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Barbara Michaels
Die Geister leben weiter Roman
Titel der amerikanischen Originalausgabe: THE SEA KING’S DAUGHTER ...
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Barbara Michaels
Die Geister leben weiter Roman
Titel der amerikanischen Originalausgabe: THE SEA KING’S DAUGHTER Deutsche Übersetzung von Evelyne Krause Deutsche Erstveröffentlichung Wilhelm HeyneVerlag München 1975 bv Barbara Michaels 1979 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag, München Germany 1979
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1 Nennen Sie mich nicht Ariadne. So heiße ich nicht. Diesen Namen habe ich vor Jahren abgelegt. Selbst Mutter hat mich von jeher Sandy genannt. Ich muß ungefähr zehn Jahre alt gewesen sein, als ich dahinterkam, daß Sandy eigentlich nicht mein richtiger Name war. Es war der Tag, an dem das Paket eintraf. Ein faszinierendes Paket, beklebt mit einer Menge fremdartiger Briefmarken. Es war an eine Miß Ariadne Frederick adressiert. Ich war enttäuscht. Ich hatte gehofft, daß das Paket für mich bestimmt war. Eine Ariadne war mir unbekannt. Und ich hieß mit Familiennamen Bishop. Sozusagen jedenfalls. Jim Bishop war mein Stiefvater. Mutter hatte meinen leiblichen Vater verlassen, als ich noch ein Baby war. Nicht weil er uns nicht liebte, aber weil er etwas anderes mehr liebte, nämlich seinen Beruf. Mutter kam hinzu, als ich das Paket inspizierte. Sie blieb davor stehen und starrte wie gebannt auf das große, mehrfach verschnürte Etwas. Es vergingen einige Sekunden, bis sie sich wieder gefaßt hatte. 3
»Das Paket ist für dich«, sagte sie schließlich. »Du bist auf den Namen Ariadne getauft, hast du das denn vergessen?« Ich machte das Paket sofort auf. Mutter stand schweigend daneben und sah zu. In einer Schachtel, die mit zusammengeknülltem Zeitungspapier ausgestopft war, ertastete ich nach einigem Suchen einen harten Gegenstand. Ich zog ihn heraus und hielt ihn in die Höhe. Jemand hatte sich einen üblen Scherz mit mir erlaubt. Jedenfalls war das meine Meinung, als ich das Ding sah. Es war eine schäbige Statue, etwa dreißig Zentimeter hoch, aus weißem Stein. Arme und Nase der Figur fehlten. Ihr steinernes langes Gewand fiel in viele steife Falten. Ich wußte, daß die Menschen vor langer Zeit einmal solche Gewänder getragen hatten, und dieses Ding da sah tatsächlich sehr alt aus. Ich wollte die Figur entschlossen fortstellen, als Mutter hastig meine abrupte Geste abbremste. »Vorsicht. Wahrscheinlich ist sie sehr wertvoll.« »Wertvoll? Dieses schäbige, alte . . .« »Sehr alt. Über zweitausend Jahre alt . . .« Ich sah mir die Statue genauer an. Und je länger ich sie betrachtete, desto mehr hatte 4
ich das Gefühl, daß auch sie mich aus ihren kalten, aus Stein gehauenen Augen anstarrte. Mutter wühlte kniend mit beiden Händen im Packpapier herum. Schließlich lachte sie kurz auf. »Nicht mal ein paar Worte, gar nichts«, murmelte sie wie zu sich selbst. »Typisch.« Ich drehte und wendete die Statue in meinen Händen. Auf der Unterseite entdeckte ich ein kleines Schild. Ich zeigte es Mutter. Wieder lachte sie. »Ariadne«, sagte sie schließlich. »Auch das ist typisch für ihn! Woher will er wissen, daß es sich um Ariadne handelt . . .« »Ariadne? Meinst du etwa mich?« Diesmal klang Mutters Lachen natürlich und echt. »Die Schrift ist Griechisch«, erklärte sie. »Das ist eine griechische Statue – altgriechisch, ungefähr fünfhundert vor Christus. Ariadne war eine Prinzessin, die auf einer Insel in der Nähe von Griechenland lebte. Sie war für die damaligen Griechen so etwas wie eine Märchenprinzessin. Sie erzählten Geschichten über sie und stellten sie als Figur dar . . .« Sie schwieg einen Augenblick. »Ich frage mich nur, was ihn an deine Exis5
tenz erinnert haben mag«, fuhr sie dann fort. »Wer?« fragte ich. »Wer hat das denn geschickt?« »Dein Vater. Sandy, tu nicht so, als hättest du ihn vergessen. Ich habe dir doch von ihm erzählt. Na ja, all diese Jahre hindurch hat er sich nicht um uns gekümmert. Und nun plötzlich, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, kommt dieses Geschenk. Ich bin sicher, er weiß nicht mal, wie alt du bist. Aber so ist er eben. Menschen aus der Gegenwart interessieren ihn nicht, das einzige, was ihn interessiert, ist die Zeit vor Christus.« »Er ist Arch . . . wie nennt man das?« »Archäologe. Das bedeutet, er erforscht alles über das klassische Altertum, in Griechenland.« »Und von daher kommt diese Statue?« »Ja. Allem Anschein nach ist er gerade in Athen.« »Mir gefällt das Ding nicht«, sagte ich enttäuscht. »Ich gehe jetzt lieber fußballspielen.« Mutter sah mir nach, lächelte und schüttelte den Kopf. »Atlanta wäre ein passenderer Name für dich gewesen«, murmelte sie.
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Das war meine erste Begegnung mit Ariadne gewesen. Erst Jahre danach, als wir in der Schule die griechische Mythologie durchnahmen, begegnete ich diesem Namen wieder. Keiner in meiner Klasse wußte, daß Ariadne meine Namensvetterin war, und ich hütete mich, darüber zu sprechen. Im stillen sagte ich mir, daß diese Ariadne einen ziemlich miesen Charakter gehabt haben mußte. Sie war eine Verräterin. Sie verriet ihr Land und ihren Vater wegen eines Geliebten, und der ließ sie dann sitzen. Und sie hatte nichts anderes zu tun, als tatenlos herumzusitzen und zu warten, bis irgend so ein Gott dahergelaufen kam und sie zu seiner Geliebten machte. Doch diese alten Geschichten interessierten mich nicht sonderlich. Mein Interesse galt eher dem Sport. In den zwölf Jahren, die der Übersendung jenes Paketes folgten, hörte ich kaum von meinem Vater. Einmal fiel mir zufällig eine Zeitung in die Hände, in der ein Artikel über ihn stand. Der Verfasser des Artikels berichtete von Professor Fredericks vielversprechender wissenschaftlicher Vergangenheit und beschrieb dann ausführlich und wie zum Spott seinen rapiden beruflichen Abstieg. 7
Professor Frederick, so schien es, war auf den wissenschaftlichen Hund gekommen, weil er an den Atlantis-Mythos glaubte. Ich hatte schon von Atlantis gehört. Eine herrliche Insel, eine Art Paradies auf Erden soll es gewesen sein, das durch heftige Erdbeben und Überschwemmungen zerstört und dann in die Tiefen des Meeres versenkt worden war. Die Geschichte war bei Plato zu finden, einem äußerst respektablen Schreiber also, aber die Wissenschaft erklärte, Plato habe die ganze Sache erfunden, obgleich es immer wieder Stimmen gab, die behaupteten, Atlantis habe die frühen Kulturen der Ägypter und der Mayas beeinflußt. Dem Zeitungsbericht entnahm ich auch, daß die Atlantis-Theorie in den letzten Jahren zunehmende Beachtung gefunden hatte. Die Insel konnte jedoch nicht im Atlantischen Ozean gelegen haben, weil anhand von Tiefseeforschungen nachgewiesen worden war, daß der Meeresboden seit Millionen von Jahren überflutet ist. Aber die Insel, die in einer plötzlichen Katastrophe verschwand, konnte ganz woanders gelegen haben. Erst im späten neunzehnten Jahrhundert begannen Wissenschaftler sich mit der Frage zu beschäftigen, ob die Grundlagen für Platos 8
Darstellung nicht in der minoischen Zivilisation zu finden seien. Wir hatten die Minoer kurz in der Schule durchgenommen. Ich wußte also, wer und was sie waren. Sie lebten auf der Insel Kreta im Mittelmeer, zweitausend Jahre vor Christus. Sie bauten riesige Paläste, die bereits ein ausgeklügeltes Kanalisationssystem und beispielsweise Badewannen aufwiesen. Es gab einen König namens Minos, dessen Tochter Ariadne hieß. Die Minoer hatten auch Wissenschaftler hervorgebracht, die bereits mathematische Kenntnisse besessen haben mußten. Der berühmteste von ihnen war Dädalus, der Architekt des bekannten Labyrinths. Was ich bis dahin nicht wußte, war, daß die minoische Zivilisation gegen fünfzehnhundert vor Christus abrupt endete, als eine große Katastrophe die riesigen Paläste und Bauwerke zerstörte. Tausend Jahre lagen zwischen König Minos und Plato; Zeit genug, um die wahren Begebenheiten in Vergessenheit geraten und Legenden entstehen zu lassen. Die geographische Lage der Insel war nirgends aufgezeichnet. Die Geschichtenerzähler verlegten sie hinaus in den Atlantik, der groß genug
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schien, um entsprechenden Raum für derart fantastische Legenden abzugeben. Die Atlantis-Legende war ein beliebtes Thema für Romantiker, nicht mehr – bis Archäologen vor ein paar Jahren auf der Insel Thera, nördlich von Kreta, zu graben begannen. Sie fanden Reste von minoischen Häusern unter dicken Schichten von Vulkanasche begraben. Thera ist die größte Insel einer Inselgruppe mit Namen Santorini. Sämtliche Inseln sind Überbleibsel eines Vulkangebietes. Gegen fünfzehnhundert vor Christus hatte sich der Vulkan selber in die Luft gejagt. Der gesamte Krater war geborsten und im Meer versunken. Das Wenige, was von der Insel übrig blieb, wurde unter Aschenund Bimsregen begraben – wie Pompeji, nur wesentlich tiefer. Plötzlich sah man in der Atlantis-Geschichte mehr als nur eine Legende. Nicht nur, daß Thera mit seiner minoischen Kolonie vernichtet worden war, die Flutwellen und Erdbeben, die durch die riesige Explosion ausgelöst worden waren, hatten das sechzig Meilen entfernte Kreta erreicht und ebenfalls vernichtet. Die Minoer waren Seekaufleute, und alle ihre großen Städte lagen an der Küste. Ich kannte die Wirkung von Wellen 10
und konnte mir sehr gut vorstellen, was zwanzig Meter hohe Brecher den kretischen Palästen angetan haben mußten. Und es gab noch andere Auswirkungen des Ausbruchs Erdbeben, vom Wind herbeigetragene Aschenregen, die den Boden für Jahre unfruchtbar machten, Erdrutsche, die Häfen und Städte verschütteten. Sowohl die Tochterkolonie als auch die Mutterinsel waren bei dieser Naturkatastrophe von nahezu unvorstellbarem Ausmaß untergegangen. Kein Wunder, daß solcherlei Ereignisse in der Erinnerung der Menschen weiterlebten, längst noch, nachdem die tatsächlichen Orte des Geschehens in Vergessenheit geraten waren. Wie schon gesagt, ich war nicht sonderlich wissenschaftlich interessiert, aber der Gedanke an versunkene Paläste faszinierte mich. Dazu kam, daß ich von jeher das Meer geliebt habe. Wenn man in Florida lebt und einen Wassersportnarren von Stiefvater hat, wächst man praktisch im Wasser auf. Jim, mein Stiefvater, und ich verbrachten unsere Sommer damit, nach versunkenen spanischen Galeonen zu suchen. Viele Jahre vergebens übrigens, bis wir eines Sommers tatsächlich etwas fanden. 11
Ich muß dazu sagen, daß es keineswegs an der Tagesordnung ist, eine versunkene spanische Galeone zu finden. Zwar sollen entlang der Küste Floridas eine Menge solcher Schiffswracks liegen, aber sie zu finden ist eine andere Sache. Schiffe, die an den sogenannten Teufelsriffen zerschellten, wurden in alle Richtungen zerstreut. Die Ladung landete oft Hunderte von Metern vom Schiffsrumpf entfernt auf irgendeinem anderen Teil des Meeresbodens. Dazu hat die Zeit das ihrige getan, um die Dinge zu vernichten. Schwere Gegenstände versanken tief in Sand und Schlamm. Das Seewasser zerfraß die Metalle. Unterwasserorganismen zersetzten Holz und überwucherten die übrigen Materialien. Schon innerhalb weniger Jahre war von einem gesunkenen Schiff meist nichts mehr erkennbar, außer klumpigen Gebilden, die von natürlichen Formationen kaum zu unterscheiden sind. Zudem herrscht für die Taucher nicht eitel Friede und Freude unter Wasser. Haie, Baracudas, Muränen und andere gefräßige Gefährten müssen mit Vorsicht genossen werden. Scharfe Korallenkolonien und rostige Blechbüchsen tragen das ihre dazu bei. Ganz zu schweigen von den sogenannten Taucher12
krankheiten – Sauerstoffvergiftungen, Lungenembolien, um nur einige zu nennen. Die Unterwasserschatzsuche ist eine gefährliche Angelegenheit. Große Entdeckungen machen Schlagzeilen, doch die meisten Menschen suchen ihr Leben lang umsonst. Unser Fund war ein reiner Glücksfall. Es war der erste schöne Tag nach einer Schlechtwetterperiode gewesen, den wir sofort zum Tauchen und Schwimmen nutzten. Noch in der vorangegangenen Nacht hatte einer jener für die Gegend typischen Stürme getobt. Nun war der Strand voll von angeschwemmtem Strandgut. Die Luft aber war wie frisch gewaschen. Wir tauchten etwa zwanzig Meter tief. Der Sturm mußte in jener Nacht den Meeresboden aufgewühlt und eine dicke Schicht Sand abgetragen haben, denn wir hatten schon Dutzende von Malen in diesem Gebiet getaucht, ohne etwas zu finden. Nun aber lag da eine Kanone. Ich erkannte sie sofort, obgleich sie vollkommen verwittert war. Dahinter lagen noch drei weitere. Dann erst entdeckte ich es! Es sah aus wie ein grünlich-brauner Felsen, der inmitten verstreuter Münzen lag. Es war kein Felsen, sondern ein Klumpen zusammengeballter Goldmünzen. Ich weiß nicht mehr, 13
wie ich das verdammte Ding an Land brachte. Ich weiß nur noch, daß sich später herausstellte, daß der Klumpen dreißig Pfund wog. Jim benachrichtigte das örtliche Museum. Danach übernahmen staatliche Archäologen die Bergung der Wrackteile. Sie erlaubten uns, an der Bergung mitzuarbeiten. Historiker stellten später fest, daß das gesunkene Schiff eine Galeone der Silberflotte von 1735 war. Die hatte Gold- und Silbermünzen im Wert von einigen Millionen Dollar an Bord gehabt. Dieser Sommer war der schönste und aufregendste meines bisherigen Lebens gewesen. Zusammengerechnet hatte ich mehr Zeit davon im Wasser als an Land verbracht. Und ich genoß aus vollen Zügen das öffentliche Aufsehen, das wir erregten. Lokale Zeitungen berichteten ausführlich über uns, ja selbst die großen Magazine schickten ihre Reporter und Fotografen. Der National Geographic brachte ein Foto von mir, wie ich am Strand hingegossen, halb unter Silbermünzen begraben, neben meinem Fund posierte. Doch der ganze Trubel war für meine Begriffe leider viel zu rasch wieder vergangen. 14
Schon wenige Monate danach waren der Fund und ich wieder in Vergessenheit geraten. Eines Nachmittags im Februar nach jenem märchenhaften Sommer saß ich allein im Studierzimmer der Unibibliothek und grübelte darüber nach, was mir der kommende Sommer wohl bringen würde. Die Aussichten waren nicht gerade rosig. Ich hatte als Studienfach Sport gewählt und würde die Ferien wahrscheinlich bereits als Trainerin in irgendwelchen langweiligen Kinderferienlagern verbringen müssen. Ich hatte mich zwar dem Sport verschrieben, weil ich glaubte, zu nichts anderem fähig zu sein, aber im Grunde war ich nicht der Typ, der dicke kleine Mädchen zur Gymnastik antrieb. Aus derart tristen Gedanken wurde ich durch das robuste öffnen einer Tür geschreckt. Ich sprang auf. Jemand stand im Türrahmen. Es war eher mein Instinkt als mein Verstand, der in diesem Augenblick reagierte. Ich erkannte den Mann, der jetzt unaufgefordert den Raum betrat. Es war mein Vater.
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2 Ich war wie vom Donner gerührt und muß dementsprechend ausgesehen haben. Er hingegen machte einen durchaus selbstsicheren Eindruck. Er sah gut aus, war groß, hatte volles, braunes Haar mit kaum erkennbaren Ansätzen von Grau. Das Gesicht wirkte jugendlich. Die Augen jedoch blickten mich seltsam frostig an. Er musterte mich mit gelassenem Interesse. Keine Spur von Lächeln. Er hatte ein rechteckiges Kinn. Es war mein Kinn. Die Form meines Kinns hatte mir nie besonders gefallen. Als er mich so musterte, kam ich mir vor wie ein Pferd, das von einem etwaigen Käufer begutachtet wurde. Schließlich öffnete er den Mund. »Ariadne. Ja, ich hätte dich auch ohne das Foto im National Geographic erkannt.« Er kam auf mich zu. Noch immer sprachlos, wich ich zurück. Die Tür war hinter ihm ins Schloß gefallen. Er setzte sich und sah sich um. Sein Blick verweilte kurz auf dem Foto auf meinem Arbeitstisch. Es war mein Lieblingsbild von Mutter und Jim, meinem Stiefvater. Sie standen vor dem Haus, Mutters Haare weh16
ten im Wind, Jim hatte seinen Arm um sie gelegt, und beide lachten. Jim sah ganz aus wie der Pfundskerl, der er auch ist, glatzköpfig, stämmig und gutmütig. Etwas an dem gleichgültigen Gesichtsausdruck meines Vaters ärgerte mich. »Mutter geht es gut«, sagte ich trotzig. »Das habe ich erwartet.« »So, das hast du erwartet?« Ich setzte mich ebenfalls und starrte ihn an. »Jedenfalls ist es dir nicht in den Sinn gekommen, einmal danach zu fragen.« »Warum sollte ich?« Wenn es aggressiv oder patzig geklungen hätte, hätte ich eine ebensolche Antwort gehabt. Es klang aber nur ehrlich erstaunt. »Was dich anbetrifft, so war es von Anfang an klar, daß du kein Interesse an einer wissenschaftlichen Laufbahn entwickeln würdest. Wärst du ein Junge gewesen, hätte ich meinen Einfluß ausgeübt.« »Männlicher Chauvinismus«, sagte ich. »Wie bitte?« Seine breite Stirn zog sich in Falten. »Nein«, sagte er dann, und die Stirn glättete sich. »Das hat nichts mit dem Geschlecht zu tun, sondern hängt mit dem Mangel an intellektueller Kapazität zusam-
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men, den du schon früh genug bewiesen hast.« Es war schon komisch. Hier saß völlig gelassen ein fremder Mann seiner Tochter gegenüber, die er fast zwanzig Jahre lang nicht gesehen hatte – einer Tochter, die er abgelehnt hatte, weil sie es im frühen Alter von zwei Jahren versäumt hatte, sich intellektuell zu gebärden. Es war so absurd, daß ich mich nicht einmal darüber aufregen konnte. »Welche Tests hast du angewandt«, fragte ich, »um zu prüfen, ob sich ein Kleinkind für klassische Archäologie eignet?« Er winkte ab. »Das ist unwichtig, Ariadne. Wichtig ist, daß du mir jetzt trotzdem nützlich sein kannst. Auf dem Gebiet der Unterwasserarchäologie. Nicht daß ich damals Gründe gehabt hätte, anzunehmen, daß du Fähigkeiten in dieser Richtung entwickeln würdest . . .« »Du hättest mich eben versuchsweise in einen Teich schmeißen sollen«, sagte ich. Mutter hatte einmal behauptet, daß Vater der einzige Mann war, den sie kannte, der nicht den geringsten Sinn für Humor hatte. Meine Bemerkung eben war zwar nicht überwältigend lustig gewesen, aber sie hätte 18
zumindest ein kleines Lächeln verdient gehabt. Meines Vaters lange, dünne Lippen jedoch verzogen sich um keinen Millimeter. »Das hätte die Sache auch nicht geklärt«, sagte er statt dessen todernst. »Wie ich schon sagte, das Gebiet der Unterwasserarchäologie hat sich in den letzten Jahren ent -« »Schon gut, schon gut«, unterbrach ich ihn. »Ich habe kapiert. Sieh mal – hm . . .« »Nenne mich am besten Frederick. Eine intimere Anrede wäre in Anbetracht unserer Beziehung nicht nur unangebracht, sondern würde auch für das, was ich dir vorzuschlagen habe, lediglich einen Störfaktor bedeuten.« »Frederick«, probierte ich. »Fred . . .?« »Ich verabscheue Namensverstümmelungen.« »Ich nicht. Keiner nennt mich Ariadne. Ich hasse diesen Namen. Wenn ich dich Frederick nenne, wirst du mich Sandy nennen müssen.« Er dachte nach. Dann nickte er. »Obwohl«, fügte ich hinzu, »ich keinen Grund sehe, weshalb wir uns überhaupt anreden sollten. Ich denke nicht -«
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»Du denkst allerdings nicht«, unterbrach er mich. »Wenn du dächtest, hättest du längst begriffen, worauf ich hinaus will.« »Oh, so dumm bin ich auch wieder nicht. Du hast den Artikel im National Geographic gelesen – du hast dir daraus zusammengereimt, daß deine so dumme Tochter vielleicht doch ein paar brauchbare Talente haben könnte. Und die willst du jetzt ausnützen.« »Ich will dir einen Job anbieten.« Es war das seltsamste Gespräch, das ich je geführt hatte. Ohne Umwege oder diplomatische Rücksichten ging dieser Mensch, der mein Vater war, direkt auf sein Ziel los. »Ich hätte das gesamte notwendige Personal anheuern können, wenn diese Idioten vom Archäologischen Amt mir nicht die Erlaubnis zum Tauchen verweigert hätten . . .« »Moment mal«, rief ich. »Du meinst . . . Sag das noch einmal. Wo ist deine Ausgrabungsstelle?« »Auf der Insel Thera natürlich«, sagte er, als ob ich das längst hätte wissen müssen. »Sie haben mir ein Gebiet zugeteilt, wo ihrer Meinung nach nichts Besonderes zu finden ist . . .« 20
Er erging sich in Beschimpfungen über das gesamte griechische Amt für Archäologie, während ich versuchte, die Dinge zusammenzufügen. Aus dem Zeitungsartikel von damals wußte ich, daß Thera zu den vulkanischen Santorini-Inseln gehörte, die sich im fünfzehnten Jahrhundert vor Christus selber in die Luft gejagt hatten. Bis dato hatten mehrere archäologische Expeditionen auf der Hauptinsel Thera stattgefunden. Ich schloß aus Fredericks Worten, daß seine Grabungskonzession nicht für diese Fundstellen galt, sondern für irgendwelche abseitsgelegenen Gebiete, die man ihm zugeteilt hatte, in der stillen Hoffnung, ihn los zu sein. Dann erinnerte ich mich an etwas, was er vorher gesagt hatte. »Was heißt, du hast keine Taucherlaubnis?« »Der Satz ist doch völlig klar.« »Jaa«, machte ich. »Mit anderen Worten, du hast zwar die Erlaubnis zum Graben, aber nicht die zum Tauchen, ist das richtig? Du kannst keine berufsmäßigen Taucher anheuern, weil keiner dumm genug wäre, seinen Ruf und seine Karriere aufs Spiel zu setzen, indem er gesetzwidrig handelt. Und da
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hast du schlauerweise an mich gedacht. Vielen Dank.« »Du hast weder eine Karriere noch einen guten Ruf zu verlieren«, behauptete Frederick. »Wie taktvoll von dir. Was veranlaßt dich, so entschlossen deinen Ruf zu riskieren? Warum begnügst du dich nicht mit den Grabungen, wie es sich für einen anständigen Archäologen gehört? Falls du dir einbilden solltest, daß ich in den Schlund des ehemaligen Kraters hinabtauche, hast du dich gewaltig geirrt.« »So etwas würde mir nicht im Traum einfallen. Der Wasserdruck in solchen Tiefen hätte längst jegliche Überreste zermalmt. Wenn du wirklich so schlau wärst wie du tust, müßtest du wissen, daß die äußeren Teile der Insel ebenfalls von Erdbeben erschüttert worden sind. Teile der Küstenlinie sind damals untergegangen. Einheimische Taucher haben Ruinen unter Wasser gefunden. Ich möchte, daß du ein ganz bestimmtes Gebiet absuchst. Die äußeren Umstände für eine Zusammenarbeit sind geradezu ideal. Sogar unsere Namen sind verschieden. Niemand wird auf den Gedanken kommen, daß du irgendeinen Grund hast, das -« 22
»Gesetz zu brechen«, kam ich ihm zuvor. »Würden sie nicht Verdacht schöpfen, falls ich dort tauche?« »Das Dorf liegt in einiger Entfernung von der Bucht. Ansonsten werden wir eben alle möglichen Vorkehrungen treffen, um die Sache geheimzuhalten.« »Das ist praktisch undurchführbar. Ich brauche eine Taucherausrüstung. Kompressoren. Luft. Wie kann man Flaschen füllen, ohne daß ein Schlaumeier dahinterkommt, daß sie zum Tauchen sind? Dein Plan ist verrückt.« Dieser Wahnsinnsmensch von meinem Vater sah sich gelassen im Zimmer um. »Ich hätte gern eine Tasse Kaffee. Die Einzelheiten besprechen wir später, an Ort und Stelle.« Ich goß ihm eine Tasse Nescafe auf. Ich tat es, um mich von ihm abzulenken, aber im Grunde wußte ich, daß es schon geschehen war. Ich wußte, so sehr ich mich auch noch dagegen sträubte, daß ich sein Angebot annehmen würde. Es gab für mich nichts Schöneres als das Tauchen. Ich hatte zur Genüge in unseren heimischen Gewässern getaucht. Der Gedanke an die fremdartige Unterwasserwelt des Mittelmeeres faszinierte mich. 23
Geld bedeutete offensichtlich kein Problem für das Unternehmen meines Vaters. Bestimmt hatte er irgend so einen verrückten Förderverein gefunden, oder einen Millionär, der einen Narren am Atlantis-Mythos gefressen hatte. Frederick würde also keine Mühe haben, mir einen Europatrip zu bezahlen und obendrein noch meinen Lebensunterhalt für den Sommer zu bestreiten. Die Alternative zu dem Ferienlager, über das ich eben noch gebrütet hatte, war absolut bezwingend. Ich hatte nicht die Absicht, meinen Eltern, meinen wirklichen Eltern, etwas von Frederick zu erzählen. Mutter würde sich zu Tode sorgen, und ich würde es ihr nicht einmal verdenken. Niemand auf der Welt hatte mehr Grund, diesem Mann zu mißtrauen, als sie. Zum erstenmal in meinem Leben versuchte ich mir die Ehe zwischen den beiden vorzustellen. Ich schauderte. Kalt – er mußte kalt gewesen sein wie ein Eisblock. Ich hatte also keine andere Möglichkeit, als mir eine überzeugende Ausrede für meine Sommeraktivitäten einfallen zu lassen. Mutter und Jim hatten absolutes Vertrauen zu mir. Ich haßte es, dieses Vertrauensverhält-
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nis ausnützen zu müssen, aber meine Entscheidung war bereits unwiderruflich. Ich erklärte, daß ich mit meiner Freundin Betsy und ein paar Jungen aus dem Semester einen Europatrip unternehmen würde. Betsy versprach mir, ab und zu unleserlich bekritzelte Postkarten mit meiner Unterschrift an meine Eltern zu schicken. Mutter und Jim – den ich übrigens Dad nenne – freuten sich über meine Pläne, die Reise mit den Freunden gemeinsam zu machen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen ihnen gegenüber, aber ich wollte einmal frei, unabhängig und selbständig sein – wenigstens für eine Weile. Und das konnte ich bei Frederick. Er scherte sich herzlich wenig um meine Person, und ich kümmerte mich wenig um ihn. Ich wußte natürlich, daß ich es nicht lange in der arktischen Kälte seiner emotionalen Sphäre aushalten würde, aber nach zwanzig Jahren wohlbehüteter und herzlicher Nestwärme lockte mich die unbekannte Welt da draußen. Außerdem war Frederick ein Mann – immerhin mein Vater , über den und dessen Leben ich mehr erfahren wollte. Hinzu kam noch die Verlockung nach etwaigen versunkenen Hallen der Seekönige . . . 25
Alles in allem also keine schlechten Gründe, das Unternehmen zu wagen, zudem noch durch nichts vorauszusehen war, was sich in Wirklichkeit abspielen sollte. Ich ließ mir Zeit auf meiner Reise nach Thera. Wahrscheinlich marschierte Frederick auf seinem Vulkan bereits auf und ab, sah pausenlos auf die Uhr und fluchte in mehreren Sprachen. Doch ich ließ mir meinen ersten Abstecher nach Europa nicht verderben. Außerdem hatte ich das Gefühl, daß ich Frederick gleich von Anfang an in seine Schranken weisen mußte. Wenn ich ihm nicht entschlossen entgegentrat, würde er mit mir machen, was er wollte. In Paris verabschiedete ich mich von Betsy, Joe und den anderen und fuhr mit einer anderen Gruppe von Studenten, die wir dort getroffen hatten, weiter nach Athen. Ich besuchte die plaka und lernte Sirtaki tanzen. An einem Nachmittag besuchten wir die Akropolis. Ich fand das Ganze mehr verfallen als imponierend. Ich verstand nicht, warum sie nicht die Löcher ausstopften und ein paar neue Säulen aufstellten. Nun, ich sage das nicht, um kundzutun, was für ein Kulturbanause ich bin, sondern einfach, weil es mir an Verständnis für die gro26
ße griechische Kultur fehlte. Der Anblick der Akropolis ließ mich völlig kalt, obwohl es immerhin ein Ort ist, der die Menschheit zum Nachdenken anregt. Unsere große Vergangenheit . . . der Geburtsort der Demokratie . . . die Steine, über die Sokrates wandelte . . . So wenig Verständnis ich für das alte Athen aufbrachte, so erstaunlich ist, was mir auf Kreta passierte. Ich fuhr von Athen aus mit dem Schiff zur Insel. Es waren noch eine Menge anderer Studenten an Bord. Wir sangen und diskutierten bis tief in die Nacht. Da es in den Kabinen heiß und stickig war, entschloß ich mich, an Deck zu bleiben, wo ich schließlich auch einschlief. Als ich aufwachte, schien mir die Sonne voll ins Gesicht. Mir war schlecht, und ich fühlte mich wie gerädert. Es lag nicht an dem harten Deck und auch nicht daran, daß ich nur drei Stunden geschlafen hatte. Es lag an einem Traum, den ich gehabt hatte. Es war ein Alptraum gewesen. Ich versuchte, mich an Einzelheiten zu erinnern, doch je mehr ich mich anstrengte, desto mehr entschlüpfte mir die Erinnerung. Ich wußte vage, daß es etwas mit Kreta und der alten Legende zu 27
tun gehabt hatte -dieser Legende von Theseus und dem Minotaurus. Der Minotaurus war ein gutes Objekt für Alpträume. Halb Mensch, halb Stier, war er das Ergebnis einer kurzen Liaison zwischen der Königin von Kreta und – na ja, dem Stier gewesen. Die arme Königin hatte eigentlich gar keine Wahl, denn Poseidon, der Gott des Meeres, hatte es so arrangiert, daß sie sich in den Stier verliebte, nachdem ihr Ehemann, der König, es versäumt hatte, ihn dem Gott zu opfern. Die Gehirne der griechischen Götter strotzten geradezu vor solcherlei neckischen Einfällen. Die Götter waren im Grunde so niederträchtig wie selbstherrlich und benahmen sich nicht halb so anständig wie die armen Menschen, die sie andauernd traktierten. Nun, König Mines konnte den Minotaurus nicht vernichten, weil er heilig war. Deshalb beauftragte er seinen brillanten Architekten Dädalus, als eine Art Unterkunft für das Monster ein Labyrinth zu konstruieren. Alle neun Jahre wurde der Minotaurus mit Geiseln aus der eroberten Stadt Athen gefüttert – jeweils sieben Jünglinge und sieben Jungfrauen. Einmal, als die Opfergabe wieder fällig war, stellte sich der Prinz von Athen, 28
Theseus, freiwillig zur Verfügung, in der Hoffnung, das Monster zu besiegen und seine Freunde zu retten. Es wäre ihm sicher nicht gelungen, wenn nicht Prinzessin Ariadne, die Tochter des Königs, sich in ihn verliebt hätte. Sie ließ ihm das bewußte Knäuel zukommen, das ihm als Orientierungshilfe auf seinem Weg durch das Labyrinth diente. Ohne diesen aufwickelbaren Leitfaden hätte er nie wieder aus dem Labyrinth herausgefunden, auch nicht, wenn es ihm gelungen wäre, das Monster zu töten – was er natürlich schaffte, da er ja ein Held war. Er floh von Kreta und nahm Ariadne mit, aber bereits unterwegs ließ er sie auf einer Insel sitzen, auf der sie wegen Proviants zwischengelandet waren. Zumindest lautet so die eine Version der Legende; die andere besagt, daß das Schiff mit Theseus von einem Sturm fortgetrieben wurde, während Ariadne an Land weilte. Wovon ich geträumt hatte, war der Teil, in dem Theseus dem Minotaurus begegnete. Wie ich so dalag und nachdachte, kehrte der Traum Stück für Stück in meine Erinnerung zurück. Ich hatte Wände gesehen, rauhe aus Fels gehauene Wände, von denen Feuchtigkeit tropfte und die mit einer faulig-braunen 29
Schicht überzogen waren. Es hatte ein fürchterlicher Gestank geherrscht – der Gestank von organischer Verwesung. Die Luft war zum Schneiden, nie war ein reinigender Wind durch die Gänge gefegt. Ich befand mich im Innersten des Labyrinths, dem Kern der Behausung des Monsters. Von den äußeren Gängen her pulsierte ein schwaches Licht, als ob etwas atmete. Im Mittelpunkt herrschte absolute Finsternis. Dennoch spürte ich eine Anwesenheit. Ich konnte es sehen. Es lauerte. Auch der Mann wußte es. Er hatte Angst. Schweiß strömte über sein Gesicht, doch sein halbnackter Körper schüttelte sich, wie vor Kälteschauern. Er trug einen seltsamen kurzen Rock, den über den Hüften ein breiter, metallener Gürtel zusammenhielt. Um seinen Hals hing eine Kette mit einem Amulett. Etwas stand auf dem Boden neben seinen Füßen. Woher wußte ich, daß es eine Schachtel war? Eine Lehmschachtel, in dem das Knäuel liegen mußte. Es ist unerklärlich, aber ich wußte es einfach. Das Schlimmste an diesem Traum war, daß auch ich in dieser stinkenden Höhle weilte. Unsichtbar, konturenlos, und ich sah zu, was
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da geschah – hin und her gerüttelt zwischen Furcht und Hoffnung. Etwas in dem schwarzen Loch bewegte sich. Es gab ein Geräusch wie das Aneinanderreihen von blanken Knochen. Dann trat es heraus ans Zwielicht. Halb Mensch, halb Stier. Beides war bei weitem nicht so klar getrennt, wie das sonst auf Illustrationen immer dargestellt wurde. Diese Kreatur hier war auf unbeschreibliche Weise verstümmelt. Nur das Gesicht trug rein menschliche Züge. Es war auf furchterregende Art und Weise verzerrt, offensichtlich war es sich der entsetzlichen Verstümmelung seines Körpers bewußt. Es mußte den gleichen ekelerregenden Abscheu vor sich selbst empfinden wie seine Opfer. Es kannte nur ein Gefühl: Haß. Haß gegen alles, gegen sich selbst, gegen die Menschheit, gegen die Götter. Ein Blick in dieses gespenstische Antlitz genügte, um mir die Sinne zu rauben. Als ich wieder zu mir kam, waren die beiden, Mensch und Monster, in einen Kampf auf Leben und Tod verflochten. Ich wußte, einer von ihnen würde sterben müssen, und wer immer es war, für mich würde es einen schmerzhaften Verlust bedeuten, denn die31
ses monströse Geschöpf war ein Teil meines eigenen Fleisches und Blutes. Während die beiden sich auf den splitternden Knochen wälzten, erwachte ich aus meinem Traum. Jetzt hatte ich alles ganz deutlich wieder in der Erinnerung. Es war mir, als ob ich den Alptraum ein zweites Mal durchlebte. Da umschlangen mich zwei Arme und drehten mich zur Seite. Ich starrte in zwei verschlafene braune Augen und in ein bärtiges Gesicht. Es grinste breit. »Guten Morgen«, sagte – ich weiß nicht mehr, wie er hieß. Es war ein Österreicher. »Hallo«, sagte ich und befreite mich aus seiner Umarmung. Ich stand auf und schleppte mich an die Schiffsreling. Die Aussicht ließ mich meinen verkorksten Magen vergessen. Die Luft war klar, das Wasser strahlend, durchsichtig blau. Kleine weiße Schaumkronen tanzten um uns herum. Das Schiff glitt an der Küste von Kreta entlang. Ich konnte den Hafen Herakleion sehen. Die ganze Insel machte einen freundlichen, einladenden Eindruck, die Küstenlinie war bewachsen mit leuchtend grüner Vegetation, dahinter, als Kontrast, erhoben sich braun und kahl die Berge.
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Wir liefen in den Hafen ein. »Wo gehen wir jetzt hin?« fragte Hans oder Fritz. »Zuerst ein Bier trinken, hm? Danach ins Museum, dann nach Knossos, dann nach Haggia Triade, dann -« »Erst einen Kaffee«, protestierte ich. Unser erster Gang an Land führte uns tatsächlich ins Museum. Und in dem Augenblick, als ich durch die Eingangstür trat, geschah das Seltsame. Ich habe seither oft versucht, es zu erklären, aber das einzige, was ich sicher sagen kann, ist, daß ich die in den Schaukästen ausgestellten Dingewiedererkannte. Nicht alle. Aber einige ... Es war wie damals, als ich unter einem Busch im Garten den Teil eines alten Gegenstandes fand und ihn als den Rest einer Puppe erkannte, mit der ich als Kind gespielt hatte. Ich erinnere mich genau, was mir den ersten Stich des Erkennens – es war tatsächlich wie ein physischer Schmerz -versetzte. Der Gegenstand war als Brettspiel beschriftet. Es war ein entzückendes Ding mit Einlegearbeiten aus Lapislazuli und Kristallen, Gold und Elfenbein. Der Rand war mit Gänseblümchenornamenten, Perlmuttstückchen und anderen Miniaturen verziert. Das Brett hatte Sprünge und war angeschlagen, aber man 33
brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie es ausgesehen haben mochte, als irgendein stolzer Künstler es dem König einst überreichte. Nun gut, man kann sich vieles vorstellen, das Seltsame aber war, daß ich das Spiel kannte. Ich wußte auch, wie es gespielt wurde. Die Figuren wurden vom rechten Rand des Brettes, je nach dem Wurf eines Würfels, über das Zentrum bis zum linken Brettrand gezogen, wo sie sich in einer leiterartigen Formation geschlossen einfinden mußten. Ich konnte den Würfel geradezu zwischen meinen Handflächen spüren, er war an den Kanten angeschlagen, weil ich ihn einmal gegen die Wand geschleudert hatte, als ich im Begriff war zu verlieren. Der Museumsraum um mich herum tauchte aus dem Nichts wieder auf. Hans-Fritz hielt mich am Arm fest. »Fall nicht in den Schaukasten«, ermahnte er mich. Offensichtlich war ihm an meinem Verhalten nichts Sonderbares aufgefallen. Das erleichterte mich. »Oh, Hans«, rief ich, »laß uns woanders hingehen.« »Nein, nein, das Museum ist hochinteressant. Komm, sieh dir die Dinge hier an.«
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Ich glaube nicht, daß ich es durch das Museum geschafft hätte, wenn Hans nicht gewesen wäre. Er kannte sich aus. Die minoische Zivilisation schien sein Fachgebiet zu sein. Ich nickte nur zu seinen Erklärungen und klammerte mich im übrigen an seine Hand, wie ein Kind, das Angst hat, seine Mutter zu verlieren. Er war der Anker, der mich in der Gegenwart festhielt. Einige der anderen Gegenstände trafen mich mit fast der gleichen Gewalt wie das Brettspiel. Eine goldene Kette, ein Spiegel – aber was mich am meisten aus der Fassung brachte, war die Schachtel. Eine kleine, rechteckige Lehmschachtel mit Löchern im Deckel, der ideale Behälter für ein Wollknäuel. Es gibt ähnliche Kästchen oder Körbchen in modernen Haushalten. Aus dem Loch im Deckel kann man beliebig das Garn oder die Wolle ziehen, ohne daß sich dabei das Knäuel selbständig macht und wegrollt. Eine solche Vorrichtung wäre für Ariadne und Theseus ebenso praktisch wie notwendig gewesen. Eine Schachtel für das Knäuel, durch dessen Aufrollen er sich im Labyrinth orientieren konnte. Diese mysteriöse Schachtel im Herakleion-Museum war von einem Wissenschaftler willkürlich be35
nannt worden. Man hatte ihr keine besondere Funktion zugeschrieben. Ich aber wußte, welchen Zweck sie erfüllt hatte. Ich weiß nicht mehr, was wir sonst noch alles gesehen haben. Nach außen hin muß ich mich völlig normal benommen haben, denn Hans schien nicht das geringste zu merken. Wir verließen das Museum und machten uns auf den Weg nach Knossos. Die meisten archäologischen Stätten sind ziemlich langweilig, weil außer niedrigen Grundmauern, zerschlagenen braunen Ziegeln und grauen Steinen nichts zu sehen ist. Knossos hingegen wurde von seinem Ausgräber, Sir Arthur Evans, nachgebaut, und obgleich puristische Historiker ihm vorhalten, er habe dabei mehr Fantasie als Wissenschaft walten lassen, ist das Ergebnis für jedermann so anschaulich, daß man ihn nicht verurteilen kann. Der Palast hat wahrhaft labyrinthische Ausmaße und ist so vielgestaltig wie ein Irrgarten. Die Räume, überdacht und mit Säulen versehen, sind vollständig, die große Treppe ist wirklich groß, und die Badewanne der Königin steht an ihrem ursprünglichen Platz. Und die Farben! Die eigenartigen kretischen Säulen, oben breiter als unten, sind schwarz und rot bemalt, die riesigen Vor36
ratskrüge kontrastieren in verblichenem Terrakotta, die Wände bedecken sanfte Gelbund Blautöne. Die Fresken an den Wänden sind saubere, moderne Kopien der Originale, die jetzt im Museum aufbewahrt werden. Sie bezeugen, wie hell, freundlich und heiter dieser Ort zu seiner Blütezeit gewesen sein muß. Fliegende blaue Delphine und goldene Seevögel, vorüberziehende junge Männer mit schwarzen, bis auf die Schultern fallenden Locken und breiten, engsitzenden Gürteln um die Hüften, frivole kretische Damen in Gewändern, die der letzte Modeschrei aus Paris sein könnten. Weite fließende Röcke mit Oberteilen, die ihre Brüste entblößen. Das berühmteste Fresko ist zweifellos das von den Stierspringern. Zwei der Athleten auf der Abbildung sind Mädchen. Ich betrachtete sie und überlegte, ob ich ein paar Postkarten von dieser Wandmalerei kaufen sollte. Gleichzeitig hatte ich das Gefühl einer Art selbstverständlicher Familiarität mit der Darstellung. Es war mir, als ob zweierlei Menschen in meinem Körper wohnten. Der eine, ich, Sandy, hatte sich voll unter Kontrolle. Sie lief neben Hans durch die Hallen wie ein ganz normaler Tourist. Aber tief darunter, in den dunklen Tie37
fen meines Bewußtseins, erwachte jemand wie aus einem langen Schlaf. Dieses Wesen war namenlos, aber es kannte diesen Ort, es hatte das Brettspiel und die Schachtel wiedererkannt. ›Wir‹ standen im großen zentralen Hof, und ›sie‹ erinnerte sich an die Spiele. Der Hof war angefüllt mit Touristen. Sie gruppierten sich wie Schafe um ihre Fremdenführer. Die jüngeren Touristen schienen vornehmlich Studenten zu sein. Mit ihren langen Haaren, den kurzen Hosen und nackten Beinen und Oberkörpern hätten sie geradewegs den Fresken entstiegen sein können, schmalhüftige, braungebrannte junge Männer. ›Ich‹ sah die Touristen und den von der Sonne ausgemergelten plattgetretenen Erdboden. ›Sie‹ sah die große Fläche des gepflasterten Hofes, Reihen von Zuschauern, die in atemloser Stille auf den Nacken des großen, braunen Stieres starrten und dann auf den Mann, der in einiger Entfernung gespannt vor ihm stand, mit erhobenen Händen, bereit, die Hörner des Stieres zu packen. Der Körper des Mannes war schlank und braungebrannt, und sein Gesicht war das Gesicht des Mannes aus meinem Traum.
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3 Als ich am nächsten Morgen erwachte, wußte ich zunächst nicht, wo ich mich befand. Die Ereignisse des vergangenen Tages waren verschwommen und unwirklich, als ob sie der Figur aus einem Roman, den ich gerade las, geschehen wären. Die Halluzination in dem großen Hof, als ich ein wahrhaftes Stierkampfspiel zu sehen glaubte, bildete meine letzte zusammenhängende Erinnerung. Danach löste sich der Tag in eine Reihe einzelner Bruchstücke auf. Ich erklärte mir diese Ereignisse in der Tat als Halluzinationen. Halluzinationen, hervorgerufen durch einen Sonnenstich. Zu viel Sonne, die ungewohnte Nahrung, wenig Schlaf, Unwohlsein – Halluzinationen. Es schien mir plausibel. Beruhigt sah ich mich nun in meinem kleinen Hotelzimmer um. Das Fenster stand weit offen, an den gekalkten Wänden saßen so viele Fliegen, daß ihr Summen wie das Rauschen eines Staubsaugers klang. Ich hatte ein paar rote Stiche, sonst jedoch war ich in Ordnung und fühlte mich wohl. Ich ging hinunter und frühstückte. Anschließend machte ich mich auf den Weg zum Ha39
fen, um mich nach einem Schiff nach Thera zu erkundigen. Ich erfuhr, daß es noch an diesem Nachmittag eine Überfahrt gab. Von der Luft aus besehen, sieht die Santorini-Inselgruppe aus wie ein riesiges angebissenes Zuckerplätzchen, das zerkrümelt und in einen noch riesigeren blauen Teller gefallen ist. Thera ist das größte, halbmondförmige Stück. Kleinere Inseln liegen verstreut um Thera herum und deuten den Umfang des ehemaligen Kraterbereiches an. Im Zentrum des Archipels befinden sich zwei kleine schwarze Punkte, die knapp außerhalb der Wasseroberfläche liegen. Es sind die neuen Vulkanherde, die wie Phönixe aus der Tiefe emporgestiegen sind. Einer davon, der Vulkan Nea Kaimeni, ist noch immer aktiv. Unser Schiff näherte sich den roten, weißen und schwarzen Felsen von Thera. Sie ragen als Steilküste etwa dreihundert Meter aus dem Meer. Ihre geologischen Schichtungen sind klar erkennbar, so deutlich voneinander getrennt wie die Füllungen einer Torte – die schwarze Lava, der rosarote Bims und schließlich die dicke Schicht weißer Asche, die während des Ausbruchs von vierzehnhundertfünfzig vor Christus niedergegangen 40
war. Die Klippen leuchteten im Sonnenlicht. Platos Beschreibung der königlichen Stadt Atlantis kam mir in den Sinn; Atlantis, das auf roten, schwarzen und weißen Steinen erbaut gewesen war. Oberhalb der Klippen klebten wie ein gestärktes Spitzengewebe die zuckerweißen Häuser der größten Stadt der Insel: Phira. Die Stadt sah mit ihren niedrigen Kuppeln und runden Portalen orientalisch aus. Weitere Gebäude, Lagerhäuser, Docks und Geschäfte drängten sich am Fuß der Klippen. Den unteren und den oberen Teil der Stadt verband ein steiler Zickzackpfad. Sobald das Boot angelegt hatte, traf ich Vorkehrungen, meine Habseligkeiten in das Hotel der Stadt bringen zu lassen. Dann überlegte ich, wie ich selbst da hinauf gelangen sollte. Gewöhnlich reiten die Leute auf Eseln hinauf, der Weg ist zu steil für Vehikel mit Rädern, und die schwarzen Lavasteine sind glatt. Die Esel sahen aus, als seien sie in schlechterer Verfassung als ich, deshalb entschied ich mich, zu Fuß zu gehen. Es war kein Spaziergang – es war eine Klettertour, und bis ich oben angelangt war, bedauerte ich, nicht doch einen Esel genom41
men zu haben. Blind vor Schweiß und keuchend wie eine klapprige Mähre, sank ich in den Schatten eines alten Feigenbaumes, wischte mein nasses Gesicht ab und zwinkerte mir den Schweiß aus den Augen. Als ich wieder sehen konnte, erblickte ich als erstes – meinen Vater. Er saß an einem Tisch des Straßencafes und starrte mir geradewegs ins Gesicht, mit einem Ausdruck äußerster Mißbilligung. Ich beachtete ihn nicht, sondern war nur an dem großen Glas auf dem Tisch vor ihm interessiert. Meine Kehle war völlig ausgetrocknet. Ich ging auf ihn zu. Dann fiel mir ein, daß es vielleicht besser sei, abzuwarten, bis ich von ihm angesprochen wurde – ich änderte also meine Richtung und ging auf einen der anderen Tische zu. Zwei waren besetzt, am dritten saß ein einzelner Mann. Er sah mich kommen und zog einen Stuhl zurecht. Ich ließ mich hineinfallen. Der Mann grinste und schob mir sein Glas Wasser zu. Ich goß es in mich hinein, strich mir das feuchte Haar aus den Augen und sah ihn an. Er war es wert, angesehen zu werden. Braungebrannt wie die minoischen Athleten auf den Fresken, mit braunen, von der Sonne gesträhnten Haaren. Er hatte ein schma42
les Gesicht und ein freundliches Lächeln. Die geraden, an der Nasenwurzel buschigen Augenbrauen verliehen ihm ein permanent überraschtes Aussehen. Sein khakifarbenes Arbeitshemd stand über der Brust offen. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt. Seine Arme und Hände zeigten Spuren von schwerer Arbeit, Kratzer, Narben und Aufschürfungen. »Gesundheitsfanatikerin?« erkundigte er sich, »Tierschutzverein oder so was?« Er hatte eine tiefe Stimme und sprach mit westamerikanischem Akzent. Ich ließ mir seine Fragen durch den Kopf gehen. »Gesundheitsfanatikerin, denke ich«, antwortete ich schließlich. »Von unten sah es nicht so steil aus.« »Man lernt nie aus.« Er winkte dem Kellner und bestellte etwas, ohne mich zu fragen. Ich hatte nichts dagegen. Es war eine frische und erstaunlich kühle Limonade. »Sie sprechen Griechisch?« fragte ich. »Nicht sehr gut. Jedenfalls nicht das moderne Griechisch.« »Sie meinen, Sie sprechen Altgriechisch?« Ein Schauer durchlief mich. »Was sind Sie, Archäologe oder so was?«
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»So was. Wenn Sie meinen Boß fragen, wird er Ihnen sagen, daß ich noch weit davon entfernt bin, ein Archäologe zu sein.« Ich trank meine Limonade und versuchte nachzudenken. Frederick hatte etwas von einer zweiten Expedition erwähnt, die ebenfalls auf Thera arbeitete. Es sähe mir wieder mal ähnlich, ausgerechnet an diese Leute zu geraten, noch bevor ich Gelegenheit hatte, mit Frederick über die Rolle zu sprechen, die ich hier zu spielen hatte. Mein Gegenüber musterte mich ebenso aufmerksam, wie ich ihn gemustert hatte. Was er sah, schien ihm nicht zu mißfallen. »Ich heiße Jim Sanchez«, stellte er sich vor. »Ach, wirklich? Mein Dad heißt auch Jim.« Das war nicht einmal witzig gemeint, es war mir nur so herausgerutscht. »Welch ein Zufall.« »Ja. Ich vermute, daß es ungefähr eine halbe Million Männer auf der Welt gibt, die Jim heißen«, sagte ich, und dann lachten wir beide. Wie kommt es, daß man sich manchmal mit einem vollkommen fremden Menschen sofort so vertraut fühlt? In den fünf Minuten, die wir uns kannten, sprachen wir miteinander wie Menschen, die schon jahrelang ge44
meinsame Erlebnisse hatten. Wir lachten viel. Wir begriffen, was der andere sagen wollte, noch bevor der Satz überhaupt zu Ende gesprochen war. Er erzählte mir, wo er zur Schule gegangen war und daß er an der Universität von Kalifornien gerade an seiner Doktorarbeit saß. Es war eine ganz alltägliche Unterhaltung, die wir führten, dennoch hatte ich das Gefühl, ihn schon mein Leben lang zu kennen. Trotz allem mußte ich Jim verschweigen, warum ich nach Thera gekommen war. Ich überlegte gerade, wie ich mich am taktvollsten verabschieden könnte, als sich etwas zwischen mich und die Sonne schob. Der lange Schatten fiel wie ein dunkler Balken quer über den Tisch, direkt zwischen Jim und mich. Ich blickte auf und genau in das versteinerte Gesicht meines Vaters. »So bist du also endlich hier«, sagte Frederick. »Wo ist dein Gepäck?« »Im Hotel«, erwiderte ich. »Dann komm.« Er bewegte den Kopf in einer brüsken, befehlenden Geste und wandte sich zum Gehen. Er hatte Jim nicht einmal angesehen. »So«, machte Jim. »Also das sind Sie.« 45
»Was bin ich?« Der Ton in seiner Stimme beunruhigte mich. »Sie gehören zu ihm. Kein Wunder, daß Sie davon nichts . . .« Frederick drehte sich um. »Miß Bishop ist die Tochter eines alten Freundes von mir. Sie hat sich erboten, mir während der Semesterferien auszuhelfen. Schreibmaschinenarbeiten, Listen und so weiter. Keiner weiß besser als Sie, wie wenig Personal ich habe. Sir Christopher hat mir alle fähigen Männer im Dorf vor der Nase wegengagiert, obwohl er wußte, daß ich ebenfalls eine Expedition leiten würde.« Trotz des beleidigten Tonfalls war dies eine ungewöhnlich lange Rede für Frederick. In der Regel erklärte er sich überhaupt nicht. Jims buschige Augenbrauen zogen sich in die Höhe. »Wirklich, Dr. Frederick, ich bin sicher, daß er nicht wußte, daß Sie auch graben würden. Es tut mir leid, wenn Sie den Eindruck haben, daß . . .« »Ihr Bedauern oder Nichtbedauern ändert nichts an den Fakten«, unterbrach ihn Frederick. »Komm, Sandy, ich will heute nachmittag noch an der Grabungsstelle sein.«
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Die versöhnliche Miene in Jims Gesicht erlosch. Ich hätte meinen Vater für seine Unhöflichkeit ohrfeigen können. Jim ließ mir keine Zeit zu einer Entschuldigung, einer Erklärung oder einem Lächeln. Er warf eine Handvoll Kleingeld auf den Tisch, stieß den Stuhl zurück und lief wütend davon. Ich meinerseits mußte Frederick nachlaufen, der sich ebenfalls bereits auf den Weg gemacht hatte. »Warum, zum Teufel, mußtest du so grob zu ihm sein?« keuchte ich, als ich ihn eingeholt hatte. »Ich habe dir gesagt, daß du nicht mit jedem x-beliebigen Kerl hier auf der Insel sprechen sollst.« »Nein, das hast du nicht.« »Dann hättest du zumindest so viel Verstand haben müssen, es von allein zu wissen. Auf jeden Fall muß deine wahre Identität verborgen bleiben.« »Warum hast du mich dann überhaupt angesprochen?« »Weil es sowieso bekannt werden wird, daß du für mich arbeitest. Es kommt darauf an, daß niemand merkt, welche Tätigkeit du wirklich ausübst. Schwimmen und Herumplanschen ist nicht verboten. Ansonsten hilfst 47
du mir offiziell bei den Schreib- und Registrierarbeiten.« »Das hättest du mir ja auch früher sagen können! Außerdem erklärt das keineswegs, warum du so häßlich zu ... zu ihm sein mußtest.« »Er heißt Sanchez«, sagte mein Vater gelangweilt. »Er ist Sir Christopher Penroses Assistent. Sie graben am anderen Ende des Dorfes. Sir Christopher hofft dort einen Palast zu finden, aber er irrt sich. Der Palast liegt nicht östlich vom Dorf, sondern westlich. Ein Teil davon ist untergegangen deshalb sollst du tauchen. Es ist wohl überflüssig, dir zu sagen, daß ich nicht den geringsten Wert auf Kontakte zu diesem grünen Schnüffler lege. Sein Chef ist mein Feind. Nichts käme ihm gelegener, als mich beim Übertreten irgend so einer idiotischen Vorschrift zu ertappen, damit er mich von der Insel jagen lassen kann.« Mein Vater hatte meine Sachen aus dem Hotel geholt und sie in einen geliehenen Landrover verstaut. Wir durchquerten ein Gelände, das aussah wie eine Mondlandschaft – zerklüftet und silbrig grau. Unser Ziel, das Dorf Zoa, lag nur ungefähr zehn Kilometer von der Hauptstadt entfernt, aber es dauer48
te einige Zeit, bis wir es erreichten. Von der Straße blieb nur noch ein Trampelpfad übrig, der steil bergauf und dann scharf an einem Abgrund entlang führte. Schließlich kam Zoa in Sicht. Die Häuser mit ihren typischen Runddächern sahen aus, als stützten sie sich gegenseitig vor dem Abstürzen über die Klippen. Meine Frage nach einem Hotel blieb von Frederick unbeantwortet. Eigentlich hätte ich es wissen müssen. Ein Hotel, selbst das primitivste, hätte mir zumindest etwas Arbeit erspart. Und in einem Hotel würde es Menschen geben. Frederick jedoch wollte keine Menschen um sich haben. Er hatte ein Haus gemietet, eine einsame Bruchbude mit vier Zimmern. Bei seinem Anblick vergaß ich sogar meinen leeren Magen und begann erst einmal den Schutt und die Scherben aus dem Haus zu schaufeln, um es einigermaßen bewohnbar zu machen. Die Küche unterschied sich von den anderen ›Zimmern‹ dadurch, daß in ihr Stapel von Konservendosen standen und ein Campingkocher. Ich nahm mir sofort vor, wenigstens zwischendurch frische Lebensmittel aus dem Dorf zu holen. Für heute jedoch war es schon zu spät. Ich hatte unterhalb des Hau49
ses einen winzigen einsamen Strand entdeckt. Ich nahm meine Badesachen und suchte mir einen Weg über die Klippen hinunter zum Wasser. Das frische Bad war eine Wohltat. Es spülte Schmutz und Schweiß und den größten Teil meiner Müdigkeit hinweg. Als ich zum Haus zurückkehrte, war es bereits Abend geworden. Frederick saß an einem rohen Tisch in der Küche. Neben ihm stand die einzige Lampe des Hauses. Er aß und las gleichzeitig ein Buch. Als ich eintrat, blickte er nur kurz auf und las sofort weiter. Ich blickte mich schweigend um und dachte für mich, daß dies ein langer, einsamer Sommer werden würde. Frederick ließ mir keine Zeit, mich einsam zu fühlen. Schon früh am nächsten Morgen schleppte er mich zu der Ausgrabungsstelle. Damit begann meine Arbeitsroutine. Wir verbrachten die Vormittage an der Ausgrabungsstelle. Das Gebiet lag ein paar Minuten vom Haus entfernt auf dem Grund einer Schlucht. Etwa ein Dutzend gelangweilt dreinblickender Männer kratzten auf dem Erdboden herum. Wenn wir erschienen, kratzten sie etwas schneller.
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Ich mußte mich in die Materie einarbeiten. Frederick war wider Erwarten kein schlechter Lehrer. Wenn die Männer zur Mittagspause nach Hause gingen, saß ich mit ihm in dem Erdloch, knabberte an einem Keks und ließ mir von ihm anhand der Gegenstände praktischen Unterricht erteilen. Die Abende waren mit Theorie angefüllt. Ich lernte, wie man Tonscherben identifizierte und registrierte. Wir fanden mehr Tonscherben als irgend etwas anderes. Ton ist praktisch unvergänglich. Die Gefäße zerbrechen zwar, aber das Material zerfällt nicht wie Holz oder andere Stoffe. Das Gebiet, in dem wir arbeiteten, war zu minoischen Zeiten ein Lagerraum gewesen. Unter anderem fanden wir einen erhaltenen Krug, der sogar noch Getreidekörner enthielt. Die Arbeit gefiel mir. Ich war tagelang so mit meinen Tonscherben beschäftigt, daß ich gar nicht mitbekam, was in Wirklichkeit um mich herum geschah. Erst ein eigenartiger Vorfall zwang mich aufzumerken. Es war an einem Abend, als ich im Hof unseres Hauses kauerte und Tonscherben wusch. Die Sonne war gerade hinter den Bergen untergegangen, der Himmel 51
sah aus wie eine von Mutters guten Stickereien, seidig schimmernd, rot und orange mit goldenen Glanzeffekten. Oberhalb des Hauses wuchs eine Gruppe knorriger Bäume. Es waren groteske Silhouetten vor dem Hintergrund des glühenden Abendhimmels. Da plötzlich tauchte noch eine Silhouette auf. Es war ein Mann auf einem Pferd. Im Gegensatz zu den zwergenhaften Bäumen wirkten er und das Tier riesenhaft. Sie bewegten sich nicht, sondern standen starr da wie ein Reiterstandbild. Noch während ich wie gebannt zu ihnen hinaufstarrte, verschwanden sie plötzlich, als hätten sie sich in Luft aufgelöst. Ich mußte an meine Erlebnisse auf Kreta denken. Ich hatte diese Dinge nicht vergessen, sondern sie nur vernunftmäßig als Ergebnis eines Sonnenstiches verdrängt. Seit meiner Ankunft auf Thera hatte sich nichts dergleichen mehr ereignet. Nun aber kam mir der Mann auf dem Pferd wie eine archaische Erscheinung vor. Eine Erscheinung aus den alten Legenden, mit denen ich mittlerweile zur Genüge vertraut war. Er hätte zum Beispiel Poseidon sein können, der Gott des Meeres, der gleichzeitig Hippios, der Gott der Pferde, war. Die alten Götter schienen 52
hier noch irgendwo herumzulungern, hier über dem Land, das sie einst beherrschten. Frederick trat aus dem Haus und riß mich aus meinen Gedanken. Er forderte mich auf, die Tonscherben schneller zu waschen. Gegen Ende der Woche war ich so vollgestopft mit Wissen über die alten Kreter, daß mir der Schädel brummte. Wahrscheinlich hätte ich jetzt gestreikt, wenn sich nicht von allein ein Zwischenfall ereignet hätte. An jenem Morgen gingen wir wie gewöhnlich zur Ausgrabungsstelle. In der Regel warteten dort die Männer bereits auf uns. Nicht so an diesem Morgen. Der Platz war leer. Frederick erklärte kurzum, daß sie nicht kommen würden, weil heute Feiertag war. »Dann werde ich mir den Tag auch freinehmen«, sagte ich. »Ich habe wahrhaftig lange genug geschuftet. Bis später also.« Und weg war ich. Bei einer Diskussion mit ihm hätte ich nur verloren. Ich lief zum Haus zurück und holte mir meine Badesachen. Natürlich war es unklug von mir, allein schwimmen zu gehen, aber ich war jung und zuversichtlich, und außerdem hatte ich gar keine andere Möglichkeit. Frederick hätte für Schwimmen bestimmt nichts übrig gehabt.
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Das Wasser war wunderbar klar. Sonnenlicht drang schimmernd bis in große Tiefen. Ich konnte auf dem Grund, etwa zehn Meter unter mir, die zarten Wasserpflanzen sehen. Der Boden war uneben, bedeckt mit Felsen und Lavabrocken. Als ich schließlich aus dem Wasser kam, bemerkte ich am Strand eine Gestalt. Ein leichtes Prickeln überlief mich beim Anblick des schlanken Körpers, doch gleichzeitig war mir bewußt, daß dieser Mann nicht Jim sein konnte. Er hatte mir den Rücken zugewandt, die Haut war bleich, nicht braungebrannt wie Jims. Der Mann drehte sich um. Es war mein Vater. Halb amüsiert, halb verärgert ging ich auf ihn zu. Ich machte mich auf eine Lektion gefaßt, doch er begrüßte mich gelassen. »Schön, daß du gekommen bist, um ein Auge auf mich zu werfen«, sagte ich. Er sah mich erstaunt an. »Warum sollte ich ein Auge auf dich werfen? Du bist doch angeblich eine ausgezeichnete Schwimmerin.« »Selbst ausgezeichnete Schwimmer können einmal einen Krampf kriegen«, erwiderte ich mit einiger Genugtuung darüber, daß ich ihn 54
auch einmal belehren konnte. »Ich schwimme manchmal allein, aber das ist leichtsinnig. Wenn ich anfange, ernsthaft zu tauchen, wirst du in der Nähe bleiben müssen.« »Ich werde da sein, um dir Anweisungen zu geben.« »Ich habe eben nichts Besonderes gesehen. Keine Krüge, keine Mauern . . .« »Ich bezweifle, daß du sie erkennen würdest«, gab er trocken zurück. »Jedenfalls ist dies nicht das Gebiet, in dem du tauchen sollst. Wir schwimmen um die Landzunge herum. Ich zeige dir die Stelle. Es ist nicht weit.« Ich folgte ihm ins Wasser und dann entlang der Küste in nördlicher Richtung. Ich legte mich auf die Seite und betrachtete die Umgebung. Wir hatten die Landzunge umschwommen und befanden uns nun ziemlich weit vom Ufer entfernt. Vor uns, zur Linken, tat sich eine neue kleine Bucht auf. Oben auf den Klippen stand ein Haus. Es war keine kleine Hütte, sondern eine ansehnliche Villa, fast ein Landhaus. Die Mauern strahlten weiß im Sonnenlicht, und das rote Ziegeldach hob sich kraß gegen den blauen Himmel ab.
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Frederick schwamm jetzt langsamer. Ich näherte mich ihm und beobachtete ihn besorgt. Er mochte gut erhalten sein, aber er war kein Jüngling mehr. Frederick schwamm zu einem Felsen, der aus dem Wasser ragte. Er hielt sich daran fest und atmete schwer. »Du hast keine Kondition mehr«, sagte ich, während ich mich am selben Felsen festhielt. »Ich habe eine verletzte Lunge«, erklärte er so gelassen, als hätte er gesagt, daß er einen Pickel auf der Nase habe. »Ein Lungenflügel wurde mir vor ein paar Jahren durchtrennt.« »Du Narr. Warum hast du mir nichts davon gesagt? Ich hätte niemals zugelassen, daß du . . .« »Zugelassen? Ich kann mir nicht vorstellen, daß du mich an irgendeinem Vorhaben hinderst.« Wir schaukelten beide mit den Wellen, und ich mußte wider Willen lachen. »Sieh mal«, sagte ich nach einer Weile, »ich gehorche deinen Befehlen, wenn es um die Ausgrabungsarbeiten geht, nicht wahr? Auf diesem Gebiet hier bin ich kompetent.« »Weshalb, glaubst du wohl, erledige ich die Unterwasserarbeit nicht selbst? Die Techni56
ken zu erlernen, dürfte nicht allzu schwer sein, aber ich bin körperlich nicht in der Lage dazu. Ich werde dir selbstverständlich das Tauchen überlassen, sobald du instruiert bist, nach was du Ausschau zu halten hast. Es ist bekannt, daß die Minoer die größten Seefahrer ihrer Zeit waren. Kretische Experten schufen die massiven Hafenanlagen in der Nähe von Alexandria, die neunzehnhundertzehn entdeckt wurden. Vor fünf Jahren habe ich hier aufgrund von Informationen, die ich dir nicht näher erörtern muß, getaucht. Ich fand -« Er hielt inne. Mir mißfiel die Art, wie er mich ansah. »Wenn du mir nicht traust, wem kannst du dann trauen?« fragte ich. »Ich nehme an, daß du Spuren der ehemaligen Hafenanlagen entdeckt hast. Was ist daran so geheimnisvoll? Ich verstehe nicht, warum du das dem Archäologischen Amt nicht mitteilen kannst. Sie hätten dir möglicherweise die Taucherlaubnis erteilt und obendrein noch das nötige Geld dazu gegeben. Du solltest nicht so verdammt mißtrauisch sein...« Ich unterbrach mich, weil er heftig mit dem Kopf schüttelte. »Du bist ein Dummkopf. Was weißt du schon vom Leben! Besonders über mein Le57
ben! Wir leben in einer Welt von Halsabschneidern, und gerade mir hat man grausamer und ungerechter zugesetzt als anderen. Vor fünf Jahren war ich beruflich ruiniert. Nicht nur, daß ich in Griechenland nicht mehr graben durfte, meine Widersacher bedrohten auch mein Leben. Es war ein reines Wunder, daß ich überhaupt überlebte und daß gerade Mistropolus, der der neue Vorsitzende des Archäologischen Amtes wurde, an meine Theorie glaubte. Aber er ist auch der einzige in diesem ganzen bestochenen Verein, der auf meiner Seite steht, und seine eigene Position ist nicht gerade die festeste.« »Gut, gut«, rief ich. »Aber ich begreife nicht, warum ein paar Lagerhallen so viel...« Er lachte. Ich glaube, es war das erstemal, daß ich ihn lachen hörte. »Sei nicht albern«, sagte er. »Denke lieber nach! Du weißt, was hier an jenem Frühlingstag im fünfzehnten Jahrhundert vor Christus passierte.« Seine Stimme bekam einen verklärten Klang, und sein Gesicht nahm einen entspannten, fast träumerischen Ausdruck an. Sein Blick war nach innen gekehrt. Was er sagte, hörte sich an wie der Bericht eines Augenzeugen: 58
»Es gab Anzeichen dafür, daß irgend etwas das Mißfallen der Götter erregt hatte. Die Wolke über dem Vulkan war feurig rot bei Nacht, bei Tag erhob sich eine Rauchsäule, dazu ertönte das grollende Gebrüll des Stiergottes. Ein paar Inselbewohner flüchteten bei diesen Anzeichen, die meisten jedoch blieben und brachten den Göttern ihre nutzlosen Opfer dar. Als der Vulkan dennoch ausbrach, erwischte es sie alle, Frauen und Kinder, die Männer auf den Feldern, die Priester in den Hallen . . .« Seine Stimme wurde lauter. »Und was noch? Was noch in einer Hafenstadt, in einem Handelszentrum der Seefahrer?« Sein Blick bohrte sich in mich. Frederick war keineswegs übergeschnappt. Er war erregt, aber nicht verrückt. Ich wußte, auf was er anspielte. Aber »Es ist unmöglich«, sagte ich. »Schiffe!« Er schlug mit der Faust auf den Felsen. »Minoische Schiffe, die Handelsflotte des Seekönigs. Sie liegen dort im Wasser, wo sie vor mehr als dreitausend Jahren untergegangen sind.« Auf und ab, auf und ab schaukelten mich die Wellen. Die Bewegung hypnotisierte mich 59
geradezu. Das warme, streichelnde Wasser und der besessene Blick meines Gegenübers, der zufällig mein Vater war, verstärkten noch diese Wirkung. »Einen Augenblick«, sagte ich schließlich. »Deine Folgerung ist zwar logisch, natürlich gab es Schiffe, und einige von ihnen müssen auch gesunken sein, aber kein Schiff überlebt dreitausendfünfhundert Jahre im Wasser. Oh, ich habe von den Funden griechischer und römischer Schiffe gehört, aber die datieren von hundert nach oder bestenfalls hundert vor Christus.« »In Kap Gelidonya, in der Türkei, wurde neunzehnhundertsechzig ein Wrack gefunden, das man ungefähr auf das fünfzehnte Jahrhundert vor Christus datiert. Man hat nicht nur die Ladung gefunden, sondern auch die Planken des Schiffsrumpfes.« »Du machst dich lustig über mich«, sagte ich, aber ich wußte, daß ihm nichts ferner lag als das. »Nein.« »Nun gut, es ist möglich. Aber wie kommst du darauf, daß es auch hier so ist? Ich meine, welche genauen Anhaltspunkte hast du?« Und als er zögerte, fuhr ich ungeduldig fort: »Ich weiß, was ein paar hundert Jahre 60
einem Schiffswrack antun können. Nichts überlebt – außer Gold. Holz verwest und wird von Würmern zerfressen, Metall korrodiert. Selbst Tongegenstände werden durch Überwucherungen verändert . . .« Zum erstenmal, seit ich ihn kannte, sah er mich mit einem Anflug von Respekt an. »Im großen und ganzen hast du recht«, sagte er. »Obgleich Tongegenstände nicht so stark veränderbar sind wie du meinst. Es sind Amphoren, Gefäße, angefüllt mit Materialien, die für den Export bestimmt waren. Eine größere Ansammlung solcher Gefäße weist fast immer auf ein Wrack hin. Aber das ist nicht alles. Die Schiffe selber sind da.« Ich schwieg. Wenn irgendein anderer mir so etwas gesagt hätte, ich hätte ihm kein Wort geglaubt. Ich weiß nicht, warum ich Frederick glaubte. Vielleicht, weil ich nicht annehmen wollte, daß seine Exzentrität tatsächlich bis zum Wahnsinn reichte. »Eine ganze Flotte muß im Hafen gelegen haben«, fuhr er fort. »Es hatte stunden-, ja vielleicht tagelang Asche geregnet. Der Himmel war schwarz wie die Nacht, giftige Dämpfe erschwerten das Atmen. Die Herrscher von Thera trafen letztlich die Ent61
scheidung – zu fliehen, solange Flucht noch möglich war. Sie trafen Vorkehrungen, die königlichen Schätze, die rituellen Gefäße der Tempel zu retten und mit den Schiffen die Sicherheit der offenen See aufzusuchen oder sich auf das Mutterland zurückzuziehen. Sie konnten nicht ahnen, welches Ausmaß die Katastrophe annehmen würde und daß Kreta ebenfalls in Gefahr war. Sie kamen in Scharen an Bord, Männer, Frauen und Kinder, mit ihren privaten Besitztümern und den kostbarsten Schätzen des Staates. Aber noch ehe sie in See stechen konnten, hatte der Vulkan sie überrascht. Erdbeben, große Flutwellen, Hagel von zerborstenen Felsen verwandelten den Hafen in eine Hölle. Einige Schiffe fingen Feuer. Die Flammen verlöschten schnell, als die Schiffe sanken, und ich sage dir, dort unten liegen verkohlte Schiffsplanken – genau hier in dieser Bucht. Der Aschenregen hatte die sinkenden Schiffe in Windeseile eingedeckt. Das hat sie erhalten. In den folgenden Tausenden von Jahren lagen sie wie versiegelt in ihren natürlichen Grüften. Irgendwann setzten Stürme und Erdbeben die gesunkenen Wracks in Bewegung. Die verhärtete Asche brach auf, und der Sand wurde hinweggeschwemmt. Die 62
Skelette der Schiffe lagen offen da. Jedoch nur für kurze Zeit. Weitere Stürme folgten, und sie begruben die Wracks von neuem. Es ist möglich, daß sie für immer verschwunden sind. Aber ich bezweifle es. Ich glaube, daß sie noch da liegen. Von all den Wracks muß doch etwas übriggeblieben sein. Wir werden die Gegend hier eben gründlich absuchen müssen. Ich allein bin für dererlei Anstrengungen nicht mehr in Form. Deshalb -« »Deshalb«, unterbrach ich ihn, »bin ich dran. Es ist schon komisch, daß deine lang verschollene Tochter ausgerechnet Fähigkeiten zum Tauchen hat.« »Komisch?« Die kalten grauen Augen bekamen einen Glanz, als konzentrierten sie sich auf eine innere Vision. »Manchmal habe ich das Gefühl, daß sie sich in meine Angelegenheiten mischen. Und warum nicht? Ich habe mich oft genug in die ihren gemischt . . .« Er sah sich um, als ob er tatsächlich glaubte, daß die alten Götter hinter den Felsen hockten und ihr Spielchen mit ihm trieben. »Erst mein Unfall, der es mir unmöglich machte, selbst zu tauchen. Wer sonst als Poseidon persönlich könnte da seine Hand im Spiel gehabt haben? Ihn störte die Neu63
gier der neuzeitlichen Menschen und er bestrafte den Eindringling, der seine Geheimnisse aufspüren wollte. Und dann – du, mit deinen Fähigkeiten zum Tauchen! Wie soll man das verstehen? Ist der Gott besänftigt, oder ist es erst der Anfang eines langen, umständlichen und kindischen Götterintrigenspiels?« Ich fröstelte. Das Wasser war warm, aber wenn man sich zu lange darin aufhielt, ohne sich zu bewegen, kühlte man ab. Es mußte ein Kälteschauer gewesen sein – nicht meine Reaktion auf das, was mein Vater da sagte. Plötzlich, ohne besonderen Grund, wußte ich, daß an Fredericks Geschichte etwas nicht stimmte. Er hatte etwas ausgelassen, etwas Wichtiges. Doch dies war nicht der Augenblick, Fragen zu stellen. Er sah abgespannt aus, und wir mußten an unsere Rückkehr denken. »Gut«, sagte ich. »Ich werde mich nach deinen Schiffen umsehen. Und ich werde gleich jetzt damit anfangen. Leg dich auf den Felsvorsprung dort und laß dich inzwischen von der Sonne aufwärmen.« Er bedachte mich mit einem merkwürdigen Blick, wandte sich aber um und tat, was ich ihm vorgeschlagen hatte. Ich sog die Lun64
gen voll Luft und tauchte unter die Wasseroberfläche. Ich hatte nicht erwartet, etwas zu finden. Wenn das Wrack an einer so auffälligen Stelle wie an diesem Felsen gelegen hätte, hätte er sich bestimmt daran erinnert. Ich wollte mir lediglich ein Bild von der Tiefe und von der allgemeinen Struktur des Meeresbodens machen. Es sah nicht gerade ermutigend aus. Eine Menge Brocken lagen da unten herum, Felsen und Bimssteine und alte, erstarrte Lavablöcke. Es leuchtete mir ein, daß die Suche viel Zeit in Anspruch nehmen würde. Jeder verdammte Felsen würde geprüft werden müssen, um sicherzugehen, daß er nicht ein überkrusteter Topf oder ein Stück von einer Skulptur war. Als wir wieder in unserer kleinen Bucht angelangt waren, sah Frederick grau aus. Der Weg über die Klippen zurück zum Haus machte ihm sichtlich Schwierigkeiten. Ich bereitete ihm eine heiße Suppe und wollte ihn ins Bett schicken. Kaum jedoch hatte er sich ein bißchen erholt, war er wieder der alte. Er hatte sich in den Kopf gesetzt, unbedingt noch zur Ausgrabungsstelle zu gehen, und ich sollte natürlich mitkom65
men. Aber ich weigerte mich. Mein Feiertag war noch nicht zu Ende, im Gegenteil, er hatte noch nicht einmal angefangen, denn selbst mein Schwimmen und Tauchen war in Arbeit ausgeartet. Ich zog mir also meine weißen Sandalen an und warf mir einen Kaftan über, den ich mir in Athen gekauft hatte. Ich machte mich hübsch, nicht etwa für die heilige Irene oder so, sondern weil ich heimlich hoffte, daß auch die Männer von der anderen Expedition heute frei hatten.
4 Die Leute im Dorf nickten mir freundlich zu und lächelten. Auf dem mit schwarzen Lavasteinen gepflasterten Dorfplatz stand, so ziemlich im Zentrum, ein einzelner, breitausladender Feigenbaum. Die Geschäfte ringsum hatten an diesem Nachmittag geschlossen, nur das Hotel war geöffnet. Zu ihm gehörte eine kleine, mit Weinranken überwachsene Terrasse, auf der ein paar Tische und Stühle standen. Der Dorfplatz füllte sich langsam mit Menschen. Schließlich begannen die Kirchenglocken zu läuten, und die Menschenmenge 66
setzte sich wie auf Kommando in Bewegung. Ich folgte ihnen etwas verlegen, doch niemand schien sich an meiner Anwesenheit zu stören. Wir bewegten uns auf die Kirche zu und stiegen über die Treppe, wo wir uns in den anschließenden kleinen Innenraum der Kirche drängten. Das Kirchenschiff war dunkel und kaum zu erkennen. Das wenige Licht, das von den Kerzen herrührte, wurde noch von der Masse der dichtgedrängten Körper verdeckt. Ich hatte mir einen engen Platz, ganz am hinteren Ende des Kirchenschiffes, ergattert, deshalb konnte ich weder den Altar noch den Priester sehen. Ich hörte lediglich seine Stimme, die in einem halb orientalischen Singsang lauter und leiser wurde. Die Leute stimmten bald murmelnd, bald laut betend in den Gesang ein. Graue Wolken quollen aus den Weihrauchschalen und blieben wie Nebelschwaden unter der niedrigen Kirchendecke hängen. Es roch so stark, daß mir schwindelig wurde. Einige Frauen hatten sich hingekniet und die gefalteten Hände erhoben. Eine Frau neben mir weinte. Immer mehr Menschen drängten von hinten nach. Ich wurde umringt und an die Wand gedrückt. Niemand achtete auf mich. Mir wurde schlecht. Ich wollte hinaus67
laufen, frische Luft schöpfen, aber es war unmöglich, sich gegen die Menge zu bewegen. Außerdem wollte ich die Leute nicht in ihrer Andacht stören. Der Weihrauch betäubte mich. Ich fühlte mich im Rhythmus mit den Körpern um mich herum hin und her schwanken. Ich war nahe daran, auf die Knie zu sinken. Da berührte jemand meine Schulter. Ich erkannte die Hand, noch bevor ich mich umwandte. Jim lächelte mich an. »Gehen wir«, sagte er. Ich konnte ihn kaum hören. »Wie denn?« fragte ich hilflos. Er nahm mich beim Arm und wandte sich um. Ich weiß nicht, wie er es anstellte, aber die Leute wichen auseinander und ließen uns durchgehen. Die frische Luft tat mir gut. Ich atmete ein paarmal tief ein. Überrascht stellte ich fest, daß die Sonne schon tief im Westen stand. In der Zwischenzeit hatten die Händler auch ihre Läden geöffnet. Tische und Stühle standen jetzt auf dem Dorfplatz verteilt. Wir setzten uns. »Wein oder Ouzo?« erkundigte sich Jim. Wir tranken Wein. Es war ein schwerer Harzwein, an dessen eigenartigen Ge68
schmack ich mich aber schnell gewöhnte. Wir unterhielten uns über die religiösen Bräuche dieser Gegend, die eine seltsame Mischung aus Christentum und alten heidnischen Ritualen zu sein schienen. »Die örtlichen Heiligen sind im Grunde nichts anderes als die christlich verbrämten alten Götter«, sagte Jim. »Allein schon die Feiertage, die ihnen gewidmet sind, weisen darauf hin: Sonnwend, Ernte oder Winteraustreibung. Selbst die hier so stark ausgeprägte Verehrung der Jungfrau Maria könnte auf das ehemals vorherrschende Matriarchat zurückzuführen sein.« »Hmhm«, ich nickte und bemühte mich, intellektuell zu wirken. »Die absolute Herrscherin hier war eine Göttin, die Göttin der Erde und Herrin über die Lebewesen. Ihr heiliges Symbol war die Schlange, die sie als gleichzeitige Göttin der Unterwelt auswies. Man ist zunächst erstaunt über diese scheinbar gegensätzliche Natur der Göttin – sie ist Jungfrau und Mutter, Herrscherin über die Toten und Sinnbild der Wiederauferstehung.« »Sie müssen einen guten Geschichtslehrer gehabt haben«, Jim lachte. »Tatsächlich gibt es eine grundlegende Logik zwischen den 69
scheinbaren Widersprüchen. Die Mutter war einst Jungfrau, und der Tod geht der Auferstehung voran. Es ist zunächst recht erstaunlich, wie leicht die christliche Glaubenslehre auf alte heidnische Religionen zurückzuführen ist. Aber das Christentum hat seinen Ursprung im Orient, das Prinzip göttlicher Opferung kommt aus Ägypten und Syrien. Der Gott muß sterben, um die Wiedergeburt zu gewährleisten. Das gilt ebenso für die Natur wie auch für den menschlichen Körper.« Er hielt plötzlich inne. Seine bizarren, buschigen Augenbrauen verzogen sich. »Eigentlich wollte ich die Gelegenheit benutzen, um mich bei Ihnen zu entschuldigen . . .« »Wofür?« Er griff nach meiner Hand. »Für neulich. Ich war ziemlich unhöflich.« »Frederick war noch unhöflicher.« »Sicher, aber es gab keinen Grund, Sie da hineinzuziehen. Im Gegenteil.« Er hielt noch immer meine Hand. Er hatte lange, feste Finger. »Vergessen Sie es«, sagte ich. »Ich nehme an, Frederick ist bei seinen Kollegen nicht sonderlich beliebt. Oder haben Sie einen persönlichen Grund, ihn abzulehnen?«
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»Oh, nein. Mein Chef kennt ihn relativ gut. Wahrscheinlich habe ich gewisse Vorurteile übernommen. Aber warum sollte das Verhältnis unserer Chefs uns eigentlich daran hindern, Freunde zu sein?« »Es sollte uns nicht hindern«, sagte ich strahlend. »Ich halte sehr viel von netten Bekanntschaften.« »Dann sollten wir unsere damit beginnen, daß wir heute abend zusammen essen.« »Ich weiß nicht recht . . . Ich habe neben der Funktion der Tonscherbenspülerin auch noch die der Köchin. Und Frederick ging es nicht allzu gut, als ich ihn verließ. Wir waren heute morgen schwimmen. Er hat sich dabei überanstrengt.« Ich ließ diese Bemerkung fallen, weil ich sehen wollte, ob Jim in bezug auf das Tauchen irgendeinen Verdacht hatte. Die Antwort war mehr als zufriedenstellend kein Verdacht, nicht einmal ein Aufmerken. »Es ist gut, daß Sie nicht allein schwimmen gehen«, sagte er. »Das sollten Sie auf keinen Fall tun.« Ich lächelte. »Hören Sie mal, Verehrtester, ich lebe in Florida. Ich bin sozusagen im Wasser aufgewachsen.«
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»Dann wissen Sie um so besser, wie dumm es ist, unnötige Risiken einzugehen. Wenn er nicht mit Ihnen mitgehen kann, würde ich es gern tun.« »Sie?« wiederholte ich in naiver Überraschung. »Ja, ich. Ich arbeite nicht vierundzwanzig Stunden am Tag. Wir könnten einen bestimmten Zeitpunkt ausmachen – jeden Tag, wenn Sie wollen.« Ich überdachte dieses verlockende Angebot. Es war sehr verlockend, aber nicht durchführbar. Ich konnte meine Erkundungen in der Bucht bei der Villa unmöglich unternehmen, wenn Jim um mich herumschwamm. Aber es mochte kein schlechter Gedanke sein, ihn ab und zu zu einem zwanglosen Bad im Meer zu treffen. »Ich habe nicht jeden Tag Zeit«, sagte ich. »Aber ich könnte Sie es jeweils wissen lassen. Wo wohnen Sie?« »Im Hotel.« »Igitt!« machte ich. Alles was ich bisher von dem Hotel gesehen hatte, von den klebrigen Tischen bis hin zu der Schürze des Kellners, war nicht gerade appetitanregend. »Wohnt Ihre ganze Mannschaft dort?« fragte ich.
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Er zögerte einen Augenblick. Ich spürte, daß dieses Zögern etwas zu bedeuten hatte. Schließlich sagte er: »Nur wir beide, Sir Christopher und ich. Unsere Männer sind Leute von der Insel, die durch frühere Grabungen schon einige Erfahrungen haben.« Wieder machte er eine Pause. »Welch ein Zufall«, meinte ich. »Wir beide sind auch allein. Frederick und ich. Deshalb sollte ich mich jetzt lieber auf den Weg machen. Ich meine, wenn er krank ist -« »Nein, gehen Sie nicht. Das Essen hier ist nicht schlecht. Und Sie sollten die Prozession sehen. Das wird Sie interessieren, in Anbetracht dessen, was wir vorhin über das Überleben alter religiöser Kulte gesagt haben.« »Prozession?« »Ja. Sie tragen das Standbild einer Heiligen durch das Dorf und marschieren dann hinaus in die Felder und Weinberge. Die Heilige segnet die Häuser und die Felder. Sie wird bis zu einer Altargrotte hoch oben in den Bergen getragen, ein Platz, der womöglich seit der Bronzezeit irgendeine religiöse Bedeutung hat.« »Oh«, rief ich, mein Pflichtbewußtsein vergessend. »Wenn es eine lehrreiche Erfahrung ist, dann bin ich es mir selbst schuldig, 73
zu bleiben.« Eine Weile saßen wir schweigend da und beobachteten die Leute um uns herum. Einige Frauen trugen ihre wunderschönen Landestrachten. Die Sonne war jetzt im Westen untergegangen, und ein mildes Licht erfüllte den Platz. Am uns entgegengesetzten Ende tauchte eine Frau auf. Ich bemerkte sie sofort. Sie war auffallend genug, um jedermanns Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Allein durch die Art, wie sie gekleidet war, stach sie aus der Menge hervor. Diese Frau trug weder Schwarz, wie die meisten der einheimischen Frauen, noch trug sie eine Tracht, es war auch kein Nachmittagskleid aus der Metropole Athen. Es sah aus wie ein von Dior höchstpersönlich entworfenes Modell aus Paris. Ein Gewand aus langem violett-rötlich-braunem Chiffon mit schweren golddurchwirkten Bordüren. Aufblitzende Diamantsplitter übersäten den Stoff. Aus der gerafften Fülle des zarten Materials schälte sich majestätisch ihr Hals. Das schwere, dunkle Haar war zu einer komplizierten Frisur gesteckt, deren einzelne Locken schmale Goldbänder zusammenhielten. Der Wind schmiegte den Stoff eng an ihren Körper und zeichnete so die Konturen ihrer schweren Brüste und breiten Hüften 74
ab. Während sie langsam voranschritt, wich die Menge vor ihr zurück und machte ihr den Weg frei. Ohne sich umzusehen, ging sie schnurstracks auf den Feigenbaum in der Mitte des Platzes zu. Dort blieb sie stehen. Ihr Profil zeichnete sich dunkel gegen das Abendlicht ab. Es war ein klassisches Profil. »Wer ist das?« fragte ich. »Du meine Güte, was für ein Kleid!« »Zu auffallend für meinen Geschmack«, sagte Jim. »Aber zugegeben, sie ist eine imposante Erscheinung. Sie lebt in der Villa auf der anderen Seite des Dorfes in dem weißen Haus oberhalb der Klippen.« »Das habe ich heute morgen gesehen. Sie meinen, das Haus gehört ihr?« »Nicht ganz.« Jim schwieg ein oder zwei Sekunden. »Sie lebt dort nicht allein«, fuhr er schließlich fort. »Sie ist entweder die Frau oder die Geliebte eines merkwürdigen Alten, der fast nie die Villa verläßt. Ich habe ihn ein- oder zweimal gesehen. Er reitet. Er hat ein paar prächtige Pferde, die so wenig auf die Insel passen wie die Frau in ihrem Kleid da. Wer und was er ist, weiß ich nicht. Er kommt nie ins Dorf.« »Nicht viel, was Sie da wissen«, spöttelte ich. »Wenn ich so gut Griechisch könnte wie 75
Sie, hätte ich längst wesentlich mehr herausgebracht. Ist sie zum Beispiel seine Frau oder seine Geliebte?« »Ich bin ziemlich sicher, daß sie nicht seine Frau ist.« »Ziemlich sicher! Sie werden mir doch nicht erzählen wollen, daß die Männer hier nicht über sie klatschen.« »Seltsamerweise tun sie es nicht.« Jim deutete auf die Frau, die unbeweglich in der Mitte des Platzes stand und in den Himmel starrte. »Sehen Sie, die Leute ignorieren sie, sie tun so, als ob sie gar nicht vorhanden wäre. Als ich sie zum erstenmal sah, erkundigte ich mich auch nach ihr. Aber die Leute hüllten sich in Schweigen. Sie weigern sich, über sie zu sprechen. Sie tun so, als existierte sie nicht.« »Wie heißt sie?« »Einmal hörte ich per Zufall, wie jemand den Namen Potnia erwähnte. Allerdings ist das kein Name, sondern eine Art Titel.« Das Wort kam mir irgendwie bekannt vor. Dann fiel mir ein, wo ich es gelesen hatte. »Aber das ist das alte Wort für die minoische Göttin«, stammelte ich. »Es bedeutet soviel wie »die Dame« oder ›die Herrin‹.«
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Ich blickte wieder zu der noch immer unbeweglichen Gestalt hin. Vor dem geisterhaften Licht der Abenddämmerung zeichnete sie sich jetzt wie ein dunkler Scherenschnitt ab. Nur der Abendwind spielte mit den hauchdünnen Falten ihres Kleides und ließ sie sanft in die Dämmerung hinüberfließen. Ein kleiner Schauer durchlief mich. Jims Hand legte sich auf die meine. »Ist Ihnen kalt?« »Nein.« Ich schüttelte mich im Geiste. Ich war dabei, mich in Fantasien hineinzusteigern. Es war kein angenehmes Gefühl. Es erinnerte mich an die Augenblicke im Herakleion-Museum. Griechenland war ein gespenstisches Land – zu viele alte Traditionen hingen hier in der Luft. »Was sie wohl macht?« fragte ich, bemüht, meine Stimme sachlich klingen zu lassen. »Warum geht sie nicht in die Kirche wie die anderen?« Noch während ich sprach, wurde das Kirchentor aufgestoßen. Aus dem Inneren der Kirche ergoß sich jetzt gleißendes Licht. Es rührte von einer Gruppe von Fackelträgern her. Es wirkte wahrhaft theatralisch. Die Fackelträger formierten sich zu einem offenen Flügel, dann erschien die Prozession, ihr vo77
ran ging der Priester. Hinter ihm folgte, von vier kräftigen Dorfburschen getragen, der Schrein. Daran schlossen sich in einem langen Zug die Bewohner des Dorfes an. Der Prozessionszug machte dreimal die Runde um den Platz, dann führte der Priester die Menge aus dem Dorf hinaus und in die umliegenden Felder und Weinberge. Die Lichter der Fackeln waren weithin sichtbar. Ich sah Jim wieder an. Er starrte wie gebannt auf die unbewegliche Gestalt, die noch immer unter dem Feigenbaum stand. »He«, rief ich. »Wie wär’s mit etwas zu essen, jetzt wo die Aufregung vorbei ist? Oder ist es noch zu früh?« »Es ist zu früh.« Jim wandte sich mir wieder zu. »Vielleicht kann ich . . . Oh, da bahnt sich wieder etwas an!« Ich blickte in die Richtung, in die er gedeutet hatte. Dort kam Frederick, und er kam geradewegs auf uns zu. »Verdammt«, murmelte ich. »Keine Angst«, sagte Jim leise. »Was immer er auch sagt, diesmal werde ich die Ruhe bewahren. Sie haben ein Recht darauf, mit mir heute abend essen zu gehen. Griechenland ist immerhin die Heimat der Demokratie.« 78
Ich nickte und strahlte ihn zuversichtlich an. Unsere Befürchtungen waren unbegründet. Frederick grüßte uns mit einem kurzen Nicken. Er zog ohne zu fragen einen Stuhl heran und setzte sich zu uns. »Ihre Arbeiter haben auch frei?« sagte er zu Jim. »So ist es, Sir. Diese Feiertage und die Kirchenfeste sind eine wahre Plage. Aber es ist zwecklos, etwas dagegen unternehmen zu wollen.« »Sie sagen es. Macht Ihre Arbeit Fortschritte?« Ich wußte, was ihn zu dieser Leutseligkeit trieb. Jim warf mir von der Seite her einen Blick zu und beantwortete die Frage ohne Vorbehalt. Er hatte keinen Grund, etwas zu verheimlichen. »Den Umständen entsprechend gut. Was wir ausgraben, scheint eine Villa von beachtlicher Größe gewesen zu sein. Sir Christopher hofft, Fresken zu finden, aber bis jetzt sind wir noch auf nichts gestoßen.« »Und welche Vorbildung haben Sie?« fragte mein Vater mit der ihm eigenen Unverschämtheit. Jim zählte folgsam seinen akademischen Werdegang auf.
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»Nicht schlecht«, meinte schließlich mein Vater. »Aber Sie haben keine Erfahrungen. Wie haben Sie es fertiggebracht, daß Sir Christopher Sie engagierte? Sie sind nicht einmal Brite.« Jim hatte bisher tatsächlich die Ruhe bewahrt, bei diesen letzten Worten jedoch stieg ihm Zornesröte ins Gesicht. Doch es gelang ihm zu lächeln. »Persönliche Beziehungen. Meine Mutter ist Engländerin. Und was die Erfahrungen anbelangt, so bin ich gerade dabei, sie mir anzueignen. Und Sie dürfen mir glauben, daß ich es mir nicht leicht mache. Ich arbeite hart. Ich habe die Absicht, etwas in diesem Beruf zu leisten.« Diese noblen Absichten beeindruckten Frederick nicht im geringsten, jedenfalls bemerkte ich nichts davon. »Wie ich Chris kenne, gibt er sich nicht mit Kleinigkeiten ab. Was hat ihn veranlaßt, an dieser Stelle zu graben? Dort ist nichts zu finden. Der Palast liegt auf meiner Seite.« »Das werden Sie ihn schon selbst fragen müssen«, erwiderte Jim höflich. »Ich bin nur ein Angestellter.« Frederick schwieg. Offensichtlich hatte er in Erfahrung gebracht, was er wissen wollte, 80
und er war nicht der Typ, der sich in überflüssiges Geplauder einließ. Jim und ich sahen uns an. Er grinste, als ob er sagen wollte: Na, wie habe ich das gemeistert? Inzwischen war es fast dunkel geworden. Die Frau stand noch immer neben dem Feigenbaum. Sie wirkte wie eine Säule, oder eher wie eine von jenen altgriechischen Statuen. Die Tische des Cafés waren nun voll besetzt, die Händler saßen auf Stühlen vor ihren Läden und unterhielten sich. Griechische Frauen lungern nicht in der Öffentlichkeit herum. Ich sah einen der Männer von unserer Ausgrabungsstelle. Es war Nicholas, der Vorarbeiter. Ich winkte ihm zu, und er winkte zurück. »Wem winkst du da?« fragte Frederick mißtrauisch. »Nicholas. Er sitzt da drüben.« »Und die ganze restliche faule Bande auch«, brummte Frederick. Er drehte seinen Stuhl um, um die Leute mit einem beleidigten Blick zu bedenken, doch sie beachteten ihn nicht. Nicholas und die anderen beobachteten verstohlen die stille Gestalt neben dem Feigenbaum. Sie bewegte sich jetzt. Langsam, majestätisch, näherte sie sich dem Hotel und der Terrasse, auf der wir saßen. 81
»Komm jetzt, Sandy«, befahl Frederick. »Wir haben noch eine Menge Arbeit zu tun. Morgen will ich früh anfangen. Wir müssen Vorberei —« Der Rest des Wortes fehlte, als ob ihm jemand die Kehle durchgeschnitten hätte. Seine Stimme endete in einem erstickten Gurgeln. Die Frau war ein paar Meter von ihm entfernt stehengeblieben. Das Licht vom Hotel fiel direkt auf ihr Gesicht. Sie blickte in Fredericks Richtung. Wären beide professionelle Schauspieler gewesen, sie hätten die Szene nicht besser spielen können. Die Frau warf den Kopf in den Nacken, ohne Frederick aus den Augen zu lassen. Frederick war totenblaß geworden. Plötzlich sah er alt aus. Seine Wangenknochen traten hervor wie bei einem Totenschädel. Schließlich, als ob ein Signal zwischen den beiden hin- und hergegangen wäre, bewegten sie sich gleichzeitig. Die Frau drehte sich ruckartig um, die Falten ihres Gewandes wirbelten auf, und sie lief davon. Frederick fuhr sich mit einer so heftigen Geste durchs Haar, daß es zu Berge stand. Er erhob sich
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und überquerte wortlos den Platz in der anderen Richtung.
5 »Was, zum Teufel, ist denn da vorgegangen?« rief Jim. »Ich -« Meine Stimme war belegt. Ich räusperte mich. »Ich würde sagen, daß sie einander erkannt haben.« »Das war mehr als ein Erkennen, Sandy. Es war wie eine Szene aus einem Stummfilm, wenn Sie wissen, was ich meine. So etwa: Großer Gott, mein Ehemann ist von den Toten auferstanden, der Mann, den ich glaubte, vor dreißig Jahren ermordet zu haben.« »Jim, leider ist das gar nicht lustig.« »Stimmt. Keiner von den beiden schien es sehr amüsant zu finden.« »Aber -« »Aber das ist kein Grund, sich um die Angelegenheiten anderer Sorgen zu machen. Es geht uns nichts an. Außerdem würde besonders Frederick sich schön bedanken, wenn Sie sich in seine Angelegenheiten mischten.« Ich lehnte mich im Stuhl zurück und hoffte, daß ich nicht so verschreckt aussah, wie ich 83
mich fühlte. Ich vergaß immer wieder, daß Jim nicht wußte, daß ich Fredericks Tochter war. »Ich bin eben neugierig«, sagte ich. »Menschliche Schicksale interessieren mich.« »Seien Sie neugierig, aber aus sicherer Entfernung. Je weiter Sie von ihm entfernt sind, desto besser für Sie.« »Was wollen Sie damit sagen?« »Ich will damit sagen, daß von Frederick nichts Gutes zu erwarten ist. Es wäre unter Umständen sogar besser für Sie, wenn Sie Ihre Ferien woanders verbrächten.« »Vielen Dank.« »Oh, zum Teufel, so habe ich es doch nicht gemeint.« Jim machte eine hilflose Geste. »Ich weiß nicht, warum ich gerade bei Ihnen immer das Falsche sage. Normalerweise bin ich ein guter Unterhalter. Also, reden wir über etwas anderes. Trinken Sie noch ein Glas Wein?« »Nein, danke. Ich sollte jetzt wirklich nach Hause gehen.« »Bleiben Sie noch, bitte. Angelos wird bald das Essen servieren. Außerdem möchte ich Ihnen gerne Chris vorstellen.«
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»Warum?« Ich hatte mich bereits erhoben, jetzt setzte ich mich wieder. »Damit auch er mich vor Frederick warnt?« »Es ist mir wirklich nicht wohl bei dem Gedanken, Sie allein mit ihm in diesem Haus zu wissen«, sagte Jim. Ich starrte ihn an. Dann mußte ich lachen. »Sie glauben doch nicht etwa -« »Nein, nein. Ich würde mir weniger Sorgen machen, wenn es das wäre. Dieser Mann hat nicht einen Funken menschlicher Wärme an sich. Chris sagt, er lebt schon seit Jahren am Rande des Wahnsinns. Es könnte jederzeit ausarten.« Er griff nach meiner Hand. Ich zog sie fort und stand endgültig auf. »Ich habe in meinem Leben noch nicht so einen Blödsinn gehört«, sagte ich kalt. Jims Augenbrauen schossen in die Höhe. Dann grinste er verlegen. Er sah so komisch aus, daß ich ihm nicht böse sein konnte. »Schon gut«, sagte ich. »Nichts für ungut. Aber ich muß jetzt wirklich gehen. Wir essen ein andermal zusammen, ja?« »Natürlich. Was ist mit der Verabredung zum Schwimmen? Sonntag ist unser freier Tag.«
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»Also, dann Sonntag um zehn. Wir treffen uns hier.« Ich kaufte noch etwas Fisch und ein paar Tomaten und machte mich auf den Weg. Die Nacht war mondlos und dunkel. Ich stolperte über die Steine und verwünschte mich, weil ich nicht daran gedacht hatte, eine Taschenlampe mitzunehmen. Schließlich erblickte ich in einiger Entfernung vor mir das Licht. Jetzt, da ich mein Ziel vor Augen hatte, brauchte ich mich nicht mehr so sehr auf die einzelnen Schritte zu konzentrieren. Ich ließ meinen Gedanken freien Lauf. All die Neuigkeiten und Eindrücke des Tages schwirrten mir durch den Kopf. Ich blieb ein paar Meter vor dem Haus stehen, um mir über die Dinge klarer zu werden, bevor ich Frederick entgegentrat. Da war zunächst seine seltsame Reaktion auf den Anblick der Frau, dann seine unglaubliche Offenbarung über die gesunkenen Schiffe. Zum erstenmal begriff ich das ganze Ausmaß dieses eventuellen Fundes. Entweder war er wahnsinnig, oder dort unten lagen tatsächlich Wracks von minoischen Schiffen. Nein, er mußte verrückt sein, denn nur ein Verrückter würde ein solches Projekt mit nur einem einzigen Helfer überhaupt 86
angehen. Sogar ich wußte, daß ein geschulter Archäologe bei Grabungsarbeiten nicht einfach zupackte. Ich selbst hatte keinerlei Ahnung, wie man ein bestimmtes Gebiet in Planquadrate aufteilte und entsprechende Unterlagen führte. Ich wußte noch nicht einmal, wonach ich überhaupt Ausschau halten sollte. Minoische Schiffe waren dreitausend Jahre älter als meine spanische Galeone. Besaßen sie Anker? Wenn ja, was für welche? Und was war mit dem Ballast? Gab es Mäste? Und dann war da noch das Problem der Ausrüstung. Eine Kamera war absolut notwendig. Hatte Frederick eine Unterwasserkamera? Ich bezweifelte es. Und wenn, ich hätte nicht einmal damit umgehen können. Je mehr mir bewußt wurde, wie wenig ich mich in all diesen Dingen auskannte, desto absurder kam mir das Ganze vor. Plötzlich jedoch kam mir ein Gedanke. Frederick war ein erstklassiger Archäologe. Kein Fachmann wie er würde es auch nur im Traum riskieren, eine derartige Entdeckung durch unsachgemäße Behandlung zu gefährden. Frederick fantasierte also. Es war das Ergebnis jahrelanger Enttäuschungen, trotz einer Überzeugung keine konkreten 87
Beweise zu finden. Im Grunde mußte auch er sich eingestehen, daß die Schiffe unmöglich dreitausend Jahre überlebt haben konnten. Nun, und da sie nicht überlebt hatten, gab es für mich auch nichts zu entdecken. Ich brauchte nur ein paar Stunden täglich herumzuschwimmen. Ich würde nicht sagen, daß es da unten nichts gab, ich würde nur sagen, daß ich es nicht finden konnte. In ein paar Wochen würden wir unsere Sachen zusammenpacken und nach Hause fahren. Zumindest ich. Frederick konnte gehen, wohin er wollte. Durch diese Überlegungen ein bißchen aufgemuntert, wandte ich mich dem nächsten Problem zu. Frederick und . . . Medea. Ja, das war ein passender Name für die dunkle, verblühte Schönheit. Sie sah aus wie Medea. Ich konnte mir auch gut vorstellen, daß sie imstande war, ihre Kinder umzubringen, wenn es darum ging, Rache an dem Mann zu üben, der sie verraten hatte. In der pechschwarzen Nacht einer fremden griechischen Insel hatten solche Gedanken durchaus etwas Furchterregendes. Ich fing schon an, überall die alten Griechen zu sehen – obwohl Medea eigentlich gar keine Griechin war, nicht mehr als Theseus und 88
Ariadne. Sie stammte aus noch älteren Zeiten, aus den dunklen Zeiten der Vorgeschichte, als die Menschen noch ihresgleichen opferten und beispielsweise ihren König töteten und sein Blut verspritzten, auf daß der Frühling wiederkehre. Ich sagte ein Wort laut vor mich hin. Ein vulgäres SiebenBuchstaben-Wort. Dies war nicht der Augenblick und schon gar nicht der Ort für grausame Fantasien. Fest stand, daß Frederick und . . . Medea nichts mit mir zu tun hatten. Vielleicht war sie früher einmal seine Geliebte gewesen. Auf jeden Fall war es ›früher‹ gewesen, es gehörte also der Vergangenheit an und ging mich nichts an, wie Jim sagte. Mein nächster Gedanke galt Jim. Er war der einzige Lichtblick in meinen Überlegungen. Aber auch da gab es eine Schattenseite. Ich hatte ihn angelogen, und ich haßte Lügen. Wenn ich ihm nicht selbst die Wahrheit sagte, würde er sie eines Tages von anderen erfahren. Sir Christopher zum Beispiel – wenn er Frederick kannte, mußte er wissen, daß er eine Tochter hatte. Möglicherweise hatte er mich selbst schon auf den Knien gewiegt, als ich noch ein Baby war.
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Ein Geräusch in der Dunkelheit hinter mir schreckte mich auf. Es mochte ein harmloses Tier gewesen sein, aber es trieb mich eiligst ins Haus. Frederick saß vor seinem üblichen Blechnapf und schob vor sich hin lesend einen undefinierbaren Brei in sich hinein. Ich legte den Fisch mit etwas Olivenöl in die Pfanne und begann die Tomaten zu schälen. Dabei beobachtete ich Frederick. Er tat mir fast leid. Nicht daß er mit seinem kalten Brei und dem trockenen Buch nicht glücklich gewesen wäre, aber er sah einsam aus. »Etwas Fisch?« fragte ich. »Ich habe bereits gegessen.« Er sah nicht von seinem Buch auf. »Es ist lächerlich, dauernd von diesen Konserven zu leben«, beharrte ich. Er antwortete nicht. Als ich ihm aber den Teller mit dem goldbraunen Fisch und den gedünsteten Tomaten unter die Nase hielt, konnte er nicht widerstehen. Er griff nach einer Gabel. Ich nahm ihm das Buch aus der Hand. Er wollte protestieren, ich ließ ihn nicht zu Wort kommen. »Ich weigere mich, gutes Essen an einen Mann zu verschwenden, der es nicht zu
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schätzen weiß«, sagte ich ernst. »Außerdem will ich mit dir reden.« »Hm«, machte Frederick. Er nahm einen Bissen Fisch, verbrannte sich den Mund und fluchte. »Ts, ts, ts«, machte ich. »So eine Sprache!« »Worüber willst du reden?« »Über vieles. Erst mal über die Frau. Wer war sie?« »Frau? Welche Frau?« Doch dann schien er sich zu erinnern. »Ach, die Frau. Ich habe keine Ahnung. Sie erinnerte mich einen Augenblick lang an jemanden, den ich früher einmal kannte. Es kann unmöglich dieselbe Person sein.« Er schwieg und starrte den auf seiner Gabel aufgespießten Fischhappen an. Wie immer auch die Beziehung gewesen sein mochte, die Erinnerung an sie schien nicht die beste zu sein. Sein Gesicht zeigte einen fast menschlichen Ausdruck von Schmerz und Bedauern. Dann schüttelte er sich und aß weiter. »Selbst wenn sie es wäre«, sagte er wie zu sich selbst, »würde es nichts ausmachen. Es war in der Vergangenheit. Aus und vorbei.« »Du hörst dich an wie Jim«, sagte ich, indem ich ihn neugierig beobachtete. »Auch er 91
sagte heute abend, daß man Vergangenes ruhen lassen sollte.« »Eine unpassende Haltung für einen Archäologen«, erwiderte er trocken. »Du weißt genau, wie er es meint.« »Schon möglich. Die Vergangenheit ist eine Angelegenheit für wissenschaftliche Studien, nicht für Gefühle. Gibt es sonst noch etwas, über das du reden willst?« »Willst du nicht über das – das Unterwasserunternehmen sprechen? Es scheint mir, als hätten wir da eine Menge Pläne zu machen.« »Meine Pläne sind bereits gemacht. Vorläufig wirst du morgens noch weiter an der Ausgrabungsstelle mitarbeiten. Nach dem Mittagessen, wenn die Männer ihre faule Siesta machen, wirst du tauchen. Wenn du später zurückkommst, werde ich mich pro forma bei Nicholas über die Verantwortungslosigkeit der heutigen Jugend beklagen. Das wird unser wirkliches Anliegen kaschieren.« »Nein«, sagte ich ruhig. »Ich sagte dir doch schon, daß ich nicht allein tauchen werde. Und vor allem nicht nach dem Mittagessen. Ich kenne diese Gewässer nicht, und ich
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weiß, verdammt noch mal, nicht, was für Getier es da drin gibt.« »In diesem Fall werden wir morgens an die Bucht gehen müssen, und zwar ein paar Stunden vor Arbeitsbeginn an der Grabungsstelle. Die Sonne geht vor sechs Uhr auf -« Ich stöhnte. Frederick ignorierte es. »Und den ganzen Sonntag«, fuhr er fort. »Vielleicht wirst du dir in ein paar Tagen zutrauen, alleine weiterzumachen.« Es war aussichtslos, mit ihm zu einer vernünftigen Übereinstimmung kommen zu wollen. Ich zuckte nur mit den Schultern. »Nun gut. Du wirst mich eben morgens wecken müssen. Von allein werde ich so früh nicht wach. Und jetzt, denke ich, wirst du mir sagen wollen, nach was ich überhaupt Ausschau halten soll.« »Nach allem, was nicht nach natürlicher Formation aussieht.« »Das ist vielleicht eine hilfreiche Auskunft! Krüge, nehme ich an. Was ist mit Ankern?« Die Frage nach den Ankern interessierte ihn. Sein Gesicht hellte sich auf. »Man hat angenommen, daß Schiffe erst ab dem siebenten Jahrhundert vor Christus Anker besaßen. Das scheint mir unlogisch. Es muß eine Me93
thode gegeben haben, Schiffe an einer Stelle festzuhalten, auch damals schon. Der durchbohrte Stein, der an einem Tau hing, scheint mir da die plausibelste Lösung. Ein dreieckiger Stein mit einem Loch in der Mitte ist von den Behörden als minoischer Anker identifiziert worden.« »Durchlöcherte Steine also. Was ist mit Masten?« »Natürlich gab es auch Mäste. Die Überlebenschance jedoch . . .« »Diese Amphoren, die du erwähntest, sehen sie so aus, wie die, die wir unter der Erde gefunden haben?« »Ja. Länglich mit zwei Henkeln, einem engen Hals und einem oval zulaufenden Boden.« »Was sonst noch?« »Alles. Es könnte da unten alles geben«, sagte Frederick. »Na ja, das ist wenigstens schon etwas. Und wenn ich nun wirklich etwas finden sollte, wie soll ich die Stelle markieren?« »Ein unauffälliger kleiner aufblasbarer Ballon«, antwortete er. Offensichtlich hatte er sich selbst darum schon Gedanken gemacht. »Wir werden also morgen anfangen«, sagte ich und räumte das Geschirr zusammen. 94
Ich hatte ihm den Rücken zugewandt, als er plötzlich ein lautes Hüsteln von sich gab. »Du glaubst nicht daran, daß du etwas finden wirst, nicht wahr?« »Hm«, ich drehte mich um. »Das habe ich nicht gesa -« »Es klingt aus jedem deiner Worte heraus.« Seine Augen verengten sich. »Und ich kann es dir nicht einmal verübeln. Du scheinst einen einigermaßen funktionierenden Verstand zu haben. Ich werde also nicht umhin können, dir das hier zu zeigen. Es ist aus der Bucht.« Er hielt mir seine Hand entgegen. Ein flacher, ungleichmäßiger Gegenstand lag darin, der den gesamten Handballen bedeckte. Er schimmerte golden – die einzige Substanz, die nicht korrodierte, weder in der Erde noch im Meerwasser. Ich griff danach. Er stieß eine Warnung aus, doch sie war überflüssig. Der Gegenstand war nicht so zerbrechlich wie er aussah. Die metallische Unterlage war stark verwittert, grüne und verrostete Reste waren noch an den Enden zu erkennen, aber die Oberfläche war mit einer harten, glänzenden Substanz überzogen, die aussah wie schwarzes Plastik. In diese schwarze Oberfläche waren winzige goldene Figuren von Tieren, Blumen 95
und Menschen geritzt. Eine Katze mit einem Vogel im Maul, zwei Lotosblüten, ein Mann, ein Jäger mit einem langen Speer und einem mannshohen, achteckigen minoischen Schild. Die winzigen Figuren waren mit so viel lebendiger Kunstfertigkeit dargestellt, daß man selbst den Todeskampf des Vogels und die lüsterne Gefräßigkeit der Katze erkannte. Frederick brauchte mir nicht zu sagen, was es war. Ich hatte die Dolche aus den Gräbern in Mykene im Museum von Athen gesehen. Dies war der Teil einer Klinge eines solchen verzierten Dolches. Die in Athen ausgestellten Dolche hatte man auf dem Festland gefunden, aber es wurde angenommen, daß sie in Kreta hergestellt worden waren. Sie waren nur in königlichen Gräbern gefunden worden. Offensichtlich waren es Gegenstände, die als so kostbar galten, daß man sie ihren toten Besitzern mit ins Grab legte. »Gut«, sagte ich und holte tief Luft. »Ich bin nicht sicher, ob ich an deine Schiffe glaube, aber du hast mich überzeugt, daß irgend etwas da unten sein muß.«
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6 Über einen Pfad quer durch das Oberland erreichten wir die Bucht der weißen Villa. »Ob wir unbefugtes Gebiet betreten?« fragte ich. »Vielleicht ist die Bucht Privatgelände und gehört zu der weißen Villa.« »Die See ist für alle da«, erwiderte Frederick. »Na ja, wir können es drauf ankommen lassen. Wenn wir verwarnt oder verjagt werden, ist das dein Problem.« Frederick antwortete nicht. Diese Frage schien ihn nicht zu berühren. Wir kletterten über die Klippen hinunter zum Wasser. Ich hatte in der vergangenen Nacht nicht gut geschlafen. Ich hatte lange wachgelegen und über Fredericks Theorien nachgedacht. Was er sagte, schien logisch. Die südliche Küste von Thera und der der Mutterinsel Kreta am nächsten gelegene Teil der Insel boten sich als Hafen geradezu an. Es gab Auffassungen, nach denen die Hauptstadt im Zentrum der Insel gelegen hatte. Diese Auffassungen beruhten unmittelbar auf Platos Atlantis-Erzählung. Doch bei allem Respekt vor Plato schien es mir doch glaubwürdiger,
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daß die großen Seefahrerstädte an der Küste lagen. Das Zentrum der Insel war nicht der einzige Teil, der in den Kraterschlund hinabgerissen worden war. Es gab noch einen äußeren Kraterrand an der Südküste. Dort müßten die Hafenbecken gelegen haben, auf der Leeseite der Insel, dem Mutterland Kreta zugewandt. Ich tauchte ohne Gerät. Frederick hatte mir keine Kompressoren besorgt. Aber meine ersten Erfahrungen hier hatten mich bereits überzeugt, daß ich eine Menge Sucharbeit ohne Taucherausrüstung würde tun können. Das Wasser war nicht allzu tief und es war warm. Die Schönheit der Unterwasserwelt begeistert mich immer wieder von neuem. Die Transparenz des Wassers verlieh den Dingen einen scharfen Glanz. Der Meeresboden wies kaum Pflanzenwuchs oder schlammige Regionen auf. Zwischen den vielen Felsen und Lavabrocken gab es weiße oder schwärzliche Sandlöcher, je nachdem, wie die Lavamassen zerrieben worden waren. Mit ein wenig Fantasie konnte man sich hier leicht die Ruinen einer ehemaligen Stadt vorstellen. Lockere Steinhaufen könnten zusammengefal98
lene Türme sein, Felsbänke sahen aus wie die Reste von Mauern mit gähnenden Löchern für Türen und Fenster. Aber ich wußte, daß das, was ich sah, nicht von Menschenhand geschaffen war. All diese Steine hatte der Vulkan ausgeworfen, oder es waren Stücke von eingebrochenen Klippen. Um das Gebiet systematisch abzusuchen, mußte ich in einer Art Gittermuster schwimmen. Es würde viel Zeit in Anspruch nehmen, denn ich würde jede verdächtig aussehende Formation untersuchen müssen. Die Sonne war inzwischen ganz aufgegangen, und der östliche Himmel erstrahlte in flammendem Rot. Ich winkte Frederick zu, der zusammengekauert auf einem Felsen hockte. Er hob schlaff die Hand, und ich tauchte wieder unter. Ich schwamm in Richtung auf die Öffnung der Bucht. Das Wasser wurde hier tiefer. Vorne, an der Öffnung, war es etwa zwanzig Meter tief. Es war möglich, da unten zu arbeiten, jedoch nur für kurze Zeit. Im Notfall würde ich an den hier steil abfallenden Felswänden nach oben klettern müssen. Fische aller Größe und Arten huschten um mich herum. Die Sicht war ausgezeichnet.
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Plötzlich jedoch löste sich alles in Nichts auf. Ein paar Fische noch, ja, aber es war kein Grund mehr zu sehen. Vor mir und unter mir gähnte ein bodenloser schwarzer Schlund. Es gibt nicht viele Dinge unter Wasser, die mir Angst einjagen, aber dies hier versetzte mir einen Schock. Erschrocken schnellte ich vom Riff zurück. Danach blieb ich erst einmal ein paar Minuten still im Wasser liegen, bis sich mein Herz wieder beruhigt hatte. Dann schwamm ich noch einmal zurück an den Abgrund und tauchte. Ich hielt mich entlang der Kante. Ich schäme mich nicht, zuzugeben, daß ich Angst hatte. Vorsicht ist ein Zeichen von gesundem Menschenverstand. Aber dies hier war keine vernunftmäßige Angst, es war eine irrationale Angst. Angst vor einer lichtlosen Tiefe, Angst vor der Dunkelheit. Es war mir, als ob sich jeden Augenblick von unten eine monströse Masse emporhieven und mit schlängelnden Tentakeln nach mir greifen könnte. Es war lächerlich. Ich konnte ebensogut in flachen Gewässern ertrinken wie in fünfhundert Meter Tiefe, und das Monster war reine Einbildung. Dies mußte der ehemalige äußere Kraterrand gewesen sein. Der Trichter in der Mitte war zweifellos mehrere hundert Meter tief. 100
Tauchen war, wenn überhaupt, hier nur mit hochqualifizierter Ausrüstung möglich. Ich hatte für heute die Nase voll. Ich schwamm zurück zu der Stelle, wo Frederick auf mich wartete, und tauchte vor seinen Füßen auf, spuckte das Mundstück aus und schob die Brille zurück. »Was hast du gefunden?« fragte er. »Nichts.« Ich zog mich auf den Felsen und langte nach einem Handtuch. »Nichts, wenn du Ruinen oder Wracks meinst, aber es gibt da unten ein verdammt großes Loch.« »Ein Teil des Kraters. Nichts würde da unten überlebt haben. Der Wasserdruck muß enorm sein.« »Laß uns gehen«, sagte ich. »Mir ist kalt, und ich habe Hunger.« Wir überquerten wieder das Plateau. Ich hatte Tränen in den Augen. Es mußte das Salzwasser sein, denn ich glaubte mich doch ganz gut damit abfinden zu können, daß mein Vater zuerst an seine Altertümer dachte und dann an mich. Nein, auch das war falsch. Er dachte überhaupt nicht an mich. Am nächsten Morgen begann ich mit der Suche. Die erste Durchquerung der Bucht dauerte zwei Stunden. Ich war erschöpft, als ich aufhörte. 101
Tags darauf machte ich die zweite Durchquerung drei Meter unterhalb der ersten. Da die Bucht breiter wurde und das Wasser tiefer, genügten diesmal zwei Stunden nicht. Die Arbeit wäre viel leichter gewesen, wenn ich die nötige Ausrüstung gehabt hätte. Frederick schien sich jedoch darum herumdrücken zu wollen. Etwas jedoch, was ich noch notwendiger brauchte, war ein Boot oder ein Floß oder ähnliches, was ich draußen in der Bucht verankern konnte, für den Fall, daß ich aus irgendeinem Grund schnell aus dem Wasser mußte. Wenn mir tatsächlich etwas zustieß, war Frederick, in zwanzig Meter Entfernung auf einem Felsen hockend, keine große Hilfe. Als er Anstalten machte, mich am Sonntagmorgen aus meinem Schlafsack zu rütteln, rührte ich mich nicht. Ich war ohnedies mit Jim verabredet. Ich erklärte Frederick, daß Jim mich suchen kommen würde, falls ich mein Versprechen nicht einhielt. Er gab schließlich nach. Er versprach sogar, sich um ein Boot zu kümmern. Ich zog meinen schönsten Kaftan über den Badeanzug, nahm Taucherbrille und Flossen und machte mich auf den Weg ins Dorf. Ich war noch keine zehn Schritte gegangen, da 102
triefte ich schon vor Schweiß. Die Luft war selbst für das Mittelmeerklima zu heiß. Ich freute mich schon auf das erfrischende Bad, aber nicht nur auf das. Als ich Jim an einem der Tische auf der Hotelterrasse erblickte, machte mein Herz einen Freudensprung. Er trug ein blaues Hemd und Jeans. »Ich dachte, wir wollten schwimmen gehen«, rief ich schon von weitem. »Trinken Sie erst mal einen Kaffee«, rief er zurück. »Heiß«, stöhnte ich, als ich endlich bei ihm angelangt war. »Erdbebenwetter«, sagte er. Ich sah ihn erschreckt an. Er grinste. »Zumindest sagen das die Leute. Möglich ist es schon. Dieses Gebiet ist seismisch instabil.« »Ich weiß alles über die Geschichte von Thera«, sagte ich. »Aber ich dachte, das sei längst vorbei mit den Erd-« »Wir in Kalifornien haben ständig Erdbeben«, sagte Jim wie zur Beruhigung. »Allerdings war ich noch nie im Wasser, wenn die Erde bebte. Ich bin mir nicht sicher, ob das ratsam ist.« Angelos, der Besitzer des Hotels, bediente uns persönlich. Jim machte uns bekannt. Ich 103
begrüßte ihn mit meinem besten Griechisch, woraufhin er breit grinste. Er war einer der fettesten Griechen, die ich je gesehen hatte – Resultat seiner Tätigkeit vielleicht, denn Jim erklärte mir, daß er und seine Frau das kleine Hotel ganz allein bewirtschafteten. Er und Jim wechselten ein paar Worte. Jim übersetzte. »Er sagt, wir könnten ruhig schwimmen gehen. Es kann einige kleine Erschütterungen geben, aber nichts von Bedeutung.« Ich betrachtete Angelos skeptisch. »Wie kann er das wissen?« fragte ich. »Er sagt, er fühlt es. Das ist schon möglich, wissen Sie. Einige der Inselleute behaupten, daß sie ein Gefühl dafür hätten. Sie kriegen Schwindelanfälle, Kopfschmerzen . . .« Angelos schien zu wissen, über was wir sprachen. Er nickte heftig und sagte etwas. Dann schlug er Jim kräftig auf die Schulter, ließ seine Augen in meine Richtung rollen, machte eine Bemerkung, die Jim selbstbewußt dreinblicken ließ. »Geh’n wir«, sagte er. Als wir auf der Straße unterwegs zum Strand waren, fragte ich ihn, was Angelos über mich gesagt hatte. »Das können Sie sich sicher denken.« 104
»Hmmm.« Jim schien schnell das Thema wechseln zu wollen. »Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen, aber ich habe für uns eine Verabredung zum Mittagessen getroffen. Mein Chef möchte Sie gern kennenlernen.« »Warum?« »Warum zieren Sie sich so? Warum sollte er Sie nicht kennenlernen wollen?« »Gut, gut. Es wird ein lustiges Mittagessen mit Sir Christopher werden.« Am Pier unten lungerten eine Menge Männer herum. Griechische Männer lungern viel herum – an Straßenecken, in Cafés, an den Piers. Sie begrüßten Jim überschwenglich. »Die Fischerboote sind draußen«, sagte er, während er sich umsah. »Das bedeutet aller Wahrscheinlichkeit nach, daß alles in Ordnung ist. Lassen Sie uns ein Stück hinunter an den Strand gehen.« Das Meer lag so glatt und reglos da wie ein Teich an einem Tag ohne Winde. Wir fanden ein hübsches, ruhiges Plätzchen hinter ein paar Felsen, die zwischen uns und dem Pier lagen. Ich zog mein Kleid und die Schuhe aus und schlüpfte in die Flossen. Dann sah ich auf. 105
Etwas durchzuckte mich. Jim stand ein paar Schritte entfernt von mir und beobachtete mich. Er hatte einen schlanken Körper mit relativ breiten Schultern. Die Muskeln über seinem Brustkorb waren straff und glatt. Er war braungebrannt. Aber diesen einen geisterhaften Augenblick lang sah er aus wie der Mann in meinem Traum. Die atemlose Stille in der Luft und die ölige, glatte Oberfläche des Meeres, gegen die er sich abhob, trugen noch zu der unheimlichen Stimmung bei. Der Eindruck war ebenso schnell verschwunden, wie er gekommen war. Ich sprang auf, ohne daran zu denken, daß ich die Flossen bereits angezogen hatte. Ich stolperte, und Jim fing mich mit einem Arm auf. »Hoffentlich schwimmen Sie besser als Sie laufen«, sagte er lächelnd. Das war eine Herausforderung, die ich nicht auf sich beruhen lassen konnte. Ich vergaß mein halbgefaßtes Vorhaben, herumzuplanschen, als sei ich nur eine mittelmäßige Schwimmerin. Ich schwamm Ringe um ihn. Er war gut, aber nicht von meiner Klasse. Als wir genug hatten, schwammen wir um die Wette zurück an Land. Ich war ein gutes Stück vor ihm da. Er keuchte. Sein Brust106
korb hob und senkte sich wie eine Pumpe. »Großer Gott, Sie sind gut«, sagte er atemlos. »Wie wär’s, wenn Sie mir Unterricht gäben?« Erst jetzt erinnerte ich mich wieder an mein Vorhaben. Ich hätte auf so etwas gefaßt sein müssen. Ich blickte in sein lächelndes Gesicht. Seine Augenwimpern waren zu kleinen nassen Büscheln zusammengeklebt, und die Augen darunter sahen mich mit Bewunderung und Vergnügen an. Es gab nicht einen einzigen bösen Zug in diesem Gesicht. Es war so aufrichtig und offen wie – wie ich nicht war. Es kam ihm nicht in den Sinn, daß ich mein Können zu illegalen Zwecken ausnützen würde. »Oh, na ja«, murmelte ich. »Sie sind selber recht gut.« »Nicht so gut wie Sie.« Er sah mich noch immer bewundernd an, ohne jede Spur von verletzter männlicher Eitelkeit oder Neid. Ich wußte plötzlich, daß ich ihm die Wahrheit über mich sagen mußte, sonst würde ich ihm nicht mehr ins Gesicht sehen können. Ich hatte gerade meinen Mund geöffnet, um mit der Beichte zu beginnen, als die Erde unter mir bebte.
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Ich meine, sie bebte wirklich. Dieses sinkende Gefühl spielte sich nicht in meinem Inneren ab, es kam vom Erdboden. Es war, als ob ein Flugzeug in ein Luftloch absackte und dann wieder angehoben wurde. Als die Bewegung vorüber war, lagen Jim und ich flach auf dem Boden. Er hatte die Arme um mich geschlungen, und ich klammerte mich an ihn wie eine Ertrinkende. In einer einzigen herrlichen, sanften Bewegung stand er auf und zog mich mit sich. »Nettes kleines Erdbeben«, sagte er und küßte mich. Es sprach für Jims Küsse, daß ich nicht mehr wußte, ob der Boden unter meinen Füßen wirklich bebte oder ob es mir nur so vorkam. Als er schließlich seinen Kopf hob, sah ich, daß er lächelte. »Wir sollten lieber zurückgehen«, sagte er und sammelte unsere verstreuten Kleidungsstücke ein. Wieder bebte es. Ich strauchelte, und Jim legte wieder den Arm um mich. Meine Zähne fingen an zu klappern. »Großer Gott«, stöhnte ich, »das ist ja schrecklich.« »Ich sehe, daß du mit Erdbeben noch keine Erfahrungen hast. Das war ein Babybeben, 108
bloß ein Zittern. Nun komm, sei ein großes Mädchen.« Wir gingen ein paar Schritte, aber ich zitterte immer noch und stolperte ständig über meine Sandalen. Jim hob mich auf seine Arme. Er war ein ganzes Stück stärker als er aussah. Als wir uns dem Pier näherten, ertönte schallendes Gelächter. Ich hob den Kopf von Jims Schulter und sah die Männer am Pier stehen, die uns beobachteten. »Laß mich runter«, sagte ich. »Bist du sicher . . .?« »Ja. – Gibt es noch mehr Erdbeben?« »Wie soll ich das wissen?« Er küßte mich noch einmal. Ich hatte nicht die Absicht, diesen Kuß zu erwidern, aber es geschah von ganz allein. Als das stürmische Rauschen in meinem Kopf abklang, bemerkte ich wieder die Männer am Pier. Sie lachten jetzt noch lauter. »Laß mich runter, verdammt noch mal«, rief ich. »Ich habe nicht die Absicht, diesen Voyeuren eine kostenlose Show zu bieten.« Jim stellte mich auf den Boden. Ich zog die Sandalen aus und stakste mit aller Würde, die ich aufbringen konnte, zur Treppe. Mit 109
hocherhobener Nase ging ich an den Zuschauern vorbei. Jim ging hinter mir. Er sagte etwas zu den Männern, als Antwort darauf ertönte wieder Gelächter. Dann holte Jim mich ein, und ich fragte: »Was hast du gesagt?« »Ich sagte ihnen, daß du mein Mädchen bist.« »Was meinst du damit, dein Mädchen?« »Ich hätte sagen sollen, meine Frau . . .« Ich machte Anstalten zu widersprechen. Er unterbrach mich, indem er mir mein Kleid reichte. Ich zog es an. »Du mußt folgendes wissen«, begann er wieder. »Was die sexuelle Moral anbetrifft, so leben diese Leute hier noch im neunzehnten Jahrhundert. Es gibt zwei Arten von Frauen hier -gute, anständige Frauen, die zu Hause bleiben und ihre Kochtöpfe hüten, und – die andere Sorte. Westliche Frauen verwirren diese Burschen. Sie betrachten Frauen noch als ihren Besitz. Das mag dir nicht gefallen, mir gefällt es auch nicht. Aber es ist wahrscheinlicher, daß sie mein Besitzerrecht respektieren als deine Gefühle. Nicht daß ich versuchen wollte, deine außerehelichen Aktivitäten zu -« »Schon gut«, sagte ich. »Ich habe keine -« 110
In diesem Augenblick geschah es. Ich konnte es auf die Sekunde genau festlegen, es geschah zwischen dem ›keine‹ und dem nächsten Wort. ›Pläne‹ hatte ich sagen wollen. Ich tat es nicht. Wir hatten uns angesehen, unsere Blicke hatten sich ineinander vertieft, wie es so schön heißt. Es war eine Begegnung, die mehr Bedeutung hatte als jede physische Berührung. Keiner von uns sagte ein Wort. Worte waren überflüssig. Wir gingen die ansteigende Straße zum großen Platz hinauf, Hand in Hand. Der Gottesdienst war gerade zu Ende, die Leute standen auf dem Platz herum, plauderten oder tranken Kaffee. Dies war ihr einziger Ruhetag, und sie genossen ihn. An einem der Tische auf der Terrasse saß ein Mann. Er war mir sofort aufgefallen, weil er einen Hut trug. Eine teuer aussehende Tweedkappe – eine Tweedkappe an einem solchen Tag! Ich stieß Jim an und deutete in die Richtung des Mannes. »Sir Christopher?« »Richtig.« Er sah uns kommen. Als wir die Terrasse betraten, stand er auf und hielt mir lächelnd einen Stuhl hin. Die Mütze wurde mit einem galanten Schwung gezogen. Da begriff ich, 111
warum er sie trug. Sein Kopf war so kahl wie ein Ei, und ohne Schutz hätte die rosige Kopfhaut ebenso gebraten wie ein Ei. Als Ausgleich für das haarlose Haupt hatte er sich einen beachtlichen Schnurrbart zugelegt, dessen Enden sich wie Büffelhörner nach oben wölbten. Er war groß und schlank und auf seine knochige Art recht gut aussehend. Und er hatte ein gewinnendes Lächeln. »Wie geht es Ihnen, Miß Bishop?« sagte er. »Ich hoffe, daß unser kleines Erdbeben Sie nicht erschreckt hat.« »Es hat«, gestand ich. »Es besteht keine Gefahr, solange Sie sich nicht in einer Schlucht befinden, oder unterhalb der Klippen, wenn lose Felsen herabgeschüttelt werden. Sie mögen gemerkt haben, daß die Häuser hier vornehmlich auf bogenförmigen Fundamenten stehen, eine Bauweise, die sich bei Erdbeben besonders bewährt. Ich habe diese Häuser hin und her wackeln sehen, aber sie stürzen nur selten ein.« Sir Christopher lächelte bei meinem wenig überzeugten Gesicht. »Sie werden sich an Erderschütterungen gewöhnen müssen, wenn Sie längere Zeit in diesem Teil
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der Erde bleiben«, fügte er beruhigend hinzu. »Es scheint, als gäbe es hier öfter Erdbeben«, sagte ich. »Ich habe davon gelesen, aber wenn man es selbst erlebt . . . Was ist eigentlich mit dem Vulkan?« »Recht aktiv«, bemerkte Sir Christopher sehr freundlich. »Aber keine Angst, so etwas wie den großen Ausbruch von vierzehnhundertfünfzig werden Sie sicher nicht erleben. Das einzige weitere Desaster dieses Ausmaßes geschah etwa um fünfundzwanzigtausend vor Christus.« Er kicherte, als er mich an den Fingern zählen sah. »Es liegen fast fünfundzwanzigtausend Jahre dazwischen, meine Liebe. So etwas wie den Ausbruch des fünfzehnten Jahrhunderts hat es seit unserer Geschichtsschreibung nicht gegeben - außer Krakatoa, und dieser Ausbruch war weit weniger wuchtig als der von Thera.« »Krakatoa war schlimm genug«, sagte Jim. »Die Berichte von Augenzeugen haben erstaunliche Ähnlichkeit mit gewissen Legenden, die uns aus früheren Zeiten überliefert wurden.« Er warf Sir Christopher einen Blick zu. Dieser lachte leicht. 113
»Jim und ich lieben es, über seine Theorien zu streiten. Atlantis, die griechische Legende der Sintflut, die Exodus-Geschichte -« »Dann halten Sie also nichts von dem Gedanken, daß Thera — Atlantis ist?« fragte ich. »Oh, ich glaube, die Mehrheit der Wissenschaftler ist sich inzwischen einig, daß der Ausbruch und die damit verbundene Vernichtung der kretischen Städte den Kern zu Platos Geschichte geliefert haben mag«, sagte Sir Christopher leichthin. »Aber ich kann den Enthusiasten einfach nicht zustimmen, die jedweden Mythos auf dieses Ereignis zurückführen wollen.« »Nicht alle Mythen«, warf Jim ein und machte einen leicht indignierten Eindruck, als Sir Christopher sich umwandte und ihn mit einem amüsierten Lächeln bedachte. »Aber es gibt Verbindungen zwischen dem Ausbruch und der Geschichte vom Weltuntergang. Die Sache ist zu pragmatisch, um einfach nur als Zufall abgetan zu werden. Wir wissen vom Krakatoa-Ausbruch, daß Vulkantätigkeiten diesen Ausmaßes von Erdbeben, Regen, Hagel, Blitzen begleitet werden. Das sind alles Nebeneffekte, die in der Bibel beispielsweise in Zusammenhang mit der Sint114
flut genannt werden. Gebiete, die zweihundertfünfzig Kilometer von Krakatoa entfernt lagen, wurden von totaler Finsternis heimgesucht, und wie Sie schon sagten, der Thera-Ausbruch war beachtlich größer als der von Krakatoa.« Sir Christopher nickte gelangweilt. Sein Lächeln, das ich anfangs als so angenehm empfunden hatte, fing an, mir auf die Nerven zu gehen. »Wir werden es nie wissen, nicht wahr? Spekulationen dieser Art sind sehr unterhaltsam, aber nicht von wissenschaftlichem Wert, mein Junge.« »Lassen wir die Erdbeben. Reden wir von etwas anderem«, mischte ich mich ein. »Natürlich.« Sir Christopher lächelte immer noch. »Wie geht es meinem alten Freund Frederick?« »Gut«, sagte ich. »Freut mich, das zu hören. Ich sah ihn neulich und fand, daß er durchaus nicht besonders gut aussah. Er hat nie richtig auf sich selbst geachtet. Ißt er noch immer aus Blechdosen?« »Ja«, sagte ich. »Ich meine, nein, nicht immer. Manchmal koche ich.« »Ich freue mich, daß er jetzt jemanden hat, der sich um ihn kümmert.« 115
»Ich dachte, Sie könnten ihn nicht ausstehen«, sagte ich. Sir Christopher zog eine Augenbraue hoch. »Wie kommen Sie nur zu dieser Annahme? Der arme Kerl tut mir in Wirklichkeit leid. Es gab eine Zeit, da sah ich in ihm den glücklichsten Menschen der Welt. Er hatte Erfolg im Beruf, gute Gesundheit, gutes Aussehen, eine hübsche, ergebene junge Frau und ein Kind . . .« Die Pause war meiner Meinung nach recht lang. Dann fuhr er fort »Frederick machte sich selbst kaputt. Oder besser Sein einer Fehler ruinierte ihn. Es war eine Tragödie im klassisch-griechischen Sinn, ein schwarzer Punkt in einem sonst noblen Charakter -« Jim war im Verlauf dieses Gespräches ziemlich unruhig geworden. Jetzt unterbrach er ihn. »Nicht ganz wie die klassischgriechischen Tragödien, Chris. Die griechischen Helden versagten, weil sie dem Mißfallen des einen oder anderen verspielten Gottes ausgeliefert waren.« »Wenn Frederick ein religiöser Mensch wäre, müßte er davon überzeugt sein, daß ein Fluch auf ihm lastet«, fuhr Sir Christopher freundlich fort. »Ich bin sicher, daß er bis
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heute nicht begreift, warum seine Karriere ruiniert ist. Er hat menschlich versagt.« Sir Christopher bedachte Jim mit einem bedeutungsvollen Blick. »Es ist eine eher schmerzliche Geschichte«, sagte er dann leise. Jim wurde rot. »Ich habe Ihnen schon gesagt, Chris, daß es mich im Grunde nichts angeht. Ich wünschte, Sie würden nicht darüber reden« »Es tut mir leid, mein Junge. Es ist eben eine sehr schmerzliche Geschichte für mich, auch noch nach all diesen Jahren.« Jim hatte jetzt die Farbe einer hübschen reifen Tomate. »Oh, bitte verzeihen Sie«, murmelte er. »Ich wollte nicht -« »Um Himmels willen«, platzte ich heraus. »Entweder Sie erzählen jetzt, was los ist, oder wir reden sofort über etwas anderes. Und wenn Sie glauben, daß ich in den Chor der Entschuldigungen mit einstimme, haben Sie sich geirrt.« Ich war nicht verlegen, ich war wütend. Ich konnte diese Art von Andeutungen und liebenswürdigen Sticheleien nicht ausstehen. Und schon gar nicht, wenn sie gegen Jim gerichtet waren.
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»Sie brauchen sich auch nicht zu entschuldigen«, sagte Sir Christopher mit einem verzeihenden Lächeln. »Sie können ja nicht wissen, daß das Thema für Sie .. . nun, sehen Sie, meine Liebe, Ihr . . . Arbeitgeber und ich waren vor dem Krieg zusammen in Oxford. Frederick war ein Rhodos-Forscher. Wir wurden Freunde – wir beide und noch ein junger Student mit Namen Durkheim. Man nannte uns die drei Musketiere. Es war das gemeinsame Interesse für die vorklassische Geschichte, das uns verband. Durkheim war der älteste von uns, ich glaube, vielleicht war er auch der Brillanteste. Er hatte das Linear B Script studiert, und wenn er am Leben geblieben wäre . . . Aber ich greife den Dingen vor . . . Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, wurde Durkheim nach Kreta beordert. Ich ging mit ihm. Wir waren nicht lange da gewesen, als noch jemand auftauchte. Ihr . . . Frederick. Keiner wußte, wie er es geschafft hatte. Es waren die ersten Monate des Jahres 1941, bevor Amerika in den Krieg eintrat, und Ihre Regierung hatte ihre Bürger nicht gerade ermuntert, nach Europa zu reisen. Dennoch, da war er! Unerschütterlich wie eh und je
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und ängstlich besorgt um seine kostbaren Altertümer. Wie Sie vielleicht wissen, kam kurz darauf die deutsche Invasion. Unsere Truppen kämpften noch für kurze Zeit, nach und nach waren wir jedoch gezwungen, uns zurückzuziehen. Die deutschen Truppen besetzten die Insel. Durkheim blieb als Verbindungsoffizier zur örtlichen Untergrundbewegung zurück, und ich blieb ebenfalls. Ebenso Frederick. In seiner ihm eigenen Art war er kompetenter für die Untergrundbewegung als wir anderen. Er hatte vor dem Krieg zwar nur kurze Zeit auf Kreta verbracht, aber er kannte das Land so gut wie Durkheim. Kreta ist ein gutes Terrain für Guerillakämpfer, aber die Deutschen schafften es, die Widerstandskämpfer nach und nach einzukreisen. Durkheim wurde gefangengenommen. Ich weiß nicht, wie es dazu kommen konnte. Die Leute, die noch bei ihm waren, sind alle tot. Frederick und ich waren nicht bei seiner Gruppe; wir hatten uns getrennt durch die Berge geschlagen. Ich traf Frederick später an einem verabredeten Ort. Er war es, der mich damals von Durkheims Gefangennahme in Kenntnis 119
setzte. Unsere Pläne, ihn zu befreien, waren vergebens, denn als einer der Männer aus dem Dorf zu uns stieß, teilte er uns mit, daß Durkheim bereits exekutiert worden war.« Ich zollte Sir Christopher einen Moment des Schweigens, ehe ich mich an Jim wandte. »Wer war er? Dein Vater?« »Dein Kombinationstalent ist beachtlich«, sagte Jim. »Er war mein Onkel. Der ältere Bruder meiner Mutter. Aber lassen wir doch diese alten Geschichten. Ich habe ihn nicht ein einziges Mal gesehen. Ich wurde erst nach seinem Tod geboren.« Sir Christopher schwieg, und nach einer Weile fuhr Jim fort: »Für Sie ist das anders, Chris. Sie kannten ihn. Er war Ihr Freund. Ich meine -« »Ganz richtig, mein Junge. Denken Sie nicht mehr daran. Ich verstehe vollkommen Ihre Haltung.« Oh, er war ein Experte, dieser Mann. Er hatte es fertiggebracht, uns beide verstummen zu lassen und uns obendrein noch Schuldgefühle einzuflößen. Er wußte, was er tat. Er blickte erwartungsvoll von mir zu Jim, als ob er von uns ein Argument erwartete, dann schlug er vor, das Thema zu wechseln.
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»Wie war Ihr Bad? Haben Sie es genossen? Sie sind eine hervorragende Schwimmerin, junge Dame. Ich hätte große Lust gehabt, mich zu Ihnen zu gesellen.« »Oh«, sagte ich. »Sie haben uns gesehen?« »Ich ging gerade an dem Ufer oberhalb der Klippen spazieren. Sie sollten sich der Unterwasserarchäologie widmen, meine Liebe. Das ist ein neues und weites Feld. Ich hoffe, eines Tages einige der versunkenen Hafenanlagen in Kreta zu untersuchen. Vielleicht kann ich Sie überreden, dabei mitzumachen.« Es stand außer Frage. Er wußte es. Das Katz-und-Maus-Spiel fing an, mir auf die Nerven zu gehen. Vielleicht sollten es keine Drohungen sein, vielleicht versuchte er mich nur zu warnen. Er strahlte geradezu vor Wohlwollen, wie Jupiter ohne Bart und Haare. Jim sah verwirrt aus. Er wußte, daß etwas im Gange war, aber Gott schütze seine ehrliche Seele, er wußte nicht, was. Sir Christopher wandte sich an ihn. »Jim, Sie sollten sich lieber etwas überziehen. Es ist doch recht kühl hier im Schatten.« »Stimmt. Bin gleich zurück, Sandy.« Sobald er außer Sicht war, wandte ich mich an Sir Christopher. Ich wußte, daß ich die 121
Initiative ergreifen mußte, sonst würde dieser Mann mich mit seinem sanften, freundlichen Lächeln nur noch weiter einschüchtern. »Okay«, sagte ich. »Wie sind Sie darauf gekommen?« »Auf was gekommen?« Diese verdammte Augenbraue zog sich in die Höhe. »Daß ich Fredericks Tochter bin.« Es war draußen. Einen Augenblick lang war ich erleichtert, als ob ich einen Stein geworfen hätte, der mir seit einiger Zeit in der Hand lag. »Sie sind erstaunlich direkt, junge Dame«, sagte Sir Christopher und sah amüsiert aus. Ich zuckte mit den Schultern. »Normalerweise nicht. Ich wurde mehr oder weniger in diese Lüge hineingezogen. Sie haben Jim nichts davon gesagt. Warum nicht?« »Aber, mein liebes Mädchen, das ist doch Ihre Angelegenheit. Wenn Sie es vorziehen, es ihm nicht zu sagen, warum sollte ich mich einmischen?« »Ich werde es ihm sagen. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie es mir nicht vorwegnehmen würden.« »Wenn ich Ihr Geheimnis hätte verraten wollen, hätte ich es sicher längst tun können.« 122
Ich atmete laut hörbar auf. Sein Lächeln verschwand. »Mein liebes Kind«, rief er entrüstet. »Sie denken doch nicht, daß ich das gegen Sie ausnütze? So einer bin ich nicht. Handeln Sie, wie Sie es für richtig halten.« Ich hatte bereits ein Wort der Entschuldigung auf den Lippen, hielt es aber noch rechtzeitig zurück. Vielleicht hatte ich ihn falsch eingeschätzt. Wahrscheinlich sogar. Aber ich wollte mich trotzdem nicht entschuldigen. Er wartete einen Augenblick ab und fuhr dann fort: »Seien Sie nur vorsichtig mit Ihrem Tauchen! Wenn ich Frederick richtig kenne – und ich glaube, ich kenne ihn -, so wird er Sie eher antreiben, als Sie zur Vorsicht zu mahnen. Sie dürfen keine unbedachten Risiken eingehen.« »Tauchen?« fragte ich unschuldig. »Nun, nun«, rief Sir Christopher ungeduldig. »Das ist Ihrer nicht würdig, Sandy.« »Ich nehme an, Sie haben den Artikel im Geographic gelesen«, sagte ich resignierend. »Nein, aber ich wußte, daß Frederick eine Tochter hat. Und als eine hübsche junge Dame mit genau dem passenden Alter hier 123
auftauchte, zog ich meine Erkundigungen ein.« »Sie könnten ihn anzeigen . . . ich meine, wenn Sie glauben, daß ich hier tauche -« »Ich habe nicht die Absicht, irgend jemanden anzuzeigen«, unterbrach mich Sir Christopher leicht verärgert. »Ich fühlte mich lediglich verpflichtet, Sie zu warnen, das ist alles.« »Und Sie werden Jim nichts sagen?« »Ich werde ihm nichts sagen. Und sagen Sie ihm nicht, daß ich es wußte«, fügte er mit einem Anflug zynischen Humors hinzu. »Er würde mich umbringen, wenn Ihnen etwas zustieße und er erfahren müßte, daß ich über Ihre Aktivitäten Bescheid wußte.« »Es wird mir nichts zustoßen.« »Das hoffe ich.« Er blickte auf. »Und da kommt er schon zurück«, sagte er ruhig. »Gerade rechtzeitig. Jim, es ist Zeit, das Essen zu bestellen. Ich schlage vor, daß wir unsere junge Freundin mit dem Geschmack des Oktopus vertraut machen.« Oktopus schmeckt ein bißchen wie alte Autoreifen. Jedenfalls ist es eine gute Übung für die Kiefer. Wir tranken viel Retsina und sprachen über dies und jenes. Sir Christopher konnte ein faszinierender Unterhalter 124
sein, wenn er seinen Zynismus vergaß. Nach dem Essen erhob er sich. »Zurück zur Arbeit. Papierkram ist der Fluch aller Archäologen. Nein« – er legte die Hand auf Jims Schulter, als dieser Anstalten machte, sich zu erheben -, »ich will Sie vor morgen früh nicht mehr arbeiten sehen, Jim. Genießen Sie Ihren Ruhetag.« »Du mußt ihm sympathisch sein«, sagte Jim, als er gegangen war. »Es ist das erstemal, daß er mir Freizeit gönnt. Was machen wir jetzt?« »Ich würde mich am liebsten hinlegen und schlafen«, sagte ich und gähnte. »Ich bin nicht an all das schwere Essen gewöhnt.« »Dann laß uns wenigstens erst ein bißchen herumlaufen.« Ich wußte, was er im Sinn hatte. Ich hatte es auch im Sinn. Aber der Spaziergang gab mir den Rest. Es war schrecklich heiß. Wir kletterten den Hügel hinter dem Dorf hinauf und liefen eine Zeitlang kreuz und quer über den Hang, auf der Suche nach einem schattigen Plätzchen. Schließlich folgten wir einem Ziegenpfad hinauf in ein Gebiet, das zu felsig für den Weinanbau war, und fanden einen Baum. Er war knorrig und verkümmert, aber es war ein Baum – und Bäume 125
sind eine Seltenheit auf Thera. Wir legten uns in den Schatten. Jim schlang die Arme um mich – und in fünf Minuten waren wir beide eingeschlafen. Ich wachte urplötzlich auf. Ich hatte geträumt, daß ein Hund an meinen Füßen leckte. Die Sonne lag warm auf meinen Beinen, und Jim kitzelte meine Zehen mit einem Grashalm. Als ich die Augen öffnete, lehnte er sich sofort über mich. »Und jetzt«, sagte er, »wollen wir da weitermachen, wo wir aufgehört haben, als du mir nichts, dir nichts eingeschlafen bist. Ich bin noch nie in meinem Leben so beleidigt worden.« Er küßte mich, ehe mir eine entsprechende Antwort einfiel, und ich gab es auf, darüber nachzudenken. Es ist aufregend, sich im Freien zu lieben, es hat so etwas Natürliches, Unschuldiges, Freies an sich. Die Luft war heiß und süß, kein Smog, kein Benzingestank, nur das Aroma von wildem Thymian und der Geruch des Meeres. Aber einer der Gründe, warum diese Augenblicke so sehr in meiner Erinnerung verhaftet sind, war, daß sie abrupt und auf schreckliche Weise endeten.
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Es begann mit einem rhythmischen Klopfen. Erst dachte ich, es sei der Schlag meines Herzens oder Jims, aber das Klopfen wuchs an, wurde schneller und heftiger. Ein Hagel kleiner Steinchen regnete auf uns hernieder. Sie waren nicht groß, aber sie schmerzten. Das Geräusch schien direkt über uns zu sein, es klang wie das Scharren wilder Pferde. Der Steinregen hatte aufgehört. Ich blickte hinauf und wäre nicht erstaunt gewesen, den gehörnten Gott Pan höchstpersönlich dort zu erblicken. Ich sah einen Mann auf einem Pferd – wahrscheinlich war es derselbe, den ich schon einmal gesehen hatte. Er stand einen Augenblick lang unbeweglich da, dann setzte er sich in den Sattel, und das Pferd fiel in einen Galopp. Wenige Sekunden später waren sie verschwunden. Die Hufschläge verstummten. »Verdammt«, sagte Jim. »Ausgerechnet jetzt . . .« Ich ließ meinen Kopf an seine Schulter sinken. Es war dumm vor mir, eben diese seltsame unheimliche Angst zu empfinden. »Guter alter Pan«, murmelte ich. »Er reitet herum, um unachtsame Jungfrauen zu beschützen . . .« 127
Jim fand sich ohne Schwierigkeiten in meinen Gedankengang ein. »Der falsche Gott«, sagte er. »Überhaupt, die falsche Religion. Die griechischen Götter beschützten keine Jungfrauen. Auch nicht die Göttinnen, es sei denn, ihre Ehemänner waren hinter den menschlichen Mädchen her.« »Dann haben sie die Mädchen in Spinnen oder so was ähnliches verwandelt«, sagte ich lachend. Jims Lippen berührten meine Haare und bewegten sich abwärts auf der Suche nach meinem Mund, und ich verlor das Interesse an Göttern und Göttinnen, griechischen oder anderen. Plötzlich drückte er mich flach zu Boden und warf sich über mich. Ich hätte vor Schreck und Schmerz schreien können, brachte aber keinen Ton heraus, weil er seine Schulter auf mein Gesicht preßte. Ich konnte nicht atmen. Irgendein Gewicht drückte mich zusammen, ich mußte dabei an mittelalterliche Foltermethoden denken, mit denen Menschen zu Tode gequetscht wurden. Dann traf mich etwas am linken Ohr, der einzige Teil meines Körpers außer meinen Füßen, der freilag, und ich begriff. Ein paar Minuten 128
lang dachte ich, daß der ganze verdammte Hügel auf uns herabstürzen würde. Schließlich hörte das Knirschen von rollenden Felsbrocken auf. Jim zog sich hoch. Ich holte tief Luft und stieß sie schneller wieder aus als ich vorhatte. Jim war von neuem auf mich herniedergesackt. Ich stammelte ein paar nutzlose Fragen, wie: »Bist du verletzt?« Offensichtlich war er es. Es gelang ihm jedoch, sich von mir wegzurollen. Mit gespreizten Gliedern blieb er auf dem Rücken liegen. Blut lief ihm über das Gesicht. Es kam von mindestens einem halben Dutzend Wunden, die zum größten Teil oberhalb seines Haaransatzes liegen mußten. Ich griff nach meinem Kleid, auf dem ich gelegen hatte, und zerriß es in Stücke. »Großer Gott«, rief ich. »Das war nahe dran. Was ist denn eigentlich passiert?« »Weißt du das nicht?« stöhnte Jim. »Doch. Eine Steinlawine. Aber warum? Das Pferd war längst vorbei.« »Was soll’s?« Jims Stimme wurde schwächer. »Ein winziges Erdbeben vielleicht. Ich hatte nicht damit gerechnet . . .« Ich wischte ihm das Blut aus dem Gesicht. Die meisten Wunden waren harmlos. Ich 129
glaubte, daß es der Schock war, der ihn so merkwürdig grau aussehen ließ, bis ich die Blutlache unter seinem Kopf bemerkte. Er stöhnte, als meine Finger tastend über seinen Kopf glitten und einen langen Riß am Hinterkopf ausmachten. Blut floß in einem dicken, gleichmäßigen Rinnsal aus der Wunde. Ich riß noch einen Streifen Tuch ab und drückte es an die Wunde. Ich hatte Angst, aber ich wollte es mir nicht anmerken lassen. »Bleib ganz still liegen«, sagte ich. »Ich gehe Hilfe holen.« »Ich kann laufen. Laß uns gehen, bevor ich noch schwächer werde.« Ich half ihm auf. Sein Rücken, der das meiste abbekommen hatte, sah schlimm aus, völlig zerschunden und blutig. »Dort unten ist ein Haus«, sagte ich, in die Richtung einer Hütte weisend. »Nein, danke. Die pflastern mir Ziegendung auf die Wunden und sagen ein Gebet auf. Chris hat Medikamente.« Wir begannen den Hügel hinabzusteigen, aber wir waren noch nicht weit gekommen, da wußte ich, daß er es niemals bis zum Dorf schaffen würde.
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»Wir sind nicht weit von unserem Haus entfernt«, begann ich von neuem. »Wenn du es so weit . . .« Er brauchte es nicht so weit zu schaffen. Eben tauchte Frederick hinter einer Wegbiegung auf. Noch nie war ich so froh gewesen, ihn zu sehen. Frederick schien meine Freude keineswegs zu teilen. Er zog die Stirn in Falten. »Was ist das für ein geschmackloses Benehmen, derartig umschlungen durch die Gegend zu laufen . . .« Jim wählte diesen Augenblick, um zusammenzusinken. Gemeinsam gingen wir in die Knie. Frederick schien zu begreifen. »Was ist passiert?« fragte er. Seine Stimme verriet nur eine leichte Irritiertheit. »Siehst du nicht, daß er verletzt ist?« zischte ich. »Steh nicht so herum. Hilf mir!« Frederick hievte Jim auf die Füße und legte einen schlaffen Arm über seine Schultern. Ich nahm den anderen Arm, und wir machten uns auf den Weg. »Wohin willst du ihn bringen?« fragte er. »Zu uns natürlich. Das ist am nächsten. Du kannst einen Arzt holen, während ich -« »Es gibt keinen Arzt«, sagte Frederick vage. »Nicht im Dorf. Was ist ihm passiert?« 131
»Ein Felsrutsch. Ich nehme an, daß ein Teil der Klippen vom Erdbeben gelockert wurde.« »Ah. Und wie, wenn ich fragen darf, kommt es, daß du unverletzt bist, während er alle Verletzungen auf dem Rücken trägt?« Es war nicht so sehr, was er sagte, sondern wie er es sagte. »Ich bin unverletzt, weil er mich beschützt hat, wenn dich das überhaupt etwas angeht.« »Hm«, machte Frederick. »Spare dir deinen Atem, du wirst ihn noch brauchen. Der Weg ist steil.« Er war steil. Aber ich konnte nicht umhin festzustellen, daß hier nirgends Anzeichen von Erschütterungen zu sehen waren. Es gab keine frisch herabgestürzten Felsen und kein frisches Geröll, nur genau oberhalb der Stelle, an der wir gelegen hatten. Ich versuchte den Gedanken zu verdrängen. Das Leben mit Frederick vergiftete mich bereits mit Verfolgungswahn. Frederick besaß eine große Auswahl an Medikamenten, einschließlich erheblicher Mengen von Antibiotika. Er bearbeitete Jim mit unbarmherziger Autorität, ohne auf dessen Stöhnen und Fluchen Rücksicht zu nehmen. Die große Kopfwunde stellte sich als weniger 132
tief heraus, als ich befürchtet hatte, und nach einer Untersuchung, die Jim neue profane Ausdrücke entlockte, verkündete Frederick, daß eine Fraktur oder Gehirnerschütterung wahrscheinlich nicht vorlag. Dann stieß er eine Injektionsnadel in eine kleine versiegelte Penicillinflasche und befahl mir, das Zimmer zu verlassen. Ich starrte ihn an. Ich stand da mit blutigen Bandagen und einer Schüssel voll blutigen Wassers. Meine Hände waren blutbeschmiert. Ich hatte nicht die geringsten Anzeichen von Empfindlichkeit erkennen lassen. Jim lag auf dem Bauch, mit dem Kinn auf seinem angewinkelten Arm. Er drehte unter Schmerzen den Kopf zur Seite und zwinkerte mir zu. »Oh, um Himmels willen«, rief ich, nachdem ich mich wieder gefaßt hatte. »Also, wirklich, Frederick, du bist nicht nur altmodisch, du bist archaisch!« Ich verließ das Zimmer und schlug hinter mir die Tür zu, doch draußen konnte ich nicht anders, ich mußte lachen. Das war eine Seite an Frederick, die ich bisher noch nicht kennengelernt hatte. Er führte sich auf wie ein muffiger altmodischer . . . Vater.
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Ich bat Jim zu bleiben, aber er bestand darauf, zum Hotel zurückzukehren. Mein Vater unterstützte ihn in diesem Vorhaben. So machten wir drei uns auf den Weg. Jim lief, vorsichtig bemüht, das Gleichgewicht zu halten, in der Mitte. Frederick hatte ihm keine Schmerztabletten gegeben, jedenfalls nicht, Solange ich dabei gewesen war. Ich fragte mich, was geschehen würde, wenn wir jetzt Sir Christopher, Fredericks altem Kriegskameraden, über den Weg liefen. Er saß auf der Hotelterrasse, als wir auf der Plaza ankamen. Ich hätte gedacht, daß Frederick jetzt umkehren würde. Doch er marschierte weiter, Jim unter der Achsel stützend, wie ein Wärter, der einen entwischten Mondsüchtigen zurückbrachte. Und in diesem Sinn wandte er sich auch an Sir Christopher. »Du solltest ihn heute nacht im Auge behalten«, bemerkte er, ohne ein Wort der Begrüßung. »Es ist immerhin möglich, daß er eine Gehirnerschütterung hat.« Sir Christopher, stets der perfekte Gentleman, hatte sich erhoben. Er starrte in verständlicher Überraschung auf Jims hängenden Kopf. Dann sah er Frederick an.
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»Tag, Frederick. Gut, daß du dich um meinen jungen Freund gekümmert hast. Was ist passiert?« Ich berichtete kurz von dem Felsrutsch und betonte dabei besonders Jims schnelle, mutige Entschlossenheit, die mich vor Verletzungen bewahrt hatte. Sir Christopher schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich habe davor gewarnt, sich bei Erderschütterungen unterhalb eines Hanges aufzuhalten.« »Ich glaube nicht, daß der Steinschlag durch ein Erdbeben ausgelöst wurde«, sagte ich. »Es war ein Reiter, der ein paar Steine ins Rollen brachte, dadurch wurden möglicherweise weitere Steine gelockert.« »Reiter?« wiederholte Sir Christopher. Jim setzte sich auf. Er sah jetzt besser aus. »Wissen Sie, der alte Bursche, der in den Bergen herumreitet, der aus der weißen Villa.« Er wandte sich an mich. »Habe ich dir schon gesagt, daß ich herausgekriegt habe, wer er ist? Zumindest fand ich heraus, was er ist. Es ist ein Deutscher. Sie nennen ihn den Hauptmann.« Frederick saß rechts von mir und hatte während des Gesprächs mit dem Stuhl gekippt, wie um zu zeigen, daß ihn das Ganze äu135
ßerst langweilte. Bei Jims letztem Satz jedoch berührten die beiden Vorderbeine des Stuhls krachend den Boden. Ich drehte mich erschrocken um und sah, daß sein Gesicht aschgrau geworden war. Er versuchte zu sprechen, aber nur ein Gurgeln drang aus seinem offenstehenden Mund. Dann sackte er nach vorn auf den Tisch, direkt in Sir Christophers Kaffeetasse hinein.
7 Montag morgen. Die übliche Routine: Frederick, der im kühlen Morgengrauen an meiner Schulter rüttelte, um mich wachzukriegen. Ich blinzelte ihn an. Dann setzte ich mich auf, was nicht leicht ist, wenn man in einem zugeschnürten Schlafsack steckt. »Was tust du da? Ich dachte, ich hätte dir gesagt, daß du im Bett bleiben sollst -« »Sei nicht albern«, gab Frederick zur Antwort. »Es wird schon hell. Beeile dich.« Er verließ das Zimmer. In der Morgendämmerung hatte ich sein Gesicht nicht genau erkennen können. Seine Stimme und sein Gang schienen normal, aber ich hätte schwören können, daß er in der vergangenen Nacht einen leichten Herz136
anfall erlitten hatte. Ich hatte verteufelte Mühe gehabt, ihn zurück zum Hause zu bringen, nachdem er auf der Terrasse zusammengebrochen war. Er lehnte jegliche Hilfe ab, und Sir Christopher war ohnehin zu sehr mit Jim beschäftigt, als daß er sich ernsthaft angeboten hätte. Frederick war noch ziemlich wackelig auf den Beinen gewesen, als ich ihn ins Bett schickte. Die Tatsache, daß er sich etwas von mir befehlen ließ, bewies, wie sehr ihn das Ganze mitgenommen haben mußte. Jetzt war er wieder er selbst, und ich wußte nicht, was ich mit ihm anfangen sollte. Möglicherweise bekam er noch einen Herzanfall, wenn ich ihn jetzt aufregte; ich kroch also aus meinem Schlafsack und schleppte mich in die Küche. Frederick hatte Wasser zum Kochen aufgesetzt. Ich machte mir eine Tasse Kaffee und beobachtete ihn. Was ich sah, gefiel mir nicht. Er bewegte sich mit erzwungener Saloppheit, als ob er etwas beweisen wollte. »Wie geht es dir?« fragte ich. »Selbstverständlich gut.« »Was hat dir gestern so zugesetzt?«
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»Ich habe hie und da Anfälle. Nichts Ernsthaftes, wahrscheinlich die alte Lungengeschichte.« »Dann war es also nicht das, was Jim über diesen deutschen Offizier gesagt hat?« Frederick gab einen Ton von sich, der wahrscheinlich ein legeres Lachen sein sollte. Es klang jedoch wie das Gackern einer kranken Henne. »Was für Schundliteratur liest du?« »Ich lese seit Tagen nichts anderes als Bücher über Archäologie. Du hast noch nicht einmal einen Kriminalroman in deiner Bibliothek. Sieh mal, Frederick, ich kann mit meiner Arbeit nicht weitermachen, wenn ich mir über deinen Gesundheitszustand nicht im klaren bin. Sir Christopher hat mir die Geschichte von Kreta erzählt -« »Tatsächlich. Was hat er gesagt?« »Nur was passiert ist. Über deinen Freund, den, der umgebracht wurde.« »Vince.« Frederick setzte sich an den Tisch und griff nach einem Marmeladenglas. »Was ist mit ihm?« »Jim ist sein Neffe«, sagte ich. »Das hätte ich mir denken können. Die Ähnlichkeit ist groß.«
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Ich sah ihn ungläubig an. Dort saß er, kerzengerade auf seinem Stuhl, und aß Brot und Marmelade. »Sir Christopher weiß, wer ich bin«, sagte ich und vergaß dabei sein angeblich schwaches Herz. Ich hatte einfach den Wunsch, ihn aus seiner eitlen Gleichgültigkeit zu reißen. »Das war zu erwarten. Ich nehme an, er hat ein paar vage Vermutungen taktisch geschickt angebracht, und du bist darauf hereingefallen.« »Uhm«, schluckte ich. Aber so ähnlich war es gewesen. »Das macht nichts«, fuhr Frederick fort, »solange er keinen Verdacht wegen des Tauchens hat.« »Aber er hat einen Verdacht. Er warnte mich, ich sollte vorsichtig sein. Er sagte, du würdest nicht einen Pfifferling für meine Sicherheit geben.« Das wirkte. Den Mund noch voller Brot, schrie er: »Verfluchte Unverschämtheit. Ich hoffe, du warst nicht dumm genug, auch das noch zuzugeben.« »Oh, ich habe es bestritten. Aber ich bezweifle, daß er mir glaubte.«
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Frederick wischte sich die durch die Aufregung versprühten Brotkrumen von der Hand und stand auf. »Schwimmen ist nicht verboten. Schwierig wird es nur, wenn du auf einer Taucherausrüstung bestehst.« »Was soll das heißen, wenn ich darauf bestehe? Ich kann nur tauchen, wenn ich Luft und Flaschen habe.« »Ich weiß, ich weiß. Wir werden nach Phira fahren müssen. Diese Woche noch, vielleicht.« »Und ein Boot«, fuhr ich fort. »Ich arbeite ein gutes Stück vom Ufer entfernt, und die Entfernung wird mit jedem Tag größer.« »Natürlich, natürlich«, winkte Frederick ab. »Ich überlege gerade . . . was bringst du ohne Taucherausrüstung zustande? Ich habe von Tauchern gehört, die ohne Gerät fünfundzwanzig Meter tief tauchen.« »Das habe ich auch gehört. Und ich habe auch gehört, daß diese Taucher anschließend beachtliche Zeit im Krankenhaus verbracht haben.« Als wir uns zur Bucht aufmachten, stand die Sonne bereits schräg am Himmel. Frederick war an diesem Morgen besonders aggressiv. Hatte er die Absicht, mich auf diese Weise von anderen Dingen abzulenken?
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An der Bucht angelangt, ließ er sich wortlos auf einen Felsen nieder. Ich ging ebenso wortlos an ihm vorbei, zog mir die Schwimmflossen an und setzte die Taucherbrille auf. Dann sprang ich ins Wasser. Wie immer kühlte es mich ab, in mehr als einem Sinn. Es war hier unten zu schön und zu friedlich für nachtragende Gedanken. Ich mußte mich auf das konzentrieren, was ich im Augenblick tat. Je weiter ich hinausschwamm, desto vielschichtiger wurde der Grund. Einmal machte mein Herz vor Aufregung einen Satz, beim Anblick einer langen, geraden Linie zusammengesunkener Steine, die eine ehemalige Mauer hätten sein können. Doch bei näherer Prüfung stellte sich heraus, daß ich mich irrte. Immerhin scheuchte ich meinen ersten Tintenfisch auf. Er schoß quirlend aus einem Loch im Gestein und stieß sofort Tinte aus. Ich überlegte, ob man sich mit einem Tintenfisch anfreunden konnte. Einen Freund hatte ich bereits. Es war ein großer, dicker, blau-weiß gestreifter Fisch einer Spezies, die ich nicht kannte. Er war mir mit einer Art neugierigem Interesse gefolgt, wahrscheinlich in der Hoffnung, daß ich ihm ein paar gute Leckerbissen aufstöbern würde. 141
Ich beendete meine erste Durchquerung und hievte mich auf einen Felsen am anderen Ende der Bucht. Frederick saß noch immer auf derselben Stelle. Ich winkte ihm zu, und er winkte lasch zurück. Ich war noch nicht weit auf meinem Rückweg, da gesellte sich mein Freund, der Fisch, wieder zu mir. Ich nannte ihn Alice. Alice und ich begaben uns nach unten, um nach einem Büschel ungewöhnlich schöner Anemonen zu sehen. Pflanzen wuchsen oftmals an verfaultem Holz. Diesmal jedoch nicht. Als ich wieder auftauchte, sah ich, daß Frederick verschwunden war. Ich glaube, ich hatte eine derartige Entwicklung mehr oder weniger erwartet, denn ich war nicht sonderlich überrascht. Ich war nicht einmal böse, nur enttäuscht. Ich hing noch halb im Wasser, als irgend etwas meine Aufmerksamkeit erregte. Ich weiß nicht, warum ich ausgerechnet in die Richtung der Villa blickte, ich hatte sie schon fast vergessen, um so mehr als bisher nie ein Lebenszeichen von dort zu erkennen gewesen war. Jetzt aber stand jemand auf den Klippen und blickte zu mir herab. Es war ein Mann. Ich konnte seine Gestalt, nicht aber sein Gesicht sehen. Natürlich 142
brachte ich sein Auftauchen mit dem Verschwinden von Frederick in Zusammenhang. Der mysteriöse deutsche Offizier. Ob ich nun in seinem Privatbereich schwamm oder nicht, ich konnte nur hoffen, daß er mich nicht gesehen hatte. Ich tauchte und verließ so schnell wie möglich das Wasser, darauf bedacht, mich vor seinen Blicken möglichst hinter Felsen zu verbergen. Zu Hause angelangt, ließ ich mir reichlich Zeit und nahm ein ausgiebiges Frühstück zu mir, bevor ich mich auf den Weg zu der Ausgrabungsstelle machte. Fredericks Laune war noch schlechter als sonst. Ich hätte gerne angenommen, daß er sich um mich Sorgen gemacht hatte, aber ich kannte ihn gut genug, um das zu bezweifeln. Die Männer waren sichtbar amüsiert über meine Verspätung. Nicholas grinste mich an und zwinkerte mir zu, als ich mich zu der Mannschaft gesellte. Wir gruben immer noch Tonscherben aus. Frederick vermutete, daß das Gebiet, in dem wir arbeiteten, einstmals ein Lagerhaus gewesen war. Ich war heute ohne Begeisterung bei der Sache. Es war ein warmer, ein-
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schläfernder Tag, und jeder bewegte sich langsam. Plötzlich sprang Nicholas mit einem Satz auf. Ich starrte ihn an und sah, daß sein Gesicht seltsam verzerrt und auffallend bleich war. Er schrie etwas, was ich nicht verstand. Dann rannte er mit voller Geschwindigkeit davon, gefolgt von den anderen Männern. Ich rannte auch. Ich hatte keine Ahnung, warum. Aber es hatte ein paar Minuten gedauert, bis ich überhaupt reagieren konnte, deshalb befand ich mich noch innerhalb der Schlucht, als ich das Donnern hörte. Es klang wie das Brüllen eines riesigen Tieres. Dann bewegte sich der Boden. Die Erschütterungen waren stärker als die vom Vortag. Ich fiel flach auf den Boden. Ein paar Felsen stürzten von irgendwoher herab, aber nicht viele. Ich lag noch immer da, auch nachdem die Erschütterungen aufgehört hatten. Ich rührte mich nicht, bis mich jemand rüttelte. »Steh auf«, sagte Frederick. »Nein.« »Warum nicht?« »Ich fühle mich wohl hier.« »Sei nicht albern. Es kann noch eine Welle geben. Wir müssen ins Freie.« 144
Wir gingen zurück zum Haus. Frederick schimpfte die ganze Zeit vor sich hin. Wie konnte die Erde es wagen, ihn bei seiner Arbeit zu stören! »Die Männer kommen heute nicht mehr zurück«, schimpfte er. »Wieder ein verlorener Nachmittag. Vielleicht könntest du noch ein paar Stunden -« »Oh, nein«, rief ich bestimmt. »Ich werde überhaupt erst wieder tauchen, wenn du mir ein Boot besorgt hast. Wenn du dich aus dem Staub machst, so wie heute morgen . . . Bist du weggelaufen, weil dieser Mann da oben aufgetaucht ist.« »Welcher Mann?« »Der von der Villa. Der Hauptmann. Nun sag bloß noch, du hättest ihn nicht gesehen.« »Ich habe ihn nicht gesehen. Aber was viel wichtiger ist, hat er dich gesehen? Du darfst dich auf keinen Fall -« »Warum nicht?« Frederick zuckte mit den Schultern. »Nun, gesetzlich gesehen betreten wir fremdes Eigentum, denke ich.« »Ist das der einzige Grund?« »Welchen anderen Grund könnte es sonst noch geben?« Es war sinnlos, diese Unterre-
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dung weiterzuführen, deshalb entschloß ich mich, ins Dorf zu gehen. Ich ging geradewegs ins Hotel, um nach Jim zu sehen. Beim Anblick der kleinen Halle war ich froh, hier nicht Gast zu sein. Hühner hockten auf den Stühlen, der Fußboden war klebrig. Niemand zeigte sich. Ich betätigte die Glocke an der Rezeption und rief. Schließlich tauchte von hinten eine Frau auf. Sie wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab. Ich hatte Jim von Angelos’ Frau sprechen hören. Er sagte, daß sie die meiste Arbeit im Hause tat, vom Koch über das Zimmermädchen bis zum Laufburschen. Sie hieß Helena. Helena war eine massiv gebaute Frau, die besser aussah als die meisten Frauen ihres Alters, die wie Maultiere arbeiteten. Ihr Haar hatte graue Strähnen, aber es war noch immer voll und glänzend. Nachdem ich versucht hatte, ihr klarzumachen, was ich wollte, und außer einem leeren, starren Blick keine Antwort erhielt, überlegte ich, ob die viele Muskelarbeit ihr noch Platz für den Verstand gelassen hatte. Ich wollte gerade aufgeben, da kam Jim die Treppe herunter.
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»Dachte ich mir’s doch, daß das deine Engelsstimme war.« Er lächelte. »Erkundigst du dich nach dem kranken Verwundeten? Wie nett von dir!« Ich sah ihn mir genau an. Außer dem weißen, dicken Verband am Kopf schien ihm nichts zu fehlen. »Ich sehe, es geht dir gut, da kann ich ja wieder gehen«, sagte ich. »Trink einen Kaffee mit mir. Heute wird nicht mehr gearbeitet. Ich nehme an, eure Mannschaft ist auch abgehauen.« Ich nickte. Jim redete mit Helena und bat sie, uns etwas Kaffee auf die Terrasse zu bringen. Auf ihn reagierte die Frau viel lebhafter als auf mich. Sie ließ die Augen rollen und kicherte. Wir setzten uns an einen der Tische auf der Terrasse. Von hier aus konnten wir direkt in das dunkle Gewölbe der Kirche sehen, in dem die Leute ein und aus gingen. »Eine Menge Kerzen werden heute angezündet«, sagte Jim. »Ich frage mich, wer wohl der heilige Schutzpatron gegen Erdbeben ist.« »Sind sie deshalb so seltsam ruhelos?« »Ich denke schon. Sie machen einen ungewöhnlich verstörten Eindruck, wenn man 147
bedenkt, daß Erderschütterungen hier keine Seltenheit sind. Sie sagen, daß sie bestimmte Ereignisse fühlen.« »Nicholas muß es gefühlt haben«, sagte ich nachdenklich. »Er schrie und lief davon, längst bevor ich das Donnern hörte. Dabei fällt mir ein, daß ich gestern nichts gehört habe.« »Die Erschütterung von gestern war schwächer. Bei einem starken Beben ist das Geräusch ziemlich laut. Man kann verstehen, warum die alten Griechen an Poseidon dachten und den Krach mit dem Brüllen der heiligen Stiere in Verbindung brachten.« »Ja. Genauso hat es geklungen.« Ich erschauerte. »Hast du eine Ahnung, warum dieses Erdbeben die Dorfbewohner gar so in Aufruhr versetzt?« »Ich habe vorhin mit Nicholas gesprochen. Er schien mir etwas verschweigen zu wollen. Ich schließe daraus, daß sie noch stärkere Beben befürchten. Auf Nea Kaimeni hat sich eine neue Spalte geöffnet.« »Nea – oh, die Insel draußen in der Bucht?« »Ja. Es ist der rauchende Kegel des neuen Vulkans, der aus dem Wasser tauchte, als der alte sich in die Luft sprengte. Zum Teu-
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fel, Sandy, mach nicht so ein fassungsloses Gesicht. Vulkane rauchen andauernd.« »Und sie brechen auch andauernd aus«, sagte ich. »Wie kann jemand an so einem Ort überhaupt leben?« »Wie geht es Doktor Frederick?« fragte Jim. »Versuchst du das Thema zu wechseln? Es geht ihm gut.« »Gestern abend hat er ganz schön schlecht ausgesehen.« »Ich fragte ihn heute morgen über den Mann in der Villa aus.« »Was hat er gesagt?« »Wie immer. Nichts. Er lachte mich aus, als ich ihm sagte, daß ich der Meinung sei, deine Bemerkung über den Mann in der Villa habe seinen Herzanfall ausgelöst.« »Es ist doch viel zu weit hergeholt«, murmelte Jim. »Aha, dann denkst du also das gleiche wie ich. Was sagt dein Chef dazu? Er war doch auch in Kreta.« »Warum sollte er etwas dazu zu sagen haben? Unsere Vermutungen sind reine Hypothese, Liebes. Der Mann in der Villa ist wahrscheinlich nichts weiter als ein pensionierter Geschäftsmann, der nie einen Fuß auf Kreta gesetzt hat.« »Stimmt.« Solange 149
ich mit Jim darüber sprechen konnte, schien mir alles unkompliziert und völlig gefahrlos. Ich überlegte, ob dies der Augenblick war, ihm die Wahrheit über mich zu sagen. Aber wir saßen eben so friedlich beieinander, daß ich nicht den Mut aufbrachte, diese schöne Stimmung zu zerstören. Die Menge auf der Plaza verlor sich langsam. Die Leute kehrten zu ihren Tagesbeschäftigungen zurück, als ob die Gefahr gebannt sei. Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und fühlte mich an Jims Seite wohl und geborgen. Jim sah sie zuerst. Er setzte sich ruckartig auf. Sie kam auf die Plaza, und die Leute räumten ihr, wie schon beim erstenmal, den Weg. Sie trug perfekt geschnittene weiße Hosen und eine bedruckte Bluse, die sich über ihrem Busen spannte. Ein senfgelbes Tuch hielt ihre schwarzen Haare zusammen. Sie lief so schnell, daß die Enden des Tuches wehten. Sie kam geradewegs auf uns zu. Jim stand wie auf Kommando auf, sie beachtete ihn jedoch nicht. Sie starrte mich an. »Ariadne«, sagte sie. »Ja. Es ist wahr. Ich konnte es nicht glauben, als sie es mir sag-
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ten. Aber sie haben recht, wie immer. Wie schön, daß du zurück bist.«
8 Die meisten Leute hätten diese Rede sicherlich irritierend gefunden, auf mich wirkte sie wie ein Keulenschlag. Es war nicht nur, was sie sagte, es war die Art, wie sie mich ansah, mit der seltsamsten Mischung aus Hingabe und Feindseligkeit. Ich hatte von verschlingenden Blicken gehört, aber ich hatte bis dahin geglaubt, daß dies nur eine Redensart von Schriftstellern sei. Ihre schwarzen Augen hefteten sich auf mein Gesicht wie Kletten. Jim zog einen Stuhl heran. »Wollen Sie sich setzen? Mein Name ist Jim Sanchez. Das ist Sandy Bishop, Madame . . .? »Kore.« Sie sah ihn nicht an. »Möchten Sie Kaffee, Madame? Ouso, Wein?« Seine beharrliche Höflichkeit gewann schließlich ihre Aufmerksamkeit. Als sie diese Augen von mir wandte, war mir, als ob ein physischer Zwang von mir wich.
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Sie blickte zu Jim auf. »Kaffee«, sagte sie. »Danke. Sie verzeihen meine Formlosigkeit, ja? In diesem kleinen Ort müssen wir Außenseiter zusammenhalten.« Das Lächeln, mit dem sie ihn bedachte, ließ die sexuelle Ausstrahlung erahnen, die sie einmal besessen haben mochte. Ihre Figur war noch immer gut, wenn man das Vollschlanke mochte, aber ihr Gesicht war aus der Nähe besehen eine traurige Ruine. Die feurigen schwarzen Augen waren das einzig Schöne an ihr geblieben. Wangen und Stirn waren eine Landschaft aus Falten. Anstatt sie zu verdecken, brachte das schwere Make-up sie noch deutlicher zum Vorschein. »Zusammenhalten?« wiederholte Jim. »Gegen welche Feinde, Madame?« »Ist nicht der Feind immer der gleiche?« »Ich glaube nicht.« Jim betrachtete sie neugierig. »Der uralte Kampf zwischen Gut und Böse ist ewig, aber die Definitionen variieren, je nach der Seite, auf der Sie zufällig stehen.« Sie lachte. Sie hatte ein hübsches, klingendes Lachen. »Welch absurde Konversation. Ich will gar nicht so ernst sein. Ich versuchte nur, meine Freude darüber auszudrücken, daß ich je152
manden von der Außenwelt sprechen kann. Jemanden aus der Welt der Mode, der Zeitungen, der Vernunft. Diese Leute hier reden nur über Fische und ihren närrischen Aberglauben.« »Was für einen Aberglauben?« wollte Jim wissen. »Jede Art von Aberglauben. Thera ist die Heimat der vrykola, der Vampire. Manchmal arbeiten die Männer nicht auf den Feldern, weil dort Geister sind. Und Sie haben gesehen« – sie machte große Augen -, »wie sie beispielsweise Angst vor mir haben. Vielleicht denken sie, ich bin ein vrykola – ich, eine alte harmlose Frau.« »Sie werden nie alt sein, Madame Kore«, sagte Jim. »Und eine schöne Frau ist nie harmlos.« »Und da sagen die Leute, Amerikaner hätten keinen Charme.« Sie lächelte ihn an. »Auch das vermisse ich. Die Männer von Zoa gehen mir aus dem Weg, als ob ich ein Dämon wäre . . .« »Mit Verlaub, Madame, darf ich zu bedenken geben, daß Sie diese Furcht in gewisser Weise herausfordern? Selbst Ihr Name . . .« »Kore, die Jungfrau«, sagte sie träumerisch. »Die Mutter in einem ihrer vielen Aspekte. Persephone, Braut der Unterwelt . . . Aber 153
selbstverständlich ist das nicht mein richtiger Name. Meinen richtigen Namen habe ich vergessen, so langweilig ist er.« Sie wandte sich so plötzlich an mich, daß ich zurückschreckte. »Eine Frau hat das Recht, sich den Namen auszusuchen, der zu ihr paßt, nicht wahr?« Noch ehe ich antworten konnte, mischte sich Jim wieder ein. Er spürte etwas von der Spannung, die zwischen ihr und mir herrschte, obgleich er sie ebensowenig verstandesmäßig erfassen konnte wie ich – und er tat sein Bestes, Kores verbale Angriffe auf mich abzuwehren. »Sie haben einen ominösen Namen gewählt«, sagte er. »Besonders im Hinblick auf den hier verbreiteten Aberglauben, den Sie erwähnten. Tragen Sie immer diese Ornamente?« Er wies auf die Goldreifen, von denen sie einen an jedem Arm trug. Es waren nicht simple Armbänder, sondern Spiralen, die ihren Unterarm umschlossen und in einem Schlangenkopf endeten. Die Augen bestanden aus winzigen Rubinen. »Ich liebe Schmuck.« Sie spielte mit den Ketten auf ihrer Brust. Die Rubinaugen der goldenen Schlangen blitzten auf. 154
Ein Schatten an der Tür ließ mich aufmerken. Es war Sir Christopher. Er kam auf uns zu. Jim machte Anstalten, ihn vorzustellen. »Ich kenne Madame«, sagte Sir Christopher und beugte sich über ihre Hand. »Sie haben mir nie etwas davon gesagt«, sagte Jim. Sir Christopher sah ihn erstaunt an. »Ich erinnere mich nicht, daß dieses Thema je aufgetaucht wäre.« »Sie reden nicht von mir.« Kore lachte. »Wie wenig schmeichelhaft für mich.« »Archäologen sind ein langweiliger Verein«, sagte Sir Christopher mit einem Lächeln. »Aber gewiß hätten wir uns früher oder später mit Ihnen beschäftigt. Sie sind eine prominente Erscheinung hier, Madame.« »So prominent, daß ich mich wundere, weshalb Sie überhaupt hier sind«, warf Jim ein. »Eine Frau wie Sie begräbt sich in einem solch verlassenen Nest?« »Sie kennen meine Gründe nicht.« »Nein«, gab Jim zu. »Eines Tages werde ich Ihnen erklären, warum ich hier bin. Wenn ich Sie besser kenne. Wie lange bleiben Sie auf der Insel?« Es war Sir Christopher, der die Frage beantwortete.
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»Noch einen Monat etwa. Ich habe Verpflichtungen in England.« »Und Sie?« Sie wandte sich an mich. »Wie lange bleiben Sie?« »Ich weiß nicht.« Verdammte Frau. Sie brachte mich tatsächlich zum Stottern. »Vielleicht noch ein paar Wochen . . .« »Länger, glaube ich.« Sie stand mit einer abrupten Bewegung auf. »Ich muß jetzt gehen. Ich kann nicht bleiben.« Aber sie ging nicht. Sie stand da und sah auf mich mit der gleichen gierigen Faszination wie zuvor herab. »Die Tochter des Seekönigs«, sagte sie leise. »Es paßt. Ich wollte Sie warnen, Ihnen sagen, daß es besser für Sie wäre, von hier fortzugehen. Aber jetzt ... Ja, ich glaube, Sie werden länger dableiben als Sie beabsichtigt hatten, Ariadne. Grüßen Sie Minos von mir.« Und fort war sie. »Sie weiß es«, rief Sir Christopher und starrte ihr nach. »Wie kann sie es wissen?« »Was wissen?« erkundigte sich Jim. Sir Christopher schien ihn nicht zu hören. Ich hatte diesen Mann noch nie so verstört gesehen. »Unsere alten Kodenamen«, sagte er, sich an mich wendend. »Es war Fredericks Einfall 156
gewesen. Namen aus der kretischen Mythologie. Ich war Dädalus, Durkheim war Poseidon, und Minos war Ihr -« Er hielt abrupt inne und schickte einen schuldbewußten Blick zu Jim hinüber. Jim hatte ohnehin schon dauernd aufgemerkt, nun aber genügten dieser Blick und die abrupte Unterbrechung, die nicht deutlicher sein konnten. Sein Gesicht verfärbte sich, und mir war völlig klar, weshalb er sich aufregte. »Heißt du wirklich Ariadne?« fragte er. »Ja«, murmelte ich und starrte auf das Tischtuch. »Aber ich benütze diesen Namen nie. Ich hasse ihn. Jim, ich möchte dir etwas sagen -« »Du brauchst mir nichts zu sagen.« Seine Stimme klang gepreßt. »Wenn ich nicht so verdammt dumm gewesen wäre, hätte ich es längst merken müssen. Wer anderes als die Tochter dieses Bastards würde hier aufkreuzen, um für ihn zu arbeiten? Was, zum Teufel, ist das für eine Mutter, die so etwas zuläßt!« Was er sagte, war so absurd, daß ich bei jeder anderen Gelegenheit darüber gelacht hätte. Jetzt aber diente sie mir als willkom-
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mener Vorwand, meine seit Tagen unterdrückte Wut auszulassen. »Laß du gefälligst meine Mutter aus dem Spiel«, schrie ich. »Kinder, Kinder«, begann Sir Christopher. »Kinder – zum Teufel«, schrie Jim. »Halten Sie sich da raus! – Es tut mir leid, Chris, das hätte ich nicht sagen dürfen. Aber das Ganze schlägt dem Faß doch wirklich den Boden aus ! Sie wußten es, und Sie haben es mir verschwiegen -« »Wenn du selber zu dumm warst, es zu merken, warum sollte er es dir sagen?« mischte ich mich jetzt wieder ein. Ich stand mit hocherhobenem Kopf auf. »Ich bitte Sie um Verzeihung, Sir Christopher, für diese plumpen Manieren. Sie selbst haben sich durch und durch wie ein Gentleman benommen. Guten Abend.« Ich stolzierte in die hereinbrechende Dunkelheit davon. Mit hocherhobenem Kopf stolperte ich über das Kopfsteinpflaster. Erst als ich das Ende der Plaza erreicht hatte, wurde mir bewußt, daß ich klein beigegeben hatte. Ich hatte mich bei Sir Christopher entschuldigt. Der lange, holperige Weg zum Haus gab mir genügend Zeit, meine Grobheit Jim gegenü158
ber zu bereuen. Schuldgefühle brauchten einen Sündenbock, und es war nicht schwer, jemanden zu finden, gegen den sich all meine Wut richtete. Ich platzte ins Haus, knallte die Türen zu und konfrontierte Frederick, der wie gewöhnlich lesend in der Küche saß, mit meiner schlechten Laune. Er blickte erstaunt auf. Seine Augen weiteten sich. »Du«, schrie ich vor Wut zitternd. Ich fügte ein paar saftige Bezeichnungen hinzu, die einer wohlerzogenen Tochter nicht gebührten. »Was für ein Spiel treibst du da? Wie konntest du mich bloß da hineinziehen? Nenne mir einen triftigen Grund, weshalb ich nicht sofort meine Sachen packen und morgen abreisen sollte.« Ich mußte innehalten, um Atem zu holen. Frederick, der auf seine Gelegenheit gewartet hatte, sagte kalt: »Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum du hier so herumschreist. Wenn du dich beruhigst und zusammenhängend sprichst, kann ich vielleicht-« »Verdammter Zusammenhang«, schrie ich. Frederick sah mich ernst an. »Diese Sprache aus dem Mund eines jungen Mädchens ist widerlich. Setz dich hin und halte den Mund. Wenn du das nicht tust, 159
werde ich annehmen, daß du hysterisch bist, und mit dir entsprechend umgehen.« Ich glaube, er hätte mich geschlagen. Aber ich gehorchte nicht aus Angst, sondern weil meine Wut bereits verpufft war. Ich habe ein aufbrausendes Temperament, das schnell wieder abklingt. Ich setzte mich auf den ihm gegenüberstehenden Stuhl und funkelte ihn nur noch still an. »Diese Frau«, begann ich schließlich. »Erzähle mir nicht, daß sie dich nicht kennt. Sie kennt meinen Namen. Sie nannte mich Ariadne. Und sie läßt dich grüßen, Minos. Hast du dich wirklich so genannt? Wenn du mich fragst, ganz schön albern!« »So war es also doch Kore«, sagte Frederick kalt. »Sie hat sich sehr verändert. Ich hatte gehofft -« »- daß sie es nicht sein würde. Warum? Wer ist sie? Oder besser, was war sie – für dich?« »Nichts, was dich etwas anginge. Ich habe sie vor vielen Jahren auf Kreta kennengelernt. Und ja, wir waren albern, wenn du so willst. Wir waren jung. Die Namen gefielen uns.« »Minos, der Seekönig«, sagte ich. »Deshalb hast du mich also Ariadne genannt. Ich bin 160
erstaunt, Frederick. Ich hätte nicht so poetische Züge in dir vermutet.« »Du weißt nichts über mich«, sagte Frederick mit seltsam gepreßter Stimme. »Und du nimmst dir die Freiheit, über mich zu richten. Die Grausamkeit und Intoleranz der Jugend -« »Ich beurteile dich nicht nach Dingen aus deiner Vergangenheit. Das ist mir egal, vorbei und vergessen. Ich stelle nur in Frage, was du jetzt tust. Ich fürchte mich . . . nein, nicht mich, aber ich fürchte, daß die Dinge, die du jetzt tust, Unheil bringen. Ich verstehe diese Frau nicht. Ist sie verrückt? Sie sagte die seltsamsten Dinge.« »Was für Dinge?« Ich wiederholte einige von Kores Bemerkungen. Frederick hörte interessiert zu. »Das klingt ein bißchen verrückt«, stimmte er mir zu. »Sie war ein ungebildetes, abergläubisches Bauernmädchen, als ich sie kennenlernte. Erstaunlich schön, natürlich, aber eine wahrhafte Analphabetin. Jetzt ist ihre Schönheit dahin, und obwohl sie sich äußerlich mit einem Lack gesellschaftlichen Snobismus umgibt, ist sie im Grunde das Bauernmädchen geblieben. Sehr verständlich. Ich verstehe nur nicht, warum solcher Unsinn dir Angst macht.« 161
»Du hast sie nicht gehört. Und was steckt hinter diesen Schlangenarmreifen? Jim schien auf irgend etwas Bestimmtes im Zusammenhang damit anspielen zu wollen.« »Ach! Tatsächlich? Interessant.« Frederick stand auf und fing an, Konservendosen zu öffnen. »Ja, es wäre in der Tat interessant, wenn Kores Manie solche Formen angenommen haben sollte. Die Ursprünge dafür reichen sehr weit zurück, sie nannte sich Kore, als ich sie kennenlernte. Der Name paßte zu ihrer dunklen Schönheit. Kore, wie du weißt, ist einer der Namen der Persephone, der Tochter Demeters, die von Pluto, dem Höllenhund, geraubt wurde. Die trauernde Mutter, die Göttin des Ackerbaus und der Pflanzenwelt, weigerte sich, Fruchtbarkeit für die neuen Ernten zu bringen, wenn nicht die anderen Götter eingriffen, um ihr Kind zu befreien. Sie taten es, aber Pluto trickste seine junge Braut aus und ließ sie einen Granatapfel essen. Durch seine Zauberkraft wurde sie gezwungen, jedes halbe Jahr in der Unterwelt zu verbringen – das erklärt die Wintermonate. Im Frühling kehrte die Jungfrau zu ihrer Mutter zurück, und die glückliche Mutter ließ die Natur von neuem wachsen und gedeihen.« Er nahm 162
einen großen Bissen Thunfisch, den ich vor ihn hingeschoben hatte. »Ich kenne all das. Wir haben die griechische Mythologie in der Schule durchgenommen. Aber was ist mit den Schlangen?« Frederick legte die Gabel hin und sah mich mißbilligend an. »Nach all dem, was ich dich gelehrt habe, solltest du dir die Antwort selber zusammenreimen können. Kore und Demeter sind zwei Aspekte derselben kretischen Göttin, die Mutter und die Jungfrau, Herrin über Leben und Tod. Sicherlich hast du die Statuetten der kretischen Muttergöttin gesehen, mit Schlangen, die sich um ihre Arme winden. Es scheint, daß Kore, in ihren reiferen Jahren, sich mehr mit der Rolle der Mutter als der der Jungfrau identifiziert – ein Titel, den sie bereits verloren hatte, lange bevor ich sie kennenlernte.« Ich überhörte geflissentlich die Kleinkariertheit des letzten Satzes. »Du meinst, sie glaubt, sie sei die Schlangengöttin?« fragte ich. »Kores Fantasie scheint sehr konsequent zu sein. Zweifellos terrorisiert sie diese simplen Bauern hier, indem sie vorgibt, okkulte Kräfte zu haben. Viele von ihnen beten tief in ih163
rem Innern noch die alten Götter an, obwohl sie ihnen die Namen von christlichen Heiligen gegeben haben.« »Jim sagt, er habe gehört, daß einige sie Potnia nennen. Das ist griechisch. Ich dachte, du sagtest, die Göttin war minoisch.« »Minoisch-mykenische Verbindungen sind sehr bekannt«, erklärte Frederick. »Die Mykener waren Griechen, gewiß, aber sie leiteten einen großen Teil ihrer Kultur von den Minoern ab. Nachdem Knossos und die anderen kretischen Zentren durch die Explosion von Thera zerstört worden waren, hatte eine Zeitlang eine mykenische Dynastie in Knossos geherrscht. Der letzte Minos – das Wort ist ein Titel, wie der ägyptische Pharao – war Grieche. Wie seine Vorgänger verehrte er die Muttergöttin, und seine Tochter, deine Namensvetterin, war Priesterin der Göttin. Dein Name bedeutet >die Heiligsten< Wußtest du das?« »Nein«, sagte ich ohne Begeisterung. »Aber laß uns zu wichtigeren Dingen kommen. Der Mann in der Villa -« »Seine Identität ist belanglos.« Frederick stand auf und klappte sein Buch zu. »Wenn du weggehen willst, kann ich dich nicht da-
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von abhalten. Vorausgesetzt natürlich, daß du genügend Geld für die Rückreise hast -« Ich starrte ihn entgeistert an. »Großer Gott, du bist die skrupelloseste Ratte, die mir je über den Weg gelaufen ist«, sagte ich. »Ich gehe zu Bett«, antwortete Frederick.
9 In den nächsten Tagen blieb Frederick auf seinem Posten, während ich tauchte. Er hatte nichts wegen eines Bootes unternommen, und ich drängte ihn nicht mehr. Der Mann in der Villa beobachtete mich. Ich hatte ihn auf den Klippen gesehen, und einmal verriet mir ein Lichtblinken, daß er ein Fernglas benutzte. Ich war ziemlich sicher, daß er Frederick nicht bemerkt hatte, der sich immer hinter den Felsen verbarg, wo er von der Villa aus nicht gesehen werden konnte. Gegen meine Anwesenheit hier im Wasser schienen keine Einwände zu bestehen, aber ich fürchtete, daß ein Boot in der Bucht den Beobachter Verdacht schöpfen lassen könnte, daß ich hier eben nicht nur zu meinem harmlosen Vergnügen schwamm.
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Mittlerweile hatte ich aber einen triftigen Grund, meine Arbeit hier ungestört fortsetzen zu wollen. Ich hatte einen Krug gefunden. Es war kein gewöhnlicher Krug. Es war eine Amphore, und zwar eine sehr gut erhaltene und wunderschöne. Ich fand sie am Dienstag, gleich nachdem ich ins Wasser getaucht war. Sie steckte halb im Sand. Eigentlich war es meine Freundin – Alice, der Fisch -, die sie gefunden hatte. Wie jeden Morgen, seit wir Bekanntschaft geschlossen hatten, erwartete sie mich im Wasser. Sie stupste mich an und schoß davon, als ob sie mit mir Fangen spielen wollte. Ich schwamm ihr nach – und da war es – ein symmetrisches schwarzes Loch, zu rund, um etwas anderes als von Menschenhand Geschaffenes zu sein. Es war die obere Öffnung der Amphore. In dem klaren Wasser sahen die Malereien aus, als ob sie eben aufgefrischt worden wären, schwarze und orangefarbene Streifen und Spiralen und eine Reihe von Nautilusmuscheln liefen um den Bauch der Amphore. Zwei der Henkel waren noch intakt. Ich hatte ein Knäuel Nylonfaden bei mir, aber ich wagte nicht, es zu benutzen, aus Angst, der Druck könnte die Henkel abbre166
chen. Auch wollte ich den Krug nicht ausleeren, denn es hätte ja ein bestimmter Inhalt unter dem Sand begraben sein können. Ich brachte mich halb um, als ich ihn nach oben zog. Frederick kam zu Hilfe geeilt, als er sah, daß ich mich mit einem Gegenstand dem Ufer näherte. Er war außer sich vor Aufregung. Diese Amphore war kein gewöhnliches Lagerungsgefäß, sie war ein Luxusgegenstand, einer, der im Haushalt eines Edelmannes benutzt worden sein mußte. An den nächsten beiden Tagen fand ich nichts. Aber das Suchfieber hatte mich gepackt. Ich hätte den ganzen Tag im Wasser bleiben können, um nach neuen Funden zu suchen. Ich glaube, es war Donnerstag, als ich wieder einmal ins Dorf ging. Ich hoffte, Jim zu treffen. Es war noch früh am Nachmittag. Wahrscheinlich arbeitete er noch. Ich setzte mich auf die Terrasse des Hotels, um auf ihn zu warten. Ich wartete eine ganze Weile. Anfangs war ich zu sehr in meine Gedanken vertieft, um die Dinge um mich herum wahrzunehmen. Schließlich aber merkte ich doch, daß niemand mich nach meiner Bestellung fragte. Nach langer Zeit erschien endlich Angelos. 167
Ich bestellte Kaffee, und er brachte ihn, aber er plauderte nicht mit mir wie sonst, und er lächelte auch nicht wie sonst. Dieses Verhalten brachte mir etwas anderes zu Bewußtsein, dem ich vorher keine Beachtung geschenkt hatte – das Verhalten der übrigen Dorfbewohner, mit denen ich durch meine Einkäufe in Kontakt kam. Jetzt fiel mir auf, daß sie sich heute ungewöhnlich kurz und wortkarg mir gegenüber verhalten hatten. Jim kam quer über die Plaza, und ich vergaß alles andere. Er kam geradewegs auf mich zu. Er machte ein ernstes Gesicht. Ich hatte ein Gefühl, als ob mich elektrischer Strom durchzuckte. Jim setzte sich. »Hallo«, sagte er. »Hallo«, sagte ich. Dann begannen wir beide gleichzeitig zu sprechen. »Jim, es tut mir leid, daß —« »Sandy, bitte entschuldige -« Wir brachen beide in lautes Gelächter aus, und Jim griff nach meiner Hand. »Ich habe mich wie ein Idiot benommen«, sagte er. »Das stimmt.«
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»Und was ist mit dir? Geheimniskrämereien? Wozu?« »Das ist eine lange Geschichte.« »Ich habe Zeit«, sagte Jim und lächelte. »Meine Mutter verließ Frederick, als ich zwei Jahre alt war«, begann ich. »Ich hatte ihn seitdem nicht mehr gesehen, bis zum letzten Winter. Meine Mutter hat früh wieder geheiratet. Ich bin mit einem sensationellen Stiefvater aufgewachsen, den ich über alles liebe. Keiner von den beiden weiß, daß ich hier bin. Sie denken, ich reise in Europa umher.« »Es tut mir leid, was ich über deine Mutter gesagt habe«, warf Jim ein. »Du warst ärgerlich.« »Hm. Aber warum hast du mich angelogen? Nein, sag nichts! Frederick hat es von dir verlangt.« Ich nickte. »Für einen angeblich brillanten Wissenschaftler ist er bei gewissen Dingen einzigartig naiv«, fuhr Jim fort. »Habt ihr denn wirklich geglaubt, ihr könntet eure Aktivitäten geheimhalten? Das ganze Dorf weiß, daß du tauchst.« »Oh, verdammt«, rief ich. »Jeder?«
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»Ja. Und du hast Glück gehabt, daß du nicht da warst, als ich es herausfand. Ich war so böse, daß ich dir fast mit einer Keule auf den Hals gerückt wäre. Mit einem gebrochenen Arm oder Bein müßtest du diesen Unsinn wenigstens aufgeben.« »Es ist kein Unsinn«, verteidigte ich mich. »Frederick glaubt -« Jim lachte. »Frederick glaubt, daß da unten Ruinen sind. Das glauben noch eine Menge anderer Leute, du Hühnchen. Aber keiner ist dumm genug, seinen Kopf und Kragen dafür zu riskieren, zumindest nicht, ohne die entsprechende Ausrüstung zu haben, ganz zu schweigen von einer offiziellen Tauchgenehmigung.« »Ich tue nichts Unrechtes. Nicht, solange ich nicht – großer Gott, was ist los mit mir, ich plaudere all diese Sachen aus.« »Das ist deine Reaktion auf mich«, bemerkte Jim stolz. »Ich bringe deine wahre, ehrliche Natur zum Vorschein. Mich kannst du nicht wirklich belügen. Aber im Ernst, Sandy, ich weiß alles. Dein alter Herr war neulich am Pier und hat sich bei einem der Männer nach Flaschen erkundigt. Es ist unmöglich, das zu verheimlichen. Versprich mir, daß du nicht mit so einer Ausrüstung 170
tauchst, überhaupt, ich möchte, daß du mir versprichst, ganz mit dem Tauchen aufzuhören, es sei denn, ich bin in der Nähe.« »Du?« »Frederick nützt dir kein verdammtes bißchen. Er hat ein schwaches Herz oder so was. Wenn etwas passiert, ist er der letzte, der dich retten könnte. Und wenn es wahr ist, was Chris über ihn sagt, dann wird er es noch nicht einmal versuchen.« Ich schwieg, da ich an den Vorfall dachte, als Frederick einfach abgehauen war und mich allein im Wasser gelassen hatte. »Sieh mal, Sandy«, fuhr Jim fort, »ich verbringe so viel Zeit mit dir, wie ich aufbringen kann. Ich komme dir auch nicht in die Quere, wenn du beim Tauchen irgend etwas finden solltest, mehr noch, ich werde nicht einmal Chris sagen, was wir da machen. Noch fairer kann ich doch nicht sein, oder?« Es war nicht nur ein faires Angebot, es war ein unwahrscheinlich großzügiges. Ich wußte, wie unbequem seine Lage sein würde, wenn wir eine größere Entdeckung machten und Sir Christopher erfuhr, daß Jim mir heimlich dabei geholfen hatte. Mir war schwindelig bei dem Gedanken. Ich wußte jedoch, was Frederick sagen würde, wenn 171
ich mit diesem Vorschlag ankam. Jim war vertrauenswürdig, aber Frederick würde nicht mal seiner eigenen Mutter trauen. »Was würdest du machen, wenn ich sage: Nein, danke?« fragte ich. Jims Lächeln verschwand. »Dich bei der Hafenverwaltung in Phira anzeigen.« »Das würdest du nicht tun.« »Zwing mich nicht dazu, Sandy. Ich möchte, daß du von hier fortgehst. Sieh mich nicht so entsetzt an, du weißt, ich bin verrückt nach dir. Ich möchte mit dir Zusammensein, auch weiterhin, aber nicht hier. Es geht hier etwas vor, etwas Gefährliches. Dein dummes Tauchen ist nur ein Teil davon.« »Was meinst du damit?« »Hast du nicht bemerkt, wie sich die Dorfleute benehmen? Es ist, als ob sie uns gegenüber plötzlich voller Mißtrauen und Angst sind. Es kann nicht nur das Erdbeben und die Vulkantätigkeit draußen in der Bucht sein, die sie so ruhelos machen. An solche Dinge sind sie gewöhnt.« »Was ist es dann?« »Es ist diese Frau – Kore, oder wie immer sie sich nennt. Es ist mir gelungen, den Männern hier noch ein paar Informationen über sie aus der Nase zu ziehen. Ihr Freund 172
in der Villa ist ein ehemaliger deutscher Offizier. Klar, es ist lange her, aber die älteren Leute erinnern sich noch an die Besatzungsmacht der Deutschen. Und die Griechen bedenken Frauen wie Kore, die zum Feind übergelaufen sind, nicht gerade mit den edelsten Namen. Ihre Position und die ihres Liebhabers hier wären bestimmt nicht die angenehmsten, wenn diese Frau nicht eine gewisse Macht auf die Dorfleute ausübte. Diese Macht ist so etwas wie Angst. Sie hat auf ihren Aberglauben gesetzt und scheint ein verdammt gutes Spiel zu spielen.« »Sie halten sie doch nicht etwa für eine Hexe? Diese Frau in ihrem Dior-Hosenanzug!« »So einfach ist es nicht«, sagte Jim nüchtern. »Sie glauben, daß sie magische Kräfte besitzt, ja, aber sie betrachten sie nicht als Hexe. Sie ist etwas viel Gefährlicheres. Und was mich auch beunruhigt, ist die Art, wie sie es versteht, die alten Götter ins Spiel zu bringen.« »Aber warum sollten die Spinnereien einer alten Frau dich beunruhigen?« Jim schüttelte den Kopf. »Vergiß Kores Fantastereien. Es gibt genug solide Fakten, die
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mich beunruhigen. Woher wußte sie zum Beispiel, wer du bist?« »Oh, zum Teufel, reden wir doch nicht um den Brei herum!« rief ich. »Wir denken beide das gleiche. Sie war auf Kreta, als auch dein Onkel und Sir Christopher und Frederick dort waren. So viel hat Frederick selbst neulich abend zugegeben.« »Hat er? Wie hast du das fertiggebracht? Hast du ihn angebunden und ihm ein Feuer unter den Fußsohlen angezündet?« Ich mußte lachen. Die Frage paßte genau auf meinen Vater. »Nein, er hat von sich aus gesprochen. Aber das war ungefähr alles, was er sagte. Was ist eigentlich mit deinem Chef?« »Ich habe ihn nicht gefragt.« »Es ist möglich, daß er sie nicht kennt. Offensichtlich kannte sie Frederick in seinen Geheimagententagen, sonst wäre ihr sein Deckname nicht bekannt. Das läßt darauf schließen, daß sie Mitglied der kretischen Untergrundbewegung gewesen ist. Sie könnte Kontakt zu Frederick gehabt haben, nicht aber zu den anderen.« »Schon möglich«, sagte Jim. »Es ist nutzlos, weiter zu spekulieren. Warst du es nicht, der sagte, wir sollten nicht in 174
der Vergangenheit herumrühren?« Ich blickte zum Himmel hinauf, wo die ersten Sterne auftauchten. »Du liebe Zeit, es ist schon spät. Ich muß jetzt wirklich gehen.« »Ich bringe dich nach Hause.« Jim erhob sich. Ich starrte ihn überrascht an. »Ich bin bis jetzt immer allein nach Hause gegangen«, erinnerte ich ihn. »Jim, du bist albern, es ist hier viel sicherer als auf den Straßen irgendeiner amerikanischen Großstadt.« Wir starrten uns einen Augenblick lang an. Unsere Blicke waren wie gebannt ineinander vertieft. Schließlich schüttelte sich Jim wie ein nasser Hund. »Ich fange schon an, Halluzinationen zu bekommen, ich bin wie behext. Du hast recht, Sandy. Also, komm gut nach Hause.« Er schloß mich in seine Arme und küßte mich. Verträumt trat ich den Rückweg an. Die Aussicht war sensationell. Die schwarze Kette der Berge zeichnete sich kraß gegen den westlichen Abendhimmel ab, der kupferrot glühte. Solch intensiv gefärbte Sonnenuntergänge entstehen durch Staubpartikelchen in der Luft. Ein leichtes Unbehagen beschlich mich beim Anblick des rauchenden Vulkans draußen in der Bucht. Aber nichts konnte 175
mein Glücksgefühl wirklich trüben. Jim und ich hatten uns wiedergefunden, und ich brauchte jetzt nichts mehr vor ihm zu verbergen. Ich war schon fast zu Hause angelangt, als ich die Hufschläge hörte. Diesmal konnte ich das Geräusch identifizieren, und ich befand mich nicht in der Nähe eines Abhanges. Das Kreszendo der donnernden Hufe erreichte seinen Höhepunkt, und dann sah ich sie auf dem oberen Pfad. Der Mann saß tief über den Pferdehals gebeugt. Das Pferd raste im Galopp. Die fliegenden Formen zeichneten sich schwarz gegen den Abendhimmel ab, dann waren sie verschwunden, den Abhang hinab, in die Dunkelheit. Meine euphorische Stimmung war dahin. Es war eine merkwürdige Zeit für Ausritte, besonders mit dieser Geschwindigkeit. Der Mann ritt, als ob ihn die Furien jagten. Ich lief schneller. Der Schatten der Berge lag nun breit und dunkel über dem Land. Als Frederick und ich am nächsten Morgen das Haus verließen, stießen wir auf Jim, der bereits in der Bucht auf uns wartete. Er trug Badehosen, hatte ein ruchloses Grinsen im Gesicht und war über und über mit Gänsehaut überzogen. Fredericks Blick hätte ihm 176
allerdings gründlich einheizen müssen. Bevor Frederick mich jedoch zur Rechenschaft ziehen konnte, rief ich hastig : »Oh, Jim! Welch ein Zufall. Was machst du denn hier?« Jim richtete sein Grinsen jetzt direkt an Frederick. »Ich weiß, wie beschäftigt Sie sind, Sir. Ich dachte, daß es Sie vielleicht entlasten würde, wenn ein anderer hier bleibt, solange Sandy ihren Frühsport macht. Es wäre mir ein Vergnügen. Außerdem gibt es nichts, was ich mehr schätze als ein kühles Morgenbad.« »Mit dieser Wunde am Kopf kannst du doch nicht ins Wasser«, sagte ich. »Ich stecke nur die Zehen hinein«, erwiderte Jim. »Wahnsinn«, murrte Frederick. »Gut, gut, wenn Sie schon da sind, kann ich ja . . . Bleib nicht länger als eine Stunde, Sandy, ich brauche dich an der Ausgrabungsstelle.« Er ging fort, ohne auf eine Antwort zu warten. »Lausiger Schauspieler«, sagte Jim leise. »Es ist mir unvorstellbar, wie er als Spion überleben konnte.«
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»Vielleicht war er in seinen jungen Jahren flexibler. Komm, gehen wir, bevor du dir den Hintern abfrierst.« Je höher die Sonne stieg, desto wärmer wurde es. Es würde wieder ein heißer Tag werden. Jim wollte erst ein paar Erkundigungen über die Villa einziehen. Ich zeigte ihm den Weg, der von dort hinunter zur Bucht führte. »Laß uns ein bißchen herumschnüffeln«, schlug Jim vor. »Ich will nicht -« »Was können sie uns schon anhaben? Uns erschießen?« Er brauchte mich nicht lange zu überreden. Ich war selber neugierig. Doch viel gab es nicht zu sehen. Das Haus war von Mauern umschlossen. Ringsherum gab es kein Zeichen von Leben, außer ein paar Ziegen, die am Abhang grasten. Wir stiegen wieder zur Bucht hinab und blieben ungefähr eine Stunde im Wasser. Dann bestand ich darauf, daß wir an Land gingen und uns trennten. Wir blieben einen Augenblick auf den warmen Felsen liegen und küßten uns. Seine Küsse wurden immer besser. Am liebsten hätte ich den ganzen Tag hier
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auf den sonnendurchwärmten Felsen mit ihm verbracht. Am nächsten Morgen war er wieder da. Frederick gelang es kaum noch, seine Wut zu verbergen. Wir hatten am Vortag einen handfesten Streit gehabt, und ich mußte ihm bei allem, was mir heilig war, schwören, daß ich Jim nichts von dem Geheimnis verraten hatte. Als er ihn jetzt sah, würdigte er ihn keines Blickes, drehte sich wortlos um und lief wütend nach Hause. »So können wir nicht weitermachen«, sagte ich zu Jim. »Ich fürchte, du hast recht. Chris hat mir heute morgen auch ein paar nette Dinge an den Kopf geworfen.« »Dann geh doch zurück.« Ich blieb stehen. »Das ist albern.« »Unter einer Bedingung: daß du auch zurückgehst.« »Oh, gut, gut. Ich kann es nicht verantworten, daß du wegen mir bei Sir Christopher rausfliegst.« Wir trennten uns am Haus. »Vielleicht bin ich morgen hier, vielleicht auch nicht«, sagte Jim. »Ich bitte dich nicht, mir zu versprechen .. .«
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»Ich kann nichts versprechen. Ich werde mein Bestes tun.« »Das werde ich auch. Du bist für Ehrlichkeit, Sandy, und ich werde ehrlich sein. Ich habe die Absicht, diese Sache irgendwie zu unterbinden.« »Du meinst, du willst mich anzeigen?« »Ich werde tun, was ich tun muß.« Er küßte mich nicht zum Abschied. Zwischen Frederick und mir gab es an diesem Abend einen Mordskrach. Meine Stimme mußte noch in -zig Metern Entfernung zu hören gewesen sein. Frederick schrie nicht, er wurde nur mit jedem Wort kälter und gemeiner. Dadurch, daß ich mich so aufregte, hatte ich die Kontrolle über den Streit verloren. Er nahm eine Wendung, die ich nicht erwartet hatte. »Was meinst du mit Verrat?« fragte ich, an einem Punkt angelangt, der unsere Beziehung betraf. »Ziemlich kitschig, das Wort, wenn -« »Es ist genau der richtige Ausdruck. Du solltest Loyalität mir gegenüber zeigen, wenn schon nicht aus ethischen Gründen, dann, weil du mir dein Versprechen gegeben hast. Aber der erste dahergelaufene Kerl, der an dir herumfummelt -« 180
»An mir herumfummelt?« »Ich habe gesehen, wie er dich küßte und dich an sich drückte. Widerlich! Kompromittierend.« »Jetzt reicht mir’s aber«, sagte ich. Ich war nicht mehr wütend, ich war entsetzt. »Mein Gott, so denkst du also. Ist das die Art, wie du mit Mutter -« Ich schluckte den Rest hinunter. Es gibt Dinge, die man nicht sagen kann. Natürlich wußte Frederick, was ich meinte. Es hatte eine unerwartete Wirkung. Anstatt sich noch mehr aufzuregen, beruhigte er sich. Wir waren mit unserem Streit so weit gekommen, daß wir nur noch die Möglichkeit hatten, uns zu trennen oder zu einem gegenseitigen Konsensus zu kommen. »Gut«, sagte ich. »Versuchen wir, beim Thema zu bleiben. Jim macht sich Sorgen um mich. Alles, was ich von dir will, ist dein Versprechen, daß du nicht davonrennst, während ich im Wasser bin. Du bist keine große Hilfe, aber besser als gar nichts.« »Na schön«, lenkte Frederick ein. »Ich bin einverstanden. Ist das alles?« »Das ist alles. Ich versuche vernünftig zu sein.«
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»Das hoffe ich. Gibt es sonst noch irgendwelche Forderungen?« »Keine Forderungen. Ich möchte nur -« »Dann sind wir also quitt. Gute Nacht.« Es war keine gute Nacht. Ich schlief schlecht. Ich hatte einen Traum. Jeder Psychologe Freudscher Schule hätte das Thema sicher hochinteressant gefunden. Ich war wieder mit dem Minotaurus in der fauligen Gruft, und Theseus stand da, bereit, ihm entgegenzutreten. Nur daß Theseus kein anonymer griechischer Held mehr war, sondern Jim. Sein Gesicht war bleich und schweißtriefend, und ich erkannte die Art, wie sich seine Augenbrauen zu einem großen M zusammenzogen. Ich war ich selbst und gleichzeitig Ariadne, die Heiligste, krank von einer allumfassenden Angst, die eine moderne Frau kaum nachvollziehen kann. Nicht nur, daß ich meinen Vater für die Liebe eines Fremden verraten hatte, eines Feindes, ich hatte auch die Göttin verraten, deren Priesterin ich war. Der Fremde würde den alten Gebräuchen ein Ende setzen. Sein barbarisches Volk betete zu männlichen Göttern, und er war der Sohn Poseidons selbst. Der Erderschütterer würde den Kampf für seinen Sohn gewinnen, aber welchen der 182
Söhne würde er unterstützen? Der Minotaurus war aus dem geheiligten Stier hervorgegangen, einer Inkarnation Poseidons selbst . . . Dann regte es sich im Zentrum der stinkenden Dunkelheit, das Gebrüll des Stieres zerriß die Stille und erschütterte den Boden. Ich wachte mit einem Schrei auf und stellte fest, daß Frederick an meiner Schulter rüttelte. Ich schrak vor ihm zurück; er war der Seekönig, den ich verraten hatte. »Was ist los?« fragte er irritiert. Ich schluckte. »Schlechter Traum«, murmelte ich dann. »Ach! Steh auf, beeil dich!« Wir machten uns schweigend auf den Weg. Ich ließ meinen Blick über die Berge mit ihren bunten Schichten aus Fels und graugrüner Vegetation gleiten. Der Himmel war tiefblau und wolkenlos, und das Meer schimmerte in zartem Smaragd. Zum erstenmal seit Tagen wartete Alice, mein Unterwasserkamerad, nicht auf mich. Ich sah mich nach ihr um und erblickte schließlich die vertraute blau-weiße Gestalt. Wir schwammen gemeinsam hinaus in die Mitte der Bucht. Da fand ich die zweite Amphore.
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Ich hatte einen Haufen zusammengesunkener Felsbrocken untersucht, als ich die bauchige Form und das Aufblitzen einer leuchtenden Farbe sah. Ich fegte den Sand beiseite und legte das Ornament auf der Unterseite der Amphore frei – es war ein Tintenfisch, der seine braunschwarzen Tentakeln spreizte. Das Gefäß war zwischen die Steine geklemmt. Es war ein Wunder, daß es nicht zerbrochen war, aber soweit ich sehen konnte, schien es intakt zu sein. Der Druck in meiner Lunge mahnte mich, daß mir die Luft ausging. Ich war vor lauter Freude über die Entdeckung zu lange unter Wasser geblieben. Ich schwamm an die Oberfläche und blies das Wasser aus dem Schnorchel. Als ich nach Frederick Ausschau hielt, war er verschwunden. Ich fluchte nicht, weil ich meinen Atem nicht verschwenden wollte. Aber ich hatte eine Menge übler Worte auf Lager. Ich blickte zum Haus auf und sah, was ich erwartet hatte – das Blitzen des Fernglases. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel mehr, daß Frederick den Mann in der Villa kannte und von ihm nicht gesehen werden wollte.
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Zum Teufel mit dem Beobachter und Frederick – ich mußte noch einmal hinuntertauchen. Ich hatte nicht die Absicht, die Amphore hinaufzubefördern, aber ich mußte die Fundstelle markieren. Ich hatte meinen Nylonfaden und eine aufblasbare Miniboje bei mir. Ich holte tief Luft und ging hinunter. Ich hätte den Faden anbringen und verschwinden sollen, aber die Versuchung war zu groß. Ich wollte wissen, ob sonst noch etwas da unten lag. Die Amphore könnte ein einzelner Fund sein, aber ebenso der sichtbare Teil eines ganzen Schatzhaufens. Alice lungerte herum und starrte mich kurzsichtig an, während ich die Steine anhob. Ich handelte hastig, zugegeben. Ich wollte sehen, was darunterlag. Achtlose Hast verursacht Unfälle. Aber ich weiß jetzt, daß dieser Unfall früher oder später sowieso passiert wäre. Ich hatte gerade einen der größeren Steine angehoben, als es passierte. Ich sah die aufschnellende Spirale und fühlte gleichzeitig den Schmerz. Dann entwickelten sich dunkle Wolken im Wasser. Ich konnte es nicht glauben. Ich starrte dümmlich auf den dunklen, quellenden Fleck. Erst war er klein, dann breitete er sich langsam aus, beinahe 185
wie Tentakeln eines kleinen Tintenfisches. Aber es war kein Tier, es war eine Flüssigkeit, dicker und dunkler als das Wasser. Es war Blut. Es war nicht das erstemal, daß ich mich geschnitten hatte. Zu Hause in den Gewässern gab es eine Menge scharfer Korallen. Ich wußte, was ich zu tun hatte, und tat es. Mit einem steilen Schwung brachte ich mich an die Oberfläche des Wassers. Ich spuckte das Mundstück aus und schwamm so schnell ich konnte auf die Küste zu. Ich mußte aus dem Wasser, bevor das Blut irgendwelche Raubfische anzog. Ich war noch keine hundert Meter geschwommen, da spürte ich, wie meine Kräfte nachließen. Der Schnitt mußte tiefer sein, als ich wahrgenommen hatte. Ich verlor zu schnell Blut, und der Schock tat das übrige. Das Wasser fühlte sich schon nicht mehr warm an. Ich befand mich noch in einiger Entfernung vom Strand, als mir klar wurde, daß ich es nicht schaffen würde. Alles um mich verlangsamte sich, wie in einem verzerrten Film. Einzelne Bilder zuckten mir durch den Kopf. Nicht mein ganzes Leben, nur vereinzelte Bilder. Das Metallstück, das wie an einer Feder hervorgeschnellt war 186
und meinen Arm aufgeschlitzt hatte. Der leere Felsen, auf dem Frederick hätte sitzen sollen, Jims lächelndes Gesicht. Der Anblick der Amphore und der daraufgemalte Oktopus, das quellende Blut im Wasser. Dann tauchte ein anderes Gesicht auf, schmal und faltig, mit braunen Augen und dunklen, graumelierten Haaren. Das Gesicht eines Mannes, den ich nie zuvor gesehen hatte. Dennoch erkannte ich ihn. Sein Gesicht und die Haare trieften vor Wasser, es mußte Poseidon höchstpersönlich sein, der kam, um mir den Rest zu geben. Ich war in seinen Bereich eingedrungen und hatte seine Souveränität bedroht, und jetzt, weil ich zu langsam starb, war er gekommen, um dem Ganzen ein schnelleres Ende zu bereiten. Ein langer, sehniger Arm griff nach meinem Hals. Ich machte die letzten zuckenden Anstrengungen, um seinem Zugriff zu entgehen, dann schlug das Wasser über meinem Kopf zusammen und füllte meine Lungen.
10 Als ich aufwachte, war mir, als sei ich noch immer unter Wasser. Ich lag in einem kla187
ren, grünlich helldurchfluteten Raum. Dann erblickte ich seegrüne Vorhänge an Fenstern. Die Jalousien waren herabgelassen. Ich lag in einem Bett. Die weiche Unterlage und die kühle Glätte der Bettücher trugen zu meiner Illusion bei. Ich hatte seit Wochen nicht mehr in einem richtigen Bett geschlafen. Ich fühlte mich wohl, bis auf den Schmerz in meinem Arm. Ich drehte den Kopf zur Seite. Mein rechter Arm war vom Handgelenk bis zum Ellbogen bandagiert. Ich erinnerte mich ziemlich klar an das, was geschehen war. Durch meine Bewegungen mußte die Frau am Fenster aufmerksam geworden sein. Sie kam auf mich zu. Ich hatte sie sofort erkannt, die Gestalt war unverkennbar. Sie trug ein langes, besticktes Gewand, das an beiden Seiten aufgeschlitzt war. »Madame«, sagte ich mühsam. Meine Zunge fühlte sich so schwer an wie der Rest meines Körpers. »Aber Sie müssen mich Kore nennen.« Lächelnd ließ sie sich auf der Bettkante nieder. »Es geht Ihnen besser, das ist gut. Jürgen hat gesagt, daß Sie es überstehen werden. Er ist Amateurarzt. Eher Amateur als Arzt, sage ich immer.« Ihr Lächeln war nicht 188
mehr auf mich gerichtet. Ich ließ meinen Blick auf die andere Seite des Bettes gleiten. Ich zuckte zusammen. Einen Augenblick lang fühlte ich mich wie eine Gefangene zwischen den beiden. Aber das Gesicht des Mannes, der auf mich herabblickte, hatte nichts Beängstigendes an sich, obgleich es sehr ernst aussah. Und natürlich kannte ich es. »Sie haben mich aus dem Wasser geholt«, sagte ich. »Ich danke Ihnen.« »Sollte ich zulassen, daß Sie ertrinken?« Er lächelte nicht, aber die Winkel seiner langen, schmalen Lippen entspannten sich ein wenig. Er mußte früher einmal ein erstaunlich gutaussehender Mann gewesen sein. Er war noch immer schlank und breitschultrig, die weißen Strähnen im Haar standen ihm gut. Doch sein Gesicht war verschlossen. Seine dunklen Augen wichen meinem Blick aus. Er blickte auf seine Hände, an die Wand, sonstwohin, nur nicht direkt in mein Gesicht. »Ich habe unerlaubterweise Ihr Privatgebiet betreten«, sagte ich mühsam. »Mein Fehler —« »Sprechen Sie nicht. Sie sind noch immer sehr schwach. Sie haben viel Blut verloren. Wir haben hier keine Möglichkeit für Trans189
fusionen, aber ich glaube, es wird nicht nötig sein, Sie in ein Krankenhaus zu bringen. Sie sind jung und kräftig. Ruhe ist alles, was Sie benötigen.« »Aber -« »Was beunruhigt Sie?« Er griff nach meinem Handgelenk. Seine Berührung war sachlich kühl, die langen, schlanken Finger tasteten leicht meinen Puls ab und berührten mich kaum. »Mein . . . Arbeitgeber. Er wird sich Sorgen um mich machen.« »Minos«, sagte Kore. Sie lachte kurz auf. »Ich werde ihn informieren. Und der andere, der junge Held, mit ihm werde ich auch sprechen. Ich glaube, daß er derjenige ist, der sich Sorgen macht. Nur keine Angst, Kind, alles ist in guter Ordnung.« Meine Augenlider waren so schwer, daß ich sie wieder schließen mußte. Ich schlief jedoch nicht gleich ein. Dies war also der mysteriöse Mann in der Villa – der Hauptmann. Kore hatte ihn Jürgen genannt. Ein guter alter deutscher Name. Er wirkte ein bißchen einschüchternd, aber seine verschlossene Art erweckte eher den Eindruck von Zurückgezogenheit als irgendwelcher bösen Absichten. Ich konnte 190
mich jedenfalls nicht beklagen. Er hatte mir ohne Zweifel das Leben gerettet. Und es mußte nicht leicht für ihn gewesen sein. Ich erinnerte mich verschwommen, daß ich in meiner Benommenheit wie wild um mich geschlagen hatte. Ich fragte mich nur, wie es kam, daß er so schnell zur Stelle gewesen war. War er bereits auf dem Weg über die Klippen zum Strand gewesen? Oder hatte er gewußt, daß ein Unfall passieren würde? Ich versuchte den Gedanken von mir zu schieben. Müdigkeit überkam mich. Ich schlief ein. Als ich das zweitemal erwachte, war es Abend. Im Zimmer brannte ein gelblich sanftes Licht. Als ich mich bewegte, kam Kore in Sicht. »Oh, Sie sind wach. Und vielleicht haben Sie Hunger?« Ich hatte einen Bärenhunger und sagte es. Kore strahlte. »Gut, das ist gut!« Sie klatschte in die Hände. Die Frau, die daraufhin mit einem Tablett eintrat, trug eine hübsche Dienstmädchentracht. Sie war mittleren Alters und hatte stahlgraue Haare. Ich konnte ihre Nationalität nicht genau bestimmen, aber ich vermu191
tete, daß sie Griechin war. Auf Kores gebieterische Geste hin stellte sie das Tablett auf ein schmales Tischchen, schob dieses an mein Bett und verschwand. Kore zog sich einen Stuhl heran. Sie hatte wieder die Kleider gewechselt. Was sie jetzt trug, war das Schönste, was ich je gesehen hatte, eine Art Kaftan aus Goldbrokat, der mit blitzenden, regenbogenfarbenen Juwelen besetzt war. »Ich werde Sie füttern«, bestimmte sie lächelnd. »Ich bin eine gute Krankenpflegerin, Sie werden sehen.« »Oh, ich glaube, ich kann allein essen«, sagte ich. »Und überhaupt, es gibt keinen Grund, weshalb ich im Bett bleiben sollte.« »Nein, nein, Sie müssen ruhen. Aber Sie können sich aufsetzen, wenn Ihnen nicht schwindelig wird.« Sie hatte wirklich Talent als Krankenschwester. Sie klopfte die Kissen hinter meinem Rücken zurecht und half mir, mich aufzusetzen. Dann breitete sie ein Handtuch über meinen Schoß und stellte das Tablett vor mich hin. Das Essen schmeckte gut. Es gab eine Art dicke Gemüsesuppe und anschließend den unvermeidlichen Fisch – und Wein. Ich aß 192
linkshändig, weil der rechte Arm nicht zu gebrauchen war. »Er hat zwölf Stiche gemacht«, sagte Kore und strich über die Bandagen. »Zwölf! Es ist schrecklich! Kein Wunder, daß es so weh tut! Wie konnten Sie nur so unvorsichtig sein? Immer waren Sie wie eine – wie heißt das Wort -, eine Seejungfrau, eine Nixe, ja, wie im Wasser zu Hause.« »Solche Dinge passieren eben«, sagte ich und legte die Gabel nieder. Das Essen hatte mich mehr angestrengt, als ich wahrhaben wollte. Kore entfernte das Tablett und machte es sich auf einem Stuhl neben dem Bett bequem. »Haben Sie Frederick gesprochen?« fragte ich. »O ja.« Kore kicherte. »Er hat sich nicht verändert. Er sagte, Sie müssen nach Hause kommen. Nach Hause! Dieses schreckliche Haus, und er als Krankenpfleger! Ich habe es abgelehnt, ich habe gesagt, daß Sie hierbleiben, bis Sie gesund sind.« »Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich möchte Ihnen auf keinen Fall zur Last fallen.« »Sie fallen uns nicht zur Last.« Sie beugte sich vor und legte ihre Hand auf meine. »Sie fallen uns nicht zur Last«, wiederholte sie 193
und blickte mir dabei fest in die Augen. »Ich genieße Sie.« Ich wußte, daß sie sich im Englischen nicht so gut ausdrücken konnte, dennoch stieß mich dieser letzte Satz ab. Sie mußte es gespürt haben, denn sie ließ meine Hand los und lehnte sich zurück. »Ich habe auch mit Jim gesprochen«, fuhr sie fort. »Es war, wie ich sagte; er war derjenige, der sich Sorgen machte. Ich habe ihm gesagt, daß er morgen kommen kann. Nicht heute abend, weil Sie noch nicht so hübsch aussehen. Morgen mache ich Sie schön für ihn.« »Ich fühle mich schon schön genug«, sagte ich mit einem Blick auf die Satinwäsche, in der ich steckte. »Oh, das ist gar nichts«, rief sie. »Morgen werde ich Ihnen viel schönere Sachen geben.« »Sie sind sehr freundlich. Und ich habe wirklich ein schlechtes Gewissen. Ich hatte kein Recht, in Ihrer privaten Bucht zu schwimmen. Und ich habe – dem Hauptmann -noch nicht einmal entsprechend dafür gedankt, daß er mich gerettet hat. Wie kam es, daß er so schnell zur Stelle war?« Sie akzeptierte kommentarlos die Bezeichnung ›Hauptmann‹. 194
»Aber er hat sie oft beobachtet. Er ist ein Mann. Er sieht gern ein hübsches Mädchen, da ist nichts dabei.« Sie verzog das Gesicht zu einer lustigen Grimasse. »Ich sehe in einem Badeanzug nicht so sehr gut aus, nicht mehr. Einmal . . . aber das ist lange her. Deshalb sieht Jürgen Ihnen gern zu. Er sagt, das ist ein schönes Mädchen, und sie schwimmt gut. Aber heute hat er gesehen, daß Sie verletzt waren. Er sieht Sie langsam schwimmen. Er rennt hinunter . . .« Ihre Augen funkelten. Sie bewegte lebhaft die Hände. »Das ist romantisch, nicht? Aber der arme Jürgen ist nicht romantisch, er ist zu alt. Sie brauchen keine Angst vor ihm zu haben. Er tut Ihnen nichts.« Sie besaß wirklich Charme. Sie hatte die Geschichte mit so viel Lebhaftigkeit und Humor erzählt, daß ich lächeln mußte. Dennoch schien mir das Ganze ein bißchen unglaubhaft. Ihr Jürgen mußte schon auf dem Weg gewesen sein, als er merkte, daß mit mir etwas nicht stimmte, sonst hätte er mich niemals rechtzeitig erreichen können. »Sie sehen müde aus.« Kore legte ihre Hand auf meine Stirn. »Gut«, murmelte sie. »Es ist gut. Es ist kein Fieber.«
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Ihre Hand blieb auf meiner Stirn liegen. Ihre Finger bewegten sich langsam. Ich mußte an kleine Schlangen denken, doch der Gedanke hatte für mich nichts Abschreckendes an sich. Ich habe keine Angst vor Schlangen. Schlangen sind nicht schleimig, sie sind kühl und hart und ein wenig rauh. Bündel lebender Muskeln, die sich bewegen . . . aber rasch, nicht wie diese weißen Finger mit ihrem sanften, rhythmischen Streicheln... Eines der Kissen unter meinem Kopf wurde entfernt. Ich lag jetzt flach auf dem Rücken und starrte hinauf zu der dämmerigen Zimmerdecke. Von irgendwoher hörte ich das Flüstern einer Stimme. »Du bist müde ... du wirst schlafen. Und wenn du schläfst, wird sie aufwachen, sie, die so lange geschlafen hat und jetzt eine Hülle für die Wiedergeburt fand. Oh, Heiligste. Wächterin der Tanzgründe, Tochter und Jungfrau, erwache zu deiner alten Gestalt und lebe.« Ich hörte die Worte. Ich verstand ihren Sinn. Aber ich sank immer tiefer, hinab in grüne, wäßrige Tiefen, sank, als ob ein Stein mich hinabzog. Und während die Dunkelheit der Tiefe sich um mich herum breitete, war mir, 196
als ob ich im Absinken einer anderen begegnete, einer Gestalt, die vom Grund des Meeresbodens hinauf zum Sonnenlicht stieg. Drogen. Ich erwachte mit diesem Wort an der Oberfläche meines Bewußtseins. Sonnenlicht schien hell durch die Fenster. Mein Mund fühlte sich trocken an, sonst jedoch war ich in guter Verfassung. Ich machte einen Beugeversuch mit dem Arm, es schmerzte, aber es war nicht so schlimm, wie ich erwartet hatte. Im Essen oder im Wein mußte eine Droge gewesen sein. Ich hatte vor dem Einschlafen einige der bekannten typischen Symptome gehabt. Keine Ängste, eine Art von schwebender Gleichgültigkeit, Illusionen der Klarheit, Erweiterung des Unbewußten. Offensichtlich hatte man mir ein Schlafmittel oder ein schmerzstillendes Medikament verabreicht. Auch diese Art von Drogen können das Bewußtsein beeinflussen. Ich war nicht mehr sicher, ob ich das gespenstische Flüstern wirklich gehört hatte. Es paßte einfach zu gut zu den vorangegangen Halluzinationen. Ich fühlte mich so gut, daß ich mich entschloß, aufzustehen. Das war ein Fehler. Das Bett war ein ganzes Stück höher als ich erwartet hatte. Meine Füße reichten nicht bis 197
auf den Boden, und mir wurde sofort schwindlig. Bald schwankte der ganze Raum um mich herum wie bei einem Erdbeben. Ich fiel von der Bettkante und prallte mit einem dumpfen Schlag auf dem Fußboden auf. Zum Glück fiel ich auf die linke Seite, doch beim Aufprall wurde mein rechter Arm gequetscht. Ich mußte vor Schmerz ohnmächtig geworden sein. Kore und das Dienstmädchen waren, offensichtlich durch den Krach alarmiert, herbeigeeilt und hatten mich wieder ins Bett gebracht. Danach redete Kore auf mich ein wie eine Henne auf ihr Küken. »Sehen Sie, wie dumm. Sie haben sich weh getan. Sie sind unartig. Ich muß Jürgen rufen, damit er Sie untersucht.« Jürgen erschien prompt. Wieder wich er meinem Blick aus, während er meinen Puls und die Temperatur prüfte und die Bandagen abnahm, um nach der Wunde zu sehen. »Es heilt schon«, sagte er zufrieden. »So schnell geht es, wenn man jung und kräftig ist. Aber keine Dummheiten mehr. Bleiben Sie im Bett. Ruhen Sie sich aus und schlafen und essen Sie, das wird Ihnen guttun.« Er lächelte in meine Richtung und machte Anstalten, sich zurückzuziehen.
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»Wann kann ich wieder hinaus?« fragte ich und merkte im gleichen Augenblick, wie unhöflich meine Frage war. »Oh, ich meine nicht, daß ich von Ihnen fort -« »Natürlich meinen Sie es. Sie sind jung und schon wieder unruhig. Ich kann Sie verstehen. Aber vorläufig kann ich Ihnen als Ablenkung lediglich Bücher empfehlen. Meine Sammlung englischsprachiger Werke ist allerdings nicht allzu umfassend, fürchte ich. Darf ich Ihnen dennoch bringen, was ich habe?« »Ja, bitte.« Ich mußte also mit einigen Tagen Langeweile im Bett rechnen. Er mochte kein ausgebildeter Mediziner sein, aber er besaß die Autorität eines Arztes. »Bah«, rief Kore, »bring deine langweiligen Bücher. Es gibt hier nichts anderes. Kein Fernsehen, kein Theater, keine Musik. So ein Ort! Wie halte ich es hier bloß aus!« Sie winkte mit den Händen, die Juwelen an ihren Fingern blitzten, ein Ärmel glitt zurück und ließ die Augen der goldenen Schlangenarmreifen sehen. Der Hauptmann hatte sich währenddessen lautlos zurückgezogen, und das Dienstmädchen erschien mit meinem Frühstück. Kore setzte sich, um mir beim Essen zuzusehen. 199
»Sie brauchen gutes Essen, sagt Jürgen. Er ist klug, Jürgen.« »Er ist ein sehr guter Mann«, sagte ich. »Ich bin ihm sehr dankbar.« Nachdem das Tablett entfernt worden war, trat Kore in Aktion. Sie hatte ihre Ankündigung, mich schön zu machen, ernst gemeint. Mir gefiel das nicht. Ich kam mir vor wie eine lebensgroße Puppe oder wie eines jener kultischen Objekte, die von Gläubigen hingebungsvoll ausstaffiert wurden. Andererseits wollte ich mich nicht beklagen. Sie war so freundlich und genoß sichtlich, was sie tat. Sie rollte mein Haar in einzelne Locken und band diese mit Schleifen fest. Das frische Nachthemd, welches sie mir reichte, war offensichtlich nach meinen Maßen geändert worden. Es war unbeschreiblich schön, aus mehreren Lagen dicht gereihter Chiffons, der von Hellgrün bis in himmlische Aquamarintöne reichte. Als sie schließlich mit Pinseln und Lippenstiften und Cremetöpfchen ankam, protestierte ich. Doch sie machte ein so enttäuschtes Gesicht, daß ich auch das mit mir geschehen ließ, obwohl es mir unangenehm war. Schließlich trat Kore einen Schritt zurück, betrachtete ihr Kunstwerk und klatschte in 200
die Hände. Ich bat sie um einen Spiegel. Während Kore danach suchte, trat das Dienstmädchen ein und sagte etwas. Kore gab ihr eine Antwort und wandte sich dann mit glänzenden Augen an mich. »Es ist Jim. Er kommt gerade recht. Nun, setzen Sie sich auf – lassen Sie mich das Kopfkissen glätten. Ah, er wird wie trunken vor Liebe sein – Sie sind so schön.« Ich hörte ihn einen langen Gang entlangkommen. Mein Herz schlug schneller, aber nicht nur vor Freude. Jim würde gewiß auch ein paar Dinge über meine Unvorsichtigkeit zu sagen haben. Er mußte geradewegs von der Arbeit gekommen sein. Sein Hemd war verschwitzt und voller Staub, aber er sah wundervoll darin aus. Jim warf einen Blick auf mich und blieb abrupt stehen. »Großer Gott«, stammelte er. »Na, das ist ja wirklich reizend«, rief ich. »Welch nette Art, jemanden in meinem Zustand zu begrüßen.« »Welchen Zustand meinst du?« erkundigte sich Jim höflich. Kore kicherte. »Ah, ein Streit zwischen Liebenden«, rief sie strahlend. »Ich gehe. Ich lasse Sie allein für die Versöhnung. Sehen 201
Sie, Jim, sie ist schön für Sie, für Sie ganz allein.« Sie schlüpfte aus dem Zimmer und zog mit übertriebener Vorsicht hinter sich die Tür zu. Jim setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und starrte mich an. »Wie gefällt es dir?« fragte ich kokett. »Anders gefällst du mir besser.« »Männer«, stöhnte ich. »Hat Kore dich so aufgeputzt?« »Sie wollte nur nett sein.« »Hast du dich gesehen?« »Nein.« »Willst du wissen, wie du aussiehst?« »Nein.« »Dann werde ich es dir auch nicht sagen . . . Oh, du siehst schön aus. Aber für mich bist du auch mit zerzausten Haaren und einem Sonnenbrand auf der Nase schön. Und«, fügte er hinzu, während ich an seiner zärtlichen Erklärung schluckte, »wenn du nicht krank wärst, würde ich dir den Hintern versohlen, bis er blau ist. Wie konntest du nur so dumm sein? Was ist passiert?« Ich atmete auf. Die Lektion war vorüber. Wenigstens gehörte er nicht zu der Sorte von Männern, denen dann einfiel: ›Ich habe dir doch gesagt . . .‹ 202
»Hat Kore es dir nicht erzählt?« »Sie hat mir eine wilde Geschichte aufgetischt. Ich kann nicht die Hälfte davon glauben. An was hast du dich geschnitten?« »Ich konnte es nicht sehen. Es war irgendeine Art von Metallklinge oder so etwas. Es sprang heraus, als ich den Stein anhob.« Ich berichtete ihm von der Amphore. Er hörte interessiert zu und stellte mehrere gezielte Fragen. Die Antworten schienen ihm nicht zu gefallen. Er verfiel in nachdenkliches Schweigen. »Nun«, sagte ich. »Es war eine minoische Amphore, glaubst du nicht?« »Was? O ja, sieht so aus. Späte minoische Epoche. Aber ich verstehe nicht, warum . . . Könntest du die Stelle beschreiben?« »Nicht genau. Ich wollte sie gerade mit einer kleinen Boje markieren, als es passierte. Vielleicht könnte ich sie wiederfinden -« »O nein, mein Mädchen. Mit dem Tauchen ist es erst einmal vorbei. Es wäre mir lieber, wenn sich ein Arzt um dich kümmerte. Soll ich dich morgen nach Phira bringen?« »Ich glaube nicht, daß das notwendig ist. Ich bin hier gut aufgehoben. Aber sag mir, was ist mit Frederick? Ich nehme an, er ist böse auf mich.« 203
»Ich bin nicht sicher, auf wen oder was er böse ist. Ich habe ihn gestern abend aufgesucht und ein paar nette Worte mit ihm gewechselt.« »Es hat keinen Zweck, ihn zur Rede zu stellen. Er wird nie zugeben, daß er einen Fehler gemacht hat.« Ich strich das Bettuch glatt, das über meinem Schoß lag, und vermied es, Jim anzusehen. »Hat er sich nach mir erkundigt?« Jim gab einen freundlichen unbestimmten Laut von sich. »Schon gut, ich verstehe«, winkte ich ab. »Chris läßt dich grüßen«, sagte er schnell. »Er hat sich Sorgen gemacht, als er von dem Unfall hörte. Er mag dich, Sandy.« In diesem Augenblick klopfte es an die Tür. Ich vermutete, daß Kore sich erkundigen wollte, was aus dem ›Streit der Liebenden‹ geworden war, und rief: »Herein.« Statt Kore erschien Jürgen mit einem Stapel von Büchern. Er blieb zögernd in der Tür stehen. »Bitte entschuldigen Sie die Störung«, sagte er. »Ich wollte die Bücher bringen. Ich wußte nicht, daß Sie . . .« »Das ist Jim Sanchez«, sagte ich, als sich Jim umwandte. »Leider kenne ich Ihren Namen . . .« 204
Meine Worte gingen in dem Krach unter, den die auf den Boden fallenden Bücher verursachten. Jürgens Gesicht sah plötzlich aus wie eine verblichene Pappmachemaske, die Augen waren so weit aufgerissen, daß die Augäpfel hervortraten. Er stammelte etwas und verschwand. In blinder, kopfloser Hast flüchtete er durch den langen Korridor.
11 Ich wandte mich mit vor Staunen offenstehendem Mund an Jim. Er stand da, eine Hand lag auf der Stuhllehne. »Was war das?« fragte ich. Jim zögerte mit der Antwort. Er ging zum Fenster und sah hinaus, die Hände auf dem Rücken ineinander verschlungen. »Hast du gehört, was er sagte?« »Ich verstehe kein Deutsch. Es klang ziemlich wirr.« »Es war wirr. Ich konnte nur einzelne Worte verstehen. Es hörte sich an, wie ›Rückkehr von den Toten . . .‹« »Er und Kore müssen Anhänger der gleichen verrückten Religion sein«, sagte ich. »Kore ist von der klassischen Mythologie besessen«, sagte Jim langsam. »Dieser Mann 205
hier hat einen wesentlich jüngeren Vorfall im Sinn.« »Was meinst du damit?« Jim kehrte zum Bett zurück und blickte auf mich herab. »Man sagt, daß ich eine große Ähnlichkeit mit meinem verstorbenen Onkel habe.« »So hatten wir mit unseren Vermutungen also doch recht«, stellte ich fast widerwillig fest. »Ja, ich glaube, wir können die Dinge nicht länger ignorieren. Das ist der Mann, der während des Krieges auf Kreta war. Der Mann, der meinen Onkel hinrichten ließ.« »Es war seine Pflicht.« Die Stimme hallte von den hohen Wänden des Zimmers wider. Ich zuckte zusammen. Ich hatte sie nicht kommen gehört, aber dort standen sie vor uns, alle beide. Kore hielt den Mann mit beiden Händen am Arm fest. Er sah noch immer bleich und verstört aus. Doch er schwieg. Kore hatte für ihn gesprochen. Und nun fuhr sie leidenschaftlich fort, ihn zu verteidigen. »Er hat getan, was er tun mußte. Es war Krieg, es war seine Pflicht -« »Ich erinnere mich, daß meine Mutter nach dem Krieg wegen meines Onkels mit ver206
schiedenen Leuten korrespondierte«, unterbrach sie Jim. »Es war in den Briefen die Rede von einem Verrat. Aber die Militärbehörden verfügten, daß -« »Es war seine Pflicht«, wiederholte Kore. »Mehr oder weniger«, sagte Jim ruhig. »Sie waren damals Leutnant. Noch vor Kriegsende wurden Sie zum Hauptmann befördert, als pflichteifriger Offizier, nicht? Ich habe Ihren Namen vergessen -« »Keller.« Das Wort kam kurz und schneidend. »Ja, jetzt erinnere ich mich.« »Du hast gesagt, daß du nie an diese ganze Geschichte gedacht hättest«, rief ich. »Du hast mir gesagt, man solle in der Vergangenheit nicht -« Keller schüttelte Kores Hände von seinem Arm und trat vor. »Sie sehen genauso aus, wie er vor dreißig Jahren ausgesehen hat«, sagte er, indem er Jim anstarrte. »Er war damals achtundzwanzig. Verwundert es Sie, als ich vorhin Ihr Gesicht erblickte – ich kenne es genau. Ich habe es dreißig Jahre lang jede Nacht vor mir gesehen.« »Warum?« fragte Jim. Seine Stimme klang kühl und sachlich, doch seine Hände um207
klammerten die Stuhllehne mit einem Griff, der die Knöchel weiß hervortreten ließ. »Warum sollte er sie im Schlaf verfolgen, wenn Sie nur Ihre Pflicht getan haben?« »Weil ich ihn kannte«, sagte Keller. Er bewegte sich langsam vorwärts, Schritt für Schritt. »Ich kannte seine Arbeit. Wir hatten uns vor dem Krieg in Oxford kennengelernt. Er war ein hervorragender Wissenschaftler. Er hatte eine brillante Karriere vor sich.« »Und Sie haben ihn getötet«, sagte Jim. »Und ich habe ihn getötet.« Keller bewegte sich noch immer voran, bis er Auge in Auge Jim gegenüberstand. »Und jetzt«, fuhr er fort, »ist er zurückgekommen. Nein, nein, sehen Sie mich nicht so an, als wäre ich wahnsinnig. Ich bin nicht wahnsinnig. Ich weiß, wer Sie sind. Aber ich glaube an die Wiedergeburt. Es gibt noch eine Schuld zu begleichen. Keinem anderen als Ihnen steht diese Sühne zu. Als ich Sie sah, wußte ich, daß die Zeit gekommen war.« Er sprach jetzt lauter und erregte sich, je mehr er sagte. Als er seine geballten Fäuste erhob, dachte ich, er würde Jim angreifen. Die Bewegung zerriß die Starre, in der wir alle verharrt hatten. Jim sprang auf, Kore preßte die Hände an den Mund, schrie etwas 208
und rannte auf Keller zu. Sie warf ihre Arme um ihn. »Nein, Jürgen, nein. Es ist Zeit für deine Medizin. Komm mit mir.« Keller stand jetzt ruhig da. »Zeit für die Medizin«, wiederholte er wie ein Kind. »Ja. Komm. Komm jetzt mit Kore.« Sie tätschelte seine Schultern. Er folgte ihr gehorsam. Keiner von beiden sah uns an, während sie das Zimmer verließen. Jim kam hinter dem Bettpfosten hervor. »Wouw«, machte er. »Setz dich«, rief ich und streckte die Arme nach ihm aus. »Nein, hier aufs Bett. Geh nicht fort.« »Ich gehe nicht fort. Ganz hübsche Szene, nicht?« »Oh, tu nicht so, als ob dich das Ganze kaltgelassen hätte. Du schwitzt ja. Ich dachte, er würde dir an die Gurgel springen.« »Nein«, sagte Jim nachdenklich. »Das wollte er nicht.« »Was sonst?« »Schlimmeres.« Jim wischte sich mit dem Hemdsärmel die Stirn ab. »Ich hatte das Gefühl, er würde vor mir niederknien, seinen Hals auf den Richtstock legen, wenn du verstehst, was ich meine.« »Gott.« 209
»Ja.« »Er tut mir leid«, sagte ich. »Himmel, glaubst du, daß ich ein Ungeheuer bin? Mir tut er auch leid. Der Mann ist völlig fertig. Er muß von Anfang an psychisch labil gewesen sein, sonst hätte ihm das nicht so zugesetzt. Es gibt Leute, die schlimmere Verbrechen auf dem Gewissen haben und ganz gut damit leben.« »Ob Sir Christopher weiß, daß Keller hier ist?« »Daran habe ich gar nicht gedacht. Das frage ich mich jetzt auch.« »Ganz zu schweigen von Frederick«, sagte ich. »Jim, was geht hier vor? Sie alle tauchen am selben Ort wieder auf.« »Du hast recht, es geht etwas vor. Ich bin ziemlich sicher, daß dein Vater von Kellers Anwesenheit hier weiß. Chris weiß möglicherweise nichts davon.« »An deiner Stelle würde ich ihn aber schleunigst danach fragen.« Jim nickte nachdenklich. Dann glitt ein Ausdruck von Unwillen über sein Gesicht. Aus dem Nicken wurde ein Kopfschütteln. »Nein, verdammt noch mal. Ich werde mich nicht in eine längst begrabene Tragödie einmischen.
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Ich bin hier, um meine Arbeit zu machen, alles andere geht mich nichts an.« »Du glaubst, daß die Tragödie uns nichts angeht? Jim, ich sage dir, diese Leute sind nicht rein zufällig hier. Etwas ist im Gange, und ich will wissen, was es ist.« »Du bist hoffnungslos neugierig.« »Und du willst bloß deinem werten Boß keine peinlichen Fragen stellen. Du hast Angst um deinen Job.« Jim wurde wütend. »Ich weigere mich lediglich, meine Nase in die Angelegenheiten anderer Leute zu stecken.« Wir hätten daraufhin einen netten kleinen Streit gehabt, wenn Kore nicht zurückgekehrt wäre. Sie ging auf Jim zu. »Sie haben ihn traurig gemacht«, sagte sie mit einem leichten Vorwurf in der Stimme. »Er ist seit Jahren nicht so erregt gewesen.« »Ich ihn? Oh, das ist ja . . . zum Teufel. Schon gut. Es tut mir leid.« »Ich sehe keinen Grund, weshalb du dich entschuldigen solltest«, mischte ich mich ein. Wenn ich selbst Jim attackierte, war es etwas anderes; aber wenn fremde Leute ihn angriffen, stand ich an seiner Seite. »Nein«, sagte Kore. Sie ließ die Schultern hängen. »Ich war wütend, ich bin unge211
recht. Ich hatte gehofft, daß er Sie nicht sehen würde. Sie sind so sehr wie Ihr Onkel. Das erstemal, als ich Sie sah, war ich wie vom Donner gerührt.« »An jenem Abend auf der Plaza?« fragte ich. »Also deshalb haben Sie so lange dort gestanden.« »Ja, ich bin dumm«, gestand Kore leise. »Ich versuche zu verstehen, warum das passiert ist. So viele Jahre . . . Dann hat sie mich erleuchtet. An jenem Abend vor der Kirche.« Sie senkte den Kopf. In ihren Bewegungen lag etwas Theatralisches, trotzdem beschämten mich diese Geste und ihre Worte. Sie war trotz allem eine religiöse Frau. Die Vorurteile der Dorfleute hatten sie davon abgehalten, an jenem Feiertag in die Kirche einzutreten, aber sie hatte dennoch ihre Ehrerbietung dargebracht. Sie warf einen Blick auf Jim. Er versuchte krampfhaft, ungerührt dreinzublicken, was ihm jedoch nicht gelang. »Sehen Sie«, begann er schließlich. Das Ganze war ihm sichtlich peinlich. »Was mich anbetrifft, so können wir alles vergessen. Es geschah vor langer Zeit. Ich richte niemanden. Im Gegenteil, es tut mir leid, daß Ihr – Ihr Freund all diese Jahre hindurch so gelit212
ten hat. Er scheint sich selbst bestraft zu haben für das, was er getan hat. Ich werde selbstverständlich nichts unternehmen, wenn Sie wissen, was ich meine.« Kore vervollständigte sein Unbehagen noch, indem sie seine Hand ergriff und sie küßte. »Oh«, murmelte er. »Bitte nicht . . . Das ist doch nicht notwendig.« »Sie sind ein guter Mensch«, sagte Kore bewegt. »Er ist auch gut. Deshalb bin ich all diese Jahre hindurch bei ihm geblieben. Er ist gut. Nur ein guter Mensch kann so viel leiden, wie er gelitten hat.« »Das ist sicher wahr«, murmelte Jim. »Warum ist er hierher gekommen? Warum hat er nicht seinen Namen geändert und ist nach Südamerika oder sonstwohin gegangen?« »Er ist kein Verbrecher. Er muß sich nicht verstecken.« »Ich weiß, aber – ausgerechnet Griechenland! Es ist zwar nicht dieselbe Insel, aber ich könnte mir vorstellen, daß die unangenehmen Erinnerungen hier ebenso zurückkehren.« Kore ließ seine Hand los. Sie betupfte ihre Augen mit einem Spitzentaschentuch.
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»Ich danke Ihnen«, sagte sie. »Und jetzt, denke ich, sollte unsere Patientin ein bißchen ruhen.« »Apropos«, begann Jim, »ich dachte – ich meine, Sandy sollte Ihnen nicht zur Last fallen.« »Sie kann nicht in dieses Haus gehen«, sagte Kore scharf. »Ich habe es gesehen, es ist schrecklich, schmutzig und unbequem -« »Ich muß Ihnen recht geben. Aber ich dachte, ich könnte ihr ein Zimmer im Hotel reservieren. Ich bin sicher, daß sie Ihnen nicht gern zur Last fällt -« »Zur Last fallen, zur Last fallen!« Kores Augen blitzten. Sie richtete sich auf. »In diesem schmutzigen Hotel wird sie sich allein vom Anblick schon eine Infektion holen. Nein, Sie denken nicht an ›zur Last fallen‹, Sie denken, wir sind böse hier. Sie fürchten sich vor meinem armen Jürgen.« »Oh, verdammt«, sagte Jim peinlich berührt. »Darum geht es nicht.« »Sie glauben doch nicht, daß er ihr etwas zuleide tun würde? Er hat ihr Leben gerettet.« »Ich weiß, ich weiß. Ich dachte nur -« »Ich wünschte, ihr beide würdet aufhören, euch um mich zu streiten«, mischte ich mich ein. »Ich komme mir vor wie ein Knochen 214
zwischen zwei Hunden. Habe ich denn überhaupt nichts mehr zu sagen?« Beide sahen mich an, als hätte ich sie zur Hölle gewünscht. Dann lächelte Kore. »Sehen Sie, es geht ihr schon besser. Aber noch nicht gut genug. Wir reden morgen noch einmal darüber, ja? Wir müssen nachdenken, bevor wir etwas unternehmen. Und jetzt ist es Zeit für sie zu schlafen. Ich werde draußen warten, bis Sie sich verabschiedet haben.« Sie schloß hinter sich die Tür, aber ich war sicher, daß sie draußen davorstand und wartete, bis Jim ging. Ich winkte ihn heran. »Ich fühle mich ziemlich schwach«, sagte ich leise. »Und ich muß überlegen, was ich zu tun gedenke. Du machst dir doch keine Sorgen wegen des Mannes?« »Ich glaube nicht, daß er ein Mörder ist, nein. Und ich muß zugeben, daß das Hotel nicht viel zu bieten hat. Mir gefällt nur die Situation hier nicht.« »Was wurmt dich? Sie ist bezaubernd zu mir.« »Zu bezaubernd.« »Oh, hör auf. Du hörst dich an wie ein alter Dorfhexenfänger. Jim, ich brauche ein paar
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Tage Zeit, um nachzudenken, was ich tun werde. Ich muß mit Frederick sprechen.« »Warum? Meiner Meinung nach hat er seine Rechte verspielt, wenn er überhaupt je welche hatte.« »So einfach ist das nicht.« »Natürlich nicht.« »Mach dich nicht lustig, Jim. Alles, was ich damit sagen wollte, ist, daß ich kein Geld habe. Frederick schuldet mir ein Flugticket.« »Wenn du nach Hause willst, werde ich für ein Ticket sorgen«, sagte Jim. »Ich weiß nicht, was ich tun werde. Ich brauche Zeit zum Überlegen.« »Gut. Ich gehe jetzt lieber, bevor Kore kommt und mich rausschmeißt.« »Wiedersehen«, sagte ich. »Bis später.« Er beugte sich über mich. Kore wählte genau diesen Augenblick, um die Tür zu öffnen. Jim warf ihr einen Blick über die Schulter zu und ließ sich nicht von seinem Vorhaben abhalten. »Mmm«, machte ich träumerisch. »Das war bis jetzt der beste Kuß.« »Der beste kommt noch.« Jim richtete sich auf. »Bis morgen also.«
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Leise lachend nahm ihn Kore beim Arm. Sie hätten zwei alte Freunde sein können, oder Mutter und Sohn, wie sie so hinausgingen. Nach dem Essen schlief ich eine Weile, denn ich war trotz allem noch relativ schwach. Als ich aufwachte, saß Keller an meinem Bett. Ich mußte zurückgeschreckt sein. Sein Gesicht veränderte sich schlagartig. Er streckte die Hand vor und zog sie gleich wieder zurück. »Haben Sie keine Angst«, sagte er schnell. »Ich wollte Sie nicht – ich wartete darauf, daß Sie aufwachten.« »Sie haben mich erschreckt«, sagte ich. »Das tut mir leid. Ich habe die Bücher gebracht -« Er hielt sie wie ein Friedensgeschenk vor sich hin. »Danke«, sagte ich. »Ich möchte gern mit Ihnen sprechen. Fühlen Sie sich dazu in der Lage?« »Mir geht es gut. Ich könnte über Stock und Stein laufen.« »Nein, das dürfen Sie nicht tun«, sagte er ernst. »Darüber möchte ich gern sprechen. Aber zuerst sollen Sie wissen, daß wir hoffen, daß Sie so lange bei uns bleiben, bis Sie Thera verlassen können. Sie erweisen uns 217
damit einen Gefallen, so müssen Sie das sehen.« »Das ist sehr freundlich von Ihnen.« »Ich sage dies erst, damit Sie verstehen, daß Ihre Gegenwart uns keine Last, sondern eine Freude ist. Vielleicht könnten Sie sonst das andere mißverstehen.« Er zögerte und starrte mich mit weitgeöffneten Augen an. »Ja?« sagte ich. »Sie müssen Thera verlassen. Sobald Sie in der Lage sind zu reisen, müssen Sie gehen. Sie sind hier -« Er hielt inne und drehte den Kopf zur Seite, als ob er nach einem Geräusch an der Tür lauschte. »Ich bin was?« drängte ich. »Fahren Sie fort, bitte.« »In Gefahr.« Er hatte die Worte geflüstert. »Sie sind hier nicht sicher. Sie sind wie eine Fliege in einem Spinnennetz, gefangen von Kräften, die Sie nicht kontrollieren können. Zu Ihrer eigenen Sicherheit « Die Tür ging auf. »So ist sie also wach«, rief Kore fröhlich. »Ha, unterbreche ich ein Tête-à-tête? Soll ich später wiederkommen?« Keller lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Ich sagte ihr gerade, daß sie uns nicht verlassen darf, ehe sie nicht kräftig genug ist, 218
um zu reisen. Du hast uns unterbrochen, Liebling, denn ich wollte ihr gerade unsere Hilfe anbieten, falls sie etwas Geld benötigt.« »Oh, nein«, rief ich. »Aber natürlich!« Kore schritt durch das Zimmer. Diese Frau besaß eine unglaubliche Garderobe, jedesmal wenn ich sie sah, trug sie etwas anderes. Dies hier war ein Hausanzug aus senffarbener Rohseide. »Wir leihen es Ihnen. Das versteht sich doch von selbst. Aber wir hoffen, daß Sie uns nicht zu bald verlassen werden. Es ist mir eine Freude, Sie hier zu haben, verstehen Sie. Ich bin oft sehr einsam.« Als ich schwieg, wandte sie sich an Keller. »Jürgen, hast du die Patientin untersucht? Bist du jetzt soweit, daß du dich zum Abendessen umziehen kannst?« Die Art, wie sie eine Hand auf seinen Arm legte, hinterließ eher den Eindruck, daß sie seine Krankenwärterin, nicht seine Geliebte war. Ich wurde mir nicht klar, auf welcher Seite sie stand, ich wußte nicht einmal, welche Seiten es überhaupt gab. Er beschwor mich fortzugehen, sie bat mich dazubleiben. Was hatte das zu bedeuten? Welche Gefahr konnte für mich bestehen? 219
Kore verbrachte den größten Teil des Abends bei mir. Ich seufzte heimlich, als sie wieder anfing, an mir herumzufummeln. Sie frisierte mich und polierte mir die Fingernägel. »Es ist schade um all diese Arbeit«, sagte ich, nachdem sie mir apfelgrüne Seidenbänder in die Haare gebunden hatte. »Ich gehe doch nur schlafen. Oder gehen wir auf ein Fest?« »Nein, nein«, sagte Kore und zog an einer widerspenstigen Locke. »Sie müssen schlafen. Es ist spät. Ich bin schon zu lange geblieben. Hier. Nehmen Sie Ihre Schlaftablette, und schlafen Sie gut und fest.« Ich hasse Tabletten. Ich würde nicht einmal Aspirin schlucken, es sei denn, man zwänge mich dazu. Das kleine weiße Bällchen sah harmlos aus. Kore reichte es mir auf einem kleinen Teller mit einem Glas Wasser. Aber ich hatte weder die Absicht, die Tablette einzunehmen, noch mit Kore über den Nutzen oder Unnutzen von Medikamenten zu diskutieren. Ich hatte ausreichend Erfahrung mit der Handhabung ungewollter Medizin. Ich beförderte die Pille mit der Zungenspitze zwischen Backenzähne und Wangenwand und trank das halbe Glas Wasser aus, ohne die 220
Pille auch nur zu benetzen. Dann legte ich mich zurück in die Kissen und machte schläfrige Augen. Kore blieb sitzen. Ich hätte sie umbringen können. Ich fühlte, wie sich die verdammte Pille in meinem Mund aufzulösen begann. Schließlich, nach einer mir schier endlos vorkommenden Zeit, machte sie sich auf Zehenspitzen davon, und ich spuckte die restlichen Teile der Pille aus, sobald sie die Tür hinter sich zugemacht hatte. Allerdings mußte etwas von der Pille trotz allem in meinen Magen gelangt sein. Und wenn ich sie ganz genommen hätte, hätte sie mich wahrscheinlich vollkommen außer Gefecht gesetzt, dessen bin ich sicher. So aber konnte die Wirkung nur teilweise eintreten. Meine Muskeln fühlten sich taub an, ich konnte mich nicht bewegen. Ich wollte mich auch gar nicht bewegen. Ich lag in einem Zustand totaler Entspannung da und erkannte unter den halbgeschlossenen Augenlidern gerade noch meine allernächste Umgebung. Kore hatte eine kleine, schummrige Lampe brennen lassen. Ich sah den matten, gelben Schein. Eine Zeitlang war alles verschwommen und verwirrt. Wie lange, konnte ich nicht sagen. Vielleicht hatte ich geschlafen. Meine Augen 221
waren fast geschlossen, nur durch einen schmalen Spalt konnte ich noch Dinge wahrnehmen. Zum Beispiel das Gesicht einer Frau, das in meinem beengten Blickfeld auftauchte und wieder verschwand. Es war nicht Kores Gesicht gewesen. Und auch nicht das Gesicht des Dienstmädchens. Es war ein fremdes Gesicht, das ich nicht kannte. Etwas, ganz tief in mir, sagte mir, daß ich träumen mußte. Es war ein merkwürdiger Traum, anders als andere Träume, die ich gehabt hatte, aber was ich sah, konnte einfach nicht wirklich sein. Das Gesicht dieser Frau war das erste einer Reihe von fremden Gesichtern, die vor meinen Augen auftauchten und wieder verschwanden. Ich konnte ein schwaches, entferntes Geräusch hören – es klang wie das Murmeln des Meeres, oder das Murmeln von Stimmen. Wieder folgte eine unbestimmte Zeit der Verschwommenheit. Dann ließ mich etwas plötzlich hellwach werden. Es war das Geräusch einer Tür, die krachend ins Schloß fiel. Wenn ich sage ›hellwach‹, so meine ich das den Umständen entsprechend. Ich war noch
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immer wie betäubt, aber irgendwie wußte ich, daß ich mich bewegen mußte. Ich drehte mich auf den Bauch, winkelte Arme und Beine an und kroch so eine Zeitlang auf dem Bett hin und her. Immer wieder fiel ich flach auf das Gesicht. Ich mußte eine ungeheure Willenskraft aufbringen, um nicht in der molligen Wärme einfach liegenzubleiben. Ich schlug mich ins Gesicht. Erst fühlte ich die Schläge kaum, schließlich aber gewann ich an Kraft. Zum Schluß verpaßte ich mir eine linkshändige Ohrfeige, die mir die Tränen in die Augen trieb. Ich glitt aus dem Bett. Ein Stück kroch ich auf allen vieren auf dem Fußboden dahin, ehe ich in der Lage war, mich in die Höhe zu ziehen. Mein Arm schmerzte. Taumelnd schleppte ich mich von Möbelstück zu Möbelstück. Der Schmerz in meinem Arm half mir, mich wachzuhalten. Schließlich hatte ich das Fenster erreicht. Es war geschlossen. Kein Wunder, daß die Luft im Zimmer so stickig und heiß war. Mit größter Anstrengung gelang es mir, das Fenster zu öffnen. Ich sog die frische Luft ein wie jemand, der kurz vor dem Ersticken gewesen ist. Sie schmeckte nach Thymian und nach Meer. 223
Die kühle Luft half mir, meine Sinne zu klären. Ich war auf die Knie gesunken, mein Kopf lag auf dem Fensterbrett. Mein Blick fiel auf einen gepflasterten Hof, den hohe Mauern umgaben. Hinter den Mauern zeichnete sich die dunkle Silhouette der Berge ab. Ich hatte soeben beschlossen, mich auf den Rückweg zu machen, als mich etwas aufhorchen ließ. Es war das Geräusch einer sich öffnenden Tür und kam von unterhalb des Fensters. Ich hörte leises Stimmengemurmel. Dann huschte eine dunkle Gestalt über den Hof und verschwand in einer Ecke, über der pechschwarze Schatten lagen. Die Frau knipste eine Taschenlampe an, und der Lichtstrahl beleuchtete die Umrisse einer Tür, die in die Mauer eingelassen war. Dann schien ihr, aufgeschreckt durch einen leisen, kurzen Zuruf vom Haus her, die Lampe aus der Hand zu gleiten. Die Frau bückte sich und knipste sofort das Licht aus. Doch vorher hatte ich ihr Gesicht gesehen, es war ein dunkles, schmales Gesicht wie jenes, das in meiner Traumvision vor meinen Augen vorübergezogen war. Doch jetzt, da die Wirkung der Droge fast abgeklungen war, er-
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kannte ich es. Es war das Gesicht von Sophia, der Fischhändlerin aus dem Dorf.
12 Etwas veranlaßte mich spontan, so schnell wie möglich ins Bett zurückzukehren. Ich schloß das Fenster und zwang mich zur Eile. Ich legte mich hin und versuchte, mein klopfendes Herz zur Ruhe zu bringen. Ich hatte nicht genug Zeit. Es schlug noch immer wie wild, als Kore ins Zimmer schlüpfte. Sie kam geradewegs auf das Bett zu, blieb davor stehen und blickte auf mich herab. Mir schien es, als müßte sie meinen rasenden Puls in der Schlagader am entblößten Hals sehen. Ich stöhnte und rollte mich auf die Seite. Sie rief leise meinen Namen. Ich stöhnte wieder, bewegte mich aber nicht. Nach einer Weile ging sie fort. Ich schlief unmittelbar danach ein, trotz der Aufregung. Das Schlafmittel, von dem mein Körper offensichtlich einen Teil aufgenommen hatte, hinterließ keinen Brummschädel. Als ich am nächsten Morgen erwachte, fühlte ich mich großartig, ausgeruht und beschwingt. Ich
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beschloß jedoch, vorsichtshalber so zu tun, als fühle ich mich schlaff und schwer. Kore kam mit dem Frühstück, und der Vormittag verging mit dem jetzt üblichen Ritual. Erst Frühstück, dann eine Visite von Keller, der meinen Gesundheitszustand kontrollierte. Er legte mir einen frischen Verband an. Danach wurde ich gebadet. Das Dienstmädchen verabreichte mir anschließend eine fachkundige Massage, wozu sie ein stark duftendes öl benützte. Schließlich zog sie mir ein hellblaues Satingewand über, und Kore steckte meine Haare zurecht, diesmal mit hellblauen Seidenschleifen. Als Jim mich besuchte, war ich mir noch unschlüssig darüber, ob ich ihm etwas von dem nächtlichen Vorfall erzählen sollte oder nicht. Ein Blick jedoch in sein Gesicht genügte, und ich wußte, daß er genug eigene Sorgen hatte. Nachdem wir uns zur Begrüßung umarmt und geküßt hatten, fragte ich ihn, was ihn so beunruhige. »Psst.« Er warf einen Blick über die Schulter. »Ich glaube, deine Freundin lauscht an der Tür.« »Wahrscheinlich«, pflichtete ich ihm bei. »Aber was soll’s?« 226
»Ist alles in Ordnung?« Er blickte mich seltsam interessiert an. »In bester Ordnung. Ich könnte mich direkt an diese Art von Leben gewöhnen und überlege schon, ob ich mich nicht nach einem Millionär umsehen soll.« Noch ehe ich wußte, wie mir geschah, hatte Jim nach einem meiner Haarbänder gegriffen und es brüsk herausgezogen. Eine dicke Haarsträhne löste sich und fiel herab. »Gott verdammt.« Ich griff mir an den Kopf. »Was bildest du dir ein!« »Nichts, worüber es sich lohnt, sich aufzuregen«, sagte Jim. »Hör mal, Kore hat sich solche Mühe gemacht -« »Ich habe mit Chris gesprochen«, unterbrach mich Jim. »Er ist auch der Meinung, daß du nicht hierbleiben sollst. Die Interkontinentalflüge sind um diese Jahreszeit völlig ausgebucht, aber er glaubt, daß er dich aufgrund seiner Beziehungen auf eine Maschine von Athen aus bringen kann. Du kannst am Donnerstag das Schiff von Phira nehmen und bist am Freitag in Athen -« »Moment mal«, rief ich. »Wie kommt dein Chef dazu, sich einzubilden, daß er mich beliebig herumkommandieren kann?« 227
»Es war doch nur gut von ihm gemeint. Wenn er schon seine Beziehungen -« »Zum Teufel mit seinen Beziehungen. Er spielt sich nur gern als Sir Christopher auf. Ich wette, er kann es kaum erwarten, bis er noch weitere königliche Titel eingeheimst hat.« Wenn Jim böse wurde, vergaß er jegliche Höflichkeit und Rücksicht gegenüber Verwundeten. »Gott, bist du in einer Stinklaune!« rief er. »Ich weiß nicht, warum ich überhaupt hier herumsitze und mich von dir beleidigen lasse.« »Dann geh doch«, sagte ich. Meine Stimme war ein bißchen mehr als nur ein Geflüster. Jim stand auf. Dann setzte er sich wieder. Er atmete sechsmal tief ein und aus. »Versuchen wir’s noch einmal«, sagte er dann. »Und wenn du wieder vorlaut wirst, stopfe ich dir den Mund zu.« »Du und welche Armee?« zischte ich, und dann, weil es so kindisch war, mußte ich lachen. Die Tür ging auf, und Kores Kopf erschien. »Ah«, sagte sie und lächelte breit. »Sie lachen. Sie sind Freunde, das ist schön.« Die Tür ging zu. 228
Jim hörte auf zu lachen. »Verdammte Frau«, sagte er. »Sie ist in Ordnung.« »Sie ist eine Gefahr. Sandy, es tut mir leid, wenn ich es eben falsch angefangen habe. Es sollte nicht so klingen, als ob ich dir Befehle gebe. Darf ich Sie respektvoll nach Ihren unmittelbaren Plänen fragen, gnädiges Fräulein?« Ich zuckte mit den Schultern. Ein Träger rutschte herab. Ich ließ ihn rutschen. »Was soll die Eile?« »Kein Zimmer im Hotel«, sagte Jim. »Wie bitte?« »Angelos sagt, sein Hotel ist vollkommen ausgebucht.« »Vielleicht kommt ein Touristenbus.« »Nein, das Haus ist halbleer.« »Und du meinst, daß das was zu bedeuten hat?« »Ich weiß, daß es was zu bedeuten hat. Ich weiß nur nicht, was. Ich bot mich an, mit Chris zusammenzuziehen, um dir ein Zimmer zu überlassen. Angelos suchte alle möglichen Ausflüchte. Du bist Persona non grata im Dorf, Liebling.« »Aber warum? Ich habe mir doch nichts zuschulden kommen lassen.«
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»Das einzige, was ich mir denken könnte: weil du bei Kore bist.« »Oh, was für ein Haufen abergläubischer Trottel«, rief ich wütend. »Was schert mich das Hotel. Ich bleibe hier!« Ich zuckte wieder mit den Schultern. Der andere Träger rutschte ebenfalls. Jim schob ihn mir wieder auf die Schulter und rückte auch den anderen zurecht. Er sah dabei aus wie Martin Luther, der gerade Buße tat. Seine Hände lagen noch auf meinen Schultern, da rüttelte er mich plötzlich ziemlich unsanft. »Um Himmels willen, Sandy, was ist los mit dir? Du bist so anders. Du siehst aus wie eine Schaufensterpuppe. Sogar dein Gesicht ist leer. Wirst du jetzt mit mir kommen? Ich fahre dich heute nachmittag nach Phira.« »Warum diese Mühe?« sagte ich kalt. »Für eine große, leere Schaufensterpuppe -« Jim gab einen unfreundlichen Laut von sich. Er schob seinen Arm hinter meinen Rücken und zog mich aus den Kissen, so daß mein Kopf an seine Schulter fiel. Mit der freien Hand fuhr er durch meine sorgfältig frisierten Haare, bis die ganze Pracht herunterhing. Ich wollte protestieren, aber er verschloß mir den Mund mit einem Kuß. »In 230
Ordnung«, hauchte ich dann. »Ich werde gehen. Noch dieses Wochenende.« Ich hatte Kore vergessen, Jim vielleicht nicht, denn er sah nicht überrascht aus, als jetzt die Tür aufflog. »Gehen Sie jetzt«, sagte sie zu Jim. »Es ist Zeit. Sie muß essen und ruhen.« Jim stand auf. »Gut«, sagte er leise. »Ich komme morgen wieder.« Nach dem Essen, als ich allein war, machte ich meine Turnübungen, anstatt zu schlafen. Ich wollte durch das Herumliegen im Bett nicht unnötig schlapp werden. Außerdem hatte Kore mir etwas Angenehmes verkündet. Ich würde zum Abendessen hinunter in den Salon gehen dürfen. Schon am frühen Nachmittag begann sie damit, mich zurechtzumachen. Eine ganze Stunde brachte sie mit meiner Frisur zu, dann reichte sie mir einen ihrer Seidenkaftane zum Anziehen. Er war apfelgrün, offensichtlich war sie zu dem Schluß gekommen, daß Apfelgrün am besten zu meinem rotblonden Haar paßte. Gestützt von Kore und dem schweigsamen Dienstmädchen, ging ich nach unten. Erst fühlte ich mich ein bißchen schwindlig, doch das besserte sich bald. Ich betrachtete 231
interessiert meine neue Umgebung. Es war ein schönes Haus. Schimmernd grüne, dunkelblaue und moosgrüne kühle Steinkacheln bedeckten die Fußböden. Der Salon war ein großer, niedriger Raum mit breiten Fenstern, die auf einen Hof hinausgingen. Es war nicht der Hof, den ich vom Fenster meines Krankenzimmers aus gesehen hatte. Ein kleiner Springbrunnen plätscherte in der Mitte, und an den Wänden entlang wuchsen in großen Tonkübeln exotische Pflanzen und Bäume. Das Mobiliar dieses Zimmers setzte sich aus europäischen Antiquitäten und rustikalen Möbelstücken aus der Gegend zusammen. Nachdem sie mich in einen riesigen Sessel gebettet hatten, verschwand das Dienstmädchen, und eine andere Frau trat mit einem Tablett voller Getränke und Vorspeisen ein. Ich zuckte bei ihrem Anblick zusammen. Ihr Gesicht hatte große Ähnlichkeit mit den Gesichtern, die in der vergangenen Nacht vor meinen Augen vorbeigehuscht waren. Kore mußte meine Reaktion bemerkt haben. »Sie sind so scheu, diese Leute hier«, sagte sie, nachdem die Frau das Zimmer wieder verlassen hatte. »Beinahe wie Tiere,
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furchtsam und still. Auf Ihr Wohl«, sie hob ihr Glas. »Cheers«, sagte ich. Das Getränk war eine süße, dicke Flüssigkeit, die keinem mir bekannten Drink glich. Kore sah, daß ich eine Grimasse zog. »Eine wahre Antiquität, dieser Wein«, sagte sie. »Ich habe ihn nach dem Rezept der alten Griechen und Römer selbst gebraut. Unsere heutigen Weine würden ihnen wie Essig vorkommen.« Der Wein war zu süß und zu schwer. Kore füllte mein Glas nach und animierte mich zum Trinken. Sie sprach erst viel von den Griechen und Römern und wechselte dann über zu einem anderen Thema. Sie philosophierte über Reinkarnation, obgleich sie dieses Wort vermied und an seine Stelle den Ausdruck Wiedergeburt setzte. »Ich hatte einmal einen Freund, der hieß Joe«, sagte ich. »Ja?« fragte Kore leise. »Er glaubte an Reinkarnation. Er sagte immer, wir wären im mittelalterlichen Italien ein Liebespaar gewesen.« Ich kicherte. »Wie Romeo und Julia.« »Aber warum nicht?« 233
»Er zitierte stets große Denker wie Nietzsche und andere, die auch an Reinkarnation glaubten. Mir kam das immer sehr unwahrscheinlich vor, bis ich ein paar seltsame Erlebnisse hatte. Vor ein paar Wochen, als ich auf Kreta war -« Ich hielt inne und beobachtete die letzten Strahlen der untergehenden Sonne, die wie ein Teppich aus Licht auf dem Fußboden lagen. »Ich bin betrunken«, sagte ich. »Was ist das für ein Wein?« »Sie sind nicht betrunken«, murmelte Kore. »Was geschah auf Kreta?« »Komisch«, sagte ich. »Komische Träume über den Minotaurus und Theseus. Ich war dort und habe sie beobachtet. Und als ich nach Knossos kam . . . Man nennt es déjà vu oder so, nicht wahr? Ich habe davon gelesen. Wissenschaftler können es erklären -« »Wissenschaftler wissen gar nichts«, sagte Kore aufgebracht. »Sie kennen Knossos? Was ist daran so seltsam. Sie haben früher gelebt, und Sie werden wieder leben. Viele Leben. Eines davon war im alten Kreta. Sie waren Griechin, wie ich. Vielleicht kannten wir uns damals. Ich fühle es.« »Ariadne war
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keine Griechin«, sagte ich taktlos. »Sie war eine Minoerin, eine Kreterin.« »Nein. Sie lebte nach der großen Zerstörung, nachdem die Griechen vom Festland herübergekommen waren und eine neue Dynastie auf den Ruinen errichtet hatten. Was man in Knossos sieht, sind die Reste dieser Dynastie – es waren Griechen, keine Minoer, die Athen besiegt hatten. An den griechischen Minos wurden die Knaben und Mädchen als Opfergaben geschickt. Warum erschauern Sie? Ist Ihnen kalt?« »Es war schrecklich«, sagte ich. »Dieses schlüpfrige, dunkle, stinkende Loch . . . Warum ließ ich ihn gehen? Er hätte den Weg nicht finden können, wenn ich ihm nicht geholfen hätte.« Ich hatte nicht gemerkt, daß sich Kore erhoben hatte, plötzlich stand sie neben mir. Ihre Hand lag auf meiner Stirn. »Die Sünde«, flüsterte sie. »Sie verfolgt dich, mein Kind. All diese Jahre hindurch hat sie dich verfolgt. Nun mußt du Sühne tun. Bald -« Die Tür ging mit dem scharfen Geräusch eines Pistolenschusses auf. Ich sprang fast aus dem Sessel. Kore trat zurück.
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Keller stand im Türrahmen. Seine Augen glitten von mir zu Kore. »Was machst du da?« »Sie fühlte sich nicht wohl«, antwortete Kore ruhig. »Ich sagte dir ja, daß es nicht klug war, sie schon aufstehen zu lassen.« Keller durchquerte den Raum mit langen, energischen Schritten. Er griff nach meinem Weinglas. »Warum gibst du ihr das? Kein Wunder, daß dem Kind übel ist.« Er wandte sich an einen großen Schrank und kam mit einem Glas klarer Flüssigkeit zurück. »Trinken Sie das.« Ich trank es. Es schmeckte faulig. Sobald ich das Glas geleert hatte, zog mich Keller auf die Füße. »Kommen Sie zum Fenster. Sie brauchen frische Luft.« Keller zog mich hinaus in den Hof. Ich taumelte noch, aber es ging mir schon etwas besser. Wir standen am Brunnen. Seine Hand umschloß fest meinen Arm. »Atmen Sie. Tief. Noch einmal. So ist es . . .« Ein Knall schnitt ihm das letzte Wort ab, kurz darauf gefolgt von einem Zischen und Klirren. Das Klirren kam von dem zerbrochenen Glas des Fensters hinter uns. Keller 236
ging zu Boden und zog mich mit sich. Ich dachte, er sei verletzt, und versuchte, wieder auf die Beine zu kommen. Seine Hand fuhr mir in den Rücken und stieß mich hinter die niedrige Balustrade des Brunnens. Ein Schwall Schüsse detonierten, diesmal hinter uns. Sie kamen aus dem Haus. Ich drehte mich um und sah Kore mit einem Gewehr am zerbrochenen Fenster stehen. Keller rief ihr etwas zu. »Ich decke euch«, rief sie zurück. »Aber ich glaube, er ist fort.« »Bleiben Sie hier«, sagte Keller zu mir. Er stand auf und rannte im Zickzacklauf zu einem Tor in der südlichen Mauer. Ich wartete angespannt, aber nichts geschah. Dennoch blieb ich hinter meinem Mauervorsprung liegen. Kore stand mit angelegtem Gewehr in der Terrassentür. Nach ein paar Minuten wurde das Tor aufgestoßen, Keller kam zurück. »Niemand«, sagte er. Ich stand auf, sehr, sehr langsam. Kore ließ krachend das Gewehr fallen und rannte zu Keller. »Er hat dich getroffen.« »Es ist nur ein Kratzer«, sagte Keller.
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Wir gingen ins Haus. Keller schenkte dem sich rötenden Schlitz in seinem Ärmel keine Beachtung. »Ich werde ihn töten«, jammerte Kore. »Woher willst du wissen, daß es ein Mann war? Kore, setz dich und trink einen Schluck Wein. Es ist doch nicht das erstemal.« »Sie meinen, die Leute laufen herum und schießen andauernd auf Sie?« fragte ich. Keller zuckte mit den Schultern. »Am Anfang, als ich hierherkam, gab es ein paar Vorfälle.« »Aber schon seit Jahren nicht mehr«, mischte sich Kore ein. »Ich dachte -« »Du dachtest, du hattest gelernt, mit diesen Leuten hier umzugehen«, unterbrach Keller sie seinerseits. »Anscheinend hast du dich getäuscht.« »Nein«, sagte Kore langsam. »Ich glaube nicht, daß ich mich getäuscht habe.« Auf Kellers Vorschlag hin tranken wir alle einen Brandy. Ich nippte kaum an dem meinen, weil ich diesmal einen klaren Kopf behalten wollte. Man konnte nie wissen, was noch kommen würde. Und ich hatte recht. Der Spaß war noch nicht zu Ende. Wir hatten noch nicht lange dagesessen, da klopfte es laut an die Haustür. Keller und Kore 238
wechselten erstaunte Blicke, und Kore griff nach dem Gewehr, das noch am Stuhl lehnte. Keller winkte ab. »Du mußt nicht so nervös sein«, sagte er. »Leg das Gewehr fort.« Wieder klopfte es. Schritte hallten durch den Vorraum, und dann hörte ich Stimmen. Ich ließ beinahe mein Glas fallen. Ich hatte die lautere Stimme erkannt. Keller stand auf. Das Hausmädchen war an der Tür erschienen. Sie rang wie verzweifelt die Hände und versuchte gerade etwas zu erklären, als jemand sie zur Seite schob. »Sie wollte mich nicht hereinlassen«, sagte Frederick. »Ich schließe daraus, daß Ihnen Besucher nicht willkommen sind.« Er sah uns der Reihe nach an, sein Gesichtsausdruck ließ keine sonderliche Rührung erkennen. Ich wartete gespannt auf seine Reaktion auf diese Geister aus seiner Vergangenheit. Doch es geschah überhaupt nichts. Er wandte sich gelassen an mich. »Ich bin gekommen, um dich nach Hause zu holen.« Er warf mir ein Bündel zu. Ich streckte in einer Reflexbewegung die Hände aus und fing es auf. Es waren ein Hemd, meine Schuhe und Jeans. 239
Keller lachte. »Ist das alles, was Sie zu sagen haben?« fragte er. »Was gibt es sonst noch zu sagen? Eine große Dankesrede, weil Sie das Leben dieses Mädchens gerettet haben? Betrachten Sie sie als gesagt. Sie ist lange genug hier gewesen. Geh und zieh dich an, Sandy. Du siehst lächerlich in diesem – Ding aus.« Ich stieß meinen Atem in einem langen Seufzer aus. »Weißt du was«, sagte ich. »Es ist mir beinahe unerklärlich, wie ich es fertiggebracht habe, diese wenigen Tage in Frieden und Behaglichkeit mit freundlichen, zivilisierten Menschen zu leben, die versuchen, mich glücklich zu machen.« Kore klatschte in die Hände. »Sehr gut«, sagte sie und lächelte breit. »Sie verstehen es, mit ihm umzugehen. Er hat sich überhaupt nicht geändert.« Frederick sah sie von oben bis unten an. »Sie dafür um so mehr«, stellte er fest. Kores Lippen bebten. Keller trat einen Schritt vor. Er lächelte nicht mehr. »Das war unhöflich und unnötig. Setzen Sie sich – Minos, und lassen Sie uns wie Erwachsene miteinander reden.« »Gut, gut«, 240
sagte Frederick. »Aber wenn wir wie Erwachsene reden, dann gefälligst unter Weglassen dieser Namen. Sie waren kindisch und überhaupt, nach all den Jahren -« »Über dreißig«, unterbrach Keller ihn. »Kore hatte recht. Sie sind unglaublich. Sie fragen mich nicht einmal, was ich hier mache. Kennen Sie etwa die Antwort?« »Ja«, sagte Frederick. »Es kann nur eine Antwort geben. Seit ich weiß, daß Sie hier sind, weiß ich auch, warum.« »Dann«, sagte Keller, »haben Sie mir gewiß eine Frage zu stellen. Stellen Sie sie.« »Ja«, sagte Frederick, »ich habe eine Frage: Was haben Sie bisher unternommen?« »Unternommen?« Kellers Unterkiefer fiel in einem komischen Ausdruck von Überraschung herab. »Sie fragen mich, was ich unternommen habe. Und das ist alles, was Sie -« Kore sprang auf. Sie schlang die Arme um Kellers bebende Schultern. Ich konnte nicht sehen, ob er lachte oder weinte. »Er hat nichts unternommen«, schrie sie Frederick an. »Oh, Sie – Sie haben sich nicht geändert. Sie sind der gleiche kalte, gefühllose Mensch -«
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»Um Himmels willen!« Nun war es an mir, aufzuspringen. »Ich halte diese versteckten Andeutungen nicht mehr aus. Ich will wissen, was, zum Teufel, hier vorgeht!« »Das geht dich nichts an«, sagte Frederick. »Es geht mich doch was an«, schrie ich. »Ich will wissen, ob du das eben warst, der auf Herrn Keller geschossen hat?« »Nein«, sagte Frederick. »Warum sollte ich auf ihn schießen?« Keller machte sich sanft aus Kores Umklammerung frei. »Setz dich, Liebling, und beruhige dich. Es tut mir leid, daß ich mich eben gehen ließ. Sie hat recht, Frederick. Ich habe nichts unternommen. Nichts, außer hierzubleiben und aufzupassen. Sie haben mit dem Handeln begonnen. Was gedenken Sie jetzt zu tun?« »Meine Tochter nach Hause zu holen. Sandy, geh und zieh dich an.« »Nein«, sagte ich. »Damit hatte ich gerechnet«, erwiderte Frederick ruhig. »Deshalb habe ich mir einen Verbündeten gesucht. So wenig wir uns sonst auch zu sagen haben, in diesem Punkt sind wir einig. Er wird jeden Augenblick hier sein.« Wir setzten uns hin und warteten schweigend. Nach kurzer Zeit klopfte es tat242
sächlich an die Tür, und das Dienstmädchen führte diesmal widerspruchslos Jim in den Salon. Mit ihm kam Sir Christopher. Männer sind erstaunlich. Jim war der einzige, der verlegen dreinblickte. Die alten Freunde oder Feinde nickten sich kurz zu. »Ich hoffe, daß Sie nichts dagegen haben«, begann Jim mit einem Blick auf seinen Chef. »Als ich ihm sagte -« »Ich hielt es für besser, mitzukommen«, unterbrach ihn Sir Christopher. »Zugegeben, es war zum Teil Neugier. Wir haben uns nie persönlich kennengelernt, nicht wahr, Herr Keller, aber ich sah Sie damals oft bei der Ausübung Ihrer militärischen Tätigkeiten.« »Ich spreche nicht über jene Tage«, sagte Keller leise. Sir Christopher lächelte. »Das ist sehr klug von Ihnen. Es wäre besser für uns alle, wenn die Vergangenheit endlich in Vergessenheit geraten würde. Ich kam jedoch hauptsächlich, um Sandy meine Hilfe anzubieten.« Er sah mich nicht an, sondern starrte Keller ins Gesicht, als ob er ihn hypnotisieren wollte. Keller jedoch konnte seine Blicke nicht von Jim wenden. Jim sah mich an, und ich
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versuchte, sie alle miteinander zu beobachten. »Sandy«, sagte Jim scharf. »Ja? Oh, wartet ihr alle auf eine Antwort von mir? Wie schmeichelhaft. Ich habe mich noch nicht entschlossen.« »Es gibt nichts zu überlegen«, sagte Frederick. »Du hast dich bereit erklärt, mir diesen Sommer bei den Ausgrabungen auszuhelfen. Ich erwarte, daß du dein Versprechen hältst und noch heute abend in unser Haus zurückkehrst, um morgen früh die Arbeit wieder aufzunehmen.« Diese Forderung war so absurd, daß ich nicht gleich antworten konnte. Kore kam mir zuvor. »Sie können nicht gehen, Kind«, rief sie beschwörend. »Sie können nicht.« Ich fragte Herrn Keller nach seiner medizinischen Meinung. Doch Keller antwortete nicht. Er starrte noch immer auf Jim. Seine Augen waren wie leergebrannt. »Jetzt verstehe ich«, sagte er wie zu sich selbst. »Ich verstehe die Bedeutung. Ja, so muß es sein, oder warum sollten Sie ausgerechnet hier auftauchen mit seinem Gesicht, genauso wie ich es in Erinnerung habe? Sie
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sind derjenige, auf den ich gewartet habe, Ihnen kann ich es sagen.« Er ging auf Jim zu, der wie gelähmt dastand. Die anderen hatten sich erhoben und bewegten sich ebenfalls vorwärts, einschließlich Kore. Plötzlich stürzte sie sich auf Keller und schlang wieder die Arme um ihn. Sir Christopher stellte sich rasch vor Jim. »Warten Sie«, sagte er. »Warten Sie -« Irgendwie, ich weiß nicht wie, gelang es Kore, Keller umzudrehen und ihn aus dem Zimmer zu führen. Er beruhigte sich, sobald er Jim aus den Augen gelassen hatte, und ließ sich von ihr leiten wie ein kleines Kind. Als sich die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, atmete Jim auf. »Ich glaube, ich verschwinde hier lieber«, sagte er. »Das scheint mir ein recht vernünftiges Vorhaben«, stimmte ihm Sir Christopher bei. »Wir sollten alle gehen. Frederick?« »Ich gehe nicht ohne Sandy«, sagte mein lieber Vater und ließ sich auf einem Stuhl nieder. »Dann bleibe ich ebenfalls«, sagte Sir Christopher grimmig. »Ich werde nicht zulassen, daß Sie dieses Mädchen kaputtmachen, Frederick.« 245
»Wessen Mädchen ist es denn?« »Nicht deins«, sagte ich. »Frederick, wann immer du etwas von mir verlangst, habe ich Lust, genau das Gegenteil davon zu tun. Geh jetzt. Vielleicht komme ich morgen, wenn du mich in Ruhe läßt. Auf jeden Fall habe ich nicht die Absicht, jetzt mitzukommen.« »Oh, gut, gut«, brummte Frederick. Ich brachte sie alle zur Tür. Das Dienstmädchen schien verschwunden zu sein. Jim blieb ein paar Schritte zurück. »Ich muß mit dir reden«, flüsterte er. »Ich möchte auch mit dir reden«, flüsterte ich zurück. »Kannst du dich von hier wegschleichen?« »Wegschleichen? Wir sehen uns morgen vormittag. Draußen, wenn du willst.« »Komm um eins.« Sir Christopher drehte sich um. Ich glaube nicht, daß er uns gehört hatte. Ich nickte Jim unauffällig zu. Nach dem Abendessen, das Kore, Herr Keller und ich wenig später gemeinsam einnahmen, bestand Kore darauf, mich sofort ins Bett zu bringen. Ich folgte ohne Widerspruch. Ich war müde. Die Aufregung hatte mich physisch überanstrengt. Kore mußte es 246
ebenso ergangen sein. Sie sah an diesem Abend alt aus. Sie putzte mich nicht auf, wie sie es sonst getan hatte, und als ich die Schlaftablette verweigerte, zuckte sie nur mit den Schultern. Sie ließ, wie gewöhnlich, eine Lampe brennen, wünschte mir eine gute Nacht und verließ das Zimmer. Zwar war ich müde, aber noch nicht schläfrig. Ich griff also nach den Büchern, die Keller mir hingelegt hatte. Willkürlich schlug ich eine Seite auf. Es war ein Text über Steinzeitreligionen. Ich las, während meine Augenlider immer schwerer wurden, bis ich plötzlich auf meinen eigenen Namen stieß. Je mehr ich über die Ursprünge dieses Namens erfuhr, desto unsympathischer wurde er mir. Ariadne war nicht nur die Tochter von Minos, dem Seekönig, sie war ebenfalls eine Göttin – eine Göttin der Vegetation, die im Herbst starb und im Frühling wiedergeboren wurde . .. Da war sie schon wieder, diese Bezugnahme auf Wiederauferstehung und Reinkarnation, die anfing, mich zu verfolgen. Ariadne war auch ein Mädchen. Homer beschrieb es, als er von ›der Tanzfläche‹ sprach, ›die Dädalus im großen Knossos für die blonde Ariadne‹ geschaffen hatte. Keiner hatte je herausge247
funden, was es mit dieser Tanzfläche auf sich hatte, oder warum ausgerechnet der Meisterarchitekt des alten Kreta den Bau einer simplen Tanzfläche geleitet haben sollte. Der Autor dieses Buches vertrat die Ansicht, daß die Tanzfläche eine Art Irrgarten gewesen sei, ähnlich dem kretischen Labyrinth, und daß der Tanz ein Überbleibsel eines alten Fruchtbarkeitsrituals war. Die Knaben und Mädchen, Opfer aus Athen, wurden zu diesem Tanz gezwungen. Sie trafen in den Windungen auf den Mörder mit der Stiermaske, einen Priester der Göttin. Nur Theseus drang bis in das Zentrum vor, wo er Ariadne fand – mit Hilfe ihres eigenen Tricks! Die Buchstaben begannen vor meinen Augen zu tanzen. Ich ließ das Buch sinken, mein Kopf fiel in die Kissen. Ich hatte dieses Buch noch nie gelesen. Es gehörte nicht zu der Art von Lektüre, die mich interessierte. Wie aber war ich im Unterbewußtsein auf den Gedanken gekommen, daß Ariadne selbst im Zentrum dieses Irrgartens gewartet hatte, als Preis für den Held, der den Minotaurus tötete? Die Tanzfläche . . . ein harmloser Name für ein angeblich harmloses Vergnügen? Woher konn248
te ich wissen, daß Ariadnes Tanzfläche ein labyrinthartiges Geflecht aus steinernen Gängen war und daß der Tanz die Funktion eines Opferrituals hatte? Ich schlief ein und träumte. Zunächst war da ein wirres Durcheinander von fragmentarischen Eindrücken – flackernde Lichter, kühle Luft auf meiner Haut, Stimmengemurmel, Worte, die ich nicht verstand. Dann lichtete sich der Nebel. Ich erwachte in Dunkelheit, aber es war nicht die faulige Schwärze des Labyrinths. Sterne blinkten an einem hohen Nachthimmel, die Luft roch nach milden Kräutern und nach Meer. Meine Füße schmerzten, als sie sich über eine harte, rauhe Fläche zu bewegen schienen, erst unsicher und taumelnd, dann fester in einem gemessenen Rhythmus. Die Musik war ein dünner, hoher Pfeifton. Es war eine seltsame Musik, ohne erkennbare Melodie. Die Töne wiederholten sich endlos, und meine Füße bewegten sich immer schneller, je schneller die Töne aufeinander folgten. Ich drehte mich, bewegte mich in einem engen Kreis, die Arme von mir gespreizt, um die Balance zu halten, und die Sterne drehten sich ebenfalls, so schnell, daß sie wie sich windende, leuchtende 249
Schlangen aussahen. Meine Füße tanzten nach einem bestimmten Schritt, sie formten ein Muster wie ein unsichtbares Geflecht. Als das Muster vollendet schien, nahm etwas anderes Gestalt an. Ich spürte, wie es bebte, mit einer schrecklichen Gespanntheit auf etwas wartete, wie eine Kreatur, die sich hinter einer Barriere zusammengeduckt hatte und zum Sprung bereit war. Die Zwischenmauer zerbröckelte Zentimeter um Zentimeter . . . Dann teilte ein entfachtes Feuer die Nacht. Der Boden unter meinen Füßen schwankte, sie stolperten und verfehlten den Rhythmus der Töne. Ich verlor das Gleichgewicht und griff ins Leere, um mich festzuhalten. Während ich fiel, erblickte ich das Ding hinter der Mauer. Es hatte mein Gesicht, aber die grünen Augen funkelten wie Smaragde, und um den Mund lag das seltsam starre Lächeln, das ich zum erstenmal in meinem Leben an der Statue, die mir Frederick damals geschenkt hatte, gesehen hatte. Ich stürzte. Lautlos schreiend fiel ich in ein bodenloses, dunkles Loch. Ich erwachte vom hellen Morgenlicht und einer kühlen Brise, die durch das offene Fenster wehte. Die Bettücher waren um meine Beine gewunden. Die Erin250
nerung an den Traum bedrückte mich. Aber als ich zu vollem Bewußtsein kam, war ich unendlich erleichtert, einmal einen Alptraum gehabt zu haben, dessen Ursachen erklärt werden konnten. Es war das Buch, das ich kurz vor dem Einschlafen gelesen hatte. Ich versuchte mich aufzusetzen. Ich war noch müde und meine Glieder fühlten sich steif an. Das Bett war zerwühlt, offensichtlich hatte ich mich im Traum hin und her geworfen. Doch dann, als ich meine Knie beugte, um aus dem Bett zu steigen, fiel mein Blick auf meine Füße. Die Fußsohlen waren fleckenlos sauber, nicht die geringste Spur von Schmutz oder Staub war zu erkennen. Aber von der Ferse bis zu den Zehen liefen rote Kratzer, als ob ich barfuß über einen rauhen Untergrund gelaufen sei.
13 Mein erster Impuls beim Anblick dieses verdammten, unmißverständlichen Beweises tatsächlicher nächtlicher Aktivitäten war, auf und davon zu laufen. Dann jedoch wurde mir bewußt, wie Kores Zauber wirkte. Es war nichts anderes als ei251
ne Kombination von Drogen und laienhafter Hypnose. Kore verbrachte an diesem Morgen mehr Zeit als sonst damit, mich zurechtzumachen. Sie rieb mir die Hände und den Körper mit öl ein und flocht meine Haare zu einer komplizierten Frisur. Es gelang mir, dabei die Ruhe zu bewahren. Ich wollte unter allen Umständen vermeiden, daß sie merkte, bis zu welchem Grad ich mir des nächtlichen Geschehens bewußt war. So lächelte ich verbindlich und verzehrte mein Essen wie jeder höfliche Gast. Sobald ich aber allein gelassen wurde, stand ich auf. Die Kleider, die Frederick mir mitgebracht hatte, hingen im Schrank. Mit den Schuhen in der Hand schlich ich zur Tür und machte sie leise auf. Der Korridor war leer. Es herrschte absolute Stille. Offensichtlich hatten sich alle Hausbewohner zur Ruhe begeben. Vorsichtig schlich ich die Treppe hinunter, bereit, davonzurennen, falls jemand mich entdecken sollte. Ich begegnete niemandem. Aber erst, als ich außerhalb der Villa war und die hohen weißen Mauern hinter mir hatte, atmete ich auf.
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Schon wenige Minuten danach war ich schweißgebadet. Es war ein heißer, dunstiger Tag. Jim und ich hatten keinen besonderen Treffpunkt vereinbart, deshalb lief ich den Pfad entlang, der zum Dorf führte. Sobald ich von der Villa her nicht mehr gesehen werden konnte, setzte ich mich auf einen großen Felsen und wartete. Ich war so in Gedanken versunken, daß ich erschreckt zusammenfuhr, als ich die Schritte vernahm. Sie kamen nicht aus der Richtung des Dorfes, sondern von der entgegengesetzten Seite her. Im nächsten Moment tauchte Keller auf. Ich erhob mich. Er mochte nicht mehr jung sein, aber er war ein ausgezeichneter Sportler. Ich überlegte hastig, wie schnell er Wohl laufen konnte. Doch als er mich sah, blieb er stehen. »Haben Sie keine Angst«, sagte er schnell. »Ich folgte Ihnen nur, um sicher zu sein, daß Ihnen nichts zustößt.« »Ich habe mich mit Jim verabredet. Er müßte jeden Augenblick hier sein.« »Gut.« Es klang zutiefst erleichtert. »Sie dürfen nicht allein sein«, fuhr er fort. »Ich werde hier mit Ihnen warten.« Wir warteten. Keller machte keine Anstalten näherzukommen, als ob er sich bewußt war, 253
daß jede Bewegung seinerseits mich in die Flucht schlagen würde. Endlich, nach einer Ewigkeit des Wartens, hörte ich das Knirschen von Schritten. Es war Jim. Sein Anblick schien Keller noch immer aufzuwühlen, selbst jetzt, wo er auf sein Erscheinen gefaßt war und sogar auf ihn wartete. Auch Jim war nicht besonders erfreut, Keller hier anzutreffen. »Was ist los?« fragte er. »Herr Keller ist mein Leibwächter«, versuchte ich zu scherzen. »Das ist nett von ihm«, sagte Jim. »Aber es wäre uns mehr damit gedient, wenn Herr Keller uns sagen würde, vor was er dich beschützt. Und«, fügte er hinzu, während er sich an Keller wandte, »erzählen Sie mir nicht mehr, daß es um meinen Onkel geht. Er ist tot und begraben. Ihre Schuldgefühle gehen mich nichts an, Keller. Ich brauche Informationen. Und nicht über das, was vor dreißig Jahren passierte, auch das ist tot und begraben.« Keller lachte rauh. »Die Vergangenheit ist niemals tot. Sie und dieses Mädchen, Sie glauben, frei von dem Vergangenen zu sein. Aber bedenken Sie, daß es die Vergangenheit ist, die die Gegenwart beeinflußt; unse254
re Leben werden mit von den Handlungen der längst Toten bestimmt. Jeder von uns, wir alle sind Gefangene im Labyrinth der Zeit.« »Nein«, widersprach Jim kurz. »Verdammt noch mal, Sie wissen doch etwas. Warum sagen Sie es nicht? Ich habe die Nase voll von halben Andeutungen und ungenauen Warnungen.« »Ich kann nicht«, flüsterte Keller. »Sie sagten gestern abend, daß Sie mir etwas sagen wollten«, beharrte Jim. »Ich bin kein Esel, Keller. Daß Ihre alten Gegner in diesem Sommer ausgerechnet hier in Thera auftauchen, ist kein Zufall. Die Frage ist nur, warum sind sie hier.« Keller ließ die Hände sinken und schwieg. Nach einer Weile fuhr Jim fort: »Dann werde ich also den Ball ins Rollen bringen. Als Sandy neulich verletzt wurde, war es kein Zufall. Die Amphore war ins Wasser gelassen und mit einer Falle versehen worden. Nach allem, was Sandy mir erzählte, wußte ich sofort, daß diese Amphore nicht dreitausend Jahre lang unter Wasser gewesen sein konnte. Nicht nur, daß sie keinerlei Inkrustationen aufwies, die Form war auch noch vollständig erhalten. Die Wellenbewegungen des Meeres würden 255
jedes Gefäß zerbrechen, das in acht bis zehn Metern Tiefe liegt. Aber die Amphore mußte perfekt sein, damit Sandy auch wirklich nicht widerstehen konnte und zum sofortigen Ausbuddeln gereizt wurde. Es ist nicht allzu problematisch, sich eine solche Amphore zu beschaffen, wenn man seit Jahren hier in der Gegend lebt. Warum wollten Sie Sandy vom Tauchen abhalten, Keller? Was gibt es eigentlich da draußen in der Bucht?« »Schiffe«, sagte Keller. »Die Flotte des Seekönigs.« Keller hatte so prompt, so vorbehaltlos sein Geheimnis preisgegeben, daß Jim zunächst nur mit Verblüffung reagieren konnte. »Was?« staunte er. »Ja.« Keller gab einen langen, erschütternden Seufzer von sich. »Und sie gehört rechtmäßig Ihnen. Es war seine Entdeckung. Ich bin nur der Wächter.« Jims Hände gruben sich in meine Schultern. »Er hat recht«, sagte ich. »Frederick weiß auch davon. Deshalb hat er mich hierher geholt.« »Einen Moment mal«, rief Jim noch immer verstört. »Ich kann das Ganze noch nicht fassen. Eine Flotte, sagt ihr? Wollen Sie mir erzählen, Keller, daß eine ganze minoische 256
Flotte in dieser Bucht sank, und daß sie erhalten geblieben ist? Nein, das glaube ich nicht.« »Er hat sie gesehen«, sagte Keller. Er vermied es hartnäckig, den Namen zu nennen, doch wir wußten, wen er mit ›er‹ meinte. »Zwei Jahre vor dem Krieg, als er für ein paar Tage auf Thera war. Allein ihn davon berichten zu hören, war ein unvergeßliches Erlebnis. Auf dem Meeresboden verstreut lagen dort Schiffswracks und Ladungen – Anker, Masten, Amphoren, sogar die Taue der Takelagen.« Die Worte strömten nur so aus dem sonst so wortkargen Mann heraus. Die einfache Tatsache, jetzt nach Jahren des Schweigens endlich darüber sprechen zu können, mußte ihm ungeheure Erleichterung bringen. »Das Wetter war schlecht in jenem Sommer. Stürme, Winde und Erdbeben. Er war nach einer Auftragsarbeit von Kreta hierher gekommen, um eine persönliche Theorie zu verfolgen. Eine Theorie, die sich auf Fouquets Entdeckung minoischer Häuser um achtzehnhundertsiebzig aufbaute, einer Entdeckung, die bis dahin keiner beachtet hatte. Aber er, er war jung und enthusiastisch, er träumte von großen Entdeckungen. Glau257
ben Sie an den Zufall? Wenn ja, dann werden Sie sagen, daß er zufällig zwischen zwei großen Stürmen hier eintraf. Einer der Stürme mußte den Sand auf dem Boden der Bucht hinweggefegt haben, der die Flotte über Tausende von Jahren bedeckt hatte. Er hatte einen Fischkutter angeheuert und war damit rund um die Insel gefahren. Draußen in der Bucht hatte er dann geankert, weil er den Meeresboden nach Ruinen absuchen wollte. Beim Tauchen stieß er regelrecht an einen Steinanker an, der aus dem Sand ragte. Zufall, sagen Sie immer noch . . .? Stellen Sie sich vor, wie überwältigt er gewesen sein muß, als er nach dieser unerwarteten Entdeckung noch weitere Funde machte. Die Schätze, die da unten vor seinen Augen ausgebreitet dalagen, bedeuteten einen historischen Wendepunkt, eine Entdeckung, die weltbewegende Folgen haben würde. Aber er war ein erfahrener Wissenschaftler. Er wußte, daß die Einheimischen wenig Verständnis für derart unschätzbare Werte hatten. Sie hätten den Fund gedankenlos ausgeplündert und verscherbelt, deshalb mußte er unter allen Umständen vermeiden, daß sie etwas davon erfuhren, ja auch nur ahnten. 258
Er wagte nicht einmal, einen größeren Fundgegenstand mit an die Wasseroberfläche zu bringen. Nur ein einziges Stück nahm er mit -« »Den Dolch«, unterbrach ich. »Es ist ein Dolch wie die, die man in Mykene gefunden hat, Jim. Frederick besitzt ihn jetzt. Wie ist er dazu gekommen?« Kellers Gesicht verschloß sich wieder. »Ob er anderen noch von diesem Fund erzählt hat, weiß ich nicht. Mir erzählte er davon, weil der Gedanke, daß diese Dinge der Menschheit verlorengehen könnten, ihm unerträglich war, und weil er wußte, daß ich zur Archäologie eine ebensolche Beziehung hatte wie er.« Jim war während des Berichts immer sprachloser geworden. Jetzt fragte er mit rauher Stimme: »Aber warum ist er nicht zurückgegangen? Warum hat er niemanden zur Bergung des Schatzes veranlaßt, andere Archäologen, die griechische Regierung -« »Er ist zurückgekommen«, sagte Keller. »Drei Tage nach seinem ersten Besuch, dazwischen hatte es den zweiten großen Sturm gegeben. Er war diesmal allein zu Fuß über die Klippen auf diese Seite der Insel gegangen, und er hatte bis zur Erschöpfung 259
die Bucht durchschwommen, allein. Er hat nichts mehr gefunden. Eine neue Erdbewegung – Zufall, meine jungen Freunde? – hatte die Schiffe von neuem begraben. Und er war nicht dazugekommen, ausgiebige Suchaktionen einzuleiten. Der Krieg war inzwischen ausgebrochen, die griechische Regierung hatte zu diesem Zeitpunkt andere Interessen als archäologische. Zudem gab es noch keine Taucherausrüstungen. Sein Fund lag tief; tiefer, als Sie« – er nickte in meine Richtung -, »bisher getaucht haben. Außerdem war auch er vom Ehrgeiz aller Wissenschaftler besessen. Es war sein Fund, und keiner sollte es wissen, bevor er nicht in der Lage war, ihn wissenschaftlich darzulegen. Sie schütteln den Kopf. Sie können das vielleicht nicht verstehen. Aber ich verstehe es.« »Oh, ich kann es verstehen«, sagte Jim leise. »Natürlich kann ich verstehen, daß er den Fund für sich behalten wollte. Aber das Ganze klingt wie ein Märchen. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Schiffe jetzt noch da sein sollten.« »Ich glaube, sie sind verschwunden«, sagte Keller bedacht. »Auch ich habe danach gesucht. Als ich noch jung und stark war, 260
schwamm ich oft in der Bucht. Ich habe nie auch nur einen Splitter gefunden. Vor zehn Jahren habe ich es aufgegeben. Als Frederick hier auftauchte, vermutete ich, daß auch er es wußte. Wie er es erfahren hat, weiß ich nicht. Ich habe nie mit jemandem darüber gesprochen, nicht einmal mit Kore.« »Wie haben sich Kore und Frederick kennengelernt?« fragte ich rasch. Aber Keller hatte für heute genug gesprochen. »Kores Leben ist ihre eigene Angelegenheit«, sagte er höflich. »Sie war mir immer eine liebende und treue Gefährtin, und das ist alles, was mich angeht. Sie haben mich gefragt, was ich weiß, ich habe es Ihnen erzählt.« Er drehte sich abrupt um und ging fort. Jim setzte sich auf einen Felsen und zog mich mit sich. Er pfiff leise vor sich hin. »Das war also der Clou! Sandy, warum hast du mir nichts davon gesagt?« »Ich hatte keine Ahnung, daß es die Entdeckung deines Onkels war. Ich weiß nicht mehr genau, was Frederick sagte, jedenfalls schloß ich daraus, daß er die Schiffe entdeckt hatte.« Ich machte eine Pause. »Vielleicht hat dein Onkel ihm davon erzählt?« »Vielleicht«, sagte Jim zweifelnd. 261
Wir schwiegen eine Weile. Schließlich raffte er sich auf, als ob ihm wichtigere Dinge eingefallen wären. »Ich bin froh, daß du dich endlich entschlossen hast, Kores Haus zu verlassen, Sandy.« »Ich will dieses Haus nie mehr betreten.« »Warum? Ist was passiert?« »Ja.« Ich wischte Staub von meinen Jeans. »Erst dachte ich, daß ich nur seltsame Träume hatte – von Theseus und Ariadne und von der Tanzfläche . . .« »Woher weißt du etwas von der Tanzfläche?« »Ein Buch. Ich habe gestern nacht ein Buch gelesen.« »Oh.« Sein Gesicht erhellte sich. »Ich dachte schon, du seist oben am Berg gewesen.« »Warum sollte ich dorthin gehen?« »Es gibt in den oberen Bergregionen eine Art Plateau mit den Resten eines Mauerwerkes. Die Leute hier nennen es die Tanzfläche. Möglicherweise gibt es eine über die Generationen hinweg erhalten gebliebene Erinnerung an irgendein uraltes Ritual hier. Der Platz diente nicht dem Vergnügen – die Tänze hatten eine religiöse Funktion -« Er brach seine Erklärung abrupt ab. Der Felsen unter uns hatte sich bewegt. Wir saßen 262
mit den Gesichtern nach Norden, der Bergflanke und dem Inneren der Insel zugewandt. Wir waren fast zehn Kilometer vom Herd des Ausbruchs entfernt, doch das war nicht weit genug. Eine dicke Säule aus grauem Schiefer ragte steil in den Himmel und sah aus wie einer jener Pfeiler, die in den alten Legenden den Himmel stützten. Und als sie zerbarst und sich ausbreitete, war es, als ob die ganze Himmelswölbung in einem Regen aus Stein und berstendem Mörtel zusammenbrach. Asche rieselte herab, und dann toste ein ohrenbetäubendes Donnern. Der Boden unter unseren Füßen schwappte wie eine Wasseroberfläche. Blind und taub vor Angst und von dem sich ausbreitenden Staub warf ich mich zu Boden und krallte mich dort mit den Fingernägeln fest. Hände packten mich um die Taille und versuchten, mich hochzuziehen. Ich klammerte mich an die staubigen Gewächse. Wieder gab es ein donnerndes Gebrüll, und wieder schwankte die Erde . . . Ich konnte nicht mehr atmen. Staub verklebte mir Nase und Mund. Ich wurde lebendig begraben, aber die Erde wollte mich nicht behalten, sie rüt-
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telte und schüttelte sich und versuchte mich von sich zu schleudern. Jim hielt mich mit seinen Armen fest umschlungen und schrie mir etwas ins Ohr. »Sandy, komm zu dir. Wir müssen ins Dorf.« Ich blickte ihn an. Eine dunkle, drohende Rauchwolke verdeckte den halben Himmel und die Sonne. Asche deckte alles ein. »Was ist mit denen da oben?« stieß ich hervor und deutete mit dem Kopf in Richtung der Villa. »Die Villa ist entsprechend gebaut. Die Leute im Dorf in ihren klapprigen alten Häusern sind in größerer Gefahr. Wir müssen ihnen helfen.« Wir machten uns strauchelnd auf den Weg. Zerborstene Felsstücke versperrten Teile des Pfades, und an einer Stelle mußten wir über einen meterbreiten Erdriß springen. Wir hatten bereits die unteren Hänge erreicht, als ich etwas vermißte. Ich hätte von hier aus das Dach unseres Hauses sehen müssen. Er war nicht da. »Das Haus!« schrie ich. »Frederick -« Jim hielt im Laufen nicht an, er änderte lediglich die Richtung. Das Haus war kein
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Haus mehr. Ein Haufen Putz und Steine lagen an seiner Stelle. Wir fanden Frederick in den Trümmern der äußeren Hofmauer. Ein grauer Staubfilm bedeckte seinen reglosen Körper. Er war mit beträchtlicher Gewalt zu Boden geschmettert worden. Eine Gesichtshälfte hatte schwere Hautabschürfungen erlitten. Ansonsten schien er unverletzt zu sein, bis auf einen zerschundenen und möglicherweise gebrochenen Arm. Er stöhnte, als ich seinen Körper nach eventuell gebrochenen Rippen abtastete, und bald darauf schlug er die Augen auf. »Schrei, wenn was weh tut«, sagte ich und drückte ihm die Daumen in die Seite. »Meine Bücher«, stöhnte Frederick. »Wo sind meine Bücher?« »Verschüttet! Und du hast Glück, daß du nicht auch unter den Trümmern liegst«, rief ich. »Was ist mit deinen Beinen? Kannst du gehen?« Frederick setzte sich auf. »Ich glaube, mein Arm ist gebrochen. Ihr solltet lieber anfangen, die Bücher auszu -« »Vergiß es«, sagte ich rasch. »Wir bringen dich ins Dorf, vorausgesetzt, daß es noch ein Dorf gibt.« 265
»Ich habe nicht die Absicht, ins Dorf zu gehen.« »Aber ich.« Jim stand auf. »Am besten, du bringst ihn in die Villa, Sandy.« »Und du?« »Ich muß sehen, ob sie im Dorf meine Hilfe brauchen.« Jim kaute auf seinen Lippen herum. »Es sei denn, du brauchst -« »Wir brauchen Sie nicht«, zischte Frederick. »Laufen Sie und spielen Sie sich als Menschenretter auf. Vielleicht können Sie Chris unter einem Felshaufen hervorziehen und sich damit einen Orden verdienen.« Jim warf mir einen Blick zu und zuckte mit den Schultern. Ich tat das gleiche. »Wie du siehst, ist er lebendig und munter. Mach dir keine Sorgen um uns. Ich komme später nach, wenn ich weiß, was in der Villa passiert ist.« »In Ordnung.« Jim wandte sich zum Gehen. Ich sah ihm mit einem unerklärlichen Gefühl von Verlassenheit nach, dann jedoch wandte ich mich rasch meinem Vater zu. »Gehen wir. Es sei denn, du hast etwas dagegen, Keller wiederzusehen.« »Warum sollte ich?« Frederick stand auf und stieß meine Hände beiseite, als ich versuchte, ihn zu stützen. 266
Nach ein paar Schritten schob ich dennoch meinen linken Arm unter seine Schulter. Er ließ es geschehen. Der Himmel war dunkel. Es regnete noch immer Asche; Felsbrocken und Steine versperrten uns den Weg. Als die Mauern der Villa endlich in Sicht kamen, war ich dem Weinen nahe. Die Villa schien unversehrt, lediglich die Behälter mit den Pflanzen waren umgekippt und lagen in Trümmern im Hof. Aus dem Haus drang der Geruch von kaltem Rauch. Keller kam uns entgegen. Wortlos nahm er mir Frederick ab, dieser merkte kaum noch, daß er in andere Hände übergeben wurde. Ich rieb mir die schmerzenden Schultern und folgte Keller und Frederick ins Haus. »Sind Sie unverletzt?« fragte Keller. »Was ist im Dorf los?« Während er sprach, glitten seine Hände prüfend über Fredericks Körper. Als er seinen Arm berührte, stieß Frederick einen Fluch aus. »Ich glaube nicht, daß er gebrochen ist«, sagte Keller ruhig. »Das Personal ist nach Hause gegangen. Sie werden mir beim Verbinden helfen müssen.« »Wo ist Kore?« fragte ich.
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»Sie ist in Sicherheit. Sie ruht sich aus. Wir hatten ein Feuer in der Küche. Es ist jetzt gelöscht.« Im Haus war es düster, weil man aus Sicherheitsgründen sämtliche Fensterläden geschlossen hatte. Keller reichte mir eine Taschenlampe, die ich hielt, während er Fredericks Arm bandagierte. Sämtliche elektrischen Leitungen waren inzwischen durch das Erdbeben unterbrochen worden. Noch während Keller Frederick verarztete, ging die Tür auf, und Jim kam herein. Ich begrüßte ihn mit einem Ausruf der Freude und Erleichterung. Er antwortete nicht, sondern drückte mich fest an sich. »Da unten sind sie verrückt geworden«, sagte er schließlich. »Ah«, rief Frederick. »Der Menschenretter resigniert an der Unberechenbarkeit seiner Artgenossen.« »Es gibt nichts, was ich da unten tun kann«, erwiderte Jim. Er hielt noch immer meine Hand und drückte sie so fest, daß es schmerzte. »Ich bin gekommen, um Sie alle zu warnen. Es ist besser, das Haus nicht zu verlassen.« »Warum?« fragte Keller. »Ist viel zerstört?«
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»Es hätte schlimmer sein können. Einige der älteren Häuser sind eingestürzt, und das Hotel ist ziemlich beschädigt. Aber das ist es nicht. Es ist -« Jim strich sich mit den Fingern durch die Haare, eine graue Staubwolke umgab seinen Kopf wie ein Heiligenschein. »Sie wollten mich nicht helfen lassen. Sie beschimpften mich. Kinder warfen sogar Steine nach mir.« »Typisch«, sagte Frederick. »Wenn sich Katastrophen ereignen, brauchen primitive Leute immer einen Sündenbock.« »Setzen Sie sich erst einmal hin.« Keller schob Jim einen Stuhl hin. Jim schüttelte den Kopf. »Ich gehe zurück. Ich bin nur gekommen, um Sie zu warnen, besonders dich, Sandy.« »Wenn du wieder ins Dorf gehst, gehe ich mit«, sagte ich bestimmt. »Ich gehe nicht ins Dorf«, sagte Jim. »Ich – ich kann Chris nirgends finden.« »Oh, Jim! Das Hotel -« »Nein, dort war er nicht. Ich werde ihn bei der Ausgrabungsstelle suchen.« Ich widersprach ihm nicht. Ich wußte, wieviel ihm sein Chef bedeutete, und der Gedanke, daß dieser jetzt hilflos unter einem
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Trümmerhaufen liegen könne, beunruhigte auch mich. Ich folgte Jim hinaus in den Hausflur. An der Tür legte er noch einmal seine Arme um mich und drückte mich an sich. »Sandy«, flüsterte er, »ich möchte, daß du und ihr alle hier im Haus auf der Hut seid. Die aufgebrachte Menge im Dorf kann sich leicht in einen gefährlichen Pöbel verwandeln. Dein Vater hat recht. Sie wollen und brauchen einen Sündenbock.« »Nein«, rief ich. »So was kann es doch nicht in Wirklichkeit geben!« »Es kann. Ich werde Chris herbringen, falls ich ihn finde. Verriegelt das Haus. Möglicherweise sollte Keller seine Schußwaffen bereithalten, wenn er welche hat.« Daraufhin verschwand er in die Dunkelheit. Ich kehrte in den Salon zurück. Die beiden Männer saßen sich gegenüber und tranken Brandy, beinahe gemütlich wie im Herrenclub. »Warum unternehmen Sie nichts?« fragte ich barsch. »Was können wir tun?« fragte Keller zurück. »Was kommen muß, wird kommen.« »Und Kore?« rief ich.
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»Lassen Sie sie in Ruhe. Sie schläft. Ich habe ihr ein Schlafmittel gegeben. Sie war verstört.« Ich schwieg. Die beiden Männer schienen mich nicht zu brauchen. So lief ich rastlos durch das Haus. Es war leer und still, und über allem lag eine feine Schicht Asche. Ich ging die Treppe hinauf und warf einen Blick in das Zimmer, das meines gewesen war. Das Buch, welches ich zuletzt gelesen hatte, lag noch aufgeschlagen auf dem Nachttisch. Ich hatte keine Ahnung, in welchem Raum sich Kore aufhielt. Ich öffnete verschiedene Türen, hinter denen dunkle, unbenutzte Zimmer lagen. Schließlich stieß ich auf eine verschlossene Tür. Ich klopfte an. »Es ist abgesperrt«, rief Kores Stimme von innen. »Bitte machen Sie auf«, rief ich. »Ich bin es nur.« »Ich weiß, daß Sie es sind«, antwortete Kore. »Ich kann nicht aufmachen. Jürgen hat den Schlüssel.« Ich wußte nicht, was ich darauf antworten und ob ich mich in die Angelegenheiten der beiden mischen sollte. »Kann ich etwas für Sie tun?« »Nicht jetzt.« 271
»Wenn . .. wenn etwas passieren sollte, werde ich dafür sorgen, daß Sie sofort . . .« »Mir kann nichts passieren«, sagte Kore. Es klang beinahe wie eine Warnung. Ich schrak zurück. Der seltsam sichere Ton in ihrer Stimme verunsicherte mich. Ich kehrte still zu den Männern im Salon zurück. Sie saßen unverändert da. Unweigerlich drängte sich mir der Gedanke an Gipsabgüsse auf, die Archäologen von den Opfern des Vesuvausbruchs gemacht hatten. Es war nicht gerade der ermutigendste Gedanke. Ich schenkte mir ein Glas Brandy ein. Dann ging ich zum Fenster und spähte durch einen Spalt der geschlossenen Fensterläden. Der Himmel schien etwas klarer geworden zu sein, aber ich konnte mich auch täuschen, denn mittlerweile war es Abend geworden. Ein heftiges Pochen schreckte uns alle auf. Jemand hämmerte an die Haustür. Ich reagierte als erste. »Das ist Jim«, rief ich. Ich rannte hinaus. Jim trat wortlos ein, stieß mich zur Seite und verriegelte sofort die Tür hinter sich. »Du hast Sir Christopher nicht gefunden?«
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»Nein«, keuchte er. »Ich habe überall gesucht. Verdammt, kann man denn hier kein Licht machen?« Ich gab ihm meine Taschenlampe. »Wie ist die Lage?« erkundigte sich Frederick, als wir in den Salon traten. »Der Vulkan hat sich beruhigt, zumindest im Augenblick. Die Luft klärt sich ein wenig auf.« »Gut«, sagte ich. »Das dürfte die Leute im Dorf doch zur Vernunft bringen.« »Nein.« Jim ließ den Schein der Taschenlampe über seinen Körper gleiten, und ich stieß einen Schrei aus. Sein Hemd war zerfetzt und blutverschmiert. »Als ich Chris auch an der Ausgrabungsstelle nicht fand, kehrte ich noch einmal ins Dorf zurück ... Es war Angelos, der zuerst anfing. Er scheint uns für den Schaden an seinem verdammten Hotel verantwortlich zu machen. Daraufhin fielen ein halbes Dutzend Männer über mich her. Zum Glück sind nicht alle verrückt geworden. Nicholas, euer Vorarbeiter, und ein paar andere mischten sich ein und halfen mir zu entkommen. Und die Frauen . . . sämtliche Frauen sind spurlos verschwunden.« »Was redest du da?«
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»Ich habe nicht ein einziges weibliches Wesen gesehen.« »Sie sind in ihren Häusern, wie es sich für gute Griechinnen gehört«, rief ich. »Wahrscheinlich beten -« »Sie beten nicht«, rief Jim. »Zumindest nicht . . . wo ist Kore?« »Oben, in ihrem Zimmer. Ich habe sie eingeschlossen«, sagte Keller. »Dann wissen Sie also über ihre Aktivitäten Bescheid«, sagte Jim. »Ich weiß, was sie macht«, erwiderte er. »Aber es ist nichts Böses. Sie tut nichts Böses, es ist nur ein Spiel.« »Warum haben Sie sie dann eingeschlossen? Sie wissen, daß es kein Spiel mehr ist. Es ist verdammt gefährlich.« »So hat Kore also einen fruchtbaren Boden für ihre Fantasien gefunden! Und es könnte keinen besseren Ort und Zeitpunkt geben als diesen, um die alten Götter heraufzubeschwören.« »Sie kaltschnäuziger Bastard«, unterbrach Jim Fredericks Rede. »Das könnte Ihnen so passen, hier von Ihrem hohen akademischen Roß herunter über Kulte zu dozieren, während draußen . . . Sie wissen doch, was dieser verdammte Kult bedeutet, nicht 274
wahr! »Die Einzelheiten sind selbstverständlich obskur«, seine Stimme imitierte Fredericks lehrmeisternden Ton, »›aber wir können davon ausgehen, daß ein Fruchtbarkeitskult irgendeine Form von Opfer beinhaltet. Das Opfer wird getötet, auf daß sein Blut für die Auferstehung neuen Lebens im Frühjahr sorge . . . « Die sterbende Gottheit, Osiris und Attis, Persephone . . . Kore kann unter vielen Versionen wählen. Welches Ritual liegt ihr denn am meisten, Keller? » Der Mythos der Persephone? Oder hat Kore den Dionysos-Ritus im Sinn? In diesem Fall würde ein warmer männlicher Körper den Zweck erfüllen. Wird Chris jetzt gerade von einer Horde kreischender Mänaden durch die Berge gehetzt?« »Absurd«, sagte Frederick. »Hysterischer Unsinn.« Ich allein wußte, daß es kein hysterischer Unsinn war. Wie weit würde Kore gehen, um die Erwartungen ihrer Anhängerinnen zu erfüllen? War sie überhaupt noch bei Verstand? Keller schien ähnliche Gedanken zu haben. Er stand auf und verließ das Zimmer fast im Laufschritt. Noch schneller kehrte er wieder zurück. 275
»Sie ist fort«, rief er. »Eine der Frauen muß sie herausgelassen haben.« Jim setzte sich sofort in Bewegung und rannte prompt gegen einen Stuhl. Als er sich schwankend aufrichtete, entriß ich ihm die Taschenlampe und leuchtete in sein Gesicht. »Deine Augen«, rief ich entsetzt. »Was ist damit?« »Der Rauch, denke ich«, sagte er. »Laß mich gehen, Sandy. Ich muß Chris finden.« »Kommt nicht in Frage«, rief ich. »Du bist blind wie ein Maulwurf.« Ich klammerte mich mit beiden Händen an ihn. »Dein junger Held scheint außer Gefecht gesetzt zu sein«, ließ sich Frederick vernehmen. »Ich werde nicht umhin können, seine Rolle zu übernehmen, so schlecht sie mir auch steht.« »Du?« rief ich. »Versteh mich nicht falsch. Ich gehe nur, weil mich die Aussicht auf ein möglicherweise jahrtausendealtes Ritual interessiert.« »Das sieht dir ähnlich. Dann geh doch«, rief ich, »und befriedige deine Neugier.« Jim hatte sich wieder auf den Stuhl fallenlassen. Ich setzte mich auf seine Knie, um ihn am Aufstehen zu hindern.
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»Laß mich wenigstens deine Augen auswaschen«, rief ich verzweifelt, »dann kannst du ja wieder gehen.« Während Frederick in die Dunkelheit hinausstakste, half mir Keller, Jim zu bearbeiten. Die Augentropfen schienen ihm gutzutun. Als Keller die Verarztung beendet hatte, krempelte er die Hemdsärmel herunter und knöpfte sie sorgfältig zu. »Ich muß auch gehen«, sagte er. »Ich muß Kore finden. Ja, es ist gefährlich da draußen heute nacht, aber die Gefahr kommt nicht von abstrakten Zeremonien, wie ihr jungen Narren es euch ausmalt. Die Gefahr heute nacht hat viel konkretere Formen.« Jim nahm sich das feuchte Tuch von den Augen und stand auf. »Sie sollten keine Sekunde mehr zögern, und uns sofort die ganze Wahrheit sagen.« Keller war leicht in sich zusammengesunken. »Es geht um Verrat. Ihr Onkel war uns damals ausgeliefert worden – von einem Mann, dem er wie einem Bruder vertraute. Dieser Mann hat ihn verraten, um seine eigene Haut zu retten. Würde ein solcher Mann jetzt zögern, jemanden umzubringen,
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wenn er damit sein schändliches Geheimnis bewahren kann?« »Das ist es also«, sagte Jim. »Wer weiß sonst noch davon?« »Ich und Kore«, Keller lachte schrill, »und der Verräter natürlich.« »Warum haben Sie all diese Jahre hindurch geschwiegen?« Keller lachte bitter auf, ohne zu antworten. »Jim, warum stellst du nicht die entscheidende Frage«, mischte ich mich dazwischen. »Vor was fürchtest du dich?« Jim achtete nicht auf mich. »Sie haben mit dem Verräter einen Pakt geschlossen, sein Geheimnis zu bewahren«, sagte er zu Keller. »Und Sie kamen hierher, großer Gott, Sie kamen hierher, um den Fund meines Onkels vor demjenigen zu beschützen, der ihn verraten hatte. Ist es so?« Keller nickte. »Wenigstens das konnte ich noch für ihn tun.« »Ich verstehe«, sagte Jim. »Und in diesem Jahr, als es so aussah, als ob das Geheimnis preisgegeben werden sollte, haben Sie versucht, die Arbeiten zu verhindern. Die Steinlawine von damals war kein Zufall. Sie wollten Sandy außer Aktion setzen. Sie haben
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die Amphore mit der Falle ins Wasser versenkt -« »Nein!« Kellers Augen weiteten sich. »Für was halten Sie mich? Ich tue einem jungen Mädchen nichts zuleide. War ich nicht derjenige, der sie gerettet hat? Sie hätte im Wasser umkommen können, wenn ich nicht -« »Sie hatten nicht vor, sie zu töten, so viel halte ich Ihnen zugute. Sie wollten sie nur-« »Hör auf, Jim«, rief ich. »Ich weiß, wer der Verräter ist. Es muß Frederick gewesen sein. Herr Keller, gestern nachmittag hat hier jemand auf Sie geschossen. War das -« »Nein, aber nein.« Keller blickte mit seltsamem Glanz in den Augen zu Jim. »So ein Narr bin ich nicht. Ich habe Vorsichtsmaßnahmen getroffen. Ein Testament, das nach meinem Tod zu öffnen ist. Der Verräter hat die triftigsten Gründe, mich am Leben zu erhalten.« »Aber jetzt«, schrie Jim, »jetzt hat sich die Situation geändert, begreifen Sie das doch! Er wird jemanden umbringen- Sie, Kore, Sandy – ich weiß nicht wen.« »Sollen sie sich doch gegenseitig umbringen.« Keller hatte sich plötzlich ganz nach innen gekehrt. »Ja, gegenseitig . . .«
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»Du wirst nichts mehr aus ihm herauskriegen«, sagte ich zu Jim. »Warum stehen wir noch hier herum? Wir müssen ihn aufhalten.« Noch ehe Jim antworten konnte, zerriß ein schriller Schrei die Stille. Er war aus dem Korridor gekommen. »Das ist Kore«, stieß ich hervor. »Schnell, Jim.« Der Schrei hatte Keller aus seiner Apathie gerissen. Er sprang auf und rannte, Kores Namen rufend, aus dem Zimmer. Jim rannte ihm nach, als ein weiterer, schwächerer Schrei ertönte. Noch im Hinausrennen befahl mir Jim, mich nicht von der Stelle zu rühren, aber es war mir unmöglich, mich passiv zu verhalten, während draußen derartig schrille Schreie ausgestoßen wurden. Das Ergebnis wäre das gleiche gewesen, ob drinnen oder draußen. Vielleicht war es so ein bißchen leichter für sie, das war alles. Aber ich hatte mit dieser Art von Gefahr nicht im mindesten gerechnet. Nicht hier, in der Sicherheit des Hauses. Als sie mich umringten, war ich schon verloren. Ich konnte gerade noch einen kleinen Schrei ausstoßen, der jedoch sofort erstickt wurde. Hände preßten sich mir auf den Mund, harte, ab280
gearbeitete Hände. Dunkle Körper drängten sich fast lautlos um mich. Noch mehr Hände und Arme griffen zu und zwangen die meinen auf den Rücken. Eine Hand stieß etwas unter meine Nase. Die scharfen Dünste benebelten mich. Ich stürzte in bodenlose Dunkelheit und in die gierigen Arme der Frauen von Zoa. Als ich erwachte, war ich allein. Ich wußte nicht, ob es Wirklichkeit war oder ob ich schon wieder träumte. Der Kopf tat mir weh, und mir war schlecht. Ich saß auf dem Boden. Harte Steinchen drückten mir in die Kehrseite. Den physischen Empfindungen nach zu urteilen mußte ich wach sein. Als ich aber einen Versuch machte, mich zu bewegen, resignierte ich. Es dauerte eine Weile, bis ich herausgefunden hatte, daß ich an einen Baum gebunden war. Auch meine Füße waren zusammengebunden. Die Schnüre waren weich. Als ich daran zog, empfand ich keinen Schmerz, lediglich den Widerstand der Fesseln. Langsam klärte sich mein Bewußtsein. Ich saß im tiefen Schatten eines Baumes. In einiger Entfernung, mitten auf einem weiten Platz, brannte ein Feuer. Der Himmel darüber schimmerte gespenstisch in unnatürli281
chem Rot. Niedrige, unebene Steinsimse umrundeten eine Fläche von etwa einem Ar. Die abgetragene, steingepflasterte Oberfläche kannte ich. Es war der Ort, an dem ich in der vorherigen Nacht getanzt hatte. Jim hatte also recht gehabt. Und Kore hatte mich tatsächlich für ihr Mondscheindrama auserwählt. Sogar der Baum war da. Bäume und ihre Nachahmungen von Menschenhand, Säulen und Pfeiler, waren im alten Kreta Heiligtümer der Göttin. Die Minoer opferten Stiere und bespritzten mit ihrem Blut die Säulen und Pfeiler. Ich blickte mich in dem kleinen Amphitheater um. Keine Stiere. Keine Opfertiere außer dem einen – mir selbst. Ich versuchte die Ruhe zu bewahren. Aber die drohende Stille ängstigte mich mehr als alles andere. Wo waren die Mänaden? Streiften sie über die Hügel auf der Suche nach einem weiteren Opfer? Im frühen Altertum hatte diese Jagd ihren Höhepunkt im diaspomoi gefunden, dem Augenblick, als das junge männliche Opfer, als Verkörperung eines Gottes, gefangen war. Es ist erstaunlich, wie klug man wird, wenn man einer extremen Situation ausgesetzt ist. Ich wollte diese Dinge gar nicht wissen, 282
sie drängten sich mir aus früheren Lektionen in diesem Augenblick geradezu auf. Der orphische Ritus, die eleusischen Mysterien, oder die Geheiligte Hochzeit . . . Ich überlegte, ob Kore diese Kleinigkeit mit in ihren Plan einbezogen hatte. War es das, was die Frauen suchten, einen Gatten für die Göttin, anstatt eines Opfers? Ich redete mir ein, daß Kore ganz sicher nicht die dunklen Riten bis zu ihrem blutigen Ende treiben würde. Vielleicht eine Ziege oder ein geschlachtetes Huhn, ein wilder Tanz und Mengen von Wein . . . Ich mußte jedoch auch daran denken, wie leicht es war, in Ekstase zu geraten, und wie hilflos ein einzelner gegenüber einer außer sich geratenen Menschenmenge sein konnte. Ein Netz von Blitzen erhellte den Himmel. Ich duckte mich unter dem Baum zusammen. Ich wußte, was diese Zeichen bedeuteten. Heftige elektrische Stürme in der Atmosphäre hatten die vorangegangenen Vulkanausbrüche begleitet, und der rote Schein am Nachthimmel rührte von glühenden Lavamassen her. Ich zerrte an meinen Fesseln. Ich mußte etwas tun, sonst würde ich wahnsinnig werden. Wieder zuckten Blitze wie zu einem Netz verflochten über den 283
Himmel. Ein ohrenbetäubender Lärm folgte. Es war Donner oder möglicherweise ein neuer Ausbruch. Ich wußte es nicht, ich wußte überhaupt nichts mehr. Die ganze Welt schien verrückt zu spielen. Ich hörte sie nicht kommen. Es gab keine Musik und keinen wilden Gesang. Nicht einmal eine Prozession. Sie kamen in kleinen Gruppen, zwei oder drei auf einmal. Eine Gruppe war etwas größer. In ihrer Mitte trottete, den Körper mit Seilen umwunden, Jim. Die Frauen schubsten ihn vorwärts und stießen ihn ein paar Schritte neben mir unsanft zu Boden. Dann fesselten sie ihn an den Füßen. So saßen wir uns gegenüber und starrten uns eine Weile schweigend an. »Wie geht es dir?« fragte Jim endlich. »Haben sie dir etwas angetan?« »Noch nicht«, erwiderte ich. »Wie haben sie dich gefangen?« »Sie haben vor der Villa auf mich gelauert-« Einige der Frauen stapelten Steine rechts neben dem Feuer auf. Das Gebilde wurde ein langes, niedriges Podest – so lang wie ein ausgestreckter Menschenkörper. Jim wollte gerade etwas sagen. Ich unterbrach ihn. »Da! Sieh mal!« 284
Die Hohepriesterin erschien. Die Flammen loderten hell auf. Sie war deutlich zu erkennen. Sie machte keinen besonders glücklichen Eindruck. Das goldene Diadem auf ihrem schwarzen Haar saß schief, und ihr Gewand war zerdrückt. Ich hatte das Gefühl, daß sie nur zwangsweise hier anwesend war. Ich erkannte eine der Frauen, die sie eskortierten. Es war Helena, die Frau von Angelos, dem Hotelinhaber. Als Kore uns erblickte, stieß sie ihre Ehrenbegleiterinnen zur Seite und eilte auf uns zu. Keuchend ließ sie sich neben uns nieder. »Sie sind verrückt geworden. Es war nur ein Spiel, ein kleines Spiel, aber etwas ist falsch gelaufen. Ich habe die Kontrolle über sie verloren . . .« »Denken sie an Opfer?« Die Frage stand wie ein Todesurteil in der Luft. Kore blickte uns an. Warmes Mitgefühl erhellte ihr Gesicht. »Oh, ihr armen Kinder – ihr habt doch nicht etwa geglaubt, daß . .. Nein, nein, ihr seid nicht in Lebensgefahr. Sie wollen nur – die Geheiligte Hochzeit...« Ich blickte wie betäubt auf das Steingebilde, das die Frauen errichtet hatten. Eben breiteten sie bestickte Tücher darüber und
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schmückten das altarähnliche Podest mit Zweigen und wilden Blumen. »Sie sind verrückt«, krächzte Jim. »Wenn sie denken, daß ich da drüben – vor den Augen von vierzig . . . auf keinen Fall!« »Würdest du eher sterben?« erkundigte ich mich zuckersüß, »Diese Hochzeit betrifft immerhin auch mich. Aber ich würde lieber das als . . .« »Oh, diese Frauen«, stöhnte Jim. »Das ist doch nicht das Problem! Und du weißt das verdammt gut.« »Wir könnten ja nur so tun als ob«, schlug ich vor. Jetzt, wo die unmittelbare Gefahr vorüber schien, wich die Spannung von mir, und ich mußte mir einfach ein bißchen Luft machen. »Du kannst es vielleicht, aber ich nicht«, rief Jim. »Im Grunde kann ich es auch nicht«, räumte ich mit einem verstohlenen Blick auf die eifrig hantierenden Frauen ein. »Warum macht ihr so viel Geschrei um so eine kleine Sache«, sagte Kore. »Ihr liebt euch doch, und ihr seid jung und kräftig. Warum könnt ihr nicht -« »Kore!« rief ich mit Pathos.
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»Ich habe ein Messer in der Tasche«, flüsterte Jim. »Schneiden Sie mir die Fesseln auf, rasch.« Kore gehorchte. Sie spreizte ihre Gewänder aus und fummelte darunter in Jims Hosentasche nach dem Messer. Danach machte sie sich damit an den Schnüren zu schaffen. Die Prozedur schien eine Ewigkeit zu dauern. »Schneller«, drängte Jim. »Ich habe das Gefühl, daß . . .« Ich hatte es auch – das zitternde, bebende Rumoren in der Magengrube. Die Frauen hatten gehofft, die Götter milde zu stimmen, doch sie hatten es geschafft, den größten von allen zu wecken. Der Boden begann zu schwanken. Dann fing der Nordhimmel Feuer. Wie eine riesige Säule schoß eine Flamme in die Höhe, begleitet von dem Donnern ausbrechender Gase. Die Frauen stürzten davon. Ich weiß nicht, ob es Aberglaube oder natürliche Angst war, was sie in die Flucht trieb. Einige der zähesten Frauen blieben noch unentschlossen stehen. Helena war eine davon. Ein glühender Klumpen Magma prallte hinter ihr auf den Boden. Sie sah ihn an und starrte dann auf uns. Ihr Blick jagte mir einen eiskalten 287
Schauer über den Rücken. Ich wußte, was in ihrem Kopf vorging: Wurden die Götter zornig, weil das Opfer auf sich warten ließ oder gar ausblieb? Kore kroch auf dem Boden herum, auf der Suche nach dem Messer, das sie vor Schreck hatte fallen lassen. Jim versuchte sich selbst aus den angeritzten Schnüren zu befreien. Helena näherte sich uns drohend und mit starrem Blick. Glühende Steine flogen durch die Luft. Dann erhob sich aus dem Chaos heraus plötzlich eine laute Männerstimme. »Polizei«, keuchte Kore. »Es ist die Polizei.« »Unmöglich«, schrie Jim zurück. Er kämpfte noch immer mit seinen Fesseln. »Es gibt hier keine – Kore!« Aber Kore war verschwunden. Ich hatte sie noch nie so schnell laufen sehen. Auch die übrigen Frauen stürmten davon. Im Handumdrehen waren wir allein auf der Lichtung. Und um uns herum regnete es Felsbrocken und rotglühende Magmastücke aus dem gepeinigten Inneren des Vulkans. Ein Stein schlug ein paar Meter neben mir ein. Glühende Splitter stoben auf. Einer davon traf mich am Bein. Ich schrie auf. Ich biß mir vor
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Schmerz auf die Lippen und preßte die Augen zu. Als ich sie wieder öffnete, war es wie ein Erwachen aus einem bösen Traum. Auf der Lichtung war es still und friedlich. Sogar die Sterne schienen durch die noch treibenden Staubwolken hindurch. Dann sah ich Jim. Es war ihm gelungen, sich aus seinen Fesseln zu befreien. Seine Gelenke waren zerschunden. Die Hände lagen lasch und leer auf dem staubbedeckten Boden. Er selbst lag mit dem Gesicht nach unten ausgestreckt da. Ich suchte nach dem Felsstück, aber es gab keines, weil er nicht von einem Felsbrocken getroffen worden war. Langsam wanderten meine Augen von den Stiefeln des Mannes, der neben mir stand, aufwärts, bis sie sein Gesicht mit dem prachtvollen, nach oben gedrehten Schnurrbart erreichten. »Sie waren es also«, sagte ich in ungläubigem Erstaunen. Sir Christopher steckte sein Gewehr in den Gürtel. »Demnach hat Keller also sein Schweigen gebrochen. Wie gut, daß Sie mich das wissen lassen.« Sir Christopher
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ging um mich herum und zerrte an den Schnüren, die mich am Baum festhielten. »Es ist Ihre eigene Schuld«, sagte er dann. »Ich habe oft genug versucht, Sie zum Verlassen von Thera zu bewegen. Ohne Sie hätte Frederick die Unterwassersuche niemals durchführen können.« »Sie waren also derjenige, der die ganzen Unfälle inszenierte«, murmelte ich, noch immer von der Erkenntnis wie vom Donner gerührt. »Die Steinlawine, die Falle an der Amphore, sogar der Schuß gestern . . ., er hat mir gegolten, nicht Keller.« »Sitzen Sie still«, zischte Sir Christopher. Ich wollte gerade fragen, warum er sich die Mühe machte, mich zu befreien. Es wäre einfacher für ihn gewesen, einen dieser praktischen Magmaklumpen auf meinen Kopf fallen zu lassen, um das unvermeidliche Ende herbeizuführen. Aber dann wurde mir bewußt, daß er, wie die Frauen, ein Interesse daran hatte, jegliche Spuren der hier vorgegangenen Aktivitäten zu verwischen. Wenn man mich unter diesen Umständen hier tot vorfand, würde das ausgiebige Nachforschungen nach sich ziehen. Aber niemand würde Verdacht schöpfen, wenn ich in einiger Entfernung von hier, un290
gefesselt und von einer Steinlawine zerschmettert, gefunden werden würde. Keller würde den Mund halten, um Kore zu schützen. Meine Gedanken rasten. Was war mit Jim? War er noch am Leben? Wenn ja, hatte er den Mann erkannt, der ihn niedergeschlagen hatte? Solange Sir Christopher glaubte, daß Jim nichts von dem Verrat wußte, hatte er eine Chance, am Leben zu bleiben. Ich merkte kaum, daß sich meine Fesseln lockerten. Dann sah ich etwas, das mich augenblicklich mein Dilemma vergessen ließ. Das Feuer war ausgebrannt, deshalb war es nur ein dunkler Schatten, den ich hinter einem der alten Simse des Amphitheaters zu erblicken glaubte, nicht mehr, aber immerhin eine Bewegung. Ich hatte nur ein paar Sekunden Zeit, um Sir Christopher von dem herannahenden Retter, wenn es ein Retter war, abzulenken. Aber was sollte ich tun? Mein Körper war wie gelähmt, was ich erst jetzt merkte, nachdem die Fesseln von mir abgefallen waren. Ich war steif wie ein Brett, und meine Hände waren taub. Als ich versuchte, aufzustehen, fiel ich zur Seite wie die Statue einer zusammengekauerten Frau. 291
Ein Mann sprang über den Sims und landete mit angewinkelten Knien auf dem Boden des Amphitheaters. Er hatte ein Gewehr bei sich, eins von Kellers Gewehren. Aber es war nicht Keller. Es war mein Vater. »Keine Bewegung, Chris«, rief er, das Gewehr an die Schulter hebend. »Laß dein Gewehr fallen.« »Du wagst es nicht, zu schießen.« Sir Christophers Stimme ertönte eineinhalb Meter oberhalb meines Kopfes. »Du warst noch nie ein guter Schütze, Frederick. Du riskierst es, deine Tochter zu treffen.« Ich hämmerte mit den Händen auf den Boden ein, um wieder Leben in sie zu bringen. Fredericks verletzter rechter Arm fiel mir ein. Wenn er nun tatsächlich sein Ziel verfehlte? Es gelang mir, mich zur Seite zu rollen und mich auf einen Ellbogen zu stützen. »Ich werde das Mädchen erschießen«, rief Sir Christopher. »Mit einer Kugel aus dem Gewehr, das unter deinem Namen registriert ist? Na, tu’s doch! Liefere den Beweis.« Sir Christopher schoß, aber nicht auf mich. Er schoß auf Frederick und traf ihn. Frederick schwankte. Sein Gewehr fiel zu Boden, aber er lief weiter. Er kam auf uns zu. Sir 292
Christopher schoß ein zweites Mal. Diesmal war Frederick so nahe, daß ich sah, wie das Blut aus den Wunden rann. Mein eigenes Blut schien zu gefrieren. Es war schreckerregend, wie er, scheinbar unberührt von den Wunden, weiterging. Wie ein Vampir aus einer Horrorszene. Sir Christophers dritter Schuß war ein glatter Fehlschuß. Der vierte traf den Boden, da ich ihm mit meiner Schulter einen Stoß in die Knie versetzt hatte. Er stolperte nach vorn, verlor das Gleichgewicht, und Frederick fiel auf ihn drauf. Die beiden Männer wälzten sich auf dem Boden. Es war der erste Kampf auf Leben und Tod, den ich je gesehen hatte. Mir wurde übel dabei. Ich sah das Gewehr liegen, aber ich hätte ohnehin nicht schießen können. Ganz abgesehen von menschlichen Beweggründen hätte ich möglicherweise den falschen Mann getroffen. Ich suchte tastend nach einem Felsen, der mir groß genug erschien, Sir Christopher damit außer Gefecht zu setzen. In diesem Augenblick kam Jim zu sich. Er erhob sich wie Lazarus und warf sich ohne zu zögern in den Kampf. Es gelang ihm ohne Schwierigkeiten, die beiden Kämpfer auseinanderzubringen. Frederick lag flach 293
auf dem Boden, Sir Christopher kniete auf ihm und schlug auf sein Gesicht ein. Jim zog seinen ehemaligen Chef auf die Füße und verpaßte ihm den schönsten rechtshändigen Kinnhaken, den ich je gesehen hatte. Ich hatte mir inzwischen kriechenderweise meinen Weg zu Frederick gebahnt. Seine rechte Hand lag total verdreht inmitten einer Blutlache auf seinem Brustkorb. Die Finger waren zu ihrer doppelten Größe angeschwollen. Ich glaube nicht, daß er damit den Abzug am Gewehr hätte erreichen, geschweige denn bedienen können. Er rührte sich nicht und öffnete nicht die Augen, nicht einmal, als meine Tränen hinunter auf sein Gesicht tropften. Am nächsten Tag trafen Rotkreuzhelfer ein. Der Vulkan war wieder verstummt. Es hatte Verletzte und beträchtliche Sachschäden gegeben. Frederick wurde mit einem Hubschrauber ins nächste Krankenhaus gebracht. Seit dem Morgengrauen war er bewußtlos, aber er war nach dem nächtlichen Erlebnis noch einmal zu sich gekommen, gerade lange genug, um ein paar seiner typischen Bemerkungen anzubringen.
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»Es gibt keinen Grund, weshalb ich jetzt weichlich werden sollte«, hatte er mit schwacher Stimme gesagt, als ich ihm danken wollte. »Sie haben unser Leben gerettet«, fiel Jim ein, weil mir selbst die Stimme versagte. »Und dabei Ihr eigenes riskiert. Es tut mir leid, aber ich muß es sagen, ob Sie es wollen oder nicht.« Fredericks Lippen kräuselten sich. »Zeitverschwendung«, krächzte er. »Aussage Chris, Beweise, Namen der Männer, die beweisen können, wo ich . . .« »Das ist nicht mehr nötig«, sagte Jim schnell. »Bleiben Sie ruhig, Sir. Keller wird seine Aussage machen.« »Gut.« Frederick lächelte schwach. Dann wurde er wieder bewußtlos. Kore betätschelte seine Stirn. »Er wird es überstehen«, sagte sie. Frederick hatte einen Einschuß in der Brust und einen in der rechten Hüfte. Kore hatte Keller als ausgezeichnete KrankenSchwester bei der Erste-Hilfe-Behandlung assistiert. Sie war verändert. Sie spielte jetzt nicht mehr die Rolle der Göttin, sondern die des barmherzigen Engels. Sie war fast ungeschminkt und in einem kleinen ein295
fachen Diorkleid erschienen. Ein paar Brillanten steckten noch an ihren Fingern, aber die goldenen Schlangenarmreifen waren verschwunden. Sie mußte von ihrem Gewissen geplagt worden sein, denn letzten Endes war es ihr und Keller zu verdanken, daß Frederick rechtzeitig behandelt wurde. Keller hatte über eine Stunde lang seinen Körper verarztet. Während er mit geschickten Händen die Wunden reinigte und verband, war es, als ob sich ein dreißig Jahre lang aufgestautes Bedürfnis zu sprechen in ihm freimachte. Er sprach von Vincent Durkheim, und wie der Mann, den und dessen Arbeit er zutiefst bewundert hatte, durch den abscheulichen Verrat eines Freundes in seine Hände gefallen war. In den letzten wenigen Stunden seines Lebens hatte Vincent Durkheim Keller die Geschichte seiner Entdeckung auf Thera anvertraut. Sein Tod hatte Keller zutiefst erschüttert. Schon damals hatte er angefangen, diesen grausamen Zwang, Befehlen zu gehorchen, in Frage zu stellen. So war Keller also nach Thera gekommen und hatte jahrelang hier ausgeharrt. Die Schuld hatte ihn langsam, aber stetig an den Abgrund des Wahnsinns getrieben. Als 296
er von Fredericks Anwesenheit auf der Insel erfuhr, hatte er es als ein Omen gedeutet. Und Sir Christopher hatte alle Gründe gehabt, ein Zusammentreffen der beiden zu verhindern. Hätte Keller sein Geheimnis nicht mehr länger ertragen können und sich geoffenbart, hätte Frederick fraglos reagiert. Er wäre nur allzu entzückt gewesen, den guten Ruf seines ›Freundes‹ in aller Öffentlichkeit zunichte zu machen. Und er mochte noch ein edleres Motiv gehabt haben. Immerhin hatte Durkheim die Dolchklinge, die er vom Meeresboden mitgebracht hatte, nicht Sir Christopher, sondern Frederick anvertraut. Jim und ich fügten dies alles aus den Dingen, die Keller und Frederick gesagt hatten, zusammen. Wir standen an einem Fenster der Villa und sahen hinaus. »Die Erde tobt nicht mehr«, sagte ich. »Wie ist es nur möglich, daß die Welt wieder so friedlich aussieht nach dieser letzten Nacht!« Wir standen hoch über den Klippen und konnten weit entlang der felsigen Küste und bis tief in das Innere der Insel blicken. Vulkanischer Staub hing noch immer in der Luft. Die Sonnenuntergänge um Thera würden noch in den nächsten Wochen ein spek297
takuläres Ereignis sein. Es war eine kleine, unbedeutende Eruption gewesen, nichts, was in Zusammenhang mit dem großen Ausbruch von fünfzehnhundert vor Christus gebracht werden konnte. »Leg dich ein wenig hin«, sagte Jim. »Du mußt ja halbtot vor Erschöpfung sein.« »Nein, ich werde mit dir ins Dorf gehen.« »Woher weißt du, daß ich ins Dorf gehen wollte?« »Ich weiß es eben. Laß uns gemeinsam gehen.« Das war vor fünf Jahren. Jim und ich haben inzwischen geheiratet, und wir arbeiten seither zusammen. Wenn ich mich heute an die Ereignisse auf Thera erinnere, kann ich kaum glauben, daß sie wirklich passiert sind. Was mir jedoch am wundersamsten erscheint, sind auch heute noch meine damaligen Träume und Halluzinationen. Sicherlich könnte alles rationell erklärt werden, denn letzten Endes sind auch die alten Mythen nichts anderes als Ausdruck menschlicher Angst, Schuld und menschlichen Hasses. Wer sind wir denn wirklich? Chemische Verbindungen, die ein paar Jahre lang mechanische Handlungen vollziehen und daraufhin wieder in ihre ursprünglichen Komponenten zerfallen? Gibt es immer wieder unverb298
rauchte neue Seelen, die aus einem unerschöpflichen Vorrat gezogen werden? Oder ist es immer wieder dieselbe Seele, unsterblich und unendlich, die immer wieder neu ausgestattet und von neuem benutzt wird, in einer endlosen Kette von Leben? Dieser Gedanke hat etwas Erschreckendes an sich, und doch übt er eine große Faszination aus. Es wäre gut, glauben zu können, daß Vincent Durkheim und all die anderen jungen Menschen, die vor ihrer Zeit sterben mußten, noch einmal eine Chance zum Leben bekämen. Was mich angeht, ich würde diese Auffassung aus tiefstem Innern bejahen. Ja, ich würde wieder leben wollen, immer wieder von neuem. Und neben allen anderen Dingen, die mir das Leben lebenswert erscheinen lassen, würde es für mich immer wieder Jim geben.
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