zu bringen, im Zusammenhang zu berichten. Nach einiger Zeit stand jedoch fest, daß Carola am Vormittag weinend bei der Fringold aufgetaucht war und sich in ihr Zimmerchen zurückgezogen hatte. Zu ihr vorzudringen war unmöglich gewesen, da sie die Tür abgeschlossen hatte. Nach stundenlangem Weinen, zu vernehmen durch die Tür, war es endlich still geworden. Wahrscheinlich hatte sie in der Zeit den Brief geschrieben. Und dann war das Ende gekommen. Carola hatte plötzlich die Tür aufgerissen und war herausgetreten, leichenblaß, mit dem Brief in der Hand. »Für Herrn Padenberg«, hatte sie gesagt und den Brief auf den Tisch gelegt. Dann war sie plötzlich aus der Hütte gestürzt. Niemand hatte sie aufhalten können, auch Per nicht. Der Junge wäre normalerweise um diese Zeit ohnehin nicht zu Hause gewesen, aber bei diesem Wetter war an Fischfang auf dem Meer nicht zu denken, deshalb hatte Per heute in seinem Winkel gesessen und Netze geflickt. »Was macht er jetzt?« fragte Padenberg aufgeregt. »Er ist draußen … und sucht sie«, antwortete die alte Fringold. Padenberg sprang, seine Frau anblickend, auf. »Wir müssen auch raus!« stieß er hervor. 144
»Lies doch erst mal den Brief«, meinte Yvonne. Der Umschlag lag immer noch ungeöffnet auf dem Tisch. Detlev riß ihn auf und holte den Brief heraus. Er setzte sich hin und begann zu lesen: Detlev! Was hast du getan? Warum? Mein Herz ist leer, meine Augen sind es auch, ich kann nicht mehr weinen. Ich habe Dich unendlich geliebt, ich glaubte seit heute, Dich hassen zu können, wenigstens zu verachten, und weiß nun, daß mir beides nicht gelungen ist. Ich muß Dich nach wie vor lieben – aber nicht mehr lange, und darum bin ich froh. Diese Liebe wäre mir als Last zu schwer. Du hast mich nämlich mißbraucht. Ich habe eine kurze Zeit geglaubt, daß Liebe das Schönste auf dieser Welt sei, und mußte erfahren, daß es das Schmerzlichste ist, was einem vom Schicksal zugedacht werden kann. Lebe wohl, Detlev. Ich gehe. Du solltest wissen, daß ich Dir verziehen habe. Ob Du Dir aber selbst auch jemals verzeihen kannst? Carola Detlev ließ das Blatt sinken, starrte darauf, schob es über den Tisch hinüber zu Yvonne, deren Erschütterung nicht lange auf sich warten ließ. Sie wischte sich über die Augen. »Detlev …«, es war mehr ein Flüstern als ein Sprechen, »… ich weiß nicht, was ich sagen soll. Dieses Mädchen …« »Yvonne, ich habe doch nicht gedacht …« »Das kann sein, aber …« »Das Ganze ist übertrieben, sieh mal …« 145
»Hast du ihren letzten Satz gelesen, du weißt, die Stelle, an der sie …« »Der Per ist doch ein kräftiger Bursche. Warum konnte er nicht …« »Der Per«, mischte sich die alte Fringold zur Verteidigung ihres Sohnes ein, »hätte Gewalt anwenden müssen, um das Mädchen zurückzuhalten. Das meinen Sie doch, Herr Padenberg?« Gepeinigt von Selbstvorwürfen, wurde Detlev ungerecht. »Jawohl, Frau Fringold! Und warum nicht mit Gewalt, verdammt noch mal?« »Aber doch nicht gegen ein so feines Fräulein. Das gehört sich nicht, Herr Padenberg.« Detlev winkte mit der Hand und erhob sich. Er sagte: »Wenn wir hier noch lange rumsitzen …« Er sprach nicht zu Ende, holte aus dem Schrank rasch wetterfestes Zeug, in das er und Yvonne schlüpften. Der Mantel für Yvonne, der ebenfalls Detlev gehörte, reichte ihr fast bis zu den Knöcheln und hatte viel zu lange Ärmel für sie. Aber was spielte das jetzt für eine Rolle! Die alte Fringold wurde nach Hause geschickt. Sie sollte dort die Stellung halten, wie Detlev zu ihr sagte. Dann liefen sie hinaus, dem Deich entgegen. Detlev hörte hinter sich Yvonnes Schritte, die als ambitionierte Tennisspielerin sportlich geübt war und über eine ausreichende Kondition verfügte, um mit Detlev mithalten zu können. Gemeinsam rannten sie den Deich entlang. Weit und breit war kein Mensch zu sehen. Detlev hielt tief atmend im Laufen inne und blickte sich um. Er schaute in Yvonnes gerötetes und angstvolles Gesicht und schwieg. Beide wußten: Wenn Carola ins Meer gegangen ist, wird auch unser Leben unter dieser Last zerbrechen. »Du kennst dich hier aus«, sagte Yvonne. »Wohin könnte sie gegangen sein?« 146
»Überallhin, das ist ja das Vertrackte. Verdammte Sch…« Wer hätte in diesem Augenblick nicht Verständnis gehabt für Detlevs Ausruf! Yvonne jedenfalls zuckte keineswegs zusammen. Sie liefen weiter den Deich entlang. In Abständen blieb Detlev immer wieder stehen und spähte durch den Dunst. Wenigstens Per müßte doch hier herumgeistern, dachte er, und im selben Augenblick schien es, als ob Yvonne seinen Gedanken hätte lesen können, denn sie sagte: »Dieser Per, wo mag der nur sein?« »Das frage ich mich auch«, antwortete Detlev. »Wer ist das eigentlich?« »Der Sohn der alten Fringold. Ein Nachzügler.« »Dann kann die doch noch gar nicht so alt sein, wie sie aussieht.« »Aussehen tun hier alle so. Was glaubst du, wie hart das Leben für die ist!« »Und Pers Vater, wo ist der?« »Schon vor Jahren ertrunken. Der Junge mußte praktisch von Kindesbeinen an seiner Mutter unter die Arme greifen.« Detlev wollte weitergehen, aber Yvonne hielt ihn noch einmal am Arm fest. »Detlev, ich mache mir solche Vorwürfe …« »Weshalb?« »Ich hätte mich anders verhalten sollen.« »Wann?« »Als ich mit dem Mädchen sprach. Das Ganze hier ist doch auf mich zurückzuführen.« »Sicher, aber …« »Siehst du, du sagst es auch«, fiel sie ihm ins Wort. »Jedes Wort von mir war verkehrt.« Tränen traten in ihre Augen. Tränen aber konnte Detlev jetzt am allerwenigsten brauchen. »So habe ich das nicht gemeint«, sagte er und fügte barsch hinzu. »Du konntest doch nicht wissen, daß Carola so reagiert. Mach dich 147
also nicht verrückt. Los, komm jetzt, wir müssen weiter.« Der aufgeweichte Boden holte ihnen die Kraft aus den Gliedern. Der brausende Wind, der mal direkt von vorn, mal schräg von der Seite blies, tat ein übriges. Die Intervalle zwischen Laufen und Stehenbleiben verschoben sich. Die Laufstrecken wurden kürzer, die Pausen des Ausschnaufens länger. Da … war da nicht ein Kleid? Ganz weit hinten … ein helles Kleid … ein Fleck oben auf dem Rand des Deiches? Der Wind blies es hoch…oder war es etwas anderes, eine Wetterfahne? »Siehst du das, Yvonne?« »Was?« »Dort hinten … geradeaus auf dem Deich.« »Nein, ich sehe nichts.« »Weit hinten …« »Doch, ja … etwas Helles.« »Ein Kleid? Kann das ein Kleid sein?« »Schon möglich. Es bewegt sich. Das Mädchen hatte ein gelbes Kleid an.« Detlev legte die Hände trichterförmig an den Mund. »Carola!« brüllte er in den Dunst hinein. »Carooooola!« Nach zwei, drei Sekunden sagte Yvonne aufgeregt: »Es bewegt sich rascher – aber von uns weg.« Und wieder Detlev: »Caroooola … waaaarte!« Carola wartete aber nicht. »Caroooola …« »Waaaarte …« Das flatternde Kleid verschwand plötzlich von der Deichkuppe. Detlev zog Yvonne an der Hand mit sich fort. »Sie ist es«, keuchte er. »Sie hat uns gehört. Schnell, ehe sie …« Den Rest riß ihm eine Sturmbö von den Lippen. 148
Es war ein Wettlauf mit dem Tod, das wußten die beiden. Die Lungen drohten ihnen zu bersten. Yvonnes Kondition war längst aufgebraucht, und auch Detlev dachte vor jedem Schritt, den er sich abrang, daß es für längere Zeit der letzte sein werde. Und dennoch erreichten die beiden verhältnismäßig rasch die Stelle, wo sie das Kleid gesehen zu haben glaubten. Es kommt eben immer auf die Situation an, ein Beweis dafür, daß der menschlichen Leistungsfähigkeit schier keine Grenzen gesetzt sind. Die Stelle war aber leer. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. Detlev fing an zu fluchen. Yvonne bückte sich, um sich erschöpft zu Boden sinken zu lassen. Da sah sie einige sehr deutliche Fußabdrücke, die sich der feuchte Sand quasi nicht hatte nehmen lassen. Detlev war am Fluchen. »Kreuzdonnerwetter, wir müssen uns getäuscht haben, Sakra …« »Nein«, unterbrach ihn Yvonne, »da, sieh dir das an …« Sie wies auf die Abdrücke im Sand. Detlev besah sich die Spuren. »Sie stand hier und ist weggelaufen«, erklärte Yvonne. »Carooola!« schrie Detlev wieder in den Dunst hinein. »Sei vernüüünftig, komm heeer!« Carola war aber nicht vernünftig und kam nicht. »Mach keine Dummheiten, Carola!« Detlevs Stimme zeigte bereits Abnutzungserscheinungen, sie wurde schwächer. »Die muß noch hier in der Nähe sein«, meinte Yvonne. »Sie hält sich irgendwo versteckt. Sie kann in der kurzen Zeit nicht weit gekommen sein.« Groß stellte sich Detlev auf die Deichkuppe. Seine Haare flatterten im Wind, der Mantel schlug ihm um die Beine. Sie sieht mich, dachte er, während er über das Watt blickte und mit den Augen den Deich und die Marsch absuchte. Sie sieht mich, und solange 149
ich in ihrer Nähe bin, wird sie nicht ins Meer gehen. Das weiß ich. Deshalb bleibe ich hier stehen, den ganzen Tag, wenn es sein muß, und nachts lasse ich Scheinwerfer aufstellen, bis sie vernünftig geworden ist. »Was machen wir?« fragte Yvonne. »Ich rühre mich hier nicht von der Stelle«, entgegnete Detlev. »Und ich?« »Geh zurück, steig in deinen Wagen und fahr nach Hause.« »Nein.« »Du kannst hier nichts mehr tun.« »Ich kann genausoviel tun wie du – oder genausowenig.« »Ich bleibe hier stehen.« »Ich auch«, sagte sie, hängte sich bei ihm ein und setzte ihre Haare ebenfalls dem Wind aus. Da diese viel länger als seine waren, flatterten sie wie eine Fahne. Stumm und lange standen Detlev und Yvonne Padenberg so auf dem Deich und starrten in den Dunst. Und irgendwo in einem Winkel hockte ein Mädchen, zerbiß vor Schmerz und Trotz ihr Taschentuch und suchte nach einer Möglichkeit, Detlev Padenberg in eine Schuld zu verstricken, von der er sich nie mehr würde befreien können. Und das Meer gurgelte heran … das Meer, welches dem Mädchen Carola das große Vergessen bringen sollte.
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ens Kosten näherte sich Padenbergs Hütte. Schon von weitem sah er einen Wagen der gehobenen Mittelklasse mit Flensburger 150
Nummer davor stehen. »Besuch«, murmelte er vor sich hin. »Das paßt mir gar nicht in den Kram.« Er kam schließlich, um mit Detlev Padenberg ein Hühnchen zu rupfen. Seine Wut auf den Architekten, von dem er sich zu sehr enttäuscht fühlte, war groß. In seinen Augen hatte der Kerl eindeutig Mißbrauch mit Carola getrieben. Doch dann fand Jens die Kate leer vor. Er betrat das Haus, nachdem er einige Male an die Tür geklopft, dann getrommelt hatte, ohne zum Eintritt aufgefordert worden zu sein. Es lagen untrügliche Anzeichen vor, daß in der Hütte noch kurz vorher Leben geherrscht hatte. Auf dem Tisch stand Kaffeegeschirr, eine Tasse war voll, auf dem Teller lag Gebäck. Die Schranktür stand offen. Auf dem Tisch lagen auch noch eine Damenhandtasche und ein Brief ohne Anschrift. Die Handtasche war geschlossen, der Brief lag offen herum. »Niemand da?« rief Jens. Er schaute auch in die Nebenräume, um sich zu vergewissern, daß er allein war. Dann zögerte er nicht, die Handtasche zu öffnen. Er wollte sich ja nichts aneignen, nur hineinschauen. Das Übliche: ein Taschentuch, Lippenstift, Puder, Zigaretten, Feuerzeug, eine Börse, noch einige Kleinigkeiten; ungewöhnlich war nur ein Ehering, der sich lose in der Tasche befand. Nun der Brief. Auch diesmal war der innere Kampf zwischen dem Anstand des jungen Mannes und seiner Neugierde kurz. Letztere siegte. Und dann wurden Jens die Knie weich. Er sank auf einen Stuhl, las den Brief zum zweitenmal, sprang auf und stürmte aus der Hütte. Aber wohin? Instinktiv wandte er sich zum Deich, fühlte sich jedoch der Lage überhaupt nicht gewachsen. Jens war einer jener modernen verhätschelten jungen Menschen, die in der Großstadt aufgewachsen waren und solchen Situationen völlig hilflos gegenüber151
standen. Kopflos stolperte er herum, rannte kreuz und quer und dachte nur immer: Großer, allmächtiger Gott, laß das bitte nicht zu … Dabei hatte er schon mit 14 Jahren nicht mehr am Religionsunterricht teilgenommen und sich auf seine atheistischen Erkenntnisse manches zugute gehalten. Und gerade er, der den Kopf hier völlig verloren hatte, sollte Carola finden. Das geht oft so im Leben. Jens bog um den Holzstapel an einer verlassenen Bauhütte in der Nähe des Deichs herum, als er einen halberstickten, erschreckten Ausruf hörte und aufblickte. Vor ihm stand Carola. Eng an die Holzstämme gedrückt, als verstecke sie sich vor jemandem, die Haare strähnig und unordentlich am Kopf klebend, das Kleid beschmutzt und durchnäßt, so stand sie vor ihm und sah ihn aus erschrockenen Augen an. Jens Kosten brachte in diesem Augenblick kein Wort heraus. Er kam sich wie gelähmt vor, die Stimmbänder versagten ihm den Dienst. »Jens«, stammelte das Mädchen, »was … was machst du hier?« Er öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus. »Wo kommst du her, Jens?« »Carola …« Es klappte noch nicht ganz, er mußte einen zweiten Anlauf nehmen. »Carola, ich habe dich gesucht …« »Wie kommst du hierher, Jens?« Es durchzuckte ihn plötzlich, daß sie entsetzlich frieren mußte in ihren durchnäßten Kleidern. Er knöpfte sich rasch den Mantel auf, wobei er sagte: »Ich gebe dir den, komm, du erkältest dich ja sonst und holst dir den Tod.« Sie ließ sich den Mantel um die Schultern legen. »Du solltest auch etwas Warmes trinken, Carola«, fuhr er fort. 152
»Einen steifen Grog, schlage ich vor. Darf ich dich zum nächsten Gasthaus begleiten?« »Du hast mir immer noch nicht gesagt, wie du hierhergekommen bist, Jens.« Alles andere als die Wahrheit konnte ihm jetzt nur zum Schaden gereichen. »Ich bin dir nachgefahren, Carola«, sagte er. »Aber niemand in Hamburg wußte, wo ich bin.« »Es war nicht so schwierig, das herauszubekommen.« »Wieso nicht schwierig?« »Die erste Etappe war Flensburg …« »Flensburg? Von wem wußtest du das?« »Von dir selbst am Telefon. Erinnerst du dich nicht mehr?« Carola strich sich über die Stirn und erwiderte mit abwesendem Blick: »Nein, daran erinnere ich mich nicht mehr.« »Du nanntest mir sogar den Namen dieses …« Jens brach ab, da er erkannte, daß er dabei war, einen Riesenfehler zu machen. Doch es war schon zu spät. »Welchen Namen, Jens?« »Ist ja egal. Komm, laß uns gehen, Carola.« Er streckte die Hand aus, um sie am Arm zu fassen. Sie wich einen Schritt zurück. »Welchen Namen?« Er räusperte sich. »Es war ja nur der Vorname.« »Welcher?« »Detlev.« »Den habe ich dir genannt?« »Ja.« Der Zweifel wich nicht aus Carolas Gesicht. »Aber Flensburger, die Detlev heißen, gibt's doch viele.« »Sicher, Carola, aber nur ein Architekt in Flensburg heißt Det153
lev.« Carola überlegte. Man konnte ihr ansehen, daß sie in Gedanken nachvollzog, was Jens vermutlich unternommen hatte. »Du hast also«, sagte sie, »in Flensburg jenen Architekten ermittelt.« »Ich bin hingefahren. Ja.« »Und?« »Und habe ihn im Branchenadreßbuch gefunden.« »Wen?« »Den Padenberg«, sagte Jens, fast ein bißchen stolz auf seine Findigkeit. Carolas Reaktion holte ihn aber rasch von seinem Podest wieder herunter. »Wer gab dir das Recht dazu?« fragte sie ihn kalt. »Wo … wozu?« stammelte er. »Mir nachzuspionieren.« »Carola, das war doch kein Nachspionieren.« Er sah sie flehentlich an. »Wir hatten alle Angst um dich, ganz besonders ich. Du weißt auch, warum.« »Du willst mir sagen, daß du mich … liebst?« »Ja, unendlich«, erwiderte Jens leise. »Immer noch?« »Immer und ewig, Carola.« Das klang so schön und so ehrlich, daß es Carola, ob sie wollte oder nicht, ein bißchen warm ums Herz wurde. Ein bißchen nur, aber immerhin … »Ach Jens«, sagte sie nach einem flüchtigen leisen Lächeln, »ich verstehe dich nicht, du hast doch am eigenen Leib erfahren, daß ich dir den anderen vorgezogen habe. An deiner Stelle wäre das ein für allemal ausschlaggebend für mich.« »Für mich aber nicht.« »Jens, du bist verrückt.« 154
»Ja«, nickte er, »ich weiß, ich bin verrückt. Und es ist wohl so, daß mich das in deinen Augen erst recht erledigt.« »Nein, Jens«, erwiderte Carola. »Ich bin sogar so verrückt, daß ich dem anderen bis heute gar nicht böse sein konnte. Warum sollte er dich nicht lieben? Warum sollte dich nicht jeder lieben, der dich sieht? Das sagte ich mir, mußte ich mir sagen, aufgrund meiner eigenen Liebe … bis heute«, wiederholte er. Er tat dies mit einem gewissen Nachdruck, der Carola aufhorchen ließ. »Nur bis heute, Jens?« »Ja.« »Soll das also heißen, daß du die Nase endgültig voll hast von mir?« »Nein, nein, Carola, das soll heißen, daß ich neuerdings ganz anders denke. Ich hasse den Kerl. Wenn du willst, bringe ich ihn um für das, was er dir angetan hat.« Die Temperatur fiel wieder in Carolas Herz. Kalt wurde ihr. Was weiß der? fragte sie sich. Detlevs falsches Spiel? Meine Blamage, mehr noch: meine Schande? »Jens«, sagte sie, »ich möchte nicht, daß du dich in Schwierigkeiten bringst.« Ich wurde benützt, dachte sie, wurde benützt, in der klaren Erwartung des Augenblicks, in dem ich weggeworfen werden würde. »Er hat dir weh getan«, sagte Jens. Sie brach in Tränen aus, deren sie sich nicht erwehren konnte. »Ja, das hat er«, schluchzte sie. »Ich bringe ihn um.« Jens geriet in Fahrt. »Ich habe deinen Brief an ihn gelesen.« Carola erstarrte. »Was hast du?« »Deinen Brief gelesen. Er lag in seiner Hütte offen auf dem Tisch. 155
Carola, du hast darin das Kind nicht beim Namen genannt, aber ich weiß, was er dir angetan hat.« »Was?« »Er hat dir nicht gesagt, daß er verheiratet ist, nur das kann es gewesen sein – oder?« Ich wurde benützt und weggeworfen, dachte sie. Es ist bekannt. Der Tränenfluß stockte. »Woher weißt du das, Jens?« Sicher von seiner Frau – wie ich – dachte sie. Er war ja in Flensburg. Oder hat er sie hier getroffen? »Von deinem Vater«, sagte er. Das Herz drohte ihr stehenzubleiben. »Von …« »Wir haben miteinander telefoniert.« »Wann?« »Vor wenigen Stunden. Er wollte von mir erfahren, wo du bist, damit er herkommen könnte.« »Herkommen?« »Ich habe es ihm aber nicht verraten. Er will nämlich den Padenberg erschießen, weißt du, sagte er, und dazu brauche ich ihn nicht, dachte ich und legte auf.« Carola sagte nichts mehr. Ihr Entschluß, in den Wellen Vergessen zu suchen, der vorübergehend ins Wanken geraten war, stand nun wieder fest. Sie wollte nicht mehr leben. Detlevs Verhalten, ihr Schmerz, ihr verletzter Stolz, die Drohung des Vaters, das Entsetzen der Mutter, von der noch gar nicht gesprochen worden war, das alles war so fürchterlich, so unerträglich, daß Carola nichts mehr davon wissen wollte. Dem großen Vergessen galt erneut ihr einzige Sehnsucht. Notwendig war aber, dem lästigen Jens hier irgendwie zu entgehen, ohne sein Mißtrauen zu wecken, ihn zu überlisten. Er fing plötzlich an, sich mit Selbstvorwürfen zu überhäufen. 156
»Komm, Carola«, sagte er, »laß uns jetzt endlich gehen. Ich Idiot quatsche und quatsche hier und vergesse ganz den steifen Grog, den du brauchst. Verzeih mir.« »Einverstanden«, antwortete Carola mit einer Stimme, die schon von weit her zu kommen schien. »Ich möchte vorher nur noch einmal einen Blick auf das Meer werfen. Die Zeit der Flut ist angebrochen, weißt du. Dieses Bild vergißt man nicht, wenn das Meer zurückkommt und das Watt versinkt. Man muß aber, um das zu sehen, auf den Deich hinauf. Wartest du hier?« So dumm oder naiv war er nun auch wieder nicht. »Nein, ich komme mit, Carola.« Jenseits des Deiches gurgelte und gluckste es. »Hörst du das, Jens«, sagte Carola, »die Flut, wie sie näher und näher kommt?« Jens ging mit ihr über die Marsch, half ihr, den Deich zu erklimmen, und stand dann mit ihr oben auf der Kuppe. Im Dunst sahen sie die Umrisse der beiden Gestalten, in die bei ihrem Erscheinen plötzlich Leben kam. Die größere der Gestalten näherte sich ihnen. Carola blickte zur Seite und sah dem Schatten entgegen. Und dann – ganz plötzlich – warf sie Jens' Mantel von den Schultern und rannte, halb fallend, halb gleitend den Abhang des Deiches hinunter in Richtung Meer, der Flut entgegen. »Carola!« gellte Jens' Ruf über das Watt. »Carola!« Dann hielt es ihn nicht länger, und er rannte ebenfalls den Deich hinab, watete durch den Schlick des Wattenmeeres. Detlev Padenberg stand wie erstarrt und beobachtete stumm die Szene. Dann aber machte auch er einen Satz und kämpfte sich durch den Schlamm der fliehenden Carola entgegen. Die Priele hatten sich bereits mit Wasser gefüllt, langsam trat dieses über die Ränder und durchweichte den Schlick. Von ferne hörte man das Brausen des Meeres, und man konnte die Minuten an den Händen abzählen, bis es wieder an die Deiche donnern und die 157
drei im Watt umherirrenden Menschen verschlingen würde. Padenberg, der ein hochgewachsener Mann war, versank bei jedem Schritt knöcheltief im Schlick. Das zehrte an seinen Kräften. Mühsam kämpfte er sich vorwärts. Nicht ganz so schwer hatte es der leichtgewichtigere Jens Kosten, der auch noch wesentlich jünger und damit in physischer Hinsicht ausdauernder als Padenberg war. Er kam schneller voran und blieb Carola auf den Fersen. Sie selbst hüpfte am leichtfüßigsten über die Priele und die saugende Schlammdecke. Mit einer fast an Eleganz grenzenden Leichtigkeit überwand sie alle Tücken des Watts und rannte mit flatternden Haaren dem gewaltigen Brausen zu – dem Meer entgegen. Erschöpft hielt Padenberg inne und blieb keuchend stehen. Er begriff, daß es ihm unmöglich war, Carola einzuholen. Seine Hoffnung, daß Carola gerettet würde, gründete nur noch auf den jungen Mann, der ihr stetig folgte. Da er ihn nicht von vorne, sondern nur von hinten sah, erkannte er ihn nicht. Wer immer du bist, junger Mann, dachte er, gib nicht auf, hol sie ein, halt sie fest, bring sie zurück, du entscheidest auch über mein ferneres Leben. Mit brennenden Augen, die Lippen fest zusammengepreßt, stand Detlev Padenberg im Schlamm und erwartete das Meer. »Detlev!« Ein dünner Schrei im Brausen der Elemente – des Wassers und der Winde – erreichte ihn; er war von hinten gekommen. Yvonne Padenberg war ebenfalls den Deich heruntergeklettert und stand nun am Rande des Watts. »Detlev!« schrie sie wieder. »Zurück! Die Flut kommt! Sie ist schon da!« Detlev hörte die Schreie seiner Frau, aber er wandte sich nicht nach ihr um. Mit starrem Gesicht stand er wie angewurzelt im Schlamm und blickte der Flut entgegen. Auch Carola und Jens hörten Yvonnes Rufe. Das veränderte die Szene. Beide verhielten den Schritt, blieben stehen, Jens etwa zehn 158
Meter hinter Carola. Beide drehten sich um und sahen zwischen dem Deich und ihnen Padenbergs Gestalt, groß, unbeweglich, gegen den Dunst sich abhebend. Noch weiter hinten, am Fuß des Deiches, rannte ein Schatten verzweifelt hin und her. Nun erkannte Padenberg den jungen Medizinstudenten. Es lag ihm auf den Lippen zu rufen: Idiot, was stehst du rum? Schnapp sie dir, das ist die Gelegenheit! Starr nicht zu mir her! Aber er schwieg. Es war ihm wohl klar, daß er mit einem unbedachten Wort alles hätte verderben können. Du Schwein, dachte Jens Kosten, siehst du nun, was du angerichtet hast? Du bist schuld, und sonst keiner. Warum gibst du auf, warum gehst du nicht weiter? Die Hose voll, was? Du siehst, daß es ernst geworden ist, du Scheißkerl. Warum lassen sie mich nicht endlich in Ruhe? dachte Carola. Warum gehen sie nicht zurück? Ich will sterben – nicht sie! Aber wenn sie nicht zurückgehen, sind sie ebenfalls verloren. Für Detlev wäre das vielleicht die gerechte Strafe, was aber wäre es für Jens? »Jens«, rief sie mit unterdrückter Stimme. Dieser wandte sich von Padenberg ab und ihr wieder zu. »Jens, was willst du? Hau ab!« »Nein, Carola.« Er sagte es ganz ruhig, aber felsenfest entschlossen. Tödlich entschlossen. »Jens, ich mag nicht mehr, und du kannst das nicht verhindern.« Er machte einen Schritt auf sie zu, den gleichen Schritt tat sie in Richtung Meer. Der Abstand zwischen ihnen blieb der alte. »Carola«, sagte er so ruhig wie vorher, »laß jetzt den Quatsch, es ist genug.« Wenn er Zeit und Gelegenheit gehabt hätte, sich selbst zu beobachten, hätte er sich selbst gewundert. »Jens, du bist wahnsinnig.« »Das wissen wir doch schon, Carola.« 159
»Was wissen wir schon?« »Daß ich wahnsinnig bin.« »Wieso?« »Vor zehn Minuten stellten wir fest, daß ich verrückt bin – und jetzt bin ich wahnsinnig. Ist halt noch ein Stückchen dazugekommen.« »Jens, wenn du nicht auf der Stelle von hier verschwindest, bist du's wirklich.« »Ich weiche keinen Millimeter von hier, Carola.« Er versuchte es wieder mit einem Schritt auf sie zu. Das Resultat war das gleiche wie vorher. »Detlev!« rief Yvonne Padenberg inzwischen immer wieder in wachsender Verzweiflung. »Komm zurück, Detlev!« Nach Carola ruft sie nicht, dachte Jens verbittert. Die ist ihr völlig gleichgültig. Und ich auch. Das Wasser stieg und stieg. Schon schwappte es ihnen um die Waden. »Jens«, begann Carola noch einmal, »geh zurück.« »Nein, Carola.« »Ich verlange von dir, daß du es tust.« »Nein.« »Dann flehe ich dich an. Du konntest mir doch nie eine Bitte abschlagen.« »Das ist lange her, Carola. Diese Bitte kann ich dir jetzt schon abschlagen.« »Jens«, rief sie, »begreifst du nicht, ich will sterben!« »Es sieht so aus, ja.« »Aber allein! Nicht zusammen mit dir!« »Das allein mußt du dir aus dem Kopf schlagen, Carola«, sagte er so ruhig, aber auch so entschlossen wie bereits die ganze Zeit. Mit einemmal war der Spieß umgedreht. Ein geniales Resultat. Jens hatte es erreicht, ohne sich darüber im klaren zu sein, was er tat. Ein 160
psychologischer Umkehrschluß war vollzogen worden. Von nun an zog Carola mit jedem Schritt, den sie zum Meer hin tat, Jens mit sich in den Tod; nicht mehr Jens stand als derjenige da, welcher sie in den Tod trieb, wenn er sich von der Stelle rührte. Und das Wasser stieg weiter. Bald leckte es ihnen an den Knien. »Carola«, meinte Jens, »es wird Zeit: Entweder du kehrst um, oder wir bleiben beide hier.« »Worum ich dich bitte, habe ich dir gesagt, Jens.« »Und ich habe dir gesagt, was überhaupt nicht in Frage kommt, Carola.« »Jens, du …« »Erspar dir jedes weitere Wort, Carola. Ich sehe, dein Entschluß steht fest, der meine auch, laß ihn uns gemeinsam ausführen. Ich schlage vor, du bleibst stehen, ich komme zu dir, und wir gehen miteinander weiter, Hand in Hand …« »Warum du?« rief schluchzend Carola, der die Tränen in die Augen schossen. Jens setzte sich in Bewegung, wobei er sagte: »Ich werde dich nicht täuschen, ich will dich nicht überlisten. Mein Wort gilt. Ich werde mit dir weitergehen bis zum Ende, Carola.« »Warum du, Jens?« schluchzte sie noch einmal. »Weil ich ohne dich nicht leben will, Carola.« Sie blieb stehen. Fassungslos blickte sie ihm entgegen, irgend etwas wollte sich in ihrem Gesicht abspielen, hatte aber nicht die nötige Zeit dazu, denn zehn Meter sind eine kurze Strecke, und Jens legte sie zügig zurück. Mit einem Lächeln, aus dem jede Angst gewichen war, erreichte er Carola, durch deren Körper ein Zittern lief. »Komm«, sagte er, »gib mir deine Hand …« Und wenn sie etwa noch immer damit gerechnet hatte, daß er kehrtmachen und sich mit ihr dem Deich zuwenden würde, befand sie sich im Irrtum. Sein Blick blieb hinaus auf das Meer gerichtet. 161
»Jens«, kam es tonlos von Carolas Lippen. Dann fühlte sie plötzlich, wie der Boden unter ihren Füßen nachgab. Die Knie knickten ihr ein, ihr Körper wankte, in ihren Ohren dröhnte und brauste es. Hilfesuchend griff sie nach irgend etwas … »Jens!« wollte sie rufen; es wurde aber nur noch ein erstickter Laut. Ein ungeheurer Schwindel überkam sie, und noch im Fallen fühlte sie, wie sie emporgerissen wurde, glaubte aber dennoch, sie fiele und fiele …, bis es dunkel um sie wurde. Jens hielt die Ohnmächtige in seinen Armen. Wohin mit ihr? Er war wahrhaftig ein Mensch, der sich das fragte. Band ihn sein Versprechen noch? Oder rief ihn eine andere Pflicht? »Mann«, drang eine rauhe Stimme in sein Ohr, »worauf warten Sie? Raus aus dem Watt, es ist allerhöchste Zeit!« Detlev Padenberg. Jens schaute sich um, sah den Architekten, der ihm winkte. Der Schatten beim Deich bewegte sich nicht mehr. Yvonne starrte gebannt auf die Szene, die sich ihr darbot. Jens warf sich den Körper der Ohnmächtigen über die Schulter. Keuchend unter der Last, watete er im Schlamm zurück zum Deich, nun wieder beseelt von dem Willen, den Wettlauf mit der Flut zur rettenden Küste zu gewinnen. »Schneller!« rief Padenberg ihm zu. Die Füße im saugenden, quatschenden Schlick wurden ihm zentnerschwer. Das Rollen und Donnern des Meeres kam näher. »Schneller, verdammt noch mal! Nicht einschlafen!« Ich trete ihn in den Arsch, wenn ich ihn erreiche, dachte Jens, der vor Überanstrengung schon abwechselnd schwarze und rote Ringe vor den Augen sah. Es war aber so, daß dem provozierenden Verhalten Padenbergs ein durchaus ehrenwertes Motiv zugrunde lag. Aus Jens mußte das Letzte herausgeholt werden. Und das war nur 162
so zu erreichen. Detlev konnte die Situation klarer überblicken als Jens. Normalerweise gab es für Jens – und damit auch für Carola – keine Rettung mehr, die beiden waren verloren. Alle Zurufe wären deshalb an sich sinnlos gewesen. Detlev hatte aber etwas gesehen, das dem unter Carolas Last gebeugten Jens bis zu diesem Moment noch entgangen war. In der Nähe des Deichs, von links kommend, war ein Punkt aufgetaucht, der rasch größer wurde. Was oder wer mochte sich in diesen letzten Minuten noch im Watt befinden? Detlev fand keine Antwort auf diese Frage, doch als der Punkt immer größer wurde, Formen gewann, Umrisse annahm, war zu erkennen, daß es ein Mann auf einem Wattschlitten war, der schnell und wendig über den Schlamm sauste. Das ist die Rettung, durchzuckte es Padenberg. Ein Schlitten! Es war das Leben, das von dort herannahte. »Nach links!« schrie Padenberg Jens zu, und nun sah auch dieser das Gefährt. Von einem Mann mit dem Fuß über den Schlamm dahingestoßen, schien es unglaublich leicht heranzugleiten. Geschafft, hämmerte es in Jens, und jetzt, da er die Rettung vor Augen hatte, war er mit seinen Kräften schlagartig am Ende. Er taumelte und sank gerade in dem Augenblick zu Boden, als Per Fringold von seinem Schlitten sprang und ihn stützen wollte. Mit ausgeruhten, kräftigen Armen lud Per die immer noch ohnmächtige Carola Burghardt und den völlig ausgepumpten Jens Kosten auf das schmale Brett des Schlittens, klemmte sich selbst dahinter und hob das Bein, um sich wieder abzustoßen. Das mußte alles schnell gehen, doch noch einmal war ein Stopp nicht zu vermeiden. Detlev Padenberg kam heran. Nach einem Blick auf Carola sagte er zu Jens: »Bravo, Junge!« Jens sah durch ihn hindurch. Padenberg glaubte noch hinzusetzen zu müssen: »Ich werde dich für die Lebensrettungsmedaille vorschlagen.« 163
»Hau ab, Mann!« erwiderte Jens Kosten nur. »Vorsicht!« rief Perl Fringold. »Wir müssen weg!« Padenberg war ihm im Weg. Er wollte ihn nicht über den Haufen fahren. Im nächsten Augenblick setzte der Sturmritt des Schlittens über den Wattstreifen, der eine Region des Todes war, bis hin zum Fuß des rettenden Deichs ein. Dort stand Yvonne Padenberg und streckte die Hand aus, um ihre Hilfe anzubieten, die aber ausgeschlagen wurde. Per schleppte Carola den Abhang hinauf; Jens versuchte den Anstieg aus eigener Kraft und schaffte ihn auch. Oben auf der Kuppe setzte er sich in das nasse, harte Gras, das spärlich auf dem Deich wuchs. Mit unendlich müdem, fast gleichgültigem Blick sah er die ersten Wogen heranrollen. Detlev Padenberg wußte, daß es für ihn hier nichts mehr zu bestellen gab. Die Gefühle, die Jens Kosten ihm entgegenbrachte, waren verständlich. Er war ehrlich genug, sich innerlich einzugestehen: Ich habe nichts anderes verdient. Mit gesenktem Haupt ging er davon, die verwirrte Yvonne folgte ihm. Schon nach wenigen Minuten dachte sie nur noch an die Maßnahmen, die sie ergreifen mußte, um ihn vor jedweder Erkältungskrankheit zu schützen. Nicht mehr gerettet werden konnte der Wattschlitten. Die tödliche Flut, die nach Opfern gierte, mußte sich mit ihm begnügen. Als er innerhalb von Sekunden in den rollenden Wogen verschwunden war, sagte Jens zu Per, den der Verlust sichtlich traf: »Keine Sorge, wir beschaffen dir einen neuen. Die Rechnung kriegt der!« Mit dem Daumen wies er dabei, ohne hinzusehen, in Richtung des sich entfernenden Detlev Padenberg. Carola, deren Kopf Jens inzwischen in seinen Schoß gebettet hatte, schlug die Augen auf und blickte in sein Gesicht. »Jens«, sagte sie leise. Da er glaubte, seine Kompetenzen überschritten zu haben, wollte er rasch zur Seite rutschen, um ihrem Kopf eine andere Unterlage 164
zu beschaffen. Sie sollte beileibe nicht den Eindruck gewinnen, daß ihre Bewußtlosigkeit von ihm unstatthaft ausgenützt worden war. »Jens«, sagte Carola, »halt still …« »Carola, ich wollte nur …« »Halt still.« »Carola …« »Ich möchte so liegen bleiben, Jens.« Da brausten kein Sturm mehr und kein Ozean, sondern das Meer sang. Da erschien dem glückseligen Jens der Himmel plötzlich herrlich blau, obwohl dieser düsterer und grauer denn je war. Da jubilierten Nachtigallen, obwohl in dieser Gegend nie etwas anderes zu hören war als der Schrei der Möwen. Jens lächelte …
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