Andreas Raabe
Die Geister, die ich rief … Version: v1.0 Schneller! Wo ist sie? Ist sie noch hinter mir? Ka...
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Andreas Raabe
Die Geister, die ich rief … Version: v1.0 Schneller! Wo ist sie? Ist sie noch hinter mir? Kann sie nicht hören. Laufe weiter. Warum muss es nur so dunkel sein. Wo sind die Sterne, wo der Mond? Über mir ist nichts, außer schwärzeste Nacht. Meine Augen haben sich halbwegs an das Dunkel gewöhnt. Dennoch sehe ich kaum, wohin ich laufe. Um mich herum befindet sich nichts als Bäume und Büsche. Tiefschwarze Schatten in der Dunkelheit. Äste schlagen gegen meine Arme, Zweige kratzen über mein Gesicht. Ich stolpere über Wurzeln und Steine, mehr als einmal stürze ich. Doch ich wage nicht, liegen zu bleiben. Ich muss weiter. Ich muss schneller sein. Aber meine Lunge brennt, mein Herz schmerzt. Die Füße halb taub, die Beine so schwer. Nicht stehen bleiben, nicht warten, keine Zeit um Luft zu holen.
Weiter, weiter, weiter … Sie ist hinter mir. Sie wird mich holen. Sie wird mich … Nicht dran denken, schneller laufen. Die Schmerzen ignorieren, die Erschöpfung. Die Furcht …
* Augenblicke zuvor Ich stehe vor dem Steinkreis inmitten des Waldes. Finsternis hat sich über mich gesenkt, die Nacht ist gekommen. Seit Stunden schon umschreite ich die stehenden Steine und spreche die uralten Beschwörungsformeln. Meine Muskeln schmerzen, die Stimme ist heiser, doch ich lasse nicht nach. Nicht jetzt, wo ich meinem Ziel so nahe bin. Fackeln erleuchten die kleine Lichtung und tauchen mich in ihren Schein. Die Steine scheinen im flackernden Licht zu tanzen. Ihre Schatten zucken, wiegen sich zur Melodie meiner Worte. Die Steine sind von einer Macht erfüllt, die älter ist als dieser Wald und finsterer als die Nacht. Die Dorfbewohner fürchten diesen Ort und meiden ihn. Denn bei den Steinen scheint immerwährender Herbst zu herrschen, kaum eine Pflanze wächst in der Nähe. Und die wenigen Gräser, die in ihrer Nähe gedeihen, wirken seltsam verwachsen und unfertig, so als gäbe es hier eine Kraft, die jegliches Leben unterdrückt. Doch ich fürchte mich nicht und werde tun, was nötig ist. Dennoch bin ich froh, dass ich die rituellen Opferungen hinter mir habe. Ich habe die verzweifelten Klagelaute der verendenden Tiere noch immer im Ohr. Aber ihr Blut war nötig, um die finsteren Mächte milde zu stimmen und das Tor zur Hölle zu öffnen. Und nun ist dieser Augenblick zum Greifen nahe.
Nur die Bücher haben mich so weit gebracht. Mein Großvater hat mich stets vor ihnen gewarnt. Wenn ich in den Sommerferien bei ihm zu Besuch war, hat er mir immer verboten, seine große Bibliothek zu betreten. Er hat sie sorgsam verschlossen und mich von der Tür fortgejagt, wenn ich durchs Schlüsselloch einen Blick ins Innere werfen wollte. »Diese Bücher haben große Macht«, sagte er einmal zu mir. »Und nur zu leicht können sie einen verführen. Du bist nicht stark genug.« Er selbst war offenbar stark genug, denn er konnte mit seinen magischen Büchern arbeiten, ohne in ihren Bann zu geraten. Aber das habe ich erst später erfahren. Vor knapp einem halben Jahr, als er gestorben ist, und mir sein Haus und einen Großteil seines nicht unerheblichen Vermögens vermacht hat. Natürlich habe ich mich sofort in der Bibliothek umgesehen. »Lies mich! Lies mich!«, raunten mir die Bücher zu. Sie waren erfüllt von Magie, von bösartigen Mächten. Und ich konnte nicht widerstehen, ich musste sie lesen und tiefer in ihre Geheimnisse eindringen. Nur so erfuhr ich, dass der Steinkreis ein Tor zu einer anderen Welt ist, zum Reich der Schmerzen, wie die Bücher es nannten. Zur Hölle, wie manch anderer sagen würde. Und in den Büchern waren alle Beschwörungen verzeichnet, die notig waren, um dieses Tor zu öffnen und einen Dämon herbeizurufen, der einem danach dienen musste. Ich weiß nicht warum, aber ich musste es ausprobieren. Vielleicht war ich einfach neugierig. Ich konnte den Verlockungen der Bücher nicht widerstehen. Und nur darum bin ich jetzt seit Stunden hier. Ich muss verrückt sein! Aber nein, nein, etwas tut sich. Ich spüre es. Wind kommt auf und fährt zwischen die Fackeln. Einige verlöschen zischend, die restlichen Flammen zittern, als hätte Furcht sie ergriffen.
Ich bleibe stehen und murmele ein letztes Mal die Beschwörungsformel. Dann blicke ich in die Mitte des Steinkreises. Etwas leuchtet dort, zunächst nur schwach, doch es wird schnell heller und größer. Ein grüner Schein, der sich ausdehnt und sein fahles Licht über die Umgebung wirft. Mein Herz rast, ich atme schnell. Meine Hände sind zu Fäusten geballt, so fest, dass die Fingernägel blutige Male in den Handflächen hinterlassen. Die Bücher hatten Recht! Die Bücher hatten verdammt noch mal Recht! Ich spüre ein Kribbeln auf der Haut, meine Haare stellen sich auf. Kälte überkommt mich, sie scheint direkt von dem Licht zu kommen. Denn in der Hölle ist es nicht heiß. Es ist eisig kalt, und ihr Frost lähmt jedes Leben und läßt es erstarren. Plötzlich liegt ein Raunen in der Luft. Tausend Stimmen flüstern, unterhalten sich zischelnd. Sie murmeln in uralten, nie gehörten Sprachen. Sie kichern und keuchen, einige schreien vor Schmerzen. Das Tor öffnet sich! Inmitten des gespenstischen Lichts erscheint ein Schatten, groß und dürr und dunkel. Dann erlischt der grüne Schein, und auch die Stimmen verschwinden so plötzlich, wie sie gekommen sind. Aber die Kälte bleibt. Und auch das Wesen. Es steht inmitten der Steine, von den wenigen Fackeln nur ungenügend beleuchtet. Ich starre es gebannt an und kann mich nicht rühren. Ich bin gleichermaßen fasziniert und abgestoßen vom Anblick dieses Wesens. Es wirkt wie die Karikatur einer Frau. Da sie keinerlei Kleidung über ihrer lederartigen Haut trägt, ist das gut zu erkennen. Ihr Leib wirkt seltsam kantig und spitz. Die Arme und Beine sind viel zu lang und dünn, die Füße und Hände zu groß.
Dann bewegt sie sich plötzlich! Ihr Kopf ruckt herum, und sie blickt mich an. Bis tief hinab in die Abgründe meiner Seele schaut sie mir mit ihren glühenden Augen. Ich beginne zu zittern. Sie öffnet den Mund, entblößt ihre spitzen Zähne und stößt einige Hackende, zischelnde Laute aus. Kalter Schweiß bricht mir aus, doch ich kann mich noch immer nicht rühren. Langsam geht sie auf mich zu. Ihre Bewegungen sind kantig, abgehackt, so zackig wie die Schritte eines Insekts. Dabei gibt sie schnarrende Geräusche von sich, die in den Ohren schmerzen. Mein Gott! Wie fürchterlich sie ist! Ich möchte mich zu Boden werfen und wimmern wie ein verängstigtes Kind. Aber das tue ich nicht. Stattdessen weiche ich vor ihr zurück. Langsam, Schritt für Schritt. Meine Beine zittern so stark, dass ich Mühe habe, dabei nicht zu stürzen. Plötzlich stößt sie einen schrillen Schrei aus und stürmt mit gebleckten Zähnen auf mich zu. Ich werfe mich herum und laufe los. Erfüllt von kaltem Entsetzen. Gejagt von ihr …
* Ich pralle mit der linken Seite gegen etwas, werde vom eigenen Schwung herumgerissen und schlage hart auf dem Boden auf.
Entsetzt blicke ich mich um. War sie es? Nein, nein, das ist nur ein Baum, gegen den ich gelaufen bin. Nichts weiter. Doch mein Herz will sich nicht beruhigen, es pumpt flüssiges Feuer durch meine Adern. Ich halte die Luft an, versuche ganz still zu liegen. Zu lauschen. Ist sie schon in der Nähe? Doch da ist nichts. Nur mein wummerndes Herz, sonst nichts. Oder? Was war das? War da nicht ein Rascheln, ein Schaben? Das Geräusch brechender Äste? Mit einem Satz bin ich wieder auf den Beinen und blicke mich um. Doch nichts zu sehen außer den Schattenumrissen der Bäume. Da! Da war es wieder! Etwas kommt näher. Sie! Von wo? Ich kann es nicht genau erkennen. Es scheint von überall zu kommen. Trockenes Geäst knirscht und bricht unter schweren Schritten. Etwas Großes, Starkes durcheilt den Wald. Ich beginne wieder zu laufen. Längst habe ich jegliehe Orientierung verloren. Laufe ich zum Waldrand oder immer tiefer zwischen die Bäume? Renne ich ihr womöglich direkt in ihre Arme? In ihre tödliche Umarmung? Schweiß brennt mir in den Augen. Ich versuche, ihn weg zu blinzeln, doch ohne Erfolg. Blut rinnt von meiner Schläfe. Wann ist das passiert? Wann habe ich mir diese Wunde geholt? Ich weiß es nicht genau. Kann sie mein Blut riechen? Folgt sie meiner Fährte, meinem unverkennbaren Geruch? Kann sie meine Angst spüren?
Ich würde schreien, hätte ich noch genug Luft dazu. So bleibt mir nur ein leises Wimmern, während ich mich durch verwachsene Brombeerbüsche kämpfe. Ihre Dornenranken legen sich wie Schlingen um meine Beine und halten sie fest. Ich zerre und rupfe daran und zersteche mir die Hände. Doch die Ranken geben nur langsam nach. In Panik beginne ich an ihnen zu reißen, doch ich habe mich zu sehr in ihnen verfangen. Ich verliere den Halt und falle schon wieder – diesmal in ein Bett aus Dornen. Tränen der Verzweiflung steigen mir in die Augen. Ich fühle mich so unsäglich hilflos und ausgeliefert. Leichte Beute. Nicht weit entfernt kracht es im Unterholz. Mein Herz setzt kurz aus. Sie ist da! Ich kann es spüren. Ich trete und strampele, versuche mit beiden Händen, die Ranken zu zerreißen. Endlich gelingt es mir, ein Bein zu befreien. Dann auch noch das andere. Ich komme taumelnd auf die Füße und beginne wieder zu laufen. Da hat sich etwas zwischen den Baumschatten bewegt. Geschmeidig, kraftvoll … Hungrig! Ich habe sie gesehen, kurz bevor ich mich umgewandt habe und weitergelaufen bin. So nah ist sie mir schon. Ich glaube, ihren Atem zu hören, ihn sogar zu riechen. Ja, ja, ich spüre ihn als warmen Hauch in meinem Nacken. Schneller! Denk nicht an ihre Zähne, nicht an ihre Klauen! Nicht an den Blick ihrer lidlosen Augen, die so rot glühen, als würde in ihrem kantigen Schädel ein Feuer brennen. Allein der Gedanke daran lässt mich flennen wie ein Kind. Ich kann nichts dagegen tun. Ich will nicht sterben! Halb geblendet durch die eigenen Tränen dränge ich mich an einem Gewirr dicker
Äste vorbei. Hinter mir höre ich sie knurren. Ich schluchze laut und fühle mich so verloren wie nie zuvor. Am liebsten würde ich einfach aufgeben, mich auf den Boden werfen und zusammenrollen. Aber dann entdecke ich plötzlich etwas vor mir. Licht! Es wird heller. Das muss das Dorf sein. Dort werde ich Hilfe finden, dort wird man mir beistehen. Die Leute müssen mich vor dieser Bestie beschützen. Neue Hoffnung erfüllt mich. Noch ist nicht alles verloren. Mit wenigen Schritten lasse ich die letzten Büsche hinter mir und erreiche einen steilen Hang, der zu einer Straße hin abfällt. Ohne nachzudenken laufe ich weiter, verliere aber schon nach wenigen Schritten das Gleichgewicht an der Schräge. Im nächsten Moment rolle ich den Hang hinab. Erst halb auf der Straße kann ich mich abbremsen. Für einen Moment bin ich noch zu benommen, bleibe reglos liegen. Dann komme ich langsam auf die Füße, während ich immerzu den Hang hinauf zum Waldrand blicke. Zeigt sie sich dort? Müsste sie nicht schon längst da sein? Plötzlich flammt Licht auf und hüllt mich ein. Geblendet von dem Licht sehe ich nur ein riesiges Monster direkt auf mich zupreschen. Ich begreife zu spät und erstarre. Bremsen quietschen, das Monstrum gerät ins Schlingern, stellt sich schräg. Ich kann mich noch immer nicht rühren. Ich erkenne einen Wagen, der auf mich zugeschossen kommt. Da lasse ich mich endlich zur Seite fallen.
Der Wagen streift mich trotzdem. Ich schlage auf dem Asphalt auf und verliere für einen Moment die Besinnung. Als ich wieder zu mir komme, blickt jemand von oben auf mich herab. Vermutlich der Fahrer des Wagens. Er sieht besorgt aus. »Wie geht es Ihnen?« fragt er. Verwirrt nicke ich, obwohl das seine Frage wohl kaum beantwortet. »Beinahe hätte ich sie erwischt. Gut, dass Sie gerade noch wegspringen konnten«, fährt er fort. »Es hätte nicht viel gefehlt und Sie wären tot.« Ich nicke wieder, während ich mich langsam aufzurichten versuche. »Warten Sie, warten Sie«, sagt der Mann und greift mir hilfsbereit unter die Arme. »Sind Sie sicher, dass Sie in Ordnung sind? Ich sollte lieber einen Krankenwagen rufen.« »Nein, nein«, wehre ich ab. Meine Stimme klingt so kratzig und rauh, dass ich sie selbst kaum wiedererkenne. »Sicher?« Der Mann wirkt wirklich besorgt. Ich nicke nur. »Was machen Sie überhaupt hier?« Doch ich antworte ihm nicht, sondern frage stattdessen: »Können Sie mich mitnehmen? Bis in den Ort?« »Ja, klar. Aber Sie sollten wirklich zum Arzt.« »Nicht nötig. Bringen Sie mich nur hier weg, ja?« »Gut.« Er zuckt mit den Achseln. Während ich einsteige, blicke ich mich um. Doch ich kann sie nirgends entdecken. Aber sie ist hier. Ich kann sie spüren …
* Während der Fahrt wirft mir der andere immer wieder besorgte Blicke zu. »Sie sehen schlimm aus«, sagt er schließlich. »Ich weiß.« »Was ist passiert?« »Autopanne«, lüge ich, ohne groß nachzudenken. »Ich wollte durch den Wald abkürzen, habe mich aber in der Dunkelheit verlaufen.« »Kann ich mir vorstellen. Ist ‘ne ziemlich finstere Nacht heute.« »Ja.« »Kann ich noch irgendwas für Sie tun?«, bietet er mir an. »Nein.« Ich schüttele den Kopf. »Sind Sie sich da sicher?« »Ja.« »Und ich kann wirklich nichts mehr für Sie tun?«, fragt er noch einmal, als wolle er meine Geduld auf die Probe stellen. »Nein, lassen Sie mich nur da vorne an der Ecke raus.« »Sie sollten zum Arzt gehen.« »Mache ich morgen«, erwidere ich, ohne ihn dabei anzublicken. »Wohnen Sie hier?« Ich nicke. »Ich habe Sie noch nie gesehen. Das ist ein kleiner Ort, aber ich kann mich nicht an Ihr Gesicht erinnern«, meint er, während er mir einen kurzen Blick zuwirft. »Ich bin erst seit knapp einem halben Jahr hier.« »Ah ja, und wo wohnen Sie?« »In dem alten Anwesen am Dorfrand«, antworte ich.
»Das Ringner‐Haus?« »Genau.« »Gekauft?« Hört die Fragerei denn nie auf? »Geerbt«, berichtige ich. »Adalbert Ringner war mein Großvater.« »Aha.« Man sieht ihm an, dass er bereits über die nächste Frage nachdenkt. »Sie können mich hier raus lassen«, sage ich, bevor er dazu kommt. »Wirklich?« Er klingt beinahe enttäuscht. »Ja, bitte«, sage ich, woraufhin er den Wagen zum Stehen bringt. Ich verabschiede mich knapp und mache dann, dass ich davonkomme. Nur wenige hundert Meter trennen mich noch vom Haus meines Großvaters. Ich muss bloß einige Schritte diese Straße entlanggehen, dann die nächste rechts und immer geradeaus den kleinen Hügel hinauf. Das Dorf ist nachts wie tot. Nachdem der Wagen in der Nacht verschwunden ist, ist kein Geräusch mehr zu hören. Als würden alle die Luft anhalten und abwarten – oder als wäre sie schon hier gewesen und hätte alle umgebracht … Ich laufe schneller. Meine Schritte erscheinen mir in der Stille unnatürlich laut. Vielleicht sollte ich schleichen, mich ruhig verhalten, mich irgendwo verbergen und warten bis es Morgen wird. Aber nein … Nein, das kann ich nicht. Ich muss zurück zum Haus, muss in die alte Bibliothek und zu den Büchern dort. Nur dort kann ich Rettung finden, nur die alten Beschwörungen können mir jetzt noch helfen. Ein Kreischen durchbricht die Stille und lässt mich schneller rennen. Auch als ich endlich erkenne, dass es nur zwei Katzen waren, die sich um irgendwas gestritten haben, werde ich nicht langsamer. Da! Da vorne ist schon der Hügel.
Und dort oben thront das alte Haus. Wie ein schlafendes Ungetüm kauert es auf der Hügelkuppe und stemmt sich gegen den Nachthimmel. Uralte, knorrige Bäume umstehen es wie treue Wächter. Der Anblick, so unheimlich er auch sein mag, lässt mich schneller laufen. Die Kinder des Dorfes haben Angst vor dem Haus. Sie glauben, dass die Geister alter Adelsherren dort umgehen und grausige Taten begehen. Sie glauben all die blutigen Schauergeschichten, die man sich seit Urzeiten über das Anwesen erzählt. Die Bewohner sollen dem Teufel gedient und grausame Rituale für ihn vollzogen haben. Ich habe keine Ahnung, wie viel davon Wahrheit und was bloß Aberglaube ist. Ich kannte nur meinen Großvater. Einen faltigen alten Mann, der weit in der Welt herumgekommen war, bevor er sich in seinen letzten Jahren wieder auf dem alten Familiensitz niederließ. Ich habe als Kind so manche Sommerferien bei ihm verbracht. Das Haus kann mich nicht erschrecken, es hat mir nie etwas getan. Und mein Großvater war ein weiser, gütiger Mann. Doch von seinen Reisen hatte er viele uralte Geheimnisse mitgebracht, und als er wieder hier war, machte er sich daran, auch die Rätsel des Hauses zu enthüllen. Bei einigen ist es ihm gelungen. Er hätte sie vernichten sollen, bevor sie mir in die Hände fallen konnten. Nun ist es zu spät, viel zu spät … Nein, vielleicht noch nicht. Ich habe sie abgehängt, oder? Sie kann mich nicht mehr einholen. Sie weiß nicht, wo ich bin. Und wenn ich in den alten Büchern den richtigen Spruch finde, kann ich alles rückgängig machen und sie zurück in die Hölle schicken. Diese Gedanken geben mir neue Kraft, und so überwinde ich die letzten Meter, stürme durch das rostige Gartentor und auf den Eingang zu. Es ist stockfinster hier, kein Bewegungsmelder lässt automatisch irgendwelche Lampen anspringen.
Keuchend fingere ich den Schlüssel aus der Hose und versuche, ihn ins Schloss zu stecken. Doch meine Hand zittert zu stark, so dass ich unsäglich lange brauche, bis ich endlich die Tür öffnen kann. Knarrend schwingt sie nach innen. Kalte, stickige Luft schlägt mir entgegen. Wie aus einer Gruft … Ich trete in die Finsternis und schlage hinter mir die Tür zu. Ich brauche einige Zeit, bis ich den Lichtschalter ertastet habe, aber dann wird es endlich heller. Wie überall im Haus gibt es auch hier im Eingangsbereich knirschende Holzdielen und vertäfelte Wände. Beides ist aus so dunklem Holz gefertigt, dass sie jegliches Licht aufsaugen. Es wird niemals richtig hell im Inneren des Hauses. Jeden anderen würde dieser Anblick deprimieren, mich aber nicht. Für mich bedeuten die Räume Schutz. Nur hier kann ich meinen Fehler wieder gutmachen. Ich laufe weiter, an alten Gemälden vorbei, deren Farben längst so dunkel geworden sind, dass die Motive kaum noch zu erkennen sind. Dort hinten – am anderen Ende des Ganges befindet sich eine schwere Doppeltür – dort muss ich hin. Ohne langsamer zu werden stoße ich die Türen auf und stürme in den Raum – die Bibliothek. Sie erstreckt sich über zwei Stockwerke. Die Wände sind lückenlos zugestellt mit Büchern jeglicher Art und Größe. Kiloschwere Folianten lehnen sich gegen schmale Handbücher und dazwischen gibt es immer wieder Haufen von Schriftrollen. Es riecht nach Herbstlaub, nach feuchter Erde, nach Vergangenheit. Die Geschichten in den Büchern leben. Wenn man sich ganz still in den Raum setzt, kann man hören, wie sie wispern, wie sie sich gegenseitig Geheimnisse zuflüstern. Sie sprechen von altem Wissen, von ungesühnten Gräueltaten, von großer Macht und großem Leid. In den Büchern muss die Antwort stecken. Aber wo soll ich anfangen? Es sind so unsäglich viele. Ich blicke mich kurz um, dann eile ich zu dem niedrigen Tisch in
der Mitte des Raumes. Dort liegen einige aufgeschlagene Bücher. In ihnen habe ich zuletzt gelesen. Aus ihnen habe ich das Beschwörungsritual. Die Zeichen sind uralt und so schwarz, als hätte der Teufel sein eigenes Blut als Tinte zur Verfügung gestellt. Eilig blättere ich durch die Seiten, ohne darin Hilfe finden zu können. Dann lässt mich ein Laut herumwirbeln. Brechendes Holz! Ich höre Schritte. Jemand ist im Haus. Jemand mit Krallen an den nackten Füßen. Jemand mit spitzen Zähnen und rot glühenden Augen. Kalter Angstschweiß bricht mir aus. Mir stockt der Atem, mein Herz gerät ins Stolpern. Da fliegt die Doppeltür nach innen, und in einem Wirbel aus Holzsplittern stürmt sie in die Bibliothek. Einen Moment lang bleibt sie stehen und schaut sich um, dann hat sie mich entdeckt. Ich kann mich nicht rühren. Meine Glieder sind zu Eis erstarrt. Sie bleckt die Zähne und läuft auf mich zu. Nur wenige Schritte entfernt von mir setzt sie zum Sprung an. Ich schließe die Augen, zu mehr bin ich nicht in der Lage. Als ich sie wieder öffne, lebe ich noch immer. Vor mir kauert der weibliche Dämon. Ich kann sehen, wie sich spitze Knochen durch die Haut auf ihrem Rücken drücken. Ich blicke beinahe fasziniert auf die vielen kleinen Hörner, die ihren Schädel bedecken. Ich verstehe nicht und wage es nicht, irgendetwas zu tun. Was hat das zu bedeuten? »Meister«, zischt die Kreatur mit heiserer Stimme, »Befehlt mir! Ich bin Eure gehorsame Dienerin …«
* Nur langsam gelingt es mir, mich aus meiner Erstarrung zu lösen. Vorsichtig weiche ich vor der Dämonin zurück. Als sie plötzlich den Kopf hebt, halte ich erschrocken inne. Ihre glühenden Augen ruhen auf mir, mustern mich von oben bis unten. Dann richtet sie sich mit einer fließenden Bewegung auf, so schnell, dass das Auge kaum folgen kann. »Meister«, krächzt sie, »Meister, was soll ich tun?« »Ich … ich bin dein Meister?«, frage ich. »Ja, Ihr habt mich hierher geholt. Ihr habt die Pforte geöffnet. Nun muß ich Euch dienen. Also befehlt mir.« Darum also hat sie sich beim Steinkreis auf mich gestürzt. Sie wollte mich gar nicht töten, sie wollte sich nur vor mir zu Boden werfen. Ich werde heute also nicht mehr getötet. Das ist einigermaßen beruhigend. Dafür habe ich jetzt ein anderes Problem: Was soll ich mit einem Dämon anfangen? »Was kannst du denn?« frage ich beklommen, weil mir nichts Besseres einfällt. »Ich kann töten«, erwidert das Wesen. »Und sonst?« »Ich kann fressen.« Ich frage nicht weiter. Wie es scheint, sind Dämonen nur fürs töten gut, und daran habe ich keinen Bedarf. Was soll ich nur tun? Wie kann ich dieses Wesen wieder loswerden? Immerhin, es gehorcht mir. »Meister, gebt mir einen Befehl, ich will Euch dienen«, sagt die Dämonin, »Ich werde alles für Euch tun und Euch folgen, wohin
auch immer Ihr gehen wollt. Ich bin nun auf ewig an Euch gebunden.« »Wie … wie hast du mich hier gefunden?« »Ich habe Euch gespürt. Durch unseren Bund kann ich Euch fühlen und jederzeit wiederfinden.« Das ist nicht gut. Flucht ist also sinnlos, vor dieser Kreatur könnte ich mich niemals verbergen, egal wie weit ich gehen würde. Sie könnte mich überall aufspüren. Ein unsichtbares Band verbindet uns. Verdammt, ich muss sie irgendwie loswerden! Aber in einem direkten Kampf hätte ich keine Chance gegen sie. Sie ist einen Kopf größer als ich und so unglaublich schnell. Und wenn ich nur an ihre spitzen Zähne denke … Nein, ich muss mir irgendwas anderes einfallen lassen. In den Büchern muss etwas stehen, ich muss es nur finden. Doch was mache ich mit ihr bis dahin? »Meister«, sagt die Dämonin und macht einen Schritt auf mich zu. »Ich habe Hunger.« Dabei blickt sie mich an, als würde sie mich für ihre nächste Mahlzeit halten. Ich weiche vor ihr zurück, bis ich mit dem Rücken gegen eine Bücherwand stoße. »Ich habe Hunger«, zischt die Kreatur erneut und zeigt mir dabei ihre vielen Zähne. Schnell, ich muß mir was einfallen lassen. »Komm!«, stoße ich endlich hervor. »Mir nach.« Ich löse mich von der Wand und gehe vorsichtig an der Dämonin vorbei aus dem Raum. Sie folgt mir bis in die Küche. Ich öffne den Kühlschrank und deute hinein. »Hier, nimm, was dir schmeckt.« Dann trete ich eilig zur Seite, während sie sich vor dem Kühlschrank aufbaut. Sie greift hinein und holt ein Schnitzel hervor.
Unschlüssig hält sie es sich vor den Mund, riecht daran, dreht es hin und her, und lässt es schließlich mit einem Laut des Ekels auf den Boden fallen. »Das ist kalt«, sagt sie dann zu mir. »Na ja«, zucke ich mit den Schultern, »Man kann es warm machen.« »Wie?« fragt sie. »Mit dem Herd hier«, sage ich, während ich auf das Gerät zeige. »Ich verstehe nicht.« »Äh, na ja … Das ist so was ähnliches wie Feuer. Damit braten wir das Fleisch.« Sie macht »Bah!«, und blickt mich angewidert an. »Das meine ich nicht. Fleisch darf nicht bloß warm sein, es muss auch noch leben.« »Oh …«Ich weiche ein wenig vor ihr zurück. »Fleisch muss noch zucken, sich wehren«, fährt die Dämonin fort. Ihr Blick jagt mir kalte Schauer über den Rücken. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Zum Glück hat dieses Wesen eine Idee. »Ich werde jagen gehen, Meister.« »Jagen?« frage ich, »Was denn?« »Menschen«, erwidert sie. »Menschen sind eine Delikatesse. Einige wenige verirren sich gelegentlich in unser Reich. Schmecken köstlich. Und sie schreien so schön …« Mir wird ganz anders, während sie das sagt. Sie grinst mich an und zeigt mir ihre Zähne. Sie sehen aus wie die eines Hais. Eine dünne schwarze Zunge fährt dazwischen hervor, mit der sie sich über ihre Lippen leckt. Offenbar läuft ihr beim Gedanken an Menschenfleisch schon das Wasser im Maul zusammen. Ich reiße mich zusammen und sage mit zitternder Stimme: »Nein, ich bin dein Meister, und ich verbiete dir, Menschen zu essen.
Verstanden?« Die Zunge verschwindet wieder hinter ihren Zähnen. Sie hört auf zu grinsen und starrt mich finster an. Mein Herz setzt für einen Moment aus. Eiswasser füllt meine Adern und lässt mich frösteln. Jetzt wird sich zeigen, was unser Pakt wert ist. »Gut«, sagt sie schließlich. Mein Herz schlägt wieder, wenn auch unruhig. »Und du wirst mir immer gehorchen?« »Ja, das muss ich«, knurrt sie. »Du wirst mich niemals verletzen oder gar töten?« »Nein, das darf ich nicht.« »Gut.« Das beruhigt mich einigermaßen. »Meister«, sagt sie, während sie auf mich zugeht. »Was soll ich fressen?« »Ja … du …«, stammele ich, während ich fieberhaft nachdenke. Dann habe ich den rettenden Einfall. Wozu leben wir hier denn auf dem Land? »Jage Tiere!« »Tiere?« »Ja, die kannst du ruhig jagen und fressen. Aber lass dich nicht dabei erwischen. Und sorge dafür, dass niemand merkt, dass du in diesem Haus wohnst. Ja?« »Ist gut.« Sie nickt langsam. Dabei kommt sie mir immer näher. Ich kann jetzt schon die Kälte spüren, die ihr Körper verströmt. Sie schiebt ihren Kopf vor, bis er nahe vor meinem ist. Ihr glühender Atem fährt über mein Gesicht, steigt mir in die Nase und raubt mir die Luft. Ihre Zähne blitzen wie polierter Stahl. Langsam hebt sie eine ihrer Klauen und fährt mir damit über die Wange. Ihr Krallen sind so kalt wie Eis und hinterlassen eine brennende Spur auf meiner Haut. »Meister«, zischt das Wesen, »Geliebter Meister, ich diene dir,
doch nun muss ich fort, um zu jagen. Darf ich gehen, um meinen Hunger zu stillen?« »Ja, ja«, stoße ich keuchend hervor. »Gut, ich werde bald zurückkehren.« »Und du denkst an das, was ich dir gesagt habe?« »Ich denke an alles«, bestätigt sie. »Keine Menschen?« »Keine Menschen.« »Du wirst keinem Menschen etwas tun, sie weder verletzen noch töten?« Ich muss einfach noch einmal nachfragen. »Ja.« »Du wirst bloß Tiere fressen?« »Ja«, wiederholt sie. »Dann geh.« »Ich danke dir, Meister.« Sie wirbelt herum und ist mit wenigen Sprüngen aus der Küche und auf dem Gang. Nur wenig später hat sie das Haus verlassen und ist in der Nacht verschwunden. Plötzlich fühle ich mich unsäglich müde und erschöpft. So als hätte ich meine Flucht gerade erst beendet, als wäre ich bis eben noch gelaufen. Ich sinke zu Boden. Mein Herz rast, mein Atem geht keuchend. Und auf meiner Wange spüre ich noch immer die Kälte ihrer Krallen …
* Natürlich ist in dieser Nacht nicht mehr an Schlaf zu denken. Unruhig laufe ich hin und her. Mehrere Mal gehe ich zur
aufgebrochenen Haustür und blicke hinaus in die Nacht. Dann stehe ich still und lausche. Vielleicht kann ich sie ja hören, wie sie auf der Suche nach Beute durch das Dunkel jagt. Doch da ist nichts außer den üblichen Geräuschen, die in einem schlafenden Ort eben zu hören sind. Alles andere als beruhigt kehre ich ins Haus zurück und gehe in die Bibliothek, um dort meine Studien fortzusetzen. Aber bislang habe ich wenig Erfolg. All die vielen Bücher können mir auch nicht sagen, wie ich sie wieder loswerden kann. Doch sie warnen mich vor ihr. Als wenn das noch nötig wäre, als wenn ich nicht auch so schon genug Angst vor ihr hätte. Dämonen sind nur am Anfang loyal, heißt es in den Büchern. Doch je länger sie auf Erden weilen, umso mehr lässt diese Ergebenheit nach. Schließlich folgen sie ihrem Meister nur noch, weil sie durch den Pakt an ihn gebunden sind. Sie gehorchen, weil sie es müssen. Und spätestens dann versuchen sie den Bund zu lösen. Dabei halten sie sich aber stets an alle Befehle und Absprachen. Sie brechen den Pakt nicht, sie versuchen nur, ihn geschickt zu umgehen. Sie suchen ein Schlupfloch, dass sie von den Pflichten ihrem Meister gegenüber entbindet. Denn im Grunde lieben sie ihre Freiheit viel zu sehr und hassen es, der Macht eines einfachen Sterblichen unterworfen zu sein. Viele alte Bücher lese ich in dieser Nacht. Dicke Wälzer, schwer von Staub und dunklen Geheimnissen. Sie versprechen mir Macht oder Verdammnis – aber keines hilft mir bei meinem Problem. Meine Augen brennen, meine Finger werden taub vom Umblättern der schweren Seiten, doch ich kann nicht damit aufhören. Draußen rötet sich der Himmel, doch ich bin noch immer nicht müde. Werde ich jemals wieder ruhig schlafen können? Werde ich meinen Frieden wiedergewinnen? Nein, nicht solange diese Kreatur hier auf Erden weilt.
Und wo soll sie überhaupt bleiben? Hier im Haus? Jedenfalls nicht in meiner Nähe, nein. Vielleicht auf dem Dachboden oder im Keller. Irgendwo, wo ich sie nicht sehen kann. Ich will nicht durchs Haus gehen und ständig an ihre finstere Anwesenheit erinnert werden. Noch während ich über all dies nachdenke, kehrt sie zurück. Bevor die ersten Sonnenstrahlen auf die Erde fallen, betritt sie das Haus und kommt zu mir in die Bibliothek. Maul und Gesicht sind mit großen dunklen Flecken bedeckt. Von ihren Krallen tropft etwas rotes auf das Parkett. Sie grinst ihr Raubtiergrinsen und fährt sich mit der Zunge über die blutigen Lippen. »Jetzt bin ich satt«, sagt sie. Auf ihrem Dämonengesicht liegt grimmige Zufriedenheit. »Gut … gut«, stammele ich, von ihrer bloßen Anwesenheit eingeschüchtert. Wie sie mich anblickt. Ich schaudere. Ich fühle mich wie ein Schaf, das einem Wolf in die Augen sieht. »Ich bin müde, Meister«, zischt sie. »Wo kann ich ruhen, bis dieses grässliche Licht verschwunden ist?« »Komm!«, sage ich und gehe an ihr vorbei. Mein Herz rast wie irrsinnig, und ich hoffe nur, dass sie meine Furcht nicht bemerkt. Jedenfalls bemühe ich mich, ganz ruhig zu erscheinen. Ich gehe voraus, und sie folgt mir mit klickenden Krallen. Über zwei große Treppen geht es nach oben, dann stehen wir vor einigen schmalen Stufen, die an einer klapprigen Holztür enden. Dahinter liegt der Dachboden. Staub wird aufgewirbelt, während ich die Tür öffne. Spinnweben wehen im entstehenden Luftzug. Es scheint, als wäre jahrelang niemand hier oben gewesen. Der Staub liegt fingerdick und die kleinen Dachluken sind derart mit Dreck verkrustet, dass man nicht nach draußen blicken kann. Es riecht nach modrigen alten Zeitungen, nach feuchtem Holz, nach Mottenkugeln und muffiger Kleidung. Dies ist das Reich der
Spinnen, Fliegen und sonstigen Insekten. Und nun ist es auch das Reich dieser Dämonenfrau. Sie geht an mir vorbei und blickt sich um. »Schön, sehr schön«, sagt sie, während sie langsam auf und ab geht. »Du hast Geschmack, Meister.« Ich brauche einen Moment, bis ich begreife, dass sie das ernst meint. Es gefällt ihr hier wirklich. Plötzlich zuckt ihre Hand vor, direkt auf mich zu. Ich fahre zusammen und stoße einen kurzen Schrei aus. Doch ihre Klaue zischt an mir vorbei. Sie hat sich eine dicke Spinne gegriffen, die hinter mir über die Wand gekrabbelt ist. »Nachtisch«, erklärt sie mir grinsend und stopft sich das Tier in den Mund. Genüsslich kaut sie darauf herum. Rückwärts gehend weiche ich vor ihr zurück. Ich bin froh, als ich endlich wieder auf der Treppe stehe und die Tür schließen kann. Die Dämonin beachtet mich gar nicht. Und das ist mir auch lieber so. Mir ist egal, was sie dort oben treibt, ob sie nun schläft oder Spinnen jagt, solange ich es nicht sehen muss. Mit wackligen Beinen kehre ich nach unten zurück. Ich habe noch viel zu lesen.
* Sie heißt Ra‐rakk. So viel weiß ich sicher. Doch ansonsten ist sie wenig mitteilsam. Manchmal kommt sie nach der Jagd zu mir in die Bibliothek. Vielleicht aus Neugier, vielleicht weil sie neue Befehle von mir erwartet. Ich weiß es nicht.
Manchmal bin ich zu müde oder eingeschüchtert, um sie irgendwas fragen zu können. Aber manchmal tue ich es doch. Ich wollte mehr von der Hölle erfahren und wie sie dort lebt. Doch darüber erzählt sie nie etwas, weil sie nicht darf. Alte Schwüre und Gesetze binden sie. Und selbst wenn ich es befehle, darf sie nicht dagegen verstoßen. Zu schade … Viel lieber erzählt sie von ihrer Jagd. Davon, wie sie die armen Tiere zur Strecke gebracht und gequält hat. Wie sie sie ganz langsam sterben ließ, wie sie ihnen den Tod so unerträglich wie nur möglich gemacht hat. Sie grinst immer, während sie davon berichtet. Das Leid anderer bereitet ihr große Freude. »Angst macht das Fleisch zart«, sagt sie, »Schmerz macht es saftig. Hmm, köstliche Qual. Würde gerne auch Menschen jagen. Wenigstens einmal. Sie sind doch so delikat.« Aber ich bleibe bei meinem Verbot – natürlich! Verdammt, ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich sie nur ansehe. Ja, sie ist irgendwie menschenähnlich, aber je länger man sie betrachtet, umso mehr fallen einem die Unterschiede auf. Vor allem ihre Zähne und Klauen sind beängstigend, und ich will mir am liebsten gar nicht vorstellen, wie sie damit auf Jagd geht. Aber wenn ich sie nicht bremse, erzählt sie mir lang und breit, wie sie die Tiere foltert und was sie mit einem Menschen alles machen würde. Das hat sie jetzt schon oft getan, aber mich überläuft es jedesmal wieder eiskalt. Ich versuche dann schnell das Thema zu wechseln oder verbiete ihr einfach weiterzureden. Einmal habe ich sie gefragt: »Gibt es irgendwas, was du noch kannst? Irgendwas, was mir nützlich sein könnte?« »Ich kann verstümmeln. Ich kann quälen und foltern. Das würde ich gerne für dich tun.« Nur ein Psychopath könnte mit diesem Dämon etwas anfangen. Nicht auszudenken, wenn dieses Wesen frei auf Erden herumlaufen
würde. Es wäre ein Wolf in einer Welt von Schafen. Dieser Gedanke lässt mir einfach keine Ruhe. Ich muss sie irgendwie loswerden. Ich sollte sie im Schlaf erschlagen. Aber kann ich das? Ich weiß nicht, wie widerstandsfähig dieses Wesen ist, wie viel es aushalten kann. Und wenn mein Anschlag misslingt, ist alles aus. Wer sich gegen die heraufbeschworene Kreatur wendet, ist nicht länger ihr Meister. Von da an würde sie niemandem mehr gehorchen müssen, auch mir nicht. In dem Fall wäre ich sicher ihr erstes menschliches Opfer. Sie würde mich ohne zu zögern töten und auffressen. Ach nein, ich vergaß: Sie frisst ihre Opfer ja lebend. Also wird sie mich vorher wohl nicht töten. Höchstens so schwer verletzen, dass ich nicht fliehen kann. Noch gehorcht sie, doch ich spüre, wie ihre Ergebenheit nachlässt. Sie betrachtet mich abschätzend, so als würde sie darüber nachdenken, wie sie mich loswerden kann. Irgendetwas muss geschehen. Selbst wenn es ihr nie gelingt, den Pakt zu lösen und mich auszutricksen. Aber irgendwann werde ich sterben, und dann? Dann hat sie keinen Meister mehr und ist frei. Ich habe das Gefühl, nicht mehr viel Zeit zu haben. Tag und Nacht verbringe ich in der Bibliothek. Seit über zwei Wochen, seit sie hier ist. Ich habe kaum mehr als drei Stunden am Stück geschlafen. Ich finde einfach keine Ruhe mehr. Ich nicke manchmal einfach so ein, nur um wenige Augenblicke später wieder hochzuschrecken. So wie gestern Morgen …
* Ich erwachte und wusste erst nicht, wo ich war. Ich lag mit der Wange auf den schweren Seiten eines alten Buches. Ächzend setzte ich mich aufrecht und blickte mich um. Meine
Augen brannten, meine Gelenke schmerzten. Ich brauchte ein wenig Zeit, um mich wieder in dieser Welt zurecht zu finden. In meinem Kopf fühlte ich noch immer die letzten Reste eines düsteren Traumes, an dessen genauen Inhalt ich mich nicht mehr erinnern konnte. Von draußen fiel erstes Sonnenlicht in den Raum. Staub tanzte in den Lichtstrahlen. Plötzlich bemerkte ich sie. Ich war schlagartig hellwach und setzte mich aufrecht. Sie stand einfach nur da und blickte mich mit einem rätselhaften Ausdruck an. Wie eine Statue, vollkommen reglos. Sie hat mich belauert wie ein Raubtier seine Beute. Wie lange stand sie schon dort? Ich erwiderte ihren Blick, zitternd, erfüllt von Kälte. Sie legte den Kopf schräg, dann wandte sie sich um und verließ den Raum. Erst da bemerkte ich, wie mein Herz raste. Schnell stand ich auf, eilte zur Tür und schloss sie. Heute habe ich den Tag fast nur damit verbracht, den Schlüssel für die Bibliothek zu suchen. Er lag in einer Küchenschublade zusammen mit unzähligen anderen Schlüsseln. Ich habe mich jetzt in der Bibliothek eingeschlossen, obwohl die Türen vermutlich kein großes Hindernis für sie sind. Wenn ich nur daran denke, wie leicht sie durch die schwere Haustür gekommen ist. Trotzdem fühle ich mich nun ein wenig sicherer. Wenigstens kann sie sich jetzt nicht mehr an mich anschleichen. Ob ihr wohl das Wasser im Maul zusammengelaufen ist? Findet sie mich auch köstlich, und stellt sie sich vor, wie sie mich quälen kann? Lieber nicht dran denken. Sie muss mir gehorchen. Ich darf das nie vergessen. Und dennoch … Irgendwas führt sie im Schilde …
* Die dritte Woche jetzt. Ich werde mich nie an sie gewöhnen. Sie ist zu fremd, zu bösartig. Ich habe eine Zeitlang versucht, in meinem Zimmer zu schlafen. Doch es liegt im ersten Stock und von dort kann ich hören, was sie auf dem Dachboden treibt. Ich höre sie herumschleichen, das Kratzen ihrer Krallen. Dann wieder seltsame Laute, die ich nicht zuordnen kann. Es lässt mir keine Ruhe. Ich zucke jedesmal zusammen, wenn ich das quietschende Dachfenster höre. Sie benutzt es, um hinaus und wieder herein zu gelangen. Es ist so schmal, dass sich kein Mensch dort hindurch zwängen könnte. Aber für Ra‐rakk ist das kein Problem. Ebenso mühelos klettert sie die Hauswand hinauf und hinunter. Keine Ahnung, wie sie das schafft. Sie klebt wie eine vierbeinige Spinne an der Wand, als wäre es nichts Besonderes. Unterdessen mehren sich in der Tageszeitung die Meldungen über einen geheimnisvollen Kuh‐ und Pferderipper. Außerdem verschwinden immer wieder Haustiere. Noch ahnt niemand, was dahinter steckt. Ra‐rakk ist schnell und geschickt und ich habe ihr ja gesagt, dass sie sich bloß nicht erwischen lassen soll. Vielleicht sollte ich mir Hilfe holen, irgendwelche Leute mit Waffen. Ja, aber woher? Ich habe keine Ahnung, wie man so was macht. Und wenn Ra‐rakk dahinter kommt, könnte sie das als Verrat auffassen. Unser Pakt wäre dann sofort gelöst. Ich kann das nicht riskieren, ich muss mir etwas anderes überlegen. Ich lebe praktisch nur noch in der Bibliothek. Ich habe mir eine Matratze reingelegt, auf der ich schlafe, wenn ich merke, dass mir die Augen zu fallen. Ich verlasse den Raum nur noch, wenn ich ins Bad muss oder um mir aus der Küche was zu essen zu holen. Und einmal pro Woche gehe ich ins Dorf, um meine Vorräte
aufzustocken. Die Leute blicken mich komisch an. Ich bin der Sonderling. Ich bin neu hier, und ich wohne in einem Haus, über das es allerlei schlimme Geschichten gibt. Und kurz nachdem ich dort eingezogen bin, haben hier die seltsamen Tiermorde begonnen. Sie haben mich in Verdacht. Sie blicken mir nach, mustern mich, doch keiner kann mir etwas beweisen. Wenn sie wüssten … Würde mir denn einer von ihnen helfen, wenn sie es wüssten? Vermutlich nicht. Ich bin isoliert, muss allein damit klar kommen. Nur ich stehe zwischen diesem Monster und der Welt. Und ich habe verdammte Angst. Das wird nicht gut enden, das kann einfach nicht gut ausgehen. Ich muss nachdenken, muss vernünftig sein und mir was einfallen lassen. Aber ich kann einfach nicht. Vielleicht werde ich langsam verrückt. Vielleicht ist es auch nur der Schlafmangel. Meine Gedanken entgleiten mir, ich kann mich kaum noch konzentrieren. Immer wieder verliere ich mich in nutzlosen Überlegungen. Selbst wenn ich wach bin, erscheint mir alles wie ein Fiebertraum, fern und dumpf. Und wenn ich schlafe, träume ich von Klauen, von Zähnen und Blut – sehr viel Blut … Ra‐rakk jagt mich durch meine Träume, durch finstere Wälder, aus denen es kein Entkommen gibt. Sie erwischt mich – und ich erwache keuchend. Hin und wieder schreie ich auch. Ich bin jedesmal schweißgebadet und friere gleichzeitig. Es dauert immer einige Zeit bis ich begreife, dass alles nur ein Traum war – ein schlimmer, schlimmer Traum – und dass ich endlich aufhören kann zu zittern und zu weinen. Gott, ich bin so schwach, so hilflos. Was soll ich nur tun? Es sind diese Bücher. Ich hätte nie auf ihre Einflüsterungen hören dürfen. Auch jetzt raunen sie mir ihre Geheimnisse zu, ihr altes Wissen, ihre finsteren Flüche.
Ja, ja, ist ja gut, ich höre euch! Seid endlich still! Seid ruhig! Bitte, bitte! Bitte … Ich werde ja alles tun. Ich werde bei euch bleiben. Ich werde euch lesen, euch alle. Ich weiß, dass ihr das wollt. Nur seid still! Ihr macht das Durcheinander in meinem Kopf nur noch größer. Ja, so ist es besser. Ich kann nun wieder besser nachdenken. Gut, das ist gut. Ja … Ich habe doch ein Ziel, ich weiß, was ich suche. Im Moment stehe ich auf der Galerie, die auf der Höhe des ersten Stocks die Bibliothekswände umläuft. Sie ist schmal, vielleicht zwei Schritte breit, und aus altem Holz, das unter jedem Schritt knirscht und kracht. Aber noch hält sie und trägt mich, während ich die Bücherregale abschreite, Staub von den Schriftrollen und Folianten blase, Spinnennetze und Dreck von den Einbänden wische. Manchmal zerfallen die Seiten unter meinen Fingern zu Staub. All die klugen Worte lösen sich einfach in Luft auf und verschwinden für immer. Vielleicht steckte gerade in ihnen meine Rettung. Dann ist alles verloren. Ich darf nicht daran denken. Ja, ja, ich gehe ja schon weiter, nehme das nächste Buch: ein schwarzer Einband ohne Titel, krakelige Schriftzeichen im Inneren, wie von den Händen eines Schwachsinnigen oder eines kleinen Kindes. Ich verstehe sie nicht, aber ich fühle, dass etwas Böses, Kaltes dahinter steckt. Etwas, das besser vergessen und somit aus der Welt verschwinden würde. Dennoch blättere ich weiter. Plötzlich ertönt lautes Klirren und Krachen.
Mir fällt das Buch aus der Hand. Ich wirbele herum, mache einen großen Schritt nach vorne und stütze mich gegen das Holzgeländer. Unten ist etwas durch die Fenster gebrochen. Etwas Dunkles, Großes. Und es ist nicht Ra‐rakk, auch wenn es so ähnlich aussieht. Der kantige Schädel zuckt hin und her. Es scheint zu schnuppern, zu suchen. Dann blickt es nach oben und sieht mich. Messerscharfe Zähne blitzen auf. Die roten Augen werden schmal. Das Wesen duckt sich, spannt die Muskeln und springt. Seine Klauen graben sich in das Holz des Geländers. Es schwingt sich auf die Galerie, nur wenige Schritte von mir entfernt – genau zwischen mir und der freistehenden Wendeltreppe, die nach unten führt. Ich kann ihm nicht entkommen. Es knurrt mich an, mustert mich mit schräg gelegtem Kopf. Seine Klauen schneiden tiefe Kerben in das Holz. Da springt es erneut. Ich ducke mich zur Seite. Das Wesen fliegt an mir vorbei und kracht gegen ein Regal. Bücher und einzelne Seiten segeln herunter, fallen wie sterbende Vögel. Kalter Schmerz rast durch meine Schulter. Die Krallen haben mich doch erwischt. Blut rinnt meinen Arm herunter. Der Schock lässt mich zucken und zittern. Die Bücher! Ich kann sie schreien und weinen hören. Sie haben Angst! Ich muss ihnen helfen. Ungelenk greife ich in die Luft und versuche die schwebenden Seiten aus der Luft zu fischen. Meine blutigen Finger hinterlassen dunkle Flecken auf dem Papier. Ich stolpere und rutsche über alte Einbände. Sie sind glitschig wie Fische. Ich bin wie von Sinnen, kann nicht klar denken. Nur an die Bücher. An ihr Wissen, ihre hilfreichen Weisheiten. Unterdessen befreit sich das dunkle Wesen aus den Trümmern des Regals. Ich bin ihm zu nahe gekommen. Mit einer wütenden
Armbewegung fegt es mich zur Seite. Ich pralle gegen das Geländer, und das alte Holz gibt nach. Nichts hält mich, ich stürze weiter. In dem kurzen Augenblick des Fallens sehe ich über mir das dunkle Wesen, eingehüllt in einen Schneesturm aus Papier. Dann schlage ich auf dem Boden auf. Etwas kracht und knirscht. Ich begreife erst nicht, dass es einer meiner Knochen ist. Dann wird alles schwarz …
* Doch nur kurz. Der Schmerz in meinem linken Arm holt mich zurück. Ich bin unglücklich aufgekommen. Andererseits hatte ich Glück, dass ich auf meiner Matratze gelandet bin. Das Wesen kauert oben am Rand der Galerie und blickt wütend zu mir herunter. Ich versuche, mich aufzurichten. Ich kann endlich wieder klar denken. Wie konnte ich mich nur um diese blöden Bücher sorgen? Ich muss hier weg. Als ich hochkomme, wird mir wieder schwarz vor Augen. Ich taumele zur Seite und muss mich an einer Wand abstützen. Krachend landet das dunkle Wesen auf dem Boden. Ich renne. Wo kann ich nur Hilfe finden? Ra‐rakk! Natürlich! Ich rufe sie, während ich gegen die Tür der Bibliothek laufe. Verdammt! Sie ist ja abgeschlossen. Wo habe ich den Schlüssel? Schnell! Während ich mit zitternden Fingern meine Taschen durchsuche, springt das Wesen auf mich zu. Ich lasse mich fallen, und die
Kreatur kracht über mir durch die Tür. »Ra‐rakk!«, kreische ich durch die Öffnung. Ist sie überhaupt schon zurück von der Jagd? Sie muss, durch das zerbrochene Fenster fällt Sonnenlicht in den Raum. Sie muss hier sein. Und sie hat sehr gute Ohren, das weiß ich. »Ra‐rakk! Komm her! Ich befehle es!« Mehr kann ich nicht rufen, das dunkle Wesen kehrt zurück. Es springt durch das Loch in der Tür. Diesmal bin ich zu langsam. Seine Klauen greifen meine Schultern. Es reißt mich um, presst mich auf den Boden. Speichel rinnt aus seinem Maul auf meine Brust. Erbrennt wie Säure. Mein Kopf fällt zur Seite. Ich sehe Ra‐rakk durch das Loch in der Tür. Sie schaut mich interessiert an, rührt sich aber nicht. Ich will schreien, aber meine Stimme versagt. Ich kann nur heiser keuchen. Das dunkle Wesen auf meiner Brust hebt eine Klaue zum Schlag. Dabei grinst es verschlagen. Mein Herz setzt aus. Aber meine Stimme kehrt zurück. »Ra‐rakk!« krächze ich, »Stopp das Wesen!« Die Klaue fährt herunter. Ich schließe die Augen. Aber ich sterbe nicht. Erst blinzele ich nur vorsichtig, dann öffne ich die Augen ganz. Das dunkle Wesen hockt noch immer auf mir. Seine Klaue hat eine handbreit vor meinem Hals gestoppt. Ra‐rakk steht neben ihm und schaut ein wenig enttäuscht auf mich herab. Verwirrt und erleichtert blicke ich sie an. »Was ist passiert?« »Ich habe ihm befohlen aufzuhören«, sagt Ra‐rakk. »Befohlen? Erkläre das!«
»Ich bin seine Meisterin, denn ich habe ihn geholt.« »Wie hast du ihn geholt?«, frage ich und ahne die Antwort. »Mit einem deiner Bücher. Ich habe ihn heraufbeschworen, so wie du mich beschworen hast.« »Am Steinkreis?« »Genau.« Sie nickt. »Sag ihm, er soll von mir runtergehen!« Sie tut es, und er steigt widerstrebend von meiner Brust. Mühsam richte ich mich auf. Stechender Schmerz rast durch meinen gebrochenen Arm. Ich schleppe mich bis zu einem Stuhl und lasse mich hineinfallen. Ra‐rakk und das andere Wesen folgen mir und bauen sich vor mir auf. Langsam verstehe ich. Darum also ist Ra‐rakk vor einiger Zeit in der Bibliothek gewesen. Sie hat sich ein Buch geholt, um die Beschwörung durchführen zu können. Und ich habe nichts davon geahnt. Ich muss nachdenken. Was soll ich jetzt tun? »Ra‐rakk«, sage ich, »befehle deinem Diener, dass er keine Menschen töten oder verletzen darf, genau wie du.« Sie zögert kurz, blickt mich grimmig an – aber schließlich tut sie, was ich ihr befohlen habe. Das dunkle Wesen würde niemals auf mich hören, da ich es nicht heraufbeschworen habe. Aber es muss Ra‐rakk gehorchen, und Ra‐ rakk muss mir gehorchen. Ich kann das Wesen in meinem Sinne beeinflussen. Verdammt! Das war der erste ernsthafte Versuch von Ra‐rakk, unseren Pakt zu unterlaufen. Sicherlich hat sie gehofft, dass neue Wesen würde mich umbringen. Dumm für sie, dass sie mir am Ende gehorchen musste und dem Wesen befehlen musste, damit aufzuhören.
Ich muss vorsichtiger sein, besser auf sie aufpassen. Das war bestimmt nicht das letzte Mal. Wahrscheinlich brütet sie schon wieder eine neue Teufelei aus. Vor allem muss ich verhindern, dass so etwas noch einmal geschieht. Jetzt sind schon zwei Dämonen hier. Als ob einer nicht schon schlimm genug wäre. »Ra‐rakk, ich verbiete dir, jemals wieder ein Buch zu lesen oder irgendeine Beschwörung anzuwenden. Du darfst nie wieder zum Steinkreis gehen und nie wieder ein anderes Wesen heraufbeschwören«, sage ich zu ihr. »Und du sollst deinem Diener das alles auch verbieten.« Widerstrebend befolgt sie meine Befehle. Unterdessen mustert mich der andere Dämon mit finsterem Blick. Er wirkt etwas klobiger und unförmiger als Ra‐rakk, ist ihr ansonsten aber sehr ähnlich, auch wenn seine Haut ein wenig dunkler ist. Anscheinend ist er von derselben Art wie sie. Nachdem ich dafür gesorgt habe, dass mir von den beiden keine Gefahr mehr droht, schicke ich sie weg. Mein Herz beruhigt sich erst wieder, als ich höre, wie sich die Tür des Dachbodens öffnet und schließt. Verdammt! Irgendwas muss geschehen. Die Dinge geraten langsam außer Kontrolle. Müde blicke ich mich in der Bibliothek um. Was für ein Chaos!
* Ra‐rakk jagt mich mit lautem Gepolter. Gepolter? Ich wache auf. Seufzend reibe ich mir die Augen. Es war nur ein Traum.
Aber das Gepolter war echt, oder? Schließlich hat es mich geweckt. In der Küche finde ich die Ursache. Jemand hat den Kühlschrank ausgeräumt. Die Tür steht noch auf, kaltes Licht fällt auf die Küchenfliesen. Ich trete langsam näher. Der Kühlschrank ist vollkommen leer. Alles fort. Und dabei war ich erst heute einkaufen. Wie seltsam. Ra‐rakks Gefährte ist jetzt gerade mal eine Woche hier. Haben die beiden etwa schon die gesamte Umgebung leer gejagt? Jedes Tier erlegt? Vielleicht steigen sie ja deshalb auf meine Nahrung um. Was bleibt ihnen auch anderes übrig, solange meine Befehle sie binden. Ich sollte mich eigentlich darüber freuen. Vielleicht werden die beiden ja doch noch zahm und zivilisiert. Doch ich bin im Moment noch viel zu müde und erstaunt über den Gang der Dinge. Sie hätten mich wenigstens fragen können. Aber das ist wohl nicht Dämonenart. Ich lege mich wieder hin, schlafen kann ich dennoch nicht. Aber auch das ist nichts Neues. Ich liege nur da, starre ins Dunkle und warte, denke dummes Zeug. Zum Beispiel, wie der neue Dämon heißt. Wir wurden einander nie richtig vorgestellt. Aber Dämonen sind wohl von Natur aus unhöflich. Vielleicht kann er auch gar nicht sprechen. Ich habe ihn noch kein einziges Wort reden hören. Auch nicht zu Ra‐rakk. Die beiden ziehen sich immer weiter von mir zurück, was mir eigentlich ganz recht ist. Dennoch wüsste ich zu gerne, was sie so treiben. Wie es wohl auf dem Dachboden aussieht? Ich war nicht mehr da oben, seit sich Ra‐rakk dort eingenistet hat. Ich muss irgendwann mal nachsehen. Ja, vielleicht morgen, vielleicht auch später. Ich brauche jetzt Schlaf – dringend. Meine Augen brennen. Ich habe zu lange in zu alten Büchern
gelesen, ohne eine Lösung gefunden zu haben. Ich entdecke nur neue Beschwörungen, um andere Arten von Dämonen herbeizurufen. Aber daran habe ich wirklich keinen Bedarf, egal wie sehr die Bücher mich auch bedrängen. »Beschwöre dies, beschwöre jenes«, raunen sie mir zu. Oh, wie verführerisch ihre staubigen Stimmen klingen. Doch ich halte stand. Ich habe schon genug Ärger. Ruhe jetzt! Ich habe lange genug in euren welken Seiten geblättert. Seid nun still! Laßt mich schlafen, bitte. Geht aus meinem Kopf. Ich brauche Ruhe. Seht doch, mein Arm ist gebrochen und eingegipst. Nur gut, dass mir der Arzt geglaubt hat, dass ich die Treppe hinuntergefallen bin. Das ist ja auch beinahe die Wahrheit gewesen. Der Bruch war nicht allzu kompliziert. Alles wird heilen, alles wird gut und die Dämonen werden zahm – ganz sicher …
* Wie viel Zeit ist vergangen? Ich verliere langsam die Übersicht. Ich glaube es ist jetzt zwei Wochen her, seit Ra‐rakk und der stumme Dämon zum ersten Mal meinen Kühlschrank geplündert haben. Das wiederholen sie nun alle vier oder fünf Tage. Ich sollte sie deswegen zur Rede stellen, wage es aber nicht. Sie sind so groß, so stark, so fürchterlich. Nur gut, dass sie gerade nicht da sind. Mein Herz schlägt viel ruhiger, wenn sie auf Jagd gehen und ich das Haus für mich habe. Jedenfalls meistens. Heute aber nicht. Denn … Da! Da war es schon wieder. Dieses Geräusch vom Dachboden.
Eine Stimme? Ein Schrei? Wie seltsam … Nein, von den Büchern kam es nicht. Deren Stimmen klingen anders. Sie kommen direkt aus meinem Kopf. Doch dieser Schrei, der kam von oben. Schmerzerfüllt, klagend, voller Angst. Aber wie kann das sein? Die beiden sind fort, niemand ist dort oben. Nur ich bin hier, und meine Bücher. Die Dämonen sind unterwegs, ich könnte also … Nein, nein, lieber nicht. Wenn sie eher heimkommen … Ich will sie nicht stören. Aber sie müssen mir doch gehorchen. Ich bin ihr Meister, warum also nicht? Was kann mir schon passieren? Ich gucke in den Raum, überzeuge mich, dass es nur ein loses Brett ist, das sich quietschend im Wind bewegt, und gehe dann wieder runter. So einfach ist das. Ich werde dann beruhigt sein, und sie werden es gar nicht merken. Schon wieder dieses Geräusch! Kann Holz solche Töne von sich geben? Einen langgezogenen Klagelaut? Vielleicht … vielleicht … Schließlich besiegt die Neugier meine Angst, und ich steige die Treppe nach oben. Ich habe sie lange nicht mehr benutzt, sondern nur im Erdgeschoss gelebt. Wie seltsam sich die Stufen unter meinen Füßen anfühlen. Alle paar Schritte halte ich inne und lausche. Doch ich höre nichts. Habe ich mich getäuscht? Ich gehe weiter, werde schneller. Die Furcht, von den beiden überrascht zu werden, treibt mich zur Eile. Endlich stehe ich vor der schmalen Bodentür und öffne sie mit zitternden Fingern. Fauliger Geruch schlägt mir entgegen. Ich muss mich beinahe übergeben. Ich kann es gerade noch verhindern und atme von nun
an durch den Mund, damit es nicht mehr ganz so schlimm ist. Was ist nur in dem Raum? Es ist so finster, dass man kaum etwas erkennen kann. Selbst das Licht aus dem Treppenhaus kann diese Dunkelheit nicht durchdringen, so als wäre der Raum von einem dicken, alles verschluckenden Nebel erfüllt. Ich mache einen Schritt in den Raum hinein, taste nach dem Lichtschalter und greife in etwas Klebriges. Ich zucke zurück, versuche es noch mal und finde den Schalter. Dämmriges Licht erfüllt den Raum. Mir stockt der Atem. Der Boden ist bedeckt von runden Objekten – lehmfarben, feuchtglänzend, so hoch wie zwei Männerfäuste. Angewidert und fasziniert betrachte ich die Dinger. Es gibt Hunderte von ihnen. Einige bewegen sich leicht. Etwas zuckt im Inneren. Da begreife ich. Eier! Ra‐rakk hat Eier gelegt. Verdammt, natürlich! Der Stumme ist ja schließlich männlich. Die beiden haben sich fortgepflanzt. Und wenn diese kleinen Biester ausschlüpfen, werden sie niemandem gehorchen müssen, sie werden keinen Meister haben. Sie können sich frei ausbreiten und alles quälen und fressen, was ihnen in die Klauen kommt. Mir wird plötzlich eiskalt. Da entdecke ich die großen Gebilde, die in einer Ecke von der Decke hängen wie riesige Kokons. Es sind vielleicht zehn Stück. Ich trete vorsichtig näher. Da höre ich wieder diesen Klagelaut, diesmal sehr nahe. Und ich erkenne ein Gesicht in dem Kokon. Menschen! Gefangen, eingesponnen, an die Decke gehängt. Ich hätte nie
gedacht, dass Ra‐rakk sowas kann – wie eine verdammte Spinne! Ihre Opfer leben noch. So hat sie sich also an meine Befehle gehalten. Die Menschen wurden von ihr weder verletzt noch getötet – bloß verschleppt –, und mit den Lebensmitteln aus meinem Kühlschrank hat sie sie am Leben erhalten. Dies sind Opfer für ihre Brut, damit die nach dem Schlüpfen gleich frische Nahrung hat. Lebendes Fleisch, das sie foltern können, bevor sie es fressen. Das Gesicht von einem der Gefangenen ist nicht richtig eingesponnen – der Mund liegt beinahe frei –, und von ihm kommen die klagenden Hilferufe. Erschöpfte, ängstliche Augenblicken mich an, völlig verwirrt, von Grauen erfüllt, dem Wahnsinn nahe. Verdammt, wie lange hängt er schon hier? Meine Hände zittern unkontrolliert, während ich ihn aus dem Gespinst zu befreien versuche, doch es sitzt zu fest. Sicherlich können es nur Dämonenklauen zerreißen. Ich brauche ein Messer. Und irgendwas, womit ich die Eier vernichten kann, bevor die Biester schlüpfen. Benzin vielleicht … Ja, Feuer! Oder würde Ra‐rakk auf mich hören und ihre Brut vernichten? Niemals, sie würde das als Bruch des Paktes ansehen. Ich muss es selbst tun. Ich stürze auf die Tür zu. Verdammt ist der Boden schlüpfrig. Er ist von irgendeinem Schleim bedeckt. Ich habe die Tür beinahe erreicht, da rutscht mein rechter Fuß weg. Ich falle nach vorne, sehe die Treppe näher kommen. Dann nichts mehr …
* Als ich wieder zu mir komme, liege ich auf der Seite. Ich bin noch immer auf dem Dachboden, umgeben von diesen ekligen Eiern. Sie sind kaputt, aufgebrochen. Die Biester sind geschlüpft! »Dummer Meister«, zischt Ra‐rakk und baut sich vor mir auf. Ich blicke zu ihr hinauf, will mich bewegen und kann es nicht. Verdammt. Ich bin gefesselt. Eingesponnen … Ra‐rakk grinst mich an. Ich will ihr einen Befehl zurufen – und kann es nicht. Mein Mund ist ebenfalls von diesem klebrigen Zeug bedeckt, mit dem sie mich eingesponnen hat. Ich kann keinen Laut hervorbringen, nur ein schwaches Stöhnen. Diese verdammte Dämonin! Sie muss mich gefunden haben, als ich bewusstlos war. Natürlich hat sie das ausgenutzt. Verdammt, verdammt, verdammt! Ich habe Angst vor dem, was nun passieren wird. Ich ahne es schon. Kalter Schweiß bricht mir aus. Mein Herz rast, als ich sehe was sich hinter Ra‐rakk bewegt: kleine dunkle Gestalten, so groß wie Ratten. Perfekte Abbilder von ihr. Ihre Brut! Frisch geschlüpft und hungrig. Sie drücken sich in den Schatten herum, lauern. Die Biester geben zischende Geräusche von sich, knurren leise, knirschen mit den Zähnen. »Seht, Kinder«, sagt Ra‐rakk und deutet grinsend auf mich, »Frisches Futter.« Die Kleinen kommen langsam näher … Immer näher … Alles was ich sehe, sind diese Biester.
Zähne aus Stahl, Krallen aus Eis, wohin ich auch blicke. Ich schließe die Augen. Und warte … ENDE