Georg Seeßlen Das Leben und das Kino Essays & Filmkritik
— Georg Seeßlen, Das Leben und das Kino. Essays & Filmkritiken — 1. Auflage 2002 v.1 gesetzt aus der Tahoma und der Minion © Book-2-File - Releases Dies ist eine freie und kostenlose Textsammlung. Die Texte entstammen alle offiziellen Seiten im Internet. Sollten dennoch Copyrightverletzungen vorliegen, bitte eine Mail an untenstehende Adresse. info:
[email protected] Ekkehard Knörer
EIN EINTRAG INS LEXIKON Georg Seeßlen ist 1948 geboren, hat in München Malerei, Kunstgeschichte und Semiologie studiert. Es schreibt nicht nur Kritiken und Aufsätze und Bücher, sondern dreht bei Gelegenheit auch Dokumentarfilme fürs Fernsehen. Georg Seeßlen sollte man korrekterweise weniger als Filmdenn als Bilderkritiker bezeichnen - und noch dann würde man seiner Bandbreite nicht gerecht. Als gelernter Semiologe ist er - und in seinem Fall nicht nur selbst ernannter, sondern wirklicher - Experte für Zeichenverhältnisse schlechthin. Er hat über den [pornografischen Film] wie über televisionäre Dummheiten, über Rechtsextremismus und [Christoph Schlingensief], Steven Spielberg und [Klaus Kinski], Clint Eastwood und [David Lynch] geschrieben - und das meiste davon ist klüger als das ganze Restrauschen im Blätterwald. Geradezu unfassbar ist dabei seine Produktivität: Artikel in den verschiedensten Zeitungen und Zeitschriften (von epd film bis konkret, von der taz und Freitag bis zur Zeit; einen Kurzauftritt in den Anfangszeiten von Focus gab es übrigens auch), daneben mehr oder weniger jedes Jahr ein neues Buch: man kommt nicht nach. Seeßlen hat es geschafft, allgegenwärtig zu werden trotz oder vielleicht gerade durch Abwesenheit auf den Tummelplätzen der Kulturbetriebsprominenz. Er wohnt im Allgäu, lehrt ge-
legentlich an der Uni, ist aber kaum einmal im Fernsehen zu sehen. Von Hause aus zweifellos links, ohne Berührungsängste mit bürgerlichen Publikationsorganen (interessant freilich, dass er in der FAZ, zu der er vom intellektuellen Anspruch passen würde, nie geschrieben hat) einerseits, andererseits aber ohne Scheu vor der Veröffentlichung in Blättern, die der Mainstream links liegen lässt. http://www.jump-cut.de
Inhal t 3
Ekkehard Knörer
E i n E i n t ra g i n s L e x i ko n http://www.jump-cut.de
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O n l i n e - Ko n fe re n z
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Au f b r u c h i n d i e S a c k g a s s e
37 67 76 84
Deutsches Film Forum, 28. Oktober 1996
Die dänischen Dogma-Filme: Radikaldilettantismus oder Utopieverrat? Eine Zwischenbilanz
K r i e g s n ove l l e
oder Wie eine Erzählgemeinschaft für einen moralischen Krieg erzeugt wird
N e u e Pa ra d i g m e n d e r Po r n o g ra f i e
Über den post-pornografischen Blick im Kino
Te l e t u b b i e s i m Ko s ovo
Drei Fragmente zum nicht zu Ende erklärten Krieg
W i e w e rd e i c h e i n Re c h t s p o p u l i s t ?
Thomas Wörtche Wörtches Crime Watch 5/1999
111
E i n e n d l o s e s g e f l o c h t e n e s B a n d : L o s t H i g hway
131 136
G re n z ü b e r s c h re i t u n g : D i e K l av i e r s p i e l e r i n K l a u s K i n s k i - e i n d e u t s c h e s G ra u e n
Filmbulletin, Nr. 211, 2/97, April 1997
epd Film Nr. 1/1992
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147
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Robert Blanchet
G e o rg S e e s s l e n z u T h e P l aye r
Notitzen zu einem Publikumsgespräch mit Georg Seesslen zu Robert Altmans The Player epd Film Nr. 1/1992
S p i e l , S a t z , ke i n S i e g
Erst trat Boris Becker gegen Michael Stich an, dann Gerhard Schröder gegen Edmund Stoiber. Notizen zu einem gelungenen Fernsehsonntag ohne Verletzungsrisiko. taz Nr. 6837, 27.8.2002
Ü b e r d i e F i l m e , d a s T h e a t e r u n d d i e Ta l k s h o w
Unter Bezugnahme von Fundstücken aus dem Internet.
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228 240
253 261
„Schlingensief ” Notruf für Deutschland, Rotbuch-Zeitgeschehen. W.Schulz, Julia Lochte.
D i e s ü ß e Ke i m ze l l e d e r G i e r
Anker in einer imaginären Kindheit. Das Überraschungsei in Theorie und Praxis Freitag, Nr. 16, 13. April 2001
S c h l i e ß d i e Au g e n u n d m a c h d i r e i n B i l d
Der Mann mit den Posaunenbacken. Hundert Jahre Alfred Hitchcock Alfred Hitchcock (1899-1980), Kino-Genie und Pop-Star in einem, viel gefeiert derzeit und glücklicherweise in allen Medien zugänglich wie nie zuvor, ist darzustellen, zu vermessen und zu kommentieren auf sehr verschiedene Weise, Bausteine des »System Hitch Freitag, Nr. 33, 13. August 1999
Die Blendung
Vom Alptraum zur Propaganda in drei Tagen Bildersturm Jungle World Nr. 39/01, 19. September 2001
S t a r Wa r s
Es war einmal in ferner Zukunft in Legoland. Wie das Kapital seine PopMythologie frißt und mit den Verdauungsprodukten das Kino ruiniert Freitag, Nr. 35, 27. August 1999
Fe t i s c h u n d S c h l a fm ü n ze
Warum uns der Abschied von der D-Mark so überraschend leicht fällt. Jungle World Nr. 38/2001, 12. September 2001
L i s z t u n d T ü c ke
Claude Chabrol verabreicht „Süßes Gift“
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D e r K l e i n b ü rg e r e n t d e c k t s e i n Ic h
Die Zeit, Nr. 3/2001
Malerei der Trauer. Zu den Edvard-Munch- Ausstellungen in Stockholm und Kopenhagen Freitag, Nr. 12, 16. März 2001
L u s tvo l l e M i s c h u n g
Slow Food. Die Subversion des Geschmacks - oder warum es notwendig wurde, die Welt essbar zu machen, um sie zu retten Freitag, Nr. 51, 15. Dezember 2000
D o g m a u n d Po r n o g ra p h i e
Tyrannei der Intimität. Warum ich Lars von Triers »Die Idioten«, die Idee vom Dogma 95 und das neue Kino der Transgression nicht sonderlich mag Freitag, Nr. 12, 19. März 1999
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305 308 330 357
N o c h Re vo l t e o d e r s c h o n M a i n s t re a m White Trash in Farbe. Marshall Mathers rappt den großen weißen Offenbarungseid zwischen den Rassen und Klassen Freitag, Nr. 14, 30. März 2001
B l u e s B ro t h e r s 2 0 0 0 D a s K i n o d e r d o p p e l t e n Ku l t u re n
Erster Streifzug duch ein unbekanntes Kino-Terrain
D a s K i n o u n d d i e Ka t a s t ro p h e
Filmische Schreckensphantasien und die mediale Wirklichkeit epd Film 11/2001
Das Leben ist schön
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D i e Tr u m a n S h o w
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Gladiator
epd Film 11/98 epd Film 11/98
Ridly Scotts Sandalenfilm führt zu Western und Melodram epd Film 6/2000
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Godzilla
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Hannibal
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In s c h r i f t d e s Ra u s c h e s , Pa s s i o n o d e r K re u z z u g
epd Film 9/98 epd Film 2/2001
Anmerkungen zu Drogen und Film
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Ka n n e i n Ko ra l l e n r i ff fa s c h i s t i s c h s e i n ?
epd Film 8/2001
Leni Riefenstahl wird 100
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420 425
Lecters Lektionen
www.legamedia.net
Wollen wir das wirklich sehen? Einen Film wie »Hannibal«, der zeigt, wie der Kannibale seine Opfer isst? Einige Überlegungen zu Gewalt und Grausamkeit, die Sie lesen sollten, bevor Sie ins Kino gehen Die Zeit, 08/2001
O B ro t h e r, W h e re A r t T h o u ? Ro g e r Va d i m
epd Film 10/2000
26.1.1928 - 11. 2.2000
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Sohn und Liebhaber
epd Film 4/2000
Tom Cruise: Das Herz eines Karrieristen
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Tr i v i a l e S e h n s ü c h t e
epd Film 5/2001
und die wilden Bilder des Richard Oswald
C o l l a t e ra l D a m a g e
Der Clou am Schuh des Manitu
epd Film 3/2002
Warum sind Amelie und Der Schuh des Manitu so große Erfolge? epd Film 10/2001
E i n U n f i l m a l s Sy m p t o m
Costa-Gavras versucht sich an einer Verfilmung von Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter“ epd Film 6/02
Hundstage
Man könnte Hundstage als Ulrich Seidls ersten Spielfilm bezeichnen. Immerhin gab es ein Drehbuch, was bei seinen vorherigen Arbeiten nicht der Fall war. Andererseits schreibt er aber auch die besondere Art des „Dokumentarischen“ in seiner Arbeit fort. Ulri epd-film 8/02
Im We s t e n g i b t e s ke i n e B o t s c h a f t
Zum Tod von Budd Boetticher
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J o h n M cT i e r n a n
epd Film 1/2002
oder wie sich Antonin Artaud, Bert Brecht und Wile E. Coyote in den Filmen eines scheiternden Handwerkers des späten amerikanischen Aktionsbildes miteinander unterhalten Am 28.3. startet in den Kinos Rollerball, John McTiernans Remake des legendären Science- Fiction-Klassikers von Norman Jewison aus dem Jahr 1974. Hans Schifferle hat den Film auf S. 44 besprochen. McTiernan, Jahrgang 1951, wurde bekannt durch seinen Film D epd 2002
M o u l i n Ro u g e
Mit Romeo und Julia (1996) hat der australische Regisseur Baz Luhrmann Shakespeare bei Teenagern populär gemacht, sein vorausgegangener Tanzfilm Strictly Ballroom (1991) war noch eher eine Talentprobe für Kenner. In seinem neuen, erst dritten Film in zehn epd Film 10/2001
E ye s W i d e S h u t
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G e o rg e C . S c o tt
epd Film 9/99
18.10.1926 - 22.9.1999
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Late Show
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Re m b ra n d t
epd Film 11/99 epd Film 3/99
Biografische Filme über Künstler wie Rembrandt, van Gogh oder ToulouseLautrec finden sich in allen Epochen der Filmgeschichte. Rembrandts Leben ist z.B. 1937 von Alexander Korda mit Charles Laughton verfilmt worden, 1942 im „Dritten Reich“ von Hans Steinh epd Film 5/2001
ONLINE-KONFERENZ Am 28. Oktober 1996 fand im „Deutschen Film Forum“ in CompuServe eine Online-Konferenz mit Georg Seeßlen statt. Einige wagten zu fragen, viele spielten „Lurker“ und sahen nur zu. Der Text der Fragen und Antworten wird hier in leicht redigierter Form wiedergegeben. Georg Seeßlen wurde 1948 geboren, er ist bekannt als Filmpublizist und Autor zahlreicher Bücher und Artikel zu filmund kulturwissenschaftlichen Themen. Er schreibt u. a. für epd Film, Der Tagesspiegel, Die Zeit, Frankfurter Rundschau, Konkret, Freitag. Dirk Jasper: Hallo Georg Seeßlen! Willkommen bei der Online-Konferenz! Georg Seeßlen: Grüß Gott! Wir warten auf Fragen! Sind alle bereit? Dirk Jasper: Ich stelle Georg Seeßlen kurz vor: Georg Seeßlen, Jahrgang 1948, ist bekannt als Filmpublizist und Autor zahlreicher Bücher und Artikel zu film- und kulturwissenschaftlilchen Themen. Er schreibt u. a. für epd Film, Der Tagesspiegel, Die Zeit, Frankfurter Rundschau, Freitag. Stimmt das so weit, Georg? Georg Seeßlen: Ja. alles richtig. Stimmt soweit! Dirk Jasper: Prima, dann kann die erste Frage kommen! Kristina Faller: Wie kommt man eigentlich dazu, über Filme Bücher zu schreiben? Ist das nicht ein Widerspruch?
Georg Seeßlen: Also, ich bin gelernter Maler. Und für mich war es noch nie ein Widerspruch, über Bilder zu reden oder zu schreiben. Dirk Jasper: Ah ja! Wann kam denn dieser Kurswechsel von dem „Standbild“ zum „bewegten Bild“? Georg Seeßlen: Das war kein Kurswechsel. Ich male immer noch. Und mache auch selber Filme. Ich mache Dokumentarfilme. Dirk Jasper: Ist der Schwerpunkt heutzutage das „bewegte“ oder das „Standbild“? Georg Seeßlen: Im Grunde genommen schon das Standbild. Es ist einfach leichter herzustellen. Ich mache alle zwei Jahre etwa nur einen Film. Wenn man mich läßt. Ich würde eigentlich gerne mehr machen. Jens Friedrich: Dokumentarfilme umschließen ein breites Gebiet ... was machst Du denn genau? Ein paar Beispiele vielleicht ... :-) Georg Seeßlen: Aber im Grunde genommen ist Schreiben für mich so etwas wie einen Film ohne Kamera machen. Georg Seeßlen: Ich mache so etwas wie kritische Heimatfilme über meine bayrische Heimat, die ich im Grunde unheimlich gerne mag aber gleichzeitig hasse. Dirk Jasper: Sind das Kino- oder TV-Filme? Georg Seeßlen: Fürs TV, aber in freier Produktion. Mit Außenredaktion. Dirk Jasper: Klingt kompliziert! Georg Seeßlen: Das ist auch kompliziert. Deshalb kommen ja auch so wenig zustande.
Kristina Faller: Sie haben mal geschrieben „Es gibt kaum einen Traum, kaum eine Hoffnung, kaum eine Ideologie, kaum ein Trauma, kaum einen Zorn, der sich nicht in die Satteltasche eines Western-Helden packen ließe. Kann man das aber nicht auch über Action-Helden und deren Pistolentaschen sagen? Georg Seeßlen: Ich glaube nicht, daß es so ein flexbles Genre wie den Westernfilm gibt. Alle anderen haben nicht so flexible Helden, sind nicht so offen. Dirk Jasper: Hallo Frauke! Hallo Christoph! Christoph: Hallo! Erstmal schauen, wo das Gespräch steht. Georg Seeßlen: Noch ganz am Anfang! Kristina Faller: Ist dann nicht statt „flexibel“ nicht besser zu sagen Western ist ein Oberbegriff über Action, Drama, Thriller, Krimi usw.?? Georg Seeßlen: Nö, ist es nicht. Dirk Jasper: Wirkt auf Anhieb aber logisch? Georg Seeßlen: Western sind eine ganz eigene Sprache, in der man viel sagen kann, die aber nie beliebig ist. Action bedeutet in einem Krimi ganz etwas anderes als in einem Western. Kristina Faller: Versteh ich nicht Georg Seeßlen: Also man kann sagen: Western beschreiben eine bestimmte Form von Bewegung in Raum und Zeit. Dieser hat einen ganz bestimmten historischen Hintergrund. Ist soetwas wie ein Nationalepos als „Work in progress“. Kristina Faller: Uff! Georg Seeßlen: ??
Christoph: Sind das Interpretationen ZUR Genrefestsetzung, oder beziehen sie sich auf Genrefestsetzungen, die sich einfach so entwickelt haben? Raum und Zeit - das spielt bei den Genrefestlegungen doch sicher keine Rolle, oder? Georg Seeßlen: Genres entwickeln sich immer ohne feste Regeln. Sie entwickeln sich immer zwischen den Produzenten (Filmemacher) und den Konsumenten. Christoph: Was macht dann der Kritiker damit? Grenzen des Genres sind doch ein Lieblingsthema ... Georg Seeßlen: Raum und Zeit spielt eigentlich bei den Genres eine Hauptrolle. Kristina Faller: Und hat sich das jetzt zu Ende entwickelt? Georg Seeßlen: Seit 1975 ungefähr haben sich die amerikanischen Genres aufzulösen begonnen. Kristina Faller: Was heißt das für Ihre Arbeit? Schwieriger geworden? Georg Seeßlen: In den letzen 10 Jahren kann man nur noch die Spuren der einstigen Genres verfolgen. Schwieriger und interessaner ist die Arbeit dadurch geworden. Christoph: Science Fiction ist doch immer noch ein stabiles Genre ... Kristina Faller: Ist dann „Der mit dem Wolf tanzt“ doch „nur“ ein Abenteuerfilm oder doch ein „Western“? Georg Seeßlen: Nicht unbedingt. Star Wars hat beispielsweise unheimlich viele Westernelemente. Blade Runner ist auch ein Thriller. Jens Friedrich: Die Genres haben sich aufgelöst? Oder haben sie sich einfach nur verändert? Bestimmte Grenzen lassen sich
doch immer noch ziehen ... Ich würde sagen, daß die Genres z. T. verschmolzen sind, oder? Kristina Faller: Das stellt doch einiges auf den Kopf! Georg Seeßlen: Und ALIEN sowieso auch ein Horrorfilm. Christoph: Wieso wird nicht von Zitaten, Bezügen gesprochen, sondern gleich von AUFLÖSUNG?? Georg Seeßlen: Was wir im Augenblick haben sind eher so etwas wir Megagenres. Christoph: Eine publizistisch spannendere Formel? Georg Seeßlen: Moment. Christoph: Was ist ein MEGAGENRE??? Georg Seeßlen: Megagenres sind z.B. ACTION, COMEDY und PHANTASTIC. Die Auflösung geht eben schon weiter als blose Zitate. Weil auch die Zentren der Genres sich verändern. Da sind wir schon wieder bei ZEIT UND RAUM. Christoph: Da bin ich noch nicht bei ZEIT UND RAUM. Versteh ich nicht. Georg Seeßlen: (s. o:) Erste Frage bei Western. Aber gut, folgendes: Georg Seeßlen: (Ich, G. S., muß mich noch ein wenig an meine ERSTE Onlinekonferenz gewöhnen. Sonst geht das schneller mit den Antworten.) Dirk Jasper: Das ist die Elektronik! Nichts geht schneller! Man meint es nur! Dirk Jasper: Wer tippt eigentlich bei Euch? Christoph: Hier tippt man selbst ... Dirk Jasper: ich meinte auch Georg Seeßlen. Georg Seeßlen: Andreas Dimpfel tippt für Georg Seeßlen.
Georg Seeßlen: Ich gehe jetzt nochmal zurück auf die ZEIT und RAUM Geschichte. Georg Seeßlen: Im Prinzip geht es immer darum, ob ich etwas erobere oder verteidige, ob ich den Raum mir als Geborgenheit denke oder als Freiheit. Dirk Jasper: Kann man mit diesen Aussagen eigentlich noch den „normalen“ Kinobesucher begeistern, der einfach in ID4 rennt? Christoph: Mal ganz platt: SF als Eroberung, Western auch, Love-Story als Verteidigung? Georg Seeßlen: Ein solcher Zuschauer LEBT das doch schon! Christoph: Ich denke, Georg Seeßlen rennt auch in ID4, oder? Georg Seeßlen: Ganz platt: Erst einmal richtig! Christoph: Was ist daran schlimm ... der Film ist doch voller Subtexte ... Georg Seeßlen: In ID4 bin ich richtig langsam reingegangen. Christoph: Und raus? Georg Seeßlen: Christoph, meinst Du den Film als solches oder ID4? Rausgegangen bin ich leicht genervt! Christoph: Huch? Den Film meine ich! Georg Seeßlen: Die Auflösung der Genres ist für mich auch keine Katastrophe. Dirk Jasper: Muß es einen seriösen Filmkritiker nicht bei ID4 schaudern?
Georg Seeßlen: Schlimmer ist, daß die Blockbusterfilme verhindern, daß es interessantere, kleinere Arbeiten gibt! DJ: Ich kenne keine unseriösen Filme. Ich nehme alles ernst. Dirk Jasper: bricht da der Filmemacher oder der Kritiker durch? Georg Seeßlen: ID4 ist für mich so langweilig, weil er keine SUBTEXTE mehr hat. Hermes, Leiter Kommunales Kino Hannover: In ID4 wurde 18 mal „OH, GOTT!“ ausgerufen! Dirk Jasper: Uff: Das ist aber ein harter Job, ALLES ernst zu nehmen im Filmgeschäft. Christoph: GS, Subtexte sind z. B. der Hass auf die eigenen Institutionen bei bei gleichzeitige Patriotismus. Georg Seeßlen: Ein echter Subtext sollte ein ganz klein bißchen verborgen sein. Christoph: Marc, wie steht es um ID4? Dirk Jasper: Nur kurz zu Erinnerung: Georg Seeßlen, Jahrgang 1948, ist bekannt als Filmpublizist und Autor zahlreicher Bücher und Artikel zu film- und kulturwissenschaftlilchen Themen. Er schreibt u. a. für epd Film, Der Tagesspiegel, Die Zeit, Frankfurter Rundschau, Freitag. Christoph: Und „KONKRET“ :-) Georg Seeßlen: Da schreibe ich ganz besonders gerne für. Christoph: Die roten Flecken der Gegenwart ... Dirk Jasper: „smile“ Christoph: ;-) Ich bin durchaus gerne links. Aber das artet ja in Bekenntnisse aus ... Georg Seeßlen: Genug der Bekenntnisse ...
Marc: Herr Seeßlen, halten sie ID4 für einen konventionellen, berechenbaren Film, der langweilt? Georg Seeßlen: ID4 halte ich für einen langweiligen, konventionellen Film, dessen erste Aussage die schwäbische Sparsamkeit ist. Beispielsweise bei den Speciial Effects. Christoph: Das stimmt! Die Effekte sind nicht sehr liebevoll!! Marc: Die Special Effects sind nicht beeindruckend! Marc: Eine Stellung bezieht der Film auch nicht. Jedoch ist der Film doch wohl ein Indikator für die momentane Geisteshaltung in den USA. Georg Seeßlen: Nicht einmal das. Es ist ein Sample-Film, der seinen Patriotismus wie eine Wundertüte auskippt. Marc: Wodurch erklärt sich dann der große Erfolg? Georg Seeßlen: Genau dadurch. Und dadurch, daß jede Szene, in dem Film, schon einmal irgendwo gedreht worden ist. Und jeder sie kennt. Christoph: DAS ist die Auflösung des Genres: DAS nenne ich MEGAGENRE! Georg Seeßlen: In Amerika spielen die Leute mit ID4 soetwas wie mit der Rocky Horror Show, auf Patriotismus getrimmt. Und singen die Nationalhymne wenn die Freiheitsstatue umkippt, und haben eine „gute Zeit“. Marc: Die Lust am Wiedererkennen kann doch nicht das einzige sein, kann doch nicht größer sein als die an der Erkenntnis? Georg Seeßlen: Christoph: Zum Megagenre fehlt ID4 die Ironie und die Lust, etwas Neues auszuprobieren. Marc: ????
Christoph: Megagenre ist also ein Qualitätsmerkmal ... Marc: Megagenre: Wäre das moderner Mythos? Georg Seeßlen: Christoph, nein aber es funktioniert nur durch eine Weiterentwicklung. Wer nur zurückschaut, kann auch nicht zum Megagenre kommen! Deshalb funktioniert ID4 am besten wahrscheinlich als eine Art Museum der POPULAR CULTURE der letzten 30 bis 40 Jahre. Christoph: Hoppla, Megagenre als Erlösung? Ach nein. Georg Seeßlen: Megagenre ist im Grunde genommen erst einmal eine ökonomische Angelegenheit. Marc: Dann wäre id4 doch genau da zu verorten! Georg Seeßlen: Ein Film, der zwischen 60 und 100 Millionen Dollar kostet, muß immer über eine Fangemeine HINAUSGEHEN. Möglichst vom Kindergartenkind bis zum Cineasten abräumen. Marc: Wenn er nicht zu schlecht wäre. Marc: Stimmt es,daß so ein Film von den Besuchern mehrfach gesehen werden muß, um einen solchen erfolg zu haben? Georg Seeßlen: Für einen Megagenre ist es immer wichtig, so etwas wie eine eigene Bildwelt zu schaffen; z. B. Blade Runner, Alien, Robocop 1. Kristina Faller: Sie haben mal geschrieben: „Der Thriller ist wohl dasjenige Genre des populären Films, das sich am ehesten einer genauen Definition widersetzt. Es schließt so disparate Filmarten wie den psychologischen Kriminalfilm und den Agentenfilm in sich ein.“ Also - die bestimmenden Elemente des Thrillers - Suspense und Thrill - sind soch eigentlich Be-
standteil jedes populären Films. Und die Definition ist doch ähnlich der Western-Definition von vorhin - oder? Georg Seeßlen: Jeder Film hat auch THRILL-Elemente. Aber in einem Western zum Beispiel dürfen sie nie im Zentrum stehen, sonst funktionieren die Helden nicht mehr. Dirk Jasper: Ganz sicher? ich bin da nicht so sicher! Christoph: Was heißt „funktionieren“? Zum Bedienen des Genres?? Georg Seeßlen: Im THRILLER geht es darum, daß wir Zuschauer mehr wissen als die Helden. (Die Bombe unter´m Bett! ) Beim Western wissen wir meist immer ganz genauso viel wie der Held. =/\= SWEET CHRIS: Ich hätte da eine Frage! Was machst Du lieber? Filme drehen oder Bücher schreiben ? Georg Seeßlen: Kann ich nicht beantworten. Beides zu seiner Zeit. Aber eines ohne da andere könnte ich nicht. =/\= SWEET CHRIS: Gehst Du auch gerne ins Kino? Kristina Faller: Was machst du denn schon länger? Marc: Leider konnten wir noch nicht in den Genuß Ihrer Filme kommen, Herr Seeßlen. Georg Seeßlen: Ich gehe immer noch gerne ins Kino. Aber ich kann es mir leisten, gelegentlich den größten Schrott zu vermeiden. (Deutsche Filme! ) Christoph: Und wie oft gehst du ins Kino, es sieht so aus, als ob du über alle Filme schreibt, alle siehst ... Marc: Wo werden sie gezeigt? Georg Seeßlen: Pressevorführungen bei Verleihern, am Schneidetisch.
=/\= SWEET CHRIS: Danke für die Antworten ... ich muß jetzt leider gehen ... Georg Seeßlen: Ich bin pro Jahr 200 Mal in Filmen. Ungefähr hundert Mal im normalen Kino. Dirk Jasper: Und immer noch gerne? Christoph: Mit dem Lichtstift im Saal? Georg Seeßlen: Meistens noch gerne und ohne Lichtstift. Ich hasse Lichtstifte. Dirk Jasper: So viele „akzeptable“ Filme gibt es ja gar nicht in Deutschland im Jahr! Georg Seeßlen: Hahaha! Also die 200 setzen sich zusammen aus: Retrospektiven in Kommunalen Kinos, Festivals und anderen Events. Wobei man sich immer noch ganz gut etwas aussuchen kann. Dirk Jasper: Sie schreiben „Den Höhepunkt intellektueller Bewältigungsversuche von Erotik und Gewalt im Gewande des Westerns bildete zweifellos Marlon Brandos „One-Eyed Jack (Der Besessene - 1959)“. Also Western als verkappte Erotikstory? Georg Seeßlen: Marlon Brandos Film ist einfach Marlon Brando. Und erst in zweiter Linie ein Western. Kristina Faller: Chris: Ist aber Marlon Brando! Georg Seeßlen: Brandos Film hat auch nie eine Nachfolge gefunden. Und hat es auch von der Produktion her unheimlich schwer gehabt. Marc: GS, wissen Sie schon etwas über den neuen LynchFilm? Christoph: One-Eyed-Jack: wie in „Twin Peaks“ ...
Georg Seeßlen: Ja aber ich darf nichts sagen, das habe David Lynch versprochen. Marc: Schade! Christoph: Nur soviel: darf man sich freuen? Marc: Aber wir warten auf Ihre neue Publkation. Dirk Jasper: was kommt als nächste? Buch oder Film? Georg Seeßlen: Christoph: Man darf sich auf den neuen Lynch freuen. Und darauf, daß ich das Lynch-Buch dann auch noch ergänze. Marc: :-) Dirk Jasper: Hey, klingt gut! Erscheint bei welchem Verlag? Georg Seeßlen: Buch: Martin Scorsese. Christoph: Bestens! Marc: Wow. Christoph: Wann? Georg Seeßlen: Lynch bei SCHÜREN. Und Martin Scorsese bei BELTZ (Berlin). Marc: Was denken Sie über den neuen Abel Ferrara-Film? Christoph: Mir gefiel er ... Georg Seeßlen: Sorry, den habe ich noch nicht gesehen. Peinlich! Georg Seeßlen: Abel Ferrara hätte ich nach dem letzten Vampir-Film (The Addiction (in Deutschland nicht verliehen) beinahe abgeschrieben. Aber das war bestimmt zu früh. Dirk Jasper: Ferrara dreht ja jetzt mit Claudia Schiffer!? Was will uns der Regisseur damit sagen???
Georg Seeßlen: Bezüglich Claudia Schiffer: Ich hasse niemanden. Und: Es gibt Regisseure, die können ein Stück Holz inszenieren, daß es einen die Tränen ins Auge treibt. Dirk Jasper: geht nicht um hassen, sondern um die Konstellation: Ferrara und Schiffer! Da liegen doch eigentlich Welten dazwischen! Georg Seeßlen: Ich jedenfalls traue Ferrara zu, aus der Sache etwas zu machen. Claudia Schiffer ist ja selber soetwas wie ein Mythos. Und mit dem kann man auf sehr unterschiedliche Arten umgehen. Kristina Faller: egal, ob die schauspielern kann? Jens Friedrich: GS: Wie war eigentlich die heutige Veranstaltung? Worum ging es denn da genau? Mehr als das allgemeine Thema weiß ich leider nicht ... Georg Seeßlen: Jens; Thema: Reich der Sinne. Hätten ein paar Leute mehr da sein können. Aber das Gespräch war sehr nett und anregend. Dirk Jasper: Ist das immer noch ein Thema? Kristina Faller: Erotik zieht die Leute doch immer ins Kino - nur - reden will kaum einer darüber? Wenn es denn „ganz nett“ war!?!?!? Jens Friedrich: Ja, von dem anschließendem Gespräch habe ich gelesen... und, kann man ein Fazit diese sGesprächs ziehen? Christoph: Welches Gespräch ist gemeint? Dieses hier?? Es sollte doch erst um 21.30 losgehen ... Erotik war schon? Georg Seeßlen: Das Gespräch hat eher neugierige Fragen gehabt und nicht ein Fazit.
Georg Seeßlen: Christoph, wir haben früher beginnen können. Dirk Jasper: Christoph: Georg Seßlen ist in Hannover und hat vorher „Im Reich der Sinne“ im Kommunalen Kino gesehen und hinterher darüber diskutiert. Christoph: Schade ... hätte ich das gewußt...wäre ich früher gekommen. Marc: Wir auch! Georg Seeßlen: Christoph, Marc, was wolltet ihr denn zum erotischen Film wissen? Marc: Flavia fand „Im Reich der Sinne“ lächerlich. (Flavia sitzt bei uns in Hamburg.) Georg Seeßlen: Ich weiß nicht, ob „lächerlich“ das richtige Wort ist. Aber mein Lieblingsfilm ist IRDS auch nicht. Dirk Jasper: Was wurde denn in Hannover gefragt? Georg Seeßlen: Freud und die Japanische Kultur. Sexualtrieb und Todestrieb etc. Christoph: IRDS ist ja auch nicht mehr der allerjüngste Film ... hat sich da nichts mehr getan?? Im Genre, Megagenre oder wo auch immer? Marc: GS, welcher Film vermittelt denn wirklich Erotik. Uns fällt keiner ein. Georg Seeßlen: Erotischer als Ernst Lubitsch gibt es keine Filme. Dirk Jasper: Ernst Lubitsch ist kein Film! Christoph: Erotik meint also: das Verborgene, Angedeutete? Marc: Das ist geisteserotik. sehr sublim.
Georg Seeßlen: Im erotischen Film hat sich seitdem wirklich nicht mehr sehr viel getan. Es sei denn man unterhält sich über Subtexte. Und da sind wir wieder bei DAVID LYNCH und bei Kathryn Bigelow. Christoph: Aber nicht bei CRASH! Marc: Strange. Bei Strange Days etwa? Christoph: Cronenberg. Marc: Crash ist ekelhaft. Georg Seeßlen: Zu Cronenberg würde ich sagen, daß er in diesem Film ausnahmsweise nicht weit genug gegangen ist. Aber fasziniert hat mich der Film schon. Kristina Faller: Hast du ihn schon gesehen, Marc? Marc: Ja! Zeigt Crash Menschen, die verzweifelt den „Kick“ suchen? Dirk Jasper: ist das nicht Realität? Georg Seeßlen: Und Strange Days ist fast daselbe wie bei Crash: Die Ideen sind klasse, die Bilder sind Klasse. Aber Kathryn Bigelow kann´s besser. Christoph: CRASH zeigt keine Menschen in Flugzeugen. Marc: in den Industrieruinen ... Christoph: Wo kann Bigelow es besser? Blue Steel? Ja, da schon. Georg Seeßlen: Crash ist nicht nur die Geschichte vom ultimativen Kick sondern handelt von Menschen, die eine bestimmte Grenze überschreiten, hinter der sie nicht mehr funktionieren wie bürgerliche Individuen.
Marc: Zeit der Unschuld war auch sehr erotisch - erotik der dinge allerdings. das scheint mir die hauptsache der filmerotik zu sein. Georg Seeßlen: BLUE STEEL ist einer meiner absoluten Lieblingsfilme. Sabine [Wirbelwind]: Blue Steel ist cool! Stimmt! Kristina Faller: Aber Blue Steel verstehe ich nicht als „Erotik“-Film! Georg Seeßlen: Marc: Genau!! Marc: GS, das kann ich in Crash nicht finden! Georg Seeßlen: Marc: Ich denke, Cronneberg hat es auch nicht ganz in den Griff bekommen. Seine Absicht war es jedenfalls. Marc: GS: Ist Blue Steel nicht verkappt antisemitisch? die Figur des Bösen ist da ziemlich ungebrochen und erinnert an gewisse Stereotype ... Georg Seeßlen: Marc: Der Vorwurf des Antsemetismus ist in den USA zwar laut geworden. Aber den muß man schon arg konstruieren. Christoph: GS: Sind Computermedien ein ungewohnter (ungeliebter) Ausflug? Dirk Jasper: Wie schreibt man denn heutzutage SO VIELE Bücher? Georg Seeßlen: Mit viel Arbiet. Früh aufstehen! Und mit guten selbst gemachten Computerdatenbanken. Marc: Mit dem Computer? Christoph: Und Copy & Paste!
Georg Seeßlen: Nee, normal bin ich schon mit Computern reichlich versorgt. Aber eben noch nicht Online. Doch demnächst. Dirk Jasper: Jau, kann ich nachvollziehen. Christoph: :-) Georg Seeßlen: Christoph: Copy und Paste-Bücher mache ich nicht. Marc: Christoph scherzt nur! Wir sind begeisterte Leser. Kristina Faller: Ich fand es sehr interessant! Georg Seeßlen: Tatsächlich? Christoph: Marc: Woher weißt Du, was ich lese? Kristina Faller: Kann man die Bücherliste von Georg hier hochladen? Georg Seeßlen: Klar, ich warte schon seit Tagen auf Verlagspost! Georg Seeßlen: A.D.: Hier im Kino ist der letzte Film jetzt zu Ende. Wir müssen uns verabschieden. Dirk Jasper: Herzlichen Dank an Georg Seeßlen für das ausführliche und interessante Gespräch. Und herzlichen Dank an Andreas Dimpfel für seine Hilfe! Deutsches Film Forum, 28. Oktober 1996
AUFBRUCH IN DIE SACKGASSE DIE
DOGMA-FILME: RADIKALDILETTANTISMUS ODER UTOPIEVERRAT? EINE ZWISCHENBILANZ
DÄNISCHEN
Irgendwann, wenn die Kulturgeschichte wieder einmal erfolgreich ihr Legendenund Versteinerungswerk getan hat, wird man sich die Sache vielleicht so vorstellen: In einem der Krisenjahre des europäischen Films, und welches Jahr wäre im letzten Drittel des Jahrhunderts kein Krisenjahr für den europäischen Film gewesen, saßen einige dänische Regisseure im gnadenvollen Zustand der Halbtrunkenheit beieinander und sprachen ausnahmsweise nicht von Geld und Förderinstanzen und guten und bösen Hollywood-Träumen, sondern erinnerten sich an alte Zeiten, in denen es Aufbruch und Provokation und Manifeste in der Kinokultur gegeben hatte. Das anti-bürgerliche Kino der Neuen Wellen sei längst selber in den Zustand der bürgerlichen Kunst geraten, konstatierte man, und beschloss, den postmodernen Crossover-Versuchen zwischen Autorenlist und Genrekino, der Kunst der Übermalungen und Metaebenen ein Manifest der radikalen filmischen Keuschheit entgegenzusetzen. Ein Manifest? Nein, ein Dogma musste es sein, ein Dekalog der artifiziellen Verarmung und Konzentration der Kinosprache, und das Dogma sollte das Manifest natürlich zugleich bertrumpfen und ironisieren; dieses Dogma war, scheint es, wie geschaffen, sogleich recht undogmatisch benutzt zu werden.
Nur die direkte Handkamera sollte zugelassen werden, keine Suche nach dem „schönen Bild“, das Material sollte in nichts anderem als in dem der vorgegebenen Wirklichkeit bestehen, keine Kostüme, keine Bauten, keine Schminke, kein Licht, das den Dingen und Personen eine zweite Bedeutung geben würde, Musik sollte nicht anders verwendet werden, als dass sie in der Szene selbst vorhanden wäre, die Schauspieler sollten keine Metaphern, keine Mythen darstellen, sondern in einer vorgegebenen Versuchssituation agieren, nur einspuriger Originalton sollte zugelassen werden, keine Vergangenheit und keine Zukunft, nur das Hier und Jetzt sollte sich auf der Leinwand offenbaren. Ach ja: Der Name des Regisseurs sollte nicht genannt werden. Das war die größte der Ironien im Dogma, denn von nichts sollte in der kommenden Zeit so sehr die Rede sein wie von den Regisseuren. Dass mit den Keuschheitsgelübden des Dogma so etwas wie eine neue Authentizität des Kinos erreicht werden konnte, daran glaubte eigentlich von Anfang an niemand. Man war sich der Künstlichkeit dieser Armut, der Konstruktion des Spontanen durchaus bewusst. Der Effekt der ersten DogmaFilme schien viel eher surreal: die Anwendung der Darstellungsformen unserer Sensations- und Katastrophenberichte auf den Bereich des Privatlebens. Der Augenblick als einzige Wahrnehmungsform; der Angriff der Gegenwart auf die übrigen Zeiten erfolgreich abgeschlossen. Der Fake-Dokumentarismus schien das geeignete Mittel, den Terror des Privaten
zu entdecken, in das sich die Generationen nach der Revolte zurückgezogen hatten. Und damit definierte man bereits den Inhalt für die Methode. Der erste nach den Richtlinien des Dogma entstandene Film war bereits das Meisterwerk des neuen Purismus, die vollständige Identität von ästhetischer Methode und ideologischer Absicht. Eine Familie zerfällt vor unseren Augen bei einem Fest, das Verdrängte, die Schuld, die Gewalt brechen in einem geschlossenen Raum hervor. Und wir können sagen, wir seien dabei gewesen, so mittendrin, wie es noch in keinem Film zuvor der Fall gewesen war. Kein Wunder also, dass man dieses doppelte Zerstörungswerk, den ersten vollkommen utopieund mythenlosen Film der Kinogeschichte, auch als Befreiung verstand. Thomas Vinterbergs Das Fest stellte den Fake-Dilettantismus zugleich als radikale Methode und als erfolgreiche Rebellion aus. Der Film ist schlecht, aber nicht einmal radikal schlecht. Immer wieder kippt die Kameraarbeit von einem laienhaften Dabeisein um jeden Preis in die Imitation kunstvoller Bewegung im Raum um. Aber er steuert schnurgerade die negative Mythologie jener Generation an, die sich von ihren Elternhäusern nicht mehr politisch, sondern nur noch moralisch befreien konnte. Er zerstört nicht allein die Illusion der Harmonie, er zerstört das Bild selber. In Lars van Triers Idioten ist der Experimentcharakter noch deutlicher. Eine Gruppe von jungen Leuten spielt, in einer Mischung aus Überdruss, Selbsttherapie und ideologischem Schnickschnack, die Idioten; sie terrorisieren zuerst ihre Um-
welt (in einem Restaurant, in einem Schwimmbad), dann sich selbst. Kragh-Jacobsons Mifune schließlich ist die Geschichte einer Rückkehr; ein Bürger wird so lange seiner bürgerlichen Insignien entkleidet, bis er bereit ist, sich auf dem Land der Väter in dem debilen Bruder zu spiegeln und eine kleine Landkommune zu bilden. Jenes Glück der Regression, das die zweifelhaften Helden von Idioten noch verfehlen, hier scheint es gefunden. Und wenn man diese drei ersten Dogma-Filme als fortlaufende Chronik betrachtet, erleben wir nicht nur eine fortlaufende Entdogmatisierung des Dogma, sondern auch die Geschichte einer psychosozialen Bewegung: den Rückzug aus einer bürgerlichen, ökonomisch strukturierten Welt von Familie und Karriere in ein archaisches, narzisstisches, kindhaftes Dasein. Die Verweigerung der Ästhetik wird zur Ästhetik der Verweigerung. Die filmische Keuschheit hat eine Regression der Empfindungen bewirkt, die zugleich gegen die frivole Intelligenz des postmodernen Kinos und gegen die radikale Geste jener Moderne gerichtet scheint, die das cinematografische Konstrukt von seinem Abbildcharakter zu befreien versuchte. Die Dogma-Filme treiben den „psychologischen Realismus“ des Kinos bis zur Absurdität voran und negieren, was etwa Jean-Luc Godard dem Filmbild als neue Freiheit eroberte. Für die Dogma-Filmer ist Ingmar Bergman der hassgeliebte Übervater. Zu begreifen sind die dänischen Dogma-Filme vermutlich nicht ohne den langen Schatten, den Ingmar Bergman auf sie wirft. Sie versuchen, so scheint‘s, gleichzeitig ihn zu erfüllen, ihn zu bertrumpfen und gegen ihn zu rebellieren.
So eine ödipale Struktur der ästhetischen Arbeit war zwar schon immer durchaus kreativ, erscheint aber doch auch ein wenig überständig. Zumindest die bislang erschienenen Dogma-Filme enthalten die Verzweiflung Bergmans, aber nicht sein Selbstbekenntnis. Es fehlt jenes filmische Selbstopfer, das Filmemacher wie Pier Paolo Pasolini, Bergman, Bertolucci und meinethalben Christoph Schlingensief zu bringen bereit waren. Diese verwackelten Kameras sind nicht bei einem filmischen Ich und auch nicht, das ist beinahe wichtiger, bei einem filmischen Du. Das filmische Subjekt ist in die Aufnahmemaschine geschlüpft, die sich wahrhaft sadistisch und verantwortungslos gibt. Die Krise des Kinos, die wir zu beklagen gelernt haben, ohne uns mit ihren tieferen Ursachen auseinander zu setzen, hat gewiss nicht allein mit der Übermacht einer Bildermaschine namens Hollywood, mit den Widrigkeiten eines unübersichtlichen, zwischen Willkür und Kontrolle changierenden Fördersystems, mit dem Widerspruch zwischen Markt und Kunst und den „veränderten Sehgewohnheiten“ durch die elektronischen Medien zu tun, es ist auch eine Krise des filmischen Erzählens selber. Alle guten Kinogeschichten sind schon ein paar Mal gut und unzählige Male schlecht erzählt worden, das kulturelle Erbe, dessen sich der europäische Film so zu bedienen wusste, wie das Hollywood-Kino sich der Genres bediente, ist verbraucht. Diese Krise der Filmsprache führte zu einigen seltsamen filmkundlichen Lektionen: Gus van Sant, der Alfred Hitchcocks Psycho Einstellung für Einstellung wiederholte, Aki Kaurismäki, der mit Juha zur Erzählweise des
Stummfilms zurückzukehren versuchte (unter anderem, wie er selbst erklärte, um sich „für die eigene Plapperhaftigkeit zu bestrafen“). Und die Moderne im Kino musste scheitern, weil sich die ästhetische und die politische Bewegung nicht mehr aneinander entwickelten, sondern das Kino zurückstrebte zu seinem angestammten Platz zwischen der Sehnsucht nach der Grenzüberschreitung einerseits, dem Wunsch, dorthin zu gelangen, wo noch niemand war, und der klammheimlichen anderen Sehnsucht nach der Mitte, nach der Popularität. Was wir feiern ist einerseits die ewige Wiederkehr der alten Meister, und die Fähigkeit der Einzelnen, den Spagat zu schaffen zwischen der Produktion eines wenn auch noch so begrenzten Marktes und der künstlerischen Autonomie. Wofür da kein Platz ist, das ist ein radikales cinematografisches Projekt, und das ist eine Theorie für ein wie auch immer neues Kino, das es begleitete. Daher trifft die scheinbare Radikalität des filmischen Keuschheitsgebotes von Dogma den Nerv in einer im Ganzen eher trost- und ratlosen Filmkultur. Wenn man also durchaus mit Berechtigung behaupten kann, Dogma sei vor allem ein gelungener PR-Gag, der in dieser Situation immerhin bewirkt, dass über Kino wieder gesprochen wird, so hat uns diese ironische Parallelaktion doch auch ein ästhetisches und moralisches Problem beschert, das möglicherweise über den Anlass hinausgeht. Anders als das postmoderne Kino, das uns gleichsam endlos lesbare Filme bescherte, ein Kino, das sich an Referenz und Selbstreferenz zu berfressen drohte, spaltet die Gegenbewegung, der filmische Purismus, die Kritik. Was die einen als neuen Aufbruch
und Befreiung ansehen, das geht den anderen spätestens nach dem dritten Film auf die Nerven wie die Anmaßung einer Mode, die Armut und Verzicht als neuesten Chic missbraucht. Denn dieses Kino der neuen Keuschheit ist ja kein Protest von unten, nicht eine Neuauflage einer Punk-Ästhetik jener, die von den ästhetischen Produktionsmitteln ausgeschlossen sind, sondern ein Marktprodukt aus der Mitte der bescheidenen europäischen Produktion selber. Es ist kein Verrat, sondern Teil des Projektes selber, dass Lars von Trier verkündet, nach seinem Dogma-Film ein Musical in Hollywood zu drehen. Die Methode ist frei flottierbar, sie ist an keinen sozialen oder kulturgeschichtlichen Ort gebunden. Das wiederum, so meinen die Apologeten, sei gerade Teil der Ironie, vielleicht sogar der Demokratie des Projektes. Und tatsächlich: Ist nicht ein Film, der bewusst und konsequent eben auf das Filmische verzichtet, die radikalste Geste gegen ein Kino, das sich an seinen eigenen Produktionsbedingungen vergiftet hat? Soll da ästhetisch aufgeräumt, ein Nullpunkt erreicht werden? Und ist nicht, andersherum, der Verzicht auf das „Schöne“ einerseits, die Kraft des Erzählens andererseits, ein probates Mittel dafür, das Kino wieder in Bewegung zu versetzen? Die Bilder, die keine Substanz mehr verlangen, können nur zu einer Beschleunigung führen. Die Wirkung der Dogma-Filme freilich entsteht vor allem, weil die Beteiligten weder die Situation noch die „dargestellten“ Personen wirklich mögen. Das vorherrschende Gefühl ist mehr eine Art Ekel; die Faszination, die sich über die Form
nicht herstellen darf, richtet sich auf die Sensation der körperlichen und seelischen Entblößung. Nur dass sie sich nicht mehr als Ritual (wie bei Ingmar Bergman) maskiert - Idioten scheint ja nicht zuletzt eine Art Übermalung zugleich von Godards La Chinoise und Bergmans Der Ritus zu sein -, sondern als Dokumentation. Damit bertragen die Dogma-Filme, was Reality TV an den Schnittstellen zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich sucht, in den magischen Raum des Kinos. Sie „schänden“ nicht nur das Bild, sondern auch den Ort. Der Effekt erscheint, als würde jemand versuchen, dem Terror des Privaten mit den Mitteln der Kriegsberichterstattung zu Leibe zu rücken und dieses substanzlose, flüchtige Bild wieder in den Rahmen der visionären Kunst des Kinos zu stellen. Dies aber scheint mir schon in sich reaktionär. Und Idioten parodiert nicht nur das Projekt der Utopie, es denunziert sie. Sexualität kommt wie ein Schock der Realität, als das Hässliche, über die Zuschauer. Im Fest ist sie von Anbeginn als Schuld in der Familie, als Missbrauch; in Idioten erscheint sie wie ein obszönes Störmanöver: In der Schwimmbadszene fuhrwerkt die Kamera auf den erigierten Penis zu wie auf das Tatwerkzeug eines irren Täters, und die Gruppensexszenen, die möglicherweise, wie einst Bergmans Das Schweigen, die Zensurgrenzen verschieben, sind so freudlos wie Illustrationen zu den mathematischen Konstellationen des Marquis de Sade, auf den sich Lars von Trier bei seiner Drehbucharbeit bezieht. Auch in Mifune erleben wir den Sex zwischen den beiden Frischvermählten ebenso ausführlich wie denunzie-
rend. Und in der Szene, in der Kersten über sein Handy kotzt, erklärt er uns auch, was er von moderner Kommunikation hält. Die Dogma-Filme bilden also nicht so sehr eine Erzählung und schon gar keinen Mythos ab, sondern eine soziale Situation, den Selbstversuch einer Gruppe von Schauspielern, eine Therapie. Vinterberg erzählt, er habe sich zunächst einmal berlegt, mit wem er seine Sommerferien verbringen wolle, bevor er seinen Film konzipierte. Alle drei Dogma-Filme handeln von einem geschlossenen Ort, von einer Gruppe in verschiedenen Stadien von Konstitution und Zersetzung, vom Aufdecken einer großen Lüge, und, was vielleicht ihr größtes Verdienst ist, sie machen den Wahnsinn filmisch nutzbar. Es ist das Kunstwerk, das sich selbst entblößt; es gibt keine Katharsis innerhalb des Werkes, weshalb wir uns auch nur gleichsam im Außen verbergen können. Diese Radikalität der Anklage ist in der Tat anders nicht zu haben. Aber wem gilt sie? Den Vätern (und Müttern), der bürgerlichen Gesellschaft, der schönen neuen Welt des virtuellen Kapitals? Oder gar dem Bewegungsbild des Kinos selbst, das uns spätestens seit Hitchcock nicht nur zu Mitleidenden und Miterlebenden, sondern eben auch zu Mitschuldigen macht? Und welches Publikum trifft das Dogma/ Nichtdogma? Offensichtlich eines, das den Umweg über die Form nicht gehen will, das seine Schuld nicht wahrhaben will. Und eines, das unter dem Trauma der Privatisierung leidet, ohne sich aus ihr befreien zu können. Es ist der Spruch, der Vinterbergs Arbeit überschrieben ist: „In einer Familie hat
KRIEGSNOVELLE ODER
WIE
ERZÄHLGEMEINSCHAFT FÜR EINEN MORALISCHEN KRIEG ERZEUGT WIRD
EINE
P ro lo g 1 : Der Mythos der verlorenen Wahrhei t
„Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit“ - dieser Satz wird in den letzten Wochen mit so beharrlicher Gewichtigkeit wiederholt, und zwar innerhalb eben jener Medien, die nach unseren Vorstellungen für die Wahrheit zuständig wären, daß man sie als neues Glaubensbekenntnis, als Axiom der Berichterstattung vom Krieg akzeptieren müßte, wenn einem nicht gerade durch diese penetrante Wiederholung klar würde: Der Satz kann nur der impertinenteste Teil der großen Lüge sein. Diese Medien behaupten damit nämlich, indirekt und bildhaft, wie sie es gerne tun, ein paar Dinge über sich selbst: 1. Vor dem Krieg wurde - von uns, den Vertretern der Medien, den Journalisten, Kritikern, Kommentatoren des Geschehens - die Wahrheit gesagt, und wenn der Krieg vorbei ist, werden wir auch wieder Zugang zur Wahrheit haben. 2. Wenn wir nicht die Wahrheit sagen, so ist das nicht unsere Schuld. Wir, die Wortbenutzer und Bildermacher, wir sind nicht etwa Partei irgendeiner Schuld in diesem Krieg, wir sind immer Opfer.
3. Wir sind uns unserer Grenzen bewußt und daher bereit, zu schweigen, wo nichts zu sagen ist, keine Bilder zu bringen, wenn es nichts abzubilden gibt, eher das Widersprüchliche zu akzeptieren als aus den fragmentarischen Informationen ein wohlfeiles Urteil zu formen. Wir sind uns, um es in einem Wort zu sagen, unserer Verantwortung bewußt, in der Welt der Fälschungen und Manipulationen. 4. Wir sind nicht schuld, wenn sich später herausstellen sollte, daß wir während dieses Krieges mit falschen Bildern und falschen Erzählungen gelebt haben. Wir haben immer davor gewarnt, aus unseren fragmentarischen und zweifelhaften Bildern zu schnell eine moralische Erzählung zu formen. Nach allem, was diese Medien uns in den letzten Wochen geboten haben, sind das vier faustdicke Lügen, die sich hinter einer scheinbar simplen Aussage verbergen. Und noch eine Lüge beinhaltet dieser scheinkritische Satz: Der Krieg, impliziert er, sei ein wiederkehrendes Ereignis, eine Art Naturkatastrophe, die immer wieder dieselben Phänomene zeige. So ist es halt im Kriege. Nein: Auch was die Produktion seiner Bilder anbelangt, ist jeder Krieg eine eigene Geschichte. Und nicht nur die Politik, nicht nur das Militär, nicht nur jeder einzelne, sondern vor allem auch die Medien, in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit und freimarktwirtschaftlichen Vielfalt, werden auf immer neue Weise schuldig. Die heroische Selbstinszenierung der deutschen Medien besteht im Selbstportrait als angestrengter Streiter gegen Propaganda und Fälschung von allen Seiten, eine auf Hochtouren
laufende Filteranlage, eine Suchmaschine nach der „Wahrheit“ im unendlich suggestiven Netz der Dinge. Jeder Journalist ein Partisan der verlorenen Wahrheit, ein Einsamer im Dschungel der Wahrnehmungen und Gefühle, einer oder eine, der oder die uns verteidigt gegen die Mächte der Manipulation. Wenn dem so wäre, warum kommt dann doch eine so gleichförmige Ikonographie, eine Meta-Erzählung dieses Krieges heraus, deren Details sich an allen Ecken und Enden so verblüffend ähneln, warum schleichen sich die immergleichen Erklärungsmuster, die Modellsätze, die Tautologien, die Dogmen ein, die von sich nichts wissen? Warum wird dann in den deutschen Medien aus dem Chaos einander widersprechender Bilder und Nachrichten eine Erzählung von so furchterregender innerer Selbstgewißheit? P ro lo g 2 : Das Vage und das Offensichtliche
Eine Episode aus der Serie „Baywatch“: Die tüchtige Rettungsschwimmerin und ihre Helfer erreichen einen am Strand liegenden Mann, der offensichtlich nach Atem ringt. „Ich kriege keine Luft!“ keucht er. Die tüchtige Rettungsschwimmerin stellt sofort eine medizinisch hieb- und stichfeste Diagnose: „Der Mann hat Atemprobleme.“ Die nächsten Einstellungen zeigen uns zweierlei: 1. Die Frau hat einen ziemlich knappen Badeanzug als Arbeitskleidung gewählt. 2. Es kommen ein paar medizinische Gerätschaften und Techniken zum Einsatz, die wichtig und wirkungsvoll
sind, uns im Detail aber nicht zu kümmern haben. Schließlich läßt die Dramatik der Situation nun keine Zeit mehr für Erklärungen. Als die erste Hilfe offensichtlich nicht ganz ohne Erfolg abgeschlossen ist, kehrt der Film zur tautologischen Erzählweise zurück. Zwei Sanitäter heben den Kranken vorsichtig auf eine Bahre, während die Heldin sagt, man müsse den Kranken vorsichtig auf eine Bahre heben. Und dann hat sie auch noch Zeit, zu verlangen: „Macht die Tür zu!“, während die Männer die Tür ihres Sanitätswagens schließen. Diese Erzählweise hat auf eine besondere Weise „Glaubwürdigkeit“ erzeugt. Statt einer gleichmäßigen Informationstiefe oder einer Suche nach Information mit Retardierungen und Durchbrüchen, wechselt sie zwischen zwei Strategien rhythmisch ab, nämlich der einer geballten Ladung Offensichtlichlichkeit - ein vergleichsweise einfacher Sachverhalt wird bedeutungsschwer doppelt und dreifach erklärt - und einer dramatischen Vagheit - komplexe Verrichtungen und Beziehungen verschwinden hinter nicht erklärbaren Handlungen und nicht erklärbaren Begriffen, während uns die emotionale Anspannung der Beteiligten in Bann hält. Diese duale Erzählweise vom Terror des Offensichtlichen und der dramatischen Vagheit kennen wir aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen, etwa aus jenen Bedienungsanleitungen komplizierter elektronischer Geräte, in denen seitenlang sehr präzise davon gesprochen wird, wie man einen Stecker in eine Steckdose steckt, um dann in einen vagen Jargon zu verfallen, sobald es um die eigentlichen Funktionen
und vor allem die Probleme des Gerätes geht. Und am Ende, wenn es um die Anwendung fusselfreier Tücher zur Reinigung geht, wird wieder jedes Detail hochnotpeinlich notiert. Es gibt in dieser Erzählweise also vernünftige Präzision und lyrischen Impressionismus, nur beides eben genau an der falschen Stelle. Jede Fernsehshow ist von dieser Erzählweise mehr oder weniger infiziert: die Überdeterminierung im Bereich des Trivialen und Offensichtlichen (im Fernsehen kann nicht einmal applaudiert werden, ohne daß jemand sagt, daß nun applaudiert werde) und das Verschwimmen der Informationen im Vagen, eben dort, wo man über den Raum der gegenwärtigen Inszenierung vor der Kamera hinausgehen müßte, sowohl, was die Zeit, als auch, was den Ort anbelangt. (Man betrachte nur, wie der „Showmaster“ mit einem Menschen anderer Sprache umgeht: Er macht stante pede eine Orgie der Vagheit aus dem Gespräch.) Der Innenraum vollständiger Gewißheit steht dem Außenraum vollständiger Ungewißheit gegenüber. Ich glaube nicht, daß man noch fragen muß, was das mit unseren Bildern vom Krieg im Kosovo zu tun hat. Nicht nur jede Sendeeinheit, jede Einstellungsfolge funktioniert nach diesem Erzählprinzip von Überdeutlichkeit und Vagheit. Eine Flüchtlingsgruppe, die an eine Grenzstation gelangt, wird als Flüchtlingsgruppe, die an eine Grenzstation gelangt, und eine Feuerwehrgruppe, die den Brand an einem getroffenen Hochhaus in Belgrad zu löschen versucht, als Feuerwehrgruppe, die den Brand an einem getroffenen Hochhaus in Belgrad
löschen versucht, bezeichnet. Und wir können sicher sein, daß auf die Konstruktion des Über-Offensichtlichen stets die Konstruktion der Vagheit folgt, die zur Nachricht allein durch die Dramatik des Augenblicks wird (etwa in den Erzählungen der Geflüchteten, in der Erschöpfung der Feuerwehrleute). Wie aber verhalten sich das Offensichtliche und das Vage in dieser Erzählweise? Nicht anders als in einer „Baywatch“-Folge oder einer Gameshow: Die „Wahrheit“ - und nichts anderes kann in der tautologischen Über-Information stecken, in der doch alles mehrfach nachprüfbar ist - wird von der Projektion des Blicks auf das Bild der Inszenierung verschoben. Die Wirklichkeit selbst ist Feindesland, terrain vague. Anders gesagt: Wir werden es in dieser Erzählweise kaum bemerken, wenn eine logische oder moralische Schlußfolgerung vom Bereich des Offensichtlichen in den des Vagen verschoben wird. Aus dem Vordergrund des Offensichtlichen führt der geheimnisvolle Weg in den Bereich des Vagen, in dem „die Serben“ Unsagbares und Bildloses tun, das nur mit etwas anderem Unsagbaren und Bildlosen verglichen werden kann. 1 . Kapi tel: Der Krieg als Erzählung
So ganz allmählich scheinen sich unsere Medien, wenn mich nicht alles täuscht, von der moralischen Erzählung zum Krieg, die sie selbst zum großen Teil mitgeschaffen haben, wieder zu distanzieren. Zum einen durch die Schübe von Selbstreflexion, die auch jene bürgerlichen Blätter - zumindest im Feuilleton erschüttern, die vordem den Kriegserklärungen nur allzu gern
folgten, zum anderen dadurch, daß man, wie die Bild-Zeitung, wieder zum gewohnten Stoff zurückkehrt: „Telefon-Sex gebührenfrei“, „TV-Star verstößt seinen Sohn“, „Papagei brachte einer Stummen Sprechen bei“. Die moralische Erzählung dieses Krieges, seine melodramatische Rekonstruktion, ist freilich auch schon so tief in unsere populäre Mythologie abgesunken, daß sie „natürlicher“ Teil der allgemeinen Wahrnehmung geworden ist. Sie muß kaum noch vertieft, verteidigt oder ergänzt werden. Wie aber ist diese Erzählung zustande gekommen? Unsere Medien sollten uns, so die Abmachung unserer Gesellschaft und unserer Kultur, über die Geschehnisse der Welt, über mehr oder weniger alles, was der Fall ist, „informieren“. Sie können das nun gut oder schlecht tun, ehrlich oder verlogen, sie mögen es gegen allerlei innere und äußere Widerstände tun, es mag Beeinflussung, Fälschung, Blendung, Interesse, Manipulation und sogar Korruption geben. Und alle drei beteiligten Parteien: die Erzeuger der Bilder, die Übermittler der Bilder und die Empfänger der Bilder, tragen einen Anteil Verantwortung dafür, wie nahe die Bilder an einer wenngleich zugegebenermaßen immer problematischeren „objektiven Wirklichkeit“ in den Prozessen ihrer Bearbeitung, Wanderung und Vernetzung bleiben. Aber mehr noch als nach der Wahrheit suchen wir nach dem Sinn, nach der Ordnung in den Bildern. Eine Nachricht wird erst verstanden, wenn sie eine Erzählung geworden ist.
Dieser Krieg versteht sich in unserer Politik und in unseren Medien als Melodram. Es ist eine Erzählung, die keine Transzendenz kennt, weder den göttlichen Auftrag noch den historischen Plan, weder Eroberung noch Verteidigung. Niemand träumt in diesem Krieg davon, daß dieser Krieg - einzig verbliebene humanistische Legitimation - der letzte zu sein hat, wenigstens in einer Region. Er ist wie die, die ihn führen lassen: nicht rational, aber „authentisch“. Seine Moral beweist sich gerade darin, daß er wider die Vernunft geführt wird. Er ist vielleicht in seinem Meta-Text sogar selbst ein Krieg der Moral gegen die Vernunft. Tugend und Terror offenbaren sich in der melodramatischen Erzählweise allein durch sich selbst. Sie bedürfen nicht der Analyse, sie verweigern Ambivalenz. Die melodramatische Erzählweise zeichnet sich gerade dadurch aus, daß alles nach dem Offensichtlichen drängt; sie verweigert sich dem Subtext und dem Hintergrund. Das macht das Melodramatische dem Propagandistischen so offen. Die Erscheinung ist der Inhalt, der zum Ausdruck drängt und zum Ausdruck gedrängt wird. Das Bezeichnete verschwindet unter der Bezeichnung; was wahrgenommen wird, wird es als moralisches Symbol. So wird selbst, das kennen wir, das Territorium moralisiert. Ein Krieg gegen die Bosheit der Natur, ein Krieg gegen Bilder. Es ist, als schreckten wir davor zurück, sein Gelände und sein Wesen allzu genau anzusehen, und als sehnten wir uns, authentizitätshungrig, zugleich danach.
Wir werden über alles Maß hinaus blind gegenüber dem Leiden der serbischen Bevölkerung, übrigens ein eklatanter Unterschied zwischen der deutschen Berichterstattung und der in benachbarten Ländern, weil es das melodramatische Erzählen stören würde. Ein Blickwechsel, das Sehen des anderen, die Ahnung des Widerspruchs, würde diese Erzählung zum Einsturz bringen, die ein großes Versprechen birgt: dazuzugehören. Nicht mehr außen zu sein, kein einzelner, nicht mehr heimatlos. Diese Wir-Sehnsucht, so scheint es, verbindet die hohlköpfigsten Menschen mit denen, denen wir vordem noch den einen oder anderen klaren Gedanken zugetraut haben. Wenn man aber einmal in dieser Erzählung ist, kann man ihren Text nur wahrhaft erbarmungslos zu Ende führen. (Und Clinton darf, ohne daß die moralische Erzählung zusammenbricht, in einem Satz von der „humanitären Aktion“ und davon sprechen, das Bombardement werde „erbarmungslos“ fortgesetzt.) Das Melodrama ist eine Beziehungsfalle: Wird man auf der einen Seite aus Mitleid zum Kriegsbefürworter, so wird man auf der anderen Seite vom Kriegsgegner zum Unmenschen. Nicht einmal diese Perfidie der psychologischen Kriegführung, die zugleich ewigwährender Wahlkampf ist, konnte uns diese Neue Mitte ersparen. Unser Bedürfnis angesichts eines Krieges ist keineswegs, ihn in all seinen schrecklichen Aspekten, in seinem Grauen und seiner Absurdität, zu verstehen, sondern in der einen oder anderen Weise mit seiner Existenz zu leben. Der Krieg muß Erzählung werden. Was ich benötige, sind also - Identifikati-
ons- und Distanzierungsmodelle: die Schurken, die Opfer, die Helden - eine Dramaturgie, die auf die eine oder andere Weise einen Sinn produziert - eine Stimmung des Krieges, in der ich mich nach einer gewissen Zeit, „einfühlen“ kann, eine Kontinuität der Bilder, die mir sagt, der Krieg von heute sei immer noch der Krieg von gestern und nicht etwa ein anderer Krieg im Krieg, und überhaupt sei ein „Ganzes“ nicht zu erzielen - eine Mythologie, die das „Opfer“ erklärt und die Widersprüche aufhebt (wir sind in einer Erzählung, in der Goliath der Gute wird, Ödipus seine Blendung nicht erkennt, Kain den Abel zu Recht schlägt). So geht es also darum, aus dem Krieg eine Erzählung und aus denen, die sie aufnehmen, eine Erzählgemeinschaft zu machen. Eine Erzählung ist ebenso etwas anderes als eine Ideologie, wie ein Mythos etwas anderes ist als eine Lüge. Aber sie ist auch das Gegenteil einer aufklärerischen Geste gegen beides, gegen die Ideologie und gegen die Lüge. Man kann wohl behaupten, daß wir weder in einer Wolke der Propaganda noch in einem Schock der Wahrheit leben, sondern in einer neuen Form des Erzählens vom Krieg, die sich gleichwohl mit dem Fortschreiten selbst verengt, immer weniger Widerspruch duldet, die Rollen immer hysterischer beschreibt, je mehr sich gerade in ihrer Dramaturgie Zweifel ergeben könnten.
2. Ka p i t e l: Offenes und geschlossenen Erzählen
Es gibt in dieser Erzählung Kernstücke und Ausschmückungen, sie wird ja in den unterschiedlichsten Varianten vertrieben, für alle Bildungsstände und alle Konsumentengruppen, das eine Mal als philosophischer Essay, das andere Mal als soap opera verpackt. Aber es gibt dabei einige Essentials, die in den Rang einer endgültigen Wahrheit erhoben sind. Wer diese bezweifelt, begibt sich in der Tat in Gefahr, aus dem Kreis der Erzählgemeinschaft, der normalen und gesunden Menschen, schließlich derjenigen, für die Menschenrechte bei uns Gültigkeit haben, ausgeschlossen zu werden. Wer an ihnen zweifelt, ist ein Unmensch. Sie lauten in etwa: 1. Die Kriegführung der Nato ist bestimmt durch das menschliche Entsetzen über begangene Greuel, irgend andere, verborgene, zweite, doppelte Interessen darunter gibt es nicht. Es ist nicht auszuschließen, daß dieser Krieg in sich ausgesprochen sinnlos ist, ja daß er wider alle menschliche und politische Vernunft geführt wird. Die Form des Krieges widerspricht dem Ziel; die Erzählung hysterisiert sich, weil sie sich selbst auffrißt. Die Kritik des Krieges führt zum Ausschluß aus der Erzählgemeinschaft. Was auf keinen Fall gesagt werden darf, ist dies: daß dieser Krieg selber unmoralisch ist. 2. Milosevic ist an allem schuld. Er ist all das Böse der Macht schlechthin, die Skrupellosigkeit, die Manipulation, die Benutzung der Massen, der aktuelle neue Hitler.
3. Der „großserbische Traum“, die Politik der ethnischen Säuberungen, ist eine Perversion dessen, was wir uns allenfalls in kleinen Dosierungen leisten: Nationalismus, Rassismus, Gewalt. Wenn sich herausstellen sollte - und wir müssen verblendet sein, wenn wir nicht fähig sind, Anzeichen dafür zu erkennen -, daß die drei Axiome der Kriegserzählung der historischen Reflexion nicht standhalten werden, dann bricht viel mehr zusammen als nur die Legitimation eines offenkundig „falschen“ Krieges. Was zusammenbrechen wird, das sind die politischen Biographien einer Generation (und, unter anderen, Joseph Fischer wird ja nicht müde, zur Legitimation die „Angehörigkeit einer Generation“ anzuführen), das ist das Selbstverständnis einer neuen politischen Klasse, jenes neuen Kleinbürgertums, das die moralischen Ideale einer früheren Phase mit den Freuden und Verblendungen der freien Marktwirtschaft ebenso zu versöhnen angetreten ist wie Lust und Bürde der Macht. Und was zusammenbrechen wird, ist das gesellschaftliche Projekt einer Moralisierung des Kapitalismus, einer Moralisierung des Nationalen, eines Pakts zwischen politischer Korrektheit und Neoliberalismus in gemäßigter Form. Was hingegen bleiben wird, ist die Neukonstruktion des Krieges, bei der die Moral die Funktion des Offensichtlichen erhält und das Politische in das Reich des Vagen verschoben ist. Der moralische Krieg kann nicht beendet werden, nur weil er sich als unvernünftig erweist; das Moralische ist im
Melodramatischen, der kürzesten Verbindung von Tugend und Terror, an die Stelle des Religiösen getreten. Es ist der Dschihad der Melodramatiker gegen das Projekt der Aufklärung. Nicht in die Steinzeit vielleicht, wohl aber in ein neues Mittelalter bombt uns die Nato zurück. Und für diesen Prozeß gibt es, gar nicht so vage, wirkliche Interessen. 3 . Ka p i t e l: Vereint bomben, getrennt erzählen
Ein anderes Problem: Der Krieg im Kosovo ist zwar einer, der die europäischen Staaten und den US-amerikanischen militärisch und politisch aneinanderbindet - und beständig wird in dieser Kriegserzählung davon geredet, daß dieser „Zusammenhalt“ ein eigentliches Ziel sei und auf gar keinen Fall gefährdet werden dürfe. Aber andererseits gibt es kaum eine einheitliche Erzählung zu diesem Krieg; jede der beteiligten Gesellschaften lebt in ihrer eigenen, und manche, wie die italienische zum Beispiel, weigern sich überhaupt, der politischen Erzählung zu folgen. Es ist vermutlich nicht ganz einfach, anderen Erzählzusammenhängen zu vermitteln, daß für unsere Erzählung von zentraler Bedeutung ist, daß es gerade die Vertreter einstiger Opposition gegen das Militärische an sich waren, daß es eine besondere Art politischer und persönlicher Biographien ist, die sich in diesem Krieg erfüllen. Ebenso befremdlich mag von anderswoher gesehen der Umstand erscheinen, daß Clinton den Krieg so sehr auf seine eigene Funktion bezogen hat, daß er sich in der ersten Person Einzahl als eigentliches Subjekt der Handlung konstruiert und
die Europäer zu mehr oder weniger kauzigen side kicks macht. Schwer verständlich wiederum vielleicht vom südlicheren Europa aus der vollständige Konsens der englischen Erzähler und ihres populistischen Führers. Undsoweiter. Es wird sich zeigen, ob die Aufsplitterung der Erzählungen dem historischen Projekt - neue gesellschaftliche Herrschaftszusammenhänge führen neue Kriege für eine neue Weltordnung - zugute kommt oder ihm schadet. Die neue Kriegserzählung ist jedenfalls „postmodern“ insofern, als sie beides zugleich liefert: melodramatische Eindeutigkeit und mehrdeutige Vernetzung. Der Krieg der Bilder ist auch ein Krieg der Pop-Diskurse, mit bizarren Inversionen. Bombardiert da die Nato nicht eine Art Woodstock in Permanenz, eine Gesellschaft, die ihre Lebenskraft offenkundig nicht in formierten Propaganda-Aufmärschen, sondern in sehr zivilen, informellen Erscheinungen äußert? Das Militärische des Gegners wird einfach nicht sichtbar. Daß sich die Zivilbevölkerung als Opfer anbietet, mit den ikonischen Target-Schildern (kannten wir die nicht von unserer letzten Jugendrevolte: Schieß doch, Bulle!), kann nur die allergrößte Perfidie sein, die Zivilbevölkerung als „Schutzschild“ zu benutzen, ist die perfideste Weise des Gegners, die Moral des Krieges zu zerstören. Das allergrößte Verbrechen von Milosevic und den Seinen ist es, daß er alles daran zu setzen scheint, uns schuldig zu machen. Dieses Woodstock in Permanenz wird von den Größen der deutschen Pop-Kultur mit einem verstärkten Einsatz für die
Flüchtlinge, aber auch für den Bombenkrieg beantwortet. Sie bezahlen dafür mit dem vollkommenen Verlust des Außenseiterstatus und führen eine Armada in das Mainstreaming, das gleichwohl nie die Hitze eines Konzerts in Belgrad mehr erreichen kann. Jeder Zweifel verschwindet hinter einem anderen Axiom: Was wir betreiben, ist ein schwieriges, demokratisches Unterfangen der Information, was die anderen betreiben, ist Propaganda. Das Bild des Feindes ist immer ein gefälschtes Bild, ein Bild, das etwas anderes will, als es auszudrücken scheint. Was verloren geht, ist der Adel der Ohnmacht; Mainstream und Dissidenz stürzen ineinander, die Karten der Kultur werden in diesem Krieg neu gemischt. Daher unterstützen die Bilderproduzenten dieser Seite so eindeutig den Krieg der Bilderproduzenten auf der anderen Seite. „Daß Milosevic das gedruckte genauso wie das gesendete Wort systematisch in sein System der Haßerzeugung gezwungen hat, ist das eigentlich Verwerfliche, nicht der Versuch, es dem Gewaltherrscher zu entziehen“, behauptet der Kommentator der Süddeutschen Zeitung. Er spricht dabei von der Bombardierung des serbischen Fernsehens, bei der es Tote gab. Auf allen Ebenen wiederholt sich das immergleiche Spiel: Nicht unser Krieg ist barbarisch, nur Milosevic ist barbarisch. Wie aber könnten wir das eigene „System der Haßerzeugung“ noch kritisieren?
4. Ka p i t el: Die Logik der Kriegserzählung
Jede Kriegserzählung reproduziert die immergleichen Elemente in verschiedenen Abstufungen von Hysterisierung und Impertinenz: 1. Der moralische Auftrag. An die Stelle der nationalen Sendung ist das moralische Interesse getreten, von dem Scharping im Bundestag behauptet: „Jedes problematische Tun ist besser als jedes Nichtstun.“ Wenn ich die moralphilosophische Entwicklung recht im Kopf habe, waren wir nach ziemlich mühevollen Arbeiten, die nur zum geringeren Teil in isolierten Studierstuben geleistet wurden, zum genau gegenteiligen Ergebnis gekommen. Und wenn man, wie wir es ja recht gerne tun, den Krieg und die Gemengelage von Feind und Opfer im Bild der „Krankheit“ fassen will (weshalb es ja auch „chirurgische Eingriffe“ geben kann), so muß wohl unterwegs vergessen worden sein, was Paracelsus über die ärztliche Kunst sagte, daß sie nämlich in erster Linie darin bestehe, zu unterlassen, was dem Patienten schade. Mit Scharpings Worten und mit weiten Teilen der Kriegserzählung ringsumher ist ein neues Dogma für den moralischen Krieg aufgestellt: Im klassischen Krieg ging man davon aus, daß es besser sei zu handeln, bevor es der andere tut. Nun ist klar, daß man das Tun über die Vernunft setzt. Diese Verknüpfung von Moralismus und Tatendrang ist zugleich so verführerisch und so überraschend, daß sie die Möglichkeiten der vorausschauenden Kulturkritik überforderte. Im Namen der Moral wurde eine Strategie adaptiert, die man ein paar Jahre zuvor
noch als geistigen Primitivismus aus den USA verachtete: Erst schießen, dann denken. (Und wenn es so offenkundig legitim ist, die Kritik aus der moralischen Erzählung dieses Krieges heraus zu psychiatrisieren, so darf uns wenigstens erlaubt sein, eine Analogie dieses Verhaltens zu etwas aufzuzeigen, was die Verhaltensforschung eine „Übersprungshandlung“ nennt: ein lang unterdrückter Impuls muß irgendwann heraus und kann sich nicht mehr um Vernunft und Ziel kümmern.) 2. Die grenzenlose Roheit des Feindes. Scharping berichtet, er habe von Flüchtlingen gehört, daß „die Serben mit abgeschlagenen Köpfen Fußball“ spielten; „einer schwangeren Frau sei der Fötus herausgeschnitten, gegrillt und wieder in den Leib gelegt worden! Die Täter trügen meist schwarze Masken“ (Bild-Zeitung). Erinnern wir uns an die sadistischen Babymörder im Golfkrieg. Es gibt nur ein einziges, was die Barbarei der Taten im Krieg noch übertrifft: die Phantasie der Barbarei. Mittlerweile arbeiten bereits PR-Agenturen wie Ruder Finn an der planmäßigen Verbreitung von Schreckensbildern des Feindes und praktikablen Begriffen dazu, die zum Beispiel gezielt Vorstellungen von „Konzentrationslagern“ verbreiten. Wenn wir diesen Krieg einmal „aufarbeiten“ werden, werden wir, unabhängig davon, wie falsch oder richtig die moralische Erzählung dazu ist, darüber erschrecken, hoffe ich wenigstens, wieviel davon nach den Gesetzen medialer Marktwirtschaft produziert und konsumiert wurde.
Nomenklaturen werden planmäßig ausgestreut, Milosevic zum Beispiel ist wieder „der Schlächter“, Gregor Gysi natürlich ein „Altkommunist“. Nur Fischer selber ist da noch einfallsreicher, indem er ihn einen „Weißwäscher für eine neue Politik des Faschismus“ nennt. Es ist geplante Strategie, die Verbrechen von Milosevic mit denen des Faschismus gleichzusetzen; Scharping spricht immer wieder von „KZ“, „Selektion“, „SS“. Was sich zuvor eher informell auf dem Meinungsmarkt etabliert hat, nämlich daß der jeweilige Gegner als Person einfach immer der neue Hitler ist, Saddam sowieso und noch von einem „Intellektuellen“ wie Hans Magnus Enzensberger so getauft, Schirinowski indes gleich durch die Bild-Zeitung zum „Russen-Hitler“ gekürt, die Täter von Littleton als „Hitlers mörderische Kinder“, das scheint nun eingesetzt wie in einer Werbekampagne. Wenn überhaupt, bricht diese Werbekampagne für den moralischen Krieg unter ihrem eigenen Professionalismus zusammen (weshalb Joseph Fischer, man achte darauf, sich gegenüber den Pflichtübungen Scharpings stets eigene Küren erlaubt, und Schröder in alledem nichts als Ruhe und Standfestigkeit zu spielen hat). 3. Die Sentimentalisierung der Protagonisten. Joseph Fischer (51) und Journalistenschülerin Nicola Leske (29) heiraten an aus Sicherheitsgründen geheimgehaltenem Ort (Fotografen sind aber trotzdem da): „JA ... auch wenn das Herz schwer ist.“ (Bild-Zeitung) Wir sind an der Front, um Decken und Plüschtiere zu verteilen, und zu Hause geht das Leben weiter, auch wenn uns vor lauter schweren Herzen ganz warm ist. Der
Politiker erhält in der schweren Bürde, die er trägt, einen Ausweis der in der postmodernen Mediokratie selten gewordenen Authentizität. Beinahe zu Tränen gerührt registriert die Kritikerin der Süddeutschen Zeitung die „Aufrichtigkeit, menschliche Erregung“ etc. der Teilnehmer von „Christiansen“. Wetten, daß wir einen ähnlichen Auftritt auf der anderen Seite als „propagandistische Schmierenkomödie“ bezeichnet hätten? Der Krieg ist da, die Wahrheit ist weg, und die Politiker sind mit einemmal plötzlich menschlich aufrichtig. Was da stattfindet, ist eine blutige Karnevalisierung der Wahrnehmung unter dem Motto des Authentischen und Ganzheitlichen. Tatsächlich funktioniert etwas, das die Medientheoretiker in den letzten Jahrzehnten postuliert haben, wenngleich auf ganz andere als die erwartete Weise: Wir werden den Bildern nicht mehr trauen können. Um so wichtiger wird es sein, daß wir den Menschen trauen, die sie produzieren. Unsere Medien verhalten sich in diesem Krieg, als hätten sie diese Lektion vor allem für sich einzusetzen gelernt: Das Mißtrauen gegen die Bilder wird vorausgesetzt, nicht ihre, sondern die Authentizität der Übermittler ist die eigentliche Botschaft. Ja, die ganze Moral dieses Krieges steht und fällt innerhalb des Medienbildes mit dieser Authentizität. Daher wird gerade dies dem Staatsmann hoch angerechnet, wofür er vordem vermutlich aus dem Amt gejagt worden wäre, nämlich Ratlosigkeit gegenüber dem, was er selbst angerichtet hat. Je authentischer Schröder, Fischer, Scharping um ihre
Fassung ringen, ihre „Betroffenheit“ inszenieren, um so weniger wird die Frage nach Sinn und Ziel dieses Krieges gestellt. „Auch wer ihre Überzeugung nicht teilt, wird die Echtheit ihrer Politik kaum bestreiten“, schreibt Rainer Bonhorst in der Augsburger Allgemeinen. Die Echtheit von Politik als Kriegsergebnis? Schröder, Scharping, Fischer sind erfolgreich authentisch, weil sie sich verhalten wie Menschen aus der „Lindenstraße“, denen wir immer mehr glauben, je mehr Fehler sie machen, die aber gerade darin beweisen, daß sie nicht böse und nicht korrupt sind. 4. Sieg auf dem Schlachtfeld - Zahnbürsten für die Bevölkerung. In Stanley Kubricks Film „Full Metal Jacket“ erklärt der Chefredakteur von Stars & Stripes, es gebe nur zwei Arten von kriegstauglichen Nachrichten: GI, die unter der Bevölkerung Zahnbürsten verteilen („Das dient dazu, daß wir die Herzen der Leser gewinnen“), und glänzende Siege des Militärs und getötete Feinde („Das dient dazu, daß wir den Krieg gewinnen“). Ganz nebenbei unterläuft der Film im übrigen damit den Mythos vom Ende des Vietnam-Krieges (was angeblich kommen mußte, weil die Medien ein so „wahrheitsgemäßes“ Bild des Krieges in der Heimat vermittelten); wenn es damals die Phantasie gab, die Medien könnten einen Krieg beenden helfen, so dürfen wir spätestens nun davon ausgehen, daß sie ihn auch auslösen können: Alle Beteiligten, die es nötig haben, rechtfertigen ihren Krieg mit den Bildern in den Medien, denen man „nicht tatenlos zusehen“ könne.
Das zynische Gebot der Kriegspropaganda, also der Täuschung der Menschen, die humane Sentimentalität und die heroische Barbarei stets gleichzeitig zu bedienen, ist nun zur Struktur des Krieges selber geworden. Nur daß sich nun das Humanitäre nicht mehr im Gewalttätigen einschreiben lassen will, sondern daß das Gewalttätige ins Humanitäre eingeschrieben wird. 5. Das Mädchen muß gerettet werden! Beinahe zwei Wochen lang verfolgte uns das Bild eines weinenden Mädchens, das zuerst von der Bild-Zeitung adoptiert wurde und dann durch alle möglichen Medien wanderte, bis es zum Ikon geworden war, das die Schrecken des Krieges und unser eigenes Mitleid so perfekt zusammenfaßte, daß niemand der Versuchung widerstehen konnte, es gleich in den Rang einer Werbeaussage zu erheben, beginnend mit Appellen zum Spenden. Schon trösten wir es mit den Segnungen unseres Freien Marktes auch für Kinderwaren. Der Mythos des geretteten Mädchens gehört zu den Kriegserzählungen; es soll gerettet werden, damit die Verurteilung der Geschichte nicht so total werde wie im Tod des Mädchens im Melodram. Theodor W. Adorno hat von der Reaktion auf das Wissen vom Tod Anne Franks erzählt: „DIESES Mädchen hätte man nicht umbringen dürfen“, sagen die Menschen, und verschwunden ist die Ungeheuerlichkeit des Tötens selbst. 6. Die Sexualisierung der Kriegsdiskurse. In einem Zentrum der Kriegserzählung steht die Vergewaltigung, und ein bizarrer Nebenschauplatz der Diskurse wird vom Vatikan eröffnet, der
nicht einmal die Abtreibung bei den vergewaltigten Frauen erlauben will, was Skandal macht und sogar die Androhung von Kirchenaustritten durch die SPD-Abgeordnete Regina Schmidt-Zadel. Wieder haben wir einen Paradigmen-Wechsel in der moralischen Erzählung vom Krieg; jede Gewalttat löst sofort beides gleichzeitig aus: einen Schlag möglichst symbolischer Gegengewalt und eine humanitäre Gegenbewegung. Da im Projekt des moralischen Krieges durch das neue Kleinbürgertum der Krieg selber nicht mehr als „organisierte Männergewalt“ dargestellt werden kann - jede Grußadresse gilt mittlerweile ganz betont schon „unseren“ Soldatinnen und Soldaten -, muß die verlorene sexuelle Mythologie der klassischen Kriegserzählungen auf Umwegen rekonstruiert werden. Der Krieg wird nicht nur moralisch, er wird in mehrerer Hinsicht auch weiblich. In der klassischen Kriegsphantasie gab es den gepanzerten und feuerspeienden Mann, bereit, sein Blut zu verspritzen und, noch mehr, das anderer Menschen, und die weißgekleidete Krankenschwester, die ihre Fürsorglichkeit beinahe gleich verteilte auf die Verwundeten und Sterbenden beider Seiten, die nach der Mutter zu schreien pflegen, wenn ihre Führer sie verlassen haben. Ganz wie im richtigen, im alltäglichen Leben, hat es keine radikale Revolte der Krankenschwestern gegen die Blutverspritzer gegeben, sondern nur eine neue Form der Amalgamie: Die Panzermänner sind auch Krankenschwestern, und die Krankenschwestern werden auch Blutspritzer. Vielleicht
funktioniert dieser Krieg auch noch als Postfeminisierungsmaschine. Wie der ganze Krieg so scheint auch jede Einzelaktion jedes einzelnen Soldaten und jeder einzelnen Soldatin hypermoralisiert. So richtig heldenhaft und bis an die Zähne bewaffnet und stolz auf ihren Panzern dürfen Soldaten in diesem Krieg nur sein, wenn sie „Hilfsgüter bewachen“. Zukünftige Psychohistoriker werden wieder einmal zu klären haben, was in diesen Menschen als Potential erzeugt wurde. Denn ohne Folgen kann auch für die „Sieger“ der invertierte Krieg für die einzelne Seele nicht bleiben. 7. Die Hysterie der Ausgrenzung. Es stimmt offensichtlich nicht, daß Intellektuelle, wie Martin Walser meint, nur eine Meinung haben könnten, wie jeder andere auch. Wenn es die falsche ist, werden sie zu mehr als zu Verrätern: Handke und Gysi müssen zu jenen Stacheln im Fleisch werden, die beinahe schlimmer als der Feind selber sind. „Gregor Gysi hat seine Maske verloren“ titelt die Bild-Zeitung, und eine Leserbriefschreiberin bringt es auf den Punkt: „Herr Gysi müßte durch den Kosovo gejagt werden und um sein Leben fürchten müssen. Nein, Herr Gysi, Sie gehören nicht zu uns.“ Auch Walser selbst, der sich für diesmal, will mir scheinen, höchst vorsichtig geäußert hat, bekommt diese Stimmung sofort zu spüren: „Das Reflexionsvermögen ist nicht den Medien, sondern dem Dichter abhanden gekommen“, meint der Kommentar in der Süddeutschen Zeitung. Und noch die Frankfurter Rundschau beteiligt sich an der Psychiatrisierung
des Störers Handke, wenn sie ihn als einen bezeichnet, der aus seinem „Kommunionsanzug manisch herauswachsen wollte“ und nun „etwas Wahnhaftes“ an sich habe, zumindest etwas „Verstörtes, Schwermütiges“. Die Psychiatrisierung des Dissidenten hat in diesem Zusammenhang offenkundig einen sehr speziellen Aspekt: der „postmoderne“ Krieg, so ein Subtext der Kriegserzählung, habe aus den ewigen Kindern von 68 erst Erwachsene gemacht, und wer diese Bewegung nicht mitmacht, kann nur ein wahnhaftes Kind sein, das sich dem Reich der Notwendigkeiten verweigert, wie der Kurzschluß von „Kommunionsanzug“ und „Manie“ zu belegen hat. Man akzeptiert in diesem Stadium der moralischen Erzählung keinen noch so geringen Abstrich mehr; Milosevic, der Vertreiber, ist nicht nur ein Verbrecher, er ist der allein Schuldige (er muß so allein sein, damit wir uns nicht etwa als Rassisten ertappen, obwohl wir unentwegt von den Serben sprechen) - jeder kritische Rückblick muß nun untersagt werden (die Politiker ringen schon genug mit ihrer Bürde, sie tragen den Zweifel daran schon mit sich herum) und mehr noch: Nicht die Nato führt Krieg gegen ihn, sondern er führt Krieg gegen sein Volk. In besagtem Kommentar der Süddeutschen bekommen die Rollen ihre Namen: „der Vertreiber“ und „die Beschützer“, „die Mörder“ und „die Helfer“. Erinnern wir uns: Kriegsgegner in den Zeiten des modernen, nationalen Krieges wurden umgebracht. Ein moralischer Krieg kann seine
Gegner nicht so einfach umbringen. Er muß sie moralisch vernichten. Das kann man tun, indem man ihn selbst der Unmoral zeiht: Gysi, der Erfüllungsgehilfe des „Hitlers des Monats“, Milosevic. Daß man die Dinge, auch in schlechten Zeiten, einfach anders sehen könne, auf die Grundlagen von Recht, Demokratie und Aufklärung, kommt nun niemand mehr. Es gibt, anders als in einer Erzählung der Vernunft, in einer moralischen Erzählung nicht einmal ein Recht auf Irrtum, schon gar kein Recht auf Widerspruch. Der Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung antwortet auf die Frage, wie er zu Handkes Entschluß stehe: „Ich bin ja kein Psychiater“. Wir hören dies übrigens alles in der Woche, in der erschreckende Berichte von der eliminatorischen Psychiatrie in Rußland die Runde machen und im Fernsehen gleich nach der Kosovo-Sondersendung zu sehen sind. Es sind nicht nur in diesem Zusammenhang eben doch verhüllte Morddrohungen gegenüber dem, der die Erzählgemeinschaft verlassen hat. Sofort wird dies auch gesellschaftlich umgesetzt; Scharping wird auf dem Parteitag der SPD in München mit pazifistischen Sprechchören empfangen, und was geschieht? Die Polizei greift ein, und wieder ist Scharping erschrocken über die Gewalt und läßt ihr doch seinen Lauf. Schon wieder moralisiert er vor sich hin, und wir bekommen eine Ahnung davon, was passiert, wenn der kriegführende Staat die moralische Erzählung ebenso bedingungslos auch
auf sich selbst anwendet. Der kriegführende Staat militarisiert sich seit jeher auch noch innen, er muß zwangsläufig zu einer bestimmten Form des Polizeistaates werden. Auch daran scheinen wir uns zu gewöhnen, weil es wiederum in seiner postmodernen Form geschieht: die verbale und materielle Gewalt gegen die Dissidenten ist nämlich nur die Kehrseite eines ebenso heftigen Populismus, die Drohung das andere eines permanenten Versuches, sich die Gunst der Mitte zu erkaufen. Zumindest die deutsche Kriegserzählung hat ein weiteres Paradox zum Inhalt: Gerade die Führung eines nicht-nationalen und daher opferlosen Krieges (so wie der Krieg eine „humanitäre Aktion“ ist, ist das Opfer „ein tragischer Irrtum“) nach außen führt zum nationalen Konsens im Inneren; Generationen, Klassen, ja sogar die Geschlechter „vergessen“ ihre Widersprüche, indem sie, anders als im modernen und nationalen Krieg, der neuen Mitte nicht ihr Leben, sondern nur ihre Überzeugungen opfern. Die Konstruktion dieses „Wir“, zu dem die einen gehören und die anderen nicht, erklärt vielleicht am besten, warum trotz der Erfahrung einer hoffnungslosen Absurdität und einer Abwesenheit des positiven Kriegsziels eine gewisse Behaglichkeit, ja Wärme sich um die Kriegsbilder ausbreitet, die Spendenaktionen so viel Zustimmung erfahren, sich die Prominenz so sehr danach reißt, in Zusammenhang mit diesem Krieg zu stehen - und nicht etwas „außerhalb“ zu bleiben - und in den Talkshows mittlerweile ein Pflicht-Teilnehmer
eingeladen wird, der über die Desaster des Krieges zu sprechen hat, bevor die anderen nach dem Betroffenheitsnicken wieder ihre neuesten Serien, Filme, Bücher und CD verkaufen dürfen. 8. Die religiöse Lösung. Was geschah mit dem Piloten, der mit seiner Maschine über Serbien abgestürzt ist? Er weiß es selber nicht genau, sagt er im Interview: „Gott nahm meine Hände und zog für mich“ - nämlich die Reißleine des Fallschirms. Und was gab ihm die Zuversicht? Eine US-Flagge unter dem Overall: „Sie symbolisierte für mich alle Menschen, von denen ich wußte, daß sie für mich beten.“ Jeder aufrechte Kabarettist hätte dies aus seinem Programm gestrichen, weil er nicht in Verdacht geraten wollte, die allerfurchtbarsten Klischees über unsere transatlantischen Verbündeten zu bedienen. Nichts da: Ebenso wurde es im Interview gesagt und gerührt verbreitet. Und nach ihrer Freilassung versprachen die drei amerikanischen Soldaten, für ihre Bewacher zu beten. Und in jeder Kriegserzählung gibt es die gleichen Techniken der Verblendung: Gibt es Aspekte im Bild des Feindes, die zu seiner Produktion nicht passen, so werden sie zum Beweis für die besondere Perfidie bei der Verstellung und bei der Propaganda des Feindes. Scharping, der genau weiß, daß der NatoEinsatz nicht mit dem Völkerrecht zu decken ist, beschreibt den serbischen Grenzübertritt nach Albanien als „Bruch des Völkerrechtes“. Diese rhetorische Veranstaltung ist gewiß gerade darauf abgezielt, zu verbergen, daß es um ein anderes Kriegsziel geht, nämlich um die Ersetzung des Völkerrechtes
durch das Menschenrecht, das nun seinerseits durch das definiert wird, was Schröder „zivilisatorisches Modell Europas“ nennt. Mit anderen Worten: Es wird über kurz oder lang keine „inneren Angelegenheiten“ geben, und so recht das Führungstrio damit haben mag, daß Deutschland keine „direkten nationalen Interessen“ im Kosovo hat (weder wollen wir ihr Land noch ihre Rohstoffe), so sehr heißt das nur: Die Interessen, die in den Kriegen der Zukunft verwirklicht werden, sind einerseits nicht mehr „national“ und andererseits „indirekt national“. Es geht darum, eben nicht als historischen Prozeß das Völkerrecht durch das Menschenrecht zu ersetzen, wofür es durchaus Argumente geben mag und was einen Diskurs darüber verlangte, wer denn nun über dieses Menschenrecht zu bestimmen hätte, sondern im Gegenteil die Unterschiede zwischen beidem zu vernebeln, einen Prozeß zu leiten, der keine Begleitung hat. Was sich in dieser Kriegserzählung bildet, ist nicht weniger als eine neue politische Philosophie, die sich freilich nicht mehr in Ideen, sondern in Bildern formuliert. Die Medien machen nun nicht mehr einfach Propaganda, sie sind die neue Form des politischen Denkens. Dies ist im übrigen nichts anderes als die außenpolitische Wendung dessen, was in der Politik im Inneren ständig vorbereitet war: die Ersetzung des Rechtsstaatlichen und Diskursiven durch den moralischen Rigorismus; wo Rechtsstaatlichkeit als „Täterschutz“ diskriminiert wurde, von den politisch
Korrekten ausgerechnet nach dem Staat für die Einhaltung der moralischen Standards ˆ la PorNo gerufen wurde, ist nun auch dieser Krieg sozusagen bewußt anti-diskursiv erzählt, weil man nicht zusehen kann, nicht: weil man eine Vorstellung hat. So wie das Medium die Wirklichkeit frißt, so frißt das Mittel den Zweck. Und was der Terror der Offensichtlichkeit verbietet, ist das Erzählen in die Vergangenheit und in die Zukunft hinein. Die Konstruktion des neuen „gerechten Krieges“ läßt nur eine Erzählung in der Gegenwart zu. Das Melodramatische verlangt nach einer Moral ohne Bewußtsein. Eine Gesellschaft aber, die nicht mehr in Ideen, sondern nur noch in Bildern denkt, kommt gleichsam automatisch immer zu spät; sie verurteilt sich dazu, an die Stelle von Projekten bedingte Reflexe zu setzen. Epilog
Was bedeuten die Paradigmenwechsel in der Kriegserzählung? Waren die ursprünglichen Kriege - so wir sie uns vorstellen können - ausschließlich materiell und topographisch bestimmt, so der klassische Krieg in seiner Erzählung religiös. Es ging darum, neben dem Fürsten auch dem eigenen Gott zu größerem Reich zu verhelfen. Der moderne Krieg dagegen wurde national erklärt, und in seinem Zentrum liegt das Selbstopfer fürs „liebe Vaterland“.
Das Nationale ist kein Kriegsgrund für den postmodernen Krieg mehr, im Gegenteil, er wird offenkundig gegen den „verrückten Nationalisten“ geführt. Er zerfällt in einen höchst kommerziellen Bereich (im Raum des Vagen) und in einen moralischen Bereich (im Raum der tautologischen Offensichtlichkeit). Beides ist nun das Schrecklichste: das Territoriale und das „Selbstopfer“. In der Idee, ausschließlich militärische Ziele zu bombardieren und zivile Opfer als Versehen zu bedauern, ist nicht zuletzt die Angst vor dem Selbstopfer verborgen, das um alles in der Welt vermieden werden muß. Das neue Kleinbürgertum, der wichtigste Protagonist in dieser Kriegserzählung hierzulande, versucht nichts anderes als die Verknüpfung einer missionarischen Moral mit einer gelegentlich durchaus manischen Selbstfürsorge; das oberste Gebot ist die eigene Gesundheit. Wie also führen Menschen Krieg, die einerseits von der Welt verlangen, sich als moralisch eindeutiges Melodrama zu offenbaren, und die andererseits vor allem von der Angst um sich selbst bestimmt sind? Im Kosovo werden ganz und gar unterschiedliche Kriege zur gleichen Zeit geführt, die sich gegenseitig nicht verstehen, die sich manchmal nicht einmal berühren. Es ist der erste wahrhaft postmoderne Krieg, und seine Erzählung schafft nicht mehr Geschichte, schon gar nicht Bewußtsein von Geschichte, sondern hebt im Gegenteil das Geschichtliche als Dimension selber auf. Er wird in den unterschiedlichsten Zeiten gleichzeitig „geführt“, und will, hierzulande, nur als bildhafte, melodramatische Gegenwärtigkeit verstanden werden.
NEUE PARADIGMEN DER PORNOGRAFIE ÜBER
DEN POST-PORNOGRAFISCHEN
BLICK
IM
KINO
Der Film, wie wir ihn aus den Programmkinos, von den Festivals und aus den Feuilletonseiten kennen, hat, was die Darstellung von Körpern und von Sexualität anbelangt, in den letzten drei Jahren fast beiläufig ein paar Tabus geknackt, ohne dass dies große Aufregung, gar so etwas wie eine Neuauflage der „Pornodebatte“ ausgelöst hätte. Wir sehen Großeinstellungen auf Penis und Vagina, die Kamera schaut beim Geschlechtsverkehr nicht mehr weg, und das Bild des menschlichen Körpers scheint gerade dort zu faszinieren, wo er seine letzte gesellschaftliche Maske, Selbstkontrolle und, ja, auch Schönheit verloren hat. Von den sozialen und Körper-Experimenten der DogmaFilme über die Klage der Verzweiflung in Bruno Dumonts „La Vie de Jésus“ oder „LHumanité“, die Erforschungen des weiblichen Begehrens in Catherine Breillats „Romance“ bis zum Hard Core als Kunstthema in „Guardami“ oder „Baisemoi“ - das Kino weigert sich, vor den letzten Wirklichkeiten zurückzuschrecken oder in eine Zeichensprache des „Erotismus“ auszuweichen, es weigert sich, Ausreden oder Attitüden zu verwenden. Es guckt einfach hin, und manchmal verfällt es dabei ins Starren.
Sexualität wird nicht mehr dargestellt, weil sie der utopische Fixpunkt des Begehrens in den Bildern ist, das große Versprechen, das sich nie vollständig erfüllen darf, oder weil man mehr oder weniger kunstreich um das Verbotene kämpft, Schock und Provokation als letzte Waffe der Ästhetik. Der Körper und die Sexualität werden in diesen Filmen dargestellt, weil es sie gibt. Nicht am Anfang, nicht am Ende der Impulse zu erzählen, sondern mittendrin. Sexualität darstellen, weil es sie gibt, heißt auch, sie darstellen, wie sie ist. Nicht als Traum ihrer Inszenierung, wie im filmischen Erotismus, nicht als Bild der Verdammung wie bei Bergman oder Visconti. Daher ist dieser neue Blick des Kinos auf Leiber und Genitalien vielleicht nicht pornografisch im alten Sinn, er substituiert weder die Praxis durch das fetischistische Ritual, noch vermag er durch Überhöhung zu stimulieren. Aber er ist auch alles andere als anti-pornografisch im Sinne eines Kamerablickes, dem es mehr noch als um die Erhaltung um die Konstruktion der Würde des Bildes geht. Es ist ein post-pornografischer Blick, an den wir uns da, mehr oder weniger, gewöhnen. Wie das Pornografische selbst, so ist auch das Post-Pornografische im Kino nicht allein durch das bestimmt, was wir sehen, sondern auch dadurch, wie wir sehen. Im Übrigen ist es stets unser eigener Blick, der die letzten moralischen und ästhetischen Entscheidungen trifft. Und darin schon liegt eine der Wesenheiten des post-pornografischen Blicks, dass er diesen Blick zum Thema macht. Und was noch? Sexualität muss nicht mehr dramatisch, schön oder grotesk sein. Sie
benötigt am Ende nicht einmal mehr die narrative Ausrede (erinnern wir uns an frühere Zeiten, wo sexuelle Bilder gerade noch erlaubt waren, weil sie etwas zu „bedeuten“ hatten, oder weil man erst durch sie die Charaktere verstanden hätte). Die Kamera ist viel mehr Zeuge als Teil der Inszenierung, und sie signalisiert dabei schon einen Aspekt der Verzweiflung des post- pornografischen Blicks, der an das Glück als Ergebnis der Sexualität nicht mehr glaubt: Der post-pornografische Blick zelebriert seine eigene Ausgeschlossenheit. Vielleicht ist er am besten dargestellt in jener Szene von „LHumanité“, in der Inspektor Pharaon die begehrte Nachbarin beobachtet, die am Boden mit einem anderen Mann fickt. Er kann nicht wegschauen. Sexualität ist im post-pornografischen Blick also nicht die Erfüllung des Begehrens, das, worauf alles hinauswill, sondern eher das, worum man nicht herumkommt. Das muss nicht immer so trist sein wie bei Dumont, wo der Blick auf die Körper ganz buchstäblich die Welt verschließt, aber selbst in „Baise-moi“ und „Romance“ hat dieser Blick etwas Finsteres, als spuke der schreckliche Geist des mehr oder weniger heiligen Augustinus noch in den Bildern des weiblichen Begehrens. Sexualität ist transitiv in diesen Filmen, nicht utopisch. Weshalb nicht nur in der Psyche ihrer Heldinnen und ihrer Helden, sondern auch in der Rhetorik der Kamera das Zärtliche und das Sexuelle gründlich auseinander gebrochen sind. Im pornografischen Blick konnte Sexualität noch als große Ganzheit erfahren werden, ganz einfach alles ist Sexualität, und Sexualität ist die Antwort auf alle Fragen.
Im post-pornografischen Blick ist die Sexualität zerfallen. Die Naheinstellung fetischisiert nicht mehr, sondern dokumentiert die Fremdheit. Der post-pornografische Blick ist vor allem ein gespaltener, einer der sich vor lauter Verzweiflung darüber, dass sich das Objekt der Begierde umso mehr entzieht, je genauer man es ansieht, in seine analytische Strafe verkehrt. Der Blick wird zum Zwang. Ist es also das, was ihr sehen wollt? Dann seht nur noch genauer hin. Und erkennt euch selbst. Wem oder was aber entspricht dieser post-pornografische Blick, wem nützt er, und über wen spricht er? Der post-pornografische Blick richtet sich nach unten, auf die Verlierer und Opfer. Der Körper, die Sexualität, Lust und Begehren (und was wir sonst noch für Wörter für den merkwürdigen Zusammenhang von Mechanik und Fantasie haben, für das „Getöse zwischen Göttlichem und Trivialem“, wie es Catherine Breillat nennt) - das alles verliert in diesem Blick seine Metaphysik. Es ist nicht mehr Versprechen noch Fetisch. Nicht Utopie, sondern Alltag. Man mag das „realistisch“ nennen, am Ende gar aufklärerisch. Zumindest macht es die Kritik schwer. Können wir denn anders, als uns schützend vor Filme wie „Guardami“ zu stellen, wenn Klerus, populistische Politik und Justiz wieder nach dem Verbot greifen, so scheinheilig, wie man dort nun einmal ist? Tun Festivals und Programmkinos nicht recht daran, die moralischen Entscheidungen ausschließlich dem Publikum zu überlassen? Und was ist ein Close-up auf ein
weibliches Geschlecht gegen die Massenfeier des Voyeurismus von „Big Brother“? Am Anfang der 80er-Jahre erfuhren wir in dem Buch von Richard Sennett, „Die Tyrannei der Intimität“, davon, wie die so genannte Privatsphäre durch die Medien perforiert und in den öffentlichen Raum gestellt wurde. Überhaupt wurde das Verhältnis von Privatem und Öffentlichem neu definiert, was unter anderem auch bedeuten mag, dass der Begriff der „Moral“ einen vollkommen neuen Inhalt bekommt. Bloß welchen? Das Fernsehen gab, sehr viel früher als das Kino, darauf eine Antwort. Es machte sich, genauer gesagt, selber zur Instanz dieses Transformationsprozesses - und alle die „Skandale“, die wir in diesem Programm zur Entgrenzung von Intimsphäre und Öffentlichkeit erleben, sind nichts weiter als neue Kapitel in diesem Prozess. Für das Kino war es also ein Problem, die Öffnung der Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen zu dokumentieren, ohne in die alten Muster zurückzufallen, zum Beispiel in jene Komplizenschaft zwischen der Blicklust der Zuschauer und der Zeigelust der Kinomaschine, die ihren dann doch wieder „privaten“ Vergnügungen eine moralische oder ästhetische „Ausrede“ umhängt. Pornografie, das galt auch in den liberaleren Jahren als ausgemacht, ist ein Vergnügen aus dem Privatbereich für den Privatbereich, das nur einen Umweg über die öffentlichen Kanäle nimmt. Und es war ein Kinoproblem, den Paradigmenwechsel in der Sicht auf die Sexualität nachzuvollziehen, der, wenn auch noch lan-
ge nicht vollständig, die alten erotischen Mythen und Ideale (einschließlich derer der Hippies, der 68er und der Subkulturellen) beseitigt. Der Skandal dieses neuen pornografischen Blicks im Kino liegt darin, dass er auf Menschen des Mainstreams in vollständiger Offenheit gerichtet ist. Und mehr noch: der post-pornografische Blick ist zugleich ein moralischer Blick. Die „neuen“ pornografischen Filme handeln von allem Möglichen, nur nicht vom Glück. Sie reflektieren zum Teil auch eine so totale Öffnung von Körper und Blick, die am Ende nur den Tod bedeuten kann - und tatsächlich scheinen ja eine Reihe dieser Filme, wenn nicht vom Wahn, so vom Tod besessen, von einer radikalen Verurteilung der Welt nun nicht mehr im Blick (der sterbenden Melodramen-Heldin à la Lilian Gish), sondern im Bild auf die hoffnungslose Nacktheit. Es ist eine „ungeschützte“ Beziehung zwischen Blick und Bild, die da abläuft, und der post-pornografische Blick ist einer, der dabei auch die Gefahren sieht. In der post-pornografischen Konstruktion erzählt sich Sexualität eher als Vergangenheit denn als Zukunft. Der klassische (Hollywood-)Film erzählte auf das „große Ereignis“ hin, so lange, bis abgeblendet werden kann, bis das Kaminfeuer knistert, der Vorhang sich senkt. Vielleicht ist die ganze Geschichte des Kinos um diesen magischen Moment herum zu verstehen; um jede Sekunde Blick wurde in der Gesellschaft und in den Bilderfabriken gerungen und gefeilscht.
In den Siebzigerjahren hatte zumindest ein so oder so privilegierter Teil der Kinozuschauer den Vorhang für sich gelüftet, ob Kunst, Underground oder Porno. In der „Geschichte der O“ schien sich so etwas wie ein Konsensbild für den Mainstream gebildet zu haben (ungeachtet der Einsprüche von links und rechts), ein Genussversprechen im moralischen Jenseits. Die Achtzigerjahre scheuten sich vor der Ernüchterung, indem sie in das Grauen des Körpers flüchteten, sie zeigten nicht seine triviale Wahrheit, sondern seine Verletzlichkeit. Wenn du glaubst, der Körper sei nichts mehr wert, dann zerschneide, durchbohre, zerfetze ihn! Aber dann? In den Neunzigerjahren wurde vergeblich versucht, eine neue, schwarze Romantik zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen zu errichten. Die Menschen machten sich noch einmal auf eine Suche, sie hatten dies und jenes ausprobiert, aber sie wollten es noch einmal wissen: Wer bin ich? Man kann zu diesem Zweck in den finsteren Datenkanälen und in den Fantasien von Serienmördern verschwinden, man kann aber auch endlos darüber reden. Es führt zu nichts. So ist an der Wende der Jahrtausende klar, dass man die Geschichten gleichsam von er anderen Seite her erzählen muss, aus der großen Ernüchterung, aus der großen Enttäuschung heraus. Recht eigentlich begann der post-pornografische Film mit Blicken auf das männliche Genital, im Vorübergehen (oder im Vorüberschwimmen sozusagen wie in „Color of Night“, wo die full frontal nudity von Bruce Willis noch ein Zensurspielchen initiierte). Der Schwanz zieht die Blicke nun nicht mehr an wie ein Schreibgerät des pornografischen Textes der Welt;
er hängt so herum, steht auch schon mal auf, verspricht einiges und hält nicht halb so viel. Mit dem post-pornografischen Blick auf den Schwanz hat die „traditionelle“ Pornografie im Grunde ihr Subjekt verloren. Pornostars als Filmdarsteller - Tracy Lords musste dafür noch beinahe „anständig“ werden, um in einer Karrieregeschichte zu erzählen, wie man sich gleichsam in den moralischen Mainstream zurückhäutet. Früher konnten Stars wie Sybille Rauch oder Marisa Mell noch zu „Pornodiven“ „herabsinken“. Jemand wie Rocco Siffredi muss dagegen schon in „Romance“ oder „Guardami“ gerade das Pornografische einbringen, das wir in Filmen wie Paul Thomas Andersons „Boogie Nights“ noch als einen heftigen Dialog zwischen diesem Untergrund und der Gesellschaft, als Fragment von Dissidenz kennen und lieben lernten. Und vielleicht ist es gerade auch dies, was nach den vielen komischen und melodramatischen Auflösungsspielen und einem Kino der Gendernauten für die Ernüchterung im post-pornografischen Blick sorgt: Wenn die Perforation von Öffentlichem und Privatem den aktuellen Status erreicht hat, dann ist über Sexualität auch keine Dissidenz mehr zu konstruieren. So muss unter anderem der post-pornografische Blick sogar noch so etwas wie Trauer über den Verlust des Pornografischen selbst in der Welt des öffentlichen Terrors der Intimität enthalten. Natürlich gibt es auch die Umkehrung der Umkehrung: Ein Film wie „Eine pornographische Beziehung“ von Frédéric Fonteyne versucht gleichsam, das Unsichtbare der
Sexualität zu retten: Ein Mann und eine Frau, die sich über eine Anzeige für eine ganz bestimmte sexuelle Fantasie kennen gelernt haben (welche das ist, erfahren wir nicht), und der einzige Blick, den uns der Film in das ansonsten verschlossene Hotelzimmer gestattet, zeigt nur eine gewöhnliche Umarmung. Tatsächlich versucht der Film wohl am konsequentesten, die Geschichte rückwärts zu erzählen, vom Sex zur Liebe sozusagen, aber eben auch von der Trivialität zum Geheimnis zurück. Das Intimste ist überhaupt nur ein McGaffin.
TELETUBBIES IM KOSOVO DREI FRAGMENTE
ZUM NICHT ZU
ENDE
ERKLÄRTEN
KRIEG
Während eines Krieges, so sind wir es mittlerweile gewöhnt, stehen unsere Medien unter einem erheblichen Zeitdruck, und ihre Vertreter werden nicht müde, dies in ihrer gewohnten Mischung aus Selbstabsolution und Hysterie zu verkünden. Danach, sagen sie, wird Zeit sein, die Dinge noch einmal zu bearbeiten, jenen aufklärerischen Impuls zum Recht kommen zu lassen, dem man unter dem Druck der Ereignisse entsagen musste. Die Medien, das wissen ihre Vertreter, können in einem Krieg wie dem im Kosovo nicht unschuldig bleiben, sie sind Instrumente, sie sind Komplizen, sie sind, im Zweifelsfall, eine Waffengattung (weshalb dafür zu plädieren wäre, auch die Kategorie des Kriegsverbrechens auf die Medien auszudehnen). Der Krieg ist nicht zu Ende, er revoltiert weiter, er kehrt von seinem Ende her seine eigenen Voraussetzungen um, er macht das Melodrama, als das ihn unsere kriegführenden Politiker mit Hilfe unserer Medien inszeniert haben, zur Farce. Die Rückkehr zur historischen »Objektivität«, die versprochen war, hat indes nicht stattgefunden. Wir mussten uns mit ein paar selbstkritischen Schlenkern begnügen. Vielleicht haben wir doch ein bisschen zu leichtfertig am Feindbild gemalt. Sorry. Aber dafür bringen wir auch keinen Vorabdruck aus Scharpings Kriegstagebuch. Dass sich nun
die einen wie vordem die anderen, und die wie die eigentlich einen verhalten, dass sich also die history zugleich dümmer und komplizierter als unsere story verhält, dafür können wir nichts. Ansonsten ist die Welt schon wieder voll von neuen Ereignissen, die uns unter Druck setzen. In der Zeit der Medienkriege hat sich mittlerweile eine serielle Dramaturgie entwickelt, die man in drei Hauptakte einteilen kann: 1. Der Flash des katastrophalen Ereignisses: der Kriegsausbruch. Da muss uns das Blut stocken, da müssen wir gebannt sein. 2. Die Kriegserzählung als Grundlage zur Erzeugung einer emotionalen Bindung: Das Melodram, das alle moralischen und sentimentalen Mittel dazu einsetzt, einen »rauschhaften Konsens« zu erzeugen. Nach dem großen Blitz baut sich das Bild auf, Landkarte und Seelendrama. 3. Eine Phase der Ernüchterung und der Selbstreflexion ... Aber begleitet von einem emotionalen chill out. Jetzt hätten wir gerne nur noch Bilder von Linderungen, womöglich gar von Wiederaufbau. Was wir freilich vom Fußball wissen: Nach dem Krieg ist vor dem Krieg. Die klassische mediale Kriegserzählung, die Berichterstattung, Propaganda (oder sagen wir: »mediale Intervention«, wie es im Nato-Stab am Ende des Krieges genannt wurde) und Fiktionalisierung (kein Krieg ohne Kriegsfilme, kein Krieg, der nicht Kriegsfilm-Bilder übermalt) umfasst, hielt sich im Auf-
bau an diese Dramaturgie. Die neuere Kriegserzählung dagegen mag es mit der Lehre für ein gutes Hollywood-Drehbuch halten: Es benötigt Anfang, Mitte und Ende. Aber nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Diesmal also wurde versucht, den Schluss der Ernüchterung in den Vorspann zu holen, um auf diese Weise eine Art des Suspense zweiten Grades zu erzeugen (man berichtet mit den Fälschungen um die Wette), der freilich nur übertünchte, dass man die große Linie (in einem Drehbuch-Seminar nennt man das die »Hauptabsicht« einer Erzählung) nur umso fragloser machte, je mehr man die Details (die »Nebenabsichten« der Erzählung) anzuzweifeln wagte. Tatsächlich nämlich ist die dreiaktige Dramaturgie der medialen Kriegserzählung nur sehr bedingt einer ideologischen Absicht geschuldet. Es ist der Markt, der sie konstituiert. Die Grenzen unserer Welt sind die Grenzen unserer Sprache und unserer Bilder. Die Grenzen unserer Sprache und unserer Bilder bestimmt der Medien-Markt. Die Grenzen unseres Medien-Marktes bestimmen wir einerseits selbst. Das andererseits kann man uns aus einem einfachen Grunde relativ leicht abkaufen, weil es zwischen Traum und Ideologie keine vollkommen schlüssige (das heißt: durch unsere Sprache und durch unsere Bilder zu bezeichnende) Grenze gibt. Wir müssen träumen, nicht nur in der Nacht, sondern auch vor unseren Zeitungen und Bildschirmen. Der Traum ist das Material der Ideologie. Und Ideologie ist die Schnittstelle zwischen Traum und Vernunft.
Was also haben wir geträumt, während der Phase des »rauschhaften Konsenses« in der medialen Kriegserzählung, in der es mit einem Schlag erlaubt war zu hassen, in der sich selbst nachdenklichere Zeitgenossen in Mitglieder einer bewegten Masse verwandelten, moralisch besoffen jeden kritischen Einwand nur noch als pathologischen Schub und soziopathische Störung empfinden konnten? Der Traum, hat Sigmund Freud gesagt, ist die Bearbeitung einer Wunscherfüllung. Welche Wünsche haben wir uns in der medialen Konstruktion des rauschhaften Konsenses erfüllt? Und wie haben wir das bearbeitet? Es kümmert uns fast nichts. Kehren wir zu unserem Drehbuch-Seminar zurück. Eine Geschichte beginnt mit einem Problem, also dem Flash der Katastrophe, der im Übrigen umso wirksamer ist, als er unvorhergesehen kommt. Es ist immer die Idylle, in die der brutale gunfighter, die Ausgeburt der Hölle, die Invasoren aus dem Weltall, die heimatlosen Verführer gelangen, und zwar plötzlich. Zwar beherrschen unsere Mainstream-Medien mittlerweile auch die Kunst, das Offensichtliche zum Überraschenden zu machen, dennoch ist die Vorbereitungsphase der Kriegserzählung prekär. Man darf nicht zu viel verraten vom kommenden Coup. Aus dem Problem entwickeln sich zwei dynamische Stränge: 1. Die »Spannungs-Frage«. Sie richtet sich in die Zukunft und fragt, was wohl als nächstes geschehen wird. 2. Die »NeugierFrage«. Sie richtet sich in die Vergangenheit und fragt, wie das wohl zu Stande gekommen ist.
Es liegt auf der Hand, wie uns die Dialektik dieser beiden Fragen durch die Erzählung und durch die »Geschichte« treibt. Das eine macht uns Angst und vermittelt Mitleiden, es ist ein Element der Beschleunigung, das zweite ist die Hoffnung einer Lösung, in der sich Tat und Gedanke zu einer neuen Einheit finden. Die Utopie der Aufklärung: Die Geschichte soll nicht nur gemacht, sondern auch verstanden werden. Das glückliche Ende einer Erzählung ist es, wenn sich die Lösung der Neugier-Frage als Schlüssel für die Lösung der SpannungsFrage erweist. Die Serialisierung der Erzählung verneint indes diese Lösung (denn es ist eine Erzählung, die in erster Linie sich selbst am Leben erhalten will). Sie verschiebt die »Neugier-Fragen« entweder auf die Aspekte der »Teilabsichten« (sodass sie nicht mehr zu wirklichen »Lösungen« führen können) oder aber ins Jenseits eines hoffentlich nie kommenden Endes der Serie. Als Ausgleich dagegen wird die »Spannungs-Frage« überproportional aufgewertet und damit der Handlung an Dynamik verliehen, was sie an Tiefe verliert. Die Spannungs-Frage ist, in einer deutschen Soap Opera ebenso wie in einer medialen Kriegserzählung, schließlich so dominant, dass Neugier-Fragen gar nicht mehr gestellt werden, weil sie sich gegenüber der Spannungs-Frage als Retardierungen erweisen. Wir wollen nicht mehr wissen, was los ist, wir wollen nur noch wissen, wie es weitergeht. Und wenn wir keine Neugier-Fragen an den Text mehr stellen, können wir auch gar nicht mehr bemerken, dass es gar
nicht mehr weiter, sondern nur im Kreis herum geht. Jeder Krieg ist eine neue Staffel der Serie, wobei die Rollen neu verteilt werden, aber die Drehbuchstrukturen gleich bleiben. Mehr ging ja verloren in diesem Bilderkrieg der New Boys als der letzte Rest des Glaubens an eine erneuernde Kraft, dass der Machthaber im demokratischen Spiel das System der Macht, die er hat oder vor allem nicht hat, verändert. Zum Beispiel der Glaube an die friedensstiftende Macht des globalen Konsums. Ein paar Dogmen des Kapitalismus mit der Kreide-Stimme. Und kaum ein Wort, kein Bild davon in den deutschen Medien. Im März 1999 machten, nur so zum Beispiel, die Zeichen und Bomben der Vorstellung ein Ende, dass sich die konsumistische Vernetzung der Welt (und vor allem der Jugend) als Garantie für den relativen Frieden zeigen würden. Die Benetton-Generation ging ihren blutigen Weg, und die skandalöse Werbung mit Olivero Toscanis Foto der blutgetränkten Uniform-Hose hatte ihre Richtigkeit als Abschied im einzig verbliebenen Diskurs: als Pop. Menschen, die von Benetton-Kleidung träumen, Michael Jackson hören, Coca Cola trinken und Batman Comics lesen, haben deswegen noch keine Hemmungen, einander zu massakrieren. Thomas L. Friedman hatte nicht lange zuvor in der New York Times ein Dogma des gutmenschlichen Kapitalismus verkündet: Zwei Länder, die miteinander durch ein Netz von McDonald‘s-Filialen verbunden wären, behauptete er, und durch die entsprechende Kultur der Jugend, würden nie miteinander Krieg führen. McDonald‘s, Nike-Schuhe und
»Star Wars« (ausgerechnet!) seien andere Worte für Frieden. Unausgesprochen und ganz und gar ohne Bewusstsein ist dieses Dogma als Fantasie in unseren Bildern und Köpfen: McDonald‘s in Moskau, in Peking, vielleicht bedauerlich, dass die Welt schon wieder ein wenig von ihrer Vielgestalt verloren hat, aber den Preis zahlen wir: Es bedeutet Frieden. Es ist der schnellste und einfachste Ausdruck der Super-Lüge, die wir uns nicht vom Hals schaffen können: dass Miteinander- Handel-Treiben die Alternative sei zum GegeneinanderKrieg-Führen. Natürlich wird unter anderem mit Waffen, Menschen und Hunger Handel getrieben, und natürlich drohen sich Handelnde immer mit Krieg. Aber sind nicht die globalen Unternehmen, die zugleich die globalen Zeichen für die Waren generieren, interessiert daran, dass Frieden herrscht, Rechtssicherheit und legaler Fluss der Profite? Nö, sind sie nicht. So wie wir in allen afrikanischen Bürgerkriegen immer wieder das Bild des Toyota-Pickup sehen, der auf jeder Seite die Soldaten auf einfachste Weise zum Massakrieren bringt, so sehen wir nun McDonald‘s als flottierendes Zeichen. In Belgrad schien es niemandem ein Widerspruch, McDonald‘s-Restaurants mit den provozierenden Targets für die Bomber und mit propagandistischen Sprüchen zu verzieren. Wie dumm war doch John Milius in seinem Film Red Heat, als er den Augenblick der größten Bedrohung von America zeigte als sowjetische Soldaten, die vor einem zugenagelten McDonald‘s Restaurant patrouillieren!
Diese Form der Pax Americana ist längst ad acta gelegt; Coca Cola und McDonald‘s sind nicht mehr Zeichen der leichteren Seite des Sieges oder die Bedrohung von Freedom and Democracy, sie sind globalisiert ebenso trotz der Kriege wie durch die Kriege. Sie sind Zeichen von nichts. Könnten wir nun dreimal, zum Beispiel und für den Anfang, Neugierfragen an diesen Krieg stellen? Erstens, was die Struktur der Erzählung anbelangt und wie wir wenigstens nicht miterzählen, was da erzählt wird, zweitens, was die Autorenschaft dieses Drehbuchs anbelangt, und drittens was die Ware, die Zeichen, den Traum des Kapitals im Krieg anbelangt. Der rauschhafte Konsens des Melodrams verbirgt einen McDonald‘s-War. Im Kosovo sind viele Menschen gestorben, die so dramatisch im Bild waren, wie sie schnell wieder vergessen wurden, nicht einmal als history lesson taugt ihr Opfer in unseren Medien. Aber die Neugierfragen, das wissen wir jetzt, will unser Text, will unser Drehbuch der Geschichte nicht mehr zulassen. Dafür haben wir ja unsere Spannungsfragen. Wo wird als nächstes massakriert? Und gibt das genug Stoff für die nächste Serienstaffel her?
WIE WERDE ICH EIN RECHTSPOPULIST? Meine Damen und Herren, es ist schon eine hübsche Vorstellung: da laufen durch das sehr ferne New York in einem Pulk der mehr oder weniger besessenen Marathonläufer ein grüner deutscher Außenminister und der Chef der rechtspopulistischen österreichischen Partei um die Wette. Natürlich gewinnt der sportliche Rechtspopulist, ja genau besehen hätte der Grüne sogar mit Absicht verlieren müssen, um nicht als einer dazustehen, der sich mit einem Macho-Ritual durchsetzen wollte und so schon buchstäblich in die Beziehungsfalle gelaufen wäre, die zu den Erfolgsrezepten des Rechtspopulismus gehört. So setzt sich bereits an diesem krausen Nebenschauplatz fort, was den Rechtspopulismus in der post-demokratischen Mediengesellschaft der symbolischen Ersatzhandlungen für Politik so unwiderstehlich macht. Er kann nicht verlieren, denn die Niederlage würde ihm stets noch mehr recht geben als der Sieg, er kann jedem Diskurs sein Niveau und seine Rhetorik diktieren. Leider fehlt uns die Zeit, eine hübsche kleine Phantasie auszuarbeiten, zum Beispiel: Haider und Fischer verlaufen sich beim New York Marathon gemeinsam in der Bronx und müssen miteinander und gegeneinander die Konfrontation mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit überstehen. Was vermutlich deutlich werden könnte, wenn man diese Phantasie zu Ende entwickelt, ist die Absurdität
aller politischer Mythen und Präsentationsformen der neunziger Jahre. Unsere so unterschiedlichen Marathonläufer nämlich haben beide mit diesem und jenem zu tun, aber nur sehr wenig mit der wirklichen Macht des Kapitals und noch weniger mit der Empfindung seiner Opfer, obwohl sich doch beide, wenn auch sehr gegensätzlich, nicht zuletzt als deren Ausdruck inszenieren. Die unterschiedlichste Inszenierung sieht beim Marathonlauf wie folgt aus: Der eine, der grün-linke Außenminister, der vom Turnschuhpolitiker zum reifen Staatsmann geworden sein will, und vom alternativen Bonvivant mit einem Hang zur Korpulenz zum asketischen Selbstkontrolleur, der andere, der sozusagen geborene Fitnessmensch, ewiger Skilehrer, dessen Körperlichkeit gleichsam natürlich zu Selbstausdruck drängt und blitzrasch und schweißfrei wieder in Hemd und Krawatte erscheint. Beide laufen nach den selben Regeln, vom selben Start ans selbe Ziel, und keiner von beiden kommt auf die Idee, mittendrin anzuhalten, um sich zu fragen: Moment mal, was tue ich hier eigentlich. Nein, unbeirrt zeigt der eine, wie er sich selber überwindet, wie er wollüstig leidet und doch schon süchtig geworden ist nach diesem Laufen um des Laufens willen, und der andere, wie man aus jedem Laufen schon ein Schau- und ein Siegeslaufen macht. Der eine läuft, damit man sieht, wie anstrengend das ist, und wie sehr er zu den vielen, vielen anderen gehört, die sich da mit ihm gemeinsam durch die Stadt quälen, der andere, damit man sieht, wie wenig anstrengend es für ihn ist, und daß er bei allem Mitlaufen doch immer sein eigenes Bild bleibt, da er eben nicht, wie
sein Konkurrent, in dieser Situation Teil der laufenden Masse ist, sondern wie immer von der Woge der Sympathie für ihn aus einem völkischen Jenseits getragen wird. Natürlich ist das ganze auch eine politische Metapher. Man versucht auf sehr unterschiedliche Weise Gestalt zu gewinnen, aber das Spiel ist das gleiche. Wir sehen an diesem Bild vielleicht auch, warum es nach dem Ende der klassischen demokratischen Inszenierungen und der mehr oder weniger vollständigen Medialisierung restdemokratischer Politik keinem noch so angestrengten Linkspopulismus oder so etwas wie einem Liberalpopulismus gelingen kann, sich als Alternative zum allfälligen Rechtspopulismus zu profilieren. Die Besetzung der Mitte mag nämlich in der statistischen Auswirkung erfolgreich sein, sie produziert als Nachricht indes kaum etwas anderes als eine Geschichte des Verrats, entweder wie beim möglichen Linkspopulismus derjenigen Kräfte, die wir dort nun einmal haben, und die haben wir ja, sagt man, verdient, dem Verrat nicht nur an den alten Idealen und den alten Verbündeten, sondern gleich dem Verrat im ödipalen Drama, die Umdeutung der Revolte in immer bizarreren Rechtfertigungsmythemen, während der Liberalpopulismus den Verrat an seiner größten Idee begehen müßte, nämlich sich gerade durch unbarmherzige Konkurrenz aus der Mitte herauszuarbeiten. Man ist sozusagen aggressionsgehemmt, der eine nach unten, der andere nach oben, obwohl realpolitisch nichts anderes geschehen kann als die radikale Produktion neuer Untouchables und neuer Eliten. Kurzum: die Lüge ist hier ein Problem, sie ist nicht nur offensichtlich
und eine semantische Katastrophe: die Beschleunigung des Turbokapitalismus unter ritueller Preisgabe von politischer Moral. Das ist ein Modell der Anpassung für einen Teil des Kleinbürgertums, der wähnt, vor zwei, drei Jahrzehtnen ein wenig den Anschluß verpasst zu haben und dem Neoliberalismus nun ungefähr so angehört wie Joschka Fischer dem Marathonlauf. Für den Rechtspopulisten ist die Lüge kein Problem, weil in ihrer mythischen Mitte nicht der Irrtum sondern die Gemeinsamkeit steht. Wir müssen uns selbst belügen, um Erfolg zu haben, behauptet der Liberal-grün-sozialdemokratische Neue-Mitten-Konsens. Wir belügen vor allem die anderen, behauptet der Rechtspopulist. Und mehr noch: Die Lüge tut uns weh, aber sie muß sein, behaupten die einen, die Lüge macht Spaß, die anderen. Wir kontrollieren sie selbst, wir sind wir, und unnütz zu sagen, daß der Rechtspopulismus von den New Boys der Sozialdemokraten und den Alten Grünen sowie von den forschen Liberalen mit ihrer Manie einer Kultur des Besserverdienenden all das übernimmt, was sich irgend popularisieren läßt. Jörg Haider, der erfolgreichste Rechtspopulist in Europa, ist in sehr unterschiedlichen Diskursen zu beschreiben, die miteinander verwoben, aber nicht unbedingt verschmolzen sind. 1. Er ist Ausdruck eines Transformationsprozesses der parlamentarischen Demokratien unter den Bedingungen von Neoliberalismus und Globalisierung, einer tiefgreifenden Krise in der Beziehung zwischen Parlament, Parteien und Wahlen auf der einen, dem Staat, der Gesellschaft und der Ökonomie
auf der anderen Seite. Zu dieser Krise gehört die Parteispendenaffäre in Deutschland so sehr wie die Beteiligung der FPÖ an der Regierung, oder wie der Sturz einer bürgerlichen Partei mit ökologischem Gewissen in Norwegen durch Sozialdemokraten und eine andere bürgerliche Partei, die auf Modernisierungen um jeden Preis setzen. Der Rechtspopulismus ist also einmal ein Symptom eines Funktionswandels der Parteien und zum anderen der Definition von Macht. Unter anderem verspricht der Rechtspopulismus ja auch, daß die Politik wieder zum Staat führt, auch und gerade wenn die Partei nicht mehr durch eine Pyramidenstruktur aus der Basis wächst, sondern eine virtuelle Erscheinung rund um eine einzige Person ist. Die Person beherrscht nicht mehr so sehr die Partei wie Helmut Kohl die CDU, die Person ist die Partei. Damit verhält sich der Rechtspopulist eigentlich nicht anders als sich, sagen wir, der Skinhead zu seinem vor dem Fernseher schwadronierenden Vater verhält, er tut das, wovon der andere nur träumt, er lebt die internen Transformationsträume der Parteien schon einmal aus. 2. Der Rechtspopulismus ist ein Ausdruck der Medialisierung in einer zweiten Phase, die wir die Simpsons-Phase der Selbstreflexion nennen könnten. Das heißt das Bild der Politik und ihrer Repräsentanten wird nicht allein mehr medial vermittelt, sondern bereits als medialisiertes bewertet. Man wählt niemanden, von dem man sagen würde: Er oder sie macht sich medial nicht besonders gut, aber... Mediale Strategien sind durchaus als durchschaubar angelegt, ohne ihre Wirkung zu verlieren. Wir alle, auch die Gegner des Rechtspopulismus,
sind dazu verurteilt, Haiders nächsten Mediencoup zu erwarten, in dem er nur die endlose Abfolge von tückischen Anpassungsgesten und faschistoiden Ausfällen choreographieren muß, um immer wieder das zu produzieren, was längst an die Stelle des Diskurses getreten ist, nämlich die Nachricht. Haider ist eine Nachricht. Er radikalisiert die Idee von der Politik als Nachricht. 3. Natürlich kann der Rechtspopulismus nur in einem Klima gedeihen, in dem einerseits Strategien der Reggression allfällig sind, insofern ist Rechtspopulismus die konsequente politische Fortführung dessen, was unter den neuen Bedingungen als Unterhaltung vom Komödienstadel bis zum Big Brother angeboten wird, und andrerseits in einer Stimmung von Faschisierungstendenzen auf den unterschiedlichsten Gebieten. Wenn man Haider sehr hübsch einen „Feschisten“ nennen kann, dann seine Ideologie vielleicht als Faschingismus. Die Karnevalisierung der Politik, die wir freilich auch vom historischen Faschismus kennen, eben jenes rituelle Spiel mit der Regelverletzung im rauschhaften Konsens, ist durch ihn ebenfalls medialisiert worden. Während es so gut wie keine triftige Haider-Satire in den Medien gibt, ist beinahe jeder Auftritt Haiders in den Medien eine triftige Satire über den Zustand unseres Journalismus. Paradoxerweise wird er, der als Medienbild entstanden ist, zugleich zum Ausdruck unseres ambivalenten Verhältnisses zu diesen Medien. Wir lieben es, durch sie verblödet zu werden, aber noch mehr genießen wir, wie überrascht es von den Verblödern zur Kenntnis genom-
men wird, daß unser Held sie mit Leichtigkeit vor der Kamera in der Pfeife raucht. 4. Der Rechtspopulismus gewinnt nur scheinbar paradoxerweise deswegen an Einfluß, weil es das soziale und politische Milieu nicht mehr gibt. Er restauriert auf virtuelle Weise das Milieu wie die Volksmusik auf virtuelle Weise die verlorene Geborgenheit im Millieu rekonstruiert. Gewiß kann der Rechtspopulismus an mehr oder weniger rationale Ängste mit mehr oder weniger irrationalen Antworten andocken, kann als Verstärkungsmaschine einer Umwandlung von Angst in Hass dienen, aber mehr noch als die rationalen Ängste, der Verlust der Arbeit, des sozialen Netzes, der inneren Sicherheit, der stationären Behaustheit und wie man die ökonomischen Grundlagen des Kleinbürgertums noch nennen mag, sind sein Material die irrationalen Ängste, die beim Verlust des Milieus als innerer Ordnungsmacht entstehen, das durch einen äußeren, ökonomischen Konformismus entsteht. Alle wohnen in ziemlich genau gleichen Häusern mit ziemlich genau gleichen Autos und ziemlich genau gleichen Möblierungen ziemlich nahe beieinander und haben doch so gut wie nichts miteinander zu tun, weil gerade die Anstrengungen, diesem Konformismus zu genügen, das Milieu, die informelle Konstruktion der Gemeinschaft unterhalb der Klasse, verhindern muß. Was verzweifelt gesucht wird, ist ein Ersatz für das Milieu, all dies, Nachbarschaft, Familie, die Öffentlichkeit der Piazza, der innere Gleichklang der Empfindung, das selbstverständliche Ritual. In der „Lindenstraße“ ebenso wie in der Politik. Alle anderen behaupten, sie würden das Ich sinnreich in ein Sys-
tem einbauen, nur der Rechtspopulist konstruiert ein scheinbar konkretes Wir als grammatische Aussageweise. Seine politische Inszenierung ist nichts anderes als die Imitation des Erlebnisses von Milieu, und wenn man dazu die Konstruktion eines feindlichen Außen benötigt, umso besser. 5. Der Rechtspopulismus ist Ausdruck einer Krise der Familie, des Hauses, der Sexualität, der gender construction, der Beziehung von Arbeit und Privatleben, und nur einerseits dabei nichts anderes als reaktionärer Rückschlag gegen die partiellen Erfolge von Emanzipationsbewegungen oder auch ökonomisch produzierter Veränderungen. Aber vielleicht noch mehr: Er ist auch eine Krise des Ich-Ideals in der Klasse der Klassen, im Kleinbürgertum, er bietet eine Antwort auf die Frage nach der endlos zersprungenen Person in der modernen Form des Führer-Kults, wo die Meta-Person gleich Ersatz für mehrere Elemente der verstörten Seelenarchitektur werden muß. 6. Der Rechtspopulismus ist Ausdruck einer Krise des Wissens, der Verständigung und der Konstruktion dessen, was der einzelne Mensch an Anteil am kollektiven ideellen Eigentum erwarten kann. Er rekonstruiert gewissermaßen die Verhältnisse von Klugheit und Dummheit. Man organisiert das Wissen, daß es darum geht, auf eine besonders kluge Art dumm zu sein. Sicherlich ist es kein Zufall, daß der Rechtspopulismus politische Realität vor allem auf dem Gebiet der Kulturpolitik wird. Man könnte womöglich sogar die These wagen, die eigentliche Aufgabe des Rechtspopulismus in den Transforma-
tionsprozessen der post-demokratischen Neoliberalismus sei gerade die Umformung der Kultur, während sich in der ökonomischen und außenpolitischen Entwicklung unter seinem Einfluß genau das abspielen muß, was sich andernorts unter Sozialdemokraten unter Liberalen oder unter Christdemokraten abspielt. Das Ziel ist nicht nur ein Kapitalismus ohne demokratische Kontrolle, das Ziel ist eine Gesellschaft ohne Kultur des Widerstands. Die Modernisierung, die auf dem Gebiet der Technik gewünscht wird, die auf dem Gebiet der Ökonomie nicht aufzuhalten ist, die auf dem Gebiet der Politik in einer Art nationaler Seifenblase ignoriert werden kann - in der Kultur kann sie gebremst, ja kann sie sogar rückgängig gemacht werden. Die Zumutung des Komplexen und des Widersprüchlichen, vor dem man in der Auseinandersetzung mit der Politik in den Mythos des Rechtspopulisten flüchten kann, der es schon richten könnte, der es denen schon zeigen würde, dem man bei jeder Niederlage ein Jetzt-erst-recht hören läßt, diese Zumutungen der Moderne können auf dem Gebiet der Kultur beherrscht werden. Auch hier gelangen wir sehr rasch an die Grundlagen der historischen Faschisierung: technische Beschleunigung bei gleichzeitiger kultureller Regression. Es liegt auf der Hand, daß zwischen beiden widerläufigen Impulsen nur eine Macht vermitteln kann, die sich als mehr oder weniger totale inszeniert, und die ihren Anteil an struktureller und manifester Gewalt erhöhen muß. 7. Der Rechtspopulist ist Ausdruck der ökonomischen Umverteilung, wenn nicht Ausdruck der Modernisierungsverlierer so doch Ausdruck der Modernisierungsverlustängste. Er
inszeniert daher eine Doppelstrategie des Versprechens: In der populistischen Inszenierung der Macht erlangen wir einen Moment der Teilhabe an der Modernisierung, und zugleich das Versprechen, sie symbolisch zumindest, auf unser eigenes Maß zu reduzieren. 8. Der Rechstpopulismus ist ein Problem der europäischen Transformationsprozesse und wird uns daher auf höchst unterschiedliche Weisen begegnen. Daß er sich dazu einer spezifischen Partei und einer mehr oder weniger solitären Person bedient, ist nur eine der Varianten, vielleicht diejenige mit dem augenfälligsten Symptom-Charakter. Haider also ist auch Ausdruck einer besonderen österreichischen Geschichte und Befindlichkeit und daher nicht einfach irgendwo anders zu wiederholen. Seine Ausstrahlung insbesondere auf Deutschland, und hier wiederum insbesondere auf den Süden, ist dennoch enorm. Wenn man neben den Riten in der Berliner Republik auch das Raunen hört, dann gibt es, was die Beteiligung der Rechtsextremen unter Jörg Haider an der österreichischen Regierung anbelangt neben dem Erschrecken auch die klammheimliche Faszination. Vom vorauseilenden Gehorsam der Gewöhnung ganz zu schweigen. Als bei der politischen Aschermittwochsrede Herr Stoiber bekundete, daß sich die Regierung gefälligst nicht in österreichische Belange einmischen solle, von den Herren und Damen in Brüssel ganz zu schweigen, da brandete eine Art von trunkener Begeisterung auf, die wir nicht anders interpretieren können als mehr als Zustimmung: Stoiber soll
unser Haider werden, und dieser Staider soll auch an die Macht. Anschluß liegt in der Luft. Wir haben keinen Haider, hört man es mal mit mehr Erleichterung, mal mit mehr Bedauern weiter nördlich. Dabei ist es doch gar keine große Sache, sich einen Rechtspopulisten zu basteln. Man muß nur ein paar Grundregeln beachten und das ganze dann mit einem Bräunungsstudio und einer TV-kompatiblen Rhetorik aufpeppen: 1. Der Rechtspopulist ist ein Phänomen, das sich jenseits des Retro-Effekts entwickelt. Es ist entscheidend, daß es sich als etwas „neues“ inszeniert. Er mag hier und dort die Gespenster des „Ewiggestrigen“ beschwören, er selber aber ist keinesfalls ein Ewiggestriger. Der Rechtpopulist hat es nicht nötig, den historischen Faschismus zu verdrängen; er verwendet ihn wie ein Angebot des Supermarktes. Er entdeckt am historischen Faschismus nicht etwas gutes, sondern etwas nützliches. 2. Der Rechtspopulist bringt seine ökonomische Basis bereits mit. Er ist kein „Aufsteiger“, keiner der von unten kommt, sich das Dazugehören erkämpfen müßte. Er ist keiner, der durch die rechte Revolte zu einem Erfolg kommt, den man ihm vorher versagt hat, sondern ein Erfolgreicher, der nach unten spricht. Wenn der historische Faschist seinen Faschismus auf die Wirtschaft projeziert hat, so projeziert der Rechtspopulist seinen wirtschaftlichen Erfolg auf die Politik. Er ist kein „Günstling“ der Wirtschaft, sondern selbst Unternehmer, wenngleich nicht unbedingt in der Ikonographie des „bürgerlichen Unternehmers“, der sozusagen die ganze Welt in
seinem Unternehmen abbildet und umgekehrt die Welt als eine Abbildung seines Unternehmens sieht, sondern im Sinne eines unermüdlichen Dynamisierers mit möglichst breit gestreuten Gebieten. 3. Entsprechend führt der Rechtpopulist seine Partei als dynamisches Wirtschaftsunternehmen. Das heißt: Er benötigt in der Regel nicht das, was man in den klassischen Parteien „die Basis“ nennt. Auch ein System Kohl zu einer Stabilisierung der Macht und zur Vernetzung der Politik mit der Wirtschaft benötigt er nicht, da er dessen Ziele bereits internalisiert hat. Die rechtspopulistische Partei ist keine Kaderpartei, die sich vor Ort „verankern“ will, sondern ein Netz von Vertriebsagenturen, die Events organisieren und ein Produkt anpreisen, die Person des Rechtspopulisten selber und alle Schatten seiner Inszenierung. Wie ein Wirtschaftsunternehmen auch hat die Partei des Rechtspopulisten keine feste Form sondern ist um einige Warenzeichen herum verflüssigt. 4. Der Rechtspopulist ist einer, der „so geworden“ ist; er schadet sich nicht, wenn er als Liberaler, sogar als „Linker“ angefangen hat, oder wenn er ein „Seiteneinsteiger“ in die Politik ist. Er will das System nicht verändern, sondern deutlich zu sich selber bringen. Er bemächtigt sich rechter wie linker Mytheme, die er ad hoc verwendet, um die „klassischen“ Fixpunkte der Faschisierung herum: Rassismus, Nationalismus, Anti-Modernismus, law & order, ständische und völkische Ordnung der Gesellschaft, Militarismus, Autoritarismus, Führer-Prinzip undsoweiter. Die einzelnen Elemente haben dabei
eine Funktion wie semiotische Ionenaustauscher: es gibt solche, die tief in die Mitte reichen, andere, die ganz an den rechten Rand gerichtet sind, alle aber miteinander vernetzt, so daß sich Ketten ergeben. Der Rechtspopulist macht, anders als der traditionelle Neofaschist, kein geschlossenes faschistisches Angebot, sondern entfaltet einen medial verstärkten Sog nach rechts, dessen Stärke nach Bedarf geregelt werden kann und der seine Angelruten immer wieder in die sogenannte Mitte hinein wirft ohne je die Zähigkeit zu verlieren, mit der er immer wieder auf faschistische Kernaussagen zurückkehrt. 5. Der Rechtspopulist ist ikonographisch so wenig zu isolieren wie politisch. Haider behauptet, von Tony Blair würde ihn nichts anderes als der Namen unterscheiden. Nicht nur die Ähnlichkeit der Rhetorik fällt ins Auge, von der Vorliebe für eine bestimmte Art von Oberhemden (ein Diskurs des Weiß mit der Arbeitskleidung: weder spartanisch noch hedonistisch) ganz zu schweigen, sondern auch die Ikonographie gleicht sich; Edmund Stoiber, der als erster zum Einbinden Haiders „geraten“ hat, passt selber ebenso in diese Bildwelt, nur daß man hier eine genau umgekehrte Matrix gewählt hat: eine Staatspartei die unaufhörlich alles kannibalisiert, was rechts von ihr ist. Die Stoiber-Lösung ist sozusagen die nächste Stufe, nämlich Schüssel und Haider in einer Person zu sein, der Rechtspopulist und sein bürgerlicher Schatten. 6. Der neuere Rechtspopulist betont seine Männlichkeit, ohne sie zu monumentalisieren. In einer Gesellschaft, der nicht nur die Arbeitsplätze, sondern gleich die Arbeit selbst
abhanden kommt, verkörpert er nichts als Arbeit. Das mythische Paradox des arbeitenden Unternehmers. Dieser Männerkörper arbeitet immer, und dieses sein Arbeiten ist sein eigentliches Angebot. Er verspricht Arbeit durch seinen Körper und Haß auf alle Nicht-Arbeit. Er sexualisiert diese Arbeit, lange bevor er das in seine Rhetorik einbaut, und sexualisiert noch mehr den Haß auf Nicht-Arbeit, und diese Arbeit muß zurückgewonnen werden, weil sie buchstäblich alles ist: der Erfolg und die phallische Identifikation des Körpers, Selbstwert und Religion. Der Heilige Krieg des neuen Faschismus wird um die Arbeit geführt. Der nicht arbeitende Mensch ist der doppelte Feind: als Untermensch, der nicht arbeiten will oder kann, oder als Konkurrent, der „unsere“ Arbeit streitig macht (so wie der Feind vordem unser Land, unseren Reichtum, unsere Frauen wollte). Der moderne Rechtspopulist setzt dies in seine Performance um: Wenn wir nicht arbeiten, sind wir vollständig mit der Abwehr der Nicht-Arbeit beschäftigt. Die rechtspopulistische Inszenierung ersetzt schließlich sogar die Arbeit durch ihre Verteidigung. So kann sich der Rechtspopulist inszenieren als das arbeitende Nicht-Fremde als Bollwerk gegen die unübersehbare Masse der nicht-arbeitenden Fremden. Dem rechtspopulistisch ergriffenen Mann kann dabei durchaus die Frau, wenn nicht die eigene so doch beliebiger Ersatz, zur Fremden werden, die entweder nicht arbeitet oder aber ihm im Gegenteil die Arbeit wegnimmt. Der Rechtspopulist greift dabei insofern in die Geschichte zurück, als er den Gründungsmythos der postfaschistischen Gesellschaften und der post-kolaboratorischen
Kulturen in Europa aufgreift. Der besagt nämlich, daß der Wohlstand und damit eben auch der Luxus der Demokratie (und von Luxus trennt man sich in schlechteren Zeiten ja bekanntlich am ersten) vor allem auf „unserer Arbeit“ aufgebaut war. Was zur Disposition steht, ist das, was wir mit unseren eigenen Händen aufgebaut haben. Auch diese Lüge reicht weit in die Mitte hinein, und so wird der Rechtspopulismus zur Verteidigung der größten Lebenslüge des Kleinbürgertums in der Nachkriegsära. Sie fühlen sich als Schöpfer des Wohlstandes, der ihnen nun von allen Seiten streitig gemacht wird. Arbeit verschwindet um so mehr, je genauer man sie ansieht. Daher ist das Ur-Angebot des Rechtspopulisten eine Blendung gegenüber der Ambivalenz der Arbeit. Was er verspricht ist nicht nur das alte „Arbeit für alle“, jedenfalls für alle, die zu uns gehören, die wir sind und damit gegen die anderen, sondern auch sowohl eine Entproletarisierung der Arbeit, Haiders Outfit ist gleichsam die Verwandlung aller Arbeit in Weiße-Kragen-Arbeit, als auch die Entintellektualisierung der Arbeit. Das Mythem dazu, beileibe nicht die Erfindung des Rechtspopulisten, ist der mittelständische Unternehmer, ein Phantasma, das nicht nur den wirklichen Mittelstand mit dem Kapitalismus versöhnen soll, sondern auch gleich so etwas wie eine Rückkehr zum ständischen Leben. 7. Dennoch ist der Rechtspopulist mehr als ein blutrünstiges Gespenst eines ökonomisch, kulturell und psychisch sinnlos gewordenen Arbeitsethos. Er verspricht die mythische Auflösung all der Widersprüche, die das Erkennen des Kapitalismus
hervorrufen würde, seine apokalyptische Selbst-Kannibalisierung. Der Rechtspopulist behauptet nur, ein bißchen von dieser Zukunft zu wissen. Diese Zukunft soll zugleich barbarisch und biedermeierisch sein. Notwendig dazu ist immer nur, da vebinden sich wieder die sexuellen mit den ökonomischen Ängsten, alles Vermischte zu trennen, alles vernetzte zu hierarchisieren, alles Prozeßhafte in einem statischen Symbol zu bannen. Er probiert aus, wieviel wir von der Vergangenheit und zugleich wieviel wir von der Zukunft schon akzeptiert haben. Er deckt in der moralischen Phrase den Umstand, daß er im Inneren einer ist, der das moralische Denken bereits aufgegeben hat. 8. Der Rechtspopulist ist der politische Ausdruck von Reihenhäusern, Volksmusiksendungen, Vergnügungsparks, Fußgängerzonen, Kaffefahrten, Landhausstil und Trainingsanzügen. Noch bevor er ausdrückt, was alle denken, drückt er aus, wie alle leben. In semiotischen Systemen, die die urbanen Zumutungen des Fremden, des Unerwarteten und Unberechenbaren, der hohen Kultur ebenso wie der Subkultur abwehren. Ein Leben des individuellen Kollektivismus, in der Nächste zugleich vollkommen identisch und auf Distanz gehalten ist, in gesicherten Innenräumen, die den frei zugänglichen öffentlichen Raum verabscheuen. Die rechtspopulistischen Events ähneln nicht zufällig so sehr den Volksfesten, den rauschhaften Erfahrungen dieser geschlossenen semiotischen Systeme. Darin, vor allem, ist der Rechtspopulist „einer von uns“, und zugleich einer, der das Volkstümliche und Rauschhafte überragt, der uns wieder zur Kontrolle ruft, der uns keineswegs
der endlosen Regression überläßt wie es die alten Nazis und Rechtssektierer getan haben. Selbst die schon in sich durchaus postmoderne, gesteuerte Regression des deutschen Schönhuber ist hier überwunden, Haiderismus, das bedeutet die sozusagen ewige Spaltung der rechten Seele in ein bewußtloses, barbarisches, blutsäuferisches und grölendes Es und in ein asketisches, überkontrolliertes, glückloses und endlos nur Macht begehrendes Über-Ich in eine neue Form des Selbstmanagements zu bringen. 9. Der Rechtspopulist bietet ein offenes System an; er durchmischt die Elemente um sie zu dynamisieren. Daß er sich selber beständig widerspricht und nie so etwas wie ein konsistentes Programm entsteht, versucht er gar nicht zu verbergen, er „bedient“ die Modernisierungsverlierer ebenso wie die Gewinner. Selbst die Offenheit gegenüber der Wirtschaftskriminalität („Causa Rosenstingel“) verstärkt eher die Zustimmung. Das „Wir“ ersetzt ganz einfach alle „objektive“ Moral. Der Rechtspopulist absolviert unsere Vergehen, Es und Über-Ich sind so miteinander verzahnt, daß es in der neofaschistischen Horde schließlich keine Konkurrenz und keinen Vatermord mehr geben kann, eben dies, was dankenswerterweise die neofaschistischen Bewegungen jeweils nach ihren immer wieder überraschenden Erfolgen in den europäischen Demokratien der Nachkriegszeit selbst erledigte. In Bayern hat die CSU einen Mythos geschaffen, der dem Rechtspopulismus in Form einer Partei den Wind aus den Segeln nimmt. Laptop und Lederhosen. Das ist imgrunde nichts
anderes als die alte faschistische Formel von der technischen Beschleunigung und der gleichzeitigen kulturellen Regression: Beschleunigung einerseits, „altes Glück“ andrerseits. Der moderne Rechtspopulist ist das lebende Bild dieser Strategie. Er verspricht besinnungslose Modernisierung im Bereich eines öffentlichen Produzierens, das heimelig gemacht werden kann nur, indem es in gewisser Weise „völkisch“ verstanden wird, während er im Inneren die Bewahrung des „alten Glücks“ verspricht, die den Ausschluß der schädlichen Einflüsse von außen verlangt. 10. Der Rechtspopulist ist nicht nur, wie gesagt, ein Ausdruck, sondern auch eine Antwort auf die Medialisierung der Politik. Man wählt nicht die Lösung seines Problemes, schon gar nicht mehr in der Vermischung von Pop und Politik, man wählt den besten Ausdruck seines Problemes. (Deshalb, vemutlich, wird ausgerechnet die deutsche Regierung, die im Sinne der Transformationsprobleme der spätkapitalistischen Gesellschaften die erfolgreichste Arbeit leistet, die rot-güne Armani-Regierung der new boys, als die unbeliebteste in unsere Kulturgeschichte eingehen. Sie löst einerseits Probleme, die wir gar nicht haben wollen, und drückt andererseits einen gesellschaftlichen Pakt aus, der uns weiter nicht interessiert.) Daher ist das „Sterben“ des Systems Kohl für uns eine Geschichte (und in der Geschichte schon wirkt es weiter), das Regieren der anderen hingegen kommt zu einem vollständigen Verschwinden. Diese Politik will gerade verhindern, daß sie Nachricht wird.
11. Der Rechtpopulist ist nicht „authentisch“ volkstümlich, sondern postmodern gespalten in den Genießenden und den Selbst-Manager. Wenn er das Volkstümliche inszeniert, steht er zugleich neben sich. Jörg Haider ist politisch, was Karl Moik („der aufdringlichste Österreicher nach Haider“, so Ponkie in der Münchner Abendzeitung) im Bereich der „Volksmusik“ ist: Versprochen ist eine unendliche Ausdehnung des Provinziellen. Das dialektische Verhältnis zwischen der technischwirtschaftlichen Beschleunigung nach außen und der Bewahrung des „alten Glücks“, die „Heimat“ nach innen, gerät dabei in eine neue Dynamik: Das alte Glück wird selbst technisch verschärft. Es wird paradoxerweise zum Inhalt der Beschleunigung. Die Welt wird von der Provinz gefressen, und die Kultur darf nur noch Fenster in die eigene Bauernstube sein, die es in Wahrheit längst nicht mehr gibt. 12. Der rechtspopulistische Politiker verspricht, das phallische Zentrum der Macht wieder zu besetzen. Während Le Pen und Schönhuber so etwas wie die Rückkehr der vertriebenen und entmachteten Väter waren, die gleichwohl bereits den alten Neonazismus und seine Rückwärtsgewandtheit zu überwinden trachteten, „sympathische“ Querulanten (mit einem gewissen „Asterix“Bonus in der Mitte), die allerdings nicht wirklich ausersehen schienen, der Macht des rechten Untergrundes manifeste Gestalt zu geben, ist jemand wie Haider der „Sohn“, der vom Stigma der historischen Niederlage kaum noch berührt ist. Und als Sohn kann er Partikel des faschistischen „Erbgutes“
rehabilitieren ohne in Gefahr zu geraten, als „ewiggestrig“ zu gelten. Daß der Aufstieg des Rechtspopulismus das Ende des traditionellen Antifaschismus aus einer aufklärerischen und humanistischen Tradition bedeutet, wird nur zu gern hingenommen, er bedeutet das Ende der Demokratie und das Ende einer „sozialen Marktwirtschaft“, die Bewegung auf etwas zu, das wir wohl einen „völkischen Turbokapitalismus“ nennen könnten. Haider und seine Verwandten sind keine Opponenten der letzten Modernisierungen, sondern die einzigen, die diese Transformationen „verkaufen“ können, ohne einen manifesten Bürgerkrieg zu provozieren. Ihr Krieg gegen Minderheiten und Ausländer, teils virtuell, teils aber auch sehr real, ihr Krieg nicht zuletzt gegen den kulturellen Ausdruck dieser Widerpsrüche, ist die einzige mediale Alternative zu diesem Bürgerkrieg (von dessen Form wir so wenig wissen wie wir wissen wie der nächste Faschismus aussieht, und ob wir nicht längst in einem von beidem oder gar in beidem leben). Der aufklärerische Impuls tut für diesmal gut daran, sich nicht am mythischen Zentrum des Rechtspopulismus allein festzumachen, sondern sehr genau zu untersuchen, wo die Verbindungen und die Verbündeten im Mainstream liegen. Denn auch der noch so geschickt gebastelte Rechtspopulist benötigt neben der internen Konstruktion eine äußere Verknüpfung: 1. einen rauschhaften Konsens über das Aufdecken einer Verschwörung, die vorzugsweise von etwas geführt wird, was
man sich selber fremd machen kann. Die Ausländer, das ist dafür nur das barbarischste, aber wirksamste Bild. Auch das so verfilzte System der etablierten bürgerlichen Parteien - die Rechtsextremen in Deutschland hatten sich eine Zeit auf das Wort „Altparteien“ geeinigt - ist durchaus geeignet, sogar kritisches Potenzial, eine Art: So konnte es ja nicht weitergehen, auf sich zu ziehen. Wer also schon gar nichts begreifen will, der kann immer noch den Erfolg der Haider-Partei als fehlgeleiteten Impuls der Kritik an den so reglosen politischen Verhältnissen interpretieren. 2. einen bürgerlichen Steigbürgelhalter und Inaugorationshelfer. Zugegebenermaßen bietet uns Herr Schüssel ein ebenso deprimierendes wie kabarettreifes Bild. In einer Schulklasse gibt es immer den Clown, die Sportskanone und den Klassenbesten, aber da ist auch dieser Typus des ein wenig klein geratenen, unauffälligen Kerls in der dritten Reihe, von dem sich niemand den Namen merken konnte, und der immer nur lauernd um sich sah, jede Gelegenheit für seinen Vorteil erspähte, jede Freundschaft verriet und jede Gutmütigkeit mit einem Unschuldsblick ausnutzte. Spitzmaus hat unser Biologielehrer diesen Typus genannt. Spitzmaus hat kein Programm und keine Person, aber Spitzmaus will dorthin, wo die Macht ist. Spitzmaus will unbedingt Kanzler werden. Wenn er sich auch mit dem Klassenrabauken zusammentun muß und wieder mal Versprechungen brechen. Wenn er die Macht hat, will Spitzmaus auch wieder brav und unauffällig sein. Spitzmaus begreift nie, was er anrichtet.
3. schließlich benötigt der erfolgreiche Rechtspopulist mindestens einen starken Verbündeten in den populären Medien. Haider und die Kronenzeitung gehören zusammen. Beide, der bürgerliche Steigbügelhalter und die mediale Unternehmung, sind nicht nur Selbstausdruck - das gewiß auch und dabei Symptome der heruntergekommenen bürgerlichen Kultur überhaupt - sie sind auch Ausdruck der ökonomischen Interessen, denn weder der bürgerliche Politiker der sogenannten Volksparteien noch eine Massenzeitung oder ein Fernsehsender können auch nur existieren ohne Unterstützung der ökonomischen Herrschaft. So also schließt sich der Kreis: Weder ist der Rechtspopulist jenes nun von der anderen Seite kommende Gespenst, das in Europa umgeht, und das die Träume und Alpträume der vergessenen und deformierten Massen ausdrückt, noch ein politisches Originalgenie mit grenzenlosen strategischen Fähigkeiten. Er ist ein politisch-ökonomisch-mediales Produkt, das gleich unseren nächsten Mythos evoziert, den vom Zauberlehrling nämlich. Ist Haider etwa ein Produkt, das der Kontrolle seiner Produzenten entkommen könnte, frech, aggressiv und, unser Lieblingswort, unberechenbar wie wir ihn kennen? Sagen wir: dieses Spiel mit dem Feuer gehört zum Authentizitätsangebot des Produkts. Sonst könnte ja wirklich jeder ein erfolgreicher Rechtspopulist werden, so wie jeder, wenn er nur hartnäckig genug ist, entweder eine neue Religion wie Scientology ins Leben rufen oder ein Milliardenunternehmen
aus dem Nichts aufbauen könnte. Man muß sich einfach nur trauen. Wenn der Rechtspopulist alle diese Bedingungen erfüllt und noch ein paar höchst nationaler und von außen nicht unbedingt einsichtiger Modelle bietet, wie sagen wir Haiders Skilehrer-Image und dann noch über ein einigermaßen ambivalentes erotisches Angebot, kann er sich im Grunde völlig frei bewegen und, nur zum Beispiel, real die Politik betreiben, die anderswo unter sehr viel heftigeren internen und äußeren Kämpfen die Post-Sozialdemokraten erledigen, nämlich die Umwandlung einer paralemtarischen Massendemokratie in eine mediale Ökonomokratie, kulturell die geheimen Vorbehalte des Mainstream-Bürgertum bedienen, zum Beispiel in der Bildungs- und Kulturpolitik und drittens nach rechtsaußen unendlich zündeln, um sich sogleich mit einem gleichzeitigen Zungeherausstrecken scheinheilig in der angesehenen Mitte wieder ein bißchen zu entschuldigen. Science Fiction also, nicht weit in die Zukunft hinein projeziert: der Rechtspopulist besetzt als eine scheinbare manifeste, in Wirklichkeit aber vollkommen chamäleonhafte Beweglichkeit einen so großen Bereich der postdemokratischen Gesellschaft, daß er den wahren Terror einerseits nur andeuten, andererseits von der Mitte aus gegen die Opfer der virtuellen Verschwörungsphantasien entfesseln muß. Man könnte also sagen, die Diktatur ist nicht mehr notwendig, es sei denn als persönliches Hobby des Rechtspopulisten, ebenso gut könnte man sagen, der Diktatur-Fall sei insofern bereits eingetreten, als eigentlich keine Option gegen die Herrschaftsform der Symbiose von bürgerlichem Opportunismus und Rechtspo-
pulismus besteht und die Kritik dagegen gleichsam erwartete Bestätigung dieser radikalen Rechtsmitte ist, die, wie gesagt, anderswo von angeblichen Linksmittlern, sogar mit Unterstützung der einst rebellischen sozialen Bewegungen geführt wird. Was dabei eigentlich wen gebiert: der Rechtspopulismus den bürgerlichen Opportunismus, oder den Opportunismus den Rechtspopulismus, der ja immer davon spricht, wie sehr er nichts anderes als das ehrliche und authentische eines großen und ganzen, muß uns dabei weiter gar nicht mehr interessieren. Sie gehören zusammen wie Hypo- und Vereinsbank. Das heißt aber auch: Wer vom Rechtspopulismus spricht, darf von dieser bürgerlichen, kapitalistischen und wandlungsfähigen Mitte nicht schweigen.
Thomas Wörtche
COPLAND Nach Wolfgang Schweigers erster Annäherung an das Genre des „Polizeifilms“ (von 1989) hätte Georg Seeßlen zehn Jahre später zur Feinarbeit am gleichen Gegenstand übergehen können. Zum Beispiel, das Genre vernünftig zu definieren (vielleicht auch zu verwerfen) oder seine ästhetischen Entwicklungslinien zu beschreiben. Liest man jedoch die Einleitung zu Seeßlens „Copland. Geschichte und Mythologie des Polizeifilms“, steht man fassungslos vor einem Verhau, der vorgibt „Ideologiekritik“ zu sein, aber bloß alberne und wirre Klischees produziert. Der Klassenstandpunkt soll laut Seeßlen alles erklären. Der Polizist „als Subjekt einer durchaus terroristischen Macht“ schützt „die Interessen einer Klasse, der er nicht angehört“. Weil er ein „Kleinbürger“ ist, muß er schmerzhaft erfahren, „daß seine Klasse aus einem strukturellen Betrug errichtet ist“. Das frustriert ihn. Ergo, schließt Seeßlen „können ehrliche Polizeifilme nur von gewalttätigen, reaktionären, blinden und selbstzerstörerischen Charakteren handeln“. Tun sie das nicht, sind sie nicht ehrlich. So einfach ist das. Der Grad von „Ehrlichkeit“ eines Filmes (ein seltsames Kriterium) ergibt sich aus der ideologisch richtigen oder falschen Situierung seiner Figuren. Basta. Womit auch der Diskurs über letztlich jede Art von Kunst im Binären geendet hat.
Würde sich Seeßlen allerdings selbst ernstnehmen, müßte er diese Meßlatte im Folgenden an hunderte von Cop-Movies aus aller Welt anlegen. Tut er aber nicht, sondern erzählt lediglich Filme nach. Manchmal anhand von nicht trennscharfen Kategorien („Black Cops“ und „Ethnic, Gender & Cops“), manchmal bloß chronologisch. Konsistenz ist nicht unbedingt ein Vorzug des Buches, dessen inhaltliche und formale Schlampigkeit schon zusammengehören. So zitiert Seeßlen (oder doch Seesslen? Umschlag und Titelblatt sind sich da nicht einig) mehrfach einen gewissen Jerome Chatwyn (im Glossar taucht dann Jerome Charyns Name richtig geschrieben auf) mit dessen Hollywoodgeschichte „Movieland“. Vom Romancier Charyn und seinen Cop Novels um Isaac Sidel hat Seeßlen deutlich keine Seite gelesen. Sonst könnte er nicht einfach so behaupten, daß Cops in der Kunst nur selten „epische“ Figuren sein können. Weil er sich aber auch indirekt auf Charyns Bruder bezieht, der in der Tat beim NYPD war, verknoten sich (nicht nur) an diesem Punkt drei Ebenen heillos: Man weiß nie genau, von was Seeßlen eigentlich redet. Von der Realität, von Literatur oder von Film? Sind seine Aussagen über den Kleinbürgerstatus des Polizisten und seine Seelenlage Aussagen über „echte“ Polizisten? Wenn ja, welche? Gestützt auf welche Empirien? Oder interpretiert Seeßlen die Wirklichkeit wie einen Film, gemäß seiner naiven Klassen-Parameter oder irgendwelcher anderen?
In ein solch wirres Gemisch aus Fakten und Interpretation passen dann komplexere Phänomene schon gar nicht hinein. Zwar stellt Seeßlen etwa den „Drehbuch-“ und „Romanautor“ Joseph Wambaugh vor, verpaßt aber dessen große literarische Leistung seiner Cop-Romane: Die Groteske als ästhetisches Verfahren zu entdecken, um „Polizei“ aus der Alternative von platter Widerspiegelung und Märchen als Thema realistischer Kunst zu etablieren. Das hatte schließlich Folgen. Allerdings nicht für Aldrichs „Choirboys“ (die Wambaugh stets für Geblödel hielt), sondern für TV-Serien wie „Hill Street Blues“ etc. Apropos Fernsehserien: Auch da erweist sich Seeßlen nicht gerade als „synästhetischer“ Denker und übersieht die Interdependenzen von Movie und TV. Deswegen finden künstlerische Meilensteine wie „Cracker“ oder „Homicide“ bei ihm nicht statt. Wohl aber Dumpfbackenproduktionen wie Wallace- und Cotton-Filme, seitenlang. „Copland“ ist ein unscharfes Panorama dessen, was je an Cops über die Leinwand getobt ist. Seeßlen ist ein manischer Filmgucker. Das ist schön und nützlich. Aber gerade diese Materialflut läßt sich nicht einfach vom Zettelkasten in ein Buch umfüllen. Ein paar durchdachte Fragestellungen und Strukturierungen hätten geholfen. Fast drängt sich der Kalauer auf: Wer nur vom Kino was versteht, versteht auch davon nichts. Georg Seeßlen: Copland.
EIN ENDLOSES GEFLOCHTENES BAND: LOST HIGHWAY Lange hat sich David Lynch Zeit gelassen, um einen neuen Film vorzulegen. Konnte es eine Rückkehr nach Lynchville, eine Variation seiner ästhetischen und narrativen Leitmotive geben, oder musste der Regisseur einen Schritt in eine für ihn neue Welt und zu einer neuen Sprache wagen? Die Antwort ist ganz und gar typisch für diesen Autor: LOST HIGHWAY ist beides gleichzeitig. Noch mehr als in den vorherigen Filmen hat man zunächst den Eindruck, es nicht mit einem narrativen Geflecht der Bilder in der «Sprache des Films» zu tun zu haben, sondern mit übereinander geschichteten Bildern, die jede ihre eigene Geschichte erzählen (oder auch nicht) und in ihrer strengen Komposition nicht verschwinden wollen. Die einzelnen Einstellungen ergänzen einander weniger, als dass sie miteinander „sprechen“, und es ist ein Dialog, der das Befremden nicht verhehlen will. Wenn man, sehr schnell und vorläufig, beschreiben will, worum es in LOST HIGHWAY geht, könnte man von der Geschichte eines schizophrenen Mörders ausgehen, der nicht nur mental, sondern ganz direkt materiell in eine andere Person schlüpft. Der Saxophonspieler Fred Madison und seine Frau Renee leben in einem sehr kalten, luxuriösen Haus; ihre Beziehung zueinander, das erkennen wir schon in den ersten
Sequenzen, ist nicht die allerbeste Fred erhält eine mysteriöse Nachricht über das Haustelefon: «Dick Laurent is dead.» Weder weiss er, wer Dick Laurent ist, noch wer ihm diese Nachricht zukommen lassen wollte. In den nächsten Tagen erhalten die beiden seltsame Videokassetten, auf denen zunächst nur ihr eigenes Haus zu sehen ist. Dann aber erkennen sie, dass der Autor dieser Videobilder auch in das Haus selber eingedrungen sein muss und sie beide im Schlafzimmer aufgenommen hat. Und nachdem Fred auf einer Party bei Andy (einem Mann, zu dem Renee möglicherweise mehr als freundschaftliche Beziehungen hat), einen geheimnisvollen Mann kennengelernt hat, der behauptet, zugleich in seinem Haus zu sein, und zwar auf seine, Freds „Einladung“ hin, und dies auch durch einen Telefonanruf beweisen kann, sind die Madisons dem Eindringling ausgeliefert. Fred sieht das letzte Video an; es zeigt die Ermordung seiner Frau. Buchstäblich mit einem Schlag wechselt die Szene zum Verhör der Polizei: Fred Madison ist angeklagt, seine Frau getötet zu haben, er wird für schuldig befunden und zum Tode verurteilt. Aber eines morgens - Fred hat über heftige Kopfschmerzen geklagt und sich vom Gefängnisarzt ein Schlafmittel verabreichen lassen - sehen die Wächter nicht mehr Fred Madison, sondern einen völlig anderen Mann in seiner Zelle. Es ist, wie die Recherchen der Polizei ergeben, der junge Pete Dayton, ein Mechaniker, der gerade einmal wegen eines Autodiebstahls in Konflikt mit dem Gesetz geraten war. Seine Eltern holen ihn ins typische Vorstadthaus zurück, er nimmt seine Arbeit in «Arnie‘s Garage» und seine Beziehung zu seinem Girlfriend
Sheila wieder auf, aber es bleibt ein dunkler Punkt in seiner Vergangenheit, etwas, worüber weder seine Eltern noch seine Freunde sprechen können. Sein bester Kunde ist der Pornoproduzent und Mafiagangster Mister Eddy, dem er die Mercedes-Limousine pflegt Als Mister Eddys Freundin Alice Wakefield sich an Pete heranmacht und Mr. Eddy schliesslich hinter die Sache kommt, wird es für die beiden gefährlich. Nachdem Alice Pete zu einem Überfall mit tödlichen Folgen auf ihren Bekannten Andy angestiftet hat, fliehen sie in die Wüste. Und dort geht mit Pete wieder eine Verwandlung vor. Ein übersinnlicher, psychotischer Thriller mit logischen Schleifen, die nicht mehr in einer linearen Erzählweise aufzulösen sind, bebildert mit den typischen „Lynchismen“, verbunden mit dem Klang-Design von Lynch selber, den Kompositionen von Angelo Badalamenti und der Musik von David Bowie (der mit «I‘m Deranged» den Ton vorgibt), Smashing Pumpkins und Rammstein. In Frankreich löste der Film hymnische Begeisterung aus, beim Sundance Festival in den USA wurde er ausgepfiffen. Doch diese neuerliche Reise in die Schattenseiten der Seele und die dunklen Bereiche, die jenseits der integralen „Person“ liegen, ist mehr als Lynchs frühere Filme zugleich auch eine Untersuchung über die eigenen Mittel, ein Film, der vielleicht am ehesten mit Douglas R. Hofstadters Buch über «Gödel, Eschel Bach» zu verstehen ist, als cineastischer Versuch über Selbstbezüglichkeit und das endlose geflochtene Band.
Wieder, so scheint es, verweigert sich die Repräsentation dem Repräsentierten und lässt diese nicht den Hauch von „Natürlichkeit“. Das Lynchsche Kino-Bild verweist nicht auf ein hinter ihm liegendes Leben, sondern es reproduziert sich in selbstbezüglichen Schleifen selbst. Beide, die verstärkende und die kontradiktorische „Übertreibung“ in der Inszenierung, der Meta-Kitsch und die Paradoxie, vollziehen den radikalen Bruch mit dem harmonischen Gleichklang von Abbild und Sinnbild auf der Leinwand. Statt das Leben abzubilden (in welchem Massstab und mit welcher Absicht auch immer), bringen die Filmbilder bei Lynch ein anderes Leben hervor. So wie ein selbstbezüglicher Satz (wie man ihn bei Douglas Hofstadter findet) nicht nur in endlose Bedeutungsschleifen führen kann («Der zweite Satz dieses Textes ist gelogen. Der erste Satz dieses Textes ist wahr. »), sondern sich zum eigenen Subjekt machen kann («Ich bin ein Satz ohne Aussage!»), so machen sich Lynchs Filmbilder zu einem Gegenüber. Sie haben keinen „Inhalt“, sie sind ihr Inhalt. Damit geht Lynch einen entscheidenden Schritt über das hinaus, was jeder gute Filmemacher tut, nämlich eine eigene Bildwelt zu schaffen, die auf eine bestimmte Art der „wirklichen“ Welt parallel ist (wir sprechen dann gerne von einer «Logik des Traums») und ebenso in sich stimmig wie bewohnbar. Lynchville dagegen entsteht aus unbewohnbaren Bildern, aus Bilder denen es vor sich selber graut. Wären die Bilder in Lynchs Film Sätze, so würden sie gewiss von sich behaupten, nichts anderes als sich selbst zu kommentieren, und eben darin würden sie zugleich lügen und die
Wahrheit sagen, denn die Selbstbezüglichkeit in einem ästhetischen System hebt ihr Sprechen über die Welt - und über seine Urheber - nicht einfach auf, führt es aber gleichwohl auf eine höhere Ebene, auf der „Ich“, zum Beispiel, drei Dinge gleichzeitig bedeuten kann, nämlich den Autor, das Subjekt der Erzählung und das ästhetische Mittel - den „Satz“ oder die Sequenz etwa. Die Bilder also bestehen aus Bedeutendem, das seine Beziehung zum Bedeuteten nicht in einer linearen Beziehung offenbart, sondern nur in mehrfachen Kreisbewegungen durch die Bilder selbst. Um eine Sequenz des Filmes zu „verstehen“, muss ich sie nicht nur in Beziehung mit anderen setzen, wie Wir es gewohnt sind, sondern sie mehrfach an anderen Sequenzen und schliesslich an sich selbst spiegeln. Was uns andererseits dieses Verständnis auch wieder leicht macht, ist die Komposition der Selbstähnlichkeit. Die hypertrophen Steh- und Wandlampen und ihr dysfunktionaler Lichtwurf in den Lynch-Filmen (und übrigens auch im bildnerischen Werk des Autors) bedeutet nicht «schummriges Licht»/«unklare Verhältnisse» als Sinnbild, oder «altmodische Lichtquellen»/«vierziger oder fünfziger Jahre» als Abbild, noch sind sie schliesslich an eine distinkte Stimmung in unserer Kino- Konvention («Bedrohlichkeit»/ «Heimeligkeit») gebunden. Das heisst in der Objektsprache des Kinos sind sie weder das, was man «konventionalisierende Objekte» nennen kann (Objekte, die uns davon überzeugen sollen, dass wir in einer bestimmten Wirklichkeit leben, die sich räumlich und zeitlich, aber auch kulturell und sozial zuordnen lässt), noch
das, was man «bedeutende Objekte» nennen kann (Objekte, die für die handelnden Personen und für die Konstruktion der Handlung von Bedeutung sind), noch schliesslich sind Sie leere Objekte (also Objekte, die für sich genommen keine Bedeutung haben, aber die Handlung in Bewegung sehen, wie der magische Ring des Märchens oder der Hitchcocksche «MacGuffin»). Diese Lichter also, ein Beispiel für das Lynch-Objekt, bekommen vielmehr ihr eigenes Leben in der Dynamik der Komposition. Sie „sprechen“ nur über das Filmbild selber, und dies möglicherweise in einer bildhaften Variation unseres paradoxen, selbstbezüglichen Satzes: «Ich bin eine Lichtquelle ohne ein zu beleuchtendes Objekt». Woraus folgen mag: «Ich werde mir selber zum Thema». Anders gesagt, diese paradoxen Lichtquellen (die zu den unabdingbaren Motiven in der Lynch-Ikonographie gehören) beleuchten nichts, was in einem Zeichensystem jenseits des Films „Sinn“ ergeben könnte. Sie sind damit Zeichen ihrer selbst zugleich aber, in einem ästhetischen System der Selbstähnlichkeit, „Abbildungen“ der ästhetischen Methode des Lynch-Filmes selber. Auch er will nichts (mit den Mitteln des Films) „beleuchten“, sondern ein sich selbst reproduzierendes System schaffen, das sich - eine weitere Paradoxie! - eben der in der Wirklichkeit verborgenen, „verbotenen“ Formen struktureller Selbstbezüglichkeit (Inzest, Psychose, Vision, Selbstmord et cetera) bedient. Mit LOST HIGHWAY tritt das Kino des David Lynch in eine neue philosophische Phase. Zum ersten Mal stellt es seine Methodik, seine innere Struktur, seine Grammatik (neben der Lynch-Zeichenlehre) zur Disposition.
Wieder haben wir es mit den Kompositionselementen zu tun, die wir kennen. Zelebrierte, über betonte Dialoge, die Kneipe als seltsames Zwischenreich, das nächtliche Blau der Neonreklame, die dunklen Räume, in denen Lampen das Licht an die unpassendsten Ecken werfen, die unbestimmten uteralen Geräusche, das Flimmern der Bildschirme, die vergeblichen Versuche, einander zu berühren, das «doppelte Fading» in eine Dunkelheit hinein, in der man mehr ahnt als erkennt, das angestrengte Sehen und Lauschen der Figuren auf eine unbestimmte Nachricht aus dem Irgendwo, die Nahaufnahmen von Maschinen und Gestänge, von Augen und Ohren, die Reisen der Kamera, vom Körper hinweg über die zerklüfteten Landschaften, der Wechsel von Rot und Blau, die Erscheinungen der rätselhaft dunklen und der feenhaft hellen Frau (die doch nur Verwandlungen voneinander und ineinander sind), das Eindringen in die geschlossenen Räume, Verwirrungen auf Hotelfluren, die so unterschiedlichen Bewegungsmelodien verschiedene Figuren. (David Lynch dreht seine Filme nicht in der gleichbleibenden Geschwindigkeit von 24 Bilder pro Sekunde; er wählt für jede Einstellung die dazu passende Geschwindigkeit der Aufnahme.) Kein Zweifel: wir sind in Lynchville. Und wir sind es doch nicht. Die Dinge haben, so wird schnell deutlich, ihren fremdartigen Reiz verloren, sie sind zu einer schwermütigen Alltäglichkeit geworden. Es wird nicht darum gehen, sie noch einmal auszustellen. Lynchismen werden nun gleichsam beiläufig präsentiert; sie sind, noch ein mal, vom Inhalt zur Form geworden. Jenes Befremden, das etwa in BLUE
VELVET oder «Twin Peaks» die Konfrontation des Alltäglichen mit dem Grausamen, das Märchen und die Psychoanalyse auslösten, ist nun zur Basis der Erzählung geworden. Lynch benutzt seine eigene Sprache und seine eigenen Film-Erzählungen so, wie er in WILD AT HEART eine Outlaw-TeenagerLove-Novel als Kompositionsmaterial gebraucht hat. Was ist LOST HIGHWAY? Es ist definitiv kein Road Movie, auch wenn jene Einstellung auf die gelben Mittelstreifen des Highway, die wir aus BLUE VELVET kennen, visuelles Leitmotiv und Strukturmerkmal geworden ist Im Gegenteil, es ist ein Film der Bewegungslosigkeit, der Ortlosigkeit. Es ist, als würden sich ERASERHEAD und BLUE VELVET in einen endlosen Dialog verdrehen, als würde eine Filmerzählung, vom Virus der Selbstbezüglichkeit befallen, sich vor unseren Augen auflösen. Und es ist ein mehrfach gebrochener längerer Tagtraum, der - so behauptet jedenfalls David Lynch - seinen Ausgang in einem wirklichen Geschehen nimmt: Tatsächlich hat irgendjemand eines Tages bei David Lynch ins Haustelefon die Worte «Dick Laurent is dead» gesprochen, tatsächlich war, als er aus dem Haus sah, niemand mehr da, und tatsächlich kennt David Lynch niemanden, der Dick Laurent oder so ähnlich heisst. Ein alltägliches Missverständnis und ein philosophischer Fallstrick - manchmal ist beides ganz nahe. Das Leben in Lynchville ist moderner und kälter geworden, immer noch gibt es die seltsamen Pflanzen an den kahlen Mauern, aber sie sind dezenter geworden. Das Haus ist eine einzige Festung, die Fenster erscheinen wie Schiessscharten,
alles scheint abweisend und karg, aber auch von einer seltsamen klaren Schönheit. Nicht mehr die entrückten Americana des ins Abgründige übertriebenen Saturday- Post-Stils eines Norman Rockwell, die Luftlosigkeit eines Edward Hopper dominiert. Wir sehen zunächst nichts anderes als eine schreckliche Entfremdung im Leben eines jungen Paares. Alles, was dazu gehört, können wir genau beobachten (während andere Vorgänge der Beobachtung in unsere eigenen Beobachtungen interferieren): die Schwierigkeiten, miteinander zu sprechen, sexuelle Probleme, die Spiele der alltäglich Gemeinheiten auf einer Party, das Misstrauen und die Lüge. Und wie wir es aus einem Thriller gewohnt sind, kulminiert diese Entfremdung in eine Tötungsphantasie. Oder genauer gesagt in drei miteinander verzahnten Tötungsphantasien: die untreue Frau, ihr Liebhaber und der sadistisch „Vater“ sind die Opfer, und ein Mord erscheint wie die Sühne für den anderen. Aber das Band der Geschehnisse flicht sich vollkommen anders als gewohnt, anders auch, als es bei David Lynch gewohnt ist. Aus der seelische und partnerschaftlichen Krise ergibt sich eine Zeit schleife, die keinen wirklichen Weg mehr nach aussen sieht. Das geht auch sehr viel weiter als da Spiel «Erst die Antwort, dann die Frage» bei Quentin Tarantino. Am Beginn erhält der Held eine Nachricht, mit der er noch nichts anfangen kann, am Ende wissen wir, dass er selber diese Nachricht gesprochen hat Er existiert also am Ende, wie der Mann mit den weissen Gesicht, der ihn auf der Party ange-
sprochen hat, zweimal, wobei weder klar ist, welche Existenz Original und welche Abbild, welche Vergangenheit und welche Zukunft ist. Der Film beschreibt allerdings auch keinen einfachen Kreis; er könnte nicht eben dort wieder anfangen, wo er geendet hat, statt dessen könnte er endlos weitergehen, würde sich aber bei jeder Umdrehung vollkommen verändern. Wenn man so will, funktioniert er also wie eine Escher- Grafik, der man die Dimension der Bewegung gibt. Während die narrative Konstruktion des Filmes sich also in einem endlosen geflochtenen Band der Paradoxien bewegt, die Bildwelt der Objekte, Farben und Bewegungen in beständiger Selbstreflexion arbeitet, lässt sich der Film auch in ganz unterschiedlichen Bedeutungszusammenhängen „lesen“ (oder auch „nicht lesen“). Zunächst funktioniert Lynchs Film als eine Entfremdungsphantasie; ein Mann, der um seine sexuelle Potenz fürchten muss, wird von seiner Frau betrogen und ermordet sie (oder: In Mann träumt ade ihn seine Frau betrügt, wie er sie dafür ermordet und wie er dafür bestraft wird). So erscheint der Film auf der zweiten Ebene als durchaus folgerichtige Fortschreibung der magischen Biographie jenes Mannes, den wir als «nicht zu Ende geborenen» immer näher in Lynchs Filmen kennengelernt haben. Wir können uns fragen, was aus Sailor und Lula aus WILD AT HEART geworden sein mag, oder aus Jeffrey und Sandy aus BLUE VELVET. Denn deren Dämonen waren ja nie am Ende des Films wirklich aus der Welt geschafft; der Friede war immer überdeutlich als trügerische Inszenierung zu durchschauen. Ein Ehe paar, das seinen Familienroman, die Erinnerung an die dunklen Pfade, die
man gegangen ist, und eine glücklose Verbürgerlichung zeigt. Und um die eigene Entfremdung und die eigene Schuld zu verstehen, muss der nicht zu Ende geborene Held noch einmal in seine Vergangenheit reisen. Dort versucht er so verzweifelt wie vergebens, alle seine Erfahrungen umzukehren (der zweite Teil ist demnach nichts anderes als eine Reise durch die Alpträume der Lynch-Filme, die sich um so mehr beschleunigt, je mehr ihr Protagonist sie zu revidieren versucht). Gewiss begegnen sich in dem Raum, den LOST HIGHWAY bildet, auch mehrere tote Menschen, die dort, wie in dem roten Raum in «Twin Peaks» und FIRE WALK WITH ME, versuchen, einander zu erlösen (oder zu verdammen). Im übrigen hat jede der drei Hauptfiguren sowohl eine metaphorische als auch eine „reale“ Todesszene. Wie in unserer fundamentalen Vorstellung unterhalb dessen, was man „Religion“ nennt, verlagert sich das Geschehen in ein jenseits, wenn die Widersprüche und Schuldverstrickungen der Menschen zu gross geworden sind. Wie auch immer: es gibt sehr unterschiedliche Arten zu erklären, wie sich Menschen in Geister verwandeln und umgekehrt. Auf der nächsten Eben ist LOST HIGHWAY ein «phantastischer Film», der freilich die grundlegende Dramaturgie des Genres ausser Kraft setzt, nämlich dass das Phantastische eine Kraft ist, die (aus moralischen Gründen in der Regel) in das Alltägliche ein bricht, um nach erheblichen Opfern und Ansprüchen (für den Augenblick jedenfalls) wieder daraus vertrieben zu werden. Tatsächlich verknüpfen sich das Phan-
tastische und das Alltägliche zu einer Meta-Struktur, die eine Aussage im Sinne eines paradoxen Satzes bedeckt. (Aus «Dieser Satz ist eine Lüge» wird im Kino eine Form der Erzählung, die als einzig möglichen Weg zur Wirklichkeit die Wahnvorstellung zeigt.) Die selbstreflexive Ästhetik des Films beschreibt also eine Paradoxie der Art: Das Normale ist die Innenseite des Phantastischen. Oder umgekehrt, je nachdem an welcher Stelle wir uns im wohlbekannten geflochtenen Band befinden. Was das Phantastische anbelangt, könnte sich der Film als eigenwilliges Exemplar jenes Subgenres deuten lassen, in dem es darum geht, dass einer bürgerlichen Familie das eigene Haus zur Falle und zur Obsession wird. Es erweist sich stets als labyrinthischer, als es gedacht war, es entwickelt seine geheimen Räume, löst die Perspektiven auf und lässt die Menschen ehe gefährliche Wandlung durchlaufen, an deren Ende sie sich gegenseitig zu Mördern werden. Das Haus wird zum Geburts- und Todesraum, es wird aber auch zu einer Festung, in die der Feind schon eingedrungen ist, bevor sie richtig fertiggestellt oder bewohnt wird. Eine beobachtende Instanz also ist in dieses Haus gedrungen, dringt immer wieder ein, das zugleich eine symbiotische Gemeinschaft mit dem Mann hat. „Es“ nimmt wahr, was Fred nicht wahrnehmen kann. Auf die Moralität des Phantastischen scheint der sich spaltende Geist hinzuweisen, wenn er behauptet, Fred habe ihn eingeladen. Tatsächlich wird ja im Phantastischen das Böse immer auf eine gewisse Weise „eingeladen“, und dieser Geist,
der ja möglicherweise dann auch den Mord begehen wird, ist vielleicht nichts anderes als das in Fred lauernde mörderische Böse. Dies mag die Edgar-Allen-Poe-Ebene des Filmes sein. Als drittes Erklärungsmodell ergibt sich die Genese einer Schizophrenie, deren jeweilige Schübe stets ausgelöst werden durch das Verhalten der Partnerin. Man könnte diese Ebene der Erzählung die Dostojewskij-Ebene nennen, die innere Schilderung einer Auflösung von Person, Perspektive und Wahrnehmung. Für diese Perspektive ist möglicher weise die „Geburt“ der einen aus der anderen Figur auch auf einer sozusagen grammatischen Ebene von Bedeutung. Dostojewskij gibt in seinem „polyphonen“ Roman seiner Figur eine vollkommen neue Freiheit, jene «ernsthaft verwirklichte und konsequent durchgeführte dialogische Position, die die Selbständigkeit, innere Freiheit, Unabgeschlossenheit und Unentschlossenheit des Helden anerkennt. Der Held ist für den Autor nicht „er“ und nicht „ich“, sondern vollwertiges „du“, das heisst ein anderes, fremdes vollberechtigtes „Ich“ „du bist“» (Michael Bachtin). Auch wir müssen die Selbständigkeit, Unabgeschlossenheit und Unentschlossenheit des Helden - oder beider Helden - akzeptieren, können weder uns mit ihm identifizieren (ich bin - beinahe und für den Augenblick - er), noch uns von ihm zu einer nüchternen Beobachtung (er ist - bei nahe und für den Augenblick - Objekt meines Wissens und meiner Neugier) zurückziehen. Und keineswegs kann sich der Betrachter auf jene Zeit zurückziehen, die beruhigend das Geschehen ordnet: «Es war einmal».
Die Schizophrenie des Mörders breitet sich über seiner Erzählung aus; es ist, als verwandle sich stets eben jener abgespaltene weil der Person in den Erzähler, der als Fremder zum Wesen ausserhalb seiner selbst werden musste. (Das heisst auch: jeder schizophrene Schub produziert auch einen neuen Autor, der mit den wenigen konstanten Grössen immer neue Geschichten erzählen kann, deren Antriebskraft nichts anderes ist als der doppelte Wunsch, seinen mörderischen Impulsen zu folgen und sie zugleich nicht wahrzunehmen.) Noch einmal in Analogie zur Literatur gesagt (und ohne sie zu weit treiben zu wollen): David Lynch zerstört das, was wir den cinematographischen Horizont nennen können, was nicht nur das Zurechtfinden im Newton-Kosmos, die lineare Konstruktion der Zeit, die Eindeutigkeit des Raumes und die Identität (das mit sich selber eins sein) der Person voraussetzt, sondern auch die Grammatik der Identifikationen. „Schizophrenie“ ist daher auch die Rationalisierung einer künstlerischen Methode, diesen Horizont zu überschreiten; der Mensch, der nicht einer ist, muss letztlich auch die Sprache und den Blick verändern und den cinematographischen Horizont zum Verschwinden bringen (jedenfalls wenn wir diese Schizophrenie nicht in der Konstruktion des klassischen Thrillers als „Fall“ vorgesetzt bekommen: Norman Bates mag uns verwirren, aber er bestätigt noch in seinen wüstesten Schüben von mörderischem Rollentausch die Existenz des cinematographischen Horizonts, unter anderem, weil uns Hitchcock nie die Verwandlung eines „er“ in ein „du“ anbietet, allenfalls in gewissen Szenen mit dem „ich“ kokettiert).
Auf der nächsten Ebene allerdings weisen die Dinge so sehr aufeinander zurück, dass die Vorstellung schizophrener Schübe, die ja nur dargestellt werden könnte durch die Konstruktion eines tatsächlich „identischen“ Punktes (auch wenn sie nicht explizit im Film vorkommen müsste), zunehmend verschwindet. Eben dieser Punkt wird nicht erreicht, vielmehr wird eine Kette entwickelt, die unendlich Ursachen und Wirkungen aneinander reiht, so dass nicht allein zuerst die Antwort, dann die Fuge entsteht, sondern die Beziehung von Ursache und Wirkung vollends aufgehoben wird: was die Wirkung einer Handlung scheint, erweist sich zugleich als ihre Ursache (wie die zunächst scheinbar kryptische Botschaft vom Tode Dick Laurents), und was in der einen Phase dieser wahrhaft unendlichen Geschichte Subjekt, das ist in der anderen Objekt. Wie könnten wir sagen, der Film „handle“ von einem schizophrenen Mörder, wenn er sich doch so offensichtlich selbst von Schizophrenie infizieren lässt. Genausogut wie ich sagen könnte, dies sei ein Film über einen schizophrenen Mörder, könnte ich sagen, dies sei ein mörderisch schizophrener Film über einen übermüdeten Saxophonspieler. Wie für Raskolnikoff ist es für den Helden undenkbar zu sagen, «ich wusste nicht» (denn was er nicht weiss, ist nicht Teil seiner Welt, und eine andere kann es nicht geben); er ist keiner; der die Wahrheit sucht, sondern einer wie Dostojewskijs Held, der sie schon immer in sich hat, und der sich selber nicht sehen kann, ohne sich im Blick des anderen zu sehen, wie der «Doppelgänger», der sich im Spiegel als bleich und böse sieht, und darüber erfreut ist, weil „sie“ ihn so sehen wird.
Wie bei Dostojewskij geschieht die Verwandlung des Mannes für den Blick der abwesenden Frau. Während der Mann nicht mehr einer sein kann, unter dem Druck des Verrates, des Mordes und der Strafe, ist die Frau die eine, die sich mehrfach geben kann. Sie teilt sich vor der phallischen Macht des Mannes, und insofern sagt sie nichts als die reine Wahrheit, wenn sie zu Pete sagt, er werde sie nie „haben“. Denn das Begehren selber bringt sie zum Verschwinden. (Natürlich steckt auch in dieser Konstruktion, gleichsam als Meta-MacGuffin, die Kastrationsangst des Mannes, der über die unterschiedlichsten Ebenen der Erzählung hinweg immer wieder zu neuen phallischen Objekten greift, mit denen er auf die eine oder andere Weise das Band zu zerstören versucht, das ihn festhält; um es sarkastisch auszudrücken: Für den nicht zu Ende geborenen Mann ist das endlose geflochtene Band der Selbstbezüglichkeit auch eine verknotete Nabelschnur.) So ist, noch eine Spirale weiter, LOST HICHWAY das komplementäre Band zu «Twin Peaks», das unter dem Zeichen des Weiblichen stand, Geburt und Tod, Körper und Magie, während LOST HIGHWAY unter dem Zeichen des Phallus steht, Blick und Sprache, Maske und Konstruktion. Und so wie uns schon der Name «Twin Peaks» auf den weiblichen Körper geleitet hat in den Eingangssequenzen überdies die symbiotische Wärme und die Entfremdung von ihr deutlich wurde, so ist nun der Name dessen, uni den alles geht Dick Laurent ein über deutlicher Hinweis auf die phallische Bedrohung.
Es ist keineswegs die femme fatale, die den Helden zum Bösen und/ oder zum Wahn führt, es ist sein Blick auf die Begehrte, der endlos zurückgespiegelt wird. Dostojewskijs Held kann die Stimme des anderen, die Stimme des «Mannes aus dem Untergrund» nicht vollkommen ausser sich sein lassen, aber er kann auch nicht vollkommen seine Stimme mit der seinen verschmelzen lassen; der Held von LOST HIGHWAY kann den Blick des anderen nicht ausser sich sein lassen, aber er kann den Blick auch nicht vollständig mit dem seinen verschmelzen. So bestimmt eine Interferenz der Blicke das Geschehen, die „Person“ formt sich (und deformiert sich) im Blick des anderen (der unter vielem anderen ja auch eine Parodie des „Autors“ ist, eben jener Instanz, der es tatsächlich nicht die geringste Mühe macht, an mehreren Stellen seiner Schöpfung gleich zeitig zu sein, und der immer wieder die Handlung für seine Figuren übernehmen kann). Und tatsächlich wirkt der „Autor“ (das Unbewusste und das Überbewusste der Figur) nur noch wie ein wissender Kobold; er ist in der Tat nicht mehr so sehr der Schöpfer, sondern der Dekonstrukteur seiner Figuren. Diesem Autor als Zerstörer (oder listigem Rekonstrukteur) ist Fred mit seiner monologischen Konzeption der Kunst, die wir in seinem Saxophonspiel erlebten und die er sich und den Polizisten zu erklären versucht in der Art, frei mit den Bildern seiner Erinnerung umzugehen, nicht gewachsen. Gleichwohl wird er, noch einmal eine Ebene tiefer, auch Opfer dieser monologischen Konzeption. Man kann LOST HIGHWAY also auch als Abbildung des Ringens einer Figur mit seinem Autor ansehen, der mindestens
so unfertig und unentschlossen ist (und daher: so frei) wie sie selber. Wie für den Helden von BLUE VELVET geht es auch für Fred darum, in einen weiblichen Raum einzudringen, der vor bösen Machtspielen strotzt, in dem die Frau zugleich Opfer und Täterin ist (ganz so als würde jedes Eindringen in den weiblichen Raum immer auch die Erscheinung des gewalttätigen Vaters evozieren), die zwischen Korruption und Kastration schwankt, deren Geheimnisse doch immer weiter verschwinden, je näher sie untersucht werden, und die vor allem die Schuld des Mannes, die Schuld des Blickes offenbaren. Fred aber kann sich nicht mehr in diesen weiblichen Raum ein schleichen; Renee ist ihm auf die tückischste Weise entzogen, nämlich in die Ehe. So kann er nur in ihr anderes, in ihre zweite Existenz eindringen, dazu muss er sie töten und ein anderer werden. Oder: er muss sie und sich selbst noch einmal erfinden - und kann doch in dieser neuen Erfindung wieder nur seiner panischen Kastrationsangst verfallen, wes halb diese zweite Geschichte (anders als der pure Kino-Traum) weder blosse Kompensation noch Gegenentwurf sein kann, sondern immer auch Spiegelung und Wiederholung. Was die Konstruktion der Detektion anbelangt, so könnte man sagen, dass auch die Verhältnisse von Missetat und Recherche ins Kreisen geraten sind. Die Tat geschieht, um ein weiteres Paradox zu bemühen, indem nach ihren Ursachen gefahndet wird. Alles beginnt mit der Nachricht, dass alles zu Ende ist.
Auf der nächsten Ebene ist LOST HIGHWAY soetwas wie ein ästhetisch-philosophisches Gleichnis über Abbild und Erfahrung. Freds Bekenntnis zu seiner Methode der Erinnerung, die nicht unbedingt die Dinge meine, «wie sie seien» (und die, wenn sie eine gewisse ästhetische Dynamik entwickelt, auch als „Kunst“ bezeichnet wird), beschreibt zugleich den Grad seiner Entfremdung. Und umgekehrt. Die Frage 11 ob die Zeit ehe Illusion ist. Wie in einer Fuge von Bach geht es zunächst einmal darum, ein Thema soweit zu transponieren, dass es in der jeweils neuen Form eine jeweils neue Aussage macht, bis sie schliesslich wieder bei der ursprünglichen Form, allerdings auf einer höheren Ebene (der Tonart) angelangt ist. LOST HIGHWAY ist also einem Bild von Maurits Cornelius Escher verwandt, in dem entweder die Illusion einer endlosen Bewegung entsteht (etwa durch eine Treppe, die zugleich endlos bergab und endlos bergauf im Kreise herum führt), oder in dem der selbstreflektive Gehalt die Auflösung von Abbild und Original erreicht, etwa in der zeichnenden Hand, die eine zeichnende Hand zeichnet, die eben jene zeichnende Hand zeichnet. Beinahe wie ein Zitat erscheint die Szene, in der der Mann Fred sein Handy überreicht, damit er mit ihm selber in seinem Haus telefoniere. Ihren Sinn erhält diese Methode, weil die jeweils höhere Ebene der Selbstreflexion am Ende wieder, wenngleich in einer vollständigen Transponierung, bei der ersten angelangt ist, nämlich der sinnlichen Präsenz der Entfremdung.
Aber noch einmal anders gesehen steckt auch in diesem verschlungenen Film die Revolte des ödipalen Dramas und das rückwärts erzählte Märchen. Das Haunting Image des drachenbösen Vaters, der die Jungfrau bewacht und dem Prinzen den Tod androht, wird erst im zweiten Teil exploriert; im ersten Teil dagegen, der mit der noch rätselhaften Botschaft vom Tod des Haunting Image beginnt, verwandelt sich der Mann selber ins Haunting Image, den drachenbösen Mann, der die Frau nicht anders halten kann als durch ihren Tod. Die wahre Schizophrenie offenbart sich also in dem Umstand, dass der Prinz und der Drache in Wahrheit derselben Person entsprungen sind. Auch das Ende von LOST HIGHWAY erinnert an Dostojewskij; wir verabschieden uns von einem Vorgang, der endlos weiter gehen könnte, in einer Schmerzensgeste, die alles bedeuten kann, erneute Verwandlung, Tod, Selbsthass, Erkenntnis: das Zerplatzen der Fiktionen und Formen. Und wieder verschwindet das Bild in jenes Weiss, das die Bewegung des Films vorgibt: die Menschen (die Bilder) kommen aus dem Schwarz und verschwinden ins Weiss. Der Highway aber führt endlos weiter in die Nacht. Nirgendwohin und zum Anfang zurück. Filmbulletin, Nr. 211, 2/97, April 1997 Eine längere Version des Artikels findet sich in Seesslen‘s Buch „David Lynch und seine Filme“
GRENZÜBERSCHREITUNG: DIE KLAVIERSPIELERIN Die Klavierspielerin von Michael Haneke, Österreich/F 2001, 130 Min. mit Isabelle Huppert, Benoît Magimel, Annie Girardot nach dem gleichnamigen Roman von Elfriede Jelinek, Literaturverfilmung Start: 11.10.2001 Einen Satz wie diesen kann man ziemlich genau in Film übersetzen: »Die Klavierlehrerin Erika Kohut stürzt wie ein Wirbelsturm in die Wohnung, die sie mit ihrer Mutter teilt.« Und auch der hier macht keine Schwierigkeiten: »Sie geht und beschleunigt langsam ihren Schritt.« Es handelt sich um den ersten und den letzten Satz von Elfriede Jelineks Roman »Die Klavierspielerin«. Dazwischen liegen 280 Seiten, eine Geschichte und sehr viel Sprache. Die Geschichte ist noch am einfachsten. Besagte Klavierlehrerin Erika Kohut lebt in einer merkwürdigen und doch »normalen« Haßliebe-Symbiose mit ihrer Mutter, die sie kontrolliert, die sie »besitzt«, die Großes mit ihr vorhatte und
sie doch nicht zum Leben kommen läßt. Man könnte Erika Kohut wohl als »verhärmt« bezeichnen, wenn das nicht ein so furchtbares Distanzwort wäre. Jedenfalls haben ihre Schüler und Schülerinnen erheblich unter ihr zu leiden. Sie gibt einen Anspruch in Form von Zynismus weiter, den die Zweiheit Mutter-Tochter nicht hat erfüllen können. Eigentlich haßt sie diese Menschen, und ob sie Musik »liebt« ist auch die Frage. Sie ist nur erfüllt von ihr, getrieben von ihr, bestimmt von ihr. Es kann nur Gewalt sein, die die Grenze zwischen dieser Gefängnis-Zweiheit und der Welt überschreitet. Erika reißt der Mutter ein Büschel Haare aus, weil die ihr das gerade gekaufte Kleid nehmen will. Erika vollzieht ein Glasscherben-Attentat auf eine Schülerin. Erika demütigt einen Schüler, den sie vor einer Sex-Auslage erwischt hat.Und Erika verliebt sich in einen Schüler, wenn man das so nennen kann. Mit ihm, denkt sie, kann sie die Gewalt, die sie braucht, um die Grenze zu überschreiten, kontrollieren, auf ihn will sie gewartet haben. Aber das Spiel mißlingt, muß mißlingen. Walter Klemmer kann nicht nach ihren Regeln spielen. Die Gewalt wird gewöhnlich, trivial. Am Ende bleibt Erika nur, die Gewalt, die sie erfahren hat, an sich selbst zu übertrumpfen. Mit einem Messer. Nur so kann sie noch einmal nach Hause gehen. Man kann diese Geschichte verfilmen als Muster des psychologischen Realismus, als Thriller, als schwarzes Märchen oder Melodram einer »amour fou«. Was verschwinden muß, natürlich, ist die Sprache, auch wenn man Dialog-sätze direkt übernehmen kann. Jelineks Sprache ist eine, die Körper werden
will, die organisch fließt und schneidet, die sich nicht in einem Subjekt, einem Objekt, einem einzelnen oder einem Kollektiv aufhält, sondern durch alles zuckt. In einem einzigen JelinekSatz müßte man, sozusagen, mindestens dreimal die Position der Kamera wechseln. Den Schmerz in dieser Sprache kann man ebensowenig in Einstellungen und Montage auflösen wie die ungeheure Komik. »Gefühle sind immer lächerlich, besonders aber, wenn Unbefugte sie in die Finger kriegen. Erika durchmißt den stinkenden Raum, ein seltener Stelzvogel im Zoo der geheimeren Bedürfnisse.« Im Kinos sind wir die Unbefugten im Zoo der geheimeren Bedürfnisse. Immer. Das ungeheure Komische hat Michael Haneke wohlweislich aus dem Plot seines Filmes eliminiert. Nichts deutet – auf dieser Ebene – auf etwas, nun ja, Ironisches hin. Und für die ständigen Wechsel der Erzählinstanz hat er eine Kamera-Perspektive gewählt, die wir aus seinen Filmen kennen: eine Art unmögliches »Außen«, einen Blick der ostinat und impertinent ist, aber nie intimistisch, nie zur »Identifikation« einlädt. In Isabelle Huppert hat er eine Schauspielerin gefunden, die diesen unmöglichen Blick (der nicht »wegsehen« kann und nicht »verfolgt«), aushält und wiedergibt. Sie ist Maske und Entäußerung, ganz nackt und ganz entrückt. Nicht obwohl, sondern gerade weil der Film scheinbar so nahe an der Vorlage bleibt, keinen Augenblick den Respekt vor dem Text vermissen läßt, ist »Die Klavierspielerin« mehr ein Haneke-Film als eine Jelinek-Verfilmung. Er knüpft eher an
die »Trilogie der Vergletscherung« an als an das PlansequenzMeisterstück »Code inconnu«. Auf den ersten Blick macht er es uns hier leichter als in den Multi-Character-Stücken, auch die Konsequenz der Gewalt wie in »Funny Games« scheint narrativ etwas mehr abgefedert. Harte Stilmittel wie die Schwarzfilm-Brüche zwischen den Einstellungen oder Schnitte in der Bewegung erspart er uns. Man meint sogar, Michael Haneke habe seinen Frieden mit der Montage des Films gemacht, der sein cineastischer Furor galt. Sehr zurecht übrigens. Ohne Montage hätten wir es uns nicht angewöhnen können, im Kino so romantisch zu glotzen. »Die Klavierspielerin« hat sogar einen Anfang, einen Mittelteil und ein Ende – und wenn man Roman und Film vergleicht, hat Haneke die Verhältnisse sogar ein wenig zum »Konventionellen« der Kinoerzählung verschoben. So nah also am Erzählkino war der Regisseur schon lange nicht mehr. Auf den ersten Blick, wie gesagt. Aber wenn es bei Jelinek so etwas wie eine grausige Komik der Sprache gibt, die immer auch mitspricht: Ich bin Sprache, so gibt es bei Haneke eine grausige Komik des Filmischen, das immer auch mitzeigt: Ich bin Kino. Das Angebot der Konvention (der Star, der psychologische Realismus, die Einheit von Zeit und Raum etc.) erweist sich rasch als Falle, in die er den Zuschauer und die Zuschauerin gelockt hat. Immer stärker, je unerbittlicher man auf die »Ungeheuerlichkeiten« zusteuert, öffnet sich die Schere zwischen dem Sehen und dem Glauben. Es ist nicht so sehr die Frage, ob uns eine zur Kamera hingewendet kotzende Frau schockiert, die zur gleichen Zeit zu ihrem der Kamera
unsichtbaren Geliebten zuruft: »Schau weg!« Das Schauen selber ist die Frage, unsere Lust daran, den Schmerz eines Menschen als Krankheitsgeschichte zu begaffen. Daß unser »Dabeisein« nicht stimmt, das zeigt Haneke unter anderem in seiner Behandlung der Zeit: Die Einstellung überdauert auch hier sehr oft den Zeitraum der dramatischen Wahrnehmung; die Kamera stößt uns gewissermaßen in eine Situation, in der sie uns dann zugleich einsperrt und allein läßt. Das Sehen und das Nicht-Sehen (Geschehnisse im off, die uns so verletzen können wie das Bild vor der Kamera) ist wie bei Jelinek das Gesagte und Nicht-Gesagte materiell spürbar. Man kann das als Zwang, als eine Art des aufklärerischen Terrorismus durch die Einstellungslänge ansehen. Aber auch als einen notwendigen Bruch mit der Illusionsmaschine, als Kommentar zu unserem Kino-Blick. In einem Haneke- Film hat man immer wieder das Gefühl, man sei irgendwo, wo man eigentlich nicht sein sollte. Aber wie sind wir hierher gelangt?
KLAUS KINSKI - EIN DEUTSCHES GRAUEN Es war ein etwas schwer Erträgliches an diesem unklugen Genie; Klaus Kinskis schauspielerisches Talent schien nie so recht Boden zu finden, um darin zu wurzeln, kein Objekt, an dem es sich hätte messen, kein Subjekt, zu dem sich seine manische Selbstdarstellung hätte auswachsen können. So ging es mit ungeheurer Wucht ins Leere, und Klaus Kinski wurde zu einer wohlfeilen Karikatur des genialischen Menschen, die beinahe richtige Ikone für eine Zeit, die vor nichts so viel Angst hatte wie vor allem, das überlebensgroß zu werden trachtet. Kinski stand, einsam, böse, komisch, krank, gegen die Kunst der deutschen Nachkriegsgesellschaft, die Kunst, sich kleiner zu machen, sich harmlos, nett und aufrichtig zu geben. Kinski war das traurige Gespenst des deutschen Übermenschen, war auf eine ebenso schmerzliche Weise präsent, während alle anderen irgendwie zu verschwinden, mit dem Hintergrund zu verschmelzen versuchten. Auf solche Weise isoliert, kann das Böse nur noch komisch oder tragisch sein. Ein Opfer. Dass die Extravaganz so sehr Pose war, und das Genie nur als Parodie erschien, machte den Umgang mit ihm leichter. Er sprach, nein er schrie Villon und wurde damit beinahe zu einer Kultfigur jener Generation vor der, nun ja, Rebellion der 68er Jahre, die ihren Widerspruchsgeist durch die Lektüre von Sartre, durch kerzenbestückte VAT-69-Flaschen und durch sehr, sehr lange schwarze Schals zum Ausdruck brachte.
Wenig später verschreckte Kinski selbst diese Anhänger durch seine im Blumenhemd vorgetragenen Bibeltexte, in denen er Jesus als Straßendieb und Dirnenfreund pries; dabei war die Entwendung der Schrift von den Gelehrten der eigentliche Skandal, auch er dazu verurteilt, ins Leere zu gehen. Kinski rebellierte zu einer Zeit gegen die Konventionen der Darstellung, entblößte sich (oder gab doch die perfekte Darstellung von Entblößung), als künstlerische Selbstentäußerung noch als soziale Gefahr gesehen wurde und dem einzelnen sein Eigentum nicht vergönnt war, er war aber zugleich auch eine Negativprojektion für jene mehr oder minder linke Opposition, der nichts so zuwider war wie das anarchisch und ästhetisch großgeschriebene ICH. So wurde Kinski zu dem Mann, den alle zu hassen liebten, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Motiven. Er war, was die Rechte an Bösem zu fürchten hatte: Dämon der eigenen Obsessionen und wütender Rebell gegen die Ordnung, und was die Linke an Bösem zu fürchten hatte: rüdes Symbol der verdrängten Wünsche. Bild einer anderen Freiheit und Exponent einer zum Glück untergegangenen Rasse von Herrenmenschen. Er war Edgar Allan Poe, Marquis de Sade, Nosferatu, Jack the Ripper, einer, der sich ebenso zu Recht einmal als „El Santo“ bezeichnen ließ, wie er das andere mal der Teufel sein musste, einmal das von Rauschgift, Wahn oder Schuld getriebene, das andere mal das nur noch kalte und mechanische Böse, ein Gewalttäter, der tötete aus unendlicher Furcht vor den anderen und unendlicher Verachtung für sie. Ein deutscher Archetyp, ein Archetyp des Deutschen, und immer vor
allem deren Parodie. Nicht Gedanken, sondern Wahnsysteme nur konnte diese hypertrophe, kantige Stirn verbergen, nicht die Liebe, sondern die Orgie schien dieser Riesenmund zu verlangen, nicht die Utopie, sondern die Höllenvision musste man in seinen Augen suchen, deren Blick sich gefährlich auflöste, wenn ihr Opfer zurückzusehen wagte. Kinski blickt, böse und verzweifelt, von einer Leinwand, die ihm immer gerade zu klein zu werden beginnt, durch den Zuschauer hindurch. Da mögen seit geraumer Zeit Allerweltsmenschen törichte Dinge getan oder sich redliche Mühe gegeben haben, irgend etwas zu unternehmen, das so etwas wie Bedeutung haben sollte, da tritt Kinski für Minuten vielleicht nur in Erscheinung, und nicht dem schlechtesten Film der Welt gelänge es, diesen Auftritt irgendwie ungeschehen zu machen. In der Welt der populären Mythologie war Kinski der Teufel, und wehe dem Helden, dem Messias, dem Regulator, der diesem Bösen nichts als selbstgefällige Routine der guten Tat entgegensetzen konnte. Wie wenig doch notwendig war, die Faszination des Bösen auf die Leinwand zu bringen, und wie sehr doch selbst noch der Hauch von Genie in einer Produktion ins Leere gehen musste, die bewusst und ziellos ihre Kreise zog, das ließ Kinski die Pose des Zynikers annehmen. Bei einem Angebot pflegte er weder nach dem Regisseur noch nach dem Stoff, geschweige denn nach seiner Rolle zu fragen, sondern nur nach der Höhe der Gage. Zuweilen tat er so, als lägen seine eigentlichen Ziele außerhalb der Leinwand, etwa in einer stilisierten Robinsonade, die dann doch nur wieder Kino-Pose werden konnte. Aber
wenn dann die Kamera auf ihn gerichtet war, vergaß Kinski stets seinen Zynismus, war ganz und gar präsent und entdeckte immer wieder neue Facetten des heavy mit der keckernden Stimme. So gehören zu Kinskis besten Filmen jene von Regisseuren, die kein Hauch von Begabung gestreift hat; bei ihnen riss er die Szenen ganz einfach an sich, erhob sich über allen Handlungskontext und degradierte die Crew zu Erfüllungsgehilfen bei der Vervollkommnung eines Gesamtkunstwerkes. Oder Filme von Regisseuren, die ihm nicht eine Nebenrolle, sondern einen kleinen Film-im-Film reservierten, wie David Lean in Doktor Schiwago. Gut sind aber vor allem auch jene Filme, in denen das Archetypische hinter dem Bizarren hervortreten kann, in einem Umfeld, das mit dem Darsteller den Rahmen des „Normalen“ sprengt. Am schlechtesten sind jene KinskiFilme, bei denen Regiehandwerker von leidlichem Können Kinski zu disziplinieren und zu integrieren unternahmen. Die Klatschspalten-Legende Kinski, der öffentliche Skandal des liebeshungrigen Monsters, der Familienroman als provokatives Gesamtkunstwerk, war nur die einigermaßen platte Wiederholung des Kino-Mythos für eine Zeit, die nicht mehr in Kino-Mythen denkt. Sie beginnt mit einer mystischen Herkunft aus einem deutschen Niemandsland: Nikolaus Nakszynski wurde am 18. Oktober 1926 in Zoppot geboren, und in diesem Urland deutscher Schuld muss auch die Familie aus allen Fugen geraten sein. War der Vater wirklich ein erfolgloser Opernsänger, musste der junge Nikolaus wirklich
stehlen gehen, um die Familie zu ernähren, herrschte bei den Nakszynskis wirklich die inzestuöse Barbarei, an die er sich so lust- und grauenvoll erinnert? Und wäre schon so die Erscheinung von Angst und Gier, von Geilheit und Isolation erklärt? 1944 wird er zur Wehrmacht einberufen, bald darauf gerät er verwundet in englische Gefangenschaft. Im Lager beginnt er mit dem Theaterspiel, das nach dem Krieg sein Broterwerb wird. Sollen wir raten, mit welchem Stück er seinen Durchbruch erlebt? Es ist Cocteaus La voix humaine, ein Einpersonenstück. Noch eine Schlüsselszene fehlt, der kurze Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik Wittenau, wo Klaus Kinski den brutalen Zynismus der Gesellschaft kennenzulernen hat. Das Wesen des Opfers: „Ich glaube, dass alles, was ich als Kind erlebt habe, damals in der geschlossenen Abteilung auf den Gipfel getrieben wurde. In der Anstalt sagte ich mir: Entweder haust du hier ab oder du verreckst. Dort habe ich begriffen, dass es gut tut zu leiden“. Seine erste kleinere Filmrolle erhält Kinski 1948 in Morituri von Eugen York, offenbar eine Erfahrung des Scheiterns auch dies. Danach tut er etwas, das er später unter keinen Umständen wiederholen wird, er lehnt Dutzende von Angeboten aus „künstlerischen Gründen“ ab. Und schon zu dieser Zeit beginnt ein anderer Lebenstraum: dass das eigene Schiff, das ihn hinwegtragen soll, ihn für einmal zum Steuermann seines Lebens machen würde. In Fritz Kortners Sarajewo (Um Thron und Liebe) spielt er 1955 zum ersten Mal das Böse, das (vielleicht) selber ohne
Schuld ist, den Attentäter, mit dessen Tat die historische Katastrophe beginnt. In Käutners Ludwig II. ist er Prinz Otto, der Bruder des Märchenkönigs, den ein fürchtbares Erlebnis im Krieg in den Wahnsinn getrieben hat. Und dann ist er in 0. W. Fischers Hanussen der Freund des Helden, der am Ende sein Verräter und Mörder wird. In Laszlo Benedeks Kinder, Mütter und ein General spielt er einen mörderischen SS-Offizier, der des Nachts zurückkehrt in die unschuldige Welt einer blonden Kindheit. In Eduard von Borsodys Geliebte Corinna muss er sich das Leben nehmen, nachdem er versucht hat, die Heldin zu vergewaltigen. So ist zunächst einmal alles über diesen Kino- Typus gesagt, Kindheitstrauma und historische Schuld, Wahnsinn und sexuelle Gewalt sind miteinander verknüpft. Im kommenden Jahrzehnt musste diese Gestalt im urdeutschen Genre der Edgar-Wallace-Filme durch die Trenchcoatund Kaminfeuerwelt spuken, in der nur Wahnsinn geschehen konnte und der blutige Familienroman durch alte Schuld zu explodieren pflegte. In der „Theologie“ der Wallace-Filme, die mit Karl Antons Der Rächer 1960 ihren Anfang nahmen, war Kinski nie das „wirklich“ Böse, nur sein Abgesandter, ein wilder Unterteufel in der Dämonologie der Nachkriegszeit. Und oft ein Red Herring, der alle Furcht so nachhaltig auf sich zog, dass uns die Gestalt des wahren Bösen bis zum Schluss verborgen blieb. Er war das Böse der körperlichen Begierden und Defekte, das ohne Chance blieb gegen das Böse der Ükonomie und der bürgerlichen Masken.
Es war ein eigener Film, den die Kinski-Szenen in siebzehn Wallace-Filmen bildeten, und schließlich war auch der abgedreht: „Eines Tages hatte ich keine Lust mehr, so etwas zu machen. Da bin ich einfach abgehauen und nach Italien geflüchtet“. Das war 1964, und Klaus Kinski spielte in der Folgezeit in einer Reihe von Trash-Movies von erlesener Lächerlichkeit Bösewichte von eher diffundierenden Merkmalen. Immerhin beginnt mit Der letzte Ritt nach Santa Cruz 1964 die Reihe seiner bizarren Killer in europäischen Western. Der Bucklige mit den nervösen Zuckungen in Sergio Leones Für ein paar Dollar mehr (1965) oder der Bandit als von sich selbst verzückter Volksheld in Damiano Damianis Töte Amigo (1966) sind Vorstudien zur Verkörperung des Bösen in Sergio Corbuccis Leichen pflastern seinen Weg (1968), der noch eine Reihe von Variationen folgen bis hin zur witzlosen Parodie in Nobody ist der Größte (1975). Wie in den Wallace-Filmen, so hat Kinski auch in den Italowestern gleichsam einen Katalog des Bösen, eine Studie des Faschismus angelegt. Während Kinski jeden erdenklichen Schundfilm annahm, in der Gewissheit, dass er gerade diese Filme zu den „seinen“ machen konnte, lehnte er Angebote von Federico Fellini und Roberto Rossellini ab. Er konnte nicht Objekt eines Autors sein außer seiner selbst. Anders verhielt es sich mit Werner Herzog, der Biographie und Mythos aufnahm und beginnend mit Aguirre, der Zorn Gottes mehr Genesis als Gestalt des Bösen in Kinskis Kino-Persona beschrieb. Bei Herzog ist Kinski der Mensch, der zum Äußersten geht, an den Rand der Welt, der Wahrnehmung, der Sprache und des Lebens. Das Böse, das
in den Wallace-Filmen Ergebnis eines Zerfallsprozesses ist, in den Italowestern und Thrillern als etwas mächtiges Fremdes auftaucht, ist bei Herzog Gegenstand einer Rekonstruktion: ein monströses Kind, ein panischer Träumer, der Getriebene, der nicht Subjekt seines Lebens werden kann. Nach Woyzeck, so Klaus Kinski, sei „alles gesagt“. Da ist etwas dran. Er setzte seine Film-im-Film-Auftritte in internationalen, auch amerikanischen Filmen fort, zitierte und variierte seine Bösewichte, scheiterte vorhersehbar mit seinem PaganiniProjekt, geisterte in den achtziger Jahren durch furchtbare Söldner- und Metzelfilme und pflegte seine Legende. Entspannung oder Zerfall; der Familienroman tritt wieder in den Vordergrund, wie etwas, das sich im Kino-Mythos nun nicht mehr auffieben lässt. Bild ist dabei. Klaus Kinski, gestorben am 23. November 1991, deutscher Archetyp und Archetyp des Deutschen, war nicht durch seine Filme, sondern trotz der Filme, mittendrin und außerhalb, eine eigene Geschichte. Es ist die Geschichte einer exaltierten Passion: ein deutsches Grauen, das zu sich kommt, indem es anderes zerstörend sich selbst zerstört. epd Film Nr. 1/1992
Robert Blanchet
GEORG SEESSLEN ZU THE PLAYER NOTITZEN ZU EINEM PUBLIKUMSGESPRÄCH MIT GEORG SEESSLEN ZU ROBERT ALTMANS THE PLAYER
Die unbedarfte Reaktion auf The Player besteht in der Annahme, einen kritischen Film gesehen zu haben, der die intriganten Mechanismen und Strukturen des ProduktionsSystems von Hollywood offenlegt. Irgendwie muss es Altman gelungen sein, jene Stars zu mobilisieren, die ihre eigene Position noch zu reflektieren vermögen und unter den Augen der Studiobosse einen satirischen Seitenhieb gegen deren beider Welt zu produzieren. Der hartnäckige Skeptiker erkennt jedoch dagegen, dass The Player weder zur Gänze auf die filmischen Mittel dieses Systems verzichten kann noch inhaltlich als aufklärerischer Gegenentwurf zu diesem verstanden werden kann. Zudem war der Film ein beachtlicher Kassenerfolg. Nicht Altman hat hier das System ausgetrickst, sondern er selbst ist in dessen Fänge geraten. The Player ist das Produkt einer ausgeklügelten Stratgie, deren Ziel es ist, durch eine trügerische und zahnlose Selbst-Dekonstruktion der wahren Kritik zuvorzukommen, ihr die Luft aus den Segeln zu nehmen und sie so ihrer Sprengkraft zu berauben.
Auch die letztere Position, so Seesslen beim Publikumsgespräch, geht Hollywood letztendlich nocheinmal auf den Leim. Denn die Unterstellung solch raffinierter Verschwörungstheorien heisst tatsächlich, die Intelligenz von fleischlichen Hollywood-Produzenten masslos zu überschätzen. Die viel zutreffendere - Trivialität - des kommerziellen Film-Geschäfts findet Seesslen denn auch in The Player angemessen dargestellt. Ebenso sieht er auf der Mikroebene von Altmans Kamera-Führung und Schnitttechnik durchaus eine Distanzierung von den üblichen Techniken des Hollywoodfilms. Die basale Strategie Hollywwods besteht laut Seesslen aus nicht viel mehr, als alles aufzusaugen, was lukrativen Gewinn abwerfen könnte, - Hollywood würde auch *Das Kapital* von Karl Marx verfilmen, wenn es Erfolg versprechend wäre - wobei diese Rechnungen in den meisten Fällen jedoch gar nicht aufgehen. Anlass zur Überheblichkeit gegenüber Hollywood gibt es allerdings nicht, meint Seesslen; gerade der kontemporäre Hollywoodfilm ist alles andere blöde. Ein Erfolgsrezept Hollywoods besteht nach Seesslen in der Praktik, über eine einfache Geschichte zahlreiche Ebenen anzuschichten, sodass einzweitklassiger Aktionreisser von einem Kind ebenso genossen werden kann, wie von einem Philosophen. Nicht von Seesslen selbst sondern aus *Studien in Hollywood* stammt eine Theorie, die besagt, dass sich das Hollywood-Publikum in Zyklen von etwasieben Jahren neu rekrutiert. Am Anfang eines Zyklus steht in der Regel ein Film mit grossem
Massenappeal, wie *Star Wars* oder jüngst *Independence Day*, der ein grosses jugendliches Publikum mobilisiert. In den folgenden sieben Jahren wächst diese Generation dann mit Filmen auf , derenGestaltung den wachsenden medienliteraten und kognitiven Fähigkeiten dieser Gruppe entprechen, bis es wieder zum regressiven Zusammenbruch kommt. Medien und ihre Inhalte seien nicht so sehr Ideologie als viel mehr Lebensmittel, ohne die wir vollkommen hilflos wären, meint Seesslen. Auf die Frage nach den Möglichleiten eines subversiven oder alternativen Kinos in den Zeiten des Postmodernismus weiss auch Seesslen bisher keine Antwort. Das aufklärerische Projekt, den Fälschungen und Scheinwelten von Hollywood ein echtes oder wahres Bild gegenüberzuhalten, sieht Seesslen in der Krise, wenn nicht gar als gescheitert. Jeder auch noch so engagierte Versuch zu einer autoritären Wirklichkeit oder Objektivität zurückzukehren läuft unweigerlich Gefahr sich als reaktionärer zu entpuppen als jene Kräfte, gegen die er sich zu stemmen versucht. Auch wenn er es für notwendig hält, nach neuen Möglichkeiten in einem omnipreäsenten Relativismus zu suchen, kann dies, so Sesselen, gegenwärtig nur geschehen, indem wir uns in den Strömen der Fälschungentreiben lassen und zu erkennen versuchen, in welche Richtungen sie fliessen. epd Film Nr. 1/1992
SPIEL, SATZ, KEIN SIEG Erst trat Boris Becker gegen Michael Stich an, dann Gerhard Schröder gegen Edmund Stoiber. Notizen zu einem gelungenen Fernsehsonntag ohne Verletzungsrisiko.
Na, vorgestern auch Fernsehen geguckt? Und, wie fanden Sies? Genau, irgendwie enttäuschend, oder? Aber eigentlich auch ganz nett. Boris Becker hat gegen Michael Stich gewonnen. Das gehört sich so, weil Becker im Fernsehen besser rüberkommt. Und vorgestern kamen auch seine Bälle besser rüber. Das ist der Idealfall. Denn gelungen ist ein Spiel, wenn der Beliebteste auch der Beste ist. Wer die Unsympathen gewinnen sehen will, kann zum Catchen umschalten. Wir leben in einer merkwürdigen Zeit. Unsere Codes sind so abgehoben wie seit dem Rokoko nicht mehr (und seit der Kunst bürgerlicher Karrieristen, den alten Adel mit den eigenen Waffen zu schlagen), und gleichzeitig sind wir süchtig nach Authentizität wie Livingstone am Kongo. Hat das Fernsehen diese Schizophrenie erzeugt, oder ist es die Antwort darauf? Oder beides? Dass sie von seinem Lächeln betört sei, sagt eine Frau zum Auftritt von Stoiber beim „Duell“. Vielleicht begreifen wir, dass ein Körpersignal, das einen gewissen Grad an Obszönität erreicht hat, nicht mehr nach Inszenierung und Authentizität befragt werden kann. Wie ein nackter Hintern zum Beispiel.
Schon klar: Wenn man zu viel Angst hat, nicht gut rüberzukommen, dann spielt man ziemlich lasch. Am Abend gab es Gerhard Schröder gegen Edmund Stoiber. Jetzt sind alle enttäuscht, dass zwei Profis wie Anfänger spielen. Also professionell hoch zwei - nämlich auf Sicherheit und ohne Verletzungsrisiko. „Pomadig“ nennt man das beim Fußball. Die ganze Nation hockt vor dem Fernseher und guckt zwei Leuten zu, denen man ansieht, wie anstrengend es sein kann, den Ball flach zu halten. Oder, wie Becker und Stich, den Tennisball in ihrem Altherrenduell in freundlichem Bogen übers Netz zu bugsieren. Das Spiel war mies, aber die Spieler sahen nicht schlecht aus. So war es bei Becker/Stich und Schröder/ Stoiber. Was haben die zwei eigentlich gesagt? Ist doch egal. Wir waren ja darauf vorbereitet, dass es darauf nicht ankommt. Denn wir wissen, dass die Trainer die Duellanten darauf vorbereitet haben, sich gut zu verkaufen. Konditionstraining im Dauergrinsen, Kopf schief halten und um Himmels willen nicht zu arrogant gucken. Niemand hat erwartet, dass sie beim Figurmachen auch noch etwas Bedeutendes sagen. Beim Fußball verwandelt sich der Zuschauer in einen, der die bessere Aufstellung im Kopf gehabt hätte, die bessere Taktik sowieso, und am schnellsten erkennt, dass der Schiedsrichter eine Pfeife ist. Beim Kanzler-Duell verwandeln wir uns in ein Heer von Medienberatern, Schauspiellehrern, Kosmetikspezialisten und Designern. Da hätte er nicht so mit den Händen fuchteln sollen, dieses kurze Schnalzen am Ende hätte
er nicht bringen sollen, aber die Krawatte war gut. Lebendige Teilhabe, gute Unterhaltung. Erinnern Sie sich noch an die Einführung der Talkshow in der Bundesrepublik Deutschland? Dietmar Schönherr. Die Talkshows in den ersten ein, zwei Jahren beschäftigten sich vor allem damit, ob Talkshows bei uns überhaupt sein dürfen und was zum Teufel sie zu bedeuten haben. Kulturell und überhaupt. Als die Talkshows nicht mehr von Talkshows handelten, interessierte sich kein Mensch mehr dafür. Bis irgendjemand merkte, dass Talkshows wieder interessant werden, wenn einer der Gäste die Sau rauslässt und die Sendungen nicht von Themen, sondern von Personen handeln, die sich danebenbenehmen. Früher oder später landet jedes noch so biedere Format beim Schweinefernsehen. Deshalb muss man auch bei Kanzler-Duellen die Hoffnung nicht aufgeben. Jetzt haben wir also die „Debatte“, die man in Deutschland gleich ein „Duell“ nennt. Und es geht wie damals in den 70er-Jahren mit der Talkshow: Das Format, das mit großem Brimborium eingeführt wird, hat vor allem sich selbst zum Inhalt. Zumindest in dieser ersten Runde sind wir nicht Zuschauer eines rhetorischen Duells, sondern vielmehr einer gemeinschaftlichen Anstrengung, ein Format zu erfüllen und alle Bedenken dagegen in der Inszenierung selbst abzufedern. Alle, sogar die Politiker selber, haben immer wieder betont, dass vor den Fernsehkameras ein Spiel mit Äußerlichkeiten stattfindet. Ist das „Duell“ nicht trotzdem irgendwie zu amerikanisch, zu viel Show und zu wenig Inhalt, Politainment? Und
wohin beißt sich Westerwelle unterdessen, der draußen bleiben musste? Fährt die gute alte parlamentarische Demokratie nicht bald endgültig zur Hölle? Gemach, wir geben dem Ablauf so viel Regeln und Erklärungen, so viel Nach-, Zwischen- und Vorbereitung, dass garantiert nichts schief gehen kann. So viel Ordentlichkeit war nie. Man ist nicht persönlich geworden - was eigentlich paradox ist, weil wir dauernd davon reden, dass wir jetzt immer mehr Personen und immer weniger Inhalte wählen. Wir wollen Personen, die dann doch nicht zu persönlich werden. Die Attraktion des Formats liegt also darin, dass die Sache selbst sehr, sehr ausgiebig erklärt wird. Es geht zu wie bei gewissen Sportsendungen, wo man vor lauter Erklärungen und Interviews und Werbung und noch mal Erklärung gar nicht merkt, dass man von dem Ereignis nur wenig bekommt. Die Suspense der Veranstaltung entsteht durch die furchtbare Möglichkeit, das ganze Unternehmen könnte schief gehen. So wird es übererklärt und gestreckt: Vorbereitung, Nachbereitung, und jeder hat noch selbst etwas zu verkaufen. Kein Wunder, dass heute Abend die Bierwerbung so gut kommt, nebst obligatorischer Blitzumfrage, bei der die Fragen so gestellt sind, dass sie eigentlich wiederum eher das Format als das eigentliche Geschehen beurteilen. Die Verhältnisse bei „Sympathie“ und „Kompetenz“, erfahren wir, unterscheiden sich nicht allzu sehr von den Werten, die schon vorher bekannt waren. Das ist ebenso beruhigend wie der Umstand, dass sich auch der Anteil der Befragten, der sich vom Fern-
sehduell vielleicht in seiner Meinung umstimmen lässt, in Grenzen hält. Nix passiert. Und das ist gut so. Wir haben alle ein bisschen Anteil daran. Bei der zweiten Runde wird es dann schon ein bisschen gemeiner zugehen. Da hält sich die Kamera bestimmt nicht mehr in dieser Respektentfernung, und mit den drei Standardeinstellungen ist auch Schluss. Sabine Christiansen kann den Kopf viel geiler schief halten als Stoiber. Außerdem geht es dann ja auch schon in die Endausscheidung. Die Nation hat sich mal wieder vor dem Bildschirm versammelt. Ein gelungener Fernsehabend! Wir haben, deutsch und pannenfrei, eine neue politische Institution geschaffen. Wir haben, ohne dass es uns die Laune verderben könnte, den nächsten Schritt von der Demokratie zum Medienpopulismus getan. War doch gar nicht so schlimm! Und Fernsehen ist doch immer noch besser als gar keine Demokratie. Jetzt warten alle auf die Fortsetzung. Nein, eine Überraschung erwartet niemand. Eher einen Stolperer zum Eigentor. taz Nr. 6837, 27.8.2002
ÜBER DIE FILME, DAS THEATER UND DIE TALKSHOW UNTER BEZUGNAHME
VON
FUNDSTÜCKEN
AUS DEM INTERNET.
Vom barbarischen Film zur nomadischen Politik DON QUICHOTTE D`OBERHAUSEN Kaum ein Filmemacher, sieht man einmal von Martin Scorsese und seinem »Little Italy«Priester und GangsterMythos ab, ist in seiner Arbeit so ausdauernd aus einer magischen Biographie erklärt worden wie Christoph Schlingensief, der, weil er so bemerkenswert querliegt zur MainstreamEntwicklung des deutschen Films, in den kritischen Texten immer eher als »Fall« denn als Produzent ästhetischer Ereignisse verhandelt wurde und nach seinen Inszenierungen in neuen medialen und politischen Räumen noch wird. Natürlich hat er auch selber einiges dazu getan. Aber weniger als »Verarbeitung«, wie bei Scorsese, ist die zur öffentlichen Verstörung offensichtlich talentierte Arbeit gedeutet, sondern vielmehr als Protest dagegen. Christoph Maria Schlingensief, geboren 1960 in Oberhausen als Sohn eines Apothekers (ein running gag der magischen Biographie des C. S.), in gutbürgerlicher katholischer Welt herangewachsen, ein Kind zwischen den Zeiten, das die notwendige Revolte als Spiegelung der vorherigen Generation vornehmen mußte. Die heroische Revolte der 68er, die unwil-
lentlich ins Komische kippen mußte, wiederholte sich in der Revolte der komischen Provokationen, die unwillentlich in den Heroismus umkippt. Schlingensiefs Revolten erinnern noch stets an einen Don Quichotte, der das »Blldungsbürgertum«, die katholischen Mythen und Moralismen, das Ordnungssystem der Familien angreift wie jene Windmühlen, die der Ritter von der traurigen Gestalt für Riesen hielt. (Aber täuschte uns Quichotte nicht vielleicht, und er wußte, daß er Windmühlen angreift, was ihm die Zeitgenossen nie verziehen hätten denn Windmühlen bedeuteten Fortschritt, Ordnung, Wohlstand und übrigens eine erste Form organisierter Ausbeutung, und er behauptete nur, sie mit Riesen zu verwechseln, damit man ihm das Material seiner Inszenierung ließ?) Christoph Schlingensiefs Revolte ebenfalls zerbricht fortwährend, so soll es in der Kunst sein, in einen sehr allgemeinen und in einen sehr privaten Teil. Er ist als Regisseur (seiner Filme und seiner selbst) stets beides: ein anmaßender Clown und ein blutender Märtyrer. Schön, daß er sich in »Die 120 Tage von Bottrop« gleich in beiden Rollen dargestellt hat. Aus dem Internet geholt (Part 1) 1960 als Apothekersohn in Oberhausen geboren, 1970 diverse Super8Filme 1971 Gründung des Jugendfilmteams Oberhausen 1982 Philologie, Philosophie und KunstgeschichtsStudium in München 19831986 Assistenz von Experimentalfilmer Werner Nekes 1985 CHRISTOPH SCHLINGENSIEF Filme
(Auswahl): Menu Total (1985/96), Mutters Maske (1988), 100 Jahre Adolf Hitler (1989), Das deutsche Kettensägen Massaker (1990), TERROR 2000 (1992), United Trash (1995), Die 120 Tage von Bottrop (1996) Theaterproduktionen (Auswahl): Hurra Jesus (Graz 1995), 100 Jahre CDU (Berlin 1996), Rocky Dutschke, ‚68 (Berlin 1996), Begnadete Nazis (Wien 1996), Schlacht um Europa Ufo Krise ‚97 (Berlin 1997) Drei Dinge aus Plastik, die auf Christoph Schlingensiefs Schrank stehen: Jesus mit Kreuz, der Kopf von Helmut Kohl, eine Vagina als Kopfbedeckung. Es ist nicht das Problem des Christoph Schlingensief, daß man ihm als »Provokation« auslegen muß, was nichts anderes ist, als die moralischen Ansprüche der SinnSysteme beim Wort zu nehmen, das Sinnsystem der Religion wie das des Staates, das Sinnsystem des Neuen Deutschen Films wie das Sinnsystem der 68erGedanken. Ich habe nie jemanden getroffen, der so weit davon entfernt ist, zynisch zu sein wie Christoph Schlingensief. Mit seinen eigenen Worten: >JA sehe mich in der Tradition des neuen deutschen Films. Der ist mal angetreten mit dem Vorsatz, Filme zu Deutschland zu machen, innovativ zu sein, aber dann wurde er sehr wehleidig. Der Autor ruft mea culpa, und die Kritiker nicken. Trotzdem sehe ich mich in dieser Tradition, aber ich glaube, daß meine einzige Berechtigung im Moment in der Drastik liegt: 75 Minuten mit der Faust auf die Leinwand.« Das ist zur Zeit des deutschen Komödienbooms
so schwer, wie es schwer ist, »Drastik« zu beschreiben in der Zeit der allnachmittäglichen TalkS4owSauerelen. Wenn die Gesellschaft und ihre Medien so auf den Hund gekommen sind, wird auch das lauteste Bellen zum Alltagsklang. Und müssen wir nicht um jemanden bangen, der glaubt, eine »Berechtigung« zu benötigen? Schlingensief, so scheint‘s, ist von jeher besessen von der Zahl 2000. Einer der Namen für sein Jugendfilmteam in Oberhausen ist »AmateurFilmCompany 2000«, die Zahl taucht in Filmtiteln wie »Terror 2000« auf, und natürlich kann seine TalkShow nicht anders heißen als »Talk 2000«. Was er im politischen Raum inszeniert, ist schließlich nichts anderes als die »Chance 2000«. Gern spricht er eines der seriellen Motive, von denen später die Rede sein wird davon, daß im Jahr 2000 die Autos fliegen und wir uns von Tabletten ernähren. Das ist einerseits eine runde Zahl, das Versprechen auf etwas Neues, andererseits schöne Parodie auf die Anpreisungssprache von Werbung und Nachrichten (bei »2000« sind wir dabei, und schon wird die Zeit wieder knapp, dann kommt »2001 «, und schließlich steckt darin die klassische MillenniumDrohung. Apocalypse Now. jüngstes Gericht. PETIT GUIGNOL Schlingensief macht Filme sozusagen von Kindheit an. Wie andere Leute Tagebuch führen, Cowbov und Indianer spielen oder einfach endlos miteinander quatschen. Es will nie auf etwas Großes und Beschließendes hinaus, sondern bildet viel
eher einen konstanten Fluß der Eindrücke und Phantasien mit den Mitteln ab, die er zur Verfügung hat. Er wird glücklicherweise von der Film und Fernsehhochschule in München zweimal abgelehnt, arbeitet statt dessen einmal als KameraAssistent bei Franz Seitz und beim mittlerweile legendären »Mode und Verzweiflung Projekt in München. Auch bei der »Lindenstraße« war er zu Werk. Dann, 1982, kehrt er nach Oberhausen zurück und arbeitet mit Werner Nekes zusammen, was, wie auch nicht?, schöne Spuren in seiner Arbeit hinterlassen hat. Und mit der »Trilogie zur Filmkritik« beginnt der mehr oder weniger professionelle Teil der Filmographie. Nach „Phantasus muß anders werden“ und »What Happened to Magdalena Jung?~ entsteht 1983 »Tunguska Die Kisten sind da«, mit dem Schlingensief schließlich auch von der Filmkritik und einem notwendig bescheidenen Teil des Publikums außerhalb der Insiderkreise wahrgenommen wird. Das hat wohl unter anderem damit zu tun, daß dieser Film sich aus der harten Negation zu einem freien Spiel entwickelte, mit dem man sein Vergnügen haben konnte, auch wenn man nicht genau wußte, wogegen es sich eigentlich richtete. »Klnder«, schrieb damals Eva M.J. Schmid, » die sowieso ein naives und der Logik der Bilder besser entsprechendes Verständnis mitbringen dürften an >Tunguska< ihre helle Freude haben«. Aber SchlingensiefFilme bleiben solitär in der deutschen Filmkultur, kaum läßt sich jemand darauf ein, kaum finden sie Publikum, und selbst auf den Festivals müssen sie untergehen. Es gibt genügend einzelne, die sich von ihnen berühren lassen, und später
produzieren sie auch die eine oder andere FeuilletonReaktion. Aber sie haben nichts mit dem zu tun, wie sich der deutsche Film und die deutsche Filmkultur entwikkelte. Wiederum: glücklicherweise. SchlingensiefFilme sind SpielFilme, Teile einer magischen Autobiographie, die freilich beständig danach sucht, WiderSpiegelung der Zeit zu sein, in der sie steht. Damit protestiert er gegen eben jene Wehleidigkeit der WendersArt des Filmemachens, jene andere deutsche Krankheit, die glaubt, man sei zugleich erhaben über seine Zeit und von ihr schmählich verraten. »Als Altkatholik 16 Jahre Meßdiener sind nicht umsonst gewesen glaube ich an den Beichtfilm. Mein Ziel ist es, irgendwann dreißig Filme zu haben, die in unterschiedlicher Form etwas über die Jahre ihrer Entstehung sagen.« Die Handkamera ist mittendrin in einem Geschehen, das von sich einerseits behauptet, sozusagen life abzulaufen, das aber andererseits seine SplatterAspekte nur allzu gern in Anführungszeichen setzt. (Das ist ein Problem mit den bösen Filmen des Christoph Schlingensief, daß man ihnen so schnell ansieht, daß es ein Guter ist, der sie gemacht hat.) Der 60MinutenFilm » 100 Jahre Hitler die letzte Stunde im Führerbunker« wurde an einem einzigen Tag gedreht und kommt somit einem LiveEreignis am nächsten. So wie es Theatermacher gibt, denen die Bühne zu klein, das Potential der Illusionen und Desillusionierungen zu gering wird und die unbedingt zum Film gelangen müssen, so ist Schlingensief ein Filmemacher, dem das Kino von Anfang an zu kalt und distanziert ist,
der, bewußt oder unbewußt, zur direkten Konfrontation, zum Theater und zur Performance strebt. Und auch das, was man nun schon als ~>Provokation« kanonisiert hat, funktioniert im Film anders als beim Theater. Man kann in einem Film eimerweise Blut verschütten, in Eingeweiden wühlen und Mensch und Tier massakrieren, und das Ganze wird allenfalls dazu führen, daß ein paar Zuschauer kurz die Augen schließen. Wenn Schlingensief seine Helden auf dem Theater (bei »Kühnen 94«) über eine Katze herfallen läßt, treibt er wirklich noch Besucher zum Ausgang, die glauben, einiges gewöhnt zu sein. Die Grenze zwischen der Leinwand und dem Kinosaal ist nicht zu durchbrechen, deswegen lassen wir uns vom Kino )a auch beinahe alles gefallen. Schlingensief aber benötigt das Überschreiten dieser Grenzen. Im Fernsehen sind sie schließlich nicht als ästhetische Form, sondern als bloße Konvention durchaus zu übertreten, auf der Bühne im direkten Übertreten der Rampe und in der Auflösung der planimetrischen Organisation von Schauspielern und Requisiten. SchlingensiefFilme, Theaterstücke und Medienspiele haben keine »Dramaturgle«. Sie sind nicht auf klassischen Vorstellungen von einer Erzählung, von der Katharsis usw. aufgebaut, sondern viel eher einer Montage der Attraktionen vergleichbar, in der es weder den Augenblick von Retardierung und Ruhe noch die Vorbereitung des Höhepunktes gibt. Es ist die Entfesselung von Bildern, in denen immer irgendwie der Teufel los ist; ein Bildersturm, der entfacht wird, wenn man einem Bild den Rahmen, einem Kultgegenstand die Glasvitrine, einer Mumie die Bandagen nimmt.
Während Peter Weiss in Marat/Sade die Inszenierung in einem Irrenhaus stattfinden ließ, ist die SchlingensiefInszenierung das Irrenhaus selber. Theater und Psychlatrie öffnen sich zueinander, nehmen die Form von gemeinsamen Bildern an, die nicht »richtig« oder »falsch« sind, sondern nur auf die direkteste Art wahr. UNGESCHÜTZT Ungefähr zur selben Zeit als AIDS ein bestimmendes Thema wurde, machten es sich gewisse redende Menschen zur Gewohnheit, die Äußerung eines mehr oder weniger spontanen Gedankens mit den Worten einzuleiten: »Das sag‘ ich jetzt mal so ungeschützt.« Ich habe keine Ahnung, wer oder was diese ohnehin nicht allzu aufregenden Gedanken hätte schützen sollen. (Ein Gedankenkondom? Ein gütiger Doktorvater? Die Lektüre der FAZ?) Die Einleitung tat so, als wollte sie zugleich den eigenen Mut zur intellektuellen Dircktheit feiern und träumte doch von einer allseits geschützten Ästhetik und Moral. Und genau so sah zu jener Zeit auch der deutsche Film aus, der allseltig gremlengeschützte deutsche Autorenfilm, der sich, unter anderem, durch seine Langsamkeit, seine Strategie, vom Sichersten ins Hunderttausendste zu gelangen, seine Nischenmöblierung sicherte. Schlingensief dagegen filmte ungeschützt. Er entwickelte sein »Clnema direct« aus den ästhetischen Augenblicken heraus und gegen eine politische, je nun, Wirklichkeit in Deutschland, die die einen besoffen und die anderen
sprachlos machte. Die »Oberhausener« mit ihren Manifesten und Projektionen erschienen ihm immer »zu abgesichert«. Dabei kann es natürlich nicht um die austarierte Schönheit der Einstellung gehen, noch um Subtilität der schauspielerischen Partitur. Es geht vielmehr um den möglichst direkten Weg zur Dokumentation eines einmaligen, unwiederholbaren und wahrhaftigen theatralischen Ereignisses. Freilich darf man sich von dieser Direktheit, von diesem notwendigen Ausstellen des »Dillettantischen« nicht täuschen lassen. Wer es schafft, einmal von den dargestellten »Ungeheuerlichkeiten« abzusehen und von den pathetischen Textstellen und Dialogen abzuhören, die immer ganz woanders hinführen, um sich dem Rhythmus der Montage zuzuwenden, der Komposition der Einstellungen zueinander, der Musikalität der Bewegungen von Darstellern, Kamera und Licht, merkt schon, daß da )emand am Werke ist, der sich aufs Filmemachen versteht. Tatsächlich ist das Kino des Luchino Visconti keineswegs nur ein ironischer Bezugspunkt für das Kino des Christoph Schlingensief, und das zeichnete sich durch einen wenn nicht freundlichen so doch überaus präzisen Schnitt aus, einen Schnitt nicht der fließenden Übergänge (wie beim aristokratischen Mitleiden der Neorealisten), sondern einen schmerzhaftdialektischen. Wer darauf nicht achten will, der kann es auch ganz einfach empfinden. Und von hier aus lohnt sich auch die Überlegung, wieviel Kino noch in den Bühnen und Sozialperformances von Christoph Schlingensief steckt. Es ist die beständige Definition (und Überschreitung) eines Sets, die ständige Inszenierung auf die Einstellung hin. Nur
verhalten sich Kamera und Darsteller zueinander nicht wie Formung und zu Formendes, sondern gleichberechtigt mit und gegeneinander. Die primären Stilfiguren sind der chaotische Reigen (der Totentanz), das Gruppenbild (das letzte Abendmahl/ Beggar‘s Banquet), der Passionsweg und das Opfer (der Kalvarlenberg), die Flucht und das Eindringen (Geburt und Tod /Auferstehung). Niemals verläßt der Blick von Schlingensiefs Kamera diese Arrangements, niemals fixiert sie ein Ziel, schaut sie aus den geschlossenen Kreisen hinaus (das jenseits dieser geschlossenen Systeme ist nur durch den radikalen Schnitt zu erinnern, der oft genug nichts anderes sein kann als ein Schnitt durchs Fleisch); niemals aber auch nimmt sie eine >Position« ein (ein Mitglied der Gruppe, die auf ein anderes schaut/auf ein anderes hört); die Gruppe und ihr Arrangement sind nur der zerbrechende Rahmen für die Selbstdarstellungen und inszenierungen jedes einzelnen. Der bleibt (wie der Künstler, wie der Märtyrer) vollkommen einsam. Er spricht nur für sich oder zu anderen, die eine falsche Identität angenommen haben, am Ende sogar gleich zu mehreren falschen Regisseuren (im letzten Neuen Deutschen Film, natürlich). Die Kamera also guckt, oft von unten, wie ein Kind, oft wie einer, der sich über seltsame Insekten beugt, ganz hautnah und doch unbeteiligt. Staunend und verwirrt, aber voller Lüsternheit, denn jedes dieser Bilder ist auch ein verbotenes: die Abwechslung der heroischen SchauspielerPose (Hitler) oder der leidenden Exhibition der Wunden (Jesus). Was für eine romantische Idee!
Dieses Kino ist keine Reise und kein Traum. Es ist ein Karussell. Eines von diesen Dingern, in denen man sich in einer Drehung noch einmal um die eigene Achse dreht. je schneller es sich dreht, desto mehr verlieren die Menschen das Gefühl dafür, wer oder was sie eigentlich sind. Vom Wo ist längst schon nicht mehr die Rede, obwohl es gerade dafür (natürlich vollkommen gelogene) Zeichen zu geben scheint. Niemand blutet in einem ChristophSchlingensiefFilm, Blut kann in dieser Bewegung nur spritzen. Die einen fallen auseinander, an den anderen bleiben seltsame Dinge kleben. Am Ende ist ihnen so schlecht, daß sie auf die Contenance pfeifen. Und Schlingensief, das sadistische Kind, bewirft sie noch mit Bildreizen und akustischen Wegweisern in die falsche Richtung. Schlingensief konnte somit etwas von der Konsequenz des längst verstorbenen »Underground« für den Film retten, mehr noch aber ließe sich seine ästhetische Methode wohl beschreiben als filmischer Reflex von ”expanded theatre”, als Inszenierungen, die mit dem NichtInszenierten zerfließen. Der Film greift nach einem theatralischen Ereignis, das sich von der Guckkastenbühne befreit hat, und das theatralische Ereignis greift nach der Wirklichkeit der Beteiligten und Zuschauer. Und was in dieser Interaktion geschieht, greift wiederum nach dem Medium Film, um die eigene Begrenzung zu überwinden. Was man am Ende hat, ist also viel weniger eine filmische Aufhebung der Wirklichkeit als einen unendlichen Kreis der Interaktionen.
Schlingensief mußte daher das Kino selbst wohl immer nur als Durchgangsstation betrachten. Die UrAufgabe des Kinos, Raum und Zeit zu konstituieren (und daher und somit: zu »erzählen«), wird radikal verweigert: es ist der ortlose und der zeitlose Film. Er bildet daher auch nicht psychische Prozesse ab, sondern ist selber ein psychischer Prozeß. Ein Film, der sich nicht in meinem Kopf denkt, sondern meinen Kopf in sein Denken zieht. Manchmal wie in eine Schüssel mit Blut oder eine gurgelnde Toilettenschüssel, manchmal wie in ein Labyrinth verborgener Gänge. Die Beunruhigung, die von seinen Filmen ausgeht, besteht viel weniger in den als solchen bemerkbaren Provokationen, als vielmehr in dieser Expansion; es ist wie bei Bildern, die keinen Rahmen haben und von denen man nicht weiß, wo sie aufhören und wo die Wirklichkeit anfängt. Das Ganze kehrt sich natürlich auch um. Da wo Schlingensief die Wirklichkeit einfach die Wirklichkeit sein läßt, zum Beispiel durch das reine, unbearbeitete Zitat, da kann diese nicht anders, als zu offenbaren, wie viel Inszenierung sie enthält. Zum Beispiel, wenn der Bundespräsident eine pathetische Rede hält und dann, irgendwie »zur Seite~Lady Di ist tot: Dodi Dodi DodiSind Sie echt?« fragt ein Polizist, um die Gegenfrage zu erhalten: »Sind Sie echt?« In seinen Filmen holt Schlingensief die Bilder hervor, die wir uns erst zu sehen getrauen, wenn wir sie »einordnen« können, und in seinen öffentlichen Performances tut er nicht selten das, wovon wir fürchten, es könnte uns als Fehlleistung irgendwann einmal unterkommen. Die Geschichte des deutschen Films zum Beispiel ist auch zu schreiben als ausuferndes System der Bannung der urdeutschen Kategorie des »Peinlichen«. Schlingensief macht das Peinliche zum Thema. CINEMA DIRECT IN SCHWARZ, BLUT UND GELDFARBEN Schlingensief will nicht hinaus. Er ist ein chronischer Dableiber in Deutschland. Er ist mit dem Deutschsein in einer Art der Uinarmung, die es in vielen seiner Filme gibt, halb Sex, halb gegenseitige Erdrosselung. Während andere Filmemacher drehen, als wollten sie sowieso nur nach Hollywood oder wenigstens zum deutschen Privatfernsehen, verbeißt er sich in ein Land, bei dem das Dableiben alles mögliche bedeuten kann. Nur lohnen tut es sich nicht. Daß er dann doch nie
den KultStatus erlangt, dem man ihn immer wieder wünschen mag, hängt wahrscheinlich mit seiner sturen Deutschheit zusammen. Er ist in Wahrheit ein Patriot, er will in Wahrheit nicht den Aufruhr, sondern die Harmonie, er provoziert aus lauter Sehnsucht nach Heimat. Er ist der letzte deutsche Heimatfilmer. So ist auch die SchlingensiefFamily das Gegenteil der FassbinderFamily, auch wenn es einige Mitglieder gibt, die von der einen in die andere wechselten, wenigstens Gastmäßig. So wie andere Filmemacher Filme mit Licht, mit Drehbüchern, mit locations machen, macht Schlingensief Filme mit Freunden. Das ist schön und gefährlich, weil es natürlich auch die Gefahr eines merkwürdigen Insidertums beinhaltet. Manches vom SchlingensiefHumor versteht man vielleicht nur, wenn man drinnen ist. So ist das Provokative seiner Stoffe immer auch wieder der Versuch, den inneren Kreis zu überschreiten. Er muß über das Thema die Öffentlichkeit erreichen, die er sich zunächst durch seine Ästhetik ausgesperrt hat. Und ganz ähnlich funktionieren seine TalkShows, in denen er immer wieder die Konfrontation mit der Öffentlichkeit, mit den Zuschauern sucht, um den geschlossenen Kreis der Sprechenden zu durchbrechen. Alles will darauf hinaus, daß eine fiktive an die Stelle der wahren, unerträglichen und geliebten Familie tritt. Die Tragikomödie des Christoph Schlingensief (genauer: die Tragikomödie beim SchlingensiefGucken) ist es, daß all sein Denken, all sein ästhetisches und politisches Empfinden um Jene Ele-
mente kreist, die die »Revolutionäre« so gern abgeschafft hätten: die Heimat, die Familie, die Religion. Das Deutschsein. Unter der gutbürgerlichen, formalisierten Familie lauert das Grauen des inzestuösen Chaos; »Menü total« und »Mutters Maske« das sind die stringentesten Exorzitien gegen die Eltern, der Schrei nach der Mutter (die vom Vater bandagiert und gefesselt gehunfähig im Rollstuhl sitzt), der Kampf gegen die zweifelhaften Liebesbeweise des Vaters, die Mordgelüste der Großmutter gegenüber dem Vater. Und der Sohn erschießt den Vater, um sich selber in Hitler zu verwandeln. (Insofern, könnte man meinen, ist Schlingensiefs Theaterprojekt »Kühnen 94« einmal mehr ein theatralisches Selbstbildnis.) Aus dem Mythos, der Zeit und Raum als Kategorien der Erzählung schafft, bricht dessen pures Material. So geht das bewegte Bild als Entwicklung (im dreifachen Sinne: als Entwicklung aus seinem Material, als Entwicklung der Gegensätze und als Entwicklung der Linearität weder vor noch zurück, es ist seine eigene Gegenwärtigkeit, die von ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft nicht überzeugt ist. »Menü total« verhält sich zum sekundären Material des Spielfilms, der »Biographie« OedipusMythos, Familienroman und Projektion der Wünsche) wie »Tunguska« sich zum primären Material verhält, der Bilder und Identifikationsmaschinerie Kino«. Es wird so radikal zerstört, daß nicht einmal die mythische Rekonstruktion von »Analyse« übrig bleibt. Die Eltern bringen das Kind um, der Enkel stellt den Eltern eine Falle, aber es sterben die Großeltern. Das Bild ist nicht mehr
zu remythisieren (wie bei Pasolini), weil es zum Fundamentalen dieses Krieges zurückgekehrt ist. Auf das Opfer folgt weder die Strafe noch die Erlösung. Die Verwandlung des Kindes in Adolf Hitler ist daher folgerichtig, es ist zugleich der einzige Augenblick des Glücks und die endgültige Vertreibung aus dem Familienroman: Hitler ist, auch in späteren Filmen, der absurde Mensch, der sich seinen Eltern als ein nicht von ihnen Geborener darstellt. Er hat über seine Eltern gesiegt, aber nur um den Preis vollkommener Monstrosität. Der Kopf ist voll von Familien und Geschichtsbildern; seine Figuren sind eben deshalb so sehr damit beschäftigt, zu bluten, zu kotzen, weil sie das alles irgendwie loswerden müssen. Man begreift SchlingensiefFilme am ehesten nicht in dem, wo sie hin wollen, was sie »errichten« könnten, sondern in dem, von dem sie weg wollen, was sie zerstören. So macht »Egomania« ernst mit der Zerstörung der Identität und zugleich mit der Zerstörung der Religion. (Es ist übrigens der Film mit den schönsten Bildkompositionen: Caspar David Friedrich meets Edgar Allan Poe.) Auf die Zerstörung von »Fllm« und »Familie« folgt die Zerstörung von »lch«, und zwar in der Fähigkeit, die Welt als Wille und Vorstellung zu benutzen. Die Versuche »Ordnung zu finden«, »die Realität zu vergessen« oder auch nur »zu kämpfen«, scheitern für die Menschen, die, wie es am Anfang heißt, das Fest und die Schönheit verloren haben, um übereinander herzufallen. Die philosophische Dialektik zwischen Ich und Welt ist damit aufgehoben. Kaum in der Welt, hat das Kind sein Ich schon verloren. Es treibt im Chaos. »Mutters Maske« schließlich ist, genau besehen, die Zerstörung
der Vorstellung der Liebe als Ausweg. Konsequenterweise also gibt es in den sechs Kapiteln dieses Films das erste nicht. Die Tiere, die für das symbiotische Leben stehen, kommen nur als erlegte vor. Dann schließlich wird der gleiche ästhetische Zerstörungsprozeß in der Trilogie » 100 Jahre Adolf Hitler«, »Das deutsche Kettensägenmassaker« und »Terror 2000« auf die deutsche Geschichte angewendet. Als Abfolge der sich selbst zersetzenden, ins pure Happening umschlagenden Mythen entzog sich dieses neopolltische Blutkino auch der Vereinnahmung durch die TrashKultur: Aus dem Internet geholt (Part 2) The German Chainsaw Massacre (Christoph Schlingensief) Part notverysubtle political satire, part splatter movie, set in the first days of a reunified Germany as a family of po‘ white trash (if such a term is applicable to Europeans) use the flood of Eastern refugees as raw material for Junch. The director denies being a genre fan, but this mixes elements from both TCM & TCM2, then adds in >Psycho< and some very cheesy gore to provide an experience closer in spirit to Hooper‘s original than either sequel. It‘s certainly got the ham acting and thescreaming heroine, plus Udo Kier (briefly), drawing a CND logo on the wall in his own blood. According to some German critics, this is art presumably, these are the same ones who thought »Nekromantik« was, too... See also..*Barb Wire *Bad Karma and Drill Bit *Death Leaves No Footprints in
theSnow & other films *Goregasm *Nekromantik *Sex Androide *Zombie Nun nennt man ja in unserer Kultur solche Zerstörungsprozesse »modern«, wenn sie mit der Konstruktion von etwas Neuem verbunden sind, dort aber, wo sie nur sich selbst zum Inhalt haben, »barbarisch«. So wäre Schlingensief zunächst einmal ein barbarischer Filmemacher, so wie er ein barbarischer Theatermacher ist, und schließlich gar so etwas wie ein barbarischer Politiker (der mit seiner Gefolgschaft durch die Medien zieht, wie ein nomadischer Krieger durch die Wüste: Theorielos, mit leichtem Gepäck, wie alle Nomaden). Schlingensief reagiert nicht, wie das meiste in unserer Kultur, wehleidig und beleidigt auf die eigene Barbarisierung, sondern er nimmt sie an. So ist das »Neue« nichts anderes als dies: nicht weiter lügen. Aber wer hält das aus? Der barbarische Künstler kann in dieser Gesellschaft nur überleben, indem er in Bewegung bleibt. Immer zerstört er dabei auch die eigenen Spuren. Schlingensiefs Filme tragen bereits den Prozeß ihres Verfalles, oder umgekehrt,ihrer historischen Vorausexistenz in sich. Es gibt immer Teile, die »älter« als die anderen wirken, das wird mit den einfachsten Mitteln gemacht, die Vernichtung der Farbe, Spuren der Zerstörung, das Zerkratzen am Anfang sogar die Imitation des Verbrennens, die mit dem Material in Gebrauch gar nicht mehr geschehen kann. Alle Filme wirken, als sei in ihnen schon das Zertrümmerte aufbewahrt, wobei der Raum
und die Ordnung der Aufbewahrung selber Opfer einer neuerlichen Zertrümmerung geworden sind. Sie versuchen schon das Gefundene zu sein, das einem Archäologen unlösbare Rätsel aufgibt. Eigenes und Fremdes ist vermischt (nie könnten wir ohne Zeitgenossenschaft den Autor aus seinem Werk rekonstruieren). Von »Die 120 Tage von Bottrop« sagt der Regisseur, er träume davon, daß dieser Film einst auf der Müllhalde gefunden werde. Das ist sozusagen das Gegenteil zu JeanLuc Godards Vorstellung von Filmen, die aussehen, als wären sie auf einer Müllhalde gefunden. Es ist also eine Ästhetik der Zerstörung, aber nicht die Zerstörung des »Modernismus«, die das Alte auslöschen will, um das Neue zu etablieren, sondern eine Zerstörung, die sich bereits selber zum Inhalt hat. Man kann das ebenso spätromantisch wie postmodern nennen (schließlich verhalten sich beide Kunstformen ganz ähnlich zu ihren utopischeuphorischen Vorläufern), oder irgend anders. Es ist nicht die Zerstörung der Negation, sondern im Gegenteil die Zerstörung von experimentell Beobachtetem (eine Zerstörung, die nicht einmal ihren eigenen Plan in sich trägt, ohne ihn genau so radikal zu vernichten) und gleich wieder in den Kreis einbezogenen Erosionsprozessen. jedes Bild, jede Einstellung ist nichts anderes als der Versuch, ein Bild, eine Einstellung zu zerstören. Bei alledem ist es das weitaus »Politischste«, was in der deutschen Kultur derzeit geschehen kann; nicht erst in den Filmen mit und nach der »Deutschen Trilogie«. Der Zerstörungsprozeß wird nun auf das politische System selbst angewendet,
und hier vor allem auf seine Medien. Schlingensief erlaubt es einem barbarischen System nicht mehr, zivilisierte oder gar moderne Bilder von sich zu erzeugen. Wo er auftaucht (und er taucht an verdammt vielen Orten auf), produziert er nicht einfach nur ein Chaos, sondern die wahre Barbarei. UNHEILHITLER BIS ZUR SCHONWIEDER VEREINIGUNG Immer wieder kehrt Schlingensief an die Wurzeln des deutschen Faschismus zurück. Es geht dabei darum, die großen Inszenierungen des Faschismus (und seiner Bearbeitung) zu unterlaufen, die Vertreter auf ein normales, eben barbarisches Maß zurückzuschrauben. In seinem Theaterstück »Kühnen‘94 Bring mir den Kopf von Adolf Hitler« gibt es jenen Faschismus der Körper, der sich möglicherweise in der deutschen Bürgerfamilie‘ zumindest ihrem Mythos so gut zu verbergen weiß. Nicht als Ursache in 1 oder gar Erklärung, sondern als wahrhaft UnVermitteltes. Der Kühnen, der an AIDS verstorbene Neonazi, ist hier weder besonders faszinierend noch besonders dämonisch, er ist einer, der wie die anderen sein Wahnsystem aus allertrivialsten Umständen entwickelt, einer, der seine Pubertät nicht hat bewältigen können. Und Hitler ist mehr als ein Problem, ein böses Phantasma, er ist, wie es bei Schlingensief nicht anders
sein kann, ein wirkliches Gegenüber, der, wie wir in »Die 120 Tage von Bottrop« erfahren, dem dornengekrönten Filmemacher (Gegenschnitte: Adolf Hitler blickt umfinstert in die Kamera) »tu dies, tu das« sagt. Es ist die Direktheit selber, die das Barbarische ausmacht und die nicht schon die Wertung in das Gute und das Böse, das Verständliche und das Unverständliche in sich trägt. So macht man im kritischen Text, weil man ihn weder zu den Mythologen noch zu den Aufklärern, weder zu den Soziologen noch zu den Ästheten hinter der Kamera und auf der Bühne rechnen kann, den barbarischen Inszenator gleich selbst zum Faschisten. Schlingensief ist, wie er sagt, »zuerst einmal auf der Seite des Täters« (und für einen Filmemacher ist das in doppeltem Sinne eine Frage der Einstellung). »Hitler ist letzten Endes eine total gestörte Persönlichkeit gewesen. Hat einen Firlefanz angefangen, wo es irgendwann die Selbsttäuschung gab: >Das ist gut. Das ist prima. Das kriegen wir in den Griff, und alle machen mit super und das hier auch noch angeheizt. Und er denkt, er ist Gott weiß wie gut, hat dann die Bremse nicht gefunden oder wollte sie gar nicht finden, und dann kommt der letzte Moment, und alles bricht zusammen. Was dann passiert, das finde ich das Interessanteste.« Das ist natürlich in allen unseren Systemen zur Bearbeitung, zur Chronomorphie des Faschismus nichts als frivoler Unsinn. Es ist zugleich vollkommen konsequent in der barbarischen Rekonstruktion eines Systems, das sich selber als besondere Rekonstruktion der Barbarei verstehen läßt und zugleich, um es mit Pasolinis
Worten zu sagen, die vollständige technologische Vernichtung des Barbarischen im Schilde führte. Um einiges kompatibler wird dieses Vorgehen, wo es um noch jüngere Ereignisse der »kontrollierten Barbarei in Deutschland geht. Christoph Schlingensief bekommt für »Das deutsche Kettensägenmassaker« bei den Hofer Filmtagen den Preis für den besten Film zur deutschen Wiedervereinigung. Es ist der einzige, der direkt auf das Ereignis reagiert und es direkt als eine Riesenschweinerei charakterisiert. BRING MIR DEN KOPF VON CHRISTOPH SHLINGENSIEF Aus dem Internet geholt (Part 3) Fische, die das Wasser nicht naß gemacht hat Kunstfreiheit, Narrenfreiheit? Wie Künstler die politische Wirkung ihrer Werke vor und nach Wendezeiten beurteilt sehen möchten Von PETER DITTMAR Was haben Leni Riefenstahl, Schlingensief und Bernhard Heisig gemeinsam? Was verbindet Breker, Brecht und Hermlin? Sie sind und sie waren Künstler. Sie haben sich auf Politik eingelassen. Und sie beanspruchten und beanspruchen Narrenfreiheit, wenn sie zu dem stehen sollen, was sie propagiert, gefördert und gefordert haben. Da vermischen sich die unterschiedlichsten Argumente zu einem Brei
der Verantwortungsflucht, die der Immoralität nahekommt. undsoweiter Copyright: DIE WELT, 11.9.1997 Das Problem, das die deutsche Film und Medienkritik mit Schlingensief haben mag (wenn sie überhaupt noch so etwas Bemerkenswertes wie »Probleme« hat), ist eine mögliche Unübersetzbarkeit der Schlingensiefschen Arrangements in die klassische Form eines Textes. Wie übersetze ich ein ästhetisches Ereignis, das weder linear noch kausal abläuft , in einen verabredungsgemäß linearen und kausalen journalistischen Text? In der Regel hintenherum. Indem ich die Voraussetzung die magische Biographie oder die Folgen die Wirkung der »Provokation« beschreibe, weil ich das ästhetische Ereignis selber nicht beschreiben kann. Daß Schlingensief mit seinen Filmen nie wirklich erfolgreich wird, liegt nicht nur an der »pubertären« Wüstheit seiner Exorzitien und daran, daß seine Arbeiten mit der schönen Amnesie, die inan gemeinhin im Kino zu erleben erhofft, so wenig zu tun haben man will all das, was da aus den Grüften und unterirdischen Gängen hochkocht, nicht wirklich wissen. Denn Schlingensief zieht uns mit seinen Bildern nicht aus der Scheiße. Er reitet uns rein. Und zwar im Galopp. Man kann SchlingensiefFilme nicht sehen ohne ein ungeordnetes Gefühl der Schuld. Visconti trifft auf PopTrash; Schlingensief filmt den Traum, nicht seine Deutung. Es gibt die »Erlöserlein« in seinen Filmen (»es frißt ja nur die Eltern dein«), aber keine Erlösung.
Er sei, sagt Schlingensief, kein Konzeptkünstler, sondern ein »serieller Künstler«. Das muß man nicht nur als mediale Verrietzung der mannigfachen Aktivitäten und ihrer strukturellen Ähnlichkeit sehen, sondern auch als Kompositionslehre: Gleich ob in einem Film, in einer TalkShow, auf der Bühne, in einem Interview oder im richtigen Leben; der Autor benutzt die immergleichen Motive, die immergleichen Aussagen, die immergleichen Figuren in freilich sonderbaren Reibungen und Reibungen. Sätze wie »Deutschland muß wieder härter werden« treiben durch mehrere Filme und bekommen jewells andere Bedeutungen. So wie das Bekenntnis, der Apothekersohn zu sein, eine zärtliche Geste und gleich darauf eine Kampfansage sein kann. Was die Kritik belustigt und irritiert, ist wohl weder die »pubertäre«, unreflektierte Art der Ausbreitung von Problemen und Beziehungen, die man als Erwachsener und also auch als erwachsener Künstler einfach nicht zu haben hat, es ist mehr noch die (scheinbare) Theorielosigkeit dieser seriellen Kunst. Das Handeln kommt vor dem Gedanken, das Bild vor der Geschichte, der Schrei vor dem Wort, das Wort vor der Sprache. JETZT WERDEN WIR GENAUER DISKURS DER METHODE1. 1.Das Drama der UnDramaturgie. Schlingensief »erzählt« nicht, weder in seinen Filmen noch in seinen Installationen.
Denn Erzählungen haben einen Anfang, einen Mittelteil und ein Ende. Wenn auch, wir sind ja modern, nicht immer in dieser Reihenfolge. Auf die Entzweiung folgt das Opfer, dann das Happy End. Oder der Tod. Hier nicht. Es geht vielmehr um den ins Endlose ausgedehnten Punkt des Opfers selbst. Die UnOrdnung, die Schlingensief anrichtet, möchte auch die Grenzen niederreißen zwischen dem Leben und der Kunst, dem Öffentlichen und dem Privaten, dem Erhabenen und dem Gewöhnlichen. Daher ist diese Familie (die Familie der Menschen, die Familie der Ideen, die Familie der Bilder) antiödipal strukturiert (obwohl sie sich sozusagen um das OedipusBild versammelt); ein Mensch, ein Gedanke, eine Idee tötet nicht das andere, um es zu ersetzen, sondern tritt hinzu, damit man einander bekämpfe. 2. Die dokumentarische Schreibweise zum theatralischen Ereignis. Das ästhetische Ereignis wächst, ohne sich zu konstruieren. Zerstückelung ist nicht nur das Thema, sondern vor allem auch die Methode. SchlingensiefFilme und Inszenierungen funktionieren natürlich nicht nach der Methode der Dramaturgie, aber auch nicht nach der der Assoziation und nicht einmal nach der des Surrealismus. Die Montage der Attraktionen gebiert nicht den Effekt als ästhetischen flash, sie setzt sich statt dessen seriell fort. 3. Öffentlichkeit Theater Psvchiatrie. Was geschieht zwischen der Idee und dem Körper~ Die Kontrolle von außen
in der Kindheit, der drohende Kontrollverlust der Pubertät, die Sublimierung der PostPubertät, die Rationallsierung und dann: die Korruption im ErwachsenenStadium. Das Körperliche wird bei Schlingensief weder zum neuen Mysterium noch zum nackten Grauen. Es will sich zeigen, bevor es entdeckt wird. Und wiederum kann man das als Teil der biographischen Inszenierung ebenso sehen wie als ästhetische Methode: eben jene Hierarchie zwischen den Ideen und dem Körper, wie sie sich in der individuellen Entwicklung als biographische »Erzählung« zeigt, wiederholt sich in der Organisation der Gesellschaft. Wer seine Ideen und seinen Körper nicht kontrollieren kann, muß fort. Und wer es nicht will, erst recht. Das ist die Kunst. So ist die SchlingensiefFamilie nicht nur Parodie und Ersetzung der Familie schlechthin, sondern auch eben jener imaginäre Ort, in dem die Regeln der geschlossenen Gesellschaften nicht mehr gelten. Auch hierin, als Inszenator eines permanenten Theaters und Nukleus einer »Kommune«, ist Schlingensief unter anderem ein Erbe der 68erJahre und ihrer Phantasien von der neuen Orgarnisation von Leben und Kunst. Nur wiederholt die SchlingensiefFamily nicht den fatalen Fehler ihrer Vorgänger, nämlich, daß mindestens einer in der Gruppe genau wissen muß, wohin das alles zu führen hat. Es ist besser, ein wenig von einer KinderkarnevalParty zu behalten, als neue Tyrannei zu züchten. Und so verhalten sich auch die Bilder , und Ideen bei Schlingensief: Sie weigern sich, ebenso wie sie die Linearität der »Er-
zählung« verweigern, auch, eine vertikale Hierarchie zu akzeptieren. Gewiß gibt es auch in diesen Bilder und Ideenwelten »seltsame Attraktoren« Zentren der Selbstähnlichkeit. Nichts wäre falscher, als diese Ästhetik als ein Spiel mit Zufällen zu sehen. Doch die Besessenheit wird schnell unterlaufen, indem sie in den running gag verwandelt wird. (Ein running gag muß nicht immer ein Witz sein.) So ist die Ästhetik der Zerstückelung nicht nur Voraussetzung für das karnevalistische Spiel mit dem Normalen wie mit dem Monströsen, sondern auch eine »Ästhetik des Verschenkens«. Was immer an Ideen, Bildern und Effekten im paradoxen SchlingensiefEreignis der ChaosInszenierung produziert wird, es wird unter die Menschen geworfen. Und ganz egal, was man damit macht, man wird dadurch automatisch Teil der Inszenierung (oder auch Teil des Inszenierens). Wie man nicht über Schlingensief sprechen oder schreiben kann, ohne über sich selbst zu sprechen oder zu schreiben, so kann man Schlingensief nicht zugucken, ohne selbst zum Darsteller/ zur Darstellerin zu werden. Aus dem Internet geholt (Part 4): Termine Schlingensief und Freunde, 30./31.8.1997 Mein Filz, mein Fett, mein Hase 48 Stunden Überleben für Deutschland Wohnen mit Schlingensief und Freunden 30. und 31. Oktober 1997
»Was sind schon 700 Eichen gegenüber 6 Millionen Arbeitslosen.« Unter diesem Motto wird Film und Theaterregisseur Christoph Wchlingensief (Terror 2000, Rocky Dutschke, Schlacht um Europa) am Wochenende 30. und 31.8.1997 im Hybrid WorkSpace in der Orangerie mit einem Teil seines Ensembles auf der diesjährigen documenta X 48 Stunden lang wohnen, essen, lieben und trinken. In memoriam John Lennon und Yoko Ono wird Schlingensief nicht nur für den Weltfrieden, sondern gerade für jene vergessenen 6 Millionen Arbeitslose eintreten, die an die lange deutsche Tradition des Vernichtens ganzer Bevölkerungsgruppen anschließt. »Stellen wir uns einfach ganz Deutschland als riesige durchkalkulierte Theaterinszenierung vor. Unser Intendant, in diesem Falle Helmut Kohl, wäre seit 100 Jahren bereits an der Spitze. Fällt ein deutscher Darsteller wegen Krankheit oder Übelkeit aus, so wird man ihm am nächsten Morgen völlig ungerührt mitteilen, daß die gestrige Aufführung auch ohne ihn ganz hervorragend abgelaufen ist! Ein kränkender Vorgang, der unser ständig wachsendes Trauma, nicht mehr gebraucht zu werden oder austauschbar zu sein, ins Unermeßliche steigert, und das wir am 30./31.8.97 durch pure Anwesenheit überwinden wollen. Eigentlich passiert nichts, aber wir sind da! Wir sind zwar nicht gut, aber wir sind da! Sandsäcke sollen uns beschützen, Bundeswehrklamotten sollen uns stärken. Wenn wir in dieser deutschen, europäischen Theaterarbeit nicht mehr gebraucht
werden, dann wollen wir wenigstens den privaten Rahmen beschützen, in dem wir unsere eigene Inszenierung besitzen. Das ist dann unser Fett, unser Filz und unser Hase! Das Schiff, das Haus und unsere Autos haben nicht den Geruch von Verwesung, den wir zur eigenen Selbsteinschätzung gebrauchen. Wir sind Bilder von morgen, aber wir sterben schon heute! Viele sind tot, viele untot, ... uns hat man jedenfalls noch nicht beerdigt! «(Christoph Schlingensief) blaue Seiten created 5/96 netscape 2.0. Update 9/97 netscape 3.0 Copyright (0 Cockatoo Press 1996/97 1 Mail to 4. Aber täuschen wir uns nicht. Die Aspekte der Freundlichkeit, die immer wieder Phasen einer ästhetischen und moralischen Kindlichkeit durchmachen (und wir haben die Bilder im Kopf von Menschen, die sich gerade gegen so etwas wehren müssen, bringen den eigentlichen Schrecken des Materials nicht zum Verschwinden. Denn zwischen der Idee und dem Körper steht nicht nur der Vorgang von Rationalität und Korruption im »erwachsen« und also nicht barbarisch sein, sondern auch die deutsche Geschichte, der Faschismus, Kirche und Kapital. Innerhalb der AntiDramaturgie besteht ein Happening, das den Mühlschen KörperKult vom Kopf auf die Füße stellt. Er ist nicht das utopische Ziel der Orgien und Mysterien, sondern der Urgrund des Faschismus, die Regression der infantilsymbolischen Tat. Wenn Kühnen eine blonde Walküre mit Hitlers Scheiße einreibt, die gleich darauf eine
öffentliche Abtreibung vornimmt, geht das nicht mehr in der Metapher auf. Eine erste Methode ist nichts anderes, als die Dinge beim Wort und beim Namen zu nehmen und eventuell in ihr Gegenteil zu verkehren. Die Abtreibung der faschistischen Germanie »der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch« verbindet untrennbar Körper, Idee und Bild. 5. Daraus ergibt sich als ästhetische (und möglicherweise: polltische) Methode die Zertrümmerung der Metapher. Hinter einer Idee stecken nur einerseits andere Ideen. Es stecken immer auch direkte körperliche Äußerungen dahinter: Fressen, Kacken, Ficken, Schreien, Schlagen. Eine Vereinigung zweier Länder, auch wenn die schon einmal »eins waren«, ist eben auch ein Geschlechtsverkehr, eine Vergewaltigung, ein Auffressen, Kannibalisieren, ein Inzest und paradoxerweise eben genau auch das Gegenteil der eigenen Mythologie: die Zerstückelung. Das Vereinigte wird aufgeteilt und verwurstet. 6. Die Projektion der individuellen Leiden und der politischen Phantasmen auf die Motive der populär culture bewirkt einen doppelten Verfremdungseffekt (wenn es eines solchen noch bedarf). Aber noch einmal auch eine ungewöhnliche Grenzüberschreitung. So entsteht zum Beispiel »Rockv Dutschke, ‚68« oder die »7 Tage Notruf für Deutschland«
semiotischer Clash zwischen dem so oder so Erhabenen und dem Trivialen. 7. Schlingensiefs Kamera ist immer dabei. Das letzte, was man mit ihr könnte, ist Abstand gewinnen oder sich Überblick verschaffen. Seine Filme spielen eigentlich immer in einer Ruinenlandschaft, in altem Gemäuer, Kellern, unterirdischen Gängen und, als hätten wir es geahnt: auch diese Lieblingsschauplätze sind ganz direkt der Biographie entnommen). Grelles Licht und Dunkelheit wechseln überraschend. Die Menschen scheinen immer gerade noch etwas suchen zu wollen. Noch in seinem ersten Einsatz als »Talkmaster« fordert Schlingensief die Zuschauer auf, einen Meter näher an ihren Fernseher zu gehen. Wie die Kamera so ist auch die Beleuchtung mitten drin, eine Handlampe, die, wie die Kamera, sich ihre Objekte immer suchen muß, ihnen auf den Fersen bleibt und deswegen zu einem Mitspieler wird. Eine nomadische Kamera, die keinen BilderGarten bestellt, sondern ihre Beute suchen muß. Man sieht SchlingensiefFilme und Inszenierungen nicht, und schon gar nicht werden sie einem als lesbare erzählt, man bewegt sich vielmehr in so etwas wie einem waagerechten Fall durch sie, und man weiß nicht, ob man diesen Rausch genießen oder sich ängstigen soll, weil nirgendwo Halt zu finden ist. Und was auf der Bühne geschieht oder während »7 Tage Notruf für Deutschland« in der »Bahnhofsmission«, ist nichts anderes als ein solcher freier Fall, der nicht einmal die Möglichkeit bietet, das Unternehmen im Skandal abzu-
brechen. Das Intervall, das als Verschwindendes in der Medienentwicklung den Angriff der Gegenwart auf die übrigen Zeiten noch abzuwehren hätte, wird hier als wahrer Schrecken sichtbar, als reine Materialität, zum Beispiel des Schweigens. Die Inszenierung, geht immer weiter, auch wenn es kein anderes Bild und keine andere Erzählung mehr gibt als die Darstellung der eigenen Verluste an Übersicht oder Dramaturgie. Jedes Bild, jede Idee, jeder Begriff zerstört sich öffentlich selbst und verschwindet deswegen noch lange nicht. Sobald etwas eine Form gefunden zu haben scheint, wird es vernichtet (und sobald sich ein »Gespräch« zu entwickeln droht, wird es abgebrochen). Aber kein Vorhang fällt, die Vernichtung und der Abbruch werden zum Inhalt der Performance. Eine SchlingensiefInszenierung ist eine Anthologie aller Formen des ästhetischen und politischen Protestes, als Idee, Bild und theatralische Gegenwart, vom Attentat bis zur sozialen BarfußArbeit, vom SitIn bis zum Agitprop, von der Bibelstunde bis zur SexShow. Aber in dieser AntiDramaturgie gibt es auch den Raum für das Intervall, in dem nichts geschieht, als daß der Augenblick wirklich der Augenblick ist. 8. Was sich ereignet, ist ein Bildersturz in Analogie zum Blutsturz. Nirgendwo wird man sich so bewußt, daß das Kino eine bürgerliche Kunst ist, eine besondere Art, sich Zeit und Raum als Erfahrungswerte gefügig zu machen. In den SchlingensiefFilmen werden bürgerliche Bildwelten (vulgo auch Kitsch genannt) durcheinandergeworfen, zusammengekocht;
sie verlieren nach der horizontalen (der Dramaturgle) auch ihre vertikale Ordnung (die Hierarchle). 9. Im Kino, so haben wir es gelernt, und so sind wir es gewohnt, verwendet man Zeichen, die (beinahe) sich selbst bezeichnen. Der Schauspieler repräsentiert zum Beispiel einen Menschen, mit dem wir ihn glatt verwechseln könnten. Dabei haben die Zeichen die Aufgabe, einander zu unterstützen (so wie wir es von »supporting actors« kennen, die vor allem dazu dienen, den Star in seiner Repräsentation zu unterstützen); im »modernen« Film kann es geschehen, daß die Zeichen einander negieren, und im postmodernen Film kann es geschehen, daß die unterstützenden Zeichen sich von dem zu unterstützenden Objekt oder Menschen entfernen. Bei Schlingensief sind die Zeichen (und Menschen) von vorneherein im Kampf miteinander begriffen. Sie repräsentieren nichts anderes als sich selbst, und dies nicht in einem Ideal oder einer Chronomorphie, sondern in ihrer Gegenwart. Sie sind in einer Szene anders als in der anderen, und, auf der Bühne zum Beispiel, heute anders als morgen. Wenn dieses »Happening« nun zum seriellen Werk wird, entwickelt es sich von innen heraus zu einer eigenen Bewegung. So tritt das Zeichen nicht nur aus seiner Zeichenhaftigkeit heraus (was nichts anderes heißt, als daß es sich aus seiner sozialen und rationalen Kontrolle befreit), der Zeichencode selbst wird zum work in progress. Damit geht diese Form der paradoxen Ineinander von Theater, Performance, Happening und sozialem Ereignis über die
bekannten Kunstformen der späten Moderne hinaus. Sie ist weder didaktisch, noch stellt sie jene Provokation dar, die eine Reorganisation der Wahrnehmung im Zuschauer verlangt. »Provokation« ist demnach ein wenn auch vielleicht heftiges, so doch eindimensionales Ritual. Sowohl der Provozierende als auch der Provozierte antwortet in diesem Ritual mit der Rekonstruktion einer Rolle, seiner Identität. (Das ist letzten Endes also stets ein konservativer Vorgang, nicht nur für den, der sich der Provokation in die Reaktion entzieht.) Das Ritual der Provokation ist mit dem Ende des Projektes der Moderne also mehr als obsolet. »Ein gesellschaftlicher Rahmen, Moral oder ein Wertekodex existiert bei Schlingensief nicht. Da er nichts Greifbares aufbaut, kann auch nichts zerstört werden. Er verwendet bereits zerstörtes Material für seine Bilder und Momente.« (Matthias Ehrlicher) Jedes Zeichen (jeder Mensch, jede ~Aussagesupport< zwingen will durch Gewalt gegen das andere oder gegen sich selbst. Und in diesem sermotischen Bürgerkrieg schreien sie zugleich um Hilfe und schwören blutige Rache. Das Zeichen wird wieder reiner Körper (der sich, anders als bei Otto Mühl, weder heiligen noch mysterisieren muß). Es ist dabei, in aller Radikalität, dieser Körper auch seiner Utopie beraubt; er ersteht in diesen Inszenierungen/ Geschehnissen nicht mehr als Befreiung, sondern nur in seinem sozialen und ödipalen Uberlebenskampf. Mehr als die Wahrheit über den semlotisch/körperlichen Bür-
gerkrieg ist demnach aus der Inszenierung nicht zu haben. Zu allerletzt Erklärungen und Erlösungen. Der SchlingensiefSchauspieler ist sein eigenes System, sein »tribe« besteht aus Menschen, die, wenn überhaupt, sich selbst geboren haben. Die barbarische Lebensweise haben sie nicht gewählt, sondern diese hat sie gewählt, so wie, nach Schlingensief, nicht der Mensch den Raum befragt, sondern der Raum den Menschen. So wird das Karussell, als Kamerabewegung, Bilderreigen oder Gesprächsinstallation, zur Fragemaschine: Tatsächlich ist, genau besehen, in Schlingensiefs TalkShows nicht der »Gastgeber« der Fragende, sondern das ganze Environment. Der barbarische Mensch ist nicht nur sein Körper und seine Bewegung, sondern zugleich auch sein eigenes Monument und seine eigene Maske. (Er ist, um es genauer zu sagen, sein eigener Gott: erst der Mythos trennt beide voneinander.) Diese Welt ist zunächst einmal gestaltlos sakral (wir sehen wie Udo Kler in »Egomanla« den Mond in grenzenlosem Staunen, zwischen einem Mord und seiner Erkenntnis). Das Zeichen ist in ihr noch nicht gefunden, und wenn es in den Blick kommt, so gehört es Jedem einzelnen, und zugleich entbrennt ein blutiger Kampf darum. Was auf der Ebene der Zeichen beginnt, setzt sich auf der Ebene der Medien fort. Theater, Film, Performance, Musik und Farbe kämpfen miteinander. (Wie in den Filmen das Geräusch mit der Sprache und diese mit der Musik kämpft.) Unter anderem auch um die Aufmerksamkeit der Zuschauer.
10. In der barbarischen Erzählweise ist die Welt noch nicht geordnet, sie ist dem Blick noch nicht unterworfen. Also gibt es noch keine Hierarchien zwischen dem Bedeutenden und dem Unbedeutenden, dem Bedrohenden und dem Faszinierenden, dem Verbotenen und dem Erlaubten. Diese Welt ist unendlich suggestiv und verlangt zunächst nicht nach der Erklärung und nicht nach der Erlösung, sondern sie verlangt nach dem Mythos. So geht die barbarische Erzählweise noch vor den Mythos zurück und zugleich über die Dekonstruktion der Postmoderne hinaus. Die Welt offenbart sich gleichsam in einem Urzustand, der möglicherweise auch ein Endzustand ist (auch von diesem Unterschied weiß die barbarische Sichtweise nichts). So geschieht in SchlingensiefFilmen nicht das Unerwartete, sondern der Bilderreigen generlert einen Zustand der Erwartungslosigkeit. (Man sieht daran, wie weit diese Komposition von »Beliebigkelt« entfernt ist.) Es ist eine Welt vor dem Zustand, der die Worte »Ich weiß« hervorbringt. Auch das Wissen ist ein Mythos. EXKURS: INTERNETTOYAGE, ODER DER DIGITALE
PUBERTY BLUES Schlingensief ist weniger Kult als Ferment; es gibt nichts, wohin man immer wieder zurückkehren kann, aber immer etwas, das neue Bewegung auslöst. (Diese Bewegung hat natürlich auch etwas Selbstzerstörerisches.) Ein Messias der Pubertät wird er damit an gewissen Orten. Das scheinbar Ungeformte, das sich in einen Prozeß der Formung und zugleich in die Prozesse des Widerstands dagegen einbauen läßt. Warum auch nicht? Aus dem Internet geholt (Part 5) gesendet von Stef am 29 October, 1997: Antwort auf: Talk 2000 was sonst???? gesendet von Klernent am 29 September, 1997: RTL ich sags ganz schnell hat was tolles gebracht RTL Samstag Nacht ansonsten find ich auch RTL lös dich auf in Rauch *Hust* *Röchel* sorry, dieser Rauch hier.. Ja, schenau, was ich eigentlich noch sagen oder besser tippieren wollte, Respect to Christoph, geniale Sendung, abgefahren wie er Verwirrung, Scham und totale Desorientierung bei seinen Gästen schaffen kann. Die mit dem Prinz erreichte 98 Punkte auf der stefanschen Abgrölskala ! :) Grüze aus der Schweiz
gesendet von Florian Fuchs am 01 October, 1997: Antwort auf: Talk 2000 was sonst???? gesendet von Klement am 29 September, 1997: Dazu nur e i n Kommentar: TÖTET RTL P.S. Lasst uns einen AntiRTLAktionskreis bilden »Andreas« beginnt den Kreislauf: Endlich, endlich jemand da, der den Promis den Arsch abputzt! Endlich einer, der die Masturbation zum Thema macht. Endlich einer, der das Innere der Unterhose auskehrt und den Wichsern ins Gesicht kippt. Auf daß sich frigide Fotzen die Beine rasieren und dicke verlogene Opis aufhören siebenjährige Mädels zu mißbrauchen (oder auf gut deutsch: ficken). Schlingensief, mein Held, spuck ihnen in die Fresse! Re: König des Undergrounds 1 nachfolgende Messages auf diese Nachricht antworten Kana14 Forum 1 gesendet von Tilman Michel am 08 November, 1997: Meiner Meinung nach ist Talk 2000 die menschenunwürdigste und schlimmste »Talk Show« im deutschen Fernshen. Wie kann man eine Sendung »Talk Show« nennen wenn es nur um Arbeitslosigkeit und das Aufhetzen von Menschen gegen den Bundeskanzler geht. So was ist geschmacklos und abartig. Ich frage mich wie sowas ins Kulturfernsehen kommen kann? Gibt es keine Sittenwächter von Sat 1 und RTL. Was würden
sie denn sagen wenn jemand öffentlich im Fernsehen schreien würde: »TÖTET CHRISTOPH SCHLINGENSIEF!« HAt die BildZeitung auch geschrieben... :Tilman du blöder PUMPFMUF geh und kauf dir eine Schaufel mit der du unserem Helmut dein Sperma raus schaufeln kannst vielleicht würde dann die Scheiße bei diesem fetten Penner nicht mehr aus dem Maul kommen. JAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAA Z E E E E E E E E E E UUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUUR
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DAS ist was wir brauchen. Das is doch kein GUTES DEUTSCHES Fernsehen mehr!!! Wo sind die volksnahen Sendungen wie »Peter Steiner« oder »Mutantenstadel«? Knuuuuuuuuuuuuuuuuuuuuutsch geh und kauf dir besser die moped 2000 du pfeife Diese Debatte, ob er nun »Tötet H.K.« sagen darf, ob Schlingensief lustig ist und überhaupt... das ist doch hinfällig. Ich finde ihn gut, einige andere auch und viele halt nicht.Die brauchen ihn sich ja nicht anzusehen. Wir meckern auch nicht über Dieter Dieter Dieter Thomas Heck oder Carrrrrrrrrrrrrrrrrrolin RRrrreibach oder Peter Bond oder Kerner oder Biolek oder Hintze (doch). Laßt uns Schlingensief. Kommando Christoph
Ich glaub es geht schon wieder loß .... (Wann geht‘s endlich weiter ?) gesendet von Bahrder/Mainhorf am 10 November, 1997: Antwort auf: Talk 2001 C. Schlingensief gesendet von Kommando Christoph am 10 November, 1997: BEWAFFNET EUCH ! MIT FERNBEDIENUNG UND HÖRZU AUF DIE BARRIKADEN ! BILDET UNTERGRUNDZELLEN MIT TRAGBAREN TVS BOYKOTIERT MEISER UND ILONA! BOYKOTIERT DIE BILDZEITUNG KÄMPFT FÜR CHRISTOPH ! NIEDER MIT DER DIKTATUR DER POLITICAL CORRECTNESS JETZT ! JETZT ! gesendet von G am 23 November. 1997: Antwort auf Re: Talk 2000, eine Schande! gesendet von Tilman Michael‘s großer Bruder am 12 November, 1997: Tilman du Bauer du Bist der Ungläubigste Fan Den ich je gesehen habe : : ich hoffe man tötet dich UND Helmut ohl bald!: : TÖTET TILMAN MICHEL! TÖTET TILMAN MICHEL! TÖTET TILMAN MICHEL! TÖTET TILMAN ICHEL! TÖTET TILMAN MICHEL! TÖTET TILMAN MICHEL! Ich glaube es geht loß. Was soll denn der Scheiß. Tötet doch gleich alle. Dich kriege ich Kevin. Paß bloß auf, du kleiner Wi** *er. Rammstein und Onkelz forever Na da ham wirs doch wieder.. »Ich hol gleich meinen großen Bruder und der haut Dich dann!« Meine Güte, BRUDER,
»BOCK DICH! «, dann kann man Dir besser in den Hintern treten... Tststs gesendet von Nicole am 10 December, 1997: Ich will ein Kind von Dir. rauchst Du auch? gesendet von G am 27 January, 1998 Antwort auf: Re: A. Hitler Totgesagte leben länger! gesendet von anna am 27 January, 1998: Sehr geehrter Herr! 27.01.1998 Seit nun mehr als 50 Jahren halte ich mich an einem geheimen Ort in der Nähe von Quickborn (bei Hamburg) auf. Eigentlich wollte ich mit meinem outcoming solange warten, bis Gras über die »Sache« (Sie wissen schon) gewachsen ist, aber ich fühle mich durch Ihre TVSendungen bestärkt, mein Versteck schon früher zu verlassen. Würden Sie mich freundlicherweise für eine Ihrer nächsten Shows (falls noch welche geplant sind) als Talkgast berücksichtigen? Ich denke, ich könnte Ihnen viel erzählen! Ich würde gerne meine Freunde T. Bundy und G. Manson mitbringen. Wie wär‘s? P.S: Falls Sie mich mal besuchen wollen, müssen Sie an der Fernuniversität Hagen nachforschen,: : Dort bin ich unter dem Namen Artur Braun immatrikuliert, Ich belege einen Kursus in Sozialpädagogik. Liebe Grüße! Adolf (Führer a. D.)
Ich glaub, mich beisst ein pferd!! sind hier nur noch idioten? die kommentare hier werden immer dümmer. ich warte schon lange auf etwas intelligentes. nicht immer die gleiche kacke: monarchie, diktatur etc.. . ihr habt doch alle ‚nen schatten gesendet von Loppy am 08 March, 1998: Antwort auf: Talk 2000 , eine Schande! gesendet von Tilman Michel am 08 November, 1997: Tötet ihn! Tuts einfach! Es geht nicht anders! Und jetzt auch noch diese bekloppte Partei! Und Harald Schmidt ist Gründungsmitglied ? Hat er sich das auch gut überlegt ??? 1 A Scheiße so ein Müll! gesendet von Marco am 13 March, 1998: Antwort auf: Christoph Schlingensief oder so gesendet von richard am 26 February, 1998: Eyh, Du Möchtegerntalkmaster, :) ich bin arbeitsloser LebensKünstler und fordere: »T .... Helmut Kohl!« »T ....
HELMUT KOHL! « VATER. LAND. MUTTER . LIEBE. Schlingensiefs Arbeit ist eine Endlosschleife um die magische Biographie, den ApothekerVater, den UnheilHitler, die KrankenschwesterMutter. Daß seine Filme in solchen Grüften und Labyrinthen spielen (und selbst in seinen TalkShows versteht er es, die Situation zu chaotisieren, um erneut das Labyrinth
als Bühne zu schaffen), ist demnach nicht zuletzt Bild für den Abstieg in die Keller des Unbewußten, des Familienromans, der vor allem auch ein deutscher Roman ist. Schlingensief geht in den Bunker, immer wieder, wie ein Kind, das zu einem magischen Ort von Schuld und Sünde zurückkehrt. »Der Vater liebt den Sohn, und nicht der Sohn die Mutter« ist die neue Deutung des Ödipus in »Egomania«. Die Liebe des Vaters zum Sohn ist gerade deswegen so erdrückend, weil der Vater immer der kleine Schatten des Führers scheint, in Wahrheit aber diesen erst produziert. Immer wieder filmte Schlingensief im Mülheimer Schloß Styrum, dem ehemaligen ThyssenWohnsitz, das Jetzt nur teilweise genutzt, teilweise archltektonisches Niemandsland geworden ist. Es ist das perfekte Bild (in einem der Gänge züchtet der Aquarienverein Echsen für diese GrabArbeit. Er ist der Künstler, der von der Mythisierung des Familienromans (in den 68ern: Ich gegen den NaziVater) ausgeschlosseil und zugleich am Zurück gehindert war (Ich, wie ich vernünftig/Rechtsanwalt/SPDMitglied und Familienvater wurde), doppelt verstoßen und doppelt herausgefordert, nur noch diese Konstruktion selber angreifen kann. So sind SchlingensiefFilme am wenigsten Erzählungen und Bilder, am ehesten Exorzitien; Austreiburig der familiären und nationalen Gespenster, und zugleich immer wieder Verschwörungen zur Rekonstruktion. Wenn es ihn nicht gäbe, Schlingensief müßte den Katholizismus erfinden. Und sein ”Tötet Helmut Kohl!” ist eben nicht der Aufruf zum bewaffneten Klassenkampf, sondern ein weiterer Exorzismus.
(Was zählt, pflegt dieser unser bleierner König Ubu zu sagen, ist das, was hinten rauskommt. Und wenn hinten bei einer Aktion so etwas herauskommt wie die dpaÜberschrift »Eklat bei documenta: Prinzessin Diana und Kohl beleidigt«, dann weiß man, daß Kunst, wenn sie auch viel Arbeit macht, doch etwas sehr Schönes sein kann.) Aber vielleicht ist ja auch alles andere erfunden, und Schlingensiefs öffentlich gemachter, medial multiplizierter, zerstückelter und immer neu zusammengesetzter Famillenroman ist vor allem eine Initialzündung, die eine Kettenreaktion auslöst, das Innere nach außen zu stülpen. Es gab im übrigen das Projekt einer Famillenserie für das Fernsehen, in der es einen Vater gibt, der unter Tage, im Gefängnis und als Zuhälter gearbeitet hat, eine Mutter, die unter mysteriösen Umständen ihren ersten Mann verlor, alkoholkrank und nymphoman, eine Tante, die Kinder haßt und den Faschismus liebt, einen Großonkel, der schwerbehindert ist, und verlorene Kinder, die auf den Strich gehen, freß und drogensüchtig. Alle, so scheint‘s, schreien nach Liebe und Geborgenheit und tun alles, um beides zu zerstören. Sogenannte Behinderte haben in Schlingensiefs Inszenierung als work in progress eine feste Rolle, nur ihnen traut er so etwas wie Wahrheit zu und vielleicht sind sie am ehesten die gespenstischen Geschwister, die verlorenen Brüder und Schwestern, die auch in ihm rumoren). Es sind die Sehenden in der umherwandernden SchlingensiefFamille der Werdenden. Sie machen deutlich, daß Menschen in anderen Systemen
leben und daß diese Systeme miteinander kommunizieren können, ohne sich gegenseitig zu negieren. »Die Behinderten geben mir eine große Ruhe, aber nicht das Gefühl von Überlegenheit. Ich muß mich da selber nicht verstellen. Die sind teilweise genialer ganz cool und sind in ihrem eigenen System drin, das nicht unbedingt meines ist. Zum Beispiel Mario Garzaner: der schafft es, den Raum total zum Leuchten zu bringen. Da kannst du machen, was du willst, der schafft, daß alles hell ist. Unsereins turnt da rum, hat mal >Bong!< ganz kurz Licht an. Aber sonst ist immer was Dunkles.« (Schlingensief) Auch das ist ein Hinweis auf die Schlingensiefsche Farbenlehre.
LAST EXIT 0N AIR Wenn man Schlingensiefs Arbeiten gerade einmal nicht mag, was vorkommen soll, vielleicht gerade weil sich davon so wenig behalten, so wenig abspeichern, so wenig historisieren läßt, dann nennt man seinen Stil gerne »pubertär«. Merkwürdigerweise ist dies gerade zu den Zeiten jener Revolte der Jugend zum Schimpfwort geworden, die zugleich eine Kultur der ewigen Pubertät errichten wollten. Es meint wohl zum einen das unfertige, das Spiel mit sexuellen und pädagogischen Tabus, einen Mangel an Balance zwischen Mittel und Ziel, und nicht
zuletzt: das nicht wissen, wohin. Nur nicht es bleiben lassen. Was immer man von Menschen sagen mag, die Pubertät ist vielleicht die peinlichste, eine ziemlich leidvolle hier und da, aber selten die schlechteste Zeit, die sie erleben. Den Zustand des Erwachsenseins erreichen weder die Figuren, die Schlingensief ersinnt, noch die Situationen, In die er sie schickt, noch das Event selber. Seine Kunst besteht vor allem darin, seine Umwelt als Ganzes in die Pubertät zurückzuschicken, wo alles möglich war. Eben auch das Allerdümmste und Allerpeinlichste. Schlingensief, und das ist sein Verdienst, geht hinter das von den 68ern »Erreichte« zurück, er fängt wieder beim Fundamentalen an, bei den Seelennöten des Kindes in der kleinbürgerlichen, katholischen, vom Faschismus geprägten, verdrängenden und verdrängten Familie, bei Masturbation und dem ständigen Bemühen, schneller in der Öffentlichkeit damit zu sein, als man erwischt worden ist. Hase und Igel: der Lauf ist nicht zu gewinnen. Schlingensief macht als Filmernacher und als Inszenator von Medienereignissen deutlich, daß diese ganze Veranstaltung vor allem eine Schimäre war. Die Schweine hatten gar keine Flügel. (Sie dachten nur ins Vögeln und kamen niernais hoch von dem Sumpf, in dein sich Schlingensief nun als erdgebundenes Tier bewegt.) So wird Schlingensief zum AntiTalkmaster schlechthin. Er macht alle ”Fehler” und adelt diese Fehler, indem er sich zu ihnen bekennt, ja sie sehr schnell zu einer Konzeption ausbaut: Wenn ihm nichts einfällt, sag er nichts, oder er sagt, daß ihm gerade nichts einfällt. Wenn ihm danach ist, redet er von sich.
Er reflektiert die Gegenwart der Inszenierung, bekennt sich zu seiner Angst oder, körperlich, zu seinen Schweißabsonderungen. Er verschwindet plötzlich kurz. Er bringt seine privaten Krisen in die Sendung. Er läßt seine Gäste hängen und allein etwas machen. Er macht mit nicht viel anderen Mitteln als in seinen Filmen den Diskurs von Inszenierung und Provokation zum Thema. Und auch hier verhält er sich antidramaturgisch und antimetaphorisch. Zum Beispiel läßt er Jemanden einfach reden, so dumm es auch sein mag, was er von sich gibt, andersherum zerbricht er gerne jene dramaturgischen Konzepte der Selbstdarstellung, die man sich aneignen kann. Tatsächlich ist die Installation von »Talk 2000« noch weiter eine Fortsetzung von SchlingensiefFilmen mit anderen Mitteln. In ihrem Mittelpunkt steht die sich drehende Bühne, die exakt die Bildführung wiederholt. Die klare Interaktion eines Dialoges zwischen Talkendem und Publikum in diesem Fall wird in eine absurde Bewegung versetzt. Die Reaktion findet sich, zum Beispiel, hinter der Aktion. Auch hier entsteht das Karussellartige der Bewegung, das die Beziehung von Ursache und Wirkung zum Rotieren bringt: Die Ursache ist schon wieder woanders, wenn die Wirkung eintrifft, und die Wirkung trifft auf die falsche Ursache. Schlingensief ist nicht noch einer jener Talkmaster, die ihre Gäste beleidigen, damit was los ist, und immer in der Rolle des fiesen Provokateurs bleiben (die Mischung aus Folterknecht und Psychoanalytiker), er bietet sich auch selbst an. Zum Beispiel als Projektionsfläche, zum Beispiel als Kind. Zuerst
setzt er sich einmal selber aus, tritt einmal mit dem Apothekerschildchen auf und erzählt zum hundertsteninal von seiner Mutter als Kinderkrankenschwester. Man hat in seinen Shows nicht unbedingt das leichte Spiel von Komplizenschaft, aber die Rollen von Täter und Opfern, von Inszenatoren und Inszenierten geraten ständig in Bewegung. Das ästhetische und moralische Ziel Jeder Show ist, ganz direkt in der äußeren Form und etwas tiefer den Kommunikationsbewegungen: Unordnung. Karneval und Gottesdienst. Eine seiner TalkShows funktioniert also nicht viel anders als einer seiner Filme, und seine Events funktionieren nach dem selben Modell. Es ist die HandkameraTalkShow. Schließlich könnten wir uns, wenn Schlingensiefs Coup mit seiner Partei Chance 2000 gelingen würde, eine Art SchlingensiefDernokratie vorstellen, die wiederum nach dem selben Prinzip funktioniert: antldramatisch und antlmetaphorisch. »Ich bin 1 Volk« heißt unter anderem: Ich repräsentiere nichts als mich selbst. Denn wo Jeder ein besserer Talkmaster sein kann als diejenigen, die sich Talkmaster nennen, ist auch jeder ein besserer (politischer) Repräsentant seiner selbst als diejenigen, die sich selber die Repräsentanten nennen. Der Mensch darf, in seinen Filmen wie in seinen medialen AntiInstallationen, sich nicht hinter dem eigenen Sinnbild, hinter der Metapher zurückziehen, er muß ganz direkt sein. Kein Wunder, daß niemand so genau den Anteil an Brutalität und den von Zärtlichkeit auseinanderhalten kann.
Die SchlingensiefShow funktioniert als sich selbst regulierendes System. Der Talkmaster begibt sich in die Inszenierung, um einen Teil der Inszenierung sozusagen von außen her kommen zu lassen. Wenn einer seiner Gäste zu sehr in Selbstdarstellung verfällt, kommt aus dem Publikum der Ruf nach seinem »Heiner Müller«, die »Behinderten« sind der kalkulierte Störfaktor des allgemeinen WarenNarzißmus. Schlingensief beginnt die TalkShow mit seiner aufs Magische reduzierten Biographie und erklärt immer wieder, er wolle keineswegs »provozieren«, vielmehr sei man da am RosaLuxemburgPlatz auf nichts anderes aus, als wieder eine Familie zu werden. Das heißt auch: Seine Gäste müssen immer wieder die Rollen in der Familie annehmen: Mutter, Vater, Kind. Er sei, sagt er immer wieder, das einzige Kind einer Familie, die eigentlich sechs Kinder haben wollte. So lastet auf ihm gleichsam sechsfacher Druck. Er verbreitet und teilt sich daher, seine Gäste werden, wenn sie nicht Mutter oder Vater werden, zu imaginären Weiterungen, Brüdern oder Schwestern, mit denen man sich erneut für oder gegen die Eltern verbündet. Daher diese sonderbare Mischung aus Zärtlichkeit und Aggression (die wir von Fassbinder, auf eine so andere Art kennen), daher die Ablehnung der Metapher. An die Stelle der bürgerlichen Familie tritt die barbarische Familie, die den Vorteil hat, daß sich die Mitglieder frei gewählt haben und keine Machtfrage )e endgültig gelöst ist, und die den Nachteil hat, nie einen »eigentlichen« Ort zu haben.
So schließt sich der Kreis von der KinoSemlologie zur postdemokratischen MedienAnarchle. Das Zeichen, das sich weigert, für ein anderes zu stehen, führt zu einer politischen Herrschaft des einzelnen. (Wenn es einen Ideologen für den angewandten Schlingensiefismus gibt, dann ist es Max Stirner.) Und die Kunst hat dabei vor allem die Aufgabe, die Dinge wahrhaft durcheinander zu bringen. Diese Kunst hat seit zwei jahrzehnten nicht mehr die Aufgabe, die Rolle einer Avantgarde in einem linearen Entwicklungsprozeß zu spielen, sie hat statt dessen die Aufgabe, den Künstler als jemanden zu zeigen, der für sich selbst genau das richtige den richtigen Ausdruck, das richtige Material, die richtige Kommunikation zu finden sucht. Die Gewinner und die Verlierer. Die Normalen und die Verrückten. Indem sie ihren eigenen Raum verläßt (auch: ihren Schutz) schafft die barbarische oder künstlerische Familie zugleich einen neuen Raum, einen Raum, der nicht das Theater und nicht die »Bahnhofsmission« ist, sondern etwas, das zwischen beidem geschieht, allerdings nur solange es geschieht. Sie kämpft dabei nicht zuletzt gegen die Rückübersetzung in die bürgerliche, lineare Form der Ordnung (zum Beispiel die Ordnung des Textes). Die Frage, die gestellt wird natürlich ohne daß sie zu beantworten wäre: »Was ist da los? Wer hat mich inszeniert? Wer inszeniert mich eigentlich?« (Schlingensief). Das ist nichts anderes als die in der medialen PostDemokratie virulente Fassung der philosophischen UrFrage: »Wer bin ich? Wo komme ich her? Wohin gehe ich?« Schlingensief reagiert darauf mit einer nicht gespielten, aber genau so wenig »authentischen«
Irritation. Er stellt sich als Autor zur Disposition, jeder kann in seiner Inszenierung in den AutorenStatus gelangen, eine Rolle zwischen dem Schöpfer und der Schöpfung eines ästhetischmythischen Prozesses einnehmen. Schließlich ist die philosophische Frage in der Praxis auch diese: ”Wer hat mich geboren? Wen werde ich lieben? Wie muß ich sterben?” Kein Wunder also, daß diese Inszenierung voll von Abbildungen der Geburt, der Liebe und des Todes steckt, die sich nicht mehr in der Architektur des Mythos ordnen. TALK-SHOW CHRISTOPH SCHLINGENSIEF WILL EAT HIMSELF HERMES PHETTBERG: »Das Tolle an einem Aquarium ist, daß der Fisch nicht rausschwimmen kann. Wenn er rausschwimmt bricht das System zusammen.« CHRISTOPH SCHLINGENSIEF: Ach bin eigentlich in diesem Trauma gefangen, in diesem Aquarium zu sitzen und da irgendwie raus zu wollen.« BERT BRECHT: »Wenn es nur darum geht, sich selbst zu zeigen, ist die Verantwortung nicht groß, trägt man sie doch nur sich selbst gegenüber. Dein Unternehmen endigt in dem einmaligen Erlebnis des Zuschauers, indem seine Phantasie in Bewegung gesetzt, sein Empfindungsvermögen gereizt ist.« JEANLUC GODARD: »Ich mag nur Filme, die ihren Autoren gleichen.«
JERRY LEWIS: »Ich bezweifle, daß es eine andere Industrie oder eine andere Kunst gibt, in der so viele Regeln existieren, die man durchbrechen kann. Wie ich die Kamera aufbaue, kann richtig sein, wie es der andere Regisseur macht, falsch. Oder wir liegen beide sowohl richtig als auch falsch. Wichtig ist der Stoff und das, was gezeigt werden muß. Es gibt keine Grundregeln. Keine Regel schreibt einen Schwenk vor, wenn ein Mann um einen Tisch herumgeht, keine Regel legt fest, ob sich die Kamera in diese oder jene Richtung bewegen muß.< SERGEI M. EISENSTEIN: »Ich glaube, der erste Entwurf eines PantomimenSzenarios, den ich irgendwann einmal gemacht habe, war die Geschichte eines unglücklichen jungen Mannes, der unter Menschen umherwandert, die an die Notwendigkeit gefesselt sind, sich ein für allemal auf vorgezeichneten Bahnen zu bewegen.« MICHAEL HANEKE: >Wozu also dann weiter grauenhafte Geschichten? Weil wir vor dem Grauen der Realität die Augen schließen, um sie überhaupt auszuhalten. Verdrängung heißt die Erbsünde Nummer eins, im gesellschaftlichen wie im individuellen Bereich gegen sie sind wir alle ziemlich machtlos. Vielleicht haben wir die Kunst erfunden, um wenigstens eine kleine Waffe gegen sie zu haben.«
VOM TERROR ZUR CHANCE 2000
Aus dem Internet geholt (Part 6) 15. März 1998 Eine »Partei der letzten Chance« BM Berlin Der Kino und Theaterprovokateur Christoph Schlingensief hat in Berlin seine Partei »Chance 2000« gegründet in einem Zirkusspektakei mit mehr als 100 jungen Mitgliedern. Die »Partei der letzten Chance« will die Underdogs der Gesellschaft mobilisieren. (D Berliner Morgenpost 1998) Lesen Sie auch: *Reiten für ein neues Deutschland Der Aktionskünstler Christoph Schlingensief gründet seine Partei »Chance 2000«, will Helmut Kohl stürzen und meint es womöglich ernst. Der »panische Moralist« (Peter Körte) tendiert nicht nur zum multimedialen, nein nicht Gesamt, sondern eher FragmentKunstwerk, sondern auch zum Zwang der Selbstbeschleunigung. Und am Ende fällt er vielleicht doch auf die Machinationen der ungellebten, heiß geliebten Vorgänger herein, wenn er glaubt so einmal in seiner TalkShow, wo er immer wieder mal mehr, mal weniger indirekt seine Arbeit reflektiert , daß eine Täuschung, die sich und uns als Täuschung bewußt ist, in einer dialektischen Volte gleichsam wieder zur Wahrheit, gar zur Aufklärung würde. Ein bizarrer Kreis schließt sich da: Heimat, Familie, Religion sind durch die Medien ersetzt worden; Schlingensief, der ewige Ministrant, versucht sie durch den MetaGebrauch der Medien wieder herzustellen. Und immer gleich die Ironisierung dazu.
DIE SÜßE KEIMZELLE DER GIER Anker in einer imaginären Kindheit. Das Überraschungsei in Theorie und Praxis
Wir leben, das ist das beste, was wir von uns sagen können, in der Epoche des Scheiterns. Alle großen Projekte der Menschheitsverbesserung sind gescheitert, so sagt man, alle Ideen und Konzepte, aber Scheitern gehört auch schon zum politischen und akademischen Mittelbau, und noch jeder einzelne Mensch scheitert ein Leben lang so vor sich hin, dass ihm nach nichts mehr der Sinn steht als nach jenen regelbaren, parellelen Welten der Zeichen und Wunder, in denen man nicht scheitern kann, weil sich das Ziel stets den Möglichkeiten anpasst und nur das quantitative Noch-nicht als Motor gilt. Nur erhebend sinnlos muss das ganze sein, kontrolliert regressiv, und tief drinnen ein vollständiges Weltmodell enthaltend, das Imanuel Kant mitsamt seinem Subjekt/Objekt-Problem für lange Zeit in Urlaub schickt: Das Subjekt frisst und baut zugleich seine Objekte zum inneren Zeichenkosmos. Früher mußte man vielleicht noch zum Schmetterlingsammeln und Krokodile-Totschießen nach Afrika, später reichte eine Plastilin-Menagerie oder eine in langen Stunden errichtete Modelleisenbahnanlage oder der Eiffelturm aus Streichhölzern erbaut. Dann kam das digitale Netz: Im Internet kann man sich verfangen, aber niemand ist darin gescheitert. Doch selbst dies ist ja noch ein komplexes, dialogisches Feld, in dem
es immerhin so etwas wie Widersprüche gibt. Ein universales und unendlich verständliches System ist dagegen das Überraschungsei und sein Inhalt. Die globale kapitalistische Metapher auf das Subjekt, das nicht eins werden will. Gewiss, die Verbindung von Süßigkeit und Spielzeug steht in altehrwürdiger Tradition in der Vermarktung, das Kindheitsglück wird erzeugt durch den kleinen Zuckerrausch und Welt-Objekt in den kleinen Schöpferhänden. Und früh schon drängte auf dem Markt das Nebeneinander zum Ineinander, schon in der Nachfolge der „Wundertüte“. „Cracker Jack“ war eine Mischung aus Popcorn und glasierten Nüssen, die, seit 1893 verkauft, kleine zusätzliche Spielzeug-“Preise“ in den Packungen enthielt. Schokoladetafeln wurden zu begehrten Spiel- und Sammelobjekten, zum Beispiel als Schiebespiele, mit denen man aus Kopf, Rumpf und Beinen immer neue Monster aus Mensch und Tier erzeugen konnte. Zu den beliebten Süßigkeiten der fünfziger Jahre gehörten Marshmallow-Tiere, denen Ringe und anderer Kinderschmuck ins süße Fleisch gezogen waren; und selbst der Kaugummi-Automat des nächsten Jahrzehnts versprach gelegentlichen Gewinn eines kleinen Spielzeugs, während andere Automaten in den sechziger Jahren plexigläserne Kugeln mit Spielzeug- Inhalten um jugendliche Konsumenten warben. Bevor man juristisch dagegen vorging, konnte man zum Beispiel bei Sanella Sammelbilder und Figurenserien als „Beigabe“ bekommen. Das Überraschungsei scheint alle diese Traditionslinien wieder aufzunehmen und in eine einzige, unschlagbare MarketingIdee verwandelt zu haben.
Man könnte also sagen: So neu war die Idee, auf die man vor nunmehr 25 Jahren bei der Firma Ferrero kam, und die 1972 in Italien und dann auf dem deutschen Markt erprobt wurde, gar nicht. Und niemand rechnete auch am Anfang mit dem fundamentalen Erfolg dieser Konzeption, die zunächst als österliche Sondervermarktung von Schokoerzeugnissen für kleinere Kinder gedacht war. Das Neue am Überraschungsei wurde gleichsam erst im Konsum selber erzeugt, und zwar durch einen Vorgang, den man in Sammlerkreisen gelegentlich mit dem rührend verräterischen Begriff der „Adoption“ beschreibt. Das Überraschungsei wurde nicht nur gekauft, es wurde in der Tat kulturell adoptiert. Mittlerweile darf sich das Überraschungsei als das verbreitetste Kinderspielzeug der Welt bezeichnen. Jeden Tag werden 2,5 Millionen Figuren für die Schokoeier hergestellt, im Jahr sind es 1,2 Milliarden. Bislang sind über 3000 verschiedene Figuren entwickelt worden. Damit ist, das kann man verstehen, nicht nur ein Segment eines Weltmarktes so monopolistisch besetzt, dass sich McDonald´s und Coca-Cola nur neidisch umsehen können, sondern auch eine universale Objekt-Sprache entwickelt, die auf das Weltverständnis nicht weniger wirkt als, sagen wir, Star Wars oder die Beastie Boys. Das Überraschungsei ist die europäische Antwort auf die Zeichenoffensiven der USA im globalen polit- ökonomischen Handelskrieg. Kein Wunder, dass die USA das einzige Land der Erde sind, in denen Überraschungseier noch nicht in jedem Supermarkt zu haben sind, sieht man einmal von Afrika ab: Dieser Kontinent wird ja auch im Zeichenkrieg ignoriert.
Am Beginn der Überraschungsei-Geschichte dominierten die Steckfiguren, kleine Bausätze von Tieren, Automobilen, Flugzeugen und Raumstationen. Dann erst folgten die Hartplastik-Figuren, die es in verschiedenen Serien (eine Serie zwischen zehn und 12 Stück) gibt und die im Gegensatz zu den Bastelspielen den Sammel-Impuls und damit die Konsum-Gewohnheit verstärken. Dazu kommen Metallfiguren, meist historischer und militärischer Ausrichtung, die mehr oder minder zeitgemäße Form des standhaften Zinnsoldaten, und schließlich das Puzzle, das seinen Sammelwert dadurch erhält, dass im nächsten Überraschungsei vielleicht ein anderes Puzzle steckt, mit dem und zwei weiteren einer Serie wiederum ein Super-Puzzle zusammengesetzt werden kann. Kein Wunder also, dass sich ein zweiter Markt auftut, der die begehrten Objekte ohne Überraschung aber zu signifikant erhöhtem Preis anbietet, ein Markt, der sich aus fröhlichen Tauschbörsen zu einer nicht mehr ganz so fröhlichen Geschäftemacherei entwickelt hat. Der Trick war zuerst einmal eine Art von Rundum-Glücksversprechen. Nicht nur hob sich damit die Alternative „etwas Süßes“ oder „etwas zum Spielen“ auf, es war auch die Hierarchie von Ware und Beigabe durchbrochen. Das Überraschungsei betont (zunächst) das gleichwertige der beiden Genüsse, das Konsumieren und das Besitzen. Und mehr noch, es verbindet sie in ein Ritual, dessen psychologische Tiefenstruktur jede und jeder rasch versteht, der einmal einen Überraschungsei-süchtigen Menschen dabei beobachtet hat, wie er sein „Geschenk“ ent-wickelt. Dieses Ei ist ihm, so
scheint es, ein lebendiger Organismus, dem er zur Geburt eines ganz persönlich für ihn bestimmten Wesens verhilft. Diese „gestaffelte Verpackung“ ist Verlängerung des Rituals mit drei sehr distinkten Geräuschen: Knistern der Aluminiumfolie, das Knacken des Schokolade-Eis und das alles entscheidende „Plop“, mit dem das Innere Gehäuse geöffnet wird, um die wahre Überraschung freizugeben. Am Anfang, wie gesagt, war das Überraschungsei, die kinder sorpresa, kinder surprise, kinder overraskelse eine österliche Marktidee zur Erweiterung der kinder-Schokolade-Palette. Das ganze erwies sich indes rasch als erfolgreich genug, um den saisonalen Aufhänger hintanzustellen. Dennoch blieb ganz offenkundig die Eiförmigkeit des universalen Glücksmetapher mitbestimmend für den Erfolg, was sich am mehr oder weniger kläglichen Scheitern aller Konkurrenzprodukte zeigt. Die Überraschungseier wurden zuerst einmal zum kleinen Geschenk par excellance, Mitbringsel, Belohung und, man konnte damals schon hier und dort kritische Stimmen hören: „Ruhigstellung“ für Kinder. Doch recht bald schon kam zum doppelten Aspekt von Süßigkeit und Spielzeug ein dritter Anreiz, nämlich das Sammeln. Und wenn es erst einmal etwas zum Sammeln gibt, dann bemächtigen sich noch stets und gründlich Erwachsene den Objekten der Kinderkultur. Fünf Jahre nach der Markteinführung begann das Überraschungsei bereits ein Doppelleben als Teil der quietschbunten Kinderkultur einerseits, der immer ausdifferenzierteren Sammelleidenschaft der Erwachsenen andrerseits. Die Eroberung
dieses zweiten Marktes ging eher schleichend und vorerst wenig geplant vor sich. Man entdeckte das eine oder andere Stück aus einem Überraschungsei als Maskottchen auf dem Telefonbord, im Auto und schließlich, das war schon fast ein Massenphänomen, auf dem Bildschirm der schnell zunehmenden Computer-Arbeitsplätze: kein Bildschirm ohne seinen Zwerg, Schlumpf, Happy Hippo aus dem Überraschungsei. Natürlich träumte ein Teil vor allem davon, sich in einem oder anderen Schrein etwas vom Glück der, nun ja, unbeschwerten Kindheit bewahren zu können. Die forcierte Niedlichkeit insbesondere der Hartplastikfiguren trug dazu nicht weniger bei als die martialischeren Metallfiguren, die in noch tiefer versunkene Reiche der Kindheit zu führen versprachen. Aber wie es so geht, wenn ein neues Sammelgebiet entdeckt wird: Bald erzeugten fanatische Komplettisten eine rege Sammlerszene mit eigenen Zeitschriften, mit Vereinen, Börsen, Auktionen, Philosophien, und einem eigenen Jargon, und mittlerweile ist auch hier das Internet zur führenden und schnellsten Kommunikationsweise geworden, und die Sammler-Szene brachte, natürlich, ihre Geschäftemacher hervor. Diese Doppelstrategie der Vermarktung war erheblich beteiligt an der Verbreitung des Überraschungseis in der Welt. Der Markt in Kanada zum Beispiel wurde zu nicht geringem Teil für ferrero-kinder surprise geöffnet, weil mitteleuropäische Einwanderer ihre Sammelleidenschaft in der neuen Heimat nicht aufgeben wollten. Ein Land nach dem anderen wurde
erobert; seit 1990, zum Beispiel, gibt es die kinder prekvapeni in Tschechien, in jüngeren Jahren wurden neue Märkte in Lateinamerika mit dem Überraschungsei versorgt, Israel ist so wenig ohne das Überraschungsei geblieben wie Neuseeland. In Rußland kann man neben den neuen Überraschungseiern für sündteure Preise Objekte der vergangenen Perioden aus dem Westen erwerben, die durch spezialisierte Kuriere ins Land gebracht werden. Immer universaler wird dabei die Sprache des Eis, seiner Adoption und der „geborenen“ Objekte. Wenn es ein Zeichen auf der Welt gibt, das beinahe alle Menschen, arm und reich, in Krieg und Frieden, „verstehen“, dann ist es das Überraschungsei. Die Dansk Kinderaeg-forening darf nun mit Stolz vermelden, dass am 14. April dieses Jahres in Faro das erste Überraschungsei-Museum der Welt eröffnet wird. Es wird Zeit. Überraschungseiersammeln ist eine getreue Abbildung, lustiger und gefahrloser, zum Aktienboom der letzten Jahre. Der fetischistische Wert und die wundersame Wertvermehrung gingen Hand in Hand. Der Marktwert selbst einer neueren Figur beginnt bei zwei DM, ist nach einem Jahr bei vier bis fünf DM angelangt und steigert sich dann langsam aber kontinuierlich. Da es in der Regel keine Neuauflagen einer Figuren- Serie gibt, bleibt der Sammler-Wert auch einigermaßen konstant. Die Metallfiguren (bislang ungefähr 200 Modelle) können auch schneller im Wert steigen. zu den begehrtesten gehören Figuren aus der amerikanischen Geschichte, aber auch eine deutsche „Balletttänzerin“. Die großen Summen werden erzielt durch Figuren aus den ersten Jahren, in denen
es noch keine organisierten Sammler und kleinere Auflagen gab. Aber schon der „Eierlauf-Schlumpf“ aus der „Olympiade der Schlümpfe“-Serie erzielt Preise zwischen 300 und 350.- DM. Problematisiert wird der Sammler-Markt im übrigen durch legale Nachschöpfungen der Objekte, die ferrero zuläßt, die aber für einen Sammler nicht den geringsten Wert haben, „weil sie nicht aus dem Ei sind“. Es ist der heilige Wert dieses Objekts, dass es „aus dem Ei ist“, auch wenn man selber nicht mehr die Geburt des Objektes mit dem Schokoladenverzehr eines real existierenden Überraschungseis geheiligt hat. Schlimmer als die Nachahmungen, die der Kenner etwa an fehlenden Nummern rasch erkennt, sind die wirklichen Fälschungen. Beinahe noch übler ist die Täuschung eines Sammlers durch unter solchen „Fremdfiguren“ genannten Mini-Spielsachen, unter denen man sich irgendwelchen Wundertüten-Plunder vorstellen muss, von dem der kriminelle Ü-Ei-Objekt-Händler behauptet, sie stamme aus einer sehr frühen Serie oder aber aus einer Serie, die, zum Beispiel, nur in Liechtenstein gefertigt wurde. Am Ende jeder Vermarktungskette steht die Erzeugung krimineller Energien, selbst bei einer Ware, die sich so unschuldig gibt. Die semiotische Universalität der Ü-Ei-Objekte wird mehr oder weniger kreativ durchbrochen durch eine Aufsplitterung in „Dialekte“. So gibt es zum Beispiel Figurensets, die in allen Ländern angeboten werden (insbesondere jene, die nach bereits vorhandenen Serien der populären Kultur gefertigt werden, etwa „Mickey Mouse“, „Asterix“ oder „Die Schlümpfe“), andere, die nur - oder zuerst - auf einem speziellen Markt
vertreiben werden wie die „Bill Body“ - Serie aus Österreich, was den Sammler zu internationalen Kontakten oder gar zu „Beutefahrten“ ins Ausland animiert. Im Gegensatz zu den frühen Jahren ist dieser internationale Markt der Sammler mittlerweile durchstrukturiert und kontrolliert. Neben den privaten Sammlern auf den Flohmärkten, die mit den mittlerweile umfangreichen Preiskatalogen (wie zum Beispiel „Spielzeug aus dem Ei“) unter dem Arm auf „Schnäppchenjagd“ sind, strukturieren vor allem Versandgeschäfte den Markt, die sich immer weiter spezialisieren. Vor allem gibt es Anbieter, die die Hartplastikfiguren vertreiben, daneben aber auch solche, die ausschließlich die Beipackzettel vertreiben oder das notwendige und nützliche Zubehör für eine gepflegte Ü-Ei-Sammlung: Sortimentskästen, Sortierboxen, Stecksysteme. Spezialisierte Ladengeschäfte wie das MaxiMuss in Berlin bieten Figuren-Sets aus anderen Ländern an, ständig das Neueste erfährt man als Abonnent der Ü-Ei-Newsletters, und der Computerfreak wird sich seine Sammlung mit der „Ü-Base“-Dateiverwaltung (Preis zwischen 30 und 40,-DM) in Ordnung halten lassen. Wo die Verschwörung von Markt, Kapital und Paranoia in einem geschlossenen System so übermächtig zu werden droht, da wächst das rettende auch in Form von lauteren und kritischen Gegenverschwörungen. Da sind zum beispiel die „hEIligen hEIden“, die sich radikal gegen die Geschäftemacherei unter den Sammlern wenden und von allen verlangen, die Erlöse der Wertsteigerungen ihrer kleinen magischen Objekte
sozialen Zwecken zuzuführen. Allerdings nimmt man hier, daher der Name, das Ritual der Enthüllung wichtiger als das Objekt selber: Das Überraschungsei ist, im Kanon der hEIigen hEIden, ein Orakel, dessen Befragung man sich mit der ensprechenden Würde und Gelassenheit widmen soll. Was das Überraschungsei so universal erfolgreich macht, ist nicht nur das Formen-Esperanto seiner kleinen Objekte, die sich zu einer Sprache der Meta-Kindheit finden, und es ist nicht nur das genialisch konstruierte Ritual der „Ent-Wicklung“ des magischen Objekts, das den guten alten Jäger und Sammler in uns freisetzt mit der zusätzlichen, mythischen Beigabe eines entschlüsselten Rätsels. Dieses Ei ist in gewisser Weise zu einer Keimzelle des Kapitalismus geworden; an ihm transformiert sich, Schritt für Schritt, und beinahe ohne ein Gefühl und Bewusstsein von Schuld und Verlust zu erzeugen, ein „ursprüngliches“, kindliches Verlangen - zugleich nach Tröstung und Welt, nach Abenteuer und Geborgenheit - in alle erdenklichen Phasen der Gier: aus der kleinen Fressgier entwickelt sich Neugier, daraus Besitzgier und von dieser ist es nur noch ein kleiner Schritt aus der Kindheit zur Geldgier, die ihr Hauptaugenmerk auf die Wertsteigerung der eigenen Schätze richtet. Das Objekt hat dabei seinen Symbolwert (Ausweis der Kindlichkeit und Unschuld) nicht verloren. So ist aus dem Kindheitstraum die Parodie der Aktie als Teilhabe am irrealen Geldfluss geworden, und das Überraschungsei war das beste Lehrbuch für ein Kind, das, wenn es einmal groß ist, zugleich ewig kindlich und marktwirtschaftlich tückisch denken will.
Diese vernetzte Verbindung von Kindheit und Marktwirtschaft ist materiell wie mythisch vollständig abgesichert. So wie es, anders als bei den richtigen Aktien, keinen dramatischen Wertverfall geben kann, so kann der Weg jederzeit zurück in die vollständige Regression, vom Tauschwert zum Schmuse-Wert, gegangen werden. Die magischen Objekte der Überraschungseier sind Anker in einer imaginären Kindheit, und Ahnungen der erbarmungslosen Aneignung der Welt. Die Zeichenwelten wollen immer vollständiger werden, die Gier ist groß. Aber die entwickelte Sprache der kleinen Dinge, die nur von Glück, Glück und nochmals Glück sprechen können, und dabei umso sprachloser werden, je mehr von ihnen beieinander sind, behauptet, der Welt ein vollständig sinn- und problemfreies Feld abgerungen zu haben. In Wahrheit verspricht sie uns, den Weg jederzeit zurückgehen zu können, von der mörderischen Gemeinheit des Marktes zur Schokoladentröstung der Kindheit. Vielleicht öffnen wir immer wieder das magische Ei, um im stellvertretenden Objekt „geboren“ zu werden, um, wie man es beim Ü- Ei-Oraklespiel macht, so etwas wie ein Totem zu erhalten (und wie sollte es in der Akkumulationsphantasie des Kapitalismus anders sein, als dass wir uns dann nach einer kaufbaren Totemisierung einer ganzen Welt sehnen). Vielleicht aber sehnen wir uns in der endlosen Wiederholung des Ritus auch danach, selber in das Ei zurückzukehren, das so sorgsam und mehrfach umhüllt und geschützt ist. Wenn man jemandem dabei zusieht, wie er Überraschungseier aufmacht,
sieht man bei etwas sehr leidenschaftlichem, zärtlichem, etwas sehr erotischen und dann auch wieder sehr traurigen zu. Das zerbrochene Schokoladenei neben der Figur und dem technischen gadget ist ein überdeutliches Todesbild. So muss das nächste Ei herbei, und auch in dies muss man hinein. Scheitern kann man nur draußen. Freitag, Nr. 16, 13. April 2001
SCHLIEß DIE AUGEN UND MACH DIR EIN BILD DER MANN
MIT DEN
POSAUNENBACKEN. HUNDERT JAHRE ALFRED HITCHCOCK
Alfred Hitchcock (1899-1980), Kino-Genie und Pop-Star in einem, viel gefeiert derzeit und glücklicherweise in allen Medien zugänglich wie nie zuvor, ist darzustellen, zu vermessen und zu kommentieren auf sehr verschiedene Weise, Bausteine des »System Hitch cock«:
Hitchcock, der dicke Junge, dem die Angst und nicht viel anderes als Angst in die katholische Außenseiter-Jugend schien, und der Zeit seines Lebens Bilder der Angst, Bilder der Schuld, der Sünde und der Rache, Bilder des Begehrens und der indirekten Erfüllung zu produzieren wußte, sich ihnen immer wieder näherte und sich immer wieder von ihnen distanzierte. Und uns dabei eine sichere Art bot, uns mit allerlei Schattenseiten unseres sozialen und privaten Lebens zu arrangieren. Der Schöpfer einer magischen Autobiographie, durch die hindurch wir in unsere nicht mehr gar so wohlgehüteten Geheimnisse gelangen können. Oh ja, wir haben oft und gern ein wenig zur »dunklen Seite des Genies« gesehen; wir sahen
nur allzu gern die seelischen Defekte des Autors hinter den Bildern, anstelle unserer eigenen vor ihnen. Hitchcock, der Selbstvermarkter, der Zurschausteller eines ebenso markanten wie komischen Männerkörpers, der wie geschaffen war für die Karikatur. Hitchcock war der einzige Regisseur, der selbst als Ikone fungierte - neben James Dean und Marilyn Monroe, die andere Seite des Nachkriegs-Körperbildes. Jener Star, der in seinen Filmen einen prägnanten Kurzauftritt hatte, den die Kenner seines Werkes bald als mehr als nur einen ikonographischen Running Gag, als eine geheime Botschaft, einen Kommentar zum eigenen Film zu deuten vermochten. Als eine Anwesenheit des Künstlers in seinem Werk. Aber auch einer, der sein Bild als »Markenzeichen« auf den Markt der Träume warf, der Fernsehserien, Buch-Reihen und Magazine verkaufte. (Mein Lieblingsbild: Alfred Hitchcock am Schlagzeug mit Beatles-Perrücke.) Er tritt in seinen Filmen auf, wie eine Signatur, und sagt zugleich: Das ist nur ein Film. Und: Das ist mein Film. Und schließlich: Es ist ein Film über das Sehen und das Gesehenwerden. Und über die Täuschung: In Topas (1996) wird er im Rollstuhl ins Bild gefahren. Der Regisseur, gehemmt und gelähmt, wie viele seiner Figuren vorher? Ja, aber bevor es weitergeht, sehen wir, wie Alfred Hitchcock einfach aufsteht und geht. Hitchcock, der große Ausprobierer, der populärste und teuerste Experimentalfilmer der Kinogeschichte, der so abenteuerliche Ideen verwirklichte wie die Einstellung durch einen gläsernen Fußboden in The Lodger (1927), einen Film
in einer einzigen Einstellung zu drehen wie Rope (»Cocktail für eine Leiche«, 1948), aus der Perspektive eines Beobachters, der bewegungsunfähig am Hinterfenster beobachtet wie Rear Window (»Das Fenster zum Hof«, 1954), der die radikale Veränderung der Funktion von Filmmusik betrieb, nicht allein in The Birds (»Die Vögel«, 1963), der mit der Konvention von Identifikation und Erzählung brach, etwa, wenn er in Psycho (1960) die Heldin bereits im ersten Drittel der Handlung sterben läßt und der die Stille (wieder) entdeckte wie in Frenzy (1972). Einige der gewagtesten und reduziertesten Hitchcock-Ideen mußten leider unverfilmt bleiben, zum Beispiel seine Idee, einen ganzen Film in einer Telephonzelle spielen zu lassen. Anders als die meisten »Klassiker« des Erzählkinos hat Hitchcock jede technische Neuerung des Mediums mit Neugier und Begeisterung aufgenommen und sofort damit zu experimentieren begonnen: den Ton, die Farbe, die Breitwand, sogar das 3-D-Verfahren hat er sogleich mit Leben und mit Suspense erfüllt. Und ihm ein Maß gegeben. Jeder HitchcockFilm ist eine filmkundliche Lektion, aus der man am besten dieses lernt: Hitchcock nachzumachen, geht fast immer schief. Sogar Hitchcock zu parodieren, ist viel schwerer als man meint. Hitchcock fortzusetzen, führt nirgendwo mehr hin. Das beste was zu lernen ist: eigene Wege suchen. (Was im übrigen auch für die Kritik gilt: Hitchcock als »Maßstab« zu verwenden führt im besten Fall zu Mißverständnissen, im schlimmsten zur Besserwisserei im Namen eines »Meisters«, der so tückisch war, jeder seiner Ideen sogleich
eine endgültige Gestalt zu geben: das Kapitel »Hitchcock-Remakes« gehört zu den trostlosesten der Filmgeschichte.) Hitchcock, der Begründer eines eigenen Genres, des Suspense- Thrillers, das er zugleich vollendete (um kaum Raum zu lassen für seine Nachfolger und Imitatoren), jenes einzige Genre, in dem Probleme nicht mythisch überhöht werden, sondern das seine Protagonisten durch die Hölle des Identifikationsverlustes führt. Eine Katharsis ex negativo: der angstlust-besetzte Verlust des Ich, der, im besten Fall, zu einer Wiedergeburt führt. In den düsteren Beispielen wie The Wrong Man (»Der falsche Mann«, 1956) gibt es no way out. Der falsche Verdacht, das falsche Objekt. Der Doppelgänger, das trompe l‘oeil. Vollendung und Transgression der Romantik. Aber auch: Suspense ist nicht nur eine Form, Spannung zu erzeugen, etwa dadurch, daß der Zuschauer mehr oder anderes weiß als der Protagonist - und das gilt gemeinerweise nicht nur für die Guten; im Suspense bangen wir auch mit dem Bösen - sondern auch eine Form, den Zuschauer zum Komplizen, zum Mitschuldigen zu machen. Wesen der »Erzählung« ist nicht nur, was es zu sehen gibt, sondern auch das Spiel des Wissens und der Beurteilung. Es gibt bei Hitchcock kaum jene klärenden Bilder, auf die alles hinaus will, die man sich einrahmen zu können meint, um das Wesen eines cinematografischen Geschehens auf einen fotografischen Punkt zu bringen. Vielmehr sind seine stärksten Bilder solche der Zersetzung und des Zweifels. Wir sehen Bildern zu, wie sie durch Bewegung ihre Verläßlichkeit verlieren. Und diese Bewegung ist langsam; selbst Hitchcocks Humor ist häufig ein Ergebnis von
Entschleunigung. Vielleicht auch deshalb hat die Action über den Suspense im weiteren Verlauf der Kino-Geschichte wieder gesiegt. Es ist schon komisch, wenn in The Trouble with Harry (»Immer Ärger mit Harry«, 1955) das Auffinden einer Leiche (in einer so wunderschönen herbstlichen Landschaft) nicht etwa zu Hysterie sondern zu pragmatischer Bedächtigkeit führt. Unerreicht ist die Wirkung, daß der Tod eines Mannes, dem niemand nachzutrauern scheint, bis in die einzelnen Einstellungen hinein auf eine kiebige Schläfrigkeit trifft. Der Suspense-Thriller basiert auf einem Einverständnis zwischen Filmemacher und Zuschauer, das kulturhistorisch und wahrnehmungspsychologisch nicht beliebig herzustellen ist. Hitchcock- Filme sind längst überzeitliche Lektionen geworden, produziert konnten sie nur in ihrer Zeit werden. Das klingt wie eine Binsenwahrheit. Zweites Nachdenken: Jeder Hitchcock-Film ist nicht die Wiederkehr des Vertrauten (das wird es erst in unseren Untersuchungen über Motive und Methoden, die, wenn sie ehrlich sind, sich auch als Re- Konstruktion zu erkennen geben), sondern ein Experiment. Hitchcock mußte immer sein Publikum dazu verführen, seine Neugier zu teilen. (Seine Ikone mochte das erträglich und behaglich machen, zu der mir nur eine Parallele einfällt: die Ikone von Albert Einstein, die die Ungeheuerlichkeit der Auflösung eines ganzen Weltbildes überdeckte. Und wie Hitchcock war Einstein so etwas wie sein eigener Hofnarr, der Künstler, dem es gelang, einer Wahrnehmungsrevolution ein menschliches Gesicht zu geben.)
Hitchcock, der Manipulator der Wahrnehmung, der nach eigenen Worten imstande war, mit den Gefühlen seiner Zuschauer zu spielen wie auf einer Orgel. Aber auch einer, der, wie Eric Satie in der Musik, seine Kompostionsprinzipien offenlegt. Der immer auch demontiert, was er errichtet. In Spellbound (»Ich kämpfe um dich«, 1945), der als »erster Film der Psychoanalyse« angepriesen wurde, imitiert er das Vorgehen der Wissenschaft von der Seele: Alles muß durch die Erinnerung geklärt werden, muß rationale Erzählung werden. Aber als die Heldin an ihrer Liebe zu zerbrechen droht, haben die Seelenärzte nur einen Trost: »Sie werden vergessen«. Hitchcock spielt nicht nur, er zerlegt seine Instrumente: Was wir glauben, sagen so viele seiner Filme, ist nicht, was der Film uns glauben macht, was wir glauben, ist was wir glauben wollen. Hitchcock, der hinterlistigste aller Tabu-Brecher und subversive Künstler im Zeitalter der Angst. Den »einzigen poète maudit, der einen unglaublichen kommerziellen Erfolg erlebte«, hat ihn Jean-Luc Godard genannt. Der einzige Regisseur, der so hemmungslos von Voyeurismus, Nekrophilie, Inzest und Wahnsinn sprechen konnte, ohne der inneren und äußeren Zensur anheimzufallen. Hitchcocks Filme ziehen die geheiligten Werte, wenn nicht in den Schmutz, so doch auf ein angemessenes Niveau herab. Von zwei oder drei Ausnahmen abgesehen, spielt die Polizei eine jämmerliche Rolle, der Staat, die Religion, die Familie, das Gericht - farcenhafte Installationen, unfähig dem größten Schrecken etwas entgegenzusetzen, der Entwürdigung des Menschen.
Hitchcock, ein Satiriker von Swiftschen Maßen, der, nur zum Beispiel, eine Schreckensvision wie Psycho (1960) als Komödie verstand, der auf der Leinwand seine sadistischen und obszönen practical jokes sublimierte, aus dem verdrehten und verfehlten Begehren, der Traumschöpfung der »Hitchcockian Woman«, eine Kunst machte und dabei die bürgerliche Seele der sexuellen Ökonomie selber treffen mußte. Hitchcock, der Dokumentarist des bürgerlichen Paares, dessen Stadien er zwischen Bildung und Zerfall, bis zur Zersetzung der Person schließlich, verfolgte. Der erzählte, wie sich Menschen finden in der Gefahr, und wie sie sich in Angst und Mißtrauen wieder verlieren. Es sind Melodramen, die Hitchcock nach eigenem Bekunden gedreht hat, oder auf den Kopf gestellte Melodramen, das heißt, es sind Filme, die in einem moralischen Kosmos spielen, in dem die Transzendenz, das Göttliche ebenso wie die Gewißheit des menschlichen Fortschritts, nur noch als Schatten spuken, und in dem die Menschen nicht nur um die Scheidung des Guten vom Bösen, sondern auch um Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung ringen. Neben vielem anderen handeln Hitchcocks Filme vom säkularisierten Zeichen. Der McGuffin, das leere Zeichen, das die Handlung in Gang setzt und für sich nichts bedeutet, ist nur die dramaturgisch augenscheinlichste Form dieses säkularisierten Zeichens. Das Zeichen wird bei Hitchcock Film: In The Ring (»Der Weltmeister«, 1927) geht es um den Boxring, die Fessel, den Armreif und den Ehering; Vertigo (»Aus dem
Reich der Toten«, 1958) bewegt sich in der Form der Spirale in das Innere einer Psychose; in Spellbound wird die Parallele zum Zeichen im Film und zum Konstruktionsprinzip: Zeichenfilme. Liebesfilme. Die Liebe liegt einzig und allein in der eigenen Verantwortung der Menschen. Deshalb haben Hitchcocks Paare, die sich gegenseitig verdächtigen und betrügen und nach dem Leben trachten, keine Ausrede. Wenn er in seinen Komödien wie Rich and Strange (»Endlich sind wir reich«, 1932) oder Mr. and Mrs. Smith (1941) ein Ehepaar durch eine Krise und dann wieder zueinander führt, hat das einen bitteren Geschmack, den man ihm nicht verzeiht. Dann doch lieber Mord. Hitchcock, der Regisseur, der mit den Mitteln der populären Kultur die Moderne in das Kino einführte, eine Emanzipation des ästhetischen Materials von den Pflichten der Abbildung. Close the eyes and visualize überschrieb er einen Artikel zu seiner Arbeit: die Augen schließen, um sich ein Bild zu machen. Sich entfernen von den theaterhaften und literarischen Vorgaben. Das Alltagsauge täuschen, um anders zu sehen. Hitch, so sagte seine Frau Alma einmal, hätte gern andere, viel radikalere, abstraktere Filme gemacht. Aber er liebte es, geliebt zu werden, und er war, wie gesagt, höchst geschäftstüchtig. Deshalb blieb ihm nur, anstatt »andere« Filme zu machen, Filme »anders« zu machen. Hitchcock selbst hat gegenüber Francois Truffaut gesagt, jemand wie er müsse sich mit dem Publikum verbinden, weil ihn die Kritik nicht zu verstehen imstande sei. Seine Filme geben sehr direkt den Grundwider-
spruch des Kinos wieder, zugleich Kunstform und industrielle Massenware zu sein. Sie waren immer auch Suche nach einem Ausweg. Die Kritik empfand ihn lange Zeit als einen großartigen Regisseur unbedeutender Film; Andre Bazin verglich ihn mit einem Topf, der leer vor sich hin kocht. Wahrscheinlich mußte in der Tat erst einiges in der Wissenschaft vom Denken und Fühlen, vom Miteinanderleben und Einsamsein, geschehen, damit man begriff, wovon Hitchcocks Filme eigentlich handeln. Unter vielem anderen übrigens auch davon, daß die Grenzen meiner Klasse die Grenzen meiner Wahrnehmung sind. Hitchcock, der Regisseur, der immer von einem Geschehen sprach und zugleich davon, wie es Bild wird, der Regisseur der Spiegelungen, der in beinahe jedem seiner Filme auch über das Kino selbst nachdachte. Immer zeigt er nicht nur, sondern führt auch etwas vor. Populär ließ sich das so ausdrücken: Hitchcock hat uns stets die Tricks des Kinos vorgeführt und uns zugleich gezeigt, daß und wie wir trotzdem darauf hereinfallen. Hitchcock, dessen Filme ein bedeutendes Kapitel in der Geschichte der Konstruktion eines neuen filmischen Subjekts sind. Es bildet sich weder auf der Leinwand noch im Kopf des Zuschauers, vielmehr auf halbem Weg zwischen beidem. Der Zuschauer, in der Lage eines »ohnmächtigen Gottes«, der weiß, ohne handeln zu können, der sieht, ohne urteilen zu können, der auf das Schicksal vertrauen muß, wenn er Gerechtigkeit erhofft. Jenes Schicksal, das sich melodramatisch
zeigt, zum Beispiel dadurch, daß der Schuldige den Tod sucht, wird erlöst nicht durch die Wiederherstellung der Ordnungen (um die rhetorischen Enden von Hitchcocks Filmen ist häufig gestritten worden, oft mußte er ein scheinbar optimistischeres Ende drehen als er es in den Drehbuchentwürfen vorgesehen hatte, nur um dieses dann umso willkürlicher erscheinen zu lassen: daß Cary Grant in Suspicion, »Verdacht«, 1941, dann doch kein Mörder ist, macht das Mißtrauen und die Gefahr nicht weniger real, vielleicht im Gegenteil), sondern durch die Identifizierung seines Blicks mit dem inneren Geschehen. Wir mögen es als Erlösung empfinden, daß wir am Ende nicht mehr anderes und mehr wissen als die Helden. Bis zur nächsten Umdrehung der Spirale. Aber mit uns ist nicht nur gespielt worden, etwas von uns ist auch freigesetzt. In Hitchcocks Filmen wird der Zuschauer als Gegenüber und Mitspieler angenommen. Hitchcocks Filme strahlen eine merkwürdige Behaglichkeit aus, und trotzdem ist man nie in ihnen zuhause. In alledem ist »Hitchcock« als Super-System hinlänglich und tiefenscharf beschrieben. Es dürfte ausgesprochen schwer fallen, einen Gedanken zu Alfred Hitchcock zu fassen, den noch niemand gefaßt hätte, und das obwohl jeder Hitchcockomane nur zu genau weiß, wie sehr sich seine Filme verändern von einem Ansehen zum anderen, welch »offene Kunstwerke« sie sind (verborgen hinter dem so erratischen Markenzeichen des Mannes mit den Posaunenbacken). Und trotzdem, oder gerade deswegen, will es niemandem so recht gelingen, alle diese Elemente in einem System wieder zusammenzubringen.
Ein System, nicht ohne Widersprüche und Lücken, aber brauchbar, das von der magischen Biografie eines Künstlers über die Beschreibung einer ästhetischen Methode hinführt zur Geschichte der Wahrnehmung. So bleibt uns also doch noch etwas zu tun. Für die nächsten hundert Jahre mit Filmen von Alfred Hitchcock. Soeben erschienen: Lars-Olav Beier, Georg Seeßlen (Hg.): Alfred Hitchcock, film: 7, 480 Seiten, Bertz Verlag, Berlin 1999, DM 39,80. Freitag, Nr. 33, 13. August 1999
DIE BLENDUNG VOM ALPTRAUM
ZUR
PROPAGANDA
IN DREI
TAGEN
BILDERSTURM
Es ist schon erstaunlich, wie offensichtlich uns (und natürlich vorneweg unseren »Kommentatoren«) die Ähnlichkeit der audiovisuell festgehaltenen und in Endlosschleifen repetierten Bilder des Attentats auf das World Trade Center mit den Kinobildern des Katastrophenfilms in seinen verschiedenen Ausprägungen ist. Als wären sie latent in unserem kollektiven Unterbewusstsein gewesen und hätten nur auf ein manifestes Erscheinen gewartet, brachen die Bilder hervor und verlangten entweder nach dem Aufwachen oder dem Erscheinen des Helden. Denn immerhin erzählen ja alle diese Kinobilder der Katastrophenphantasie von nichts anderem als davon, dass Systeme umso verwundbarer werden, je avancierter sie technisch und organisatorisch sind, und je mehr sie sich auf ihre Unverwundbarkeit einbilden. Die Katastrophe wird möglicherweise durch ein Zurückschlagen der Natur ausgelöst, durch einen Fehler im System selbst oder durch einen Anschlag der »zu allem entschlossenen« Terroristen. Immer aber ist sie, im Kino zuerst einmal, und dann auch in Wirklichkeit, Ausdruck einer fundamentalen Fehlkonstruktion. Etwas oder jemand ist dort, wo es oder er nicht sein sollte. Die Katastrophe ereignet sich an einem Punkt, wo sich Geschichte und Metaphysik begegnen, und
was gegen die Katastrophe hilft, ist einerseits die Kraft des einzelnen (und sein familiärer Zusammenhalt) und andererseits das Gebet. Jede mögliche Katastrophe ist zumindest als Angstbild in unseren Bildermaschinen festgehalten; wir haben jeden größtmöglichen Unfall, jede Art von Weltuntergang, jeden terroristischen Anschlag schon einmal als Medientraum ausprobiert. Es ist keine Katastrophe denkbar, zu der es nicht ein filmisches Vorbild gäbe, nur dass wir mittlerweile schon bei den Explosionen der Atomkraftwerke, der Wiederbelebung der Dinosaurier und den Weltkriegen zwischen Menschen und Machinen angelangt sind. Das heißt: Die Bedrohungen sind mittlerweile in unseren Angstträumen so irreal geworden, wie es vordem schon die »Lösungen« waren. Den Katastrophenfilmen der späten siebziger Jahre, denen noch an der »Denkbarkeit« ihrer Katastrophen gelegen war, kam es darauf an, auch das Rettende zu konstruieren. Die Katastrophe »zeigt« die Guten und die Bösen, in sich selbst, durch Bewährung und Versagen, in ihrer Genesis, in der die Schurken immer noch schurkischer erscheinen als von uns erwartet, oder in der Rettung und, wenn es sein muss, im Gegenschlag, der am glaubwürdigsten erscheint, wenn er so unterhemdschweißmäßig daherkommt wie bei Bruce Willis in den »Die Hard«-Filmen, der ja zuerst auch gar nicht glauben kann, in was für einen Wahnsinn er da geraten ist. Die Katastrophe ist das Mittel zur Erweckung dieser Kultur aus der Apathie, die sie zugleich mit ihren Wellen der Hysterisierung
produziert. Sie ist zugleich das Mittel, uns auf eine furchtbare Weise noch dümmer zu machen, als wir schon sind. Denn aus einem Schaden wird niemand auf der Welt klug. Nicht nur die Selbstgerechtigkeit und der narzisstische Stolz, mit denen der Westen im Allgemeinen und die USA im Besonderen ihre Symbole errichten, ziehen also die Katastrophen an, die immer wieder aus der Dreieinigkeit böse Natur, eigenes Fehlverhalten und fremder Terrorist entstehen, sondern auch die Katastrophenphantasie im Zentrum der Kultur. Die Katastrophe trifft uns auf diese Weise, weil wir sie schon unentwegt träumen, und wir träumen sie unentwegt, weil wir sie zugleich fürchten und ersehnen. Das Ausmaß der Katastrophe freilich scheint die Hysterie schon wieder in Lähmung zu verwandeln. Nun scheint alles schicksalhaft, sogar der »unabwendbare« Gegenschlag, nie haben wir es so unverschämt archaisch ausdrücken dürfen: die Rache. Das ändert nichts an der Tatsache, dass wir in einer Kultur leben, in deren Bilderwelt die Vorstellungen von der Zerstörung dieser Kultur zentral sind. Nicht nur das Bild der brennenden Hochhäuser, das Bild der Twin Towers in Flammen ist zirkulierendes Bild gewesen, ganz sicher war das, was da geschah eines nicht: unvorstellbar. Oder anders gesagt, die Bilder des Katastrophenfilms, die dem wirklichen Geschehen nun so gleichen wie eine Matrix einer Ausführung, haben auch als Bannung versagt. Aber der Rekurs auf sie, dieses fast manisch beschworene Déjà-vu, bildet den Schutzschild für eine Archaisierung der eigenen Gesellschaft, die sich am ver-
meintlichen Gegner infiziert, auch wenn sich dieser Rekurs als nichts anderes als die Wiederkehr des Verdrängten und Unterdrückten der eigenen Geschichte und der eigenen Ökonomie erweist. Paradoxerweise also macht gerade diese Entwirklichung der Bilder ihre fast schon wieder willkürliche Emotionalisierung, ihre Steigerung in den religiösen Kitsch z.B. der Bild-Zeitung erst möglich. Was man in dieser Kinematografisierung des Geschehens nicht mehr schafft, ist es, das Reale und das Symbolische auseinanderzuhalten, den furchtbaren Tod von vielleicht tausenden realen Menschen einerseits, und einen Schlag gegen »nationales Selbstbewusstsein« andererseits. Das Kino lebt von dieser Verquickung, hier ist eine Handlung immer auch ein Symbol, ein Mensch immer auch Repräsentant. Aber in der Welt als Kino wird unser Blick inhuman, wenn wir zwischen dem Menschen und seiner Repräsentation, zwischen Story und History nicht mehr unterscheiden können. Der Alptraum verwandelt sich vor unseren Augen von einer hilf- und ratlosen Endlosschleife in visuelle Ideologie, und die von der Katastrophe betroffene Kultur verfällt in eine rauschhafte Regression, der sich auch die besonneneren Medien nicht mehr entziehen, die ganz buchstäblich Texte nur noch als Nachklang zu einem Bildersturm produzieren können. Einem Bildersturm der drei, vier immer gleichen Bilder, um genau zu sein. Der ikonische und emotionale Schlag, einer gewaltigen Blendung gleich, ließ freilich nur zu deutlich erkennen, wie sich
darunter bereits die Interessen neu formulieren. Wie die Vertreter des Faschismus light in Österreich und in Italien schon schnell ankündigten, wollen sie den »Krieg« nun sogleich auf alle »Terroristen« ausdehnen, auch die im eigenen Land, und vermutlich werden afroamerikanische Fundamentalkritiker auch in den USA als erste als Terroristen identifiziert wie »Globalisierungsgegner« hierzulande. Schon ist die Rede von einem militärischen Schlag gegen die Palästinenser, dem gegenüber die internationale Öffentlichkeit wenig Kritik zu formulieren hätte, angesichts der Bilder jener jubelnden und »Süßigkeiten auf der Straße verteilenden« Palästinenser, die in der gleichen Ritornell- Impertinenz wiederholt wurden wie der Zusammenbruch des Turms und die flüchtenden Menschen im Asche- und Staubregen. Weil das Bild zerfallen ist in den Aspekt des augenblicklichen Effektes (so schnell vergessen wie andernorts ein BSE-Skandal) und den der ewigen Wiederkehr des Kino- Ikons, ist es so frei verfügbar, dass man es selber schnell als Schutzschild und Waffe verwenden kann, gegen wen auch immer. Die Empfindung einer ewigen Wiederkehr der bereits geträumten Bilder, das Katastrophenbild des Jahres 1975, das sich mit der Katastrophenwirklichkeit des Jahres 2001 deckt, definiert indes auch einen historischen Kurzschluss. Wenn die Ereignisse Kinobilder betroffen hätten, die gerade noch im Kino um die Ecke zu sehen gewesen wären, hätte sich ein ganz anderer Effekt ergeben. Aber selbst Bruce Willis‘ Ein-Mann-
Kriege gegen den Terrorismus sind schon wieder Kinovergangenheit. Aber nun hatte man vor ganz anderen Dingen Angst, vor künstlichen Menschen, virtuellen Realitäten und immer noch vor wahnsinnigen Teenagern, die andere Teenager ermorden. Mit anderen Worten: Vor der Innenwelt dieser Kultur. Die Verwandtschaft der Bilder war rückbezüglich, die Prophetie aus einer Vergangenheit, deren Warnungen man sozusagen gleich zweimal in den Wind geschlagen hatte, durch die Flucht ins Orbitale, die Präsident Bush mit seinem Raketenprogramm schon wieder aufnahm, gerade da, wo sie bei Reagan stehengeblieben schien, und die Flucht ins Digitale, so als würde der dritte Weltkrieg nur von digitalen Androiden im All ausgefochten werden, oder als wäre er keine Sache von Personen und Objekten, sondern von Informationen und, vielleicht, Computerviren. Diese materielle und organische Katastrophe trifft eine Gesellschaft, die sich gerade immateriell und metaorganisch machen wollte, die eine Verteidigungslinie im Jenseits errichten und das Gute vom Bösen so scheiden wollte, als wäre es die Grenze einer virtuellen gegen eine körperliche Welt. Das Bild des Katastrophenfilms war insofern real und altmodisch, als es an der Idee von Subjekt und Raum als Medien der Katastrophe und des Krieges festhielt. Die Bilder von der Zerstörung der Herzstücke der Zivilisation hatten sich eingebrannt und waren dann ins kollektive Unterbewusstsein verschoben worden. Jetzt kommen diese Bilder zurück, als habe
man im Fernsehen ein Sampling der Höhepunkte der ganzen Welle zusammengestellt, vermehrt durch neue Größenverhältnisse wie in »Independence Day« oder »Armageddon«, deren Katastrophen sich von denen der siebziger Jahre unterscheiden, vor allem dadurch, dass nichts mehr auf die eigene Schuld darin verweist. Der sehr reale Schrecken wird in dieser neuen Art von Katastrophenfilmen von sehr irrealen, außerirdischen Kräften ausgelöst. Das Gleichnis hat seinen inneren Kern verloren. Es geht hier denn auch weniger um die Schuld als um eine Art Verursacherprinzip, weniger um Einsicht als um die Organisation des Rückschlages. Gegen die Terroristen, die ein Herzstück der amerikanischen Zivilisation erobern oder zerstören wollen, hilft nur ein einzelner, Bruce Willis z.B. in den »Die Hard«-Filmen. Störungen in der langsam verrottenden orbitalen Welt werden von »Space Cowboys« behoben, wie ein Leck in der Kanalisation. Es gibt aber keine neuen Helden, die noch mit der Materialität, der Körperlichkeit der Welt fertig werden könnten. Daher ist die Übermalung der aktuellen Bilder des Attentats und der Katastrophenbilder auch eine Übermalung mit den Mitteln der Väterwelt, eine Krise versteht sich im Medium als Wiederkehr einer anderen Krise. Die Verwandtschaft des Bildes aus dem Kino mit dem aus der Realität ist aber primär rein oberflächlich, der innere Gehalt unterscheidet sich nicht dadurch, dass im Kino jedes Opfer einen Sinn ergibt und es immer so etwas wie eine Rettung gibt. Das Wirkliche und das cinematografische Bild müssten
trotz solch phänotypischer Verwandtschaft noch lange nicht dasselbe bedeuten. Diese Analogie müssen wir in gewisser Weise auch wollen. Aber die Gleichsetzung von Katastrophe und Kino sitzt offensichtlich schon so tief, dass es uns auch als willkommene Maskierung dienen mag. Weil es so sehr Kinobild ist, können wir das »Eigentliche« des Geschehens gar nicht mehr wahrnehmen. Auch deswegen sprechen alle Kommentatoren von den Bildern und nicht von einem Geschehen. Der Gegenschlag muss also kommen, und vorher erfasst uns, nach einem kurzen Anfall der Hysterie - denn Trauer ließ diese Inszenierung gewiss nicht zu - als rauschhafter Konsens eine merkwürdige Identitätskrise. Das eine Bild rast durch die Gesellschaften des Westens und richtet dort einerseits das stets Gleiche an, nämlich die starre Erwartung des Gegenschlages (und des Gegenbildes), denn dieses Bild kann so nicht »stehenbleiben«. Aber andererseits schreibt sich das gleiche Bild auch sehr schnell auf ganz unterschiedliche Weise in die nationalen Befindlichkeiten ein. Und es wird niemanden verwundern, dass es eine weitere Bewegung der Mitte nach rechts bewirkt. Gerade wollten wir aus irgendwelchen Gründen noch unbedingt stolz darauf sein, Deutsche zu sein, und nun sind wir plötzlich alle Amerikaner, wenngleich mit einem verteufelt deutschen Hintersinn. Vor einem Verbündeten wie Deutschland mag man sich in den USA durchaus fürchten, denn unter der Hysterisierung lauert eine unterschwellige Kriegslüsternheit; nirgendwo wird die Metapher vom »Dritten Weltkrieg« mit solchem Feuer vorangetrieben.
Das Religiöse dabei kippt nun freilich mit der »Amerikanisierung« in die wahnwitzige Bigotterie zurück, die möglicherweise nicht unschuldig an der Katastrophe ist. »Einen monumentalen Kampf zwischen Gut und Böse« kündigt Präsident Bush jr. an, und niemand wagt so recht, dieser rhetorischen Infantilisierung angesichts der Bilder zu widersprechen. Denn wir sind nicht nur die Panoramabilder der Katastrophe und ihre Parallelmontage mit dem Affektbild des entsetzten Menschen gewohnt, sondern auch ihre weitere Auflösung: Das Akzeptieren der Opfer parallel zur Beschreibung der Schuldigen. Die Erscheinung des erst gedemütigten und geschundenen Helden, der nicht nur zur rettenden Tat, sondern mehr noch zur symbolischen Wiederherstellung der Gerechtigkeit ausholt und dabei wieder vollständig Körper wird. Hat nicht die Einstellung auf die lachenden und triumphierenden Palästinenser gewirkt, als wäre in ihr das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit schon gleichgültig? Es ist nicht das Ereignis, das nach Verstehen verlangt, sondern Bilder, die nach Gegenbildern verlangen. So scheint uns ein Drehbuch, eine Montage- Konzeption zu erfassen. Nicht Trauer, sondern öffentliche Hysterie scheint die angemessene Reaktion, und bei der Drei-Minuten-Schweigen-Pause in einem Kaufhaus kann man beobachten, wie sich die Menschen vor die Überwachungskameras drängen, um ihre Trauer darzustellen. Nein, sie sind nicht nur eitel und mediengeil, sie wollen das Gegenbild erzeugen. Sie wollen im Innen sein: »Trauer eint ganz Deutschland« heißt es in Bild. Das ist ein
böser Satz, der schon eine Geschichte des Missbrauchs der Trauer beschreibt. Jeder hat eine Erklärung dafür, »dass wir jetzt alle Amerikaner sind«, was über jede Art von Solidarität und Mitleid grotesk hinausgeht. Sofort setzt eine historische Übermalung ein, und auch die bekommen wir nicht ohne Neuaufladung mit Ideologie: Wir sind alle Amerikaner, sagt die Rentnerin in Bild, »weil ich mich an das Care-Paket erinnere, das mir die Amis nach meiner Vertreibung aus Böhmen schenkten«. Wollen wir also die Care- Pakete etwa in Form von Blutspenden zurücksenden, um in einem Akt der Verschmelzung jene »Identität« zu erhalten, die uns so furchtbar zu fehlen scheint? Und können wir wirklich nicht trauern, ohne uns zu »einen« und ohne über unsere »Vertreibung« zu lamentieren? Welche Psychodramen werden da inszeniert! Offensichtlich identifiziert man sich mit dem Leiden der Amerikaner, das sofort nationalisiert wird, um sich nicht nur mit dem einstigen Sieger zu identifizieren, sondern noch einmal das Gute gegen das Böse in einen aus dem Elend geheiligten Krieg zu schicken. Noch die furchtbarste Katastrophe in Bombay würde keinen Deutschen auf die Idee bringen, sich zu einem Inder zu erklären, und auch in anderen europäischen Ländern war in allem Schrecken und bei aller Solidarität nichts von einer solchen nationalen Übersprungshandlung zu bemerken. Wie wollen wir werden, angesichts dieser Katastrophe. Der einzige Traum, der hier hilft, ist der vom Zusammensein. Aber er ist schon ideologisch aufgeladen, kaum dass er begonnen
wurde. Die Bild-Zeitung behauptet: »Das Gebäude war das Symbol für Freihandel und Wohlstand.« Haben wir nun Anteil an beidem, oder war es der Traum, um den unsere Gesellschaft errichtet wurde? Ronald Reagan hat immerhin noch erklärt, Terror sei die Waffe der »Schwachen und der Bösen«, und zumindest der erste Teil seiner Aussage hätte zu denken geben können, wenn man denn zu denken bereit gewesen wäre. Nun mag uns das Bild erscheinen von den Ausgebeuteten und Gedemütigten, die auf diese verbrecherische Weise antworten. Aber kein Modell, weder das rechte noch das linke, will wirklich aufgehen. Der entterritoralisierte Terror, der keinen Staat, keine Gesellschaft, keine Partei, nicht einmal eine Idee als Gegner hat, sondern so etwas wie ein Geflecht von Empfindungen und Möglichkeiten über alle Grenzen hinweg, reterritorialisiert auf paradoxe Weise die USA und macht zumindest die Militarisierung des Weltraums obsolet. Letztlich »hilft« gegen einen solchen Terror nur die Kontrolle der Welt. Die Emotionalisierung der Medien (»Der Tag, als die Schlagzeilen weinten«, Bild) ist eine Methode, aus dem Fenster einen Spiegel zu machen. Alles was wir zeigen oder sagen können, hat wenig mit der Geschichte des Attentats und viel mit uns selbst zu tun. Das »Geile« am Schrecken einer Katastrophe ist das hemmungslose Durcheinander aller privaten und öffentlichen Gefühle. »Wenn ich diese schrecklichen Bilder sehe, denke ich an meine eigene Kriegszeit zurück. Da habe ich auch so viel Leid und zerfetzte Menschen gesehen.« (Günther
Pfitzmann) Aber natürlich kommt es noch schlimmer: »Mir war ganz schlecht, und ich hatte noch nicht mal mehr Lust zu singen. Auch in meinem Rathaus Café habe ich vorerst Musikverbot erteilt.« So spricht Heino. Zwanglos geht da der Narzissmus in Werbung über, und schließlich müssen ja die alten Geschichten und Gesichter wieder mit der neuen Katastrophe verbunden werden. »So entgingen Mette und Prinz Haakon dem Unglück.« Letzte Seite der Katastrophensondernummer. Da bereitet sich schon die Rückkehr zum gewohnten Wahnsinn vor. In den USA hat man einen Film mit Tim Allen zurückgezogen, in dem es um eine Bombe in einem Flugzeug geht (»Big Trouble«). Der Trailer von »Spiderman« wird nicht mehr gezeigt, in dem sich ein gewaltiges Netz um die Türme des World Trade Centers legt. Und auf Eis gelegt wird auch der neue Schwarzenegger-Film, in dem ein Terrorist einen Wolkenkratzer in Los Angeles bombardiert. Das mag zunächst ein wenig wie Pietät wirken, bereitet aber eher die neuerliche Verknüpfung vor: Auch so herum kann man Wirklichkeit und Film einander angleichen. Denn die Welt ist alles, was das Bild ist. Und nichts dahinter. Jungle World Nr. 39/01, 19. September 2001
STAR WARS Es war einmal in ferner Zukunft in Legoland. Wie das Kapital seine Pop-Mythologie frißt und mit den Verdauungsprodukten das Kino ruiniert
In den siebziger Jahren erlebte das Kino eine seiner größten kommerziellen und kulturellen Krisen. Hollywoods StudioStrukturen lösten sich auf, die klassischen Genres, allen voran der Western, hatten ihre Verläßlichkeit verloren, die »Wunderkinder« des New Hollywood- Films hatten entweder ihre großen Niederlagen erlebt oder waren vom Mainstream aufgesogen, die Produzenten setzten auf Sex & Crime und Weltuntergänge. Neben allem, was vorher verboten war, interessierte sich das Kino vor allem für die Katastrophe. Der blutrünstige Weiße Hai und was er mit den mehr oder weniger ahnungslosen Menschen anstellte, war die treffendste, jedenfalls die erfolgreichste Film- Metapher des Jahrzehnts. Und auch damals war schwer zu sagen, was Abbildung, Projektion, Warnung und jene Wunscherfüllung war, von der Theodor W. Adorno schrieb, daß »wer sich das Unheil ausmalt, es irgend auch will«. In Europa war nach der Aufbruchsstimmung der »Neuen Wellen« die Dauerkrise ausgerufen. In den Schachtelkinos hatte man die Wahl zwischen Schulmädchenreports und Zombies unter Kannibalen. Das Kino war, bevor die Videotheken zur neuen Medienhölle wurden, zur unmoralischen Anstalt heruntergekommen, die nicht einmal die Disney-Produktionen
noch mit dem Geist von Unschuld und Familiensinn erfüllen konnte. Und dann kam Star Wars in die Kinos, das Science FictionMärchen eines der einstigen Wunderkinder, George Lucas, mit einem auch für damalige Verhältnisse bescheidenen Budget von neun Millionen Dollar und mit keinem anderen Ehrgeiz gefertigt als ungefähr zwölf jährigen Kindern etwas zum Staunen, Lachen und Fiebern zu geben. George Lucas‘ Film, von Anfang an sowohl auf Fortsetzungen als auf das geschickte Merchandising in der Kinderkultur abzielend, wirkte, als hätte jemand alles zusammengeworfen, was in einem Kinderzimmer sich an Zeichen und Träumen so anhäuft: Science Fiction-Romane, Comic-Hefte, Modellspielzeug, Fantasy-Spiele, Märchenbücher, Plastiksoldaten und Monsterfiguren, sogar eine alte Kinderbibel. Und alles zusammengerührt mit einer fast schon wieder konservativen Moral. Endlich gab es wieder Helden und Schurken, gab es wieder den radikal melodramatischen Druck auf das Material, der das Gute und das Böse zum Selbstausdruck zwang. Und natürlich zum Showdown. Ein moralisches Universum
Das Märchen war verbunden mit einer gehörigen Portion militaristischer Begeisterung, verpackt in die Ästhetik der gerade aufkommenden Videospiele; Kinder durften einen ins Kosmische ausgeweiteten Krieg spielen, von dessen blutiger Realität sich die ältere Generation gerade mit so heftigen kulturellen Schmerzen verabschiedete, und der Zerfall der
bürgerlichen Familie wurde in einen synthetischen Mythos eines dunklen Familienromans im Weltraum gespiegelt, der eine kinetische Erlösung versprach. Gegen den dunklen Vater, der auf die böse Seite der Macht gewechselt war und sein Gesicht hinter einer Maske verbarg, half eine Allianz der amerikanischen Kardinaltugenden. Nein, ganz harmlos war dieses Zukunftsmärchen nie. Die Kids aber liebten Star Wars, die Eltern trauten sich wieder, mit dem Nachwuchs ins Kino zu gehen, und George Lucas wurde Milliardär und einer der einflußreichsten Personen der restaurierten Traumfabrik. Star Wars spielte, entgegen aller Erwartungen in Hollywood, binnen kurzem seine Produktionskosten wieder ein und führte zum Boom eines mehr oder weniger phantastischen Kinos, für das man das Wort »Eskapismus« hätte erfinden müssen, wenn es nicht schon in Mode gewesen wäre. Star Wars wurde zum Begriff für Ronald Reagans Aufrüstung im Weltraum, für die Errichtung des finalen Schutzschildes gegen das »Reich des Bösen«. George Lucas, so war zu hören, hätte sich gegen die politische Verwendung seiner Phantasie zur Wehr gesetzt. Vielleicht zahlte das Weiße Haus keine Lizenz-Gebühren. Viel konnte man von Star Wars sagen, aber kaum, daß es sich um einen »guten Film« handelte. Es war das kalkulierte Medienprodukt eines jungen, talentierten, aber bislang nicht sonderlich erfolgreichen Filmemachers, der von einem interessanten Buch gehört hatte. Es hieß The Hero With a Thousand Faces und belegte, daß die Mythologien der gesamten Menschheitsgeschichte auf gerade einmal 32 plots zurückzu-
führen waren. Und George Lucas unternahm nichts anderes, als alle diese 32 mythischen Geschichten in einer einzigen, ebenso märchenhaften wie technisch spektakulären FilmGeschichte zu vereinen, die unter dem Motto stand: »Es war einmal in ferner Zukunft«. Dieses heftig beschleunigte, computergesteuerte und mit der bombastischen Musik von John Williams unterlegte Weltraummärchen klaute sich hemmungslos Bilder und Bedeutungen aus allen Bereichen der populären Kultur, war Western, Kriegsfilm, Familienroman und Zaubergeschichte in einem. Man konnte darüber spekulieren, ob dieser wilde Genre-Mix nun naiv, schamlos, raffiniert oder avantgardistisch war. George Lucas jedenfalls sah wohlgefällig auf sein umsatzkräftiges Werk und behauptete steif und fest, er habe »ein moralisches Universum« geschaffen. Mit den beiden Fortsetzungsfilmen, die George Lucas auf Star Wars folgen ließ, Das Imperium schlägt zurück (1980) und Die Rückkehr der Jedi-Ritter (1983), mit seiner Firma unter dem bezeichnenden Namen »Industrial Light & Magic«, und der Vermarktung seiner Figuren als Spielzeug, Comics, Sammelbilder und Video Games wurde er zur beherrschenden Figur in der amerikanischen Unterhaltungsindustrie. Nachdem er 1992 die Vermarktungsrechte seiner Figuren auf den freien Markt geworfen hatte, wucherten die Variationen in Romanen, Comics und Computerspielen. Es war die erste Pop-Mythologie, die sich von ihrem Zentrum und von ihrem Autor so weit entfernt hatte, daß sie drohte, wie in der Multi-
media-Produktion The Dark Empire, in ihr eigenes Gegenteil umzuschlagen. George Lucas fühlte sich herausgefordert, sein Weltraummärchen zu retten. Seine Verbündeten waren die Menschen, die in ^Star Wars einst den Glauben an die heilende Kraft des Kino-Mythos wiedergewonnen und nun selber Kinder hatten, denen sie die Träume ihrer Kindheit vorführen wollten. Schließlich kam eine »Special Edition« der alten Filme auf den Markt. Dafür wurden zusätzliche Szenen gedreht und mit dem Computer neue Objekte wie Raumschiffe und außerirdische Lebensformen eingefügt. Die Wiederaufführung der restaurierten und technisch verbesserten Star Wars-Filme erwies sich als erfolgreiches Mittel, die Neugier auf die lang ersehnte Fortsetzung anzuheizen. Und im Jahr 1999 endete schließlich die schreckliche, die Star Wars-lose Zeit im Kino. D a s nachgeschobene Al te Testament
Wir schauen auf einen Film, der so tut, als wären 23 Jahre der Mediengeschichte spurlos an uns vorübergegangen. The Phantom Menace, der vierte Star Wars-Film ist in der Chronologie der Legende der erste. Er erzählt die Geschichte von Luke Skywalkers Vater Anakin; von Jedi-Meister Qui-Gon Jinn und seinem Schüler Obi-Wan Kenobi, die Königin Amidala gegen eine Armee von Droiden und den buchstäblich satanischen Schurken Darth Maul verteidigt. Wieder gibt es verblüffende Effekte, computergenerierte Wesen und phantastische Architekturen zu bestaunen. Aber Episode One erzählt, ganz anders als seine Vorläufer, vorsichtig in eine selbst erzeugte
Erwartungshaltung hinein. Nun zeigt sich erst, was geschieht, wenn man einen Pop-Mythos nach hinten weiter erzählt: Das nachgeschobene Alte Testament findet nicht mehr zur archaischen Freiheit des Erzählens. Was als innovatives Spiel mit den Mythen 1976 begann, setzt sich 1999 als restauratives Medienangebot fort. Die Zweitverwertung der Figuren hat gleichsam das Original überholt. Wenn George Lucas erklärt, er werde nun doch auf die Verfilmung der einst geplanten Folgen 7 bis 9 seines Weltraummärchens verzichten (und verspricht, mit den verbleibenden 6 Teilen sowieso alles gesagt zu haben, was wir nach Ansehen von Episode One nur zu gern glauben), dann hat das nicht nur mit der begrenzten Lebens- und Phantasiekraft eines erfolgreichen Regisseurs/Produzenten im gesundheitsbewußten Kalifornien zu tun, sondern auch damit, daß Lucas mittlerweile fatalerweise seinen eigenen Lizenznehmern wiederum Lizenzgebühren zahlen müßte, da es keine Möglichkeit gibt, die Legende fortzusetzen, ohne daß eine der zahlreichen Nachfolger diese Möglichkeit nicht schon ausprobiert hätte. Sagen wir es einmal so: Star Wars testet die Endlichkeit des synthetischen Mythos aus. Dennoch ist alles eine Frage der Rendite. George Lucas hat seiner Gemeinde vor dem Start von Episode One unmißverständlich gedroht: »Sollte Episode One kein wirtschaftlicher Erfolg werden, wird es keine weiteren Fortsetzungen geben«. Die »Gemeinde« also ist dem Meister erbarmungslos ausgeliefert; wenn sie sein Evangelium nicht verbreitet, wird ihnen
der Stoff entzogen, aus dem ihre Träume sind. Was könnten dagegen die Stimmen der Kritiker ausrichten, die Lucas gewiß zu recht vorwarfen, er habe über seinen imperialen Träumen und seinen Geschäften mit Industrial Light and Magic die simple Kunst der Schauspielerführung verlernt und Darsteller wie Liam Neeson, Ian McGregor, Samuel L. Jackson und Natalie Portman weit unter Wert verkauft? Der alte Charme sei dahin, so war man sich hüben wie drüben einig, aber die Bildwelten seien dennoch einzigartig. Episode One wurde vor allem zum Vater/Kinder-Film: 60 Prozent aller amerikanischen Familienbesucher waren Väter, die ihre Kinder begleiteten - was um so bedeutender ist, als es in der Regel eher die Mütter sind, die die Kids ins Kino begleiten. Daß schließlich über 80 Prozent der Zuschauer den Film als »empfehlenswert« einstufen, gehört dann schon kaum mehr in die Kategorien ästhetischen Empfindens. Star Wars ist nicht nur die Parodie eines religiösen Kults, einer »großen Erzählung«, sondern auch die Parodie einer sozialen Bewegung. Geschütztes Warenzeichen
»Märchen sind die Träume der Völker« hat der Psychologe O. Graf Wittgenstein geschrieben, und Star Wars ist das Märchen der Zeit, in der das Wünschen eigentlich nicht mehr hilft. Es ist ein Kurzschluß zwischen den Ablöse- und Initiationsphantasien der Märchen und den Katastrophenphantasien der Science Fiction. Die Kids werden nicht nur in eine fremde und seltsame, sondern auch in eine semiotisch zusammenbrechen-
de Welt hinein entlassen, was ja irgendwo auch seinen realistischen Aspekt hat. Der synthetische Mythos freilich wird nicht nur von seiner eigenen Vermarktung, sondern auch von seiner eigenen Trivialisierung überholt. In einer Anzeige in den Berliner Stadtzeitungen wird ein großes Event unter dem Motto »Star Wars - Die Macht der Mythologie« angekündigt, bei der jedes dritte Wort mit dem Trade Mark-Zeichen geschützt ist: »Naboo(TM) Fighter in Aktion. Die Darth Vader (TM) und Stormtrooper (TM) live Show«. Und was ist die größte Attraktion? Ein kostenloses Star Wars (TM)/Kellog‘s SouvenirPaket. Vielleicht kann nicht einmal die synthetischste Macht der Mythologie die Inflation der Warenzeichen überleben. Am Ende bleibt von Weltentraum und Märchenmagie nichts anderes übrig, als ein Päckchen mit Cornflakes, das wiederum an eine andere mythische Bewegung erinnert, an den Treck der Quaker in den Westen. Es ist noch nicht so lange her, als man auf der Packung statt des neuen Obi- Wan Kenobi in das Antlitz eines Quaker-Predigers sah, der so aussah, als würde er jedes wilde Träumen, jede Phantasie, jedes Bild mindestens mit Verachtung strafen. Aber vielleicht ist der Star Wars- Mythos eben genau dies, der Versuch einer Gesellschaft, die es gelernt hat, statt mit Bildern eher mit Codes umzugehen, sich ein Mittelalter zu träumen, der Versuch eines Marktes, sich als Mythos zu verkleiden. Den Hype um Episode One der Star Wars können wir noch mit einer Mischung aus Faszination und Befremden zur Kenntnis nehmen - ein wunderschönes Bild für den Post-Kapitalismus: Alles ist vollkommen durchschaubar, jeder
Vermarktungskniff wird öffentlich ausgestellt, und trotzdem fallen wir auf das alles herein, weil wir uns wenigstens unsere Träume nicht nehmen lassen wollen. Nostalgie und postmoderne Ironie haben ein Ende, wenn wir uns die letzten Vermarktungsschritte von Lucasfilm und dem Verleiher Fox ansehen, die die Kinolandschaft erneut, und keineswegs zum besseren verändern können. Die Zahlen sind, weiß der Himmel, beeindruckend genug: Episode One erzielte scheinbar mühelos den Rekord der Einspielergebnisse an einem Tag, nämlich 28,5 Millionen Dollar - der bislang »erfolgreichste Film aller Zeiten«, nämlich James Camerons Titanic benötigte für das selbe Ergebnis eine ganze Woche. Die Berechnungen gehen mittlerweile dahin, daß der Film allein in den USA (bei Produktionskosten von 120 Millionen Dollar) mindestens 400 Millionen einspielen wird. Da Lucas den Film allein finanzierte und alle MerchandisingRechte für sich beanspruchen kann, sagen ihm die Fachleute einen Reingewinn aus Episode One von über einer Milliarde voraus. Mehr als drei Milliarden Dollar wurden schon vor dem Kino-Start umgesetzt, das Geld kommt von neuen Comic-Serien, von Pepsi-Cola für ein Star Wars-Dosen- Design, von Lego für eine Baustein-Serie und so weiter. Und doch täuschen diese Zahlen. Denn der wirtschaftliche Erfolg von Episode One ist mehr erzwungen, als es unseren Vorstellungen von einem Freien Markt auch im Bereich der kollektiven Träume guttun mag. Daß der Gegenwert für die Vermarktungsrechte stimmt, wird durch die Start-Kampagne
in allen Ländern garantiert, die gar keine Möglichkeit für einen Mißerfolg zuläßt. Die Verleihfirma Fox etwa konnte den Kinos Konditionen diktieren, wie sie bis dahin kaum bekannt waren: Es dürfen keine anderen Filme gestartet werden, die größten Säle müssen für Star Wars - Episode One reserviert sein, die Kinobetreiber müssen einen erhöhten Verleih anteil bezahlen und sich zu mehreren Wochen Einsatz unabhängig von der Publikumsresonanz verpflichten. D ie u n eingeschränkte Mach t Hol lywoods
Diese Brutal-Kampagne, die das Kinogeschäft mehr verändern wird, als wir vielleicht im Augenblick bemerken, war auch dringend geboten. Sie war nur einerseits einigermaßen hemmungsloser Geldgier geschuldet, andrerseits auch so etwas wie eine Notbremse: In den USA war bereits nach drei Wochen Episode One durch den zweiten Austin Powers-Film vom Spitzenplatz verdrängt. In Großbritannien erwies sich der Film als regelrechter Flop; Australien meldet alarmierende Star Wars-Abstinenz. Am Ende wird wohl Episode One nicht einmal die relativen Einspielergebnisse seiner drei Vorläufer erreichen. Ausschluß der Konkurrenz, Knebelung der Distribution, Manipulation der Zuschauer ist also ein probates Mittel, eine Ware zu vertreiben, die die Erwartungen der Zuschauer gar nicht mehr erfüllen kann. Jene uneingeschränkte Macht Hollywoods, ihre Waren auf einen selbst nahezu konkurrenzlos kontrollierten Markt zu werfen, die einst durch das Anti-Trust-Gesetz zumindest in
der Vertikalen aufgehoben wurde (die Kette von Produktion, Verleih und Filmtheater in einer Hand wurde durchbrochen), ist durch die Hintertür einer Pop-Kosmologie restauriert. Pop-Kosmologie, Wirtschaftsevent und Medien-Hype ergeben ein Ganzes, demgegenüber es kaum noch so etwas wie ein unschuldiges Unterhaltungsbedürfnis gibt. Niemand kann es sich leisten, aus dieser neuen »Offenbarung« ausgeschlossen zu werden, die so perfekt das Funktionieren des Marktes wie der Ersatz-Religion zeigt. Schließlich ist Episode One der ideale Testfall für die Virtualisierung des Distributionsverfahrens: Der Film wird nicht mehr von einem (gar unabhängigen) Verleiher in die Kinos, sondern direkt vom Produzenten digital auf die Leinwände gebracht. Lucas sah seinen Film als »Anstoß für die Kinobetreiber, eine digitale Anlage ins Auge zu fassen«, was natürlich nur konsequent ist, da er an dieser Technik beteiligt ist. Der reale Weg der Distribution wird damit in absehbarer Zeit überflüssig; die vertikale Macht der Traumfabrik ist dann vollkommen, das Kino nur noch Endverstärker des Produzentenwillens. Dazu paßt, daß Lucas angekündigt hat, Episode II nicht mehr auf Film, sondern rein digital zu fertigen, weil er glaubte, bis zur Fertigstellung sei der Umgestaltungsprozeß der Kinos bereits abgeschlossen. Auch wenn diese Hoffnungen mittlerweile relativiert sind, steht uns dennoch eine Umwandlung bevor, deren Ausmaße nicht unvergleichbar jenen der Einführung des Tonfilms sind.
Geld und Religion
Mag sein, daß auch eine Pop-Kosmologie ihr eigenes Unbehagen ausbildet (wir werden es, ich wette, etwa in einer der nächsten Simpsons-Folgen formuliert finden, und wahrscheinlich wird spätestens in Scream 4 einer der Teenager bekunden, wie schlecht er Episode One gefunden habe, bevor er von dem Mörder mit der »Schrei«-Maske erwischt wird). Die Macht ist aber dadurch nicht mehr zu bezwingen. Es ist die Macht des Quakers auf den Kellog‘s-Packungen: Geld und Religion. Und damit wird Episode One dann doch wieder zum Bild unserer Befindlichkeit: das größte monopolkapitalistische Unternehmen der jüngeren Kino-Geschichte erzählt von der Rebellion gegen ein monopolkapitalistisches Unternehmen, eine Handelsföderation, die sich von der Republik ungerecht besteuert fühlt, das den Planeten mit dem bezeichnenden Namen Naboo bedroht und die Jedi-Ritter auf den Plan bringt. Mit der wahren Geschichte von Annakin Skywalker, die wir eigentlich erfahren wollen, hat das eigentlich wenig zu tun. Das ist ein bißchen viel Referenz: Wenn George Lucas beteuert, daß er in seinen Filmen immer nur sich selber, seine Träume und seine Probleme abbilde, dann wissen wir jetzt, womit er sich am meisten herumschlagen muß. Anders gesagt: Sollte es wirklich so sein, daß man in die galaktisch-relativistische Erzählhaltung von »Es war einmal in ferner Zukunft« einsteigen muß, um mit Steuer-Problemen konfrontiert zu werden? Eines ist wohl klar: Der Krieg der Sterne ist offenkundig, wie gehabt, ein Wirtschaftskrieg. Aber warum, um alles in der Welt,
die Monopolkapitalisten-Föderation unbedingt den Planeten Naboo erobern wollen, bleibt im Dunkel verlorener Drehbuch-Seiten. Und der Regisseur Lucas verwechselt endgültig eine Erzählweise mit einer Vermarktungsstrategie. Er steigt in Szenen ein, als hätte deren Anfang irgendwo anders, in einem Comic Book vielleicht, stattgefunden, er steigt wieder aus, als wollte er den Höhepunkt einem anderen Medium überlassen, er verschenkt seine besten Gestalten und Situationen, als müßten wir uns, zum Beispiel, dafür, daß Darth Maul nur so kurz in Erscheinung tritt, auf jeden Fall mit dem Erwerb einer entsprechenden Figur schadlos halten. Die umfangreichste und erfolgreichste Film- Erzählung macht eigentlich Schluß mit dem Erzählen selber, um uns Bilder für eine Welt hinzuwerfen, die wir nur noch selbst, spielend auf dem einen oder anderen Niveau, mit so etwas wie Leben erfüllen können. Um Episode One verstehen zu können, brauche ich weder eine Filmkritik noch die Kenntnisse eines echten Eingeweihten in den moralischen Kosmos des Herrn Lucas. Was ich brauche ist, je nach meinem Alter, einen Lego-Bausatz oder ein Computergame, um den eigentlichen Helden und Herren dieses Kosmos (wieder) zu finden: mich selbst. Freitag, Nr. 35, 27. August 1999
FETISCH UND SCHLAFMÜNZE WARUM
UNS DER
ABSCHIED
VON DER
D-MARK
SO
ÜBERRASCHEND LEICHT FÄLLT.
Geld ist ein obskures Objekt der Begierde, ein mit Angstlust besetzter Fetisch, ein »Ding«, das zugleich alles, nichts und immer wieder etwas anderes ist, weshalb es viele Theorien, aber nicht die Theorie des Geldes, und viele Bilder, aber nicht das Bild des Geldes geben kann. Geld ist unter anderem ein Mittel der Differenz. Nicht nur im Sinne von: Ich habe es, und du hast es nicht. Sondern auch auch im Sinne der Unterscheidung von »gutem Geld« und »bösem Geld«, und nicht zuletzt im Sinne von »unserem Geld« und »fremdem Geld«. Wir hören es nun ja derzeit unentwegt, dass die Wirtschaft zu einem großen Teil »eine Sache der Psychologie« sei. Das kann man so oder so verstehen. Zum einen so, dass Wirtschaft verstanden werden will als ein Anagramm des Organischen; der Markt ist nichts anderes als ein gewaltiger Verdauungstrakt, der gelegentlich in Unordnung gerät, wenn es im Kopf der »Investoren«, der »Aktionäre«, der »Verbraucher« zu einem unziemlichen Schwurbel kommt. Zum anderen kann man es so verstehen, dass Wirtschaft vor allem dumm ist und um so besser funktioniert, je dümmer sie sein kann. Auch eine Währung wie die D-Mark ist daher erstens etwas sehr Rationales, zweitens etwas sehr Dummes und drittens etwas Psychologisches. Das Psychologische
eines Markstückes kann man wieder aufteilen in das Mythische - die Bild- und Ideenwelt, die sich hinter dem Zeichen verklumpt -, und in das Neurotische, oder, anders herum, in den Traum und in die Ideologie. Wenn ein Geldstück »den Besitzer wechselt«, dann ist schwer was los, das reicht von der Mathematik zur Ästhetik, vom Sex bis zum Mord, und wenn es sich um eine Mark handelt, ist auch die Deutschheit ein Teil des Diskurses. Nun also wird uns »die starke D-Mark« genommen, und etwas anderes tritt an ihre Stelle, ein »schwacher Euro«, von dem wir jeden Tag aufs Neue erfahren, wie wenig er gegenüber dem Dollar, der einzig wirklich »begehrten Fremdwährung«, wert ist. Wenn unsere Theorien vom Fetisch, vom, höflicher gesprochen, »Mythos des Alltags« namens D-Mark noch stimmen würden, müsste dieser Vorgang eine Revolte, wenigstens eine Krise, zumindest aber mächtig sich ausdrückendes Unbehagen auslösen. Aber nichts da! Die größte Gefahr scheint in einer solchen Banalität des Übergangs, dass man allenfalls Angst haben müsste, dem deutschen Bürger sei der Tod »seiner« Mark so gründlich gleichgültig, dass er womöglich noch die kleinen bürokratisch-wirtschaftlich-technischen Verrichtungen verschläft, die ihm den Übergang immerhin halbwegs verlustfrei gestalten würden. »Her mit den Schlafmünzen«, mahnt Günther Jauch in jeder Bankfiliale und sonstwo, aber die Kampagne geht ins Leere, offenbar lässt man sich lieber von seiner Müdigkeit anstecken
als von seiner Aufforderung bewegen. Und vielleicht ist das genau das richtige Bild, der aktuellere Mythos des Alltags vor dem mächtigen Symbol der D-Mark, die uns als Sonne leuchtete, die als Rad unsere Mobilität garantierte, die uns das Wohlwollen allerlei Einheimischer in südlichen Ländern sicherte, die glänzte wie kein Franc und keine Lira. Müdigkeit. Schlecht gewaschene Apathie nach einem Fest, das man mit falschen Freunden verbracht hat. Die D-Mark ist zur Schlafmünze geworden. Die Frage ist nur: Wann hat das begonnen? Die D-Mark war das Symbol des deutschen Wiederaufstiegs. Nicht der Schein, die Münze. Rund wie alle Zeichen dieses Wiederaufstiegs. Der Fußball. Das Fernsehen. Brüste und Hintern der Frauen in Illustrierten, die Bunte und Quick hießen. Heinz Erhardt und Ludwig Erhard. Schornsteine. Unsere Wohnungen mochten ziemlich eckig sein, getroffen haben wir uns immer am Rondell. Die Mark, das war nicht einfach Geld, das war unser Geld, und es drückte die größte Lüge unserer Gesellschaft nach dem Krieg aus, nämlich dass wir uns den Wohlstand »erarbeitet« hätten. Jede Mark war ein Zeichen für den Schweiß, den wir einsetzten, um nichts von Blut und Tränen zu wissen. Mochte man anderswo »Identität« durch Kultur erzeugen, wie in Österreich, durch »Lebensart« wie in Italien, durch Pornografie und Sozialdemokratie wie in Dänemark, die bundesdeutsche Identität wurde durch die Mark erstellt.
Dieses Land, diese Kultur, dieses Projekt begann nicht mit einer Idee, nicht mit einem Vertrag, es begann mit der Einführung der D-Mark. Die neue Form des Rassismus definierte sich über eine Angst vor den Fremden, die »unsere Mark« haben wollen. Das Kreisförmige muss hart werden. Und bleiben. Das war das Projekt Bundesrepublik Deutschland. Das Ding an sich war daher heilig. Mit Dollars vielleicht, niemals mit Mark hätte irgendjemand »um sich schmeißen« können. Die Mark war von Anbeginn eine defensive Währung. Sie wollte nicht, wie der Dollar, die Welt erobern. Sie wollte die Deutschheit schützen. Deshalb galt es zum Beispiel als verpönt, zu viel D-Mark »im Ausland zu lassen«. Die D-Mark sollte in der Welt gelten, aber sich nicht in ihr auflösen. Und in Deutschland selbst war sie »das richtige Geld« gegenüber einer Geld-Karikatur auf der anderen Seite der Mauer, Geld, das leicht wie Spielgeld war, und jenseits eines Terminus wie »hart« sowieso. Die Krise der Mark - wir sprechen von ihrem Wert für die »deutsche Identität« - begann Mitte der siebziger Jahre an allen Ecken und Enden. Die Härte dieser Währung nützte nichts mehr gegen so etwas wie den »Petrodollar«, der sein Fließendes schon im Namen ausdrückte. Das Runde konnte sich nicht endlos ins Eckige übersetzen, weil das Fließende dem Harten auf tückische Weise überlegen war. Die Wirtschaft war keine Linie mehr, sondern verwandelte sich (wieder) ins verdauungsgemäße Kreisen: aufbauen, abreißen,
neu aufbauen. Erfolg haben, Pleite machen, wieder von vorn anfangen. Schlucken, geschluckt werden, und noch mal geschluckt werden. Kein Geld haben, keine D-Mark haben, das hieß in der HochZeit dieses Ikons, sich im sozial Flüssigen zu verlieren. Flüssig sein, das behaupteten ja auch nur Menschen von sich, die Geld hatten, ohne es wirklich zu haben, jedenfalls im Sinne der Mark. So beginnt Häresie. Wer mit harter Mark flüssig war, verging sich schon an der Grundidee dieser Gesellschaft. Aber niemand konnte es aufhalten, dass die Mark zwar nicht weich, aber doch flüssig wurde. Flüssig wie das Geld im Rest der Welt. Mittlerweile ist Geld nicht einmal mehr flüssig. Es ist gasförmig geworden. (Ersparen wir uns hier die Rückkehr zu unserer Verdauungsmetapher.) Jedenfalls verwandelte sich bereits zu Beginn der achtziger Jahre die D- Mark vom Ikon zum Symbol. Um sinnvoll damit umzugehen, musste man es nun gleichsam schizophren begreifen. Es war nur noch einerseits die D- Mark (die man zeigen muss, um Respekt und Distanz zu erzeugen), andrerseits war es Geld wie anderes. Es bewegte sich in Datenströmen, ließ sich immer beliebiger transferieren, übersetzte sich in Papier und Plastikkarten. Die eigentliche D-Mark verwandelte sich in Kleingeld, die wirkliche D-Mark diffundierte durch alle Ritzen der Deutschheit, errichtete Häuser in Anatolien, wurde in Calabrien »gewaschen«. Sie war vielleicht immer noch viel wert, so im Verhältnis, aber bestimmt war sie nicht mehr hart und schon gar nicht erzeugte sie Härte.
Als dann die Mauer fiel, war das Symbol schon zur Reminiszenz geworden. Klammheimlich konnte man sogar schon damit beginnen, die D-Mark zu verachten, weil sie, ganz gegen ihre ursprüngliche Bestimmung, immer nur geöffnet und nie geschlossen hatte. Sie war zu einem Medium der Auflösung der Deutschheit in der Welt geworden, statt die Differenz der Deutschheit zur Welt zu bestätigen. Der Mythos der D-Mark war nun dahin, vielleicht gerade deswegen, weil man nun so angelegentlich davon sprach. Denn damit verlor sie ihren letzten semiotischen Wert, nämlich eine Form von Geheimcode zu transportieren, eine Deutschheit, die sich im Wiederaufbau regeneriert, aber nicht geändert hatte. Man versuchte sie nun sozusagen von oben zu repsychologisieren. Aber jetzt war man schon wieder auf eine Deutschheit stolz, die den Umweg über diesen Mythos des Alltags, dieses Symbol von »Leistung« gar nicht mehr benötigt. So wie sich, zum Beispiel, Österreich von seiner Identität durch Kultur verabschiedete, verabschiedete sich Deutschland von seiner Identität durch die »Leistung« in der D-Mark. Das Fließende und Gasförmige der Wirtschaft und das Harte der »nationalen Identität« haben sich voneinander getrennt. Daher punktet nicht einmal die harte Rechte mit dem Verlust der D-Mark, obschon er scheinbar so perfekt ins Modell jeder faschistischen Rhetorik passte. Von Ausnahmen abgesehen, weiß auch diese Rechte, dass das ein Rückfall wäre. Denn die Liebe der Deutschen zu ihrer Währung war von Anbeginn an und für jeden einzelnen »strategisch«. Der Mythos enthielt
das Wissen darum, dass man nicht wirklich auf ihn hereinfallen musste, damit er funktionierte. Die D-Mark war nicht nur Spiegel, sie war auch Maske. Die Abschaffung der D-Mark kommt also kaum für jemanden zu früh, sondern zu spät. Daher die Müdigkeit. Der Euro ist kein Nachfolger, nicht etwa die Meta-Mark, wie es eine Zeitlang propagiert wurde, er ist, zumindest, die Akzeptanz der Flüssigkeit des Geldes und, vielleicht, auch die Ahnung seiner Gasförmigkeit. Gleichgültigkeit ist daher scheinbar die vollständig angemessene Reaktion, die in Deutschland, anders als anderswo, sogar - gleichsam masochistisch - eine Ignoranz gegenüber den in der »Umstellung« möglicherweise verborgenen Umverteilungen einschließt. Der Tod dieses Mythos muss nur an einem gehindert werden: zum Bewusstsein zu gelangen. Die Müdigkeit, die nicht nur die D-Mark, sondern auch Geld an sich auslöst, als Einheit von Zeichen und Materie, zu Schlafmünzen erklärt, beschreibt also nicht nur eine Form der Resignation gegenüber der Verflüssigung, der Virtualisierung der Zahlungen, vielleicht sogar Resignation gegenüber der »natürlichen« Gewalt des Kapitalismus an sich, sondern auch den Zustand einer Abarbeitung an einem Symbol der Deutschheit. Die Trennung von Nation und Wirtschaft mag hier und da, im Blick zurück, als Verlust erscheinen; sie ist allerdings im Diskurs der neuen Deutschheit auch eine »Befreiung«.
Zwei Formen der Barbarei, die sich in einem Mythos des Alltags in unserer Gesellschaft aneinander banden, dürfen sich nun, jede für sich, entfalten. Vielleicht verlieren wir mit der D-Mark ja wirklich den Rest unserer Moral, auch wenn die DMark bereits den Verlust dieser Moral bezeichnete. Solche Paradoxien machen in der Tat müde. Schlafmünzen wollen nicht einmal mehr geopfert werden. Sondern nur noch vergessen. Jungle World Nr. 38/2001, 12. September 2001
LISZT UND TÜCKE CLAUDE CHABROL
VERABREICHT
„SÜßES GIFT“
Wie spielt man die Funérailles von Liszt? Besonders jene ersten Noten, nach denen ein Pianist so furchtbar allein sein kann, weil er nur mit den ersten beiden Anschlägen schon so viel über seine Auffassung des Werkes verraten musste, dass mit noch so viel Virtuosität nichts mehr gutzumachen wäre. Gewiss spielt man die Funérailles nicht wie einen Trauermarsch, jedenfalls nicht vordergründig. Ansonsten kommt alles darauf an, wie beherzt man die Finger von den Tasten reißt, um dort einen Ton abzubrechen, wo er schon tief in der Seele des Zuhörers verhakt ist und nach seiner abrupten Verweigerung weiterwirkt, wie ein Phantomschmerz süßer Trauer. Ja, so könnte man die Funérailles spielen, wenn man den Mut dazu hat. In Claude Chabrols 52. Film sehen wir ziemlich lange zwei Menschen zu, die vielleicht Vater und Tochter sind, es wahrscheinlich aber nur gern wären, die gemeinsam die Funérailles einstudieren und dabei immer glücklicher werden, obwohl sich um sie herum ein Verhängnis abzeichnet, von dem beide wissen, wenn auch auf verschiedene Weise. Und wie die beiden und ihre Zuschauer sehen, kämpfend und liebend um die Partitur, so arbeiten auch Chabrols Schauspieler, Isabelle Huppert, Jacques Dutronc, Anna Mouglalis, Rodolphe Pauly.
Ihre „Rollen“, die in ihren Familien und die im Drehbuch, sind jene Partituren, denen man erst durch die Akzentuierung, durch den Anschlag Leben verleiht. Andererseits handelt Chabrols Film Süßes Gift von Schokolade. Weshalb er im Original auch viel süßer und giftiger Merci pour le chocolat betitelt ist. Schokolade als bürgerliches Genussmittel, das eine Schweizer Familie reich gemacht hat und das zugleich rituell als innerfamiliäres Trostmittel verabreicht wird. Die schöne Marie-Claire Muller, in der Familie Mika genannt, führt in Lausanne die Schokoladenfabrik ihres verstorbenen Vaters. Verheiratet ist sie mit dem Pianisten André Polonski. Zusammen mit Andrés Sohn Guillaume bildet man eine Familie. Da gibt es eine alte Geschichte, nicht der Rede wert eigentlich. Die junge Musikerin Jeanne erfährt, dass sie nach ihrer Geburt im Krankenhaus kurz mit dem Kind des berühmten Polonski verwechselt worden war. Gegen den Widerstand ihrer Mutter macht sie sich auf ins Haus des großen Künstlers. Schließlich könnte es ja doch sein, dass sich die musikalische Begabung nicht durch Zufall entwickelte. So kommt sie in die andere Familie, als Suchende, als Detektivin. Dass da etwas nicht stimmt, hat sie rasch herausgefunden. In der Schokolade, die Mika ihrem Stiefsohn kredenzen wollte, findet sie Spuren von Gift. Aber vielleicht geht ja auch Jeanne in ihrer merkwürdigen Suche nach dem vermeintlichen Vater zu weit und träumt sich an eine böse Stiefmutter heran. Derweil offeriert Polonski der jungen Frau Piano-Lektionen.
Und dabei gibt uns Monsieur Chabrol, während sich hinten das Unheil in Form eines sehr kranken Gemüts in einer kranken Familie abzeichnet und sich vorn zwei offensichtlich verwandte Seelen in einem schönen Trauerreigen finden, auch eine Lektion in Sachen Kino. Die Melodie ist nichts und wenig ihre Variation. Es kommt darauf an, wie man die Akzente setzt. Ob man sich etwa traut, einen Ton so abrupt enden zu lassen, dass er als große Frage in den Köpfen der Zuhörer (und Zuschauer) bleibt; ob man unverschämt sein muss, damit Poesie entsteht. In Merci pour le chocolat erlaubt es sich die Kunst, uns am Ende zugleich vollkommen ratlos und beglückt zu hinterlassen. „Ich verabscheue den Bourgeois und bin doch selbst einer. Also räche ich mich“, hat Claude Chabrol in frühen Jahren gesagt - ein Programm für die Zeichnung einer tückischen Klasse, die es so vielleicht gar nicht gibt. Es ist eine metaphorische Klasse, voller sexueller Gier und Frustration, voller Korruption und voller Träume. Voll von süßem Gift eben - als hätte man sie für das Kino erfunden. Merci pour le chocolat hat nicht mehr viel mit Rache zu tun. Viel eher mit einem ironischen Spiel, mit Andeutungen und Brüchen und vielleicht auch mit Trauer. Darüber, dass es die Funérailles nur geben kann, wo es auch vergiftete Schokolade gibt. Und umgekehrt. Die Zeit, Nr. 3/2001
DER KLEINBÜRGER ENTDECKT SEIN ICH Malerei der Trauer. Zu den Edvard-Munch- Ausstellungen in Stockholm und Kopenhagen
Christiana muss ein merkwürdiger Ort gewesen sein. Diese kleine Stadt in Norwegen unterschied sich in wenigem von anderen kleinen Städten zu jener Zeit, als sich auch dieses Land von einer ständischen Gesellschaft der Bauern und Fischer mit einer schmalen bürgerlichen Oberschicht in eine industrielle Klassengesellschaft verwandelte. Nur dass sie die Hauptstadt war (die man 1925 in Oslo umbenannte). Ziemlich plötzlich erlebte sie, wenn auch nur für kurze Zeit, einen politischen und ästhetischen Aufruhr, den man sonst nur in den europäischen Metropolen vermutet. Dorthin kam die Familie Munch 1864. Der Vater war Militärarzt und Seereisender; die Mutter, lungenleidend, starb, als Edvard Munch gerade fünf Jahre alt war. Die Familie erholte sich nicht von diesem Verlust. Eine bürgerliche Familie, die die Umwandlung der eigenen Klasse als persönliche Passion erlebte. Freudloses Leben in einem freudlosen Stadtteil mit dem hohnvollen Namen Grünerlokken. Die Krankheit ist in der Familie, die ältere Schwester stirbt, die anderen kämpfen gegen das seelische und körperliche Verlöschen. Nicht einmal der regelmäßige Schulbesuch ist
möglich. Der junge Edvard Munch malte, malte den Tod und die Toten, malte, was später immer wieder in seinen Bildern aufscheinen wird, das Totenzimmer, das sterbende Mädchen, die kalte Sonne über dem gespenstischen Reigen, den Mond über dem Meer, der wie der Punkt über einem auf das Wasser gemalten „i“ wirkt. Die Krankheits- und Todeserfahrungen in der Familie Munch in Christiana waren Metapher genug für das Ende des Jahrhunderts. Die bürgerliche Klasse stieß einen Teil aus sich heraus. Man gab ihm den tödlichen Namen „Kleinbürger“, und dieser Stand war begabt und elend nach allen Seiten; die erste Erfahrung seiner Mitglieder war die Entwurzelung. Aus der Mitte dieses Kleinbürgertums entstand etwas, was diese Klasse selber nie anders behandeln konnte denn als den eingeschriebenen Wahnsinn seiner Existenz: die Philosophie des Subjekts als ästhetische Erfahrung. Die enteignete und uneigentliche Klasse brachte eine Kunst hervor, die in der Ersten Person Einzahl geschrieben war, und die sich in ihrem verzweifelten Suchen nach einem sozialen Ort und nach den Fluchtmöglichkeiten über kein Woher und kein Wohin im Klaren sein konnte. Ihre einzige Hoffnung war die Selbsterlösung, und für die stand „das Moderne“. So wurde die moderne Kunst das schöne Andere im Elend der neuen Klasse der Kleinbürger. Über einhundert Jahre brachte diese Klasse der Kleinbürger ihre elenden Genies hervor, die von nichts anderem sprechen konnten, als von den Verlusten: der Transzendenz, der Tradi-
tion, der Gewissheit und, am Ende, vom Verlust jeder anderen Identität als der der Kunst. Und mit dem selben Eifer, mit dem diese Kleinbürger ihre elenden Philosophen und Künstler hervorbrachte, trachteten sie ihnen auch nach dem Leben. Vieles wurde gegen sie ins Feld geführt, am Ende auch der Faschismus, der nicht nur die „entartete Kunst“ vernichtete, sondern auch die Juden umbrachte, in denen man, neben vielem anderen, auch eine aberwitzige Verschwörung der Subjektphilosophen sehen konnte. Aber bis dahin ließ sich das Projekt der Moderne in der Wahrnehmung, die Idee des empfindenden Ich in seinen Abfolgen von unbändiger Freude über diese Selbstwahrnehmung und Verzweiflung über die Einsamkeit, die damit verbunden ist, nicht vollends unterdrücken. Es war nicht das Abstrakte, Autonome, Revoltierende der modernen Kunst an sich, was das Kleinbürgerlager in zwei Teile spaltete, es war der radikale Anspruch des ästhetischen Ich. Diese Kunst konnte von nichts anderem handeln als von den Versprechungen der Freiheit und von den Verlusten an Geborgenheit. Auch Edvard Munchs Arbeiten sind nur in der Gleichzeitigkeit zu verstehen: als Beschreibung der Leiden und Verluste (im metaphorischen, psychoanalytischen und biographischen Sinn) und als Verlangen nach Befreiung. Seine größte Kunst war es, zu überleben: die todkranke Familie, die bigotte Gesellschaft und die selbstzerstörerische Bohème, Verfehlung in der Liebe, immer wieder körperliche und seelische Krisen, ein Alter, über dem die Drohung der
vollständigen Erblindung lag. Ein exemplarisches Künstlerleben im Zeitalter des Kleinbürgertums. Schon in seinen frühen Arbeiten zeigt sich in seiner Malerei der Verzicht auf alles Genrehafte, auf den Versuch, es sich, malend, heimisch zu machen in einem wirklichen oder geträumten Milieu. 1889 notiert Munch in seinem Tagebuch, was man als ein Programm auffassen mag: „Es sollen nicht mehr Interieurs mit lesenden Männern und strickenden Frauen gemalt werden. Es müssen lebende Menschen sein, die atmen, fühlen, leiden und lieben. Ich werde eine Reihe solcher Bilder malen: Man soll das Heilige dabei verstehen, und die Leute sollen den Hut davor abnehmen wie in einer Kirche.“ Das also war nicht nur eine Absage an jenen Impressionismus, der die Leichtigkeit des Augenblicks herbeizauberte, es drückte dieses Projekt der Moderne, die Selbstheiligung des Menschen durch die Kunst aus. „Ich male“, erklärte Munch, „nicht was ich sehe, ich male, was ich sah“. Malen „was man sah“ ist, jedenfalls in Munchs Arbeiten, immer auch eine Malerei der Trauer. Wie also bewegte sich Munch zu dem, was er sah? In seinem Bild Das kranke Mädchen überschreitet er das, was sich malerisch in seiner Zeit tat. Motive wie dieses Sterben in der Familie waren gang und gäbe, sie entsprachen übermächtiger sozialer Realität. Aber während etwa Christian Krohg in einem fast gleichen Bild vor allem das soziale Milieu sieht, ein Mitleid von außen erzeugt, zeigt Munch den inneren Prozess. Es geht um diesen Tod und darum, dass er auf eine unvergleichliche Weise vom Subjekt empfunden und aus der Erinnerung nicht
mehr getilgt wird. Das Bild zeigt nicht Schmerz, es ist Schmerz. Munch zeigt nur selten den personalisierten Tod, das Sterben, er zeigt dagegen vor allem und immer wieder den Schmerz und die Ratlosigkeit, die das Sterben bei den anderen hinterlässt. Bei den Überlebenden. Christiana, wie gesagt, muss damals eine seltsame Stadt gewesen sein. Eine „sibirische Stadt“, wie Munch selbst sie rückblickend beschrieb, die ihre „russische Periode“ erlebte. Will heißen: eine Periode von Revolte, Bohème und wildem philosophischen Streit. Christian Krohg wurde schon für seine (dem melodramatischen nicht ganz fremde) „ArmeLeute-Malerei“ heftig angegriffen, da er sich nicht scheute, ausgebeutete Arbeiter ebenso wie Prostituierte auf der Straße in einem Bild zu zeigen. Hans Jaeger, wohl das intellektuelle Zentrum der Christiana-Bohème (Munch porträtierte ihn 1889), zog als linker Rationalist und Kritiker der bürgerlichen Moral den meisten Hass auf sich. Sein Buch Christiana Bohème wurde polizeilich konfisziert, nicht zuletzt, weil er für eine Solidarisierung der Künstler mit der Arbeiterbewegung plädierte und die moralisch-gesellschaftlichen Ziele jeder Revolte formulierte: die Abschaffung der Repression in der Schule und der Familie, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, den Kampf gegen die „Götzen“ Christentum, Moral und Recht, Kampf dem Kapital und der ausbeuterischen Besitzbürger. Munch war Teil dieser Befreiung und wurde doch stets eingeholt von seiner Familie. Als er das Bild Die Pubertät in einer Ausstellung zeigte, ein ebenso direktes, raues wie zärtliches
Bildnis eines nackten Mädchens, verdeckte er es, als sein Vater die Ausstellung besuchte, mit einem Tuch, um ihn nicht zu schockieren. Allein dreißig Maler gehörten der Bewegung der Christiana Bohème an, die meisten von ihnen malten, was sie sahen: den sozialen Aufruhr, menschliches Elend, die Entstehung neuer Kulturen und neuer Milieus. Sehr viele von ihnen starben sehr früh. Während er sehr früh und immer wieder den Tod in der Familie malte, fand Munch erst 1926 zum Tod des Bohemien (und wie sich doch die Bilder ähneln). Christiana hasste Munch, und Munch hasste Christiana.1892 wurde Munch vom Verein Berliner Künstler zu einer Ausstellung eingeladen, und er schien glücklich zu entkommen. Aber nicht in die Welt, sondern nur in neue provinzielle Finsternis geriet er. Die Ausstellung wurde gleich nach der Eröffnung wieder geschlossen; die Berliner Kritiker hatten die 55 Gemälde als „Schmierereien“ bezeichnet, und der Vorsitzende des Vereins, Anton von Werner, ein Günstling des Kaisers, entrüstete sich über die „Schande für die Kunst“. Zum zweiten mal entfachten Munchs Bilder einen Stellvertreterkrieg: In Christiana hatte man seine Bilder geschmäht, um den Anarchismus der Bohème zu treffen, nun war ganz allgemein das Neue, das Fremde, das Unbürgerliche und Staatsferne gemeint, das das kaiserliche Berlin in Aufruhr versetzte. Die Unterwerfung des Vereins unter das Diktat der reaktionären Kunstwarte allerdings war für die jungen Mitglieder Anlass, sich von ihm zu trennen. Der „Fall Munch“ stand am Beginn der Berliner Sezession, und Munch blieb bis 1895 in der Stadt,
in der er auf so skandalöse wie vergnügliche Weise hochberühmt geworden war. Hier entstanden die ersten Arbeiten seines umfangreichen graphischen Werks. Und hier wurde der Zyklus des Lebensfries fortgesetzt mit Bildern wie Fieber, Tod, Am Totenbett, Sturm. Was folgte, war Aufbruch und Rückkehr zugleich: Munch verbrachte die kommenden Jahre den Sommer in seiner norwegischen Heimat, den Winter über reiste er, nach Paris (wo 1897 Mutter und Tochter entsteht), nach Nizza, in die Schweiz, nach Italien. Das Elend der doppelten Fremde freilich blieb ihm auch weiter nicht erspart: Bei der ersten Ausstellung der Berliner Sezession wurde der „Ausländer“ Munch nicht eingeladen. Erst 1902 gelang es ihm, 77 Bilder des Lebensfries-Zyklus auszustellen, was wohl seinen Durchbruch in Deutschland bedeutete. Der Fries ist gedacht als eine Art Seelenpanorama, eine Meta-Bild mit einer Meta- Topographie darin. In diesen Jahren entstehen in seiner Zeit in Asgardstrand einige der berühmtesten Bilder wie Der Tanz des Lebens, Der Tod der Mutter, Das Weib in drei Stadien, Melancholie und Mädchen auf der Brücke. Während Munch nun zu internationalem Ruhm gelangt - unter anderem durch einer erste Retrospektive in Prag - und in seiner norwegischen Heimat nach wie vor verfemt bleibt, häufen sich die inneren Krisen. Er kämpft dagegen an, weiter die inneren Dämonen der Erinnerung, die Seelengeschichte zu bearbeiten. Hier und dort gelingt es dem Menschen Munch, sich auf Kosten des Künst-
lers zu retten. Zwei Anläufe, ein Porträt des von ihm so hoch geschätzten Philosophen Friedrich Nietzsche zu schaffen, scheitern - vielleicht nicht nur, weil dem Maler die persönliche Begegnung fehlt und er nach einer Fotografie arbeiten soll (wie um den Tod zu verdoppeln), sondern wohl auch, weil Munch mit den Konsequenzen der Subjektphilosophie nicht zurecht kommen wird. Diese Krise mag gewiss auch mit jenem denkwürdigen Umschlag der Idee von Gleichberechtigung aus der Bohème in gelegentlich paranoide Misogynie und die Angst vor der verderbenden Frau zu tun haben, die viele Zeitgenossen und Freunde, insbesondere natürlich August Strindberg, den Freund-Feind Munchs, gepackt hatte. Auch in Munchs Arbeiten gibt es Motive, die der Mythologie der Frauenangst des neunzehnten Jahrhunderts verwandt scheinen: in den Gemälden Der Tod des Marat, Vampir oder Asche oder in Grafiken wie Das Mädchen und das Herz oder Unter dem Joch. Aber Munch hat sich stets auch wieder davon befreit, hat die Trauer um die verlorene Liebe als bewusste Abwendung zweier Menschen dargestellt wie in Zwei Menschen oder Loslösung. In Munchs Bildern ist die Frau, anders als in den Bildern der Symbolisten, anders als in den panischen Subjektphilosophien, nicht die Ursache des Leidens, sondern eine Leidende wie der Mann. Das Wesen, das sich nach der Verschmelzung sehnt und unter der Trennung leidet. Im Tanz des Lebens sehen wir links das „blühende“ Mädchen, in erwartendem Lächeln, dazwischen Paare und Beziehungen, Begierde, Entsagung, Konvention, Lust, am rechten Bildrand die trauernde, einsa-
me Frau. Kaum ein Bild hat je so präzis die Tragödie der Liebe beschrieben. Tatsächlich gibt es in Munchs Welt die zwei Zustände, die Verschmelzung im Begehren und die Verzweiflung der Einsamkeit danach, als wahrhaft fundamentale Erfahrungen. Auch dies ist wohl nur einerseits biographisches Element zwischen Familie und Bohème; es ist, wie der gesamte Lebensfries, auch Teil einer Psychographie seiner Zeit. Sexualität und Körperlichkeit gehören zum Empfinden des Menschen, der sich als Subjekt zu begreifen beginnt, aber zur gleichen Zeit fehlt ein gesellschaftliches Projekt für diese Empfindung. „Gesellschaft“ besteht in Munchs Bildern nur aus voneinander isolierten Personen in wechselnden Zuständen von Begierde, Isolation und Verzweiflung. Nach einer weiteren, der größten Lebenskrise, überstanden im Sanatorium zu Oslo und in der Rekonvaleszenz in Kragero, verändern sich Farbe und Motive bei Munch. Er sucht die Natur nicht mehr im Seelenlärm von Liebe und Tod. Nur sehr sporadisch tauchen die alten Motive noch einmal auf, Stattdessen malt er Schneeschaufler oder Straßenarbeiter, und die politischen Ideen werden einfacher und klarer: „Die Zeit der Arbeiter ist gekommen“, schreibt er 1929, und fragt: „Kann die Kunst nicht wieder das Eigentum aller werden?“ Die Farben verlieren das Giftige und Schmerzhafte. Und ein neuer Fries beginnt, die Apotheose der Arbeit, mit Bildern wie Der Holzfäller, Erdarbeiter oder Die Heimkehr der Arbeiter. Das geniale, elende kleinbürgerliche Subjekt sucht Heil und Trost in einer neuen Klasse, die so würdevoll den Bruch zwischen sich und der Welt durch die Arbeit überwinden zu können scheint.
Neben den großen Zyklen, dem Lebensfries, den Munch so gerne in einem eigens errichteten Raum ausgestellt gesehen hätte, dem Fries der Universität und dem Zyklus der Arbeit, beschäftigte sich Munch durchgehend auch mit dem Porträt. Es sind Porträts von Kunstsammlern, Dichtern, Familienangehörigen, Politikern, die das Autonome des Subjekts betonen, und die - in der Regel ganz buchstäblich - mit dem Betrachter auf gleicher Höhe stehen. (Und obwohl es in diesen Porträts kein bisschen bösartig-karikierend zugeht, hieß es doch, dass niemand zufrieden war mit dem Bild, das Munch von ihm gefertigt hatte. Die anderen, ja, die waren durchweg gut getroffen ...) Munchs Blick lässt dem Porträtierten auch nicht die Maske der bürgerlichen Macht. Es ist etwas zutiefst Ziviles und Demokratisches in seiner Porträtkunst. Als er, schon hochbetagt, den ehrenvollen Auftrag erhielt, ein Mitglied der königlichen Familie zu malen, lehnte er ab: „Ich bin zu alt, um zu lernen, wie man Orden malt.“ Während der Naturalismus und in gewisser Weise auch der Impressionismus den Menschen als Ausdruck und Ergebnis seiner Umwelt wiedergibt, geht Munch den gerade entgegengesetzten Weg und zeigt die Kluft zwischen dem Menschen und seiner Welt. Das erreicht er durch zunächst recht einfache Kompositionsprinzipien: Er isoliert die menschliche Gestalt im Vordergrund und errichtet stattdessen im Hintergrund eine Welt, die dem Seelenzustand dieses Menschen entspricht. Zueinander wie zu ihrer Welt verhalten sich die Menschen also in Form von Maske und Spiegelung. Aber die Spiegelung der Innenwelt in der Welt der Natur und der Welt der Dinge gibt
keine Einheit mehr, im Gegenteil, sie erhöht den Ausdruck der Isolation. Munch trennt sich vollkommen von jenem allegorischen Gehalt der symbolistischen Darstellung, die stets einen Umweg über den allgemeinen Code (der Bibel, der Legende, der Literatur) nimmt, aber auch von jener unbestimmten Allegorie, die der Erzählung im Bild das Geheimnis lassen will. Sein Ausgangspunkt der mythischen Konstruktion ist beinahe stets der autobiographische Bezug (und er ist dabei radikal, bisweilen rücksichtslos). Man mag also Munch als „Mystiker“ bezeichnen, ebenso aber auch als einen Psychohistoriker, der nicht den unwiederbringlichen Augenblick, sondern das Einzigartige im historischen Ablauf wiedergibt, das, „was ich sah“ und was uns begleitet. Und dann gibt es da dieses Schlüsselbild, das noch in seiner trivialisiertesten Form so heftig berührt. Der Schrei ist der Augenblick, in der das Subjekthafte des Menschen in der Natur seiner selbst gewahr wird. August Strindberg schrieb über das Bild: „Schrei des Entsetzens vor der Natur, die vor Zorn errötet und sich anschickt, durch Sturm und Donner zu den törichten kleinen Wesen zu sprechen, die sich einbilden, Götter zu sein, ohne ihnen zu gleichen“. Anders gesagt: Der Schrei dokumentiert den radikalsten Augenblick des Subjektes, die Vollendung und zugleich die Unmöglichkeit des Kleinbürgers zur Selbsterlösung. Das Wuchtige ist das Wesentliche in Munchs Bildern; viele, auch die wohlmeinenderen Kritiker haben ihm das „Unfer-
tige“ seiner Bilder, den Verzicht auf ein „Finish“ vorgeworfen. Aber gerade darin zeigt sich auch die Reduktion auf das Wesentliche, Munchs Farbauftrag endet nicht am Rahmen, sondern einfach da auf, wo er aufhören muss. Seine Bilder sind zu ihrer Umgebung daher offen. Das Subjekt atmet die Welt ein, und verliert die Grenzen zu ihr. Was anderes bleibt ihm als zu schreien? Echos auf den Schrei - Edvard Munch. Arken Museum of Modern Art, Ishoj (b. Kopenhagen) zeigt die Hauptwerke Munchs und exemplarische Werke anderer Künstler, die in Auseinandersetzung mit dem berühmten Bild entstanden sind (bis 5. Juni) Grafiken von Edvard Munch, Moderna Museet Stockholm, (bis 13. Mai) Freitag, Nr. 12, 16. März 2001
LUSTVOLLE MISCHUNG Slow Food. Die Subversion des Geschmacks oder warum es notwendig wurde, die Welt essbar zu machen, um sie zu retten
Carlo Petrini, der sich von seinen Freunden Carlin nennen lässt, ist ein beeindruckender Mann mit einer nicht weniger beeindruckenden Lebensgeschichte. Er hat sein Leben dem Gedanken an eine neue „Volksfront“ gewidmet, versuchte die kleinen und nicht ganz so kleinen Gruppierungen der italienischen Linken zu Dialog und Zusammenarbeit zu bringen. Er wählte die Sprache des Volkes um den Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital zu beschreiben, während er sich umgekehrt nicht zu schade war, die Bauern der Langhe im persönlichen Gespräch davon zu überzeugen, dass es für sie gute Gründe gab, eine kommunistische Zeitung wie IL MANIFESTO zu lesen. Petrini gehörte zu jenen Linken, die akzeptierten, dass es nicht mehr allein die Industriearbeiterschaft sein würde, die sich den letzten Transformationen des Kapitalismus widersetzen könnte und dass das schöne Bündnis Arbeiter-StudentenIntellektuelle-Dissidenten einer mittlerweile verklärten Vergangenheit angehört. (Nicht dass man es nicht mehr zustande brächte; es würde von der Neuen Mitte nur ungefähr so zur Kenntnis genommen wie ein skurriler Verein zur Förderung höchst regionaler Unruhen.) Die mehr oder weniger leere
Fabrik eignet sich nicht mehr zum politischen und kulturellen Kampfplatz, und die Universität - reden wir von etwas Erfreulicherem. Die nächsten Schlachten jedenfalls werden woanders geschlagen. Zum Beispiel dort, wo die Innen- und Außenwelt, der Körper und die Politik, am heftigsten aufeinandertreffen: beim Essen. Das neue Bündnis, das Petrini vorschwebte, zentrierte sich nicht mehr um die Idee, sondern um die Erfahrung. Ein vernetztes Bündnis von Produzenten und Konsumenten im Zeichen von Vielfalt und Geschmack. Während er als politischer Berater verschiedener Umweltgruppen arbeitete, hielt er der traditionalistischen Linken (mit einem typischen Vergnügen an leicht pathetischen Formulierungen) entgegen: „Ihr habt eine ganze Klasse vergessen. Eine wichtige Klasse. Die erste Klasse. Die Klasse der Bauern“. Nein, nicht um ein abstraktes Bündnis zwischen „Arbeitern und Bauern“ sollte es gehen, sondern darum, wie wir alle leben wollen. Und der erste Schritt, in guter aufklärerischer Tradition, sollte es sein, sich die Zeit zu nehmen, die es braucht, um sich Klarheit zu verschaffen. So gründete Carlo Petrini eine Bewegung, die erst einmal als eine Vereinigung trotziger Genießer gegen die endgültige Dekultivierung der menschlichen Nahrungsmittelaufnahme wahrgenommen wurde und sich schon im Namen als eine eher konservative Bewegung gegen gewisse „amerikanische“ Unsitten zu erkennen zu geben schien: „Slow Food“. Gegründet in der Mitte der achtziger Jahre, wuchs sich diese „internationale Bewegung für gutes Essen“ zu einem Netzwerk aus, das über eigene Zeitschriften und Verlage, über Gruppierun-
gen an der Basis, prominente Verbündete, über einen Zugang zur Öffentlichkeit verfügt, zum Beispiel über die jährliche Verleihung eines Premio Slow Food und den Salone del gusto in Turin, von der explizit politische Gruppierungen nur träumen können. Die Verlangsamung des Prozesses der Nahrungsmittelproduktion und - konsumtion, bei einer gleichzeitigen Akzeptierung von globaler Vielfalt und regionalem Eigen-Sinn müsste, so die Slow Food-Philosophie beinahe automatisch auch zu einem veränderten Bewusstsein führen. Zeit für die Produktion, Zeit für die Wahrnehmung, Zeit für den Genuss des Essens. Nichts gerade Neues, vor allem wenn man an eine Klasse der Genießenden denkt, die sich eben solchen Luxus schon immer durch die Ausbeutung anderer, durch die Abschöpfung von Mehrwert ermöglichte, und umgekehrt diesen kultivierten Genuss auch wieder als Legitimation verwendeten. Wird nicht jemand, der den Unterschied zwischen einem Barolo und einem Glykol-Wein nicht schmeckt, zurecht von den höheren Weihen des Genusses ausgeschlossen? Und träumen umgekehrt unsere Mainstream-Medien nicht von einem rülpsenden Proll in der Sangria- Tonne, weil es nichts Anstrengenderes gibt, als jene Verknüpfung von kritischem Bewusstsein und sinnlichem Genuss, von der Petrini in jeder seiner öffentlichen Reden mindestens einmal spricht? Beschreiben nicht unsere Barden, authentizitätsbesoffen wie sie sind, die Currywurst als letzten Ausdruck von proletarischem Lebensgefühl und Klassenstolz, und gehört es nicht zu den muffigsten Gleichheiten der Linken und der Rechten, einen McDonald‘s Hamburger als ein Werk des Satans anzusehen,
das die Welt aus den Fugen bringt, die Kinder dick und dumm macht und die heimischen Bauern ruiniert? Zwischen einem guten und einem schlechten Essen ist überhaupt nicht mehr zu unterscheiden, weil uns das Essen nur noch als ideologischmoralische „Sprache“ erscheint, zwischen dem, was unseren Körper krank macht, und dem, was unsere Seele krank macht. Ein Diskurs, öfter unterirdisch. Erinnern wir uns daran, wie lange es gebraucht hat, einigermaßen offen über Sexualität zu sprechen. Mindestens so anstrengend wird es sein, offen über diesen Genuss zu sprechen, der wahrscheinlich genauso heftig im Fundamentalen unserer Existenz und ihrer Geschichte wühlt. Stevan Tontic Das Messer Jedesmal nach dem Essen wasche ich es gründlich, reibe es ab mit Alkohol, wickle es in ein Stück Leinen, dann noch in Silberpapier und lege es ins Tiefkühlfach. Rein und eisig will ich es haben,
wenn ich es greife, plötzlich entschlossen, das Bollwerk des Herzens zu durchstoßen Aus dem Serbischen von Stevan Tontic und Sabine Fahl Die Linke jedenfalls hat sich mit dem Genuss, und mit den Genüssen des Gaumens vor allem, immer schwer getan. Sie reagierte mit Askese, mit Gleichgültigkeit, mit Heuchelei nicht zuletzt, die hier und dort die Grenze zur Schizophrenie überschreitet, auf die historische Gleichsetzung von Genuss und Luxus und auf die Erfahrung jener Lust, von der man - anders als bei der Sexualität, die man daher so gern wohlfeil als Befreiungsmittel unter Volk und Völker warf - ziemlich sicher sein konnte, sie beim besten Willen nicht gleichmäßig in Raum und Zeit verteilen zu können. Musste nicht jedes „gute Essen“ damit bezahlt werden, dass woanders jemand hungert? War Essen und Trinken nicht Teil des am Ende tödlichen Konsumierens der Erde und jede Mahlzeit nichts anderes als die kleine Abbildung der großen Gefräßigkeit des Systems, die ganz buchstäblich die Welt, auf der die Menschen leben, auffressen muss? Daher ist Sattwerden ok, und „kulturelles Essen“, symbolisches Essen (ich esse das, damit ich niemanden beleidige) auch, aber mindestens so unkorrekt wie der industrielle „Schweinefraß“ ist das Luxus- und Schauessen, das wir ein einziges mal, im Beggar‘s Banquet der Revolte, akzeptieren können. Wir ziehen eine Grenze zwischen Genuss und Perversion - auch da haben wir unsere Erfahrungen mit dem anderen Diskurs, mit der Sexualität - aber sie will uns nicht stabil
bleiben. Jeder Skandal bringt sie wieder in Bewegung, und zugleich gibt es diese geheime Sehnsucht, diese beiden Seiten der Welterfahrung, den Genuss und das Bewusstsein, in einen Dialog zu bringen. Genuss ohne Bewusstsein, sagt Petrini, ist absurd; Bewusstsein ohne Genuss aber ist genauso absurd. Er hat, da drüben auf der anderen Seite der Alpen, natürlich leicht reden. In Mitteleuropa jedenfalls kam „Slow Food“ zunächst gar nicht als linkes Projekt an. Und wie sich im Ursprungsland die italienische Gefahr abzeichnet, nämlich, dass das Projekt zu einer leicht opernhaften One Man Show wird, so hierzulande die deutsche Gefahr, nämlich dass auch „Slow Food“ vom Sumpf allfälliger Vereinsmeierei und damit der politischen Korruption schon an der Basis anheimfällt. Also nicht als Bearbeitung, sondern als neue Maskierung des Widerspruchs von Genuss und Bewusstsein. Vielleicht aber verhält sich ja alles ganz anders, vielleicht ist die ökonomische und kulturelle Entwertung des Essens mitnichten ein Teil des Weges zur Bekämpfung von Ungerechtigkeit und Hunger. Vielleicht geht die Welt eben nicht an unserem Genuss, sondern an unserer Genussunfähigkeit zugrunde. Vielleicht macht - nur zum Beispiel - das billige Essen nicht nur die Menschen krank, die sich kein anderes leisten können, sondern auch das System selber. Was die Reichen und die Armen, die Gewinner und die Verlierer, miteinander vereint, ist, dass der Anteil dessen, was das Essen am Einkommen verschlingt, kontinuierlich gesunken ist. Einerseits wird immer mehr davon „gefressen“, von Dingen die wir merkwürdigerweise hinnehmen, die Miete,
das Verkehrsmittel, die Kommunikation. Vor einigen Jahren ging das Bild von Menschen aus New York herum, die vor ihrem laufenden Fernseher verhungerten. Ob das Bild nun wahrhaftig real oder nur eine Metapher war, die wir alle auf Anhieb verstanden, mag dahingestellt bleiben. Aber wir wissen: Die Nahrungsmittel sind nur noch Teil der Lebensmittel. Kein Handy, keine Soap Opera, keine Adidas-Schuhe mehr zu haben kann unter Umständen so tödlich sein, wie nichts mehr zu essen zu haben. Denn das Essen gehört jener Zeit an, die der Kapitalismus bekämpft, der Gegenwart, während die Ware, die Dauer verspricht, immer auch als Parodie einer „Investition“ ins Lebensmanagement erscheint. Die Entwertung der Nahrung in allen gesellschaftlichen Segmenten hatte nicht nur einen eklatanten Verfall des gastrosophischen „Wissens“ zur Folge. Dass wir so viele Bücher, so viele Kurse, so viele formalisierte Gelegenheiten für den Genuss brauchen, erzählt nicht von Luxus, sondern von Verlust. Jeder Kellner in einem „Feinschmecker“-Lokal weiß, dass er mindestens der Hälfte seiner Gäste ebenso gut eine Dose Hundefutter öffnen könnte, um ihr kenntnisreiches, entzücktes Schmatzen hervorzulocken. Und in der armseligen Fresskotz-Kultur wird man eher mit Ernährungsratgebern als mit der Produktion guten Essens reich. Die klassische, nämliche klassenhafte Konstruktion des Genusses kann uns also ziemlich egal sein. Petrini jedenfalls dachte zunächst einmal nicht aus der Perspektive der gut situierten Bürger, die für die Idee eines anderen, in jeder Hinsicht „langsamen“ Essens zu begeistern waren, sondern aus
der Perspektive der Produzenten der Nahrungsmittel, die nur eine Chance hatten, ihre Würde und ihre Kunst zu erhalten, nämlich wenn sie einen anderen Markt als den konstruieren konnten, der ihnen längst alle Entscheidungen, aber auch nicht selten alle Ehre abgekauft hatte. Wenn die ahnungslosen Schmatzer dazu gehörten, diesen parallelen Markt zu konstituieren, der allein durch die moralisch-narzisstische Idee des „Biologischen“ nicht zu erreichen war, na gut. Aber die sind nicht die Autoren von „Slow Food“. Die Nahrungsmittelproduzenten, die Bauern, die Bäcker, die Metzger, die Hersteller und Verfeinerer, die Köche und Winzer treten in einen Dialog mit jenem Teil des universalen Bürgertums, der sich mit dem Turbokapitalismus nicht abfinden will, sich aber andererseits nicht in die theologischen Diskurse der Alternativ-Szenen begeben will. Anders als bei den verschiedenen ökologischen Diskursen ist dabei der kulinarische Diskurs keiner, der „Reinheit“ produzieren will, sondern im Gegenteil eine mehr oder minder lustvolle Mischung zwischen dem Körperlichen und dem Kulturellen. Nur ein paar Beispiele unter den diesjährigen Anwärtern auf den Premio Slow Food: Wenn man in Mauretanien eine Methode entwickelt, aus Kamelmilch Käse herzustellen, dann ist das zur gleichen Zeit eine Möglichkeit, Frauenprojekte zu stärken. Wenn man in Neuseeland genuine Kartoffelsorten rekultiviert, dann ist das zur gleichen Zeit eine Möglichkeit, die Maori-Kultur vor der Erosion zu bewahren. Und in der Würde der Produktion von guter Nahrung steckt häufig der Keim einer Renaissance des Südens. Ein neues Bündnis kann nur entstehen, wenn hier ein zugegeben „alt-
modisches“ Ethos rekonstruiert wird, jenseits der Verabredungen der „grünen“ und allerlei „biologischen“ Ansprüche des missionarischen Eifers. Die Industrialisierung der Nahrungsmittelproduktion führt keineswegs automatisch zu einer Erhöhung der Produktion und damit zu einer möglicherweise gerechteren Ernährung der Weltbevölkerung. Sie führt stattdessen vor allem zu mehr Markt, und auf dem geht es, wie wir wissen, nicht nur um Absatz und Rendite, sondern auch um Konkurrenz und Verdrängung. Die meisten Produzenten also sind gezwungen, nicht so sehr für etwas oder jemanden zu produzieren, als vielmehr gegen etwas. Gegen den Konkurrenten ebenso wie gegen einen „Verbraucher“, der das Unmögliche verlangt: Nahrung, die gut und gesund ist, und die möglichst fast nichts kostet. Der Wunsch, die Nahrung als das Selbstverständliche, Entwertete, Bequeme in den Alltag einzuschreiben, in dem es um ganz andere Werte, um jene meta- sinnlichen Konsumartikel geht, von denen wir nur zu genau wissen, dass ihr eigentlicher Wert nur darin besteht, sie als semiologische Waffe gegenüber dem oder der nächsten einzusetzen, wird erbarmungslos bestraft. Nicht nur durch Obst und Gemüse, das nach nichts schmeckt. Nicht nur durch Nahrungsmittel, die nur solange konsumiert werden, bis man sie einmal genauer untersucht. Nicht nur durch einen unerklärten Krieg zwischen den Herstellern und den Konsumenten. Wer einmal dabei war, wie man den Käse zubereitet, der uns in der Werbung so schmackhaft gemacht wird, isst seiner Lebtag keinen Käse mehr. Dass unser gesunder Joghurt mit irgendwelcher linksdrehender Natur
zur Hauptsache aus Sägemehl und Geschmacksverstärkern besteht, verzieht uns das glückliche Afterjogging-Gesicht. Wer zugesehen hat, was in die Wurst kommt, isst keine mehr. Ein Besuch an einer Meeresbucht, die zur Fischzucht benutzt wird, macht uns in Minuten zu Fischabstinenten. Und was mit einer Mohrrübe geschieht, bis sie auf den Teller kommt ... Geschenkt. BSE, zum Beispiel, ist nur der genaueste Ausdruck des Umstandes, dass Nahrung nichts anderes als ein Mordanschlag des Marktes auf seine Teilnehmer ist, eine Produktion, die nicht nur Krankes und Krankmachendes produziert, sondern selber tief im Inneren krank ist. Unsere Panik im Augenblick ist gespielt; wir wissen nur zu genau, dass wir unser Leben auf die Lüge des Produzenten und den Selbstbetrug des Konsumenten aufgebaut haben. Die Werbung ist nicht mehr allein Mittel im Konkurrenzkampf der Produzenten, sie ist das mythische Schmiermittel dieses Lügensystems. Wir schlucken dieses Essen, weil es uns frei und glücklich und kompatibel macht. Ist es nicht Teil jenes Fortschritts, der die elende Klasse der Hausangestellten überflüssig gemacht hat, der die Frauen vom Dasein am Herd befreite, der die Männer dazu brachte, diesen Lebensbereich in die eigene Verantwortung einzuschreiben, der uns aus der drückenden Last der Traditionen befreite? Wer Fast Food verdammt, der müsste die Moderne, die Urbanität, die Emanzipation von den Mühen des Alltags verdammen. Aber hat sich nicht, andrerseits, die Moderne längst
gegen ihre Subjekte gewandt, ist sie nicht selbst kolonialisiert worden? Anders als das „grüne Projekt“, das, seien wir ehrlich, an sich selber gescheitert ist, strebt „Slow Food“, möglicherweise eine der Nachfolgebewegungen, zwar politischen Einfluss an, nicht aber eine Existenzform als Parodie bürgerlicher Macht. Die Öffnung des Diskurses zwischen Genuss und Bewusstsein lässt auch den Widerspruch zu. So stellt sich, gelingt es einmal, die historischen Belastungen der metaphernreichen Sprache des Essens zu überwinden, eine Frage, die nur auf den ersten Blick so schlicht erscheint: Was ist „gute Nahrung“? Sie ist einerseits so tief und endlos wie die Frage „Was ist die Liebe“? Und andrerseits so pragmatisch wie die Frage: „Was tun?“ Freitag, Nr. 51, 15. Dezember 2000
DOGMA UND PORNOGRAPHIE Tyrannei der Intimität. Warum ich Lars von Triers »Die Idioten«, die Idee vom Dogma 95 und das neue Kino der Transgression nicht sonderlich mag
Wenn ich meine Vorstellung vom Kino beschreiben müßte, dann würde ich an eine Szene aus Lucchino Viscontis wundervollem Film Bellissima erinnern. Da sitzt Anna Magnani in ihrer Getto-Wohnung und sieht auf die schäbige Leinwand eines Freiluftkinos gegenüber, für das sie sich nicht einmal den Eintritt leisten kann. Und sie sieht auf eine Szene aus Red River von Howard Hawks. Auf die Vorhaltungen ihres nur an der eigenen Lebenspraxis interessierten Mannes antwortet sie: »Ach Spartaco« (welch ein Name für einen wunschlos unglücklichen Proletarier im Unterhemd!), »Ach Spartaco, laß mir meine Träume«. Natürlich geht es in dem Film um nichts anderes als um die Zerstörung ihrer Träume, aber zugleich geht es um die Erhaltung der Würde und um die Liebe der Träumenden. Das Kino, so fuhr es mir damals durch den Kopf, ist die Kunst, Illusionierung und Desillusionierung einander so begegnen zu lassen, daß der Mensch dabei, in seinem Körper und in seiner Idee, gerettet werde. Ein paar Jahre später erklärte ein reichlich trivialer Held in einem reichlich trivialen anderen italienischen Film die politische Nutzanweisung dazu: »Träumt weiter. Aber träumt mit offenen Augen!«. Bes-
ser werde ich das Kino, auch wenn ich noch ein paar hundert Filme sehe und noch ein paar hundert Bücher dazu lese, wohl nicht erklären können. Das moderne Kino suchte in gelegentlich radikalen Gegenbewegungen den Film davor zu bewahren, zu einer reinen Illusionsmaschine zu verkommen. Es forderte das Recht der Wirklichkeit ein und verlangte vom Kino, das Bewußtsein seiner eigenen Mittel herzustellen. Das ist nun aber auch schon wieder eine Reihe von Jahren her. Was geblieben ist, neben überwältigender Korruption, sind Reste eines moralischen Diskurses - und einzelne. Schon deswegen mußte die Nachricht aus Dänemark, dort habe sich eine Gruppe von Filmemachern zu einer neuerlichen radikalen Geste gegen das Illusionskino zusammengefunden, aufhorchen lassen. Vom Spiegel bis zur Brigitte wurden die Thesen von »Dogma 95« diskutiert, nicht zuletzt, weil es sich nicht auf eine politische Grundlage stellte, sondern alles das ins Visier nahm, was die Medien beschäftigt: Sex, Familie, Gewalt, kurzum das, was man die »Tyrannei der Intimität« nennt. Das Dogma 95, das mit Thomas Vinterbergs Festen gleich sein (vermutlich einziges) »Meisterwerk« hervorgebracht hat (wahrscheinlich, weil man gar nicht weiß, ob der Film für das Manifest, oder das Manifest für den Film geschaffen wurde), ist zum einen eine Verpflichtung zur technischen Selbstbeschränkung. Filme sollen nur an realen Schauplätzen mit realen Objekten, mit der Handkamera, ohne künstliches Licht, ohne Kostümierung und nur in der gegenwärtigsten aller Gegenwarten gedreht werden. Es ist zum anderen aber auch eine »ideologische« Proklamati-
on zum Kino: der Film sei, so heißt es da, »keine Illusion«. Das ist natürlich genauso ein dadaistischer Unfug wie alle anderen Elemente dieses Dogmas, eine Anmaßung, die nur deswegen akzeptiert werden kann, weil sowieso niemand »wirklich« daran glaubt. Das Dogma ist seine eigene Parodie; es verlangt nicht nach der Entfaltung eines »armen Kinos«, sondern setzt eine künstliche Beschränkung in der Situation eines ratlosen Überflusses. Es mag also als kleines Gesamtkunstwerk, mit einer knappen Handvoll von Filmen, durchaus ein Kommentar zu der Situation sein, in der sich das europäische Kino zwischen Blockbustern und Fernsehproduktion befindet. Es reagiert auf die jüngsten Medialisierungsschübe, indem es die »Tyrannei der Intimität« der wir ausgesetzt sind, noch einmal weitertreibt. Aber was könnte die Kamera und die Zuschauer schon interessieren in Filmen, deren Ästhetik wie eine Mischung aus Home Movies und Reality TV erscheinen muß, und in der weder die Bilder, noch die Objekte noch die Personen die Trivialität des Alltäglichen überschreiten dürfen? Und wie sollte man im Kino provozieren in einer Zeit, in der jeden Tag Fernsehtalkshows auch noch die bizarrste Wendung von Körper, Begehren und Gewalt bereden, die Welt von oralem Sex im Weißen Haus besessen scheint, und wir uns über die Sexpuppe unter Bud Bundys Bett amüsieren? Es liegt auf der Hand: es ist der Körper, es ist die schmutzige Wahrheit hinter der sozialen Performance, es sind jene Dramen der Privatheit, die uns im Kino und im wirklichen
Leben in der Regel erträglich erscheinen, weil es sie nie ohne Träume, nie ohne Illusionen gibt. Dogma-Filme, das ist ihr eigentliches Versprechen, wollen das zeigen, wovon die Sitcoms und Talkshows nur reden. Sie versprechen, noch einmal Grenzen der moralischen und ästhetischen Abbildungsverbote zu überschreiten. Filme, die nach dem Dogma 95 gedreht sind, können also eigentlich gar nicht anders, als in der einen oder anderen Weise »pornographisch« zu werden. Sie sind um das herum aufgebaut, was im mythischen Kino verborgen ist, und das sie nun so erbarmungs- wie folgenlos vor die Handkamera bringen können: das Tabu, das in der Ästhetik der DogmaFilme sogleich wieder zur Trivialität wird. Lars von Triers Die Idioten ist konsequent in der Ästhetik von »Dogma 95« gedreht und hat eine beinahe so einfache Grundkonstellation wie Vinterbergs Festen, wo es um die »Dokumentation« eines Familienfestes geht, bei dem der Vater des sexuellen Mißbrauchs an seinen Kindern angeklagt wird und, nach einigen Versuchen, die Form zu wahren, den Schrecken zu verdrängen, »gestürzt« wird. Die Idioten treibt den fake documentary-Stil noch weiter, noch mehr ist der Film eher Performance als Erzählung, ein Geschehen, das nach einigen Vorgaben seinen eigenen, großteils improvisierten Lauf nimmt. Dabei geht es um eine andere »Familie«: Eine Gruppe von Bürgern hat beschlossen, sich in einen Zustand der Regression zu begeben, um den eigenen, inneren Wahn zu befreien. Man spielt die Idioten. Karen, die junge, eher der Arbeiterklasse angehörende Frau, wird in einem Restaurant Zeugin, wie die Gruppe als »psychisch Behinderte« die
Gäste terrorisieren. Sie schließt sich ihnen an, fasziniert und abgestoßen zugleich. Die Gruppenmitglieder sprechen im fake documentary-Stil über ihre Motive - und über Karen, die gleichsam zur Stellvertreterin für den Blick von uns im Zuschauerraum wird. Karen ist die letzte, die sich der Gruppe anschloß, heißt es im ersten Statement und daß sie sich wahrscheinlich auch jeder anderen Gruppe angeschlossen hätte, nur um ihrer Isolation zu entkommen. Auch darin ist sie uns Zuschauern verwandt, die wir im Kino beinahe alles akzeptieren, wenn es uns nur über die Trivialität des eigenen Alltags erhebt. Karen ist zugleich gefangen in dem Spiel, und sie formuliert ihre Kritik. In einem Schwimmbad nimmt sie Teil an einer torkelnden und lallenden Performance. Da macht das Spiel der regressiven Entgrenzung noch Spaß, weil es Reaktionen, weil es Blicke provoziert. Stoffer, der informelle Anführer der Gruppe, die in dem Hause seines reichen Onkels wohnt, formuliert die »Ideologie« der Gruppe: »Idioten sind die Menschen der Zukunft.« Aber viel mehr an liturgischem Unterbau wird es für die Dauerperformance der »Idioten« nicht geben. Es gibt »bürgerliche« Reaktionen auf das Treiben der Gruppe, etwa den Versuch, das vermeintliche Heim für psychisch Behinderte aus der wohlhabenden Nachbarschaft zu drängen. Die eigentliche Legitimation des »Idioten«-Spiels liegt im Blick der anderen; wenn sich die Mitglieder der »spasser« dagegen selbst ansehen, drohen sie, entweder wirklich verrückt oder wieder zu Bürgern zu werden. Mehr und mehr fallen die Regeln auf die Spieler zurück, wird die bange Frage nach der Möglichkeit des Zurück virulent. Die Gruppensex-
Szene (also der »Skandal« des Films) ist die letzte, in der es noch so etwas wie Lust in der Transgression gibt, dann nimmt der Anteil von Gewalt und Verzweiflung rapide zu. Als müßte dann ganz nebenbei auch noch Ingmar Bergman persifliert werden. Die kleine Kommune der »spasser« dreht den Lacanschen Spiegel gleichsam um. Sie spielen das, was die anderen den Idioten unterstellen, und so wie sonst die bürgerliche Lebensform der Familie als Maskierung des sexuellen Wahns entlarvt wird, so maskieren sie sich umgekehrt als Wahnsinnige, um die Transgression als ihr Normales zu leben. Natürlich gibt es auch für dieses Experiment eine Reihe von Spuren; die Kommune der Idioten hat bis in die Rollenverteilungen Ähnlichkeit mit der von Jean-Luc Godards La Chinoise; in den Filmen von Bernardo Bertolucci und Marco Bellocchio aus den frühen sechziger Jahren war es für die Kinder der Bürgerfamilien nicht anders möglich, ihren Protest zu artikulieren, als sich in die Rolle der psychischen Kranken zu flüchten, und schließlich ist in dem Experiment der Privilegierten auch das Modell der abgeschlossenen Gegengesellschaft des Marquis de Sade gegenwärtig. Von Trier hat das Drehbuch in vier Tagen geschrieben, die der Regisseur mit den Tagen verglich, in denen Sade Justine niedergeschrieben haben soll. Aber in alledem ist das Zentrum verloren, die politische oder philosophische Projektion. Die transgressiven Szenen in diesem Film, die Handkamera- Aufnahmen kopulierender Genitalien, eine Szene, in der einer der »spassers« sich von zwei Rockern beim Pinkeln helfen lassen muß, um nicht zu verraten, daß er den Idioten
nur spielt, übertreffen in ihrer beiläufigen Detailiertheit »authentische« Sex-Szenen in jüngeren französischen Filmen wie SitCom oder La vie de Jésus. Sie stellen wohl nicht nur die Zensur in den verschiedenen europäischen Ländern vor neue Probleme, sondern auch die Bereitschaft des Publikums, das Interesse vom Kino-Mythos auf das hyperrealistische Detail zu richten. Kein »Orgien-Mysterien«-Kult, sondern pure Gegenwärtigkeit des Körpers und der Begegnung von Begehren und Hysterie. Der Skandal der Sexualität in diesen Filmen ist ihre Trivialität, der Skandal ihrer Hysterie ist es, daß sie nichts mehr zur Sprache bringt. Das Eindringen des Pornographischen in den »gewöhnlichen« Erzählfilm findet eine Grenze keineswegs nur im Walten der formalen oder informellen Zensur. Eine Fick-Szene ruiniert eine Erzählung in Bildern, weil sie zum einen eine ganz andere Wirklichkeitsebene vorgibt, zum anderen so, wie wir es aus der Pornographie gewohnt sind, alles andere erscheinen läßt, als wäre es nur Vorwand oder Vorbereitung. Die Einführung des Pornographischen funktioniert statt dessen in Filmen, die von vorneherein eine andere Realitätsebene wiedergeben, also in Filmen, die kein Genre anstreben, keine Stars aufweisen, die »dreckige« Realität abbilden, ohne darin das Pittoreske zu suchen. Dennoch ist es gerade das Pornographische in den Dogma-Filmen und in verwandten Filmen, was ihnen wiederum das eigentlich Skandalöse gibt. Bei Die Idioten gibt es auch nicht viel anderes zu erzählen, selbst sein Regisseur hält ihn ansonsten ja eher für »Blödsinn«. Anders und genauer gesagt: die hyperrealistische und ästhetisch be-
grenzte Art der Darstellung verhindert gerade, daß sich der Film auf die philosophischen und eben auch politischen Probleme seines Themas näher einläßt. Er verweigert sich gerade jene Mittel, mit denen das Kino über sich selbst nachdenken kann. Das Dogma 95 geht davon aus, daß das anti-bürgerliche Kino von einst selber zum »bürgerlichen Mist« geworden sei. Was natürlich in sich trivial ist, weil noch die provozierendste Kunst stets auf dem Weg ins Museum ihren eigenen Skandal hinter sich lassen muß. Was die Protagonisten von Die Idioten treiben, ist eigentlich nichts anderes als »bedeutungslose Spinnerei« (so definiert der Regisseur selbst seinen Film); sie wenden die »Tyrannei der Intimität« zugleich gegen ihre Umwelt als auch gegen die Kamera und damit gegen uns als Zuschauer. Daß man »richtigen Sex« sieht, mit allen Körperteilen, die dazu gehören, und das ohne Liebesgeschichte aber auch ohne die fetischistische Ikonographie der Pornographie, sondern einfach so, eben »bedeutungslos«, führt zur eigentlichen Transgression, die auch eine der Form ist. Und so bildet der Film vor allem sich selber ab. Was die »spasser« in Die Idioten tun, das ist im Grunde genau das, was das neue, vorgeblich anti-illusionistische Kino von Dogma und Transgression unternimmt, die gespielte Umkehr von Maskierung und Demaskierung, Unterdrückung und Befreiung, Abbildung und Realität. Unnütz zu sagen, daß es in diesem Kino keine Stars mehr gibt, nicht einmal mehr Schauspieler im üblichen Sinne, keine Transzendenz der Einstellungen und der Montage, keinen Augenblick der Utopie. Ein Nullpunkt des Films ist
da erreicht, und ich habe keine Ahnung, ob er »notwendig«, »radikal« oder »wichtig« gewesen sein wird. Mit Die Idioten jedenfalls scheint die Dogma-Ästhetik schon wieder in ihrer eigenen Auflösungsphase; sie entlarvt sich selber und gewinnt dabei noch ein letztes mal einen ästhetischen Schockeffekt. Vinterberg, so ist zu hören, packt bereits seine Koffer für eine Reise nach Hollywood; Lars von Trier will als nächstes ein Musical inszenieren. Es war ja nur ein Spiel. Und das Dogma hatte keinen anderen Sinn, als seine eigene Absurdität unter Beweis zu stellen. Freitag, Nr. 12, 19. März 1999
NOCH REVOLTE ODER SCHON MAINSTREAM White Trash in Farbe. Marshall Mathers rappt den großen weißen Offenbarungseid zwischen den Rassen und Klassen
Pop wird nicht erfunden, Pop wird gestohlen. Meistens jedenfalls. Und Pop-Legenden sind nichts anderes als Räubergeschichten und Geschichten von Räubern, die posen und dissen und ihre große Räubergeschichte erzählen und erklären, welch große Emotionen bei den Piratenakten im Spiel sind und wie das alles mit einem total echten Leben zusammen hängt. Denn etwas Gestohlenes ist nicht weniger schön und nicht weniger wahr. Es klebt nur mehr Blut dran. Zum Beispiel das des weißen Rappers Eminem, der drauf und dran ist, den kürzesten Weg von einem Detroiter Club-Act zum Weltstar zu schaffen. Anders als die Beastie Boys oder gar der fürchterliche Vanilla Ice hat er den Rap nicht den afroamerikanischen Musikern gestohlen, wie seine Urgroßväter ihnen den Jazz, seine Großväter den Blues und seine Väter den Funk gestohlen haben: die Allianz der weißen Mittelstandskids, die immer wieder neue Wege fanden, sich an der „Authentizität“ und der Aggressivität der schwarzen Musik zu berauschen, und einem Business, das immer wieder Wege fand, jeden rebellischen Impuls in die eine oder andere Mainstream-Veranstaltung zu verwandeln. In Geld, um genauer zu sein. Eminem, das gehört zu seiner Legende, ist kein neuer Vanilla Ice, kein
synthetisches Industrieprodukt, mit dem auf eine Lücke im Angebot reagiert wird. Eminem ist echt. Er ist vielleicht auch echt krank. Jedenfalls echt. Keiner der die Provokation inszeniert und kalkuliert wie Marilyn Manson. Eminem hat seinen Pop dem eigenen Leben gestohlen. Was immer noch das Beste ist, was man tun kann, wenn einem die Gesellschaft sonst keinen Ausweg offenhält. D ie G e b urt des Rap aus dem Geist des DJs
Rap entstand als erneute Beschleunigung und Erweiterung der funky music in der schwarzen Kultur. Zunächst war da die Kunst der DJs (discjockeys) an zwei turntables die Musik von verschiedenen Platten miteinander zu verschmelzen, das Repetitive mit dem heftigen Effekt im scratching zu verbinden. Dann kamen Sprecheinlagen der DJs hinzu, am Anfang vor allem als Begrüßungen neuer Gäste nach dem call and response-Schema. Als diese verbale Verlängerung wichtiger und komplexer wurde, wurde ihre Aufgabe auf einen zweiten Performer, den MC (Master of Ceremony) übertragen. Der MC entwickelte seine Kunst des schnellen, reaktiven Reimens (End- und Binnenreime gleichberechtigt) nach dem greeting vor allem in drei Sparten: Im posing stellte er sich selbst als den größten, schönsten und besten Rapper, Liebhaber und Kämpfer vor. Beim dissen (abgeleitet von disrespect) geht es darum, jemanden mit allen verbalen Mitteln niederzumachen. Aber dann entwickelte sich auch so etwas wie ein story telling, was am ehesten zu einer Art dreidimensionalen Blues wurde:
Hörbilder über die Straßenwirklichkeit im Ghetto, Geschichten von Sex und Gewalt, und schließlich politische Texte. Heftig modern in den Collage-Techniken und der Selbstreflexion, urban in der Musikalisierung des Lärms auf den Straßen und aus den Radios. Und barbarisch in der Feier des (männlichen) Überlebenskämpfers, der neben der Polizei und dem Konkurrenten vor allem Frauen und Schwule hasst. In den MC-Battles lieferten sich Rapper im improvisierten freestyle musikalische und verbale Duelle. Am wenigsten erinnerte man sich dabei einer der Wurzeln des Rap in der afroamerikanischen Lyrik mit Musik- Begleitung, deren Vertreter einigermaßen empört auf die Vulgarität, die unreflektierte Gewalt und nicht zuletzt auf das rasch wuchernde kommerzielle Drumherum reagierten. Als das Ganze zum Genre geworden war und mit Kurtis Blow und Grandmaster Flash die ersten auch international zu vermarktenden Stars hervorgebracht hatte, differenzierte sich die Szene aus: Old School, New School, Hip Hop, Gangsta-Rap undsoweiter. Während in Europa besonders die Kultur der métissage auf das Ghetto-Idiom reagierte, andere Gruppen das story telling aber auch zum Anekdotischen verflachten, blieb in den USA das Genre schwarz. Versuche der Industrie, weiße Rap-Stars aufzubauen, um sich ein weiteres Segment des ohnehin ausgeprägten Marktes an weißen Käufern zu sichern, scheiterten. Man versuchte den Mittelstandskids in den weißen Vorstädten zu geben, was man so glaubte, dass sie brauchen: eine Mischung aus dem Zorn des Rap und den role models der Boy Groups.
D e r weiße Rapper als junger Mann
Die Antwort aber lag ganz woanders. Sie lag in der Darstellung eines weißen low life, dem sich bis dahin, wenn überhaupt, dann in heroisierender Weise das Country & Western-Genre und in einer fatalistischen Weise der Grunge Rock gewidmet hatten. Ansonsten hatte sich der Jugendliche im White Trash an der schwarzen Subkultur beteiligt, was nie ohne wechselseitige Spannungen ablief. Im schwarzen Ghetto konnte sich der Jugendliche in seinem sozialen und kulturellen Elend einfinden und einen besonderen Stolz entwickeln. Man war arm und gedemütigt, weil man schwarz war. Und daraus konnte sich eine paradoxe Aristokratie des Ghettos entwickeln. Im White Trash, oft nur durch eine Straße von den schwarzen Ghettos in den amerikanischen Großstädten getrennt, war man indes arm, obwohl man weiß war. Man war nicht als race oder als culture „elend“, sondern als Einzelner ein Versager. Im White Trash gibt es kaum die Solidarität von community und hood (von neighbourhood), keinen gegenkulturellen Code, keine Kultur des trotzigen Stolzes. Die einzige Hoffnung war immer nur das, was zugleich die schiere Hölle war: die Familie. Ein typisches White Trash-Leben, wie man es sich nur in einer strukturell rassistischen Gesellschaft vorstellen kann: Als Marshall Mathers noch ein Kind war, machte sich der Vater, der zwischen Maloche und den Auftritten einer unbedeutenden, aber tourfreudigen Rock´n´Roll-Gruppe pendelte, aus dem Staub. Oder er wurde von der Mutter hinausgeworfen,
wie man´s nimmt. Immer am Rand der Armut, immer auf der falschen Seite der Straße zog Debbie Marshall ihren Sohn von einem heruntergekommenen Appartement in die nächste Wohnwagensiedlung. Alkohol, vielleicht Drogen, Zusammenbrüche und Kerle, die selten länger als eine Nacht blieben. Marshall Mathers wechselte von einer Schule zur anderen, und wurde verprügelt, hier weil er klein und schmächtig war, und dort, weil er nicht schwarz war, wie die meisten seiner Freunde. Er las Comics und hasste den Rest der Welt. Er nahm Drogen und hatte eine Freundin namens Kim, mit der sich die Mutter gar nicht vertrug. Die beiden waren noch nicht mal 20 und konnten schon nicht mehr zwischen Hass und Liebe unterscheiden. White Trash, the next generation. Die Neuauflage von John & Yoko, Sid & Nancy, Kurt & Courtney - das reine Desaster. Während Marshall ohne großen Erfolg als Rapper auftrat - und dabei so etwas wie den umgekehrten Rassismus der black community erlebte: ein wigga, white nigger, ein weißer Junge, der fühlen und wirken wollte wie ein Schwarzer, davon gibt´s genug -, bekam Kim ein Kind, und die Sorgen vermehrten sich um die Notwendigkeit, wenigstens ein paar Pampers zu besorgen. Das bisschen Geld, mit dem man gerade überleben konnte, verdiente sich Marshall Mathers in einem Imbissladen. Und lernte es ansonsten, gegen die geballte Aggression des schwarzen Publikums seine MC-Fähigkeiten vorzutragen. Indem er sich seine Lebenswut aus dem Hals schrie.
Irgendwann geschah das Wunder, ohne das niemand diese Geschichte erzählt hätte. Dr. Dre, als Produzent und Mitglied von Niggaz With Attitude eine der wichtigsten Figuren im Gangsta-Rapp, erkannte das Talent des weißen Jungen, der sich M&M, wie das Schokozeug, nannte, und riskierte es, selber von der community angefeindet zu werden. Weiße Jungen bringen´s nicht. Und damit basta. Die alte Frage: Können Weißärsche den Blues spielen? Und Eminem brachte es wirklich nicht, sein Rap war vielleicht gewitzt und authentisch, aber zu sanft und zu wenig politisch. Auf dem Klo, das gehört zwingend zur Legende, fiel Eminem (statt einem süßlichen M&M nun) der Name eines anderen Ichs ein, in das er sich erst mal für sich und seine Reime verwandeln konnte, wie David Bowie, der ja nicht einmal David Bowie war, in Ziggy Stardust, Frank Zappa in Bobbie Brown. Eminem, der ja nicht einmal Eminem war, verwandelte sich in einen miesen Kerl namens Slim Shady. U n d e r nannte al le beim wirklichen Namen
Slim Shady kotzte und schrie und heulte alles heraus, was ein zwanzigjähriges Leben im White Trash hergab: Hass auf alle, die einem das Leben schwer gemacht haben, angefangen bei dem Kerl, der einen auf dem Schulhof verprügelt hat, über die Frauen, die es nie ehrlich meinten, bis zu den Kritikern, die keine Ahnung hatten. Das war eine neue Form des Dissens, zeige deine Wunden und spuck´ drauf, und Eminem alias Slim Shady blieb dabei nicht stehen: Er rappte die Mordphantasie
an seiner Frau und schleppte dazu die gemeinsame Tochter ins Studio und mischte ihr Kinderlachen zu der Schilderung der Beseitigung der Leiche. Er schilderte seine Mutter als drogensüchtiges Arschloch. Er baute jede beschissene Einzelheit eines White Trash- Lebens in seine Texte ein und widmete gleich wieder ein Stück den assholes und motherfuckers, die ihm bei der Produktion der aktuellen LP Ärger bereitet hatten. Und er nannte alle beim wirklichen Namen. Das war Eminems Opfer und sein Erfolg. Die schwarzen Idole seiner Musik konnten von ihrer gemeinsamen Unterdrückung erzählen, von den Schandtaten der Polizei, von der Subversion des Verbrechens. Für einen aus dem White Trash blieb nur das eigene, höchst persönliche Leben als Material. Und als Verkaufsargument - Brechts Seeräuber-Jenny hätte etwas dazu zu sagen gehabt. Eminem machte das Rap-Idiom zu einer fundamental subjektiven und autobiografischen Angelegenheit. Aber er machte das so radikal und rücksichtslos, dass es auf eine unerwartete Weise wieder politisch wird. Eminems Rap ist der hysterische und hasserfüllte Offenbarungseid für jede rassistische Überlegenheitsphantasie des weißen Mainstream. Und dies, vielleicht mehr als seine kranken, sexistischen, gewalttätigen und drogenverseuchten Texte, bringt das Establishment auf die Palme. Übrigens nicht nur das weiße. Denn auch der schwarze Kleinbürger kann, wenn er es nicht geschafft hat, nicht so ohne weiteres in die Ghetto-Kultur zurück. Dann wird aus ihm black White Trash, der, vielleicht, mit anderen Augen auf den wigga sieht. Eminem ist zugleich Ausdruck und Erosionssymptom einer Gesellschaft, deren Rassismus von der
Vertikalen in die Horizontale rutscht. Die Rassen und Kulturen leiden nicht mehr allein untereinander, sondern vor allem nebeneinander. Die zwei te Frage de s Pop
Eine Slim Shady EP, und dann eine Slim Shady-LP mit Dr. Dre als Produzent machten die sensationelle Furore, die wir kennen. Der Künder der Authentizität weigerte sich, seinen sozialen Ort Detroit und sein soziales Umfeld zu verlassen. White Trash vergoldet. Eminem ging mit einer Pistole auf einen Mann los, mit dem sich seine Frau freundschaftlich getroffen hatte, und wurde verhaftet. Nach einem Selbstmordversuch ließ sich Kim von Marshall Mathers scheiden. Unterdessen verklagte die eigene Mutter Eminem auf ein Dutzend Millionen Dollar Schmerzensgeld. Auch sein Vater tauchte wieder auf und wurde von ihm öffentlich beschieden: Piss off! White Trash with an attitude! Auf die Slim Shady-LP folgte die Marshall Mathers-LP, die erfolgreichste weiße Rap-Platte, die Mister Hyde, Slim Shady, auf der Suche nach dem Dr. Jekyll zeigt, den White Trash-Poeten, der respect paradoxerweise nur solange erhält, so lange er seinen Hass darüber, dass man ihn ihm versagt hat, am Kochen halten kann. Ob wir Eminem, Slim Shady oder Marshall Mathers nun glauben oder nicht - was seine Musik anbelangt, kann man es durchaus tun -, die große Geste der hasserfüllten Selbstentäußerung, mit der allein er sich als Weißer in die schwarze Musik/Poesie einschreiben konnte, führte dann doch wie-
der zu einem gleichzeitigen Akt von kapitaler Piraterie und Mainstreaming. Eminem hatte sich zwar, mehr oder weniger, in der schwarzen Szene von Rap und Hip Hop respect verschafft, seinen ökonomischen Erfolg sichern einmal mehr die middle class kids, die sich mit seinen familiären und sexuellen Hassausbrüchen identifizieren konnten. Eminem, der respect bei den Schwarzen erzielen wollte, indem er seinen disrespect dem fucking life im White Trash bekundete, wurde von den frustrierten kleinen Schwestern jener Mädchen adoptiert, die noch bei den Back Street Boys in Ohnmacht gefallen waren. No black music, no white music. But fight music. Das ist die zweite Frage des Pop: Ist der Erfolg von jemandem wie Eminem noch Teil einer wenigstens angedrohten Revolte oder schon Teil ihrer Niederschlagung? Freitag, Nr. 14, 30. März 2001
BLUES BROTHERS 2000 Wie geht der Blues? Twiddeldiiiääng-twiddeldi,twiddeldi in der Gitarrenregion. Dwööö-ö-ü-öm. Macht die Mundharmonika. Dumpndumpdumpnd-daa-da- dumpndumpd geht es in der Rhythm Section. So geht der Blues. Oder so ähnlich. Oder auch anders. Aber wie geht der Blues im Film? Jedenfalls nicht so: Elwood Blues kommt nach Jahren aus dem Gefängnis. Genau zwischen Mauern, Stacheldraht und Wachtürmen auf der einen, ewiger Wildnis, Sand und Wind auf der anderen Seite wartet er auf seinen Bruder Jake, wartet ziemlich lange. Jake kann ja auch nicht kommen, weil er tot ist, was man noch als Blues-Grundlage durchgehen lassen könnte. Nachdem der Gefängnisleiter Elwood die traurige Mitteilung gemacht hat, gelangt er zum Waisenheim, wo immer noch die drakonisch gütige Oberschwester herrscht (Kathleen Freeman, die wir aus so vielen Jerry- Lewis-Filmen kennen) und ihm sogleich die Aufsicht über einen Jungen aufhalst, der sich nach und nach als kleinster Blues-Brother der Welt profiliert. Wie damals, im Original des Films, setzt der Held nun alles daran, die alte Band wieder zusammenzutrommeln, und statt John Belushi hat Dan Aykroyd jetzt John Goodman als Partner. Ansonsten gibt es einige der Szenen des Originals in neuer Fassung: der Auftritt der Blues Brothers als Country-Band (was Gelegenheit zu einer ZZ-Top-Persiflage und einer wahrhaft apokalyptischen Version von „Ghost Riders in the Sky“ gibt),
wahnwitzige Destruktionen von Polizei-Automobilen, Gastauftritte guter bis sehr guter Musiker und ehrlich gesagt auch reichlich Leerlauf, Herumgetue por nada. Das Ganze endet in einer grandiosen Villa in den Cajun-Sümpfen, wo eine Voodoo-Priesterin ein Battle of the Bands durchführt, bei dem die Blues Brothers gegen eine All-Star-Band antreten, die gleich den Fehler des ganzen Films wiederholt: Quantität erschlägt Qualität. Ein noch so guter Musiker hat keine Chance, wenn er in einer Gruppe von zwanzig genauso guten Musiker dazu verdonnert ist, nur ein Schnell-Zitat seines Stils abzugeben. Und ein guter Einfall hat keine Chance, wenn er gleich unter dem nächsten Effekt begraben wird. Es passiert das Schrecklichste, was einem Musikfilm passieren kann: daß sich die Musik und die Handlung gegenseitig stören statt sich zu ergänzen. Daß der Blues nicht sichtbar wird vor lauter cineastischem Luxus. Und dabei werden noch nicht einmal die Charaktere besonders entwickelt. Was für ein Wahnsinnsschauspieler John Goodman ist, zeigt er etwa in den Filmen der Brüder Coen. Hier ist er nur netterweise auch dabei. Und schließlich geht auch als Komödie Blues Brothers 2000 nie so richtig los; die Gag-Dichte ist höchst bescheiden, und die raren Pointen werden reichlich umständlich entwickelt. Bleiben also die Schauwerte, und auf die versteht sich der seit geraumer Zeit an Inspirationsmangel leidende Regisseur Landis immerhin. Es gibt immer was zu gucken in diesem über-ausgestatteten Film.
Kein guter, aber auch kein wirklich schlechter Film also ist das, es gibt wahrlich schlimmere Arten, einen verregneten Nachmittag zu verbringen als in diesem harmlosen NostalgieTrip, in dem - wie schon im originalen Blues Brothers- Film - Aretha Franklin eine der besten Szenen hat, weil nämlich in ihrem (kurzen) Auftritt Bewegung, filmisches Drama und Musik zu einer Einheit werden, was man ansonsten weitgehend vermißt. Die Blues Brothers 2000 sind immer noch die alten: nette, ein bißchen akademisch-stilisierte und in Wahrheit ziemlich sentimentale weiße Jungs mit sehr dunklen Sonnenbrillen, die den Blues spielen und es originell finden, in einem umgebauten Polizeiwagen durch das Land zu brettern, auf der Suche nach den schwarzen Wurzeln ihrer Musik. Der Blues hört sich im Jahr 2000 aber wahrscheinlich anders an. Vielleicht so wie auf der letzten CD von Taj Mahal, der aber leider nichts mit diesem Film zu tun hat.
DAS KINO DER DOPPELTEN KULTUREN ERSTER STREIFZUG
DUCH EIN UNBEKANNTES
KINO-TERRAIN
In den letzten Jahren haben Filme von türkisch-deutschen Regisseuren immer mehr an Bedeutung gewonnen. Beim Festival von Pesaro (siehe Bericht in epd Film 9/2000, S. 2) wurde nun erstmals das Kino der Immigranten in verschiedenen europäischen Ländern in einem umfassenden Programm vorgestellt. Für uns ein Anlass, diesem Kino zwischen den Kulturen einen ausführlichen Beitrag zu widmen. Der Übergang vom Post-Kolonialismus in die multikulturelle Weltgesellschaft ist offenkundig fließend und vielgestaltig. Schmerzhaft ist er sowieso. Jemand kommt in eine andere Kultur, um in ihr, so oder so, zu überleben. In der Regel tut er oder sie das nicht freiwillig. Seine eigene Kultur kann ihn weder ernähren noch ihm eine Zukunft bieten - oft genug war es gerade die Kultur, in der er nun sein Glück versuchen muss, die sein eigenes Land durch Ausbeutung und Verachtung soweit gebracht hat, dass er es verlassen musste. Oder die politische Herrschaft trachtet ihm nach Freiheit und Leben. In der fremden Kultur arbeitet und lebt er, oft unter Umständen, die noch dem geringsten der Angehörigen seiner „Gastgeber“ niemals zuzumuten wäre, trifft auf neue Ausbeutung und Gewalt und kann nur einen Weg suchen zwischen der Bewahrung der eigenen Kultur und einer partiellen Anpassung.
Das „Leben in zwei Kulturen“, für das die französische Sprache das Wort métissage geprägt hat, stellt die Person so sehr in Frage, wie dann die Familie, die in der zweiten Phase der neuen Völkerwanderungen das Leben neu strukturiert. Das kleine Glück der Geborgenheit in der Familie wird teuer erkauft, denn nun muss gerade dieser Ort der „Heilung“ zum Schauund Kampfplatz zwischen den beiden Impulsen werden, und aus Erinnerung und Hoffnung kann nur noch Ideologie werden. Die Jungen können nicht wollen, was die Alten wollen, die Frauen können nicht wollen, was die Männer wollen. War man am Beginn in Lager-Situationen von Baracken, Schlafstellen, Männergruppen wenigstens noch in einer so vorläufigen Lebensweise, dass es nur den Traum von der Rückkehr geben konnte, so gelangt man später, als die „Gastgeber“-Staaten den Zuzug der Familien kontrolliert gestatteten, in eine neuerliche Ghetto-Situation: Die kulturelle vermischt sich mit einer sozialen Marginalisierung, und umgekehrt ist noch der bescheidenste Aufstieg nicht ohne Entfremdung zu haben. Die äußere Verbesserung der Lebenssituation in der zweiten und dritten Generation von Arbeitsimmigranten und Flüchtlingen überdeckt nur neue innere Konflikte, und auf der anderen Seite errichtet die Gesellschaft der „Gastgeber“ nach den sichtbaren nun auch unsichtbare Grenzen um die Menschen, die immer noch als „Fremde“ identifiziert werden, auch wenn sie längst die Masken der „Integration“ angelegt haben. Das Ghetto tritt die Nachfolge des Lagers an. Wo aber ist Heimat für den Immigranten? Sie kann nur in der Kultur der Métissage selbst, im Leben zwischen den Kultu-
ren, sogar in einem Stolz des Ghettos liegen. Die Gesellschaft, die mit nichts als Geld und Spaß befasst scheint, erkennt die Métissage nicht als organischen Teil ihrer selbst, sondern allenfalls als ein Problem, das sie mit sich schleppt, und in der Métissage hat man es begreiflicherweise schwer, die Zerrissenheit als Chance und Zukunft zu begreifen, als Vorgriff auf eine vollkommen andere Gesellschaft. Wo also ist diese Heimat der zweiten Art, diese Kultur der Metissage? Sie muss gefunden, ja, sie muss erfunden werden. Zum Beispiel durch das Kino. Das Kino der Fremdhei t
Das Medienbild der ersten „Fremden“ in den europäischen Gesellschaften nach dem Krieg war geprägt von der gönnerhaften Überheblichkeit der boomenden Wirtschaft. Wir erinnern uns in der BRD etwa an Bilder der Ankunft, an den hunderttausendsten Gastarbeiter, der mit einem Moped belohnt wird, und wenn wir uns noch genauer erinnern, an Bilder von notdürftig mit Kordeln zusammengehaltenen Koffern, an hoffnungsfroh- verzweifelte Gesichter, an Gruppen von Menschen, die in den Bahnhöfen herumstanden, als könnte der nächste Zug derjenige sein, der sie aus dieser kalten Gesellschaft zurück in die Heimat befördert. Um die Menschen, die gekommen waren, „kümmerte“ sich gerade einmal der linksliberale Zweig der europäischen Medien. Die erste Beschäftigung des deutschen Films mit der neuen „Minderheit“ im Land geschah aus einem humanistisch- pädagogischen Impuls heraus im post-politischen Kino der siebziger Jahre. Hel-
ma Sanders zum Beispiel erzählt in Shirins Hochzeit (1975) von einem Dorf in Anatolien, wo die junge Shirin (Ayten Erten) mit dem Gutsbesitzer verheiratet werden soll, weil dies die einzige Möglichkeit ist, ihr und ihrer Familie den Lebensunterhalt zu sichern. Doch Shirin flieht nach Deutschland zu Mahmud (Aras Ören), dem sie als Kind versprochen war und der hier als Gastarbeiter lebt. Shirin gerät in die klassische Falle: Sie bekommt ohne Arbeit keine Aufenthaltserlaubnis und umgekehrt ohne Aufenthaltserlaubnis keine Arbeit. Zurück in die Türkei aber kann sie auch nicht mehr, nicht nur, weil mittlerweile ihre Familie nur noch dank ihres Geldes überleben kann. Schließlich trifft sie in Köln auf den Zuhälter Aida (Jürgen Prochnow) und willigt schließlich ein, für ihn zu arbeiten. Eine persönliche Leidensgeschichte als Modell. Doch noch kann sich der Film nicht vollständig frei von den KopftuchKlischees machen, und am Ende ist er vor allem eine Geste gegen männliche Gewalt, eine Passionsgeschichte der dritten Unterdrückung; weniger eine Annäherung zwischen zwei Kulturen als eine Anklage gegen beide. Nur vom Elend konnte in dieser Zeit die Rede sein. Aus der Ferne sehe ich dieses Land (1978) von Christian Ziewer erzählt von der Fremdheit zwischen einer chilenischen Familie und den Deutschen: Es gibt Blickwechsel, aber keine Annäherung. Mit den Augen des Fremden sehen wir auch dieses Land, das uns zu dieser Zeit wahrlich fremd geworden war. Eine Tradition des „Kinos der Fremdheit“ überlagert das Motiv der Métissage in diesen Jahren so heftig, dass kaum eine Vorstellung von Dialog und Ambivalenz sich ergeben kann,
radikal vorgeprägt etwa in Fassbinders Figur des „Gastarbeiters“ als existenziellem Helden in Katzelmacher: Der Künstler, der sich als Ausgestoßenen sieht, maskiert sich selbst in der Passion des Fremden. In Sohrab Shahid Saless‘ In der Fremde (1974) scheint der Vorgang umgekehrt. Die Geschichte des türkischen Gastarbeiters Husseyin, der wie viele andere in einer heruntergekommenen Gemeinschaftswohnung in Kreuzberg lebt und mit der deutschen Kultur zwar in Kontakt, aber zu keiner Verständigung kommt, ist Bild einer radikalen Entfremdung, die eigentlich nur das Verlöschen übrig lässt, das Verschwinden des Traums von der Rückkehr. Fremdheit, das ist das Thema der Filme von Saless, die eben deswegen das Gegenteil von Métissage-Filmen sind. Alle Vermischung, so scheint es, kann nur Missverständnis sein, und das Leben in der anderen Kultur nur schreckliche Verbannung. Bevor es ein Kino der Métissage gibt, gibt es ein Kino der Fremdheit und des „Elends“. Ein Jahrzehnt später kann von solcher Radikalität nicht mehr die Rede sein. In Filmen wie Jannan - Die Abschiebung (Tim van Beveren, 1986) erleben wir ein Kino der Fremdheit, das gleichsam notwendig von der Anklage zur Ideologie springt und, in diesem Beispiel, zu einer Enzyklopädie des Schreckens: alle deutsche Horrorfiguren, von der fiesen Beamtin, dem verbrecherischen illegalen Arbeitsvermittler, dem korrupten Kriminalbeamten auf der einen, die Guten auf der anderen Seite, etwa ein Anwalt, der so gut ist, dass wir in seinem Büro auch auf ein Buch mit dem Titel „Friedenssignale“ optisch hingewiesen werden, als müsste der Film in einer
Bildsprache mit uns reden, wie sie im verbalen die „Gastarbeiterspache“ entwickelte. Dieses Kino der Fremdheit erweist sich am Ende als so unproduktiv wie unzeitgemäß; nicht selten werden die Immigranten dabei metaphorisch missbraucht, um ein Opfer zu zelebrieren und eine moralische Eindeutigkeit herzustellen, die der Idee der Métissage widerspricht. Wenn es so etwas wie eine Métissage-Filmkultur in den achtziger Jahren gibt, dann beschreibt sie vor allem die Spannung innerhalb der Einwanderer-Familien. Ein Dokumentarfilm wie Verländert (Michael Lentz, 1983) zeigt, wie dies eine Frage des Überlebens wird: Das junge türkische Mädchen Tina integriert sich in der Schule und Nachbarschaft und macht ihren Abschluss an der höheren Handelsschule, als ihre Eltern beschließen, zurückzukehren und ihr in der Türkei einen Mann zu suchen. Sie verweigert sich diesem Zwang und entflieht ihrem Elternhaus, verfolgt und gesucht vom Vater und von den Brüdern. Der Bruch kann nur so radikal vollzogen werden wie er unter anderen Vorzeichen so radikal für die Helden von Spielfilmen aus dem nächsten Jahrzehnt wie Kutlug Atamans Lola und Bilidikid (1998) sein muss, die ein vollkommen anderes Lebensdesign entwickeln und den Bruch mit ihren Eltern (und weniger mit ihrer Kultur) als Narbe zurückbehalten müssen. Ganz spürbar lässt dieser Druck innerhalb der Familien in den neunziger Jahren nach. Nicht, dass es den Konflikt zwischen der alten und der neuen Kultur nicht mehr geben wür-
de; aber die zentripetalen Kräfte der Familie gehen verloren, es entsteht eine Fremdheit, ein Elend zweiten Grades, das Yüksel Yavuz in Aprilkinder (1998) beschreibt: Die Kinder leben, wenn auch auf sehr verschiedene Weise, in zwei Kulturen und in zwei Sprachen. Die Eltern können dies nicht: die Mutter hat nur eine Sprache zur Verfügung und ist daher unfähig, die Codes und Doppeldeutigkeiten der Métissage-Kultur zu verstehen. Der Vater aber verstummt buchstäblich. Diese Metapher gibt es auch in einer Reihe von französischen Filmen: An den Vater erinnert sich die dritte Generation zunächst als einen Unterdrücker, jene Instanz, der man entkommen musste, um sich überhaupt Lebensmöglichkeiten zu erkämpfen, aber zunehmend muss der Blick zärtlicher und mitleidvoller werden. Kompromisse, viele kleine Maskierungen werden möglich, die Konflikte lösen sich in endlosen alltäglichen Reibereien auf oder in absurden Versteck- und Theaterspielen wie in L‘Honneur de ma famille (1997) von Rachid Bouchareb, wo die Heldin der Familie so lange ein Leben in den kulturellen Traditionen vorspielen kann, bis die Schwangerschaft eine rasche und dennoch traditionelle Heirat nötig macht. Das Leben in zwei Kulturen wird hier zum grotesken Maskenspiel, und keiner Rolle, nicht einmal der des politisch verfolgten Flüchtlings, ist ganz zu trauen. Es ist die Krankheit des Vaters, wie in Thomas Arslans Geschwister (Kardesler, 1996) - der weder seinen angestammten Platz in der Familie noch einen neuen erhalten kann -, die sich fortzeugt. Sie produziert die komplementäre Krankheit der Töchter zwischen dem selbstbewussten Lebensdesign und der traditionellen Rolle in der
Familienstruktur. Die doppelten Codierungen im alltäglichen Leben können daher noch nicht verhindern, dass es zu radikalen moralischen Entscheidungen kommt, zwischen den eigenen Wünschen und den Erwartungen der Familie, wie in Antonia Lerchs Vor der Hochzeit (1996) oder in Aprilkinder. In Geschwister geht der Weg sogar noch weiter zurück; trotz aller Fremdheit geht da einer der Söhne der Inbetween-Familie in die Türkei zur Armee. Auf die radikale Einsamkeit der ersten und auf das Drama zwischen Integration und Rückkehr in der zweiten Generation folgt nun die Suche nach den Lebens- und Rollenmodellen, für die es eindeutige Lösungen nicht mehr geben kann. So muss sich in den achtziger Jahren das Kino der Emigration, das Kino der Fremdheit, separieren vom Kino der Métissage, einem Kino, das von der Unumkehrbarkeit der kulturellen Verschmelzung, vom Leben in zwei Kulturen (mindestens) erzählt. Das Kino der Métissage kann, ohne sich zu verraten, aus der Fremdheit selbst keine große Sache mehr machen, sein Thema ist gerade das Alltägliche im Leben in zwei Kulturen - was nicht heißen soll, dass nicht gerade diese Art des Alltäglichen zur Katastrophe führen kann. Fatih Akins Hamburger Gangsterfilm Kurz und schmerzlos (1997) führt zum ersten Mal in eine Welt, die der französische und der britische Film längst als Genre-Hintergrund konstatiert, in der sehr unterschiedliche Métissage-Erfahrungen noch einmal in einem dynamischen Milieu miteinander vermischt sind.
Abschied von den Träumen
Métissage beginnt mit dem Abschied von den Träumen der Emigration. Safarik, ein tschechischer Emigrant, drehte mit Hunderennen (1983) einen der melancholischsten Filme über die verfehlten Beziehungen in der neuen Gesellschaft. Im Herbst 1968 begegnen sich einige Asylbewerber in einem Durchgangslager auf dem Weg in die Schweiz. Zehn Jahre später treffen sie sich wieder, und alle ihre Träume sind in dieser kalten Heimat zerplatzt: Der begabte Zeichner muss mit albernen Hundezeichnungen seinen Lebensunterhalt verdienen, der „geborene Geschäftsmann“ hat einen miesen Partyservice, und Lapek, den es in die Heimat zurückgetrieben hat, kann dort gerade einmal als Taxifahrer arbeiten. Die Nachfahren dieser Helden im Spielfilm der neunziger Jahre werden mit diesem Schicksal sehr viel lakonischer umgehen. Der positive Held der Métissage, ein Überlebenskünstler und neuer Picaro, entsteht erst jenseits dieser Verzweiflung. Die Métissage-Filme im engsten Sinne, also jene Filme, die von Regisseurinnen und Regisseuren gemacht wurden, die selbst Angehörige der dritten oder gar vierten Einwanderer-Generation waren und von einem autobiografischen Gestus leben, kamen insofern also beinahe ein wenig zu spät. Sie konnten so wenig unbefangen sprechen wie sie vor allem die internen Konflikte bearbeiten mussten. Und sie tun es jenseits der Träume vollständiger Adaption auf der einen Seite, jenseits der Vision von der Rückkehr auf der anderen. Vom Traum der Heimkehr handelten sehr viele Filme in den achtziger Jahren. Der Schwei-
zer Film Ritorno a casa (Nino Jacusso, 1980) erzählt von der Heimkehr der Familie des Regisseurs in das Dorf Acquaviva Collecroce nach 20 Jahren als Gastarbeiter, und nun sind auch sie Fremde im eigenen Land geworden. An eine „Rückkehr“ ist in den neunziger Jahren nur noch in ironischer Form zu denken, als Ausflug in eine fremde Vergangenheit. Insofern ist Fatih Akins kleine filmische Alberei Getürkt (1997) doch höchst symptomatisch: So wie man einst „das Türkische“ mit nach Deutschland brachte, wird nun das Ghetto zurück in die Türkei projiziert. Und der Held der Métissage-Kultur begreift vor allem, dass er auf die chaotische Situation mit Kreativität reagieren muss. Aus diesem Grund vielleicht ist auch verständlich, warum sich das Kino der Métissage ungleich problemloser an amerikanischen Vorbildern orientieren kann als etwa das Kino der Fremdheit. So liegt es auf das Hand, dass sich eine Anzahl von Métissage-Filmen auf Martin Scorsese, vor allem auf Mean Streets beziehen (so auch Kurz und schmerzlos), manchmal direkter als es ihnen gut tut. Auch Scorsese erzählt vom Leben in zwei Kulturen, von der magischen Schizophrenie der Italoamerikaner und er erzählt von den unsichtbaren Mauern des Ghettos. So mussten nach dem Kino der Fremdheit und dem Kino des Bekenntnisses Filmbilder gefunden werden, die einerseits Métissage als Struktur erklären konnten und andererseits vom Modell zum Subjekt gelangten. In Die Kümmeltürkin geht (Jeanine Meerapfel, 1985) zum Beispiel geht es um einen Dialog zweier höchst individueller Frauen und um das Wesen von Beziehung und Fremdheit: Melek Tez hat 14 Jahre
in Berlin verbracht und passt kein bisschen ins Klischee des „Gastarbeiters“, leidet aber trotzdem unter den Vorbehalten und Abgrenzungen ihrer Umgebung. Und nun beschließt sie, in die „Heimat“ zurückzukehren, obwohl sie auch dort eine Atmosphäre der Fremdheit erwarten muss. Das Gespräch mit der Regisseurin, die ihre eigenen Erfahrungen mit der Fremdheit hat, überschreitet als Dialog die Grenzen der Dokumentation, es ist ein Versuch über eine Illusion, von der Melek begeistert ist, und die sich in der Kultur der Métissage nicht mehr erfüllen lassen wird. So wenig die Utopie der „Integration“ zu erfüllen ist, so wenig lässt sich der Traum von einer Heimkehr erfüllen. Die einzige Chance ist es tatsächlich, Teil einer „Kultur der Métissage“ zu werden. Und schon in seiner Form greift der Film die Ahnung auf, dass diese Kultur nicht eine der „Identität“ als vielmehr eine des Dialoges sein wird. Komödien
Nicht das Kino der Fremdheit und nicht das Kino des Bekenntnisses konnte den Mainstream des Kinopublikums erreichen, wohl aber eine neue Form der Métissage- Genrefilme, besonders die Métissage-Komödie, in der sich ein gleichsam ansteckendes Gefühl von Befreiung offenbart. In Frankreich wurde der Film Le Thé au harem d‘archimedes (Tee im Harem des Archimedes, 1985) von Mehdi Charef der wohl bislang bekannteste Film, der das Métissage-Thema mit einer Schilderung der Vorstadt-Realität verband. In den Wohnhochhäusern von „Cité des Fleurs“ leben die beiden Freunde
Pat und Madjid, die sich ohne Zukunftsaussichten durchs Leben schlagen und von einer Karriere träumen, wie sie Balou gemacht hat, der erfolgreiche Ghetto-Gangster. „Der Film ist sehr autobiografisch. Alles, was darin geschieht, haben ich und meine Freunde tatsächlich erlebt“, sagt der Regisseur, der mit dem gleichnamigen Roman einem ebenso tristen ArbeiterEmigranten-Leben entkam, wie es sein Vater lebte. Was das Kino anbelangt, so hat jede Kinematografie ihre eigenen Chancen und Probleme. Anders als in den Métissage-Filmen aus Frankreich oder Großbritannien trifft zum Beispiel in Deutschland das Motiv auf ein schwieriges KinoProblem: die Sprache. Zwei Elemente werden dabei vor allem bedeutend: die Verwendung der Originalsprache, die mit Untertiteln übersetzt wird oder jene heikle Verwendung des „gebrochenen Deutsch“, das zwischen archaischer Konsequenz und Denunziation changiert. Wenn es in Shirins Hochzeit heißt, Deutschland sei „viel schlimmes Land“ ist die Grenze zwischen emotionaler Berührung und Klischee nur vom Zuschauer selbst zu ziehen. Und das Spiel der sprachlichen Maskierungen bei Comedy-Filmen wie Erkan und Stefan entzieht sich bereits dem Ghetto-Diskurs von pride und respect. Das Spiel mit dem Klischee ist höchst problematisch, wo es sich gleichsam kabarettistisch oder mythisch im Kreis herumzudrehen beginnt: den Türken mit seiner „Kanak Spraak“ oder den Straßengangster als Bestandteil ins Repertoire der Pop-Mythologie einzuschreiben (wie gerade wieder in Lars Beckers Kanak Attack) ist nicht viel emanzipativer als das paritätische Besetzen von Nebenrollen in einer Soap Opera
mit den Quoten-Ausländern neben den Quoten-Schwulen etc. Die östereichische Komödie Ilona & Kurti (1991) von Reinhard Schwabenitzky taugte nur höchst bedingt als Satire auf das faule und rassistische Kleinbürgertum. Fiese Mutter und ödipales Söhnchen haben sich ein Häuschen qua Erbschleicherei ergattert, das nun freilich auch die in Jugoslawien aufgewachsene und des Deutschen nicht mächtige Ilona für sich beanspruchen darf. Natürlich setzt sich Ilona durch, und Kurti verliebt sich in sie - die mehr oder minder komische Variante des sexuellen Erlösungsmythos durch den Menschen, die im übrigen den Verleih dazu inspirierte, dem Film noch den Untertitel „Deutsches Mann geil“ zu geben. Während den Erwachsenen gleichsam der Genre-Ausweg eröffnet ist - was durchaus eine Form der cineastischen Befreiung drin kann: Helden, die sich der allzu fürsorglichen Betreuung durch ihre Autoren und Regisseure ein wenig entziehen -, richtet sich das Mitfühlen vor allem auf die Schutzlosesten der Opfer. Der Aspekt des Tragischen ist zunächst die Erfahrung der Einsamkeit; sie zeigt sich etwa bei der Trennung von Geschwistern wie in Christian Baudissins Tadesse: Warum? (1993), in dem der achtjährige Tadesse aus Äthiopien und seine Schwester Nunu von deutschen Adoptiveltern aufgenommen werden, sie aber weit entfernt voneinander leben müssen und sozusagen gutmütig gepeinigt werden, weil von ihnen als Kindern anders als von den Älteren eine vollständige Unterwerfung gefordert wird. Auf ganz andere Weise wird der kindliche Held von Roland Suso Richters Eine Handvoll Gras (2000) Opfer: Man schickt ihn als Drogendealer auf die
Straße, wo er von der neuen Kultur nur lernt, was auf ihrer Schattenseite geschieht. Métissage funktioniert hier beinahe ausschließlich als Negation, zwischen zwei naiven, „heilen“ Welten, der des persischen Dorfes und der der gemütlichen deutschen Proll-Familie. Auf der einen Seite schließt sich da ein Kreis: Die radikale Fremdheit aus den Filmen der siebziger Jahre scheint sich im Schicksal der Kinder zu wiederholen, auf der anderen aber verschließt sich der Film hier auch dem Métissage-Projekt und bricht den alten, unlösbaren Widerspruch von Integration und Rückkehr noch einmal moralisch auf. Denn natürlich sind Métissage-Filme nichts anderes als Heimatfilme, und hinter der Anteilnahme an individuellen Geschichten und der notwendigen Kritik an den herrschenden Verhältnissen liegt, bewusst oder unbewusst, eine Konstruktion der Vorstellung von Heimat. Mainstream
Was der Métissage-Film in seiner Ambivalenz entdeckt, taucht wenig später als eindeutiges Klischee im Mainstream wieder auf. Métissage wird auf diese Weise - wenn auch um den Preis eines Verlustes an wohlfeiler Allgemeinverständlichkeit - zu einem Motor in der Entwicklung der Filmsprache. Und in dieser wird nicht nur gegen den Rassismus und die Ignoranz, gegen Zynismus und Gewalt gesprochen, sondern auch gegen jene semiotische Vereinnahmung, die die Mainstream-Bilderfabrikation vornimmt. Würde man die Gesamtproduktion der Medien als Maßstab verwenden, so wäre
wohl Métissage gar kein wirkliches Problem mehr; Talkshows und Unterhaltung indes repräsentieren vor allem Menschen, die zum einen den Vorgaben des Mainstreams weitgehend über-entsprechen und zweitens eben jenen Transformationsvorgang vollständig hinter sich gebracht haben, vollständig verpuppt und in ihrer neuen Kultur „wiedergeboren“ worden sind. Der Rest muss sich eine sozialdemokratische Problematisierung gefallen lassen wie in der „Lindenstraße“, und sogar aus dem Kino der Fremdheit ist in den neunziger Jahren eine Art Mainstream-Variante entwickelt worden, die wie in Eine unmögliche Hochzeit (Horst Johann Sczerba, 1996 ) Elemente der Beziehungskomödie mit solchen des filmischen AsylPlädoyers verbindet. Diese Mainstream-Métissage freilich verweigert sich vollständig dem Blick in die neuen Ghettos, verweigert sich auch der Mehrschichtigkeit der kulturellen Transformation, die nur aus vorläufigen und fragmentarischen Akten bestehen kann, solange kein Projekt für eine in der Tat offene Gesellschaft existiert. Sie favorisiert (wie übrigens auch der amerikanische Konsens) die doppelte Transformation der Verwandlung vom Fremden in das Eingemeindete, und vom Ghetto-Bewohner in den Kleinbürger. Dass nicht einmal die nicht gerade luxuriöse Lindenstraße auch nur eine Mehrheit der Menschen aufnehmen kann, die in zwei Kulturen leben (was mittlerweile vor allem heißen muß: in zwei Kulturen der Armut), scheint nach wie vor so sehr tabuisiert, dass man das Ghetto immer noch als jenen exotisch-dramatischen Ort beschreibt, den der „glückliche“ unter den Métissage-Menschen verlässt (so wie
Scorseses Helden ihr Ghetto zu verlassen trachten). Freilich ist die Aufnahme in das Neue Bürgertum so begrenzt, und der Hass des alten Bürgertums so einflussreich, dass das Ghetto der Métissage in der Zukunft wachsen wird. Während die Bilderfabrik von einstmaligen „Fremden“ träumt, die das Ghetto der Métissage verlassen, treibt umgekehrt die soziale Wirklichkeit immer mehr „Einheimische“ in dieses Ghetto und erweitert eine Terra Inkognita der postindustriellen Gesellschaften, für die es nicht Blick und Begriff zu geben scheint. Wo auf der einen Seite das Klischee lauert, da ist andrerseits die Depression wie in Thomas Arslans Dealer (1998), wo der Held gleichsam nur noch obendrein türkischer Abstammung ist, was seine Ausweglosigkeit zwischen Gangstern, Polizisten und einem tristen Berliner Wohnviertel unterstreicht. In Geschwister, dem ersten Teil der geplanten Trilogie, hat Arslan die Optionen eröffnet, unmögliche Anpassung, unmögliche Rückkehr, unmögliche Existenz in der Straßenkultur des Ghettos. Klassenkampf
Es ist ein europäischer Prozess, der da verhandelt wird, und doch gibt es sehr unterschiedliche Arten, wie sich in den einzelnen Gesellschaften dieser Prozess vollzieht. Das beginnt mit der Gesetzgebung und hört noch nicht mit der politischen Produktion eines xenophoben Klimas und rassistischer Gewalt auf. Der Métissage-Film erzählt daher nicht nur vom komplizierten Innenleben einer neuen Kultur innerhalb der
europäischen Gesellschaften, sondern auch vom strukturellen Wandel dieser Gesellschaften. So politisiert sich dieses „Genre“ nicht allein im Hinblick auf Rassismus und Gleichgültigkeit, sondern auch zur Reinvention des Klassenkampfes. So erzählt Pummarò (Der lange Weg nach Norden, 1990), das Regie- Debüt des Schauspielers Michele Placido, von dem Ghanesen Kwabu, der in Süditalien mit Hilfe seines älteren Bruders Giobbe mit dem Spitznamen „Pummarò“ (der neapolitanische Ausdruck für Tomate) Arbeit bei der Tomatenernte finden will. Der aber ist ins Fadenkreuz der Camorra geraten, weil er sich einem ihrer Bosse nicht gefügt hat, und verschwunden. So folgt Kwabu der Spur seines flüchtenden Bruders, gelangt in Rom an die Geliebte des Bruders, Nanou, die als Prostituierte arbeiten muss, obwohl sie schwanger ist; in Verona lernt er die Lehrerin Eleonora kennen und verliebt sich in sie, aber die Beziehung zerbricht an den rassistischen Vorurteilen ihrer Familie, und schließlich werden die beiden noch von einer Gang angegriffen. Kwabu erfährt, dass sein Bruder in einem Hotel in Frankfurt arbeitet; noch am Bahnhof wird er von der deutschen Polizei als vermeintlicher Drogendealer verhaftet und wird schließlich zur Leiche seines Bruders geführt. Jede Station seiner Odyssee bringt einen Schub von Desillusionierung über das verheißene Land. Diese Bewegung ist zugleich die des Regisseurs auf der Suche nach einem Phänomen, das er nach seinem eigenen Eingeständnis vorher ebenso verdrängt hatte wie seine Landsleute und das er mit wohlfeilen, durchaus „rassistischen“ Klischees überdeckte. Pummarò, der die Schwarzarbeit eben nicht nur als Problem
der Immigration, sondern auch als eines der inneren Verfassung einer Gesellschaft begreift, macht den Métissage-Film zum Erben des Neorealismus. Hier ist auch der Film Attention fragile (Vorsicht zerbrechlich, 1994) von Manuel Poirier zu nennen. Er schildert eine Gruppe von jungen Provinzlern, die nach Paris kommen und erst aus ihrer Lethargie erwachen, als sie vom Tod eines algerischen Schülers erfahren und daraus wieder so etwas wie ein politisches Bewusstsein entwickeln. So wie durch den Métissage-Film ein neuer „Heimatfilm“ entstehen kann, wie in Poiriers Bretagne-Film Western (1997), so entsteht durch das Motiv auch ein neues „politisches“ Kino, das noch in einer erneuten Umkehr der Perspektive, wie in Bruno Dumonts La Vie de Jesus, wirksam ist. Geschichten
Die Frage, ob der Métissage-Film ein Genre oder nur eine cineastische „Schnittstelle“ darstellt, ist augenblicklich wohl noch nicht zu beantworten. Für die Annahme des ersteren spricht, dass es eine Ikonografie gibt, die die Filme untereinander verbindet, und dass sich ein narratives Repertoire bildete: Die Métissage-Liebesgeschichte. Die Frau ist die doppelt Fremde in der Kultur der Métissage. „Frau immer Angst“, sagt die Heldin von Shirins Hochzeit, die von den Männern der eigenen Kultur ebenso wie von denen der neuen bedroht ist.
Bleibt die Hoffnung der Liebe, oder ist sie nur das Märchen zur Métissage? Einmal in der Form von Verzweiflung und Fremde wie D‘Amour et d‘eau salé (Yasmina, die Liebe und das Meer, 1996) von Edwin Baily, die Liebesgeschichte zwischen einem Bahnangestellten und einer Algerierin, die bald in ihr Heimatland zurückkehren muss. Lovers (1999) von Jean-Marc Barr überträgt die Dogma-Regeln auf eine Liebesgeschichte zwischen einem Jugoslawen ohne Aufenthaltsgenehmigung und einer Pariserin. Das andere Mal in der Form einer Eroberung eines Raumes für die Liebe in der Métissage-Kultur, die an der Grausamkeit der Umwelt zu scheitern droht, wie in Refuge (Flucht, 1997) von Alex Pillai, der von einer bengalischen Familie in Nordengland erzählt. Als sich die junge Shikha in der Schule in einen Moslem verliebt, sperrt ihr Vater sie ein und verbietet ihr, auf die Universität zu gehen. Sie soll dagegen einen von den Eltern ausgesuchten Mann heiraten. Nur die Flucht aus ihrer Familie kann ihr ein neues Leben bringen. Die Geschichte von der Suche nach dem Verwandten und die Gegenüberstellung des naiven und hoffnungsvollen Neuankömmlings mit dem bereits desillusionierten, korrupten oder verzweifelten Adaptierten: Le Thé à la menthe (Pfefferminztee, 1984) von Abdelkrim Bahlouf erzählt von einem jungen Algerier in Paris, der seinen Leuten zu Hause von seinem Glück berichtet: Er lässt sich am Montmartre vor einem Auto fotografieren und schreibt darunter: „Ich und mein neues Auto“. Als aber dann seine Mutter nach Frankreich kommt, um dieses neue Auto einmal in Wirklichkeit zu sehen, flüchtet Hamou und lässt die Mutter, die kein Wort
Französisch versteht, in der Stadt allein. In Ett Paradis utan billjard (Ein Paradies ohne Billard, 1991) von Carlo Barsotti geht es um einen Gastarbeiter im Schweden der fünfziger Jahre, der in seinen Briefen an seine Freunde daheim von den Sozialleistungen und den Mädchen schwärmt. Höchstens das Billardspiel vermisst er. So macht sich der junge Giuseppe aus dem kleinen Dorf auf den Weg und findet eine Welt vor, die nic (Ein Paradies ohne Billard, 1991) von Carlo Barsotti geht es um einen Gastarbeiter im Schweden der fünfziger Jahre, der in seinen Briefen an seine Freunde daheim von den Sozialleistungen und den Mädchen schwärmt. Höchstens das Billardspiel vermisst er. So macht sich der junge Giuseppe aus dem kleinen Dorf auf den Weg und findet eine Welt vor, die nichts Paradiesisches an sich hat, von den Barackenlagern bis zu den blonden Mädchen, die nicht so verständnisvoll sind, wie sein Freund ihm das geschildert hat. Ein Meisterwerk dieses Subgenres gelang Merzak Allouache mit Salut Cousin! (1996), der Geschichte eines naiven jungen Algeriers, der seinem Vetter in Paris einige Tage folgt, durch Lügenmärchen, verrückte Träume und den Alltag der Métissage. Allouache gelingt zugleich eine menschliche Komödie und ein Essay über Stereotypen. Die Geschichte einer Flucht, eines Versuches, illegal ins Land zu kommen. Der österreichische Film Susie Washington (1997) von Florian Flicker schildert die Flucht einer russischen Frau ohne Papiere und Geld durch das Alpenland, Die polnische Braut (1999) von Karim B. Traidia die Liebe zwischen einem holländischen Bauern und einer polnischen Frau auf der Flucht vor ihren Zuhältern. Der Gefahr, nun schon wieder so
etwas wie Métissage-Kitsch zu produzieren, widerstehen beide Filme nicht. Winterblume (1996) von Kadir Sözen erzählt, wie ein ausgewiesener türkischer Immigrant auf illegalem Wege wieder zurück zu seiner Familie in Deutschland gelangen will und dabei den Tod findet. Wie fortgeschritten der Prozess der Métissage auch sein mag, der staatlichen und gesellschaftlichen Willkür sind ihre Protagonisten noch stets ausgesetzt. Die Schilderung einer Familiensituation, die von einem so grausamen Porträt wie in Tevfik Basers 40 qm Deutschland bis zu einer liebevoll biografischen Geste, etwa bei Thomas Arslan oder zur Geste gegen das Schweigen wie in Fern (1997) von Miraz Bezar reicht. Die Geschichte einer dramatischen (oder auch komischen) Rückkehr, und sei es eine kurze Begegnung, die die verdrängte Frage nach den Métissage-Wurzeln wieder aufwirft, wie etwa in L‘autre côté de la mer (1997) von Dominique Cabrera, der in einer, Krankheitsgeschichte die Begnung eines algerischen Franzosen mit einem französischen Algerier schildert. Der Ghetto- und Banlieue-Film, der mit Héxagone von Malik Chibane 1993 einen ersten kritischen Erfolg erlebte und sich um die Streetgang wie in Cour interdite (1998) von Djamel Ouahab oder um die Musik wie in Nés quelque part (1997) von Malik Chibane konzentriert. Die historische Legende - etwa in Le Brasier (Höllenglut, 1990) von Eric Barbier, der die Geschichte eines polnischen Einwanderers und seiner Familie in den dreißiger Jahren er-
zählt, und die Konflikte, die sich nach den Jahren ergeben, als die Arbeit knapp und Fremdenhass politisch produziert wird. Der Traum vom Weggehen. Gleichsam in Umkehrung oder Vorahnung erzählen Filme von der leidenden Region, aus der die Auswanderer kommen, von den Träumen der Jungen und den ersten Begegnungen mit der verheißenen Mega-Kultur. So gibt es schließlich kaum noch filmische Erzählungen aus Algerien, Albanien, Ghana usw., die nicht zumindest am Rande vom Traum des Weggehens handeln. epd Film 12/2000
DAS KINO UND DIE KATASTROPHE FILMISCHE SCHRECKENSPHANTASIEN
UND DIE MEDIALE
WIRKLICHKEIT
Die Katastrophe, das Flugzeug-Attentat auf die beiden Türme des World Trade Centers, schien in ihrem Ausmaß, nicht aber in ihrer Form „unvorstellbar“. Sie hat uns das Gefühl eines historischen Bruchs, eines „Es wird nie wieder so sein wie vorher“ gegeben. Aber dieser großen Katastrophe folgten innerhalb kurzer Zeit weitere Katastrophen, die sich vielleicht begrenzter, vielleicht histo-risch folgenloser zeigen: In Toulouse explodierte eine Chemiefabrik, in der Schweiz tötete ein Amokläufer eine Anzahl Menschen inmitten einer Institution der Demokratie, über dem Schwarzen Meer wurde eine Passagiermaschine (möglicherweise) von einer fehlgeleiteten Rakete zerstört, und in Mailand mussten über 100 Menschen sterben, weil sich menschliche Fehlleistung und unzureichende Technik multiplizierten. Auf die große Katastrophe, die einen Bruch in der Geschichte zu bedeuten schien, folgten andere, die ganz ähnliche Bilder erzeugten und die das Katastrophische der Welt sogleich fortschrieben ins beinahe Alltägliche, Fatale. So wie uns die Nachrichten von diesen Katastrophen übermittelt wurden, konnte sich kaum jemand eines furchtbaren Déja-vu- Erlebnisses erwehren: Wir kennen all das, gewissermaßen in beinahe identischen Bildern aus dem Kino. Wir ha-
ben die Katastrophen, die uns da ganz tief in unserer Kultur, in unserer Seele treffen, schon gesehen: die zum Stahlskelett zerstörten Gebäude in New York und Toulouse, die flüchtenden Menschen, die nicht begreifen können, was ihnen geschieht, der Todesrausch von Tätern, die ihr Band zur Menschlichkeit zerschnitten haben, das Flugzeug, das zur tödlichen Falle wird. Wir haben, wenn man so will, immer schon „gewusst“, was da geschehen ist. Willkürlich sind nur Ort und Zeitpunkt. Aber wir kennen nicht nur die Bilder, wir kennen nicht nur die Empfindungen der Zeugenschaft: Von den Fernsehbildern aus New York wurde als erstes die Verwandtschaft mit den Hollywood-Katastrophenfilmen wie The Towering Inferno konstatiert, wie in einem „kaputten Science-Fiction-Film“ empfand ein Zeuge das Geschehen in Toulouse, „es war wie ein Horrorfilm“, meinte jemand in Zug, und ein Zeuge in Mailand gestand unter Schock, er sei geflüchtet, weil er „diesen Film nicht sehen“ wollte. Wir kennen aus dem Kino sogar Szenarien, Hintergründe und „Autoren“ dieser vier Arten von Katastrophen, die physikalische Zerstörung mit dem gewaltsamen Tod unschuldiger Menschen verbinden. Wir kennen das Attentat von Terroristen, die Katastrophe, die durch Profitgier und Leichtsinn ausgelöst wird, den blutigen Amoklauf des psychisch kranken Menschen mitten im Herzen der Gesellschaft und das militärisch-technische System, das selbst die Katastrophe auslöst, vor der es uns bewahren sollte. Von diesen „Autoren“ der Katastrophe haben wir alle erdenklichen Geschichten erzählt und alle erdenklichen Porträts entworfen. Es kann gar nicht anders sein, als dass es die heftigsten Über-
einstimmungen zwischen unseren Erzählmaschinen und der Wirklichkeit gibt. Die Grenzen zwischen den verschiedenen Szenarien und den Schuldigen im Zentrum sind dabei fließend. Aber es gibt vier apokalyptische Reiter in unseren Katastrophenträumen, die ein Netz der Angst über unser alltägliches Leben legen. Bin Ladens Drohung geht ins Leere: Wir haben uns nie sicher gefühlt. Wir ahnen, was all diese Katastrophen miteinander verbindet: Sie sind unberechenbar und zugleich unausweichlich. Es sind Indikationen der schwachen Stellen eines ökonomisch-technischen und militärisch-exekutiven Systems, die sich nicht schließen lassen, ohne das System selbst, so oder so, radikal zu verändern. Was die Katastrophe auf der tieferen Struktur bestimmt, ist das, was im Sinne von Alexander Kluge das Vertrauen zwischen den Menschen und ihrer Ordnung ausmacht. Daher werden diese Schwachstellen, diese eingebauten Katastrophen, in unseren Gesellschaften kaum rational diskutiert; wie alles, was unser Misstrauen und den Zweifel am eigenen System anbelangt, haben wir es stattdessen in unsere Art des kollektiven Unterbewusstseins, in die Fiktionsfabrikation der Medien und hier modellhaft des Kinos verschoben. Das Kino als Form unseres kollektiven Unterbewusstseins weiß um unsere Verwundbarkeit, aber zugleich bannt es dieses Wissen. Es ist im Mythos, in einer Bewegung der Angstlust, in der Konstruktion der Rettung - und sei‘s in letzter Sekunde - aufgehoben. Aber unsere Katastrophenphantasie ist so manisch, dass diese Aufhebung nicht vollständig gelingt. Immer wieder brechen die Grenzen zwischen der Fiktion und der Realität
an unerwarteten Stellen zusammen. Der wirkliche Schrecken überholt den fabrizierten Traum, eines imitiert das andere. D a s K ino und die Katastrophenphantasie
„Nur das Kino“, hat Susan Sontag in „Die Katastrophenphantasie“ geschrieben, „lässt uns unseren eigenen Tod, mehr noch, den Tod ganzer Städte, ja die Vernichtung der Menschheit in der Phantasie miterleben.“ Den eigenen Tod erleben wir sozusagen regelmäßig, in jedem Krimi, in jedem Actionfilm. Den Tod der Städte zum Beispiel in Bibelfilmen und Science-Fiction, und schon Titel wie Der Tag, an dem die Erde Feuer fing oder Der jüngste Tag sprechen von einer Kontinuität zwischen beidem: Die Menschheit wird vernichtet in Endzeitfilmen und den Last-Warning-Parabeln, aber nie alles auf einmal. Zwischen dem Ich und der Stadt ist die Familie, zwischen der Stadt und der Menschheit die Idee, die gerettet werden kann, und der Untergang der Menschheit gestattet in der Regel immer einige Überlebende, Zeugen und Neubeginner. Diese Katastrophenphantasie, die immer zugleich etwas mit der „Schönheit“ des Destruktiven zu tun hatte und mit der mehr oder weniger komplexen Konstruktion von Rettungsmöglichkeiten, reicht von den Stummfilmen in Italien (Cabiria, 1914) und den USA (Intolerance, 1916) über die finsteren Destruktionsorgien der dreißiger Jahre bis zu den Invasions- und Vernichtungsphantasien der Science-Fiction in der Zeit des stählernen Lächelns nach dem Zweiten Weltkrieg. Und so unterschiedlich sich diese cineastischen Kata-
strophenphantasien auch zeigen mögen, sie sind verbunden miteinander durch eine innere Dramaturgie, in der eine sehr reale, sehr materielle Furcht sich auflöst in einem biblischen Gleichnis oder einer melodramatischen Metapher. Gewonnen werden kann, wenn nicht das Leben, so doch das Symbol. Oder umgekehrt. Aber die Katastrophenphantasie des Kinos transportiert noch etwas anderes: ein Wissen um die Verletzlichkeit, hier und dort vielleicht sogar die Falschheit unseres Systems. Die Bewegung reicht da vom biblischen Gleichnis bis hin zur neuen Spiritualität - die Katastrophe ist dann erneut, wenn auch in Form der Aliens, vom Himmel gekommen. Das Bild der Katastrophe kann in der Vergangenheit eingeschrieben sein (die Katastrophe als Mythos, auf den sich andere Katastrophenerfahrungen beziehen lassen), aber auch als mögliche Gegenwart wie im Genre des Katastrophenfilms oder in der Zukunft. Der Zusammenbruch unserer Kultur ist sozusagen vollständig ausgeträumt; das reicht vom Planet der Affen bis zu den Endzeitfilmen, in denen die Modernisierung, der sich die Katastrophe immer verdanken muss, einigermaßen nachhaltig rückgängig gemacht wurde und etwas zwischen neuem Mittelalter und Posthistoire ermöglicht. Entscheidend allerdings ist, das sehen wir ein wenig komplexer in Twelve Monkeys, dass die Katastrophe selbst auch weitgehend die Erinnerung an die Zeit vorher auslöscht. Es gibt keine Katastrophe, die nicht auch eine Katastrophe der Kultur wäre.
Die zyklische Wiede rkehr
Die Katastrophenphantasie ist dem Film und seiner Geschichte eingeschrieben. Aber sie war vorher schon jeder Art der kollektiven Bearbeitung, der Erzählgemeinschaften eingeschrieben. Jede Katastrophe in der Geschichte der Menschen ist unvergleichlich, und jede wird sofort mit einer anderen verglichen, um sie Teil der Erzählung zu machen. Mochte es einst der Heilige Text oder die Gründungslegende gewesen sein, auf die sich alles Katastrophische als Wiederkehr einer Ur-Katastrophe bezieht, so mag nach dem Zusammenbruch der großen Erzählungen eine solche Matrix von den Produkten der populären Kultur erzeugt werden. Mit einer furchtbaren Konsequenz: Aus der zentralen mythischen Katastrophe musste dabei die Katastrophensequenz, die Serienkatastrophe werden. Das Erzählen (in Bildern) katastrophisierte sich in gewisser Weise selbst. Gibt es eine Sehnsucht nach dem Bild der Katastrophe? Offensichtlich möchte das Publikum nicht nur den siegreichen Helden und das liebende Paar sehen, sondern auch den Einsturz des Turms von Babel, die sieben Plagen, die Sintflut und den Weltuntergang. Es gibt dafür eine Reihe von Erklärungen. Das zyklische Auftauchen besonders heftiger und populärer Katastrophenbilder ist in der soziologischen Betrachtungsweise einigermaßen offensichtlich etwa an die Wirtschaftskrisen gebunden. Sie begleiten die Krisenjahre nach dem Schwarzen Freitag bis zum New Deal ebenso wie zwischen Ölkrise und
Börsencrash. Andernorts lassen sich die Katastrophenbilder der populären Kultur an der Kriegsfurcht festmachen oder an heftigen Schüben der technologischen Entwicklung. An ihr haben eine Mehrzahl der Menschen nicht teil, weshalb der Beginn des Computerzeitalters und die Entwicklung der GenTechnologie von Wellen diesbezüglicher Katastrophen- und Horrorfilme begleitet werden. Mit Katastrophenangst in die Welt zu sehen, ist konsequent für eine Gesellschaft, die sich beständig über sich selbst hinaus entwickelt. Katastrophen, lange Zeit vom Supercomputer ausgelöst, der selbstständig Krieg führen konnte, können nun auch von Kindern ausgelöst werden, die die Militärmaschinerie in Bewegung setzen (War Games, 1982). Der Komplex MenschMaschine-Künstliche Intelligenz und Cyberspace wird als Katastrophe gedeutet (von Terminator, 1984, bis „A.I.“ , 2001), aber auch der Diskurs über Genmanipulation und Eingriffe ins Leben selbst. Immer „kleinere“ und unsichtbarere Faktoren lösen immer größere verheerende Wirkungen aus. Oft, wie in Renny Harlins Deep Blue Sea (1999), ist die physikalische Katastrophe erst der Anfang, der eine tiefere, innere Katastrophe auslöst: Hier hat man in einem Unterwasserlabor genetisch manipulierte Haie erzeugt, um aus ihrem Körper ein Mittel gegen die Alzheimer-Krankheit zu gewinnen. Ein Sturm, ein Helikopter-Absturz und eine Explosion befreit die teuflisch intelligent gewordenen Tiere, die nun die Besatzung des Labors dezimieren. Wenn in den Die Hard-Filmen die Terroristen ihre furchtbaren Attentate immer vorwiegend als Ablenkungsmanöver planen, um „gewöhnliche“ Millionen-
diebstähle zu organisieren, so scheint in Filmen wie diesen die „alte“ Katastrophe nur noch Signal für ein monströses und metaphysisches Innenleben der Katastrophenphantasie. Der Bezugspunkt für die Katastrophen veränderte sich dabei so sehr wie ihre Gestalt. In der Pionierzeit des Films führten Cabiria oder Intolerance in die Vorzeit oder ins Mythische. Das wiederholte sich in der Katastrophenwelle der dreißiger Jahre nur zum Teil; zwar wurde auch hier eine neue Variation von „Die letzten Tage von Pompeji“ produziert, aber auf der anderen Seite gab es nun auch schon Eingriffe der modernen Wissenschaft, und King Kong führte direkt nach New York einer der ersten Kurzschlüsse zwischen der mythischen Katastrophe und der alltäglichen Wirklichkeit. Wiederum 20 Jahre später, Mitte der fünfziger Jahre, lebte man vorwiegend in einer Invasionsfurcht: The War of the Worlds (nach H.G. Wells, 1953) übertraf den Schrecken des Weltkrieges. Bei vielen Filmen fiel es auch allzu leicht, in den destruktiven Aliens einen Angriff der Kommunisten zu sehen. Die stark konturierte Gestalt aus der Vorzeit, wie King Kong, wich als Urheber der Katastrophe nun einer amorphen, vielfach maskierten Gefahr. 40 Jahre später waren die Fronten nicht mehr so einfach zu ziehen. Terroristen von ebenso unklarer Herkunft wie Absicht übernahmen Herzstücke der Zivilisation, neue Invasionen drohten in Filmen wie Independence Day, und wieder näherten sich Meteore in rasender Geschwindigkeit und warfen ihre Schatten über einen urbanen Lebensraum, der sich seiner eigenen Bewohnbarkeit nicht sicher ist.
In diesen Wellen der Desaster-Movies wird in erster Linie das Vertrauen verhandelt, das zwischen dem Menschen, seiner Dingwelt und seiner Ordnung entwickelt und neu gestaltet werden muss. In der Frühzeit machte der Skyscraper Angst, weil er selbst in der Lage ist, den Menschen zu vereinnahmen oder auszuspucken (wie Harold Lloyd, der an seiner Fassade herumklettern muss), die „Stadt als Moloch“ ist nicht mit dem Expressionismus verschwunden, geheimnisvolle Stockwerke tun sich auf, Fahrstühle spielen verrückt etc. In der zweiten Phase ist die urbane Architektur selbst das Ziel und die Falle, das Symbol an dem man scheitern muss (noch in Hudsucker Proxy von den Coen Brothers) und dies verwandelt sich in der dritten Phase in das scheiternde Symbol, das nicht funktionierende Gemeinwesen, das zu viel und nicht genug „Festung“ ist. Es wird schließlich zum Symbol des Scheiterns. Die Ur-Katastrophe ist die entfesselte Natur, die sich gegen das Zentrum der Zivilisation richtet. Das Monster, das die Stadt zertrampelt, nachdem King Kong nur darin gewütet und herumgeklettert war, zeigt Panik in New York (Eugène Lourie, 1953): ein Riesensaurier, der durch eine Atombombenexplosion aus dem ewigen Eis aufgetaut wird und ganze Stadtteile von New York vernichtet. Der Film wurde zum Vorbild vieler japanischer Godzilla-Filme, in denen es immer wieder darum geht, eine wehrlose Stadt zu zertrampeln. 1959 folgt mit Gorgo eine ganz ähnliche Zerstörung von London. Doch das Ungeheuer ist hier selbst unschuldig, es ist auf der Suche nach seinem Kind, das in einem Zirkus ausgestellt wird. All diese Monster, die Städte, Flugzeuge und Schiffe zerstörten,
wurden mit einer gewissen Zärtlichkeit gesehen. Auch dieser Blick des faszinierten Mitleids verlor sich schon im Katastrophenfilm der siebziger Jahre; er wird auch nicht wiederholt etwa in Emmerichs neuem Godzilla-Film oder in der dritten Jurassic Park-Variation. Die Monster, die nun die Stadt angreifen, haben etwas vom absolut Bösen zurückerhalten. Die nackten Stahlgerüste der von dem Urwelttier zerstörten New Yorker Hochhäuser erscheinen lebendiger und „trauriger“ als das Monster. Ein durchgeknallter Kleinbürger wie Michael Douglas kann sich in Falling Down (Joel Schumacher, 1992) jederzeit mit einer Panzerfaust bewaffnen. Der Kreis ist geschlossen: Der Kleinbürger mit nichts als einer unbändigen Sehnsucht nach Normalität verwandelt sich zuerst in den Terroristen und dann in das Monster, das zwischen Liebe und Zerstörung nicht unterscheiden kann. Und im Zyklus der Katastrophenphantasie haben wir mehr und mehr unseren Blick von der Verzweiflung der Opfer und möglicherweise der Täter fort und auf die technisch-symbolischen Details der Zerstörung selbst geleitet. Das Leiden der Menschen, so scheint es, ist nur noch Symptom der Katastrophe, nicht mehr ihr Wesen. Nun wäre es falsch zu glauben, in der Zeit zwischen diesen Wellen der manifesten Katastrophenphantasien sei die Welt im Kino positiver oder auch nur weniger apokalyptisch gewesen. Der Schrecken scheint, wie im Film noir der vierziger Jahre, dem Psychothriller der sechziger Jahre oder dem Serienmörder-Film der achtziger Jahre, in diesen Phasen nur intimisiert, vom technischen Objekt auf das Innenleben von Familie und Paar verschoben, oder, anders gesagt, vom Ding auf den Kör-
per. Der Weltuntergang ist beschlossene Sache. Die Frage ist nur, wo er beginnt, in der Seele eines kranken Menschen oder in der Verschwörung außenseitiger Mächte, im unergründlichen Wesen des menschlichen Denkens und Empfindens oder in einer Technik, die Hybris und Begehren ausdrückt - und irgendwo nicht mehr zu kontrollieren ist. Doch je näher uns die Katastrophe kommt, desto mehr wollen wir dann doch gerettet werden, desto mehr verschwimmt die Metaphysik. Neben den üblichen Science-Fiction- und Kriegsfilmen, die das Ende oder Beinahe-Ende der Welt in einem neuerlichen Atombombenabwurf sahen, zeigten Filme wie The China Syndrome (1978) auch die möglichen Gefahren von ziviler Nutzung. Viren mussten bald nicht mehr aus dem Weltraum kommen wie in Andromeda (Robert Wise, 1970), sie folgten natürlichen und kulturellen Übersprüngen wie Aids oder gar dem fahrlässigen Umgang wie mit dem Ebola-Virus. Aber auch hier schon spielte sich zumindest am Rande immer eine Auseinandersetzung zwischen skrupellosen Terroristen auf der einen und ignoranten und unfähigen Militärs auf der anderen Seite ab. In dem Virenthriller Outbreak (1995) von Wolfgang Petersen wiederholt sich noch einmal die Konstruktion des Katastrophenfilms aus den siebziger Jahren: Die „Lösung“ steht als intimistischer Zufall in keinem Verhältnis zur „Realität“ der Bedrohung. Wenn man sich diese Konstruktion genauer ansieht, kann man wohl sagen, dass wir zwar träumen, gerettet zu werden, aber nicht unbedingt, dass die Welt gerettet wird.
Viel genauer hat 1972 George A. Romero die vollkommen „denkbare“ Katastrophe in The Crazies beschrieben. Ein mit Krankheitserregern zur bakteriologischen Kriegsführung beladenes Flugzeug der Armee stürzt in der Nähe der Kleinstadt Evans City in Pennsylvania ab, was zu ungeheuer blutigen Auseinandersetzungen zwischen der Armee und den Bewohnern der Stadt führt. Niemand kann mehr eindeutig sagen, ob der Nachbar oder das Familienmitglied noch normal oder schon vom Wahnsinn befallen ist. Schon ist man bereit, eine Atombombe auf die Stadt zu werfen, als die Nachricht kommt, der Virus sei bereits an einem anderem Ort aufgetaucht. Was in den anderen Filmen latent vorhanden ist, wird hier manifest: die Kritik an einem militärisch-wissenschaftlichen Apparat, der die Menschen mit dem perfidesten aller Mittel bedroht: der Krankheit. Die Katastrophe als Genre
Offensichtlich kommt die Katastrophenphantasie zyklisch über das Medium, und es scheint die Traumfabrik in Amerika zu sein, die für sie besonders anfällig ist. Aber es gibt doch eine Zäsur, die diese Phantasie nachhaltig veränderte. Zu Beginn der siebziger Jahre deutete sich mit dem enormen Publikumserfolg zweier Filme ein fundamentaler Perspektivwechsel an. Airport (1970), die Geschichte einer Bombenexplosion in einem Flugzeug, und Die Höllenfahrt der Poseidon (1972), die Geschichte einer Reise durch ein sinkendes Schiff, spielten zwar mit der Wahrnehmung von Geschwindigkeit auf einem
filmtechnisch hohen Niveau, aber die Katastrophe war dem Leben des Zuschauers so nahe wie nie zuvor. 1974, als sich das Ende des Vietnamkriegs abzeichnete und Amerika unter einer wirtschaftlichen Rezession, unter politischen Eruptionen und einem allgemeinen Gefühl des Niedergangs litt, begann mit Filmen wie Earthquake (Erdbeben, 1974) und The Towering Inferno (Flammendes Inferno, 1974) eine Welle von Filmen, die die Katastrophe selbst zum Zentrum hatten. Lawinen (Avalanche, 1978), Killerbienen (Der tödliche Schwarm, 1978), Feuerkäfer (The Bug, 1975) und neuerliche Flugzeugkatastrophen in Fortsetzungen zu Airport folgten. Der Höhepunkt und eine neuerliche Tranformation des „Genres“ war dann Steven Spielbergs Jaws (Der weisse Hai, 1975), der herauskam, als der Fall von Saigon gerade sechs Wochen vorbei war. Im Gegensatz zu den eher metaphorischen Science-FictionInvasions- und Weltuntergangsfilmen war der Katastrophenfilm direkt an die Gesellschaft gerichtet und wurde selbst von unpolitischen Zuschauern als „Kritik“ gedeutet. Die Angst war nicht mehr auf die Vergangenheit und den Mythos projiziert. Man konnte das Kino verlassen, und da draußen, in der Wirklichkeit, war die Katastrophe, die man gerade im dunklen Raum überstanden hatte, immer noch wahrscheinlich. Dieses Genre brachte Hollywood einen ökonomischen Erfolg, der für eine gewisse Zeit vergessen ließ, dass die Bildermaschine selbst in einer tiefgreifenden Krise steckte. Flammendes Inferno spielte in sieben Wochen 32 Millionen Dollar ein, Erdbeben brachte in drei Monaten mit 35 Millionen
fünfmal die Produktionskosten ein, und Der weisse Hai wurde der kassenträchtigste Film überhaupt. Es entstand damals ein tiefer Dissens zwischen der Kritik und den Zuschauern. Beinahe alle Kritiker der großen Zeitungen hatten nicht nur einzelne Filme, sondern das ganze Genre verdammt oder es wenigstens auf die schnelle „Triebabfuhr“ reduziert, mit der eine auch moralisch marode Produktion ihr Geld mit Zerstörung machte (wie Pauline Kael süffisant anmerkte). Aber ganz so einfach war die Sache nicht. Mit dem zähen Erfolg der Katastrophenfilme änderte sich schließlich auch der Ton der Kritik. Abgesehen davon, dass man sie als Monumente der Rückwärtsgewandtheit beschrieb, wurden sie nun auch als soziale Protokolle gedeutet, als Fieberindikationen der nationalen Befindlichkeit. Greil Marcus vom „Rolling Stone“ machte sich schon lustig über die Eilfertigkeit, mit der Journalisten und Öffentlichkeit die Filme der „Untergang Amerikas“-Mode als „nationale Metaphern“ feierten. Vergebens: Der Katastrophenfilm hatte nicht nur einen neuen Blick auf die Zerstörung als solche und eine regressive, manchmal unerträglich bigotte „Moral“ produziert, sondern auch eine neue Beziehung zwischen Kino und Nation. Burt Lancaster hat das einmal eher resigniert auf den Punkt gebracht: „Filme sind heute nicht mehr märchenhafte Erzählungen, sondern sie können die Welt verändern“. Dieser Verlust der Unschuld unterscheidet auch die Katastrophenphantasien vom immer wieder untergehenden Atlantis und Sodom und Gomorrha vom wirklichen Katastrophenfilm. Die Politik jedenfalls ließ sich den Einfluss, der ihr im Katastrophenfilm
„geschenkt“ wurde, nicht mehr nehmen. Amerikanische Präsidenten tendierten dazu, sich in bestimmten Filmen bestätigt zu sehen oder sie der Öffentlichkeit zu empfehlen. Es gab die nixonianischen, die carteristischen, die reaganschen Filme, und jede dieser Tendenzen enthielt ein Konzept der Selbstvergewisserung zwischen Katastrophe und Aufbauwillen. Umgekehrt freilich gab es auch einen Kampf der Politik gegen den unliebsamen (meist „linken“) Impuls aus Hollywood: Paul Newman etwa empfand es als die „höchste Auszeichnung seines Lebens“, dass er auf der „Feindesliste“ von Richard Nixon auf dem 19. Platz lag. Seit Ende der siebziger Jahre entstand eine weitere Verzahnung zwischen Hollywood und der Politik; das „Flammende Inferno“, der „weiße Hai“, der Exorzist, Rambo, Star Wars usw. wurden auch Teile der politischen „Sprache“, von der politischen Karikatur bis zum Wahlkampf. Der weiße Hai tauchte als Jobkiller, der Gigant am Himmel als führerlose Wirtschaftspolitik auf, und der Slogan machte die Runde: „Don‘t impeach Nixon, Exorzise him“. Der Bruch wurde schließlich in Coppolas Der Pate mit dem Satz des Mafia-Paten „I believe in America“ in eine verstörende Ambivalenz übertragen: Auch das Gangstertum als permanente Katastrophe wird in die Nation eingeschrieben. Moralisch gesehen ist das Genre - und mehr noch sein technischer als sein melodramatischer Teil - durchaus zwiespältig. Es war ja die Technik des Kinos, die das Zerstörungswerk möglich machte, das Kino selbst zeigte nicht nur das Desaster,
es war auch selbst Täter und Terrorist. Und näher war man nie an dem Satz von Adorno, dass, wer sich die Katastrophe so angelegentlich ausmalt, sie irgendwie auch will. Aber dieses Kino der Katastrophenphantasie macht den Zuschauer zu Täter und Opfer zugleich. Was möglicherweise die Katastrophenfilme der siebziger Jahre von allen Katastrophenphantasien vorher und nachher unterschied, war ihr Interesse am technischen Detail des Desasters. Der Weltuntergang in den Science-Fiction-Filmen oder das immer wieder zerstörte Atlantis blieben in ihrer Beschreibung des Schrecklichsten metaphorisch. Wichtig war, was da zu Grunde ging. In den Katastrophenfilmen dagegen war wichtiger, wie es zu Grunde geht: wie in Erdbeben die Straßendecke aufreißt, wie in Flammendes Inferno die Scheiben durch die Brandhitze bersten, wie sich in den Schiffsuntergängen die Bolzen durch den Druck lösen. Die Wirklichkeitsnähe der Filme war ihre eigentliche Attraktion. Mitten im Chaos der sinnlosen Gewalt aber gibt es die Inseln der heilen Familien, und das Opfer kann selbst den Augenblick des Todes als Trost erleben, wenn es erfährt, wie sehr es geliebt worden ist. Die anrührendsten Wesen werden gerettet, die Kinder, vielleicht auch die Katze oder der Hund. Genau das, sagten die Gegenbilder, ist die größte Lüge. Die „jungen Wilden“ des Horrorfilms drehten mit The Night of the Living Dead (George A. Romero, 1968) oder The Texas Chainsaw Massacre (Tobe Hooper, 1974) Phantasien, die auch nichts anderes als das Ende der Welt bedeuten konnten, allerdings
nicht ausgelöst im Zusammenhang der weißen Mittelstandskultur, sondern im Provinz-Amerika von White Trash und Borniertheit, und von Familien und Menschen, die nie etwas anderes als „Kinder“ sein konnten. Es waren Kampfansagen an das (amerikanische) Subjekt und seine scheinbar grenzenlose Fähigkeit zu Anpassung und Ignoranz. Und die radikalere Auflösung des Pakts von Vertrauen zwischen dem Menschen und seiner Gesellschaft. Die Dinge, die in den berühmten Katastrophenfilmen zerstört wurden, glichen einander in ihrer Ikonografie: Es waren große, phallische Symbole, von stählerner und zugleich gläserner Konstruktion, gewaltig, leuchtend und zugleich verwundbar wie das Luftschiff in Robert Wises The Hindenburg (1974), der Jumbo Jet in Giganten am Himmel (1975), das Hochhaus, der Ozeanriese, die Lichterstadt. Immer war es zugleich prekärer Lebensraum, hypertechnisches System und Symbol für den ökonomischen Fortschritt als Raum einer (ungerechten) Privilegiertheit, etwas, das James Camerons Titanic kaum noch streift. Der Katastrophenfilm als ein zeitlich begrenztes Phänomen der Hollywood-Geschichte begleitete im Wesentlichen einen Gründerboom inmitten einer Krise. Das World Trade Center wurde zu eben jener Zeit gebaut, als The Towering Inferno in den Kinos lief und die Diskussion um die Brandsicherheit ebenso virulent war wie die um die Sicherheit der öffentlichen und ökonomischen Einrichtungen vor terroristischen Anschlägen. Ein Brand über sechs Stockwerke des gerade errich-
teten World Trade Centers setzte die New Yorker in Schrecken. Die Building Owners & Managers Association verlangte, dass man vor dem Film einen Insert zeigte mit dem Hinweis, in den wirklichen Spacescrapers könnte sich eine solche Katastrophe nicht wiederholen. Nachdem Produzent Irwin Allen im Gegenzug verlangt hatte, jedes Gebäude ohne Sprinkleranlage mit dem Hinweis auf mangelnde Feuersicherheit auszustatten, verzichtete man auf diese Forderungen. Das Genre erledigte sich schließlich durch die eigene Überbietungsstrategie. Doch seither sind diese Bilder nicht mehr verschwunden, auf eine sehr direkte Weise fortgesetzt mit den Mitteln des TV-Movie, das endlos die Feuersbrünste und Flugzeugabstürze wiederholt, wenn auch in kleinerem Format, und in einer Verknüpfung mit dem Star- und Actionkino andererseits. Bemerkenswerterweise bildeten - neben einigen Spätwestern und wenigen Arbeiten von New Hollywood - drei Tendenzen das sichere Geschäft jener Jahre: der Katastrophenfilm, die Nostalgie nach Amerika in besseren Zeiten und der Selbstjustizfilm. Und alles zusammen fand sich dann in einer neuen Welle von Kriegsfilmen, die mit Die Brücke von Arnheim (1976) begann, mit 25 Millionen Dollar Produktionskosten der bis dahin teuerste Film. Die Rückkehr zum Kriegsfilm war gewiss nicht einfach nur eine ideologische Volte vom Verlust zum wenn auch historischen Sieg, es war auch ein Versuch, mit dem Repertoire, das im Katastrophenfilm entwickelt
wurde, zu einer überschaubaren, territorialen und linearen Erzählweise zurückzukehren. Eine Wel t des Terrors
Ins neue Bild der Katastrophe passte auch die Konstruktion des terroristischen Anschlags. Black Sunday (Schwarzer Sonntag, John Frankenheimer 1976) entwickelte das realistische Szenario eines solchen Anschlags durch palästinensische Terroristen auf ein Football-Stadion während des Superbowl-Endspiels. Arabische Teroristen drohen es mitsamt den Besuchern in die Luft zu jagen, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Ein Zeppelin mit den Kameras für die Direktübertragung trägt die für 80.000 Zuschauer tödlichen explosiven Waffen. Es stehen sich dabei nicht nur palästinensische Terroristen und Amerikaner, sondern auch ein im VietnamKrieg psychisch zerstörter Hubschrauberpilot (Bruce Dern) und ein fanatischer Offizier des israelischen Geheimdienstes (Robert Shaw) gegenüber in einer Spirale des Terrors und Krieges, die sich immer weiter dreht. Der selbst für dieses Genre und diesen Regisseur erschreckenden Brutalität steht als Kontrast der strahlende Himmel und die Glückserwartung der Zuschauer gegenüber. Aber für diesmal wird die Katastrophe noch einmal abgewendet: Hubschrauber können das explosive Luftschiff auf die blaue See hinausschaffen. Wenn man diesen modellhaften Film jenseits seiner Thrill-Konstruktion betrachtet, wird überdeutlich, dass dieser Angreifer kein realer Feind ist. Es können nur Verrückte sein, die Amerika angrei-
fen, und die Verrücktheit kann nur in der fehlgeschlagenen Konstruktion eines Lebens liegen: Das System selbst produziert auch hier seine Gegner, so wie der französische Plantagenbesitzer in Apocalypse Now dem amerikanischen Offizier vorhält, man habe die Vietminh einst selbst erzeugt, ausgerüstet und motiviert. Dieses endlos geflochtene Band von Terroristen, Katastrophen und Medien ist so in der europäischen Kinematografie nicht denkbar. Von Claude Chabrols Nada über Rainer Werner Fassbinders Die dritte Generation bis zu Volker Schloendorffs Die Stille nach dem Schuss zeigt der europäische Film „die eigenen“ Terroristen als verlorene Bürgerkinder, die auf die Kino-Bilder hereinfallen und sie mehr oder weniger hilflos imitieren. Sie entwickeln sich daher nicht wirklich zur Katastrophe für die Gesellschaft, sondern eher für Einzelne, vor allem aber für sich selbst. Ihr Tod unterbricht den katastrophischen Kreislauf. Jeder technische Fortschritt wird zum Objekt des terroristischen Angriffs. Dass die Welt von terroristischen Gruppen durchsetzt ist, scheint in den achtziger Jahren fast selbstverständlich. In Escape from New York ( Die Klapperschlange, 1981) von John Carpenter wird die Airforce One von einem Terrorkommando abgeschossen und havariert in einer Welt des Verbrechens. Über Flugzeugentführungen macht man sich lustig („Nicht schon wieder nach Kuba!“), und in Zurück in die Zukunft (1985) hat Doc Brown einer Gruppe libyscher Terroristen Plutonium geklaut - als wäre das das Normalste in
dieser Welt der Unübersichtlichkeit - um seine Zeitmaschine in Gang zu setzen. Die Ästhetik des Grauens
Das Wesen der Katastrophe ist ihre Sichtbarkeit, und sie ist deswegen geradezu darauf angelegt, die Kanäle der Ästhetik zu besetzen. Das wird neben der Fiktionalisierung immer auch durch die Methoden der Vermittlung besorgt. Es ist uns zum Beispiel selbstverständlich, dass wir das „spektakuläre Bild“ in Zeitlupe serviert bekommen, in endloser Reihung in Schnittfolgen, die ihrerseits „Plots“ ergeben. Erinnern wir uns an Marinetti und das Manifest des Futurismus, der solche Zerstörung zur Schönheit erklärte, und den Weg seiner Wahrnehmung zum Faschismus. Jedenfalls wird es immer schwerer, in solchen Bilder- und Taten-Kreisläufen Ursachen und Wirkungen zu scheiden. Möglicherweise haben die Terroristen oder die Menschen, die sie benutzen, Hollywood-Bilder im Kopf, möglicherweise haben die Fernsehzuschauer sie im Kopf und ganz sicher haben Kameraleute, Redakteure und Kommentatoren sie im Kopf. So wird jeder Durchlauf eines Katastrophenbildes zur Verstärkung der Angleichung von Fiktion und Realität. In die Inszenierung eingeschrieben ist nicht nur die Angst, sondern auch die Lösung, die der Katastrophenfilm angeboten hat, zum einen, das Akzeptieren und Sinnvoll-Machen der Opfer, zum anderen die Feier der John- Doe-Helden und
schließlich die Auflösung der großen Katastrophe in Einzelschicksale, in denen immer der familiäre Trost die Sinnlosigkeit des einzelnen Todes übermalt. Das Drehbuch schreibt die Auflösung der Katastrophe im Mikrokosmos des konkreten Lebens und im Makrokosmos religiöser und pseudo-religiöser Symbole vor. Es sind die immergleichen Bilder: der Brand und der Einsturz von Hochhäusern, der Absturz oder die Entführung eines Flugzeugs, der Überfall auf Züge und das Verschieben von Waffen. Terroristen besetzen die sozialen Orte, an denen sich nur noch der Einzelne ihnen entgegenstellen kann, wie Bruce Willis in Die Hard. Die Pest bricht aus in New York. Und die Titanic geht immer wieder unter. Wesentlich sichtbarer als in den siebziger Jahren wird in den neunziger Jahren der „Feind“. Spätestens an diesem Punkt wissen wir, dass unser Angst-Traum nicht ohne Ideologie zu haben ist. Wir wissen aus dem Kino, wie die vier Reiter der Apokalypse, wie der Profitgangster, der Amokläufer, der Ignorant und der Terrorist aussehen. Der erste hat eine Tendenz zu Korpulenz und Effeminierung oder ist ein todgeweihter Narbenmensch ohne Empfindungen. Der zweite hat strähniges Haar und glasige Augen, einen Gang wie ein fremdbestimmtes Wesen ohne Seele. Der Ignorant ist von den Werten seiner Gesellschaft geblendet, vom äußeren Schein, wenn nicht von Geld und Macht; er ist ein Fanatiker der Normalität, der nie die Gefahr sieht, in die uns seine Blindheit, seine Überanpassung vielleicht bringt. Der Terrorist schließlich ist
in der südamerikanischen, der arabischen und russischen Variante gleichermaßen durch wilde Rufe, hektisches Gebaren und Hantieren mit der Kalaschnikoff zu erkennen, als wäre er hektisch bemüht, keinen psychischen Kontakt aufzunehmen, keine zivilisierte Kommunikation zu führen. Natürlich sind dies nicht nur arg denunziatorische Stereotypen und Feindbilder, sondern auch Versuche, den Bruch dieser Urheber der Katastrophen mit der Welt irgend sichtbar zu machen - ein untauglicher Versuch des Verstehens. D ie Katastrophe als En thül lung
Wenn man nach dem Wortsinn von Apokalypse geht, bedeutet sie ja zuallererst eine „Enthüllung“ oder eine „Offenbarung“. Enthüllt wird dabei dreierlei: die Schwäche eines kulturellen und technischen Systems (das immer perfekter und vollendeter wird); die wahre Bosheit eines Feindes (der das menschliche Maß überschreitet, zum Un-Menschen werden muss); die Ohnmacht des menschlichen Lebens gegenüber der unendlichen Natur, dem Schicksal oder einer so oder so beschaffenen Gottheit. Aber natürlich reicht dieses Enthüllen als Sinnstiftung nicht aus, es bleibt immer zu viel ohnmächtiger Zorn, weil in der Apokalypse ja auch die Gleichung zwischen der individuellen und subjekthaften und der symbolischen „Gerechtigkeit“ aufgehoben wird. Es mag gerecht sein, dass ein Ozeandampfer untergeht oder ein Hochhaus in Flammen steht, weil seine bloße Existenz möglicherweise eine Herausforderung ist.
Aber es ist keineswegs gerecht, was jedes einzelne Opfer anbelangt. Der Erzählung auf der einen Ebene und dem Bild auf der anderen muss es daher obliegen, diese unerträgliche Spannung zwischen der subjekthaft/ menschlichen und der symbolischen Form der Katastrophe zu schließen oder zumindest erträglich zu machen. Auf der Ebene der Erzählung drängt sich das Melodramatische, ein Walten eines inneren Schicksals, gleichsam auf, und was über das Melodramatische hinausgeht, ist entweder metaphysisch oder zynisch. Der Katastrophenfilm ist daher vielleicht auch eine Reaktion auf die Vorstellung, dass es „immer die Falschen trifft“, dass kein kulturelles Symbol vernichtet werden kann, ohne zugleich konkrete Menschen zu vernichten. Darin nun gleichen sich wiederum der Profitgangster, der etwa in den James-Bond-Filmen mit dem Goldpreis die Welt ruinieren kann (Goldfinger) oder als Medienzar um der Auflage willen gar den dritten Weltkrieg anzettelt (Tomorrow Never Dies), der Amokläufer, den wir in der Form des psychopathischen Mörders, Geiselnehmers und Zerstörers kennen, und der Terrorist: Sie alle sehen den Menschen nicht als Menschen, sondern als symbolisches Objekt. Daher können sie gar nicht anders als gerade die unschuldigen Menschen angreifen. Sie alle können nicht unterscheiden zwischen dem Wesen und dem Zeichen. Vielleicht kann man dies alles nicht anders nennen als eine schrecklich pervertierte Art des „filmischen Denkens“. Es ist eine besondere Verbindung des Materiellen mit dem Symbolischen, dem Zeichenhaften. Auf dem Spiel steht also das Menschenleben in doppelter Weise, nämlich als konkretes, individuelles Leben und als
Selbstverständnis, als Bild des Menschen. Der Katastrophenfilm, den wir nun erheblich erweitert haben, erzielt seine Ambivalenz dadurch, dass er bis zu einem gewissen Grad auch die Perspektive der unmenschlichen Macht annimmt. Wie sich im traditionellen Kriegsfilm der Blick spaltet zwischen der Feldherrenperspektive und dem Leiden des Einzelnen in der Unübersichtlichkeit des Schlachtfeldes, so teilt sich der Blick der Kamera im Katastrophenfilm in den faszinierten Blick auf die symbolische Zerstörung und das Mitleiden mit den Opfern. Das Subjekt der Katastrophe, ihr „Autor“, ist stets dadurch gekennzeichnet, dass es auch enorme selbstdestruktive Züge in ihm oder ihr gibt. Der Amokläufer arbeitet immer auf den eigenen Tod hin, Fritz Langs Dr. Mabuse und alle seine Nachfolger wollen in Wahrheit gar nicht Reichtum für sich, sondern die Welt zum Teil ihres eigenen Chaos machen. Mabuse ist einer, der „mit Menschenschicksalen spielt, und am grausamsten mit sich selbst“, wie es ein Zwischentitel sagt. Der Film formuliert in der Regel Ängste, die wir offiziell gar nicht haben dürfen. Denn sie betreffen nicht so sehr die äußere Gefahr, die in immer neuen Gestalten lauert und zuschlägt, sie betreffen vor allem das Vertrauen in unsere gesellschaftlichen Institutionen, in den Staat und in die Führung. Es hat uns nicht nur Gott im Stich gelassen angesichts der Katastrophe, es hat uns auch der Staat im Stich gelassen. Das trifft wiederum das Leben des Einzelnen wie das symbolische Ganze: Es geht nicht nur um das Böse des Anderen, sondern immer auch um die Unfähigkeit des Eigenen, uns davor zu
schützen. Filme wie Die Hard und Armageddon wissen, dass nur noch marginale, vielleicht sogar mehr oder weniger verrückte Einzelne uns schützen könnten. Wie der Phönix aus der Asche scheint im letzten Jahrzehnt in unserer Katastrophenphantasie dieser Einzelne aufgestiegen. Und selbst wenn sich die gesamte Gesellschaft, wie in Independence Day, gegen den terroristischen Überfall wehrt, so muss es doch eine Gesellschaft der Einzelnen sein. Der apokalyptische und terroristische Blick begreift den Menschen nur als Objekt und sieht in seinem Tod nur das Symbol. Wie der Serienmörder in Se7en in seinen Morden immer nur die „Erfüllung“ eines Gebots inszeniert, so gibt er umgekehrt den Objekten etwas Lebendiges. Um gegen die Katastrophe als Teil des Systems, als Teil unseres Lebens zu protestieren, müsste das Kino lernen, nicht nur seine Nekrophilie zu überwinden, sondern auch die Verwechslung von Mensch und Objekt rückgängig zu machen. Das Kino „weiß“ mehr über die Katastrophe, ihren Zusammenhang und ihren Sinn als es eine bildliche Analogie (die sich auf den Traum beziehen mag) erahnen lässt. Es weiß in gewisser Weise auch, wie wir auf die Katastrophe reagieren. Aber können wir aus dieser bedrohlichen Tatsache etwas lernen? Wir begreifen vielleicht, dass wir uns im Augenblick verhalten, als wären wir im Kino, als erfüllten wir die Offenbarungen der Katastrophen, die schon immer in uns waren, die wir erwartet, die wir uns selbst prophezeit oder sogar ersehnt haben, wie ein Strafe, wie eine Erlösung. Die Vermischung der
aktuellen Bilder der chaotischen und suggestiven Welt und der Bewegungsbilder des Kinos, die sich das andere Medium, das Fernsehen, angeeignet hat, ist die Wahrnehmungskatastrophe, mit der wir auf die Produktionen der ebenso gewissen wie unberechenbaren Katastrophen in der Welt der Dinge und Körper reagieren. Was man vielleicht im Kino lernen kann: dass die Wirklichkeit nicht das Kino ist. Das ist nicht viel. Aber notwendig gegenüber einer Welt, die sich als schlechtes Kino verständlich - oder unverständlich - machen will. epd Film 11/2001
DAS LEBEN IST SCHÖN Darf die populäre Kultur, jenes Geflecht von Genres, Mythen und Bildern, dem wir seine Frivolität und Leichtfertigkeit, sein hemmungsloses Wildern und Wuchern in der äußeren und inneren Wirklichkeit nur verzeihen, weil es stets beteuert, ja nichts als „Unterhaltung“ bieten zu wollen - darf dieses industrielle Sinnsystem, das sich so bedenkenlos auf den Markt wirft, sich anmaßen, auch vor dem Grauen dieses Jahrhunderts, dem deutschen Faschismus und dem Völkermord an den Juden nicht zurückzuschrecken? Darf man Kriminalfilme, Melodramen oder gar Komödien über den Holocaust drehen, die doch nichts anderes als Verharmlosung, Verdrängung, Blasphemie sein können? Anders herum gefragt: Wie armselig und töricht müßte diese populäre Kultur sein, in deren Bilderwelt wir alle leben und in der wir uns verständigen, wenn sie es nicht könnte oder dürfte? Freilich, sie muß es mit ihren Mitteln tun, und die sind nicht nur ästhetisch, sondern auch moralisch und intellektuell begrenzt. Deshalb wird es notwendig sein, sich mit jedem Einzelfall auseinanderzusetzen; jeder Versuch, den Holocaust innerhalb der populären Kultur darzustellen, wirft die Frage nach der Darstellbarkeit neu auf. Und jeder, der mit den Mitteln der populären Kultur von etwas spricht, dem wahrhaft angemessen nur das entsetzte Schweigen wäre (ein Schweigen, das paradoxerweise freilich den Tätern, den Verdrängern und
den Wiedergängern am meisten nutzt), der muß sich der Verantwortung bewußt sein, die er damit übernimmt. Roberto Benigni hat eine der schwierigsten Formen gewählt, die es in diesem Zusammenhang gibt. Er hat eine märchenhafte Komödie über das Schicksal einer kleinen Familie gedreht, die Geschichte von einem gutmütigen Träumer, den er selbst spielt - ganz in der Tradition seiner vielen anderen gutmütigen Träumer in Filmen von Marco Ferreri, Federico Fellini und von ihm selbst -, und seiner Frau und seinem kleinen Sohn, die in ein deutsches Vernichtungslager verschleppt werden. Der Film beginnt mit jener unvergleichlichen Mischung aus Poesie, Komödie und Satire, die wir von Benigni kennen: Guido kommt mit seinem Freund Ferruccio, der einerseits Polsterer und andrerseits Poet ist, im Jahr 1939 aus der toskanischen Provinz in die Stadt Arezzo. Große Träume von Erfolg und Liebe im Kopf. Ferruccio deklamiert, während sie in gemächlichem Tempo auf der Landstraße dahinfahren, ein Gedicht, und mitten aus den Textzeilen gerät er in die Beschreibung einer wirklichen Gefahr: Die Bremsen des Automobils versagen den Dienst, und die beiden geraten in einen Aufmarsch der Honoratioren. Guido will die Zuschauer warnen und verscheucht sie mit hochgerecktem Arm; das wird sogleich als faschistischer Gruß mißdeutet, der von der Menge begeistert erwidert wird. Kaum im Heuhaufen gelandet, fällt Guido ganz buchstäblich jene Prinzessin in die Arme, von der er einem kleinen Mädchen gerade erzählt hat: es ist die junge Lehrerin Dora. Als er beim Haus seines Onkels ankommt, ist der gerade Opfer eines Überfalls geworden. In einem mit his-
torischem Plunder vollgestopften Lager finden die beiden ein Zuhause; im Hotel des Onkels wird Guido als Kellner eingestellt. Daß sie nun ein freies Leben beginnen werden, darüber freut sich Guido beim Spaziergang über die Piazza; niemand versteht die Begeisterung der beiden, denn es brechen böse Zeiten an. Wie Guido seine Angebetete erobert und von ihrem Verlobten, dem faschistischen Aufsteiger befreit, wie phantasievoll er seinen Kellnerberuf ausübt, wie er den Faschisten, meistens ohne es offensichtlich zu wollen, immer wieder eins auswischt, wie er, als Schulinspektor verkleidet, vor den Kindern den „wissenschaftlichen“ Rassismus aus Rom ad absurdum führt und wie er schließlich doch zu seinem ersehnten Buchladen und zum Familienglück mit Dora und ihrem Sohn Giosus kommt, das wird als warmherzige Komödie mit ein paar Slapstick- Einlagen hier, ein paar running gags dort und immer wieder in der Benigni-Märchenpoetik erzählt. Diese Szenen sind vollgestopft mit liebenswerten kleinen Pointen, aber zugleich tauchen an allen Ecken und Enden Warnungen auf, zeigt sich die zähe, opportunistische Brutalität, die das Land verändert. Guido kann oder will die Gefahr, in der er sich als Jude befindet, nicht sehen. Wir wissen mehr und können ihm nicht helfen. In seinem Blick sehen wir zunächst nicht eine faschistische Gefahr, sondern vor allem in ihrer Lächerlichkeit berückende Mitläufer und Wichtigtuer: den Möbelhändler, bei dem Ferrucio seine Arbeit aufnimmt und der seine Kinder
Benito und Adolf genannt hat, den bürokratischen Bürgermeister, Doras Verlobten, dem Guido gleich versehentlich einen Blumentopf auf den Kopf wirft und Eier in den Hut praktiziert. Sogar die Musik zitiert noch die comedia all‘italiana, aber auch sie beteiligt sich an den Warnungen. Immer heftiger werden die Anzeichen, daß sich in dieser campanilistischen Idylle der Terror einnistet: Die Direktorin, die das jüdische Kind in die letzte Bank verweist und es ausrechnen läßt, was den Staat behinderte Kinder oder Verrückte kosten; die Allgegenwärtigkeit zuerst der Schwarzhemden und dann der deutschen Soldaten. Auch Horst Buchholz‘ Gestalt des deutschen Arztes Dr. Lessing, der von Rätseln besessen ist, zeigt zunächst eher skurrile als bedrohliche Züge. Mit der Bemerkung, Guido sei der phantasievollste Kellner, den er je kennengelernt habe, verabschiedet er sich nach Berlin, gerade als Guido Dora aus der Faschistengesellschaft und auf jenem Pferd entführt, das man grün angepinselt und mit dem Schriftzug „Cavallo ebreo“ versehen hat. Diese Szene, in der die Kamera in der Faschistengesellschaft kreist, hat schon beides in sich: den Märchentraum vom „Mann mit dem Herzen eines Kindes“, der sein Glück findet, und die gespenstische Inszenierung einer Gesellschaft, in der das Böse zur vollkommenen Normalität wird. In seiner traumhaften Komposition, der Fülle der Erzählkomponenten (von den zahllosen „Wundern“, die natürlich keine sind, bis hin zu der Musik, die in der Entführungsszene vom faschistischen Laufmarsch zu angedeuteten Klezmer-Klängen wechselt) und der Präzision, mit der der Film die kommende Zerstörung sei-
nes Glücks vorbereitet, ist La vita e bella wohl schon das Beste, was Benigni bislang gemacht hat. Mit einer Kamerafahrt auf den Wintergarten zu, in den die Liebenden verschwinden, und einer anschließenden Bewegung zurück auf Vater, Mutter und Kind sind vier Jahre vergangen. Guido fährt noch immer mit dem Fahrrad durch die Stadt, die sich verändert hat. Auf der Piazza stehen keine Leute mehr herum und reden, nur Soldaten sind im Hintergrund zu sehen, die Menschen haben es eilig und trachten einander nicht zu begegnen. Ganz dezent deutet Benigni es an: Das Sonnenlicht hat die Stadt verlassen. Guido hat seine Buchhandlung erhalten, er und sein Sohn Giosus wollen etwas für die Mutter kaufen, aber vor dem Laden steht das Schild „Eintritt für Hunde und Juden verboten“. Schon hier sehen wir, wie Guido seinem Sohn mit lustigen Geschichten die wirkliche Situation zu verheimlichen versucht. Wenn dort der Eintritt für Juden und Hunde verboten ist, so woanders für Chinesen und Känguruhs, und ihren Buchhandel wollen sie für Spinnen und Westgoten verbieten. Kurz darauf werden Guido und Giosus abgeholt und wie die anderen Juden des Ortes in die Viehwaggons zum Transport ins Konzentrationslager gebracht. Dora verlangt, daß sie mitkommen kann. Das ist inszeniert als eine Geste großer Liebe, aber Benigni benutzt sie auch, um ohne Dämonisierung die kalte Gründlichkeit der deutschen Soldaten zu zeigen. Weder sind diese Deutschen bei ihm Marionetten, noch sadistische Monster. Sie funktionieren einfach, freilich mit einem so
dummen Stolz auf ihr Funktionieren, daß man ihnen nicht einen Augenblick vergeben möchte. Der Zug fährt durch das Tor des Konzentrationslager, die Häftlinge werden unter ständigem Gebrüll zum Aussteigen gebracht. Es sind Bilder, die andere Bilder zitieren, die selber schon wußten, daß sie das wahre Ausmaß des Schreckens nicht wiedergeben würden. Guido erklärt nun Giosus mit immer neuen Einfällen, daß man sich in einem großen Spiel befinde, in dem es gelte, Punkte zu sammeln, und immer wenn der Junge verzagt, macht er ihm vor, daß man bei ihrem großartigen Punktestand nicht aufgeben dürfe. Dem Tod in der Gaskammer entgeht Giosus indes nur, weil er vor dem Duschen geflohen ist, so wie er es auch zu Hause tat. Nur die Mutter im anderen Trakt weiß, was das bedeutet. Nun wird Giosus in der Baracke verborgen; er darf auf keinen Fall entdeckt werden, sonst gebe es „Punktabzüge“. Sogar als Giosus von einem Mann gehört hat, daß sie alle verbrannt und aus ihren Körpern Seife und Knöpfe gemacht werden, gelingt es Guido, dies als takische Lüge im Spiel hinzustellen. So etwas kann man doch nicht glauben! Guido trifft Dr. Lessing wieder, der nun als KZ-Arzt fungiert. Lessing verspricht ihm, etwas für ihn zu tun, wenn er bei einem Abendessen den Kellner macht. Als Giosus schließlich auch inmitten der wohlversorgten deutschen Kinder landet und sich verrät, kriegt Guido durch seinen Einfallsreichtum die Situation noch einmal in den Griff. Aber mit dieser wundersamen Rettung des Sohnes kurz vor der Befreiung des Lagers endet Guidos Glück. Dr. Lessing, noch immer nur mit seinen Rätseln beschäftigt, ist dem Wahnsinn näher
als dem Mitleid. Der Augenblick, wenn Guido erkennt, daß er von diesem Menschen keine Hilfe zu erwarten hat, ist die zugleich furchtbarste und präziseste des Films, eine Szene, die jede falsche Versöhnung zunichte macht. Als die Kunde vom Heranrücken der amerikanischen Armee kommt, versucht Guido, in dem Durcheinander der Lagerauflösung zu fliehen, bei der die Deutschen durch Massenerschießungen die Baracken leeren. Er wird gefangen und erschossen, fast beiläufig geschieht das. Giosus dagegen sieht endlich vor sich, was ihm die ganze Zeit über als Geburtstagsgeschenk und als Spielgewinn versprochen war: einen Panzer. Vieles von dem, was in der ersten Hälfte des Films spielerische Trickserei war, wird nun letzte Hoffnung fürs Überleben, und es erschließt sich im Nachhinein vieles von der verborgenen Bedeutung auch leichter Komödienszenen im ersten Teil. So hat Guido von seinem Freund Ferrucio eine sehr praxisnahe Anwendung von Schopenhauers „Welt als Wille und Vorstellung“ gelernt, und Schopenhauer scheint nun zu helfen gegen deutsche Schäferhunde. Das „Deutsche“ wird Guido in seiner furchtbaren Ambivalenz vor Augen geführt, es ist zugleich Kultur und Barbarei, es ist Literatur und Musik, und es ist die schnarrende Brüllsprache der KZ-Wächter und -Wächterinnen. La vita e bella erzählt nicht von einem möglichen Widerstand, aber immer wieder erweitert sich der Kampf des Helden zu Signalen der Hoffnung für die anderen. Darin ist er dem Roman und dem Film Jakob, der Lügner verwandt. Und als Guido erschossen wird, setzt das gleiche Musikmotiv ein, das auch bei der Einfahrt des Zuges zu hören war. Es geht um
den einzelnen, aber es geht nicht nur um den einen, der in der Kinophantasie zu retten gewesen wäre. Roberto Benigni hat das Kunststück fertiggebracht, ein Märchen zu erzählen, in einem Film, der nie vorgibt, etwas anderes zu sein als ein Märchen, in Bildern, die sich weniger aus der Rekonstruktion der Wirklichkeit als aus den vorhandenen Bildern entwickeln, aus Zitaten, Übermalungen, Stilisierungen, und gerade, weil er nicht vorgibt, den wahren Schrecken eines Konzentrationslagers beschreiben zu können, bleibt uns eben dies auch gegenwärtig: Es war viel schlimmer, es war schlimmer, als es irgendein Mensch, irgendein Bild, irgendeine Erzählung aushalten kann. Aber noch im Märchen ist kein Platz für die Verkleinerung des Schreckens und der Schuld, und wenn auch das Böse nur als Karikatur des Bösen und das Gute nur als das geträumte Gute vorkommen kann, so ist das eine doch so wenig verharmlost wie das andere verkitscht. Eine Auflösung in Sentimentalität findet ebenso wenig statt wie es eine Hoffnung auf Sinn und Gerechtigkeit gibt. Nein, man wird nicht versöhnt durch diesen Film, nicht beruhigt und nicht entlastet. Daß den Sanftmütigen die Welt gehören könnte, hat Benigni in allen seinen Filmen gesagt, vorausgesetzt sie entwickeln eine Portion Unverschämtheit. Hier retten Sanftmut und Unverschämtheit ein Kind, retten, vielleicht, eine kleine Hoffnung. Das ist sehr viel, und viel zu wenig. Daher enthält der Film auch eine Selbstkritik an der Benigni-Figur. La vita e bella erzählt einen Traum, und er warnt uns zugleich vor dem Träumen.
epd Film 11/98
DIE TRUMAN SHOW In einer Zeit, in der die Massenmedien Fernsehen und Kino ihre eigenen Simulationsstrategien und deren Beziehung zur „Realität“ mit schwankender Qualität selbst ausschlachten, kommt eine Mediensatire wie gerufen. Zumal, wenn sie von einem komplett für das Fernsehen inszenierten Leben handelt, das den Ausbruch aus den Gesetzen des Apparats versucht. Das paßt ins Bild, und so klingt allein der Plot-Umriß wie ein Versprechen: Mit Peter Weirs Die Truman Show haben wir die geschickt verlagerte Fortsetzung jener verselbstständigten Medien-Nabelschau zu erwarten. Als solche hätte sie ihre Grenzen freilich genau dort, wo die eigene Konsumierbarkeit in Gefahr geraten würde. „Nichts ist hier gestellt - es ist nur kontrolliert“, erklärt Louis Coltrane (Noah Emmerich) die Logik des TV-Weltereignisses „Die Truman Show“, in der er die Rolle von Trumans Freund Marlon spielt. Wir schreiben den Tag 10.909 nach Truman. Begonnen hatte die Übertragung der 24-Stunden-Live-Show mit der Geburt von Truman Burbank (Jim Carrey), und seitdem hat der unfreiwillige Protagonist das Leben gelebt, das Produzent Christof (Ed Harris) für ein normales amerikanisches Leben hält. Kleinfamile, Reihenhaus, College, Bürojob, Heirat, Reihenhaus, Spießeridyll - beobachtet von 5.000 versteckten Kameras unter der Kuppel eines riesigen Studios, in dem alles und jeder inszeniert und instruiert wird. Eine 50er- JahreSeifenoper lebt unter uns, deren Hauptdarsteller von alledem
keinen blassen Schimmer hat. Damit das so bleibt, sorgt ein traumatisches Erlebnis in frühester Kindheit - Vater ertrinkt vor Trumans Augen beim Segeln - praktischerweise dafür, daß Truman fürderhin weder per Boot noch über die Brücke seine Studioinsel Seehaven verlassen kann. Und für den Fall, daß der Titelheld tatsächlich einmal Urlaubs- oder gar Auswanderungswünsche („Die Fidschi-Inseln!“) hegen sollte, steht in der nächsten Sekunde der gute alte Kumpel Marlon mit einem Sixpack vor der Tür. Es dauert eine Weile, bis Die Truman Show die Perspektive der Serie aufgibt. Direkt nach einer einführenden Erklärung der Serien-Langzeitschauspieler ist Peter Weirs Film für eine Zeitlang nicht von der TV-Show zu unterscheiden - hinter Spiegeln, aus Schubladen und durch das Armaturenbrett von Trumans Wagen rollt der große Lausch- und Blickangriff rund um die Uhr. Nachdem wir so das Prinzip kennengelernt haben, werden uns unsere Spiegelbilder, die Fernsehzuschauer, vorgeführt und schließlich die Arbeit des Prodzenten Christof enthüllt, der nicht nur rein logisch Trumans Schöpfer ist: Gott residiert in seiner Zentrale hoch über den Studiobauten. Im Himmel von Seehaven macht er das Wetter, bestimmt Lebensläufe und manipuliert Gefühle. Natürlich kommt es wie es in diesem biblischem Mikrokosmos kommen muß. Truman wird Schicksal und Schöpfer versuchen, den Ausbruch aus Seehaven wagen und über die offensichtlichen Versuche seiner Welt, ihn daran zu hindern, stutzig werden. Eine ideale Plattform für den Komiker Jim
Carrey und zugleich der perfekte Aufhänger für existentielle Zweifel an der persönlichen Freiheit, Weltwahrnehmung und an den Grenzen der eigenen Wahrheit. Wenn man so will, dann landet Die Truman Show damit automatisch bei Immanuel Kant: „Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen?“ Doch halt! Immerhin gilt es eine Geschichte zu erzählen, und also werden diese menschlichen Untiefen auf die Medienplattform zurückgehievt, damit sich der Machtkampf zwischen Truman und Christof zuspitzen kann. Hier darf sich die heikle Mischung zwischen Humor und Moral entwickeln, die immer dann am klebrigsten ist, wenn Brachialkomiker in Ausübung ihrer Profession den ernsten Unterton forcieren. Solange sich die mediumreflexiven, erkenntnistheoretischen und ethischen Fragen nach der Macht des Fernsehens vor allem aus der Geschichte der TV-Bilder heraus vermitteln, ist Die Truman Show auf mindestens zwei Ebenen unterhaltsam. Von dem Augenblick an jedoch, in dem Truman/Jim Carrey erwacht und der Film über seine Figuren diese längst präsenten Themen direkt ausspricht und dramatisiert, fällt er hinter sich selbst zurück. Mit aller Macht der Parallel- und Kontrastmontage reibt er seinem Publikum etwa die biblischen Metaphern derart aufdringlich unter die Nase, daß jedes weiterführende Interesse sich erst gegen diese Penetranz durchsetzen müßte. In einer dieser Szenen legt Die Truman Show die Herstellung von Film-Gefühlen offen. Die Regie-Anweisungen von
Christof werden eingeschnitten, während wir mit dem TVPublikum Trumans Wiedersehen mit seinem totgeglaubten Vater beobachten. Kameraperspektive, Licht, aufziehendes Gewitter, Schnittrhythmus und anschwellende Orchestermusik werden als im Moment entstehende Komposition erkennbar. Am Ende von Peter Weirs Truman Show, wenn der Held vor dem letzten Schritt aus dem Studio in „die Realität“ mit seinem Schöpfer Kontakt aufnimmt, werden wir diesen Mitteln wiederbegegnen. Nun jedoch als vergleichsweise unsichtbarem Teil der Filminszenierung. Die traditionsreiche Strategie des Kulturpessimismus, derzufolge das ehemals herrschende Massenmedium stets der nachfolgenden Konkurrenz deren bedrohliche Künstlichkeit vorwirft, kommt hier wie ein Bumerang zum Ausgangspunkt zurück. Natürlich könnte man diese Wiederholung der entlarvten Inszenierung als versteckte Selbstkritik eines Film betrachten, der gezielt auf diese Mechanismen vorbereitet hatte. Vielleicht kann es gar nicht anders sein, weil Peter Weirs Film nichts anderes als die Erweiterung der Serie für das Kino ist - zu den 5.000 Kameras kommt einfach eine weitere hinzu. Andererseits ließe sich sagen, daß in diesem Moment - dem ungeplanten Schlußakt der TV-Serie - auch der Hollywoodfilm Die Truman Show schlicht an seine Grenzen gekommen ist. Ob nun billiger Triumph des Films über das Pantoffelkino, zarte Selbstkritik oder der Fall in die eigene Grube: Ab dem Moment, in dem die Grenzen der Fernsehwirklichkeit überschritten werden, muß auch das Kino schweigen. Was bleibt, ist eine eher krampfhafte Versöhnung mit dem Publikum und
der Verweis auf ein schöneres Leben nach dem Tode, der Fernsehen und Kino eins werden läßt. epd Film 11/98
GLADIATOR RIDLY SCOTTS SANDALENFILM
FÜHRT ZU
WESTERN UND MELODRAM
Lange, wirklich sehr lange ist es her, seit man im Kino römische Heerscharen, den Zirkus Maximus, Gladiatoren und Frauen in wallenden weißen Gewändern gesehen hat, die nur die Wahl zwischen Duldsamkeit und Verschwörung haben. Wie könnte heute ein Film dieses prächtigen, in den sechziger Jahren zu Tode produzierten Genres aussehen? Ridley Scotts Gladiator beginnt - beinahe vielversprechend. Es ist eine Schlacht zu sehen, nein, ein Schlachten ist‘s, ein Gemetzel, bis zum Sieg der römischen Legionäre über die germanischen Barbaren, die gegen eine überlegene Kriegstechnik und strategische List nur ihre Wildheit und die Düsternis ihrer Wälder aufzubieten haben. In der Grausamkeit dieser Schlacht verborgen könnte die Frage sein: Was machte das römische Reich so überlegen, worin lag die Auseinandersetzung des Zivilisatorischen mit dem Barbarischen? Aber kaum ist die Schlacht zu Ende, stellt sich der Film auch schon eine andere Frage, die Shakespeare-Frage nach dem Inneren der Macht und ihrem Sterben. Der weise und mächtige Imperator Marcus Aurelius (Richard Harris) sieht den Tod nahen und bestimmt zu seinem Nachfolger nicht den eigenen, missratenen Sohn Commodus (Joaquin Phoenix), der nicht zur Schlacht erschienen ist, sondern den siegreichen General
Maximus (Russell Crowe), der nach getaner Arbeit eigentlich nur nach Hause möchte. Doch vor der offiziellen Machtübergabe ermordet der Sohn den Vater und tritt seine Nachfolge an. Den Nebenbuhler will er erschlagen lassen, aber der entkommt seinen Mördern, und eilt nach Hause, Frau und Kind zu retten. Zu spät. Maximus wird von Sklavenhändlern aufgegriffen und irgendwo in der südlichen Provinz als Gladiator verkauft. So also beginnt die dritte Geschichte, und die ist nun so deutlich eine klassische Western-Rachegeschichte, dass sich weder die Kameraführung noch die Musik dezente Hinweise auf diesen crossover verkneifen können. Als wäre es uns ansonsten entgangen, dass sich Maximus nun in eine Art Django verwandelt, der den bösen Usurpator früher oder später im Zweikampf besiegen wird. Die Gladiatorenkämpfe, da hat sich der Film wirklich allerlei einfallen lassen, funktionieren wie antike Videospiele, das heißt, man weiss als Kämpfer nicht genau, welche Gefahren und welche Gegner es zu bezwingen gilt. Maximus wird zum großen, nein, natürlich zum größten Gladiator, aus drei Gründen: Erstens weil er motiviert ist, irgendwann doch noch zu seiner Rache zu kommen, zweitens weil er das strategischmilitärische Denken in den Gladiatorenkampf überträgt und drittens weil er die Lehre seines Besitzers Proximo (Oliver Reed als Ex- Gladiator) beherzigt: Es genügt nicht zu siegen, man muss auch noch das Herz der Menge erringen. Es könnte also ein Exkurs über das Wesen des aggressiven Entertainments und seine Rolle in der Politik folgen. Tut es aber nicht. Maximus kommt nach Rom, wo Commodus, inzwischen der
Alleinherrscher, seine Schwester Lucilla (und Maximus‘ ehemalige Geliebte) drangsaliert, den Senat entmachtet und das Volk von Rom durch die Zirkus-Spiele ruhig hält. Maximus wird der große Star in der Arena, so populär, dass ihn der Kaiser sogar gegen seinen Willen ehren muss. Am Ende gibt es den etwas unmotivierten Kampf zwischen ihm und Maximus; um sicher zu gehen, hat der Schurke ihm vorher eine vergiftete Klinge in die Schulter gerammt. Doch mit letzter Kraft gewinnt Maximus diesen Kampf, nachdem der Versuch von Flucht und Revolte an der Intrige eines Senators gescheitert ist, dann stirbt auch er. Das Ganze hätte durchaus etwas werden können, wenn das Drehbuch nicht beständig vor den eigenen Konsequenzen ausgewichen wäre, seine Geschichte unter der Größe der Bilder viel zu klein gemacht und statt sich der historischen Allegorie zu stellen nur ein paar ideologische Fragmente zwischen eine B-Film-Story gepappt hätte. Auch im alten Rom war es vermutlich nicht die Militärherrschaft, die die Demokratie vor der populistischen Diktatur rettete. So ist Rom wieder nur eine Wischiwaschi-Metapher: ein bisschen Antike, ein bisschen US- Amerika, ein bisschen Fantasy. Die Römer tragen nun nicht mehr diese Locken, über die sich Roland Barthes einst lustig gemacht hat, sondern angedeutete Caesaren-Schnitte, sie agieren nicht mehr wie Marmorstatuen und Kriegsmaschinen, sie können schmutzig, blutig, unordentlich sein. Aber auch zu einem „Spät-Sandalenfilm“ reicht es bei Gladiator nicht, weil ihm mit der Tragödie auch die Fähigkeit zur Ironie abhanden gekommen ist, und am Ende,
nach Barbarenfilm, Western, Fantasy- und Sport-Drama nur das Melodrama bleibt. Was Scott in Alien glorreich gelungen ist, nämlich einen an sich höchst trivialen Stoff visuell und psycho-mythologisch so aufzuladen, dass diese Aufladung zu einem unbehaglich treffenden Bild der Zeit wird, das bleibt hier in Ansätzen und Versprechungen stecken. Dabei hätte es durchaus etwas für sich, diesem glamourösen und immer schon, selbst in seinen wundersam infantilen Beispielen, mit einem Hang zur Melancholie begabten Genre zu einer Renaissance zu verhelfen. Dass man keinen Schwarzenegger-Film daraus gemacht hat, schien weiter darauf zu verweisen, dass man nicht dieselbe Geschichte vom einsamen Rächer, die ebenso in der Zukunft oder in jeder anderen Zeit der mythischen Vergangenheit hätte spielen können, noch mal erzählen wollte. Zu Sehen gibt es in diesem Film, beim Jupiter, genug. Manchmal hat das sogar seinen eigenen meta-dramatischen Reiz, etwa in dem Bild, in dem wir einen Taubenschwarm durchs Kolosseum fliegen sehen, so als müsste man uns darauf hinweisen, dass wir uns nun keineswegs in einer eindimensionalen Kulissenwelt befinden. Und die Choreografie der Gladiatoren-Kämpfe, auf die ja wohl ein Film mit dem Titel Gladiator hinauswill, kann sich, am Rande des Leinwand-Sadismus, sehen lassen, nicht nur als fulminantes Leinwand-Spektakel, sondern durchaus auch als symbolisches Spiel mit allerlei Masken, in denen der Tod, Vergessen und Leidenschaft, den Helden antritt. Aber der Film verspricht zu viel und zu wenig zugleich, er ist zu klug für ein naives Spektakel und zu dumm
für eine historische oder wenigstens filmische Reflexion. Seine Figuren entstammen diversen Genre-Repertoires, keine von ihnen ist zur in diesem Genre stets lauernden unfreiwilligen Komik „übertrieben“, manche sogar, wie der obligatorische schwarze Freund des Gladiators, lakonisch zurückgenommen, aber keine auch macht neugierig auf ein inneres Geheimnis. Und nie führt Scott etwas vor, was nur das Kino kann, nämlich eine Annäherung an Menschen, die nirgendwo mehr existieren als in unserer Vorstellung und - vielleicht - in den verschütteten Labyrinthen des Mythos und den Konstruktionen der Wissenschaft von der Vergangenheit. Viel mehr bleibt also nicht von Gladiator als ein paar grandiose Bilder und der Empfindung, man würde vielleicht Russell Crowe ganz gerne mal in einem „richtigen“ Western sehen. Und nebenbei erzählt Gladiator von der Krise des amerikanischen Actionfilms. Aber das ist eine andere Geschichte. epd Film 6/2000
GODZILLA „Genre“ beschreibt nicht eine bestimmte Form oder einen bestimmten Inhalt einer Anzahl einander in verschiedenen Komponenten ähnlicher Filme, sondern am ehesten die Beziehung zwischen einem Film und den Erwartungen des Publikums. Die Erwartung ist der kommunikative Mittelpunkt, was freilich eine kreative Leistung auf der Seite der Filmproduktion keineswegs unmöglich macht. Ein guter Genrefilm ist also nur einerseits einer, der die Erwartungen des Publikums erfüllt, er ist andererseits einer, der diese Erwartungen bearbeitet. Ein schlechter Genrefilm ist entweder einer, der nichts anderes will, als diese Erwartungen erfüllen, oder aber einer, der diese Erwartungen ignoriert. Roland Emmerichs Godzilla sitzt ein bißchen zwischen den Stühlen. Er enttäuscht vollkommen die Erwartungen, die man in einen Godzilla-Film setzen könnte. Steven Spielberg erklärte, er wolle sich diesen Film nicht ansehen, weil er sich die Erinnerungen an den „echten“ Godzilla seiner Jugend nicht verderben wolle. Wie immer bei ihm ist da ein bißchen Chuzpe am Werk - so kommt er um ein paar unliebsame Fragen herum, die früher oder später auf ihn selbst zurückfallen müßten, zum Beispiel die danach, wieviel in Godzilla von Jurassic Park und The Lost World geklaut ist, und was, dann wiederum, in Filmen wie Jurassic Park schon selbst zusammengeklaut ist. Tatsächlich ist es wohl so, daß Godzilla mit den japanischen Godzilla- Filmen fast nichts zu tun hat, aber einiges mit der
Verbindung zwischen 50er-Jahre Monster-Science-Fiction wie The Beast from 20 000 Fathoms (1953 von Eugene Lourie mit den Stop-Motion-Tricks von Ray Harryhausen gedreht) und der neuen Katastrophenwelle der neunziger Jahre. Zum anderen hat Spielberg aber auch vollkommen recht: Wer Godzilla-Filme als Genre mochte oder mag, sollte sich diesen Film nicht ansehen. Jedenfalls nicht als Godzilla-Film. Daß man sich für teures Geld die Rechte an der GodzillaGestalt eingekauft hat, um dann einen Saurierfilm zu drehen, bei dem man nun wirklich nur ein paar Szenen am Anfang und ein paar Dialogstellen hätte ändern müssen, um ihn „Jurassic Park 3“ zu nennen, ist schon die zweite Falle, in die sich die Produktion ohne Not selbst hineinmanövriert hat. Die erste bestand in der ungeheuren Geheimniskrämerei und Erwartungsdramaturgie, die dazu führte, daß nur noch ein wirklich sensationeller Film der beim Publikum erzeugten Neugier hätte gerecht werden können. Die nächste liegt in der Konstruktion des Drehbuches, mit der Betonung auf Konstruktion. Soviel unverfrorenes und blutleeres Gebastel mit scheinbar erfolgversprechenden oder notwendigen Elementen hat man schon lange nicht mehr gesehen. Alles, was in diesem Film geschieht, paßt auf eine McDonald‘s-Serviette: Das Monster, gezeugt von französischen Atomversuchen in der Südsee, kommt nach New York, um dort zu nisten. Auf den Plan gerufen werden: das Militär (und nicht zu knapp), ein sympathischer junger Wurmforscher (Matthew Broderick), ein mysteriöser Vertreter des französischen Geheimdienstes (Jean Reno, der wenigstens ab und an einen komischen Effekt
produzieren darf) und eine junge Journalistin (Maria Pitillo, der niemand gesagt hat, daß sie nicht in einer TV-Soap-opera agiert). Die will furchtbar gern Reporterin bei einem furchtbar großen Moderatorenarschloch werden. Und weil sie und der sympathische Wurmforscher früher mal ein Paar waren, gibt es auch eine Liebesgeschichte. Godzilla jedenfalls ist in Manhattan gelandet und macht ein paar Straßenzüge kaputt; die Stadt wird von einem fetten, unsympathischen und bonbon-süchtigen Bürgermeister evakuiert. Nachdem Godzilla Artillerie und Hubschrauber-Armadas abgeschmettert hat, wird er von einem U-Boot-Torpedo ins Jenseits befördert. (Wir ahnen: das kann nicht das Ende sein; so schnell stirbt ein Godzilla nicht!) Der Wurmforscher indes hat schon erkannt, daß eine noch viel größere Gefahr lauert: Godzilla hat bereits jede Menge Eier gelegt. Und zwar wo? Im Madison Square Garden. Und als unsere Helden sich im Brennpunkt der Gefahren vereinen, schlüpfen gerade die neuen Monster und greifen die Protagonisten an. Also müssen einerseits der Madison Square Garden zerbombt werden und andrerseits die Helden zuerst vor den Nachwuchs-Echsen und dann vor dem wieder aufgetauchten Godzilla durch Manhattan flüchten. Am Ende ist New York, jedenfalls das, was noch davon übrig ist, gerettet und alle Eier vernichtet. Alle? Also: Wenn es kein Godzilla-Film wäre, wäre es ein ganz passables B- Monster Movie, für dessen 150 Millionen Dollar Produktions- und Werbekosten man einerseits ein paar verdammt wichtige Probleme auf dieser Welt lösen könnte,
andrerseits vermutlich nicht mal einen der Tanks, Kampfhubschrauber, Unterseeboote bezahlen könnte, die der Film so freudig erregt zur Schau stellt. Wie schon bei Independence Day ärgert bei Emmerich auch diesmal, daß die mangelnde Drehbuchsubstanz mit Ideologie kompensiert wird. Dreimal hätte der Film Gelegenheit, über sich selbst ins Grübeln zu kommen: Zum ersten Mal, als jemand sehr treffend bemerkt, daß die Riesenechse bei weitem nicht so viel Unheil angerichtet hat wie das Militär, das zu seiner Bekämpfung ausgesandt ist. Aber Emmerich ist viel zu verliebt in seine Waffentechnologie, seine markigen Männer und seine Bewährungsrituale, als daß er diesen Gedanken ernsthaft weiterverfolgen könnte. Zum zweiten Mal, als der Wurmforscher erkennt, daß Godzilla kein Geschöpf ist, das bewußt etwas Böses will, sondern einfach nur ein Tier. Ein Geschöpf, um es pathetisch auszudrucken, dem man zwar mit Furcht, aber keineswegs mit Haß begegnen müßte. Starbuck hat einst schon Kapitän Ahab diesen Gedanken in bezug auf den weißen Wal nahezubringen versucht. Vergeblich, wie wir wissen. Und zum dritten, hätte die junge Journalistin vielleicht einen klitzekleinen Augenblick über das Ethos ihres Berufes nachdenken können, bevor sie sich noch zur ultimativen Bedrohungsnachricht zurechtmacht. Nichts als ihre großen Augen spricht dagegen, daß sie einfach nur das nächste Medienarschloch wird. Es ist ein wenig aus der Mode gekommen, solche Filme auch auf ihren ideologischen und, nun ja, philosophischen Gehalt hin zu untersuchen und zu kritisieren. Zu recht, einerseits, denn natürlich gehen sie darin weder auf, noch ist ihr Publi-
kum so naiv, um nicht mit den unterschwelligen Botschaften fertig zu werden. Zu Unrecht aber auch, weil sie ja auch immer sehr fundamentale, beinahe unsteuerbare Impulse ansprechen. Auch im Popcorn-Kino geht es um Liebe, Haß, Verstehen, Ablehnung, Tod. Es geht um Projekte der Zivilisierung und der Barbarei. Godzilla der Große, hatte noch eine gewisse Größe und Tragik. Die hunderte von Nachwuchs- Godzillas, die drohen, die Erde zu überfallen, die vom Super-Tier zum Ungetier werden, haben das nicht mehr. Sie sind nur noch „Brut“, die ausgelöscht werden muß. Ich stelle zur Disposition, daß ich einfach überempfindlich bin. Und wer sich von so etwas nicht die gute Laune verderben lassen will, braucht ja nicht weiterzulesen. Aber die eliminatorische Phantasie gegenüber diesen Echsen (für die es nicht den geringsten Ansatz in den japanischen Filmen des Genres gibt) erinnert mich an die Ratten- Phantasien der antisemitischen Filme aus Nazi-Deutschland. Es gibt einen Übertragungsvorgang: vom tragischen Monster, das wir in einem fürchteten und liebten, zur Monsterbrut, die zugleich komisch und so ekelhaft, aggressiv und zahllos ist, daß wirklich nur noch eines hilft - Deckel zu und Bombe drauf. Und die Unbedingtheit dieser Vernichtungsphantasie steigert sich paradoxerweise von dem Augenblick an, da uns der junge Wissenschaftler erklärt hat, daß es sich eben nicht um etwas willentlich Böses handelt, sondern um ein durch Menschenschuld recht schräg geratenes Stück Natur. Daß man es trotzdem töten muß, hätte vielleicht bei einem anderen zu einem Augenblick wirklicher Trauer führen müssen oder wenigstens zur Suche nach einem
dritten Weg. Hier wird sie zur Popcorn-Version der Unterdrückung von „Humanitätsduselei“. Nur ein toter Godzilla ist ein guter Godzilla. Es ist schon merkwürdig, daß es gerade deutsche Regisseure sind, die solche Vernichtungsfilme so glatt hinbekommen. Sie haben weitergelesen? Dann gestatten Sie eine letzte Bemerkung über die Computer-Animation. Sie ist natürlich auf den ersten und zweiten Blick recht beeindruckend. Sie ist, um es genauer zu sagen, der einzige Grund, warum man sich den Film überhaupt ansehen kann. Aber die Illusion ist keineswegs perfekter als bei einem Stuntman im Saurierkostüm oder beim Stop-Motion-Verfahren. Sie ist nur in ihrer ästhetischen Repräsentation zeitgemäßer. Wir sind ähnliche Bilder mindestens von den Gratis-CDs unserer Lieblingscomputerzeitschrift gewöhnt. Doch weder die Räumlichkeit noch die Anpassung der Geschwindigkeiten von realen Figuren und Computerwesen stimmt überein; langsam gewöhnen wir uns, zum Beispiel, daran, Menschen zu sehen, die von Bedrohungen verfolgt werden, die viel schneller sind als sie selbst und sie doch nicht erreichen. Während in der traditionellen Rückprojektion zwei Erzählebenen voneinander getrennt bleiben - am einfachsten: Ebene 1: Ursache (King Kong guckt durchs Fenster), Ebene 2: Wirkung (Fay Wray schreit) -, liegt das Problem der Vermischung von Realaufnahmen und Computeranimation in der dritten Dimension: die beiden Ebenen begegnen sich permanent, und über jede Begegnung müßte sozusagen ästhetisch nachgedacht werden. Roland Emmerich läßt es fast seinen ganzen Film über regnen, was einen
gewissen ästhetischen Reiz ausübt und bei den Szenen im Freien über einige Probleme dieser Interaktion hinweghilft. Trotzdem (und so seltsam es klingt): das Kino wartet noch auf den Künstler, der computergenerierte Bewegungsbilder so einsetzt, daß sie immerhin ein Monster-Movie zur Spielwiese einer neuen Realitätskonstruktion machen. Size Does Matter? Wir sehen, daß dieser Godzilla nicht wirklich groß ist (wir sehen förmlich die Anwendung der Rendering- Programme auf dem Bildschirm), und zu spüren ist von Größe in diesem Film sowieso nichts. epd Film 9/98
HANNIBAL Thomas Harris‘ Roman „Hannibal“ schlägt sehr merkwürdige Blasen. Genauer formuliert: Im letzten Drittel des Buches kann man einem Autor dabei zusehen, wie er den Verstand verliert. Nicht so sehr wie einer, der sich an seinem furchtbaren Objekt, dem geistreichen Kannibalen Dr. Hannibal Lecter, infiziert, sondern eher wie jemand, der in dem Bemühen, mit seinen selbst geschaffenen erzählerischen Voraussetzungen fertig zu werden und sich zugleich stets selbst zu überbieten, nur noch kranken Stuss produziert. Faszinierend hier und da, mit ein paar grandiosen Momenten, und gewollt oder nicht, auch eine ziemlich genaue Reaktion auf die Zeit. Natürlich muss Hollywood auch kranken Stuss verfilmen, wenn er Erfolg versprechend ist, ganz abgesehen davon, dass bei einem Autor wie Harris das Pokern um die Rechte schon beginnt, bevor er selbst weiß, was in seinem Buch eigentlich vorkommen soll. Was Harris dann abgeliefert hat, muss in den Produktionsetagen für ratlose Hektik gesorgt haben. Das letzte Drittel des Romans „Hannibal“ (Rezension epd Film 12/99) jedenfalls galt von vornherein als unverfilmbar, nicht bloß, weil es selbst bei zurückhaltender Bildgestaltung die Zumutbarkeitsgrenzen im Mainstream-Kino überschreitet, sondern auch, weil es rein erzählerisch nicht mehr viel Sinn ergibt. So versuchten sich eine Reihe von Drehbuchautoren, Produzenten und Regisseuren an dem Stoff und scheiterten. Entweder an Harris oder an Hollywood. Hinzu kam, dass man
im Schatten eines filmischen Glücksfalls, The Silence of the Lambs, arbeitete, und die Hauptdarstellerin von damals, Jodie Foster, nach der Lektüre des Buches nicht mehr zur Verfügung stand. Sie weiß, was sie tut. David Mamet sollte dann dem ganzen Albtraum etwas Eleganz verleihen, und auch sein CoAutor Steven Zaillian, eher für ernste Stoffe wie Der Falke und der Schneemann oder Schindlers Liste bekannt, wurde gegen die Erwartungen an einen Genre-Film gesetzt. Ridley Scott schließlich war der Regisseur, dem man zutraute, auch aus krankem Stuss etwas Ansehbares zu machen und vielleicht sogar eine eigene Vision einzubringen. Den gemeinsamen Bemühungen ist es schließlich gelungen, dem Film einen Anstrich von stilistischer und dramaturgischer Kohärenz zu verleihen und die Story von den kränkesten Seitenlinien zu befreien. Zehn Jahre nach den Ereignissen von Das Schweigen der Lämmer lebt Dr. Hannibal Lecter unbehelligt in Europa und hat, so scheint‘s, das Morden auf ein notwendiges Minimum begrenzt. Stattdessen widmet er sich der Lebensart und der Kunst. Als „Dr. Fell“ wird er zum Leiter der Bibliothek im Palazzo Vecchio von Florenz. Florenz kann sehr schön sein, besonders im Gegenlicht. Zur selben Zeit gerät die FBI-Agentin Clarice Starling (nun von der toughen Julianne Moore verkörpert) in eine berufliche und menschliche Krise, nachdem sie bei einem Einsatz eine Drogendealerin erschossen hat, die ein kleines Kind bei sich trug. Der amerikanische Straßenalltag kann sehr kalt und blutig sein, besonders auf dem Fischmarkt. Außerdem geht ihr nach wie vor Hannibal Lecter im Kopf herum, der ihr Leben begleitet wie ein bad
habit. Dritte Figur im Spiel ist der reiche Mason Verger (Gary Oldman, noch in der Maske, die ihn unkenntlich macht, erschreckend gut), der sich für die grausame Verstümmelung durch den Doktor rächen will. Auch wie die Anwesen reicher, wahnsinniger Amerikaner und deren Innenarchitektur im Dämmerlicht wirken, ist in unserer Bilder-Bibliothek abgelegt. Dann ist da noch ein florentinischer Polizist (Giancarlo Giannini), der seine Geldgier (und vielleicht seine Familiengeschichte) mit dem Leben bezahlen muss, ein paar wahrhaft animalische Schurken aus Sardinien, und ein ebenso arroganter wie korrupter Beamter (Ray Liotta), der am Ende ziemlich hirnlos erscheint. Als Starling vom Dienst suspendiert wird, und sie den florentiner Questura- Agenten vergeblich gewarnt hat, kehrt Hannibal in seine amerikanische Heimat zurück. Denn dass das zwischen den beiden eine sehr, sehr seltsame Liebesgeschichte ist, das wissen wir ja. Man kann den Beteiligten redliches handwerkliches Bemühen nicht absprechen. Sie kämpfen sichtbar mit dem Stoff. Von den Schauspielern über Kamera und Schnitt bis hin zu Scotts Regie: Jede und jeder scheint beweisen zu wollen, dass man für bessere Aufgaben bereit ist. Nur der Komponist Hans Zimmer erlaubt sich gelegentlich sarkastisch gegenläufige Motive, und Anthony Hopkins spielt seine Hannibal-Figur mit solchem Vergnügen, dass sie fast in Selbstparodie umkippt. Vielleicht wäre ja der ganze Stoff nur in der parodistischen Auffassung zu retten gewesen. Ich meine damit keine Veralberung, eher eine Spur der Selbstironie, mit der man einige der eher unterschwelligen Motive aus The Silence of the Lambs weiter
hätte verfolgen können, statt sie dem groben Effekt zu opfern, der Hannibal zu einem Ende von erhebender Lächerlichkeit führt. Nicht dass Ridley Scott nicht eine filmische „Nebenabsicht“ verfolgt hätte, das tut er immer. Hannibal ist ein Film über Spuren, Kommunikation, Augen-Blicke und gleichsam das schwarze Gegen-Bild einer der üblichen VerschwörungsFantasien. Es genügt ein Einziger, der die Regeln kennt und sich nicht an sie hält, um jedes System, auch das von sozialer Kontrolle und Überwachung, absurd zu machen. Umgekehrt fressen sich die Systeme, einmal gezielt gestört, stante pede selbst auf. Hannibal the cannibal ist neben vielem anderen auch eine systemtheoretische Metapher. Aber auch eine auf die „Vergiftung“ Amerikas durch die europäische Dekadenz oder umgekehrt, eine Reaktion auf die Vergiftung des amerikanischen puritanischen Kapitalismus. Richtig interessant aber ist eigentlich nur die Beziehung zwischen Hannibal und Clarice Starling, die Thomas Harris nur deshalb nicht kaputt bekam, weil er sie selbst lieber nicht verstehen wollte. Diese Beziehung löst sich nun, auch das ist eher typisch für Scott, in der Form einer charakteristischen weiblichen „Einsamkeit der Tat“ auf. So wird aus Hannibal Lecter eine Wiedergeburt des „Alien“, das Wesen des reinen, bösen Genusses, und aus der neuen Clarice Starling eine Wiedergeburt jener Ripley, die gegen das maßlose Begehren den Kampf um ihre Identität führt, und zugleich sich mit dem phallischen Begehren der Welt symbiotisch verbunden weiß. Welches Bild
formt sich in welchem Blick: das des Kannibalen im Blick der traumatisierten, bewaffneten Frau? Oder das der verletzbaren Jägerin im Blick des dunklen Vaters? Hannibal möchte so etwas wie der neue „Ödipus“ im veränderten gender discourse sein, und Ridley Scott versteht sich auf den mythologischen Subtext von Kolportage- und Genre-Stoffen. Aber natürlich erzählt er auch in jeder Einstellung davon, dass es damit nichts geworden ist und dass ihm die Vorlage eher im Weg steht als ihm dabei zu helfen, auf seine Themen zu kommen. Und dafür rächt er sich auf seine Weise. Sein Film will genau dort ernst machen, wo nur noch das Komische etwas ausrichten hätte können, und er wird genau dort komisch, wo die Lage wirklich ernst ist. Das Schöne und das Scheußliche, das Erhabene und das Lächerliche begegnen einander nicht ganz vorhersehbar. Ohne Reiz ist solches Changieren der Stimmungen gewiss nicht: So etwas mag dabei herauskommen, wenn ein „Apparat“ auf einen „Albtraum“ reagiert - wobei sich die Beziehung Apparat/Albtraum zwischen dem Kannibalen und der Polizistin genau spiegelverkehrt verhält. Ein großer Film ist aus dem kranken Stuss aber trotzdem nicht geworden. epd Film 2/2001
INSCHRIFT DES RAUSCHES, PASSION ODER KREUZZUG ANMERKUNGEN
ZU
DROGEN
UND
FILM
Mit Blow (Start: 26.7.) von Ted Demme läuft in den Kinos ein Film über das Drogengeschäft an: wie aus einem unscheinbaren Burschen aus der Provinz, dargestellt von Johnny Depp, ein Drogenboss wird; Kritik von Heike-Melba Fendel auf S. 34. Zuvor schon hatte Steven Soderbergh in Traffic (Kritik in epd Film 4/01) den Drogenhandel als gesellschaftlichen Mechanismus beschrieben. Im Folgenden versucht Georg Seeßlen eine Phänomenologie und eine Analyse des Vorkommens von Drogen im Kino. Unser Verhältnis zur Droge, als Individuum und als Kollektiv, ist ambivalent. Was eine Droge ist und was nicht, das wird in einer Gesellschaft immer wieder neu verhandelt, und ebenso wird neu verhandelt, mit welcher Droge eine Gesellschaft umgehen kann und mit welcher nicht, von welcher als kollektives und individuelles Erleben erzählt werden kann und von welcher nur als Verbrechen. Die Droge kommt also in den Kino-Erzählungen in zwei getrennten Diskursen vor: als gesellschaftliches Problem und als subjektives Empfinden. Als Geschichten von Menschen, die ein Problem mit Drogen haben, und als Geschichten von Menschen, die sich um dieses Problem kümmern. Eine Gesellschaft, die zugleich von der Droge lebt und sie verbietet, schließt sich in gewisser Weise
vom menschlichen Fortschritt aus, aber sicher macht das auch eine Kultur, die sich die Droge unbedacht und ökonomisch einschreibt. So ist die Droge allemal ein Menschheitsproblem, einer der vielen Widerhaken im Fleisch des Zivilisationsprozesses - also ein idealer Kinostoff. Lange Zeit herrschten da mehr oder minder ordentliche Verhältnisse. Die „Rauschgifthändler“ waren das Böse schlechthin - kein Wunder, dass man dem deutschen Kinopublikum die Nazis in Hitchcocks Notorious (1946) als Rauschgifthändler verkaufen konnte. Sie waren die Nachfahren der Schurken, die den Indianern Waffen und Whisky andrehten und sie in Gewalt-Junkies verwandelten. Im Gangsterfilm gab es eine klare Linie: gut-böse gewissermaßen waren Gangster, die mit dem Drogenhandel nichts zu tun haben wollten. Der Riss ging durch die Familie in The Godfather (Der Pate, 1972, R: Francis Ford Coppola). Vor dem Drogenhandel war unter den Gangstern ja vielleicht wirklich noch so etwas wie ein Ehrenkodex wirksam. Der Drogen-Gangster ist aber wieder der public enemy. Aber andererseits war ein anständiger Rausch auch nie zu verachten. Was waren schon echte Männer, wenn sie sich nicht mal die Nase befeuchten durften! Bis in die sechziger Jahre hatten im Kino Alkohol und Zigaretten nichts mit Drogen zu tun, sondern mit dem richtigen Leben. Erst dann wurden die Verhältnisse komplizierter. Wandernd zwischen dem Horriblen und dem Akzeptierten war dann nur die „weiche“ Droge. Ein bisschen Pot - das war für die einen die Bereiche-
rung des Lebens, für die anderen der Beweis für die Differenz der Kulturen und Generationen. Die (kurze) Gegenbewegung der Trip-Filme in den frühen siebziger Jahren führte zu einer Neuordnung zwischen den guten und den schlechten Drogen. Marihuana wurde schließlich im Kino zur mehr oder weniger „guten“ Droge, in Poltergeist sogar zur „bürgerlichen“ Droge. Pa ssion: Die Drogen-B iografien
Natürlich sind wir neugierig auf den Verlauf einer DrogenBiografie. Nichts kann uns eine Achterbahn der Gefühle so ungefährlich vermitteln wie ein Film über einen Suchtkranken: Faszination, Euphorie, Angst, Abscheu, Mitleid. Nach Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo (1981) von Uli Edel, der sich auch noch mit der „Authentizität“ des Geschehens dekorieren konnte, zeigte sich ein Interesse an den möglichst direkten Abbildungen von „Drogenkarrieren“. Tatsächlich schien in der Geschichte der jugendlichen Fixerin eine mythische Erzählweise möglich, in der der unlösbare Widerspruch von Abscheu und Faszination aufgehoben war. Denn die Droge füllt einen Raum zwischen Täter und Opfer, einen nicht nur gesundheitsschädlichen, sondern auch moralisch desolaten Raum, in den letztlich die melodramatische Konstruktion der Welt nicht hineinreicht. Das Wesen der Menschen in diesem Raum ist ihre Unzuverlässigkeit. Die ist nur auszuhalten in einer Biografie, die eine fürsorgliche Identifikation ermöglicht.
Bei den Drogen-Biografien gibt es mehrere Varianten. Das erste Modell zeigt die Geschichte eines „Einstiegs“ bis zur entscheidenden Krise (Ausstieg oder Tod) nach einem Schema, das dem Dreiakt- Schema der populären Film-Erzählung folgt: - zuerst das Milieu und die Motive (jugendlicher Frust, Abenteuersehnsucht, bedrückende Verhältnisse in der Familie und in der Schule, die Beschleunigung des Lebens durch den Rausch), - dann das Zuspitzen der Konflikte (von der weichen zur harten Droge, die Beschaffungskriminalität, Verlust letzter sozialer Bindungen, Tod der nächsten Gefährten) und schließlich - der persönliche Kampf, der (in der Regel: mit einer starken Figur als Hilfe) gewonnen werden kann. Nach diesem Schema erzählt nicht zuletzt der Leonardo-DiCaprio-Film The Basketball Diaries (1995, R: Scott Malvert) seine Geschichte vom verlorenen Sohn, der, nachdem er ganz unten war, einen väterlichen Freund findet, der ihn aus dem Drogen-Elend herausführt. Rettung oder Tod, das ist der eine Spannungspunkt des Drogenfilms. Der andere Spannungspunkt ist die Droge als Symptom im Duell des Einzelnen mit der Gesellschaft. Ein Auftakt zum finalen Blutbad in Filmen wie Schlaraffenland (1999, R: Friedemann Fromm), der angeblich, so der Regisseur, von einer Generation handelt, „die keine Werte vermittelt bekommt, die nicht weiß, wo sie hingehört, die nicht gelernt hat, mit Gefühlen umzugehen, die in
künstliche Welten flieht“. So leicht lässt sich aus dem Symptom eine Denunziation machen. Das erste Modell des Drogenfilms also zeigt das filmische Subjekt im Kampf mit seiner Sucht. Das zweite Modell beschreibt die Droge als Symptom von Entfremdung und Entwurzelung. Die Droge ist nicht das zentrale Problem, sondern die Beschleunigung des Bruchs zwischen dem Einzelnen (oder der Gruppe) und der Gesellschaft. Das dritte Modell führt in Alltag und Elend der Junkies. Das kann auch nur eine einzelne Episode sein, wie die Geschichte zwischen dem naiven Bauernsohn und der jungen Drogen-Prostituierten in Nachtgestalten (1999) von Andreas Dresen, aber auch die Beziehung von Auggie Wren zu seiner (angeblichen) Tochter in Smoke (1995, R: Wayne Wang). Andy Warhol und Paul Morissey zeigen die Sache „kalt“ in Trash (1970). Und in Trainspotting (1996, R: Danny Boyle) hat dieses Modell seine zeitgenössische, „authentische“ Form gefunden. Das vierte Modell zeigt den Versuch des Entzugs und den Widerstand, den die Gesellschaft und der Süchtige selbst ihm entgegensetzen. In die schrecklichen Kreisläufe führen Filme wie Hard Asfalt (Harter Asphalt, 1986, R: Sølve Skagen) aus Norwegen, die Geschichte einer Drogenabhängigen, die einen Alkoholiker kennen lernt. Gemeinsam wollen sie sich von ihrer Sucht befreien, sie heiraten, haben ein Kind. Aber nachdem Kurt seinen Job verliert und wieder zum Alkohol greift, entwickelt sich die Katastrophe. Ida entflieht dem gewalttätigen Mann zu ihren Eltern, aber weder der selbst ständig
betrunkene Vater noch die drogenabhängige Freundin oder die Sozialbehörden können ihr helfen, und schließlich wird ihr das Sorgerecht für ihr Kind entzogen. So landet sie wieder bei Knut und beide wieder auf der Straße, auf dem Weg in den Tod. In den neunziger Jahren gelang es einigen europäischen Filmen, das Elend so direkt zu zeigen, dass sich in einigen Einstellungen das gesellschaftliche und das subjektive Leiden nicht mehr trennen lassen. Die „offene Drogenszene“ in Europa etwa wird in Dick Maas‘ Do Not Disturb (1999) den schockierten amerikanischen Touristen präsentiert, die, durchaus stellvertretend, einen Wahrnehmungsschock erleiden, der auf die Verdrängung zurück-wirkt. In L. 627 (Auf offener Straße, 1992) ging Bertrand Tavernier von einem autobiografischen Impuls aus: Die Abhängigkeit des eigenen Sohnes führte den Regisseur auf die Suche nach der schrecklichen und trivialen Wahrheit. Das Buch begleitet zwei Polizisten der Pariser Drogenfahndung, deren Arbeit von der Politik und von den Vorgesetzten mehr oder weniger ignoriert wird. Taverniers Film ist eine illusionslose Bilanz der Drogenpolitik in Frankreich und zeigt, wie das Drogenproblem auch politisch produziert wird. Beide Filme, wenn auch vollkommen unterschiedlich, verzichten darauf, das „Drogenproblem“ in ein Erlösungsdrama umzuschreiben.
Die Droge und der Affekt
In diesen vier Modellen beschreibt der Drogenfilm das Drama eines Bruches zwischen Körper und Geist, zwischen Ich und Sucht, der zu einem Bruch zwischen dem Menschen und der Gesellschaft führt. Nur am Rande interessiert er sich für die Herkunft der Droge und für ihr Wesen. Das Problem eines jeden Drogen- Films ist die Darstellung der drei Aspekte selbst, die nach der Verletzung der sozialen Regeln entstehen: die Verletzung des Körpers, der Flash, die Verletzung der Seele. Das Drama der Drogenkarriere als Passion verlangt aber gleichsam nach dem authentischen Bild, der Naheinstellung der Spritze. Ein Schockbild, noch immer, ein mythisches Bild der „schönen Zerstörung“ und eine Annäherung an körperliche Intimität. Ein geheimer Nebenaspekt des Genres ist offensichtlich ein mitleidender Terrorismus des Blicks, eine Aktivierung des fetischistischen Blicks, den wir aus dem Horrorfilm kennen. Tatsächlich sind da ja die Grenzen fließend: Im Zentrum des Horrorfilms steht die Fantasie von der „Substanz“, die immer zugleich Leben erschaffen soll und es vernichtet, und daneben haben wir die Erschaffung der zweiten Wirklichkeit, die mindestens ihren Schöpfer vernichtet. In Filmen wie Abel Ferraras The Addiction kommt es schließlich zum Kurzschluss zwischen der gothischen und der modernen Metapher der Droge - und des Blutes. Besonders schwierig ist es, die Wirkung der Droge zu zeigen. Natürlich kann man einen Schauspieler so sehr jemanden
darstellen lassen, der high ist, wie man talentierte Leute dazu bringen kann, den Betrunkenen zu spielen. Robert De Niros Auftritt in der Opiumhöhle von Sergio Leones Es war einmal in Amerika (1984) ist da ein Schlüssel: dumm, leer und gemein wirkt da sein Gesicht, aber auch entrückt, erhaben, selig wie ein Kind. Aber dieses Bild des Menschen unter Drogen drängt nun seinerseits wieder nach Visualisierung: Alles dreht sich, man sieht doppelt, die Konturen verschwimmen usw. Leone behilft sich, indem er seinen zweifelhaften Helden auf eine lange, komplizierte Reise durch verschiedene Schichten der Vergangenheit schickt. Die Droge lässt den Ort verschwinden und macht die Zeit krumm und weit. Weshalb man hier und dort auch glaubt, den Zustand unter Drogen hinreichend durch Zeitlupe und zerdehnte Musik ausgedrückt zu haben wie bei Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Bei den Trips liebt es das Genre-Kino, wie in den billigen James-BondImitationen der siebziger Jahren, bei denen man kaum ohne eine LSD-Reise auskam, Farbfilter vor die Kamera zu setzen, oder Doppelbelichtungen zu verwenden. Statt sich in Zeit umzusetzen, löst sich der Raum vor unseren Augen auf. Und wir ahnen, was der Film uns gerade ganz nebenbei gesagt hat: dass Drogen und „moderne“ Stilmittel, zum Beispiel im Kino, etwas miteinander zu tun haben. Sieht man einmal von der ständigen Gefahr der unfreiwilligen Komik solcher Mittel ab, so ergibt sich so etwas wie eine cineastische Grundfrage, nämlich die nach Distanz oder Internalisierung der Droge. Wirkt sie auf das Drama, auf die filmischen Subjekte oder schließlich auf den Film selbst? Und
kann der Film von ihr erzählen, ohne solche Internalisierung vorzunehmen? Terry Gilliam erzählt in Fear and Loathing in Las Vegas (1998) von Hunter S. Thompsons Drogentrip nach Las Vegas auf eine ironisch- internalisierte Weise. Das „objektive“ Bild verzerrt und spiegelt sich immer wieder, die Drogenvision besetzt immer weitere Teile in der Montage, aber wir bekommen immer wieder die Chance der Distanzierung. Das Groteske bewahrt uns vor dem wahrhaft Furchteinflößenden. In Naked Lunch (1991, Foto) verarbeitet David Cronenberg den Stoff von William S. Burroughs und dessen Leben. Ironie und Distanz gibt es hier nicht. In einer kristallinen Welt ist das durch die Droge erzeugte Bild gleichberechtigt neben das Bild der „Realität“ und das der Kunst getreten. In Die Sehnsucht der Veronika Voss (1982) erzählt Rainer Werner Fassbinder von der Abhängigkeit der Diva. In ihr hat sich, umgekehrt, die Droge in die Selbstinszenierung und Selbstwahrnehmung eingeschrieben; sie ist Teil der Maske geworden: weiß. In Gothic (1986) „übersetzt“ Ken Russell die Laudanum-Träume und -Albträume von Lord Byron und seinen Gästen in die Horrorvisionen der Schauerromane. Auch eine Form des Einschreibens der Drogenerfahrung in die Kultur! So unterschiedlich diese Filme sind, sie versuchen die „andere Wirklichkeit“ zu zeigen, die Auflösung der Wahrnehmung, ohne sie schon im Bild zu moralisieren. Und sie versuchen, über die Dokumentation des „Verlustes“ hinauszugehen, die wir in der Wahrnehmung der Cops miterleben müssen, die
mit Gewalt zur Droge gebracht werden, wie Gene Hackman in French Connection II (1975, R. John Frankenheimer) oder Denzel Washington in Ricochet (1991, R: Russell Mulcahy). Sie zeigen die Droge als Fiktionalisierung der Welt, in der der Spiegel zur Wahrheit wird. Umgekehrt ist die Droge das Mittel, die Welt „wie im Kino“ wahrzunehmen. Wie das Kino zum rêve exterieur wird, so „projiziert“ die Droge Bilder nach außen - wir erinnern uns da an Berichte von Geiselgangstern und Bankräubern. Eine Rückprojektion dieses Vorgangs auf das Kino löst dessen Formen selbst auf; Droge - Gewalt - Kino werden ein Spiegelsystem. In Killing Zoe (1994) von Roger Avary sehen wir, selbst sozusagen vollkommen nüchtern (aber in hoffnungsloser Intimität), wie sich die Leute, die einen Banküberfall planen, so heillos zudröhnen, dass der bad trip kaum noch von dem blutigen Wahn der Taten zu unterscheiden ist. Und wir begreifen eine furchtbare innere Wahrheit: Die Droge, das ist nicht nur das sich in der Gesellschaft verbreitende Elend oder die Passion des Süchtigen, das ist auch ein Angriff auf die „Erzählung“ und auf das Bild. Die Fröhlichen Ki ffer
Das Interesse des Kinos, sich von der Droge „infizieren“ zu lassen, muss sich also in Grenzen halten. Was wir stattdessen suchen, sind Gesten der Distanzierung und Gesten des Akzeptierens. Nach Filmen wie Reefers Madness (Kifferwahn, 1984), einem Kultfilm der unfreiwilligen Komik, gibt es kaum
noch Filme, die den Konsum der weichen Droge verdammen oder auch nur problematisieren. Marihuana gehört zum Lebensstil der „Easy Rider“ und ihrer Nachfolger und zeigt eine Differenz der „Outlaws“, die anders als bei den harten Drogen nicht zur selbstdestruktiven Passion führt. Die Filme spiegeln da offensichtlich einen gesellschaftlichen Konsens, der nicht Gesetz geworden ist. Wir kennen die netten, weggetretenen Dauerkiffer aus Filmen wie Slackers (1991, R: Richard Linklater) oder Bang Boom Bang (1999, R: Peter Thorwarth). In Filmen wie Fatih Akins Im Juli (2000, Foto) erscheint der Konsum von Hasch als hilfreicher little helper für die Träume. Dieses Einschreiben der Droge freilich geschieht keineswegs bedingungslos: Wir benötigen die Gemeinschaft, wir benötigen den Ausweis der Friedfertigkeit, und wir benötigen die Bereitschaft zum Glück. So wird diese Droge, die eigentlich allenfalls noch eine „Droge“ ist, zum Medium, den Bruch zwischen Gesellschaft und Individuum ebenso wie den zwischen Ich und Welt eher zu kitten als zu vertiefen. In der „heiteren“ Zeichnung der weichen Droge wird sie eher zu einem Teil der Lösung als zum Teil des Problems. Saving Grace (Grasgeflüster, 2000) aus England von Nigel Cole erzählt von einem durchaus nicht widerständigen Milieu, der Welt von Cornwall, in dem das Kiffen von Jung und Alt, Reich und Arm zum Lebensinhalt gehört. Das hat sich gegenüber den Kiffer-Komödien à la Cheech & Chong (1978ff.) aus den USA erheblich geändert. Es ist keine Sache von „Freaks“ mehr. Die Geschichte einer Witwe, die sich einen Hanf- Garten zur Existenzsicherung anlegt, zeigt nichts mehr
von einer widerständigen counterculture. Die Droge hat die Mitte der Gesellschaft besetzt, ohne dass sich diese vollständig dazu bekennt. Deswegen lädt sie sich selbst mit einem kleinen ironischen Impuls der Widerständigkeit auf. Paradoxerweise ist also aus der Droge, die zu Ende der sechziger Jahre noch der Weg war, die Wirklichkeit zu verlassen, mit Roger Corman auf The Trip (1967) zu gehen, nun gerade Ausdruck „authentischer“ Wirklichkeit geworden, so als könnte sie den Blick gegen die Macht der elektronischen Bilder und die Cyberworld stärken. Die Drogen der Zukunft, das kennen wir aus Strange Days (1995) von Kathryn Bigelow wie aus Videodrome (1983) von David Cronenberg, haben das organische mit der technischen Kommunikation verknüpft; schließlich schließt sich die Lücke zwischen individueller Halluzination und Medienbild. Auch in The Matrix (1999) schließlich wären virtual reality und Drogen-Vision nur sehr willkürlich zu scheiden. Längst ist auch der „kleine Dealer“, den wir aus Filmen wie Hanif Kureishis London Kills Me (1991) aus größter Nähe kennen, zu einer sympathischen Kino-Figur geworden. Und „gut“ ist die Droge auch, wo sie zufällig in richtig falsche Hände gerät, wie in Thorsten Schmidts Schnee in der Neujahrsnacht (1999), in dem ein Ex-Knacki und Busfahrer zusammen mit einer lebensmüden Emigrantin einem toten Drogenkurier den Stoff entnehmen. Gewiss kann man im Großen und Ganzen von einer Entmythisierung der Droge im Kino der letzten drei Jahrzehnte
sprechen: Die Grenzen zwischen dem Einschreiben und der Distanzierung, zwischen der Passion und dem Kreuzzug sind offener, fließender, lebendiger geworden. D r u g Wa r s : Die poli tische Ökonomie der Droge
In einer liberalen Perspektive könnte man wohl sagen, wir hätten auch in den Filmen erfreulich „differenzierte“ Bilder entwickelt. Aber natürlich wird das Bild auch umso „schwärzer“, je mehr die unauflöslichen Widersprüche zwischen der Passion des Einzelnen und den Interessen der Gesellschaft in die Einstellung gelangen: Die Gesellschaft muss sich das Elend der Droge nicht nur so oder so einschreiben und es als Problem bearbeiten, sie produziert zugleich die Drogenabhängigen so sehr, wie sie die Droge ökonomisch wendet. Das Ergebnis ist nicht selten der Privatkrieg der so oder so Betroffenen: Der rechtsanarchistische Polizist in der Nachfolge von Dirty Harry zum Beispiel weiß sehr genau, dass er seinem Staat, seiner Gesellschaft, ja sogar seinem eigenen Apparat nicht mehr trauen kann, wenn es um Rauschgift geht. Er, der nicht selten einen nahen Verwandten, ein Kind, einen geliebten Menschen, an die Droge verloren hat, sieht sich in einem seltsamen Kreuzzug, der ihm selbst etwas von der „Passion“ überträgt. Die Jagd wird sein Rausch; auch er wird, ex negativo, nach der Droge süchtig. Und wie in der Wirklichkeit so wird auch im Film aus der Droge ein offenes Geheimnis. Der Drogenhandel, den Steven Soderbergh mit Traffic unnachahmlich auf den Punkt bringt, ist keine Verschwörung in der Unterwelt
der Gesellschaft mehr, er ist selbst einer der Kreisläufe dieser Gesellschaft, einer der wichtigsten, neben den Kreisläufen von Blut und Geld. Der Kreuzzug ist ein Stück absurdes Theater, oder ein Bluff. Andererseits wird die Droge auch immer noch als willkommener Anlass zu gesellschaftlich organisierter Gewalt behandelt. Natürlich ist die Droge immer noch gut genug für einen Thriller-Stoff; es sind die großen Drogen-Bosse, die die Rolle der Weltverschwörer und Gangster Nummer eins übernommen haben. C-Movies träumen von den Einsätzen ganzer Kerle im kolumbianischen Dschungel, um die Drogendepots wirkungsvoll in die Luft fliegen zu lassen, der Drogenbaron muss sterben. In Filmen wie Aces: Iron Eagle III (Die Asse der stählernen Adler, 1991, R: John Glen) verschwimmen schließlich die Grenzen zwischen Drogen- und Kriegsfilm: Der Einsatz moderner Kampfflugzeuge gegen eine hochgerüstete Gangster-Armee des Drogenbarons in Peru setzt einen anderen, technifizierten Rausch als „Heilmittel“ ein. Als hätten uns die Bilder vom „Drogenkrieg“ Vietnam längst verlassen. Distanzierung in der Szene, die Rettung der Seelen aus der Hölle der wahren Teufel bieten Filme wie The Courier (Der Kurier, 1988, R: Frank Deasy, Joe Lee) wie leicht fehlgeleitete Streetworker an. In einer irischen Kleinstadt tritt ein Kleindealer zum großen Rachefeldzug gegen den Boss der Stadt an. Ein Film, der sich dem Anliegen der Drogenberatung mit den Mitteln des populären Films anzunehmen bemühte, wird selbst zum Teil des Problems: Die „Lösung“ des Problems ist
der Feind, den man zu hassen liebt. Die Antwort auf die Droge ist ein Bürgerkrieg oder ein Krieg, und der „rechte“ Drogenfilm akzeptiert diese Lösung. Natürlich sieht die Wahrheit in der Regel anders aus. Roger Young erzählt in Doublecrossed (Der Drogen- Cop, 1991) eine wahre und sehr ernüchternde Geschichte über die Methoden des amerikanischen Drogendezernats DEA. Ein Drogenkurier (Dennis Hopper) wird verhaftet der schlägt einen Deal vor: Man soll ihn laufen lassen, wenn er die Treffpunkte der Drogenbosse verrät. Durch seinen Tip werden mehrere Bosse verhaftet, aber das Versprechen der Cops, ihn zu schützen, machen sie nicht wahr. Sie hetzen ihn in die Arme seiner Mörder. Der Drogenkrieg geht weiter, schlimmer noch: Er besetzt immer mehr Bereiche der Gesellschaft. Er vergiftet die Passion wie den Kreuzzug. Die Grenzen verschwimmen, wie in Michael Manns The Insider (1999), wo Al Pacino im Kampf gegen die übermächtige Tabakindustrie steht - deren umfassende Macht furchtbarer erscheint als die so altmodischen Drogen-Kartelle. Filme, die nicht nur von der Droge erzählen, sondern selbst ihr Ausdruck sind, Bad Lieutenant (1992) von Abel Ferrara oder Gierig (1998) von Oskar Roehler, entziehen sich dann doch diesem Diskurs. Es sind Filme, die in gewisser Weise aus der Perspektive der Erschöpfung, aus einem furchtbaren Danach gesehen sind. Eine Lösung wird da gewiss nicht angeboten: In der Gestalt des bad lieutenant (Harvey Keitel) sehen
wir gerade den, der uns vor der Droge bewahren sollte, den Polizisten, als ihr totalstes Opfer. Wir sehen Körper, die nur noch durch den Fluss der Droge aufrechterhalten werden, Bewegungen, die sich nur noch der Droge verdanken, Impulse, die auf nichts anderes mehr als auf die Droge gerichtet sind. Und dies alles nicht in einem dunklen Jenseits, sondern in der Mitte der Gesellschaft. Weder die Passion noch der Kreuzzug helfen gegen eine solche Mumifizierung der Gesellschaft. Crack freilich ist die nächste Apokalypse, eine radikale Beschleunigung des Untergangs. Die neue Droge hat neue Kriege ausgelöst, wie sie Dennis Hopper in Colors (1988) beschrieben hat. Whoopie Goldberg kämpft in Fatal Beauty (1987, R: Tom Holland) gegen Crack, als kämpfe sie gegen nichts anderes als die Hölle. Billy Zane ist in Blood & Concrete (1991, R: Jeffrey Reiner) ein kleiner Dealer unter Verdacht, als der Drogen- Krieg in der Stadt um die neue Designerdroge „Libido“ beginnt. In jeder neuen Droge verschärft sich nicht nur der „Krieg“, immer kürzer wird auch die Spanne zwischen Genuss und Elend, zwischen Flash und Tod. Eine Droge an einem Ort kann soziale Bewegungen lahmlegen, wie Spike Lee in Black Panther (2000) gezeigt hat, sie kann umgekehrt einen Brennpunkt zur Explosion bringen. Daher ist das Geschäft mit der Droge denn auch nicht mehr die Tätigkeit „gewöhnlicher“ Gangster. Der Crack-Dealer von Cincinnati in In Too Deep (1999) von Michael Rymer nennt sich denn auch gleich „God“; der dominikanische Drogenbaron in Shaft (2000, R: John Singleton) dagegen „Peoples“. Es ist „Teddybär“ in Le Cousin (1997, R: Alain Corneau), der zum Lockvogel und
Verräter wird, eine Doppelexistenz von Bürger und Gangster, der mit dem Drogenhandel seine Familie ernährt. Das ist die andere Seite der „Verbürgerlichung“ der Droge, die wir in anderem Zusammenhang beinahe freundlich begrüßt haben. Drogen machen abhängig, auch die Frau vom Mann, auch die Prostituierte vom Zuhälter (wie in Fandango, 1998 von Matthias Glasner). Sie ist Teil des alltäglichen Elends wie in Head On (1998) von Ana Kokkinos, der unter griechischen Einwanderern in Australien spielt. Wie in Trainspotting wird auch hier die Droge als Realität jenseits der Diskurse Passion und Kreuzzug (drug wars) gezeigt, doch hat die Regisseurin ihren Blick mit einer heftigeren Portion Gesellschaftskritik geschärft: Die Droge ist das Überlebensmittel der PatchworkGesellschaft, eine „Sprache“ zwischen den Kulturen und Ethnien, die die neuen Migrationskulturen zugleich verdammt. Die missbrauchten Kinder, wie der kurdische Junge, der in Roland Suso Richters nach einer Reportage entstandenem Film Eine Handvoll Gras (2000) in Hamburg von seinem Onkel als Drogendealer auf der Straße eingesetzt wird, gehören ebenso zur negativen Mythologie der Migrationsgesellschaft wie die Prostitution: Für den gefährdeten weißen Mittelstand wird die Droge, die aus der Migrationsgesellschaft kommt, wieder zu einer „äußeren“ Bedrohung. Zugleich sehen wir in American Psycho (2000, R: Mary Harron), wie man sich am anderen Ende der Gesellschaft ungestraft Drogen (und Mord) erlauben kann.
B e g n a d ete, Heilige und Verlorene Trinker
Die Drogen-Diskurse des Kinos sind zugleich Widerspruch und Ergänzung zum älteren Diskurs des „Trinkerfilms“. Einerseits ist der Alkohol die zugleich legale und nützliche Droge. Wie viele Kino-Paare sind nicht erst durch ein paar Drinks zu einander gekommen oder konnten sich mit einem guten Schluck zum Geständnis ihrer Liebe bringen? Nick und Nora Charles in den The-Thin-Man-Filmen (1934ff.) haben daraus eine Lebensphilosophie gemacht. Und Marlene Dietrich nahm das gleiche wie the boys in the backroom. Ansonsten sind wir eher Helden gewohnt, die durch den Griff zur Flasche zeigen, dass sie gerade „heruntergekommen“ sind, wie die last boy scouts, die schäbigen Privatdetektive oder die Western- Suffköppe (natürlich wegen einer Frau!) in der Nachfolge von Rio Bravo (1959) und El Dorado (1967), die wieder aufgerichtet werden (natürlich von einem Freund, einem guten Freund). Gewiss gibt es die Geschichte des Trinkers, der sich rehabilitiert, nach wie vor, wie noch in Simpatico (1999, R: Matthew Warchus) nach Sam Shepherds Theaterstück. Aber nach Keith Carradine in Sam Fullers Street of No Return 1989) ist es keinem Kerl, nicht einmal Bruce Willis, noch einmal gelungen, so alkoholmäßig herunterzukommen (natürlich wegen einer Frau), bevor er sich noch einmal zum Kampf entschließt. Aber diesmal kehrt der Kerl auch wieder in die Gosse der „River Street“ zurück. Oder jedenfalls beinahe. Wenn die Droge in der Regel in den Kinogeschichten für einen Bruch des Individuums mit der Gesellschaft steht, dann
ist der Alkohol vielmehr die reine Metapher des Scheiterns. Eines doppelten Scheiterns, zuerst an der Welt und dann an der Droge selbst. Die „Heruntergekommenen“ und tragischen Säufer verstehen den Bruch mit der Umwelt nicht, sie können sich an Augenblicke der Niederlage, aber an keine Entscheidungen erinnern. In The Lost Weekend (1945) verfolgt Billy Wilder seinen Trinker (Ray Milland) bei seinen letzten vergeblichen Kämpfen: Ihm graut vor sich selbst. Who‘s Afraid of Virginia Woolf? (1966) von Mike Nichols zeigt das todkranke Trinkerpaar in der gegenseitigen Zerfleischung. Wie sollte man da den Aufbau und den Zusammenbruch der Lebenslügen unterscheiden? Wenn die harte Droge der radikale Bruch mit der Wirklichkeit ist, die Verwandlung der Wahrnehmung in eine unkontrollierte Fiktion, dann ist der Alkoholrausch ein endloses Oszillieren. Und wer sagt uns denn, dass Apocalypse Now (1979, R: Francis Ford Coppola) nicht ein einziger, furchtbarer Alkohol- und Drogentraum von Martin Sheens Captain Willard ist? Dagegen stehen die konsequenten Todestrinker wie Albert Finney in Under the Vulcano (1984, R: John Huston), Nicholas Cage in Leaving las Vegas (1995, R: Mike Figgis) oder (immerhin im Hintergrund) eine Reminiszenz an diese Figur in Barton Fink (1991, R: Joel Coen). Die Heldin von Ulrike Ottingers Bildnis einer Trinkerin (1979) versteht es, die Einnahme von Alkohol zu einem Kunstwerk zu machen. Die Würde erhält der Trinker oder die Trinkerin hier dadurch zurück, dass er oder sie weiß, was er tut: Der heroische Trinker hat das Trinken gewählt. Deshalb kann ein heroischer oder
heiliger Trinker, anders als der Junkie vielleicht, ganz und gar nicht durch die Liebe geheilt werden. Die Proll-Droge Alkohol; Heroin - die tragische Droge; Kokain, „Schnee“ (Juliet Bertos und Jean-Henri Rogers Neige, 1981) - eine Droge der Reichen und Schönen; Marihuana oder Haschisch - die lässliche Droge der slackenden Jugend; Crack - die mörderische Ghetto-Droge; LSD - die erste der verrückten Designer-Drogen für Künstler und Verbrecher; Opium - die Droge der Vergangenheit; die Pillen der frustrierten Hausfrauen: Die Droge setzt die Bilder- und Erzählmaschinen in Gang. Gibt es für die beiden Drogen-Diskurse, Gesellschaft und Gewalt einerseits, körperlicher und seelischer Verfall des Einzelnen in der Drogenkarriere andererseits, so etwas wie eine rationale, „pädagogische“ oder präventive Wirkung durch Filme? In der Regel bieten unsere Erzählmöglichkeiten nur wenige Möglichkeiten. In der Gesellschaft hilft gegen die Drogen nur die Gewalt; in der individuellen Biografie hilft gegen die Drogen nur die Liebe. Und wenn wir uns einen zweiten Blick gestatten, dann hilft nicht einmal das. epd Film 8/2001
KANN EIN KORALLENRIFF FASCHISTISCH SEIN? LENI RIEFENSTAHL
WIRD
100
Die politisch-ästhetische Aufklärung hat sich an Leni Riefenstahl abgearbeitet. Alle Versuche, mal einfühlsam, mal aggressiv, diesen menschlichen Panzer zu bezwingen, sind fehlgeschlagen. Für jede analytisch-kritische Betrachtung ihrer „ur-faschistischen Ästhetik“ wachsen zehn Verteidigungen und 20 Hymnen nach. Und die ästhetischen Moden haben mit ihr experimentiert, ohne dass je so etwas Praktisches wie Erkenntnis dabei herausgekommen wäre. Unsere Bilderkultur hat, so fürchte ich, vor Leni Riefenstahl kapituliert. Nun feiert man ihren 100. Geburtstag, heute, am 22.8., und der deutsche Mainstream ist gerührt, ein bisschen verlegen und ein bisschen stolz. Die Gratulationscouren sind eine nicht wirklich amüsante Mixtur aus Heuchelei, Peinlichkeit, Ignoranz und Populismus. Nicht nur die Regisseurin, auch ihre Bewunderer waren und sind für einen moralischen Diskurs über Kunst und Ideologie nicht zugänglich. Zur selben Zeit haben sie es trefflich verstanden, das Kulturelle und das Ökonomische miteinander zu verbinden. Leni Riefenstahl ist auch der Name für ein nicht mal schlechtes Geschäft. Die Gratulationen kommen allerdings zur rechten Zeit. Wie raffiniert die scheinbar nur dumme Selbstdarstellung als Opfer, die Verwandlung in ein Markenzeichen („it?s very Leni
Riefenstahl!“) inszeniert ist, wird einem vielleicht heute angesichts der dutzendfachen Experimente mit dem Rechtspopulismus bewusst: Zum faschistischen Gesamtkunstwerk gehört nicht nur die Vertreibung des Menschlichen aus dem eigenen Zentrum, sondern auch die mitinszenierte moralische Entschuldung, die Entrückung des Autors. S elbsterfindung
Gegen Riefenstahls Rehabilitierung haben immer wieder ein paar aufrechte Menschen protestiert; genutzt hat es wenig. „Der Pakt mit dem Teufel“ (Ines Walk) zieht sich durch unsere Bildergeschichte, als wären wir immer noch fasziniert von solcher kalten Monumentalität einer Welt, in der es weder Erfahrung noch Mitleid gibt. Erschreckend ist hier nicht der Bruch, der Opportunismus, mit dem sich andere Filmemacher dem Nationalsozialismus dienstbar machten, erschreckend ist vor allem die Kontinuität einer Ästhetik, die mit Recht von sich behaupten kann, sie kümmere sich nicht um Ideologie, die sie eventuell transportiere. Denn Riefenstahls Bilder transportieren nicht Ideologie, sie sind Ideologie. Ihre Selbsterfindung als mystische Naturfrau in Das blaue Licht ist nicht eine andere Seite der Künstlerin, sondern die genaue Entsprechung des Reichsparteitagsfilms. Dass ihre Nuba-Bilder nicht nur auf unmoralische Art (durch
Korruption und Gewalt) entstanden, sondern auch unmoralische Bilder sind ? sie wird es nicht verstehen. Dass ein Korallenriff, so fotografiert, dass es nicht mehr als lebendes System, sondern als „reines“ Kunstwerk erscheint, einem ästhetischen Gewaltakt entspricht ? sie wird es so wenig verstehen wie ihre Bewunderer. Das „Schöne“ bei Riefenstahl ist nicht Erfahrung, sondern Pose, ist nicht Erkenntnis, sondern Fetischismus. Es gibt nicht die Riefenstahlsche Ästhetik, die durch den Faschismus (zeitweise) ihre Unschuld verloren hätte; Leni Riefenstahls Ästhetik ist faschistisch. Ikone der Pop-Art
Dabei war „Leni Riefenstahl“ auch der Knotenpunkt sehr unterschiedlicher ästhetischer Diskurse. Von kühl zu heiß, von männlich zu weiblich, von elitär zu populär. Riefenstahl diente einmal als Beleg für die Trennung von Leben und Werk, das andere Mal für die zwischen Kunst und Politik. Dann wieder wurde sie in eine prophetische Gestalt weiblicher Emanzipation umgedeutet, schließlich zu einer Ikone der Pop Art ? so viel Oberfläche war nie ?, und nicht zuletzt benutzte man sie und ihr Werk auch zu dem, was wir uns mittlerweile als „Tabuverstoß“ zu bezeichnen angewöhnt haben. Ihre Arbeit ist ein vergifteter Moment in der Kunst wie im Pop. Als Person erweckt sie längst sentimentale Gefühle: Wir bangen mit ihr bei einem Hubschrauber-Absturz, gehen mit ihr und Reinhold Messner noch einmal in die magischen Berge, lassen uns sogar in mehr oder weniger kritischen Zeitungen
(wie jüngst der „Frankfurter Rundschau“) die Tiraden der „Verfolgten“ gefallen. Aber immer noch lässt sie, die ganz und gar Unschuldige, sich bereitwillig politisch instrumentalisieren: Im Jahr 2001 erhielt sie ausgerechnet am Vorabend des 22. Juni in St. Petersburg (dem Tag, an dem vor 60 Jahren der deutsche Angriff auf die Sowjetunion begann) einen Preis, und der Festivaldirektor Litvjakov verkündete allen Ernstes, dies sei ein Zeichen dafür, „dass wir nun endlich die volle Freiheit erreicht haben“. Unnütz zu sagen, dass sich Leni Riefenstahl nicht an der Blumenniederlegung für die Opfer des deutschen Angriffs beteiligte, die einige andere deutsche Gäste des Festivals unternahmen. N ie f ür die Wirklichkei t interessiert
Jodie Foster, so war zu hören, plant einen Film über das Leben von Leni Riefenstahl und will auch die Rolle selbst übernehmen. „Sie hätte die größte Regisseurin der Welt sein können. Aber sie hat eine Reihe von falschen Entscheidungen getroffen“, kommentiert Foster. Da ist sie wieder: die Falle, die uns aus dem Fall Leni Riefenstahl entstanden ist. Dass jede Einstellung, jede Kadrierung, jeder Schritt ihrer martialischen mise en scène eine falsche Entscheidung ist ? davon können wir nicht mehr sprechen. Riefenstahl hat für sich stets in Anspruch genommen, sie habe eine vollständig morallose Kunst angestrebt, sich nie für die Wirklichkeit interessiert. Was nicht nur keine Entschuldigung, sondern bereits ein vernichtendes Urteil über eine
„Kunst“ ist. Wieviel Riefenstahl in unserer Kultur spukt, in der Werbung, den Sport-Inszenierungen, im Spielfilm, von den bewusst mit den Faschismen spielenden Tabuverstößen im Pop ganz zu schweigen, das ist am allerwenigsten ein Beweis für die Harmlosigkeit dieser Ästhetik. Es ist vielmehr einer jener Anlässe, bei denen es einem vor der eigenen Kultur grauen kann. www.legamedia.net
LECTERS LEKTIONEN Wollen wir das wirklich sehen? Einen Film wie »Hannibal«, der zeigt, wie der Kannibale seine Opfer isst? Einige Überlegungen zu Gewalt und Grausamkeit, die Sie lesen sollten, bevor Sie ins Kino gehen
Wollen wir eigentlich sehen, wie einem lebendigen Menschen das Herz aus dem Körper geschnitten wird? Oder andere seltsame Attraktionen aus Kinoerfolgen der vergangenen Jahre: wie Menschen zu blutigem Brei geschossen werden? Wie eine stählerne Klauenhand den Bauch einer Schwangeren aufschlitzt? Wie jemand seinem Widersacher Glasscherben in die entsetzten Augen drückt? Wie jemand eruptiv sein Mittagessen wieder loswird? Oder wie ein kultivierter Kannibale seinem Opfer den Schädel öffnet, um ihm sein eigenes Gehirn zu essen zu geben? Hannibal, die Verfilmung des wahrhaft gewaltkranken Romans von Thomas Harris und Fortsetzung des grandios makabren Psychothrillers Das Schweigen der Lämmer, wird, obwohl insgesamt eher zurückhaltend inszeniert, eine alte Frage wieder aufwerfen: Wie viel Gewalt wollen, dürfen und können wir sehen? Wo ist die Grenze der Bilder von Ekel und Sadismus in unserer populären Kultur? Unsere Geschichte, wir wissen es nur zu gut, ist voller Gewalt. Und unsere Kultur ist voll von Bildern der Gewalt. 101 Theorien sind darüber entwickelt worden, ohne daß wir etwas
davon in den Griff bekommen hätten. Am schlimmsten verhält es sich dabei mit der Frage, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt. Ist das Bild der Gewalt im zivilisatorischen Prozess ein Fortschritt, insofern als es uns ein Bewusstsein von unseren Schandtaten gibt, oder eine ungefährliche Ersatzlösung archaischer Impulse? Dann wäre Hannibal Lecter ein seltsamer Heiliger der medialen Sublimation. Oder verurteilen uns die Gewaltbilder zu ewigem Kreislauf barbarischer Rückfälle? Dann wäre er ein schrecklicher, virtueller Verführer, den wir nur auf einem ebenso virtuellen Scheiterhaufen opfern müssten. Natürlich ist er beides - und noch vieles mehr. Was also macht das Gewaltbild? Hilft es uns, unsere Angst vor der realen Gewalt zu bewältigen? Stiftet es uns zur Nachahmung an? Stumpft es uns ab, gegenüber der realen Gewalt auf den Straßen und in den Familien? Macht es uns stumpf gegenüber den schönen und schöpferischen Dingen, zu denen wir, hoffentlich, auch befähigt wären? Nachahmung, Bewältigung, Sublimation, Abstumpfung - vielleicht kommt es, was die Wirkung des Gewaltbildes anbelangt, fatalerweise nicht nur auf dieses, sondern auch auf unsere eigene Verfassung an. Womit jede verbindliche Bildermoral erst mal beim Teufel wäre. Aber hinter den Bildern von Gewalt und Ekel steckt ja noch mehr. Sehr selten geht es um Gewalt oder Ekel an sich. Und das ist in gewisser Weise noch eine der harmlosesten Formen: die Geisterbahn. Wie viel hälst du aus? Wann schreist du? (Und, die netteste Variante: Wann sind schreckliche Bilder genügend Vorwand, um uns tröstend
zusammenzukuscheln? Es gibt glücklicherweise Monster, denen man diese geheime Absicht gleich ansieht.) Eine rituelle Mutprobe, ins Mediale verschoben. Wer sich mit 16 Jahren nicht für die »verbotenen Bilder« interessiert, mit dem stimmt etwas nicht. Wer es freilich vier, fünf Jahre später immer noch tut, mit dem ist vielleicht auch nicht alles in Ordnung. D a s Mo n ster: Ein guter Grund zum Kuscheln
Aber in der Regel geht es noch um etwas anderes, und je mehr die Bilder in die Mitte der Gesellschaft, in den Mainstream, zielen, umso deutlicher wird es. Es geht um eine Bewertung der Gewalt, ihre ideologische Legitimation. Wir sehen zum Beispiel Gewalt als das, was jemandem angetan wird, bis der zum noch brutaleren Gegenschlag ausholt. Das ist komisch und durchschaubar (aber eben nicht: harmlos) bei Laurel & Hardy. Und es ist furchtbar, wenn uns narzisstisch gekränkten Medienmenschen auf diese Weise die Fronten in Kriegen und Bürgerkriegen erklärt werden. Das Schrecklichste, was man von Hannibal Lecter sagen kann, ist, dass er in Wahrheit ein verkappter Moralist ist, der gerade Menschen tötet, die es »verdient« haben. Das Zweite, was uns Bilder von Gewalt und unwillkürlicher Körperlichkeit vermitteln, ist eine Art der verlorenen Erfahrung. Wir müssen ja auch in der Wirklichkeit, so scheint‘s, den Körper schon quälen, um ihn noch zu spüren (siehe Piercing). In den Bildern der Gewalt rekonstruiert sich jener Körper, der durch den Verlust der Arbeit (zumindest im traditionellen
Sinn) seine Würde verloren hat. Natürlich scheint es auf den ersten Blick absurd, das ausgerechnet durch solche so offensichtlich würdelosen Bilder bewerkstelligen zu wollen. Aber dann sehen wir genauer hin und erkennen in der Gewalt auf der Leinwand, im Bild des Grauens, auch das ästhetische Arrangement, die Passion des geschundenen Körpers. Hannibal macht aus den Körpern Kunstwerke. Zudem gibt es allerlei offene und geheime Verbindungen zwischen den beiden Generallinien des verbotenen Bildes, zwischen der Gewalt und der Sexualität. Hannibal wäre nicht halb so faszinierend ohne die bizarre Liebesgeschichte, die ihn mit der jungen FBI-Agentin Clarice Starling verbindet. Im Gewaltbild kann man etwas davon unterbringen, was im Bild der Liebe nicht zu zeigen ist. Die Verbindungen sind, sexuelle Aufklärung hin oder her, im offenen Diskurs nicht zu klären. Wir haben nur Bilder dafür. Und einmal mehr können wir nicht recht sagen, was grauenvoller ist, jene »heiße« Gewalt, die ihren sexuellen Urgrund offenbart, oder jene »kalte« Gewalt des Maschinellen. Hannibal, das »altmodische« Böse, interessiert sich nicht für das Maschinelle, er interessiert sich für das Fleisch. Und noch etwas anderem ist das Gewaltbild auf der Spur: dem Bösen. Das Monster erklärt uns in der unübersichtlichen Welt, was das Böse sei. Ist Hannibal Lecter nicht einfach eine neue Variante des altbösen Feindes, das päpstlich beglaubigte Paradox des Bösen, das zugleich absolut und personal sein mag? Wir mehr oder weniger christlichen AbendländerInnen
haben eine bewegte, widerspruchsvolle Geschichte des Teufels und seiner Funktionen hinter uns. Und viele unserer Gewaltbilder sind auch verkappte Teufelsbilder, die wiederum, vielleicht, ein schwarzer Umweg zur Suche nach dem anderen, dem Göttlichen, dem Erlösenden sind. Hannibal ist der Verführer, der alle bestraft, die ihm nicht widerstehen, und er ist verliebt in die, die es tun. Das kennen wir von Mephisto, dass er das Böse will und das Gute schafft. Nur muss uns das heutzutage drastischer vor Augen geführt werden. Am Ende ist das Bild der Gewalt und des Ekelhaften (des Körpers ohne Kultur und ohne gesellschaftliche Kontrolle) auch das letzte Echo der schwarzen Pädagogik. Der schwarze Mann, der unsere Kindheit überschattete - oder nicht. Ganze Serien von Gewaltfilmen liefern dazu letzte Desillusionierung: Der schwarze Mann, das ist Daddy selbst. Der Missbraucher, aber auch der Versager. Der Gewaltdialog, den Hannibal und Clarice führen, hat tief im Inneren damit zu tun. Die beiden, beständig die Rollen von Jäger und Gejagtem tauschend, umkreisen das manische Tabu. Der Kannibalismus ist die äußerste Form des Inzests. Da sitzen wir nun vor der Frage: Wenn wir die Bilder des Grauens verbieten oder nur gedankenlos ablehnen, so werden wir einen ganzen Teil von uns selbst und von unserer Kultur nicht mehr verstehen. Sollten wir aber andererseits die Bilder einfach freigeben, nach dem Motto Al Capones: Wenn die Leute es haben wollen, sollen sie es bekommen? Dann würden wir wohl beginnen, die Zivilisationsgeschichte rückwärts zu
schreiben. Das Unheimliche, Sigmund Freud hat es uns vor geraumer Zeit erklärt, steigt aus dem Vergessenen und Verdrängten auf, immer wieder. Es ist nur die Frage, wie wir es bearbeiten. B i z a r r : D e r fundamentale Fleischesser in BSEZei ten
Zensur, selbst eine Form von Gewalt, ist keine Lösung. Das heißt aber nicht, dass wir die Albtraumbilder unwidersprochen hinzunehmen hätten. Auf einem freien Markt der Bilder tut sich gesellschaftliche Verständigung freilich schwer. Denn in der Konkurrenzsituation meint das Bild ja nicht mehr so sehr den Adressaten und seine (verborgenen oder offenen) Wünsche, es meint vor allem das Konkurrenzbild, das es zu übertreffen gilt. Die Bilder der Medienmaschine sprechen seit längerem schon mehr untereinander, als dass sie mit uns sprechen. Und die Produktion eines Films wie Hannibal ist nichts anderes als ein prekärer Balanceakt, nämlich einerseits die Bilder des Vorgängers und die Bilder der Konkurrenz an bizarren Attraktionen zu übertreffen, andererseits aber den Konsens im Mainstream nicht zu stören. Von der Peripherie (in der Filme wie The Texas Chainsaw Massacre einst die moralische und ästhetische Ruhe des Mainstream zu stören vermochten) ist das Gewaltbild in die Mitte gerückt. Dabei hat es sich, gewiss, gegenüber den Provokationen des bewusst »bösen Kinos« abgeschwächt. Zugleich aber ist es selbstverständlich, gewöhnlicher geworden. Bei Zombie musste die Mainstream-
Kultur über etwas urteilen, das sie sich vom Halse halten will. Bei Hannibal kann sie nur über sich selbst urteilen. Dass es noch Grenzen gibt, dafür ist der Film Hannibal selbst schon ein gutes Beispiel: Die ärgsten Volten sadistischer Gewalt aus Harris‘ Roman erspart uns der Film von Ridley Scott. Es gibt noch einen deutlichen Unterschied zwischen dem, was wir uns als Textfantasie und dem, was wir uns als »realistische« Bilder zumuten. Man kann an diesem Film studieren, wie man Gewalt zeigt und zugleich nicht zeigt, wie man durch die Länge von Kameraeinstellungen, Distanz und Licht das Grauen dämpft. Vor allem aber zeigt er, was wir als gleichsam eingebauten Abwehrmechanismus haben. Es gibt nicht nur eine Grenze zwischen dem Erlaubten und dem Verbotenen, sondern auch eine Grenze zwischen dem Grauenhaften und dem Komischen. Denn Hannibal, der Teufel, der schwarze Daddy, der böse Künstler, der fundamentale Fleischfresser in BSE-Zeiten, ist am Ende auch ein Satiriker. Ein Clown im Reich des Grauens, der noch dem Diskurs zur Bildergewalt die lüsterne Zunge hinausstreckt. Die Sache ist, wie gesagt, nicht besonders einfach. Die Zeit, 08/2001
O BROTHER, WHERE ART THOU? Einige der interessantesten Filme handeln von Filmen, die nicht zu Stande kommen, und einer der schönsten Filme dieser Art ist Sullivan‘s Travels, den Preston Sturges 1941 drehte. Er erzählt von dem Filmregisseur John L. Sullivan (Joel McCrea), der es satt hat, den Leuten verlogene Filme über Glück und Harmonie zu liefern und lieber vom richtigen Leben erzählen will, von der Unterdrückung des Menschen durch den Menschen. „Significance“, Bedeutung soll das haben, was er macht. Dazu hat er schon einen Titel: „O Brother, Where Art Thou?“, jetzt braucht er nur noch die Erfahrung dazu. So macht er sich auf die Reise, das wahre Leben im „Unterleib Amerikas“ kennen zu lernen, auf den Straßen und in den Güterwaggons der Elendsrouten in der Zeit der Depression. Nach einem Fehlversuch gelingt es John L. Sullivan tatsächlich, das Elend kennen zu lernen, und zwar wesentlich gründlicher, als er das vorgehabt hat. Erst ein Hobo, dann Kettensträfling, immer ein Mann ohne soziale Identität. Irgendwann dürfen die Gefangenen einen Zeichentrickfilm sehen, sie lachen und Sullivan lacht. Lacht und wundert sich über sich selbst auch, und hat gerade gemerkt, wie die Wahrheit auch im Trost steckt, den unwahre Bilder spenden. Preston Sturges‘ Film kreist in seiner Botschaft ungefähr so wie John Fords The Man Who Shot Liberty Valance in der seinen: Während der Film erzählt, wie jemand nach vielen schmerzlichen Erfahrungen einsieht, dass es durchaus ein eh-
renwertes Unterfangen ist, die Menschen von ihrem elenden Leben durch Unterhaltung abzulenken, zeigt der Film eben dieses Elend. Während sie eine wohltätige Lüge zu rechtfertigen scheinen, erzählen diese Filme die Wahrheit. Oder wenigstens einen Teil davon. Joel und Ethan Coen, die in Barton Fink einen Typen porträtiert haben, der es mindestens mit Sullivans anfänglicher Ignoranz aufnehmen kann, haben nun diesen Film von Sullivan oder Sturges 60 Jahre später gedreht. Oder auch nicht gedreht, denn natürlich kommen die Coens wie immer sehr rasch darauf, dass das mit der Wahrheit und mit der „Bedeutung“ so einfach nicht ist. Die Wahrheit bei ihnen ist etwas, das sich aus lauter Lügen zusammensetzt: Drei Kettensträflinge sind geflohen. Ulysses hat Pete und Delmar von einem großen Schatz erzählt, den er verborgen hat. In Wirklichkeit will er nur auf dem schnellsten Wege nach Hause, um zu verhindern, dass seine Frau einen anderen Mann heiratet. Aber noch wichtiger ist ihm, sich stets mit genügend Haarpomade der Marke Dapper Dan versorgt zu wissen. Unterwegs begegnen die drei einem blutrünstigen Sheriff, einem schwarzen Gitarristen, der gerade aus musikalischen Gründen seine Seele dem Teufel verkauft hat wie weiland Robert Johnson, einem blinden Radiochef, in dessen Studio sie eine Platte unter dem Namen Soggy Bottom Boys aufnehmen („I‘m a man of constant sorrow“), die sich rasch, aber ohne ihr Wissen zum Hit entwickelt, drei schönen aber wenig wohlmeinenden Wäscherinnen oder Sirenen, die Pete vielleicht in einen Frosch verwandelt haben, einem einäugigen Bibelverkäufer, der sie mit einem Ast niederschlägt
und ihr Geld klaut, zwei Kandidaten um den Gouverneursposten, die in ihren Mitteln nicht besonders wählerisch sind, dem Ku- Klux-Klan, dessen Kapuzenmänner den Gitarristen der Soggy Bottom Boys lynchen wollen, dem irren Gangster Baby Face Nelson und noch einigen interessanten Charakteren von möglicherweise mehrfacher „Bedeutung“. Die Wahrheit, die Sullivan gerade deswegen verfehlen musste, weil er bis zum Hals darin steckte, ist eine Mischung aus einer Depressionskomödie, einer Chain-Gang-Saga, einem Musical, das von der Geburt der Popmusik aus dem Geist des Elends handelt. Und weil das alles nicht genug ist, haben die Coen Brothers auch noch die Chuzpe besessen, in den weniger als zwei Stunden ihres Film zusätzlich die Homersche Odyssee zu erzählen. Das ist an der Oberfläche eine reichlich frivole Angelegenheit, aber je genauer man den Film ansieht, desto mehr stimmt diese Übertragung: Amerika in den dreißiger Jahren - ein Land, das erst durch seine Erzählung entsteht; die mündliche Überlieferung des Gesangs, in den homerischen Versen und in denen der Hillbilly- und Bluegrass-Musik, von der die Coens ganz nebenbei erklären, wie stark ihr schwarzer Anteil ist. Und bevor man noch tiefer in den Kosmos von Coen-Country eintaucht, den windungsreichen Text dieses Films auch mit Kafka oder Freud liest, wenn einem danach zu Mute ist, kann man schlussendlich begreifen, dass man einen Film über den Zusammenhang zwischen der Blindheit und dem Gesang gesehen hat. Und vielleicht sogar darüber, was dies mit der Art von politischer Macht zu tun hat, die ihre Struktur seit der Depressionszeit nicht sonderlich geändert
hat. Die dicken, alten, korrupten und korrumpierenden Männer gewinnen immer in Coen- Country. Ein richtig schöner neuer Coen-Film also, nach denen man ja, wie man nach sieben Stück davon weiß, süchtig werden kann, unter anderem, weil sie die Kino-Bilder und die Erzählung in Bildern so sehr befreit haben wie, sagen wir, Picasso den Blick auf ein Tafelbild. Zumal befördert durch zwei ziemlich radikale künstlerische Entscheidungen: Bei O Brother, Where Art Thou? entstand die Musik vor dem (endgültigen) Drehbuch, so dass der Plot gleichsam dienende Funktion erhält, diese Musik aber ist zugleich immer on scene, sie kommt nicht aus dem erlösenden Jenseits des Pop-Himmels, sondern wird immer von denen gemacht, die gleichzeitig ihre Geschichte erleben. Und dieser Coen-Film ist am radikalsten „gemalt“. Die Farben wurden nach den Aufnehmen digital bestimmt. Unter anderem gibt es die Farbe grün ganz einfach nicht. Was insofern noch einmal ein Witz ist, weil Mississippi in der Sommerzeit, in der der Film spielt, so ziemlich das grünste Land ist, das man sich vorstellen kann. Es ist ein Coen-Süden, so falsch gemalt, wie Picasso falsch gemalt hat. Trotzdem fehlt in O Brother, Where Art Thou? ein bisschen etwas von dem, was die letzten Coen-Filme so schön gemacht hat. Das erklärt sich nicht nur dadurch, dass er dem leicht hysterischen Raising Arizona so viel näher ist als etwa The Big Lebowski. Diese wunderschönen, beunruhigenden Momente in Coen-Filmen, in denen man nicht weiß, ob man heulen oder lachen soll, in denen man nicht weiß, ob man einer hübschen
Alberei oder einem profunden Verstoß gegen ästhetische und mythische Codes zugesehen hat, in denen man nicht weiß, ob man gerade das unverschämteste Stück Kunst oder das genaueste Stück Leben mitbekommen hat - diese magischen CoenMomente sind diesmal vergleichsweise rar. Vielleicht hat das damit zu tun, dass wir den drei blinden Mäusen in der Erzählmaschine diesmal vor allem von außen zusehen, wie sie von Apathie zu Hysterie eilen, von Feuer zu Wasser und von Vision zu Enttäuschung, dass wir die Erzählmaschine der Coens mittlerweile auch schon durchschaut haben. Die Verrücktheiten, die zwischen der Story und ihren möglichen Autoren geschehen - einen alten Mann etwa, der mit einem Uhrwerk auch eine Geschichte aufhalten kann - gibt es diesmal ebenso wenig wie diese Momente der melancholischen Ruhe, die gelegentlich über die Protagonisten in Coen- Country kommen kann. In O Brother, Where Art Thou? ist die intellektuelle Erzählmaschine der Coen-Brüder ein wenig heißgelaufen. Das Ergebnis sieht aus wie eine liebenswerte Parodie auf einen Coen-Film. epd Film 10/2000
ROGER VADIM 26.1.1928 - 11. 2.2000 Dass Filmemachen heißt, mit hübschen Frauen hübsche Dinge zu machen, das hat sich so hübsch dahingesagt, damals, zur Zeit der Nouvelle Vague. Es war einerseits unkorrekt und andererseits natürlich gelogen. Nur einer hat diesen Satz richtig ernst genommen und nie etwas anderes gemacht: Roger Vadim. Seine Filme waren Liebeserklärungen in doppeltem Sinn, ein bisschen wie ein Gedicht, das man jemandem mit einem Rosenstrauß schickt, ein bisschen wie ein freudianisches Suchen nach den Bedingungen des Begehrens. Und ein bisschen Party-Tratsch- Exhibitionismus. Radikal war er höchstens darin, wie sich bei ihm Leben und Film miteinander verbanden. Machte Vadim die Frauen, die er liebte, zu erotischen Kino-Phantasmen, Brigitte Bardot, Cathérine Deneuve, Annette Stroyberg, Jane Fonda oder Sirpa Lane? Oder liebte er die Kino-Phantasmen, die er selbst geschaffen hatte? Jedenfalls war mehr als in den Cineasten-Blättern über Roger Vadim und seine Stars in Magazinen zu lesen und zu sehen, mit denen man sich nicht in der Straßenbahn erwischen lassen mochte. Er war der Regisseur, den kaum jemand wegen seiner Filme lobte, aber alle für die Stars priesen, die er gemacht haben soll. Das kränkt am Ende doch. Sein Buch „Bardot Deneuve Fonda“, gegen das die ersten beiden der Titelheldinnen gerichtlich vorgingen, war wirklich ein bis-
schen peinlich. Aber das lag nicht nur an ihm, sondern auch daran, dass da schon ein ästhetisches und emotionales Konzept der Geschlechterbeziehungen endgültig ausgedient hatte, das in Frankreich den Namen erotisme bekam. Egal in welche andere Sprache man diesen Begriff übersetzt, es kommt immer etwas reichlich Banales heraus. Erotisme ist auch der beste Begriff, Roger Vadims Filme zu charakterisieren. Erotisme als Spiel einer Generation X, die ein bisschen zwischen die heroischen Zeiten der Geschichte geraten war und sich neben den theatralischsten Arten, eine Zigarette zu rauchen, nur die Liebe zur großen Geste machen konnte. Und man liebte Lebensgeschichten wie diese: Vadim Roger Plemianikow wurde als Sohn eines russischen Aristokraten geboren, der vor der Oktoberrevolution geflohen war, und wuchs in der Welt der Diplomaten und Kaufleute auf. Dagegen hilft nur die Kunst. So besuchte er die Schauspielschule von Charles Dullin und arbeitete nach einer kurzen Zeit auf dem Theater als Regieassistent von Marc Allégret, dann als Reporter der Illustrierten „Paris Match“. Roger Vadims erster Film, Et dieu créa la femme aus dem Jahr 1956, wurde zu einem „Skandal-Erfolg“. Der Film, in deutschen Landen als Und immer lockt das Weib herausgebracht, sollte nämlich, so befand es etwa die Katholische Filmkommission in Österreich, „in der Hauptsache die Schaustellung eines tierhaft ungebundenen Mädchens“ enthalten, „dem es selbst in der Ehe nicht gelingt, seine verführerische Wirkung auf die Männer einzudämmen“. Vage konnte man ahnen, dass es dabei und jedenfalls in Brigitte Bardots Leinwand-Imago um etwas ging, was
man Jahrzehnte später politisch ziemlich korrekt als „weibliches Begehren“ in jedes noch so törichte Gespräch einfließen lassen kann. Damals jedenfalls war es einerseits „überaus geschmacklos“ und „abzulehnen“, und andrerseits musste man den Film gesehen haben, was beides nicht wenig zum Ruhm von Bardot, Vadim und übrigens Curd Jürgens beitrug. Roger Vadims Filme der fünfziger und frühen sechziger Jahre waren elegante und immer ein bisschen schwülstige Streitobjekte für die Zensur. Der Regisseur bewies in seinen besten Filmen nicht nur den Stolz auf „seine“ weiblichen Stars, sondern fand auch immer Bilder für die Angst vor dem Verlust. In Sait-on jamais? (Spuren in die Vergangenheit, 1957) zeigt er höchst treffend, worum es beim Einsatz des CinemaScopeFormats auch gehen kann: nicht nur um die Erweiterung des Blicks zum Panoramatischen, sondern auch um die Erfahrung von Brüchen und Widersprüchen im Bild. Seine Filme erinnern an die Musik des Modern Jazz Quartetts (John Lewis schrieb die Musik zu Sait-on jamais? ); sie sind in gewisser Weise durchsichtig, und sie wappnen sich hier und dort mit einer eigenen Sprödigkeit gegen reine Gefälligkeit. Und Vadim stand den Frauen, von denen seine Filme handeln, zu dieser Zeit noch nicht im Weg. Er ließ sie ihre Aura entfalten, und sei es die eines schlafwandelnden Kindes, das fast noch nicht von seiner „tierhaften Ungebundenheit“ weiß wie Annette Vadims Carmilla de Karnstein in seiner merkwürdigen Sheridan-LeFanu-Verfilmung ... Et mourir de plaisir (1960), deren Mischung aus Horror und Erotisme samt Claude Renoirs schö-
nen Bildern Kritik und Aficionados gleichermaßen verärgerte. So sehr war dieser Film pure Form: nichts dahinter. Natürlich mochten weder die wahren Cineasten noch später die rebellischen Studenten die hübschen und frivolen Filme von Roger Vadim. Die Gefühle in ihnen waren von der Art, wie man sie bei Françoise Sagan fand. Noch die Verzweiflung wurde da zum Spiel. Russisches Roulette mit Platzpatronen. Das Land, die Geschichte, die Mühen des materiellen Lebens kamen bei ihm nicht vor. Und dann war ihm kaum dieses zunehmend bornierte Frauen-Bild zu verzeihen, das er unentwegt suchte und erfand: Unschuld und Verworfenheit in einem, Exhibitionismus und Schüchternheit. Hitchcock beantwortete diesen Widerspruch mit Mord, bei Vadim wurde er mindestens 90 Minuten lang ausgebreitet. Oh, welche Geschichten hat uns Vadim erzählt: vom Waisenmädchen (Brigitte Bardot), das Männer, vom Jacht-Besitzer bis zum schüchternen Poeten, anzieht in Et dieu créa la femme, von der Studentin (Bardot), die einem Beinahe-Selbstmörder verfällt in Le Repos du guerrier (Das Ruhekissen, 1962), vom liebeshungrigen Fotomodell, das von einem perversen Millionenerben umgebracht wird in La jeune fille assassinée (Ein wildes Leben, 1974). Schöner Schund! Wir haben ihm verziehen, dass er Jean-Claude Forests Barbarella, den Comic zur Pop Art, 1967 konsequent an der Pop Art vorbei verfilmte, weil er dafür einen ganz eigenen lyrischen Ton für die Weltraum-Sex-Oper mit Jane Fonda in der Hauptrolle fand. Bei Choderlos de Laclos, dessen Gefährliche Liebschaften Vadim
1960 mit Jeanne Moreau und Gérard Philipe in die Gegenwart versetzte, aber hörte der Spaß auf. In La Vice et la vertu (1962) wagte er es, Motive von De Sade in die Welt der Nazi-Chargen zu projizieren, eine Geschmacklosigkeit, der nicht die geringste cineastische Ernsthaftigkeit gegenüberstand. Und seine Schnitzler-Verfilmung La Ronde (Der Reigen, 1964) mit allen möglichen Stars des französischen Films bildete sich etwas darauf ein, „amüsant“ zu sein. Amüsant! Unbekümmert. So waren die Filme von Roger Vadim. Aber eigentlich ging es immer nur um Sex. Um ein Spiel mit der Zensur und dem Skandal. Als dann mehr oder weniger alles erlaubt war, da hatten uns Vadims Filme nicht mehr viel zu sagen. Er hat nicht verstanden, dass es Probleme außerhalb der Welt des Erotisme und der Hübschheit des Lebens gibt. Dass die Welt wirklich aus den Fugen geraten kann, dass es wirklich Leiden gibt, davon konnte in seinen Filmen nicht Rede und Bild sein. Ihre Hübschheit ist schon wieder aufregend fremd geworden. Roger Vadim hat unnütze Filme gedreht. Dafür sei ihm gedankt. epd Film 4/2000
SOHN UND LIEBHABER TOM CRUISE: DAS HERZ
EINES
KARRIERISTEN
Jeder Filmstar ist, unter anderem, für eine bestimmte Generation die perfekte Darstellung eines Weges von den Träumen der Kindheit in die Gesellschaft. Für die Generationen und ihre Stars, die nach den legendären gesellschaftlichen Brüchen der sechziger und siebziger Jahre ein Bild für ihren eigenen Weg suchen mussten, waren die beiden grundlegenden Rollenmodelle indes unerreichbar. Die Rolle der „Rebellen“ war vom dissidenten Teil der Elterngeneration besetzt („Was immer ich hätte anstellen können, um meine Umwelt zu provozieren, ich wusste genau, dass meine Eltern es wilder getrieben hatten“, kommentiert Leonardo DiCaprio seine eher „brave“ Biografie). Und die „Helden“ waren, wenn auch ins Tragische gewendet, jene, die in Vietnam gekämpft und dort, mindestens, ihre Seele verloren hatten. Vielleicht konnte man in den achtziger Jahren aber auch nicht mehr so ohne weiteres an Rebellen und Helden glauben, jedenfalls nicht in der weißen, männlichen, angelsächsischen Version. Das brat pack, Hollywoods Teenager-Stars in jener Zeit, löste diese kategorischen Rollenmodelle gleichsam quantitativ auf. Dutzende von Designs zwischen Rebell und Held, und darüber hinaus. Tom Cruise verkörperte dabei eine neue Art des Begehrens, direkt in die Mitte der Gesellschaft zu gelangen. Keine Rebellion, kein Opfer, sondern Erfolg. Da passte
alles zusammen: gut aussehend, erfolgsorientiert, vorher ein Sport-Crack (ehe die übliche Verletzung der möglichen Profikarriere ein Ende setzte), ganz frei von den Untugenden der Gegenkultur, no drugs, no sex, ökonomisch und moralisch unter Kontrolle, und irgendwie sieht Tom Cruise auch nicht nach Rock‘n‘Roll aus. Wenn es je einen Kerl gab, der erscheint, sich gibt und sich bewegt wie ein Yuppie (jung, urban, aufstrebend, erfolgreich, neoliberal und rücksichtslos), dann war es Tom Cruise, und deswegen hat er von Anfang an beinahe so sehr Bewunderung, Identifikation und Schwärmerei wie auch Hass und Spott auf sich gezogen. Tom Cruise hassen machte ein Zeit lang genauso viel Spaß wie es heute, sagen wir, Spaß macht, Ricky Martin zu hassen. Tom Cruise versuchte (fast) nie, gegen dieses Image zu spielen, aber er spielte in und mit diesem Image. Berühmt und reich machten ihn Rollen, in denen er das Ideal nahezu perfekt erfüllte, und in seinen Filmen mit dem Regisseur Tony Scott, Top Gun und Days of Thunder, bekam das Ganze auch noch eine unangenehme ideologische Note. Aber in seinen besten Rollen spielte Cruise die Krisen dieses Helden des frühen, des luxurierenden Neoliberalismus durch (gegenüber dem späten, dem populistischen Neoliberalismus). Entweder kann er sich in seinen Filmen vom egomanen, hypermotorischen Aufsteiger mit dem ebenso falschen wie verführerischen Lächeln in den „guten Amerikaner“ verwandeln, verantwortungsbewusst und familiär, oder er wird verdammt. Als verkrüppelter Vietnam-Heimkehrer Ron Kovic in Born on the Fourth of July spielt er überzeugend, aber noch sehr holzschnitthaft,
den Bruch in der Biografie des guten Amerikaners (und setzt seinen Glauben an den Erfolg doch in anderer Weise fort). In The Firm ist das schon wesentlich subtiler, der Bruch im Leben des Mannes, der zugleich ein erfolgreicher Opportunist und ein naiver Moralist sein mag, ist von vornherein und unausweichlich da. Insofern drehen sich hier die beiden Seiten des Cruise-Charakters aus Scorseses The Color of Money um: wenn hier die Naivität zur Waffe der Opportunität wird, dann ist in The Firm der Opportunismus dazu verurteilt, sich am Verlust der Naivität zu brechen. Der Yuppie, so scheint es, hat keine Chance, als konsistente Kino-Figur zu überleben, nicht nur, weil sich Kinozuschauer und Kinozuschauerinnen nur in ganz besonderen sozialen Situationen mit einem Kerl identifizieren, der sich vor allem durch Anpassungsfähigkeit auszeichnet und dessen hübsche Unverschämtheit zu nichts weiter zu führen verspricht als zu einer Karriere und einem Armani-Anzug. Wenn man diesen Typ heftig in Bewegung setzt wie in Top Gun oder Days of Thunder merkt man von der bedrohlichen Leere nicht mehr allzu viel, und in Actionfilmen wie der Mission: Impossible-Serie kommt es darauf sowieso nicht mehr an, weil die soziale Unverschämtheit, der Narzissmus und die Naivität sich in das Geschehen bestens einschreiben lässt. Hier hat sich einfach das verselbstständigt, was in den meisten Cruise-Filmen die Krise anzukündigen hat, eine unstete Beschleunigung, Energie, die nicht weiß, wohin, die Hypermotorik eines Menschen, der immer über sich selbst hinausschießt. Aber wenn man in einem anderen Film diesem Kerl mit den
immer zu heftigen und etwas eckigen Bewegungen und dem unsicheren Blick genauer zusehen kann, dann weiß man, dass man ihn nur akzeptieren kann, wenn ihm etwas passiert, das ihn ziemlich stark verändert. In den psychologischen Rollen muss der Tom-Cruise-Yuppie leiden. Nur so kann er seine innere Leere, seine unendliche Formbarkeit, seine Eigenschaftslosigkeit überwinden. Und nur so kann sich der Schauspieler Cruise gegen das Rollenmodell behaupten. Ansonsten zerfällt der Yuppie auf der Leinwand wieder in Aspekte des Rebellen und solche des Helden - in der neuesten Variante: der egomane Karrierist, der sich zum verantwortlichen Mitmenschen wandelt Die Karriere
Die Parallelen zwischen dem Leben des Menschen, der eigentlich Thomas Cruise Mapother IV heißt, und der Leinwand-Persona des Tom Cruise sind so unausweichlich wie bemerkenswert. Der unverschämte „Überlebenskünstler“ (seine Selbsteinschätzung) litt als Kind unter den nomadischen Lebensbedingungen seiner zerbrechenden Familie wie unter dem Stress einer nie recht erkannten Legasthenie. Genug, um ihm die trotzige Arbeit an sich selbst abzuverlangen, die man als Außenseiter zum Überleben braucht, ein verkrampftes Innen, das sich schon früh unter dem gewinnenden Lächeln und dem sportlichen Erfolg verbarg. Nach der Scheidung der Eltern lernten Tom und seine drei Schwestern wohl auch materielle Entbehrungen kennen. Als Trost dafür, dass er nach
einem häuslichen Unfall die Hoffnung auf eine sportliche Karriere aufgeben musste, ermunterten ihn die Lehrer seiner Highschool, als Schauspieler an einer Schulaufführung teilzunehmen, die offenkundig die Erleuchtung für Tom Cruise brachte: „Das ist es, was ich wirklich tun will.“ So kam der 18-Jährige 1980 nach New York, nahm nebenbei jeden Job an, um während der Zeit der (eher sporadischen) Schauspielausbildung auf seine Chancen zu warten. Die erste war ein Auftritt in dem Musical „Godspell“, die zweite eine winzige Rolle in dem Film Endless Love (1981), den Franco Zeffirelli mit Brooke Shields drehte. Eine schon etwas größere Rolle spielte er dann in dem Militärfilm Taps (Die Kadetten von Bunker Hill, 1981) von Harold Becker, einen fanatischen Ausbilder der Kindersoldaten mit einem Hang zu Sadismus und Übergewicht. Eigentlich hat Cruise hier schon alles Unangenehme und Hasssenswerte an seiner Persona aus sich herausgeholt - weiter entfernt von einem erfolgsverwöhnten Schönling konnte man auf der Leinwand kaum sein. Dieser Kerl mit dem etwas zu stierhaft geratenen Nacken würde alles tun, um zu Rang und Ehren in dieser (noch) Männergesellschaft zu gelangen. Er ist es, der durch seinen Feuerstoß eine veritable Schlacht zwischen den Kindersoldaten und den anrückenden Militärs auslöst, und er jubelt im Kampf „It‘s beautiful“, bevor er seinen Tod findet. Einen Tod, der auch der Tod des begeisterten Amerikaners sein könnte. Übrigens für lange Zeit der letzte Kino-Tod des Tom Cruise.
Statt Rollen des durchgeknallten Killers oder weitere War Movies anzunehmen, entschied sich Cruise als nächstes für eine Teenagerkomödie, Losin‘ It (1983), die in der Flut von Filmen des Genres nicht reüssieren konnte, trotz der Regie von Curtis Hanson und seiner durchaus eigensinnigen Behandlung des Stoffes. In Francis Ford Coppolas The Outsiders (1983) unternimmt er, eher in der zweiten Reihe des brat pack, einen Ausflug als Mitglied einer Greaser-Gang ins Rebellen-Fach. Seine Rolle wurde in der Endfassung auf wenige Auftritte beschränkt. Aber Coppolas Film war eine nicht zu unterschätzende Lektion in Sachen Leinwand- Präsenz. Cruise lernte, wie man mit wenigen Accessoires, kleinen Veränderungen der Maske den Rahmen für einen Film-Charakter setzt: Hier läuft er unentwegt in einer ärmellosen Jeansjacke herum und zeigt seine Tätowierungen. Die erste „richtige“ Tom-Cruise-Rolle ist wohl die des Joel Goodson in Risky Business von Paul Brickman (1983), der ihm die „Mischung aus Ungestüm und Unschuld“ attestierte, die den Charakter in der nächsten Zeit prägen sollte. Er ist der brave Sohn einer braven Familie; als die Eltern in Ferien fahren, soll er unter Anleitung eines Freundes seine Unschuld durch eine Prostituierte verlieren, die freilich nicht nur 300 Dollar verlangt, sondern auch noch, sehr symbolisch, ein „Glasei“ der Mutter klaut. Aber dieser Junge mit dem sprechenden Namen dreht nicht nur ein bisschen durch, wie es im Genre üblich ist, er wendet vielmehr, was er im Wirtschaftsunterricht über „Profitmaximierung“ und „Risikostreuung“ gelernt hat, konsequent auf seine erotischen Obsessionen an
und verwandelt das elterliche Vorstadthaus in ein profitables Bordell. Brickmans Film ist eine ungehörige Persiflage auf all das Verborgene und Unterdrückte in dem jungen weißen Kleinbürger, eine erste Erklärung für den Yuppie, und die erste erfolgreiche Ausformung des Tom-Cruise- Charakters auf der Leinwand. Dieser Joel Goodson versteht es, das kapitalistische Denken und die sexuelle Gier miteinander zu verquicken (und das aus einer Geste heraus, die gerade eben noch naiv und unschuldig erschien), doch der Erfolg hat keine wirkliche Substanz. Die visuelle Klammer dieses Films ist eine Kamerafahrt auf die Augen von Cruise hinter der Ray-Ban- Sonnenbrille. Was zugleich eine filmische Reise in den Angst- und Lusttraum des paradigmatischen weißen Kleinbürgers ist, das ist auch schon eine Art von Demaskierung. Das ist eine Schlüsseleinstellung für den Meta-Film des Tom Cruise: der Dialog zwischen Kamera, Blick und Sonnenbrille. Von Einstellung zu Einstellung verwandelt Brickman seinen Helden mehr in den smarten Geschäftsmann, der überall die Möglichkeiten zur Profitmaximierung sieht. Tom Cruise, kann man wohl behaupten, verwandelt sich in diesem Film auch optisch in Tom Cruise. Risky Business wurde zum ersten großen Tom-CruiseErfolg. All the Right Moves (ebenfalls 1983) von Michael Chapman nähert sich dann dem nun konturierten Charakter in einer härteren Gangart. Nun ist er als Stefen Djordjevic ein Teenager aus ärmeren Verhältnissen in einer trostlosen Industriestadt. Weil seine Familie das Geld fürs College nie
aufzubringen in der Lage ist, hofft er auf seine Football-Fähigkeiten; im entscheidenden Spiel geht es nicht nur um den Sieg der eigenen Mannschaft, sondern auch um sein Stipendium fürs Ingenieursstudium. All the Right Moves führt buchstäblich ins Sterben der alten, der industriellen Hoffnung des amerikanischen Traumes, er zeigt Menschen, die müde und abgekämpft der Schließung ihrer Fabriken zusehen, die keine Zukunft sehen können. Stefen ist einer, der da raus will, mit allen, wirklich allen Mitteln. Und Cruise hat da wieder etwas von seinem jugendlichen Militaristen aus Taps, ein Mensch, dessen Energie kaum zu bändigen ist, eine soziale Bombe, und bis in die äußere Erscheinung ist nun das Düstere betont, die schwarzen, strähnigen Haare, die athletische und doch ungesunde Figur, und wie im Film so scheint es auch in Cruises Gesicht keine Sonne zu geben, die darin ihre Spuren hätte hinterlassen können. Wenn man Tom Cruises Karriere auf eine Darstellung des jungen Amerikaners auf dem (schwierigen) Weg nach oben ausgerichtet sieht, scheint seine nächste Rolle, in Ridley Scotts Legend (1985) ein Abweichung. Hier geht es darum, in den Worten des Regisseurs, zwei Wesen von „absoluter Unschuld“, die Prinzessin Lili (Mia Sara) und Jack O‘ the Green (Cruise) miteinander in Verbindung zu bringen, und für Cruise war es etwas wie eine Wiedergewinnung der Unschuld, das reine Wesen, das die Welt vor den Mächten der Finsternis retten soll. Tief drinnen ist auch diese Rolle eine Geschichte vom Erfolg (der Held muss lernen, mit den Geschenken der magischen Helfer des Märchens umzugehen), aber herausgekommen ist
trotzdem die wohl so ziemlich leerste Rolle in Cruises Karriere, die gefolgt wurde von derjenigen, die ihm am meisten Ruhm und am meisten Kritik eingebracht hat. In Top Gun (1986) ist er Pete, genannt Maverick, der kühne Pilot, die perfekte Mischung aus Verführung und Aggression, ein Körper, der nach militärischer Haltung und militärischer Aktion geradezu zu verlangen scheint, einer, der nichts anderes kennt als den bedingungslosen Weg dazu, die Nummer eins zu werden. Natürlich muss er in die Krise geraten, was sonst gäbe es zu erzählen, aber dann rekonstruiert er sich, diesmal nur sehr unwesentlich „umgebaut“, als zuverlässigere Maschine im Dienst der militärischen Gesellschaft und als Liebespartner. Der Film, für den man das Wort „warnography“ erfunden hat, wirkt wie ein gewaltiger Werbefilm für das modisch gemachte Militär und für die Militarisierung der Mode. Cruise hat hier wieder die Sonnenbrille als entscheidendes mythisches Accessoire, er dient hier eher als Model denn als Schauspieler, und aus der Coolness wird die gezielte Arroganz. Es wäre im übrigen völlig verfehlt zu behaupten, Cruise hätte sich in Top Gun nur marktgerecht verhalten. Er hat, bevor er seine endgültige Zusage für den Film gab, wochenlang an einer Umarbeitung des Drehbuches mitgewirkt, hat den Film auch bei den Dreharbeiten mitbestimmt, und die schwierige Vater/Sohn-Beziehung (der Vater des Helden kam unter mysteriösen Umständen in Vietnam ums Leben, woran Pete sein Leben lang leidet) wurde erst auf Cruises Betreiben eingefügt. Es ist sein Film und seine Figur. Der Umbau der Persona funk-
tioniert hier nach dem Prinzip vom egomanen Karrieristen zum verantwortungsbewussten Patrioten. Auslöser ist der Tod eines Kumpels bei einem der Einsätze, der bezeichnenderweise auch mit einem Schlag die sexuelle Vitalität unseres Helden ruiniert. Abschluss der Krise ist ein Bewährungseinsatz, bei dem er ein paar sowjetische MiGs abschießen darf - küchenpsychologischer Subtext: Der wahre Held kommt im Leben und bei den Frauen erst wieder zum Schuss, wenn er „in echt“ was Abschießen kann. Warnography eben. Cocktail (1987) variiert die Aufstiegsgeschichte des Jungen aus ärmlichen Verhältnissen als coming of age: Der Provinzler und Ex-Soldat wird in New York, statt gleich in die Hochfinanz einzusteigen, erst einmal Barmixer und entwickelt sich unter der mehr oder weniger väterlichen Anleitung eines Kollegen zum wahren Meister der Tresen-Performance und nicht zuletzt zum berechnenden Frauenliebling. Der große Traum vom eigenen Unternehmen scheitert am Verrat des Freundes, und schließlich findet er wieder jene erfahrene Frau, die ihn, natürlich nach heftigen Rückschlägen, von seiner Egomanie heilt. Der Drehbuchautor Robert W. Cort bekennt freimütig, dass Cocktail der Stimmung der Zeit entsprechen sollte, sich von den Idealen der achtziger Jahre, Geld und Karriere, zu Gunsten der „alten“ amerikanischen Werte, Freundschaft, Familie, citizenship zu verabschieden. Das ist ein ziemlich kalter und schlechter Film, aber der Cruise- Charakter wird hier, so scheint es, ebenso vollständig wie fürsorglich zu Ende erklärt. Das Gegenteil von Martin
Scorseses The Color of Money (1986), der diesem Wandlungsprozess - ein junger heißsporniger Billardspieler, der von einem väterlichen Mann zu einem berechnenden Profi erzogen wird, um seinen Lehrer schließlich zu übertrumpfen - bis in jede Einzelheit folgt und dem Charakter doch ein letztes Geheimnis lässt. Zu diesem Rollenmodell kehrt Cruise immer wieder zurück. Noch in Jerry Maguire (1995) von Cameron Crowe ist er der smarte Thirtysomething-Sportagent, der mit dem Cruise-Lächeln schon die skrupellosesten Dinge für Erfolg und Reichtum unternimmt. Aber dann kommen die Krisen: Ein kleiner Junge, Sohn eines von Jerry „betreuten“ Football-Spielers, klagt ihn an, seinen Vater zu immer neuen Leistungen und immer neuen Verletzungen zu drängen, ein anderer hält ihm die Entfremdung durch die Werbeverträge vor. Der taffe Manager verfasst in einem nächtlichen Anfall gutmenschlichen Rausches ein Manifest „Mehr Menschlichkeit und weniger Geld“ für die Angestellten seiner Agentur. Die Folge: Jerry verliert seine Position, ein Weg in den neuen Anfang mit wenigen Getreuen und schließlich die Erfüllung der zweiten Chance: Nun nicht mehr der leichte, skrupellose Weg an die Spitze, sondern der gute alte, schwere Weg der Arbeit. Das „Abstürzen“ des Erfolgreichen ist hier so melodramatisch aufgehoben, dass der Film nicht nur keine Kritik, sondern auch keine Erfahrung weitergeben kann, obwohl es sich ja durchaus erkennbar in Jerry Maguire auch um die Situation des Tom Cruise handelt. Wenn man es sehr böse formulieren will, so ist Tom Cruise wohl das Modell eines
Yuppie, der moralisch gerettet werden kann, ohne dass ihm ein Funken an Selbsterkenntnis abverlangt wird. Der Kampf mi t dem Vater
Tom Cruise also, so scheint es, passt nicht mehr in das amerikanische Sozialmärchen, solange es um ihn selbst als Subjekt geht. Sein Opfer muss totaler sein als das eines Jimmy Stewart, sonst glauben wir ihm nicht. So wenig wie den neoliberalen Charaktermasken, die plötzlich im Moral-Seminar für Manager auftauchen und sich für Ökologie engagieren. Dieser Geist ist tiefer vergiftet als es ein symbolisches Erkennen von den einfachen Werten wie Freundschaft und Liebe gegenüber Erfolg und Reichtum (wie in Jerry Maguire) sein könnte. Das Opfer muss auch ein filmisches sein, eine Unterwerfung des Stars unter seinen Mitspieler (wie in Rain Man) oder unter seinen Regisseur (wie in Eyes Wide Shut). In Barry Levinsons Rain Man (1988, Foto) spielt er den erfolgsgeilen Bruder des autistischen Raymond (Dustin Hoffman), der, ohne es zu verstehen, das väterliche Erbe antreten soll. Rain Man ist vielleicht der erste Film, in dem Cruise nicht mehr das Objekt der Beobachtung ist, er ist hier auch filmisches Subjekt; die Geschichte wird aus seiner Perspektive erzählt, die Wandlung ist eine innere Angelegenheit. Darin kann sich auch der Schauspieler Cruise bewähren. Dabei werden einige Elemente der magischen Biografie neu gewertet. Wieder ist er ein typischer Yuppie mit der fetischistischen Beziehung zu Warenwerten und vor allem zu
Automobilen, und wieder gibt es eine problematische Beziehung zum Vater. Charlie hatte in der Jugend das Auto des Vaters entwendet für eine kurze Spritztour, und seitdem hat es keinen Kontakt mehr zwischen Vater und Sohn gegeben. Es scheint, als sei das Begehren nach dem (väterlichen) Auto das Zentrum des Lebensdesigns eines Yuppie; selbst in The Firm noch ist für den Cruise-Charakter die Aussicht auf ein Auto einer deutschen Nobelmarke das Verführerischste in einer Karriere jenseits der Moral. Cruise gibt in allen diesen Filmen eine psychologische Erklärung für den Egoismus und die Gefühlskälte des Yuppie; er erklärt ihn als den jungen Mann, der es „dem Vater zeigen will“, doch da dieser sich längst entzogen hat, geht dieser Kampf ins Leere. Das böse Ende eines Cruise-Films ist die Verwandlung des Helden in ein herzloses Monster (The Color of Money), ein indifferentes Ende ist die Akzeptanz eines sozialen Ortes (Cocktail), das happy ending indes ist eine Versöhnung mit dem Vater, von der auch, ohne das Motiv in den Vordergrund zu spielen, Rain Man handelt. Wieder ist das Symbol dieser Verschlossenheit die Sonnenbrille, die in Top Gun noch Metapher reiner Coolness war und nun die innere Weltangst dieses Menschen deutlich macht. Eine Parforce-Tour ist Born on the Fourth of July (1989) von Oliver Stone, und Tom Cruise spielt mit aller Verve und Energie den von allen Vätern verlassenen und verratenen Kriegsheimkehrer, der schließlich seinen Status des ewigen Verlierers und ewigen Strebers nach Anerkennung zugleich überwindet
und neu erfindet, als er sich zu einem der Sprecher der Friedensbewegung macht. Aber auch diesem Ron Kovic, soweit ihn Cruise darstellt, gelingt es nicht, wirklich zu einem autonomen Subjekt (einschließlich der Anerkennung der eigenen Schuld) zu werden, genauso wenig wie es dem Protagonisten in dem ungleich subtileren Rain Man gelungen war. Born on the Fourth of July wurde nicht zu dem Gegenstück zu Top Gun, als das, unter anderem, ihn Oliver Stone sehen wollte, sondern allenfalls sein Negativ. Die Matrix für ein ewiges Kreisen zwischen dem Erfolgmenschen und dem „guten Amerikaner“ mit dem persönlichen Verlust als Mittelpunkt. Kein Wunder also, dass die nächsten Filme wieder zu den eher konservativen Wurzeln der Umbau- Mythologie in Cruises Rollen zurückkehrten. Days of the Thunder (1990) ist am ehesten eine Mixtur aus Top Gun und The Color of Money, auf der Rennbahn nun und mit Robert Duvall als väterlichem Lehrer. Die Wahl des Regisseurs Tony Scott geht auf Cruise zurück - es ist also, als ob er seinen Fans auf mehreren Ebenen beteuern wollte, dass mit Born on the Fourth of July mitnichten ein radikaler Bruch mit seiner Top Gun- Persona zu verbinden sei. Bis in die Einzelheiten schreibt sich hier der Darsteller Cruise in seiner magischen Biografie fest. Dabei ist sein Meta-Film längst vollendet: der junge Mann, der es ohne Hilfe des Vaters schaffen will, der erst skrupellos seinen Weg geht, von einem „Ersatzvater“ geleitet, dem er aber nicht endgültig die Gestaltung seines Lebensweges überlassen kann und will, weshalb er den zweiten Fixpunkt seiner Biografie finden muss, die vernünftigere, reifere Frau, die nicht nur seinen
kindischen Egoismus bezwingt, sondern ihm auch hilft, einen sozialen Ort zu finden. Wenn Far and Away (1992) die Grundkonstanten der Cruise-Story ins Epische dehnt, scheinen sie die beiden Anwalt-Rollen der nächsten Projekte zu stauchen: Einmal mehr spielt in A Few Good Men (1992) der Vater die zentrale Rolle im Seelenleben des Helden, und zum wiederholten Male spielt Cruise einen jungen Mann, der diesen Vater (oder einen Stellvertreter) beruflich übertrumpfen will. Und The Firm (1993) bringt ihn in das Dilemma, zwischen einem gut bezahlten Job im indirekten Dienst der Mafia (das Sinnbild des Erfolges um jeden Preis) und dem FBI (dem Sinnbild des guten Amerika) zu stehen. Dann aber gibt es die beiden Filme, die, unterschiedlicher kann man es sich nicht vorstellen, diese Figur endgültig „brechen“. In Kubricks Eyes Wide Shut (1999) wird die Einsamkeit dieses Mannes erbarmungslos durchdekliniert. Die „reife Frau“, die ihn in allen seinen Filmen zuvor an das eine oder andere gute Ende geführt hat, macht hier genau das Gegenteil, sie setzt ihn und seine Angstlust-Phantasien erst wirklich frei, und der „väterliche Freund“ ist Agent der Konspiration (oder deren Phantasma). Der Weg zum Erwachsenwerden, schon immer mit Desillusionierung nicht nur im Charakter des Tom Cruise, sondern vor allem auch über diesen Charakter verbunden, führt nun vollends zur Nichtigkeit. Und in Paul Thomas Andersons Magnolia (2000) muss der Mann, von dem man nicht weiß, ob er die narzisstische Kränkung hinter einer Mas-
ke verbirgt oder ob sie selbst die Maske ist, tatsächlich dem (sterbenden) Vater (Jason Robards) begegnen. So „brutal“ wie hier wird es selten ausgesprochen in den Cruise-Filmen, dass dieser Mann sich für den tatsächlichen oder eingebildeten Bruch mit dem Vater an den Frauen gerächt hat. Wie der Held von Rain Man, besser maskiert, sein Leben lang symbolisch das Auto verhökert, das er einst dem Vater „gestohlen“ hat, so verdient er hier sein Geld mit dem Slogan „Verführung und Zerstörung“ (und: „Respektiere deinen Schwanz!“, als müsste er diese doppelte „Härte“ mehr dem Vater als den Frauen gegenüber beweisen). Dann heult er, und ich vermute, wir sehen die Tränen von Tom Cruise, dessen Gesicht man wohl noch nie vorher so nackt auf der Leinwand gesehen hat (und nur bei Kubrick so angsterfüllt). Natürlich sind die interessantesten Cruise-Charaktere jene, die vor unseren Augen zerlegt werden. Cruise scheint es beinahe auf diese Demontage angelegt zu haben, aber nicht so sehr wie ein Schauspieler, der es liebt, die dunklen, schwachen oder kranken Seiten seiner möglichen Personen ans Licht zu bringen, sondern als einer, der therapeutisch Prozesse eines Persönlichkeitsumbaus vorführt. In den wichtigeren CruiseFilmen sehen wir zu, wie eine Person auseinander genommen und wieder zusammengebaut wird. Auch wenn dabei kaum ein Film so weit geht wie Eyes Wide Shut, der uns das filmische Protokoll eines regelrechten Zerfalls einer bürgerlichen Persönlichkeit gibt, so sehen wir doch selbst noch in Filmen wie Cocktail oder A Few Good Men einen Wandel in der Definition von „Erfolg“.
So ist Cruise für seine Generation auch und gerade in seinen kritischeren und selbstkritischen Filmen eher Modell als Allegorie. Er baut seine Person um, er richtet eine Biografie neu aus, aber er gibt sich nicht preis. Tom Cruise ist die populäre Rettung der neuen Rollenmodelle „Yuppie“ und „begeisterter Amerikaner“, die sich manchmal in der Tat schwierig gestalten kann, nicht indes seine Anklage. Wenn Tom Cruises Filme das „Einschreiben“ des karrieregeilen und selbstsüchtigen Yuppies in den moralischen und politischen Mainstream beschreiben, dann ist auch der Schlüssel, die Vater-Sohn-Beziehung, nicht bloß psychologisches Abbild, sondern auch nationales Sinnbild, und nicht selten auch religiöses Gleichnis. Sein unfertiger, ja immer wieder bedrohlich „leerer“ Ausdruck findet Halt vor allem bei reiferen und erwachseneren Frauen, aber auch die „Carmen“ von The Color of Money erscheint um so vieles erfahrener als der „naive“ Vincent. Freilich ist nie recht ausgemacht, ob dieser Junge seine Naivität nicht auch wie eine besonders perfide Waffe einzusetzen in der Lage ist. Es gibt eine „Umklammerung“ des Cruise-Charakters zwischen dem Vater und der reiferen Frau, die ihn beide - jeweils auf ihre Weise - zu erziehen versuchen. Dieser junge Mann nutzt dann indes doch immer beide aus und überwindet sie, da er es ist, den die Öffentlichkeit wahrnimmt. Die wahren Tragödien in den-Tom Cruise-Filmen sind die der Väter/Freunde und der Mütter/Geliebten. Es sind die Frauen, die den Tom-Cruise-Charakter erziehen, auch wenn er ihnen, wie in Cocktail, so lange übel mitspielt. Selten sind es Berührungen oder gar Küsse, die die Beziehungen beschreiben, es
gibt Grenzen für die Öffnung dieses Charakters; viel mehr sind es Blicke. Es ist die eine erotische Geste des Tom Cruise, seinen Körper zu entblößen, die andere, wirkungsvollere, ist es, die Sonnenbrille von den Augen zu nehmen. Die merkwürdigen Widersprüche und Lücken, die sich zwischen Karriere, Liebe und Moral auftun, füllt, so scheint es, der Mensch Tom Cruise mit der imaginären Autorität von Scientology, zu der er sich offener und offensiver bekennt als andere Hollywood-Größen, eine Religion des Erfolges, die Techniken der Psychoanalyse ungefähr so rabiat übernimmt wie solche autoritärer Ordnung (um es höflich zu sagen). Indem er diese Lücken schließt, anstatt sie zu bearbeiten, bleiben für Cruise offensichtlich nur zwei Arten von Rollen, solche, in denen er seine Vorgaben „brav“ erfüllt (und in den schlechtesten Beispielen immer wieder in der Ideologie landet), und solche der Selbstentäußerung, von Risky Business bis Magnolia, die auch Schmerzen kennen. Daher gibt es zwar Tom-Cruise-Komödien, aber es ist kein ironischer Tom-Cruise-Film vorstellbar. Aber wahrscheinlich wäre erst der eine wirkliche Erlösung. So aber bleibt er der Darsteller des lächelnden Unglücks. In allen Filmen von Tom Cruise sieht man einen jungen Mann, der „Jugend“ nur als Anlauf zur erwachsenen Karriere versteht. In seinen Karriere-Filmen zeigt er immer etwas „Falsches“, ein inneres Ungleichgewicht, das ihn daran hindert, zum wirklich eleganten Professional oder zum reifen Menschen zu werden. Die Tragödie eines lächelnden Mannes ist perfekt. Denn das,
was da in Tom Cruise nicht stimmt, ist so ziemlich genau das, was in der Welt nicht stimmt. epd Film 5/2001
TRIVIALE SEHNSÜCHTE UND DIE WILDEN
BILDER
DES
RICHARD OSWALD
Wir können uns einem filmhistorischen Gegenstand auf die verschiedenste Weise annähern, doch diese Annäherung wird immer unvollkommen bleiben, so lange wir den letzten Produzenten des Films, den Zuschauer, nicht in unser Bild einbeziehen können. Ein Buch, so notiert Arnold Hauser, existiert soziologisch nur, insofern es gelesen wird, und noch mehr existiert in seiner Gestalt als projiziertes, bewegtes Bild ein Film nur, insofern er gesehen wird. Wer ihn freilich und unter welchen Umständen er ihn gesehen hat, die Produktion des Ereignisses bis zum Zuziehen der Vorhänge und zum Beleuchten des Saales, ist der kulturhistorischen Dokumentation zumeist entkommen. Die Tragödie des Films, gegen die sicher auch Filmgeschichte betrieben wird, ist die Tatsache, daß er nicht nur seine Produzenten und seine Darsteller, sondern auch sein Publikum überlebt. Ein alter Film hat immer so etwas wie einen Post-Mortem-Effekt, der Gespenster beschwört, ein Lachen, Tränen, Ängste, die nicht unser Lachen, nicht unsere Tränen und Ängste sind. Man könnte die Projektion eines alten Filmes als einen vergeblichen Versuch deuten, einen gestorbenen oder zumindest verschwundenen Zuschauer zu beschwören. Weil uns aber diese historische Geisterbeschwörung Angst machen müßte, haben wir eine Filmgeschichte entwickelt, die alle Verantwortung dem Autor überträgt, dessen Tod wir leichter verkraften können, und den wir allenfalls noch als
Opfer bestimmter Produktionsbedingungen entschuldigen, ein Opfer der ökonomischen Struktur des Oligopols in der Filmherstellung, ein Opfer der Zensur, ein Opfer internationaler Konkurrenzkämpfe etcetera. Nur der Zuschauer als doppelter Produzent — nämlich als Produzent des Marktes, auf dem Filme angeboten werden, reüssieren oder Verlust machen, und als letzter Produzent der montierten Bilder und später Töne in seinem Kopf zu einem Ganzen, das ganz und gar nicht mit dem Ganzen des Produzenten identisch sein muß — dieser Zuschauer spielt in der Filmgeschichte eine marginale Rolle. Er kommt in der Form des Mythos vor, etwa dann, wenn es darum geht, die erotische Ausstrahlung eines Stars zu beschreiben, und als Ziffer in mehr oder weniger aufschlußreichen Statistiken. So ist erklärlich, daß die Filmgeschichtsschreibung, die ja einzig und allein dem heutigen Interesse dient, bestimmte Arten von Filmen aufnimmt und andere nicht. Je größer der Anteil des Zuschauers an der Produktion eines Filmes geschätzt werden kann, desto gefährlicher wird ein Film für die Filmgeschichtsschreibung und damit letztendlich auch für die Film-Wahrnehmung von heute. Ein historischer Film aber, der nicht in der Filmgeschichte aufgehoben ist, müßte uns als Sammlung rätselhafter, hieroglyphischer Bilder erscheinen, seine Aussagen entweder trivial oder unverständlich, verstünden wir ihn nicht auf einer anderen, einer sozusagen inoffiziellen Ebene, auf der das Fortschreiten von Konventionen, von archaischen Rückbindungen, von mythischen Diskursen über Macht, Liebe und Ökonomie das Gefühl von Einverständnis
und Heimat erzeugte. Aber dieses inoffizielle Einverständnis ist auch ein Akt der Usurpation; wir nehmen den Platz des verschwundenen Zuschauers ein, kehren mit ihm zu einer Kindheit der Wahrnehmung zurück, bringen die Geschichte hinter dem Film zum Verschwinden. Den Film als historisches, kulturelles Ereignis zu deuten — gewiß nur eine von vielen, ebenso legitimen Möglichkeiten, ihn zu sehen — wird also nicht möglich sein ohne eine Rekonstruktion des Zuschauers. Das Material dazu liefern uns zum einen die Filme selbst, insofern sie bewußt auf einen bestimmten Markt, eine bestimmte Konsumsituation hin produziert sind, und insofern sie bewußt oder unbewußt Aussagen produzieren, die mit dem Weltbild bestimmter Segmente der Bevölkerung einer Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit synchron sind. Das Material für die Rekonstruktion des Publikums bieten uns zum zweiten signifikante Veränderungen und Umschichtungen des Markts und des kulturellen Umfelds — so sagt etwa die Verlagerung der Kinos von den Peripherien in die Zentren etwas über den Zuschauer aus (während es natürlich zugleich dieses Publikum auch verändert), die Verwandlung der pseudomaurischen Paläste in technische Monumente oder, eine scheinbare Kleinigkeit, die Abschaffung und Wiedereinführung der Vorhänge vor der Leinwand. Und das dritte, fast grenzenlose Material zur Rekonstruktion des Zuschauers ist die Geschichte selbst, deren Defizite, Widersprüche, unerfüllte Träume und unrationalisierbare Ängste das Kino wie alle mediale Kultur bestimmen. Das Kino ist nicht die Abbildung der Geschichte, sondern die
Abbildung dessen, was an ihr nicht stimmt. All das, was an ihr einem bestimmten Zuschauer, der den Markt zu beherrschen weiß, unerträglich erscheint, wird vom Kino aufgenommen und auf eine mythische Ebene transponiert. Zugleich sieht dieses Publikum im Kino seine Form der Wahrnehmung bestätigt und übt sich in einer Form der Wahrnehmung ein. Da Wahrnehmung immer beides zugleich ist, der Versuch, an etwas teilzuhaben und der Versuch, sich davon zu entfernen, so ist auch die Kino-Wahrnehmung nicht anders zu verstehen denn als Spiel von Faszination und Distanz. Die Beziehung zwischen den Filmen Richard Oswalds und ihrem bürgerlichen Publikum geht daher auf die Gleichzeitigkeit eines bestimmten Gestus der Darstellung und einer bestimmten »Haltung« der Wahrnehmung zurück. Oswalds Filme knüpfen nicht allein deutlich an die Wahrnehmungsform des Theaters an, in der Zeit und Raum gewissermaßen unter fester Kontrolle stehen, sie entsprechen auch einer Inszenierung, die mehr »zeigt« als suggestiv zu wirken. In Oswalds Filmen sind der Raum, den das Bild beschreibt, und der Raum, in dem sich der Zuschauer befindet, so streng voneinander getrennt, daß dieser Zuschauer nie befürchten muß, in das Geschehen hineingezogen zu werden. Diese sichere Distanz erst erlaubt es Oswald, seinem Publikum phantastische, erotische, skandalöse Sujets zuzumuten, und umgekehrt konnte sich dieses Publikum ihnen deswegen so freudig aussetzen, weil es weder fürchten mußte, vom Geschehen auf der Leinwand infiziert zu werden, noch daß die sichere Position des Beobachters von außen in Frage gestellt würde. Was also in der »Geschichte
der Filmkunst« dem Regisseur eher negativ angelastet wird, beschreibt soziologisch die »Verabredung« zwischen den Oswald-Filmen und einem Publikum, das so sehr von Lust (auf das Sehen unerhörter, neuer Dinge) wie von Angst (vor dem Verlust der eigenen bürgerlichen Identität) bestimmt war. Ohne die Rekonstruktion des Publikums müßten wir die Transponierung der unerfüllten Wünsche gleichsam als Verordnung, als Form von Propaganda mißverstehen; dann könnten wir sagen, dieser und jener Film gebe noch weniger die Wahrheit wieder als der andere, und damit zur Tagesordnung übergehen. Doch die Filmindustrie allein kann für diese Unwahrheiten nicht verantwortlich gemacht werden; warum sollte sie aus Hunderten der Arten, die Unwahrheit zu sagen, eben jene auswählen, warum sollte sie nicht gar die Wahrheit sagen, wenn es der Zuschauer honorierte? Die historische, kulturelle und meinethalben sogar lebenspraktische Unwahrheit des Films wird nicht nur für das Wohlbefinden, sondern offensichtlich auch für das gesellschaftliche Interesse des Zuschauers produziert, das sich nicht anders als aus seiner sozialen Lage und somit aus seiner Klassenzugehörigkeit bilden kann. Im Kino ist der Zuschauer viel mehr als ein glücklicher Belogener, er ist ein mächtiger Lügner. Ich will also zunächst versuchen, aus den Filmen heraus einen Zuschauer als Mythos zu konstruieren, der in der historischen und sozialen Realität der Zeit zwischen den Kriegen in Deutschland die Filme von Richard Oswald gesehen hat und dem wir möglicherweise an ganz anderen Schnittstellen
zwischen populärer Kultur und Geschichte begegnen könnten. Ich verwende dazu einige Aussagen, die ich in einem Gedenkartikel in der »Film- Korrespondenz« zu Oswalds 100. Geburtstag gefunden habe und in denen der Autor, Werner Sudendorf, das Wissen und die Meinung über Oswalds Filme zusammenfaßt: »Richard Oswald, einer der produktivsten und erfolgreichsten Regisseure des frühen deutschen Films, hatte ein Gespür für aktuelle Stoffe und unentdeckte Schauspieler. Als der Detektivfilm in Deutschland Sensation machte, verfilmte Oswald Kriminalstoffe und Abenteuer des Detektivs Engelbert Fox. ,Soziale Dramen‘ (DAS LASTER, 1915) und Historienfilme (LADY HAMILTON, 1921) realisierte er mit der gleichen Routine wie Klamotten und Komödien. Dazwischen greift er immer wieder auf romantisch- phantastische Stoffe zurück. Stevenson, Verne, Poe und — unvermeidlich — E.T.A. Hoffmann bilden die literarischen Vorlagen für viele seiner Filme. Berühmt-berüchtigt wurde Oswald durch seine ,Aufklärungsfilme‘ mit Titeln wie ES WERDE LICHT! (19161918), ANDERS ALS DIE ANDERN (1919) und PROSTITUTION (1919). Soziale Probleme werden unter seiner Hand zu Fragen moralisch-sittlicher Entscheidung, gegen den Schmutz scheinbarer Unmoral empfiehlt er Körperpflege, Sexualität deutet er als tödliche Bedrohung des Bürgertums, so in dem Asta Nielsen-Film DER REIGEN von 1920.« In dieser Beschreibung der Filme wird so etwas wie ein erster Umriß des zeitgenössischen Zuschauers sichtbar. Projiziert man Produktionsniveau, Themenwahl und Star-Appeal der Filme übereinander, so erhält man das Angebot für einen
Menschen, der einerseits nach heftigen Sensationen verlangt, nach Gewalt, Erotik, Effekt und schneller Triebabfuhr, der andererseits aber auch noch traditionelle bürgerliche Werte wie Aufklärung, Bildung, Historie und literarische Tradition schätzt. Dieser Widerspruch geht über die allgemeine Widersprüchlichkeit des Genre-Kinos zwischen Barbarei und Kultur weit hinaus, er beschreibt einen Menschen im Übergang, einen Menschen, der einen Teil seiner Klassenidentität zu verlieren im Begriff ist und darauf zugleich mit einer Freisetzung aggressiver Impulse und einer Bannung von erotischen und sozialen Ängsten in kulturell einigermaßen legitimierten Formen reagiert. Wenn wir diesen Menschen in der sozialen Wirklichkeit der Zeit zwischen den Kriegen in Deutschland suchen, so finden wir ihn am ausgeprägtesten in einer sich mählich vom traditionellen Bürgertum abspaltenden lower middle class, einer mittleren und unteren Mittelschicht, in der kulturelle Rudimente des alten Kleinbürgertums mit Impulsen einer neuen, gleichsam entfesselten, ideologisch mehr als ökonomisch strukturierten Mittelschicht korrespondieren. Dieser Mensch muß sich zugleich als Angehöriger einer zerfallenden, gar untergehenden Klasse und einer sich bildenden, den historischen Standort noch entbehrenden Klasse empfinden, und er muß Wege suchen, mit der Geschichte und Tradition seiner Klasse zu brechen (zum Beispiel, was den Umgang mit Sexualität, aber auch mit individueller Konkurrenz anbelangt) und sich zugleich in ihr zu erhalten, vor allen Dingen in Abwehr der Gefahr seiner Proletarisierung, die er ökonomisch hier und
dort, unter keinen Umständen aber ideologisch hinnehmen kann. Nehmen wir die Formel von oben noch einmal auf, um seine Bedürfnisse zu beschreiben: Wie generell im Genre-Kino müssen seine sozialen Probleme aufgehoben sein in Figuren, die zu moralisch-sittlichen Entscheidungen fähig sind. Das heißt, dieser kleinbürgerliche Zuschauer sucht und findet in den Filmen von Richard Oswald eine mythische Antwort auf die verlustreiche Umgestaltung seiner Klasse, die sich als Entscheidung des einzelnen gegen die Masse tarnt. Der Schmutz der (scheinbaren) Unmoral muß mit Sauberkeit bekämpft werden, was man sowohl ganz wörtlich als auch im übertragenen Sinne verstehen kann. Der Angehörige dieser deklassierten Klasse muß, um zu überleben, schuldig werden, und er muß Techniken entwickeln, mit dieser Schuld individuell fertig zu werden. Sexualität ist zugleich das höchste Faszinosum und eine ganz direkte tödliche Bedrohung. In seiner mythischen Balance zwischen Angst und Lust produziert er das sexuelle Bild gleichsam als Denunziation der anderen Klassen und versucht zugleich verzweifelt, die erotischen Impulse zu rationalisieren, zu zivilisieren, zu säubern. Es ist klar, warum gerade dieser Kleinbürger zum idealen Kinopublikum allgemein und zum idealen Zuschauer für Oswalds Filme im besonderen wird: Er findet hier die mythi-
sche Bewahrung des Reichtums seiner ursprünglichen Klasse; Ausstattung, Technik und Star sind Repräsentanten seiner Klasse. Es ist von Menschen die Rede, die sich weder durch die eigene körperliche Kraft noch durch die Verwandlung in eine revoltierende Masse, sondern über Besitz und semiotische Repräsentanz historische Bedeutung sichern. Die Macht in diesen Filmen ist nicht in Bewegung, sondern staffiert sich im Gegenteil immer mehr aus, wird zu Symbol und Architektur. Doch zur gleichen Zeit ist in dieser Welt des visuellen Reichtums, gelegentlich ganz wörtlich, auch der Teufel los. In den Bildern der Bedrohung werden nicht nur die sozialen Ursachen historischer und kultureller Katastrophen hinwegerklärt, sondern sie bieten auch Raum für Aggressions-, Angst- und Rachephantasien für Menschen, denen droht, vom Reichtum dieser Klasse ausgeschlossen zu werden. Der Kleinbürger findet im Kino zugleich den verlorenen Reichtum wieder und die Erklärung für seinen Verlust. Die ökonomische Situation dieses Kleinbürgers im Kino ist rasch umrissen. Er ist das Opfer des Umbaus seiner Klasse, die nicht so sehr wegen ihrer ökonomischen Funktion, als vielmehr gerade wegen ihrer so zwiespältigen sozialen und kulturellen Situation zur beinahe unendlich reichen Produktion an Mythen, Legitimationen und Substituten befähigt ist. Er hat sowohl in der katastrophalen Modernisierung der Weltordnung, im Weltkrieg, verloren als auch in der katastrophalen Modernisierung des Wirtschaftssystems und er bildet, gleichsam als virtuelle Identität, das, was Ernst Bloch »den feuchtwarmen Humus für Ideologie« genannt hat.
Dieses Kleinbürgertum war mit zwei mehr oder minder konkurrierenden ideologischen Systemen konfrontiert, der traditionellen Ideologie im Sinne von politischen Glaubensbekenntnissen und historischen Projektionen und der neueren Form der mythischen Welterklärung in den Produkten der populären Kultur, in der sogenannten Trivialliteratur etwa und schließlich im Film. Möglicherweise mußte schließlich die Erlösung in der Vermischung beider Systeme gesucht werden, in der faschistischen Inszenierung der Geschichte, aber Oswald und sein idealer Filmzuschauer suchten in ihren Tagträumen noch die Perfektion des Systems der populären Kultur als Mittel, das Leben aus der Alltagswirklichkeit einerseits, dem endlosen Fluß mythischer Bilder andererseits neu zusammenzusetzen. Wir verstehen im übrigen aus dieser Situation, daß unser Zuschauer nicht nur ein begeisterter, sondern ein nahezu süchtiger Kinobesucher gewesen sein muß: Das Kino war für ihn Lebensmittel. Die populäre Kultur als perfektes mythisches System zur Er- und Verklärung der Welt wurde in Deutschland durch den Film in der Zeit zwischen den Kriegen nicht geschaffen, sondern nur umformuliert. So lag das »Goldene Zeitalter« des Heftromans in Deutschland in der Zeit des Kaiserreiches, und seine Erzählhaltung wie seine Genres — Detektivroman, Wildwestroman, Kolonialroman, technischer Zukunftsroman, Sittenroman etc. — wurden vom Film fortgesetzt. So läßt sich zwar, wie Lotte Eisner es getan hat, die Kunst des deutschen Films dieser Zeit an den wenigen Momenten festmachen, in denen etwa Reinhardtsche, moderne Theatereffekte und Or-
namente aus einem Meer trivialer Und-dann-Illustrationen auftauchen, entscheidender scheint mir für unseren Zuschauer indes die Perfektion dieser populären Kultur gewesen zu sein, die ganze Parallelwelten hervorgebracht hat, in welchen die einzelnen Elemente stärker aufeinander als auf die äußere Wirklichkeit bezogen waren. Richard Oswald und sein Zuschauer allerdings versuchten immer wieder, einen Zusammenhang zwischen diesem perfekten Traum und der Wirklichkeit herzustellen, und nicht immer geht es dabei so naiv ironisch zu wie in KURFÜRSTENDAMM, wo der Teufel aus der Kanalisation steigt, um mit der Notenpresse seiner Großmutter die Inflation zu initiieren. Damit haben wir einen weiteren Hinweis auf diesen Zuschauer: Er — oder sie — gehört zu jenem Teil dieses neuen, alten Kleinbürgertums, der den Kampf darum, historisches Subjekt zu sein, und die Hoffnung darauf, historische Löcher noch reparieren zu können, nicht aufgegeben hat. Der kulturelle Riß in der Klasse unseres Zuschauers zeigt sich nicht allein in den Filmen, sondern auch in deren Quelle, in den Heftromanen: Vor dem Weltkrieg erzielte die Produktion von Heftserien bei nicht weniger als 100 Reihen einen Umsatz von 50 Millionen Mark. Die einzelnen Reihen hatten Auflagen von 100 000 und zum Teil sehr viel mehr und bildeten ein bedeutendes kulturelles Exportgut für ganz Europa, insbesondere Osteuropa und Skandinavien. Gegen diese Produktion war eine enorme Kampagne gleichsam institutionalisierter kultureller Abwehr von »Schmutz und Schund«-Literatur im Gange, ein Kampf, dessen unentschiedener Ausgang zwar fest-
stand, der gleichwohl einmal mehr die Konkurrenz der beiden ideologischen Systeme, des Systems sozusagen barbarischer Modernisierung in der populären Kultur, und des Systems fundamentalistischer Verhaltens- und Wahrnehmungskodices, dokumentiert. (Derselbe Kampf pflegte sich um eine Reihe von Oswalds Filmen zu entspinnen, und brachte gelegentlich reichlich absurde Ergebnisse durch die Eingriffe der Zensur.) Der schiere Produktionsumfang der Heftromanserien, der einen selbst für unsere Medienlandschaft kaum vorstellbaren Sättigungsgrad erreicht hatte, legt also nahe, daß unser Zuschauer ein Mensch ist, der in den Traumwelten der Genres der populären Literatur aufgewachsen ist. Der Film mußte sie ihm nicht so sehr erfinden als vielmehr bestätigen. Der Sittenfilm, nur als Beispiel, ist kaum vorstellbar ohne die Tradition der Serien von »Sittenromanen«, die unter Titeln wie »Mädchenhändler«, »Ein Blick durch‘s Schlüsselloch« oder »Die Laster und Geheimnisse der Prostitution« verbreitet wurden. Gewiß konnten die Texte dieser Romane nie halten, was Titel und Umschläge versprachen, aber sie begründeten eine Haltung der Aufklärung gegenüber Sexualität, die einer gleichsam detektivischen Arbeit der Vergesellschaftung entspricht, wie man sie auch in Oswalds Filmen findet. Oswald hat nun nicht etwa Heftromane verfilmt; er hat vielmehr eine Verbindung geschaffen zwischen der Erzählhaltung dieses Mediums und dem klassischen Bildungserbe. Er hat seine Stoffe nicht nur »vereinfacht«, sondern dies auf eine besondere Weise getan.
HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN ist dafür ein gutes Beispiel. Alles Delirierende, Unrationalisierbare fehlt; stattdessen wird in einer klaren Episoden-Struktur das Phantastische direkt aus der alltäglichen Unterdrückung des Helden entwickelt: Dem jungen Hoffmann wird im Haus seines Onkels allerlei Unbill zuteil, und seine wirklichen Peiniger treten in seinen phantastischen Liebesgeschichten als dämonische Gestalten auf, die ihn bestrafen. Dieses Modell der Strafe- und Rachephantasie gliedert das Material; ähnlich erscheinen die Kulissen eines altertümlichen Jena als ein Raum, der seine Beziehungen zu den Innenräumen nur in einer bizarren Gleichzeitigkeit hat. Die Traum- und Nebenarchitekturen, die Architekturen hinter den Architekturen, entstammen bei Oswald wie bei Fritz Lang einer Grundphantasie der populären Kultur zu dieser Zeit. Aber während Lang in seinen Untergrundarchitekturen so etwas wie einen »Zusammenhang« zu suchen scheint, eine zweite Ordnung, begnügt sich Oswald mit der Sensation des Widerspruchs. Die Wahrnehmung — dies ist die bedeutendste Parallele der Oswald-Filme mit dem ausgedehnten Medium der Heftromane — entschlingt die Beziehungen zu einem tendenziell endlosen Nebeneinander der Motive, wie das besonders an Filmen wie LUCREZIA BORGIA zu sehen ist, wo aus den vielfältigen Handlungsverknüpfungen der Vorlagen in Kunst und Mythos gleichsam ein Katalog der Motive wird. Man könnte also die Oswald-Filme als Modelle für ein »Sortieren« der Wahrnehmung bezeichnen; das neue Kleinbürgertum »vereinfacht« und entschlingt sein kulturelles Erbe, um es auf
neue Lebensformen anzuwenden. Es treibt durchaus frivolen Umgang damit, ohne es schon ganz zu verlieren. So wie unser Zuschauer seine aus den Fugen geratene Welt mit Mitteln zu bekämpfen suchte, deren Grundlagen aus der Kaiserzeit stammten, so war auch die Eroberung des Kinos durch seine Klasse bereits im Jahrzehnt vor der Katastrophe eingeleitet. Nach der Untersuchung von Emilie Altenloh setzte die Verbürgerlichung des Kinos in den Jahren um 1910 ein, und zwar durch Differenzierung: Neben die Kinos in den Wohnsiedlungen der Arbeiter traten die eleganten und teuer ausgestatteten Kinos in den Innenstädten. Ausstattung war für dieses Publikum ein Ausweis auch der eigenen Macht, so daß der Exotismus sowohl der Kinoarchitektur als auch der Filmstoffe gerade dieses bürgerliche Publikum repräsentierte, das sich Geschichte, Legende, Abenteuer und Ferne anzueignen trachtete und dabei zugleich eine ideologische Verachtung für die Straße, den natürlichen Körper, die Masse und die Gegenwart produzierte. Der Prozeß der Differenzierung zwischen proletarischem und bürgerlichem Kino war nach dem Ersten Weltkrieg zugleich abgeschlossen und wiederum obsolet geworden. Krieg, Bürgerkrieg und Krise hatten das Barbarische und Körperliche auch im bürgerlichen Menschen zum Vorschein gebracht, der überdies nun nicht mehr Schutz in seiner Identifikation als Untertan finden konnte. Die heftige Sensation im Kino war daher diesem Zuschauer nicht nur effektives Mittel zum Bruch mit der elenden Wirklichkeit außerhalb des Kinos, sondern auch Abbildung seiner lüsternen Schreckensvision vom eigenen und vom Körper des oder der nächsten.
Die soziale Entwertung des Körpers im Krieg, im Bürgerkrieg, in der Arbeitslosigkeit konnte im Kino des panischen Kleinbürgers nur durch eine leicht hysterische Aufwertung in der Schreckensvision — die Bedrohung des integralen Körpers durch Aufspaltungen, durch Wesen, die weder tot noch lebendig, weder Mensch noch Maschine sind — und in seiner Sexualisierung geschehen. Richard Oswald geht den Weg der erotischen Heilung mehr als den der mythischen Zerstörung, und dennoch beschreibt auch er immer wieder Auflösungstendenzen und -ängste. Das Körperdrama, das die Schauspieler in Oswalds Filmen aufführen, zeigt gerade bei den großen Darstellern die Tendenz, Modelle der Isolation zu bilden. Conrad Veidt in allen Oswald-Filmen, Albert Bassermann etwa in LUCREZIA BORGIA oder Asta Nielsen in Jessners ERDGEIST zeigen, als Fortsetzung von Technik und Mythos, daß der Körper umso isolierter, ja einsamer ist, je mehr er sich seiner gewahr wird. Während also die Körperlichkeit stets mehr zu Drama und »Problem« wird, muß unser Blick in den Oswald-Filmen immer härter, fast ein wenig sadistisch werden. Seine Lebemänner, Verführer und manischen Charaktere, die den Weg ins Elend nehmen, wie noch Veidt in DÜRFEN WIR SCHWEIGEN? oder ANDERS ALS DIE ANDERN, werden so gesehen wie diese ihre »Opfer«, Objekte und Inszenierungen sehen. Erst in ihrer Isolation werden sie zum genauen Gegenteil einer Metapher auf den Abstieg des Kleinbürgertums, zur negativen Passion; in Richard Oswalds Welt der Bordelle, Salons, Boudoirs und überladenen Innenarchitekturen muß
sich der Bürger nicht wirklich zuhause fühlen. Abstieg und Entfremdung sind daher nicht seine Sache, mehr noch: Die Bilder von Abstieg, Schande und Entfremdung sind gerade in ihrer Sexualisierung gebannt, und so kann dieser kontrollierte Sadismus durchaus zur imaginären »Lösung« der Ängste werden, die das Publikum der Oswald-Filme ins Kino mitbrachte. Die bürgerliche Lust auf das, was der Körper will (unter anderem: sich selber darstellen) läßt einen Körper zum Vorschein kommen, der recht eigentlich nichts »kann«. Oswald antwortet, anders als es viele seiner Zuschauer früher oder später tun werden, nicht mit der Faschisierung des Körpers, sondern mit einer ein wenig neurotischen Lust an der »Wahrheit« von Sexualität und Krankheit. Die Wahrnehmung des Körpers im Zustand einer Versehrung also wirkte gleichsam als Ferment, um aus dem bürgerlichen und dem proletarischen Kino ein neues, das kleinbürgerliche Kino zu schaffen, das weniger eine dialektische als vielmehr eine mythische Aufhebung von Elementen beider Segmente bedeutete. Der Exotismus des bürgerlichen Kinos trifft sich mit der Körperlichkeit des proletarischen, und das Zeichen dafür ist vor allem die Kleidung. Oswalds Heldinnen und Helden versuchen geradezu verzweifelt, in ihrer Kleidung, in Lumpen wie in Seide, Klassen auszudrücken, die es nicht mehr gibt. Der laszive Reichtum und die exotische Armut bezeichnen nun keine sozialen Orte mehr, eher Alpträume, durch die zu gelangen ist.
Erst mit der Transformation des Publikums, die ja das Proletariat weder ökonomisch noch ästhetisch ausschließt, es aber freilich an kleinbürgerliche Konventionen bindet, kann das Kino zu seiner ideologischen Funktion finden, indem es gleichsam zum Massengrab der Wünsche und zum Museum der Ängste wird. »Die Filme sind der Spiegel der bestehenden Gesellschaft«, sagt Siegfried Kracauer, das heißt freilich auch, sie beschreiben weder ein Ziel noch Ursachen dieser Gesellschaft, sondern ihre Befindlichkeit im Augenblick, zur Unkenntlichkeit oder Kenntlichkeit verzerrt, je nach der Perspektive des Betrachters. So wie sich die allein durch das technologische Niveau zum Oligopol tendierende Filmwirtschaft nach dem Bild der gesamten Volkswirtschaft verhält, zugleich aber darin Nischen und Retardierungen sucht, insofern sie eine Ware produziert, die gerade mit den Versagungen und Schwächen dieser Ökonomie versöhnen soll, so verhält sich der Kinozuschaue»Die Filme sind der Spiegel der bestehenden Gesellschaft«, sagt Siegfried Kracauer, das heißt freilich auch, sie beschreiben weder ein Ziel noch Ursachen dieser Gesellschaft, sondern ihre Befindlichkeit im Augenblick, zur Unkenntlichkeit oder Kenntlichkeit verzerrt, je nach der Perspektive des Betrachters. So wie sich die allein durch das technologische Niveau zum Oligopol tendierende Filmwirtschaft nach dem Bild der gesamten Volkswirtschaft verhält, zugleich aber darin Nischen und Retardierungen sucht, insofern sie eine Ware produziert, die gerade mit den Versagungen und Schwächen dieser Ökonomie versöhnen soll, so verhält sich der Kinozuschauer als
Untertan oder Mitbürger und entzieht sich im Kino zugleich dieser Rolle, wo er in einer zum Kult gerinnenden Form davon träumt, was ihm als Untertan und Mitbürger versagt wird. Träumen im Kino die Ladenmädchen davon, den Chef zu heiraten, träumt der Chef von Ladenmädchen, die von ihm träumen — oder träumt, ganz allgemein, das Publikum von sozialen Regeln, die sich in lauter Ausnahmen auflösen, wenn gewisse magische Kräfte ins Spiel kommen, die Liebe, die Vergangenheit, das Opfer etcetera? Unser Zuschauer träumt als Komplize der Produktion davon, daß sein Schicksal nicht mit dem seiner Klasse identisch ist, er trainiert sich im Kino gewissermaßen das Klassenbewußtsein ab, das der Verzweiflung wie das der Solidarität. Die Isolation von Schicksal und Krankheit, die Verzweiflung der Frau in TAGEBUCH EINER VERLORENEN und DIDA IBSENS GESCHICHTE »beschreiben« natürlich auch die Gesellschaft, die in Oswalds Filmen als eine reichlich gnadenlose Maschine erscheint, zusammengesetzt, wie seine Architekturen, aus zerstörten romantischen Fassaden und Innenräumen, die dekadent und vulgär sein mögen, panisch überfüllt, oder einfach und von beinahe ebenso panischer Leere, und hinter denen sich immer wieder neue Räume auftun, die mit den anderen, so scheint‘s, nichts zu tun haben wollen, aus Teilen, die sich nicht zusammenfügen. Oswalds Ästhetik einer »sexualisierten Entfremdung« aber erlaubt auch eine Art von grausamem Humor. Bis hin zu einer Komödie wie ARM WIE EINE KIRCHENMAUS gibt es keine dialektische Beziehung von Lumpen und Seide (von beidem ist der Zuschauer gleich
weit entfernt), nur einen mehr oder minder gnadenlosen Blick darauf, wie unvermittelt beides nebeneinander stehen und ineinander stürzen kann. Und bis hin zu den UNHEIMLICHEN GESCHICHTEN (1932) wird der Schrecken gewissermaßen im Kreise herumgereicht: Der Leiter des Irrenhauses ist selbst ein Irrer. So können wir uns nicht entscheiden, was uns mehr Angst macht, die gnadenlose, irrationale Institution oder die gnadenlose, irrationale Abweichung. Oswalds Filme müssen einem Publikum gefallen, das selbst diese Entscheidung nicht treffen kann; es fürchtet sich vor der Ordnung so sehr wie vor dem Chaos, vor der Seide so sehr wie vor den Lumpen, vor der Rationalität so sehr wie vor der Sinnlichkeit. In seinen Filmen bleibt dies alles in der Schwebe, und zugleich glaubt der Zuschauer (wie der Leser bei de Sade), ganz und gar Herr der Inszenierung zu sein. Unser Zuschauer, der in der Verbürgerlichung des Kinos zum Beherrscher des Marktes und in den Katastrophen seiner Klasse zum Süchtigen geworden ist, bewältigt im Kino vier große historische Umwälzungen, von denen es uns wundern würde, wenn sie sich nicht in der einen oder anderen Form in seinen Filmen spiegeln würden: Die innere, die gleichsam psychomotorische Entmilitarisierung nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, die zugleich Raum schafft für eine neue, äußere, technologische Militarisierung. Oswalds HAUPTMANN VON K PENICK begleitet im übrigen diesen Umbau perfekt, indem er sich über die
Verinnerlichung der Uniform lustig macht, zugleich aber den Militarismus der Effizienz unangetastet läßt. Die Medialisierung seiner Wahrnehmung, die aus den Urgründen der Massenliteratur aus der Kaiserzeit sich im Rundfunk, in der Presse, im Film, selbst in den hier rudimentären Formen der Comics fortsetzt. Gerade diese kleinbürgerliche Klasse, die sich alle direkten, körperlichen und straßenhaften Formen der Kommunikation abgewöhnen muß, wird zum Motor der Medialisierung, und schafft doch zugleich die größte, wenn auch vielleicht nur scheinhafte Opposition dagegen. Mit diesen Mythensystemen der Unterhaltung fließen nicht nur, wie es die fundamentalistische Fraktion der Bourgeoisie argwöhnt, Diskurse von Sexualität, Verbrechen und anarchischer Gewalt in die Kultur des neuen, alten Mittelstandes, sondern auch virtuell proletarische Elemente. Was dieser neuen Unterhaltungskultur mit ihren ausgeprägten Genres, Reihen und Serien anhaftet, ist der Ruch der Billigkeit. Aufgabe der mittleren Produktion ist es daher, das ökonomische Massenprodukt semiotisch, historisch und ästhetisch wieder aufzuwerten, was im übrigen eine weitere Notwendigkeit schafft, den Raum wirklicher Jetztzeit oder historischer Logik zu verlassen. Oswald gehört gewiß zu den Meistern einer solchen Aufwertung. Das prekäre Klassenbewußtsein seines idealen Zuschauers spiegelt sich etwa in LUCREZIA BORGIA, wie, vielleicht weniger perfekt, in vielen Renaissance-Filmen der Zeit. Der entfesselte, aber nicht befreite Kleinbürger, dessen neue Freiheiten so definitiv auch einem Zustand des Alleingelassen-Seins entsprechen, mag im Renaissance-Menschen, der
aus dem Dunkel der großen Erzählung, des alles erklärenden Christentums in das Licht der Geschichte mit mindestens so viel Faszination wie Furcht tritt, sein Denkmal sehen, und auch er mag sich in der paradoxen Situation wähnen, daß der historische Fortschritt von ihm nicht anders zu bewältigen ist, als daß er verschüttete barbarische Fähigkeiten und Wahrnehmungen in sich entdeckt. Die Medialisierung seiner Kultur, die sie ihm einzig noch erschwinglich macht, schafft das Paradox einer technologisch reproduzierten Archaik, dampfender Humus für Ideologie, wenn nicht schon Ideologie selbst. Die großte Krise des kapitalistischen Wirtschaftssystems überlagert einen neuen Umbau der Produktionsweise. Entwertet wird dabei nicht mehr nur die proletarische, körperliche Schwerstarbeit, sondern auch die schon bürgerliche Arbeit von Dienstleistung, Verwaltung, Verkauf und Kommunikation. Die Krise beschleunigt den Konzentrationsprozeß auf allen Ebenen. Wenn man den Statistiken glauben darf, so sinkt in dieser Zeit die Zahl der Selbständigen um beinahe ein Drittel. Die bürgerliche Klasse verliert also das, was sie an politischer und moralischer Freiheit gewinnt, an ökonomischer Freiheit; auch in den sich konzentrierenden Institutionen der Ökonomie und Verwaltung ersetzt Kontrolle die Kommunikationsformen selbständiger Einheiten, und sie verliert vor allem ihre Repräsentanten. Unser Zuschauer bringt also neben der Furcht vor der Verelendung, vor dem Abstieg ins Proletariat oder dem Verlust aller sozialer Identität selbst dann einen eklatanten Mangel an Selbstbewußtsein mit ins Kino, wenn er für sich gute Chancen sieht, die Krise als Kleinbürger
zu überleben. Da er seine Klasse weder als einen ökonomischen Zusammenhang (er träumt ja davon, sie nach oben zu verlassen, und muß zugleich fürchten, unter sie gestoßen zu werden) noch als einen kulturellen Zusammenhang sehen kann (er befindet sich ja nicht allein aus Konkurrenzdruck in einem ständigen Abgrenzungs- und Geschmackskrieg), sondern ausschließlich als einen mythologisch-ideologischen Zusammenhang, muß er im Kino statt der sozialen Bewegung die große Entscheidung verlangen. Sie wird in Oswalds Kino stets angestrebt und verfehlt. Schließlich erlebt unser Zuschauer eine Umwälzung der sexuellen Ökonomie, die er zugleich als sittliche Verwahrlosung und faszinierende neue Form von Wahrnehmungsluxus erlebt. Mit anderen Worten: Der sexuelle Diskurs, der die Öffentlichkeit um die Wende zu den 20er Jahren erfaßt, ist nicht nur Ferment der Medienentwicklung, nicht nur billiger Trost, Bruch mit der Wirklichkeit, moralische Resignation und schließlich wahrer Bedarf an Wissen, Sprache und Bild für eine sich wandelnde sexuelle Wirklichkeit, sondern auch ein Zerfallsprodukt sozialer, familiärer und moralischer Strukturen. So ist es nicht verwunderlich, daß auch Oswalds Aufklärungsfilme weniger der Propagierung als der Bewältigung neuer sexueller Impulse dienten. Auch hier ist Angst und Lust gleichermaßen im erotischen Mythos des Films integriert, und in Filmen wie DER REIGEN mag bei Oswald sogar das Element der Angst überwiegen.
Wir lernen also den idealen Zuschauer eines Oswald-Films als einen von panischen Ängsten beherrschten, der Welt gleichwohl eine mehr oder minder barbarische Lebenslust abverlangenden Kleinbürger kennen, der sich zumindest die Illusion nicht nehmen lassen will, durch Aufklärung, durch historischen Rückbezug, durch literarische Spiegelung hindurch zum Subjekt seines eigenen Lebens zu werden und Geschichte an heiklen Stellen reparieren zu können, so wie in DREYFUS, wo gleichsam den Regeln des Detektivromans folgend, der in dieser Zeit nicht umsonst eine Blüte erlebt, mit der Aufklärung des Komplotts auch alles, was an sozialen und ideologischen Spannungen zu ihm gehört, gelöst ist. Die Geschichte, also auch die eigene Gewordenheit, soll diesem Zuschauer in erster Linie überschaubar, familiär werden, und die Geschichte soll sich nicht in Konflikten zwischen den Klassen, sondern in Konflikten innerhalb einer Klasse abspielen, deren Situation der seinen gleicht, auch wenn alles, Macht, Reichtum, Gewalt und Luxus ins Quadrat erhoben oder umgekehrt ins Komische verkleinert ist. Wir haben unseren Zuschauer als einen Menschen in einem System von Ängsten und Versagungen, aber auch von Anmaßungen und Gewalt kennengelernt, der sich selbst weder in einer zerbrechenden noch in einer sich bildenden Welt verstehen kann und daher Zuflucht im Mythos sucht. Wir erleben ihn bis zum Jahr 1920 in einer gleichsam anarchischen Phase, in der er für seine Verhältnisse wilde Bilder von Sexualität, Gewalt und Schrecken evoziert, und in den Jahren danach als jemanden, der seine Ängste zivilisieren
und rationalisieren will. Diese scheinbare Beruhigung in der Komplizenschaft zwischen Film und Zuschauer, gewiß nicht allein durch die Wiedereinführung der Zensur als soziales Regulativ bestimmt, begleitet freilich auch den Weg der neuen, alten Klasse zur fundamentalistischen nationalistischen und schließlich faschistischen Ideologie. Die Komplizenschaft zwischen Film und Zuschauer zerbricht an dem Anspruch, die Lüge gleichsam realpolitisch zur Geschichte zu erheben, das eigene Modernisierungsopfer nicht nur erträglich zu machen, sondern zurückzunehmen, als deklassierter Kleinbürger zu verschwinden, um als Volksgenosse wiedergeboren zu werden. Wir verlassen unseren Zuschauer in dem Augenblick, in dem er dorthin zurückkehrt, woher er in die trefflichen, seine Widersprüche erspürenden und mal sarkastisch grotesk, mal besänftigend zurückgebenden Filme von Richard Oswald geflohen war: auf die Straße.
COLLATERAL DAMAGE Collateral Damage ist ein Terroristen- und Terroristenbekämpfungsfilm, der auf Grund der Ereignisse vom 11. September des Jahres 2001 zunächst auf „unbestimmte Zeit“ verschoben wurde, und nun in die Kinos kommt, mit ein paar kleinen nachträglichen Veränderungen und Kürzungen, wenn mich mein Empfinden für Schnitt und Rhythmus nicht allzu sehr täuscht. Jetzt ist Andrew Davis‘ Arbeit mit einer Bedeutung aufgeladen, die sie ursprünglich weder angezielt noch erhalten hätte. Schon vor aller Ideologiekritik hätte mein schlichtes Urteil gelautet: Der Film taugt nichts, auch nicht in seinem Genre, auch nicht in der Filmografie seines Hauptdarstellers. Und wir hätten über nachlässig ausgeführte Stunts, Kamera- Einstellungen, die ihre Sujets verschenken, und Schauspieler geredet, die chargieren wie in einem billigen exploitation movie. Die New Yorker Kritiker hätten ihn vermutlich in kurzer Abfertigung zerrissen, einige Hardcore-Fans des Bewegungs- und Starfilms hätten etwas zu retten versucht, und Arnold Schwarzenegger hätte seiner in jüngster Zeit durchaus glücklosen Rollenwahl noch einen Griff in den Senftopf hinzugefügt. Mehr noch vielleicht: Er hätte seine mehr oder weniger öffentliche Läuterung verraten. Hatte er nicht versprochen, als treusorgender Familienvater könne er keine gewaltverherrlichenden Filme mehr drehen? Nun, in Collateral Damage spielt er einen treusorgenden Familienvater auf einem kranken Gewalttrip.
Wenn das keine politische Symbolik für den Schnitt zwischen den Clinton- und den Bush-Jahren ist! Das Drehbuch ist ein Musterfall der erzrechten Konstruktion, inklusive des Mythos‘ vom gerechten Rachefeldzug nach dem Angriff des Feindes auf die eigene Familie, inklusive der unfähigen und korrupten Politik, inklusive des Feindbildes vom sadistischen Untermenschen. Auch ohne die phänotypischen Beziehungen zum 11. September - in einer Szene brennt auch hier das Hochhaus, die Terroristen bewegen sich in den Zentren des amerikanischen Landes, die Terroristen lieben Videos als Kommunikationsmittel usw. - wäre der Film wohl als Symptom der vorhersehbaren Rechtswendung des amerikanischen Kinos unter der Regierung von George Bush jr. gewertet worden. Die Welle von Militär-, Kriegs- und Propagandafilmen, die wir aus den USA auf uns zukommen sehen, scheint durch den Terroranschlag in New York und Washington nicht initiiert, sondern allenfalls beschleunigt. Schwarzenegger also spielt einen Feuerwehrmann, den wir in den ersten Einstellungen bei seiner gefahrvollen Rettungsarbeit sehen, in den nächsten als liebenden Vater eines Weltraumschiffe bastelnden Sohnes. Am Tag darauf muss der Kleine zum Arzt; Mutter und Kind warten auf den Vater, der sich leicht verspätet. Als er ankommt, zündet jener als Polizist verkleidete kolumbianische „Top Terrorist“, dem Arnie für einen kurzen Moment ins tückische Auge geblickt hat, eine Bombe, um irgendeinen Politprominenten zu töten, der frei-
lich genauso unsympathisch wie er selbst wirkt. Mutter und Sohn des Feuerwehrmannes sterben. Da die Politik Arnie nicht helfen will, der Geheimdienst offensichtlich sein eigenes Spiel spielt, macht sich also wieder einmal ein amerikanischer Held allein auf - in den kolumbianischen Dschungel. Was er da erlebt, in Gefängnissen und mit kanadischen Schiebern (was zum Teufel ist in John Turturro gefahren, in so einem Film eine so windige Rolle anzunehmen?), als Beschützer armer Busreisender, die von durchgeknallten Guerilleros unter Beschuss genommen werden, auf einer Kokain-Plantage, mit dem Top- Terroristen, der seine Untergebenen, wenn sie nicht spuren, zu Tode foltert, indem er ihnen eine Schlange in den Schlund praktiziert, mit der amerikanischen Post-Hippie-Ehefrau des kolumbianischer TopTerroristen, die offensichtlich so sehr unter den Bedingungen im Guerillero-Lager und unter der Psyche des Top-Terroristen leidet, und vor allem daran, dass ein neuer Anschlag in den USA geplant ist, dass sie mit dem tapferen Feuerwehrmann die Flucht aus dem Dschungel und nach Amerika wagt, was nach neuerlichen Abfolgen von Standardsituationen des Genres auch gelingt. ... Na gut, selbst bei einem Film wie diesem sollte man nicht die letzten plot twists verraten, auch wenn sie noch so perfide sind. Und das alles kennt man von dutzenden B- und Trash-Movies, einschließlich der retardierenden Elemente, einschließlich des Misstrauens des hartköpfigen Individualamerikaners gegenüber der Verschwörungsmaschinerie seines eigenen Staates, der vor allem und gar nicht so ungezielt vielleicht, genau das produziert, was der Titel beschreibt.
Natürlich sind auch hier noch einmal ganz andere Filme verborgen, ein Film über einen Mann, dem man alles genommen hat und der leer und manisch auf den Tod zu agiert (eine ur-amerikanische Figur, die wir aus dem Western kennen), ein Film der Bewegungen durch eine sündige Traumlandschaft, oder ein Film über einen alternden Actionstar, der versucht, auch Gefühle, nicht nur die körperlichen Verletzungen zu zeigen, was ziemlich kläglich scheitern muss bei einem Regisseur, der seine Figuren vergessen hat, sobald er es wieder krachen lassen darf. Am präzisesten ist Collateral Damage ein Film darüber, dass irgendwas in der Koordination von Arnold Schwarzeneggers Augenlidern nicht mehr stimmt. Das ist übrigens ein ziemlich trauriger Film. Aber natürlich kommt man kaum dazu, ihn zu sehen. Wir sind viel zu sehr mit dem Hassen beschäftigt. „Wir haben es ihnen ja vorgemacht“, hat Robert Altman bitter gehöhnt: Hollywood als Produktionsstätte für terroristische Lehrfilme. Und Filme wie dieser tun noch etwas anderes. Sie strahlen so viel Arroganz, so viel blinde Aggression und Gewaltlust aus, so viel törichten Willen, die Welt dem eigenen Blick zu unterwerfen, dass sie auch erzeugen, wovon sie handeln. Wenn es so etwas gibt wie „Anti- Amerikanismus“, dann haben Filme wie Collateral Damage ihren massiven Anteil daran. epd Film 3/2002
DER CLOU AM SCHUH DES MANITU WARUM
SIND
AMELIE
UND
DER SCHUH
MANITU SO GROßE ERFOLGE? DES
Na sicher: Hollywood macht uns kaputt. Das Fernsehen macht uns kaputt. Und wenn das nicht reicht, machen wir uns selbst kaputt. Daher sind überraschende Publikumserfolge einheimischer Filme in Europa in der Regel nur als die Ausnahme akzeptiert, die die Regeln bestätigt. Zwei dieser Ausnahmen laufen und laufen und laufen derzeit in den Kinos von Frankreich und Deutschland. Die fabelhafte Welt der Amélie hat in Frankreich mehr als sieben Millionen Eintrittskarten verkauft, und in Deutschland macht Der Schuh des Manitu auch jenseits von sieben Millionen Zuschauern immer noch Kasse. In der Regel ist die Kritik, was solche Überraschungserfolge anbelangt, eher zwiespältig. Einerseits freut man sich, warum auch immer, über einen Erfolg aus der einheimischen Produktion. Meistens muss man sich aber auch gleich darauf wieder ein bisschen schämen. Hollywood ausgestochen? Ja, aber mit was für Stoffen, mit welchen Mitteln! Der „Überraschungserfolg“ erweist sich aber in der Regel auch für die einheimische Produktion insgesamt als problematisch. Nur selten erhöht er, wie die Statistiken der letzten Jahre zeigen, den Gesamtanteil einheimischer Produktionen auf dem Kino-Markt. Der Überraschungserfolg schadet also häufig vor allem der ambitionierteren Produktion und nicht so sehr der übermächtigen Konkurrenz.
Aber diesmal scheint es sich doch ein bisschen anders zu verhalten. Jeunets Amélie kann man so oder so kritisieren, aber niemand muss sich für diesen Film schämen, so wie das ein bisschen vielleicht beim letzten französischen Überraschungserfolg der Fall gewesen ist, der Zeitritter-Klamotte mit ihrer Vorliebe für, sagen wir mal, eher derbe Scherze. Und Der Schuh des Manitu spielt vielleicht ästhetisch und intellektuell in einer anderen Liga, aber wenn sogar die „Titanic“ dem Film ein Gelingen in seinem bescheidenen Rahmen attestiert, wollen wir auch nicht meckern: Das ist zuerst einmal eine leidlich gag-dichte und funktionierende Genre-Parodie mit einer Art von schlechtem Geschmack, der ziemlich genau die Grenzen kennt, die man nicht ungestraft unterschreitet. Die cineastische Einmann-Schau des TV-Comedy-Machers Michael „Bully“ Herbig (Produktion, Regie, Drehbuch und doppelter Hauptdarsteller) kündet überdies von einer Liebe zur Sache, die selten ist in der Geschichte der deutschen Kino-Komödie. Nicht einmal die besseren Beispiele des Genres haben so eine unangestrengte und offene Art, von den Gottschalk- und Otto-Linien ganz zu schweigen, bei denen es einen schmerzt, wie anstrengend es sein kann, etwas Komisches zu erzeugen. Insofern hat Der Schuh des Manitu vielleicht nicht nur etwas mit einem Generationenwechsel in der mehr oder weniger nationalen Komik-Szene zu tun, sondern auch mit einem erfreulichen Einstellungswechsel. Den überwältigenden Erfolg erklärt das noch nicht. Auf den ersten Blick könnte man vielleicht sagen: Jede Kinematografie bekommt die Überraschungserfolge, die sie
verdient. Jeunets forcierte, urbane Film-Poeterei mit einem gehörigen „Hab mich lieb“-Faktor, Herbigs provinzielle, begeistert kindische Alberei mit ihrem bajuwarischen „Du mich auch“-Touch. Aber auf den zweiten Blick haben diese beiden so unterschiedlichen Filme auch einiges gemein. Sie sprechen beide von einer verborgenen Sehnsucht nach einer höchst eigenen Phantasiewelt, ihre Dekonstruktionen filmischer Erzählweisen täuschen nicht darüber hinweg, dass sie im Kern schlicht nostalgisch sind. Sie träumen sich in einen Zustand der Unschuld zurück, in eine vergangene Welt, in der Bilder noch unschuldig waren. Jeunet errichtet ein Paris, das es nie irgendwo anders als im Kino gab, im poetischen Realismus und in den sanftesten Nachklängen des Surrealismus. Und Manitu erzählt von einem Wilden Westen, der einerseits aussieht wie der der Karl-May-Filme von Reinl & Co, dem er zu Leibe rückt wie die Nackte Kanone-Filme ihrem Genre. Zum anderen aber ist das auch ein Westen, wie ihn sich vielleicht der Charlie aus den „Münchner Geschichten“ geträumt hätte, ein Witz einerseits, aber auch eine Heimat für „ewige Stenzen“. Hier ist man nicht trotzig kindisch, behauptet kein ideologisches Recht auf die Regression, das Kindisch-Sein und Kindisch-Bleiben wird stattdessen mit einer gewissen melancholischen Zärtlichkeit angeschaut. Was Amélie oder Manitu ihren Zuschauern bieten, ist eine Art von wohliger Wärme, von Traulichkeit, ein Lebenskonzept für konsequente Träumer. Zunächst scheint auch Der Schuh des Manitu alle Vorurteile über deutsche Filmkomödien zu bestätigen: Figur oder Star muss aus dem Fernsehen stammen, es müssen Schwulenwit-
ze und irgendwelche Unappetitlichkeiten vorkommen, eine Pointe muss mit einem leicht schleppenden Tempo vorbereitet werden und das Ausrufezeichen zum Kapieren muss mitinszeniert sein, das Politische wird ganz herausgelassen usw. Aber hier fehlt doch der Zynismus, die geplante Debilität, das Missverständnis, man müsste das Komische aus einer Figur oder einer Situation nur kräftig herausprügeln. In Manitu sieht man Leuten zu, die mögen, was sie tun, und die es ernst nehmen. Hier können die Zuschauer auf dieses verzweifelt aggressive Warten auf den nächsten Gag verzichten, das die Stimmung in deutschen Kinosälen manchmal so unerträglich macht. Es gibt auch etwas zu sehen, es ist auch Beiläufiges zu entdecken. Filme wie diese, die „einen Nerv treffen“, sprechen also auch von dem, was andernorts fehlt, nämlich im Hollywood-Film auf der einen und im Fernsehen auf der anderen Seite. Unter der Oberfläche verbirgt sich in beiden Filmen genau das, was ihre Ironie eigentlich zu brechen scheint, das paradoxe Projekt einer Versöhnung in der Erzählmaschine der populären Kultur auch zwischen den Generationen. In den Nachmittagsvorstellungen von Manitu sieht man erstaunlich viele Familien, die sich mit Ironie über einen Code der Pop-Vergangenheit verständigen. Hier wird keine Differenz konstruiert, man vergibt sich gegenseitig, wenn die einen über das Ritornell eines Furz-Gags, die anderen über eine Wiedererkennung und die dritten über eine sexuelle Anzüglichkeit lachen. Alles zusammen ergibt: Wir sind in unserer Pop-Geschichte daheim. Und unsere Pop-Geschichte hat ein Gedächtnis.
So konstruiert Der Schuh des Manitu, ob das nun intendiert ist oder nicht, so sehr eine „Deutschheit“, wie Amélie eine „Französischkeit“ konstruiert. Statt sich, wie in der traditionellen „nationalen Komödie“ einerseits über „Nationaleigenschaften“ lustig zu machen und andererseits nationale Wunschstereotypen (nicht selten: inklusive Feindbilder) zu bedienen, nehmen diese Filme den Umweg über vorgeprägte Traumwelten und konstruieren sich dabei selbst als Gegenbild zu den unbewohnbar gewordenen Traumwelten Hollywood und Fernsehprogramm. Sie akzeptieren, anders als der traditionelle „Heimatfilm“, dass es Deutschland oder Frankreich nicht mehr gibt, aber deutsche oder französische Träume. Insofern ist das Leichtbayerische in Manitu auch kein Mittel der Verfremdung, sondern im Gegenteil eines der Intimisierung. Der nationale „Überraschungserfolg“ im Kino unserer Tage ist ein generationenübergreifendes Sampling synthetischer Bilder des komisch zerfallenden und beständig rekonstruierten Glücks. Warum nicht, wenn‘s uns dann besser geht? epd Film 10/2001
EIN UNFILM ALS SYMPTOM COSTA-GAVRAS
VERFILMUNG VON „DER STELLVERTRETER“
VERSUCHT SICH AN EINER
ROLF HOCHHUTHS
Auch fast 40 Jahre nach der Uraufführung erregt Hochhuths Theaterstück „Der Stellvertreter“ über das Schweigen des Papstes angesichts des Holocaust noch immer die Gemüter, zumal dann, wenn es durch eine Verfilmung neue Aktualität gewinnt. Beim Film von Costa-Gavras, Originaltitel Amen., hat in Frankreich aber mehr das Plakat, das Kreuz und Hakenkreuz ineinander verschränkte, Skandal gemacht als der Film selbst. Im Mittelpunkt von Amen. steht die Geschichte von Kurt Gerstein, der als Offizier der Waffen-SS an der Organisation des Holocaust teilnimmt, aber als evangelischer Christ den Papst und die deutschen Kirchen auf die Verbrechen der Nazis aufmerksam macht. Bei der Berlinale kontrovers aufgenommen, läuft Der Stellvertreter nun am 30. Mai in den deutschen Kinos an. Ein Film wie dieser eröffnet, jenseits seiner filmischen Qualität oder Nicht-Qualität, eine Reihe von Diskursen, mehr jedenfalls, als man sie wohl in einer herkömmlichen Rezension behandeln kann. Vielleicht ist es deshalb schon ein Gewinn, wenn man die Diskurse nicht bewusstlos miteinander vermischt, auch wenn es gerade der Film selbst ist, der einen dazu verleiten möchte. Möglicherweise ist es ja auch kein Zufall,
dass der Stoff, lange schon angekauft, bis jetzt in den Verliesen der italienischen Produktionsfirma blieb. Costa-Gavras‘ nun recht eng an der äußeren Form der Vorlage entwickelte Verfilmung hat da wohl entschieden ein Zeit- Problem: Beinahe 40 Jahre nach der Uraufführung von Rolf Hochhuths Stück „Der Stellvertreter“ könnte eine filmische Relektüre zweifellos eine bereichernde Angelegenheit sein. Die S chuld-Frage
Da ist zunächst der Diskurs der historischen Genauigkeit und Wahrhaftigkeit. Bei der Uraufführung von „Der Stellvertreter“ im Jahr 1963 wurde dieser Diskurs mit einer heute nur noch zum Teil nachvollziehbaren Heftigkeit geführt. Die Frage der Schuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus erweiterte sich vielleicht zum ersten Mal von den Taten auf das Wissen, von einer sehr klaren und eingegrenzten Gruppe der Täter auf übergrenzende Verflechtungen: Es ist, wenn man so will, die Initiation eines weiteren historischen Prozesses. Und nicht so sehr das Brechen eines Tabus als diese Ausweitung der Schuld-Frage scheint der Grund dafür, dass ein doch eher sperriges Bühnenstück so hysterisch als Störung des Friedens empfunden wurde. „Durfte der Papst schweigen?“ - so lautete damals der Untertitel einer viel beachteten Sammlung von Stellungnahmen zu dem Stück. Es ist dabei übersehen worden, dass es im Stück um viel mehr als eine historische Dokumentation geht. Denn selbst die Erweiterung der Frage, die von der Schuld des Papstes, der Schuld der katholischen Kirche in
Rom schließlich zur Frage führt, warum die Christenheit als ganzes den Holocaust nicht verhindern konnte (und in Teilen den deutschen Faschismus nicht einmal verhindern wollte), wird dem ungeheuren, auch widersprüchlichen Reichtum des Stückes nicht gerecht. Es ist ein „christliches Trauerspiel“, und das ist vielleicht auch zu übersetzen als Tragödie der Kirche in der Welt. Zweifellos arbeitet Hochhuth gelegentlich mit den Mitteln der rhetorischen Überspitzung, es ist ein moralisch-kritischer Angriff auf eine Person, auf eine Haltung, auf eine Institution. Aber je genauer man das Stück liest (und man muss es lesen, nicht nur weil es in seiner integralen Fassung unspielbar und nicht vollständig ohne die Anmerkungen des Autors ist), desto mehr offenbart es von der Tiefenstruktur der Konflikte, die es behandelt. Schließlich enthält das Stück eine Geschichtstheorie, die auch dem Hauptstrom der „linken“ Bearbeitung des Faschismus seinerzeit widersprach. Hochhuth erinnerte, sehr vereinfacht gesprochen, in einer Zeit, in der man vor allem an Systeme, Strukturen und (ökonomische) Interessen dachte, an die Verantwortung des Einzelnen. Er bringt den konkreten Menschen zwar nicht auf die Bühne, aber verleugnet ihn auch nicht. Es ist eine komplizierte Gleichung oder Ungleichung zwischen Biografie und Geschichte, die dieser Autor immer wieder aufmacht. Wir sind unterwegs von einem wirklichen Leben zu einem Mysterienspiel und umgekehrt, und dazwischen liegt auch die Geschichte der Ideen zur Menschen- Repräsentanz
in einem ästhetischen, dem Bühnen-Raum. Jede seiner Gestalten, selbst die Nebenfiguren, die uns bei den Aufführungen als nicht mehr denn Stichwortgeber erscheinen müssen, zeigen zugleich historisch belegbare wie fundamentale Weisen, mit dem Bösen in der Geschichte zu leben (und zu sterben). Das Böse, das für Riccardo, den anderen „Stellvertreter“, in der Gestalt des „Doktors“ nichts anderes als der Teufel selbst und damit zum negativen Gottesbeweis geworden ist, muss ihm am Ende auch als Person gegenüberstehen. Bemerkenswerterweise geht Riccardo ins KZ nicht für die Opfer und nicht gegen seine Kirche, sondern als Opfer für seine Kirche: „Gott soll die Kirche nicht verderben/nur weil ein Papst sich seinem Ruf entzieht.“ Hochhuths „Stellvertreter“ offenbart spätestens im fünften Akt sein Wesen als christliches Mysterienspiel. Sein Skandal liegt nicht darin, dass es ein anti-kirchliches Stück wäre, sondern darin, dass es ein christliches Stück ist. Die Rol le des Papstes
Der Plot des Stücks, wenn man so will, ist denkbar einfach: Kurt Gerstein, der wegen seines christlichen Widerstands im KZ war, ist als Chemiker und dann als SS-Mann an der Herstellung des Giftgases für die Vernichtungslager beteiligt. Er versucht zum einen, durch Sabotage- und Verzögerungsakte die Anwendung von Zyklon B zu verhindern, zum anderen will er mit Kontakten zur Nuntiatur erreichen, dass der Vatikan von den Verbrechen des Völkermordes erfährt und sie öffentlich macht. Seinen Verbündeten findet er in dem
Jesuitenpater Riccardo, der durch seinen Vater über Verbindungen im Vatikan verfügt. Unter Einsatz aller seiner Mittel versucht Riccardo, den Papst dazu zu bringen, sein Schweigen zu brechen. Als alle seine Bemühungen gescheitert sind, hegt er sogar den Plan, den Papst zu ermorden und die Schuld der SS zuzuschieben, um die Welt aufzurütteln. Und als dies nicht durchzuführen ist, heftet er sich den Judenstern an und geht mit den Deportierten ins Konzentrationslager, um dort zu sterben. Riccardo ist die erfundene Figur in diesem Spiel auch wenn er in Pater Maximilian Kolbe und dem Dompropst Lichtenberg in Berlin seine historischen Vorbilder hat -, das Zentrum der eigentlichen Tragödie. Auch die politisch-moralische Aussage scheint auf den ersten Blick einfach: Papst Pius XII. hat vor der Geschichte und womöglich vor dem Auftrag des Christentums versagt, weil er in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs keinen ernsthaften Versuch unternommen hat, die Deportierung und Ermordung der Juden in Europa zu verhindern. Es sind nicht nur verschiedene Personen dieses Stückes, es ist das Stück selbst, das Pius XII. zum Sprechen bringen will. Doch der Papst dieses Stücks hat nicht nur eine Idee seiner Kirche, sondern auch eine Idee seiner Welt, hinter der der Mensch beinahe vollständig verschwindet: „Gewiss, der Terror gegen Juden ist ekelhaft,/doch darf er Uns nicht so verbittern,/dass Wir vergessen, welche Pflichten/den Deutschen auch als Schirmherren Roms/in nächster Zukunft auferlegt sind.“ Um eine Balance der Nationen geht es, die das Böse nicht ausschließt. Die Einheit der Kirche ist verbunden mit der Spaltung der Welt.
Wenn man von der Anklage gegen den Papst absieht, stellt das Stück eine Frage danach, wer „Recht“ hat in dieser Auseinandersetzung um den Kampf gegen das Böse: der pragmatische Humanist Gerstein? Der zynische Machtpolitiker, der die Bosheit der Menschen zu lenken vermeint, der Kardinal? Der Papst, der vor allem an die Einheit und die, durchaus auch: ökonomische, Macht der Kirche denkt? Oder Riccardo, der „Heilige“, der an der Stelle des Stellvertreters das Martyrium auf sich nimmt? Hochhuth lässt wohl keinen Zweifel daran, wem seine Sympathien gelten, den verantwortlich handelnden Einzelnen, die in der Tat und im Wort gegen ihre Institutionen zeugen. Aber er gibt nicht vor, dass die Fragen damit beantwortet sind. Das Opfer Riccardos steht nur für sich, nicht mehr für einen Erfolg in der Geschichte. Und so viel belastendes Material der Autor auch gegen das Schweigen des Papstes anführt, er kann und will nicht beweisen, dass ein anderes Auftreten des Papstes wirklich Menschenleben gerettet hätte. Darum wird man dem Stoff und seiner Geschichte wohl nicht gerecht, wenn man es nur als historisch-kritische „Verhandlung“ sieht - das ist „Der Stellvertreter“ sicher auch. Aber in mindestens genau solchem Maß ist es ein religiöses Stück. Es behandelt nicht nur die Verantwortung der Kirche in der Welt, sondern auch das Wesen der Religion in der Geschichte. Und dabei die Tragödie, die im Zusammentreffen von beidem entsteht.
Das Theaterstück
Und überdies enthält Hochhuths Stück auch eine Theorie des Theaters, eine Theorie, mehr noch, zum Verhältnis von Kunst und Geschichte. Er wählte, wiederum sehr vereinfacht gesprochen, die Form des dramatischen gegen das epische Theater, es war ein Theater nach Brecht und in manchen Aspekten vielleicht sogar gegen Brecht, ganz zu schweigen davon, dass es gegen das „absurde Theater“ gerichtet war. „Der Stellvertreter“ löst den Konflikt zwischen epischem Theater und klassischem Drama nicht, das Stück formuliert ihn. In der Charakterisierung der Personen (sein Gesicht „enthält keine Antwort“, heißt es in der Beschreibung der Rolle des Nuntius) oder in der Öffnung der Regieanweisungen, in denen, ganz nebenbei, genügend Spuren zu einem frühen Fixstern in Hochhuths literarischer Biografie führen: zu Thomas Mann. Im zugleich problematischen und furiosen fünften Akt droht das Stück an diesem Widerspruch sogar regelrecht zu zerbrechen. Es sind nicht nur die Aussagen und die Formen in diesem Stück, die seinen Rang ausmachen, es sind die Spannungen, die darin ausgehalten sind. Die Verfilmung
Nun endlich wäre die Frage zu stellen, ob der Film von Costa-Gavras dem Stück von Hochhuth gerecht wird. Könnte er ihm etwas hinzufügen, es auf angemessene Weise popularisieren, es in das andere Medium fortsetzen? Es ist eine Form des
kontrollierten Zorns, der Hochhuths Stück zusammenhält. Costa-Gavras ist vor allem guten Willens; er macht es uns nicht ganz so schwer. Er möchte das Wesentliche des Konflikts beibehalten, aber uns die letzten Konsequenzen nicht zumuten. Natürlich kann man sagen, dies habe wohl auch ein wenig mit dem zeitlichen Abstand zu tun. Costa-Gavras‘ Riccardo geht nicht so weit, den zu den Verbrechen schweigenden Stellvertreter Christi selbst als „Verbrecher“ zu bezeichnen, wie es Hochhuths Riccardo tut, und er nimmt auch die konsequenteste Idee des Widerstands, nämlich die Idee, den Papst zu ermorden und die Schuld dafür der SS anzulasten, zurück. Auch erfahren wir in dem Film nur höchst beiläufig, woher denn Riccardo den Judenstern hat, den er sich anheftet - als wäre es nun reines Symbol und nicht das Ergebnis einer verschlungenen Geschichte der Identitäten. Dramaturgisch gibt das eine Reihe von Vereinfachungen, die nicht alle glücklich sind. So ist zum Beispiel die „RitterkreuzSzene“ aus dem ersten Akt, in Hochhuths Stück durchaus bedeutsam für die Charakterisierung der handelnden Personen, im Film nur noch ein Aperçu. Und immer wieder arbeitet der Regisseur, wie in seinen durchaus kontrovers diskutierten Filmen der siebziger Jahre, mit den Mitteln des Spannungskinos. Zu oft verwandelt er, was im Stück Ketten der Entscheidungen sind, in einfach gestrickten cineastischen Suspense. Die Spannung bei Riccardos Geste, sich den Judenstern anzuheften, etwa entsteht durch eine assoziative Verbindung mit einer unvermittelten spektakulären Szene einer öffentlichen Selbsttötung zu Beginn, und enthält eben gerade dadurch nicht die
Möglichkeit jenes gerechten Attentats, die im Stück erwogen wird. Bei der Unterredung Riccardos mit dem Kardinal und seiner Familie so angelegentlich auf das Langusten- und Erdbeer-Essen der Würdenträger zu schneiden, während die Pläne der Vernichtungslager herumgereicht werden, ist eine indiskutable Form der Denunziation, die auch durch das Recht auf bildhafte Polemik nicht gedeckt ist. Auf der anderen Seite weiß der Regisseur sich durchaus mit Respekt dem Problem der Darstellbarkeit des Holocaust zu stellen. Er muss nicht die schnarrenden Nazi- Karikaturen bemühen, die wir im Kino so grauenhaft gewöhnt sind, er verzichtet, anders als Steven Spielberg, auf jedes Nachspielen des Grauens. Das erschrockene Zurückweichen Gersteins beim Blick auf die Vernichtung und das rhythmisch wiederholte Bild der Güterzüge, die durch Europa fahren, einmal mit geschlossenen, das andere mal mit geöffneten Türen, gibt genügend Anschauung. Und andererseits wiederum versteht der Film nicht, wie wichtig es für Hochhuth ist, den Opfern Gesicht und Stimme zu geben; der Film hakt das am Ende als illustrative Episode ab. Costa-Gavras verzichtet auf die möglichen Privatisierungen und Melodramatisierungen; dass er die Tragödie nicht an das Melodram verraten hat, ist immerhin ein Verdienst. Er begegnet dem Stoff wie dem Stück mit Respekt. Kirche: Pius und Riccardo
Das alles ist, wie gesagt, auch eine Frage der Zeit. Der historische Diskurs befindet sich, in gleichsam abgekühlter Form,
in Bearbeitung. Der ästhetische Diskurs ist weitgehend dispensiert, das Theater hat derzeit offensichtlich andere Sorgen. Den historisch- moralischen Diskurs will sich die neoliberale Gesellschaft nicht zumuten. Der ästhetisch- moralische Diskurs ist weitgehend auf die Frage nach der Darstellbarkeit des Holocaust reduziert. Und der Diskurs von Kirche und Religion? Es wird noch ein Widerspruch aufgerissen, ohne wirklich bearbeitet zu werden. Man hat ja vielleicht nicht so ganz zu Unrecht darauf hingewiesen, dass Riccardo eigentlich eine sehr „protestantische“ Figur ist, gestaltet von einem sehr protestantischen Autor. Tatsächlich scheint Riccardo dem Wesen „seiner“ Kirche fast fremd zu sein. Aber auch dieses einfache Modell löst sich im fünften Akt vollkommen auf. Auch Riccardo fühlt sich als „Stellvertreter“; die „protestantische“ Unmittelbarkeit seines Opfers steht ihm nicht zur Verfügung. Daher ist die Konstruktion des Stoffes ein System verschiedener Zweiheiten, verschiedener Spaltungen. Die Geschichte hat die katholische Kirche gespalten in Pius und Riccardo, die zu anderen Zeiten die beiden Seiten einer Sache wären: Der eine will die Kirche retten, der andere will den Glauben retten. Was die beiden dafür opfern, ist furchtbar genug. Aber dieses doppelte Wesen der Religion, nämlich zugleich weltliche Macht und transzendentale Kraft zu sein, macht sie nicht nur zu einer Institution, in der sich immer wieder die Führung korrumpieren lässt, sie ist Medium der Korruption durch die Macht. Der Film leistet sich eine Schlusspointe, die es so im Stück nicht gibt, nämlich dass sich der Doktor wieder durch
eben jene Institution retten lässt, deren Widersacher er war. Auch diese Pointe ist ein etwas hilfloser Versuch, Hochhuths Geschichts-Bild filmisch umzusetzen, das an die Seite der Verantwortlichkeit Die Legende will es, dass ein Nachfolger von Pius auf dem Stuhle Petri, dem Tode nahe, auf die Frage, was man gegen die Anschuldigungen im Stück unternehmen könne, geantwortet habe: Was kann man gegen die Wahrheit tun? Wenn diese Anekdote wahr ist, gibt es über den historisch-diskursiven Inhalt nichts mehr zu sagen. Wenn sie es nicht ist, eigentlich auch nicht, nur dass es sich dann um das Schweigen einer Universitätsbibliothek handelt. Daher wird die Reduktion des Films auf diesen Gehalt ein wenig leer. Aber kaum wollen wir uns ein wenig melancholisch abwenden, da tut uns auch schon wieder eine Fraktion der „Betroffenen“ den Gefallen, ihren Machtapparat noch gegen diesen Nachklang des einstigen Skandals zu entfalten. Der „Skandal“ von 2002
Dass eine so maßvolle Verfilmung des Stückes im Jahr 2002 erneut Skandal macht, eine Form der politischen Zensur evoziert (wenn auch zunächst am Plakat von Olivier Toscani exemplifiziert), die wir einigermaßen überwunden wähnten, zeigt, dass wir in diesen Jahrzehnten eher rückwärts als vorwärts gegangen sind. Wer beschriebe unsere Bemühungen, bei der Lektüre des Satzes im „Spiegel“ nicht grimmig zu lachen, in dem es hieß, der Heilige Stuhl habe dem Auswärtigen Amt
der BRD sein „Befremden nahe gebracht, dass die Bundesregierung zu dem Hochhuth-Stück schweige?“ Über die Zensurfälle in Frankreich und Italien gibt es nichts mehr zu lachen. Dabei wäre nicht die Anklage, sondern die Analyse, nicht die Politik, sondern das Philosophieren in diesem Stück von höchster Aktualität. Es gibt zwei Komplexe des „Was wäre wenn“ in diesem Fall. Was wäre, wenn der Papst nicht geschwiegen hätte? Hätte das Verfolgte gerettet werden können, oder wäre umgekehrt, wie manch einer annahm, der Todesgenuss der faschistischen Massenmörder nur angestachelt worden? Wie Hochhuth die Faschisten seines Stückes zeigt, das ist keineswegs eine Antwort auf diese Frage, auch wenn sie den „Freibrief“ durchaus goutieren. Und was hätte es für die Konstruktion des Vatikans - eine durchaus besondere Form der „Kirche in der Welt“ - für Folgen gehabt, den weltlichen Teil ihres Wesens durch eine solche Geste aufs Spiel zu setzen? Auch darauf gibt es keine Antwort. Aber die Fragen selbst machen das unglückliche Bewusstsein der Kirche - womöglich jeder Kirche, auch wenn natürlich kaum eine andere Kirche so viel weltliche Macht, so viel „Staat“ enthält wie die katholische - deutlich: Die weltliche Seite der Kirche ist nicht nur Medium ihres transzendentalen Inhalts, sie ist auch sein Widersacher, eine eingeschriebene Form der Negation, eine Institution, die nicht einmal, sondern unentwegt historische Schuld produziert. Weil und insofern sie Macht ausübt und erhalten will, ist jede Kirche auch ein Ort der Verdammnis. Nur Heilige können sie retten, die ihren eigenen Teil der Verdammnis auf sich nehmen. Nicht nur in einer Hölle wie Auschwitz, sondern
auch in sich selbst. Denn es sind nicht die Menschen, es ist die Kirche, die ihr Opfer annimmt. Am Ende wäre „Der Stellvertreter“ dann doch wieder als absurdes Theaterstück zu schreiben gewesen. Aber was immer man gegen Hochhuth als Autor einzuwenden haben mag: Er ist einer der tapfersten Autoren, die wir haben. Und er hätte einen wenigstens mutigeren Film verdient. Angst vor Widersprüchen
Costa-Gavras‘ Film, das ist nach ein paar Minuten Filmzeit klar, lässt sich auf keine der Widersprüche und unlösbaren Probleme des Stücks ein. Einigen von ihnen versucht er mehr oder weniger redlich aus dem Weg zu gehen, andere, wie den Widerspruch zwischen der offenen und der geschlossenen Form des Dramas, scheinen Drehbuch und Regie gar nicht erst zu verstehen. Er personalisiert den Konflikt ohne, wie Hochhuth, die Schwierigkeiten dieser Personalisierung mitzudenken. Aber zugleich weigert er sich, mit den Mitteln des Films tiefer in diese Personen, tiefer in das, was zwischen ihnen geschieht, hineinzusehen. Eine „Filmkritik“ zu Costa-Gavras‘ Hochhuth-Versuch also würde wohl, wenn nicht „vernichtend“, so doch eher negativ ausfallen müssen. Er ist nicht das eine und nicht das andere, noch nicht Film und nicht mehr Theater, nicht mehr Partitur und noch nicht Lektüre. Und ich bezweifle, ob es ein Filmemacher als großes Kompliment ansieht, wenn man ihm bescheinigt, er habe sich im Großen und Ganzen mit Anstand aus der Affäre gezogen. Einen der
schönsten Sätze zum „Stellvertreter“ hat wohl Karl Jaspers gesagt: „Hochhuth verlangt von uns: offen sein, Fragen ganz ernst nehmen, und zwar angesichts Gottes, der Transzendenz.“ Mein Gott, was hätte das für ein Film werden können! Aber das ist schon wieder ein anderer Diskurs: Warum er nicht zustande kommen kann, in unserer Filmkultur. epd Film 6/02
HUNDSTAGE Man könnte Hundstage als Ulrich Seidls ersten Spielfilm bezeichnen. Immerhin gab es ein Drehbuch, was bei seinen vorherigen Arbeiten nicht der Fall war. Andererseits schreibt er aber auch die besondere Art des „Dokumentarischen“ in seiner Arbeit fort. Ulrich Seidls Filme waren schon immer „Spiel-Filme“, weil sie zeigten, wie die Menschen mit ihrer eigenen Biographie vor einer Kamera spielten, die ihrerseits ihr eigenes Spiel trieb. Und dokumentarisch bleibt auch Hundstage, weil der Film wieder das Leben von Menschen ohne Traum und Mythos wiedergibt.
Für Ulrich Seidl selbst gibt es keinen Unterschied zwischen Dokumentarfilm und Spielfilm. Es gibt für ihn nur Filme „über das, was mich beschäftigt“. Was Ulrich Seidl beschäftigt, ist, vielleicht entgegen landläufiger Meinung, weder das Elend der Menschen noch ihre dumme Gewalt. Ihn beschäftigt die Suche nach dem Glück, die Aufgabe des Lebens, an der man gemeinsam und allein scheitert, der Zusammenhang zwischen dem, was uns kaputt macht, und dem, was wir kaputt machen. In Hundstage flicht Seidl Biographie-Fragmente aus einer Wiener Vorstadt zusammen: Menschen, die an einem Wochenende in der heißesten Zeit des Jahres etwas vom Leben haben wollen und dabei nicht viel weiter gelangen, als sich und andere zu quälen. Zusammengehalten wird dieses Spiel der Biographien durch die teils hektischen, teils trägen Bewegungen
dreier Figuren. Die beweglichste Figur ist die junge „geistig behinderte“ Frau, deren Lebensinhalt darin besteht, sich von Autofahrern mitnehmen zu lassen, um sie während der Fahrt mit impertinenten Fragen nach körperlichen und sexuellen Befindlichkeiten und mit nutzlos akribischem Wissen (wie: die zehn größten Supermarktketten oder die zehn häufigsten Krankheiten) an den Rand des Nervenzusammenbruchs zu bringen. Die eher stationäre Figur ist ein älterer Witwer, der von seiner Zugehfrau einen Striptease im orientalischen Stil erhält und das ewige Gezänk des jungen Nachbarpaares mit dem laufenden Motor seines Rasenmähers übertönt. Dazwischen sucht ein Mann denjenigen zu erwischen, der nächtens Autos ramponiert. Diese Bewegungen also verbinden die Versuche einer Reihe von Menschen, an diesem heißen Wochenende etwas mit ihrem Leben anzustellen. Natürlich meint man zuerst sehr genau zu beobachten, wie diese Menschen an einer so scheinbar einfachen Aufgabe wie einem halbwegs würdevollen Leben in einer Situation ohne materiellen Mangel scheitern. So direkt wie in Seidls Filmen sieht man selten, wie Menschen sich selbst und den anderen zur Hölle werden. Aber Seidls Filme funktionieren da genau anders herum als gewohnt: Es geht nicht darum, Menschen und Verhältnisse zu entlarven. Es geht vielmehr darum, Menschen näher zu kommen, die sich selbst schnell hinreichend enttarnt zu haben scheinen. Menschen, von denen man, kaum hat man sie in einer ihrer typischen Lebenssituationen beobachten dürfen, nur wünscht, ihnen im wirklichen Leben nie zu begegnen, möchte man nach einer Zeit doch gern haben
und kann es nicht, weil sie selbst immer wieder genau das tun und sagen, was es unmöglich macht. Der Zuschauer und die Zuschauerin sind in Seidls Filmen vollständig in dieses Spiel der Biographien involviert. Und andererseits ist der Blick der Kamera nicht weniger genau auf die Welt der Dinge gerichtet, die dieses Leben bedingen: das Shoppingcenter, der Vorgarten, der Parkplatz, die Wohnung der mittleren Preisklasse, das Auto als Waffe und Gefängnis. Die Hitze dieser Tage kommt noch hinzu, um etwas zu erzeugen, was der Radiosender wiederholt und euphemistisch benennt: „Überlastung“. Die Menschen in Hundstage sind überlastet und wissen nicht wovon. Es ist Wochenende, und der Film muss nicht davon sprechen, was in der Arbeitswoche zuvor mit den Menschen geschehen ist. Sie wissen es ja selbst nicht, sie tun so, als würden sie sowieso nur an den Wochenenden leben. Schon das führt zur Überlastung; das Scheitern an diesem Wochenende ist nur die logische Fortsetzung eines umfassenderen Gescheitertseins. Die „behinderte“ Anhalterin, die nirgendwohin unterwegs ist, das Ehepaar, das nach dem Tod der Tochter ohne Grund und ohne Sprache weiter zusammenlebt; der erfolglose Vertreter von Alarmanlagen, der sich am Ende noch den schwächsten unter den schwachen Menschen zum Opfer macht, um nicht an der Niederlage zugrunde zu gehen; der Junge und das Mädchen, die schon hoffnungslos in die Rituale von Eifersucht und Abhängigkeit geraten sind und sich in sinnlosen Zornausbrüchen, Abfolgen von Verstoßen und Verfolgen demütigen; die Lehrerin, die nach der sexuellen Sensation sucht und doch nur in eine grausam-banale Quälerei gerät (Seidl erspart da seinen
Protagonisten und seinem Publikum nur wenig). Bei alledem ist es nicht einmal die Gewalt, die die Menschen ausüben und erdulden, sondern das Bewusstsein der Gefangenschaft, das am meisten Pein verursacht. Es wird so weitergehen, man wird sich immer wieder mit den Niederlagen arrangieren. Die Hitze, die scheinbar die Dinge auf die Spitze getrieben hat, trocknet nur weiter die Körper und Seelen aus; sie hat nur sichtbarer gemacht, was sonst verborgen blieb. Alle werden in Seidls tristem Vorstadt-Welttheater gezeigt als Opfer, die auch Täter sind. Ein solcher Film stellt ein paar wichtige Fragen an die Marxisten (so es noch welche gibt) und an die Christen. Das Leben, sagt Ulrich Seidl, ist eine Prüfung, die kein Mensch besteht. Das Leben in der selbstgemachten Hölle, in der man jede Chance zur Befreiung mit der Unterdrückung ? mindestens ? eines anderen beantwortet, ist seine eigene Überlastung. Hundstage ist zum großen Teil mit Laien besetzt, und auch von Maria Hofstätter (sie spielt die Anhalterin Anna) wussten die anderen Darsteller nicht, dass sie ausgebildete Schauspielerin ist. Seidl hat sich viel Zeit genommen und seinen Darstellern viel Raum und viel Freiheit gegeben, um zu einem solch präzisen Bild zu kommen. Man könnte wohl sagen, die Entstehungssituation eines Films wie diesem ist schon selbst eine Art von Gegenbild. Weniger im therapeutischen, eher im diskursiven Sinn. Es ist die Freiheit, die der Regisseur seinen Darstellern lässt, die diese dazu bringt, ein wahres Bild ihrer Unfreiheit zu schaffen.
So wie die Models in seinem letzten Film sich selbst spielten, so spielt auch in Hundstage eine Wirklichkeit sich selbst, bei der längst das Inszenierte und das Authentische ineinander verschwommen sind. Seidl ist gleichzeitig ein genauer, geduldiger und durchaus nicht unbarmherziger Beobachter und ein Künstler, der Kadrage und Komposition betörend beherrscht. Seidls Kunst besteht darin, in diesem enormen Spannungsfeld von Ästhetik und Wirklichkeit, von Menschen und Bildern, zu bestehen. Es ist der Punkt, an dem das Kino das Leben angreift. Mit Zorn und mit Liebe, gewiss, aber auch mit einem enormen Wissen von dem, was das Kino sein kann und worauf es sich einlassen kann. Hundstage ist vielleicht kein angenehmer, aber ein großer Film. Einer von denen, die mit der Zukunft des Kinos zu tun haben. epd-film 8/02
IM WESTEN GIBT ES KEINE BOTSCHAFT ZUM TOD
VON
BUDD BOETTICHER
In die Geschichte des Western hat sich der Regisseur Budd Boetticher (29.7.1916 -29.11.2001) durch die Filme eingeschrieben, die er in den fünfziger Jahren mit Randolph Scott drehte. Aber er hat auch Gangsterfilme inszeniert und das Drehbuch zu Don Siegels Two Mules For Sister Sara (1971) geschrieben; in Tequila Sunrise (1988) konnte man ihn als Schauspieler bewundern. Thomas Brandlmeier porträtierte Boetticher in epd Film 8/95. Budd Boetticher gehörte zu jenen Regisseuren, deretwegen man eine hoffnungslose Liebe zum klassischen amerikanischen Kino entwickeln konnte. Spät hat man ihn entdeckt, natürlich in Frankreich, und anders als Roger Corman oder Samuel Fuller hat sich Boetticher dadurch nicht in die Filmgeschichte eingeschrieben. Obschon man durchaus bemerken kann, was Sam Peckinpah, Sergio Leone und Clint Eastwood ihm verdankten. Aber jetzt ist er schon wieder beinahe vergessen. Was nicht viel besagt, denn offensichtlich sind wir gerade dabei, die ganze Filmgeschichte zu vergessen. Wenn man ihn liebt, dann natürlich zuerst wegen seiner Filme. Aber immer auch wegen des Menschen, der dahinter teilweise sichtbar wird; eine buchstäblich exzentrische Biografie zwischen Hollywood und Mexiko entfaltet sich da, voller
Liebes-, Abenteuer- und Outlawgeschichten. Nur ein kleiner Teil dessen, was man sich zu Budd Boettichers Leben zusammenträumen kann, steht in seiner Autobiographie mit dem schönen Titel „When in Disgrace“. Seit seiner Jugendzeit war er besessen vom Stierkampf, seine Gangsterfilme, seine Western, sogar ein See-Abenteuer wie City Beneath the Sea (Die Stadt unter dem Meer, 1953) sind Vor- und Nebenarbeiten für jenen großen Stierkampf-Film, der dann doch nicht entstehen wollte. Boettichers Arbeit beim Film begann bei Rouben Mamoulians Blood and Sand (König der Toreros, 1941), bei dem er, der ausgebildete professionelle Matador, als Berater und Trainer des Hauptdarstellers Tyrone Power fungierte. Zehn Jahre später inszenierte er The Bullfighter and the Lady, 1955 The Magnificent Matador, und schließlich arbeitete er zwischen 1959 und 1968 ausschließlich an Arruza, dem filmischen Denkmal für seinen Freund und Lehrer: In 18 Corridas verfolgt er Carlo Arruza, seinen Rückzug, sein Comeback und seine letzten Triumphe bis zu seinem Tod bei einem Autounfall. Man muss schon den Stierkampf schön und diesen Tod seltsam bedeutend finden, um den Film zu genießen. Keiner von Boettichers Stierkampffilmen, und diese dokumentarische Arbeit am wenigsten, hat die kritische Wertschätzung seiner Western und Gangsterfilme erhalten. Die Skepsis, die das Drama in den Western vorantreibt, fehlt hier, und noch mehr fehlt in ihnen die Näherung der Kamera, jede psychologische Erklärung: Arruza ist ein Film der Totalen, der uns beim Zuschauen einen Platz ziemlich weit hinten in der Corrida zuweist.
Boetticher war Assistent bei George Stevens und Charles Vidor, bevor er 1944 mit One Mysterious Night seinen ersten Film drehte. Er wurde B-Regisseur, der viele seiner Film an zehn Tagen zu drehen verstand, und seine besten Geschichten erzählt er in weniger als 80 Minuten. Unter seinen 13 Western der fünfziger Jahre sind vor allem die sieben des sogenannten Ranown-Zyklus berühmt geworden. Ihr Hauptdarsteller Randolph Scott und Harry Joe Brown produzierten die Filme, Kameraleute waren vorwiegend Lucien Ballard und William H. Clothier, und die meisten waren von Burt Kennedy geschrieben. Der Zyklus ist wohl eines der geschlossensten Werke des Genres, ein Thema mit Variationen, die zeigen, was man mit wenigen, genauen Bildern und Worten machen kann. „Alle meine Filme mit Randy Scott haben so ziemlich die gleiche Story. Ein Mann, dessen Frau getötet wurde, sucht ihren Mörder. Auf diese Weise kann ich ziemlich subtile Beziehungen zwischen dem Helden aufzeigen, der starrsinnig an seiner Rache hängt, und den Outlaws, die im Gegensatz dazu mit ihrer Vergangenheit brechen wollen.“ Vielleicht steckt in dieser „simplen“ Konstruktion das ganze moralische und historische Dilemma des Western. Mitten in der kargen Steinwüste ist ein Punkt erreicht, an dem es nicht mehr vorwärts und nicht mehr zurück geht. Da schießt man sich tot oder reitet seelenkrank irgendwohin, wo einen keiner kennt. In Filmen wie Seminole (1953), The Man from the Alamo (1953) und The Cimarron (1951) erfüllte Boetticher die Studiovorgaben und zeigte sich der Farbe gewachsen, auf die er in einigen Ranown-Filmen so bewusst wie kaum ein anderer ver-
zichtete. Aber auch in diesen „unpersönlichen Filmen“ (Boetticher) gibt es schon das Sujet, das er mit Randy Scott dann in die Engführung bringen sollte: Jemand weiß nicht genau, wer er ist, und versucht es durch die Tat zu klären. Die Tat verändert ihn aber so sehr, dass er jemand anders wird als der, der er hat sein wollen. Um historische Wirklichkeit hat Boetticher sich nie sonderlich bekümmert. „Es ist besser, sich die Dinge ein bisschen hinzubiegen und einen guten Film zu machen, als sich an die Fakten zu klammern und einen langweiligen Film zu drehen - von denen gibt es genug.“ Deshalb ist es auch eine typische Boetticher-Geschichte, dass er ausgerechnet für The Cimarron Kid, eine völlig frei erfundene Geschichte um die Dalton-Bande, mit einer Medaille für „Verdienste um die historische Wahrheit“ ausgezeichnet wurde. Budd Boetticher konnte solche Sachen mit einem Lächeln genießen, das zu fein war, um von Ignoranten bemerkt zu werden. Der Ranown-Zyklus begann mit Seven Men from Now (Der siebente ist dran, 1956), der eigentlich schon alles enthält, was in den kommenden Filmen höchstens noch variiert und präzisiert wird: The Tall T (Um Kopf und Kragen, 1957), Decision at Sundown (Fahrkarte ins Jenseits, 1957), Buchanan Rides Alone (Sein Colt war schneller, 1958), Westbound (Messer an der Kehle, 1959), Ride Lonesome (Auf eigene Faust, 1959) und Comanche Station (Einer gibt nicht auf, 1960). Diese sieben Western sind auf den ersten Blick höchst reine Genrefilme. Keine Folklore, keine Psychologie, keine Kommentare. Wenn man die Augen noch einmal aufmacht, merkt
man, dass diese Filme erstaunlicherweise mit kaum einem anderen Film des reichhaltigen Genres zu vergleichen sind. Da ist erstmal die Boetticher-Landschaft, immer an der Grenze, in der Wüste, in ziemlich heruntergekommenen Städten. Eigentlich geht in diesen Filmen die Gleichung von story und history schon nicht mehr auf. Auch der Held hat in der Regel seinen moralischen Fall schon hinter sich, seine Moral baut sich auf falschen Voraussetzungen auf. Deshalb kann man Boettichers Western wie seine Gangsterfilme, wenn man will, auch als Farcen ansehen. Man muss ja nicht so weit gehen wie Jim Kitses in seinem Buch „Horizons West“ (das vielleicht nicht zufällig nach einem Boetticher-Film betitelt ist) und sie comedies nennen. Tatsächlich verzichtet Boetticher in seinen Filmen konsequent auf Großaufnahmen. Großaufnahmen gibt es nur, wenn schon von vorneherein einiges nicht stimmt. Aus dieser Distanz ist es in der Tat schwierig zu unterscheiden, ob man eine Tragödie oder eine Komödie sieht. Es ist eine Distanz, die seine Protagonisten immer reichlich einsam erscheinen lässt. „Ich liebe die ganz einfachen Landschaften, die Wüste, die Felsen. Wenn es möglich ist, einen kahlen Ort zu finden, wo ich in Schwarzweiß drehen kann, dann tue ich es.“ Das Pittoreske des Genres fehlt, und auch die Kirche im Dorf, wie bei den großen Mythopoeten des Genres: „Ich versuche in meinen Filmen das Thema Religion nicht zu berühren.“ Und wenn bei Boetticher einer schon in eine Kirche kommt, dann macht er sie zur Bühne für eine messerscharfe Inszenierung. In Decision at Sundown unterbricht Scott eine Hochzeits-
zeremonie mit den Worten an die Braut: „Wenn Sie diesen Mann heiraten, sind sie heute abend Witwe.“ Noch grotesker sind Kargheit und Distanz im Genre des Gangsterfilms, und in seinem Meisterstück The Rise and Fall of Legs Diamond (J.D. der Killer, 1959) sieht man sogar zu, wie die Legende zur Farce wird. Mit A Time for Dying kehrte Boetticher 1969 noch einmal zum kleinen Western zurück. Zum ersten Mal schrieb er selbst das Drehbuch, und es war böse und kalt. Es ist die Geschichte eines Jungen im Westen, der ein Held werden will, ohne zuvor Erfahrungen zu sammeln, und der sich deswegen mit den Großen seiner Zeit, mit Billy the Kid und Jesse James anlegen will. Aber nicht von diesen, sondern, da ist Boetticher schon wirklich sehr gemein, von einem Mann namens Billy Pimple wird er beiläufig totgeschossen. „Im Western gibt es keine Botschaft“, hat Budd Boetticher kategorisch gesagt. Auch ein Stierkampf hat keine Botschaft. Aber vielleicht ist der Western eine Botschaft. In seinen Filmen in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre hatte Boetticher von den Schwierigkeiten der Gemeinschaft erzählt und schon davon, dass sich der einzelne nicht wirklich in ihren Dienst stellen kann. Der Pakt bricht auseinander, wenn die äußere Gefahr zu groß wird oder verschwindet. In den Ranown-Filmen ist die Hoffnung auf eine solche Gemeinschaft weitgehend verloren, was bleibt, ist der Einzelne als autarke Instanz, und auch hier sehen wir die Anzeichen der Erosion. Die Einsamkeit macht nicht nur stolz, sondern auch verrückt.
In A Time for Dying gibt es auch diese Instanz nicht mehr, es geht nur noch um Verrückte, die einen Namen haben wollen, bevor sie sterben. Eine Botschaft ist das natürlich nicht. Es ist das Thema eines Mannes, der von sich selbst behauptet hat: „I never quit anything in my life.“ Um dann hinzuzufügen, dass das nicht heldenhaft ist, sondern verrückt. epd Film 1/2002
JOHN MCTIERNAN ANTONIN ARTAUD, BERT BRECHT UND WILE E. COYOTE IN DEN FILMEN EINES SCHEITERNDEN HANDWERKERS DES SPÄTEN AMERIKANISCHEN AKTIONSBILDES ODER WIE SICH
MITEINANDER UNTERHALTEN
Am 28.3. startet in den Kinos Rollerball, John McTiernans Remake des legendären ScienceFiction-Klassikers von Norman Jewison aus dem Jahr 1974. Hans Schifferle hat den Film auf S. 44 besprochen. McTiernan, Jahrgang 1951, wurde bekannt durch seinen Film Die Hard (1987); zur Zeit arbeitet er an Basic. In ihm spielt John Travolta einen Drogenfahnder, der nach einem verschwundenen Army-Sergeanten fahndet.
Zu den amerikanischen Regisseuren der Post-New-Hollywood-Generation, die einem gelegentlich den Glauben an die Verlässlichkeit stetig geführten Handwerks in der Traumfabrik zurückgeben, gehört John McTiernan gewiss, auch wenn er in letzter Zeit etwas glücklos in der Wahl seiner Sujets und Hauptdarsteller scheint - und noch glückloser schon länger in den Endphasen der Produktion und im Kampf eines Handwerkers um die Würde seiner Arbeit: Arnold Schwarzenegger hatte wohl entscheidend zu viel zu sagen am Set von Last Action Hero. Nach den verheerenden Ergebnissen der Testvorführungen wurde Action-Material nachgedreht und die
Struktur des Films verändert. Der ebenso mächtige wie zickige Autor Michael Crichton pfuschte dem Regisseur in The 13th Warrior so sehr ins Handwerk, dass McTiernan nicht einmal alle Szenen selbst inszenieren konnte, und Rollerball wurde von der Produktion verhackstückt und neu zusammengesetzt, um vom R- zum PG13-Rating zu gelangen. Die Film-Biographie des John McTiernan, das ist auch eine Geschichte davon, wie wenig Chancen noch der kleine Eigensinn in Hollywood hat, wenn er nicht vom Dauer-Erfolg unterfüttert ist. Natürlich kann man um einen wie McTiernan nicht in der Weise bangen wie man einmal um einen Michael Cimino bangen konnte, aber die Arrangements, die er dann doch immer wieder mit der Traum-, Geld- und Disziplinierungsmaschine Hollywood findet, haben beinahe alle etwas von der Melancholie nicht einhaltbarer Versprechungen. Am Ende ist es vielleicht gar nicht wahr, dass dieser mysteriöse Ort namens Hollywood der Ort für die Könner ist, die ihrem Handwerk die Handschrift geben und ansonsten mit einem schiefen John-Huston-Grinsen auf die Verrücktheiten- und Eitelkeiten der „Künstler“ reagieren. Vielleicht ist Hollywood ja ein gespenstischer Ort, von dem das goldene Handwerk nur angezogen wird, um umso nachhaltiger vernichtet zu werden. Dabei hat sich McTiernan an die Genres und Wellen gehalten mit Filmen wie Predator, Die Hard, The Hunt for „Red October“ , hat Themen des Actionfilms wie in Last Action Hero und des Star-Kinos wie in Medicine Man zu erweitern ver-
sucht, und er hat seinen Stars - Sean Connery, Arnold Schwarzenegger, Bruce Willis, Pierce Brosnan - ein klein wenig Raum gegeben, sich zu entwickeln. Niemand hat den Schweiß von Willis und die gewinnende Maske von Sean Connery so perfekt und bewusst eingesetzt wie McTiernan. Schwarzenegger, der einem Jäger-Alien in Predator erst Herr wird, nachdem er sich buchstäblich in den Urschlamm des Dschungels zurück bewegt hat, ist bei ihm so physisch richtig wie er bei James Cameron mythisch richtig ist. Und wenn Schwarzenegger sein Image in Last Action Hero als Allmachtsfantasie für einsame Kinder in Frage stellen muss, dann zeigt McTiernan das als ein hartes Stück Arbeit und Erfahrung. Sean Connery, dessen Pläne als dissidenter russischer U-Boot-Kapitän in The Hunt for „Red October“ so lange im Unklaren bleiben, ein neuer Kapitän Nemo, und der als Medicine Man seinen gutmenschlichen Aussteigertraum erotisiert, ist bei McTiernan gefährdeter und maskierter als gewohnt. Wie Pierce Brosnan, der in Nomads und The Thomas Crown Affair klar macht, dass seine Eleganz nicht leer ist, sondern nur fast leer. Und das ist ein gewaltiger Unterschied. Bruce Willis, der sich ganz buchstäblich aufreibt im Kampf gegen die Fake-Terroristen in Die Hard, oder verkatert, schmutzig und übellaunig im Ghetto mit einem Schild um den Hals „I Hate Niggers“ aufreten muss in Die Hard: With a Vengeance, ergänzt die Gallerie der Männer mit Interessen und Körpern in John McTiernans Filmen zur unteren Mittelschicht hin. Männerbilder also, noch einmal, Männerbilder in Bewegung. Eleganz und Barbarei, Härte und Verletzlichkeit: Immer geht es um die Reduktion des archetypischen
Helden ebenso wie um das Männerbild der Stars, das in den Köpfen der Zuschauer existiert. Natürlich gibt es da nur wenige Einstellungen, bei denen McTiernan riskiert, einen point of no return zu überschreiten. Aber es gibt Augenblicke der Fassungslosigkeit seiner Helden über sich selbst und über das, was sie und ihresgleichen angerichtet haben, die beinahe bewegender sind als die Action, auf die sich dieser Regisseur durchaus versteht. McTiernan macht, einerseits, aus der Wirklichkeit ein Spiel, vielleicht aber erkennen seine Filme auch nur den „Spielcharakter“ der Wirklichkeit. Jedenfalls kämpfen seine Figuren nicht nur um das Gewinnen in einem Spiel, sie kämpfen immer auch um die Gültigkeit der Spielregeln und darum, sie zu verstehen. Was das anbelangt, mag Die Hard: With a Vengeance in McTiernans Kongruenz von Thema und Stil (ein Plot, der sich erst durch das Begreifen seiner Regeln lesen lässt) bis an die Grenze zur Selbstparodie reichen. McClane/ Willis, der sich mit seinem neu gefundenen Alliierten Zeus durch das Labyrinth von New York begeben muss, auf der Suche nach einer Bombe und am Leitfaden von Kinderrätseln: Die McTiernansche Jagd ist hier eine Jagd nach Indizien geworden. Der „Trick“ seiner Erfolgsfilme ist es, die in der postmodernen Fantasy gewonnene Freiheit auf die Wirklichkeit zurückzuprojizieren; das Kino hat bei ihm wieder Regeln, aber es sind gleichsam Regeln auf Abruf, Regeln, die gefunden werden und wieder verloren gehen.
Wenn dieses Spiel auf den Körper trifft, wird es hochbrisant; wenn McTiernans Filme Kostüme und Dekors konstruieren statt zu finden, verlieren sie offensichtlich sehr rasch ihren Glanz. Gleich dem viel düstereren und kompromissloseren David Fincher findet McTiernan in seinen besten Momenten das Spiel als Wesentliches des realen Menschen, und das Überleben besteht nicht selten darin, die Regeln zu verletzen oder zu erweitern, wenngleich das gelegentlich mit buchstäblich katastrophalen Folgen bezahlt wird. McTiernan macht im gleichsam naturwissenschaftlichen Sinne Katastrophenfilme; es ist eine Frage der Mischung, die Menschen gewinnen oder scheitern lässt: Logik und Gefühl. Keines von beiden kann das andere bezwingen, stattdessen formieren sie die moralischen Zwickmühlen, in denen sich die Helden befinden. Melodramatisch spitzt sich das in Medicine Man zu, als der Forscher Campbell vor die Wahl gestellt ist, ein an Krebs erkranktes Mädchen zu retten und dabei das Serum unwiderbringlich zu verlieren oder das Mädchen sterben zu lassen, um den Menschen die Befreiung von der Krankheit zu bringen. Wir merken gleich: Besonders fair ist McTiernan in der Konstruktion solcher Konflikte nie. McTiernan war wohl am ehesten ein Exponent des filmischen „Clintonianismus“: keine Kehrtwende, keine fundamentalen Fragen, aber das Bemühen um eine maßvolle Zivilisierung jenes Genres, das unter Reagan, Bush sr. und dann wieder Bush jr, wie es scheint, zu so furchtbarer politischer Metaphorik aufgebläht wurde. McTiernan verlangt seinen Helden ein Mindestmaß an Menschlichkeit und emotionaler
Intelligenz ab, und dass der Regisseur nun so offensichtlich in einer Krise steckt (einer Krise wohl auch seines Markwertes in Hollywood), das hat vielleicht auch damit zu tun, dass sich das Klima in der Traumfabrik schon vor Clintons Amtsende wieder zu ändern begann. In dem Dreieck Stil, Moral und Kommerz gibt es nur wenige Gewinner. Eine Prise Godard
McTiernan ist ein Kinotier. Der Film- Student der State University of New York und Stipendiat des American Film Institute, 1985 leidlich erfolgreich mit seinem Debüt Nomads und zum Shooting Star geworden mit Die Hard, ist einer der letzten „Filmhochschüler“ nach der erstickten Revolte von New Hollywood. Er hat sein Kino-Wissen mehr oder weniger gut verborgen, die Lektionen von Größenwahn oder absurder Revolte gelernt, ohne ganz darauf zu verzichten, das Film-Bewusstsein seiner Generation zu zeigen. Er schmuggelt hier ein wenig Fellini, dort gar eine Prise Godard ins Genre-Kino, dessen epische Geschichten er fulminant kombiniert und reduziert. Er gehört nicht zu denen, die den Primitiven spielen, und zu den Snobs sowieso nicht. Seine Konzeption von Action und Gewalt im Kino stammt, nach seinen eigenen Worten, von drei Lehrmeistern: Antonin Artaud, Bert Brecht und Wile E. Coyote (der ewige Verfolger aus den Roadrunner-Cartoons). Coyote ist, so scheint es, am ehesten für die dramaturgische Struktur der McTiernan-Filme zuständig, Artaud für Körperbilder und die Heftigkeit, mit der uns Schmerz übermittelt
wird, und Brecht für die Verfremdungen und das, na ja, Bewusstsein. Jedem Film von John McTiernan kann man dabei zusehen, wie er versucht, es seinen drei Lehrmeistern recht zu machen, und wie er fast immer an mindestens einem von ihnen scheitert. In Last Action Hero gibt es reichlich Verfremdungen und viel Wile E. Coyote - darunter eine Szene, in der Schwarzenegger, bevor er in die Tiefe eines Fahrstuhlschachts rauscht, mit einem dem verdutzten Coyote sehr ähnlichen Gesichtzug direkt in die Kamera sieht, während er realisiert: Jetzt geht‘s bergab. Aber da ist natürlich kein Platz mehr für Artaud, so wie umgekehrt in Predator in der Verknüpfung von Artaud und Coyote kein Platz für Brecht blieb. Aber an allen drei Lehrmeistern muss McTiernan scheitern, wenn es um das Marktkalkül geht. Denn McTiernans Filme sind teuer, und zu seinen Meriten gehört eine Fähigkeit bestimmt nicht: mit wenig Material und Aufwand große Wirkung zu erzielen. Eher noch scheint es, als würde der Überfluss, das lustvolle Verpulvern, Teil seiner ästhetischen Strategie sein. Und deshalb ist der Abstieg dieses Regisseurs in die B-Liga für ihn wohl viel problematischer als für diejenigen seiner Kollegen, die auch eine kleine Produktion zu schätzen wissen. Sein neuester Film Rollerball wird auf der Ebene der visuellen Ästehtik ruiniert, weil der Film aussieht, als habe er Billiges teuer aussehen lassen wollen und es dabei noch billiger gemacht. Wo Handwerk (zumindest im Kino) doch am besten ist, wenn es genau anders herum zugeht.
Die Regeln des Spiels
Nein, ein auteur ist John McTiernan deshalb gewiss noch lange nicht, und wohl auch kein sonderlicher Stilist, auch wenn Nomads gewiss zu den auch visuell stimmigsten kleineren Horrorthrillern der achtziger Jahre gehört und The Thomas Crown Affair auf eine ziemlich schöne Art nicht recht funktioniert. Aber er hat doch so etwas wie eine Handschrift, eine Fähigkeit, das Aktionsbild vor dem Umschlag ins Barbarische oder auch ins Lächerliche gerade noch zu retten. Wenn andere Actionregisseure das Aufeinandertreffen harter Körper lieben, versteht er sich auf die Kunst der Verflüssigung, und wenn andere Actionregisseure den bedingungslosen Hass auf den „Feind“ evozieren, lässt er uns die Option von Mitleid. Sogar seinem Predator, diesem hässlich-bösen Wesen aus dem All, das Vergnügen an der tödlichen Jagd auf andere Lebewesen als einzigen Lebenssinn auszeichnet, lässt er den Schmerz im Angesicht des Todes. Ein Schauplatz ist für ihn nicht nur ein symbolisches Schlachtfeld, das es tunlichst zu leeren und in die Luft zu sprengen gilt. Es bedeutet viel, dass der Held von The Thomas Crown Affair so vernarrt in die spätimpressionistische Malerei ist und dass wir ihn vor Monets „Seerosen“Bild sehen (Monet, mit dem, nach einem Wort von Jean Luc Godard, das Kino begann!). Selten hat jemand so schlüssig die Würde des Bildes und die Lust der Aktion miteinander in Beziehung gesetzt: Thomas Crown stiehlt nicht aus Gier, sondern aus Liebe. Gut gehen kann das nicht, weshalb Monet auch Magritte Platz machen muss.
Und McTiernan hat ein „Thema“. Es ist das Spiel, das die Männer zu bestimmten Rollen und bestimmten Verhaltensweisen zwingt und dessen Regeln irgendwo durchbrochen werden können. Durch eine Frau, durch ein Kind, und, wenn es sein muss, sogar durch eige Und McTiernan hat ein „Thema“. Es ist das Spiel, das die Männer zu bestimmten Rollen und bestimmten Verhaltensweisen zwingt und dessen Regeln irgendwo durchbrochen werden können. Durch eine Frau, durch ein Kind, und, wenn es sein muss, sogar durch eigene Einsicht ändern McTiernans Helden ihre Richtung, ändern sogar das Bild, das sie von der Welt haben, das ist schon etwas. Es ist aber auch die Täuschung: das Tarnen wie in Predator, die Machinationen der Terroristen/Gangster in den Die-HardFilmen, das Täuschungsmanöver in The Hunt for „Red October“ - das Motto dieses Filmes ist zugleich seine „Spiel- Regel“: „Nichts, was man sieht, ist jemals geschehen“. Wenn man es genau nimmt, ist es dieser Satz, der Brecht und Wile E. Coyote in McTiernans Werk am direktesten miteinander verbindet. Und der Artaud ausschließt. Das Flüssige in der Welt, sagen wir es ruhig: die Tränen, spielen dabei eine nicht unerhebliche Rolle. Schwarzenegger verflüssigt sich in Predator, das Bild fließt in die Wirklichkeit in Last Action Hero, Connery wird eins mit dem Meer in The Hunt for „Red October“ und mit dem Urwald in Medicine Man, die Sprinkleranlage beendet die Affäre Thomas Crown, Flüssigkeiten sind es, die die männlichen Posen von Bruce Willis und Antonio Banderas auflösen. Das Schöne an McTiernans Filmen ist, dass der männliche Körper, wenn er
Schutz und Chuzpe verliert, nicht barbarischer, sondern melancholischer wird. Er tritt uns in den beiden fundamentalen Zuständen gegenüber, im „nackten“ bei Bruce Willis oder Arnold Schwarzenegger, im „angezogenen“ bei Connery und Brosnan, und diese Zustände von Nacktheit und Kleidung, von Barbarei und Zivilisierung, von Körper und Stil begegnen sich immer wieder in McTiernans Filmen. Dies ist der Augenblick, an dem Brecht und Artaud miteinander sprechen, während sie Wile E. Coyote in die Wüste geschickt haben. D a s S chei tern, eine Frage der Zei t
Beinahe alle Filme von McTiernan also sind Zivilisationsfabeln. Sie erzählen vom Aufeinandertreffen des Sublimen mit dem Heroischen, des Schönen mit dem Barbarischen. Übrigens ist auch der „Sieg“ seiner Helden höchst zweischneidig. Wenn sie ihr Leben retten können, ist das schon viel, und wenn sie an der großen Aufgabe scheitern, wie Connery an der Rettung des Regenwaldes in Medicine Man, und dafür ein privates Glück erwischen, nach dem es so lange nicht aussah, dann ist das mehr als man verlangen konnte. Aber eine Lösung ist es eben nicht. Die Helden seiner populärsten Filme gleichen denen des klassischen Western: Sie sind schon über den Höhepunkt der Virilität - und vielleicht mehr noch: über den der „Motivation“ - hinaus; was sie tun, müssen sie mit gleichsam letzter Kraft erledigen, das Scheitern ist nur eine Frage der Zeit, wie auch das kleine Glück. Daher ist der Weg des Männerkörpers auch immer wieder einer zurück: Antonio
Banderas als gebildeter, wenngleich verstoßener arabischer Edelmann in The 13th Warrior entwickelt seinen Respekt für die rüpelhaften Nordmänner, mit denen er gemeinsam einmal mehr „Kreaturen aus dem Nebel“ zu besiegen hat. Maskierte Nicht-Gestalt. Der Diskurs von Nacktheit und Angezogenheit, Barbarei und Zivilisation funktioniert nur auf dem Umweg über die dritte Erscheinungsform oder genauer: Un-Form. Das Nackte und das Angezogene am Männerkörper verstehen sich, insofern und solange es gerichtet ist gegen das Amorphe und Maskierte. Die Beziehung von Geschmack und Aktion dreht sich hier noch einmal herum: Was ist ein Bild ohne Bewegung (mag sich auch ganz direkt Thomas Crown fragen und noch direkter das Opfer des Predator), aber andererseits: Was ist Bewegung ohne ein Bild? Das ist die Die-Hard- und Rollerball-Frage. Thomas Crown hat es geschafft, in seinem Lebensdesign, Bewegung und Bild auf eine Weise miteinander zu versöhnen, die beides auf eine fast kindische Art wörtlich nimmt. Dass McTiernans erster Film Nomads hieß und schon gleich auch das Grauen des Nomadischen in der Welt (der Materie, des Materiellen, des Materialismus) beschrieb, ist gewiss kein Zufall. Um Nomaden geht es immer in seinen Filmen. Was ist es, das einen Mann zum Nomaden macht? Der Körper oder die Kleidung? Bert Brecht bespricht das mit dem pelzigen Wile E. Coyote.
Niederlagen und Remakes
Was in Godards Filmen stürmt, durchzieht, immerhin, als laues Lüftchen die Filme von John McTiernan: Geist, der auf Körper trifft. Wort, das stärker als sein Bezeichnetes ist. Das steckt voller Bezüge: In Last Action Hero tritt Fellini-Darsteller Anthony Quinn als Mafioso „Vivaldi“ auf; Bergmans Tod aus Das siebte Siegel spukt durch den Film, und Schwarzenegger gibt seine Hamlet-Travestie als Olivier-Parodie. Aber natürlich ist McTiernan auch ein begeisterter Hollywood-Fan: Sean Connery und Lorraine Bracco zum Beispiel geben in Medicine Man eine Variante von Bogart und Hepburn in Hustons African Queen, eine andere Geschichte von Körper und Geist, die große Liebesgeschichte von Hollywood. Zwischen Artaud und Coyote. Last Action Hero hätte wohl in der Tat ein Schritt des Mainstream in die besseren Gefilde der filmischen Postmoderne sein können, die endlich halbwegs gelungene Konferenz von Artaud, Brecht und Coyote. Aber dieses ABC wollte wohl noch niemand lernen (da können wir sogar den Regisseur selbst nicht ganz ausnehmen). Die Dekonstruktion des Actionfilms allerdings erwies sich als hoffnungslos unterlegen der einfachen Effektfabel von Jurassic Park: McTiernans Angriff aus dem Hinterhalt war offensichtlich abgeschlagen, schon in den Testvorführungen hatte das Publikum der gemäßigten sophistication nicht zugestimmt, und schließlich verlangte die Erinnerung an den ersten Anschlag auf das World Trade Center nicht gerade das Bild eines Dynamitstangen schwin-
genden Schwarzenegger, sondern eher einen Kerl wie Clint Eastwood aus In the Line of Fire. Leute mit Problemen, haben immer auch noch das Pech. Und ganz hat sich der Regisseur von dieser verheerenden Niederlage nicht mehr erholt. Von Last Action Hero ging im Genre das genaue Gegenteil seiner möglichen Intention aus: die Restauration des kämpfenden Männerkörpers im Zeichen cineastischer Dummheit. McTiernan hat immer kategorisch abgelehnt, Remakes zu drehen. Seine letzten Filme sind daher beinahe alle nur teilweise respektvolle Übermalungen. So wenig sich die Thomas Crown Affair mit dem Vorgänger von Norman Jewison (und Pierce Brosnan mit Steve McQueen) messen kann und will, so wenig will Rollerball Jewisons seltsam selbstwidersprüchlichen SF-Film „neumachen“ . Aber beide „Remakes“ sprechen zugleich von Distanz und Sehnsucht gegenüber einer Zeit, in der der Körper noch cool sein konnte. Wile E. Coyote und Antonin Artaud, und diesmal ist Brecht in der Wüste. Nicht wirklich. Denn auch das gehört zum „Altmodischen“ an John McTiernan, dass da ein Hollywood-Handwerker mit einem ästhetischen Wissen und Bewusstsein am Werk ist, um das ihn seine Kritiker beneiden müssten, der aber doch aus seiner Falle nicht herauskommt, der Bestimmung, primär liefern zu müssen, was man von ihm erwartet. Daher geht er auch immer wieder fehl in seiner Farbpalette, trägt zu zart auf (wie in The Thomas Crown Affair) oder zu düster (wie in The 13th Warrior), lässt zu wenig oder zu viel aus, macht sein Thema
zur Verwundung seiner Filme. McTiernans „Remakes“ sprechen davon, dass eine bestimmte Art von Kino nicht mehr existiert, aber bestimmte Probleme durchaus. Das Grobe und das Zivilisierte also, dieser Dialog bestimmt die Arbeit von John McTiernan, als Thema und als ästhetisches Problem, vielleicht sogar als biographische Geste. Er folgt den Spuren des amerikanischen Denkens und will sie nicht wirklich verlassen; wie in The Hunt for „Red October“ begegnen sich immer wieder höchste technische Intelligenz und steinzeitliches Denken in einer Person. Wenn man das als „Ideologie“ sieht, wird etwa die Hälfte von McTiernans Filmen unerträglich. Aber man kann es gewiss auch als ein tieferes Problem erkennen. Dass und wie sich etwas verändert, sieht man an seinen Remakes der beiden Norman-Jewison-Filme am genauesten, The Thomas Crown Affair und Rollerball, die eben keine bloßen Remakes sind, sondern eine Art von Revisionen mit auch moralisch veränderten Eckdaten. Jewison war immer vollständig fasziniert von seinen Helden, von der Coolness von Steve McQueen und seiner Hingabe an seinen Lebensstil, oder von der krausen Liebe von James Caan zu dem Brutalsport in Rollerball. Er konnte auf der Höhe seiner Subjekte filmen, ob einem das nun gefällt oder nicht. Bei McTiernan ist da Ernüchterung und Distanz zu spüren, seine Rollerball-Heroen, zum Beispiel, haben mit dem Spiel selbst nicht viel im Sinn (das sie in fast schon lächerlich karnevalesker Verkleidung betreiben), ihnen geht es um die Gier, so wie auch Pierce Brosnan in The Thomas Crown Affair nicht mehr
wirklich cool sein kann und daher die Kunst als das Andere, das nicht Erreichbare ersehnen muss. Revisionistisch verhält sich Tiernan aber auch zu den literarischen Vorlagen: Das Kalte-Kriegs-Buch des durchaus militaristischen Autors Tom Clancy (das wiederum auf eine „wahre“ Begebenheit zurückgeht, nämlich die Flucht einer russischen Fregattenmansschaft nach Schweden) haben McTiernan und seine Autoren für The Hunt for „Red October“ nicht nur entschärft, sondern, zumindest was die Hauptfigur anbelangt, mehr oder weniger auf den Kopf gestellt. Aus einem hasserfüllten Überläufer wurde ein melancholischer Pazifist, und einige der Höhepunkte des fürchterlichen Romans (Atomkernschmelze in einem U-Boot) wurden ganz gestrichen. Aber wie häufig in seinen Filmen opfert der Regisseur auf dem Altar der guten Absichten und der politischen Korrektheit nicht nur Möglichkeiten von Action und Thrill, sondern vor allem Möglichkeiten der parodistischen Übertreibung: McTiernan fällt einfach nicht auf, dass die Männerspiele, von denen seine Filme handeln, auch etwas umwerfend Komisches haben. Deswegen „stimmt“ in Last Action Hero am allerwenigsten die Boy/Hero-Beziehung zwischen dem kleinen Helden und dem (mehr oder weniger) fiktionalen Supercop Slater: die schiere Bewunderung eines pop-kulturellen Ersatzvaters ist für die lost boys des Medienzeitalters selbst nicht mehr ohne Ironisierung zu haben. Die Männer, die sich an ihren Spielen zur Herstellung des entsprechenden Bildes reiben, haben in McTiernans Filmen genauso wenig Humor wie ihr Regisseur, obwohl sie, von Bruce Willis aus Die Hard über Schwarzeng-
ger von Last Action Hero bis zu Antonio Banderas von The 13th Warrior, zu sarkastischen Bemerkungen durchaus in der Lage sind. Aber es gibt hier nichts Leichthändiges und Lakonisches. Rollerball hat offensichtlich nicht das Comeback des John McTiernan eingeläutet. Dabei hätte es doch genau sein Thema sein können: Wieder geht es um ein Spiel der Gewalt, das hinter seiner rituellen Oberfläche einen zweiten Sinn, einen viel materielleren und trivialeren Sinn, offenbaren muss. Wieder geht es für den Helden darum, „ins Spiel zu kommen“, gegen innere und äußere Widerstände, mal drängt sich ihm das Spiel (wie in Die Hard) auf, mal drängt er sich ins Spiel (wie in The Thomas Crown Affair). Immer ist der Spieler dort der „Bessere“, wo er sich nicht mehr auf das reine Jagen konzentriert. Bruce Willis in Die Hard und Sean Connery in The Hunt for „Red October“ wenden die Spielregeln gegen die Erfinder, Arnold Schwarzenegger durchbricht in Predator und Last Action Hero auf sehr unterschiedliche Weisen die Spielregeln, Thomas Crown wendet sie radikal um. Und in Die Hard: With a Vengeance stellt McTiernan sogar die in Die Hard selbst aufgestellten Regeln auf den Kopf. D e r Feind - und das Heldenbild
McTiernan ist der Regisseur des verschwindenden Feindbildes. Dafür war schon der Predator eine perfekte Metapher: Eine soldatische Aktion (noch dazu mit „Spielzügen“, die wir aus einer ganzen Reihe von Filmen kennen), führt über alle
konkreten Feinde hinaus zu einem Wesen, das so fremd ist, dass man nicht mehr von einem Feind sprechen kann. Die Allianz des Arabers und der Nordmänner in The 13th Warrior richtet sich gegen einen phantastischen Feind, The Hunt for „Red October“ löst die Feindbilder auf, die Feinde in Die Hard sind in Wahrheit nur Gangster, und nicht einmal dem ikonischen Bild des „deutschen Superterroristen“ (Jeremy Irons) in Die Hard: With a Vengeance ist wirklich zu trauen. Der Feind ist ein als „das Böse“ verkleidetes Interesse (erklärt Brecht dem verlegen grinsenden Wile E. Coyote). Dieser Auflösung des Feindbildes ins Vage entspricht auch ein Wandel im Heldenbild: McTiernans Helden sind Männer, die Angst und Schmerzen kennen lernen (sagt Artaud zu Brecht). Der Sprung in die Realität, den Jack Slater in Last Action Hero vollführt, wird deutlich dadurch, dass er zu seiner Überraschung feststellen muss, dass sein eigener Körper verwundbar ist und „kaputtgehen“ kann (stellt Coyote verwundert gegenüber Artaud fest). Predator ist vielleicht nicht nur ein Versuch, Alien und Rambo miteinander zu kombinieren, sondern auch einer, die beiden Diskurse von Körperlichkeit aus diesen Filmen in eine Beziehung zueinander zu setzten. Bruce Willis, natürlich, ist schon die Gestalt gewordene Vermenschlichung des kämpfenden Männerkörpers und nebenbei die Rettung des Action-Konzepts schlechthin. Bruce Willis wurde zur Hollywood- Ikone vor allem durch McTiernans Inszenierung seiner Gestalt. Schon damit hat der Regisseur seine Spuren im neuen Film gelegt. (Siehe Bruce-Willis-Porträt von Sabine Horst, epd Film 4/98.)
Aber nun, so scheint‘s, ist John McTiernan auch ein bisschen allein. Nach den Feindbildern lösen sich auch die der Helden auf. Ihre Bewegungen werden böse und leer. Der Männerkörper zwischen Bild und Bewegung hat die Suche nach der verlorenen Würde aufgegeben. Und wie die Bewegung ins Kreisen übergeht, so verschwimmt das Bild im Image. Ein Regisseur wie John McTiernan holt nichts aus Schauspielern heraus, jedenfalls nichts, was nicht im Übermaß in ihnen ist. Denn für das, was zwischen dem Bild und der Bewegung geschieht, hat er (noch) keinen Blick. Nennen wir es Seele, Bewusstsein, das konkrete Leben. Wie furchtbar zu sehen, wie Schauspieler in Rollerball agieren, als hätten sie nichts zu verlieren als ein Rollenangebot für eine Soap Opera. Gehen wir, sagt Antonin Artaud zu Bert Brecht. Laufen ist besser. Sagt Wile E. Coyote. epd 2002
MOULIN ROUGE Mit Romeo und Julia (1996) hat der australische Regisseur Baz Luhrmann Shakespeare bei Teenagern populär gemacht, sein vorausgegangener Tanzfilm Strictly Ballroom (1991) war noch eher eine Talentprobe für Kenner. In seinem neuen, erst dritten Film in zehn Jahren, mit dem in diesem Jahr das Festival von Cannes eröffnet wurde, zieht er nun alle Register.
Zwei Dinge kann man dem Filmemacher Baz Luhrmann bestimmt nicht nachsagen: Inszenatorische Zurückhaltung und Pingeligkeit in Sachen geistigen Eigentums. In der Regel nimmt er sich etwas vor wie, sagen wir, William Shakespeares „Romeo und Julia“, und setzt es einer brachialen cineastischen Überwältigung aus. Man mag zuerst einmal vom Respektlosen, von der Anmaßung, von der schieren filmischen Gewalt fasziniert sein. Was wollen wir schließlich im Kino, wenn es nicht um Befreiung geht. Aber irgendwann kommt in Luhrmanns Filmen immer der Augenblick, wo man sich fragt, wozu diese ganze Kino-Kraftmeierei denn gut sei, und ob der Kerl da oben seine postmodernistischen Befreiungsschläge nicht auf unsere Kosten ausführt. Moulin Rouge treibt den cineastischen Luhrmann-Wahnsinn noch einen Schritt weiter. Das Überwältigende ist noch überwältigender geworden und das Sinnlose noch sinnloser. Aber vielleicht kann man ja auch so etwas wie reines Kino
genießen, Kino, das nichts anderes als sich selbst will, das von nichts „handelt“ als von sich selbst und an nichts anderes denkt als an das nächste Bild, den nächsten Regieeinfall, den nächsten Effekt, das nächste Zitat, das nächste Dekor. Doch eine solche Überbietungsstrategie, da hätte sich Luhrmann vielleicht einmal etwas näher mit Musik beschäftigen sollen, funktioniert auch kompositorisch nicht. Wenn man mit allem anfängt, gibt es kein Steigerung mehr; wenn man Motive nicht konstruiert, variiert, verzweigt oder analysiert, bleibt nur die Wiederholung, und ein Zitat ist nur so gut wie das, was man mit ihm anfängt. Deshalb hat Moulin Rouge den vermutlich tollsten Trailer dieses Kinojahres. Das sieht man und ist hin und weg. Aber der Film selbst ist dann nichts anderes als eine sehr, sehr lange Variante eines Trailers für einen Film, der leider nie gedreht worden ist. Dabei steht Moulin Rouge in einer Traditionslinie von Wahnsinnsfilmen. John Hustons Moulin Rouge von 1953 ist ein wahnsinniges, rücksichtsloses Künstler-Melodrama, und über Jean Renoirs French Cancan (1955) schrieb François Truffaut: „Das panische Fieber des Cancan saugt am Ende den ganzen Film in sich auf.“ Pures Schaffen, pures Leiden, pure Form bei Huston, pure Bewegung, pure Lust, pures Fließen bei Renoir. Was bleibt einem Film zum Thema da noch zu sagen? Baz Luhrmann will ein Moulin Rouge für die Kinder von MTV und Ecstasy. Fragt sich nur: wozu? Zuerst erzählt Luhrmann ein Bohème-Melodrama. Im Moulin Rouge des Jahres 1899 ist die schöne gefeierte Sän-
gerin Satine (Nicole Kidman) drauf und dran, sich mit dem nicht so schönen, aber reichen Duke (Richard Roxburgh) einzulassen, als der arme schöne englische Dichter Christian (Ewan McGregor) ihr Herz betört. Er schreibt, unterstützt unter anderem von Henri de Toulouse-Lautrec (John Leguizamo) und Eric Satie (Matthew Whittet) ein Stück über einen armen Sitar-Spieler, die Tänzerin und den Maharadscha, und das ist nicht zuletzt eine Bühne, auf der sich die Liebe zwischen Christian und Satine vor den Augen des eifersüchtigen Duke offenbart. Das hört sich aber raffinierter an als es ist. Jedenfalls: Das kann nicht gut ausgehen, einerseits weil der Duke den Impressario und damit auch Satine erpressen kann, denn er hat sich das Moulin Rouge selbst als Pfand angeeignet, und andererseits, weil bei Satine die tödliche Tuberkulose ausbricht, und zum letzten, weil der Duke seinen Diener mit dem Mord an Christian beauftragt hat. Auf der zweiten Ebene ist Moulin Rouge ein Ausstattungsstück. Modelle und Computeranimation treffen sich in der Konstruktion eines beeindruckend supersynthetischen Traumreichs, rund um einen gewaltigen Elefanten, in dessen Inneren sich die Liebes- und Verwechslungsszenen mal à la Boulevardtheater (Tür auf, Tür zu), mal nach Slapstickmanier abspielen dürfen, immer aber in einer Art Rauschzustand von Farbe, Form und Bewegung. Was das anbelangt, ist Luhrmanns Film sicher ein kleines Meisterstück. Wie man eine solche Dekoration mit Bewegung füllt, selbst in Bewegung setzt, in Bewegung darstellt, das macht ihm so schnell keiner nach, und das fesselt für geraume Zeit. Immer neue Kostü-
me in verblüffendem Wechsel, Kamerabewegungen, die man schnell durchschaut und die einen dann doch immer wieder überrumpeln, immer neue Choreografien, die das gewohnte Raumempfinden sprengen. Davon kann man wirklich ziemlich high werden. Doch zum dritten ist Moulin Rouge auch ein Musical, und da verfängt sich der Regisseur und Drehbuchautor in seinen selbst gelegten Fallen. Denn auch das Musical ist so fake wie alles andere, und das ergibt eine fatale doppelte Verneinung. Es ist nicht um eine eigene Komposition, sondern um ein Endlos-Meadley von Pop-Songs errichtet, die schon alle mehr oder weniger zu Tode gehört und zitiert wurden. Mit ihren Abschlussball- Versionen von „Diamonds are a Girl‘s Best Friends“ oder „Heroes“ lässt Luhrmann seine Darsteller bedenkenlos ins Vergleichsmesser laufen. Das Spiel mit der Wiedererkennung der Melodien und des frivolen Gebrauchs der Lyrics (Ewan McGregor spricht überhaupt vorwiegend in Popsong- Zeilen) macht zwei-, dreimal Spaß, dann beginnt diese verbrauchte Akustiksauce zu nerven, so wie wir auch mit der Zeit das Interesse daran verlieren, die Zitate des melodramatischen Plots zu sortieren. Zum anderen aber hat der Regisseur offensichtlich bewusst Schauspieler eingesetzt, die weder singen noch tanzen können. Ich meine: Natürlich können sie es, das lernt man ja im Schauspielunterricht, aber sie müssen es nicht, es ist nicht ihr Wesen. Und von hier aus rubbelt sich das ganze bunte Textil des Films wieder auf wie ein falsch gestricktes Deckchen: Die
Kamera muss vielleicht nur so entfesselt herumrasen, um vom Mangel an Bewegungstalent und an Bewegungsleidenschaft der Stars abzulenken, die Atemlosigkeit der Auflösung muss darüber hinweghelfen, dass den Stimmen der Atem fehlt, und die Dekorationen müssen die Gefühle ausdrücken, die weder das Drehbuch noch die mise en scene aus den Figuren herausholen kann. Das klassische Filmmusical, wo es so gut war wie bei Vincente Minnelli, entwickelte sich von Bild zu Bild zu einem „Mehr“, in einem Überfließen des Inneren nach außen und zurück: das Gefühl, das sich in Bewegung umsetzt, die Bewegung, die sich in Raum umsetzt, der Raum, der sich in Farben umsetzt, die Farbe, die sich in Gefühl umsetzt. Hier ist dagegen eines vor das andere geschoben, eines verweist immer nur auf die Abwesenheit des anderen, jedes maskiert Leere. Der Film nimmt das Melodrama nicht ernst, er nimmt die Kunst der Ausstattung nicht ernst, er nimmt die Musik nicht ernst, aber er nimmt auch das Nicht-ernst-Nehmen nicht ernst. Daher bleiben schließlich das Fake-Melodrama und das Fake-Musical einander fremd. Je länger der Film dauert, desto fremder werden sie sich, und desto mehr guckt man sich nicht mehr einen Film, sondern nur noch handwerkliche Details an. Das ist ja auch nicht schlecht. 127 Minuten und 43 Sekunden lang kann man einiges übers Filmemachen lernen. Oder man schaut einer Bilder- und Musik-Maschine dabei zu, wie sie sich selbst kaputtmacht. epd Film 10/2001
EYES WIDE SHUT Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“ ist eines dieser hübschen Rätsel der Literaturgeschichte, eine Erfüllung und ein Sonderfall in einem Werk zugleich. 1907 begonnen, hat der Autor die Erzählung erst 20 Jahre später, am Ende seiner Arbeit, vollendet. Dazwischen lagen ein Weltkrieg, der soziale und kulturelle Niedergang eines imperialen und eines bürgerlichen Reiches, und die Entwicklung der Psychoanalyse von einer Wissenschaft zu einem Kulturspiel. So vermischen sich in der „Traumnovelle“ nicht nur die literarischen Methoden, sondern auch die Zeiten; wir befinden uns zugleich in den Unterwelten der K.u.K-Gesellschaft und in der Trümmerlandschaft des Nachkrieges, wir befinden uns in einer Traumwelt und in der bürgerlichen Wirklichkeit. Leicht ist es, die Parallelen zwischen dem literarischen Werk und der psychoanalytischen Methode zu ziehen, zumal Sigmund Freud Schnitzler als jemanden bewunderte, der in künstlerischer Intuition vorwegnahm, was er durch „objektive“ Untersuchung zu Tage förderte. Man kann sich des Bildes kaum erwehren: Freud hat in Schnitzler so etwas wie einen Doppelgänger gesehen (und ganz bestimmt hätte dieses Bild Stanley Kubrick gefallen). Schnitzler selbst war da eher skeptisch: „Nach dem Dunkel der Seele gehen mehr Wege, ich fühle es immer stärker, als die Psychoanalytiker sich träumen (und traumdeuten) lassen“, schrieb er an den Freud-Schüler Theodor Reik. Tatsächlich lässt sich der Traum in der „Traumnovelle“ weder als Abbildung noch als
Kommentar zur Seelenwirklichkeit ihrer Protagonisten deuten, aber auch nicht als eine Rückkehr zur „gothischen“ Phantastik, wo das Übernatürliche in das Leben einbricht. Denn es geht nicht nur darum, dass die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit verschwimmen, sondern gerade darum, dass der Versuch der Rationalisierung so gründlich, ja katastrophal scheitern muss. Man mag daher die „Traumnovelle“ zugleich als Parallele und als Widerspruch zur „Traumdeutung“ sehen, nicht nur als verschlüsselte Selbstdarstellung des Autors in seiner Isolation und Besessenheit, sondern auch als Widerspruch des Ästhetischen gegen die Wissenschaft. Ein bürgerliches Ehepaar, Fridolin und Albertine. Der Mann ist Arzt - wie es Arthur Schnitzler bis zum Tod seines Vaters war. Liebevoll verabschiedet man sich vom Kind, um sich auf einen Ball zu begeben. Dort kommt es zu kleinen, kaum bedeutenden erotischen Irritationen; Fridolin folgt zwei roten Dominos, die ihm versprechen, „unmaskiert“ zurückzukehren, ohne dass dieses Versprechen erfüllt wird, Albertine entzieht sich nach anfänglicher Faszination einem Unbekannten von „melancholisch-blasiertem Wesen“. Am nächsten Tag steigen die „Schattengestalten“ der Redoute, nachdem sie sich zunächst eher anregend gezeigt hatten, wieder auf, und „aus dem leichten Geplauder über die nichtigen Abenteuer der verflossenen Nacht gerieten sie in ein ernsteres Gespräch über jene verborgenen, kaum geahnten Wünsche, die auch in die klarste und reinste Seele trübe und gefährliche Wirbel zu reißen vermögen“. Und die beiden versuchen einander ihre geheimen Wünsche zu entlocken. Albertine schließlich
erzählt von einer Bekanntschaft im letzten Sommer: „Wenn er mich riefe - so meinte ich zu wissen -, ich hätte nicht widerstehen können. Zu allem glaubte ich mich bereit; dich, das Kind, meine Zukunft hinzugeben, glaubte ich mich so gut wie entschlossen, und zugleich - wirst du es verstehen? - warst du mir teurer als je.“ Dieses Bild der geträumten Untreue, das Bild einer als Subjekt begehrenden Frau, das sich weder ins patriarchalische Modell der auf ewig untreuen Frau zurück bannen, noch in eine Utopie der sexuellen Freiheit projizieren lässt, wird für Fridolin zum Auslöser einer bizarren erotischen Odyssee. Sie führt ihn von den überraschenden Avancen einer Frau, deren Vater gerade gestorben ist, über die Begegnung mit einer Prostituierten und einer Nymphe im Hause eines Kostümverleiher bis zu einem grandios makabren sexuellen Maskenspiel in einer Villa. Bei seiner Rückkehr erzählt ihm seine Frau von ihrem Traum, in dem er sich wieder betrogen und gedemütigt fühlen muss. Am nächsten Tag geht er den Stationen seiner nächtlichen Reise nach. Alles erscheint nun in anderem Licht, trivialer und doch mysteriöser. Schließlich findet er die Maske, die er bei seinem Abenteuer verloren hat, im Bett neben seiner schlafenden Frau. Es ist ein „Erwachen“, das keine Lösung bringt. Stanley Kubrick und sein Co-Autor Frederic Raphael haben die Handlung der „Traumnovelle“ ins New York von heute, oder auch an einen Ort, der ebenso zeitlos und unwirklich ist wie Schnitzlers Wien, verlegt. Auch hier mag eine Gesellschaft zu beobachten sein, die an ihrer Ungleichzeitigkeit leidet. Das Alte und das Neue, eine Lockerung der Sitten und ein innerer
und äußerer Zwang zur Offenheit, stehen einer nach wie vor fundamentalen Organisation von Liebe und Familie gegenüber. Die Stadt selbst hat ihr eigenes, „neoklassisches“ Leben, hat ihre eigenen Untergründe, ihre Labyrinthe, sie lässt auch den besten Bürger gefährliche Wege gehen. Die Projekte der Modernisierungen im Mikrokosmos der Gesellschaft sind gescheitert, die scheinhafte Liberalisierung erweist sich als Phantasma. So wie Full Metal Jacket zugleich ein Film über den Vietnam-Krieg ist und eine Reflexion über das Ende des Industriezeitalters, so ist Eyes Wide Shut zugleich ein Film über ein verlorenes Traumreich der Dekadenz und ein Film über das Ende der achtziger Jahre in New York, das Ende der sexuellen Ökonomie und einer Ästhetik, in der sich, vielleicht, „Kultur“ noch einmal dagegen zur Wehr setzte, schiere pulp fiction zu werden. Es ist ein Film über das Ende jenes Bürgertums, das seine Hoffnung auf der Vorstellung von „Liebe“ aufgebaut hat, als mythisches Ineinander von Begehren, Offenheit und Planung, oder, um es in Kubricks Kosmologie zu sagen: das Paradox einer vollkommen freiwilligen Gefangenschaft. Die Liebe kann nur funktionieren, wenn sie zugleich Ausdruck des freien Willens und des Schicksals ist. Gewiss kann man Eyes Wide Shut auch wie einen erotischen Thriller in der Manier von Alfred Hitchcock sehen, ein Vertigo für das Ende des Jahrtausends, oder auch als Fortsetzung und Revision der Fantasie von Federico Fellinis Casanova (nicht zuletzt das Maskenfest erinnert an diesen Film). Das Scheitern des männlichen Begehrens vollzieht sich auf ganz ähnliche, freilich radikalere Weise. Dass sich die Frau nicht mehr
spaltet in das Objekt der Begierde und das Subjekt der Liebe, das macht den Helden der „Traumnovelle“ ganz buchstäblich verrückt. Aber worin besteht sein Wahn? Oberflächlich gesehen darin, dass die Spannung zwischen Eifersucht und (unterdrücktem) Begehren so groß wird, dass er beides in einem Alptraum zusammenbringt, als Kette beständiger Übertretungen und Bestrafungen, in dem ihm Erfüllung ebenso wie Klarheit versagt wird. Aber mehr noch als bei Schnitzler stellt sich in Kubricks Film auch die Frage nach den Spiegelungen und Anachronismen dieser Obsession. Ist es nicht, als würde der Mann in den Traum seiner Frau eindringen, und zugleich ihn vorwegnehmen? Muss er, selbst in der Maske verborgen, nicht hinter jeder weiblichen Maske das Begehren seiner Frau vermuten? In der wahnwitzig choreografierten und großartig gespielten Szene, in der Alice - so heißt die von Nicole Kidman gespielte Heldin im Film - ihrem Mann Bill (Tom Cruise) von ihrem eigenen Begehren spricht, alle seine Rationalisierungsund Kompromissvorschläge, seine Konzepte der Liebe, um genau zu sein, ablehnt, ist es, als würde er zum ersten Mal im Anderen nicht nur das Bild, sondern auch den Spiegel sehen. Aber je mehr er die Ordnung der Dinge betont, desto deutlicher wird in dem Gespräch der beiden, dass es sich dabei nur um einen dünnen Film der Vernunft, der Konvention, der Zivilisation handelt. Es genügt ein Stachel der Eifersucht, ein Stachel, mehr noch der emotionalen Unordnung, um diesen Film zu zerreißen - was man bei Kubrick auch durchaus wörtlich nehmen kann. Und dann muss er hinein, muss hinter den Spiegel und findet dort nicht nur seine eigenen Abgründe
- das verbotene Begehren mit seinen Anklängen an Lolita, die sich wiederholende Erfahrung des Versagens, das sich zuerst im Geheimnis und dann, furchtbarer, in der Banalität entziehende Objekt, ganz buchstäblich jene Maskierungen des Begehrens, von denen am Ende nur die Maske selbst übrigbleibt -, sondern getrieben von dem (in Schwarzweiß) wiederholten Bild des imaginierten Geschlechtsverkehrs seiner Frau mit ihrem Traumliebhaber auch in alles, was von diesem weiblichen Begehren in ihm vorstellbar ist. So wie Kubrick in allen seinen Filmen die Mythen der bürgerlichen Zivilisationsgeschichte zerlegt hat, so zerlegt er hier auch den letzten: Eyes Wide Shut ist zugleich ein letzter Liebesfilm und ein Film über die Fortsetzung des Krieges in der kleinsten Einheit der Gesellschaft. Dass sich die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern doch erheblich geändert hätten seit Schnitzler und Freud, argumentierte der durch Kubricks konsequente Werktreue leidlich frustrierte Frederic Raphael. „Glaubst du? Ich nicht“, war die lakonische Antwort des Regisseurs. Genau dies, vermute ich, ist der Punkt, an dem sich „ideologische“ Zustimmung oder Ablehnung gegenüber Kubricks letztem Film erweisen werden. Mehr noch als Schnitzler und darin wiederum The Shining verwandt, bietet Kubrick neben dem inneren Zerfall der Person noch eine andere, „objektive“ Lösung an: In der Figur des von Sidney Pollack dargestellten Freundes Victor Ziegler, der zuerst das Fest organisierte, auf dem alles begann, und sich dann als einer der Teilnehmer der erotischen Séance zu
erkennen gibt, lässt er die Möglichkeit einer „realen“ Verschwörung, einer bewussten Inszenierung offen, die Bill daran hindern sollte, in den „verbotenen Raum“ zu gelangen. Damit wird ein mögliches zweites Motiv angeschlagen, das parallel zur paradoxen Auflösung des liebenden Paares durch die Ehrlichkeit läuft: Die Isolation des Helden, wie wir sie aus so vielen Kubrick-Filmen kennen. Auf die Frage seiner Frau, ob er hier jemanden kenne, antwortet Bill bei Kubrick: „Not a soul.“ Er fühlt sich als - erfolgreicher - Ausgestoßener der Gesellschaft, in deren Licht er steht, und mit deren Sünden er paktiert (gleich am Anfang wird er zu einer Frau gerufen, die eine Überdosis Rauschgift geschluckt hat und verpflichtet sich zum Schweigen), und in seiner erotischen Odyssee ist dieses Ausgestoßensein so sehr Triebkraft wie der Bruch in seiner Beziehung. Bildnis eines Künstlers auch, der Teilhabe nur über die Imagination erreichen kann. Daher auch der Wunsch, an den Riten der „Geheimgesellschaft“ teilzuhaben, an jenem Ritual absurder, pseudo-religiöser Prächtigkeit, die sich als vollkommen inhaltsleer erweist und am Ende möglicherweise nichts anderes ist als ein nur für ihn selbst inszeniertes Schauspiel, das ihn zugleich anziehen und wieder ausstoßen soll. Neben der sexuellen steht also auch die Erfahrung der sozialen Ohnmacht, die wir bei Schnitzler in der Begegnung mit den Korpsstudenten erleben, bei Kubrick vor allem in Tom Cruises Dialog mit Sidney Pollack: Es ist eine Kafka-Situation der Unmöglichkeit eines „Sohnes“, in den Raum des Vaters einzudringen. Obwohl Eyes Wide Shut sehr genau dem Text
der „Traumnovelle“ folgt, könnte man den Film ebenso gut als eine Negativ-Version von „Das Schloss“ ansehen. Ein besonders gemeiner Trick des Regisseurs ist es, die ganze Geschichte zur Weihnachtszeit spielen zu lassen (natürlich gibt es bei Kubrick dabei keinen Schnee), und so werden grell und hässlich erleuchtete Weihnachtsbäume zu einer Art visuellem Leitmotiv, das nicht nur den Widerspruch zwischen einem sexuellen Traumrausch und der ökonomisch-semiologischen Konstruktion der Familie betont, sondern eine Ebene tiefer auch in die Mythologie der Heiligen Familie führt, die hier auf dem Prüfstand steht. Der Weihnachtsbaum erscheint ein wenig wie der Obelisk in „2001“, ein „reminder“, dessen Auftauchen, sogar in der Wohnung der Prostituierten, stets zu einer neuen Phase der Entwicklung, und zu einer neuen Form der Entfremdung führt. Auch Bill macht, ausgestoßen aus einer scheinbar sicheren Organisation von Liebe und Familie, eine ganze Menschheitsentwicklung durch, alle Formen von Angst und Begehren, alle Möglichkeiten des Mannes, sich der Frau zugleich zu nähern und sich von ihr zu entfernen: Der Film ist nicht nur eine Reise in einen Traum, oder in ein System der Träume, sondern auch eine Grammatik des Begehrens, einmal mehr in einer Komposition in vier Sätzen gefasst. Und wie Schnitzler die verschiedensten literarischen Techniken gebraucht, so wechselt auch Kubrick von Szene zu Szene den Ton; er erzählt in lauter kleinen Filmen im Film. (Und vielleicht sollte man dabei nicht vergessen, dass seine erste Idee, sich den Stoff anzueignen, die einer Komödie war: Auch Eyes Wide Shut ist Tragödie und Farce zugleich.)
Eyes Wide Shut ist, wie einst „2001“, die Geschichte einer Odyssee an den Rand des Verstehens und darüber hinaus, und es ist die Geschichte einer paranoiden Auflösung wie The Shining. Der Regisseur legt genügend Spuren zum eigenen Werk aus, um das Kreisen seiner Motive in Gang zu setzen. Zum Beispiel sagt Bill zu seiner Tochter, als die sich ein „pet“, ein Haustier, zu Weihnachten wünscht, dasselbe „We‘ll see about that“, wie es der Astronaut in „2001“ mit der seinen tut, die Geschichte dieser Familie ist wie die Spiegelung der von The Shining (was wäre, wenn man, statt sich von einander abzukapseln, einander alles zu offenbaren versuchte?), die Visionen des öffentlichen Schauspiels von Sexualität erinnern an das Ende von A Clockwork Orange, das Empfinden des Helden, in einem gesellschaftlichen Raum zu verkehren, ohne wirklich dazuzugehören, setzt Barry Lyndon fort. Die Motive von Mantel und Stock, Maske und Blick, der Bildung und Auflösung des menschlichen Kreises, der Spiegelung und des Todeskusses und viele andere, die wir so gut aus seinen Filmen kennen, werden auch hier in neuem Zusammenhang entwickelt. Die Kreise im Inneren des Films - zum Beispiel versprechen die beiden „Models“ auf der Party, Bill ans Ende des Regenbogens zu führen, und im Kostümverleih „Rainbow“ beginnt auch seine Odyssee - ergänzen sich mit Kreisen in Kubricks Gesamtwerk. Wenn Barry Lyndon ein Film der melancholischen Öffnungen durch die Fahrt der Kamera zurück war, und Full Metal Jacket ein Film der grotesken Verknüpfung von Distanz und Nähe, dann ist Eyes Wide Shut der Film des kreisenden Blicks. Sparsamer eingesetzt sind hier
Kubricks „Tunneleffekte“, dafür gibt es in einer ganzen Reihe von Einstellungen einen beängstigenden Aspekt der Tiefenschärfe. Mal sind wir mitten drin, mal zu einem hinterhältigen analytischen Sehen herausgefordert. Das Subjekt und die objektive Betrachtung kommen nicht zusammen. Ich wage zu behaupten, dass Schnitzler mit der „Traumnovelle“ das Scheitern der Psychoanalyse als „Heilmittel“ der bürgerlichen Welt vorweggenommen hat, und dass Kubrick mit Eyes Wide Shut unter vielem anderen auch vom Scheitern des psychologischen Realismus im Kino gesprochen hat. Kubrick stellt nicht die Frage, warum eine Beziehung funktioniert oder nicht, er stellt die unbescheidene, philosophische Frage: Was ist die Liebe? Und hat in Schnitzler einen idealen Komplizen. Ach was: Einen Doppelgänger. Eyes Wide Shut ist eine Einladung und eine Falle für die Post-Psychoanalyse. Der erste Film, in dem Lacan sich heillos verirren würde. Oder, wie man so sagt, zu sich kommen könnte. Seeßlens Nachruf auf Kubrick erschien in epd Film 5/99. Im September veröffentlicht der Schüren-Verlag ein Buch von Seeßlen über Stanley Kubrick. epd Film 9/99
GEORGE C. SCOTT 18.10.1926 - 22.9.1999 Eine jener Gemeinheiten, die das Leben auch für einen berühmten Schauspieler in Hollywood bereithält: George C. Scott wurde am meisten geehrt für eine Rolle, die er hasste, und die er mit einem verhaltenen Ingrimm spielte, als gelte es, herauszufinden, was schief gelaufen war mit einer amerikanischen Legende, mit einer Person, mit dem Land. Er spielte den General Patton in Franklin J. Schaffners Film aus dem Jahr 1969 als lebenden Widerspruch, einen fluchenden Haudegen, der Hexameter dichtet, ein genialisches Monster in Uniform., vielleicht der monströseste jener George-C. Scott-Charaktere, die immer auch mit sich kämpfen. George Campbell Scott wurde 1926 (nach anderen Angaben 1927) in Wise, Virginia, geboren und wuchs in einer verarmten Familien der Provinz in der Zeit nach der Wirtschaftskrise auf. Er verbrachte vier Jahre bei den Marines, nicht im militärischen Einsatz, sondern in der Verwaltung des Friedhofs von Arlington; eine desillusionierende Tätigkeit zwischen dem Pomp des Rituals und der Wahrheit des Leidens. Vielleicht war diese Erfahrung ein Grund für seine Aversion gegen das Militärische. Auf jeden Fall quittierte er den Dienst mit einem Riss in der Seele. Er betätigte sich zunächst als Journalist, kehrte dann aber schnell zu seiner alten Liebe, der Schauspielerei, zurück. Eigentlich ist Scott immer ein Theaterschauspieler
geblieben und hat nie verleugnet, dass er die Bühnenarbeit als den wertvolleren Teil seiner Karriere ansah. Sein Film-Debüt gab er 1959 in Delmer Daves‘ The Hanging Tree. Schon im selben Jahr folgte mit Premingers Anatomy of a Murder eine jener Scott-Rollen, die man so leicht nicht vergisst. Da ist James Stewart, der aufrechte Anwalt, und da ist Scott als sein fintenreicher Gegenspieler. Aber Scott ist nicht einfach einer der Kotzbrocken, die die Helden brauchen, um noch strahlender zu wirken. Wie Scott reagiert auf das Spiel des Anderen, wie er eine Figur aufbaut und dann wieder zersetzt, wie er seine Niederlage sieht ohne sie zu begreifen und dann doch zu einem widerwilligen Respekt kommt, das erweckt ein ungewöhnliches Interesse. Schon mit diesem Film war klar, dass sein Schicksal in Hollywood nicht das eines supporting actors sein würde. Aber zum „Star“ konnte er auch nicht werden. Zu sehr verkörperte er schon in seiner Erscheinung, in Mimik und Gestik einen komplizierten, einen zerrissenen Charakter, das Negativ des amerikanischen Helden und seiner „Ganzheit“. Ein paar seiner nächsten Filme gehören denn auch zu den schrecklichsten und schönsten Beschreibungen des ugly american, wie der Manager in The Hustler (1962) von Robert Rossen, der über die Leichen seiner Schützlinge geht, und natürlich der General „Buck“ Turgidson in Kubricks Dr. Strangelove (1964). Wie er sich beim Telefonieren über den Bauch streicht, wie er, wenn seine Ungeheuerlichkeiten auf Ablehnung treffen, voll kaum unterdrücktem Zorn auf seinem Kaugummi herumkaut, sein
Augenaufschlag, wenn er von der Kalkulation von Millionen Toten spricht - George C. Scott hat da mit seinem Körper von etwas gesprochen, das er zu hassen gelernt hatte und das doch noch in ihm steckte. Ein amerikanischer Archetyp also: machtbesessen, arrogant, vulgär. Und gleichzeitig von tiefer Verletzlichkeit. Zu den folgenden Rollen gehörten The Yellow Rolls Royce (1964, Regie: Anthony Asquith), La Bibbia (1966) von John Huston, Petulia (1969) von Richard Lester. Dramatische und satirische Variationen des George- C.-Scott-Charakters, der dann in Patton sozusagen zu Ende erzählt wurde. Gleich darauf entstand ein ganz anderer, ein zärtlicher, melancholischer Film: They Might Be Giants (1971, Regie: Anthony Harvey), die Geschichte eines Anwalts, der sich für den englischen Meisterdetektiv hält: Der George-C.- Scott-Charakter träumt sich aus seinen Widersprüchen, aus seinem Leiden an sich selbst davon. Der Film war ein Mißerfolg, und Scotts Filme wurden in den siebziger Jahren konventioneller und genrehafter. Unter der Regie von Richard Fleischer spielte er den Ex- Gangster, der noch einmal in Aktion tritt, in The Last Run (1971), dann den harten Polizisten in The New Centurions (1972), einem der paradigmatischen Copfilme jener Jahre. Der Tod tritt hier in die Welt des Scott-Charakters, seine Gewalt ist ein letztes Aufbäumen vor der endgültigen Resignation. Den amerikanischen Archetyp gab Scott auch auf der Bühne, wie in seiner eigenen Inszenierung von Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“. „Dass Willy Loman ein außergewöhnlicher Mensch ist, widerspricht eigentlich den Intentionen des
Stücks“, schrieb damals das „Time Magazine“. „Aber George C. Scott hat genau das auf die Bühne gebracht - und damit eine Darstellung von überraschender Wirkung erzielt.“ Scotts Handlungsreisender stirbt so schwer, weil sich nicht seine Schwäche, sondern gerade seine Lebenskraft am amerikanischen Traum bricht. Er protestiert gegen diesen amerikanischen Albtraum, der alles verzeiht, nur nicht den Misserfolg. Genau dies aber ist vielleicht Scotts Lebensthema: Verlust oder Wiedergewinnung der Würde in der Niederlage. Und von Niederlagen handeln beinahe alle seine Filme seitdem. The Day of the Dolphins (1973) von Mike Nichols, die Hemingway- Verfilmung Islands in the Stream (1977) und schließlich Hardcore (1979) von Paul Schrader festigten in den siebziger Jahren seinen Ruf als Schauspieler, der einen Film der mittleren Produktion trägt. Seinen eigenen Versuchen als Regisseur war kein Erfolg beschieden. In den nicht mehr so zahlreichen Filmen der späteren Jahre sind nur wenige, die man sich aus einem anderen Grund ansehen möchte als dem, dass eben Scott mitspielt. epd Film 11/99
LATE SHOW In Rossini hat Helmut Dietl „seine“ Leute vom Film reichlich gnadenlos, aber auch etwas wohlfeil demontiert; in Late Show ist das Fernsehen dran. Stil und Methode sind einander dabei recht ähnlich: zwei Handvoll Menschen, die einander umkreisen in Ketten von sexueller Ausbeutung, ökonomischer Korruption, kreativem Größenwahn. Sie schwören heilige Schwüre und brechen sie gleich wieder unter fadenscheinigen Betrugs- und Selbstbetrugsmanövern; wenn sie Niederlagen erleben, stehen sie sogleich wieder auf, bereit zur nächsten Schweinerei, und das einzige, was gegen ihre Schweinereien hilft, sind noch größere Schweinereien; sie winseln um Zuneigung, und wenn jemand dumm genug ist, sie ihnen zu gewähren, wird der oder die das Opfer der nächsten Schweinerei; jedes Idyll erweist sich als Illusion, und der einzige Mensch, von dem man anfangs glaubt, er könne womöglich der perfiden Logik von Macht, Sex, Geld und Eitelkeit entgehen, treibt es am Ende am schlimmsten. Dietls Trick ist es, diesen Ekelpaketen immer einen Rest von Sympathie zu lassen, sie nicht einfach zu Karikaturen von Ekelpaketen zu machen. Seine Eleganz besteht darin, in seiner Inszenierung das Melodramatische mit dem Klamottigen zu vernetzen, die Verhöhnung mit der Zärtlichkeit, so daß eine Art emotionaler Flash entsteht. Man ist dem Monster zu nah, um es zu verurteilen. Und es ist zu monströs, um ihm Glück, Erlösung oder wenigstens eine Spur der Selbsterkenntnis zu
wünschen. Die Kette von Betrug und Verführung setzt sich also beim Zuschauen fort. Das funktionierte bei Schtonk! noch recht gut, weil schon die Fälschung der Hitler- Tagebücher selbst eine brauchbare Satire auf den Medienwahn war, weniger gut in Rossini, weil es da um eine geschlossene Gesellschaft ging, deren Relevanz und moralischer Sinnbild-Nutzen für den Rest der Welt von eher bescheidenen Ausmaßen scheint. Was Dietl zum Fernsehen zu sagen hat, läßt sich in einem Satz zusammenfassen: ein paar skrupellose Zyniker machen Programm für eine Masse von Grenzdebilen und werden dabei von noch viel skrupelloseren Geldleuten verschaukelt. Das haben wir einerseits ja schon immer gewußt, wenn es andererseits so einfach wäre, könnten wir uns getrost wichtigeren Dingen zuwenden. Aber Dietl erzählt ja auch so etwas wie eine Geschichte dazu, und in der spielen zwei echte Fernsehmenschen die Hauptrollen. Harald Schmidt ist der Programmdirektor eines TV-Privatsenders in der Quotenkrise, Thomas Gottschalk der Moderator einer intimen, echt authentischen Radioshow. Sie tragen ihr jeweiliges Image, sadistischer Klassenprimus versus marktfähiger Sonnyboy, gekonnt zu Markte und beschreiben dabei zugleich die Methode des Films: Das Klischee wird nicht unterlaufen, sondern bis an die Ekelgrenze ausgereizt. Der Direktor will den Moderator zum neuen Fernsehstar aufbauen, der ziert sich zuerst, wird immer wieder gelinkt, und macht am Ende genau das, was man von ihm erwartet, ein Geschwür im Magen und die Nase voller Kokain. Veronica Ferres ist seine
Freundin, eine Schauspielerin, die sich weigert, eine Sexszene zu spielen, beleidigt aufs Land zieht, um eine Pferdezucht zu führen, später aber wieder Schauspielerin und gut Freund mit ihrer Erzfeindin ist, der von Jasmin Tabatabai gespielten Assistentin, Konkurrentin und Geliebten des Programmdirektors. Weiters kommen vor ein Finanzier, der seine Geschäfte von einer komfortablen Alpenhütte aus führt (Otto Schenk), eine korpulente Taxi-Fahrerin, die heillos in den Radiomoderator verliebt ist, und ihn dann mit manipulierten Fotos zu erpressen versucht (Sabine Orléans), ein windiger Journalist, der mit dem Aufstieg und Fall von Promis sein Geld macht (Karl Markovics), der host der Mick Meyer Show (Dieter Pfaff), für die es nichts gibt, was zu geschmacklos wäre , und daß Gaby Dohm in einer Gastrolle die Ärztin spielt, die Gottschalk ein Face Lifting verpasst, ist auch nur in Maßen komisch. Was Dietl mit seinen Figuren anstellt, wird keinen Fernsehmenschen dieser Welt dazu bringen, kritisch über sich, seinen Apparat oder sein Programm nachzudenken. Gelegentlich gibt es schon noch komische Szenen, etwa wenn Schmidt akribisch die Stimme des Moderators daraufhin untersucht, ob ihn seine Aussprache von Wörtern wie „Tiefkühltruhe“ nicht zu alt macht, wenn das Product placement gleich als Parodie des Product placement erscheint, oder die Traumbilder der deutschen Heimatserien lustvoll demontiert werden. Und der Art, wie Dietl seine Figuren miteinander in Beziehung setzt und immer noch eine überraschende Volte parat hat, ist eine gewisse boshafte Eleganz nicht abzusprechen. Aber weil das
System mittlerweile so bekannt ist, gibt es etwas, was es vordem in keinem Dietl-Film gab: Langeweile. Als Satire auf das Fernsehen funktioniert Late Show weit weniger als eine Folge der „Simpsons“. Bleibt die Dietlsche Geschichte von den eher weniger heiligen Monstern des Showbusiness. Und dieser Blick auf Gesichter, als müsse noch jede Make-up- Schicht, jede geplatzte Ader im Augapfel vorgeführt werden. Wenn Fernsehen den Blick der lieblosen Intimität bedeutet, dann hat Dietls Film sein Objekt mühelos übertroffen. Ob das neben Faszination und Abscheu auch Erkenntnis produziert, wage ich zu bezweifeln. Aber vielleicht hat Dietl nach Schtonk! (die Presse), Rossini (der Film) mit Late Show (das Fernsehen) nun eine Trilogie der Medienmonster und ihrer Kotzkultur beendet und wendet sich etwas anderem zu. Etwas ganz anderem, hoffe ich. P.S. In der Münchner Pressevorführung saß ein Wesen hinter mir, das bei allem, was entfernt nach einer Pointe aussah, in ein verzweifeltes Wiehern ausbrach, gefolgt von einem kurzen Schnauben, das zu einem nicht enden wollenden Röcheln überleitete. Schicken Münchner Filmkritiker nun statt ihrer selbst angeschossene Brauereipferde in die Pressevorstellungen? Wundern würde mich das nicht. Aber dann erklang das vertraute Düdeldidüp eines Handy. Angeschossene Brauereipferde telefonieren doch nicht während einer Pressevorstellung! Manchmal erkennt man Filme am besten an ihren Zuschauern. epd Film 3/99
REMBRANDT Biografische Filme über Künstler wie Rembrandt, van Gogh oder Toulouse-Lautrec finden sich in allen Epochen der Filmgeschichte. Rembrandts Leben ist z.B. 1937 von Alexander Korda mit Charles Laughton verfilmt worden, 1942 im „Dritten Reich“ von Hans Steinhoff mit Ewald Balser, schließlich 1977 von Jos Stelling. Nun wagt Charles Matton einen neuen Versuch: Klaus Maria Brandauer spielt den Künstler.
Es gibt nicht nur gute und schlechte Kunst. Es gibt noch etwas Drittes, etwas, das rätselhaft ist wie der Urgrund des Seins, etwas mit dem sich jemand wie Henri Bergson prächtig herumgeschlagen hat: das Neue. Das Neue an Rembrandt - sieht man einmal von der Veränderung der politischen Ökonomie der Malerei in der Gesellschaft der „bilderfeindlichen“ Reformation ab und die Verlagerung der Aufträge vom Adel auf das Bürgertum - ist nicht nur sein genauer Blick, es ist die vollständig neue Grammatik der künstlerischen Wahrheit. Sie liegt für ihn nicht mehr in der göttlichen Ordnung und in der Harmonie der Welt durch die Struktur der weltlichen und geistlichen Herrschaft, nicht einmal in einer Balance der Natur: Sie liegt im Wesen der Dinge selbst, im Blick, in der Bewegung, im Körper, im Fleisch. Und, wie im Kino, darin, was ans Licht kommt und was im Dunkeln bleibt. Das ist, weiß der Himmel, ein Skandal, auch
wenn es in diesem 17. Jahrhundert, das eines der Vernunft werden wollte, keinen Diskurs dafür geben konnte. Merkwürdigerweise scheint es kaum etwas Schwierigeres zu geben als eine halbwegs angemessene Darstellung bildender Kunst im Kino. Wenn hier schon das „authentische“ Kunstwerk, allein durch seine Reproduziertheit, durch die Konventionen von Einstellung und Beleuchtung im Kino, durch den melodramatischen Kontext schließlich, so leicht seine Würde verliert - um wieviel schneller geschieht dies mit den Kunst-Imitationen für das Kino, mit seinen fürsorglichen Fälschungen! Im Spielfilm ist die Kunst der Biografie untergeordnet, oder, um es etwas komplizierter zu sagen: Gerade die Autonomie (zum Beispiel) der Malerei (die der Rembrandt dieses Films zu recht betont) ist in der Blick-Grammatik des Spielfilms verloren. Das Kunstwerk kann in diesem Zusammenhang nur noch bezeichnendes Objekt sein, der McGuffin einer Subjekt-Krise. Der Ausweg - sieht man einmal von einer sehr vorsichtigen Zitattechnik ab - kann nur in der Entscheidung des Films liegen, sich selbst zur Kunst hin zu entwickeln (mit vorhersehbaren ökonomischen Folgen) oder sich offen zum Kitsch zu bekennen. Kitsch ist beileibe nicht die schlechteste Lösung für die Kunst im Kino. Dieser Rembrandt- Film des Filmemachers, Malers und Bildhauers Charles Matton imitiert Rembrandt bis hin zu einer merkwürdigen Form der Verschmelzung. Der Regisseur hat in die Reproduktionen einiger der berühmten Werke die Züge der Darsteller einkopieren lassen, und umgekehrt will die
Inszenierung immer einmal wieder auf das Nachstellen eines Rembrandt-Werkes als „lebendes Bild“ hinaus. Ob das funktioniert und ob es zu irgendwas Bemerkenswertem führt, sei einmal dahingestellt. Es verhindert jedenfalls eine intensivere Beschäftigung mit der Frage, inwieweit der Blick der Kamera Fortsetzung und Widerspruch zum Blick des Malers ist. Was dann bleibt, nebst einigen locker über das Script verstreuten Lebens- und Kunstweisheiten des Meisters, ist eine in schönen Farben und in Rembrandtscher Beleuchtung gestaltete Soap Opera über einen Mann, der raschen Erfolg in der aufstrebenden Handelsstadt Amsterdam hat, seine große Liebe findet und heiratet, der den Tod seiner Kinder und schließlich den seiner Frau verkraften muss, der von einem mächtigen Gegenspieler bekämpft, von einstigen Freunden verlassen, in der Öffentlichkeit gedemütigt wird, der dennoch unbeirrt weiter arbeitet, auch nachdem man ihm alles genommen hat, das Leben und die Liebe liebt, und der dann schließlich doch zerbricht, nach dem Tod seiner späten Liebe und seines Sohnes. Eine traurige Geschichte, die eigentlich auf nichts hinauswill, außer dass das Leben so lange irgendwie weitergeht, wie man es aushält. Die Bilder dieses Filmes sind schön, und dass dies in diesem Zusammenhang „schön kitschig“ meint, ist nicht als Kritik gedacht. Auch ansonsten gibt es durchaus Positives zu vermerken: Klaus Maria Brandauer in der Titelrolle agiert diszipliniert und zurückhaltend, die übrigen Schauspieler sind durchweg kompetent und wohlüberlegt eingesetzt. Überall, von der Maske bis zum Design, merkt man dem Film die Lie-
be zum Detail an, und immer wieder gibt es Einstellungen, in denen ein bisschen mehr geschieht als bloße Nacherzählung. Aber soviel der Regisseur auch von Bildern verstehen mag und so sehr er einen Bühnenraum visuell zu beherrschen vermag, so wenig scheint ihm doch das Filmische selbst zu liegen: Unglücklich die mehrfach unterbrochene Rückblenden-Technik, die uns die Geschichte allzu sehr vom tristen Ende her und damit höchst fatalistisch aufzwingt; unglücklich die kaum motivierten Perspektivwechsel, durch die am Ende noch die Erzählerfunktion vom Maler auf die Tochter Claudia übergeht, ohne dass dadurch irgend etwas Neues zu erfahren wäre; unglücklich eine Montage, die die theaterhafte Inszenierung noch durch ihre lineare Logik unterstreicht; unglücklich eine Erzählweise, die beinahe vollständig auf das äußere Geschehen reduziert ist und dabei von Schicksalsschlag zu Schicksalsschlag eilt, als gelte es, ein Serienformat zu füllen; unglücklich, damit verbunden, das Verschenken jener raren Szenen, in denen die Überschreitung des Nachspielens einer Künstlerbiografie möglich scheint, in denen, vielleicht, beider Versprechen, das Rembrandts und das des Kinos, nach einem eigenen Leben der Bilder auf der Leinwand einlösbar erscheint. Am unglücklichsten aber ist wohl der Mangel an dramaturgischer Raffinesse und vor allem an Timing. Es gibt keine Tempowechsel, keine Höhepunkte und keine Phasen der Ruhe. Und auch die historischen Ungenauigkeiten, die sich ein Film durchaus erlauben darf, wenn er weiß, wozu, scheinen nun auf die Ungenauigkeit der filmischen Erzählweise zurückzu-
weisen. Die Pest-Metapher macht aus Rembrandts Zeit eine mehr mittelalterliche als sie verdient, und in der nicht sehr fairen Zeichnung des Dr. Nicolaes Tulp (obschon eine Paraderolle für Jean Rochefort) erschafft sich der Film denn doch allzu wohlfeil seinen Schurken. Rembrandt war nicht, wie uns der Film suggerieren möchte, der einzige „moderne“ Mensch in einer hoffnungslos zurückbleibenden und bornierten Welt. Im Gegenteil: Der Künstler spielte sein Spiel in einem Ineinander und Durcheinander verschiedener Impulse der Modernisierung. Etwas von diesem Umbruch zu zeigen (vielleicht sogar als gar nicht so ferne Spiegelung dessen, was wir selbst zu dieser Jahrtausendwende erleben), das freilich hätte die Sache spannend gemacht. epd Film 5/2001