DER AUTOR
DIE SERIE
R. L. Stine wurde 1943 in einem kleinen Vorort von Columbus/Ohio geboren. Bereits mit 9 Jahren en...
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DER AUTOR
DIE SERIE
R. L. Stine wurde 1943 in einem kleinen Vorort von Columbus/Ohio geboren. Bereits mit 9 Jahren entdeckte er seine Liebe zum Schreiben. Seit 1965 lebt er in New York City, wo er zunächst als Lektor tätig wurde. Seine ersten Bücher waren im Bereich Humor angesiedelt. Seit 1986 hat er sich jedoch ganz den Gruselgeschichten verschrieben.
Der Autor selbst sagt: »Das Lesen eines Gruselbuchs ist wie eine Fahrt mit der Achterbahn: Kinder haben gerne Angst, wenn sie wissen, was sie erwartet; sie wissen, dass sie unterwegs fürchterlich schreien werden, aber sie wissen auch, dass sie am Ende der Fahrt wieder sicher am Boden ankommen werden.« Seit 1992 der erste Band von GÄNSEHAUT (GOOSEBUMPS) in Amerika erschienen ist, hat sich die Serie binnen kürzester Zeit zu dem Renner entwickelt. Durch GÄNSEHAUT sind - das belegen zahlreiche Briefe an den Autor - viele Kinder, die sich bis dato nicht sonderlich für Bücher interessiert haben, zu Lesern geworden.
R. L Stine
... und der Schneemensch geht um
Aus dem Amerikanischen von Günter W. Kienitz
Band 20399
Der Taschenbuchverlag für Kinder und Jugendliche von C. Bertelsmann,
Siehe Anzeigenteil am Ende des Buches für eine Aufstellung der bei OMNIBUS erschienenen Titel der Serie.
Deutsche Erstausgabe Dezember 1997 Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform von 1996 Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Goosebumps # 38: The Abominable Snowman of Pasadend bei Scholastic Inc., New York. © 1995 byThe Parachute Press, Inc. All rights reserved. Published by arrangement with Scholastic Inc., 555 Broadway, New York, NY 10012, USA. »Goosebumps«1" and »Gänsehaut«™ and its logos are registered trademarks of The Parachute Press, Inc. © 1997 für die deutsche Übersetzung C. Bertelsmann Jugendbuch Verlag GmbH, München Alle deutschsprachigen Rechte, insbesondere auch am Serientitel »Gänsehaut«, vorbehalten durch C. Bertelsmann Verlag GmbH, München Übersetzung: Günter W. Kienitz Lektorat: Janka Panskus Umschlagkonzeption: Klaus Renner bm • Herstellung: Stefan Hansen Satz: Uhl + Massopust, Aalen Druck: Presse-Druck Augsburg ISBN 3-570-20399-9 Printed in Germany 10 987654321
Mein ganzes Leben lang habe ich mir gewünscht einmal Schnee zu sehen. Ich heiße Jordan Blake. Mein Leben, das waren zwölf Jahre Sonne, Sand und Chlorwasser. Mir war noch nie kalt — außer, man rechnet das gekühlte Innere von Supermärkten mit. Aber das tue ich nicht. Denn in Supermärkten schneit es bekanntlich nicht. Ich habe noch nie gefroren — bis zu diesem Abenteuer. Manche Leute halten mich für einen Glückspilz, weil ich in Pasadena, Kalifornien lebe, wo es das ganze Jahr über sonnig und warm ist. Das ist auch ganz nett. Aber wenn du noch nie Schnee gesehen hast, kommt er dir so unwirklich vor wie etwas aus einem Sciencefiction-Buch. Weiße Flocken aus gefrorenem Wasser, die vom Himmel fallen? Die auf dem Boden liegen bleiben und aus denen man Schneemänner und Schneebälle formen kann? Du musst doch zugeben, dass sich das seltsam anhört. Aber eines Tages ging mein Wunsch in Erfüllung und ich bekam endlich Schnee zu sehen. Und es war noch seltsamer, als ich gedacht hatte. Viel, viel seltsamer. »Passt auf, Kinder. Das wird toll.« Dads Gesicht glühte im Schein der roten Dunkelkammerleuchte. Meine Schwester Nicole und ich sahen ihm dabei zu, wie er Fotos vergrößerte. Mit einer Bilderzange tunkte er ein Blatt eines speziellen Papiers in ein chemisches Bad. Ich sehe meinem Vater schon mein ganzes Leben lang beim Entwickeln zu. Er ist Berufsfotograf. Aber so aufgeregt hatte ich ihn wegen Fotos noch nie erlebt - und das will was heißen. Dad macht Naturfotos. Aber eigentlich fotografiert er alles! Er hört nie auf Fotos zu schießen. Meine Mom sagt, dass ich als Baby einmal ganz fürchterlich beim Anblick meines Dads 5
geschrien habe. Ohne Kamera vor dem Gesicht habe ich ihn nicht erkannt. Ich dachte damals, er hätte statt einer Nase ein Zoomobjektiv im Gesicht! Überall in unserem Haus hängen peinliche Fotos von mir: ich als Baby mit einer dicken Windel, ich mit vom Essen beschmiertem Gesicht, ich weinend, als ich mir das Knie aufgeschlagen hatte, ich, wie ich meine Schwester haue... Jedenfalls war mein Dad gerade von einer Reise zu den Grand Tetons zurückgekehrt. Das ist eine Gebirgskette in Wyoming — ein Teil der Rocky Mountains. Und er war völlig aus dem Häuschen wegen der tollen Fotos, die er dort aufgenommen hatte. »Kinder, ich wünschte mir, ihr hättet die Bären sehen können«, sagte Dad. »Eine ganze Familie. Und die Jungen haben mich an euch zwei erinnert — sie haben sich auch ständig getratzt.« Getratzt. Ha! Dad findet, dass Nicole und ich uns tratzen. Das ist sehr milde ausgedrückt. Nicole — Miss Besserwisser — treibt mich schier zum Wahnsinn! Manchmal wünsche ich mir, sie wäre nie geboren worden. Ich habe es mir zur Aufgabe gemacht, sie dazu zu bringen, sich dasselbe zu wünschen. Ich meine, ich gebe mir Mühe sie so zu behandeln, dass sie sich wünscht, nie geboren worden zu sein. »Du hättest uns in die Grand Tetons mitnehmen sollen, Dad«, beklagte ich mich. »Um diese Jahreszeit ist es in Wyoming schrecklich kalt«, sagte Nicole. »Woher willst du das wissen, du Schlaukopf?« Ich versetzte ihr einen Rippenstoß. »Du warst doch noch nie in Wyoming.« »Ich habe darüber gelesen, während Dad unterwegs war«, erklärte sie. Natürlich. »In der Bücherei gibt es nämlich sogar ein Bilderbuch, falls du mehr darüber wissen willst, Jordan. Es ist genau richtig für dich — es ist für Erstklässler.« Mir fiel nichts ein, was ich hätte antworten können. Das ist mein Problem. Ich bin nicht schlagfertig. Deshalb gab ich ihr noch einen Stoß. »Hey, hey«, murmelte Dad. »Hört mit der Rempelei auf! Ich arbeite hier.« 6
Doofe Nicole. Nicht, dass sie wirklich doof wäre — sie ist ziemlich gescheit. Aber auf eine doofe Art — finde ich. Sie ist so gescheit, dass sie die fünfte Klasse übersprungen hat - und in meiner Klasse gelandet ist. Sie ist ein Jahr jünger als ich, aber sie geht in meine Klasse - und sie bekommt ständig glatte Einsen. Dads Fotos, die im Entwicklerbad dümpelten, wurden langsam klar. »Hat es in den Bergen geschneit, als du da warst, Dad?«, fragte ich. »Aber klar hat es geschneit«, antwortete er. Er konzentrierte sich auf seine Arbeit. »Bist du Ski gelaufen?«, fragte ich. Dad schüttelte den Kopf. »Ich war zu beschäftigt.« »Und was ist mit Schlittschuhlaufen?«, fragte Nicole. Nicole tut immer so, als ob sie alles wüsste. Aber genau wie ich hatte sie noch nie Schnee gesehen. Wir hatten Südkalifornien noch nie verlassen — was man uns ansieht. Wir sind beide das ganze Jahr über sonnengebräunt. Nicoles Haar ist vom Chlor im Freibad grünlich-blond und meines ist braun mit blonden Strähnen. Wir sind beide in der Schwimmmannschaft unserer Schule. »Ich wette, wo Mom wohnt, schneit es gerade«, sagte Nicole. »Schon möglich«, antwortete Dad. Mom und Dad sind geschieden und Mom ist vor kurzem nach Pennsylvania gezogen. Wir wollen die Sommerferien bei ihr verbringen, aber vorerst sind wir bei Dad in Kalifornien geblieben, um das Schuljahr zu beenden. Mom hat uns ein paar Fotos von ihrem neuen Haus geschickt. Es war ganz eingeschneit. Als ich mir die Bilder anguckte, habe ich versucht mir die Kälte vorzustellen. »Ich hätte die Zeit, in der du weg warst, gerne bei Mom verbracht«, sagte ich. »Jordan, das haben wir doch nun oft genug besprochen.« Dad klang ein bisschen genervt. »Ihr könnt eure Mutter erst besuchen, wenn sie sich eingerichtet hat. Bis jetzt hat sie noch nicht einmal Möbel. Wo würdet ihr da schlafen?« »Ich würde lieber auf dem harten Boden schlafen, als Mrs. Hexer noch einmal beim Schnarchen zuzuhören«, brummte ich. 7
Mrs. Hexer hat bei uns in der Zeit gewohnt, als Dad weg war. Sie war ein Albtraum! Jeden Morgen mussten wir unsere Zimmer putzen — sie hat sie anschließend auf Staub kontrolliert. Zum Abendessen servierte sie uns Leber, Rosenkohl und Fischkopfsuppe und dazu ein Glas Sojamilch. »Sie heißt nicht Hexer«, korrigierte mich Nicole. »Sie heißt Flexer.« »Das weiß ich«, gab ich zurück. Im roten Licht der Dunkelkammer wurden die Fotos immer deutlicher. Dads Stimme klang begeistert. »Wenn diese Bilder gut werden, kann ich sie in einem Buch veröffentlichen«, sagte er. »Ich werde es Die Braunbären von Wyoming nennen, von Garrison Blake. Ja, das hört sich gut an.« Er unterbrach sich, um ein Foto aus der Flüssigkeit herauszuholen. Er betrachtete das tropfende Bild. »Das ist ja sonderbar«, murmelte er. »Was ist sonderbar?«, fragte Nicole. Ohne ein Wort zu sagen, legte er uns das Foto hin. Nicole und ich blickten es an. »Dad...«, sagte Nicole. »Ich will es dir ja nicht vermiesen, aber das sieht wie ein Teddybär aus.« Es war das Foto eines Teddybären. Eines Stoffteddybären mit einem schiefen Grinsen, der im Gras saß. Das war ganz und gar nicht die Sorte Tier, die man normalerweise in den Grand Tetons findet. »Da muss irgendetwas schief gelaufen sein«, sagte Dad. »Wartet, bis die übrigen Fotos entwickelt sind. Dann werdet ihr schon sehen. Es war unglaublich!« Er fischte ein weiteres Foto heraus und betrachtete es. »Ha?« Ich schnappte mir das Foto. Noch ein Teddybär. Dad holte das dritte Bild heraus. Dann das vierte. Seine Bewegungen wurden immer hektischer. »Alles nur Teddybären!«, rief er. Er war außer sich. Selbst im trüben Licht der Dunkelkammer konnte ich die Panik in seinem Gesicht sehen. »Was ist hier los?«, schrie er. »Wo sind die Fotos, die ich gemacht habe?« 8
»Dad...«, begann Nicole. »Bist du ganz sicher, dass die Bären, die du gesehen hast, auch wirklich echt waren?« »Natürlich bin ich sicher!«, pflaumte Dad sie an. »Ich kenne den Unterschied zwischen Braunbären und Teddybären!« Er begann auf und ab zu gehen. »Habe ich den Film vielleicht irgendwo verloren?«, murmelte er und schlug sich mit der Hand gegen die Stirn. »Oder hat ihn jemand vertauscht?« »Das Verrückte daran ist, dass du Fotos von Bären gemacht hast«, bemerkte Nicole, »und dass du nun Fotos von Teddybären hast. Das ist doch höchst merkwürdig.« Dad trommelte auf den Labortisch. Dabei murmelte er unentwegt vor sich hin. Er war drauf und dran, die Beherrschung zu verlieren. »Habe ich den Film etwa im Flugzeug liegen lassen? Vielleicht wurde ja meine Bordtasche vertauscht?« Ich wandte Dad den Rücken zu, meine Schultern zuckten. »Jordan! Was ist los?« Dad packte mich an der Schulter. »Alles in Ordnung mit dir?« Er drehte mich herum. »Jordan!«, rief er. »Du... lachst ja!« Nicole verschränkte die Arme und schaute mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Was hast du mit Dads Bildern angestellt?« Dad runzelte die Stirn. Seine Stimme klang nun ruhiger. »Also, Jordan. Was ist so schrecklich komisch?« Ich rang nach Luft und bemühte mich, das Lachen zu unterdrücken. »Mach dir keine Sorgen, Dad. Mit deinen Bildern ist alles okay.« Er hielt mir eines der Teddybärfotos unter die Nase. »Okay! Das nennst du okay?!« »Bevor du nach Wyoming gereist bist, habe ich mir deine Kamera ausgeborgt«, erklärte ich ihm. »Und dann habe ich zum Spaß ein paar Fotos von meinem alten Teddybären gemacht. Auf dem Rest des Films müssten deine echten Bären sein.« Der Gelegenheit zu einem tollen Streich kann ich einfach nicht widerstehen. 9
Nicole sagte sofort: »Ich habe nichts damit zu tun, Dad. Das schwöre ich.« Die kleine Miss Musterkind. Dad schüttelte den Kopf. »Ein Streich?« Er wandte sich wieder seinen Fotos zu und entwickelte ein paar mehr. Das nächste Bild zeigte ein echtes Bärenkind, das in einem Bach fischte. Dad lachte. »Wisst ihr«, sagte er, während er das Foto des echten Bären neben das des Teddybären hielt, »eigentlich sind die gar nicht so verschieden, wie man meinen möchte.« Ich wusste, dass Dad nicht lange sauer bleiben würde. Das tut er nie. Das ist mit ein Grund dafür, dass ich ihn immer wieder gern hereinlege. Er selbst spielt auch gerne Streiche. »Hab ich euch schon von dem Streich erzählt, den ich Joe Morrison gespielt habe?«, fragte er. Joe Morrison ist einer von Dads Fotografenfreunden. »Joe war gerade von einem längeren Aufenthalt in Afrika zurückgekommen, wo er Gorillas fotografiert hatte. Er war völlig aus dem Häuschen, weil ihm so gute Gorillafotos gelungen waren. Ich habe die Bilder gesehen und sie waren wirklich umwerfend. Joe verabredete also ein wichtiges Treffen mit der Redakteurin einer Naturzeitschrift, der er die Fotos zeigen wollte. Er war sicher, dass sie ihm seine Bilder förmlich aus der Hand reißen würde. Joe wusste nicht, dass ich mit der Redakteurin auf demselben College gewesen war. Ich habe sie angerufen und gefragt, ob sie Lust hätte, Joe einen Streich zu spielen. Als sie sich dann trafen, zeigte Joe ihr seine Fotos. Und sie schaute sie sich an, ohne ein Wort zu sagen. Schließlich konnte Joe die Spannung nicht länger erfragen. ›Nun‹, platzte er heraus, ›gefallen sie Ihnen oder nicht?‹ Joe ist ein ziemlich ungeduldiger Zeitgenosse.« »Was hat sie gesagt?«, fragte ich. »Sie schaute ihn stirnrunzelnd an und sagte: ›Sie sind ein ausgezeichneter Fotograf, Mr. Morrison. Aber ich schätze, da hat Sie jemand an der Nase herumgeführt. Was Sie da fotografiert haben, sind gar keine Gorillas.‹ 10
Joe klappte der Unterkiefer fast bis zu den Knien herunter. Er sagte: ›Was meinen Sie damit: Das sind gar keine Gorillas ?‹ Mit todernstem Gesicht antwortete sie: ›Das sind Menschen in Gorillakostümen. Erkennen Sie denn nicht den Unterschied zwischen einem echten Gorilla und einem Mann in einem Gorillakostüm, Mr. Morrison?‹« Ich kicherte. Nicole fragte: »Was ist dann passiert?« »Joe hat fast einen Nervenzusammenbruch erlitten. Er schnappte sich die Fotos und glotzte sie an. Er schrie: ›Das kapier ich nicht! Wie konnte mir so etwas bloß passieren? Ich habe also sechs Monate meines Lebens damit verbracht, Menschen in Gorillakostümen zu beobachten?‹ Schließlich lachte die Redakteurin schallend los und sagte ihm, dass sie sich nur einen Scherz erlaubt habe, dass ihr die Fotos sehr gut gefielen und dass sie sie veröffentlichen wolle. Anfangs wollte Joe ihr nicht glauben — es dauerte eine Viertelstunde, bis sie ihn beruhigt hatte.« Dad und ich lachten. »Ich finde, das war richtig gemein«, schimpfte Nicole. Ich habe meine witzige Ader von Dad geerbt. Nicole kommt ganz nach Mom. Sie denkt eher praktisch. »Sobald Joe seinen Schock überwunden hatte, fand er das Ganze spaßig«, versicherte Dad ihr. »Er hat mir auch schon Streiche gespielt, das kannst du mir glauben.« Dad zog ein weiteres Foto durch das chemische Bad. Dann hielt er es hoch. Es zeigte zwei Bärenjungen, die sich balgten. Er lächelte zufrieden. »Der Film ist wirklich toll geworden«, sagte er. »Aber ich habe hier noch eine Menge Arbeit vor mir, Kinder. Ihr geht jetzt besser eine Weile raus, okay?« Er schaltete die rote Lampe aus und das normale Licht an. Nicole öffnete die Tür. »Macht euch aber bitte nicht dreckig«, fügte Dad hinzu. »Wir gehen nämlich heute Abend essen. Ich will mein Glück feiern, das ich mit diesen Braunbären hatte.« »Wir passen auf«, versprach Nicole. »Du kannst nur für dich reden«, sagte ich. »Ich meine es ernst, Jordan«, warnte mich Dad. 11
»Und ich mache nur Spaß, Dad.« Eine Hitzewelle schlug uns entgegen, als wir die Tür der Dunkelkammer öffneten und in den Garten hinaustraten. Wir blinzelten in die Nachmittagssonne. Jedes Mal, wenn ich aus der Dunkelkammer komme, brauchen meine Augen eine Weile, um sich an die Helligkeit draußen zu gewöhnen. »Wozu hast du Lust?«, fragte mich Nicole. »Ich weiß nicht«, antwortete ich. »Es ist so heiß. Zu heiß, um irgendwas zu tun.« Nicole schloss die Augen und klinkte sich eine Minute lang aus. »Nicole?« Ich stupste sie an. »Nicole? Was ist los?« »Ich denke an den Schnee in den Grand Tetons. Ich hatte gehofft, dabei würde mir kühler werden.« Sie stand völlig still und hielt ihre Augen geschlossen. Eine Schweißperle kullerte über ihre Stirn. »Und?«, fragte ich. »Funktioniert's?« Sie schlug die Augen auf und schüttelte den Kopf. »Nein. Wie soll ich mir Schnee vorstellen, wenn ich noch nie welchen gesehen oder gefühlt habe?« »Guter Einwand.« Ich seufzte und schaute mich um. Wir leben am Stadtrand von Pasadena. In unserer Nachbarschaft gibt es nur drei verschiedene Typen von Häusern. Dieselben drei, die man im Umkreis von mehreren Meilen findet. Das ist ein schrecklich langweiliger Anblick und dabei wurde mir noch heißer. In jedem Straßenblock stehen ein paar Palmen, zu wenig, um richtig Schatten zu spenden. Auf der anderen Straßenseite, gleich neben den Millers, gibt es ein unbebautes Grundstück. Die Hauptattraktion in unserem Garten - wenn nicht sogar im ganzen Straßenblock - ist Dads ekelhafter Komposthaufen. Blinzelnd sah ich mich weiter um. Im grellen Sonnenlicht wirkte alles gebleicht. Selbst das Gras sah beinahe weiß aus. »Mir ist so langweilig, dass ich schreien könnte«, jammerte ich. »Lass uns 'ne Runde Fahrrad fahren«, schlug Nicole vor. »Vielleicht kühlt uns der Wind ein bisschen ab.« »Vielleicht hat Lauren Lust mitzukommen«, meinte ich. 12
Lauren Sax wohnt neben uns. Sie geht in unsere Klasse. Ich sehe sie so oft, dass sie genauso gut meine Schwester sein könnte. Wir holten unsere Fahrräder aus der Garage und schoben sie zu Lauren hinüber. Wir stellten sie an der Hauswand ab und gingen dann ums Haus herum in den Garten. Lauren saß auf einem Handtuch unter einer Palme. Nicole setzte sich neben sie. Ich lehnte mich an den Stamm. »Es ist so heiß!«, jammerte Lauren. Sie zupfte an ihren gelben Shorts herum. Sie ist groß und muskulös, hat braunes Haar und eine Ponyfrisur. Sie hat eine näselnde Stimme, die sich hervorragend zum Quengeln eignet. »Eigentlich ist jetzt Winter. Überall sonst ist jedenfalls Winter. Und normalerweise gibt es im Winter Schnee und Eis und Schneeregen und Eisregen und es ist kalt, richtig kalt. Und was haben wir? Nichts als Sonne! Wieso muss es bei uns nur so heiß sein?« Plötzlich spürte ich einen Schmerz im Rücken. »Au!« Ich machte einen Satz. Etwas hatte mich gestochen. Etwas Spitzes — und Eiskaltes! Vor Schmerz verzog ich das Gesicht. »Jordan!«, keuchte Nicole. »Was ist denn? Was ist los?«
Ich griff nach der eisigen Stelle auf meinem Rücken. »Was ist das?«, schrie ich. »Es ist so kalt!« Nicole sprang auf und sah sich meinen Rücken an. »Jordan, du bist gestochen worden!«, verkündete sie. »Von einem lila Eis am Stiel!« Als ich mich umdrehte, hörte ich ein fieses Lachen. Die MillerZwillinge sprangen hinter dem Baum hervor. 13
Ich hätte es eigentlich wissen müssen. Die Miller-Zwillinge — Kyle und Kara. Die gleichen eingedrückten Mopsnasen, dieselben kleinen Knopfaugen, dasselbe kurz geschnittene rote Haar. Igitt. Sie hatten identische Wasserpistolen dabei, knallrote. Die Miller-Zwillinge spielen für ihr Leben gerne Streiche. Sie sind darin noch schlimmer als ich. Und viel gemeiner. Die beiden sind in der ganzen Nachbarschaft gefürchtet. Sie fallen über kleine Kinder her, die an der Bushaltestelle warten, und klauen ihnen ihr Pausengeld. Einmal haben sie der Familie Sax eine Stinkbombe in den Briefkasten geworfen. Und letztes Jahr hat mich Kyle bei einem Basketballspiel in den Schwitzkasten genommen. Er fand es komisch zuzusehen, wie ich blau anlief. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund piesacken die MillerZwillinge mich mehr als irgendjemanden sonst. Kara ist mindestens so Furcht einflößend wie ihr Bruder Kyle. Ich gebe es nicht gerne zu, aber Kara kann mich mit einem einzigen Schlag außer Gefecht setzen. Ich spreche da aus Erfahrung. Letzten Sommer hat sie mir nämlich ein Veilchen verpasst. ›»Ach, es ist so heiß. Es ist so heiß!‹«, äffte Kara Laurens jammernde Stimme nach. Kyle wechselte die Wasserpistole hinter seinem Rücken von einer Hand in die andere. Er gab sich alle Mühe, es wie einen komplizierten Trick aussehen zu lassen. »Arnold hat mir gezeigt, wie das geht«, prahlte er. Kyle wollte mich glauben lassen, dass er von Arnold Schwarzenegger sprach. Er behauptet, dass er Arnold kennt. Da habe ich allerdings meine Zweifel. Nicole zupfte hinten an meinem Hemd. »Dad wird dich umbringen, Jordan«, sagte sie. »Wieso?« Ich verdrehte den Hals. Der Rücken meines weißen Poloshirts war mit violetten Flecken übersät. »Na großartig«, maulte ich. »Dad hat gesagt, du sollst dich nicht dreckig machen«, erinnerte mich Nicole. Als ob das noch nötig gewesen wäre. »Mach dir keine Sorgen, Jordan«, sagte Kyle. »Wir machen's wieder sauber.« »Ah... das ist nicht so schlimm«, murmelte ich und wich zurück. 14
Was immer Kyle mit »sauber machen« meinte, ich war sicher, dass es mir nicht gefallen würde. Ich hatte Recht. Kara und er hoben ihre Wasserpistolen und spritzten mich, Nicole und Lauren voll. »Hört auf!«, schrie Lauren. »Ihr macht uns ja ganz nass!« Kyle und Kara brachen in ihr typisches irres Lachen aus »Du hast doch gesagt, dir wäre zu heiß!« Sie spritzten uns klatschnass. Hätte ich mein Hemd ausgewrungen, hätte ich mit dem Wasser ein Glas füllen können. Ich funkelte sie böse an. Kyle zuckte die Achseln. »Wir wollten euch nur helfen.« Klar. Aber sicher doch. Wahrscheinlich hätte ich froh sein sollen, dass sie uns nur nass gemacht hatten. Wir waren noch glimpflich davongekommen. Ich kann die Miller-Zwillinge nicht ausstehen. Nicole und Lauren können sie auch nicht leiden. Die Zwillinge halten sich ja für so cool. Nur weil sie schon dreizehn sind und hinterm Haus einen Swimmingpool haben. Ihr Vater arbeitet in einem Filmstudio. Sie prahlen ständig damit, dass sie sich Filmvorschauen ansehen und mit Filmstars herumhängen. Ich habe noch nie einen Filmstar bei ihnen zu Hause auftauchen sehen. Kein einziges Mal. »Ach, was seid ihr alle nass«, sagte Kara höhnisch. »Warum dreht ihr zum Trocknen nicht 'ne Runde auf euren Bikes?« Nicole und ich wechselten einen Blick. Wenn wir alleine sind, kommen wir nicht besonders gut miteinander aus. Aber wenn die Miller-Zwillinge in der Nähe sind, halten wir zusammen. Wir kannten die beiden zu gut. Sie erwähnten unsere Fahrräder nicht ohne Grund. Da war sicher was im Busch. »Was habt ihr mit unseren Rädern angestellt?«, wollte Nicole wissen. Die Miller-Zwillinge rissen die Augen auf und taten völlig unschuldig. »Wer - wir? Wir haben gar nichts mit euren kostbaren Rädern angestellt. Seht nach und überzeugt euch selbst.« Wir gingen zur Hausseite und warfen von dort einen Blick auf unsere Räder. 15
»Von hier aus sehen sie ganz in Ordnung aus«, flüsterte Nicole. »Irgendetwas stimmt nicht mit ihnen«, sagte ich. »Sie sehen merkwürdig aus.« Wir gingen auf unsere Fahrräder zu. Sie sahen allerdings merkwürdig aus. Die Lenker waren abgeschraubt und verkehrt herum aufgesetzt worden. »Ich hoffe, ihr habt einen Rückwärtsgang«, kicherte Kyle. Normalerweise gehöre ich nicht zu der Sorte Jungs, die herumlaufen und sich dauernd mit anderen prügeln. Aber nun klickte irgendetwas in mir. Dieses Mal waren Kyle und Kara zu weit gegangen. Ich stürzte mich auf Kyle. Wir taumelten zu Boden und rangen miteinander. Ich versuchte ihn mit meinem Knie auf dem Boden festzunageln, aber er warf mich ab. »Hört auf!«, schrie Nicole. »Hört auf damit!« Kyle rollte mich auf den Rücken. »Du dachtest, du könntest mich kriegen, was, Jordan? Aber dafür bist du eine viel zu große Memme!« Ich trat nach ihm. Er presste meine Schulter mit seinem Knie auf den Boden. Nicole schrie hysterisch: »Jordan! Pass auf!« Ich sah hoch. Kara stand über mir, einen Stein so groß wie ihr Kopf in den Händen. Sie grinste heimtückisch. »Lass ihn fallen, Kara!«, befahl Kyle. Ich versuchte mich zur Seite zu rollen, aber ich konnte mich nicht bewegen. Kyle hielt mich eisern fest. Kara stemmte den Stein in die Höhe. Dann ließ sie ihn fallen geradewegs auf meinen Kopf.
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Ich kniff die Augen zu. Der Stein landete direkt auf meiner Stirn - und prallte ab. Ich öffnete die Augen. Kara lachte wie eine Hyäne. Sie hob den Stein auf und ließ ihn mir noch einmal ins Gesicht fallen. Er prallte wieder ab, genau wie beim ersten Mal. Lauren schnappte ihn sich. »Er besteht aus Schaumstoff«, verkündete sie. Sie drückte ihn mit den Händen zusammen. »Es ist eine Attrappe.« Kyle lachte. »Es ist eine Filmrequisite, du Dämlack.« »Du hättest dein Gesicht sehen sollen«, setzte Kara hinzu. »Mann, bist du ein Schisser!« Ich stieß Kyle von mir herunter und stürzte mich auf ihn. Diesmal war ich so wütend, dass ich die Kraft von zwei Kyles besaß. Ich warf ihn zu Boden. Ich hatte ihn festgenagelt! »Was ist denn hier los, Leute?« Äh-hem. Dad. Ich sprang auf. »Hi, Dad. Wir spielen nur.« Kyle setzte sich auf und rieb sich den Ellenbogen. Dad schien gar nicht zu bemerken, dass wir uns geprügelt hatten. Er war wegen irgendetwas ziemlich aufgeregt. »Hört mal, Kinder - ich habe großartige Neuigkeiten. Gerade hat das Wildnis-Magazin angerufen. Die wollen, dass ich für sie nach Alaska fliege!« »Toll, Dad«, sagte ich sarkastisch. »Du gehst schon wieder auf eine aufregende Reise und wir bleiben hier und sterben vor Langeweile.« »Und vor Hitze«, fügte Nicole hinzu. Dad lachte. »Ich habe Mrs. Flexer angerufen, um zu fragen, ob sie wieder auf euch aufpassen kann...«, begann er. »Nicht schon wieder Mrs. Flexer!«, rief ich. »Dad, sie ist grauenhaft! Ich kann das Zeug, das sie kocht, nicht ausstehen. Wenn sie wieder auf uns aufpasst, werde ich verhungern!« »Das wirst du nicht, Jordan«, sagte Nicole. »Selbst wenn du nur Brot isst und Wasser trinkst, kannst du leicht eine Woche lang überleben.« 17
»Nicole? Jordan? Hallo?«, sagte Dad und klopfte uns auf den Kopf. »Würdet ihr mir bitte mal zuhören? Ich war noch nicht fertig.« »Entschuldige, Dad.« »Also, Mrs. Flexer kann leider nicht kommen. Deshalb werdet ihr beiden wohl oder übel mitkommen müssen.« »Nach Alaska?«, schrie ich. Ich konnte es kaum fassen. »Hurra!«, schrie Nicole. Wir hüpften begeistert auf und ab. »Ihr habt so ein Glück, Leute!«, sagte Lauren. Kara und Kyle standen daneben und sagten nichts. »Wir fliegen nach Alaska!«, rief ich. »Wir werden end- lieh Schnee sehen! Tonnenweise Schnee! Alaska-Schnee!« Ich war völlig aus dem Häuschen. Dabei hatte Dad uns das Interessanteste noch gar nicht erzählt. »Es geht um ein recht seltsames Projekt«, fuhr Dad fort. »Sie wollen, dass ich so eine Art Schneewesen finde — einen Schneemenschen.« »Wow!«, keuchte ich. Kyle und Kara schnaubten verächtlich. Nicole schüttelte den Kopf. »Einen Schneemenschen? Hat ihn denn schon mal jemand gesehen?« Dad nickte. »Irgendeine Art von Schneewesen ist angeblich gesehen worden. Wer weiß, was es wirklich ist. Jedenfalls möchte die Zeitschrift, dass ich Fotos davon mache. Ich bin sicher, das Ganze ist eine Jagd nach einem Phantom. So etwas wie einen Schneemenschen gibt es nicht.« »Wieso fliegst du dann hin?«, fragte Nicole. »Die Zeitschrift zahlt ein Riesenhonorar«, erklärte Dad. »Und selbst wenn wir kein Schneewesen entdecken, werde ich trotzdem tolle Fotos von der Tundra machen.« Lauren fragte: »Was ist eine Tundra?« Dad setzte zu einer Antwort an, doch Nicole kam ihm zuvor. »Ich erklär's ihr, Dad«, sagte sie. Ich hätte schreien können. In der Schule macht sie das auch ständig. »Eine Tundra ist eine riesige gefrorene Ebene. Es gibt sie in der Arktis, in Alaska und in Russland. Das Wort Tundra kommt aus dem Russischen und bedeutet...« 18
Ich legte ihr die Hand über ihr großes Plappermaul. »Sonst noch Fragen, Lauren?« Lauren schüttelte den Kopf. »Das ist alles, was ich wissen wollte.« »Dieser Eierkopf hier quasselt nämlich ewig weiter, wenn man ihn nicht stoppt.« Ich ließ Nicoles Mund los. Sie streckte mir die Zunge heraus. »Die Reise wird bestimmt toll«, rief ich fröhlich. »Wir werden richtiges Eis und echten Schnee sehen! Und wir gehen auf die Jagd nach einem Schneemenschen! Spitze!« Vor einer Stunde hatten wir uns noch fast zu Tode gelangweilt. Jetzt war plötzlich alles anders. Dad lächelte. »Ich muss für eine Weile zurück in die Dunkelkammer. Denkt dran — wir gehen heute zum Essen aus.« Er stapfte über den Rasen zurück und verschwand im Haus. Kaum war Dad gegangen, begann Kara zu lachen. »Ein Schneemensch! Was für ein Witz!« Typisch Kara — sie war zu feige, auch nur ein Wort vor Dad zu sagen. Kyle machte sich über mich lustig, indem er auf und ab hüpfte und kreischte: »Alaska! Alaska! Ich werde endlich Schnee sehen!« »Ihr werdet wahrscheinlich blau anlaufen und erfrieren«, höhnte Kara. »Uns wird es gut gehen«, sagte Nicole. »Und jetzt seid ihr erst mal mit Frieren dran!« Sie schnappte sich Karas Wasserpistole und spritzte ihr eine kräftige Ladung Wasser ins Gesicht. »Hör auf!«, schrie Kara. Sie stürzte sich auf Nicole, aber Nicole rannte lachend davon. Alle paar Schritte drehte sie sich um und spritzte die beiden Miller-Kinder voll. »Gib sie mir zurück!«, brüllte Kara. Die Zwillinge verfolgten Nicole. Kyle hob seine Wasserpistole und spritzte Nicole den Rücken nass. Lauren und ich rannten ihnen nach. Nicole sauste in unseren Garten, wandte sich um und verpasste den Miller-Kindern eine weitere Wasserladung. 19
»Ihr kriegt mich nicht!«, rief sie. Während sie schoss, ging sie gleichzeitig rückwärts. Sie bewegte sich geradewegs auf Dads Komposthaufen zu. Soll ich sie warnen?, überlegte ich. Auf gar keinen Fall. »Nehmt das!«, schrie sie und deckte die Miller-Zwillinge mit Wasser ein. Da rutschte sie aus und fiel rückwärts - und landete auf dem Komposthaufen. »Igitt«, stöhnte Lauren. Nicole stand langsam auf. Grünbrauner Schleim klebte in ihren Haaren, lief ihr über den Rücken, die Arme und die Beine. »Bäh!«, schrie sie und versuchte verzweifelt, sich die Pampe von den Händen zu wischen. »Bääähhh!« Schweigend standen wir da und schauten ihr zu. Sie sah selbst wie eine Art Schneemensch aus. Von oben bis unten verkleistert. Wir starrten sie noch immer an, als Dad den Kopf durch die Hintertür herausstreckte. »Kinder, seid ihr fertig zum Essengehen?«, rief er.
» Dort ist es!«, schrie Dad über das Dröhnen des Motors des kleinen Flugzeugs hinweg. »Iknek. Da ist die Landebahn.« Ich sah zum Fenster hinaus auf den kleinen braunen Fleck, auf dem wir landen würden. Während der letzten halben Stunde hatte ich nichts als meilenweit Schnee gesehen. Wow. Er war so weiß! Es sah toll aus, wie der Schnee im Sonnenlicht glitzerte. Ich musste dabei an Weihnachtslieder denken. Mir ging »Winter Wonderland« nicht mehr aus dem Sinn - und das machte mich wahnsinnig! Während wir so dahinflogen, hielt ich nach riesigen Spuren Ausschau. Wie groß würden die Spuren eines! Schneemenschen wohl sein? Groß genug, dass sie aus einem] tief fliegenden Flugzeug zu erkennen waren? 20
»Ich hoffe, da unten gibt es irgendwo ein Restaurant«! sagte Nicole. »Ich bin am Verhungern.« Dad klopfte ihr auf die Schulter. »Wir werden uns noch einmal eine richtige Portion warmes Essen genehmigen, bevor wir losziehen. Aber danach gibt's nur noch Campingkost.« »Wie wollen wir denn im Schnee Feuer machen?«, fragte Nicole. »Wir wohnen in einer kleinen Holzhütte«, antwortete Dad. »Wir haben dann zwar einen langen Weg hinaus in die Tundra, aber es ist besser, als in Zelten zu schlafen. In der Hütte soll es auch einen Ofen geben. Das hoffe ich zumindest.« »Könnten wir uns nicht einen Iglu bauen und darin schlafen?«, fragte ich. »Oder eine Eishöhle graben?« »Einen Iglu kann man nicht einfach so bauen, Jordan«, stänkerte Nicole. »Das ist nicht so leicht wie bei einer Schneeburg. Stimmt's, Dad?« Dad nahm den Deckel vom Objektiv seiner Kamera ab und fing an durch das Flugzeugfenster Fotos zu schießen. »Klar«, sagte er geistesabwesend. »Mh-hmm.« Nicole sah ebenfalls zum Fenster hinaus. Hinter ihrem Rücken äffte ich sie nach. Einen Iglu kann man nicht einfach so bauen, formte ich tonlos mit meinen Lippen. Sie benimmt sich, als wäre sie meine Lehrerin. Es ist echt peinlich, wenn sie das in der Schule vor der ganzen Klasse macht. »Wie wollen wir die Hütte denn finden?«, fragte Nicole. »In dem Schnee sieht alles gleich aus.« Dad drehte sich um und knipste ein Foto von ihr. »Hast du etwas gesagt, Nicole?« »Ich frage mich, wie wir die Hütte finden wollen?«, wiederholte Nicole. »Kennst du dich mit einem Kompass aus, Dad?« »Mit einem Kompass? Nein, aber das macht nichts. Ein Mann namens Arthur Maxwell erwartet uns am Flugplatz. Er wird uns durch die Tundra führen.« »Ich kenne Arthur«, rief uns der Pilot nach hinten zu. »Er ist ein alter Hundeschlittenführer aus dem Hinterland. Der weiß alles über Hunde und Schlitten. Und er kennt diesen Teil von Alaska besser als irgendjemand sonst.« »Vielleicht hat er ja auch den Schneemenschen schon einmal gesehen«, vermutete ich. 21
»Woher willst du wissen, dass es den überhaupt gibt?« sagte Nicole spöttisch. »Wir haben weit und breit noch keine Spur von ihm entdeckt.« »Nicole, es gibt Leute, die ihn mit eigenen Augen gesehen haben«, antwortete ich. »Und wenn es ihn gar nicht gibt, wieso sind wir dann hier?« »Einige Leute behaupten ihn gesehen zu haben«, sagte Nicole. »Oder vielleicht denken sie das ja auch nur. Ich glaube es erst, wenn ich mehr Fakten habe.« Das Flugzeug flog einen Bogen um die kleine Stadt. Vor ein paar Minuten war ich noch hungrig gewesen, doch jetzt war ich viel zu aufgeregt, um ans Essen zu denken. Irgendwo da unten existiert ein Schneemensch, dachte ich. Da bin ich mir ganz sicher. Trotz der warmen Luft, die von der Heizung des Flugzeugs in die Kabine geblasen wurde, überlief mich ein kalter Schauer. Was ist, wenn wir ihn finden? Was passiert dann? Und was machen wir, wenn sich der Schneemensch nicht fotografieren lassen will? Das Flugzeug flog nun sehr tief und setzte zur Landung an. Wir kamen auf und rollten die Piste entlang. Das Flugzeug ruckelte, als der Pilot die Bremsen anzog. Am Ende der Piste ragte etwas Großes auf. Etwas Riesiges, Weißes und Scheußliches. »Dad, sieh nur!«, rief ich. »Der Schneemensch!«
Das Flugzeug kam direkt vor dem gigantischen Monster quietschend zum Stehen. Dad, Nicole und der Pilot lachten - über mich. So etwas hasse ich. Aber ich konnte es ihnen nicht verübeln. Das große weiße Monster war ein Polarbär. Eine Polarbärstatue. »Der Polarbär ist das Wahrzeichen der Stadt«, erklärte der Pilot. 22
»Oh«, murmelte ich. Ich spürte, dass ich rot wurde, und wandte mich ab. »Das war Jordan klar«, sagte Dad. »Er wollte uns nur einen seiner üblichen Streiche spielen.« »Ah - genau.« Ich spielte mit. »Mir war von Anfang an klar, dass es eine Statue ist.« »War es dir nicht, Jordan«, sagte Nicole. »Du hast richtig Angst gehabt!« Ich schlug Nicole auf den Arm. »Stimmt nicht! Ich habe nur so getan.« Dad legte uns beiden je einen Arm um die Schulter. »Ist es nicht großartig, wie die beiden sich gegenseitig aufziehen?«, sagte er zu dem Piloten. »Wenn Sie das sagen«, antwortete der Pilot. Wir hüpften aus dem Flugzeug. Der Pilot öffnete das Gepäckfach. Nicole und ich schnappten uns unsere Rucksäcke. Dad hatte einen gewaltigen luftdichten Schrankkoffer für Filme, Kameras, Lebensmittel, Schlafsäcke und andere Ausrüstungsgegenstände mitgebracht. Der Pilot musste ihm helfen ihn von der Landepiste wegzutragen. Der Schrankkoffer war so groß, dass Dad hineingepasst hätte. Er erinnerte mich an einen roten Plastiksarg. Das Flughafengebäude von Iknek war ein kleines Holzhaus mit nur zwei Räumen. Zwei Piloten in Lederjacken saßen an einem Tisch und spielten Karten. Ein großer, kräftiger Mann mit dunklem Haar, dichtem Bart und einer Haut wie Leder stand auf und kam durch den Raum auf uns zu. Unter dem offenen grauen Parka trug er ein Flanellhemd und eine Hirschlederhose. Das muss unser Reisebegleiter sein, dachte ich. »Mr. Blake?«, sagte der Mann zu Dad. Seine Stimme war tief und heiser. »Ich bin Arthur Maxwell. Brauchen Sie Hilfe mit dem Gepäck?« Er nahm dem Piloten das eine Ende des Schrankkoffers ab. »Das ist ein verflixt großer Koffer, den Sie da mitgebracht haben«, fuhr Arthur fort. »Brauchen Sie das ganze Zeug wirklich?« 23
Dad errötete. »Ich habe eine Menge Kameras, Stative und so Sachen dabei... Na ja, vielleicht habe ich tatsächlich ein bisschen viel eingepackt.« »Das will ich meinen.« Arthur musterte Nicole und mich stirnrunzelnd. »Nennen Sie mich Garry«, sagte Dad. »Das sind meine Kinder, Jordan und Nicole.« Er nickte mit dem Kopf in unsere Richtung, da er keine Hand frei hatte. Nicole sagte: »Hi«, und ich fügte hinzu: »Schön, Sie kennen zu lernen.« Wenn es nötig ist, kann ich sehr höflich sein. Arthur starrte uns an. Dann grunzte er. »Von Kindern haben Sie nichts erwähnt«, sagte er nach einer Minute unwirsch zu Dad. »Doch, ich bin sicher, das habe ich«, protestierte Dad. »Ich kann mich nicht erinnern«, antwortete Arthur mit grimmiger Miene. Dann schwiegen wir. Wir traten durch die Tür des Flughafengebäudes ins Freie und stapften die schlammige Straße entlang. »Ich habe Hunger«, sagte ich. »Wir sollten in die Stadt gehen und uns etwas zu essen besorgen.« »Wie weit ist es denn in die Stadt, Arthur?«, fragte Dad. »Wie weit?«, echote Arthur. »Wir stehen mittendrin.« Ich schaute mich verblüfft um. Es gab nur eine einzige Straße. Sie fing am Flughafen an und endete bei einem Schneehaufen etwa zwei Straßenblocks weiter. Entlang der Straße standen ein paar neue Holzhäuser. »Das ist alles?«, rief ich. »Es ist eben nicht Pasadena«, knurrte Arthur. »Aber es ist meine Heimat.« Er führte uns die unbefestigte Straße entlang zu einem kleinen Speiselokal, das Betty's hieß. »Ich schätze, ihr seid alle hungrig«, brummte er. »Kann nichts schaden, was Warmes in den Bauch zu kriegen, bevor wir aufbrechen.« Wir ließen uns an einem Tisch am Fenster nieder. Nicole und ich bestellten Hamburger, Pommes und Cola. Dad und Arthur orderten Kaffee und Rindfleischeintopf. 24
»Ich habe einen Schlitten und vier Hunde zur Abfahrt bereit«, verkündete Arthur. »Die Hunde können Ihren Koffer und die übrigen Sachen ziehen. Und wir marschieren neben dem Schlitten her.« »Klingt gut«, sagte Dad. »Brr!!«, protestierte ich. »Wir sollen zu Fuß gehen? Wie weit?« »Ungefähr zehn Meilen«, antwortete Arthur. »Zehn Meilen!« So weit war ich noch nie zuvor gelaufen. »Wieso müssen wir zu Fuß gehen? Warum können wir keinen Hubschrauber oder so was nehmen?« »Weil ich unterwegs Fotos machen will, Jordan«, erklärte Dad. »Die Landschaft hier ist faszinierend. Und man kann nie wissen, was einem über den Weg läuft.« Vielleicht läuft uns der Schneemensch über den Weg, dachte ich. Das wäre echt stark. Unser Essen wurde gebracht. Wir aßen schweigend. Arthur schaute mir kein einziges Mal in die Augen. Er schaute keinem von uns in die Augen. Er starrte beim Essen zum Fenster hinaus. »Haben Sie dieses Schneewesen, nach dem wir suchen, schon mal gesehen?«, wollte Dad von Arthur wissen. Arthur spießte ein Stück Fleisch auf die Gabel und schob es sich in den Mund. Er kaute. Und kaute. Dad, Nicole und ich sahen ihn aufmerksam an und warteten darauf, dass er antwortete. Endlich schluckte er. »Hab's nie gesehen«, sagte er. »Hab aber von ihm gehört. Eine Menge Geschichten.« Ich wartete darauf, eine der Geschichten zu hören. Doch Arthur aß einfach nur weiter. Schließlich hielt ich die Warterei nicht länger aus. »Was denn für Geschichten?« Er stippte ein Stück Brot in die Soße. Dann schob er es sich in den Mund. Kaute. Schluckte. »Ein paar Leute im Ort«, sagte er. »Die haben das Monster gesehen.« »Wo?«, fragte Dad. »Draußen bei der Schneehügelkette«, sagte Arthur. »Hinter der Schlittenführerhütte. In der wir wohnen werden.« »Wie sieht er aus?«, fragte ich. 25
»Sie sagen, er wäre groß«, antwortete Arthur. »Groß und ganz mit braunem Fell bedeckt. Man könnte ihn für einen Bären halten, aber er ist keiner. Er geht auf zwei Beinen wie ein Mensch.« Ich schauderte. Die Beschreibung des Schneemenschen erinnerte mich stark an ein grauenhaftes Höhlenmonster, das ich einmal in einem Horrorfilm gesehen hatte. Arthur schüttelte den Kopf. »Ich persönlich hoffe sehr, dass wir ihn nicht finden.« Dad klappte der Kinnladen herunter. »Aber deshalb sind wir doch hier. Es ist mein Job, ihn zu finden — falls er existiert.« »Er existiert, keine Bange«, erklärte Arthur. »Ein Freund von mir - auch ein Schlittenführer - war eines Tages in einem Schneesturm draußen. Und da ist er dem Schneemonster geradewegs in die Arme gelaufen.« »Was ist passiert?«, fragte ich. »Das willst du bestimmt nicht wissen.« Arthur stopfte sich noch mehr Brot in den Mund. »Und ob wir das wissen wollen«, hakte Dad nach. Arthur strich sich über den Bart. »Das Monster schnappte sich einen der Hunde und machte sich mit ihm auf und davon. Mein Freund hat ihn verfolgt, um den Hund zurückzuholen. Doch er konnte ihn nicht finden. Aber er konnte den Hund jaulen hören. Ein erbärmliches Geheul. Was immer dem Hund widerfahren ist - es muss etwas ziemlich Schlimmes gewesen sein.« »Wahrscheinlich gehört er zu den Carnivoren«, sagte Nicole. »Zu den Fleischfressern. Das tun die meisten Tiere in dieser Gegend. Schließlich gibt es hier nur wenig Pflanzen ...« Ich versetzte Nicole einen Stoß. »Ich will etwas über den Schneemenschen hören - und nicht deine blöden Naturkundefakten.« Arthur warf Nicole einen genervten Blick zu, als denke er: Von welchem Planeten ist die denn gekommen? Dasselbe denke ich übrigens auch immer. Er räusperte sich und fuhr fort: »Mein Freund kam in die Stadt zurück. Dann fuhren er und ein anderer Mann gemeinsam hinaus, 26
um das Schneemonster zu fangen. Verflucht dumm, wenn ihr mich fragt.« »Was ist mit ihnen passiert?«, fragte ich. »Keine Ahnung«, sagte Arthur. »Sie sind nie zurückgekehrt.« »Ha?« Ich glotzte den hünenhaften Mann mit großen Augen an. »Wie bitte? Haben Sie gesagt, sie seien nie zurückgekehrt?« Arthur nickte feierlich. »Sie sind nie zurückgekehrt.«
»Vielleicht haben sie sich in der Tundra verirrt«, meinte Dad. »Das bezweifle ich«, sagte Arthur. »Die beiden kannten sich aus. Das Monster hat sie umgebracht, das ist passiert.« Er legte eine Pause ein, um eine weitere Brotscheibe mit Butter zu bestreichen. »Mach den Mund zu, Jordan«, sagte Nicole. »Ich habe keine Lust, mir deine durchgekauten Pommes anzusehen.« Mein Mund hatte anscheinend die ganze Zeit offen gestanden. Ich klappte ihn zu und schluckte. Arthur scheint ein seltsamer Kauz zu sein, dachte ich. Aber er lügt uns nicht an. Er glaubt ganz eindeutig an den Schneemenschen. Nicole fragte ihn: »Hat sonst noch jemand den Schneemenschen gesehen?« »Ja. Ein paar Fernsehfritzen aus New York. Als sie hörten, was mit meinem Freund passiert war, sind sie in die Stadt gekommen, um nachzuforschen. Sie sind in die Tundra losgezogen. Sind ebenfalls nie zurückgekommen Wir haben einen von ihnen gefunden, erfroren in einem Eisblock. Wer weiß, was mit den übrigen geschehen ist. Und dann Mrs. Carter - sie wohnt am Ende der Hauptstraße -, sie hat das Schneemonster ein paar Tage später gesehen«, fuhr Arthur mit leiser Stimme fort. »Sie hat durch ihr Fernrohr geschaut und ihn draußen in der Tundra entdeckt. Er kaute an Knochen, hat sie gesagt. Wenn ihr mir nicht glaubt, dann geht und fragt sie selbst.« 27
Dad machte ein Geräusch. Ich schaute ihn an. Er gab sich alle Mühe, ein Lachen zu unterdrücken. Ich verstand nicht recht, was so komisch war. Mir kam das Schneemonster ziemlich gruselig vor. Arthur funkelte Dad erbost an. »Sie müssen mir ja nicht glauben, wenn Sie nicht wollen, Mr. Blake«, sagte er. »Nennen Sie mich Garry«, wiederholte Dad. »Ich nenne Sie, wie es mir passt, Mr. Blake«, sagte Arthur schneidend. »Was ich erzähle, ist wahr. Das Monster gibt es wirklich — und es ist ein Killer! Sie gehen ein hohes Risiko ein, wenn Sie es jagen. Bis jetzt hat es noch keiner erwischt. Und keiner, der es verfolgt... kehrt lebend zurück.« »Wir versuchen unser Glück«, sagte Dad. »Geschichten wie diese habe ich schon öfter gehört. Man erzählt sie sich in allen Erdteilen. Geschichten über Ungeheuer im Dschungel oder über unheimliche Kreaturen im Meer. Bis jetzt haben sie sich noch nie als wahr erwiesen. Und ich habe das Gefühl, dass das mit dem Schneemenschen auch nicht anders ist.« Ein Teil von mir wollte das Schneewesen unbedingt sehen. Ein anderer Teil hoffte, dass Dad Recht behielt. Ich habe es nicht verdient zu sterben, dachte ich - nur weil ich unbedingt Schnee sehen will! »Nun«, sagte Dad, während er sich den Mund abwischte. »Dann wollen wir mal. Seid ihr alle so weit?« »Ich bin bereit«, meldete sich Nicole. »Ich auch«, sagte ich. Ich konnte es kaum abwarten, hinaus in den Schnee zu kommen. Arthur sagte nichts. Dad beglich die Rechnung. Wir warteten auf das Wechselgeld. »Dad«, fragte ich, »was ist, wenn es den Schneemenschen wirklich gibt? Was, wenn wir ihn treffen? Was sollen wir dann tun?« Er zog einen kleinen schwarzen Gegenstand aus seiner Manteltasche. »Das ist ein Sender«, erklärte er. »Wenn wir draußen in der Wildnis irgendwie in Schwierigkeiten kommen, kann ich damit die Polizeistation in der Stadt anfunken. Die senden uns dann einen Hubschrauber, der uns rausholt.« »Was denn für Schwierigkeiten, Dad?«, fragte Nicole. 28
»Ich bin sicher, es wird keine Schwierigkeiten geben«, versicherte uns Dad. »Aber es ist gut, auf Notfälle vorbereitet zu sein. Stimmt's, Arthur?« Arthur schnalzte mit der Zunge und räusperte sich. Aber er gab keine Antwort. Er war wahrscheinlich noch verärgert, weil Dad seine Geschichten über das Schneemonster nicht glaubte. Dad steckte das Funkgerät in die Manteltasche zurück. Dann traten wir in die kalte Luft Alaskas hinaus, bereit, in die gefrorene Tundra zu ziehen. Wartete irgendwo da draußen ein Schneemensch auf uns? Das sollten wir bald herausfinden.
Platsch! Volltreffer. Ich hatte Nicole mit einem Schneeball genau in die Mitte ihres Rucksacks getroffen. »Dad!«, schrie Nicole. »Jordan hat mich mit einem Schneeball beworfen!« Dad hatte seine Kamera vorm Gesicht und fotografierte wie üblich drauflos. »Wie schön für dich«, sagte er geistesabwesend. Nicole rollte mit den Augen. Plötzlich riss sie mir meine Skimütze herunter, füllte sie mit Schnee und stülpte sie mir wieder auf. Schnee rieselte über mein Gesicht. Die Kälte brannte auf meiner Haut. Anfangs fand ich den Schnee cool. Ich konnte ihn mit den Händen zu Schneebällen formen. Konnte mich hineinfallen lassen, ohne mir wehzutun. Konnte ihn auf die Zunge legen und zu Wasser tauen lassen. Aber allmählich begann ich die Kälte zu spüren. Meine Zehen und Finger fingen an taub zu werden. Wir hatten den Ort bereits zwei Meilen hinter uns gelassen. Als ich zurückblickte, konnte 29
ich ihn nicht mehr sehen. Uns um gab bloß noch Schnee und Himmel. Nur noch acht Meilen bis zur Hütte, dachte ich, während ich meine Finger in den Fäustlingen bewegte. Noch acht Meilen! Dafür würden wir ewig brauchen. Dad und Arthur trotteten neben dem Hundeschlitten her. Arthur hatte vier Alaska-Huskys mitgenommen: Binko, Rocky, Tin-Tin und Lars, Nicoles Liebling. Sie zogen den langen, schmalen Schlitten mit Dads riesigem Schrankkoffer und dem übrigen Gepäck. Nicole und ich trugen unsere Rucksäcke mit Notproviant und ein paar anderen Dingen auf dem Rücken. Nur für den Fall des Falles, meinte Dad. Für welchen Fall?, überlegte ich. Für den Fall, dass wir uns verirrten? Für den Fall, dass die Hunde mit dem Schlitten durchbrannten? Für den Fall, dass uns der Schneemensch schnappte? Dad schoss Fotos von den Hunden, von uns, von Arthur, vom Schnee. Nicole ließ sich rückwärts in eine Schneewehe fallen. »Seht mal - ein Engel!«, rief sie und schwenkte ihre Arme auf und ab. Sie sprang auf und wir sahen uns den Schneeengel an. »Cool«, musste ich zugeben. Ich legte mich auf den Rücken, um auch einen zu machen. Als Nicole näher kam, um ihn sich anzusehen, empfing ich sie mit einen Schneeball. »He!«, schrie sie. »Das zahl ich dir heim!« Ich sprang auf und sauste davon. Der Schnee knirschte unter meinen Schuhen. Nicole rannte mir nach. Wir liefen vor dem Hundeschlitten her. »Seid vorsichtig, Kinder!«, rief Dad uns nach. »Macht bitte keine Dummheiten!« Als ich stolperte, stürzte sich Nicole auf mich. Aber ich konnte mich unter ihr hervorwinden und stürmte davon. Was für Dummheiten sollen wir schon machen?, dachte ich, während ich durch den Schnee lief. Schließlich gab es hier meilenweit nichts als Schnee. Nicht einmal verlaufen konnten wir uns hier! 30
Ich drehte mich um und lief rückwärts vor Nicole her. Ich winkte ihr zu. »Fang mich doch, Miss Besserwisser!«, hänselte ich sie. »Jemandem Spitznamen zu geben ist kindisch!«, brüllte sie, während sie hinter mir herjagte. Plötzlich blieb sie stehen und deutete auf mich. »Jordan! Pass auf!« »Hey - auf den alten Trick fall ich nicht rein«, schrie ich zurück und hüpfte weiter rückwärts durch den Schnee. Ich wollte sie nicht aus den Augen lassen, falls sie plante, mich mit Schneebällen zu bewerfen. »Jordan, ich mein's ernst!«, schrie sie. »Bleib stehen!«
Plumps! Ich landete mit einem harten Aufprall rücklings in einem Schneehaufen. »Arrgh!«, grunzte ich entgeistert. Ich rang nach Luft. Dann schaute ich mich um. Ich war in so etwas wie eine tiefe Gletscherspalte gefallen. Und da lag ich nun zitternd auf dem Schneehaufen, von bläulichem Eis und nackten Felsen eingeschlossen. Ich stand auf und sah nach oben. Die Öffnung der Spalte lag mindestens sechs Meter über mir. Wie besessen krallte ich mich in die Eiswände, hielt mich an einem Felsvorsprung fest und tastete nach einem Halt für meine Füße, um hinauszuklettern. Ich zog mich ein Stück hoch. Doch meine Hand rutschte ab und ich glitt zurück auf den Boden. Ich versuchte es wieder. Aber das Eis war zu glatt. Wie sollte ich hier jemals wieder rauskommen? Wo waren Dad und Nicole? Warum kamen sie nicht, um mich herauszuholen? Ich würde hier unten erfrieren! Oben in der Spalte erschien Nicoles Gesicht. In meinem ganzen Leben war ich noch nie so froh, sie zu sehen! 31
»Jordan? Alles in Ordnung mit dir?« »Holt mich hier raus!«, schrie ich. »Keine Bange«, beruhigte mich Nicole. »Dad ist schon im Anmarsch.« Ich lehnte mich an die Höhlenwand. Da das Sonnenlicht den Boden nicht erreichte, war es hier unten schrecklich kalt. Meine Zehen fühlten sich an, als würden sie jeden Moment abbrechen. Ich hüpfte auf und ab, um mich warm zu halten. Ein paar Minuten später hörte ich Dads Stimme. »Jordan? Bist du verletzt?« »Nein, Dad!«, rief ich zu ihm hinauf. Er, Nicole und Arthur schauten von oben auf mich herab. »Arthur lässt ein Seil zu dir hinunter«, informierte mich Dad. »Halt dich gut daran fest und wir ziehen dich dann raus.« Ich trat beiseite, als Arthur das geknotete Ende eines Seils in die Spalte hinunterwarf. Ich umklammerte das Seil mit meinen Fäustlingen. Arthur rief: »Hau ruck!« Dad und Arthur zogen am Seil. Ich stemmte meine Füße gegen Vorsprünge im Eis und stützte mich an den Wänden ab. Das Seil glitt mir aus den Händen. Ich packte es fester. »Halt dich fest, Jordan!«, rief Dad. Sie zogen erneut. Meine Arme fühlten sich an, als würden sie mir aus den Gelenken gerissen werden. »Au!«, schrie ich. »Seid vorsichtig!« Langsam hievten sie mich nach oben. Ich war ihnen keine große Hilfe - meine Füße rutschten ständig von den glitschigen Wänden ab. Endlich konnten mich Dad und Arthur an den Händen packen und aus dem Loch herausziehen. Ich lag im Schnee und rang nach Atem. Dad tastete meine Arme und Beine ab, um festzustellen, ob ich mir etwas verstaucht oder gebrochen hatte. »Bist du sicher, dass du völlig in Ordnung bist?«, fragte er. Ich nickte. »Es war ein Fehler, die Kinder mitzuschleppen«, murrte Arthur. »Der Schnee ist nicht immer so fest, wie er aus- sieht. Hätten wir dich nicht fallen sehen, hätten wir dich nie gefunden.« 32
»Wir müssen vorsichtiger sein«, pflichtete Dad ihm bei. »Ich möchte, dass ihr beide in Zukunft nahe beim Schlitten bleibt.« Dann beugte er sich über die Gletscherspalte und schoss ein Foto. Ich stand auf und klopfte mir den Schnee vom Hosenboden. »Von nun an werde ich vorsichtig sein«, versprach ich. »Gut«, sagte Dad. »Wir sollten besser zusehen, dass wir vorankommen«, sagte Arthur. Also marschierten wir weiter durch den Schnee. Ab und zu schubste ich Nicole und sie schubste zurück. Aber wir waren jetzt stiller. Keiner von uns wollte erfroren in einer Spalte im Schnee enden. Dad redete weiter, während wir unseren Weg fortsetzten. »Wie weit ist es noch bis zur Hütte ?«, fragte er Arthur. »Noch ein paar Meilen«, antwortete Arthur. Er deutete auf einen Schneeberg in einiger Entfernung. »Sehen Sie diese Schneeerhebung, etwa zehn Meilen von hier? Dort wurde das Monster zum letzten Mal gesehen.« Da ist der Schneemensch also gesehen worden, dachte ich. Wo steckt er jetzt wohl? Kann er uns kommen sehen? Liegt er vielleicht schon irgendwo verborgen und beobachtet uns? Im Weitergehen hielt ich meine Augen fest auf die Schneeerhebung gerichtet. Je näher wir kamen, desto größer schien sie zu werden. Bald sah ich, dass der Schneeberg mit Kiefern und Felsbrocken gesprenkelt war. Nach etwa einer Stunde tauchte ungefähr eine Meile vor uns ein winziger brauner Tupfen auf. »Das ist die verlassene Schlittenführerhütte, in der wir die Nacht verbringen werden«, erklärte Dad. »Stellt euch vor, wie gemütlich es wird, wenn wir dort erst mal vor einem schönen großen Feuer sitzen.« Ich klatschte meine kalten Hände in den Fäustlingen aneinander, um den Blutkreislauf anzuregen. »Ich kann es wirklich kaum erwarten«, stimmte ich ihm zu. »Hier draußen sind es bestimmt zweitausend Grad unter null!« 33
»Es sind gerade mal etwa zwanzig Grad minus«, stellte Nicole fest. »Zumindest ist das hier um diese Jahreszeit die Durchschnittstemperatur.« »Ich danke dir, Wettermädchen«, alberte ich. »Und nun zum Sport. Arthur?« Arthur zog eine grimmige Miene. Ich glaube, er hatte den Witz nicht kapiert. Er blieb ein Stück hinter uns zurück, um das Schlittenheck zu überprüfen. Das nutzte Dad, um sich umzudrehen und ein Foto von ihm zu schießen. »Wenn wir in der Schlittenführerhütte angekommen sind, werde ich noch ein paar Bilder von der Gegend machen«, sagte Dad, während er den Film wechselte. »Vielleicht fotografiere ich auch die Hütte. Dann ist für heute Feierabend. Morgen haben wir einen anstrengenden Tag vor uns.« Als wir die Hütte erreichten, war es kurz vor acht Uhr abends. »Wir haben viel zu lange hergebraucht«, knurrte Arthur. »Wir haben die Stadt nach dem Mittagessen verlassen. Wir hätten ungefähr fünf Stunden brauchen sollen. Aber mit Kindern, die Unfälle haben, dauert eben alles länger.« Während Arthur redete, schoss Dad Fotos von ihm. »Mr. Blake, haben Sie mir überhaupt zugehört?«, grollte Arthur. »Und hören Sie endlich auf mich zu fotografieren!« »Was?«, sagte Dad, während er die Kamera auf die Brust sinken ließ. »O ja - die Kinder. Ich wette, sie haben Hunger.« Ich sah mich in der Hütte um. Das dauerte nicht lange. Abgesehen von einem alten Holzofen, ein paar heruntergekommenen Feldbetten und einem Stuhl war der winzige Raum leer. »Wieso ist die Hütte leer?«, fragte Nicole. »Die Schlittenführer kommen nicht mehr hierher«, erklärte Arthur. »Sie fürchten sich vor dem Monster.« Das hörte sich in meinen Ohren gar nicht gut an. Ich warf Nicole einen Blick zu. Sie rollte mit den Augen. Arthur versorgte die Hunde draußen unter einem Wetterschutz, einer Art kleinem Schuppen, der an die Seitenwand der Hütte angebaut war. Er war mit Stroh ausgelegt, auf dem die Hunde 34
schlafen konnten. In einer Ecke des Schuppens entdeckte ich einen rostigen alten Hundeschlitten. Dann machte Arthur in der Hütte Feuer und begann das Abendessen zuzubereiten. »Morgen werden wir uns auf die Suche nach diesem so genannten Monster machen«, verkündete Dad. »Da sollten wir alle gut ausgeschlafen sein.« Nach dem Abendessen krochen wir gleich in unsere Schlafsäcke. Ich lag noch lange Zeit wach und lauschte dem Heulen des Windes. Und horchte, ob ich irgendwo die dumpfen Schritte eines Schneemenschen hören konnte. »Nicole, geh runter von mir!« Sie rollte sich mit ihrem Schlafsack zur Seite und rammte mir dabei ihren Ellenbogen in die Rippen. Ich stieß ihren Arm weg und kuschelte mich tiefer in meinen eigenen warmen Schlafsack. Nicole schlug die Augen auf. Der helle Schein der Morgensonne erfüllte die Hütte. »Ich bin gleich zurück und dann mache ich Frühstück, Kinder«, sagte Dad. Er saß in dem Stuhl und schnürte seine Schneestiefel zu. »Aber zuerst sehe ich mal nach den Hunden. Arthur ist vor ein paar Minuten rausgegangen, um sie zu füttern.« Er zog seinen Mantel über und stapfte hinaus. Ich rieb mir die Nase — sie war kalt. Das Feuer im Ofen war während der Nacht erloschen. Niemand hatte es bis jetzt wieder entfacht. Ich zwang mich dazu, aus meinem Schlafsack zu kriechen, und begann mich anzuziehen. Nicole schlüpfte ebenfalls in ihre Klamotten. »Glaubst du, dass es in dieser Bruchbude eine heiße Dusche gibt?«, fragte ich. Nicole grinste mich herablassend an. »Du weißt ganz genau, dass es hier keine heiße Dusche gibt, Jordan.« »Oh, wow! Das ist ja nicht zu fassen!«, hörte ich Dad draußen rufen. Ich sprang in meine Stiefel und rannte zur Tür hinaus. Nicole klebte mir an den Fersen. Dad stand neben der Hütte und deutete verdattert auf den Boden. 35
Ich schaute hinunter - und sah tiefe Fußspuren im Schnee. Große Fußspuren. Riesige Fußspuren. Sie waren so groß, dass nur ein Monster sie gemacht haben konnte.
»Unglaublich«, murmelte Dad und glotzte in den Schnee. Arthur kam aus dem Schuppen herbeigeeilt. Als er die Fußspuren entdeckte, blieb er abrupt stehen. »Nein!«, schrie er. »Er ist hier gewesen!« Sein rotes Gesicht wurde bleich. Sein Kinn bebte vor Entsetzen. »Wir müssen von hier verschwinden — sofort!«, sagte er mit leiser, angsterfüllter Stimme zu Dad. Der versuchte ihn zu beruhigen. »Immer mit der Ruhe. Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen.« »Wir sind in schrecklicher Gefahr!«, meinte Arthur hartnäckig. »Das Monster ist ganz in der Nähe. Es wird uns in Stücke reißen!« Nicole kniete sich in den Schnee und betrachtete die Fußspuren eingehend. »Glaubt ihr, die sind echt?«, fragte sie. »Echte Schneemenschenspuren?« Sie hält sie für echt, dachte ich. Sie glaubt es. Dad kniete sich neben sie. »Für mich sehen sie ziemlich echt aus.« Da sah ich etwas in seinen Augen aufblitzen. Er hob den Kopf und sah mich mit zusammengekniffenen Augen argwöhnisch an. Ich wich zurück. »Jordan!«, schrie Nicole mit anklagender Stimme. Ich konnte nicht anders. Ich lachte los. Dad schüttelte den Kopf. »Jordan. Ich hätte es wissen müssen.« »Was ?« Arthur sah erst verwirrt aus - dann verärgert. »Sie meinen, dieser Knirps hat die Spuren gemacht? Das sollte ein Scherz sein?« »Ich fürchte ja, Arthur«, seufzte Dad. Arthur funkelte mich finster an. Unter seinem Bart nahm sein Gesicht die Farbe eines rohen Steaks an. 36
Ich duckte mich. Ohne es zu wollen. Arthur machte mir irgendwie Angst. Es war nicht zu übersehen, dass er Kinder nicht leiden konnte — und Kinder, die Streiche spielten, schon gar nicht. »Ich habe zu tun«, murmelte Arthur unwillig. Damit drehte er sich um und stapfte durch den Schnee davon. »Jordan, du Depp«, sagte Nicole. »Wann hast du das gemacht?« »Ich bin heute Morgen sehr früh aufgewacht und hab mich hinausgeschlichen«, gestand ich. »Ihr habt alle noch geschlafen. Ich habe meine eigenen Fußspuren mit meinen Fäustlingen vergrößert. Auf dem Weg zurück bin ich in die Fußstapfen getreten, um keine Spuren zu hinterlassen. Du hast es geglaubt«, setzte ich hinzu und zeigte mit dem Finger auf sie. »Einen Augenblick lang hast du an das Schneemonster geglaubt.« »Hab ich nicht!«, protestierte Nicole. »Doch, hast du wohl. Ich hab dich dazu gekriegt, daran zu glauben!« Ich wandte meinen Blick von Nicoles mürrischem Gesicht ab und schaute zu Dad, dessen Miene streng war. »Findest du das nicht komisch?«, fragte ich. »Es war doch nur ein Streich!« Normalerweise hat Dad für meine Streiche etwas übrig. Doch dieses Mal nicht. »Jordan, wir sind jetzt nicht zu Hause in Pasadena. Wir sind mitten im Nirgendwo. In der Wildnis von Alaska. Es könnte sehr gefährlich für uns werden. Das hast du gestern selbst gemerkt, als du in die Spalte gestürzt bist.« Ich nickte und ließ den Kopf hängen. »Ich meine es ernst, Jordan«, warnte mich Dad. »Keine Streiche mehr. Ich bin zum Arbeiten hergekommen. Und ich möchte nicht, dass dir oder Nicole oder sonst jemandem von uns etwas zustößt. Verstanden?« »Ja, Dad.« Eine Minute lang sagte niemand etwas. Dann klopfte mir Dad auf den Rücken. »Nun gut. Dann gehen wir jetzt mal rein und frühstücken.« Arthur kam ein paar Minuten später in die Hütte zurück. Er schüttelte den Schnee von seinen Stiefeln und blickte mich böse an. 37
»Du hältst dich wohl für sehr komisch«, murmelte er. »Aber wart ab, bis du den Schneemenschen siehst. Bin mal gespannt, ob du dann immer noch lachst.« Ich schluckte schwer. Die Antwort auf diese Frage war Nein. Ein klares, eindeutiges Nein.
Nach dem Frühstück spannten wir die Hunde vor den Schlitten und machten uns auf den Weg zum Schneeberg. Arthur sprach kein Wort mit mir und schaute mich kaum an. Er war offenbar noch immer wütend auf mich. Die beiden anderen haben mir verziehen, dachte ich. Warum kann er das nicht auch? Nicole und ich gingen neben den Hunden her. Plötzlich hörte ich hinter mir Dads Kamera wie wild klicken. Das bedeutete, dass er ein lohnenswertes Fotomotiv entdeckt hatte. Ich drehte mich um. Eine große Elchherde, die in Richtung Schneeberg zog, kam auf uns zu. Wir blieben stehen, um sie zu beobachtend »Seht sie euch an«, flüsterte Dad. »Wirklich beeindruckend.« Er legte rasch einen frischen Film in die Kamera ein und fotografierte sofort weiter. Die Geweihe hoch erhoben, zogen die Elche ruhig und gelassen durch den Schnee. Bei einer Ansammlung kleiner Sträucher machten sie Halt, um zu fressen. Arthur zog an der Leine des Leithundes, um ihn davon abzuhalten zu bellen. Plötzlich hob einer der Elche den Kopf. Er schien etwas zu wittern. Die übrigen Elche sahen ebenfalls auf. Dann drehten sie sich um und galoppierten über die Tundra davon. Dad ließ die Kamera sinken. »Das ist ja seltsam«, sagte er. »Ich frage mich, was da passiert ist.« 38
»Etwas hat sie erschreckt«, sagte Arthur grimmig. »Aber wir waren es nicht. Und die Hunde auch nicht.« Dad suchte den Horizont ab. »Was war es dann?« Wir warteten, dass Arthur darauf antwortete. Doch er sagte nur: »Wir sollten auf der Stelle umdrehen und in die Stadt zurückkehren.« »Wir kehren nicht um«, sagte Dad bestimmt. »Nicht, nachdem wir schon so weit gekommen sind.« Arthur starrte ihn an. »Wollen Sie nun auf meinen Rat hören oder nicht?« »Nein«, antwortete Dad. »Ich habe hier einen Job zu erledigen. Und ich habe Sie angeheuert, damit Sie Ihren Job tun. Wir kehren nicht um, es sei denn, es gäbe einen wichtigen Grund.« »Es gibt einen wichtigen Grund«, meinte Arthur erbittert. »Sie wollen ihn nur nicht wahrhaben.« »Fahren Sie weiter«, befahl Dad. Arthur zog ein böses Gesicht und schrie den Hunden »Marsch!« zu. Der Schlitten setzte sich in Bewegung. Wir marschierten ein paar Stunden lang durch den Schnee. Ich zog meine Fäustlinge aus und wackelte mit den Fingern. Auf meiner Oberlippe bildete sich eine Reifschicht. Ich wischte sie ab. Als wir eine Gruppe Kiefern am Fuß des Schneehügels erreichten, blieben die Hunde plötzlich wie angewurzelt stehen und bellten. »Marsch!«, schrie Arthur. Die Hunde weigerten sich weiterzugehen. Nicole lief zu Lars, ihrem Lieblingshund. »Was ist los, Lars? Was hast du?« Lars heulte. »Was haben die denn?«, wollte Dad von Arthur wissen. Arthurs Gesicht wurde wieder einmal bleich. Seine Hände zitterten. Er starrte angestrengt zu den Bäumen hin. »Irgendetwas macht den Hunden Angst«, sagte er. »Sehen Sie nur, wie ihnen das Fell zu Berge steht.« Ich tätschelte Lars. Es stimmte. Sein Fell war aufgestellt. Der Hund knurrte. 39
»Die Hunde lassen sich sonst nicht so leicht einschüchtern«, sagte Arthur. »Was immer es ist, es macht ihnen ziemlich Angst.« Nun heulten alle Hunde. Nicole drängte sich dicht an Dad. »Auf diesem Schneehügel ist etwas Gefährliches«, sagte Arthur. »Etwas sehr Gefährliches — und es ist ganz in der Nähe.«
»Ich warne Sie, Mr. Blake«, sagte Arthur. »Wir müssen umkehren.« »Kommt nicht in Frage«, protestierte Dad. »Wir kehren nicht um. Und damit basta.« Die Hunde bellten und bewegten sich unruhig hin und her. Arthur schüttelte den Kopf. »Ich gehe keinen Schritt weiter. Die Hunde auch nicht.« Dad schrie den Hunden »Marsch!« zu. Aber sie heulten nur und wichen zurück. »Marsch!«, schrie er noch einmal. Doch statt vorwärts zu gehen, versuchten die Hunde umzudrehen. »Sie machen sie nur irre«, sagte Arthur. »Die Hunde werden nicht weitergehen - das hab ich Ihnen doch gesagt. Wenn wir jetzt gleich umdrehen«, setzte er hinzu, »können wir die Hütte noch erreichen, bevor es zu spät ist.« »Was machen wir jetzt, Dad?«, fragte ich. Dad runzelte die Stirn. «Vielleicht hat Arthur Recht. Irgendetwas hat die Hunde eindeutig in Angst versetzt. Womöglich ist hier irgendwo ein Bär oder etwas Ähnliches.« »Kein Bär, Mr. Blake«, beharrte Arthur. »Den Hunden ist etwas nicht geheuer. Und mir auch nicht.« Er stapfte in Richtung Schlittenführerhütte durch den Schnee davon. »Arthur!«, rief Dad. »Kommen Sie zurück!« Arthur wandte sich nicht um. Ohne ein Wort zu sagen, ging er einfach weiter. 40
Er muss echt Schiss haben, dachte ich. Das jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken. Immer noch aufgeregt bellend, machten die Hunde mit dem Schlitten kehrt und folgten Arthur. Dad spähte zu dem Wäldchen hinüber. »Ich wünschte, ich könnte sehen, was dort ist.« »Lass uns hingehen und nachsehen«, drängte ich ihn. »Was immer es ist, es gibt bestimmt ein tolles Foto.« Damit kriegt man Dad normalerweise immer rum. Er blickte zu Arthur, den Hunden und dem Schlitten zurück, die sich immer weiter entfernten. »Nein - das ist zu gefährlich. Wir haben keine Wahl. Kommt, Kinder, wir gehen.« Wir trotteten zur Hütte zurück. »Vielleicht kann ich Arthur ja dazu überreden, morgen weiterzugehen«, murmelte Dad. Ich sagte nichts. Aber ich hatte so das Gefühl, dass es nicht einfach werden würde, Arthur dazu zu überreden, auf diesen Schneehügel zu steigen. Und vielleicht hat Arthur ja sogar Recht, dachte ich. Die Hunde waren völlig verängstigt gewesen. Das war sehr unheimlich. Arthur spannte gerade die Hunde aus dem Schlittengeschirr, als wir an der Hütte ankamen. Inzwischen hatten sich die Hunde einigermaßen beruhigt. Ich nahm den Rucksack ab und ließ mich auf meinen Schlafsack fallen. »Eigentlich können wir gleich zu Abend essen«, grollte Dad. Es war offensichtlich, dass er fürchterlich schlechter Laune war. »Jordan - du könntest mit Nicole nach draußen gehen und Feuerholz sammeln. Aber seid vorsichtig.« »Das sind wir, Dad«, versprach ihm Nicole. Ich stand auf und wollte zur Türe hinausgehen. »Jordan!«, schimpfte Dad. »Häng dir deinen Rucksack um. Ich will nicht, dass ihr irgendwo ohne eure Rucksäcke hingeht. Verstanden?« »Wir holen doch nur Feuerholz«, protestierte ich. »Ich habe es satt, ihn herumzuschleppen. Wir sind nur ein paar Minuten weg — außerdem hat Nicole ihren dabei.« »Keine Diskussionen«, schnauzte Dad. »Falls du dich verirrst, können dich die Lebensmittel am Leben halten, bis wir dich 41
finden. Sobald du die Hütte verlässt, nimmst du den Rucksack mit. Ist das klar?« Junge, Junge, war der mieser Laune. »Ist klar«, sagte ich und schnallte mir den Rucksack um. Der Schnee knirschte unter unseren Füßen, als wir auf die nächststehenden Bäume zusteuerten. Sie säumten eine Schneewehe, die etwa eine halbe Meile entfernt war. Wir kletterten auf die Schneewehe. Ich war als Erste« oben. »Nicole — sieh mal!« Auf der anderen Seite der Schneewehe hatte ich einen zugefrorenen Bach entdeckt. Seit wir aufgebrochen waren, war dies das erste Wasser, das wir sahen. Nicole und ich rutschten den Hügel hinunter und schau- ten in den vereisten Bach. Ich testete das Eis mit dem Fuß an. »Geh da bloß nicht drauf, Jordan!«, schrie Nicole. »Du könntest einbrechen.« Ich klopfte mit der Stiefelspitze aufs Eis. »Es ist fest«, erklärte ich ihr. »Trotzdem«, sagte Nicole. »Bloß kein Risiko. Noch ein Unfall und Dad reißt dir den Kopf ab.« »Ich frage mich, ob darunter Fische schwimmen«, sagte ich, während ich auf die vereiste Oberfläche starrte. »Wir sollten Dad von dem Bach erzählen«, schlug Nicole vor. »Vielleicht möchte er ihn fotografieren.« Wir verließen den Bach, um unter den Bäumen abgestorbene Äste zu sammeln. Wir schleppten sie über die Schneewehe zurück zur Hütte. »Danke, Kinder«, sagte Dad, als wir in die Hütte platzten. Er nahm uns das Holz ab und machte Feuer im Ofen. »Wie war's heute Abend mit Pfannkuchen?« Jetzt ist er wieder besserer Laune, dachte ich erleichtert. Nicole erzählte Dad von dem vereisten Bach. »Interessant«, sagte Dad. »Nach dem Abendessen werde ich hingehen und ihn mir ansehen. Ich muss neben all dem Eis und Schnee auch noch etwas anderes finden, das ich fotografieren kann.« Die Pfannkuchen versetzten uns alle in bessere Stimmung - alle außer Arthur. 42
Er aß eine Menge, aber er sagte nicht viel. Er wirkte nervös. Einmal fiel ihm die Gabel zu Boden. Als er sie aufhob, murmelte er etwas vor sich hin, und er aß weiter, ohne sie abzuwischen. Nachdem wir mit dem Essen fertig waren, halfen Nicole und ich Dad beim Abräumen. Wir stellten gerade das Geschirr zusammen, als die Hunde zu bellen begannen. Ich sah, wie Arthur erstarrte. »Was ist?«, rief ich aufgeregt. »Was bringt die Hunde so aus dem Häuschen?«
Die Hunde jaulten und bellten. War da draußen jemand? Ein Tier? Ein Monster? »Ich geh nachsehen«, sagte Arthur feierlich. Er zog seinen Mantel an, setzte seine Wollmütze auf und eilte zur Hütte hinaus. Dad schnappte sich seinen Mantel. »Ihr bleibt hier«, wies er Nicole und mich an. Dann folgte er Arthur. Nicole und ich sahen uns an und lauschten dem Jaulen der Hunde. Ein paar Sekunden später verstummte das Bellen. Dad streckte seinen Kopf in die Hütte. »Da draußen ist nichts. Wir haben keine Ahnung, was die Hunde aufgeschreckt hat. Jedenfalls beruhigt Arthur sie jetzt.« Dad holte sich seine Kamera. »Ihr zwei geht schlafen, okay? Ich sehe mir diesen Bach an. Ich bleibe nicht lange weg.« Er hängte sich die Kamera um. Die Hüttentür fiel krachend hinter ihm ins Schloss. Wir hörten Dads Stiefel über den Schnee knirschen. Dann herrschte Stille. Nicole und ich krochen in unsere Schlafsäcke. Ich rollte mich auf die Seite und versuchte eine bequeme Lage zu finden. Es war bereits nach acht Uhr, aber draußen war es immer noch hell. Durch das Fenster der Hütte sickerte Sonnenlicht herein. 43
Das Licht erinnerte mich an die Zeit, als ich noch klein war. Meine Mom versuchte mich immer dazu zu bringen, nachmittags ein Nickerchen zu machen. Aber ich konnte bei Tageslicht nie einschlafen. Ich schloss die Augen. Ich öffnete sie wieder. Ich war überhaupt nicht müde. Ich drehte meinen Kopf und schaute zu Nicole hinüber. Sie lag auf dem Rücken und hatte die Augen weit offen. »Ich kann nicht schlafen«, verkündete ich. »Ich auch nicht«, antwortete sie. Ich warf mich im Schlafsack hin und her. »Wo ist Arthur?«, fragte Nicole. »Was macht er nur so lange?« »Ich schätze, er ist draußen bei den Hunden«, sagte ich. »Ich glaube, die sind ihm lieber als wir.« »So viel ist sicher«, stimmte Nicole mir zu. Wir wälzten und drehten uns noch eine Zeit lang hin und her, aber der Himmel blieb hell. »Ich geb's auf«, stöhnte ich. »Lass uns rausgehen und einen Schneemann bauen.« »Dad hat gesagt, wir sollen drinnen bleiben.« »Wir gehen doch nirgends hin. Wir bleiben bei der Hütte«, versicherte ich ihr. Ich kroch aus meinem Schlafsack und fing an mich anzuziehen. Nicole setzte sich auf. »Das sollten wir nicht tun«, warnte sie. »Nun komm. Was soll denn schon passieren?« Sie stand auf und streifte sich ihren Pullover über, »Wenn ich nicht gleich irgendetwas tue, dann dreh ich durch«, gab sie zu. Wir schlüpften in unsere Mäntel. Ich öffnete die Tür. »Jordan - warte!«, rief Nicole. »Du hast deinen Rucksack vergessen.« »Wir gehen doch nur vor die Tür«, wehrte ich ab. »Komm schon. Dad sagt, das muss sein. Er wird sowieso schon sauer sein, wenn er merkt, dass wir rausgegangen sind. Aber er wird noch viel saurer sein, wenn du deinen Rucksack nicht dabeihast.« »Na gut«, brummte ich. Ich hängte ihn mir über die Schulter. »Als ob uns im Ernst was zustoßen könnte.« 44
Wir traten in die Kälte hinaus. Nicole packte mich am Mantelärmel. »Hör mal!«, flüsterte sie. Hinter der Hütte hörte man knirschende Schritte. »Das ist Arthur«, erklärte ich ihr. Wir schlichen um die Hütte herum. Es war Arthur. Er kauerte neben dem Hundeschlitten und schirrte einen der Hunde an. Zwei weitere waren bereits eingespannt. »Arthur!«, rief ich. »Was machen Sie da?« Verblüfft wandte er sich zu uns um. Er gab keine Antwort. Stattdessen sprang er hinten auf den Schlitten auf. »Marsch!«, brüllte er die Hunde aus vollem Hals an. Die Hunde legten sich ins Geschirr und zogen kräftig. Der Schlitten setzte sich in Bewegung. »Arthur! Wo fahren Sie denn hin?«, schrie ich. »Kommen Sie zurück!« Der Schlitten gewann an Fahrt. »Arthur! Arthur!« Nicole und ich rannten ihm hinterher und riefen seinen Namen. Doch der Schlitten entfernte sich rasch weiter und weiter von uns. Arthur drehte sich nicht einmal um.
Nicole und ich rannten dem Schlitten nach, der immer kleiner und kleiner wurde. »Arthur! Kommen Sie zurück!« »Er hat unsere Lebensmittel!«, schrie ich. Wir konnten doch nicht einfach zusehen, wie er sich aus dem Staub machte. Deshalb liefen wir so schnell wir konnten. Unsere Stiefel bohrten sich tief in den Schnee. Der Schlitten fuhr eine große Schneewehe hinauf. »Halt! Halt!«, rief Nicole. »Bitte!« »Wir können mit den Hunden nicht mithalten«, keuchte ich. 45
«Wir müssen es versuchen«, schrie Nicole. »Wir können nicht zulassen, dass Arthur uns hier zurücklässt!« Der Schlitten verschwand hinter dem Kamm der Schneewehe. Wir kämpften uns mühsam hinauf. Der Schnee rutschte dauernd unter unseren Füßen weg. Als wir endlich oben ankamen, waren uns Arthur und die Hunde weit voraus. Wir sahen entsetzt zu, wie sie über die Tundra davonjagten. Erschöpft ließ ich mich in den Schnee fallen. »Sie entkommen uns«, würgte ich hervor. »Jordan, steh auf!«, flehte Nicole. »Wir können ihn unmöglich einholen«, stöhnte ich. Plötzlich sagte Nicole mit zaghafter Stimme: »Wo sind wir eigentlich?« Ich stand auf und sah mich um. Schnee, Schnee, Schnee. Überall um uns herum nichts als Schnee. Keine markanten Anhaltspunkte in der Landschaft. Von der Hütte war weit und breit nichts zu sehen. Wolken hatten sich vor die Sonne geschoben. Der Wind nahm zu und es begann zu schneien. Ich hatte keine Ahnung, wo wir waren. »In welcher Richtung liegt die Hütte?«, fragte ich mit schriller Stimme. »Von wo sind wir gekommen?« Wir suchten den Horizont ab, aber ich konnte die Hütte nirgends entdecken. Nicole zupfte mich am Ärmel. »Die Hütte liegt in dieser Richtung. Also los!« »Nein!« Der Schnee fiel jetzt heftiger und pikste mir in die Augen. Ich schrie gegen den Wind an: »Die Hütte ist in der anderen Richtung! Das ist nicht die Richtung, aus der wir gekommen sind.« »Sieh mal!«, brüllte Nicole und deutete nach unten. »Unsere Spuren! Wir brauchen ihnen nur nach Hause zu folgen.« Wir stiegen den Hügel hinab und folgten den Spuren, die wir im Schnee hinterlassen hatten. Der Wind heulte und wurde stärker. Eine kleine Weile folgten wir unseren eigenen Fußabdrücken. Wegen des Schneesturms war es sehr schwer, sie auszumachen. Alles war weiß und grau. Die ganze Welt. Weiß und grau. 46
Nicole spähte durch den dichten Schneevorhang in meine Richtung. »Ich kann dich kaum noch sehen!«, rief sie. Wir bückten uns tief und suchten nach unseren Fußspuren. »Sie sind verschwunden!«, schrie ich. Der Schnee hatte sie bereits alle zugedeckt. Nicole klammerte sich an meinem Arm fest. »Jordan, ich habe Angst!« Mir wurde ebenfalls angst und bange. Aber das sagte ich Nicole nicht. »Wir werden die Hütte finden«, versicherte ich ihr. »Keine Sorge. Ich wette, Dad sucht bereits nach uns.« Ich hätte das gerne selbst geglaubt. Harter, eisiger Schnee prasselte auf uns herab. Ich blinzelte in den Wind. Nichts als Weiß. Weiß in Weiß. Weiß in Grau. »Lass mich auf keinen Fall los!«, rief ich Nicole zu. »Was?« »Ich sagte, du sollst mich auf keinen Fall loslassen! In diesem Sturm könnten wir uns leicht verlieren!« Sie umklammerte meinen Arm fester, um mir zu zeigen, dass sie verstanden hatte. »Mir ist schrecklich kalt«, schrie sie. »Lass uns laufen!« Wir stolperten durch den Schnee und kämpften gegen den Wind an. »Dad!«, riefen wir beide. »Dad!« Ich hatte keine Ahnung, in welche Richtung wir liefen - ich wusste nur, dass wir in Bewegung bleiben mussten. »Guck mal!«, rief Nicole und deutete durch den dichten Schneevorhang. »Ich glaub, ich sehe was!« Ich starrte angestrengt in die Richtung, in die sie zeigte^ konnte aber nichts erkennen. Nicole zog mich mit sich. »Komm schon!«, schrie sie! Wir liefen blindlings. Plötzlich gab der Boden unter unseren Füßen nach. Ich hielt Nicole noch immer fest, als ich spürte, wie ich im Schnee versank.
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Wir fielen abwärts. Hinab ins eisige Weiß. Schnee wirbelte hoch und hüllte uns ein. Und begrub uns. Noch eine Spalte, dachte ich. Eine weitere tiefe Grube im Schnee. Viel tiefer als die erste. Wir schrien beide auf, als wir landeten. Aufeinander. »Runter von mir!«, kreischte Nicole. »Wo sind wir? Geh runter!« Benommen rappelte ich mich auf. Dann packte ich sie an beiden Händen und zerrte sie hoch. »O nein«, stöhnte Nicole. Wir blickten beide nach oben. Weit, weit über unseren Köpfen konnte ich verschwommen das Grau des Himmels ausmachen. Rings um uns herum ragten hohe Schneewände auf. Pulverschnee rieselte auf uns herab. Ich spähte zur Öffnung der Grube hoch. Schneebrocken lösten sich aus den vereisten Wänden und fielen herunter. Sie verursachten leise Geräusche, wenn sie auf dem verschneiten Grubenboden landeten. »Wir sind hier unten eingeschlossen!«, heulte Nicole. »Dad wird uns nie finden. Niemals!« Ich nahm sie bei den Schultern. Ein Schneebrocken löste sich aus der Eiswand und landete auf meinen Stiefeln. »Versuch ruhig zu bleiben«, sagte ich. Aber meine Stimme zitterte dabei. »Ruhig? Wie soll ich ruhig bleiben können?«, wollte Nicole mit schriller Stimme wissen. »Dad findet uns«, sagte ich. Ich war nicht sicher, ob ich selbst daran glaubte. Ich schluckte und gab mir Mühe, nicht in Panik zu geraten. »Daaaaaad!«, brüllte Nicole. Sie legte die Hände als Trichter um den Mund, richtete den Kopf zum Himmel und schrie aus Leibeskräften. »Daaaaaaad! Daaaaaaaaad!« Ich hielt ihr den Mund zu. Zu spät. Ich vernahm ein leises Rumpeln. 48
Das Rumpeln wurde zu einem Dröhnen, als die Schneewände Sprünge bekamen und bröckelten. Und herabstürzten. Auf uns herabstürzten. Ich zitterte vor Entsetzen. Mir war klar, was passiert war. Nicole hatte eine Lawine ausgelöst.
Als die Schneemassen auf uns herabstürzten, packte ich Nicole und schob sie gegen die Wand. Dann drückte ich mich neben ihr ebenfalls flach an die Wand. Der Schnee donnerte herab. Ich presste mich fest gegen die Wand — die zu meinem Schrecken plötzlich nachgab! »Ooooh!«, schrie ich entgeistert auf. Nicole und ich purzelten durch ein Loch in der Seitenwand. In völliger Dunkelheit stolperten wir vorwärts. Hinter uns hörte ich ein Krachen. Mit klopfendem Herzen wandte ich mich um und sah, wie sich die Grube mit Schnee füllte. Er türmte sich vor dem Loch in der Wand auf. Nun waren Nicole und ich eingeschlossen. Eingesperrt in diesem dunklen Loch. Unser Rückweg war abgeschnitten. Die Grube war verschwunden. Wir kauerten uns in der dunklen, tunnelartigen Öffnung zusammen und keuchten vor Angst. »Wo sind wir?«, fragte Nicole mit erstickter Stimme. »Was machen wir jetzt?« »Ich weiß es nicht.« Ich hielt mich an der Wand fest. Wir schienen in einem engen Durchgang zu stecken. Die Wände um uns herum bestanden nicht aus Schnee, sondern aus Felsgestein. Allmählich gewöhnten sich meine Augen an die Dunkelheit und ich konnte am Ende des Durchgangs einen schwachen Lichtschein erkennen. »Lass uns nachsehen, was da vorne ist«, sagte ich zu Nicole. Wir krochen auf Händen und Knien den engen Gang entlang auf 49
den Lichtschein zu. Plötzlich endete der Tunnel und wir konnten uns aufrichten. Wir standen in einer riesigen Höhle. Die Decke befand sich hoch über unseren Köpfen. An einer der Wände tröpfelte stetig Wasser herab. Von irgendwo weit hinten drang ein schwacher Lichtschein herein. »Das Licht muss von draußen kommen«, sagte Nicole. »Das bedeutet, dass es einen Weg hinaus gibt.« Wir schlichen langsam durch die Höhle. Das einzige Geräusch, das ich hörte, war das Tropfen der tauenden Eiszapfen. Bald sind wir draußen, dachte ich. »Jordan«, flüsterte Nicole. »Sieh nur!« Auf dem Boden der Höhle konnte ich einen Fußabdruck erkennen. Einen riesigen Fußabdruck. Größer als der falsche, den ich am Morgen in den Schnee gemacht hatte. In diesen Fußabdruck hätten fünf meiner Schuhe gepasst. Ich machte ein paar Schritte — und da sah ich den nächsten Fußabdruck. Nicole packte mich am Arm. »Denkst du, das ist...?« Sie hielt inne. Mir war klar, was sie dachte. Wir folgten den riesigen Fußspuren, die uns geradewegs in die hintere dunkle Ecke der Höhle führten — und da endeten sie. Ich schaute auf. Nicole keuchte. Wir sahen es beide gleichzeitig. Das Ungeheuer. Den Schneemenschen! Er ragte über uns auf. Er stand aufrecht wie ein Mensch und hatte ein braunes Fell. Schwarze Augen blickten uns aus einem hässlichen Gesicht an, das halb menschlich und halb das eines Gorillas war. Sein Körper war gedrungen und kräftig. Er hatte riesige Füße und fellbedeckte Hände - so groß wie Baseballhandschuhe. , »Wir s-sitzen in der F-Falle!«, stotterte Nicole. Sie hatte Recht. Den Eingang hinter uns versperrte die Lawine. Und an dem riesigen Ungeheuer konnten wir uns unmöglich vorbeistehlen. Unmöglich. 50
Der Schneemensch sah uns mit grimmiger Miene an. Und dann setzte er sich in Bewegung.
Meine Zähne klapperten. Ich kniff die Augen zu und wartete zitternd darauf, dass uns das Monster packte. Eine Sekunde verstrich. Dann noch eine. Nichts passierte. Ich öffnete die Augen. Der Schneemensch hatte sich nicht bewegt. Nicole tat einen Schritt vorwärts. »Er ist gefroren!«, rief sie. Ich blinzelte ins dämmrige Licht. »Was?« Es stimmte. Der Schneemensch stand erstarrt in einem riesigen Block aus klarem Eis. Wie eine Statue. Ich berührte das Eis. »Wenn er in diesem Eisblock eingefroren ist«, wunderte ich mich, »woher stammen dann die riesigen Fußabdrücke?« Nicole bückte sich, um sich die Abdrücke genauer anzusehen. Sie schauderte noch einmal, als sie deren Größe sah. »Sie führen geradewegs zu dem Eisblock«, erklärte sie. »Also muss der Schneemensch sie gemacht haben.« »Vielleicht ist er in die Ecke gegangen und dann irgendwie erfroren«, sagte ich. Ich berührte die Rückwand der Höhle, an der geschmolzenes Eiswasser herunterlief. »Oder vielleicht stellt er sich ja auch zum Ausruhen ins Eis«, fügte ich hinzu. »So wie sich Dracula im Morgengrauen immer zum Schlafen in seinen Sarg legt.« Ich wich zurück. Es war zu furchterregend, ihm so nahe zu sein. Doch das Monster verharrte völlig reglos unter der dicken Eisschicht. Nicole beugte sich zu dem Eisblock. »Guck dir mal seine Hände an!«, rief sie. »Oder Pranken oder was auch immer.« Wie seinen übrigen Körper bedeckte der braune Pelz auch seine Hände. Seine Finger waren dick, wie die eines Mannes. Lange, scharfe Krallen wuchsen aus ihnen hervor. 51
Beim Anblick dieser Krallen lief mir ein kalter Schauder den Rücken hinunter. Wofür benutzte er die? Riss er damit wilde Tiere in Stücke? Zerfetzte er damit Menschen, die ihm über den Weg liefen? Er hatte kräftige Beine und kürzere Krallen an den Füßen. Ich musterte sein Gesicht. Fell bedeckte den ganzen Kopf mit Ausnahme einer runden haarlosen Fläche um die Augen, die Nase und den Mund. Die Haut war rosarot. Seine Lippen waren dick und weiß und zu einer bösartigen Grimasse verzerrt. »Er ist eindeutig ein Säugetier«, erklärte Nicole. »Das verrät uns sein Fell.« Ich rollte mit den Augen. »Wir haben jetzt wirklich keine Zeit für Biologieunterricht, Nicole. Warte, bis Dad ihn sieht. Der wird bestimmt ausflippen! Stell dir mal vor - wenn er ein Foto von ihm machen kann, wird er berühmt! « »Klar«, seufzte Nicole. »Falls wir Dad jemals finden. Falls wir jemals wieder hier herauskommen.« »Es muss einen Weg nach draußen geben«, sagte ich. Ich ging zu einer Seitenwand und tastete sie mit den Händen ab. Ich suchte nach einem Loch, einem Spalt im Fels, nach irgendetwas. Nach einigen Minuten entdeckte ich tatsächlich eine kleine Ritze. »Nicole! Ich hab was gefunden!« Sie kam zu mir gerannt. Ich deutete auf den Spalt in der Höhlenwand. Sie verzog enttäuscht das Gesicht. »Das ist doch nur ein Spalt«, sagte sie. »Das kannst du nicht wissen«, wehrte ich mich. »Vielleicht gibt es hier eine Geheimtür. Einen verborgenen Durchgang. Oder so etwas Ähnliches.« Sie seufzte. »Ich schätze, es ist einen Versuch wert.« Wir drückten gegen den Spalt. Wir steckten die Finger hinein. Wir traten dagegen. Wir versuchten es sogar mit Karateschlägen. Nichts. »Ich sag dir das wirklich nicht gerne, Jordan«, meinte Nicole. »Aber ich hatte Recht. Wie immer. Alles, was du entdeckt hast, ist ein Spalt in der Wand.« »Nun gut, dann schauen wir uns eben weiter um«, knurrte ich. »Irgendwie müssen wir hier jedenfalls rauskommen!« 52
Ich suchte weiter. Dem Monster den Rücken zugewandt, tastete ich mit den Händen die Wand ab. Plötzlich hörte ich ein Geräusch. Ein lautes Knack! »Nicole!«, rief ich. »Hast du etwas entdeckt?« Ich wirbelte herum. Nicole hatte das Geräusch gar nicht gemacht, bemerkte ich. Sie starrte erschrocken das Monster an. »Was?«, fragte ich. »Was ist los?« Ich hörte noch ein Knack! »Das Eis zerspringt!«, brüllte Nicole. »Das Monster — es bricht aus!«
Knack! Der Eisblock brach auseinander. Nicole und ich pressten uns gegen die Wand und beobachteten voller Entsetzen, was geschah. Der Schneemensch schoss aus dem Eisblock heraus. Eisbrocken fielen dabei klirrend zu Boden und zersplitterten wie Glas. Der Schneemensch schüttelte sich und knurrte wie ein Wolf. »Lauf!«, schrie ich. Nicole und ich stürzten los. Aber wir konnten nirgends hin. Wir rannten zur anderen Seite der Höhle — so weit wie möglich von dem Monster weg. »Der Durchgang!«, schrie ich. Ich duckte mich und begann in den Durchgang zu kriechen. Nicole hielt mich fest. »Warte! Er ist versperrt! Die Lawine - schon vergessen?« Klar. Natürlich. Der Weg, der aus der Höhle hinaus- führte, war durch Tonnen von Schnee blockiert. Auf der anderen Seite der Höhle brüllte das Monster so wild, dass die Wände wackelten. Nicole und ich kauerten uns in eine Ecke. Ich spürte, wie sie neben mir zitterte. »Vielleicht hat es uns gar nicht gesehen«, sagte ich leise. »Wieso brüllt es dann so?«, flüsterte Nicole zurück. 53
Das Monster streckte seine Gorillanase in die Luft und witterte. O nein!, dachte ich. Kann es uns etwa quer durch die Höhle riechen? Es drehte seinen riesigen, fellbedeckten Kopf in die eine Richtung, dann in die andere. Es sucht nach uns, dachte ich. Es riecht uns. »Arrgh!«, grunzte es noch einmal. »O nein!«, stöhnte Nicole. »Es sieht uns!« Das gewaltige Ungeheuer kam schwankend auf uns zu. Es stöhnte bei jedem seiner schwerfälligen Schritte. Ich presste mich gegen die Wand und wünschte mir, die Höhle würde uns verschlucken. Alles wäre besser, als dass das Monster uns verschlang! Es kam näher. Seine Schritte ließen den Höhlenboden beben. Bumm, bumm, bumm. Wir kauerten uns dicht auf den Boden. Wir versuchten uns so klein wie möglich zu machen. Einige Zentimeter vor uns blieb es plötzlich stehen und brüllte wieder. Ein ohrenbetäubendes Gebrüll. »Seine Zähne!«, schrie Nicole. Ich sah sie ebenfalls. Zwei Reihen großer, rasiermesserscharfer Zähne. Das Monster knurrte. Und dann streckte es seine Arme nach uns aus. Seine Krallen blitzten. Es griff nach mir. Ich versuchte ihm auszuweichen. Das Monster knurrte verdrossen. Es griff noch einmal zu... ... und legte Nicole seine mächtige Pranke auf den Kopf. »Hilfe!«, brüllte Nicole. »Es zerquetscht mich!«
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»Lass sie los!«, kreischte ich. Aber mir war klar, dass ich hilflos war. Brummend drehte der Schneemensch Nicole grob zu sich herum. Dann griff er in ihren Rücken und schnappte sich ihren Rucksack. Er riss ihn ihr mit einem kurzen, heftigen Ruck von den Schultern. »He!«, schrie ich entsetzt. Mit einer seiner Krallen schlitzte er den Leinenrucksack auf. Er griff hinein und holte etwas heraus. Eine Tüte. Eine Tüte Studentenfutter. Nicole und ich sahen erstaunt zu, wie er das Studentenfutter in seinen Mund schüttete. »Wie seltsam«, sagte ich mit erstickter Stimme. »Er steht anscheinend auf Studentenfutter.« Das Monster knüllte die Tüte zusammen und durchwühlte dann Nicoles Rucksack auf der Suche nach mehr. »Mehr habe ich nicht dabei«, flüsterte Nicole mir zu. Mit einem wütenden Knurren schleuderte das Monster Nicoles Rucksack beiseite. »Was nun?«, raunte Nicole. Ich langte in meinen Rucksack, zog mit zitternder Hand meine Tüte Studentenfutter heraus und warf sie dem Monster zu. Die Tüte landete auf dem Boden und schlitterte dem Schneemenschen vor die Füße. Er bückte sich. Packte die Tüte. Riss sie auf. Und schlang das Studentenfutter hungrig hinunter. Als er es aufgegessen hatte, schob ich ihm meinen Rucksack hin. Er grunzte. Dann leerte er meine Sachen aus. Kein Studentenfutter mehr. Oh-oh. Das Monster reckte sich und brüllte. Dann griff es nach uns, packte uns seinen beiden Riesenarmen. Es hob uns hoch. Es hielt sich uns vors Gesicht. Vor seinen Mund. Bereit, uns zu verschlingen.
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Ich versuchte mich loszureißen, aber ich war zu schwach. Also hämmerte ich dem Schneemenschen mit den Fäusten gegen die Brust und trat mit den Beinen nach ihm, so fest ich konnte. Doch er schien es gar nicht zu spüren. Er hielt Nicole und mich wie zwei Puppen fest. »Bitte friss uns nicht!«, bettelte ich. »Bitte!« Das Monster grunzte. Es legte uns beide über seinen angewinkelten Arm und hielt uns dort fest, während es durch die Höhle zurückschwankte. Ich trat ihm in die Seite. Keine Reaktion. Nichts. »Lass uns los!«, kreischte ich. »Lass uns runter!« »Wo bringt er uns hin?«, schrie Nicole, die ebenfalls im Griff des Ungeheuers zappelte. Vielleicht will er uns grillen, dachte ich bitter. Vielleicht mag er Kinder nicht roh. Er schleppte uns zur Rückwand der Höhle und schob mit einer einzigen kräftigen Bewegung seiner Pranke einen Felsbrocken beiseite. Dahinter kam ein schmaler Durchgang zum Vorschein. Nicole seufzte. »Wieso haben wir den bloß vorher nicht entdeckt? Vielleicht hätten wir dann fliehen können!« »Jetzt ist es jedenfalls zu spät«, stöhnte ich. Der Schneemensch zerrte uns durch den Gang. Wir kamen in einer kleineren, lichtdurchfluteten Höhle heraus. Ich schaute nach oben. Über uns konnte ich den grauen Himmel sehen. Ein Weg ins Freie! Das Monster kletterte die Höhlenwand hinauf, während es uns beide auf einem Arm balancierte. Dann stieg es mit großen, torkelnden Schritten durch das Loch hinaus. Kalte Luft wehte mir ins Gesicht. Doch der Körper des Monsters strahlte Hitze aus. Der Schneesturm hatte sich gelegt. Frisch gefallener Schnee bedeckte die Tundra. Das Monster stolperte ächzend durch den Schnee. 56
Seine riesigen Füße sanken tief in den Schnee ein. Aber mit jedem seiner weit ausholenden Schritte kam es ein gutes Stück voran. Wohin brachte er uns? Wohin? Vielleicht in eine andere Höhle, dachte ich schaudernd. In eine Höhle, in der noch mehr Monster hausten. Zu seinen Freunden. Und dann würden sie mit uns ein Festmahl veranstalten! Ich versuchte wieder, mich aus dem Griff des Schneemenschen zu befreien. Ich trat um mich und zappelte so heftig, wie ich nur konnte. Das Ungeheuer knurrte. Es grub mir seine Krallen tiefer in die Seite. »Au!«, jaulte ich und hörte sofort zu zappeln auf. Denn wenn ich mich bewegte, bohrten sich seine Krallen in meine Haut. Armer Dad, dachte ich traurig. Er wird nie erfahren, was uns zugestoßen ist. Es sei denn, er findet unsere Knochen irgendwo vergraben im Schnee. Plötzlich hörte ich ein Bellen. Ein Hund! Der Schneemensch blieb stehen und nahm knurrend Witterung auf. Dann ließ er Nicole und mich sanft in den Schnee hinunter. Wir landeten taumelnd auf den Füßen. Nicole schaute mich verdutzt an. Dann rannten wir los und stolperten durch den tiefen Schnee davon. Ich warf einen Blick zurück. »Verfolgt er uns?«, fragte Nicole. Ich war mir nicht sicher. Ich konnte ihn zumindest nicht sehen. Ich sah nur Weiß. »Lauf weiter!«, schrie ich Auf einmal entdeckte ich in der Ferne etwas Vertrautes. Einen braunen Fleck. Ich stieß Nicole an. »Die Hütte!« Wir legten einen Zahn zu. Wenn wir erst einmal die Hütte erreicht hatten... Von der Hütte her hörten wir wildes Gebell - es kam von dem Hund, den Arthur zurückgelassen hatte. 57
»Dad! Dad!«, schrien wir. Wir schössen durch die Tür ins Innere der Hütte. »Wir haben ihn gefunden! Wir haben den Schneemenschen gefunden!« »Dad?« Die Hütte war leer. Dad war fort.
Hastig ließ ich meinen Blick durch den ganzen Raum schweifen. »Dad? Dad?« Mein Herz setzte einen Schlag aus. Meine Kehle war mit einem Mal wie ausgetrocknet. Wo war er hingegangen? War er auf der Suche nach Nicole und mir? Hatte er sich im Schnee verirrt? »Wir — wir sind ganz allein«, murmelte ich. Nicole und ich liefen zum Fenster. Die Scheibe war mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt. Wir spähten hinaus in den hellen Sonnenschein. Kein Anzeichen von Dad. »Zumindest ist uns der Schneemensch nicht gefolgt«, sagte ich. »Jordan, warum hat er uns fallen lassen?«, fragte Nicole leise. »Ich schätze, das Hundegebell hat ihn erschreckt«, antwortete ich. Was hätte das Monster wohl mit uns angestellt, wenn der Hund nicht gebellt hätte? Gerade als mir diese Frage durch den Kopf schoss, begann der Hund erneut zu bellen. Nicole und ich keuchten. »Der Schneemensch...!«, schrie ich. »Er ist zurück. Versteck dich!« Wir schauten uns um, suchten verzweifelt nach einem guten Versteck. Die Hütte war ziemlich leer - das Monster würde nicht lange brauchen, um uns zu finden. »Hinter den Ofen!«, rief Nicole drängend. Wir rannten zu dem kleinen, rechteckigen Ofen und kauerten uns dahinter. 58
Draußen vor der Hütte hörten wir die schleppenden Schritte des Monsters. Knirsch, knirsch, knirsch. Schritte im Schnee. Nicole ergriff meine Hand. Wir erstarrten. Warteten. Lauschten. Knirsch, knirsch. Bitte komm nicht in die Hütte, betete ich. Bitte erwisch uns nicht noch einmal. Die Schritte stoppten vor der Tür. Ich kniff die Augen zu. Die Tür flog auf und ein kalter Windstoß fegte in den Raum herein. »Jordan? Nicole?« Dad! Wir sprangen hinter dem Ofen hervor. Da stand Dad mit seiner Kamera um den Hals. Wir liefen beide zu ihm und umarmten ihn. »Dad! Ich bin so froh, dass du es bist!« »Hü«, antwortete er. »Was ist denn los, Kinder? Ich dachte eigentlich, ihr würdet schlafen.« Er schaute sich in der Hütte um. »Hey - wo ist denn Arthur?« »Er ist auf und davon!«, rief ich atemlos. »Mit dem Schlitten. Und er hat alle Lebensmittel und drei der Hunde mitgenommen.« »Wir haben ihn verfolgt«, setzte Nicole hinzu. »Aber er ist uns leider entwischt.« Dads Gesicht drückte erst Überraschung, dann Entsetzen aus. »Ich funke besser Hilfe herbei. Ohne Lebensmittel halten wir nicht lange durch.« »Dad - hör mal.« Ich versperrte ihm den Weg zum Funkgerät. »Nicole und ich haben den Schneemenschen gefunden!« Er ging um mich herum. »Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt für Scherze, Jordan. Wenn wir keine Hilfe bekommen, dann könnten wir hier glatt verhungern!« »Er macht keinen Scherz, Dad«, sagte Nicole eindringlich und hielt Dad am Arm fest. »Wir haben den Schneemenschen wirklich gefunden. Er lebt in einer Höhle unterm Schnee.« Dad blieb stehen und musterte Nicole. Ihr glaubte er immer. Aber diesmal war er sich nicht sicher. 59
»Es ist wahr!«, rief ich. »Komm mit - wir zeigen ihn dir!« Nicole und ich zerrten ihn zur Tür. »Jordan, wenn das wieder einer deiner Streiche ist, bekommst du richtig Ärger«, warnte er mich. »Unsere Lage hier ist ernst und...« »Dad, er macht keinen Spaß!«, schrie Nicole ungeduldig. »Komm mit!« Wir führten ihn in den Schnee hinaus und zu der Stelle, an der uns der Schneemensch hatte fallen lassen. Wir deuteten auf seine riesigen Fußabdrücke. »Warum sollte ich euch glauben?«, sagte Dad. »Heute Morgen hast du die Spuren des Schneemenschen auch vorgetäuscht, Jordan. Diese hier sehen nur ein bisschen größer aus.« »Dad, ich schwöre dir - ich hab diese Spuren nicht gemacht!« »Wir zeigen dir die Höhle, Dad«, versprach Nicole. »Du musst nur den Spuren folgen. Dann wirst du's sehen. Es ist unglaublich!« Mir war klar, dass Dad nur mit uns kam, weil Nicole darauf bestand. Ihr vertraute er. Sie spielte ihm niemals Streiche. Wir stemmten uns gegen den Wind und folgten den großen Fußabdrücken durch den Schnee. Dad konnte nicht widerstehen, ein paar Fotos davon zu machen - nur so für den Fall. Die Spuren führten uns zur Höhle zurück. Sie endeten vor einer Öffnung im Boden. »Die Höhle ist da unten«, erklärte ich Dad und deutete auf das Loch. Ich denke, nun glaubte uns Dad. »Dann mal los. Das wollen wir uns doch gleich mal ansehen«, sagte er. »Was?«, rief ich. »Noch einmal da runter? Zu dem Monster?« Dad war bereits dabei, zu der Höhlenöffnung hinunterzurutschen. Er streckte die Hand aus, um Nicole beim Hinunterklettern zu helfen. Ich zögerte. »Dad - warte mal. Du scheinst nicht zu verstehen. Da unten ist ein Monster!« »Nun komm schon, Jordan«, drängte Dad mich. »Das will ich mir selbst ansehen.« Mir blieb keine Wahl. Dad ging da rein, ganz egal, was ich 60
sagte. Und ich wollte nicht alleine draußen warten. Also kletterte ich ebenfalls zur Höhlenöffnung hinab. Wir tasteten uns alle drei durch den engen Durchschlupf, bis wir den Eingang zur Höhle erreichten. Eng aneinander gedrängt betraten Dad und Nicole die Höhle. Ich blieb erst mal am Eingang stehen und schaute nur hinein. »Jordan! Komm schon!«, flüsterte Dad. Da drinnen ist ein Monster, dachte ich schaudernd. Ein riesiges Monster mit langen Krallen und scharfen Zähnen. Wir haben es geschafft, ihm einmal zu entkommen. Wieso sind wir zurückgekehrt? Was wird uns da drin zustoßen? Ich hatte ein ungutes Gefühl bei der Sache. Ein sehr ungutes Gefühl.
Dad nahm mich bei der Hand und zog mich in die Höhle hinein. Von der hinteren Wand hörte ich das Tropfen des Tauwassers. Ich blinzelte in die Dunkelheit. Wo war er? Wo steckte der Schneemensch? Ich hörte, wie Dads Kamera immer wieder klickte. Ich hielt mich möglichst in seiner Nähe. Plötzlich schrie ich auf: Da vorn war der Schneemensch! Gleich würde er sich brüllend auf uns stürzen ... Aber er stand stocksteif und blickte stur geradeaus. Wieder in einem riesigen Eisblock erstarrt. Nicole trat näher an den Eisblock heran. »Wie macht er das bloß?« »Das ist einfach unglaublich!«, schrie Dad, während er ein Bild nach dem anderen schoss. »Nicht zu fassen!« Ich schaute dem Monster ins Gesicht. Es starrte uns durch das Eis hindurch zornig an. Seine schwarzen Augen glitzerten, sein Mund war grimmig verzogen und es bleckte die Zähne. »Das ist die unglaublichste Entdeckung aller Zeiten!«, rief Dad 61
begeistert. »Ist euch eigentlich klar, wie berühmt wir bald sein werden?« Für einen Augenblick hörte er zu fotografieren auf und starrte das Monster im braunen Pelz an. »Warum es dabei bewenden lassen?«, murmelte er. »Warum mit nichts als Fotos nach Hause fahren? Warum nicht den Schneemenschen selbst mit nach Kalifornien nehmen? Ist euch klar, was das für eine Sensation wird?« »Aber wie?«, fragte Nicole. »Er lebt, Dad«, warnte ich ihn. »Ich meine, er kann aus dem Eisblock ausbrechen. Und dann wird es gruselig. Ich glaube nicht, dass du dann mit ihm fertig wirst.« Dad klopfte behutsam auf das Eis, um es zu testen. »Wir lassen ihn nicht aus dem Eis raus«, sagte er. »Zumindest so lange nicht, bis wir ihn irgendwie unter Kontrolle haben.« Dad ging einmal um den Eisblock herum und rieb sich das Kinn. »Wenn wir den Block ein bisschen zurechtschneiden, könnte er in den Koffer passen«, sagte er. »Dann könnten wir den Schneemenschen im Koffer eingeschlossen nach Kalifornien bringen. Der Koffer ist luftdicht, also würde das Eis nicht auftauen.« Er trat näher an den Eisblock heran und machte ein paar Aufnahmen vom grimmigen Gesicht des Schneemenschen. »Kommt, wir holen den Koffer, Kinder.« »Dad - warte.« Mir gefiel diese Idee ganz und gar nicht. »Du verstehst nicht. Der Schneemensch könnte uns angreifen! Er hat uns einmal gehen lassen. Warum sollten wir es noch einmal darauf ankommen lassen?« »Sieh dir bloß mal seine Zähne an, Dad«, sagte Nicole besorgt. »Und er ist so stark, dass er uns beide gleichzeitig weggeschleppt hat!« »Es ist das Risiko wert«, meinte Dad hartnäckig. »Ihr seid doch nicht verletzt worden, oder?« Nicole und ich schüttelten den Kopf. »Aber...« »Dann los.« Dads Entschluss stand fest. Er hatte nicht vor, auf unsere Warnungen zu hören. Ich hatte ihn noch nie so aufgeregt erlebt. Als wir eilig die Höhle verließen, rief er dem Schneemenschen zu: »Geh nicht weg 62
- wir sind gleich wieder da!« Wir hasteten über den Schnee zur Hütte. Dort angekommen schleppte Dad den Schrankkoffer hinaus. Er war etwa zwei Meter lang und einen Meter breit. »Da passt der Schneemensch sicher rein«, sagte er. »Aber mit dem Schneemenschen darin wird der Koffer verflixt schwer sein.« »Wir brauchen den Hundeschlitten, um ihn fortzuschaffen«, sagte Nicole. »Aber Arthur hat den Schlitten mitgenommen«, erinnerte ich sie. »Ich schätze, damit hat sich die Sache erledigt. Wir müssen wohl oder übel ohne den Schneemenschen nach Hause fahren. Wirklich schade!« »Vielleicht gibt es hier irgendwo noch einen anderen Schlitten«, meinte Dad. »Immerhin ist das hier eine alte Schlittenführerhütte.« Mir fiel der alte Schlitten wieder ein, den ich im Hundeschuppen gesehen hatte. Nicole hatte ihn ebenfalls gesehen und sie führte Dad hin. »Phantastisch!«, rief Dad. »Dann lasst uns jetzt den Schneemenschen holen, bevor er sich davonmacht.« Wir banden Lars, unseren einzigen Hund, vor den alten Schlitten und brachten den Schrankkoffer zur Höhle. Dann krochen wir leise in die Höhle hinein und zogen den Schrankkoffer hinter uns her. »Sei vorsichtig, Dad«, warnte ich. »Er könnte in der Zwischenzeit aus dem Eisblock ausgebrochen sein.« Doch der Schneemensch stand noch genauso reglos in seinem Eisblock da, wie wir ihn verlassen hatten. Dad fing an den Eisblock mit einer Metallsäge kleiner zu machen. Ich lief nervös auf und ab. »Beeil dich!«, flüsterte ich. »Er könnte jeden Moment ausbrechen!« »Das ist nicht so einfach«, murrte Dad. »Ich arbeite so schnell ich kann.« Er sägte weiter. . Jede einzelne Sekunde kam mir wie eine Stunde vor. Ich beobachtete den Schneemenschen aufmerksam, um das kleinste Anzeichen einer Bewegung sofort zu erkennen. »Dad, musst du so laut sägen?«, beklagte ich mich. »Der Lärm könnte ihn aufwecken!« 63
»Ruhig Blut, Jordan«, sagte Dad. Doch seine Stimme klang ebenfalls angespannt und schrill. Da hörte ich ein Knacken. »Pass auf!«, schrie ich. »Er bricht aus!« Dad richtete sich auf. »Das war ich, Jordan. Ich habe ein Stück Eis abgebrochen.« Ich musterte das Monster. Es hatte sich nicht bewegt. »Okay, Kinder«, sagte Dad. »Wir sind fertig.« Dad hatte den Eisblock auf eine Länge von zwei Metern zurechtgesägt. »Helft mir ihn in den Koffer zu schieben.« Ich öffnete den Kofferdeckel. Wir halfen Dad den Eisblock zu kippen und ihn vorsichtig in den Schrankkoffer gleiten zu lassen. Er passte haargenau hinein. Wir schoben den Schrankkoffer über den Boden zur Höhlenöffnung. Dad band ein Seil darum und kletterte durch das Loch hinaus. »Ich binde das Seil am Schlitten fest«, rief Dad von oben herunter. »So kann Lars uns helfen ihn hinauszuhieven.« »Hey«, flüsterte ich Nicole zu, »lass uns heimlich ein paar Schneebälle in den Koffer legen - nur so zum Spaß. Dann können wir Kyle und Kara damit bewerfen, wenn wir wieder zu Hause sind. Schnee aus der Höhle des Schneemenschen — das können die niemals überbieten!« »Nein - bitte. Mach den Koffer nicht auf«, flehte Nicole. »Wir haben den Schneemenschen schon kaum hineinbekommen.« »Ein paar Schneebälle können wir sicher noch reinquetschen.« Ich blieb hartnäckig. Rasch formte ich ein paar feste Schneebälle, öffnete den Schrankkoffer und legte sie neben den Eisblock. Ich sah mir das Monster ein letztes Mal genau an. Das Eis war fest. Wir waren also sicher vor ihm. »Da drinnen tauen sie nicht auf«, sagte ich und schloss den Deckel des Koffers wieder. Wir verriegelten ihn und zogen das Seil um ihn straff. Ich war mir ziemlich sicher, dass der Schneemensch da nicht herauskam, selbst wenn er aus dem Eisblock ausbrechen sollte. »Fertig?«, rief Dad von oben herunter. »Eins, zwei, drei — hau ruck!« Dad und Lars zogen an dem Seil, bis sich der Kasten von» Boden 64
hob. Nicole und ich kauerten uns darunter und drückten ihn mit aller Kraft nach oben. »Noch mal!«, schrie Dad. »Hau ruck!« Wir drückten so fest wir konnten. »Er ist so schwer!«, jammerte Nicole. »Nun macht schon, Kinder!«, rief Dad. »Schiebt!« Wir gaben dem Schrankkoffer einen kräftigen Stoß. Dad und Lars zogen ihn über den Rand der Höhlenöffnung hinaus. Dad ließ sich in den Schnee fallen. »Puh«, keuchte er und wischte sich über die Stirn. »Nun, den schwierigsten Teil hätten wir.« Er half Nicole und mir beim Hinausklettern. Wir ruhten uns alle ein paar Minuten lang aus. Anschließend hievten wir den Schrankkoffer auf den Schlitten. Dad sicherte ihn mit dem Seil und Lars zog den Schlitten zur Hütte zurück. Als wir wieder in der Hütte waren, nahm uns Dad beide in die Arme. »Was für ein Tag! Was für ein großartiger Tag!« Er wandte sich an mich. »Siehst du, Jordan? Es ist nichts Schreckliches passiert.« »Wir hatten Glück«, sagte ich. »Ich bin fürchterlich müde«, jammerte Nicole und ließ sich auf ihren Schlafsack sinken. Ich schaute zum Fenster hinaus. Die Sonne stand wie immer hoch am Himmel. Aber mir war klar, dass es trotzdem schon sehr spät sein musste. Dad warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Beinahe Mitternacht. Eigentlich solltet ihr beide etwas Schlaf bekommen.« Er runzelte die Stirn. »Aber ich hasse es, hier morgen aufwachen zu müssen, ohne dass wir etwas zu essen haben. Ich werde Hilfe herbeifunken. Ihr könnt euch ausschlafen, sobald wir in der Stadt sind.« »Können wir in ein Hotel gehen?«, fragte ich Dad. »Und in einem richtigen Bett schlafen?« »Wenn wir eines finden«, versprach er. Er öffnete seinen Rucksack, um nach dem Funkgerät zu suchen. Er wühlte darin herum. Dann holte er nach und nach alle Sachen heraus. Einen Kompass. Eine Ersatzkamera. Filmdosen. Ein zusammengestecktes Paar Socken. 65
Seine Miene behagte mir gar nicht. Schließlich drehte er den Rucksack um und schüttete den gesamten Inhalt auf den Boden. Er ging noch einmal alles durch. Dabei wurde er immer verzweifelter. »Dad? Was ist los?« Als er sich zu mir umwandte, spiegelte sich Entsetzen auf seinem Gesicht. »Das Funkgerät«, murmelte er. »Es ist verschwunden.«
»Nein!«, kreischten Nicole und ich gleichzeitig. »Das glaub ich einfach nicht!«, schrie Dad und schlug mit der Faust auf den leeren Rucksack. »Arthur muss das Funkgerät mitgenommen haben, damit wir ihn nicht melden können.« Ich stampfte im Raum herum, ängstlich und wütend zugleich. Unsere Hunde, unseren Schlitten, unser Essen - alles hatte Arthur mitgenommen. Und nun auch noch das Funkgerät. Wollte Arthur uns hier erfrieren lassen? Und verhungern? »Beruhige dich, Jordan«, sagte Dad. »Aber, Dad...«, unterbrach ihn Nicole. Dad schnitt ihr das Wort ab. »Eine Sekunde, Nicole. Ich muss nachdenken, wie wir aus diesem Schlamassel herauskommen.« Dad suchte die Hütte ab. »Keine Panik. Keine Panik. Keine Panik«, sagte er immer wieder vor sich hin. »Aber, Dad...«, sagte Nicole und zupfte ihn am Ärmel. »Nicole!«, schnauzte ich sie an. »Wir stecken tief in der Tinte. Wir könnten hier draußen sterben!« »Dad!« Sie ließ nicht locker. »Hör mir doch mal zu! Du hast das Funkgerät gestern Abend eingewickelt, damit es nicht einfriert. Es steckt in deinem Schlaf sack!« Dad fiel der Unterkiefer herunter. »Du hast Recht!«, rief er. Er eilte zu seinem Schlafsack und griff hinein. Er suchte darin herum 66
und zog schließlich das Funkgerät heraus, das in einen Wollschal eingewickelt war. Er schaltete es ein und drehte an den Knöpfen. »Iknek, Iknek. Bitte kommen, Iknek.« Dad bat den Flughafen von Iknek uns einen Helikopter zu schicken. Er beschrieb ihnen so gut er konnte, wo wir waren. Nicole und ich lachten uns gegenseitig müde an. »Wir fahren nach Hause!«, sagte sie glücklich. »Nach Hause ins sonnige, heiße Pasadena.« »Ich werde eine Palme küssen!«, verkündete ich. »Und ich will nie wieder Schnee sehen.« Ich hatte ja keine Ahnung, dass unser Schnee-Abenteuer gerade erst begann!
»Ahhhh«, seufzte ich. »Spürst du die Sonne? Angenehm und heiß.« »Das Radio hat für heute achtunddreißig Grad vorhergesagt«, berichtete Nicole. »So mag ich es!« Ich strahlte. »So ist es recht!« Ich klatschte mir noch mehr Sonnencreme auf die Brust. Wieder zurück in Pasadena, kam mir unsere Reise nach Alaska völlig unwirklich vor. Die Kälte, der Schnee, der Wind, der über die weite weiße Tundra wehte. Der knurrende Schneemensch. Das alles kam mir wie ein Traum vor. Aber mir war klar, dass es kein Traum gewesen war. Dad hatte den Schrankkoffer mit dem Schneemenschen in seiner Dunkelkammer hinterm Haus versteckt. Jedes Mal, wenn ich daran vorbeikam, fiel mir die Reise wieder ein, erinnerte ich mich an das erstarrte Ungeheuer darin -und ich schauderte. Nicole und ich lagen in unseren Badesachen im Garten hinterm Haus und tankten Sonne. Gutes altes sonniges Pasadena. Wo es nie, nie schneite. Gott sei Dank. 67
Lauren kam herüber, um sich von unserer Reise berichten zu lassen. Ich hätte ihr am liebsten die ganze Geschichte erzählt. Aber Dad hatte uns zu Stillschweigen darüber verpflichtet zumindest so lange, bis der Schneemensch irgendwo sicher untergebracht war. »Ihr zwei seid unglaublich!«, spottete Lauren. »Noch vor einer Woche hattet ihr nichts als Schnee im Kopf. Und jetzt lasst ihr euch von der Sonne knusprig braten!« »Nun, wir hatten unsere kalte Phase und jetzt haben wir eben unsere heiße Phase«, erklärte ich ihr. »Jedenfalls habe ich so viel Schnee zu sehen bekommen, dass es mir für den Rest meines Lebens reicht.« »Erzählt mir von der Reise«, verlangte Lauren. »Erzählt mir alles!« »Es ist ein großes Geheimnis«, erklärte ihr Nicole. Sie sah mich an. »Geheimnis? Was denn für ein Geheimnis?«, wollte Lauren wissen. Bevor wir ihr antworten konnten, tauchte Dad in der Tür der Dunkelkammer auf. Er blinzelte in den Sonnenschein. Er trug eine Daunenjacke, eine Skimütze und Handschuhe. Er hatte die Klimaanlage in der Dunkelkammer hochgedreht und den Schrankkoffer mit Eisbeuteln zugepackt, damit der Schneemensch nicht auftaute. »Ich fahre jetzt in die Stadt«, verkündete er, während er seine Jacke auszog. Dad hatte in Los Angeles ein Treffen mit einigen Wissenschaftlern und Naturexperten. Er wollte den Schneemenschen den richtigen Leuten übergeben. Er wollte sicherstellen, dass er gut behandelt wurde. »Kommt ihr zurecht, während ich weg bin, Kinder?«, fragte er. »Natürlich«, antwortete Nicole. »Wir haben die Tundra in Alaska überlebt. Da werden wir wohl noch einen Nachmittag in unserem eigenen Garten überstehen können.« »Meine Mom ist zu Hause«, sagte Lauren. »Sie ist also da, falls wir irgendetwas brauchen.« »Gut.« Dad nickte. »Okay, dann fahre ich mal. Aber denkt dran - Jordan und Nicole, hört ihr mich? Finger weg vom Koffer. Ihr geht mir da nicht dran - verstanden?« 68
»Gebongt, Dad«, versprach ich. »Alles klar. Ich bringe zum Abendessen Pizza mit.« »Viel Glück, Dad!«, rief Nicole. Wir sahen zu, wie er ins Auto sprang und davonfuhr. »Also, was ist das große Geheimnis?«, fragte Lauren, kaum dass Dad verschwunden war. »Was steckt in dem Koffer?« Nicole und ich tauschten einen Blick aus. »Kommt schon. Spuckt es aus«, drängte uns Lauren. »Ich werde nicht gehen, bevor ihr es mir nicht erzählt habt.« Ich konnte es mir nicht verkneifen. Ich musste es jemandem erzählen. »Wir haben ihn gefunden. Wir haben ihn gefunden und mitgebracht.« »Wen gefunden?« »Den Schneemenschen!«, platzte Nicole heraus. Lauren rollte mit den Augen. »Aber sicher. Und habt ihr da oben auch den Weihnachtsmann getroffen?« »Ja, das haben wir«, scherzte ich. »Er liegt jetzt in der Dunkelkammer«, erzählte Nicole Lauren. Lauren verzog entgeistert das Gesicht. »Wer - der Weihnachtsmann ?« »Nein. Der Schneemensch. Ein leibhaftiger«, sagte ich. »In einen Eisblock eingesperrt.« Zusammen mit vier oder fünf Schneebällen, dachte ich im Stillen. Schneebälle, mit denen ich Lauren bewerfen konnte. Als nette, kleine Überraschung. »Beweist es«, forderte Lauren uns heraus. »Ihr habt euch das doch nur ausgedacht. Ihr haltet euch wohl für ziemlich witzig.« Nicole und ich wechselten einen Blick. Ich wusste genau, was sie dachte. Dad hatte uns verboten an den Schrankkoffer zu gehen. »Ihr zwei seid genauso schlimme Finger wie die MillerZwillinge«, maulte Lauren. Damit hatte sie uns. »Komm mit«, sagte ich. »Wir zeigen ihn dir.« »Besser nicht, Jordan«, wandte Nicole ein. »Da passiert schon nichts«, versprach ich ihr. »Wir öffnen nur 69
schnell den Deckel ein Stückchen, damit Lauren ihn sehen kann. Dann schlagen wir ihn gleich wieder zu. Das schadet nicht.« Ich stand von meinem Liegestuhl auf und steuerte über den Rasen auf die Dunkelkammer zu. Nicole und Lauren folgten mir. Mir war klar gewesen, dass sie das tun würden. Ich öffnete die Tür zur Dunkelkammer und schaltete das Licht ein. Ein Schwall kalter Luft schlug mir entgegen. Auf meiner nackten Brust bildete sich eine Gänsehaut. In der Tür blieb Nicole zögernd stehen. »Jordan, vielleicht sollten wir das lieber nicht tun.« »Ach, nun komm schon, Nicole«, sagte Lauren. »Es gibt keinen Schneemenschen. Ihr zwei seid echt albern.« »Wir sind nicht albern!«, protestierte Nicole. »Was ist schon dabei Nicole?«, sagte ich. Nicole gab keine Antwort. Sie trat in die Dunkelkammer und schloss die Tür. Weil ich nur eine Badehose anhatte, zitterte ich vor Kälte. Es war fast so, als wären wir wieder in Alaska. Ich kniete mich neben die riesige Kiste und ließ die Schlösser aufschnappen. Langsam hob ich den schweren Deckel an. Ich spähte hinein. Und stieß einen schauerlichen, markerschütternden Schrei aus.
Nicole und Lauren kreischten und machten einen Satz rückwärts. Nicole wich immer weiter zurück, bis sie gegen die Wand prallte. Lauren versteckte sich unter dem Entwicklungstisch. Länger konnte ich mich nicht beherrschen. Ich lachte los. »Angeschmiert!«, rief ich schadenfroh. Ich war sehr zufrieden mit mir. 70
Ich hatte sie zu Tode erschreckt. Die beiden waren steifer als der Schneemensch, der gefroren und bewegungslos in seinem Eisblock lag. »Jordan - du Mistkäfer!«, schimpfte Nicole. Sie verpasste mir einen Stoß in den Rücken. Lauren versetzte mir ebenfalls einen Rempler. Dann schaute sie in den offenen Schrankkoffer. Und stieß wieder einen Schrei aus. »Der ist ja echt! Ihr - ihr habt nicht geflunkert!« Ich sah, dass sie heftig atmete. »Ist schon okay, Lauren«, versicherte ich ihr. »Er kann dir nichts tun. Er ist gefroren.« Sie trat näher heran und betrachtete ihn genauer. »Er ist riesig!«, rief sie verblüfft. »Er - er hat die Augen offen und guckt ganz böse!« »Mach den Deckel zu, Jordan«, sagte Nicole eindringlich. »Rasch. Wir haben genug gesehen.« »Glaubst du uns nun?«, fragte ich Lauren. Sie nickte. »Das ist... irre!« Sie schüttelte den Kopf, noch immer benommen von dem verblüffenden Anblick. Bevor ich den Deckel schloss, holte ich heimlich zwei der Schneebälle vom Boden des Kastens heraus. Kichernd gab ich einen davon Nicole. »Was ist so komisch?«, fragte Lauren argwöhnisch. »Nichts«, sagte ich. Ich drückte den Deckel fest zu und ließ die Schlösser einschnappen. Das hält ihn gefangen, dachte ich. Wir sind vor ihm sicher. Und Dad wird nie erfahren, dass wir uns hereingeschlichen und einen Blick auf ihn geworfen haben. Wir verließen die Dunkelkammer und schlössen sorgfältig die Tür hinter uns zu. »Dieses Ungeheuer ist einfach irre!«, rief Lauren begeistert. »Was hat euer Dad mit ihm vor?« »Das steht noch nicht ganz fest«, antwortete Nicole. »Dad denkt noch darüber nach.« Sie hatte die Hände hinter dem Rücken versteckt, damit Lauren den Schneeball nicht sah. Plötzlich rief sie: »Hey, Lauren! Achtung!« Sie warf mit dem Schneeball nach Lauren. Verfehlte sie aber. Platsch! Der Schneeball traf einen Baum. 71
»Netter Wurf, du ASS !«, rief ich spöttisch. Doch dann starrte ich mit großen Augen den Baum an. Der Schneeball - er zerbröckelte nicht etwa und rieselte zu Boden. Nein, er begann zu wachsen! Eine dicke weiße Schneeschicht breitete sich rasch über den Baumstamm aus — und über die Äste. Innerhalb von Sekunden war der ganze Baum mit Schnee bedeckt! »Wow!«, keuchte Lauren. »Nicole - wie hast du das gemacht?« Nicole und ich glotzten mit aufgerissenem Mund den schneebedeckten Baum an. Ich war so verdattert, dass mir mein Schneeball aus der Hand fiel. Ich machte einen Satz rückwärts, als er auf dem Boden aufkam und sich ausdehnte! »O wow!«, schrie ich. Ich sah zu, wie der Schnee den Rasen wie mit einer weißen Decke überzog. Er breitete sich unter unseren nackten Füßen aus. Über die Einfahrt und auf die Straße hinaus. »Ooooh! Ist das kalt!«, jammerte Nicole und hüpfte von einem Fuß auf den anderen. »Das ist doch verrückt!«, schrie ich. »Wir haben achtunddreißig Grad - und der Schnee schmilzt nicht! Er breitet sich aus - und die Schicht wird immer dicker!« Als ich mich umdrehte, sah ich, wie Lauren wild herumwirbelte, hüpfte und tanzte. »Schnee! Schnee!«, sang sie. »Das ist wunderbar! Schnee in Pasadena!« »Jordan...«, sagte Nicole leise. »Das geht nicht mit rechten Dingen zu. Wir hätten den Schnee in der Höhle lassen sollen. Das ist kein normaler Schnee.« Natürlich hatte sie Recht. Jede Höhle, in der ein Schneemensch haust, muss ein sonderbarer Ort sein. Aber wie hätten wir das ahnen sollen? »Lasst uns einen Schneemann bauen!«, rief Lauren fröhlich. »Nein!«, warnte Nicole sie. »Fass den Schnee nicht an. Tu überhaupt nichts, Lauren, solange wir nichts darüber wissen.« Ich glaube, Lauren hörte meine Schwester gar nicht. Sie war viel zu aufgeregt. Sie trat mit dem Fuß eine Ladung Schnee gegen einen Immergrünbusch. Der Busch überzog sich mit einer Schneehülle. 72
»Was machen wir jetzt?«, fragte ich Nicole. »Was passiert, wenn Dad nach Hause kommt? Er wird uns umbringen!« Nicole zuckte die Achseln. »Da bin ich überfragt.« »Aber... aber... du bist doch sonst so schlau!«, stotterte ich. »Das ist so cool!«, jubelte Lauren. »Schnee in Pasadena! « Sie schnappte sich einen Schneeklumpen und ballte ihn mit den Händen zusammen. »Schneeballschlacht!«, rief sie ausgelassen. »Hör auf damit, Lauren!«, schrie ich. »Wir stecken ziemlich im Schlamassel. Begreifst du das denn nicht?« Lauren warf mit dem Schneeball nach Nicole. Sofort breitete sich eine dicke Schneeschicht über Nicoles Körper aus. Bedeckte sie und hüllte sie ein, bis Nicole wie ein Schneemann aussah! »Nicole!«, schrie ich und hastete über den schneebedeckten Rasen auf sie zu. »Nicole - alles in Ordnung mit dir?« Ich packte ihren Arm. Er war steif wie ein Eiszapfen. Sie war völlig gefroren. »Nicole?« Ich schaute ihr in die schneebedeckten Augen. »Kannst du mich hören, Nicole? Kannst du darunter atmen? Nicole? Nicole?«
»O nein!«, kreischte Lauren. »Was habe ich bloß getan?« Meine Schwester war eine Statue. Eine gefrorene, schneebedeckte Statue. »Nicole, es tut mir so Leid«, jammerte Lauren. »Kannst du mich hören? Es tut mir schrecklich Leid!« »Los, wir bringen sie rein«, schlug ich in meiner Verzweiflung vor. »Im warmem Haus taut sie vielleicht auf.« Lauren nahm den einen Arm von Nicole, ich packte den anderen und gemeinsam schleppten wir ihren steif gefrorenen Körper zum Haus. Ihre nackten Zehen, die hart wie Eis waren, zogen im Schnee eine lange Schleifspur hinter sich her. 73
»Sie ist so schrecklich kalt!«, jammerte Lauren. »Wie bringen wir den Schnee bloß zum Schmelzen?« »Wir stellen sie an den Backofen«, sagte ich. »Wenn wir den auf die höchste Stufe drehen, schmilzt der Schnee vielleicht.« Wir stellten Nicole vor die Backröhre. Zusätzlich schaltete ich auch noch alle Herdplatten ein. »Das sollte reichen«, sagte ich. Mir lief eine Schweißperle übers Gesicht. Wegen der Hitze - oder vor Sorge? Lauren und ich behielten Nicole im Auge und warteten. Schauten und warteten. Ich rührte mich nicht. Ich atmete nicht. Der Schnee schmolz nicht. »Es funktioniert nicht«, stöhnte Lauren. »Es passiert nichts.« Ich klopfte auf Nicoles Arm. Festes Eis. Ich gab mir alle Mühe, ruhig zu bleiben. Trotzdem hatte ich das Gefühl, als ob in meinem Bauch hundert Schmetterlinge Stepp tanzten. »Also gut, es funktioniert nicht. Wir müssen etwas anderes versuchen. Etwas anderes...« Lauren kullerten Tränen über die Wangen. »Was zum Beispiel?«, wollte sie mit bebender Stimme wissen. »Na j a . . . « Ich zermarterte mir den Kopf nach dem heißesten Ort, den ich mir vorstellen konnte. »Der Heizkessel! Wir stellen sie vor den Heizkessel.« Wir schleppten Nicole zum Heizkessel im Schuppen hinter der Garage. Der Schnee schien eine Tonne zu wiegen. Wir mussten all unsere Kraft aufbringen. Ich schaltete den Heizkessel auf die höchste Stufe. Lauren stellte Nicole vor die geöffnete Ofentür. Ein heißer Luftzug ließ Lauren und mich rückwärts taumeln. »Wenn das nicht funktioniert, dann hilft gar nichts«, schluchzte Lauren. Hitze strömte fauchend aus dem Ofen. Auf Nicoles vereistem Gesicht spiegelten sich die roten Flammen. Mit hämmerndem Herzen wartete ich darauf, dass das Eis zu tropfen begann und der Schnee taute. Doch das Eis schmolz nicht. Meine Schwester blieb ein menschlicher Schneekegel. 74
»Jordan - was machen wir denn jetzt bloß?«, heulte Lauren. Ich schüttelte den Kopf, während ich angestrengt nachdachte. »Der Heizkessel funktioniert also auch nicht. Was ist sonst noch heiß?« Ich hatte zu viel Angst, um klar denken zu können. »Mach dir keine Sorgen, Nicole«, sagte Lauren zu meiner gefrorenen Schwester. »Wir holen dich da raus - irgendwie!« Plötzlich fiel mir wieder ein, wie warm der Schneemensch sich angefühlt hatte, als er uns in Alaska über die Tundra geschleppt hatte. Obwohl dort zwanzig Grad unter null herrschten und wir von hohem Schnee umgeben waren, hatte der Körper des Ungeheuers förmlich Hitze ausgestrahlt. »Komm mit, Lauren«, befahl ich ihr. »Wir bringen sie in die Dunkelkammer.« Wir mussten uns mächtig anstrengen, um Nicole wieder nach draußen und quer durch den Garten zur Dunkelkammer zu schleppen. »Bleib hier«, sagte ich zu Lauren. »Ich bin sofort zurück.« Ich rannte in die Küche. Dort riss ich alle Schränke und Schubladen auf und suchte verzweifelt nach — Studentenfutter. Bitte, bitte, lass uns irgendwo im Haus Studentenfutter haben!, betete ich. »Ja!« Hinter einer alten Spagettipackung fand ich eine Tüte Studentenfutter. Damit sauste ich zur Dunkelkammer zurück. Lauren glotzte auf die Tüte in meiner Hand. »Was ist das?« » Studentenfutter.« »Studentenfutter? Jordan, kannst du mit dem Essen nicht bis später warten?« »Es ist nicht für mich — es ist für ihn.« Ich deutete auf den Schrankkoffer. »Was?« Ich entriegelte den Kasten und öffnete ihn. Der Schneemensch lag darin so reglos wie zuvor, erstarrt in seinem Eisblock. Ich nahm eine Hand voll Studentenfutter und wedelte dem Schneemenschen damit vor dem Gesicht herum. »Wach auf!«, bettelte ich. »Bitte, wach auf! Guck mal - ich hab dir Studentenfutter mitgebracht!« »Jordan - bist du jetzt völlig übergeschnappt?«, kreischte Lauren. »Was um alles in der Welt tust du da?« 75
»Ich wüsste nicht, was wir sonst noch tun könnten, um Nicole zu retten!«, schrie ich. Meine Hand zitterte, als ich dem Schneemenschen verzweifelt mit dem Studentenfutter vor dem Gesicht herumfuchtelte. »Komm schon. Du stehst doch auf Studentenfutter. Wach auf! Bitte, wach auf! Komm da raus und hilf uns.« Ich beugte mich über ihn und betrachtete angestrengt die Augen des Monsters. Um zu sehen, ob es blinzelte. Um Anzeichen von Leben festzustellen. Doch die Augen bewegten sich nicht. Das Ungeheuer starrte leblos aus dem Eisblock heraus. Ich weigerte mich aufzugeben. »Lecker, lecker!«, schrie ich mit hoher, wilder Stimme.. »Studentenfutter! Junge, Junge, ist das gut!« Ich stopfte mir ein paar Rosinen in den Mund und begann zu kauen. »Mmmmm! Feines Studentenfutter. So gut! So lecker! Komm schon - wach auf und probier's auch mal!« »Er bewegt sich nicht!«, schluchzte Lauren. »Gib's auf, Jordan. Es funktioniert nicht.«
Ich sprang auf, als ich ein leises Geräusch hörte. Ein schwaches Knistern. Ich starrte auf den Eisblock hinab. Bewegte sich das Monster? Nein. Seine schwarzen Augen glitzerten ausdruckslos. Hatte ich es mir nur eingebildet? Lauren hat Recht, dachte ich betrübt. Mein Plan funktioniert nicht. Nichts funktioniert. Sachte berührte ich den steif gefrorenen Arm meiner Schwester. Vielleicht wenn Dad nach Hause kommt, hoffte ich. Vielleicht fällt ihm ein Weg ein, sie zu retten. 76
»Was machen wir nur?«, schluchzte Lauren. Sie war mir überhaupt keine Hilfe. Knack. Wieder hörte ich es - diesmal lauter. Und dann: Knnnaaaaaccckkkk! Ein langer Sprung zog sich quer übers Eis. Der Schneemensch ächzte. Lauren sprang mit einem lauten Schrei rückwärts. »Er lebt!« Das Eis brach auf. Der pelzige Schneemensch richtete sich langsam und stöhnend auf. Lauren schrie vor Angst und presste sich an die Wand der Dunkelkammer. »Was wird er tun?« »Pssst!« Das Monster schüttelte Eisstücke von seinen Schultern ab. Dann stieg es aus dem Kasten heraus und knurrte leise. »Jordan, pass auf!«, schrie Lauren. Das Monster taumelte auf mich zu. Mein Herz setzte einen Schlag lang aus. Ich wäre gerne zurückgewichen - oder davongerannt. Aber das konnte ich nicht tun. Ich musste bleiben und Nicole helfen. »Arrgh!«, brummte der Schneemensch. Er schwang mir seine riesige Pranke entgegen. Lauren stieß einen weiteren schrillen Schrei aus. Ich machte einen Satz rückwärts. Was würde das Monster tun? »Arrgh!«, grölte das Monster wieder und streckte seine Pranke nach mir aus. »Lass uns von hier verschwinden!«, schrie Lauren. »Er wird dir etwas antun!« Ich wäre gerne gerannt. Aber Nicole... Das Monster schwang mir seine Pranke noch einmal entgegen - und riss mir die Tüte Studentenfutter aus den Händen. Plötzlich war mir klar, dass das alles war, was es wollte. Es hatte nach dem Studentenfutter geschnappt. Es kippte sich das Studentenfutter ins Maul, verschlang es und schluckte geräuschvoll. Dann schleuderte es die leere Tüte beiseite. Lauren drückte sich in die Ecke der Dunkelkammer. »Bring ihn dazu, dass er wieder in den Koffer steigt!«, schrie sie. »Bist du verrückt? Wie soll ich das denn anstellen?« 77
Der Schneemensch knurrte und schwankte durch den Raum. Seine schweren Schritte ließen den Boden beben. Vor Nicole blieb er stehen. Er legte seine mächtigen Arme um ihren schneebedeckten Körper - und drückte sie an sich. »Halt ihn auf!«, kreischte Lauren. »Er zerquetscht sie!«
Ich konnte mich nicht bewegen. Ich schaute nur entsetzt zu, was geschah. Das große Ungeheuer umarmte Nicole fest — so fest, dass er sie dabei vom Boden hochhob. »Halt!«, brachte ich schließlich mit erstickter Stimme heraus. »Du tust ihr weh!« Ohne an die Gefahr zu denken, in die ich mich begab, stürzte ich los. Mit beiden Händen packte ich seine fellbedeckten Arme und versuchte mit aller Kraft, ihn von meiner Schwester wegzuziehen. Mit einem zornigen Grunzen schüttelte er mich ab. Ich stolperte rückwärts - und fiel auf Lauren. Als ich mich umdrehte, sah ich, dass das Monster Nicole noch immer drückte. Lauren deutete auf den Boden. »Jordan - sieh mal!« Als ich hinunterschaute, entdeckte ich unter Nicoles Füßen eine kleine Pfütze. Wasser tropfte von ihr herab auf den Boden. Sobald es auf dem Boden aufkam, verdunstete es. Verschwand vor meinen Augen. Hatte ich gerade Nicoles Zehen wackeln gesehen? Ja! Ich trat näher. Erhaschte einen Blick auf ihr Gesicht. Auf ihren Wangen tauchten rosa Flecken auf Ja! Schneeklumpen fielen von ihrem Körper ab. Plumpsten auf den Boden, schmolzen und verschwanden. 78
Ich drehte mich zu Lauren um. »Es funktioniert!«, rief ich glücklich. »Er taut sie auf!« Ein zittriges Lächeln huschte über Laurens besorgtes Gesicht. Ein paar Sekunden später ließ der Schneemensch Nicole los. Eis und Schnee waren verschwunden. Der Schneemensch grunzte zufrieden und trat zurück. Nicole bewegte die Arme ein wenig steif. Sie rieb sich das Gesicht, als ob sie gerade aufgewacht wäre. »Nicole!«, rief ich und packte sie bei den Schultern. Warm. Ihre Schultern waren warm. »Alles in Ordnung mit dir?« Sie schüttelte benommen den Kopf. »Was ist passiert?« Lauren rannte zu Nicole und schlang die Arme um sie. »Du warst gefroren!«, sagte sie. » Gefroren wie ein Schneemann! Aber Gott sei Dank - es geht dir gut!« Ich wandte mich um, weil ich sehen wollte, ob uns der Schneemensch beobachtete. »Danke«, rief ich ihm zu. Ich weiß nicht, ob er mich verstand. Er grunzte. »Wir sollten von hier verschwinden«, drängte uns Lauren. »Sonst friere ich noch ein!« »Vielleicht wärmt dich die Sonne auf«, antwortete ich ihr. Wir öffneten die Tür der Dunkelkammer und traten hinaus. Die Sonne knallte noch immer herab. Es war brütend heiß. Trotzdem war der ganze Garten schneebedeckt. »Ach ja«, murmelte Lauren. »Das habe ich ja ganz vergessen.« »Hey...!«, rief ich verblüfft, als ich den Schneemenschen aus der Dunkelkammer schlüpfen sah. »Er haut ab!«, kreischte ich. »Dad wird uns umbringen!«, rief Nicole. Wir riefen dem Ungeheuer mit vereinten Kräften hinterher. Doch er beachtete unsere Schreie nicht und stampfte schwerfällig über den Rasen. Seine schwarzen Augen waren auf den schneebedeckten Baum gerichtet. Er trat auf den Baum zu, legte seine Arme darum und umarmte ihn, genauso, wie er Nicole umarmt hatte. Ich beobachtete, wie der Schnee zu schmelzen begann. Die weiße Decke rutschte tiefer und tiefer und fiel schließlich in sich zusammen - bis der Baum wieder grün und golden im Sonnenschein aufragte. 79
»Wow!«, rief ich und schlug fassungslos die Hände vors Gesicht. Doch das große pelzige Wesen hatte noch mehr Überraschungen auf Lager. Mit lautem Grunzen ließ er sich plötzlich auf den schneebedeckten Boden fallen und wälzte sich vor unseren erstaunten Augen im Schnee. Der Schnee schien an seinem Fell kleben zu bleiben. Während der Schneemensch über den Boden rollte, verschwand allmählich die weiße Decke unter ihm. Es dauerte nicht lange und das Ungeheuer wälzte sich im grünen Gras. Der letzte Schnee war verschwunden. Es sprang auf die Beine. Plötzlich riss es seine Augen weit auf und stieß einen gequälten Schrei aus. »Was ist denn los mit ihm?«, wollte Lauren wissen. Der Schneemensch blickte sich um und starrte fassungslos auf das grüne Gras und die Palmen. Dann hob er die Augen zur gleißenden Sonne. Er presste die Hände an seinen fellbedeckten Kopf und stieß einen entsetzlichen Schrei aus. Einen Augenblick lang schien er verwirrt zu sein. Erschrocken. Dann grunzte er kehlig - und lief auf und davon, die Straße entlang. Seine Schritte dröhnten auf dem Pflaster. Ich rannte ihm hinterher. »Warte! Komm zurück!« Er lief quer durch einen Garten und hastete weiter. Schließlich gab ich auf. Ich konnte ihn unmöglich einfangen. Nicole und Lauren holten mich ein. »Wo läuft er hin?«, fragte Nicole. »Woher soll ich das wissen?«, schnauzte ich sie keuchend an. »Bestimmt sucht er nach einem kalten Fleckchen«, sagte Lauren. Nicole stimmte ihr zu. »Wahrscheinlich hast du Recht. Ihm muss schrecklich heiß sein. Pasadena ist kein Ort für einen Schneemenschen.« »Wahrscheinlich sucht er eine Höhle in den Bergen«, sagte ich. »Da oben ist es viel kälter. Ich hoffe nur, er findet eine Möglichkeit, an Studentenfutter zu kommen.«
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Wir trotteten zu unserem Garten zurück. Er war wieder grün. Und es war wieder heiß. Mir war klar, dass Nicole und mir dasselbe Wort durch den Kopf ging: D-A-D. Er hatte uns angewiesen den Schrankkoffer nicht anzufassen. Und wir hatten seine Warnung in den Wind geschlagen. Nun war der Schneemensch fort. Dads große Entdeckung. Dads große Chance berühmt zu werden. Fort. Für immer fort. Es war allein meine Schuld. »Zumindest hat Dad seine Fotos«, sagte ich leise. »Allein die Fotos werden die Leute schon verblüffen.« »Das glaube ich auch«, antwortete Nicole, während sie nervös auf ihrer Unterlippe herumkaute. Wir gingen zurück in die Dunkelkammer, um den Schrankkoffer zu schließen. Ich warf einen Blick in den Kasten. Es lagen noch immer zwei magische Schneebälle darin. »Diese Dinger sind gefährlich. Wir sollten sie besser loswerden«, mahnte Nicole. »Ich fasse sie nicht mehr an.« Lauren wich zurück. »Du hast Recht«, sagte ich zu meiner Schwester. »Wir sollten sie irgendwo verstecken. Sie sind zu gefährlich, um sie zu behalten.« Nicole rannte ins Haus und kam mit einem reißfesten Abfallbeutel wieder. »Rasch - pack die Dinger da rein.« Ich holte die Schneebälle vorsichtig heraus und ließ sie in den Müllbeutel fallen. Dann drehte ich den Beutel zu und verknotete ihn fest. »Was nun?«, fragte Lauren. »Wir sollten sie in den Weltraum schießen«, sagte Nicole. »Wenn irgendjemand sie in die Finger bekommt und der Schnee sich von neuem ausbreitet, haben wir ein echtes Problem. Nur der Schneemensch kann den Schnee zum Schmelzen bringen - und der ist über alle Berge.« »Pasadena könnte sich in ein Skigebiet verwandeln!«, scherzte ich. »Wir könnten auf dem Swimmingpool von Kyle und Kara Schlittschuh laufen.« Ich schauderte. An Kyle und Kara wollte ich gar nicht denken. 81
Und an Schnee auch nicht. »Wir sollten die Schneebälle vergraben«, erklärte ich ihnen. »Aber wo?« »Nicht in meinem Garten!«, wehrte Lauren ab. In unserem Garten wollte ich sie auch nicht vergraben. Was würde mit ihnen da unten passieren? Würde sich der Schnee unter der Erde ausbreiten? Würde er zwischen dem Gras hervorkommen? Wir verließen die Dunkelkammer und sahen uns nach einer geeigneten Stelle um, wo wir sie vergraben konnten. »Wie war's mit dem unbebauten Grundstück?«, schlug Nicole vor. Auf der anderen Straßenseite, direkt neben dem Haus von Kyle und Kara Miller, gab es ein brach liegendes Grundstück. Dort gab es nichts als einige Sandhügel und ein paar leere Flaschen. »Perfekt«, sagte ich. »Dort wird niemand die Schneebälle finden.« Nicole eilte zur Garage und holte eine Schaufel. Wir überquerten die Straße und schauten uns um, um sicherzugehen, dass uns niemand beobachtete. »Die Luft ist rein«, sagte ich. Ich schnappte mir die Schaufel und grub ein tiefes Loch in den Sand. Ich brauchte dazu länger, als ich gedacht hatte. Ständig rieselte Sand in das Loch zurück. Endlich war das Loch tief genug. Nicole warf den Müllbeutel hinein. »Tschüss, Schneebälle«, sagte sie. »Tschüss, Alaska.« Ich füllte das Loch mit Sand auf. Lauren glättete ihn, bis man nicht mehr sehen konnte, dass an der Stelle gegraben worden war. »Puh«, stöhnte ich und wischte mir den Schweiß vom Gesicht. »Ich bin froh, dass es vorbei ist. Lasst uns reingehen und uns ein bisschen abkühlen.« Ich räumte die Schaufel auf. Dann holten Nicole, Lauren und ich uns kalten Apfelsaft und machten es uns vor dem Fernseher bequem. Kurze Zeit später hörten wir, wie Dads Wagen in die Einfahrt fuhr. 82
»Oh-oh«, keuchte Lauren. »Ich geh dann jetzt wohl besser nach Hause. Bis später.« Sie lief eilig zur Hintertür hinaus. »Viel Glück!«, rief sie uns über die Schulter zu. Dann krachte die Tür hinter ihr ins Schloss. Ich warf Nicole einen nervösen Blick zu. »Wie wütend Dad wohl sein wird? Er findet ein unglaubliches, seltenes Geschöpf und bringt es nach Hause - wir lassen es raus und es läuft auf und davon. Das ist doch nicht so schlimm — oder?« Nicole schauderte. »Wenn wir ihm die ganze Geschichte erzählen, ist er vielleicht froh, dass uns nichts passiert ist, und ist dann nicht so wütend.« »Mhm. Ja. Vielleicht.« Die Haustür ging auf. »Hallo, Kinder!«, rief Dad. »Ich bin wieder da. Wie geht's dem Schneemenschen?«
An diesem Abend aßen wir früh. Es war ziemlich still am Tisch. »Ich bin froh, dass euch nichts passiert ist, Kinder«, sagte Dad zum fünften Mal. »Das ist es doch, was zählt.« »Ja«, sagte Nicole, während sie ihre Pizza kaute. »Mhm«, meinte ich leise. Normalerweise esse ich drei Pizzastücke. Aber heute schaffte ich kaum eins. Und ich ließ den Rand auf dem Teller liegen. Armer Dad. Er bemühte sich sehr, sich nicht zu sehr darüber aufzuregen, dass er den Schneemenschen verloren hatte. Aber Nicole und mir war klar, wie mies er sich fühlte. Dad ließ seine halb gegessene Pizzaschnitte auf den Teller fallen. »Ich werde den Leuten vom Naturgeschichtlichen Museum sagen, dass sie sich mit den Fotos zufrieden geben müssen.« »Fotos sind besser als nichts«, sagte ich. »Besser als nichts? Bist du irre?«, zeterte Nicole. »Diese Bilder werden die ganze Welt verblüffen!« 83
Dad hob den Kopf. »Das stimmt. Ich habe sie gegenüber einigen Fernsehproduzenten erwähnt. Die sind ausgeflippt!« Er stand auf und trug seinen Teller zur Spüle. »Ich denke, ich gehe in die Dunkelkammer und entwickle die Filme jetzt gleich. Diese Fotos werden mich wieder aufmuntern. Ich meine, die sind doch historisch. Historisch!« Ich war froh zu sehen, dass Dad auf dem besten Weg war, seine Enttäuschung zu überwinden. Nicole und ich folgten ihm, begierig darauf, die Fotos zu sehen. Wir saßen still im Schein der roten Lampe, während Dad die Negative entwickelte. Schließlich holte er die ersten Kontaktstreifen aus den chemischen Bädern. Nicole und ich beugten uns vor, um die Fotos anzusehen. »Huch!« Dad stieß einen verblüfften Schrei aus. Schnee. Nichts als Schnee. Zehn Fotos von Schnee. »Das ist seltsam«, stieß Dad hervor. »Ich kann mich nicht daran erinnern, diese Bilder gemacht zu haben.« Nicole warf mir einen bitterbösen Blick zu. Mir war klar, was sie dachte. Ich hob abwehrend die Hände. »Ich habe nichts damit zu tun. Das schwöre ich!« »Das will ich dir auch geraten haben, Jordan«, sagte Dad streng. »Für Blödsinn bin ich jetzt nicht in der Stimmung.« Dad wandte sich wieder seinen Schalen zu und entwickelte einen weiteren Satz Fotos. Als er sie tropfnass herauszog, starrten wir alle darauf. Noch mehr Schnee. Nichts als Schnee. »Das darf doch nicht wahr sein!«, brüllte Dad. »Der Schneemensch - genau hier hätte er eigentlich stehen müssen!« Er deutete auf die Stelle. Mit zitternden Händen schnappte er sich die übrigen Negative und hielt sie vor die rote Lampe. »Die Fotos von der Tundra sind gut geworden«, stellte er fest. »Die Hunde, der Schlitten, die Elchherde - alles da. Alles perfekt. Nur die Fotos aus der Monsterhöhle...« Seine Stimme erstarb. Er schüttelte betrübt den Kopf. »Ich kapier's nicht. Ich kapier's einfach nicht. Wie ist das möglich? Nicht ein Foto von diesem Geschöpf. Kein einziges.« Ich seufzte. Dad tat mir Leid. Wir alle drei taten mir Leid. Kein Schneemensch. Und keine Fotos vom Schneemenschen. Es 84
war beinahe so, als hätte es ihn nie gegeben. Als wäre die ganze Geschichte nie passiert. Nicole und ich überließen Dad in der Dunkelkammer seiner Arbeit und trotteten um das Haus herum zur Straße. Plötzlich stöhnte Nicole und packte mich am Arm. »O nein. Sieh mal!« Auf dem unbebauten Grundstück auf der anderen Straßenseite sah ich die Miller-Zwillinge, die auf dem Boden knieten und im Sand gruben. »Die graben die Schneebälle aus!«, keuchte ich. »Diese Mistkäfer!«, knurrte Nicole. »Sie müssen uns heimlich beobachtet haben, als wir die Schneebälle vergraben haben.« »Wir müssen sie aufhalten!«, schrie ich. Wir rannten über die Straße. Ich sah, wie Kyle den Müllbeutel aufriss - und einen der Schneebälle hervorzog. Er holte aus und zielte auf Kara. »Nein —Kyle! Stopp!«, schrie ich. »Wirf ihn nicht! Halt! Wirf ihn nicht, Kyle!«
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Band8 OMNIBUS Nr. 20262 Die Puppe mit dem starren Blick Band 9 OMNIBUS Nr. 20263 Nachts, wenn alles schläft
Atemlos, mit kalten Händen oder eben mit einer Gänsehaut verschlingt man diese Bücher. Die Helden sind ganz normale zehn- bis zwölfjährige Mädchen und Jungen, ziemlich neugierig und mutig, die keine Angst davor haben, nachts auf einen Friedhof zu gehen. R. L. Stine selbst sagt: »Das Lesen eines Gruselbuchs ist wie eine Fahrt mit der Achterbahn: Kinder haben gerne Angst, wenn sie wissen, was sie erwartet; sie wissen, dass sie unterwegs fürchterlich schreien werden, aber sie wissen auch, dass sie am Ende der Fahrt wieder sicher am Boden ankommen werden.«
Band 10 OMNIBUS Nr. 20355 Der Gruselzauberer Band 11 OMNIBUS Nr. 20356 Die unheimliche Kuckucksuhr Band 12 OMNIBUS Nr. 20023 Die Nacht im Turm der Schrecken Band 13 OMNIBUS Nr. 20396 Meister der Mutanten Band 14 OMNIBUS Nr. 20397 Die Geistermaske Band 15 OMNIBUS Nr. 20398 Die unheimliche Kamera
Band1 OMNIBUS Nr. 20149 Der Spiegel des Schreckens
Band 16 OMNIBUS Nr. 20399 ... und der Schneemensch geht um
Band 2 OMNIBUS Nr. 20150 Willkommen im Haus der Toten
Band 17 OMNIBUS Nr. 20417 Der Schrecken, der aus der Tiefe kam
Band 3 OMNIBUS Nr. 20151 Das unheimliche Labor
Band 18 OMNIBUS Nr. 20418 Endstation Gruseln
Band 4 OMNIBUS Nr. 20152 Es wächst und wächst und wächst...
Band 19 OMNIBUS Nr. 20419 Die Rache der Gartenzwerge
Band5 OMNIBUS Nr. 20153 Der Fluch des Mumiengrabs Band6 OMNIBUS N r. 20236 Der Geist von nebenan Band7 OMNIBUS Nr. 20308 Es summt und brummt - und sticht!