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Iver Hand
Strategischsystemische Aspekte der Verhaltenstherapie Eine praxisbezogene Systematik in ihren historisch-autobiografischen Bezügen
SpringerWienNewYork
Prof. Dr. med. Iver Hand FA Psychiatrie/Psychotherapie FA Psychother. Medizin Hamburg, Deutschland Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2008 Springer-Verlag/Wien Printed in Austria SpringerWienNewYork ist ein Unternehmen von Springer Science + Business Media springer.at Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Produkthaftung: Sämtliche Angaben in diesem Fachbuch/wissenschaftlichen Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung und Kontrolle ohne Gewähr. Eine Haftung des Autors oder des Verlages aus dem Inhalt dieses Werkes ist ausgeschlossen. © der Bilder auf den Seiten 43 bis 47 bei Brilliant Enterprises: Ashleigh Brilliant, Santa Barbara, CA, USA, mit freundlicher Abdruckgenehmigung. Der Autor und der Verlag bitten um Verständnis dafür, dass in Einzelfällen die Bemühungen um die Abklärung der Urheberrechte des Bildmaterials ohne Ergebnis geblieben sind. Gegebenenfalls bitten wir den Leser, sich mit dem Autor bzw. dem Verlag in Verbindung zu setzen. Umschlagbild: GettyImages/Marie Bertrand Porträt-Foto des Autors: Photodesign Werner Bartsch, Hamburg Layout: Martin Gaal Satz: Grafik Rödl, 2486 Pottendorf, Österreich Druck und Bindung: Ferdinand Berger & Söhne Ges.m.b.H., 3580 Horn, Österreich Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier – TCF SPIN: 11377559 Mit 9 Bildern und 10 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-211-25219-2 SpringerWienNewYork
Nicht geschehene Taten lösen oft einen katastrophalen Mangel an Folgen aus. Stanislaw Jerzy Lec
Prolog Zur Verhaltenstherapie stehen heute sehr gute Lehrbücher zur Verfügung, in denen detailliert Grundlagen, Störungsmodelle und Behandlungswissen vermittelt werden. Die Therapeuten behandeln allerdings immer häufiger komplexe Mehrfacherkrankungen mit ausgeprägten intra- und interindividuellen Funktionalitäten. Auf die dafür erforderliche Strategie gehen vorhandene Lehrbücher jedoch weniger ein. Vielmehr wird zunehmend „störungsspezifische“, möglichst auch manualisierte Therapie gefordert. Wie entscheiden wir aber bei komplexen Störungen und problematischer Veränderungsmotivation, welche Störungen und Problembereiche wie und in welcher Reihenfolge bearbeitet werden sollten und können – mit oder ohne Einbeziehung des sozialen Umfeldes? Dieses Buch kann bei der Beantwortung dieser Fragen hoffentlich hilfreich sein. Dazu vorweg einige Begriffsklärungen: Die (Be-) Handlungsstrategie ist erfahrungsabgeleitet, pragmatisch und ohne Theorieanspruch. Sie beinhaltet eine kausal und funktional orientierte Hierarchisierung von Symptom-, Störungs- und Problembereichen auf der Basis eines biographisch abgeleiteten, individuellen Entwicklungsmodelles, unter Einbeziehung der aktuellen bio-psycho-sozialen Einflussfaktoren. Dadurch ergeben sich (in der Regel) klare Kriterien für die Indikationsstellung einer überwiegenden Symptomtherapie, einer reinen Ursachentherapie („Therapie am Symptom vorbei“) oder einer Kombination beider. Die inherente systemische Orientierung bezieht alle relevanten Beziehungspersonen des Patienten in die therapeutischen Überlegungen (einschließlich der
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Motivationsanalysen) ein – gegebenenfalls auch in die Patient-Therapeut-Beziehung. Hypothetisch wird erörtert, wer wen wann wozu oder wohin bewegen möchte und kann (damit zugleich Überprüfung der Kongruenz mit der verbalisierten Veränderungs-Motivation, s. Kap. 4.3.3 und 4.3.5). Zugleich wird hypothetisch abgeleitet, welche Konsequenzen Veränderungen bei einer Person (Patient oder Angehöriger) bei den anderen Personen im engeren sozialen Umfeld bewirken werden. Dabei erfolgt im therapeutischen Dialog die Anregung des Patienten zu eigener Hypothesenbildung – auch über den Vorschlag mehrerer eigener Hypothesen des Therapeuten als „Spielbälle“ für den Patienten. Dieser entscheidet: Annehmen; sie mit dem Therapeuten weiterspielen; vorbeifliegen lassen; zurückspielen. Der Patient wird dann ermutigt zu entscheiden, welche der denkbaren Konsequenzen spezifischer Interventionen er wünscht bzw. in der Lage ist zu akzeptieren („informed consent“). Der Behandlungsplan enthält: Die Synthese der aktuellen Veränderungs-Motivation bei allen Beteiligten; die Begründung des Einsatzes oder (vorläufigen) Verzichtes auf („evidenzbasierte“) störungsspezifische Verfahren/Techniken; eine (vorläufige) Therapiezielsetzung; eine (vorläufige) inhaltliche und zeitliche Hierarchisierung des multimodalen Therapiepaketes. Danach dient jeder Interventionsschritt auch der Überprüfung der Hypothesen und Zielsetzungen. Das hier vorgestellte Diagnostik- und Therapiemodell (s. Kap. 4) ist nicht „evidenzbasiert“ i. S. der Cochrane-Kriterien. Es hat sich aber in 30 Jahren der Aus- und Weiterbildung psychologischer, ärztlicher und krankenpflegerischer Verhaltenstherapeuten im Rahmen beforschter Versorgung als gut vermittelbar und als zu therapeutischer Kompetenz verhelfendes
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Konzept erwiesen. Der Großteil der Behandlungen wurde auch durch störungsspezifische und andere Testdiagnostik hinsichtlich seiner unmittelbaren Auswirkungen dokumentiert und in etlichen Katamnesestudien bei verschiedenen Angststörungen, Zwangsstörungen und Impulskontrollstörungen (pathologisches Glücksspielen; Trichotillomanie) evaluiert. Die Integration systemischer Sichtweisen in die Verhaltenstherapie ist nach wie vor „im Fluss“. Sie wird auch in der Richtlinien-VT bei Therapeuten wie Gutachtern unterschiedlich bewertet. Bei den RichtlinienTherapeuten findet sie möglicherweise häufiger statt, als die Gutachter vermuten (s. Beispiele in Kap. 5.1), da Therapeuten in ihren Berichten „vorsichtshalber“ systemisch ausgerichtete Interventionen z. T. nicht anführen. Eine Klärung der offenen Fragen ist aber nur möglich, wenn in Publikationen, Forschung und im Rahmen der Richtlinien-VT diesbezüglich offen kommuniziert wird. Deshalb sind die Fallbeispiele (Kap. 5) spezifisch für eine diesbezügliche Diskussion ausgewählt. Ein Teil der Missverständnisse rührt eindeutig daher, dass „systemische Aspekte der Verhaltenstherapie“ oft mit „der Anwendung systemischer Therapien“ (unter Hinweis auf das Fehlen von Wirksamkeitsnachweisen derselben bei psychischen Störungen) gleichgesetzt werden. „Systemische Aspekte in der Verhaltenstherapie“ heißt aber grundsätzlich erst einmal „nur“, dass die interaktionellen Funktionen des Krankheits-Verhaltens und die systemischen Folgen von Verhaltensänderungen beim Patienten beachtet werden. Weiterhin beinhaltet dieses Konzept, bei der biografischen Analyse auch nach „interaktionellen Verletzungen“ (der Begriff „Trauma“ wäre durchaus angemessen, wird heute aber oft nicht mehr
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neutral verstanden) von der Kindheit bis zur Gegenwart zu suchen und deren aktuelle Konsequenzen sowohl intrapsychisch wie interaktionell (Beziehungsgestaltung) zu analysieren. Die daraus resultierenden Erkenntnisse führen dann in der Regel – über wieder kongruente Kommunikation (s. Kap. 5.1.2) – zu genuin verhaltenstherapeutischen Maßnahmen. In besonderen Situationen wird dies aber erst möglich über die intermittierende Anwendung spezifischer Techniken aus „systemischen Therapieschulen“ – insbesondere motivationalen Interventionen aus der direktiven Familientherapie (s. Kap. 5.1.1 und 5.1.2). Das beinhaltet jedoch keineswegs die Übernahme des Postulates „das Symptom ist die Problemlösung“ – aber die Erkenntnis, „das Symptom kann den Versuch der Problemlösung“ darstellen. Costykian meint das Gleiche mit dem „Symptom als self-medication“, und wir meinen das Gleiche mit dem „Symptom als Pseudo-Coping-Strategie“. Die Fallbeispiele in Kap. 5. können auch dieses hoffentlich verdeutlichen. Bezüglich jener Interventionen, die aus den systemischen Therapieschulen bzw. der direktiven Familientherapie übernommen wurden, gelten für Ausund Weiterbildung allerdings besondere Bedingungen, die heute in der Verhaltenstherapieausbildung nicht unbedingt mehr gegeben sind. Wie in den systemischen Therapieschulen sollte den Aus- und Weiterbildungskandidaten unbedingt die Möglichkeit gegeben werden, den Supervisor als Therapeuten zu erleben (teaching bei modelling) und auch eine direkte Supervision des eigenen therapeutischen Handelns durch den Supervisor zu erhalten (also nicht nur, wie weitgehend üblich, über die Berichterstattung). Leider ist diese früher übliche interaktive Weiterbildungskultur in der Verhaltenstherapie stark zurückgegangen.
Prolog
Im fallbezogenen Kapitel (Kap. 5) dieses Buches sind keine Beispiele für die aus dieser Systematik resultierenden Routine-Behandlungen dargestellt. 40 Jahre der Weiterentwicklung multimodaler Verhaltenstherapie und deren Integration in die Regelungen der Richtlinien-Verhaltenstherapie haben zumindest im deutschen Sprachraum unter erfahrenen Therapeuten zu sehr ähnlicher Arbeitsweise geführt. Die Routine-Arbeitsweise in 3 Jahrzehnten unseres Arbeitsbereiches ist in zahlreichen anderen Publikationen dargestellt (alle Publikationen, Dissertationen und Diplomarbeiten unseres Arbeitsbereiches unter: www.verhaltenstherapie-falkenried.de – dort weiter zu: Büro Hand, Literaturverzeichnis). Im fallbezogenen Kapitel (Kap. 5) wechsle ich zwischen der „Ich-“ und der „Wir“-Form der Darstellung. Damit möchte ich immer wieder darauf hinweisen, dass die entsprechenden Fallbeispiele sowohl aus von mir selbst durchgeführten Therapien/probatorischen Sitzungen stammen als auch aus „Lehrtherapien“ (zusammen mit AusbildungskandidatInnen) und aus von mir supervidierten Ausbildungstherapien (im ständigen Ideenaustausch mit den entsprechenden Mit-Therapeuten). Dabei war in den ersten beiden Jahrzehnten unseres Arbeitsbereiches, als es noch gar keine geregelten Perspektiven für ärztliche oder psychologische Verhaltenstherapeuten gab, das Engagement der AusbildungstherapeutInnen aus Psychologie, Psychiatrie und Krankenpflege ganz besonders beeindruckend. Die kontinuierliche Arbeit in einem verhaltenstherapeutischen Team ist eben ein Arbeiten in systemischen Bezügen – und diese „Selbsterfahrung der Interdependenz“ im beruflichen Alltag förderte wohl auch die systemische Sichtweise bei der Entwicklung
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des Therapiemodelles. Die übrigen, diesbezüglich relevanten Einflüsse sind in Kap. 3 und 4 (mit der daraus resultierenden Systematik) dargelegt. Rückblickend betrachte ich es auch als ein Privileg, dass ich die historische Entwicklung der Verhaltenstherapie (s. Kap. 2 und 6) als aktiv Handelnder miterleben und gestalten durfte. Ein Buch dieser Art ist, wie schon gesagt, nie das alleinige Produkt des Autors. Daher sei zum Abschluss auch einigen Personen gedankt, die außerhalb der Verhaltenstherapie meinen beruflichen Weg beeinflusst haben: w Meinem Geschichtslehrer Voigt, der mich überzeugte, dass man sein Hobby nicht zum Beruf machen sollte. w Prof. Lullies und der Universität Kiel, die mir das Medizinstudium trotz wenig beeindruckender Abiturnote ermöglichten. w Meinem Doktorvater, Prof. Winzenried (Psychiatrische Universitätsklinik Hamburg), der mich trotz meiner Zweifel an der damaligen Psychiatrie davon überzeugte, eine akademische Laufbahn zu versuchen. w Prof. Bürger-Prinz und Prof. Gross (Psychiatrische Universitätsklinik Hamburg), die mein Bemühen um eine verhaltenstherapeutische Weiterbildung in London erfolgreich auch bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützten – damit auch Dank an die DFG, die dieses Bemühen für förderungswürdig hielt. w Dem Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf und dem Psychologischen Institut der Universität Hamburg (hier besonders auch Prof. Berbalk und Prof. Dahme), die – in den 70er- und 80er-Jahren absolut keine Selbstverständlichkeit – eine enge Koopera-
Prolog
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tion von Medizin und Psychologie unterstützten, was sich auch besonders positiv auf die Verhaltenstherapie auswirkte. w Frau Schwisow, meiner Sekretärin über die letzten 20 Jahre am UKE. Als telefonische und persönliche Schaltstelle für unsere Patienten und Zuweiser sowie beim Anfertigen von Papers, Overheads oder PowerPoints war sie ebenso unverzichtbar wie als Entwicklerin von Software für unseren Arbeitsbereich. Zu meiner Verabschiedung initiierte sie schließlich das (noch?) nicht öffentliche „Hand-Buch“ (Hand im Erleben ehemaliger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter). w Frau Eichhorn, Lektorin im Springer-Verlag Wien, die einfühlsam, geduldig – und in unerschütterlichem Vertrauen auf das Gelingen – das Wachsen dieses Buches über mehrere Jahre förderte. Ohne sie (und ihr „just being there“, s. Kap. 3.1.1) wäre dieses Buch unter den Turbulenzen des Überganges vom universitären zum post-universitären Berufsleben (noch) nicht fertig geworden. Gedankt sei auch Herrn Schwarz im Springer-Verlag, der das fertige Manuskript dann z. T. in Nacht- und Wochenendarbeit für eine beschleunigte Publikation redigierte. Und last but not least zwei persönliche Danksagungen: w Meinen Eltern, die von früh an mein Neugierverhalten – unter Wahrung ihrer Verantwortlichkeit – positiv verstärkten. w Meiner Frau, Renate, die ihr geliebtes Wien verließ, 12 Umzüge in den ersten 10 Jahren gemeinsamer beruflicher Entwicklung aktiv und liebevoll unterstützte und dann 33 Jahre in Hamburg emotionalen Rückhalt in nicht nur leichten Zeiten gab. Hamburg, Oktober 2007
Iver Hand
Inhaltsverzeichnis Kurzbiografie XIX
1 Einleitung
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2 Geschichte der Verhaltenstherapie
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2.1 Aufbruch in eine neue (Verhaltens-) Psychotherapie – oder: „Die erste Welle“ 5 2.2 Die „kognitive (Kehrt?-)Wende“ – oder „Die zweite Welle“ 9 2.3 Die neoanalytisch beeinflusste Wiederentdeckung prägender Gefühle und Beziehungen – oder „Die dritte Welle“ 13
3 Von der Symptom- zur auch Person-spezifischen Orientierung: Autobiografische Skizzen aus einem „Learning by Doing“ 23 3.1 Erfahrungen am Middlesex-Hospital London 25 3.1.1 Der „nichts-sagende“ Therapeut oder „just being there“ – Sonderform der therapeutischen Beziehung? 25 3.1.2 „Exposition mit 24 Stunden Supervision“ – und wo bleibt die Motivation? 27 3.2 Erfahrungen am Maudsley-Hospital London 27 3.2.1 Agoraphobiker und Zwangskranke in der Einzel-Exposition – die Therapeut-Patient-Beziehung doch relevant? 28 3.2.2 Agoraphobiker in der störungsspezifischen Gruppen- Exposition – personenspezifische Überraschungen vor, während und nach der Therapie 30
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Inhaltsverzeichnis
3.2.3 Partnerschaftliche Risikofaktoren für die Durchführung einer intensiven Kurzzeit-SymptomExposition 38 3.2.4 Chronische Agoraphobie – immer ein Leiden? 39 3.3 Erfahrungen am Institut National de la Recherche Scientifique, Montreal 41 3.3.1 „Veränderungs-Motivation“ beim Patienten – Fiktion beim (Forschungs-) Therapeuten und Fakt im Experiment 41 3.4 „Join the Client Where He Is“ – But: Where Is He? And Is He Where He Says to Be? 42 3.5 „Find the Client“ – with a „Good Sense of Humor“ 42
4 Multimodale, strategisch-systemische Verhaltenstherapie 49 4.1 Was ist Verhaltenstherapie – und wer entscheidet die Antwort? 49 4.2 Gesamtkonzept, Rahmenbedingungen und Ablaufphasen 53 4.3 Die „probatorischen Sitzungen“ 56 4.3.1 Formalia in der „Richtlinien-Verhaltenstherapie“ 56 4.3.2 Formalia in der Therapeut-PatientBeziehung 56 4.3.3 Die formale und inhaltliche Strukturierung 58 4.3.4 Die interaktionelle und inhaltliche Gestaltung 62 4.3.5 Besondere Probleme bei der MotivationsAnalyse und -Modifikation beim Patienten und seinem sozialen System 67 4.3.6 Ethische Probleme bei indirekten Behandlungsstrategien 79
Inhaltsverzeichnis
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4.4 Hypothesenbildung und Therapieplanung 80 4.4.1 Grundlagen der Strategie 80 4.4.2 Systematik der systemischen Aspekte 91
5 Strategie der Integration systemischer Aspekte in den Verhaltenstherapie-Prozess 99 5.1 Grundlagen 99 5.1.1 Strategisch-systemisch orientierte Verhaltenstherapie und verhaltenstherapeutische Paar-/ Familien-Therapie 102 5.1.2 Motivationale Strategien aus der direktiven Familientherapie 107 5.2 Systemische Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen 113 5.2.1 Einführung 113 5.2.2 Aktuelle systemische Funktionalität, SymptomMuster und Biografie 118 5.2.3 Symptom-Muster ohne aktuelle systemische Funktionalität – und Verletzungen in der Biografie 171 5.3 Systemische Funktionsanalysen und ihre Effekte im Therapie-Prozess 180 5.3.1 Die probatorischen Sitzungen als Therapie 180 5.3.2 Von der Symptom-Exposition zur KonfliktExposition 192 5.3.3 Familiensitzungen als Ergänzung zur stationären Einzel-Verhaltenstherapie 201 5.3.4 Stationär-ambulante Therapievernetzung 215 5.3.5 Ambulante Verhaltenstherapie 227
6 Epilog: Freie Assoziationen
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6.1 Wären die Beispiele in Kap. 5.1.1.2 auch in der Richtlinien-VT abrechenbar gewesen? 253
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Inhaltsverzeichnis
6.2 Die Bedeutung psychisch schmerzhafter Beziehungserfahrungen 258 6.3 Merkmale erfolgreicher und nicht erfolgreicher Verhaltenstherapeuten 260 6.4 „Unbewusste (Be-)Handlungsmotivation“ – auch beim Autor? 264 6.5 Auf den Punkt gebracht (In a nutshell) 268
Literaturverzeichnis 269
Kurzbiografie Prof. Dr. med. Iver Hand Iver Hand, geboren 1941. Studium der Medizin in Kiel, Wien, München und Hamburg. Verhaltenstherapeutische Weiterbildung (mit DFG Stipendium) in London und Montreal (1971–1974). Gründung und Leitung des Bereiches Verhaltenstherapie am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf (1976–2006). Vertretungsweise Wahrnehmung von C2 und C4 Professuren Klinische Psychologie/Verhaltenstherapie an der Universität Hamburg. Entwicklung einer biografisch und strategisch-systemisch orientierten Verhaltenstherapie (seit 1976). Verhaltenstherapie-Lehre in den meisten Ländern Europas, in Nordamerika und Asien. Mehrere Hundert Publikationen mit dem Team (6 Sprachen). Schwerpunkte der Forschung: Angst-, Zwangs- und Zwangsspektrum-Störungen. Zusammen mit H. U. Wittchen Gründer von „Verhaltenstherapie“ im Karger-Verlag. Berater der Kassenärztlichen Bundesvereinigung bei der Einführung der Verhaltenstherapie in die Kassenärztliche Versorgung. Mitbegründer und 1. Vorsitzender des IWVT (Institut für Weiterbildung in der VT) in Hamburg und Gesellschafter, Dozent und Supervisor im daraus hervorgegangenen IVAH (Institut für Verhaltenstherapie – Ausbildung Hamburg). Seit 2006 Fortsetzung der Leitung des „SpielerProjektes“ am UKE und eigenes Büro in der „Verhaltenstherapie Falkenried“. Weiterhin Mitglied der Medizinischen Fakultät der Universität Hamburg.
1 Einleitung Aktuelle Lehrbücher der Verhaltenstherapie sind umfangreich und gehen detailliert auf die Behandlungstechniken, einzelne Störungsbilder und die Anwendung einer oder mehrerer Verfahren bei den jeweiligen Störungsbildern ein. Manchmal sind sie auch ausgesprochen theorieorientiert. Dieses Buch ist als Ergänzung zur vorliegenden Literatur gedacht: Darstellung einer (Be-)Handlungsstrategie der Verhaltenstherapie, die, auf dem Hintergrund detaillierter biografischer Analysen, die Funktionsdiagnostik des Krankheitsverhaltens (intrapsychische und interaktionelle Funktionalität) bei Patient und sozialem Umfeld betont. Es wird erfasst, welche Auswirkungen das „Krankheits-Verhalten“ auf das engere soziale Umfeld (privat und beruflich) hat – und welche Konsequenzen dessen Veränderungen auf die zukünftige Lebensgestaltung von Patient und Umfeld hypothetisch haben könnten oder müssten. Damit wird auch die Klärung der Motivation zur Veränderung sowohl des Krankheitsverhaltens wie auch problematischer Verhaltensweisen in der täglichen Lebensführung unterstützt. Es folgt dann eine erste „Hochrechnung“ dazu, was Patient und Umfeld zum jeweils gegebenen Zeitpunkt überhaupt „wollen können“. Diese Analysen sind integriert in eine hierarchisierte, multimodale Diagnostik, aus der dann der hierarchisierte, multimodale Behandlungsplan abgeleitet wird. Diese Behandlungsstrategie wurde im Laufe der letzten 3 Jahrzehnte an der Verhaltenstherapie-Ambulanz des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf entwickelt und in den wöchentlichen Teamsupervisionen von einer mittlerweile großen Anzahl von (Ausbildungs-)Therapeuten in den wöchentlichen
(Be-)Handlungsstrategie der Verhaltenstherapie Funktionsdiagnostik des Krankheitsverhaltens
Motivation zur Veränderung
Was Patient und Umfeld „wollen können“
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Einleitung
Evidenz-basierte, manualisierte „störungsspezifische Therapie“ „Richtlinien-Verhaltenstherapie“
Teamsupervisionen hinsichtlich ihrer Praktikabilität kontinuierlich überprüft und modifiziert. Die Tätigkeit in dieser Versorgungsambulanz – mit einem sehr hohen Durchlauf an Patienten aus dem gesamten Spektrum psychischer Störungen (Hand et al., 2000) – erforderte die Entwicklung eines einerseits komplexen, andererseits zu rascher Hypothesenbildung führenden diagnostischen Vorgehens. Es sollte frühzeitig eine erste klare Behandlungsstrategie für das anzustrebende Minimum an Therapiesitzungen (im Mittel 15–25) abzuleiten sein. Im Laufe der Jahrzehnte wurden in mehreren Störungsbereichen (insbesondere Angststörung, Zwangsstörungen und Zwang-Spektrum-Störungen) in Anwendungsbeobachtungsstudien (in enger Zusammenarbeit mit der Abteilung für Verhaltenstherapie des Psychologischen Instituts der Universität Hamburg) ihre Langzeitwirkungen überprüft. Der Arbeitsstil in so einer Ambulanz unterscheidet sich wesentlich von dem in einer primär forschungsorientierten Ambulanz und ist vor allem geprägt durch eine Systematik (Strategie) zur raschen Ableitung pragmatischer Lösungen anstelle der Überprüfung komplexer Theoriengebäude. Diese Strategie soll helfen, die Entscheidung für Therapeut und Patient bezüglich einer überwiegenden Symptom-Therapie, einer reinen Ursachen-Therapie („Therapie am Symptom vorbei“, Hand, 1982) oder auch einer Kombination beider zu erleichtern. Diese Praxis-abgeleitete Strategie wird als „roter Faden“, unter Einbeziehung von Fallbeispielen, sowohl unter individuellen wie auch systemischen Aspekten dargestellt. Damit wird auch ein Beitrag zur aktuellen Diskussion um Evidenz-basierte, manualisierte „störungsspezifische Therapie“ einerseits und die in der „Richtlinien-Verhaltenstherapie“ der gesetzlichen Krankenversicherungen in Deutschland seit jeher üb-
Einleitung
liche multimodale Therapie andererseits geleistet. In den Prozess der Integration der Verhaltenstherapie in die kassenärztliche Versorgung war der Autor sehr aktiv eingebunden. Die angloamerikanische Verhaltenstherapie (-Forschung) ist nach wie vor dominiert durch symptom- bzw. störungsspezifische, technikorientierte (Ultra-) Kurzzeit-Interventionen von 8–12 Sitzungen, da die meisten Krankenversicherungen dort nur in diesem Rahmen Kostenerstattung vornehmen. Die Kurzzeit-Effekte dieser Therapien mit stark selektierten Patientenstichproben sind immer wieder zutiefst beeindruckend, leider gibt es dazu aber kaum Langzeit-Katamnesen. Ihre tatsächliche Wirksamkeit ist daher schwer beurteilbar. Zu den in der Richtlinien-VT in Deutschland (und der Aus- bzw. Weiterbildung dafür) ganz im Vordergrund stehenden multimodalen diagnostischen und Behandlungskonzepten liegen allerdings ebenfalls keine Wirksamkeitsbelege vor. Bisher wurden nur an einigen wenigen Institutsambulanzen entsprechende Anwendungsbeobachtungsstudien mit Langzeit-Katamnesen durchgeführt. Selbst innerhalb sehr spezifischer Störungsbilder sind die Patienten hinsichtlich auslösender und aufrechterhaltender Bedingungen und Funktionen des Krankheitsverhaltens und ihrer Veränderungsmotivation heterogen. Entsprechend unterschiedliche Konsequenzen ergeben sich für die Individuum-bezogene Behandlung. Die wesentlichen Inhalte der multimodalen Verhaltenstherapie waren, sind und werden auch auf längere Sicht nicht das Ergebnis randomisierter Doppelblind-Studien für das Cochrane-Archiv sein. Sie resultieren aus der präzisen Beschreibung einfacher und kumulierter Einzelfallstudien und aus gruppen-
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Anglo-amerikanische Verhaltenstherapie
Richtlinien-VT in Deutschland
Innerhalb spezifischer Störungsbilder sind Patienten heterogen
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Einleitung
statistisch beforschten, meist störungsspezifischen Anwendungs-Beobachtungsstudien. Ein intensiver Austausch zwischen erfahrenen Praktikern und Therapieforschern ist dabei die beste Quelle für neue praxisrelevante Forschungsideen.
2 Geschichte der Verhaltenstherapie Die Verhaltenstherapie hat seit den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts in Nordamerika, Europa, Asien und Südostasien enorm an Bedeutung gewonnen. Dabei hat sie, wie die analytisch-tiefenpsychologischen Therapien, eine Reihe von Entwicklungsstadien durchlaufen, unterschiedliche Schulrichtungen entwickelt und sich immer Einflüssen aus anderen Therapieformen gegenüber offen gezeigt. Die gemeinsame Grundorientierung der verschiedenen verhaltenstherapeutischen Richtungen beinhaltet jedoch: das kontinuierliche Bemühen um eine empirisch-experimentelle Evaluation theoretischer und therapiebezogener Konzepte auf der Basis der experimentellen Psychologie und bio-sozialer Forschung; eine kontinuierliche (Weiter-)Entwicklung und Evaluation neuer therapeutischer Strategien und Technologien für eine wachsende Anzahl psychischer Störungen.
Gemeinsame Grundorientierung der verschiedenen verhaltenstherapeutischen Richtungen
Im Folgenden soll die Entwicklung der Verhaltenstherapie in ihren wichtigsten Stadien und Richtungen kurz zusammengefasst werden.
2.1 Aufbruch in eine neue (Verhaltens-) Psychotherapie – oder: „Die erste Welle“ Im Gegensatz zur psychodynamisch-psychoanalytischen Therapie hat die klinische Verhaltenstherapie kein eigenständiges „Menschenbild“ (mit verbindlichen Vorstellungen über die menschliche Natur) ent-
Kein eigenständiges „Menschenbild“
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Geschichte der Verhaltenstherapie
wickelt, obwohl es diesbezüglich bei Theoretikern der behavioralen und kognitiven Richtungen immer wieder entsprechende Ansätze gegeben hat. Einigen erscheint dies als Vorteil, anderen als Nachteil der Verhaltenstherapie. Der Vorteil liegt u. a. darin, dass die Verhaltenstherapie sehr gut in Kulturen integrierbar ist, die stark von spezifischen Normen oder religiösen Einflüssen mitgeprägt sind. Auf PsychotherapieKonferenzen im asiatisch-pazifischen Raum wurde dieser Aspekt der Verhaltenstherapie im Hinblick auf Integrationsmöglichkeiten in islamische, buddhistische oder taoistische Traditionen wiederholt betont
Warnungen vor Missbrauch
Klinische Verhaltenstherapie
(Beispiel bei Azhar, 1997). In Europa und Nordamerika wurde die Verhaltenstherapie in ihren Anfangsjahren – z. B. von „humanistischen“ Psychotherapeuten – oft als manipulative Technologie diskreditiert. Nun sind Warnungen vor dem möglichen Missbrauch von Verfahren, die Denken, Gefühle und Verhalten beim Menschen verändern können, immer indiziert: Fast jede wirksame Kommunikationstechnik kann missbräuchlich-manipulierend eingesetzt werden. Deshalb wurden Regeln für die Vermeidung solchen Missbrauches oder einer schädlichen irrtümlichen Anwendung innerhalb der anerkannten Therapierichtungen entwickelt, wenn auch nicht immer befolgt. Welche psychotherapeutischen Techniken aus welchen Schulen mit welchen Effekten außerhalb der gesetzlich anerkannten Therapierichtungen eingesetzt werden, ist schwierig beurteilbar. Die klinische Verhaltenstherapie wurde in den späten 50er-/frühen 60er-Jahren in Südafrika, England und den USA entwickelt. Die südafrikanischen Psychologen Rachmann, Lazarus und Wilson sowie die dortigen Ärzte Wolpe und Marks wanderten früh nach Großbritannien und in die USA aus und wurden
Aufbruch in eine neue (Verhaltens-) Psychotherapie
dort in wenigen Jahren sehr einflussreich. Mehrere der frühen „Väter“ der Verhaltenstherapie hatten initial eine volle oder teilweise Ausbildung in psychoanalytischen Therapieformen erhalten (z. B. Wolpe). Für einige der späteren kognitiven Therapeuten galt Gleiches (z. B. Beck, Ellis). Die frühe Verhaltenstherapie wurde einerseits von dem lerntheoretischen Konzept der klassischen („Pawlowschen“) Konditionierung, vor allem bezogen auf Angst- und Zwangsstörungen, und andererseits von dem der operanten Konditionierung, vor allem bezogen auf Psychosen, abgeleitet. Wolpe begründete seine systematische Desensibilisierung mit dem Konzept der „reziproken Hemmung“, die er zur generellen Grundlage effektiver Psychotherapie erklärte (Wolpe, 1958). Nach diesem Konzept sollten angstauslösende Stimuli ihren spezifischen Effekt verlieren, wenn sie wiederholt zusammen mit Stimuli präsentiert würden, die den „Angstreflex“ hemmen (z. B. Entspannung, sexuelle Stimulation, induzierte Aggression, etc.). Etwa zur gleichen Zeit entwickelten in London am Maudsley Hospital/Institute of Psychiatry und am Middlesex Hospital Rachmann, Marks, Gelder und Matthews einerseits und Meyer andererseits die Expositionstherapie für Angst- und Zwangsstörungen. Als Wirkmechanismus wurde aber die Habituation der Angstreaktion bei prolongierter Stimulusexposition postuliert. Statt durch einen konkurrierenden Stimulus die Angstreaktion zu hemmen, wurde hier die Induzierung von Angst durch Stimulusexposition angestrebt, um dann deren Habituation einzuleiten (einen Überblick über die Entwicklung dieses Prinzips, von frühen Kulturen bis in die Verhaltenstherapie der Gegenwart, gibt z. B. Marks, 1978). Die Extremvariante dieses Ansatzes, das sog. Flooding, strebt sogar die maximale Angstprovokation in
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Klassische Konditionierung
Operante Konditionierung
Reziproke Hemmung
Habituation
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Geschichte der Verhaltenstherapie
Früher emotionsorientierter Ansatz
Operante Konditionierung
Sie taten, was sie sollten, um zu bekommen, was sie wollten
Multimodale Verhaltenstherapie
der Therapiesitzung an, damit nach deren Bewältigung im Alltagsleben auftretende Ängste nicht mehr als überwältigend erlebt werden. Es handelte sich damit also eigentlich um einen frühen emotionsorientierten Ansatz, was viele Jahre in der Debatte zwischen den behavioralen und den kognitiven Theoretikern völlig übersehen wurde (s. Marks, 1978; Hand, 1993, 2007). In den USA war die zweite einflussreiche Verhaltenstherapieschule, die von Skinner (1974), aus der Lerntheorie der operanten Konditionierung abgeleitet worden. Beobachtbares Verhalten wurde hier als die Konsequenz seiner positiven oder negativen Verstärkung durch das (soziale) Umfeld interpretiert. Eine frühe klinische Applikation war die „token economy“ (monetäre Belohnung bei Auftreten erwünschten Verhaltens) bei chronisch schizophrenen, hospitalisierten Patienten (Ayllon und Azrin, 1968). Es stellte sich dann aber bald heraus, dass mit diesem Verfahren Patienten zwar rasch lernten, sich in einem stringent an der token economy ausgerichteten Umfeld in ihrem Verhalten so zu ändern, dass sie taten, was sie sollten, um zu bekommen, was sie wollten. Nach Rückkehr in ihre Herkunftsklinik mit ganz anderen Umgangsformen entwickelten sie jedoch bald wieder die gewohnten Hospitalisierungs-Verhaltenseffekte. Das Training des dortigen Personals hätte also parallel zur Therapie der Patienten laufen müssen, wobei die Akzeptanz von token economy in Kliniken damals und heute ausgesprochen gering war und ist. Der Begriff „Verhaltenstherapie“ wurde in einem wissenschaftlichen Journal erstmals von Lazarus (1958) im South African Medical Journal verwendet. Ein Jahrzehnt später wurde Lazarus dann der Vater der multimodalen Verhaltenstherapie, die bis heute den stärksten Einfluss auf die klinische Verhal-
Die „kognitive (Kehrt?-)Wende“
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tenstherapie hat. Lazarus proklamierte 7 therapierelevante Ebenen für die individuelle Therapieplanung: Verhalten, Gefühle, Sinnesempfindungen, bildhafte Vorstellungen, Kognitionen, interpersonale Beziehungen und biologische Faktoren (Review dieser Entwicklung von Lazarus selbst, 2001). Multimodale Verhaltenstherapie in etlichen Varianten ist auch charakteristisch für die Richtlinien-Verhaltenstherapie in Deutschland (s. Faber und Haarstrick, 2005). Die Akzeptanz der genannten Varianten der Verhaltenstherapie hatte Hans Eysenck am Institute of Psychiatry in London, obwohl selbst gar kein Therapeut, mit seiner anhaltenden Diskreditierung der klassischen Psychotherapieschulen vorbereitet (1952).
2.2 Die „kognitive (Kehrt?-)Wende“ – oder „Die zweite Welle“ In der „zweiten Welle“ trat bei einem Gutteil der Verhaltenstherapeuten die Beschäftigung mit intrapsychischen Prozessen in den Vordergrund. Dabei spielten die „Selbstpsychologie“ und die kognitive Theorie eine entscheidende Rolle. Zur Ersteren zählen z. B. die „Selbst-Psychologie“ von Bandura („Selfefficacy“; Bandura, 1977), das „Self-Instruction-Training“ (Meichenbaum, 1975), sowie Kanfers „SelbstManagement“ und „Selbst-Regulation“ (Kanfer, 1970). Erst zögerlich, dann umso erfolgreicher, kamen Becks Kognitive Therapie (Beck, 1976) und – zusätzlich emotionsorientiert – Ellis’ Rational-Emotive Therapie (Ellis, 1973) in die Verhaltenstherapie. Diese Autoren waren anfangs noch unsicher, ob ihre Vorgehensweisen in die Verhaltenstherapie integriert werden sollten und könnten; ähnlich zögerlich war auch die Reaktion vieler Verhaltenstherapeuten. Heute gilt die
Selbst-Psychologie
Kognitive Therapie
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Geschichte der Verhaltenstherapie
Kognitivismus Behaviorismus
Oxforder Schule Verhaltens-Experimente
Integration als vollzogen. Insbesondere Beck gilt seither als der Vater der „kognitiven Wende“ in der Verhaltenstherapie. In Deutschland wurde für viele Psychoanalytiker Verhaltenstherapie erst dadurch akzeptabel. Aus der Sicht vieler Verhaltenstherapeuten war diese „Wende“ aber überhaupt keine, sondern eher ein wissenschaftlicher und therapeutischer Rückschritt (ausführliche Diskussion in Pomini und Philippot, 2001). Für manche hatte die massive Propagierung der kognitiven Therapie (KT) und der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT) quasi-religiösen Charakter („Kognitive Kirche“, Emmelkamp, 2001). Tatsächlich war der anfängliche Kognitivismus konzeptuell ähnlich simplifizierend wie der frühere Behaviorismus. Da diese Art zu denken mit der Ausbreitung der multimodalen Verhaltenstherapie unter Klinikern eigentlich als überwunden galt, war es umso erstaunlicher, dass die „kognitive Wende“ in der Verhaltenstherapie derart populär wurde. Die Frage, ob dysfunktionale Gedanken eher durch Experimente mit verändertem Verhalten (in der Verhaltenstherapie mit Exposition seit Jahrzehnten üblich) oder ob dysfunktionales Verhalten eher durch kognitive Interventionen veränderbar sind, ist bis heute ungeklärt. Hupert et al. (2001) konnten, wie etliche andere Studien, z. B. bei Panikstörung keine wesentlichen Zusatzeffekte kognitiver Interventionen in der KVT eruieren. Inzwischen sind auch die kognitiven Verhaltenstherapeuten der „Oxforder Schule“ zu der Erkenntnis gelangt, dass „Verhaltens-Experimente“ (eben Exposition) auch in der kognitiven Therapie der Angst- und Zwangsstörungen das wesentliche Element sind (Bennett-Levy et al., 2004). Mansell (2005) geht in der Besprechung dieses Buches davon aus, dass es einen „quantum shift in their use (gemeint: behavioral experiments) in clinical practice“ geben werde. Sind also
Die „kognitive (Kehrt?-)Wende“
30 Jahre Erfahrung mit klassischer Expositionstherapie endlich in der kognitiven Therapie angekommen? Auch Beck (2005) konzidierte jüngst, dass die Verhaltenstherapie einen „solid impact“ auf die Struktur der kognitiven Therapie gehabt habe: „Die kognitive Theorie mit ihrem Fokus auf intrapsychischen Prozessen anstatt auf beobachtbarem Verhalten war der psychoanalytischen Theorie sehr verwandt, aber die therapeutischen Verfahren ähnelten mehr der Verhaltenstherapie“. Für Beck ist die Kognitive Verhaltenstherapie ausdrücklich „die atheoretische Kombination kognitiver und behavioraler Strategien“. In der Literatur werden die Begriffe Kognitive Therapie und Kognitive Verhaltenstherapie überwiegend synonym benutzt – was es dem Leser nicht erleichtert, rasch herauszufinden, „ob d’rin ist, was d’rauf steht – und was das bedeutet, was d’rauf steht“. Waren die oft zwanghaft anmutenden Theorieabhandlungen über Kognitionen und Metakognitionen also für die Entwicklung der kognitiven Verhaltenstherapie damit weitgehend überflüssig? Was will Beck seinen Schülern wirklich sagen? Wie und woraus werden Behandlungsstrategien also abgeleitet? In der klinischen Praxis im Rahmen der multimodalen Verhaltenstherapie prüfen erfahrene Therapeuten heute, auf welcher Verhaltensebene der Patient am besten zugänglich und am stärksten veränderungsmotiviert ist, um dann die Therapie auf dieser zu beginnen. Letztlich ist die Trennung zwischen Kognitionen und Verhalten eine höchst künstliche. In der eher fruchtlosen Debatte über die relative Bedeutung der Kognitionen und des beobachtbaren Verhaltens wurde viel zu lange die Bedeutung der Emotionen und der Emotionsverarbeitung überse-
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Geschichte der Verhaltenstherapie
Behavioral-kognitivemotionaler Verhaltenstherapie Rational Emotive Behaviour Therapy
dgvt
EABCT
Behavioural and Cognitive Psychotherapy
hen, obwohl die Expositionsverfahren der Implosion (Emotionen-stimulierendes Imaginationsverfahren) und des Flooding (Auslösung der befürchteten Emotionen in höchstmöglichem Maße durch externe oder interne Trigger) längst die zentrale Bedeutung der Emotionen und der Emotionsverarbeitung, z. B. bei der Behandlung von Angst und Zwangsstörungen, in den Mittelpunkt gestellt hatten, ohne dass dieses explizit so benannt wurde (s. Dobson, 1988; Hand, 1993, 2007; Reviews durch mehrere Autoren in Pomini und Philippot, 2001). Wenn wir dem bisherigen Namensgebungstrend folgen würden, müssten wir seit Jahren von „Behavioral-kognitiv-emotionaler Verhaltenstherapie“ reden. Diese Richtung hat schon die „Rational Emotive Behaviour Therapy“ (REBT, z. B. Dryden, 2001) eingeschlagen. Zu welchen Wortgebilden wird die weitere Entwicklung wohl noch führen? Oder kommt eine „neue Einfachheit“, indem wieder ein Aspekt, aktuell die Emotionen, für die Terminologie gewählt wird (z. B. Lammers, 2006)? Die unterschiedlichen Auffassungen über Selbstverständnis und Namensgebung zeigen sich u. a. auch daran, dass die American Association for the Advancement of Behavior Therapy (AABT) ihre Zeitschrift seit jeher „Behavior Therapy“ nennt und eine der deutschen Verhaltenstherapie-Zeitschriften analog den Namen „Verhaltenstherapie“ verwendet. Auch die „Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie“ (dgvt) ist bei dem traditionellen Namen geblieben. Demgegenüber nennt sich die europäische Verhaltenstherapiegesellschaft „European Association for Behavioral and Cognitive Therapy“ (EABCT). Entsprechend ist der Zeitschriftentitel der stark von den kognitiven Therapeuten beeinflussten englischen VT-Gesellschaft „Behavioural and Cognitive Psychotherapy“, womit
Die Wiederentdeckung prägender Gefühle
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indirekt auch ein über Verhaltenstherapie hinausgehender Psychotherapieanspruch formuliert wird. Die Verhaltenstherapie wurde anfänglich etwa gleich stark in die Psychologie und Psychiatrie aufgenommen, später erfolgte die weitere Implementierung in die klinische Psychologie dann wesentlich rascher. In der amerikanischen Psychiatrie wurde die Psychopharmakologie in den 70er- und 80er-Jahren erheblich erfolgreicher und dominierte dieses Fach dann auch international (am Beispiel der „Panikstörungen“ dargestellt bei Hand, 1984; Diskussionen zwischen biologischen Psychiatern und Verhaltenstherapeuten zu diesem Thema in Hand und Wittchen, 1986, 1988). Der „Wettstreit“ zwischen biologischen und behavioralen Verfahren führte zeitweise zu weit überzogenen Erfolgsmeldungen für das jeweilige Verfahren, hat in den letzten Jahren jedoch auch zu kooperativen Studien geführt.
2.3 Die neoanalytisch beeinflusste Wiederentdeckung prägender Gefühle und Beziehungen – oder „Die dritte Welle“ Die meisten Entwicklungen der zweiten und dritten Welle enthalten mehr oder weniger breit gefächert einen unitarischen Ansatz, die wesentlichen Wirkelemente unterschiedlicher Psychotherapien zu identifizieren und zu einer optimalen, übergreifenden und vereinheitlichenden Theorie und Therapie zusammenzufügen. Mahoney (2000, 2001) z. B. postuliert, dass sein „Constructivism“ ein „integrativer Ansatz (ist), der die Erkenntnisse der kognitiven und behavioralen, der existenziell-humanistischen, der biologischen und der psychodynamischen Perspektiven“
Constructivism
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Geschichte der Verhaltenstherapie
Allgemeines Psychotherapiemodell
zusammenfasse. Orlinsky und Howard (1988) publizierten ein weiteres „allgemeines Psychotherapiemodell“, ebenso Grawe (2000).
„Dritte Welle“ der Verhaltenstherapie
Die „Dritte Welle“ der Verhaltenstherapie charakterisieren Schweiger et al. (2007) folgendermaßen: „Wesentliche Gemeinsamkeiten dieser teilweise heterogenen Entwicklung sind die Abwendung von einem Modell mit intrapsychischem Schwerpunkt“ wie es von Beck favorisiert wurde, und eine Hinwendung zu Themen, die in der Verhaltenstherapie bisher weniger betont wurden, wie Übertragung, therapeutische Beziehung, Achtsamkeit, Akzeptanz und Dialektik. Gleichzeitig erfolgt eine Revitalisierung von Techniken der „ersten Welle“, wie Verhaltensanalyse, Funktionsanalyse, operante Techniken, Verhaltensaufbau und Verhaltensformung“. Die vorherige Devitalisierung kann aber allenfalls auf die Vertreter einer überwiegend kognitiven Therapie zutreffen, da sich die deutsche multimodale Verhaltenstherapie, auch die gesetzlich verankerte „Richtlinien-Verhaltenstherapie“ (s. Kap. 4.1), nie an einer „Devitalisierung“ dieser Techniken beteiligt, sondern sie im Gegenteil immer weiter vitalisiert hat!
Neoanalytische Ansätze
Neoanalytische Ansätze werden in der „dritten Welle“ am stärksten propagiert. Der amerikanische Neo-Analytiker Sullivan (1976) hatte bis in die 70erJahre nicht nur starken Einfluss auf die amerikanische Psychiatrie, sondern teilweise auch auf die dortige Verhaltenstherapie-Ausbildung (Pflichtlektüre in Kanfers frühen Ausbildungskursen). Für Sullivan waren frühere Beziehungserfahrungen des Patienten (auch außerhalb der Elternbeziehung) und die (beidseitige) Gestaltung der PatientTherapeut-Beziehung wesentliche Therapiethemen.
Sullivan
Die Wiederentdeckung prägender Gefühle
Zwei „Neo-Sullivansche“ Therapien werden gerade für die deutsche Verhaltenstherapie entdeckt: Die „Schema-Therapie“ von Young (Young et al., 2005; Berbalk und Young, 2007) zeigt deutliche Überschneidungen mit Sullivans Ansatz einerseits und biografisch orientierter, multimodaler Verhaltenstherapie andererseits. Young selbst beruft sich auf Psychoanalyse, Verhaltenstherapie und Gestalttherapie: „Da die Schematherapie sehr integrativ ist, hat sie tatsächlich Ähnlichkeiten mit allen Therapieformen“ (Interview 2007 von Heinz Berbalk mit Jeffrey Young; www.schematherapie.de). Von zentraler Bedeutung ist die therapeutische Beziehung, sie kann „den Patienten … mit Erfahrungen bereichern, die ihm in seiner Kindheit gefehlt haben und Ursache seiner Schemata sind“. Schweiger et al. (2007) bringen parallel ein Therapieverfahren in die deutsche Verhaltenstherapie, das anfänglich für die Behandlung chronifizierter Depressionen entwickelt worden war („Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy“, CBASP; McCullough, 2006). Hier habe die Lenkung der Aufmerksamkeit des Patienten „auf die Konsequenzen seines interpersonellen Verhaltens auf andere Personen und den Therapeuten“ zentrale Bedeutung; dabei geht es auch um ein biografisches Verständnis früher interpersoneller Traumata für das eigene Interaktionsverhalten aktuellen Beziehungspersonen gegenüber. Dieses Vorgehen wird dann integriert in eine multimodale Verhaltenstherapie. Weitere Neo-Sullivansche Modelle sind im deutschen Sprachraum noch nicht so bekannt geworden. In England erblüht eine „Cognitive Analytic Therapy“ (CAT; Ryle und Kerr, 2002), nachdem die dortige Verhaltenstherapie, ihrer frühen „behavioralen“ Phase nachfolgend, bis heute stark von den kognitiven The-
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„Neo-Sullivansche“ Therapien Schema-Therapie
Cognitive Behavioral Analysis System of Psychotherapy
Cognitive Analytic Therapy
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Geschichte der Verhaltenstherapie
Interpersonal Cognition
Funktional-analytische Psychotherapie
Achtsamkeit, Akzeptanz und „Commitment“
rapeuten der „Oxforder Schule“ geprägt war und ist. CAT hat zwei Kernelemente: (a) Fokus auf „reciprocal role procedures“, die durch die Internalisierung sozial bedeutsamer intersubjektiver Erfahrung geformt werden und dann soziale Interaktionen und das Selbstmanagement prägen; (b) gemeinsam mit dem Patienten Präzisierung dieser role procedures, um zum einen dem Patienten mehr Selbst-Reflexion und Veränderung zu ermöglichen und zum anderen die Fähigkeit des Therapeuten zu verbessern, eine reparative, nicht-kollusive Beziehung anzubieten. Bei dem Versuch der Zusammenführung kognitiver Prozesse und interpersonaler Erfahrungen („Interpersonal Cognition“, Baldwin, 2005) geht es um ein Verständnis dafür, wie frühe(re) interpersonale Erfahrungen das aktuelle Beziehungsverhalten und die zugehörigen Kognitionen beeinflussen. Auch die funktional-analytische Psychotherapie (FAP; Kohlenberg und Tsai, 1993) wird mitunter dieser dritten Welle zugerechnet (Lit. in Sonntag, 2005). Grundsätzlich neu sind diese Ansätze nicht. Schon Pawlow und Freud sollen miteinander im schriftlichen Austausch gestanden haben (Hand, 1972) – und in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gab es etliche Versuche, psychodynamische und lerntheoretische Konzepte zu vereinen. Bei uns am bekanntesten dürfte diesbezüglich das Modell von Dollard und Miller (1950) sein. Zunehmend beachtet werden im Ablauf der Dritten Welle auch die neuen Schwerpunkte: Achtsamkeit, Akzeptanz und „Commitment“. Der Ansatz „Achtsamkeit und Akzeptanz“ betont die Nähe zur buddhistischen Tradition und stellt als wesentliches Prinzip „das ständige Bemühen, mit der lebendigen Gegenwart des Hier und Jetzt in bewusstem Kontakt zu bleiben,“ heraus (Heidenreich
Die Wiederentdeckung prägender Gefühle
und Michalak, 2004). Der Anstoß dazu kam aus der „Mindfulness-Based Cognitive Therapy for Depression“ (Segal et al., 2002; Teasdale et al., 2002), die zur Rückfallprophylaxe bei rezidivierender Depression entwickelt wurde. Die Variante „Exposition-Reaktions-Management“ (ERM; Hand, 1993) der klassischen „Exposition-Reaktions-Verhinderung“ (ERP) beinhaltet – völlig anders abgeleitet – ein ähnliches Prinzip, ebenso das Expositionsrational der „Mindfulness Based Cognitive Behavior Therapy“ (O’Neill und Schwarz, 2004). Auch dies sind Beispiele dafür, dass sehr ähnliche Konzepte und Handlungsweisen keineswegs aus ähnlichen Theorien abgeleitet sein müssen (s. Beck, 2005)! Schließlich ist in diesem Kontext auch noch die ursprünglich für Borderline-Störung entwickelte Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT; Linehan, 1996) zu erwähnen. Auch die Akzeptanz- und Commitment-Therapie (ACTH; Hayes et al., 2004) geht von der zentralen Bedeutung der Therapeut-Patient-Beziehung und der Funktionen psychischer Phänomene aus und strebt „anstelle eines eliminativen Ansatzes für eng definierte Probleme die Konstruktion breit gefächerter, flexibler und effektiver Repertoires an … die dritte Welle reformuliert und synthetisiert frühere Generationen Verhaltens- und kognitiver Therapie“ (Hayes, 2004; zit. nach Sonntag, 2005). – Kennt Hayes wirklich nicht die lange Tradition der multimodalen Verhaltenstherapie, die weder dem Behaviorismus noch dem Kognitivismus in die Einseitigkeit folgte? Die „Selbst-Psychologie“ hat in diesem Rahmen eine Renaissance. So wird in Kanfer’s Selbst-Management-Ansatz (Kanfer et al., 1996) ein „von Anfang an kognitiv-emotionales Konzept von Verhaltenstherapie“ gesehen (Schneider, 2003), das sich damit auch
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Mindfulness-Based Cognitive Therapy for Depression Exposition-ReaktionsManagement
Mindfulness Based Cognitive Behavior Therapy
Dialektisch-behaviorale Therapie
Akzeptanz- und Commitment-Therapie
Selbst-Psychologie
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Persönlichkeitsstörungen
Geschichte der Verhaltenstherapie
gut mit den gegenwärtigen emotionsbezogenen Ansätzen verbinden lässt. Zusammen mit dem seit einigen Jahren sehr erstarkten Interesse an der Rolle der Persönlichkeitsstörungen hat, über die Perönlichkeits-Akzentuierungen, auch die „Persönlichkeit“ wieder reges Interesse bei den Verhaltenstherapeuten gefunden: Personality-Guided Behavior Therapy (Farmer und Nelson-Grey, 2005), Personality-Guided CognitiveBehavioral Therapy (Rasmussen, 2005), PersonalityGuided Therapy in Behavioral Medicine (Harper, 2003). Aktuell erleben wir eine Renaissance biologischen Denkens nicht nur bei den Psychoanalytikern, sondern auch in der Verhaltenstherapie. Unter dem Eindruck der Ergebnisse mit bildgebenden Verfahren haben z. B. Grawe (2004), Förstl et al. (2005) und Rüegg (2003 ) entsprechende Syntheseversuche der biologischen und psychotherapeutischen Erkenntnisse publiziert. Die Zeitschrift „Psychotherapie in Psychiatrie, psychotherapeutischer Medizin und klinischer Psychologie“ widmete 2002 ein ganzes Heft diesem Thema (Pollmächer und Sulz, Hrsg.), die Zeitschrift „Verhaltenstherapie“ tat dies 2006 (Hellhammer, Hrsg.). Die neuen Erkenntnisse aus dieser Forschung, dass unser Verhalten, Fühlen und Denken Hirnfunktionen – und unter bestimmten Bedingungen auch Hirnstrukturen – verändern kann, hat zu wichtigen Umdenkprozessen und mitunter auch zu neuen Erklärungsmodellen für bekannte Phänomene geführt – sowohl bei Verhaltenstherapeuten als auch bei biologischen Psychiatern. Bei Letzteren hat sie fast eine Renaissance der Sullivanschen Neoanalyse hervorge-
Die Wiederentdeckung prägender Gefühle
rufen: In DSM-V haben „Relational Processes“ bei unterschiedlichen Störungsbildern wieder große Bedeutung erlangt (Beach et al., 2006). Wollen wir eine neue Psychotherapie, die auf „psychoanalytischem Verstehen, neurobiologischem Denken und störungsspezifischem Handeln“ (Peichl, 2005) basiert? Schließlich werden wir auch aufgefordert, eine „culturally responsible CognitiveBehavioral Therapy“ (Hays und Iwasama, 2006) durchzuführen, und alle Modelle sollen schließlich noch zur „Evidence-Based Psychotherapy“ (Goodheart und Kazdin, 2006) gehören – oder führen?
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Relational Processes
Psychoanalytisches Verstehen, neurobiologisches Denken und störungsspezifisches Handeln? Culturally responsible Cognitive-Behavioral Therapy Evidence-Based Psychotherapy
Nur ein neugieriger Therapeut ist ein guter Therapeut – und das gilt nicht nur hinsichtlich seines jeweiligen Patienten, sondern auch hinsichtlich der unterschiedlichsten Erkenntnisquellen über menschliches Verhalten. Wir wollen weder manualisiert-routinierte noch kreativ-chaotische Therapeuten. Dem neugierig-kreativ geordneten Therapeuten sollte die Synthese von Kunst und Handwerk gelingen – wie das dann inhaltlich aussieht, wird über weitere Jahrzehnte im Fluss bleiben, und das ist überwiegend auch gut so. Dass Ähnliches oder Gleiches dabei immer wieder mit neuen Vokabeln geschmückt wird, um es als originär in Manuale und (gebührenpflichtige!) Seminare sowie in Weiterbildungscurricula mit Abschlusszertifikaten zu bringen und weitere Fachgesellschaften zu gründen, liegt wohl eher in der Natur des Menschen als in der Natur der Sache. „Selbst-Marketing“ zur „selfpromotion“ ist andererseits nicht nur legitim, sondern heute sogar notwendig, um sich in der extrem zunehmenden Flut der Publikationen noch zu exponieren; es beinhaltet aber auch die Gefahr deutlicher Entwicklungsverzögerungen, da zu viel Energie dar-
Weder manualisiertroutinierte noch kreativchaotische Therapeuten
Gefahr deutlicher Entwicklungsverzögerungen
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Geschichte der Verhaltenstherapie
Nicht als isolierte „Selbst-“, sondern als soziale Wesen
auf verwendet wird, das „Rad immer wieder neu zu erfinden“. Gilt die Mahnung des Physiologen Max Verworn (1912) immer noch: „Es wird zu viel produziert, und das Gewonnene wird zu wenig durchgearbeitet. Noch hat man nicht annähernd die Konsequenzen aus seinem letzten Funde gezogen, so gräbt man schon wieder mit gieriger Hand nach dem nächsten. … Es wird heute eine unendliche Menge toten Kapitals in den Speichern der Wissenschaft aufgehäuft“? Da Aus- und Weiterbildungskandidaten die geschichtliche Entwicklung der Verhaltenstherapie kaum noch nahegebracht wird, ist ihnen eine fundierte eigene Meinungsbildung sehr erschwert! Wird die gemeinsame Kommission der EABCT und der AABT, deren Vorsitzender Isaac Marks ist, tatsächlich eine „gemeinsame Sprache“ der Verhaltenstherapie/ Psychotherapie mit einer breit akzeptierten Nomenklatur entwickeln können – unter Angabe, wie und wo der jeweilige Begriff erstmals benutzt wurde (s. Marks, 2005)? Dieses Buch stellt eine aus jahrzehntelanger Arbeit in einem multiprofessionellen Team einer Versorgungsambulanz entstandene, biografisch orientierte Strategie der Indikationsstellung und Durchführung unterschiedlicher verhaltenstherapeutischer Interventionen für unterschiedliche Störungs- und Problembereiche dar – für leidende Menschen, die ausdrücklich nicht als isolierte „Selbst-“, sondern als soziale Wesen in einem interaktionellen Kontext (oder dem Verlangen nach einem solchen) verstanden werden. Diesbezüglich kann es auch als ein Versuch gesehen werden, in einem „Zeitgeist“, in dem sich das „Selbst“ unter den sozio-ökonomischen Bedingungen der Gegenwart oft im „Überlebens-Kampf gegen den Rest der Welt“ sieht (Therapeuten, Therapieforscher, Su-
Die Wiederentdeckung prägender Gefühle
pervisoren und Dozenten nicht ausgenommen), ein Stück verhaltenstherapeutisch-sozialpsychiatrischer Romantik aus den 70er- und 80er-Jahren am Leben zu erhalten.
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3 Von der Symptom- zur auch Person-spezifischen Orientierung: Autobiografische Skizzen aus einem „Learning by Doing“ Der historische Überblick über die Entwicklung der Verhaltenstherapie sei im Folgenden ergänzt durch die persönlich-fachlichen Erfahrungen des Autors im Rahmen seiner verhaltenstherapeutischen Weiterbildung in London und Montreal (1971–1974) sowie die Erfahrungen in den ersten Jahren nach Implementierung der Verhaltenstherapieambulanz an der Psychiatrischen Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf (UKE). Dabei waren analytische und systemische Einflüsse bedeutsam: in London die neoanalytische Gruppen-Selbsterfahrung am Foulkes-Institut; in den ersten Jahren in Hamburg der rege Austausch mit systemischen Therapeuten in der damaligen Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie am UKE; die Publikationen von Haley (1976), dem ersten Autor, der eine Synthese aus systemischer und Verhaltenstherapie versucht hatte, und der Mailänder Schule um Selvini-Palazzoli (1978); mehrere gemeinsame Workshops mit Analytikern (u. a. Thomae und Kächele) Ende der 70er-Jahre, organisiert von Urs Baumann (einige Ergebnisse dieser Workshops in Baumann, 1981); weitere gemeinsame Workshops von Analytikern und Verhaltenstherapeuten in den 80er-Jahren, organisiert von Pohlen; schulenübergreifende Kontakte an unserer Klink; schulenübergreifende Zusammenarbeit in der Psychosomatik in den 80er-Jahren; und, last but not least, die kooperative Atmosphäre zwischen den schon in der Krankenversorgung „etab-
Persönlich-fachliche Erfahrungen
Schulenübergreifende Kontakte
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Von der Symptom- zur Person-spezifischen Orientierung
lierten“ Analytikern und Tiefenpsychologen einerseits und den Verhaltenstherapeuten andererseits bei der Implementierung der VT in die „kassenärztliche Versorgung“ bei der KBV Mitte der 80er-Jahre; im Herbst 1987 wurde die VT dann Bestandteil der „Psychotherapie-Richtlinien“; Details bei Faber und Haarstrick (2005). Nicht ganz unwichtig für die eigene fachliche Entwicklung waren wohl auch das Studium von Freud im Gymnasiastenalter (in der Bibliothek der VHS Schleswig während „geschwänzter“ Schulstunden an der jetzt 700-jährigen, altehrwürdigen Domschule), der Kontakt zu Viktor Frankl während des dreisemestrigen Studiums in Wien und die intensive Beschäftigung mit dem Werk Pawlows im Rahmen der Dissertation (Hand, 1972). In London Anfang der 70er-Jahre
Expositionstherapie bei Angst- und Zwangsstörungen
In London Anfang der 70er-Jahre entstand in den Arbeitsgruppen um Victor Meyer am MiddlesexHospital und um Isaac Marks und Jack Rachmann am Maudsley-Hospital/Institute of Psychiatry die erste Blütezeit der symptomspezifischen Expositionstherapie bei Angst- und Zwangsstörungen. Für einen jungen Psychiater oder klinischen Psychologen Anfang der 70er-Jahre waren die Erfolge beglückend und zugleich fast unheimlich – gab es doch damals für diese Patienten keine wirksame Psychotherapie und fast keine hilfreichen Psychopharmaka! Im Rahmen dieser ausgeprägt symptomorientierten Verhaltenstherapie in London und in deren Anwendung in den ersten Jahren an unserer Verhaltenstherapie-Ambulanz in Hamburg kam es aber auch zu Lernerfahrungen beim Experimentieren mit den verhaltenstherapeutischen Möglichkeiten, die bald zur Entwicklung und nachfolgend zu einer kontinuierlichen strategisch-systemischen Verfeinerung einer multi-
Erfahrungen am Middlesex-Hospital London
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modalen Verhaltenstherapie (Hand et al., 1977; Hand und Zaworka 1982; Hand, 1982, 1986, 1988, 1991, 2002a, b) führen sollten.
3.1 Erfahrungen am MiddlesexHospital London Die ersten 6 Monate in London konnte ich in dem ausgeprägt sozialpsychiatrischen Gesamtsetting des Middlesex-Hospitals und seiner Dependance im Norden Londons sowohl in der Abteilung des Neoanalytikers Eugene Wolff als auch in der stark emotional gefärbten, patientenbezogenen Impulsiv-VT bei Vic Meyer verbringen.
3.1.1 Der „nichts-sagende“ Therapeut oder „just being there“ – Sonderform der therapeutischen Beziehung? Eine erste tief gehende „Beziehungs-Erfahrung“ machte ich in der täglichen morgendlichen Pflichtveranstaltung, der „Ward-Round“, an der alle Mitglieder des therapeutischen Teams und alle Patienten (unabhängig von dem Schweregrad ihrer Störung) teilnehmen mussten. Dementsprechend gab es des Öfteren regelrechte Chaossituationen: Für mich, den in dieser Situation meist stummen, wenig erfahrenen Psychiater und gänzlich unerfahrenen Verhaltenstherapeuten, eine emotional, sprachlich und fachlich besondere Heraus- und mitunter auch Überforderung. So konnte ich z. B. auf die sich strahlend auf meinen Schoß setzende manische Patientin (für mich eine massive „Überraschungs-Exposition“) nur mit sprachlicher und körperlicher Erstarrung reagieren – in der Hoffnung, dass die anwesenden Therapieexperten nun das
Beziehungs-Erfahrung Ward-Round
Überraschungs-Exposition
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Von der Symptom- zur Person-spezifischen Orientierung
Richtige tun würden. Das Richtige aus deren Sicht war leider: nichts zu tun, die Situation sich entwickeln zu lassen. Diese und ähnliche Situationen in den „Ward-Rounds“, in denen ich mich subjektiv „nicht-verhaltend“ zeigte, hatten teilweise heftige Reaktionen bei den Patienten zur Folge: Meinten die einen, ich würde schweigen, weil ich nichts zu sagen (im doppelten Sinne) hätte, so meinten andere, ich würde als Psychiater „aus dem Lande Freuds“ (diese irrtümliche Ehre resultierte wohl aus meinem Akzent – wenn ich denn was sagte) äußerst wichtige Analysen machen, diese aber erst in den nachfolgenden Team-Besprechungen äußern.
Frühe, beeindruckende Erfahrungen, welche unterschiedlichen Effekte auch ein „nichts-sagender“ und sich doch irgendwie verhaltender Therapeut auf Patienten haben kann!
„Just being there“ ein wichtiges Therapieprinzip
In die gleiche Richtung ging das Erleben der mehrwöchigen „Therapie“ mit einer jungen jamaikanischen Patientin, die unter einer Schizophrenie litt, sehr freundlich war und ein großes Mitteilungsbedürfnis hatte. Ich erhielt den Auftrag, mit ihr dreimal wöchentlich eine Therapiestunde abzuhalten. Sie kam offensichtlich gerne, ich hörte ihr auch gerne zu – aber mit zunehmenden Schuldgefühlen, da ich aufgrund ihres ausgeprägten Dialektes höchstens 30 % ihrer Mitteilungen inhaltlich verstand und dementsprechend selten verbal reagieren konnte. Ich teilte meine Schuldgefühle in der Gruppensupervision mit, und ein analytischer Kollege richtete mich mit dem Hinweis auf, dass „just being there“ ein wichtiges Therapieprinzip sein könne. Ich nahm dies zweifelnd, aber doch etwas entlastet zur Kenntnis. Ich wurde
Erfahrungen am Maudsley-Hospital London
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dann sogar etwas wehmütig, als ich mich wegen des anstehenden Klinikwechsels schließlich von Rita verabschieden musste und ihre Betroffenheit wahrnahm. Nachfolgende Erlebnisse in der Verhaltenstherapie (s. u.) haben mich dann des Öfteren an diese Erfahrung erinnert, die anscheinend nicht so Analyse-spezifisch ist, wie ich anfangs dachte.
3.1.2 „Exposition mit 24 Stunden Supervision“ – und wo bleibt die Motivation? In Vic Meyers Team wurden „24-Stunden-Supervisionen“ bei der Exposition in vivo für stationär behandelte Zwangskranke durchgeführt, die dabei über etliche Tage und Nächte nicht sich selbst, sondern den Verhaltenstherapie-Hospitanten überlassen wurden. Dies war ein oft sehr erfolgreiches, eindrucksvolles, aktionsbezogenes Vorgehen, das jedoch damals bereits zu der Frage führte, für welche Patienten eine „Entmündigung“, bei gleichzeitiger Schwerstarbeit des Therapeuten, zur Förderung der VeränderungsMotivation nötig und sinnvoll sein würde. Diese Frage blieb in unserer Hamburger Arbeit mit Exposition bei Angst- und Zwangspatienten immer mit im Vordergrund und war eine Grundlage der frühen Entwicklung von Motivations-, Beziehungs- und Funktions-Analysen.
3.2 Erfahrungen am Maudsley-Hospital London Dann erfolgte der Wechsel in die Marks-/RachmanGruppe am Maudsley-Hospital, in der die Behandlungen überwiegend im Rahmen beforschter Versorgung stattfanden.
24-Stunden-Supervisionen
Aktionsbezogenes Vorgehen
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Von der Symptom- zur Person-spezifischen Orientierung
3.2.1 Agoraphobiker und Zwangskranke in der Einzel-Exposition – die Therapeut-PatientBeziehung doch relevant?
Agoraphobie
Kognitives Vermeidungsverhalten
Eine meiner ersten Einzelpatientinnen hatte in den Vorgesprächen eine klassische Agoraphobie geschildert (besonders vor offenen Plätzen). Entsprechend dem in diesen Jahren in beiden Londoner Kliniken fast schon zur Perfektion entwickelten Expositionsrational konnten wir uns auch bald auf die größte offene Stelle im Hydepark zu bewegen. Die Patientin geriet in einen massiven Angstzustand, entwickelte starke Schwindelgefühle und ging dennoch zögerlich – stetig mit mir – in die Mitte dieses Platzes. Erst jetzt erzählte sie mir, dass ihr eigentliches Problem ihre hässlichen Brüste seien. Nun war diese junge Patientin ein erfolgreiches Model in einem der bekanntesten Modehäuser Londons – die Selbstbewertung ihrer Brüste stand damit vermutlich im krassen Gegensatz zu derjenigen durch Modeexperten. Ich äußerte mich dementsprechend, damals eben noch naiv, der Patientin gegenüber und schlug vor, sie könne sich ja – um „ganz sicher“ zu gehen – durch eine Untersuchung bei einem Gynäkologen diesbezüglich rückversichern. Die Patientin reagierte enttäuscht, auch etwas genervt, dass ich sie nicht verstehen würde. Sie blieb noch eine Weile bei diesem Thema, der riesige offene Platz im Hydepark schien vorübergehend seine Bedeutung verloren zu haben. Vielmehr brachte sie noch ein weiteres Thema, ihre hoch konflikthafte Beziehung zum Vater, erstmals zur Sprache. Ich erwog misstrauisch, ob die Patientin jetzt ein kognitives Vermeidungsverhalten (vor dem mich die Expositionsexperten hinreichend gewarnt hatten) versuchte. Ich führte sie daher ins „Hier und Jetzt“ zurück, was sie widerwillig akzeptierte. Die emotio-
Erfahrungen am Maudsley-Hospital London
nale Anspannung war auf recht hohem Niveau geblieben. Ich war mir jetzt unsicher, ob das denn tatsächlich Angst war. Eine Panikattacke mit nachfolgendem Angstabfall war nicht induzierbar, und wir traten schließlich den geordneten Rückzug in das Maudsley an. In der folgenden Sitzung standen eine quälende Dysmorphophobie und das Vaterproblem ganz im Vordergrund. Was war also geschehen? Hatte die Patientin die Motivation für eine Fortsetzung der Exposition verloren und versuchte sie, durch Wechsel der Störungsebene abzulenken, bei gleichzeitiger weiterer Sicherstellung der therapeutischen Beziehung? War im Rahmen der emotionsreichen Expositionstherapie in Therapeutenbegleitung das Vertrauensverhältnis so stark angewachsen, dass die Patientin ihre eigentlichen Hauptprobleme, die Dysmorphophobie und die problematische Vaterbeziehung, endlich aussprechen konnte? Was war darüber hinaus möglicherweise in der Patientin-Therapeut-Beziehung während der Exposition geschehen? Wie sollte ein Verhaltenstherapeut auf diese Situation reagieren? Das damalige Credo, dass die Therapeut-Patient-Beziehung in der Verhaltenstherapie keine besondere Bedeutung habe, schien Ausnahmen von der Regel nicht ausschließen zu dürfen. w Die nächste „Ausnahme“ erlebte ich kurz darauf, als ich einem erfahrenen Assistenten am Maudsley, Maurice Lipsedge, bei einer Exposition bei einer älteren Dame mit einem Waschzwang zusehen konnte (damals noch üblich: teaching by modelling!). Auch diese Therapie erfolgte im Rahmen eines Studiendesigns: 5 Minuten Kontamination mit trockenem Taubendreck (Top-Item der Patientin als Zwangsauslöser), 5 Minuten Händewaschen, usw., über 2 Stunden. Zwischen Therapeut und Patientin entwickelte
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Dysmorphophobie Vaterproblem
Die Therapeut-PatientBeziehung in der Verhaltenstherapie
Exposition bei einer älteren Dame mit einem Waschzwang
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Von der Symptom- zur Person-spezifischen Orientierung
sich, trotz dieser eher stupide erscheinenden Übung, eine menschlich warmherzige Beziehung. Die Patientin erhielt für die darauffolgende Woche die Aufgabe, täglich 1 bis 2 Stunden die Übung zu Hause zu wiederholen und darüber Tagebuch zu führen. Eine Woche später berichtete die Patientin strahlend, der Waschzwang sei seit Tagen völlig verschwunden, sie habe die Übung seither nicht mehr machen müssen. Auf die Frage nach dem Grund antwortete sie: „Sie haben mir ja immer wieder gesagt, dass Taubendreck eigentlich harmlos ist – und jetzt kann ich es plötzlich glauben“. Eigenständige „kognitive Umstrukturierung“ als Folge der Exposition? Habituation bis hin zur Langeweile? Auswirkung der Patientin-Therapeut-Beziehung – oder aller Faktoren?
3.2.2 Agoraphobiker in der störungsspezifischen Gruppen-Exposition – personenspezifische Überraschungen vor, während und nach der Therapie
Gruppen-Exposition in vivo bei Agoraphobie
Einige Zeit später führten mein kanadischer Weiterbildungskollege, Yves Lamontagne, und ich unsere erste wissenschaftliche Studie zur Verhaltenstherapie durch: Gruppen-Exposition in vivo bei Agoraphobie (s. Hand und Lamontagne, 1974). In dieser Studie wurden überwiegend chronisch agoraphobische Patienten innerhalb einer Woche an 3 Tagen ganztägig mit Gruppenexposition in den verschiedensten Stadtteilen Londons – auf, unter und über der Erde – behandelt. In den vorbereitenden Sitzungen, in denen die Patienten auch eingehend über das Studiendesign und die Vorgehensweise informiert wurden, verloren wir bereits einige Patienten, bevor die Gruppen gestartet
Erfahrungen am Maudsley-Hospital London
wurden. Zum einen handelte es sich dabei um „Therapieablehner“ (was nicht überraschend war), zum anderen aber um (nicht erwartete) „Instant-Erfolge“. Letztere hatten sich auf folgende Weise ergeben: Zu den Vorgesprächen gehörte, wie damals in der VTForschung nicht unüblich, auch die Durchführung eines Vermeidungs-Testes (Behavioral-AvoidanceTest): Die Patienten wurden gebeten, sich jeweils alleine vom Maudsley-Hospital zu Fuß durch einige Straßen zu einem Bus, mit diesem zu einer U-BahnStation, dort in einen Kiosk und von diesem in die U-Bahn zu begeben und dann einen vergleichbaren Weg zurück ins Maudsley zu nehmen. Alle denkbaren Reaktionen traten ein – einige Patienten lehnten den Test ab, waren 100-%-Vermeider, andere Patienten legten Teilstrecken zurück und wieder andere die gesamte Strecke (belegt jeweils durch die Bus-, Bahn- und Kiosk-Tickets). Letztere Gruppe der 100%-Bewältiger ergab sich für uns überraschend – ebenso überraschend war, was die Patienten dann daraus machten: Einige beharrten darauf, dass die erfolgreiche Absolvierung des Testes (Gesamtdauer etwa 2 Stunden) nicht den geringsten Einfluss auf ihre Agoraphobie habe und dass sie unbedingt an der Therapie teilnehmen müssten; andere waren eher stolz auf das soeben Erreichte. Als wir wenige Wochen später zum Gruppenbeginn einluden, lehnten mehrere aus der Gruppe der „Bewältiger“ dieses Angebot dankend ab: Die Erfahrung der eigenen Möglichkeiten im Vermeidungstest und die präzisen Instruktionen, wie man sich am besten bei auftretender Angst verhalten könnte, hätten sie veranlasst, in der Wartezeit eigenständig zu üben – mit so weitgehendem Erfolg, dass sie nun die Behandlung nicht mehr bräuchten. Wir freuten uns für die Patienten und bedauerten uns selbst, da uns optimale „Erfolgs-Pati-
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Instant-Erfolge
100-%-Vermeider
100%-Bewältiger
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Von der Symptom- zur Person-spezifischen Orientierung
Motivationsvariablen
Therapeuten-Flooding
enten“ für die Studie verloren gegangen waren. (Anm. für Studiendesigns: Therapie-Ablehner nach initialer Psychoedukation dürfen nicht a priori den Misserfolgen zugerechnet werden; s. dazu auch Fischer-Klepsch et al., 2007.) Warum aber war die Gesamtgruppe der von uns rekrutierten Agoraphobiker derartig unterschiedlich in ihren Bewältigungsfertigkeiten (die allermeisten waren vorher chronisch krank gewesen)? Oder gab es Motivationsvariablen, die wir im Einzelnen noch nicht erfassen konnten? Bei der Durchführung der Gruppentherapien kam es dann zu den nächsten Überraschungen. Bis zum damaligen Zeitpunkt war die noch sehr neue Exposition in vivo noch nie in einem Gruppensetting durchgeführt worden. Würden in den verschiedenen Übungssituationen positive oder negative ModellingEffekte eintreten, würden Patienten mit massiven Panikreaktionen die restlichen Gruppenmitglieder „anstecken“, oder würden über gezielt geförderte Gruppenkohäsion eher die in bestimmten Situationen weniger phobischen Patienten die stärker phobischen als Co-Therapeuten unterstützen? In dieser Ungewissheit hatten wir selbst deutlich phobische Antizipationen, z. B. dass uns alle Patienten bei induzierter Gruppenpanik davonlaufen und u. U. im Straßenverkehr eine risikoreiche Situation provozieren könnten. (Für diesen Fall hatten wir uns sogar mit einer Bescheinigung von Isaac Marks, dass wir hier eine neuartige Therapie durchführen, abgesichert!) Auf diesem Hintergrund war die folgende Übungssituation auch ein Therapeuten-Flooding: Nachdem die Patienten in der Gruppe, meist zum ersten Mal seit Jahren, wieder alle wesentlichen agoraphobischen Situationen aufgesucht hatten, erfolgten
Erfahrungen am Maudsley-Hospital London
mehr und mehr Einzelübungen, bei denen die Patienten die Gruppe jeweils für bestimmte Übungen verlassen sollten, um dann zur Abschlussbesprechung wieder in die Gruppe zurückzukehren. So standen wir mit einer Gruppe dann vor dem Harrods-Kaufhaus. Mrs. Wilson hatte eine Agoraphobie mit starker claustro- und sozialphobischer Komponente. Letztere machte es ihr besonders schwer, in belebten Kaufhäusern einzukaufen und an der Ladenkasse mit Münzen zu bezahlen, da sie sich dabei sowohl von der Verkäuferin wie von hinter ihr stehenden Kunden beobachtet fühlte und befürchtete, so starkes Händezittern zu entwickeln, dass sie in peinlichster Form auffallen würde. Der Übungsvorschlag beinhaltete, sich erst einmal längere Zeit im vollen Kaufhaus zu bewegen, dann eine Kleinigkeit zum Kaufen auszusuchen, in eine längere Schlange vor der Kasse zu gehen und mit verschiedenen Münzen zu bezahlen. Frau Wilson war alles andere als erfreut über diesen Vorschlag, wollte ihn eigentlich ablehnen, wurde aber liebevoll von den Gruppenmitgliedern motiviert, es doch zu wagen. So verschwand sie zögerlich im Kaufhaus, und wir harrten gespannt der Dinge. Es vergingen 10 Minuten, dann 20 Minuten – und vor allem wir Therapeuten wurden nervös. Hatten wir zu forsch eine überfordernde Übung empfohlen? War die Patientin vielleicht schon in Panik mit dem Taxi nach Hause geflüchtet? Sollten wir in das Kaufhaus gehen und nach ihr suchen? Kurz darauf erschien eine zwischen Angst, Weinen und Wut hin und her gerissene Patientin. Mit bebender Stimme berichtete sie, dass genau das eingetreten sei, was sie befürchtet habe. Zitternd habe sie versucht, die erforderlichen Pence und Pennys aus dem Portemonnaie zu kramen. Hinter ihr habe sich eine lange Schlange gebildet. Sie habe Schweißausbrüche bekommen, habe die Zahlen auf
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Agoraphobie mit starker claustro- und sozialphobischer Komponente
Zu forsch eine überfordernde Übung empfohlen?
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„Worst-case“-Szenario
Good sense of humor
den Münzen nicht mehr richtig lesen können, alles sei verschwommen erschienen, und plötzlich habe die Verkäuferin sie angefaucht: „Was soll das Theater hier. Sie sind doch verrückt, dann gehen Sie doch erst mal zu einem Psychiater“. Wir hatten also ein „Worstcase“-Szenario. Hatten wir durch Überforderung nun bewirkt, dass der Abbruch der Übungssituation bei höchster negativer Emotionalisierung zu der in der Literatur mehrfach beschworenen „Inkubation“, d. h. massiver Angstkonditionierung statt Habituation, führen würde (s. in Marks, 1978)? In unserer Ratlosigkeit griffen wir zu dem alten gruppentherapeutischen Trick: „Was meint denn die Gruppe dazu?“ Das gab uns Zeit, weiter zu überlegen. Auch die Gruppenmitglieder kannten das Expositions-Rationale, nie auf der Höhe der Angst zu flüchten – und wenn, dann so schnell wie möglich wieder in die Situation zurückzugehen. Nach wenigen Minuten, die uns wie eine Ewigkeit vorkamen, fing eine Patientin plötzlich laut an zu lachen, wandte sich an die Betroffene und den Rest der Gruppe und meinte: „Warum gehst Du nicht gleich wieder rein, machst die Übung noch mal, und wenn die Verkäuferin Dich dann wieder blöd anredet, dann sagst Du ihr einfach, Du bist bei Deinem Psychiater gewesen, der steht vor der Tür und hat gesagt, Du sollst gleich wieder zurückgehen und weiter üben.“ Die Patientin fand diesen Vorschlag in den ersten Sekunden gar nicht lustig. Mehrere andere mit ihrem „good sense of humor“ reagierten begeistert und lachten, und schließlich konnte auch unsere Übende, leicht gequält wirkend, zumindest mitlächeln. Wie würde die Verkäuferin wohl reagieren, wenn sie völlig überraschend mit dieser Aussage konfrontiert wäre. Wir waren total erleichtert, hielten uns aber zurück und konnten es kaum fassen, dass die Patientin in die Wiederholung ihrer Übung ging. Wie-
Erfahrungen am Maudsley-Hospital London
der vergingen 10 Minuten, dann 20 Minuten – unsere Schuldgefühle wurden stärker als vorher („Wie konnten wir verantwortungslos die Entscheidung darüber, was zu tun sei, den Mitpatientinnen überlassen?“). Und dann kam mit forschem Schritt eine strahlende Patientin aus dem Kaufhaus zurück und berichtete: „Es lief erst alles so ab wie vorher. Dann, als die Verkäuferin mich wieder anfauchen wollte, habe ich ihr gesagt, dass mein Psychiater vor der Tür steht und mir geraten hat, gleich wieder zurückzukommen.“ Die Verkäuferin sei verstummt, habe sie ungläubig angesehen, und als die Patientin ihr versichert habe, der Psychiater stünde wirklich vor der Tür, um ihr zu helfen, ihre Angst zu überwinden, habe die Verkäuferin ihren Arm gefasst und geflüstert: „Können Sie mir seinen Namen und seine Telefonnummer geben?“ Die gesamte Gruppe reagierte mit Stolz und befreitem Gelächter und wanderte beschwingt zur nächsten Übungssituation.
Für uns eine weitere frühe und eindrucksvolle Erfahrung, dass wir Therapeuten (im Positiven wie im Negativen) nicht immer so wichtig für die Patienten sind, wie wir vielleicht denken, und dass sowohl das individuelle wie das Gruppen-Selbsthilfepotenzial unter bestimmten Bedingungen der entscheidende Faktor werden können.
Beziehungspsychologische Faktoren hatten tierexperimentell abgeleitete, lernpsychologische Postulate außer Kraft gesetzt. Die Therapeuten hatten das Setting hergestellt, die Patienten es genutzt – Humor war ihre Copingstrategie (weitere ähnliche Verläufe in Hand et al., 1974; Hand und Lamontagne, 1974).
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Entscheidung Mitpatientinnen überlassen?
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Agoraphobie-Selbsthilfegruppe
Von der Symptom- zur Person-spezifischen Orientierung
Und noch eine beeindruckende Überraschung bei der Durchführung Symptom-zentrierter Expositionen. Unsere Gruppentherapien waren trotz der für den damaligen Kenntnisstand unglaublichen zeitlichen Kürze bei zwei Dritteln der Patienten recht bis sehr erfolgreich. Dies war schon nach der ersten Gruppe absehbar. In dieser hatten wir 2 Patientinnen aus der damals schon mitgliederstarken Agoraphobie-Selbsthilfegruppe in London (mit zahlreichen regionalen Stadtteil-Untergruppen). Diese beiden Damen gehörten zu den besonders erfolgreichen Patienten, was uns beglückt hoffen ließ, dass wir nun sehr rasch weitere Patienten für nachfolgende Studiengruppen erhalten würden. Tatsächlich kam keine weitere Patientin aus diesen Gruppen zu uns. Waren unsere Patientinnen, entgegen ihrer Zusage, nicht in weitere Gruppensitzungen gegangen, da sie ihre Gruppe nicht mehr brauchten? War die Hauptfunktion dieser Selbsthilfegruppen gar nicht, eine Krankheitsbewältigung zu erlernen, sondern ein stabiles und verlässliches soziales Netzwerk für ansonst eher alleine lebende Menschen zu gewähren? Hätte die Angabe von „Genesung“ in der Gruppensitzung zum Ausschluss geführt, da die „Krankheit“ als Kristallisationspunkt der Gruppe nicht mehr vorhanden war? Eine Woche nach Therapieende war der Überraschungen aber immer noch kein Ende: Wir führten die erste Nachuntersuchung im Forschungsdesign durch. Mr. Malten, ein Mittvierziger und verheirateter Patient, hatte nach 10-jähriger Agoraphobie bei Therapie-Ende so guten Erfolg, dass er sich in der Stadt wieder frei, wenn auch noch nicht angstfrei, bewegen konnte. Bestandteil des Therapiedesigns war, dass die Patienten nach Therapie-Ende täglich mindestens 1 Stunde in den agoraphobischen Situa-
Erfahrungen am Maudsley-Hospital London
tionen weiter üben sollten, um die Habituation zu stabilisieren. Zum Follow-up erschien Mr. Malten in Begleitung der Ehefrau, da er sich den langen Weg zur Klinik nicht mehr zutraute, er wirkte hochgradig agitiert-depressiv. Das ausführliche Einzelgespräch ergab: Er hatte nach dieser 3-tägigen Therapie seiner Frau freudestrahlend berichtet, dass er sich wieder überall in der Stadt bewegen könne, dies nun aber erst einmal jeden Tag mindestens 1 Stunde alleine weiter üben müsse und wolle. Dies führte zu einer wütenden Protestreaktion der Ehefrau. Sie hielt ihm vor, sie 10 Jahre lang getäuscht zu haben mit seiner angeblich so schweren Krankheit. 10 Jahre habe sie ihn überall hin begleiten müssen, kaum noch alleine etwas unternehmen können, da er sie immer in seiner Nähe gebraucht habe. Wenn seine Krankheit wirklich so schwer gewesen wäre, dann wäre sie nicht in 3 Therapietagen behandelbar gewesen! Die Übungen, die er gemacht habe, hätte sie ihm all die Jahre immer wieder empfohlen – auf sie habe er aber nie gehört. Er müsse sie furchtbar getäuscht habe, vielleicht nur, um sie quälen zu können. Es komme jetzt überhaupt nicht in Frage, dass er täglich eine Stunde alleine in der Stadt seinen Vergnügungen nachgehe. Er werde erst einmal ihr gegenüber wieder gutmachen, was er an Schaden angerichtet habe. Lamontagne und ich begriffen: Entgegen unseren bisherigen naiven, jugendlich-therapeutischen Erwartungen erfreut es offenbar nicht alle Angehörigen, wenn die Patienten rasch weitgehend genesen. Wann sollte man also Angehörige schon in die probatorischen Gespräche mit einbeziehen? Wie könnte man solche Risikosituationen entdecken, bevor es zur „interaktionellen Explosion“ kommt?
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Wütende Protestreaktion der Ehefrau
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Von der Symptom- zur Person-spezifischen Orientierung
3.2.3 Partnerschaftliche Risikofaktoren für die Durchführung einer intensiven KurzzeitSymptom-Exposition
Paarprobleme per se Primäre Expositionstherapie bei Agoraphobie
Ob und in welchem Ausmaß eine Kurzzeit-Symptom-Exposition Partnerschaften gefährden kann, versuchten wir danach herauszufinden, indem wir nochmals alle Verhaltensanalysen durcharbeiteten. Dabei wurde uns dann deutlich, dass fast zwei Drittel der Patientinnen und Patienten vor Therapiebeginn explizit mehr oder weniger schwerwiegende Paarprobleme angegeben hatten. Einigen hatten wir schon bei der Klärung der Indikation für die ExpositionTherapie in einem parallel am Maudsley laufenden Projekt eine initiale Paartherapie angeboten, bei den anderen taten wir dies nunmehr nach Therapie-Ende. Kein Paar nahm das Angebot an (Hand und Lamontagne, 1976). Vor der Therapie war das Hauptargument der Symptomträger, sich erst einmal unabhängig von der Begleitung durch die Partner wieder frei bewegen zu können, um dann aus dieser Unabhängigkeit heraus Lösungen für die Paarproblematik zu suchen und zu finden. Diese Ergebnisse lösten eine Reihe von Studien in der Marks-Gruppe aus (Hafner, 1977, 1986) und dann nachfolgend auch in meiner eigenen Arbeitsgruppe (Peter und Hand, 1988; Peter et al., 1993). Trotz mehrerer widersprüchlicher Ergebnis steht heute fest (Review aller dieser und weiterer Studien zu diesem Thema in Hand, 2000), dass Paarprobleme per se absolut keine Kontraindikation für eine primäre Expositionstherapie bei Agoraphobie darstellen, wenn diese von den Betroffenen eindeutig so gewünscht wird. Das ist bei den therapiesuchenden Patienten eher die Regel als die Ausnahme! Die Ableitung einer entsprechenden Kontraindikation ergibt sich eher aus den intrapsychischen und inter-
Erfahrungen am Maudsley-Hospital London
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aktionellen Funktionsanalysen des Symptomverhaltens in entsprechenden Paarbeziehungen.
3.2.4 Chronische Agoraphobie – immer ein Leiden? Eine weitere, frühe Erfahrung auf dem Wege zu einer strategisch-systemischen, multimodalen Verhaltenstherapie war die, dass eine ausgeprägte Agoraphobie bei Betroffenen und Angehörigen über viele Jahre ohne jeglichen Leidensdruck und Veränderungsmotivation bestehen kann. Frau R. hatte seit vielen Jahren eine Agoraphobie gehabt, darunter aber nicht gelitten und scheinbar auch bei ihrem Ehemann keinen Leidensdruck ausgelöst. Das Paar kam gemeinsam zu dem Erstgespräch, 2 Monate nach einem aus Sicht der Patientin gravierenden „Beziehungsunfall“. Das Ehepaar hatte bis dahin nahezu alle Aktivitäten des Lebens gemeinsam ausgeübt (in Anwesenheit des Partners bestanden praktisch keine Einschränkungen durch die Agoraphobie) und befand sich kurz vor Therapiesuche im gemeinsamen Urlaub in Frankreich. Eines Nachmittags gab der Ehemann an, er wolle sich im Zimmer ausruhen, seine Frau könne aber gerne auf der Liege am Pool bleiben. Zwei Stunden später wurde es Frau R. langweilig, sie kehrte in ihr Hotelzimmer zurück – und fand dort ihren Mann mit einer gemeinsamen Urlaubsbekanntschaft im Bett. Sie reagierte entsetzt und anfangs sprachlos, als ihr Mann ihr „geistesgegenwärtig“ anbot, doch für eine „Menage a trois“ ins Bett zu kommen. Dies führte dann zu einem massiven Ehestreit. Der Mann verteidigte sich mit dem Vorwurf, dass sich für ihn aufgrund der Krankheit seiner Frau eine sehr eingeengte Lebensweise entwickelt habe. Er habe zunehmend das Bedürfnis entwickelt, auch mal Dinge
Beziehungsunfall
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Von der Symptom- zur Person-spezifischen Orientierung
Kein Leidensdruck durch die Achse-I-Störung
Leidensdruck durch wirtschaftliche Krise
alleine tun zu können – ihr dies aus Rücksicht aber nicht zu sagen getraut. Dass er dies nun ausgerechnet im Bett mit einer anderen Frau auszuleben versucht habe, tue ihm einerseits auch wieder leid, andererseits sei es aber doch auch Zeitgeist-entsprechend (dies alles fand Anfang der 70er-Jahre statt!). Als wir im Erstinterview mit beiden Ehepartnern diese Situation soweit erfasst hatten und nun beide nach ihren jeweils individuellen Therapiezielen fragten, ergab sich: Er wollte, dass nunmehr endlich die Agoraphobie behandelt werde, sie dagegen forderte vehement eine Therapie für ihren Mann, der im Urlaub „akut verrückt“ geworden sei – mithilfe der Therapie solle „alles wieder so schön werden wie vorher“. Bei manchen Patienten und deren Angehörigen sind also mitunter ganz andere motivationale Kriterien entscheidend als der von uns Therapeuten meist vermutete Leidensdruck durch eine Achse-I-Störung. Diese Londoner Erfahrung wurde bald nach Arbeitsaufnahme unserer Ambulanz in Hamburg durch ein sehr ähnliches Beispiel untermauert: Ein Ehepaar hatte, scheinbar problemlos, jahrelang mit der Agoraphobie der Ehefrau gelebt. Sie waren in der gleichen Firma beschäftigt und unternahmen auch sonst nahezu alles gemeinsam. Beide gaben an, in all diesen Jahren zufrieden bis glücklich gewesen zu sein. Dann gab es eine wirtschaftliche Krise, die Ehefrau wurde entlassen. Dies geschah im Sommer, das Paar reagierte „flexibel“. Die Frau fuhr morgens im gemeinsamen Pkw mit zum Arbeitsplatz: Das Auto wurde unter dem Fenster seines Dienstzimmers geparkt, die Ehefrau nahm sich Lesestoff mit und machte gelegentlich kurze Spaziergänge aus dem Auto heraus. Als es dann Herbst geworden war und der Winter drohte, war diese „Lösung“ nicht länger praktikabel. Bezüglich der Therapie schien bei diesem Paar
Erfahrungen am Institut National Montreal
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der Ehemann deutlich stärker ambivalent als die Ehefrau (Kompensation eigener Verlustängste durch die agoraphobische Abhängigkeit der Ehefrau?).
3.3 Erfahrungen am Institut National de la Recherche Scientifique, Montreal 3.3.1 „Veränderungs-Motivation“ beim Patienten – Fiktion beim (Forschungs-) Therapeuten und Fakt im Experiment Nach London folgte 1973/74 ein Forschungsaufenthalt in Montreal an der Klinik von Lamontagne. Unsere Studie dort bot Haschisch-konsumierenden College-Studenten die kostenlose Teilnahme an einer EEG-EMG-Biofeedback-Studie an, die es ihnen ermöglichen sollte, einen „altered state of consciousness“ durch Biofeedback-gesteuerte Meditation statt durch teure und risikoreiche Drogen einzuleiten. Im EEG-Feedback gab es eine Gruppe, die korrektes Feedback, und eine Kontrollgruppe, die „falsches“ Feedback (joked control) erhielt. Zu Hause sollten die Teilnehmer ohne Feedbackgerät das weiter trainieren, was sie mit Feedback glaubten gelernt zu haben. Übungszeiten zu Hause, Schlafqualität und Drogenkonsum sollten protokolliert werden. Die beste Hausaufgaben-Compliance, die höchste Therapiezufriedenheit und subjektiv erlebte Förderung der Schlafqualität sowie die deutlichste Reduktion der Drogeneinnahme zeigte die „Joked-Control“-Gruppe (Lamontagne et al., 1975). Die motivationalen Faktoren zum fortgesetzten Üben waren offenbar ganz andere als der hypothetisch für entscheidend gehaltene (das korrekte Feedback-Signal).
Forschungsaufenthalt in Montreal
Altered state of consciousness“ durch Biofeedback
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Von der Symptom- zur Person-spezifischen Orientierung
3.4 „Join the Client Where He Is“ – But: Where Is He? And Is He Where He Says to Be?
Kanfer Regel
Exposition-ReaktionsManagement
Turbo-Analyse
Aus diesen frühen Erfahrungen wirkte die „klassische“, Kanfer zugeordnete Regel „join the client where he is“ sehr überzeugend. Weitere Erfahrungen in den ersten Jahren unserer Hamburger Verhaltenstherapie-Ambulanz warfen aber zwei ErgänzungsFragen auf: „… but, where is he?“ und „… is he, where he says to be?“. Auf diesem Hintergrund haben wir neben einer sehr erfolgreichen Anwendung von Intensiv-Kurzzeit-Expositionstherapien parallel die Motivations-, Funktions- und Bedingungsanalysen weiterentwickelt. Selbst aus dem Konzept der „Exposition-Reaktions-Verhinderung“ (Exposure Response Prevention; ERP) machten wir frühzeitig das wesentlich erweiterte Konzept des „Exposition-ReaktionsManagement“ (ERM; Exposure-Response-Management; Hand, 1982, 1993, 2007; Hand et al. 1986), das sich bei nicht wenigen Angst- und Zwangspatienten als eine gute Möglichkeit der erweiterten Symptom-, Motivations- und Funktions-Analyse erwiesen hat („Turbo-Analyse“).
3.5 „Find the Client“ – with a „Good Sense of Humor“
Motivations-, Funktionsund Bedingungsanalysen
Bevor wir nun aber zu der stringenteren Darstellung der Motivations-, Funktions- und Bedingungsanalysen im Rahmen einer strategisch-systemischen Ausrichtung der multimodalen Verhaltenstherapie übergehen, seien die o. a. Anekdoten anhand künstlerischer (Postkarten-)Darstellungen mit einem „good sense of humor“ zusammengefasst.
„Find the Client“ – with a „Good Sense of Humor“
w
Typische Ausweichmanöver bei äußerem Veränderungsdruck:
Manche Menschen sind zu einem bestimmten Zeitpunkt ihrer Entwicklung von ihren eigenen Problemen fasziniert, dementsprechend veränderungsambivalent, möchten aber gerne immer wieder darüber reden:
Der engagierte Verhaltenstherapeut müht sich dann redlich, sie zu überzeugen, mit verändertem Verhalten zu experimentieren, da sie nur dann herausfinden können, was wirklich passiert, wenn sie es wagen (gilt nicht nur für die Motivationsarbeit zur Exposition!).
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Von der Symptom- zur Person-spezifischen Orientierung
Der ambivalente Patient sagt nicht nein, denn die Fortsetzung des Gespräches ist ihm wichtig. Er vermeidet ein „Ja“ mit der Gegenfrage „wer bin ich“ – und trifft damit geschickt eine Grundfrage seines Therapeuten an sich selbst.
Der erfahrene Therapeut schweigt – teils immer noch erwartungsvoll, teils schon ungeduldig. Nun appelliert der ambivalente Patient an das Helfersyndrom seines Therapeuten – mit dem Verweis auf sein lebenslanges Hauptproblem, sich nicht entscheiden zu können. („Nun muss der Therapeut doch merken, wie hilfsbedürftig ich bin.“)
„Find the Client“ – with a „Good Sense of Humor“
Das nunmehr deutlich vorwurfsvollere Schweigen des Therapeuten veranlasst diesen Patienten schließlich zu einem entschiedenen „Jein“:
Der erfahrene Therapeut ahnt jetzt die Falle: Selbst ein Skilehrer, der seinem zögerlichen Anfänger in dieser Situation einen leichten Schubs versetzt, mit einem aufmunternden „Gem’ma“, riskiert dessen Beinbruch, da sein Schüler es weder richtig angehen lässt noch richtig bremst. Parallelen in der Expositionstherapie aus einer ambivalenten Ausgangslage heraus kennt der Therapeut mittlerweile. Ist er historisch gut belesen, dann erinnert er sich in dieser Situation an eine frühe Publikation Pawlows. Im Hundezwinger zeigten auf einer historisch berühmten Abbildung (fast) alle Hunde auf den Glockenton die konditionierte Speichelreaktion. Aber Pawlow (vielleicht auch einer seiner ehrgeizigen Assistenten) hatte ein großes dunkles Etwas in die Abbildung hineingeklebt. Insider wissen: Da war in der ursprünglichen Darstellung ein Hund, der nicht nur keinen Speichel absonderte, sondern Pawlow in das Bein biss. Haben wir hier einen ersten, noch harmlosen Versuch aufgedeckt, Misserfolge zu verheimlichen (heute ja in der wissenschaftlichen Literatur
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Entschiedenes „Jein“
Frühe Publikation Pawlows
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Von der Symptom- zur Person-spezifischen Orientierung
keineswegs mehr die Ausnahme; s. in Fischer-Klepsch et al., 2007)?
Wissend, dass selbst bei Pawlow im Hundelabor eine gewisse Misserfolgsquote nicht vermeidbar war, denkt der versierte Verhaltenstherapeut jetzt vielleicht daran, dass die (von den Analytikern besonders geschätzten) kognitiven (Verhaltens-)Therapeuten für solche Situationen kluge Strategien entwickelt haben. So könnte er den Patienten jetzt anleiten, die Ambivalenz „Problembewahrung versus Problembewältigung“ kognitiv in „Problembewunderung“ umzustrukturieren (aber: War der Patient nicht genau dort schon im Erstgespräch gewesen?!).
„Find the Client“ – with a „Good Sense of Humor“
Vielleicht kommen diesem Therapeuten aber doch ethische Bedenken. Die schließlich befreiende Therapie-Empfehlung könnte lauten (der Therapeut gibt zwar auf, aber der Patient sollte das auf keinen Fall!): Machen Sie eine zeitlich erst einmal unbegrenzte Psychoanalyse [Anm.: Wie ungerecht doch die Richtlinien-Psychotherapie in Deutschland zur Verhaltenstherapie ist!].
Oder sollte der Verhaltenstherapeut mit seinem Patienten vielleicht doch noch einmal von vorne beginnen?
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Von der Symptom- zur Person-spezifischen Orientierung
Der „good sense of humor“ soll uns allerdings nicht vergessen lassen, dass Akzeptanz und Erfolg unseres therapeutischen und Beziehungs-Angebotes bei manchen Störungen und Persönlichkeiten bisher kaum höher als bei 50 % liegen. Wann müssen wir und unsere Patienten das akzeptieren – und wann liegt in so einem Fall ein verfrühtes Resignieren vor? Diese Frage wird uns in den folgenden Kapiteln beschäftigen (s. dazu auch: Leahy, 2001; Leahy, 2003; Rufer, 2004).
4 Multimodale, strategischsystemische Verhaltenstherapie 4.1 Was ist Verhaltenstherapie – und wer entscheidet die Antwort? Seit Jahrzehnten lesen, diskutieren und lernen Psychotherapeuten unterschiedlicher „Schulen“ mit-, von- und gegeneinander. Die geschichtliche Entwicklung der multimodalen Verhaltenstherapie zeigt deutlich, welche Einflüsse aus anderen Therapieschulen jeweils wirksam wurden – teilweise eben auch durch den Wechsel von einflussreichen Therapeuten von der einen in die andere Richtung (s. Kap. 1). Auch in der aktuellen Entwicklung der Verhaltenstherapie taucht immer wieder die Frage auf: „Ist das noch Verhaltenstherapie?“ Die Antworten auf diese Frage sind unterschiedlich: Zum einen gibt es innerhalb der Verhaltenstherapeuten selbst – bei den niedergelassenen einerseits und den universitären andererseits – teilweise divergierende Präferenzen bezüglich der wünschenswerten inhaltlichen Modifikationen des Gesamtkonzeptes. Der „Gemeinsame Bundesausschuss, GBA“ (seit dem Gesundheits-Modernisierungs-Gesetz von 2004; ab Mitte 2008 neue Regelung) „in der besonderen Zusammensetzung für Psychotherapie“ entscheidet letztlich darüber, welche neuen Entwicklungen in Deutschland in die Kassenleistung Verhaltenstherapie einfließen dürfen. Für die Entscheidungsfindung bereitet dessen „Unterausschuss“ (paritätisch mit 6 Psychotherapeuten und 6 Kassenvertretern besetzt) die Vorlagen vor. Unabhängig davon (und davor) entscheidet der „Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie nach § 11 Psychotherapeuten-Gesetz“
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Multimodale, strategisch-systemische Verhaltenstherapie
Richtlinien-Verhaltenstherapie
Orthodoxe Beschützer des Etablierten Kreative Erneuerer
(12 Mitglieder: 6 von der Bundesärztekammer, 6 von der Bundespsychotherapeutenkammer der Psychologen benannt) mit einfacher Mehrheit über die wissenschaftliche Anerkennung eines Verfahrens (was nicht automatisch im Bundesausschuss zur Kassenzulassung führt!). Wiederum eine Stufe vorher entscheidet sich im Dialog zwischen Therapeuten und Gutachtern in der „Richtlinien-Verhaltenstherapie“, welche neuen Vorgehensweisen in einer multimodalen verhaltenstherapeutischen Praxis noch akzeptiert werden – sofern sie denn in einen verhaltenstherapeutischen Gesamtbehandlungsplan integriert sind. Tauchen neuere Ansätze vermehrt in den Berichten der Therapeuten zum Gutachterverfahren auf, so findet regelhaft der Versuch einer Konsensbildung auf den jährlichen Gutachter- und Obergutachter-Tagungen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) statt. Unabhängig von diesen formalen Verfahrensstufen im Rahmen der Richtlinien-Verhaltenstherapie der gesetzlichen Krankenversicherungen und der Beihilfen wird immer wieder auch die Frage aufgeworfen, ob Therapeuten das auch wirklich anwenden, was in ihren Berichten als Therapiezielsetzung und Therapieplan dargestellt wird. Viele Therapeuten, die sich regelmäßig schulenübergreifend weiterbilden, entwickeln individuelle Präferenzen – auch abhängig von der eigenen Persönlichkeit. Gibt es auf der einen Seite die sehr „orthodoxen Beschützer des Etablierten“, so gibt es auf der anderen Seite die „kreativen Erneuerer“ – und beide müssen im System versuchen, etwas für die Patienten Hilfreiches aus diesem Spannungsfeld zu entwickeln. Über einige grundlegende Inhalte und Zielsetzungen von Psycho-/Verhaltens-Therapien scheint
Was ist Verhaltenstherapie?
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schulübergreifend seit längerem Übereinstimmung zu bestehen: w
w
w
Wesen, Aufbau und Nutzung der therapeutischen Beziehung: Die Therapeut-Patient-Interaktion wird zum einen beeinflusst durch beider Persönlichkeit (ein ausdrückliches Ziel der probatorischen Sitzungen ist ja, zu klären, ob beide „miteinander können“ bzw. „ob die Chemie stimmt“). Es können aber auch in der Verhaltenstherapie gestörte Interaktionsmuster des Patienten aus früheren prägenden Erfahrungen gezielt über konstruktive Neuerfahrung in der therapeutischen Beziehung modifiziert werden. Befähigung des Patienten, bisher Unverständliches und Unaussprechbares zu erkennen, zu verstehen und in Worte zu fassen. Dabei geht es nicht nur um ein verbessertes Krankheits- oder Störungs-, sondern auch um ein erweitertes Selbst-Verständnis. Ermutigung des Patienten, in seinem Alltagsleben neue Schritte zu wagen, um neue Erfahrungen zu machen, die dann ebenfalls dazu führen, das Selbst-Verständnis zu erweitern. Die „restauration of morale through restoring a patient’s sense of mastery“ (Frank, 1974) ist eine primäre Funktion aller Psychotherapien – in den Mitteln zur Erreichung dieses Zwischenziels unterscheiden sie sich dann mehr oder weniger.
Damit diese übergeordneten Zielsetzungen erreichbar werden, werden im Therapieverlauf u. a. folgende Ideal-Ergebnisse angestrebt: w
Risikobereitschaft zum Handeln und Toleranz für erweiterte Optionen in der Lebensführung. Der durch unterschiedlichste Einflüsse im Ver-
Therapeutische Beziehung
Befähigung des Patienten
Ermutigung des Patienten
Ideal-Ergebnisse Risikobereitschaft zum Handeln
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Multimodale, strategisch-systemische Verhaltenstherapie
Entscheidungsfreiheit und Handlungskompetenz
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Selbsthilfe-Kompetenz
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Kongruenz von emotionalen Bedürfnissen und rationaler Handlungssteuerung
w
Interaktionelle Erlebnisfähigkeit
w
laufe seiner biografischen Entwicklung ängstlich-depressiv-anankastisch geprägte Mensch hat zunehmend gelernt, auf Pseudo-Lösungen Rückgriff zu nehmen, um kurzfristig Erleichterung zu erleben, trotz eines mittel- und langfristig hohen (Symptom-) „Preises“ – u. a.: Vermeidungsverhalten dem Leben gegenüber (bis hin zum Rückzug in die eigene Wohnung oder gar das Bett) oder „Selbst-Medikation“ (von Drogen bis zu Verhaltensexzessen, wie Zwangsverhalten, „Computersucht“ u. ä.). Entscheidungsfreiheit und Handlungskompetenz in der täglichen Lebensführung. Erstere kann z. B. reduziert oder blockiert sein durch tagfüllendes „Krankheitsverhalten“. Letztere kann fehlen aufgrund früher primärer oder späterer sekundärer Kompetenz-Defizite. Selbsthilfe-Kompetenz in individuum-spezifischen Disstress-Situationen, die ein hohes Rückfallrisiko beinhalten. Dabei gilt es, Fehler nicht nur im Umgang mit wieder auftretender Störungs-Symptomatik, sondern vor allem auch in der täglichen Lebensführung zu erkennen und darauf möglichst eigenständig korrigierend zu reagieren. Kongruenz von emotionalen Bedürfnissen und rationaler Handlungssteuerung ist eine Idealzielsetzung in der Lebensführung vermutlich aller Menschen. Sie ist keineswegs immer möglich, bei konstantem Fehlen in wichtigen Bereichen der täglichen Lebensführung aber nicht nur ein Risikofaktor für die Entstehung und Chronifizierung von Anhädonie, sondern auch von Krankheitssymptomatik. Interaktionelle Erlebnisfähigkeit ist gerade bei Personen, die im Verlaufe ihrer Biografie zumin-
Was ist Verhaltenstherapie?
w
dest subjektiv wiederholt traumatisiert wurden, weitgehend verlorengegangen. Das „Funktionieren“ in den alltäglichen persönlichen und beruflichen Kontakten mag noch gelingen. Ist der Genussfaktor dabei aber weitgehend oder völlig verlorengegangen, besteht eine weitere erhebliche Risikosituation, für Anhädonie und symptomatischen Rückfall. Sinnorientierung in der Lebensführung anstelle ängstlich-negativer Erwartungshaltung mit weitgehender Vermeidung von Alltagsleben. In der Verhaltenstherapie gilt an dieser Stelle nicht die Zen-Philosophie „der Weg ist das Ziel“, sondern (besonders klar erkennbar bei Patienten mit Agoraphobie) „warum einen beschwerlichen Weg üben, wenn kein Ziel gesehen wird, zu dem er führen sollte“.
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Sinnorientierung in der Lebensführung
Auf dem Boden der therapeutischen Beziehung wird ein für Patient wie Therapeut Zeitgeist-entsprechendes, überzeugendes Erklärungs- und Behandlungsrationale eingeführt, dessen Umsetzung dann nach einem klaren Ritual erfolgt (frei nach Frank, 1974). In den folgenden Kapiteln werden nun Verhaltenstherapie-spezifische Vorgehensweisen dargestellt, die helfen können, die jeweiligen Teil-Ziele und das Gesamtziel zu erreichen.
4.2 Gesamtkonzept, Rahmenbedingungen und Ablaufphasen Im Folgenden wird eine multimodale verhaltenstherapeutische (Be-) Handlungsstrategie mit sowohl initialer, differenzieller als auch mit prozessbegleiten-
Multimodale verhaltenstherapeutische (Be-) Handlungsstrategie
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Multimodale, strategisch-systemische Verhaltenstherapie
Ein 5-Phasen-Modell
der, adaptiver Indikationsstellung für einzelne Interventionen im Rahmen einer übergeordneten, systemisch orientierten Gesamtstrategie dargestellt. Unter besonderer Berücksichtigung konflikt- und motivationspsychologischer Ambivalenzkonstrukte wird die Analyse der intraindividuellen wie der interaktionellen Funktionen von Symptom- und allgemeinerem Krankheits-Verhalten unter Rückgriff auf konkrete „Fallbeispiele“ vorgestellt. Eingebettet ist dieses Vorgehen in die Analyse und Modifikation der PatientTherapeut-Beziehung. Diese Strategie ist in Abb. 1 als ein 5-PhasenModell (Hand, 1986; s. auch Craig und McMahon, 1984, in Hand, 1986; Colon et al., 1988) im Überblick zusammengefasst. Sie beinhaltet die grundlegenden Rahmenbedingungen, d. h.: die kontinuierliche Analyse und Modifikation der Motivation des Patienten, seines sozialen Umfeldes und des Therapeuten sowie von deren Interaktion miteinander; eine Systematik wesentlicher Analyse- und Veränderungsinterventionen. Therapie wird als zeitlich eindeutig limitierter Erfahrungsbereich in der Lebensführung verstanden, durch den in vorübergehender Abhängigkeit vom Expertenwissen und -verhalten des Therapeuten eine erheblich höhere Eigenständigkeit in der Lebensführung des Patienten erreicht werden soll. Gerade bei schwerer gestörten Personen kann die Systematik der Veränderungsschritte aber nur verändernd wirken, wenn Beziehungsaufbau und Motivationsabklärung gelungen sind und reflektierte Rahmenbedingungen für den Veränderungsprozess bleiben. Durchführung und Sequenz der in Abb. 1 dargestellten Schritte variieren natürlich in Abhängigkeit von Patienten- und Therapeutenvariablen.
Gesamtkonzept, Rahmenbedingungen und Ablaufphasen
Abb. 1. Die Strategie der Verhaltenstherapie. Ein Fünf-Phasen-Modell
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Multimodale, strategisch-systemische Verhaltenstherapie
4.3 Die „probatorischen Sitzungen“ 4.3.1 Formalia in der „RichtlinienVerhaltenstherapie“ Probatorische Sitzungen
Probetherapie
Als „probatorische Sitzungen“ werden in der Richtlinien-Verhaltenstherapie der gesetzlichen Krankenversicherungen und der Beihilfestellen die ersten fünf Kontakte (je 50 Min.) bezeichnet. Gegen deren Ende sollen die notwendigen Informationen für eine vorläufige Hypothesenbildung, Therapie-Zielsetzung und -Planung erhoben sein. Diese gehen dann in den Bericht des Therapeuten zum Antrag des Patienten auf Kostenübernahme an die Krankenversicherung ein (Details zu den gesetzlichen und inhaltlichen Rahmenbedingungen bei Faber und Haarstrick, 2005). Reichen die Informationen nicht zur Begründung einer Langzeit-VT (45 Sitzungen), so kann eine Kurzzeit-VT von 25 Sitzungen u. a. zur weiteren Problemund Motivationsklärung beantragt werden. Diese kann im Gutachterverfahren bei begründeten Zweifeln auf eine „Probetherapie“ von etwa 15 Sitzungen reduziert werden. Diese zeitliche und inhaltliche Strukturierung mag manchen als „magisches Ritual“ erscheinen, ist aber bei ihrer Formulierung durch die damaligen Verhaltenstherapie-Berater der KBV aus Erfahrung abgeleitet worden.
4.3.2 Formalia in der Therapeut-PatientBeziehung Qualität der PatientTherapeut-Beziehung
Die Qualität der Patient-Therapeut-Beziehung wird bekanntlich bereits in den ersten Sekunden der Begegnung vorgebahnt und sehr stark durch das Therapeutenverhalten in der ersten gemeinsamen Sit-
Die „probatorischen Sitzungen“
zung vorgeprägt. Dabei gibt es Standardverhaltensweisen bei den Therapeuten, die anscheinend als unproblematisch eingestuft werden. So haben Therapeuten in der Aus- bzw. Weiterbildung eine verständliche Neigung, sich während des Gespräches immer wieder kürzere und längere Notizen zu machen, um dem Verlust wichtiger Informationen vorzubeugen. Mitunter werden auch Tonaufnahmen gemacht in der Erwartung, diese dann später bei dem Gefühl von Erinnerungslücken abhören zu können. Letzteres ist aber unter normalen Arbeitsbedingungen wegen des damit verbundenen Zeitaufwandes völlig unrealistisch. Ersteres kann bei Patienten, die „beziehungsempfindlich“ sind, zu deutlichen Verzögerungen oder auch Störungen in der Kontaktentwicklung führen. Idealerweise sollte der Therapeut im Blickkontakt, in allen Qualitäten zugewendet und interessiert, den Dialog mit seinem Patienten führen. Das „Sich-Festhalten am Notizblock“ ist vielfach ein beziehungsabträgliches Verhalten (in krasser Form unter den heutigen Sparmaßnahmen in den Arztpraxen mitunter so ausufernd, dass die abgefragten Informationen direkt in den Computer eingegeben werden und der Blickkontakt mit dem Bildschirm wesentlich intensiver ist als der mit den Augen des Patienten). Es erscheint deshalb sowohl im Interesse des Beziehungsaufbaues (s. zu diesem Teilaspekt auch Sullivan, 1976) als auch des Umfanges der zu erhebenden Informationen sinnvoller, das Gespräch durchgängig patienten-zugewendet zu führen, Notizen auf ein Minimum zu reduzieren und den Inhalt unmittelbar nach dem Gespräch zu dokumentieren. Das fördert nicht zuletzt auch das eigene Kurzzeitgedächtnis. Darüber hinaus hilft diese Vorgehensweise, das per-
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Standardverhaltensweisen
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Multimodale, strategisch-systemische Verhaltenstherapie
sönlich favorisierte Verhaltenstherapiemodell mit seinen Inhalten und Ablaufphasen rasch zu internalisieren. Wie bei jeder zu erlernenden handwerklichen Kunst ist die Lernphase zwar etwas mühsam, dadurch aber die spätere Praxis erheblich erleichtert. Je besser ein Verhaltenstherapeut sein Therapiemodell internalisiert hat, umso besser gestalten sich die frühe therapeutische Beziehung, der inhaltliche Kenntnisstand und die Motivationsklärung. Damit haben dann Patient und Therapeut gute Vorbedingungen geschaffen, um auch bei komplexer Ausgangslage die Therapie inhaltlich und zeitlich überschaubar zu gestalten. (Eine alte Weisheit: „Man muss viel wissen, um wenig zu tun.“)
4.3.3 Die formale und inhaltliche Strukturierung Die formale Strukturierung der probatorischen Sitzungen kann in der folgenden Form hilfreich sein (Hand, 1981): Die rezeptiv-informative Phase
Die direktiv-explorative Phase
Die norm- und zielorientierte, kooperative Phase
• Die rezeptiv-informative Phase steht in der Regel am Beginn: Der Therapeut ermutigt den Patienten (Paar, Familie), sich und seine oder ihre Probleme möglichst spontan darzustellen. • Die direktiv-explorative Phase folgt, sobald der Therapeut erste Hypothesen für sich gebildet hat, die er nun durch gezielte Themenvorgaben abzuklären versucht. • Die norm- und zielorientierte, kooperative Phase führt dann zu einer gemeinsamen Entscheidung für oder gegen eine Therapie und zur Festlegung von deren Zielsetzungen und den dafür geeigneten Interventionen.
Die „probatorischen Sitzungen“
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• In der rezeptiv-informativen Phase kann der Therapeut zwei besonderen Problemsituationen begegnen: 1. Der scheinbar logorrhöische Patient: Diese Situation tritt z. B. häufiger auf, wenn ein erstes Familieninterview geführt wird und ein Familienmitglied besonders ängstlich (Angst vor Schuldzuweisung, Angst vor Aufdeckung von „Peinlichkeiten“ u. ä.) ist und hofft, die Stunde mit ungefährlichen Informationen zu füllen und so zu verhindern, dass der Therapeut die angstmachenden Bereiche anspricht oder gar vertieft. In dieser Situation sollte der betreffenden Person erst einmal Zeit gegeben werden, sich zu „akklimatisieren“, zu reden, mit gelegentlichen freundlichen Zwischenfragen des Therapeuten und häufigem Blickkontakt. Dabei wird den anderen Familienmitgliedern immer wieder durch nonverbale Zuwendung die Wahrnehmung ihrer Person verdeutlicht. Nach einiger Zeit – unerfahrene Beobachter oder Co-Therapeuten reagieren schon gelangweilt bis unruhig – ist meist ein Rückgang der Anspannung des Vielredners zu beobachten (Habituation an die Gesprächssituation), und dann können gestuft die anderen Familienmitglieder in das Gespräch einbezogen werden. Es ist ausgesprochen zeitökonomisch, für Paar- und insbesondere Familiengespräche mindestens eine Doppelstunde vorzuplanen, damit nach hinreichendem Angstabfall bei allen Beteiligten bereits im ersten Kontakt die relevanten Probleme angesprochen und fundierte Hypothesen möglich werden. Hier ist also anfängliche Langsamkeit in der Informationsgewinnung die interaktionelle Voraussetzung für ein nachfolgend möglichst angstarmes, vertrauensvolles Klima als Grundlage einer zügigen lösungsorientierten Weiterarbeit.
Der scheinbar logorrhöische Patient
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Multimodale, strategisch-systemische Verhaltenstherapie
Der einsilbig-schweigsame Patient
2. Der einsilbig-schweigsame Patient: Hier liegt meist eine tiefere Depression oder eine Kombination sozialer Ängste und Defizite (oder beides) vor. Die Gesprächssituation wird vom Patienten als hochgradig belastend erlebt, das eigene Nicht-reden-Können als peinlich empfunden. Hier sollte der Therapeut seine Chamäleon-Qualitäten (d. h. situationsabhängig flexibles Interaktions-Verhalten) nutzen und keine längeren Gesprächspausen entstehen lassen. „Die dynamische Fähigkeit (des Therapeuten), sich jeweils auf einen anderen Menschen und dessen Defizite und Ressourcen einzustellen, entscheidet mehr als alles andere über Erfolg und Misserfolg“ (Kächele, 2006). Er stellt anfangs kurze und auch einsilbig zu beantwortende Fragen, die dann nach und nach komplexer werden und auch zu komplexeren und längeren Antworten führen. Die in der klassischen Analyse gezielt gewollte verbale Abstinenz des Therapeuten, die in der Verhaltenstherapie in der rezeptiv-informativen Phase bei bestimmten Patienten oder Gesprächssituationen auch sinnvoll ist, ist hier absolut kontraindiziert.
Gestaltung der direktivexplorativen Phase
• Die Gestaltung der direktiv-explorativen Phase erfordert natürlich ebenfalls die Berücksichtigung des individuellen Interaktionsstiles des Patienten. Dennoch sollte der Therapeut nunmehr versuchen, systematisch erste Hypothesen durch gezielte Fragen zu überprüfen. Für angehende Verhaltenstherapeuten, z. B. mit gesprächspsychotherapeutischer oder tiefenpsychologischer Vorerfahrung, ist die Akzeptanz dieses veränderten Interaktionsstiles in der Therapeutenrolle anfangs schwierig – bis hin zu dem Vorwurf, das Gespräch erhalte nun „Verhör-Charakter“.
Die „probatorischen Sitzungen“
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Diesen Eindruck berichten Patienten bei adäquater Umsetzung praktisch nie. In dieser Gesprächsphase verlängert eine übervorsichtige, nondirektive Grundhaltung den Gesamtzeitaufwand für die biografischen und Verhaltensanalysen u. U. erheblich. • Die norm- und zielorientierte, kooperative Phase beinhaltet nochmals eine intensive Motivationsüberprüfung und ggf. Modifikation (s. u.). Dabei gilt es, darauf zu achten, dass der Patient (und/oder sein Umfeld) einerseits nicht zu „forsch“ tiefgehende Veränderungen angehen wollen, andererseits der Therapeut bei sehr zögerlichen Patienten nicht selbst zu zögerlich reagiert. Werden alle 5 in der Richtlinien-Verhaltenstherapie der gesetzlichen Krankenversicherungen möglichen Stunden bis zur ersten Hypothesenbildung für das Antragsverfahren benötigt, so kann es durchaus sein, dass z. B. in der zweiten und in der dritten Sitzung jeweils die oben beschriebene erste und zweite Phase wiederholt werden müssen. Bedauerlicherweise ist es in den gesetzlichen Regelungen nicht vorgesehen, bei spezifischer Indikation die 5 probatorischen Sitzungen auch zusammenhängend an einem oder zwei Tagen („MarathonInterviews“) durchführen zu können. In der Regel ist dies auch nicht nötig. Bei sehr verschlossenen Patienten mit großer Schwierigkeit, vertrauensvollen Kontakt aufzubauen, kann dies jedoch der optimale Weg sein, um in einem längeren Kontakt diese Vertrauensbarriere aufzulösen und die wirklich relevanten Informationen zu erhalten (eigene diesbezügliche Erfahrungen des Autors z. B. in Begutachtungsverfahren mit im Untersuchungsgefängnis inhaftierten delinquenten Glücksspielern, die – entgegen verbreiteter
Marathon-Interviews
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Meinung – oft die wirklich entlastenden Ereignisse in der Biografie während normaler Sitzungen aus einer Art „He Man“-Stolz nicht berichten können; Hand, 1992).
4.3.4 Die interaktionelle und inhaltliche Gestaltung Prozess der initialen Motivations-, Störungsund Problemklärung
Beziehungsfallen des Therapeuten für den Patienten
Videoaufzeichnung
In diesen Prozess der initialen Motivations-, Störungs- und Problemklärung ist der Therapeut – über die Selbsterfahrung und verhaltenstherapeutisch modifizierte Balint-Gruppen-Arbeit vorbereitet – nicht nur gestaltend, sondern auch betroffen involviert. Bei beziehungsschwierigen Patienten, bei Patienten mit bestimmten, einem Therapeuten nicht „sympathischen“ Störungen und bei eigener teilweiser Betroffenheit durch die Störung des Patienten sind wir Therapeuten gefährdet, unsere Wahrnehmung zu unserem „eigenen Schutz“ fehlzuverarbeiten. Wir benutzen die beruflich erlernten Kommunikationsstrategien dann möglicherweise, um uns so zu verhalten, dass der Patient unsere Behandlung gar nicht wollen kann und diese dann ablehnt oder abbricht. Der Therapeut kann dann ohne Schuldgefühle feststellen, dass er ja „alles versucht“ hat, der Patient aber eben „noch nicht motiviert“ war. Solche (teilbewussten?) Beziehungsfallen des Therapeuten für den Patienten entdeckt man oft nur, wenn in der Aus- oder Weiterbildung im Videoraum Therapeut und Patient aufgenommen werden, so dass das Supervisionsteam aus Mimik, Körperhaltung und Intonation auf eine solche Interaktion schließen kann. Für Therapeuten kann dann die kollegiale Nachbereitung der Therapiesitzung mithilfe der Videoaufzeichnung eine wichtige Fortsetzung der Patienten-bezogenen
Die „probatorischen Sitzungen“
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Selbsterfahrung werden. Leider ist diese Form der Supervision in der Aus- und Weiterbildung durch die ökonomischen Zwänge in den letzten Jahren stark gefährdet (wie auch das „teaching by modelling“ durch den Supervisor – früher fast die Regel, heute scheinbar die Ausnahme).
Patienten-bezogenen Selbsterfahrung
Kommt ein Patient in Begleitung (z. B. Elternteil, Partner/in), so ergibt sich die Frage, ob beide gleichzeitig in das Gespräch kommen möchten oder ob das Gespräch mit einer Person beginnen oder überhaupt nur mit dieser geführt werden sollte. Aus Mimik und nonverbaler Interaktion (auf die entsprechende Rückfrage des Therapeuten) ist häufig erkennbar, wer was wirklich möchte – unabhängig davon, welcher Wunsch dann verbalisiert wird! Wird das Erstgespräch gemeinsam geführt, so kann im Gesprächsverlauf die Fortführung mit nur einer Person sinnvoll werden. Auf welche Weise die andere Person dann zum Verlassen des Raumes motiviert werden kann, hängt sehr von deren Motivation im Kontext der beginnenden Therapie ab.
Patient in Begleitung
Beispiel P1. Ein junges Paar kommt in das Erstgespräch. Nach wenigen Minuten wird deutlich, dass der Mann die Gesprächssituation völlig dominiert. Er schildert eine von ihm schon diagnostizierte „Erythrophobie“ der Partnerin, die ihrerseits dieses verhalten nickend leise bestätigt. Auf Fragen des Therapeuten an die Patientin antwortet diese allenfalls kurz, wird dann aber von ihm in „väterlich“-dominanter Weise ergänzt oder korrigiert. Bei dem Versuch, einen Überblick über den Verlauf des Krankheitsbildes und den Verlauf der Beziehung sowie einige biografische Basisinformationen zu bekommen, drängt der Partner plötzlich auf Beendigung
Erythrophobie
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Multimodale, strategisch-systemische Verhaltenstherapie
dieser Exploration. Unter Hinweis auf seine Kenntnisse aus dem Internet und aus Selbsthilfebüchern betont er die Diagnose einer Erythrophobie, deren Behandelbarkeit in wenigen Sitzungen doch erwiesen sei. Die meisten TherapeutInnen entwickeln in so einer Situation den heftigen Wunsch, diesen Störenfried möglichst rasch loszuwerden. Dies kann unter motivationalen Gesichtspunkten zu einem gravierenden Fehler führen, da der Partner, auch bei Befolgung eines „Hinauswurfes“, mit hoher Wahrscheinlichkeit dafür sorgen wird, dass es bei diesem Therapeuten zu keinem zweiten Termin kommt; die Patientin verliert damit erst einmal die Chance, „gerettet“ zu werden (Näheres s. Kap. 5, Forts. S. 184 ff).
Magische Handlungszwänge
Beispiel P2. Ein besorgtes Ehepaar kommt mit dem 9-jährigen Sohn in das Erstgespräch. Der Sohn habe seit einigen Monaten magische Handlungszwänge in der Wohnung wie auch bei gemeinsamen Ausgängen entwickelt, sich leistungsmäßig in der Schule drastisch verschlechtert und den vorher lebhaften Kontakt zu Mitschülern und Freunden weitgehend abgebrochen. Ist dies eine Situation zur Weitervermittlung der Familie an den Kinder- und Jugendpsychotherapeuten? In der Fortsetzung des Gespräches entsteht der Eindruck, dass die Eltern nur lebhafter und übereinstimmend kommunizieren, wenn es um die Krankheitssymptomatik des Sohnes geht. Bei Fragen nach ihrer augenblicklichen Lebenssituation verliert sich die Spontaneität, sie werden einsilbig und betonen stattdessen wiederholt, dass sie sich alle Mühe geben, mit dem Sohn nicht zu streiten, wenn dieser seine zunehmend störenden Verhaltensweisen zeige. Der Therapeut hat das Empfinden, dass das Problem ursprünglich bei den Eltern liegen könne und der Sohn
Die „probatorischen Sitzungen“
die Eltern „ungewusst“ mit seinem Verhalten zur Therapie gebracht haben könnte. Die Überprüfung soll rasch geschehen, das Kind damit aber nicht belastet werden. Die Sitzung wird kurz unterbrochen, und es gelingt einer Mitarbeiterin, den Sohn zu überreden, mit ihr außerhalb des Sprechzimmers ein Spiel zu spielen. Im anschließenden Gespräch mit den Eltern bestätigt sich die Hypothese rasch: Unter massivem innerem Druck erzählt die Ehefrau, dass sie seit einiger Zeit gefühlsmäßig völlig von ihrem Mann entfremdet sei, so eigentlich nicht mehr weiterleben wolle, dies aber dem Mann bisher nicht habe sagen können. Der Ehemann reagiert zutiefst betroffen und enttäuscht. Das Gespräch muss länger als geplant fortgesetzt werden. Es gelingt, die Dramatik aus der Situation teilweise herauszubekommen. Inhaltlich wird deutlich, dass das vorher lebendige Familienleben – mit vielen gemeinsamen Aktivitäten mit dem 9-jährigen Sohn und der 12-jährigen Tochter – seit über einem halben Jahr weitgehend verwelkt war. Selbst gemeinsame Abendessen, die vorher für die Kinder ein verlässliches tägliches Ritual waren, fanden nicht mehr statt. Das noch recht akute Symptomverhalten des Sohnes hat hypothetisch also sowohl eine intrapsychische (magische Zwänge zur Bewältigung der aus der nicht erklärlichen tiefen Veränderung des elterlichen Verhaltens resultierenden Angst) als auch eine interaktionelle Funktionalität (die Eltern „zur Therapie zu bringen“; s. dazu Haley, 1976). Den Eltern wird ein hierarchisiertes Hypothesen- und Therapieangebot gemacht, das sie annehmen (s. Kap. 5). Der Sohn wird vorsichtshalber dem Kinder-/JugendPsychiater vorgestellt, der zum gegebenen Zeitpunkt einen Behandlungsversuch alleine mit den Eltern für vertretbar hält. Die Eltern hatten bei einem vorangegangenen Besuch einer psychoanalytischen Einrich-
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Multimodale, strategisch-systemische Verhaltenstherapie
tung die Empfehlung bekommen, den Sohn in eine Kinder-Psychoanalyse zu geben und der Ehefrau eine eigene Psychotherapie angeraten. Die Eltern mochten insbesondere das erste Angebot nicht annehmen (Forts. S. 228 ff).
Münchhausen-Trichotillomanie
Beispiel P3. Diese Patientin erscheint körperlich zwar alleine, psychisch (wie sich erst später herausstellte) aber in Begleitung der Mutter: Mit spärlichem, unregelmäßigem Kopfhaar kommt sie wütend in das Erstgespräch. Die Ärzte in der Hautklinik hätten sich geweigert, ihren „Haarausfall“ weiter zu untersuchen, wenn sie nicht erst einmal zu einem Gespräch in die Psychiatrie ginge. Empört weist sie darauf hin, dass dies doch eine Erpressung sei und dass sie wieder gehen wolle. Im Therapeuten entsteht der heftige Wunsch, dass sie dann doch bitte gehen möge – aber er sagt es nicht, und sie geht nicht. Die selbst erweiterte „Kanfer-Formel“ (s. Kap. 3.4 und 3.5) hilft bei der Emotionsregulierung des Therapeuten. Das Gespräch endet schließlich in sehr freundlichem Ton mit der Vereinbarung, gemeinsam mithilfe gesammelter ausgefallener Haare den Hautärzten eventuell zu beweisen, dass sie die Behandlung wieder übernehmen müssen. Die angebotene stationäre Aufnahme zum Zweck der Beweisfindung hält die Patientin nicht für erforderlich, da sie aktiv mitarbeiten werde. In wenigen Sitzungen entsteht dann eine klassische multimodale Verhaltenstherapie zur Bearbeitung der wirklichen und schwerwiegenden Probleme: chronische Mutterproblematik mit daraus resultierenden, progredient problematischen Verhaltensmustern, ausgehend von einer über 10 Jahre bestehenden „MünchhausenTrichotillomanie“ als Protestverhalten gegen die Mutter (Lösung s. Kap. 5, S. 246).
Die „probatorischen Sitzungen“
4.3.5 Besondere Probleme bei der MotivationsAnalyse und -Modifikation beim Patienten und seinem sozialen System Der übliche direkte Weg zur Erhöhung der Veränderungs-Motivation besteht darin, den Patienten von der Hyperreflexion seiner Defizite ab und zur adäquaten Wahrnehmung seiner Verhaltensaktiva hin zu lenken („Ressourcenorientierung“). Dies gelingt nur mühsam oder gar nicht, wenn die Symptomatik durch negative oder positive Verstärkung aufrechterhalten wird und dabei z. B. als Schutzmechanismus für den Patienten oder für Angehörige dient. Schließlich reagieren interaktionell früh traumatisierte Patienten auf so ein direktes Vorgehen des Therapeuten mit „reflektorischer Opposition“ (s. z. B. Haley, 1976; Selvini-Palazzoli et al., 1978). In der systemischen Therapie wird zur Auflösung solcher Blockaden z. B. das „Prinzip der Illusion von Alternativen“ (Erickson und Ross, 1975) eingesetzt: Der Patient erhält mehrere sehr unterschiedliche Vorschläge für Hausübungen, um ihm die „Macht der Entscheidung“ zu geben in der Hoffnung, dass er nicht erkennt, dass er auch alle Vorschläge ablehnen könnte. Bei einem zu Veränderung motivierten Patienten hat die gleiche Vorgehensweise eine ganz andere Funktion: über den Dialog die Kooperation mit fördern. Bei systemischen Interventionen der o. g. Art ist immer zu beachten, dass sie auch sehr negative Effekte bewirken können, wenn die therapeutische Beziehung nicht „stimmt“, der Zeitpunkt falsch gewählt oder die Persönlichkeit des Patienten falsch eingeschätzt wurde. Motivationsanalysen können, wie dargestellt, ab der ersten probatorischen Sitzung jederzeit im Therapieverlauf erforderlich werden. Auf einige besondere Probleme sei im Folgenden eingegangen.
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Multimodale, strategisch-systemische Verhaltenstherapie
Chronische Konfliktkonstellationen mit chronifizierten Symptombildungen
Eigen- bzw. Fremdmotivation
Der zu rascher Änderung des Symptomverhaltens bereite, darauf geradezu drängende Patient sollte nach positivem Ergebnis der Indikationsprüfung durch den Therapeuten dann möglichst auch entsprechend intensiv behandelt werden, da hier ein zu vorsichtiges Vorgehen zum Motivationsabbau und zum Therapeutenwechsel und nicht nur zu unnötig langer Therapiedauer führen kann. Bei dem in chronischen Konfliktkonstellationen mit chronifizierten Symptombildungen und hoher Ambivalenz gegenüber Veränderungen gefangenen Patienten dürfen demgegenüber der resignative Rückzug, das passiv erscheinende Verharren in der chronischen Pseudolösung der Lebensprobleme (über das Krankheitsverhalten) nicht in Frage gestellt werden, bevor die Vertrauensbeziehung zum Therapeuten aufgebaut ist. Erst aus dieser Vertrauensbeziehung heraus kann Mut gemacht werden, durch Experimentieren auf der Verhaltensebene Risiken einzugehen und über geänderte Verhaltensweisen neue emotionale Erlebensmöglichkeiten zu erhalten, um über diese dann neue Konstrukte über sich selbst und neue Kommunikationsformen mit der Umwelt zu entwickeln. Solche Patienten in einem sehr überschaubaren zeitlichen Rahmen zur Motivationsveränderung zu führen, setzt voraus, dass der Therapeut selbst keine Motivationsprobleme im Umgang mit ihnen hat (s. u.)! Bei der Motivationsanalyse ist auch darauf zu achten, ob die verbalisierte Motivation eine wirkliche oder scheinbare Eigen- bzw. Fremdmotivation darstellt. Nicht erkannte scheinbare Eigenmotivation (als induzierte Fremdmotivation) führt zu falschen Therapieangeboten, während nicht erkannte scheinbare Fremdmotivation (weil der Patient eine Fremdmotivation angegeben hat) den Therapeuten zu vor-
Die „probatorischen Sitzungen“
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schneller Therapieablehnung veranlassen kann (s. o., Beispiel P3 und S. 246 ff). Die Ambivalenz des Patienten hängt häufig mit der problematischen Motivation seines sozialen Bezugssystems zusammen. Auf zwei Ausdrucksformen solcher Ambivalenz sei beispielhaft kurz eingegangen. 1. Die scheinbare Eigenmotivation des Patienten, z. B. zu einer intensiven Symptomtherapie: Um dieses Problem erkennen zu können, ist es grundsätzlich erforderlich, auch eine verbalisierte Motivation für eine intensive Symptomtherapie dahingehend zu überprüfen, ob der Patient diese in seiner gegenwärtigen Lebens- und Beziehungssituation überhaupt wollen kann. Auch hier steht der Therapeut wieder vor der Entscheidungssituation, ob er dem geäußerten Therapiewunsch nachgeben und die intensive Symptomtherapie beginnen soll (damit der Patient nicht frustriert wird), oder ob die Fortsetzung der Motivationsklärung dazu führen könnte, dass der Patient diese Zielsetzung als teilweise internalisierte Fremdmotivation erkennt und dann seine eigene Therapiezielsetzung im therapeutischen Dialog modifiziert. Beispiel P4. Die junge Mutter eines einjährigen Kindes hat seit einigen Jahren in der Ehe eine Zwangssymptomatik mit immer ausgeprägterer Keimangst mit Waschzwang entwickelt. Mehrfach am Tag „muss“ sie ihr Kind mit verdünnter Sagrotanlösung abwaschen. Rational weiß sie, dass dies eine weit übertriebene Maßnahme ist. „Vom Bauch her“ führt der Versuch, verstandesgesteuert das Verhalten drastisch zu reduzieren, zu unerträglicher innerer Anspannung und zu der Angst vor Schuldgefühlen, falls
Scheinbare Eigenmotivation
Verbalisierte Motivation für eine Symptomtherapie
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Multimodale, strategisch-systemische Verhaltenstherapie
Klärung der intrapsychischen Funktionalität
Interaktionelle Funktionalität
sich bei dem Kind jetzt doch eine gefährliche Infektion herausstellen sollte. Versuche, dies dem Ehemann und der Familie zu erklären, sind im Ansatz gescheitert. Der Druck der Familie, dieses kindschädigende Verhalten einzustellen, wächst. Im Erstgespräch zeigt sie sich einsichtig und schuldbewusst bezüglich ihres Zwangsverhaltens und äußert, unterstützt vom Ehemann, ihren „Wunsch“, nun endlich davon loszukommen – „das Bauchgefühl“ appelliert jedoch weiterhin vehement dagegen. Der vorschnell eine Expositionstherapie anbietende Therapeut wird zu einer Bedrohung, denn die Übungen werden unter äußerem Druck scheinbar compliant mitgemacht, der Erfolg bleibt aber aufgrund zahlreicher verdeckter Vermeidungsverhalten und -gedanken erfolglos – und die Misserfolgsanalyse des Therapeuten auf den klassischen Ebenen ebenso. Wir fragen uns daher rechtzeitig, ob die Patientin wollen kann, was sie in Übereinstimmung mit den Familiennormen als Zielsetzung angibt: „Wo ist die Patientin denn überhaupt“ (s. Kap. 3.4). Ihr Dilemma besteht in dem Widerspruch zwischen der rationalen Schuldanerkenntnis an den beginnenden Hautverletzungen des Kindes und dem nicht beherrschbaren Angstgefühl, im Falle einer Zwangsunterlassung noch viel schuldiger zu werden. Erst wenn die Patientin dem Therapeuten gegenüber dieses Dilemma angstfrei besprechen kann, kann im nächsten Schritt die Aufmerksamkeit auf die steigende Unzufriedenheit mit der eigenen Situation gelenkt werden, um dann die Bewältigung dieser Ängste mit besseren Methoden als dem Waschzwang anzustreben. Nach der Klärung der intrapsychischen Funktionalität ist es dann bei dieser Patientin vor der endgültigen Therapieplanung aber zusätzlich wichtig, eine möglicherweise parallel vorliegende interaktionelle Funktionalität (im Umgang mit dem Ehe-
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mann und/oder der Familie) zu überprüfen und diese ggf. wiederum angstfrei mit dem Therapeuten kommunizierbar zu machen. Bei diesem Vorgehen gibt es mehrere Varianten. In der psychodynamischen amerikanischen Suchttherapie ist die Kanfer-Formel im Zusammenhang mit dem „Motivational Interviewing“ (Miller und Rollnick, 2002) um folgende Zielsetzung ergänzt worden: „Meet the client where he is … and lead him where he doesn’t want to go“ (Costikyan, 2002). Das klingt im ersten Moment humorig, wirft aber die Frage auf, ob der Therapeut den Patienten wirklich irgendwo hinführen sollte, wo er (immer noch) nicht hingehen will! Das ist von dem Autor so wohl auch nicht gemeint. Wir formulieren daher für die Verhaltenstherapie um: „join the client where he is … and help him to know where he wants to go“ (s. Kap. 3.4 und 3.5). 2. Die scheinbare Fremdmotivation des Patienten zur Therapieaufnahme: Hinter einem abwehrend, mürrisch-gereizt vorgebrachten „Mich hat mein Hausarzt (Partner, Eltern, Arbeitgeber) geschickt“ – also dem verbalen „Nein“ zum Erstkontakt, der aber dennoch wahrgenommen wird! – steht in der Regel wieder eine hochgradige Ambivalenz: Verbales und emotionales Verhalten einerseits und motorisches Verhalten andererseits stehen im krassen Widerspruch. Auch hier gilt die gleiche Vorgehensweise wie bei der scheinbaren Eigenmotivation (s. Beispiel P3). Bei chronifizierter Symptomatik eines Individuums und gleichzeitig über längere Zeit bestehender Partnerschaft (Familie) kann selbst eine Einzeltherapie kaum sinnvoll ohne eine Motivationsklärung des Gesamtsystems geplant werden.
Scheinbare Fremdmotivation
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Multimodale, strategisch-systemische Verhaltenstherapie
Analyse der Systemmotivation
Nur so erhält der Therapeut die Möglichkeit, für seine Therapieplanung Hypothesen darüber zu entwickeln, ob im System tiefgreifende Veränderungen u. U. durch den Einsatz von „provozierenden“ Techniken oder eher nur eine Optimierung bereits vorhandener, defensiver Kompromisslösungen angestrebt werden sollte. Einige typische Ausgangssituationen im Erstkontakt für die Analyse der Systemmotivation seien beispielhaft dargestellt: 1.
2.
Beide wollen gemeinsam Therapie, haben aber völlig unterschiedliche Veränderungswünsche an sich und/oder den Partner. Sie suchen im Bewusstsein dieser Konstellation Therapeutenhilfe zur Kompromissfindung, da sie beide mit Krankheitssymptomatik bzw. Verhaltensauffälligkeiten auf die immer unlösbarer erscheinende Situation reagiert haben (s. Kap. 3.2.2). Dies ist eine relativ einfache – oft keine spezifischen Motivationsprobleme ergebende – Ausgangssituation für eine verhaltenstherapeutische Systemintervention, die entweder die beidseitig gewünschten Verbesserungen erbringt oder aber zu einer Trennung verhilft (s. Therapieverlauf P2 in Kap. 5). Der alleine gekommene Patient gibt an, dass der Partner zu keinem gemeinsamen Gespräch kommen und schon gar nicht an der Therapie teilnehmen wolle. Diese Angabe ist entweder (a) richtig: der Partner hat eine problematische Motivation, oder (b) diese Angabe ist falsch: es ist der Patient, der nicht wünscht, dass der Partner an der Therapie teilnimmt. Wenn bei (a) die Einbeziehung des Partners dennoch äußerst wünschenswert erscheint, um Veränderungen beim Patienten in einem überschaubaren Zeitraum zu ermöglichen
Die „probatorischen Sitzungen“
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oder zu stabilisieren, so gibt es direkte und indirekte Wege, Partner oder Elternteil zu einem Gespräch oder einer Beteiligung an der Therapie zu bewegen (s. Kap. 5). Partnerschafts- oder Familien-gerichtete Verhaltenstherapie kann jedoch auch mit nur einem Familienmitglied eingeleitet werden. Veränderungen des Patienten bleiben dann selten ohne Rückwirkungen auf die übrigen Familienmitglieder. Häufig kommen Erstkontakte mit den Partnern erst dann zustande, wenn der Patient sich in der Therapie zu verändern beginnt. Allerdings tritt damit auch eine Risikosituation für die Beziehung ein, da der Partner mit zunehmender Verärgerung und Aggression auf beginnende Veränderungen des Patienten reagieren kann. Wenn der Patient dann doch nicht die Kraft hat, sich trotzdem weiter zu verändern, kann er/sie im ungünstigen Falle einen massiven Symptomrückfall erleben – und diesen dann möglicherweise dem Therapeuten zum Vorwurf machen. Einer solchen Entwicklung kann weitgehend vorgebeugt werden, wenn in der Phase der gemeinsamen Therapieplanung der Patient – im Sinne eines „informed consent“ bezüglich der möglichen Nebenwirkungen der Therapie – auf dieses Risiko hingewiesen wird. Wenn er es dann eingehen zu wollen meint (kognitive Reaktion), sollte vor einer Entscheidung, z. B. in Rollenspielen, gemeinsam überprüft werden, ob mögliche negative Reaktionen des Partners vom Patienten wirklich ertragen werden könnten (emotionale Reaktion)! Führen bei Vorliegen von (a) Veränderungen des Patienten dazu, dass der Partner nun doch zu einem gemeinsamen Gespräch bereit wird, kann er im Anschluss daran entweder vorübergehend in die
Kognitive Reaktion
Emotionale Reaktion
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Multimodale, strategisch-systemische Verhaltenstherapie
Therapie einbezogen oder aber für eine eigene Einzeltherapie (möglichst bei einem anderen Therapeuten) motiviert werden. Trifft (b) zu, dann liegt meist eine Ambivalenz des Patienten bezüglich seiner Paar-/Angehörigen-Beziehung vor, oder er möchte bestimmte Bereiche der Krankheitssymptomatik im privaten Umfeld verheimlichen (z. B. bei Zwangskranken oder Glücksspielern). Gewinnt der Therapeut den Eindruck, dass ohne teilweise Einbeziehung des Angehörigen sein eigener Informationsstand für eine erfolgreiche Therapieplanung unzureichend bleibt, so gibt es mehrere indirekte Strategien, den Partner letztlich doch einbeziehen zu können (s. Kap. 5). Nimmt der Angehörige als Erster Kontakt mit dem Therapeuten auf (häufiger der Fall bei Zwangsstörungen, pathologischem Glücksspielen, Anorexie, Manie oder Schizophrenie) mit dem Hinweis, der Symptomträger sei nicht bereit, in Therapie zu kommen, so gibt es wieder die beiden Möglichkeiten: (a) Entweder der Angehörige hat Recht, oder (b) er hat eine eigene Motivation, trotz seines Leidensdruckes, den Patienten nicht zum Therapeuten zu lassen. Bei (a) kann das Problem darin liegen, dass der Angehörige durchaus vorhandene Kompetenzen im Gespräch mit dem Symptomträger nicht so umzusetzen weiß, dass dieser zumindest zu einem gemeinsamen orientierenden Gespräch beim Therapeuten mitkommt. Die häufige Therapeutenreaktion, „da können wir gar nichts machen, solange der Betroffene nicht freiwillig zu uns in ein Gespräch kommt“, sollte als Initialantwort vermieden werden. In den Anfangsjahren unseres „Spieler-Projektes“ kamen zahlreiche Erstgespräche mit Spielern nur dadurch zustande, dass die Angehörigen, die als
Die „probatorischen Sitzungen“
erste anriefen, im Telefonat motiviert werden konnten, mit dem Spieler so zu reden, dass er ein Gespräch als „völlig unverbindlichen Versuch“, sozusagen als spielerischen Kontakt, akzeptierte (Hand, 2004; Klepsch et al., 1989). Der Kreativität sind hier kaum Grenzen gesetzt, z. B.: „Haben Sie Ihrem Bruder wirklich vermittelt, wie sehr Sie ihn gern haben und wie sehr Sie darunter leiden, dass er im Umgang mit dem Glücksspiel und auch mit sich selbst zunehmende Schwierigkeiten hat und immer unglücklicher wird?“; oder „Wenn Ihr Mann mehrfach in der Woche für Stunden tagsüber oder nachts verschwindet, ohne Ihnen zu sagen, wo er hingegangen ist (wobei Sie relativ sicher sind, dass er beim Glücksspielen war), wenn alle Ihre Hinweise auf Ihr eigenes Leiden an seinem Verhalten keine Wirkung zeigen, und wenn Sie so wie jetzt wirklich nicht weiterleben wollen und können, dann probieren Sie eine kleine Provokation: Verschwinden Sie selbst für vergleichbar lange Zeiträume, ohne Ihrem Partner zu erklären, warum Sie dies tun und was Sie dann unternehmen. Erläutern Sie, dass Sie sich entschieden haben, die Beziehung dann eben so zu führen, dass jeder seine eigenen Wege geht und auch sein eigenes Konto führt. Sollte der Partner dies geradezu erleichtert akzeptieren und keine Verhaltensänderung zeigen, dann klären Sie für sich, ob Sie diese Form der Beziehung beibehalten oder nunmehr die Konsequenzen ziehen wollen, die Sie Ihrem Partner schon öfter angedroht haben – nämlich sich zu trennen“. Kommt nämlich keine Bewegung in das „Ambivalenz-Spiel“ beider Partner, dann besteht eine hohe Gefahr der Eskalation des Spielverhaltens und der Verschuldung auf beiden Seiten, mit begleitender Entwicklung stärkerer psychischer und ggf. auch körperlicher Erkrankungen (s. Kap. 5 und Abb. 2). Ähnliches gilt übri-
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Gespräch als spielerischer Kontakt
Ambivalenz-Spiel
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Multimodale, strategisch-systemische Verhaltenstherapie
gens auch für Paare/Familien mit chronischem anderem Symptomverhalten, wie Essstörungen, Substanzmissbrauch etc. Ist die Angabe des Angehörigen nicht zutreffend (b), so kann beim kontaktaufnehmenden Angehörigen möglicherweise die Symptomatik des Patienten schuldhaft verarbeitet worden sein; der Angehörige möchte dann der befürchteten Schuldzuweisung durch den Therapeuten dadurch entgehen, dass er den Symptomträger zu Hause hält. Hat der Therapeut aus den Informationen durch den Angehörigen eine solche oder ähnliche Situation hypothetisch abgeleitet, dann gibt es wieder indirekte Wege, um ein gemeinsames Gespräch zu erreichen (s. Kap. 5).
Symptomlösung
Schlüssel-Schloss-Dyade
Grundsätzlich scheinen Partnerschaften und Familiensysteme bei gemeinsamer Ambivalenz gegenüber Systemveränderungen jenes Mitglied in Therapie „schicken“ zu können, von dem sie gemäß „ungewusstem Konsens“ am ehesten erwarten, dass es durch die Therapie wenig beeinflussbar sein wird. Auf diese Weise wird z. B. ein Familienproblem als Symptomproblem eines Einzelnen an den Therapeuten übergeben; gleichzeitig wird die Angst vor einschneidenden Veränderungen mit Destabilisierung der symptomatischen Scheinlösungen reduziert. Es wird also passager der Leidensdruck durch eine zu diesem Zeitpunkt als zunehmend belastend empfundene „Symptomlösung“ reduziert und zugleich die Angst vor Therapie-induzierten Veränderungen gedämpft. Zugrunde liegt einem solchen Prozess häufig jener Typ von Paarbeziehung, die Willi (1975) als „Schlüssel-Schloss-Dyade“ beschrieben hat mit der „dysfunktionalen Cognition“ „Can’t live with or without you“ oder aber „Es kommt nichts Besseres nach“.
Die „probatorischen Sitzungen“
Abb. 2. Das „Spinnennetz-Spiel“ des „Loner-Desperado-Cowboy“ Spielers und seiner „Frau, die zuviel liebt“
In Abb. 2 wird so eine pathologische und zugleich pathogene Dyade am Beispiel eines Paares mit massiver Glücksspielproblematik des Partners gezeigt. Die Paardynamik war mitgeprägt durch den Appell des Vaters der Partnerin (in ihrer Jugendzeit) „Du kannst mir jeden Schwiegersohn bringen … aber nie einen Spieler, das würde mich umbringen“. Die Partnerin hatte im Laufe der Zeit bei ihrem Vater Geld geborgt, um die ständig neuen Schulden des Partners auszugleichen. Als „nichts mehr ging“ berichtete sie in einer gemeinsamen Therapiesitzung von diesem Auftrag; sie habe bisher immer gesagt, das Geld für ein Studium ihres Partners zu benötigen. Wenn sie dem Vater die Wahrheit erzählen würde, dann würde er an Herzinfarkt sterben, „dann hast Du (der Partner) ihn umgebracht“! Ein letzter massiver Appell, den Partner vom Glücksspiel zu trennen. Die pathologische Balance eines solchen Systems kann am raschesten durch provozierende Techniken
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Familien- und Kommunikations-Therapie
Multimodale, strategisch-systemische Verhaltenstherapie
aus der Familien- und Kommunikations-Therapie aufgebrochen werden. Die entsprechende Literatur stellt jedoch die durchaus hohen Risiken solcher Vorgehensweisen nicht immer mit der wünschenswerten Deutlichkeit heraus. Je mehr eine solche pathologische Dyade beidseitige Entwicklungsdefizite (und entsprechende Lebensängste) subjektiv kompensiert, umso größer ist das Risiko, dass einer oder beide sich im Scherbenhaufen einer solchen „KommunikationsGranate“ verletzen. Das Risiko wird reduziert durch graduierte Einbeziehung von Angehörigen, auch zur Abschätzung der Defizitlage bei den an der Therapie beteiligten Personen. In der Verhaltenstherapie haben wir dann besonders sorgfältig abzuwägen, wann welche Angehörigen als „Co-Patienten“, als „Co-Therapeuten“ oder nur für gemeinsame psychoedukative Sitzungen einbezogen werden sollten. Der zu frühe Versuch, den Angehörigen zum „Co-Patienten“ zu machen, kann zu dessen völligem Rückzug führen, mit daraus resultierenden Problemen, Veränderungen beim Primärpatienten umzusetzen. Die frühzeitige Einbeziehung als „Co-Therapeut“ mag andererseits eine schon vorhandene dysfunktionale Rollendifferenzierung in gesund und krank in der Paarbeziehung wiederum nur verstärken. Hält der Therapeut die Co-Therapeuten-Rolle für den Angehörigen für sinnvoll – in der Regel bei einfacheren Symptombildungen und guter Paarbeziehung – so bieten entsprechende Therapiekontrakte und auch der Einsatz spezifisch dafür verfasster Selbsthilfemanuale (z. B. Matthews et al., 2005) eine gute Anleitung. Hält der Therapeut die Co-Patienten-Rolle für den Partner für sinnvoll und lehnt dieser sie ab, dann bieten z. B. Angehörigengruppen eine gute Möglichkeit, Partner graduiert in die Co-Patienten-Rolle hineinwachsen zu lassen. In den Angehörigengruppen
Die „probatorischen Sitzungen“
79
können sich die Teilnehmer ja anfangs über ihre Probleme mit dem Symptomverhalten des definierten Patienten austauschen und dann behutsam dahin geführt werden, dass sie auch eigene Probleme anzusprechen wagen (Beispiel in Hand und Tichatzky, 1979). Es kann aber auch die Situation eintreten, dass der Angehörige zwar die ihm eigentlich zugedachte Co-Patienten-Rolle ablehnt, aber die Co-TherapeutenRolle akzeptiert. Wenn der Symptomträger damit einverstanden ist, dann kann der Therapeut mit einer indirekten Strategie dem Angehörigen eine (Pseudo-) Co-Therapeuten-Rolle zuordnen, die de facto eine CoPatienten-Rolle wird (s. Kap. 5 und Hand et al., 1977).
4.3.6 Ethische Probleme bei indirekten Behandlungsstrategien Ein Grundprinzip der Verhaltenstherapie ist das der Transparenz der Therapieplanung und -durchführung für den Patienten auf dem Boden gemeinsamer Vereinbarungen in den einzelnen Schritten. Eine Ausnahme von dieser Regel stellen Situationen dar, in denen aus Sicht des Therapeuten zum Wohle des Patienten Zielsetzungen indirekt angestrebt werden, die zum gegebenen Zeitpunkt vom Patienten (s. Beispiel P3) oder dem Angehörigen (s. o.) direkt noch nicht akzeptiert werden würden („ … and lead him where he doesn’t want to go …“). So wurde der Vorschlag, ausgefallene Haare als Beweismittel für die Hautklinik zu sammeln, natürlich nicht mit dieser Zielsetzung gemacht, sondern mit der Absicht, die Patientin vorsichtig an ihre wirklichen Probleme heranzuführen. Das Gleiche gilt für den Angehörigen, der in die (Pseudo-)Co-Therapeuten-Rolle geholt wird, die dann als Co-Patienten-Rolle gestaltet wird (s. o.). In diesen
Transparenz der Therapieplanung und -durchführung
80
Multimodale, strategisch-systemische Verhaltenstherapie
Freude am Sich-Bewegen und Experimentieren
und ähnlichen Fällen besteht die Hoffnung, dass sich in diesem Prozess die Vertrauensbeziehung vertieft und zugleich Freude am Sich-Bewegen und Experimentieren so weit aufgebaut werden kann, dass dann andere Wege zu anderen Zielen akzeptiert werden. Die ethische Problematik eines solchen Vorgehens sollte regelmäßig reflektiert werden, damit der Therapeut nicht eigenen möglichen Größenphantasien zum Opfer fällt und aus „Spaß an seiner Listigkeit“ zum „Täter“ auch da wird, wo dies überhaupt nicht angemessen ist.
4.4 Hypothesenbildung und Therapieplanung 4.4.1 Grundlagen der Strategie
Bedingungs- und Funktionsanalysen
Wie die bisherigen Darstellungen gezeigt haben, besteht natürlich keine scharfe Trennlinie zwischen den „probatorischen Sitzungen“ und der nachfolgenden Therapie. Im Verlaufe der probatorischen Sitzungen bleiben viele Informationen noch unvollständig oder sogar verborgen. Dennoch stehen wir vor der Aufgabe, mit dem Patienten gemeinsam ein vorläufiges Hypothesenmodell und einen vorläufigen Behandlungsplan zu erstellen, in den die Ergebnisse der bisher dargestellten Analysen einfließen. Mit den formal (nach Richtlinien-Verhaltenstherapie) dann beginnenden „Therapiesitzungen“ werden die diagnostischen Schritte fortgesetzt. Die Systematik der Bedingungs- und Funktionsanalysen auf dem Wege zur Hypothesenbildung wird hier dementsprechend zwischen den probatorischen (s. Kap. 4.3) und den Therapie-Sitzungen (s. Kap. 5) dargestellt, da sie in beiden zum Einsatz kommen.
Hypothesenbildung und Therapieplanung
81
Die 10 Basisfragen der Verhaltensanalyse: Rein pragmatisch empfiehlt es sich, gegen Ende der probatorischen Sitzungen und vor der „vorläufigen endgültigen Hypothesenbildung“ und Therapieplanung eine Checkliste der 10 Basisfragen der Verhaltensanalyse durchzugehen, um sich über den eigenen Informationsstand Klarheit zu verschaffen. w w
w
w
w
w
w
w
w
Eigen- bzw. Fremdmotivation des Patienten zur Therapieaufnahme und zur Veränderung. Direkt erkennbare oder indirekt ableitbare Problembereiche neben den primär vorgetragenen Symptomen oder Beschwerden. Abgrenzung der auslösenden (historischen) von den aufrechterhaltenden (aktuellen) Bedingungen vorgetragener Symptome oder Problembereiche. Klärung der historischen wie aktuellen intraindividuellen und interaktionellen Funktionen der vorgetragenen Beschwerden. Frühere und gegenwärtige Kausalzusammenhänge zwischen Symptombeschwerden und anderen Problembereichen. Vermutete Konsequenzen eines Abbaus vom Symptom- und von anderem Krankheitsverhalten beim Patienten selbst und bei seinem sozialen Umfeld. Mikroanalyse des Symptomverhaltens und deren abschließende Bewertung unter Einbeziehung der durchgeführten Testdiagnostik. Symptombildungen oder andere besondere Reaktionsweisen auf frühere biosoziale Entwicklungsphasen (z. B. Pubertät, Schulabschluss, Verlassen des Elternhauses, erste feste Partnerbeziehung etc.). Soziale Kompetenz und emotionale Ausdrucksfähigkeit (akute Modellsituation: Patient-Thera-
Die 10 Basisfragen der Verhaltensanalyse
82
Multimodale, strategisch-systemische Verhaltenstherapie
w
peut-Beziehung). Hierzu gehören in der Verhaltenstherapie im Rahmen der biografischen Analyse nicht nur die Klärung der intrafamiliären Sozialisation, sondern ganz besonders auch die der „Sozialisation unter Gleichaltrigen in Kindheit und Jugend innerhalb und außerhalb des schulischen Milieus“. Ausmaß und Qualität von eigeninitiiertem „Alternativverhalten“ im Verlaufe der bisherigen Lebensführung.
Sind wir uns nach Durchsicht dieser Checkliste gegen Ende der probatorischen Sitzungen hinsichtlich der Motivationsanalysen und der Hypothesenbildung noch unsicher, was nicht selten der Fall ist, so können wir den Dialog mit dem Patienten bezüglich seiner eigenen Hypothesenbildung wieder aufnehmen. Dabei schlägt der Therapeut möglichst auch mehrere eigene (denkbare, aber nicht zwingend richtige) Hypothesen vor – als „Spielbälle“ für den Patienten. Dieser entscheidet: annehmen, sie mit dem Therapeuten weiterspielen; vorbeifliegen lassen; zurückschmettern. Dies belebt und verbessert die Kommunikation und fördert die weitere Problemklärung. Die Darstellungen in diesem Abschnitt beschreiben das „handwerkliche Rüstzeug“, mit dem sowohl in den probatorischen Sitzungen wie auch im Therapieprozess die notwendigen Informationen und Erkenntnisse für die Hypothesenbildung und Therapieplanung gewonnen werden können. Die zu erbringende „Gesamtleistung“ ist zur Einführung in Abb. 3 („Hierarchisierung diagnostischer und analytischer Entscheidungsprozesse“) dargestellt.
Hypothesenbildung und Therapieplanung
83
Differentialdiagnose
Psycho-Pathologie
S omatose – Psychose – „Neurose“ DS M IV CIDI, MINI ICD 10 Operationalisierung der identifizierten S törung (phänomenologisch-syndromal) S elbst-Rating-S kalen
Fremd-Rating-S kalen
Psycho-Therapie
(Halb-)S trukturierte Interviews
Bedingungs- u.
Motivations- u.
Funktionsanalysen
Beziehungsanalysen
Mikroanalyse des
S ymptom- u. systemische Biographische Analyse
S ymptomverhaltens
Analysen in-vivo
Therapieplan Therapie mit prozessbegleitender Diagnostik
Abb. 3. Hierarchie der Diagnostik in der strategisch-systemischen Verhaltenstherapie
Die Ergebnisse der psychopathologischen Differentialdiagnostik alleine führen heute nicht mehr zu einer „störungsspezifischen“ oder Symptom-Therapie. Nur auf dem Boden der komplexen Bedingungs-, Funktions- und Motivationsanalysen und einer dadurch auch funktionalen Psychopathologie entscheiden wir, ob eine „einfache“, alleinige oder schwerpunktmäßige Symptomtherapie, eine multimodale Therapie oder auch eine „Therapie am Symptom vorbei“ (Hand, 1982) indiziert erscheint oder ist. Die Bedingungs- und Funktionsanalysen von Symptom- und anderem Krankheits- bzw. Problemverhalten sind ein Kernstück der Diagnostik in der Verhaltenstherapie. Abweichend von der im deutschen Sprachraum üblichen Nomenklatur sind Bedin-
Symptom-Therapie
Multimodale Therapie
84
Multimodale, strategisch-systemische Verhaltenstherapie
Unidirektionale Kausalität
Zirkuläre Kausalität
Funktionsanalysen
Funktionsvariablen
gungen hier operationalisiert als: Auslöser, Voraussetzungen oder Ursachen von Krankheitsverhalten, die ihrerseits durch dieses Verhalten nicht wesentlich beeinflusst werden (unidirektionale Kausalität; Kausalität hier nicht in dem Sinne, wie bei Verworn, 1912, verstanden). Funktionen sind demgegenüber die direkten und die mittelbaren (über die Umwelt) Rückwirkungen des Krankheitsverhaltens auf die betroffene Person selbst im Sinne eines Regelkreises (zirkuläre Kausalität). Beide Faktoren sollen möglichst unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Zeitfaktoren Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft analysiert werden, da wir über die Zeit in beiden Bereichen oft erhebliche Veränderungen feststellen können (s. Abb. 4). Auf diese Weise können wir dann ein übergeordnetes zeitdynamisches Störungs- und Kausalitäts-Modell ableiten, aus dem sich die erforderlichen Interventionen und deren erwartete Effekte ergeben. Auslösung und Aufrechterhaltung einer Störung können durch mehrere Bedingungs- und Funktionsvariablen (sowohl im betroffenen Individuum als auch bei seiner Umwelt) gleichzeitig erfolgen, deren Kombinationen ebenfalls keineswegs über die Zeit stabil sein müssen. Funktionsanalysen werden inzwischen auch von einigen Psychopharmakologen gefordert, da sich daraus unterschiedliche Medikationsempfehlungen bei unterschiedlichen Personen mit der gleichen Symptomatik ergeben können (Crosland et al. 2003)! Die Funktionsvariablen können in (vom Patienten) gewusste und nicht gewusste unterteilt werden. Zu Letzteren zählte auch das „Appell“- oder „Signal“-Verhalten, dessen „Be-Deutung“ herauszuarbeiten ist (s. „Hypothesen als Spielbälle“, Kap. 4.3.5). Die Annahme „nicht gewusster Intentionen“ beinhaltet nicht die Übernahme analytischer Konstrukte unbewusster Handlungsmotivation, sondern
(Auslöser, Voraussetzungen für Verhalten)
Bedingungen
Uni-direktionale Kausalität Individuum
Verhalten (Krankheits-, Problem-, Symptomverhalten)
Umwelt
Aktuelle
Individuum
„nichtgewusst“
gewusst
Umwelt
Perspektivische
Abb. 4. Bedingungen und Funktionen von (Krankheits-)Verhalten. Unidirektionale und zirkuläre „Kausalität“
Individuum
Umwelt
Historische
Hypothesenbildung und Therapieplanung 85
(Auswirkungen, Rückwirkungen von Verhalten)
Funktionen
Zirkuläre Kausalität
86
Multimodale, strategisch-systemische Verhaltenstherapie
Spekulativ-kreativen Funktionsanalyse
ist lediglich ein pragmatisches Mittel zum therapeutischen Zweck einer erst einmal spekulativ-kreativen Funktionsanalyse: Ein Problemverhalten kann auf diesem Wege für Therapeut und Patient „verständlich“ und dadurch mitunter sogar schon verzichtbar werden – wenn etwa die nunmehr bewusst gemachte Intention mit sozial akzeptableren Strategien realisiert werden kann (s. z. B. Positive Effekte von 1–2 Therapiesitzungen bei Problem-Spielern; Hand, 2004). Die Konfrontation mit der nicht gewussten Intention kann aber auch ein symptomatisches Verhaltensstereotyp abrupt unterbrechen. Eine entsprechende Hypothese wird vom Therapeuten natürlich nur als „Spielball in die Luft geworfen“ – darf bei ihrer Erstellung allerdings nicht „aus der Luft gegriffen“ sein.
4 Kategorien von Störungen, Defiziten und Blockaden
Unter therapeutisch-pragmatischen Gesichtspunkten einer multimodalen Verhaltenstherapie hat sich die nachfolgende Operationalisierung von Problemebenen, Störungs- und Interventionsformen sowie Interventionszielen als hilfreich erwiesen, um zu einem hierarchisierten, sequenziellen Behandlungsplan zu kommen (s. dazu auch Kap. 4.1). Vier grundlegende Problembereiche werden herausgestellt: Verhaltensstörungen; Verhaltensdefizite; (interaktionelle) Wahrnehmungsblockaden; Handlungsblockaden. Diese 4 Kategorien von Störungen, Defiziten und Blockaden (Abb. 5) können im Einzelfall in unterschiedlichen Kombinationen vorliegen und beeinflussen dementsprechend das Ausmaß der Verhaltensaktiva im Alltagsleben und der Veränderungsmotivation. Bei den Störungen trennen wir – anders als in der gängigen Literatur – Symptome von Verhaltensexzessen. Symptome sind Störungsverhalten, das
Hypothesenbildung und Therapieplanung
87
auch in geringfügiger Ausprägung nicht zum alltäglichen Verhaltensrepertoire gehört; Verhaltensexzesse sind in reduzierter Form „Normalverhalten“ (z. B. Waschen, Essen, Ordnen, Alkohol-Genuss etc.), wobei in der Bevölkerung eine hohe Varianz der Normen bezüglich deren „normaler“ Intensität vorliegt. Daraus ergeben sich besondere Probleme hinsichtlich der Veränderungsmotivation im Falle ihrer Eskalation zu Exzessen.
Verhaltensexzesse
Besondere Probleme
Problemebenen
Störungsformen
Interventionsformen
Verhaltensstörungen
Symptomverhalten Qualitativ neues, „nicht normales“ Verhalten Verhaltensexzesse Eskaliertes „Normal-Verhalten“
(Störungs-)Verhaltens- Auf-/Ausbau reduktion von Handlungsfreiraum
Verhaltensdefizite
(Basis-)VerhaltensEntwicklungsdefizite aufbau Primäre (vor Erkrankung) und sekundäre (Folge der Erkrankung) in: sozialer Kompetenz; Problemlösekompetenz; DistressToleranz; eigeninitiiertem Planen und Handeln
Wahrnehmungsblockaden (interaktionell)
„Parataxien“ Stereotype Fehlwahrnehmung anderer Personen „Kollusionen“ Dyadische, komplementäre Interdependenz bei äquivalenten Reifungsdefiziten, aber gegensätzlichen Kompensationsmechanismen n „Interaktionspersönlichkeit“
Historisch orientiert: Bearbeitung induzierter Transferenzneurose Gegenwartsorientiert: Kommunikationstraining
Auf-/Ausbau von Erfahrungsfreiraum
Handlungsblockaden
Konfliktambivalenz z. B. „nicht-gewusste Intention“ für Krankheitsverhalten und Handlungsblockaden im Alltagsleben; Widerspruch: emotionales Bedürfnis vs. rationale Handlungssteuerung
• Deutung der Bedeutung (Analyse) • Systemische Funktionsanalyse (VT) • Provokative Verschreibung (Familientherapie)
Auf-/Ausbau von Handlungsbereitschaft
Abb. 5. Problemebenen, Störungsformen und Interventionen
Interventionsziele
Auf-/Ausbau von Handlungskompetenz
88
Multimodale, strategisch-systemische Verhaltenstherapie
Für jeden dieser Störungsbereiche gibt es spezifische Interventionen, deren Indikation oder Kontraindikation im Einzelfall wiederum nur aus den komplexen Gesamtanalysen abgeleitet werden kann. So können bei gleicher Symptombildung – in Abhängigkeit vom Ausmaß der „Gesamtgestörtheit“ und einer Hierarchisierung der einzelnen Störungsbereiche – eine alleinige Symptomtherapie oder eine „Therapie am Symptom vorbei“ (im Sinne einer „Ursachentherapie“) oder auch die Kombination dieser Maßnahmen (multimodale Verhaltenstherapie) erforderlich werden (s. Kap. 5.). Bei komplexer Gestörtheit können entweder unterschiedliche Interventionen für die unterschiedlichen Störungsbereiche (sukzessive oder mitunter parallel) oder auch nur Interventionen in einem eng umschriebenen Störungsbereich indiziert sein. So haben schwer gestörte zwangskranke Patienten, ähnlich wie schizophrene, oft nur eine sehr begrenzte Informationsverarbeitungskapazität, die durch multimodale Intensivtherapie rasch überfordert werden würde und eine symptomatische Eskalation induzieren könnte.
Hierarchisierung der gewonnenen Information
Die Hierarchisierung von Störungsbereichen beim individuellen Patienten wird ergänzt durch die interaktionelle Funktionsdiagnostik, bevor sich ein schlüssiges Kausalitätsmodell für eine hypothesengeleitete Behandlungsplanung ableiten lässt. Eine Hierarchisierung der gewonnenen Information kann sowohl bezüglich der Problemebenen wie auch der Störungsformen vorgenommen werden. Nehmen wir als Beispiel die 4 Problemebenen der Verhaltens-Störungen und -Defizite einerseits und der Wahrnehmungs- und Handlungs-Blockaden andererseits, so ergeben sich grundsätzlich 4 denkbare HauptKonstellationstypen (s. Abb. 6).
Hypothesenbildung und Therapieplanung
89
1.
2.
3.
4.
Hierarchie
Interdependenz
Hierarchie+
Addition
Interdependenz
1
1 1
2 2
4
2
4
1
2
3
4
3 4
3
3
Abb. 6. Konstellationstypen (Ursachen – Folgen)
Eine Hierarchisierung in diesem Sinne ist auch auf anderen Variablen-Ebenen möglich, z. B. bei gleichzeitigem Vorliegen von Phobie, Depression, Partnerschaftskonflikt und Arbeitsplatzproblemen. Nach Konstellationstyp 1 und 3 könnte ein klares Kausalitätsmodell erstellt werden, mit dem Typ 2 oder 4 würde die Identifizierung einer „Ursache“ vorerst noch offengehalten werden. Verdeutlicht sei dies an folgendem Beispiel: Die Patientin leidet unter Depression, Handlungsund Gedankenzwängen, sozialem Rückzug und Eheproblemen. Hier möchten wir möglichst frühzeitig klären, ob einer der denkbaren Konstellationstypen plausibel begründet werden kann: (a) Frühe soziale Defizite und Ängste bewirken mangelndes Selbstwertgefühl und eine ängstlich-unsichere Persönlichkeit mit zwanghaften Zügen; die im jungen Erwachsenenalter eingegangene Partnerschaft leidet nach
Hierarchisierung auch auf anderen VariablenEbenen
Verdeutlicht an folgendem Beispiel
Konstellationstypen
90
Multimodale, strategisch-systemische Verhaltenstherapie
Abklingen der ersten Verliebtheit zunehmend unter der defizitären interaktionellen Kompetenz der Patientin, die zwanghaften Persönlichkeitsmerkmale werden zu Störungen, nunmehr mit sowohl intraindividueller als auch interaktioneller Funktionalität; daraus entsteht Anhädonie und schließlich eine Depression. Oder führte (b) eine zunehmend schlechte Ehe zu einer zunehmenden Depression, in der dann zwanghafte Verhaltensmuster als Pseudo-Copingstrategien („Putz die Fenster, wenn Du traurig bist“) unbewusst zum Einsatz kamen? Weitere Kausalitätsmuster sind denkbar. Für die Klärung ist es insbesondere wichtig, Erstauftreten, Verlauf sowie Bedingungen und Funktionen der jeweiligen Störungen im Rahmen der biografischen Entwicklung möglichst präzise zu eruieren, da ein „Kausalitätsmodell“ andernfalls zu vage bleiben muss. Der Therapeut stellt dem Patienten/dem System dann sein Hierarchie- oder Interdependenzmodell vor, was Konsens oder Dissens zur Folge haben kann. Im letzteren Falle kann ein alternatives Modell des Patienten vorrangig handlungsleitend werden (wobei der Therapeut sein eigenes noch keineswegs verwirft), da die Motivation des Patienten zur Kooperation im Rahmen seines eigenen Modells am höchsten ist. Nur bei Vorliegen einer klaren Kontraindikation gegen die vom Patienten bevorzugte Interventionsebene muss, direkt oder indirekt, ein Weg gefunden werden, auf dieser nicht zu arbeiten (dazu konkrete Beispiele in Kap. 5). Die Arbeit auf der vom Patienten bevorzugten Interventionsebene führt entweder, entgegen der ursprünglichen Hypothese des Therapeuten, zum Erfolg (gar nicht so selten) – oder der Patient hat eine autonome Misserfolgserfahrung gemacht und kann sich deshalb nunmehr leichter den Zielsetzungen des Therapeuten anschließen. In gut begründeten Aus-
Hypothesenbildung und Therapieplanung
91
nahmefällen kann auch sehr erfolgreich mit „verheimlichter“ Therapiezielsetzung gearbeitet werden (Kap. 5).
4.4.2 Systematik der systemischen Aspekte 4.4.2.1 Familien-Formen und pathogene Familienkonstellationen Zur systemischen Analyse im Rahmen einer strategisch-systemischen Verhaltenstherapie gehört auch eine Basissystematik typischer Familienformen einerseits und pathogener Familienkonstellationen andererseits. Bei der folgenden Darstellung orientieren wir uns an Friesen (1995). Typische Familienformen sind: w w w
Typische Familienformen
„Die gesunde Familie“ „Die entkoppelte Familie“ „Die verstrickte Familie“
Bei der gesunden Familie ist das elterliche Subsystem gut differenziert, hat aber hinreichend durchlässige Grenzen zwischen den Individuen. Das Kindersubsystem hat hinreichend Freiraum zur Individualisierung und ist ebenfalls gut abgegrenzt mit hinreichend durchlässigen Grenzen. Bei der entkoppelten Familie besteht eine rigide Abgrenzung aller Individuen voneinander mit entsprechend begrenztem Informationsfluss. Bei der verstrickten Familie liegt genau die entgegengesetzte Konstellation vor, mit unscharfen Grenzen, unzureichender Rollendifferenzierung und minimaler Privatsphäre. Zwischen diesen Modellen gibt es verschiedene Überschneidungen (Abb. 7).
Gesunde Familie
Entkoppelte Familie
Verstrickte Familie
92
Multimodale, strategisch-systemische Verhaltenstherapie
Abb. 7. Familienkonstellationen (nach Friesen, 1995)
Pathogene Familienkonstellationen
Friesen (1995) trennt dann – natürlich mit durchlässigen Grenzen zu den „typischen“ Familienformen – folgende pathogene Familienkonstellationen (Abb. 8): w w w w
„Das Paarkonfliktsystem“ „Die Eltern-Kind-Triangulierung“ „Die Mutter-Kind-Koalition“ „Die Eltern-Kind-Koalition“
Im Paarkonfliktsystem bekämpfen sich die Eltern, beobachtet von den gestressten Kindern. Bei der Eltern-Kind-Triangulierung geht ein Elternteil mit einem Kind eine Koalition gegen den anderen Elternteil ein. Das zweite Kind wird isoliert, mit erhöhtem Risiko zu späterer Delinquenz. Die Mutter-Kind-Koalition besteht in der engen Bindung eines Elternteils mit einem Kind, in Abgrenzung von dem anderen Elternteil und dem anderen Kind, die jeder für sich im System verbleiben. Bei der Eltern-Kind-Koalition in der Single-
Hypothesenbildung und Therapieplanung
Abb. 8. Pathogene Familienkonstellationen (nach Friesen, 1995)
Familie gehen ein Kind und der Einzel-Elternteil eine Koalition ein. Das entsprechende Kind füllt hier die (durch Trennung oder Tod) vakante Elternposition. Weitere Konstellationsvarianten sind hieraus ableitbar.
4.4.2.2 Therapeut-Paar-/Familien-Konstellationen Nach dem Überblick über typische „normale“ und „pathogene“ Familienkonstellationen erweitern wir den systemischen Ansatz jetzt um die Person des Therapeuten. Lebt der Einzelpatient des Therapeuten in einer Paarbeziehung bzw. Einzel-ElternBeziehung, dann gilt es abzuklären, ob zwischen Patient und Partner eine Störung vorliegt und aufgrund der Beziehungsstruktur beider eine Veränderung im Patienten allein das bisher nach außen durch das Systemverhalten stabilisierte System destabilisieren
93
94
Multimodale, strategisch-systemische Verhaltenstherapie
könnte. Die konsequente Einbeziehung dieser Überlegungen und der entsprechenden Diagnostik in die probatorischen Sitzungen bzw. die Frühphase der Therapie kann schwerwiegende Probleme im weiteren Therapieverlauf verringern oder sogar verhindern. Erkennen wir keine Kontraindikationen für die Einzeltherapie, dann kehren wir in die entsprechenden Analysen zurück. Erkennen oder vermuten wir Probleme, dann sind diese im nächsten Schritt, möglichst unter Einbeziehung des Partners, zu klären, z. B.: enge symbiotische Bindung des einen an den anderen oder beider aneinander (Kollision nach Willi, 1975; s. Abb. Spieler); „geheimer“ Trennungswunsch auf einer Seite (s. Beispiel P2); gegenseitige innere Ablehnung, aber beidseitiges Verharren in der bestehenden Konstellation, z. B. aus ökonomischen Gründen oder solchen der Kindererziehung; unterschiedliche Veränderungswünsche bei sich selbst und für den anderen bei einer oder beiden Personen (s. Beispiel in Kap. 3.2.4).
Der Therapeut wird unvermeidlich, direkt oder indirekt, in so ein systemisches Störungsmuster eingebunden, sein Verhalten gegenüber einer Person hat immer auch Rückwirkungen auf die anderen.
Auf wessen Seite steht der Therapeut eigentlich
Dieser Prozess beginnt mit der Frage, „auf wessen Seite steht der Therapeut eigentlich“, die im ungünstigsten Falle von beiden gestellt wird, mit dem Gefühl, der Therapeut koaliere mit der jeweils anderen Seite. Diese spezifische Therapeut-Paar-Konstellation kann sich sowohl bei kinderlosen Paaren (oder Eltern-KindDyaden) als auch bei Paaren mit Kindern ergeben (Abb. 9; s. a. das „Paarkonfliktsystem“ nach Friesen). In Kap. 5 werden einige Lösungsbeispiele dargestellt.
Hypothesenbildung und Therapieplanung
95
Patient
Therapeut
Ø
?
Patient
Partner
!
Patient
Therapeut
Partner/ Elternteil
?: Therapie-relevantes Problem vorhanden? Ø: Therapie-relevantes Problem nicht vorhanden !: Therapie-relevantes Problem vorhanden!
Abb. 9. Therapeut-Paar-Familie-Konstellationen
Die erweiterte systemische Konstellation ist die zwischen Therapeut und Familie. Hier ist die Situation für den Therapeuten anfänglich noch unübersichtlicher, da neben einer originären Paarproblematik noch unterschiedliche Störungsmuster zwischen Eltern und Kindern (s. Abb. 7) vorliegen können. In Abb. 10 ist ein übergeordnetes Modell möglicher Konstellationen dargestellt, in das jetzt auch der Arbeitsplatz mit einbezogen ist (den wir natürlich in der Einzeltherapie ebenfalls berücksichtigen)! Bestehen gravierende Probleme am Arbeitsplatz – sei es für den Patienten oder für den Partner – dann wirkt sich dies auch auf das Gesamtsystem der Familie aus. In die-
Therapeut und Familie
Auch der Arbeitsplatz
96
Multimodale, strategisch-systemische Verhaltenstherapie
Dynamisches Modell: Größe der Kreise für die „Machtposition“
Richtungspfeile fortgelassen
sem dynamischen Modell steht die Größe der Kreise grundsätzlich für die „Machtposition“ der jeweils Beteiligten, womit der Einfluss des Verhaltens dieser Person auf das Verhalten aller anderen Personen gemeint ist. Richtungspfeile wurden in dieser Abbildung fortgelassen, ebenso wie unterschiedlich große Kreisdarstellungen (außer beim Therapeuten), da dieses dynamische Modell sich dazu anbietet, nach vorläufigem Abschluss der eigenen Analysen des Systems diese Kreise in der Größe entsprechend zu verändern und dann auch Richtungspfeile einzutragen. Im Verlauf einer Therapie kann dann die grafische Darstellung dynamisch ständig dem aktuellen Kenntnisstand angepasst werden. Der Therapeut ist primär in einem kleinen Kreis eingezeichnet, um zu verdeutlichen, wie wenig er ausrichten kann, wenn er die Dynamik des Systems nicht versteht (s. o.). Der kleine Kreis kann aber zunehmend größer werden, je mehr der Therapeut die Systemregeln erkennt und dann in therapeutische Richtung nutzt. Dabei taucht wieder die Frage auf, ob bestimmte Interventionen vorgenommen werden dürfen, zu denen kein „informed consent“ aller Beteiligten eingeholt werden kann, da dann der erhoffte Wirkmechanismus blockiert würde (s. Kap. 4.3.5 und 4.3.6).
Hypothesenbildung und Therapieplanung
97
Patient
Kind 2
Kind 1
Partner
Arbeitsplatz
Abb. 10. Therapeut-Familie-Arbeitsplatz-Konstellationen
Therapeut
5 Strategie der Integration systemischer Aspekte in den Verhaltenstherapie-Prozess 5.1 Grundlagen Soziale (interaktionelle) Kompetenz in der zwischenmenschlichen Kommunikation ist eine entscheidende Voraussetzung für eine zufriedenstellende Beziehungsgestaltung im privaten wie beruflichen Leben. Entsprechende Defizite und daraus resultierende anhaltende Misserfolgserlebnisse in einem oder beiden dieser Lebensbereiche sind die mit Abstand häufigste Mitursache für Symptomentwicklungen unterschiedlicher Art. Dies gilt sowohl für die früher sog. „neurotischen“ Entwicklungen wie auch für Chronifizierung und Rückfallrisiko bei psychosomatischen, Suchtund psychotischen Störungen. Solche früh angelegten Defizite führen zu immer neuen interpersonalen Verletzungen und schließlich zu (pseudo-) kompensatorischem Symptom-Verhalten. Das Spektrum reicht von Resignation aus „erlernter Hilflosigkeit“ bis hin zu (über Schuldgefühle) „gehemmter Aggression“, mit Entladung dieser Gefühle über weniger beziehungsgefährdendes Symptomverhalten (von Panikattacken über Aggressionsabreaktion durch Symptomverhalten bis zu appellativem Suizidverhalten; s. Hand, 1991b). Die Entwicklungsbedingungen für diese Defizite liegen einerseits in der Herkunftsfamilie, andererseits in der „Peer“-Gruppe innerhalb und außerhalb des schulischen Milieus. Zunehmend müssen wir in Zukunft auch die Sozialisation in Kindertagesstätten in die Analysen mit einbeziehen. Eine positive „Sozialisation unter Gleichaltrigen in Kindheit und Ju-
Soziale Defizite
Spektrum von „erlernter Hilflosigkeit“ bis „gehemmter Aggression“
Sozialisation unter Gleichaltrigen
100
Strategie der Integration systemischer Aspekte
Neoanalytiker Sullivan
Hier und Jetzt Karrieren
gend innerhalb und außerhalb des schulischen Milieus“ kann viele Defizite in der intrafamiliären Sozialisation kompensieren. In (viel zu) vielen Berichten zum Gutachterverfahren in der „Richtlinien-Verhaltenstherapie“ finden wir zwar detaillierte Analysen zur intrafamiliären Sozialisation, aber kaum zur extrafamiliären (Einflüsse tiefenpsychologischer Konzepte auf Kosten verhaltenstherapeutischer?). Dabei wird völlig übersehen, dass schon der Neoanalytiker Sullivan die frühen prägenden interpersonalen Erfahrungen außerhalb des Familiensettings betonte. Beide Sozialisationsbereiche sind in der strategischsystemischen Verhaltenstherapie gleichwertig zu berücksichtigen (s. Falldarstellungen in Kap. 5.2 und 5.3). In diesem Kontext ist auch bedeutsam, ob und wie Sozialisationsprozesse durch häufige Wohnortwechsel der Eltern oder länger dauernde Erkrankungen des Heranwachsenden unterbrochen wurden. Welche frühen Reaktionen auf aversive soziale Entwicklungsbedingungen sind eruierbar? Welche Spuren haben sie im Selbstwertgefühl des Erwachsenen hinterlassen? So manche im „Hier und Jetzt“ scheinbar sehr erfolgreichen beruflichen und privaten Karrieren haben als Motor den permanenten Kampf gegen mangelndes Selbstwertgefühl (Unterlegenheitsgefühl) – und damit gegen introjizierte, abwertende Eltern-, Lehrer- oder auch Peer-„Urteile“ (Beispiele s. u.). Solche Entwicklungen sind für die Betroffenen selbst gesundheitlich risikobehaftet und gesellschaftspolitisch sowie ökonomisch mitunter gefährlich (z. B. Glücksspiel an der Börse; Übernahmeschlachten zwischen Industriegiganten zur Befriedigung persönlicher Bedürfnisse der wenigen Entscheidungsträger). Auch hier gibt es typische Risikosituationen, die den „Kampf“ in Resignation umkippen lassen und dann
Grundlagen
mitunter auch solche Personen zur Therapiesuche veranlassen. Da das (Krankheits-)Verhalten des Individuums nur in seinen sozialen Bezügen – im Privat- wie Berufsleben – voll verstanden und gegebenenfalls verändert werden kann, gehört eine systemische Betrachtungsweise (Patient als ständig interagierendes Mitglied eines sozialen Mikrokosmos; nicht im Sinne systemischer Therapieschulen!) ebenso zu einer multimodalen Verhaltenstherapie wie der klassische Individuum-bezogene Ansatz. Die Bedeutung beider Bereiche für den Behandlungsplan variiert natürlich stark, entsprechend den individuellen Ausgangsbedingungen. Seit einigen Jahren wird die entscheidende Bedeutung der frühen sozialen Erfahrungen auch durch Bildgebungsstudien eindrucksvoll untermauert. So betonten schon Huether et al., 1999, dass „… epigenetische, nutzungsabhängige Einflüsse entscheidend an der Ausformung, Stabilisierung und Reorganisation der initial im Gehirn angelegten neuronalen Verschaltungsmuster beteiligt sind … Beim Menschen bestimmen vor allem die im Laufe seiner Entwicklung gemachten psychosozialen Erfahrungen die Nutzung der das individuelle Denken, Fühlen und Handeln steuernden neuronalen Strukturen.“ Die Autoren beschreiben dann die „strukturellen Auswirkungen individueller, insbesondere früher psychosozialer Erfahrungen“. Anstelle einer gerade durch die neueren Bildgebungsstudien oftmals induzierten primär biologischen Sichtweise postulieren sie eine „soziopsycho-biologische Betrachtungsweise“. Die Arbeitsgrupppe um Meaney (Weaver et al., 2004) konnte dann erstmals im Tierexperiment „die epigenetische Programmierung durch das mütterliche Verhalten“ nachweisen. Meaney (2005) folgert aus den tierexperi-
101
Systemische Betrachtungsweise
102
Strategie der Integration systemischer Aspekte
Neurophänotypen
mentellen Studien seiner Arbeitsgruppe, dass das „soziale Umfeld ein außerordentlich wirksamer Regulator biologischer Systeme zu sein scheint“. Daraus wird bereits eine völlig neue Diagnostik von „Neurophänotypen“ auch beim Menschen vorausgesagt, d. h. „neuronalen Funktionen, deren genetische Ausstattung bekannt ist und von denen man weiß, wie Erlebnisse, Erfahrungen oder Stress einzelne dieser Gene an- und abschalten und in vorhersehbarer Weise den Neurophänotyp verändern“ (Hellhammer, 2005). Die aus langjähriger klinischer Erfahrung dargestellte zentrale Bedeutung früher intra- und extrafamiliärer sozialer Lernerfahrungen und sozialer Kompetenz für die weitere Entwicklung im Erwachsenenalter wird nicht nur durch Bildgebungsstudien, sondern
Serotonerge Dysfunktion als Folge sozialer Isolation
auch durch tierexperimentelle Neurotransmitterstudien unterstrichen, etwa über „serotonerge Dysfunktion als Folge sozialer Isolation“ (Heinz, 1999). Wir werden an den nun folgenden klinischen Beispielen die zentrale Bedeutung von sozialen und Kommunikationsdefiziten bei der Entwicklung von Krankheitssymptomatik, für die Therapieplanung und für den Therapieverlauf immer wieder herausstellen – bei gleichwertiger Berücksichtigung der intra- und der extrafamiliären Sozialisation in der Kindheit und Jugend (insbesondere auch während der Pubertät).
5.1.1 Strategisch-systemisch orientierte Verhaltenstherapie und verhaltenstherapeutische Paar-/Familien-Therapie Paar- und Familien-orientierte Interventionen in der Verhaltenstherapie sind aus zwei grundsätzlich unterschiedlichen Interventionsbereichen ableitbar: einem
Grundlagen
oft störungs-spezifischen, genuin verhaltenstherapeutischen und einem primär systemischen Ansatz. Dem störungs-spezifischen Ansatz mit starken psychoedukativen Anteilen sind weitgehend standardisierte Programme zur Schizophrenie, Depression, zu bipolaren Störungen, Zwangsstörungen etc. zuzurechnen. Der Schwerpunkt liegt darin, Betroffenen und deren Angehörigen im Paar-/FamilienSetting oder in störungshomogenen Gruppen ein Störungsmodell zu vermitteln, mit daraus resultierenden Informationen, welche Verhaltensweisen störungsreduzierend bzw. störungsfördernd sind. Die psychoedukativen und therapeutischen Inhalte sind in der Regel eine Synthese aus biologischen, psychologischen und interaktionellen Aspekten der jeweiligen Störung und ihrer Auswirkungen auf die einzelnen Familienmitglieder. Eine der einfachsten Interventionen in der Schizophrenieforschung resultierte aus dem Konzept der emotionalen Überinvolviertheit (Emotional Over Involvement, EOI) Angehöriger gegenüber schizophrenen Familienmitgliedern (insbesondere Mütter gegenüber schizophrenen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen). Emotionale kritische Überinvolviertheit eines oder beider Elternteile gegenüber dem erkrankten Kind (generell, nicht nur während der Krankheitsepisode!) bei hoher Kontaktdichte erhöht die Rückfallquote innerhalb eines Zeitraumes von 2 Jahren nach stationärer Behandlung drastisch gegenüber der Rückfallquote bei diesbezüglich nicht auffälligen Eltern. In einigen Studien genügte die schlichte systemische Intervention mit deutlicher Reduzierung der Kontaktzeit, um die Rückfallquoten wieder zu senken (Einzelheiten z. B. in Goldstein et al., 1986). Störungsübergreifend kann Psychoedukation in Form verhaltenstherapeutischer Paartrainings (Schindler et al., 1999; aktuelle Weiterentwicklungen
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Störungs-spezifischer Ansatz mit starken psychoedukativen Anteilen
Emotional Over Involvement, EOI
Psychoedukation
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
Kognitiv-behaviorale Familientherapie
Systemische Therapien
Symptomverhalten als „Problemlösung“
der Modelle von Partnerschaft, Beziehungsstörungen, der Diagnostik von Beziehungsstörungen sowie verhaltenstherapeutischer Paar- und Familientherapie in Hahlweg und Baucom, 2008) oder kognitiv behavioraler Familientherapie (neuere Ansätze bei Hahlweg et al., 2000; Sulz und Heekerens, 2002; s. dazu auch Kap. 6) erfolgreich angewandt werden. Auch dabei geht es darum, fehlende Fertigkeiten, hier in der PaarKommunikation, in einem Therapeuten-assistierten, systematischen Trainingsprogramm zu verbessern (in Deutschland am bekanntesten Schindler et al., 1999). Auch die Kontrakt-Therapie (z. B. Stuart, 1980) und andere ähnliche Ansätze bei Paar- oder Familien-Problemen gehören in diesen Bereich. Voraussetzung für einen Erfolg ist jedoch, dass die Kommunikation beim Paar oder in der Familie überwiegend noch so abläuft, dass Gesagtes und Gemeintes hinreichend kongruent sind – mit anderen Worten, dass verbales und non-verbales Verhalten übereinstimmen bzw. die Sprache als Mittel zum Ausdruck, nicht zur Verheimlichung von Gefühlen, verwendet wird. (Eine entsprechende Vorgehensweise ist in Kap. 5.3.5, Beispiel 1, dargestellt.) Ganz anders sind der theoretische Hintergrund und die Zielsetzung bei den primär systemischen Therapieformen (aktueller Überblick z. B. bei Ludewig, 2000). Hier wird das Symptomverhalten als (subjektive) „Problemlösung“ interpretiert, mit interaktionellen/interpersonalen Funktionen in sozialen Mikro- und Makrosystemen. Wann immer in solchen Systemen das Verhalten einer Person sich ändert oder geändert wird, hat dieses Rückwirkungen auf das engere Umfeld. Grundsätzlich passt so ein „interaktionelles Feedback-Loop“-Modell auch in die operante Lerntheorie. Erstaunlicherweise wurde es dort aber
Grundlagen
nie explizit formuliert, und die Verhaltenstherapie hat sich über Jahrzehnte traditionell als eine Individualtherapie (selbst in vielen Gruppenanwendungen, z. B. zur Ökonomisierung der Psychoedukation) entwickelt. Der systemische Ansatz im engeren Sinne ist aber in der Verhaltenstherapie immer dann sinnvoll, wenn die o. g. Grundlagen für eine Kontrakt-Therapie nicht vorliegen, wenn chronifizierte Veränderungsambivalenz statt Veränderungsmotivation vorliegt und wenn die intrapsychischen und/oder interaktionellen Funktionen des Störungsverhaltens einen subjektiv erfolgreichen Selbsthilfeversuch (in amerikanischer Terminologie: „self-medication“ behavior) darstellen. Je defizitärer beide Partner in einer Beziehung bzw. mehrere Familienmitglieder in einer Familie sind, je mehr sich intra- und interpersonale Funktionen ritualisiert etabliert haben, umso schwieriger ist es, in der Therapie wirklich Bewegung in so ein System zu bringen. Im Kapitel 5.2 werden dementsprechend auch typische Beispiele des Scheiterns von Veränderungsmaßnahmen trotz klar erscheinender Eingangsdiagnostik dargestellt.
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Veränderungsambivalenz statt Veränderungsmotivation
Der strategische Ansatz in der systemisch orientierten Verhaltenstherapie versucht, eine klare, hierarchisierte Struktur in die Kombination der eher systemischen und der eher verhaltenstherapeutischen Elemente der multimodalen Therapieplanung zu bringen. Auch dies wird später an konkreten Beispielen dargestellt. Grundsätzlich müssen wir bei systemisch komplizierten Paar- und Familiensituationen Kanfers Leitsatz „Join the patient where he is“ hin zu „join the system where it is“ erweitern (s. o.). Um aus solchen Systemen die wirklich relevanten Informationen zu
Join the system where it is
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
„Geburtshelfer“ für das Offenbaren von Systemgeheimnissen
Milano-Gruppe
Familie als ungesunde Kommunikations-Burg
„KommunikationsDynamit“ – genannt „Verschreibung“
erhalten, ist – auch schon von Kanfer empfohlen – die Strategie des Filmdetektivs Colombo oft hilfreich: Sanft (echt!), wohlgesonnen und scheinbar ohne (bedrohliche) Zielsetzung versucht der Therapeut, das Vertrauen der einzelnen Systemmitglieder zu gewinnen, um nach und nach zum „Geburtshelfer“ für das Offenbaren von Systemgeheimnissen zu werden. In Fortsetzung dieser Interaktionsform wird er dann auch verändernde Maßnahmen nicht in der konfrontativen, sondern eher in der Judo-Art einbringen (etliche Beispiele in Kap. 5.2.2.3, 5.2.2.4 und 5.3). Das Gegenteil zum Judo-Ansatz war z. B. die Arbeitsweise der Milano-Gruppe (Selvini-Palazzoli et al., 1977), die aus der Behandlung von Familien mit einem „symptomatischen“ Kind abgeleitet wurde. Der Schwerpunkt liegt bei der Aufdeckung ungesunder familiärer Kommunikationsstereotype, die hypothetisch der Familie helfen, trotz der internen Zerwürfnisse eine Balance zu halten. Dieses Störungsmodell unterscheidet sich nicht so stark von dem zuvor genannten systemischen, die therapeutischen Konsequenzen sind jedoch fast konträr. Metaphorisch pointierend könnte man sagen, dass die Familie mit einem psychisch auffälligen Kind als eine „ungesunde Kommunikations-Burg“ gesehen wird, die von starken Abwehrwällen umgeben ist und therapeutischen Attacken von außen fast keine Chance bietet. Deshalb wird die Intervention nach Art eines „Trojanischen Pferdes“ geplant, mit dem sozusagen „Kommunikations-Dynamit“ – genannt die „Verschreibung“ – in die Familie „hineingeschmuggelt“ wird. Letzterer Begriff ist deshalb angebracht, da diese Intervention nur wirkt, wenn niemand in der Familie erkennt, welche kommunikative Explosivkraft in ihr steckt und was mit ihr bezweckt wird. Ziel ist also das richtige Aufbrechen einer pathologischen
Grundlagen
Kommunikationsstruktur mit der optimistischen Annahme, dass danach die Familienmitglieder zu einer gesünderen Kommunikationsform zurückfinden werden. Diese Vorgehensweise ist absolut kontraindiziert bei Paaren und Familien, bei denen die meisten Mitglieder deutlich defizitär sind: Werden die „pathologischen“ Bindungen nur zerstört, so lässt man diese Paare oder Familien ohne Bindungen zurück – mit wenig Chancen, dass diese aus ihren Defiziten heraus neue finden, und entsprechend hohem Risiko, noch kranker zu werden. In der strategisch-systemisch orientierten Verhaltenstherapie verwenden wir den letzteren Ansatz nur ausnahmsweise – wenn keine Entwicklungsdefizite vorliegen, ein sehr guter therapeutischer Kontakt besteht und eine provokative Konfrontation mit hinreichender Wahrscheinlichkeit den Betroffenen vom „Symptom-Gleis“ wieder auf seine HandlungsSchienen zurücksetzen wird (Indikationsstellung nur in der Intervision, Durchführung nur von diesbezüglich erfahrenen Therapeuten). Die Konsequenzen aus den Ergebnissen systemischer Analysen vor und während der Therapie werden so rasch wie möglich in genuin verhaltenstherapeutische Handlungssequenzen umgesetzt – mitunter nach „motivationaler Vorbereitung“ mit Vorgehensweisen aus der direktiven Familientherapie im Prozess des Joining (Beispiele in Kap. 5.2 und 5.3).
5.1.2 Motivationale Strategien aus der direktiven Familientherapie Motivationale Strategien aus der direktiven Familientherapie lassen sich bei bestimmten Patienten/Familien sehr gut in die Verhaltenstherapie integrieren,
107
Strategisch-systemisch orientierte Verhaltenstherapie
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Kongruentes Vorgehen
Judo-artige Vorgehensweise
Strategie der Integration systemischer Aspekte
wie ja bereits Haley (1976) richtungsweisend gezeigt hat. Lange (1985) unterteilt zwei sehr unterschiedliche Dimensionen: die allgemein-spezifische und die Judo-artige. Zur Ersteren rechnet er Techniken, Taktiken und Strategien, die auf einer sehr allgemeinen Ebene das Vertrauen des Patienten in Therapeuten und Therapie erhöhen sollen, und solche, die die Wirksamkeit spezifischer Interventionen fördern sollen (z. B. die Compliance mit „Hausaufgaben“). Zur zweiten Dimension rechnet er ein Kontinuum von kongruent bis judo-artig. Kongruentes Vorgehen besteht darin, dass dem Patienten direkt erklärt wird, was von ihm erwartet wird, wie die Therapie ablaufen kann und durch welche eigenen Leistungen der Patient die Chancen der Therapie verbessern kann. Eine judo-artige Vorgehensweise ist – zumindest vorübergehend – dann anzuwenden, wenn eines oder mehrere der folgenden Merkmale beim Patienten vorliegen (Lange, 1985): 1.
2.
3.
Eine chronische Symptomatik, die in hohem Maße interaktionelle Funktionalität gewonnen hat („sekundärer Krankheitsgewinn“ in der tiefenpsychologischen Nomenklatur). Eine Symptomatik mit hoher intrapsychischer Funktionalität, z. B. Ablenkung von einer Depression bei erlernter Hilflosigkeit oder bei Kindern Reduzierung der Angst vor einem Familienzerfall aufgrund elterlicher Streitereien. Wunsch nach einer Veränderung, aber gleichzeitig Rebellion gegen die Autorität des Therapeuten (wie in bestimmten kindlich-jugendlichen Entwicklungsstadien).
Im Judo-Ansatz nimmt der Therapeut die Klagen des Patienten betont ernst und teilt dessen pessimistische Einschätzung von Hilfsmöglichkeiten. Kritisiert
Grundlagen
so ein Patient den Therapeuten, so kann er dafür gelobt werden: „Dass Sie so kritisch sind, zeigt, dass Sie nicht gedankenlos akzeptieren, was andere Menschen Ihnen erzählen“ – wodurch Widerstand in eine Form der Kooperation uminterpretiert wird. In der Therapie ist es nicht immer einfach, zu entscheiden, ob nun der judo-artige oder der kongruente Ansatz zur Erreichung von Veränderungsmotivation vorzuziehen ist. Lange (1985) sieht drei Interaktionsstile des Patienten als weitere Indikation für den Judo-Ansatz: 1. 2.
3.
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Drei Interaktionsstile des Patienten
Konstante Belehrungen des Patienten gegenüber dem Therapeuten. Regelmäßige Hinweise des Patienten darauf, dass Erfolge des therapeutischen Vorgehens bei anderen Patienten auf ihn nicht übertragbar sind. Ständige Hinweise des Patienten „So bin ich halt“.
Für solche Situationen empfiehlt Lange Sätze wie „Ich könnte Ihnen meine Ansicht dazu sagen …, aber andererseits glaube ich, dass ich tatsächlich die Situation zu wenig durchschaue, außer, dass es … nicht richtig wäre, dazu jetzt etwas zu sagen.“ So werde die Neugierde des Patienten konstant erhöht. Auch folgende Sätze seien bei vorliegender Indikation motivierend: „Es sieht wirklich nicht gut aus; da ist tatsächlich nur eine kleine Erfolgschance; vielleicht wäre es am besten, überhaupt keine Therapie zu versuchen.“ Bei einem Festhalten psychosomatischer Patienten an der somatischen Natur ihrer Störung empfiehlt sich ebenfalls ein vorläufiges Mitgehen („going along“ bzw. „joining“) – das gilt m. E. aber durchaus auch bei einer Fixierung auf andere Symptomatiken, z. B. Zwangsgedanken oder „Psychose-Talk“ (s. Kap. 5.3). Wenn der Therapeut nun auch seinerseits nur
Going along
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Illusion von Alternativen
Strategie der Integration systemischer Aspekte
noch „Symptom-Talk“ macht, so verhält er sich ja völlig entgegen der Erwartungshaltung des Patienten – und die ständige intensive Exploration der Krankheitssymptome mag nach einer gewissen Zeit dazu führen, dass solche Patienten von sich aus auch psychologische Probleme ansprechen (s. dazu z. B. Kap. 5.3.5, Beipiel 3). „Hausaufgaben“ sollten solchen Patienten nie als leicht umsetzbar dargestellt werden, sondern eher so: „Ich möchte Ihnen jetzt etwas zum Üben vorschlagen, das recht schwierig ist … vielleicht ist es zum gegenwärtigen Zeitpunkt für Sie sogar zu schwierig. Nehmen Sie sich gut Zeit mit der Entscheidung, ob Sie es versuchen wollen oder lieber doch lassen.“ So wird dem Patienten indirekt die Chance gegeben, sein Selbstwertgefühl zu erhöhen, indem er etwas, das selbst nach Einschätzung des Therapeuten eine erhebliche Herausforderung darstellt, umsetzt. Lange trennt von den bisher beschriebenen „allgemeinen“ Judo-artigen Interventionen noch die spezifischen. Als Beispiel führt er den Einsatz der „Illusion von Alternativen“ nach Erickson und Rossi (1975) an: „Die Motivation des Patienten zu der Durchführung von ‚Hausaufgaben‘ soll dadurch erhöht werden, dass er scheinbar die Entscheidung erhält. Es werden z. B. zwei verschieden klingende Vorschläge gemacht, die aus therapeutischer Sicht aber das gleiche Prinzip beinhalten. Häufig übersehe der Patient dann, dass er bei der Entscheidung ja eine dritte Möglichkeit hat, nämlich zu beiden nein zu sagen.“ (Ende Zitat aus Lange.)
Die Therapeut-Patienten-Interaktion in der Verhaltenstherapie darf aber auch bei dem Einsatz systemischer Kommunikationstechniken nicht durchgängig durch diese geprägt werden!
Grundlagen
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Überwiegend sollte das Interaktionsverhalten des Therapeuten „echt“ sein und durchaus auch Stimmungen des Therapeuten deutlich werden lassen. Dies gilt ebenso für Freude über Therapiefortschritte, wie für Betroffenheit bei deren Ausbleiben – und im geeigneten Moment darf der Therapeut auch durchaus einmal Verärgerung über ärgerliche Verhaltensweisen zeigen. Letzteres kann in der Therapeut-Patienten-Beziehung und vorher zum technischen Kommunikationsstil des Therapeuten bei bestimmten Patienten ähnlich positive kathartische Effekte bewirken. (Überhaupt eine emotionale Reaktion ist auch in der Therapie in bestimmten Situationen besser als gar keine.) In der Verhaltenstherapie schlagen wir unseren Patienten jedoch in der Regel (Ausnahmen s. u.!) mehrere wirklich unterschiedliche Möglichkeiten vor, aus denen sie dann im Sinne einer partnerschaftlichen Therapieplanung die ihnen genehmste auswählen mögen. In systemischer Terminologie handelt es sich dabei dann um eine kongruente Motivationsstrategie. Zu der Terminologie sei nochmals betont, dass wir unter „systemischen Aspekten der Verhaltenstherapie“ die Sichtweise verstehen, dass das Verhalten des Menschen nur in seinen kommunikativen Bezügen zu verstehen und zu verändern ist – auch wenn wir nur mit dem Individuum arbeiten. Die Vorgehensweise ist dabei in der Regel genuin verhaltenstherapeutisch, nutzt aber punktuell bewährte Motivationsstrategien aus den „systemischen Therapien“! Wenn wir systemisch-orientiert arbeiten wollen (sowohl bei kongruenter wie nicht-kongruenter Strategie), stellt sich häufiger die Frage, wie eine Familiensitzung mit allen Familienmitgliedern erreicht werden kann, wenn nur ein Familienmitglied zur Therapie gekommen ist oder geschickt wurde. Ab-
Kongruente Motivationsstrategie
Systemische Aspekte der Verhaltenstherapie
Motivationsstrategien aus „systemischen Therapien“
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
Aus- und Weiterbildung der Therapeuten
Beendigung nicht gewollter Therapie
VerhaltenstherapieAmbulanz
Systemische Sichtweise in multimodale Verhaltenstherapie integriert
hängig von der Bedeutung der Funktion der Störung innerhalb der Familie, den Auswirkungen der Störung auf die anderen Familienmitglieder und den Selbsthilfemöglichkeiten innerhalb der Familie kann dann entschieden werden, mit welcher Intensität das Gespräch mit der Gesamtfamilie gesucht werden soll. In der Aus- und Weiterbildung der Therapeuten sollte deshalb auch „das richtige Telefonieren“ in solchen Therapiesituationen geübt werden. Konsequente Beachtung der Indikationsstellung führt oft zu deutlicher Reduzierung der benötigten Therapiestunden, bei gleichzeitiger Erhöhung von deren Effizienz – wozu auch die Beendigung nicht gewollter Therapie schon in den probatorischen Sitzungen zählt! (Mehrere diesbezügliche Beispiele in Kap. 5.2 und 5.3.) Wir haben mit der Gründung der Verhaltenstherapie-Ambulanz am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (1976) – nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen in London (s. Kap. 3.1 und 3.2) – eine systemische Sichtweise in unsere multimodale Verhaltenstherapie integriert (s. Hand et al., 1977). Innerhalb weniger Jahre haben wir dann auch eine in praxisnaher Aus- und Weiterbildung vermittelbare Strategie der Verhaltenstherapie – unter besonderer Berücksichtigung der interaktionellen und intrapsychischen Funktionen des Symptomverhaltens – entwickelt (Hand, 1982, 1986, 1988): „Die Unzulänglichkeit (gemeint: des damals vorherrschenden individualpsychologischen Ansatzes der VT) wird besonders dann deutlich, wenn mit diesen Patienten in ihrem natürlichen Milieu (Therapie in vivo) und unter Einbeziehung von Partnern oder der Familie gearbeitet wird. Die verhaltenstherapeutische Therapieplanung kommt dann nicht mehr ohne kommunikations- und systemtheoretische Ansätze aus … unter Berücksichtigung der vielfältigen intrapsychischen und inter-
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
aktionellen Funktionen (des Symptomverhaltens) und der besonderen Defizite und Verletzbarkeiten dieser Patienten“ (Hand, 1982). In diesem Kontext haben wir auch den Begriff der „Therapie am Symptom vorbei“ eingeführt. Die Grundlagen der in diesem Buch ausformulierten Strategie haben wir – unter besonderer Berücksichtigung der „Symptomfunktionen in der Verhaltenstherapie“ – schon wenige Jahre später vorgestellt (Hand, 1986), kurz darauf dann auch den Begriff „Systemic- Strategic Behavior Therapy“ (Hand, 1988). Im Folgenden wird nun die Umsetzung systemischer Elemente in der Verhaltenstherapie – von den probatorischen Sitzungen bis zur Therapiedurchführung – fallbezogen verdeutlicht (mit Ausnahme von Kap. 5.2.2.1, aus der Arbeit unserer VT-Ambulanz und -Station, mit Verfremdung der Personenangaben; zu den Aus- bzw. Weiterbildungsvorraussetzungen für deren Anwendung s. Kap. 6).
5.2 Systemische Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen 5.2.1 Einführung Systemische Funktionsanalysen (zur interaktionellen Funktionalität) sollten regelmäßig sowohl in den probatorischen als auch im Verlaufe der Therapie-Sitzungen durchgeführt werden. Sie sind sowohl biografisch als auch auf aktuelle Beziehungen ausgerichtet. Die eindeutigsten Ergebnisse erreichen wir immer dann, wenn die Therapeut-Patient-Interaktion und die besprochenen Themen eine Emotionalisierung des Gespräches ermöglichen. Die Interaktion wird dann viel spontaner.
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Therapie am Symptom vorbei
Symptomfunktionen in der Verhaltenstherapie Systemic- Strategic Behavior Therapy
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Die diagnostische Provokation von Paar- und Familieninteraktion: in der rezeptiv-informativen Phase
Schweiger zum Reden zu bringen
Strategie der Integration systemischer Aspekte
Dazu im Folgenden einige Empfehlungen. Die diagnostische Provokation von Paar- und Familieninteraktion: Kommt in der rezeptiv-informativen Phase der probatorischen Sitzungen spontan keine Emotionalisierung der Paar- oder Familieninteraktion zustande, so kann der Therapeut das Gespräch auf konfliktreichere Themen lenken. Das Paar kann so sukzessive in eine emotionalisiertere Diskussion, die dann sehr viel deutlicher das Problemverhalten auf beiden Seiten wiedergibt, hineingleiten. Mitunter lässt sich längere Zeit nur einer der beiden darauf ein und klagt z. B. immer heftiger über Merkmale des anderen. Der Therapeut beobachtet den Schweigenden bezüglich dessen gesamten non-verbalen Verhaltens (Mimik, Körperhaltung, Bewegen seines Stuhles). Sobald Emotionalisierung deutlich wird, spricht er den bisher schweigenden Partner direkt auf seine aktuellen Gefühle und Gedanken an. Nachdem es gelungen ist, auf diese Weise auch den Schweiger zum Reden zu bringen, wird im nächsten Schritt versucht, das Thema an das Paar zurückzugeben, bei gleichzeitigem unmerklichem Rückzug des Therapeuten aus der Interaktion. Wenn nunmehr in der Paar-Interaktion nach und nach charakteristische Merkmale deutlich geworden sind, beteiligt sich der Therapeut wieder mit der Frage an das Paar, ob und wieweit beiden bewusst geworden ist, wie sie gerade miteinander umgegangen sind. Anschließend gibt der Therapeut seine eigenen Beobachtungen ein. Im Idealfall wird dieser Prozess dann durch das gemeinsame Analysieren einer Videoaufnahme dieser Interaktionssequenzen ergänzt. Schließlich bietet auch das Rollenspiel einer vom Paar berichteten typischen Interaktionssequenz (mit role-reversal der Partner) eine sehr gute Möglichkeit, die Therapiesitzung lebendiger und die Erkenntnisse klarer zu machen.
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
Auch hier wird sorgfältig darauf geachtet, dass keine „Schuldigen“ identifiziert werden. Es soll bei allen Beteiligten vielmehr die Erkenntnis gefördert werden, dass die eingetretenen maladaptiven Kommunikationsmuster „gemeinsame erlernte Hilflosigkeit“ ausdrücken. Wir übertragen also das Seligmansche individualpsychologische Modell (Seligman, 1992) auf das Paar-/Familien-System. Das erleichtert uns, im Idealfall bei den Betroffenen aus dem „Kämpfen gegeneinander“ ein „Problemlösen miteinander“ werden zu lassen – oder sie zumindest aus der (im wörtlichen Sinne) „Verbissenheit“ (im Sinne von „sich ineinander verbeißen“) zu lösen (Beispiele in Kap. 5.2 und 5.3), mit der Chance, auf der Basis dieser „DeEskalation“ weitere positive Schritte einzuleiten.
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Gemeinsame erlernte Hilflosigkeit
Problemlösen miteinander
Die Bedeutung der systemischen Funktionsanalysen sei einleitend herausgestellt mit einem eigenen Misserfolg von Exposition aufgrund unzureichender systemischer Funktionsdiagnostik vor Durchführung der scheinbar dringlich gewünschten Expositionstherapie: Beispiel 1. Verbalisierte Motivation, mangelnde systemische Funktionsanalyse und Misserfolg der Exposition. Eine Hausfrau und ihr Mann beklagten gemeinsam die Auswirkungen einer schweren Zwangssymptomatik der Patientin. Die Patientin äußerte den deutlichen Wunsch, Therapie für ihre Zwangsstörung zu erhalten. Die auf den SymptomRatingskalen ebenfalls deutlich im pathologischen Bereich liegenden Werte für Depression, soziale Angst und funktionelle somatische Störungen tauchten in dem verbalisierten Behandlungswunsch überhaupt nicht auf. Ohne weiterführende systemische Diagnostik wurde dem Wunsch nach Exposition in vivo entsprochen. Die Behandlung wurde ein Misserfolg.
Zwangssymptomatik
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
Reanalyse aller Selbstratings vor Therapiebeginn
Verhaltens-Widerstand
Verhaltensanalyse jetzt wiederholt
Verhaltensexzesse
Die Reanalyse aller Selbstratings vor Therapiebeginn (Hand und Zaworka, 1982) ergab, dass die Patientin trotz ihrer hohen Ratings in der Zwangssymptomatik die höchsten Ratings für „Verhaltens-Widerstand“ (Zaworka und Hand, 1981) – also das Ausmaß, in dem eine Person versucht, ihre Alltagsaktivitäten trotz massiv behindernder Symptomatik aufrechtzuerhalten – gegen ihre sozial-phobisch-defizitäre Symptomatik angegeben hatte. Dies hätte uns vor Therapiebeginn deutlich machen müssen, dass gegenüber der Zwangssymptomatik möglicherweise wenig Veränderungsmotivation vorliegt, aber eine hohe in Bezug auf die sozial-phobische Symptomatik! Die Verhaltensanalyse wurde jetzt wiederholt – auf einer besseren Beziehungsbasis nach der Expositionstherapie – und ergab, dass die Patientin sich in ihrer Ehe zunehmend unglücklich fühlte. Ihr beruflich erfolgreicher Ehemann hatte das Familienleben dominiert. Sie konnte sich weder ihm gegenüber noch sonst im Leben wirklich durchsetzen. Sie fühlte sich abhängig von seiner „Stärke“ und gab bei Ehestreit meistens nach. Schließlich eskalierten sukzessive jene Verhaltensweisen, die ihr Ehemann von ihr als Hausfrau und Mutter forderte (einschließlich Sauberkeit und Ordentlichkeit), zu „Verhaltensexzessen“ im Sinne zunehmend schwererer Zwangssymptomatik. Diese Verhaltensweisen wurden dann aus Sicht des Ehemannes lästig und belastend, da sie seinen Bewegungsfreiraum im Hause auf ein Minimum reduzierten. Die Ehefrau hatte auf diese Weise zumindest im Bereich des Hauses die „Macht“ übernommen. Sie verweigerte Verhaltensänderungen mit Hinweis auf die „Krankheit“, für die sie nichts könne. Schließlich akzeptierte der Ehemann dies, bemühte sich dann aber nachhaltig und erfolgreich um Therapie für diese Erkrankung. Auch hier haben wir also ein Beispiel für
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
die Verlagerung von Beziehungskonflikten von der Ebene direkter Auseinandersetzungen auf die Ebene gegenseitiger paradoxer Kommunikation über das Symptom. Nachdem die Ehefrau mithilfe der Zwänge im Hause endlich „das Sagen“ bekommen hatte, ohne dass sie für den indirekten Ausdruck von Aggression dem Ehemann gegenüber „verantwortlich“ gemacht werden konnte, fand der Ehemann schließlich hoffnungsvoll die Lösung in der spezifischen Therapie. Wie bei dem Paar mit der Erythrophobie (Kap. 5.2.2.3, Beispiel 1), hatte die Patientin auch hier keine direkte rationale Begründung für eine Therapieablehnung. Sie „musste“ auf dieser Kommunikationsebene ihre Motivation zur Krankheitsbeseitigung verbalisieren. Auf diese Weise fürchtete sie beim Therapiebeginn, wieder zur Verliererin im Machtkampf mit ihrem Mann zu werden – und „musste“ daher das Symptom verteidigen. Über diesen Hintergrund des Störungsgeschehens hatten beide uns bei Beginn der Expositions-Therapie völlig im Unklaren gelassen. Die Patientin hatte zu diesem Zeitpunkt auch nicht gewagt, offen ihren Behandlungswunsch auf der Ebene von Durchsetzungsfähigkeit (insbesondere ihrem Mann gegenüber) zu äußern. Die Therapeuten hatten in den probatorischen Sitzungen viel zu schnell dem (scheinbaren!, aber als solchen nicht erkannten) Wunsch nach Symptomtherapie nachgegeben (s. dazu Kap. 4.3.5). Eine sorgfältigere Beachtung der Selbstratings vor Therapiebeginn hätte ebenfalls dazu führen müssen, zu überprüfen, ob dieses Rating einfach aus einem Missverständnis des Fragebogens resultierte oder was die Patientin damit zum Ausdruck bringen wollte. Darüber hinaus hätte eine In-vivo-Diagnostik mit beiden Ehepartnern im häuslichen Bereich eine weitere Chance zur Klärung der systemischen Problematik vor Therapiebeginn geboten.
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Paradoxe Kommunikation
Paar mit der Erythrophobie
Wunsch nach Symptomtherapie
In-vivo-Diagnostik
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
5.2.2 Aktuelle systemische Funktionalität, Symptom-Muster und Biografie 5.2.2.1 Beispiele aus dem Gutachterverfahren in der „Richtlinien-Verhaltenstherapie“
Richtlinien-Verhaltenstherapie
In der deutschsprachigen Verhaltenstherapie (auch im Rahmen der Richtlinien-Verhaltenstherapie, s. Faber und Haarstrick, 2005) ist – im Gegensatz zur publizierten Arbeitsweise in den anglo-amerikanischen Ländern – eine auch biografisch-systemisch ausgerichtete Verhaltensanalyse und Hypothesenbildung mittlerweile üblich. Sie wird im Rahmen der Richtlinien auch gefordert. Allerdings heißt dies noch keineswegs, dass diese Informationen dann auch die Therapiepläne mit prägen – oder dass abgeleitet wird, warum dies nicht erfolgt ist! Sechs recht typische Beispiele für die (Nicht-) Berücksichtigung systemischer Informationen in der Hypothesenbildung und im Behandlungsplan mögen dies verdeutlichen: Beispiel 1. Multisymptomatik nach defizitärer intrafamiliärer Sozialisation (Zitat autorisiert durch Frau DP G. Dussel): Initial vorgetragene Beschwerden: Der Patient berichtete, dass er unter Ängsten (vor allem vor Krankheiten) und unter Depressionen leide. Außerdem leide er unter Kontroll- und extremen Ordnungszwängen. Seine Depressionen seien nach der Scheidung von seiner Frau sehr stark geworden, und er habe Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen. Seit vielen Jahren leide er unter körperlichen Beschwerden, wie Schwindel und Schwächegefühlen. Er sei ein strebsamer und gewissenhafter Mensch und wolle es allen immer recht machen. Seit einiger Zeit fühle er
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
sich von seinen Arbeitskollegen ausgenutzt, die sich auf seiner Leistung ausruhen würden. Obwohl ihn das zunehmend störe, traue er sich nicht, etwas dagegen zu sagen. Makroanalyse; Hypothesenbildung: Die Symptomatik des Patienten ist aus der lebensgeschichtlichen Entwicklung erklär- und verstehbar. Er hat seit früher Kindheit Zuwendungsdefizite erfahren. Seine Mutter war durch ihre berufliche Tätigkeit ausgelastet und hatte wenig Zeit für ihre Kinder. Sein Stiefvater war ihm gegenüber körperlich und verbal aggressiv. Körperliche Nähe und Zärtlichkeit hat er nicht kennengelernt. Abwertende Botschaften des Stiefvaters hat er internalisiert, sie führten zu massiven Selbstwertzweifeln und Selbstunsicherheit. Sowohl seine Mutter als auch der Stiefvater waren negative Modelle, was den Umgang mit Gefühlen und persönlichen Belangen angeht. Verschweigen und Rückzug wurden als pathologische Kommunikationsstrategien bzw. als Umgangsform mit Problemen übernommen. Die Anpassung an die Bedürfnisse naher Bezugspersonen ist eine elementare Strategie seines Beziehungsaufbaus und der Beziehungsregulation, da er kein Modell im Hinblick auf Ausdruck der eigenen Persönlichkeit und Individualität hatte und entsprechende Aktivitäten aversiv konditioniert wurden. Zur Kompensation seiner Unsicherheit und defizitären Verstärkersituation hat er eine starke Leistungsorientierung entwickelt, was mit den vorgelebten Werten seiner Mutter und des Stiefvaters übereinstimmte. Die chronisch hohe körperliche Grundanspannung und das Anstauen von Ärger- und Wutgefühlen verarbeitet er angstbesetzt mit Katastrophengedanken und entsprechendem Vermeidungsverhalten. Kontroll- und Ordnungszwänge suggerieren ihm ein Gefühl von Kontrolle gegenüber als bedrohlich erlebten Gefühlen
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
und psychischen Zuständen (insbesondere Ärger, Wut und Unsicherheit). Zur Funktionalität der Kontroll- und Ordnungszwänge wäre vielleicht noch hypothetisch zu erwägen, dass sie die Perfektion der Leistung sicherstellen sollen, über die alleine Anerkennung erwartet und daher sozusagen „erzwängelt“ wird (Anm. des Autors). Hierarchisierte Hypothesenbildung: Als übergeordnete Störung muss die Selbstwertproblematik gesehen werden mit Schwierigkeiten, sich abzugrenzen bzw. durchzusetzen sowie eigene Gefühle und Bedürfnisse achtsam wahrzunehmen und adäquat auszudrücken. Hieraus resultiert eine depressiogene Grundhaltung, die bei vermehrter Belastung zu einer klinisch relevanten depressiven Störung mit einer wachsenden körperlichen Anspannung, entsprechenden Angstzuständen und Vermeidungsverhalten führt. Die Kontroll- und Ordnungszwänge sind vor dem Hintergrund seiner Leistungsorientierung zu verstehen und stellen den Versuch dar, ein Gefühl von Selbstwirksamkeit zu erleben. Therapieplan (gekürzt): Fokus auf die Selbstwertproblematik, mit mehreren Interventionen; darauf aufbauend Methoden zur verbesserten Konfliktund Abgrenzungsfähigkeit; schließlich symptomorientierte Übungen zum schrittweisen Abbau der Zwangssymptomatik. Wir haben hier also ein hierarchisiertes Störungsmodell mit entsprechender Therapieplanung. Aktuelle systemische Funktionalität der Hauptsymptomatik scheint nur am Arbeitsplatz vorzuliegen. Wenn die angestrebten Verhaltensänderungen eintreten und sich auch am Arbeitsplatz auswirken, ergeben sich u. U. neue Aspekte für die weitere Therapieplanung.
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
Beispiel 2. Veränderung „gegen“ den Ehepartner? (Zitat autorisiert durch Frau DP A. Heemeyer): Initial vorgetragene Beschwerden: Ängste in allen öffentlichen Bereichen des Lebens mit Panikattacken, Schwindelzuständen und Angst vor Ohnmacht; Aktivitäten außerhalb des Hauses nur mehr in Begleitung, meist des Ehemannes; seit 6 Monaten arbeitsunfähig geschrieben und jetzt zunehmender Druck des wohlgesonnenen Chefs, dass sie etwas tun müsse. Aus der Biografie: Nur durch Pflichterfüllung und Übernahme von Verantwortung habe sie die Chance auf elterliche Zuneigung und Anerkennung gehabt. Seit der Pubertät Migräneanfälle, vor 2 Jahren Ersatz der Migräne durch die Panikattacken. In der seit dem 17. Lebensjahr bestehenden Ehe immer die Aktive und Starke gewesen, immer „Mädchen für alles“ für Ehemann, Sohn und Eltern, die auf dem gleichen Grundstück lebten. Der Versuch vor 2 Jahren, sich dem Ehemann gegenüber für eine Veränderung der Arbeitsaufteilung einzusetzen, führte zu dessen Trennungsdrohung. 2 Wochen später bei gemeinsamer Autofahrt erste Panikattacke mit rascher Generalisierung. Funktionsanalyse: Als grundlegende Prädisposition für die verschiedenen Ängste ist sicherlich die Familienkonstellation in der Ursprungsfamilie der Patientin zu sehen und die dort bereits in frühester Kindheit erworbenen Kognitionen von Leistungserwartung in Verbindung mit dadurch zu erreichender Anerkennung und Selbstachtung. Es gelang der Patientin weder, diesem Erwartungsdruck auf Dauer standzuhalten, noch den daraus entstandenen Konflikt aktiv zu bewältigen und sich zu schützen, sodass der Rückzug in die Krankheit (Migräne) ihr als einziger Ausweg blieb. Der Rückzug wurde damit eine negative Verstärkung für ihre sich selbst nicht zuge-
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
trauten Problemlösefertigkeiten. Zusätzlich verstärkten die Eltern den Rückzug in die Krankheit, indem sie ihre Vermeidungsstrategien aktiv unterstützten und ihrer Tochter dann die eingeforderte Achtung und Zuneigung entgegenbrachten, wenn sie krank wurde. Diese „erfolgreiche Strategie“ fand eine Wiederholung in der Ehe der Patientin. Auch hier gelang es ihr erst, die bei ihrem Partner vermisste Unterstützung und Wertschätzung nach dem Auftreten der ersten Panikattacke zu erhalten. Der Versuch, ihre belastende Situation in der Ehe zu ändern, führte zur Androhung der Trennung seitens des Ehemannes. Auf diesem Hintergrund ist es auch zu erklären, dass es kurz danach zur ersten Panikattacke kam … in der Streitsituation der nächtlichen Autofahrt bei sowieso schon erhöhtem körperlichem Arousal. Die dadurch erhöhte Körpersensibilisierung und die Angst vor einer neuen Panikattacke wurden im Anschluss durch das Auftreten neuer Attacken verstärkt. Das Vermeiden dieser Situationen und die Unterstützung dieses Vermeidungsverhaltens durch die Familie auf der einen Seite und die Sorge und Behütung durch den Ehemann nach den Attacken auf der anderen Seite führten im Laufe der letzten 2 Jahre zu einer deutlichen Chronifizierung der Ängste. Der multimodale Behandlungsplan, in Abstimmung mit der Patientin, beinhaltet: Beziehungsgestaltung zwischen Patientin und Therapeutin in Richtung eines offenen und vertrauensvollen Arbeitsbündnisses; Analyse und Abbau der Krankheitssymptomatik mit den adäquaten Verfahren (u. a. Exposition); Ausbau und Stärkung des Selbstwertes durch Selbstachtsamkeitsübungen, Selbstwirksamkeitsstrategien (einschließlich Rollenspielen zu sozialer Kompetenz) und Aufbau euthymen Verhaltens ohne Leistungserwartungen.
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
Wie leider häufig, wird im Behandlungsplan nicht angeführt, wie der größte Risikofaktor für einen positiven Therapieverlauf, nämlich die Reaktion des Partners auf denselben, behoben werden soll bzw. kann. Wie wird die Patientin auf zu erwartende neuerliche Trennungsdrohungen bei positivem Therapieverlauf reagieren (können)? Ist überhaupt „informed consent“ der Patientin zum Zeitpunkt des Therapiebeginns eingeholt worden, ob sie dieses Risiko eingehen will und kann? Die Rückfrage bei der Therapeutin ergibt, dass die teilweise Einbeziehung des Ehemannes mit Zustimmung der Patientin bereits geplant ist. Im Bericht wurde dies nicht angeführt, um befürchteter gutachterlicher Kritik wegen einer nicht kassenpflichtigen Paartherapie vorzubeugen! Beispiel 3. „Sandwich“-Position zwischen Mutter und Partnerin – gelöst (Zitat autorisiert durch Dipl.Psych. Dr. F. Roth): Hypothesenbildung: Durch seine Stellung als Einzelkind und durch häufige Umzüge bedingt wuchs der Patient in der frühen Kindheit in einem geschlossenen Familiensystem auf. Der introvertierte, emotionsarme, praktisch „nicht anwesende“ Vater förderte die Fixierung des Patienten auf die warmherzige, „klammernde“, überbesorgte, egozentrische Mutter und erschwerte ein Abgrenzen von ihr. Schon in der ersten Partnerschaft zeigte sich, dass ein Loslösen vom Elternhaus in der Pubertät nicht stattgefunden hatte und die Mutter den Sohn nicht freigeben konnte. In allen Partnerschaften vermochte es der Patient nicht, sich der Kontrolle der Mutter zu entziehen. Sie hatte immer die Möglichkeit, sich in seine Beziehungen einzumischen und sein Leben zu dominieren. Die Mutter forderte ständige Verfügbarkeit und Nähe-
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Reaktion des Partners auf positiven Therapieverlauf?
Rückfrage bei der Therapeutin
Befürchtete gutachterliche Kritik
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
Sandwichposition
bereitschaft des Sohnes ohne wenn und aber. Somit geriet der Patient unausweichlich in die stark konfliktbesetzte Rolle des „Regulierers der Erwartungen“ zwischen seiner Mutter und seiner jeweiligen Partnerin (Sandwichposition). Der Patient erlebte in seiner Verhaltenssteuerung auch einen Konflikt zwischen seinem Temperament und seiner gleichzeitig gewissenhaften und abhängigen Struktur. Bei deutlichen Defiziten im Gefühl für eigene Identität (emotionales Selbstkonzept) und unterentwickelter Selbstfürsorgefähigkeit ist der Patient bestrebt, diesen Konflikt durch eine starke Orientierung an äußeren Erwartungen, Normen und Regeln zu regeln. Somit ist er prädestiniert, sich in den gegensätzlichen Erwartungen von Mutter und Partnerinnen zu verschleißen. Er reagiert physiologisch mit Stressreaktionen (Unfähigkeit zu entspannen, Schlafstörungen, zu hohe Erregung im Ruhezustand). Handlungsorientiert äußert sich der Stress einerseits im aggressiven Streit mit der Partnerin und andererseits in der Verteidigung der Partnerin vor der Mutter. Kognitiv bleibt er zwanghaft in endlosen Grübelattacken, wiederum verbunden mit Schlafstörungen. Somatisch reagiert er auf den Stress mit Impotenz. Im Bestreben, „gerecht“ zwischen Mutter und Frau zu handeln, kann die Partnerin nichts bekommen, das die Mutter nicht beanspruchen darf. Da die Mutter „keinen Sex bekommen darf“, bekommt die Frau auch keinen. Somit hilft die Sexualstörung dem Patienten, die Konflikthaftigkeit in der „Sandwich-Position“ zwischen Mutter und Frau subjektiv erträglicher und gerecht zu gestalten. Gleichzeitig konserviert er mit seiner Störung das Verharren in dieser auf Dauer unerträglichen Position. In nur 25 Therapiesitzungen kommt der Patient aus der „Sandwich-Position“ heraus. Die Therapie erfolgt schwerpunktmäßig mit ihm – unter teilweiser
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
Einbeziehung der Ehefrau und indirekter Einbeziehung der Mutter. Initiale Intervention des Therapeuten: Die Mutter liebt ihren Sohn, möchte ihm Leiden ersparen. Er sollte daher sein Leiden an ihrem Anspruch offen und ohne Vorwurf kommunizieren, zugleich aber auch keine Zweifel an seiner tiefen Zuneigung zu ihr aufkommen lassen. Zusätzlich tritt ein äußeres Ereignis ein: Die Mutter wird von einer schweren Verantwortung entbunden, sie kann vorher eingestellte soziale Kontakte reaktivieren. Parallel aktivieren der Patient und seine Frau gemeinsame Unternehmungen erheblich (beide waren primär immer aktive Menschen gewesen). Die Symptomatik des Patienten geht völlig zurück. Durch die Therapie und das Lebensereignis bei der Mutter kommen alle drei aus der Beziehungsfalle heraus. Das Therapiekonzept beinhaltete offenbar: Entflechtung der zu engen Mutterbeziehung über liebevollzugewendete, emotional offenere Kommunikation des Sohnes (De-Eskalation durch Kooperation statt konfrontativer Ablösung!) bei gleichzeitiger Aktivierung der bei beiden Ehepartnern vorhandenen Verhaltensaktiva. Beispiel 4. „Sandwich“-Position zwischen Mutter und Partner – ungelöst (Zitat autorisiert durch Frau DP Römer-Meltzus): Haben wir in Beispiel 3 eine durch die Therapie aufgelöste „Sandwich“-Position, so zeigt dieses Beispiel, dass der Therapie in so einer Konstellation keineswegs immer eine Chance gegeben wird. Symptomatik: Allgemeine Ängste, nicht näher beschreibbar; depressive Grübeleien; sich ständig wiederholende Gedanken, hoffentlich nichts falsch gemacht zu haben. Folgende weitere Symptomatik wird
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De-Eskalation durch Kooperation statt konfrontativer Ablösung
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
aufgeführt: Massive Anspannungsgefühle, Konzentrationsstörungen, Schlafstörungen, Verspannungen im Nacken- und Schulterbereich. Aus der biografischen Entwicklung: Von der Kindheit bis heute ständig unzufriedene Mutter, die an allem etwas auszusetzen hatte. Wohl nicht zuletzt deshalb hat die Patientin ihre allgemeinen Ängste schon lange. Sehr niedriges Selbstwertgefühl. Nur im Berufsalltag durch extreme Leistungsbereitschaft Anerkennung erhalten. Diese einzige Quelle von Anerkennung ist schon länger nicht mehr vorhanden. Die Familie der Patientin lebt mit der Mutter der Patientin und dem jüngsten Bruder im gleichen Hause. Immer wieder regt sie sich still über die ständigen Einmischungen ihrer Mutter auf. Sie könne sich nicht dagegen wehren. Auch mit ihrem Bruder habe sie immer wieder Streit. Dies habe auch in ihre Ehe immer häufiger zu Auseinandersetzungen geführt. Die Patientin bringt die Entstehung ihrer Ängste spontan mit der schwierigen Beziehung zu ihrer Mutter und den sehr nahen Wohnverhältnissen in Zusammenhang. Hypothese: Die schon sehr lange bestehende negative Selbstwahrnehmung und Selbstkritik verhindern in der jetzigen Lebenssituation immer wieder selbstsicheres und kompetentes Verhalten. Besonders gilt dies in Konfliktsituationen, die praktisch jeden Tag mehrfach vorkommen, da die Mutter auch sonst im täglichen Leben präsent ist. Die Patientin erhält von ihrem Partner nur sehr wenig moralische Unterstützung bei ihrem Bestreben, ihre Ängste und Unsicherheiten zu überwinden. Schon kleinste Anlässe genügen, um sie wieder auf ihre negative Denkstruktur und vegetativen Symptome der Angst zu fixieren. Therapieziele: Abgrenzung von der Mutter; Bewältigung der Ängste; Stärkung der Eigenwahrnehmung; Wahrnehmen und Äußern persönlicher
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
Wünsche und Bedürfnisse; Training der sozialen Kompetenz in Konfliktsituationen. (Ende indirektes, gekürztes Zitat.) Eine Einbeziehung der Mutter in die Therapie ist offenbar nicht geplant. Die von der Therapeutin angedachte Einbeziehung des Partners ist nicht vorgesehen, da „Zweifel vonseiten der Patientin“ bestehen. Beantragt werden 45 Einzelsitzungen einer Verhaltenstherapie. Hierzu wird folgende gutachterliche Stellungnahme an die Therapeutin übersandt: „Ich konnte heute aus folgenden Gründen vorerst nur die Kostenübernahme für eine Probetherapie von 20 Einzelsitzungen befürworten: –
–
–
Sie beschreiben als wesentliche Mitursachen für die Störungssymptomatik Ihrer Patientin Interaktionsprobleme mit der Mutter einerseits und dem Ehemann andererseits. Es sind nunmehr Verhaltensänderungen aufseiten der Patientin angestrebt, die aufseiten der beiden anderen Personen unweigerlich zu Gegenreaktionen führen müssen, da diese Personen nicht in die Therapie einbezogen werden und auf veränderte Verhaltensweisen, d. h. Störung der etablierten Interaktionsrituale, nicht positiv reagieren können. Sie deuten an, dass von Ihnen eine teilweise Einbeziehung des Ehemannes in die Therapie geplant war, von der Patientin aber nicht gewollt wird. Dann ist mit der Patientin zu klären, ob sie bei tatsächlich erfolgreichen eigenen Verhaltensänderungen und den zu erwartenden Protestreaktionen des Ehemannes ihre eigenen Veränderungen (bis hin zu einer Infragestellung der Ehe) fortsetzen wollen würde. Gleiches wie in Bezug auf den Ehemann gilt in Bezug auf die Mutter. Insbesondere ist hier im
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Gutachterliche Stellungnahme
Probetherapie
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
–
–
Vorwege zu klären, ob die Patientin psychisch überhaupt in der Lage wäre, ein tiefgehend verändertes Verhalten gegen massive Proteste der Mutter zu etablieren. Nach aktuellem Informationsstand wäre eine teilweise Einbeziehung nicht nur des Ehemannes, sondern auch der Mutter dringend wünschenswert, da ohne diese eine günstige Prognose kaum ableitbar ist. Mit der Probetherapie haben Sie die Möglichkeit, diese Bedenken zu klären und die weiteren Erkenntnisse in den Bericht zum Fortsetzungsantrag einzubringen.“
Die Probetherapie war befürwortet worden, da eine gutachterliche Einschätzung aufgrund der komprimierten schriftlichen Darstellung der Therapeutin natürlich (teilweise) falsch sein kann. Der Begutachtungsprozess bietet dann für beide Seiten eine gute Lernmöglichkeit, das eigene Störungsmodell kontinuierlich zu verbessern. Diesbezüglich gibt es häufiger einen ausführlicheren Austausch zwischen Therapeuten und Gutachtern – so auch in diesem Fall: Die Therapeutin berichtet auf telefonische Rückfrage ca. 1 Jahr nach Begutachtung: Die Patientin hat innerhalb der ersten 6 Monate nur 3 Sitzungen wahrgenommen. Der Anlass sei jeweils eine akute Problemeskalation gewesen, einer kontinuierlichen Therapie habe sich die Patientin entzogen. Die Therapie sei damit durch Abbruch beendet. Was unterscheidet nun die Sandwich-Position dieser Patientin von derjenigen des Patienten in Beispiel 3? In Beispiel 3 bestand erheblich mehr räumliche Distanz zwischen dem Patienten und seiner Mutter; der Patient selbst und seine Ehefrau waren
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
von der Primärpersönlichkeit her aktive und unternehmungsfreudige Personen, und der Therapeut konnte deshalb relativ rasch entsprechende Reaktivierungen mit Intensivierung der ehelichen Beziehung erreichen; gegenüber der nicht in die Therapie einbezogenen Mutter wurde keine Ablösung angestrebt, sondern die Betonung der positiven Aspekte der SohnMutter-Beziehung bei gleichzeitigem Appell, diese positive Beziehung gemeinsam auf das Erwachsenenniveau zu bringen. Im Beispiel 4 finden wir dagegen eine Tochter-Mutter-Beziehung, in der beide im Umgang miteinander aus der traditionellen Mutter-KindRollenaufteilung nie herausgekommen waren. In solchen Situationen ist es erfahrungsgemäß oft nicht möglich, eine Herauslösung durch Training sozialer Kompetenzen und Versuche zur Hebung des Selbstwertgefühles bei der Patientin alleine zustande zu bringen. Deshalb ist dann grundsätzlich immer zu überlegen, ob neben der einzeltherapeutischen Maßnahme nicht auch eine systemische Intervention durchgeführt werden sollte und kann – auch mit dem Ziel, im zweiten Schritt dem betroffenen Elternteil zur Entlastung des Primärpatienten Hilfe zuteilwerden zu lassen (bzw. Hilfe akzeptabel zu machen; Beispiele in Kap. 5.3). Beispiel 5. „Sandwich“-Position zwischen Partner und Schwiegermutter – erfolgreichen Lösungsprozess im Bericht „verheimlicht“: Symptomatik: Seit einem Jahr zunehmende Einund Durchschlafstörung. Tagsüber müde, Konzentrationsmangel, vergesslich, Appetitverlust, chronische Magenschmerzen. Kontakte und Freizeitaktivitäten in diesem Jahr aufgegeben, da kraftlos. Beziehung zum Ehemann angespannt, seit beide Rentner sind. Gravierende Probleme mit der Schwiegermutter.
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
Hypothese: Die Beziehungsstörungen zum Ehemann und zur Schwiegermutter belasten in hohem Maße und sind mit ursächlich für die Krankheitssymptomatik. Eine Kurzzeit-Therapie wurde bereits durchgeführt. Therapieziele und Behandlungsplan für die Therapiefortsetzung (gekürzt): Die Therapeutin beschreibt eine Reduktion der Beschwerden und beginnende Aktivierung in der KZT, um dann fortzufahren: Eine Auseinandersetzung mit dem Ehemann und der Schwiegermutter war bislang noch nicht möglich, da diese stark angstbesetzt ist. Da damit aber der zentrale krankheitsauslösende und -aufrechterhaltende Faktor noch nicht therapeutisch bearbeitet werden konnte, ist die aktuell erreichte leichte Verbesserung im Befinden noch als unzureichend anzusehen. Die Fortsetzung der Therapie ist dringend erforderlich. Im Behandlungsplan wird dann u. a. genannt: Aufbau von Selbstbehauptungs- und Konfliktbewältigungskompetenzen, insbesondere im Umgang mit dem Ehemann und der Schwiegermutter. In der gutachterlichen Stellungnahme wird die Kostenübernahme mit folgender Begründung vorerst noch nicht befürwortet (gekürzt): Dem Bericht der Therapeutin ist zu entnehmen, dass an der für das Krankheitsgeschehen entscheidend eingestuften Problematik mit Ehemann und Schwiegermutter bisher überhaupt noch nicht gearbeitet werden konnte. Auch im weiterführenden Behandlungsplan ist nicht erkennbar, wie die Therapie diesbezüglich nunmehr erfolgreicher verlaufen könnte. Wenn die Patientin alleine weiter ihre soziale Kompetenz steigert und eines Tages möglicherweise mehr Durchsetzungsverhalten gegenüber Ehemann und Schwiegermutter zeigt, ist sie dann darauf vorbereitet und bereit zu akzeptieren,
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
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dass dies möglicherweise zu massiven Reaktionen dieser beiden (in die Therapie ja „nicht eingeweihten“) Personen führen kann? Oder ist sie eher gefährdet, dann ihre Hoffnung zu verlieren und mit einem verstärkt symptomatischen Rückfall zu reagieren? Zu diesen entscheidenden Überlegungen gibt es keine Informationen im jetzigen Bericht. Ohne eindeutige Klärung der Motivation der Patientin und ggf. auch der beiden anderen beteiligten Personen ist die Fortsetzung der Therapie auf keinen Fall als prognostisch hinreichend günstig einzustufen. Sofern klärende Angaben direkt nachgereicht werden, erhält die Krankenversicherung eine ergänzende Stellungnahme. Alternativ besteht die Möglichkeit der Beantragung des Obergutachterverfahrens. Umgehend reichte die Therapeutin folgende Informationen nach: Konkret werden und wurden jüngst folgende Behandlungsstrategien angewendet: Im Konflikt mit der Schwiegermutter wurden mit der Patientin paradoxe Interventionen („Es muss schlimm sein, so eine Schwiegertochter zu haben, die immer alles falsch macht“ oder „Mein Schweinsbraten (wir sind in Bayern) wird nie so gut wie Deiner“) oder ähnliche Situationsspiegelungen angewendet. Erstaunlicherweise belebt das (a) bei der Patientin ihre Ressource Humor und (b) verschlägt es der Schwiegermutter die Sprache für weitere Tiraden. Parallel begreift die Patientin inzwischen ihre jahrelange passive Aggression und eigene Vulnerabilität und kann über bessere Empathie und Generationstoleranz sogar Interesse an dem Leben und der Lebensgeschichte der Schwiegermutter zeigen. Beide Interventionen haben zu einer entspannten Begegnung sowohl ehelich als auch schwiegermütterlich beigetragen. Hinsichtlich der Fortführung der Ehe wurde der Ehemann im Rahmen der kassenrechtlichen Bezugs-
Paradoxe Interventionen
Situationsspiegelungen
Bessere Empathie und Generationstoleranz
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
personengespräche inzwischen eingeladen. Diagnostisch wurde die depressiv-dependent-submissive Interaktion der Patientin deutlich, obwohl sie durchaus einen Fortschritt in ihrer Konfliktfähigkeit zeigt, dies aber psychophysiologisch noch ängstlich und angestrengt. Auf ihre in der gemeinsamen Sitzung vorgetragenen Wünsche und Bedürfnisse nach Anerkennung, Wertschätzung, Achtung und Beachtung reagiert der Ehemann nicht mit den von ihr erwarteten üblichen Abwehrmechanismen, sondern „empfängerbereit“. Im Alltag zeigt sich sein Wunsch nach Fortsetzung der Ehe durch verwöhnende Gesten, kleine Geschenküberraschungen und gemeinsame Freizeitaktivitäten. Im Gegenzug lernt die Patientin sowohl angemessen zu fordern und zu kritisieren, aber auch positives Feedback auszudrücken. Die Therapeutin beschreibt dann weiter, dass die Patientin inzwischen selbst bei der Vorstellung, dass es zu einer Trennung kommen könnte, keine Ängste mehr empfindet, sondern sich eher inzwischen auch aktiv um neue Tätigkeiten außerhalb des häuslichen Milieus mit Erfolg bemüht.
Systemische Interventionen in der „RichtlinienVerhaltenstherapie“
Die Therapeutin hatte also sehr effektiv systemisch orientierte Interventionen eingesetzt – aber im Gutachterverfahren spontan nicht berichtet. Auch im Beispiel 2 war eine systemisch orientierte Therapieplanung erfolgt – aber im Bericht zum Umwandlungsantrag „vergessen“ worden! Dieses und Beispiel 2, die keine Einzelfälle im Gutachterverfahren sind, legen nahe, dass bezüglich systemischer Interventionen in der „RichtlinienVerhaltenstherapie“ noch Klärungsbedarf bei Therapeuten wie Gutachtern besteht, wann solche Interventionen der Kranken- bzw. Krankheitsbehandlung dienen und wann sie Beratung darstellen.
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
Beispiel 6. „Bauchladen mit Techniken“ für eine „in ihre Störungsbestandteile zerlegte Patientin“ in chronischer Dreierbeziehung: Auch der folgende Bericht ist von seinen Grundinhalten her nicht untypisch im Gutachterverfahren – zeigt jetzt aber das völlige Fehlen systemischer Aspekte in Hypothesenbildung und Therapieplanung. Beschrieben wird eine seit einem Jahr berentete, unglücklich verheiratete, in einer Dreierbeziehung lebende und unter der schweren Erkrankung eines Kindes in eine „schwere depressive Episode“ geratene Patientin. Der Ehemann ist über das außereheliche Verhältnis informiert worden. Die Patientin kann sich zwischen beiden Männern nicht entscheiden. Die Therapiezielsetzung beinhaltet zusammengefasst: die Steigerung von Stimmung, Antrieb und Selbstwertgefühl sowie Veränderung dysfunktionaler Schemata (stichwortartig aufgezählt). Therapieplan: Aktivitätssteigerung mittels Erfolg- und Vergnügen-Technik; klärungsorientierte Techniken zur Identifizierung dysfunktionaler Schemata; kognitive Umstrukturierung dysfunktionaler Schemata; Ein-Personen-Rollenspiel und imaginative Verfahren; Aufbau angenehmer Aktivitäten; Übungen zur Emotionsregulation. Auf hohem Abstraktionsniveau wird also für die „in ihre Störungsbestandteile zerlegte Patientin“ ein „Bauchladen mit Techniken“ vorgestellt. Es erfolgt keine individuumspezifische Präzisierung und keine begründete Hierarchisierung der Interventionen; der hypothetisch krankmachende Beziehungskonflikt wird jetzt völlig ausgeblendet. Pläne zur Einbeziehung des Ehepartners, ggf. auch des zweiten Partners, werden nicht dargelegt. Der Therapieplan bleibt auf einem rein individualpsychologischen Ansatz. Warum so vorgegangen werden soll, wird nicht
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Schwere depressive Episode
Bauchladen mit Techniken
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
erläutert (es könnte für diese Entscheidung durchaus plausible Gründe geben). Auf diesem Informationsstand kann keine hinreichend günstige Prognose abgeleitet werden. Das Obergutachterverfahren wurde offenbar nicht beantragt. Typisches, beliebtes „multimodales Therapiepaket“
Ein typisches, beliebtes „multimodales Therapiepaket“ sei abschließend wiedergegeben: w
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w
Informationsvermittlung über die Angst. Selbstbeobachtung und -protokollierung in Anlehnung an Kanfer, Margraf und Schneider sowie Erstellung einer funktionalen Bedingungsanalyse. Progressive Muskelentspannung nach Jacobson zur Reduktion der allgemeinen inneren Anspannung und der vegetativ-funktionellen Symptomatik in Eigenregie zu Hause. Kognitive Umstrukturierung nach Beck zur Modifikation irrationaler Kognitionen bezüglich der Ängste, der Selbstentwertung, der Angst vor Konflikten und Belastungen. Training zur Angstbewältigung (Reisexposition in Anlehnung an Margraf und Schneider) und ausgewählte Übungen des ATP nach Ullrich/Ullrich de Muynck mit Schwerpunkt Selbstsicherheit und soziale Kompetenz unter Berücksichtigung der bestehenden Defizite beim Ausdruck von Aggression und Wut. Selbstmanagement-Training und Selbstinstruktionstraining zum Abschluss der Therapie sowie zur Aufrechterhaltung des Therapieerfolgs (Meichenbaum).
Ähnliche Pakete beinhalten noch 3–5 zusätzliche Interventionen, die dann anscheinend alle in 45 Sitzungen „abgearbeitet“ werden sollen – aber wie?
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
Solche Therapiepläne sind – für sich genommen – nicht beurteilbar, da sie sowohl richtig als auch falsch sein können. Wenn vorher eine hierarchisierte Hypothesenbildung und individualisierte Therapiezielsetzung dargestellt wurde, sind sie für die meisten Gutachter aber akzeptabel. Sind diese Vorbedingungen nicht gegeben, dann liegt eine Art „PsychoSektion“ vor, bei der die Verbindungen der Teile untereinander und die Regeln ihrer Interaktion völlig unklar bleiben. Ob daraus ein Nutzen für das Individuum selbst erwachsen kann, ist äußerst fraglich – der fehlt ja auch bei der medizinischen Sektion.
5.2.2.2 Beispiele aus unserer VerhaltenstherapieAmbulanz In die Verhaltenstherapie kommen viele Patienten, die initial Symptome vortragen (von denen sie glauben, dass sie Verhaltenstherapeuten besonders interessieren?) und erst später ihr wirkliches Anliegen direkt aussprechen können. Beispiel 1. „Butter-Phobie“ und Familienkonflikt: Der 18-jährige Patient lebt mit den Eltern und zwei Geschwistern zusammen. Seine seit einem Jahr bestehende „Butterangst“ führt zu zunehmenden familiären Spannungen, da er bei gemeinsamen Mahlzeiten darauf besteht, dass Butter auf keinen Fall auf den Tisch kommen darf, da er den Anblick nicht aushalte. Die Familie drängt zur Therapie. Eine Erklärung für das Symptom haben im ersten Gespräch weder die Eltern noch der Betroffene selbst. Eine „Butter-Phobie“ im Rahmen einer Essstörung oder einer Besorgnis um Cholesterinwerte lässt sich rasch ausscheiden. Dem Patienten wird eine diagnostische explorative Exposition in vivo mit Butter im Büro des Thera-
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
peuten, ohne Anwesenheit der Eltern, vorgeschlagen. Innerhalb einer halben Stunde des kontinuierlichen Anblickens und Berührens von Butter kommt starke Traurigkeit auf … es entstehen intensive Gedanken an die Oma, die vor einem Jahr verstarb … Oma liebte Butter (wie alle Familienmitglieder, auch der Patient selbst, bis zu Omas Tod) … Oma war im Familienverbund die mit Abstand vertrauteste Person für den Patienten gewesen … ihr Tod ein „unersätzlicher Verlust“. Die gleich nachfolgende diagnostische Exposition in sensu zu der Situation „Familie am Abendbrotstisch“ führt initial wieder zur Traurigkeit, die jedoch rasch in Gereiztheit und dann aggressive Gefühle umschlägt. Folgende vorläufige Hypothesen werden entwickelt: (a) Die intrapsychische Funktion der Butterphobie besteht in der Reduzierung der Konfrontation mit dem Tod der über alles geliebten Großmutter (Butter induziert Gedanken an die Großmutter). (b) Interaktionell ermöglicht die Butterphobie die Abreaktion von Aggressionen gegenüber den Eltern und möglicherweise auch Geschwistern. Die Tatsache, dass die Großmutter für den Patient die mit Abstand wichtigste Bezugsperson in der Familie gewesen war, spricht dafür, dass zu den übrigen Familienmitgliedern schon längere Zeit Spannungen bestanden haben, die durch die Ersatzbeziehung zur Großmutter aber familiendynamisch kompensiert wurden. Jetzt fehlt dieser „Puffer“, die entsprechenden Gefühle müssen neu kanalisiert werden. (c) Zusatzhypothese: Oma liebte die „gute Butter“ und schätzte sie, generationsspezifisch, ganz besonders; jetzt ist es pietätlos, weiter Butter zu essen, „als ob nichts geschehen wäre … wer so schnell wieder Butter isst, hat Oma nicht wirklich geliebt“. Aus diesen Hypothesen folgt die Abklärung, ob (a) im Einzelsetting die Nachverarbeitung des Todes
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
der Großmutter einen größeren Zeitraum benötigt und (b) nach Vertiefung der biografischen, insbesondere familien-biografischen Analyse gezielte verhaltenstherapeutische Familiensitzungen (im Sinne einer Einzeltherapie unter teilweiser Einbeziehung bedeutsamer Familienmitglieder) geplant werden sollten. Grundsätzlich ist natürlich zu fragen, ob so ein Problem gleich zu einer Richtlinien-VT führen sollte. Das Familiensystem ist symptomatisch destabilisiert, die Symptomatik kann aber noch als banal eingestuft werden. Für eine endgültige Entscheidung sollte die Klärung der o. a. Fragen im Rahmen der probatorischen Sitzungen vor einer Entscheidung erfolgen, da auch in der VT „hinter“ primär vorgetragener, einfach erscheinender Symptomatik „mehr stecken“ kann (s. u. Froschphobie oder „Rennruderboot-Phobie“). Leider konnte die weitere Entwicklung bei Erstellung des Buchtextes nicht mehr rekonstruiert werden. Beispiel 2. Glücksspielen als Provokation in der Mutterbeziehung: Eine Mutter erscheint mit ihrem 19-jährigen Sohn, damit dessen vor 3 Jahren begonnenes, zeitweise heftiges Spielen an „Daddelautomaten“ behandelt wird. Der Sohn hatte aber im zurückliegenden Jahr nur ein einziges Mal an Automaten gespielt. Am Tage des Erstgespräches war er allerdings morgens wieder 3 Stunden in eine Spielhalle gegangen. Worum geht es der Mutter und dem Patienten also wirklich? Aus der Biografie (die wichtigen Informationen kommen vom Patient erst, während die Mutter auf eigenen Vorschlag vorübergehend die Gesprächssituation verlassen hat): Im 5. Lebensjahr des Patienten Scheidung der Eltern, von der Mutter extrem schwer verarbeitet. Vom
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
Spielball-Hypothese
5. bis 11. Lebensjahr ist der Patient aus seiner Sicht „der engste Freund und Vertraute“ der Mutter. Dann Ehe der Mutter mit einem Mann, der zwei eigene Kinder mit in die Ehe brachte. Familienleben nach Angaben des Patienten danach eher positiv entwickelt. Dennoch habe die Mutter ihm konstant ein schlechtes Gewissen gemacht, als er ab der Pubertät seine neu entstehenden Freiheitsbedürfnisse mit Freunden habe ausleben wollen. Der ständige indirekte Druck der Mutter, ihr auch als Heranwachsender immer für die Besprechung ihrer Probleme zur Verfügung zu stehen, habe die „Faszination“ mit den Spielgeräten gefördert. Der erste Kontakt kam rein zufällig zustande, die Spielintensität nahm dann aber über 2 Jahre massiv zu. Der Mutter gegenüber verheimlichte er dieses wachsende Problem keineswegs. Dies umso mehr, als er es trotz seiner Minderjährigkeit geschafft hatte, bei der Bank seine gesamte Spareinlage nach und nach abzuheben, obwohl sein Sparbuch im Besitz der Mutter geblieben war. Schließlich sorgten die Mutter und der Stiefvater, zu dem ein guter Kontakt bestand, dafür, dass er für ein Jahr in ein Internat kam. Dort entwickelte er rasch wieder gute Kontakte zu Mitschülern. Nur ein einziges Mal spielte er an „Daddelautomaten“ – nach einer massiven Krisensituation im Internat. Dem Patient wird folgende „SpielballHypothese“ zugespielt: Das Spielen war eine „nichtgewusste“ Provokation. Erst durch diese gehemmtaggressive Kommunikation gelang es dem Patienten, aus der für ihn pathogenen Umarmung der Mutter herauszukommen und sogar ganztags mit Gleichaltrigen zusammen sein zu können. Zugleich konnte er aus der Ferne wahrnehmen, dass die Mutter auch ohne ihn überraschend gut zurechtkam und eine intensivere Beziehung zu ihrem neuen Ehemann entwickelte. Diese beiden Aspekte – Befriedigung eige-
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
ner Kontaktbedürfnisse mit Gleichaltrigen bei gleichzeitigem Abbau von Schuld- und Verpflichtungsgefühlen gegenüber der Mutter – werden ihm hypothetisch als entscheidender Faktor dafür vermittelt, dass er im Internat in einem Jahr nur ein einziges Mal – in einer interaktionellen Krisensituation – gespielt hatte. Der Patient reagiert mit deutlicher Vegetativsymptomatik auf diese Hypothese und fragt, ob „so was denn möglich ist“. Jetzt wird die Mutter in das Gespräch zurückgeholt. Sie weiß, dass das Spielverhalten ihres Sohnes seit der Aufnahme in das Internat praktisch sistierte. Sie hat dennoch dieses Erstgespräch gewollt, da der Sohn nach dem Abitur in Kürze an seinen ursprünglichen Wohnort zurückkehren wird und sie große Angst hat, dass das alte Problem dann wieder auftaucht. Beiden wird mitgeteilt, dass das Risiko sehr gering ist, wenn es ihnen gelingt, trotz dann wieder größerer räumlicher Nähe (wobei der Patient nicht wieder im Elternhaus wohnen wird) die im letzten Jahr positiv veränderte Mutter-Sohn-Beziehung so weiter zu führen. Der Spielrückfall am Morgen des Interviewtermines wird beiden als ein Warnsignal interpretiert: Die Mutter hatte (im Sinne eines Rückfalles in ihre alten Kommunikationsmuster mit dem Sohn) den Patient zu einem Verhalten „genötigt“, das er eigentlich nicht wollte (mit ihr zum Therapeuten zu gehen); der Sohn hatte (im Sinne eines Rückfalles) sein früheres provokatives Protestverhalten gezeigt – und damit der Mutter sogar „Recht gegeben“ bezüglich ihrer vorsorglichen Terminvereinbarung. Dem Patient wird aber ein Kommunikationstraining in einer gemischt-geschlechtlichen Gruppe angeboten, das er auch annimmt. Sein gehemmtaggressiver Umgangsstil mit der Mutter – aus Angst, vereinnahmt zu werden und sich „nicht mit gutem
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Kommunikationstraining
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Gewissen entziehen“ zu können – hatte sich nämlich in einer Freundinnenbeziehung fast identisch gezeigt: Es war eine intensive Beziehung über ein Jahr, in deren letztem Drittel der Patient „eigentlich keine Lust mehr“ gehabt hatte. Andeutungen von Trennungsabsichten führten zu erheblichen Stimmungseinbrüchen bei der Freundin, so dass er sich schließlich nicht mehr traute, eine Trennung anzusprechen. Daraufhin entwickelte er ausgesprochen provokante Verhaltensweisen, um sie zum Gehen zu bewegen: u. a. mit sexuellen Kurzbeziehungen zu anderen Mädchen, die er ihr mitteilte, „und auch auf andere fiese Weise“. Schließlich habe ihn die Freundin dann ohne Traurigkeit, sondern eher wütend, verlassen. Er kann nicht angeben, warum er die Beziehung nicht angemessener auflösen konnte. Bei dem Hinweis auf Parallelen zu seiner Umgangsweise mit der Mutter reagiert er wieder stark vegetativ. An dem Kommunikationstraining will er jetzt teilnehmen, obwohl er mit Freunden so ein Kommunikationsproblem bisher nicht hatte. Die Mutter reagiert sehr erleichtert und signalisiert selbst kein weiteres Bedürfnis nach Hilfestellung. Diese Darstellung ist ein Ausschnitt aus einem prototypischen Erstgespräch bei Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen mit pathologischem Glücksspielverhalten und noch bestehender Einbindung in das Familiensystem. Bei etwa einem Drittel unserer Therapien mit pathologischen Glücksspielern fanden lediglich 1 oder 2 Sitzungen mit den Betroffenen alleine oder im Familiensetting statt. Sie führten „zur Auflösung des Knotens“, und die Betroffenen zeigten Jahre später in unseren Katamnesestudien überwiegend stabile asymptomatische Weiterentwicklungen (zusammengefasst bei Hand, 2004).
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
Problematisches Glücksspielen stellt gar nicht selten ein gehemmt-aggressives Kommunikationsmuster auch in Partnerschaften dar – teils als akutes Fluchtverhalten, oft aber auch als „nicht-gewusste Provokation“ inszeniert. Dazu noch ein weiteres Beispiel.
Beispiel 3. „Spiel-Durchbruch“ als Wut-Ausbruch in der Paarbeziehung: Ein 40-jähriger Geschäftsmann erscheint, „weil meine Frau mich geschickt hat“, nachdem er bei zwei „Spieldurchbrüchen“ insgesamt 9.000 Euro im Casino verloren und dies seiner Frau umgehend mitgeteilt hatte. Seine Frau sei der Meinung, dass er Spieler sei; er selbst habe überhaupt nicht diesen Eindruck. Warum erscheint er dann? Sicher nicht, weil seine Frau ihn geschickt hat! Was belastet ihn wirklich so, dass er „sich schicken lässt“? Mit einer gewährenden Gesprächsführung gelingt in einer Sitzung der Zugang zum Patienten. Aus der Biografie: Eine 20-jährige Ehe ging vor wenigen Jahren mit sehr viel Schmerz für den Patienten zu Ende. Er liebe seine Frau immer noch, auch seine beiden Kinder. Seine Frau habe ihn aber mehrfach betrogen, so dass eine Vertrauensbeziehung nicht mehr herstellbar gewesen sei. Nach außen habe er sich über eine „Flucht in den Beruf“ stabilisiert. Schon während der Ehe habe er gelegentlich Casinos besucht, „aber immer nur auf einfache Chancen gesetzt“, nie schmerzliche Verluste erlitten. Nach der Trennung habe er rasch seine jetzige Ehefrau kennengelernt. Sie habe frühzeitig auf Eheschließung gedrängt, er habe sich dafür überhaupt noch nicht reif gefühlt. Die neue Partnerin habe jedoch aufgrund seiner passiven Depressivität sehr aktiv in seine Le-
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Exposition in sensu
bensführung eingreifen können, ihn „eingefangen in die Ehe“ und eine Reihe weiterer, von ihm nicht unbedingt gewollter Veränderungen in seinem Leben durchgesetzt. Er habe sich zunehmend eingeengt gefühlt. Schließlich kommen immer deutlicher Aggressionen gegenüber der jetzigen Ehefrau zum Ausdruck – sowie eine tiefe Enttäuschung über sich selbst, „dass ich mich schon wieder von einer Frau abhängig mache“. Ihm wird vorgeschlagen, die Wut einfach da sein zu lassen und in sich hineinzulauschen, was die Wut ihm vielleicht noch mitteilen will (Exposition in sensu). Wenig später berichtet er hochgradig affektbesetzt sein erstes tief kränkendes Erlebnis mit der jetzigen Ehefrau: Noch in der Frühzeit der Beziehung habe man ein gemeinsames Wochenende in seinem Hause geplant gehabt. Überraschend habe sich dann seine geschiedene Frau gemeldet und ihn dringlich gebeten, den Sohn für das Wochenende zu sich zu nehmen. Da er zu dem Sohn noch eine enge Beziehung gehabt habe, habe er gleich zugesagt. Als dann seine jetzige Ehefrau eingetroffen sei, habe sie einen regelrechten Wutanfall über die Anwesenheit seines Sohnes bekommen und ihn in Anwesenheit des Sohnes aufgefordert, diesen sofort zu der geschiedenen Frau zurückzubringen. Er sei heute stolz auf sich, dass er damals habe hart bleiben können und die Ehefrau vor die Wahl gestellt habe, entweder die Anwesenheit des Sohnes zu akzeptieren oder selbst in ihre Wohnung zurückzufahren. Sie sei dann wütend abgereist. Der Sohn habe daraufhin „sehr bitterlich geweint“, da er sich als Ursache des Streites vom Vater und dessen neuer Ehefrau gesehen habe. Dieses Erlebnis habe ihn zutiefst gekränkt. Er habe es vorher nicht für möglich gehalten, dass seine Frau eine derartige Härte zeigen könne. Nach diesem Erlebnis habe der Sohn sich verunsichert immer wei-
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ter zurückgezogen – was ihm heute noch sehr weh tue und auch Schuldgefühle mache. Die „Spieldurchbrüche“ begannen, nachdem sich im Patient immer mehr eine nicht ausgesprochene Aggression gegenüber der jetzigen Partnerin aufgebaut hatte. Eines Abends ging er ins Casino, setzte zum ersten Mal in seinem Leben bewusst risikoreich und verlor. Am nächsten Tag empfand er den unwiderstehlichen Drang, den Verlust durch erneutes Glücksspielen ausgleichen zu müssen. Da er selbst gerade kein Bargeld mehr dafür zur Verfügung hatte, lieh er sich das Geld von seiner Frau – mit offener Darlegung, wofür er dieses nutzen wollte – obwohl der Patient das Geld mühelos am gleichen Tage von seinem gut gefüllten Konto hätte abheben können. Die geliehene Summe verspielte er wenige Stunden später. Die Ehefrau machte sich nach heftigem Streit dann zielstrebig über „Spielsucht“ kundig und besorgte den Termin zu diesem Erstgespräch – damit ihr Mann wieder so werde, wie er vorher war! Der Patient hatte anfänglich kein Erklärungsmodell dafür, weshalb es zu diesen beiden völlig aus dem Rahmen seines sonstigen (Spiel-)Verhaltens fallenden Durchbrüchen kam. Nach Rekapitulation der Beziehungserlebnisse in den letzten Jahren kann er aber den „Spielball“ annehmen, dass er so gehandelt hat mit der „nicht-gewussten Intention“, sich für die aufgestauten Kränkungen (insbesondere auch bezüglich der Beziehung zu seinem Sohn) und „Entmannungen“ zu rächen. Möglicherweise wolle er „nichtgewusst“ durch das sehr provokative Verspielen des geliehenen Geldes auch auf eine Trennung hinarbeiten. Der Patient reagiert tief betroffen und stellt dann die Frage, ob er sich aus diesen neuen Erkenntnissen heraus nicht vorerst einmal von seiner Frau trennen müsse. Dem Patient wird als Alternative eine weniger
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Rollenverhalten in Konfliktsituationen
Strategie der Integration systemischer Aspekte
krasse Verhaltensänderung gegenüber seiner Frau vorgeschlagen: in der Beziehung sein bisheriges Rollenverhalten in Konfliktsituationen (unter teilweiser Einbeziehung der Ehefrau in eine Therapie) zu ändern; dies sei ja gegebenenfalls auch für zukünftige neue Beziehungen wichtig. Welche Konsequenzen sich – mit oder ohne Therapie – aus diesem Gespräch ergaben, hat der Patient, der von weit her gekommen war, nicht rückgemeldet.
Beispiel 4. „Knall-Phobie“ – nach „BeziehungsKnall“?:
Selbst-Exposition in vivo
Eine Patientin mit einer seit Jahren bestehenden, wechselnd ausgeprägten und aktuell privat wie beruflich sehr beeinträchtigenden „Knall-Phobie“ berichtet im Erstgespräch einen sie irritierenden Emotionswechsel während einer spontanen Selbst-Exposition in vivo. Knall- oder knallähnliche Geräusche lösten bei ihr Angstattacken bis hin zu massiven Panikzuständen aus; schon die Erwartung eines Knalles versetze sie in die höchste Alarmstufe. Kürzlich habe ihr kleiner Sohn von einer guten Bekannten – die von ihrer Phobie gewusst habe (!) – zum Geburtstag zwei Dutzend Luftballons erhalten, die dann alle im Kinderzimmer herumschwebten. Sie habe dann permanent Angst vor den zu erwartenden Knallgeräuschen gehabt, teils aber auch Ärger gegenüber der Bekannten wegen des Geschenkes empfunden (ihr gegenüber aber völlig überspielt). Als sie dann einmal alleine in der Wohnung gewesen sei, habe sie das Zimmer mit den Luftballons betreten, „um sie zu beseitigen und dann keine Angst mehr haben zu müssen“. Während sie einen nach dem anderen mit einer Nadel zum Platzen brachte, kippte die anfängliche Angst zunehmend in aggressive Gefühle um. Die
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
letzten Luftballons habe sie „regelrecht in einem Wutrausch abgestochen“. Die Patientin machte dann sehr deutlich, dass sie in ihrer aktuellen Lebenssituation vorerst nur eine Symptomtherapie machen wolle, obwohl sie es für möglich halte, „dass mehr dahinter stecken könnte“. Aus ethischen Gründen musste dann aber vor einer Symptom-Exposition – allein aus dem Ablauf der Selbst-Exposition – folgender „informed consent“ eingeholt werden: Die Erfahrung, dass ihre Angst in der Selbstexposition in heftige Aggression bis hin zu „Mordlust“ („Abstechen“) umgeschlagen war, ließe sich zum einen mit der vorher „gedeckelten“ Wut auf die Schenkerin der Luftballons (auch noch andere Gründe für Aggressionen ihr gegenüber?) erklären, auch wenn ihr dies während der Zerstörung der Luftballons nicht bewusst gewesen sei. Die zum Ausbruch gekommene Aggression könnte aber auch bzw. zusätzlich aus jener Zeit herrühren, zu der die Phobie entstanden sei. Wenn wir nun eine Therapeutenbegleitete Exposition machten, so könnte die Angst wieder in Aggression umschlagen. Dann würden bei Fortsetzung der Übung möglicherweise weitere Gedanken/Erinnerungen im Zusammenhang mit diesem Gefühl hochkommen. Wir könnten jetzt nicht abschätzen, wieweit diese dann gegenwarts- oder vergangenheitsbezogen sein würden. In jedem Falle würde es aber wohl um Beziehungserfahrungen gehen. Die Frage, ob sie sich im Rahmen einer Expositionsbehandlung auf dieses Risiko einlassen wolle/ könne, bejahte die Patientin spontan. Etwas später wollte sie sich dann „vorläufig“ lieber doch nicht darauf einlassen. Machen wir mit diesem Vorgehen Patienten zu viel Angst vor einer Symptom-Exposition? Oder handeln wir unethisch, wenn wir sie trotz des erkenn-
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Informed consent
Zu viel Angst vor einer Symptom-Exposition
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baren Risikos darauf nicht hinweisen? Auch bei dieser Patientin gilt u. E. ganz klar Letzteres – zumal die scheinbar erfolgreiche Selbstexposition mit Vernichtung der Luftballons keinen Generalisierungseffekt in das Alltagsleben nach sich gezogen und auch die bisherige Exploration schon Hinweise auf frühe interaktionelle Verletzungen ergeben hatte. Mit diesem Beispiel sollen Therapeuten keineswegs bezüglich der Anwendung der Exposition verunsichert werden. Die meisten Expositionssitzungen führen nicht zur Reaktivierung eines Gedächtnisses für frühere interaktionelle „Traumata“. Ganz selten ist ein entsprechendes Geschehen allerdings auch nicht – und nicht immer kann man es so deutlich erwarten, wie bei dieser Patientin. Dann haben Patienten aber auch das Recht zu erfahren, worauf sie sich (möglicherweise) einlassen würden, um informiert entscheiden zu können, ob sie das dann auch wollen.
Beispiel 5. Versagende Beine – bei versiegender Beziehung?: Eine junge Unternehmerin, verheiratet, mit zwei kleinen Kindern, kommt wegen in letzter Zeit wiederholt auftretender Lähmungsgefühle in den Beinen – und nach ergebnisloser Durchuntersuchung in einer neurologischen Klinik – aufgrund dortiger Empfehlung zögerlich zur weiteren Abklärung in die Verhaltenstherapie. Die biografische Analyse lässt bis zum Kennenlernen des Ehemannes keine Auffälligkeiten erkennen. Das Paar lernte sich auf einer Laufveranstaltung kennen, die die „Genuss-Joggerin“ aus Neugierde mitmachte, ihr zukünftiger Partner als
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
leistungsorientierter Langstreckenläufer. Rasch entdeckte man gemeinsame Freude am Laufen und am Zusammensein. Die Beziehung verfestigte sich, man heiratete, bald kam das erste Kind. Die Entwicklung des Laufens spiegelte nun möglicherweise die Entwicklung der Paarbeziehung wider. Der Ehemann begann jetzt nämlich ein systematisches Training für Marathonläufe; die Patientin konnte und wollte nicht mithalten, man lief nun zunehmend getrennt und mit ganz unterschiedlichem Zeitaufwand. Nach der Geburt des zweiten Kindes begann der Ehemann, seine Trainingseinheiten in der Freizeit massiv auszuweiten, nun mit dem Ziel, im Triathlon gute Ergebnisse zu erzielen. Kurze Zeit später stellte die Patientin „Lähmungserscheinungen“ in den Beinen beim nunmehr alleinigen Joggen fest. Sie traute sich gar nicht mehr zu laufen und wurde schließlich auch bei alltäglichen Besorgungen von den Beinen her verunsichert. Dies führte dann zur neurologischen Diagnostik ohne pathologischen Befund. Gemeinsame Freizeitaktivitäten fanden inzwischen aus Zeitmangel des Ehemannes kaum noch statt. Die Patientin äußerte aber keinerlei Ärger über diese Entwicklung des Paar- und Familienlebens. Eine „Spielball-Hypothese“ (s. o.) über mögliche Zusammenhänge zwischen Symptom- und Beziehungsentwicklung wird ihr zugespielt: „Ihre Beine mögen nicht mehr laufen, da Ihr Laufen und Ihr Leben so einsam geworden sind, seit Ihr Partner aus der zunehmenden Familienverantwortung immer öfter und länger wegläuft. Gemeinsames Laufen war aber der Beginn des gemeinsamen Lebens. Wollen die Beine Sie jetzt vielleicht auf etwas hinweisen, das Ihr Herz noch nicht wahrnehmen mag? … Oder ist das kränkende Fantasie eines Psychotherapeuten – und sollte nicht besser die neurologische Diagnostik fortgesetzt werden?“ Die Pati-
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Spielball-Hypothese
Kränkende Fantasie eines Psychotherapeuten?
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entin kann die Hypothese nicht wirklich annehmen, stimmt aber einem weiteren Termin zu – den sie dann nicht wahrnimmt. Vielleicht war die Konfrontation mit der Hypothese zu früh und zu heftig? Wurde angesichts des bis dahin guten Gesprächsverlaufes die Belastbarkeit der Patientin überschätzt? Vielleicht war die Hypothese aber auch einfach nur falsch! Ein Beispiel für „falschen Alarm“ mag das Folgende sein. Beispiel 6. „Frosch-Phobie“ – falscher systemischer Alarm:
Vaterproblematik
Eine auf dem Lande lebende Frau mit einer FroschPhobie kam mit dringlichem Therapiewunsch, nachdem ihre Lebensführung in den „Frosch-Zeiten“ des Jahres inzwischen massiv eingeschränkt war und sie wegen eines hüpfenden Frosches von einem Gehweg fast vor ein Auto gesprungen wäre. In den probatorischen Sitzungen gab sie auf die Frage nach kognitivemotionalen Reaktionen auf den Anblick von Bildern von Fröschen (nicht Kröten!) an, dabei „an die Haut meines Vaters zu denken“. Die diesbezüglich eingehende Exploration ergab einen länger bestehenden emotionalen Konflikt zwischen der Patientin und ihrer Mutter einerseits und dem Vater andererseits – aber keine Bestätigung weitergehender Hypothesen zur Tochter-Vater-Beziehung! Die Patientin hatte bereits eine Therapie mit „Familienaufstellung“ erhalten – ohne Effekt auf den Konflikt und die Phobie. Die Vaterproblematik wurde in der Therapie bei uns nicht bearbeitet. Unmittelbar Symptom-relevant war aber, dass der Vater der Patientin im Alter von 3 Jahren einen aufziehbaren Blechfrosch geschenkt hatte, dessen rasselndes Hüpfen sie extrem erschreckte und verängstigte, worauf der Vater völlig unsensibel re-
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
agiert habe! Wunschgemäß erhielt die Patientin massierte Symptomtherapie mithilfe erst eines, dann mehrerer lebender Frösche. Sie erfuhr in drei jeweils vierstündigen Expositionssitzungen (an drei aufeinanderfolgenden Tagen zur massiven Löschung der phobischen Reaktionsmuster in der Psyche wie im Gehirn) mit einer Weiterbildungstherapeutin beglückt einen vollständigen Symptomabbau. Sie berichtete dann spontan, zum Vater dabei eine deutlich verständnisvollere Einstellung gefunden zu haben! Warum trat dieser Effekt während oder nach der Symptom-Exposition – und nicht in der vorangegangenen konfliktspezifischen Therapie – ein? Die Patientin konnte es sich und uns nicht erklären – Therapeuten haben vermutlich unterschiedliche Erklärungen.
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Drei Expositionssitzungen
Vollständiger Symptomabbau
Auch bei einer Frosch-Phobie kann grundsätzlich hinterfragt werden, ob sie eine kassenfinanzierte VT rechtfertigt. In diesem Falle wäre die Alternative mit einiger Wahrscheinlichkeit zu einem späteren Zeitpunkt die Behandlung in der Chirurgie gewesen (kleine Phobie – große Wirkung).
Beispiel 7. Höhenphobie: Systemische Funktion? „Inkubation“? oder? – Ein Hypothesenpuzzle: Der in einem Hochhaus lebende Lehrer an einer Schule mit etlichen Etagen klagt über erhebliche Behinderungen zu Hause und bei der Arbeit durch eine Höhenphobie. Die Exploration ergibt: Die Höhenphobie besteht „schon immer“, seit vielen Jahren auch fährt der Patient jährlich mit einer Freundesgruppe in die Alpen zum Bergwandern! Die Exazerbation geschah vor einigen Monaten, kurz nach der letzten Bergwanderung mit den Freunden. Die orientierende
Kleine Phobie – große Wirkung
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biografische Analyse ergibt keine Auffälligkeiten von psychopathologischem Wert. Die Höhenphobie war bisher im Alltagsleben und beim Bergwandern wenig behindernd gewesen, ein Leidensdruck hatte nicht bestanden. Dann kommt eine Information im Nebensatz: Als der Patient zur jüngsten Bergwanderung aufbrach, blieb die Ehefrau, hochschwanger mit dem ersten Kind, zu Hause zurück! Interaktionelle Spielball-Hypothese: Die Ehefrau war/ist wütend/traurig wegen dieser Unsensibilität des Ehemannes; er bekommt Schuldgefühle während/nach der Wanderung, die Phobieveranlagung wird dadurch massiv getriggert (auch als zukünftiger Schutz, eine solche „Untat“ nie zu wiederholen?). Dann eine weitere Information im Nebensatz: Bei allen bisherigen Bergwanderungen ging die Gruppe immer auf dem Weg nach oben, auf dem auch der Abstieg erfolgte – so konnte der Patient in der Vergangenheit gelegentlich kleine Umwege durchsetzen, um allzu bedrohliche Streckenabschnitte zu vermeiden. Diesmal erfolgte der „Aufstieg“ mit einer Seilbahn. Der Wanderweg zurück sei einigen Freunden schon bekannt gewesen, ihm nicht. Dabei ergaben sich dann einige unvermeidbare Abschnitte, die für den Patient extrem angstauslösend waren. Der Patient deutet vorsichtig an, die Freunde hätten ihm diesen Abstieg nicht zumuten sollen – negiert aber auf Nachfrage jeglichen Ärger über die Freunde. Zweite interaktionelle Spielball-Hypothese: Der aus (seiner Sicht) schwere Vertrauensbruch der Freunde (es hatte ihn ja keiner vorgewarnt), das Gefühl, mit einer Schwäche vielleicht sogar „vorgeführt“ worden zu sein, an Status verloren zu haben, führt zu Verunsicherung hinsichtlich weiterer Gruppenkontakte – und triggert die Phobie.
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
Oder: Ist dies alles nur unnütze Spekulation? Ist die klassische lerntheoretische Hypothese viel zutreffender? Ein psycho-physiologischer Locus minoris resistentiae wurde durch das völlig überraschende traumatische Abstiegserlebnis getriggert und auf ein anhaltend höheres Niveau gehoben (Konzept der „Inkubation“ durch wiederholte, kurzzeitig getriggerte Extremangst ohne Habituationsmöglichkeit). Und: Die drei Spielball-Hypothesen schließen sich nicht gegenseitig aus! Der Patient verwarf ohne zu zögern die beiden interaktionellen Hypothesen. Er wählte die alleinige Expositionstherapie in der heftigsten, der Flooding- Variante. Er erreichte gute Habituation in der jeweiligen Übungssituation, entwickelte aber immer wieder erhöhte Angst am Beginn neuer Übungssituationen. Im Alltagsleben trat recht rasch eine mittlere Symptomreduktion ein. Erst der weitere Verlauf wird zeigen, ob die systemischen Hypothesen noch Therapierelevanz erhalten. Sollte die reine Exposition nur begrenzte Effekte auf das Alltagsleben bringen, wären die beiden ersten „Bälle wieder ins Spiel“ zu bringen – aber auch noch neue zu suchen, z. B.: Die im letzten Jahr stark gestiegene Stressbelastung – 14–16-stündige Arbeitstage, 5-mal pro Woche – und die Zunahme an Verantwortlichkeit durch Familiengründung haben zu einem anhaltend erhöhten psycho-physiologischen Spannungsniveau geführt und die unbedingt gewünschte massierte Exposition „setzte dem noch eins drauf“, zumal zwischen den Therapiesitzungen aus Zeitmangel nicht adäquat weitergeübt werden konnte, um zunehmende Habituation zu erreichen. Während dieser Patient also die systemisch orientierten Hypothesen völlig verwarf und von der Symptomtherapie vorerst relativ gut profitierte, hatte
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Klassische lerntheoretische Hypothese
Expositionstherapie
Mittlere Symptomreduktion
Erhöhtes psycho-physiologisches Spannungsniveau
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die Patientin mit der „Knall-Phobie“ die systemische Hypothese akzeptiert und mochte sich deshalb weder auf eine Symptom- noch multimodale Verhaltenstherapie einlassen! Wenn wir als Therapeuten hypothesenabgeleitete Optionen (im kongruenten Interaktionsstil!) anbieten, dann müssen wir auch die unterschiedlichen Entscheidungen der Patienten akzeptieren und gegebenenfalls unterstützen – zumal wir die „Wahrheit“ ja auch nicht kennen, sondern nur Verständnismodelle anbieten, von denen wir hoffen, dass sie den Patienten zu einer „restauration of morale“ (Frank, 1974) aktivieren und befähigen (s. dazu noch mehrere der nachfolgenden Beispiele).
5.2.2.2.1 Zwei Beispiele für „Schlüssel-Schloss“Dyaden Wenn zwei Menschen sich in ihren Defiziten und Ängsten einerseits kompensatorisch ergänzen und andererseits aufgrund ihrer Defizite, ihres Verschiedenseins bzw. ihrer Persönlichkeit (Persönlichkeitsakzentuierungen oder -störungen) nicht wirklich miteinander leben können, stoßen wir in der Verhaltenstherapie immer wieder an unsere Grenzen (s. Kap. 5.2.2.4, Beispiel 2). Die folgenden beiden Beispiele zeigen, wie bereits im Erstgespräch deutlich wurde, dass der zum Therapeuten kommende Partner sich vielleicht einmal „aussprechen“, aber (noch) keine Veränderung einleiten wollte. Das soll keineswegs die Möglichkeit ausschließen, dass andere Therapeuten mit anderen Vorgehensweisen vielleicht doch ein „Andocken“ erreicht hätten – und somit den Leser dazu anregen, alternative Vorgehensweisen zu überlegen!
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
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Beispiel 8: Herr Ch. gibt im Erstgespräch zwei grundsätzliche Probleme an, nämlich eine seit 2 Jahren bestehende schwere Ehekrise (nach Kennenlernen vor 5 Jahren) und zweitens das „übergeordnete“ Problem, dass er sich generell Frauen gegenüber nicht durchsetzen könne und rasch ausgenutzt werde. Er habe inzwischen erkannt, dass sein „Sich-zur-Verfügung-Stellen“ sein primäres Problem sei. Diese Einsicht hätte aber „zu nichts geführt“. Stattdessen schlafe er immer schlechter, habe eine Gastritis (wie seine Mutter) bekommen und ziehe sich immer mehr aus dem Bekanntenkreis zurück. Er habe an nichts mehr Freude. Wenn er wieder gesund werden wolle, müsse er wohl erst sein Verhalten gegenüber Frauen grundsätzlich ändern – und dann auch eine Entscheidung über seine Ehe treffen. Der Patient führt sein Beziehungsproblem auf die sehr autoritäre Erziehung durch seine Mutter zurück, die ihn in der Kindheit durch Strenge und später durch Drohungen mit Krankheitssymptomen gefügig gehalten habe. Seine Frau sei umgekehrt in einer pathologischen Vaterbeziehung groß geworden. Ihre Gesamtfamilie sei „hoch neurotisch“, seine Frau habe bei eskalierenden Ehekrisen bereits Suizidversuche unternommen. Er fühle sich mittlerweile wehrlos den Anforderungen seiner Mutter einerseits und der Ehefrau andererseits ausgeliefert (wieder eine „Sandwich-Position“) und stehe unmittelbar vor einem völligen Zusammenbruch. Die Mutter könne seine Frau nicht ausstehen, habe ihm die Scheidung nahegelegt und anderenfalls Enterbung angedroht. Das wiederum habe ihn in seinem Stolz gekränkt und geradezu zur Loyalität seiner Frau gegenüber gezwungen. Versuche er, mit seiner Mutter die Beziehungsprobleme anzusprechen, so drohe die Mutter sofort mit Rückfällen von Gastritis oder Ulcus. Der
Sandwich-Position
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
Vater verlange dann von ihm, das Thema zu wechseln. Versuche er, seine Frau zu verlassen, so drohe sie mit Selbstmord. Auch in früheren kürzeren Frauenbeziehungen habe er schon die Tendenz gehabt, sich schnell „unterbuttern“ zu lassen. Im Bereich der sexuellen Beziehung wird die Störung der Partnerschaft dann ebenfalls deutlich. Er habe in letzter Zeit wiederholt versucht, sein Selbstwertgefühl über außereheliche sexuelle Beziehungen zu verbessern. Dies auch deshalb, da seine Frau ihm immer wieder „sadistisch“ klarmache, dass sie frigide sei – wohl wissend, dass für ihn selbst die Sexualität mit ihr äußerst befriedigend sei. Er habe sehen wollen, ob er nicht auch mit anderen Frauen befriedigende sexuelle Kontakte haben könne, um von seiner Frau unabhängiger und weniger gedemütigt zu werden. Leider sei er mit neuen Partnerinnen sehr rasch in die gleiche Situation gekommen. Nachdem er seiner Ehefrau diese Erlebnisse berichtet habe, sei sie ebenfalls außereheliche Beziehungen eingegangen und habe ihm, wiederum „sadistisch“, Einzelheiten darüber berichtet. Dem Patient werden folgende mögliche Interventionen vorgestellt: Aufarbeitung der Mutterproblematik, ohne deren Einbeziehung in die Therapie, über eine tiefenpsychologische oder analytische Therapie; Veränderung der Sohn-Mutter-Beziehung im Hier und Jetzt in einer gemeinsamen Sohn-Mutter-Verhaltenstherapie; alleinige Verhaltenstherapie für ihn, um ihn handlungsfähiger gegenüber seiner Frau zu machen, mit dem Risiko neuer appellativer Selbstmordversuche; eine Paarberatung zusammen mit seiner Frau – mit gemeinsamer Klärung, in welche Richtung jeder sich selbst und den jeweils anderen verändern möchte (s. Kap. 4.2 und 4.3.5). Er glaube, seiner Frau gegenüber ambivalent zu sein, und nehme an, dass diese eindeutig keine Tren-
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
nung wolle. Beides, wie auch sein mehrfach geäußerter Veränderungswunsch, sich von Frauen nicht „unterbuttern“ zu lassen, sei aber zu überprüfen. Zumindest im sexuellen Bereich scheine er die Beziehung doch sehr zu genießen. Ob er von einer Einzeltherapie oder beide von einer Paarberatung profitieren könnten, ließe sich nur in einem gemeinsamen Gespräch klären. Ein entsprechender Termin wird vereinbart – aber nicht wahrgenommen. Hätte ein individualpsychologisches Vorgehen ein „besseres“ Ergebnis erbracht (eine Krankheitssymptomatik im Sinne der Richtlinien lag ja vor!) – oder zu erfolgloser Langzeittherapie geführt? Wer weiß die Antwort?
Beispiel 9: Frau M. wird von der Vorbehandlerin mit folgenden Informationen angekündigt: Die Patientin sei aufgrund ihres chronischen Alkoholabusus und ihrer jetzt bestehenden Pankreatitis vital bedroht. Sie habe keine Überlebenschance, wenn sie nach Entlassung aus der Klinik in dem bisherigen Maße weitertrinke. Der Ehemann sei chronischer Alkoholiker, jedoch daran bisher weder körperlich noch sozial dekompensiert. Ihm könne man wegen seines Alters und der jahrzehntelangen Gewöhnung den Alkohol nicht mehr entziehen. Eine Therapie solle daher nur den Alkoholkonsum der Ehefrau beenden oder zumindest reduzieren. Die Patientin wird von ihrer Therapeutin zu dem ambulanten Erstgespräch gebracht! Sie erscheint in deutlich angetrunkenem Zustand und stellt sich selbst als „unheilbare Alkoholikerin“, „Hysterikerin“ u. ä. vor. Sie wechselt stark zwischen freundlicher Neugierde dem Therapeuten gegenüber und massiver Gereiztheit. Versucht sie, aus Angst vor dem, was in der Therapie auf sie zukommen könnte, vordergrün-
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Paarberatung
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Rolle der Alkoholikerin
dig den Therapeuten zu provozieren, sie hinauszuwerfen, um so die mögliche eigene Ambivalenz hinsichtlich einer Therapie rasch zu reduzieren? In dem Maße, wie der Therapeut darauf nicht reagiert, sondern ihre kurzen konstruktiven Gesprächspassagen positiv verstärkt, ändert sich das Verhalten der Patientin trotz des unüberriechbaren Alkoholisierungsgrades. Sie wird in der zweiten Gesprächshälfte zugewendet, ruhig und durchaus problemorientiert. Kann die Patientin ihre Rolle der Alkoholikerin z. T. nach Bedarf einsetzen? In dem einstündigen Gespräch ergibt sich, dass die 40-jährige Patientin seit 20 Jahren mit einem heute 65-jährigen, früher beruflich sehr erfolgreichen Mann verheiratet ist. Die gemeinsame 20-jährige Tochter lebt noch in der Familie. Die Patientin sieht sowohl im Ehemann wie bei der Tochter „geniale“ Persönlichkeitszüge, für deren Förderung sie sich aufopfert. Menschlich ist sie von beiden tief enttäuscht. Sie bricht Streitgespräche darüber jeweils durch Alkoholkonsum ab. Der Ehemann ist seit über 2 Jahrzehnten Alkoholiker. Er war dadurch aber weder im Berufsleben noch sonst sozial auffällig. Medizinisch seien auch noch keine Schäden nachgewiesen worden. Die Patientin selbst ist auch schon seit vielen Jahren alkoholabhängig. Sie musste wegen körperlicher Risikofaktoren bereits mehrfach Entzugsbehandlungen machen und war jetzt erst vor wenigen Tagen, nach einer schweren Pankreatitis, aus stationärer Behandlung entlassen worden. Offensichtlich ist sie bereits jetzt rückfällig. Die häusliche Dynamik stellt sich so dar, dass die Klagen der Patientin bei unterschiedlichen Ärzten mehrfach dazu geführt haben, dass diese den Ehemann zumindest vorübergehend in ein Pflegeheim bringen lassen wollten, um die Patientin zu entlasten. Dies führte jeweils zu aggressiven Gegenreaktionen der Patientin. So provozierte
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
sie immer neue Hilfsangebote, die sie dann sofort wieder aggressiv ablehnte. Bezüglich ihrer Beziehung zu ihrem Mann spricht sie von einem „Vaterkomplex“, aus dem heraus sie ihren Mann geheiratet habe. Sie habe zu dem Vater immer eine sehr enge Beziehung gehabt, diesen grenzenlos bewundert. Der Vater habe 4 Ehen geführt, die letzte mit einer wesentlich jüngeren Frau (!). Sie meint, ihren Mann anstelle des nicht erreichbaren Vaters geheiratet zu haben. Als „Genie“ bewundere sie noch jetzt ihren Mann, ebenso wie sie ihren Vater deshalb bewundert habe. Ihre Aggressionen gegen die „emotionale Unterentwicklung“ des Mannes und der Tochter ertränke sie deshalb fortwährend mit Alkohol. Die Patientin macht dann deutlich, dass sie das aktuelle Ansinnen der behandelnden Ärzte als unrealistisch ablehne: Sie sei beauftragt worden, sich „zusammenzureißen“ im Hinblick auf ihren Alkoholkonsum, zugleich aber den des Ehemannes mit kontrollierter Dosierung sicherzustellen. Letzteres sei gegenüber dem Ehemann, einem „Tyrannen“, jedoch nicht möglich, er setze immer seinen Willen durch. Sie sei völlig überfordert mit dieser Situation und könne auch selbst – wenn ihre Depression, Verzweiflung oder Aggression überhandnehme – nicht ohne Alkohol leben. Sie könne jedoch auch nicht dafür plädieren, dem Ehemann den Alkohol zu nehmen, da sie dann aufgrund des für diese Situation vorausgesagten baldigen Ablebens des Ehemannes unerträgliche Schuldgefühle bekommen würde. Sie könne auch nicht zu ihrer eigenen Genesung in eine längere Entzugsbehandlung gehen, da der Ehemann dann innerhalb weniger Tage dekompensieren und in eine Klinik oder ein Heim kommen würde. Auch das könne sie auf gar keinen Fall zulassen. Bei ihren bisherigen stationären internistischen Behandlungen sei der Ehemann gleich-
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Vaterkomplex
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
zeitig in eine andere Abteilung oder Klinik aufgenommen worden. Dies gehe zukünftig aus versicherungstechnischen Gründen nicht mehr. Die Patientin ist sich am Ende des Gespräches über ihre Doublebind-Botschaften durchaus im Klaren: „Hilfe, ich komme mit der Situation nicht mehr zurecht – verändert aber auf gar keinen Fall mich, meinen Mann und die Situation.“ Einen weiteren Gesprächstermin nimmt die Patientin dankend an – aber nicht wahr. Solche „Schlüssel-Schloss“-Konstellationen, mit massiver Krankheitssymptomatik als Stabilisator, stellen Therapeuten immer vor die Frage, ob ein früher Verzicht der Betroffenen auf Therapie als Konsequenz probatorischer Sitzungen ethisch vertretbar ist oder ob dadurch nicht Betroffenen und Therapeuten zig vergebliche Therapiesitzungen erspart bleiben. Die Frage scheint mitunter einfach beantwortbar zu sein, in anderen Situationen sollten wir unser Vorgehen nur mit kollegialer Intervision klären.
5.2.2.3 Systemische Funktionsanalysen aus der Paar-/ Familien-Interaktion
Zwangssymptomatik
Das gemeinsame Gespräch mit dem designierten Patienten und dessen engsten Bezugspersonen bietet besondere Möglichkeiten der systemischen Funktionsdiagnostik. Ein Beispiel für diese Form der diagnostischen Hypothesenbildung haben wir bereits in Beispiel P2 gesehen (s. S. 64 ff): Das Paar kam mit seinem 7-jährigen Sohn aufgrund von dessen akuter Zwangssymptomatik in das Erstgespräch. Beide Eltern wirkten auffällig bedrückt und einsilbig. Nur bei Schilderung der Problematik des Sohnes entwickelten sie lebhafte Interaktion miteinander und mit dem The-
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
rapeuten. Diese Beobachtung führte relativ rasch zu der vorläufigen Hypothese, dass hier eine Störung in der Paar-, aber nicht notwendigerweise in der Elternrolle vorliegen könnte, mit den unmittelbar nachfolgenden diagnostischen Maßnahmen (s. S. 64 ff). Sehr viel auffälliger und für Therapeuten initial provokativer ist die folgende Konstellation: Ein etwa 40-jähriger Mann kommt mit seiner 20 Jahre jüngeren Verlobten in das Erstgespräch. Er übernimmt nach der Begrüßung sofort die Kontrolle über das Geschehen und schildert besorgt und lebhaft die von ihm schon so benannte „Erythrophobie“ seiner Partnerin (Beispiel P1, s. S. 63 f). Die Partnerin verhält sich eher scheu zurückhaltend, gelegentlich den Blickkontakt mit dem Therapeuten suchend. Die meisten sanften Versuche des Therapeuten, die Informationsgewinnung von dem Partner zur Patientin überzuleiten, werden vom Partner blockiert. Zumeist beantwortet er die an die Patientin gerichteten Fragen. Wird diese reale Erstinterviewsituation in der Therapeutenausbildung im Rollenspiel geübt, so emotionalisiert sie recht rasch alle Beteiligten, häufig mit dem Wunsch, dieses „Ekel rauszuschmeißen“. Die Gefahr einer solchen Intervention, auch wenn sie mit freundlichen Worten gelingen würde, besteht darin, dass der die Kontrolle über die Inhalte des Gespräches haltende Partner einen zweiten Termin mit der Patientin allein verhindern würde, da ihm dann ja jegliche Kontrolle entzogen würde. Der Therapeut muss also versuchen, hinter dem verbal-nonverbalen Dominanzverhalten des Partners dessen Nöte zu erahnen, ihn auf dieser Ebene zu akzeptieren, um z. B. einen systemisch ausgerichteten Behandlungsplan mit beiden zu entwickeln. Gänzlich unklar ist in dieser Situation ja auch noch, weshalb die attraktive junge Frau hinter der scheinbaren Helferrolle die versteckte
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Erythrophobie
Dominanzverhalten des Partners
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
Dominanz ihres deutlich älteren Partners akzeptiert (Lösungsansatz s. Kap. 5.2.2.3, Beispiel 2).
5.2.2.4 Systemische Funktionsanalysen aus der In-vivo-Diagnostik vor Expositionstherapie Bei Symptomverhalten, das in Paaren oder Familien die Verhaltensfreiräume der Partner oder anderen Familienmitglieder massiv einschränkt (z. B. Zwangsstörung), empfiehlt es sich, vor der Durchführung eines Therapieplanes, insbesondere einer In-vivoExposition, eine In-vivo-Diagnostiksitzung mit dem Paar/der Familie durchzuführen. Dabei werden oft therapierelevante Erkenntnisse gewonnen, die weder in den probatorischen Einzel- noch in den Paargesprächen zu eruieren waren. Beispiel 1. Putz- und Waschzwang als „Gegenzwang“ zum Sammelzwang des Partners:
Wasch- und Putzzwänge
Ein sich freundlich zugewandtes Ehepaar sucht Hilfe für ausufernde Wasch- und Putzzwänge der Ehefrau. Diese hatten in der Küche begonnen, waren dann in das Bad und schließlich auch den Hausflur „weiter gewandert“. Wenn alles so weitergehe, sei absehbar, wann auch das Wohn- und schließlich das Schlafzimmer „dran sind“. Eine Exposition im häuslichen Milieu wurde akzeptiert, ebenso eine gemeinsame Diagnostiksitzung vor der endgültigen Entscheidung über die Vorgehensweise bei der Exposition. Bei dem ersten Hausbesuch ergab sich dann das überraschende Bild, dass sich an den Wänden und auf den Schrankoberflächen im Wohn- wie Schlafzimmer hohe Stapel von Fach-Zeitschriften und -Büchern des Ehemannes fanden. Beide Räume erschienen den Therapeuten weitgehend zweckentfremdet. Beide Ehepartner hatten bis zu
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
diesem Zeitpunkt sowohl über diese Situation wie auch darüber geschwiegen, dass sie seit einiger Zeit keine Bekannten mehr einladen mochten. Bei der In-vivoDiagnostik vermittelten beide anfangs, dass das „Sammeln von Wissen“ leider berufsbedingt notwendig sei. Erst nach und nach traute sich die Ehefrau, scheu anzudeuten, dass sie die immer weiter in den Lebensraum eindringenden Wissens-Berge wie eine bedrohliche Krake erlebe, andererseits aber ihren Mann bei der notwendigen Sammlung von Unterlagen für seine Berufsausübung nicht behindern möchte. Beide Ehepartner wirkten wohlgesonnen und freundlich umeinander bemüht, aber in diesem Gespräch auch zunehmend rat- und hilflos. Vorsichtig wurde die SpielballHypothese in den Raum gegeben, dass die erst in den letzten 18 Monaten entstandene Zwangssymptomatik der Ehefrau ein aus Hilflosigkeit geborener „GegenZwang“ (s. Alexander und French, 1946; Hand, 2000b) sein könnte, mit dem sie „nicht-gewusst“ das Weiterwuchern der Wissensberge in das gesamte Haus verhindern und vielleicht auch etwas verärgert „Gleiches mit Gleichem vergelten“ wolle. Überrascht-verunsichert stimmten beide vorsichtig zu. Am Ende dieser Sitzung konnte der Behandlungsplan auf den Ehemann ausgedehnt werden. Dieses Paar war sich grundsätzlich sehr wohlgesonnen und motiviert, aus dem Zustand der dyadischen Hilflosigkeit rasch herauszukommen. Die Therapie verlief nach dieser Vorklärung recht problemlos „nach Plan“, mit Schwerpunkt auf Exposition in vivo mit Reaktions-Management.
Beispiel 2. Die gemeinsame Wasch-„Zwangsarbeit“ als Beziehungs-Test, -Pflege und -Risiko: Auch dieses Paar (eine weitere „Schlüssel-SchlossDyade“, wie sich später herausstellte) lebte mit exzes-
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Spielball-Hypothese
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Wasch- und Reinigungszwänge
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siven Wasch- und anderen Reinigungszwängen und dem quälenden Zwangsgedanken, bei Unachtsamkeit sich oder anderen Schaden zuzufügen. Bei der In-vivoDiagnostik im häuslichen Milieu wurde das Paar gebeten zu demonstrieren, welche Zwangsrituale abgewickelt werden „mussten“, wenn sie von einem ihrer seltenen Stadtausflüge mit eingekauften Lebensmitteln zurückkehrten und aus dem Hausflur die Wohnung betreten wollten: Die Patientin reinigte ihre Schuhe, indem sie die linke Vorderfußkante, die Fußspitze und die rechte Vorderfußkante eines jeden Fußes dreimal kurz auf dem Vorleger abstreifte, dabei laut „eins, zwei, drei“ sagte und diesen Vorgang mit beiden Füßen jeweils dreimal wiederholte. Dabei zeigte sie jede Wiederholung jeweils mit Daumen, Index- und zweitem Finger an. Der Partner bestätigte nach jedem Durchgang die richtige Durchführung. Danach wurde noch kurz mit dem hinteren Schuhteil ein eher oberflächlicher Reinigungsakt auf dem Vorleger vollzogen. Das entsprechende Reinigungsverhalten des Partners fiel eher als Normalverhalten aus. Nach Betreten des Wohnungsflures wurde die Tür zum Hausflur geschlossen. Das Schlüsselbund wurde vom Partner in den Mund gesteckt (Desinfektion durch Speichel), und erst dann wurde die Tür von innen zugeschlossen. Im eigenen Hausflur erfolgte dann die Reinigung der Hände der Patientin, indem diese jeweils die Spitzen von Daumen, Index- und Mittelfinger sowie die Mitte der Handinnenfläche erst an der einen und dann an der anderen Hand kurz ableckte (ebenfalls Desinfektion durch Speichel). Dieser Vorgang fand hochgradig rhythmisiert statt (vermutlich mnemotechnisch hilfreich zur Sicherstellung der korrekten Durchführung des komplexen Rituals – s. Turniertanz?). Er wurde insgesamt dreimal wiederholt, jeder Durchgang vom Partner mit „gut“ bestätigt und
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
am Ende durch überkreuzte Shakehands und die nochmalige Versicherung „gut“ abgeschlossen. Nachfolgend wurde der dünne Wollpulli der Patientin „entnadelt“: Sie als Hobbynäherin könnte winzige Nadeln im Pullover hängen haben, die dann beim Ausräumen der Nahrung in diese fallen und sie selbst oder den Partner schwer verletzen könnten. Dieser Entnadelungsvorgang wurde vom Partner mit drei von oben nach unten geführten Abstreifhandlungen rhythmisiert und unter Aufsagen eines magischen Spruches durchgeführt. Der Gesamtvorgang, der bei der diagnostischen Demonstration nur etwa 3–4 Minuten dauerte, könne sich über Stunden hinziehen, wenn beide sich auf dem Ausflug gestritten hätten und verärgert nach Hause zurückkehrten. Diese Kombination von Wasch-, Säuberungs-, Desinfektions-, Zähl-, Wiederholungs- und magischen Zwangshandlungen konnte also zum einen der Beziehungspflege dienen: Der Partner demonstrierte seine Hilfsbereitschaft sowohl bei der Mitkontrolle der korrekten Durchführung der Handlungen wie auch durch Übernahme der „ekeligsten“ Handlung, des Ableckens des Schlüsselbundes; die Patientin zeigte ihr Vertrauen in ihn durch Akzeptieren seiner Rückversicherungen. Bei angespannterer Beziehungssituation benutzte die Patientin dieses Ritual zur Überprüfung der Verlässlichkeit des Partners, indem sie kleine Fehler in ihre Handlungen einbaute, die er dann erkennen musste, um sie vor den möglichen schlimmen Folgen zu warnen. Meldete er diese aufmerksam zurück, konnte sich die Lage noch entspannen. Im beziehungsmäßigen Casus Belli wurden diese Handlungsabläufe zum Kampffeld gegeneinander: Die Patientin „bewies“ dem Partner immer wieder, dass er sie – indem er sie nicht auf eingebaute, schwer zu entdeckende Fehler hinwies – großen Ge-
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Beziehungspflege
Überprüfung der Verlässlichkeit des Partners
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Aggressiv-autoaggressive Reaktion gegen Therapeuten
Flooding, mit Motivierung über Modelling
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fahren aussetzen, ja ihr sogar absichtlich schaden wolle. Dadurch fühlte sich der Partner zunehmend provoziert. Hielt er das dann nicht mehr aus, verließ er die Wohnung und induzierte durch Alkoholtrinken in einer Gaststätte einen Krampfanfall (bei ihm bekanntem inoperablem Hirntumor). Das führte dazu, dass ein Arzt gerufen wurde, dem der wieder erwachte Partner die häusliche Telefonnummer gab. Der Anruf der Polizei bei der Patientin löste bei dieser Schuldgefühle aus und führte zu (vorübergehend) liebevoller Wiederaufnahme in die Wohnung. Diese Multifunktionalität der Zwangsabwicklung in der Beziehungsgestaltung ließ vermuten, dass beide Partner, die sich erst seit einiger Zeit kannten, schwere, frühe und chronifizierte soziale Defizite (mit PseudoKompensation, s. Hand 1991b) in die Beziehung eingebracht hatten. Miteinander konnten sie deshalb eigentlich nicht leben, ohne einander aber mochten sie nicht mehr sein (für beide die erste Zweierbeziehung). Eine alleinige Behandlung der Zwangssymptomatik erschien also kontraindiziert. Das Symptom der „Desinfektion mit dem eigenen Speichel“ war auch eine aggressiv-autoaggressive Reaktion gegen die beiden Therapeuten einer vorangegangenen Verhaltenstherapie (der Siebzigerjahre). Die offenbar schlecht supervidierten Ausbildungstherapeuten hatten eine reine In-vivo-Symptomtherapie für den seinerzeit isolierten Waschzwang in der folgenden Weise durchgeführt (alle Angaben ausschließlich von den beiden Patienten): Im Wohnzimmer des Paares setzte man sich zu viert auf den Teppichboden. Die Therapeuten zerbröselten Kekse auf den Teppich und aßen dann davon (gedacht als Flooding, mit Motivierung über Modelling), um die Reinigungskraft des Speichels gegen Keime von außen zu demonstrieren. Patientin und Partner taten es
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
ihnen nach und waren erstens erfreut über die Gesellschaft zu Hause und zweitens über das beeindruckende Engagement der Therapeuten. Durch die Übungen in dieser und ähnlichen Situationen ging der Waschzwang in wenigen Sitzungen weitgehend zurück, die Therapeuten beendeten ihre Besuche. Einige Zeit später trat der Waschzwang erneut auf. Dabei wurde nun das in der Therapie hilfreich demonstrierte Verhalten der „Desinfektion durch Speichel“ zum neuen Zwangssymptom, das dann eine doppelte Funktion erhielt: Es war Ausdruck kindlich-aggressiver Enttäuschung über die Therapeuten („da sollen die mal sehen, was sie angerichtet haben“), die sie trotz ihrer guten Mitarbeit so schnell wieder „im Stich gelassen“ hatten – und es brachte ihnen neue Therapeuten ein. Durch das Symptom war das Paar in der U-Bahn auffällig geworden, da der Partner inzwischen Haltegriffe vor der Benutzung durch die Patientin mit Speichel reinigen musste. Dies führte zu massiven Reaktionen bei (besonders den zwanghaften?) Mitreisenden über diese „Schweinerei“. Schließlich wurden beide der (damals noch vorhandenen) Bahnsteigaufsicht zugeführt. Diese hatte schnell die richtige Hypothese und empfahl die Vorstellung in unserer Ambulanz.
Unser mehrfacher, stationär-ambulanter Therapieversuch scheiterte nach zwischenzeitlichen Teilbesserungen schließlich daran, dass die Patientin alle Versuche eines vorsichtigen sozialen Kompetenztrainings (Einzelund Gruppentherapie) durch aggressives Agieren (heute wohl als Persönlichkeitsstörung bezeichnet) blockierte – eine Pseudo-Coping-Strategie aus der Schulzeit, an der bereits ihr erster und einziger Versuch einer Berufsausbildung gescheitert war.
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Beispiel 3. Putz- und Waschzwang als tabuisierte Aggression:
Dominante Aggression und mühsam durchgehaltene Submission
Explosive Emotionalität über das gemeinsame Symptomverhalten
Die Ehefrau mit exzessivem Wasch- und Desinfektionszwang hatte im kleinen einstöckigen Haus ein Betretensverbot für 90 % der Grundfläche für den Ehemann und etwa 50 % für die 14-jährige Tochter verhängt (Beispiel P5). Der Ehemann musste sich auf schmalen Korridoren bewegen. Wenn er vom Dienst nach Hause kam, führte die Patientin ihn über eine kleine Treppe in das Bad im ersten Stock, wo er seine Berufskleidung einschließlich der Unterwäsche komplett ablegen und in einer „Schmutz-Zone“ deponieren musste. Dann wurde er von der Ehefrau unter der Dusche mit verdünnter Desinfektionslösung gereinigt, erhielt Hauskleidung und durfte sich jetzt über die Korridore zu seinem festgelegten Sitzplatz bewegen. Die Wohnung war aufgrund des extremen Wasch- und Desinfektionszwanges überwiegend in einem hygienisch bedenklichen Zustand, da die Patientin mit ihren exzessiven Reinigungsritualen nur Teile der Wohnung nach ihren Kriterien sauber halten konnte. Das Interaktionsverhalten dieser beiden Ehepartner war völlig anders als das des ersten Ehepaares in diesem Kapitel. Dominante Aggression und mühsam durchgehaltene Submission waren intensiv zu spüren. Die erheblichen Schwierigkeiten in der Eheentwicklung waren von der Patientin schon in den Vorgesprächen in der Klinik angedeutet worden. Die In-vivo-Diagnostik führte zur Wiederaufnahme der biografischen Analyse bezüglich der Ehe- und Familien-Entwicklung (2 Kinder) und machte nunmehr wesentlich deutlicher, wie die explosive Emotionalität über das gemeinsame Symptomverhalten wohl schon seit langem mühsam kontrolliert wurde (Therapieverlauf s. Kap. 5.2.2.4).
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
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Diese drei Beispiele zeigen, dass beim gleichen Zwangssyndrom (aber natürlich nicht nur dort) dessen interaktionelle Funktionalität sehr unterschiedlich sein kann. Dabei spielen das Ausmaß an individuellen Defiziten und die Qualität der Paarbeziehung vor dem Erstauftreten der Krankheitssymptomatik eine entscheidende Rolle – sowohl für die Therapieplanung wie auch für die Prognose (s. Kap. 5.2). Die In-vivo-Diagnostik vor einer Therapieentscheidung kann aber auch erhebliche Risiken beinhalten, wie ein anderes Beispiel aus unserer frühen Arbeit in der VT-Ambulanz zeigt. Wenn bei einem Patienten der Eindruck entsteht, dass die Exposition nicht neue Erkenntnisse zur Optimierung einer gewünschten Therapie ermöglicht, sondern eher einer kriminalistischen Überführung dienen soll, wird daraus ein „Katze-und-Maus“-Spiel:
In-vivo-Diagnostik
„Katze-und-Maus“-Spiel
Beispiel 4. Cave: Diagnostische Exposition in vivo als „Detektiv-Spiel“: Ein etwa 40-jähriger Mann mit einem MünchhausenSyndrom hatte sich bereits mehrfach in verschiedenen chirurgischen Kliniken Deutschlands mit Symptomen eines „akuten Abdomens“ aufnehmen und operieren lassen. Bei den Operationen konnte nie ein der angegebenen subjektiven Symptomatik entsprechender objektiver Befund festgestellt werden. Nach neuerlicher Akutaufnahme in eine chirurgische Klinik – nunmehr wegen „ständigen Erbrechens jeglicher Nahrung“ – bestanden dort, aufgrund einiger bekannt gewordener Vorereignisse, Zweifel an der Operationsindikation.
Medizinische
Voruntersu-
Münchhausen-Syndrom
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chungen am Wohnort hatten auch keinen entsprechenden pathologischen Befund ergeben. Jetzt strebte der Patient eine Operation im oberen Gastrointestinaltrakt an, damit diese Symptomatik beseitigt würde. Wie nicht selten in solchen sehr schwierigen Situationen war die Meinung der Chirurgen bezüglich der Operationsindikation geteilt. Mehrheitlich wurde dann jedoch die Verlegung zur erweiterten Diagnostik in unsere Verhaltenstherapiestation veranlasst. Der Patient akzeptierte dies widerwillig als unvermeidbaren „Preis“ für die Operation. Die Exploration der biografischen Entwicklung bei dem mittlerweile seit einigen Jahren arbeitsunfähigen Patienten ergab trotz aller Bemühungen nur oberflächliche Ergebnisse. Auffallend war aber, dass der Patient vor der Krankschreibung häufig den Arbeitsplatz gewechselt hatte und auf Fragen nach dortigen und anderen Sozialkontakten sehr ausweichend antwortete. Wir baten den Patient, einer diagnostischen Exposition zuzustimmen: Einnahme eines Glases flüssiger Nahrung im Sitzen, auf dem Bett, mit anschließendem Hinlegen auf den Rücken und gemeinsamer Beobachtung der Körperreaktionen. Dies tat er, nachdem er die Zusage erhalten hatte, am Folgetag in die Chirurgie zurückverlegt zu werden. Nach Einnahme der Flüssignahrung lag der Patient etwa 5 Minuten auf dem Rücken. Dann war ein leichtes Zucken im Oberkörper zu beobachten, er richtete sich blitzschnell auf, griff mit der rechten Hand zu der bereitstehenden Schale und drückte mit der linken gegen seinen Bauch. Dann öffnete er den Mund, und unter deutlich sichtbarer Kontraktion der Bauchmuskeln lief die Flüssignahrung, fast wie ein Rinnsal wirkend, aus dem Mund in die Schale. Für Therapeut und Co-Therapeut ergab sich der Eindruck, dass hinter dem Geschehen
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
eine aktive Handlung des Patienten stand. Dieser Verdacht hatte sich auch bereits in der Anamnese ergeben, da der Patient „Erbrechen nach jeder Nahrungsaufnahme“ angegeben hatte, sein Ernährungszustand dieser Beschreibung aber keineswegs entsprach (schlank, aber nicht abgemagert). Wir fragten uns, wieweit das Aufrichten des Oberkörpers und dann dessen Vornüberbeugen die notwendige Voraussetzung zum Entleeren des Mageninhaltes war. Daraufhin wurde der Patient gebeten, nochmals die gleiche Menge Flüssignahrung zu sich zu nehmen und anschließend unbedingt auf dem Rücken liegen zu bleiben; für den Fall, dass die Nahrung in den Mund zurücklaufen würde, könne er sich sofort zur neben ihm stehenden Schale umdrehen. Nach einigem Widerstand willigte der Patient schließlich in diese „Quälerei“ ein. Erneut waren nach einigen Minuten Zuckungen am Oberkörper zu erkennen, diese ließen jedoch wieder nach, und in der nachfolgenden halben Stunde im Liegen und nach dem Aufstehen wurde die Flüssignahrung nicht wieder „erbrochen“. Wir waren nicht überrascht, der Patient offenbar auch nicht. Er reagierte vielmehr ausgesprochen gereizt („so was kann mal vorkommen, deswegen leide ich nicht weniger an meiner Krankheit“) und erklärte, dass seine Geduld mit uns und unseren „Experimenten“ nun endgültig vorbei sei. Er forderte die sofortige Rückverlegung in die Chirurgie. Dies geschah auch so. Jahre später, in einem Telefonat mit dem seinerzeit zuweisenden Arzt, erfuhren wir, dass längst ein weiterer „Symptomwandel“ eingetreten war – der Patient hatte inzwischen eine Alkoholsucht entwickelt und seinen Hausarzt in dem Moment gewechselt, als dieser ihn darauf angesprochen und zu einer Therapie geraten hatte. Ergänzend gab der Hausarzt an, dass der Patient bereits vor der ersten Opera-
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Symptomwandel
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tion gravierende Probleme im Umgang mit seinen Kollegen am Arbeitsplatz gehabt und wohl überwiegend als Einzelgänger gelebt habe. Waren die autoaggressiven, selbst-induzierten körperlichen „Verletzungen“ verzweifelte Versuche, endlich als hilflos und pflegebedürftig anerkannt zu werden? Oder waren es protrahierte, appellative Suizidversuche? Wir kamen leider nie auch nur in die Nähe einer plausiblen Antwort oder Hilfestellung. Rückblickend war diese diagnostische Exposition aus Sicht des Patienten sicherlich ein Versuch quasikriminalpolizeilicher „Überführung als Lügner“. Die Vorgehensweise stand auch im krassen Widerspruch zu derjenigen bei der Patientin mit der MünchhausenTrichotillomanie (s. Beispiel P3). Ähnlich waren sich beide Patienten aber auch nur in Bezug auf die Ausgangssituation: Beide gaben an, medizinische Hilfe und kein „Psycho-Gespräch“ zu suchen. Auf allen anderen Ebenen war sie völlig unterschiedlich: Bei dem Patienten standen wir unter massivem Zeitdruck aus der Chirurgie, die ebenso wie der Patient eine rasche Entscheidung haben wollte: Im Gegensatz zur Patientin fanden wir in dieser Situation keinen wirklichen Zugang zum Patienten – bei der Patientin dagegen stellte sich bald heraus, dass sie hinsichtlich einer seelischen Hilfestellung hinter ihrer gereizten Fassade durchaus ambivalent war. Dennoch war uns dies eine nachdrückliche, lehrreiche Erfahrung dahingehend, sich in bestimmten Situationen nicht so unter Druck setzen zu lassen – was allerdings mitunter schwer durchzuhalten ist. Hätten wir dies bei diesem Patienten durchgesetzt, dann hätte sich die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Operation bei umstrittener Indikation wohl deutlich erhöht, da der Patient dann die Chirurgen noch mehr unter Druck gesetzt hätte
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
und diese sich von den Verhaltenstherapeuten alleingelassen gefühlt hätten. Der Druck, den Patienten ausüben können, die bei fraglicher Indikation unbedingt operiert werden wollen, ist für damit nicht erfahrene Therapeuten kaum vorstellbar. Die Vorgehensweise im Beispiel P3 war in gewisser Weise natürlich auch ein „Detektiv-Spiel“ – aber mit der „Colombo“-Strategie, d. h. einer sanft, scheinbar non-direktiv und zieloffen, ohne Zeitdruck umgesetzten Arbeitsweise!
5.2.3 Symptom-Muster ohne aktuelle systemische Funktionalität – und Verletzungen in der Biografie Häufig finden wir auch die Entwicklung von Symptommustern, die zwar in engem Zusammenhang mit Verletzungen in der Biografie (zu) stehen (scheinen), aber keine aktuelle systemische Funktionalität aufweisen (s. dazu auch Beispiel 1 aus der RichtlinienVT). Beispiel 1. Exazerbation einer „Einnäss-Phobie“ und aktueller Distress bei biografischer Prägung: Prof. M. hat Karriere schon bis Mitte 30 gemacht. Jetzt hat er den Ruf für die Leitung eines hoch renommierten Institutes erhalten (mit einjähriger Probezeit). Die Antrittsvorlesung ist in 3 Monaten. Er ist verheiratet, hat bereits 2 kleine Kinder, die Ehefrau ist mit dem dritten schwanger und hat deshalb für einige Zeit ihre Berufstätigkeit unterbrochen. Ein erster Überblick über die biografische Entwicklung und die aktuelle Lebenssituation ergibt keine pathologischen
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Einnäss-Phobie
„Spurensuche“ nach möglichen Triggern
Auffälligkeiten. Paarbeziehung und Familienleben sind intakt, Probleme werden lösungsorientiert bewältigt. Aktuelle Krankheitssymptomatik: Der Patient berichtet zögerlich und etwas schamvoll von einer zunehmenden „Einnäss-Phobie“ bei Vorträgen vor größerem Publikum. Das Problem habe „grundsätzlich schon immer“ bestanden, sei jedoch wenig ausgeprägt gewesen. Er habe damit gut umgehen können, indem er ca. eine halbe Stunde vor solchen Auftritten eine Toilette aufgesucht habe. In letzter Zeit habe er dennoch wenige Minuten vor Vortragsbeginn wieder so starken Harndrang, dass er schon fürchte, während der Vorlesung mit einer „nassen Hose“ auffällig zu werden. Er gehe jetzt selbst an Tagen ohne solche Vorträge erheblich häufiger als früher zur Toilette, auch wenn er dann oft nur wenig Wasser lassen könne. Ein Harnwegsinfekt sei medizinisch ausgeschlossen geworden. Ein solcher ist auch klinisch unwahrscheinlich, da entsprechende Symptome fehlen und M. nachts ohne Harndrang durchschlafen kann. „Spurensuche“ nach möglichen Triggern für die Exazerbation einer chronischen, aber eher ruhig verlaufenden Symptomatik in zwei weiteren probatorischen Sitzungen: Der bevorstehende steile berufliche Aufstieg wird für den immer schon sehr leistungsorientierten Hochschullehrer fachlich und in Bezug auf die Menschenführung nach seiner Einschätzung noch einmal erhebliche Mehrleistung erfordern, damit die Probezeit erfolgreich verläuft. Auch gegenüber der Familie hat seine Verantwortung jetzt erheblich zugenommen. Eine größere und deutlich teurere Wohnung ist wegen des Familienzuwachses gerade bezogen worden. Mit dem neuen Direktorengehalt und Nebeneinkünften besteht eigentlich kein Finanzierungsproblem. In letzter Zeit kommt aber
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
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häufiger der Angst machende Gedanke: Was passiert, wenn ich dort versage … bin ich den neuen Herausforderungen wirklich gewachsen … stürze ich meine Familie möglicherweise ins Elend? Seine Frau würde mittlerweile richtig ärgerlich, wenn er solche Bedenken mit ihr diskutieren wolle. Die bisherige steile und ungestörte Universitätskarriere setzte eine hoch belastbare und leistungsfähige Persönlichkeit voraus. Die beeindruckenden Erfolge müssten doch eigentlich das Selbstbewusstsein gefestigt haben. Woher dann nun, vor einem neuen „Höhepunkt des Ruhmes“, die quälenden Zweifel und die Exazerbation der Symptomatik? M. arbeitet nach Verlust der ersten Befangenheit in zwei probatorischen Sitzungen an der Beantwortung der Frage mit. Es ergeben sich zwei systemisch begründete Hypothesen aus der biografischen Entwicklung: Hypothese 1: Während der Pubertät erlebte M. über 2 Jahre „Schikane“ durch einen Lehrer, der den Patient und andere Schüler vor der Klasse regelmäßig „vorführte“ und ihm immer wieder seine „Unfähigkeit“ vor Augen hielt. Die Klasse habe eher mit Hohn und Schadenfreude als mit Solidarität reagiert, obwohl etliche Mitschüler immer wieder Gleiches erleiden mussten. Sein Vater habe seinen Erzählungen anfangs nicht recht glauben können, bis er dann nach 2 Jahren doch einem Schulwechsel zustimmte. An der neuen Schule sei dann nach kurzer Eingewöhnungszeit alles gut verlaufen. Er habe diese schlimmen 2 Jahre bis vor Kurzem fast völlig vergessen gehabt. Erst unter der aktuellen Situation sei sie ihm wieder in „das Bewusstsein“ gekommen. M. kann durchaus die Möglichkeit eines Zusammenhanges zwischen der jetzigen Lebenssituation und dem Wiederauftreten der Erinnerungen sehen. Der Lehrer ist „wieder im Ohr“ (vgl. „Therapeut im Ohr“ bei Young, 2006),
Zwei systemisch begründete Hypothesen
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
Behandlungsplan
obwohl M. (sich und diesem) mit dem Schulabschluss und einer blendenden Karriere bei gleichzeitiger Familiengründung das Gegenteil nachhaltig bewiesen hat. In den früheren exponierten Leistungssituationen auf dem bisherigen Karriereweg war aber weder diese Erinnerung hochgekommen, noch das Symptom exazerbiert. Wir suchten nach weiteren Belastungen, und M. konnte schließlich zur Hypothese 2 beitragen. Hypothese 2: Als M. 12 Jahre alt war, ging die bis dato erfolgreiche Firma eines Onkels, zu dem er ein inniges Verhältnis hatte, „über Nacht“ in Konkurs. Der Onkel hatte, ohne die Familie zu informieren, Hochrisikogeschäfte getätigt und dabei nach und nach das gesamte Vermögen (einschließlich der Firma) verloren. Diese Information traf seine Familie plötzlich und schockartig. Das idealisierte Onkelbild des Jungen erlitt einen schweren Schaden, dann zerbrach auch die Ehe des Onkels an dem Problem, und es ergaben sich eine Zeit lang massive wirtschaftliche Probleme. Auch in seiner eigenen Familie saß der Schock tief und lang anhaltend. Von diesem Zeitpunkt an nahm M. sich vor „nie wie mein Onkel zu werden … immer die Sicherheit einer eigenen Familie an oberste Stelle zu setzen“. Jetzt kommen ihm mehr und mehr Zweifel, ob er dieses Versprechen vor sich selbst wird einlösen können. Hat er sich durch die bisherigen Erfolge nur selbst getäuscht? Oder hat er mit der neuen Position ein „genauso risikoreiches Geschäft wie der Onkel“ gemacht? Können vielleicht „die Gene“ für so etwas verantwortlich sein? Bezüglich des Behandlungsplanes ergibt sich, dass „eine Disputation der dysfunktionalen Kognitionen“ verzichtbar ist, da M. dies schon im Selbstgespräch immer wieder gemacht hat. Die Verunsicherung steigt „vom Bauch“ auf, und das Gefühl triggert
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
die Gedanken, nicht umgekehrt. Angesichts des massiven subjektiven Zeitdruckes wählt M. aus den vorgeschlagenen Interventionen folgende Sequenz: 1.
2.
3.
Intensive Expositionen in vivo zur aktuellen Symptomatik … einschließlich eines regelmäßigen „Blasentrainings“. Nach Stellenantritt Exposition in sensu zu den kränkenden und verunsichernden Schulerlebnissen. Verarbeitung der Onkelbeziehung für eine spätere Zeit „in Reserve“ behalten.
Intervention 1. verläuft sehr erfolgreich – ebenso der Dienstantritt. Intervention 2. wird daraufhin „vorerst“ aufgeschoben, Intervention 3. gar nicht mehr erwähnt. Waren die beiden beziehungsbezogenen Hypothesen also „überflüssig“? Oder war das Gesamtverständnis auf dem biografischen Hintergrund wichtig für den Erfolg der Symptom-Exposition? Oder hatte die (Re-)Exposition in sensu – in den probatorischen Sitzungen und deren Nachverarbeitung zu Hause – schon einen entlastenden Habituationseffekt (s. dazu Beispiel Trichotillomanie, Kap. 5.3.1)? Oder werden die systemischen Hypothesen erst im (vorerst eher unwahrscheinlichen) Falle eines symptomatischen Rückfalles oder neuer Symptomatik zu den daraus resultierenden Maßnahmen führen? Eine richtige Antwort gibt es gegenwärtig nicht.
Die Therapie hatte trotz der umfangreichen Problemklärung insgesamt nur 3 probatorische und etwa 10 Therapiesitzungen benötigt – bei einer subjektiv als existenziell bedrohlich erlebten Ausgangssituation.
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Beispiel 2. „Kleinflugzeug-Rennruderboot-Phobie“ und Vaterbeziehung: Eine 37-jährige Hotelmanagerin stellt sich zögerlich Flugphobie
mit einer „Flugphobie nur in kleinen Privatmaschi-
Rennruderboot-Phobie
nen“ und einer „Rennruderboot-Phobie“ vor. Schon wenige gezielte Nachfragen ergeben, dass die Patientin nur einmal in einer kleinen Privatmaschine mitgeflogen war – gelenkt von ihrem Vater (!) und mit einem schweren Panikanfall kurz nach dem Start. Die „Rennruderboot-Phobie“ hatte sie zufällig entdeckt, als sie sich einmal mit Freundinnen spaßeshalber in so ein Boot gesetzt und dieses dann gleich wieder verlassen hatte. Auf die Nachfrage nach den Konsequenzen für ihre Lebensführung, wenn sie in Zukunft beide Geräte schlicht vermeide, meint sie beschämt lächelnd, die wären gleich Null. Sie deutet vorsichtig an, dass sie vielleicht „dahinter liegende Probleme“ haben könnte, aber nicht wisse, ob sie die wirklich herausfinden wolle. Sie habe nämlich auch Angst in allen Situationen, „wo mir der Boden unter den Füßen verloren geht“. In dem doppelstündigen Gespräch pendelt die Patientin zwischen Annäherung und Vermeidung kritischer Lebensereignisse und weist immer wieder darauf hin, dass seit Berufstätigkeit und Eheschließung ihr Leben eigentlich problemlos verlaufe. Im nachfolgenden Gesprächstermin berichtet die Patientin, die das vorangegangene Gespräch intensiv nachverarbeitet hatte, sie habe sich an ihre erste Meditationssitzung vor 15 Jahren wieder sehr stark erinnert. Sie habe sich damals über ihre persönliche Mantra sehr schnell in einen Zustand tiefer Versunkenheit be-
Grenzenlose und bedrohliche Weite
geben, in dem sie um sich herum eine grenzenlose und bedrohliche Weite gesehen habe, woraufhin sie in einen Panikzustand geraten sei. Sie wisse nicht mehr, wie lange dieser Zustand gedauert und wer sie
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
daraus zurückgeholt habe. Sie habe das Training danach abrupt abgebrochen. Nach der Schilderung dieses Erlebnisses wirkt die Patientin aufgeregt und traurig, Tränen schießen ihr in die Augen und sie meint, dass sie nicht fassen könne, dass das damalige Erlebnis sie jetzt und dann noch in Gegenwart einer noch relativ fremden Person so stark tangiere. Schließlich schält sich eine erhebliche Vaterproblematik aus der Kindheit heraus, die dann in einer länger laufenden Verhaltenstherapie bearbeitet wird – unter gelegentlicher Einbeziehung des Ehemannes, zu dem eine vertrauensvolle Beziehung besteht. Wann führt ein Symptom also überhaupt zu welcher Therapie? Im Gegensatz zum vorherigen Patienten war hier die initial vorgetragene Symptomatik ohne Relevanz für das Alltagsleben, sondern – ähnlich wie bei der Münchhausen-Trichotillomanie – das „Alibiticket“, um überhaupt Therapie suchen zu können. Im Gegensatz zu der Patientin mit der „Knall-Phobie“ wagte sie, nach anfänglichem Zögern, die graduierte Exposition zu frühen biografischen Schmerzerlebnissen. Die Patientin mit der „Knall-Phobie“ stand mit ihrer Symptomatik unter viel größeren Alltagsbelastungen (vergleichbar der Belastung bei der „EinnässPhobie“), wagte die Symptom-Therapie dennoch noch nicht. Sie ahnte/wusste oder befürchtete eine Vergangenheitskonfrontation, die sie uns inhaltlich nicht mitteilte. Auch den Patient mit der „Einnäss-Phobie“ hatten wir darauf hingewiesen, dass Exposition zum Symptom auch zur Reaktivierung der Erinnerungen an die beiden früheren Schmerzerlebnisse führen könne – aber die „lagen offen auf dem Tisch“, er hätte das „notfalls in Kauf genommen“, und sie hatten bei Weitem nicht das Ausmaß subjektiver Bedrohlichkeit wie bei der „Knall-Phobie“.
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Beispiel 3. „Bibel-Interpretations-Zwang“ und früheres Klostererlebnis: Leben im gehemmten Zorn
Ein längeres „Leben im gehemmten Zorn“ zeigt dieses Beispiel. Die verhärmt wirkende, 45-jährige, alleinstehende Teilzeitsekretärin berichtet, dass sie darunter leide, dass ihre Nachbarn im Mietshaus immer ärgerlicher auf ihre Kontrollen der Wohnungstür (vielfaches lautes Zuschlagen, um sich auch akustisch von der Schließung zu überzeugen) reagierten und die Hausverwaltung sie gedrängt habe, dieses Verhalten umgehend einzustellen. Zu den Nachbarn habe sie, bis auf dieses Thema, bisher keinen Kontakt, da ihr die Zeit dazu fehle. Hätten wir einen Rat, wie sie die Nachbarn von der Notwendigkeit ihres Tuns überzeugen könnte? Erst bei vorsichtig-geduldiger Exploration eines typischen Tagesablaufes ergibt sich nach und nach, dass sie an einer Neu-Interpretation der Bibel für den Papst arbeitet. Aus der biografischen Entwicklung: Sie war als junge Erwachsene – enttäuscht von den Beziehungserfahrungen in Familie und Schule – in ein Kloster eingetreten. Dabei hatte sie eine nicht unerhebliche Erbschaft in das Klostervermögen eingebracht. In wenigen Jahren entwickelten sich massive Spannungen zu anderen Nonnen und auch zu ihrer Priorin. Schließlich eskalierte die Situation so sehr, dass sie aus dem Kloster austrat. Das Kloster habe die von ihr geforderte Rückgabe ihres „Einstandes“ abgelehnt. Empört habe sie sich dann an den Papst mit der Bitte um Hilfe gewandt. Trotz mehrfacher Schreiben habe sie keine Antwort erhalten. Dem Papst sei sie nicht böse, da er die Briefe bestimmt nie erhalten habe. Sie habe sich dann aber gefragt, wie es dazu kommen konnte, dass der Umgang seiner „Töchter“ miteinander in dem Kloster so neiderfüllt gewesen sei. Ihr sei dann aufge-
Funktionsanalysen in den probatorischen Sitzungen
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fallen, dass etliche Stellen in der Bibel geeignet seien, Menschen zu „unmenschlichem“ Verhalten zu veranlassen. Sie habe daraufhin beschlossen, für den Papst eine korrigierte Version der Bibel zu erstellen, und sich damit eine enorme Arbeit aufgebürdet. Seit Langem sei sie zur Sicherung des Lebensunterhaltes deshalb als Aushilfssekretärin über einige Monate im Jahr tätig, um dann unter bescheidenen Verhältnissen den Rest des Jahres an ihrer Bibelinterpretation arbeiten zu können. Das sei ihr Lebensinhalt. Nun seien aber mehrere Versuche, die bereits erstellten Texte dem Papst zur Kommentierung zukommen zu lassen, völlig gescheitert. Sie wolle doch für die Kirche ein gutes Werk tun, damit die Menschen in der Kirche in Zukunft glücklicher sein könnten. Nun frage sie sich, ob alles umsonst gewesen sei – und dann wisse sie nicht, wofür sich das Weiterleben lohne. Als erste Arbeitshypothese wird abgeleitet: Verdacht auf frühe Kommunikationsstörungen (intra- und extra-familiär) im Sinne einer früh erlernten sozialdefizitären Entwicklung (DD: ruhig verlaufende, chronische Psychose). Die dargestellten „Problemlöseversuche“, um Kontakte und Anerkennung zu finden, finden erst noch in einem geschützten sozialen Rahmen mit realen Nonnen statt, danach in weitgehender sozialer Isolierung – aber anfangs in engem Verbundenheitsgefühl mit einem eher virtuellen Papst. Beim Scheitern des jetzigen „letzten Versuches“ ist Suizidgefährdung zu erwarten. Der Therapiewunsch der Patientin bezog sich initial auf den Schutz vor den Nachbarn, dann eher auf einen Brückenbau zum Papst. Hier waren dann erst einmal indirekte Strategien zu entwickeln, um die Patientin an ihre „wirklichen“ Probleme heranzuführen … „and lead her where she does not (yet) want to go“ (s. Kap. 3.4). Wir konnten die Patientin nicht von ihrem Vorhaben abbringen, waren aber
Erste Arbeitshypothese
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aus dem o. g. Grunde auch sehr vorsichtig mit Stellungnahmen dazu. Die Patientin wollte schließlich doch etwas gegen die Zwänge im Hausflur unternehmen, um erst einmal „in Ruhe weiterarbeiten“ zu können.
5.3 Systemische Funktionsanalysen und ihre Effekte im TherapieProzess Nicht selten ergeben sich systemisch relevante Informationen für eine Hypothesenbildung und Therapiedurchführung zusätzlich oder erstmalig erst im Therapieverlauf. In der Verhaltenstherapie gilt dies insbesondere auch für therapeutenbegleitete Exposition in vivo und in sensu. Die Strategie systemischer Interventionen im Therapie-Prozess berücksichtigt folgende Kriterien: 1. 2. 3.
Initialer Symptomträger in der Familie, Zeitverlauf von Symptomatik und Beziehung, direkte versus indirekte systemische Interventionen im Einzel-, Paar- oder Familiensetting.
Allein aus diesen Kriterien ergeben sich in der therapeutischen Praxis etliche Kombinationsmöglichkeiten. An ausgewählten Beispielen wird im Folgenden die Verdichtung komplexer Informationen zu einer hierarchisierten, multimodalen, Symptom- wie Funktions-gerichteten und systemisch orientierten Strategie verdeutlicht.
5.3.1 Die probatorischen Sitzungen als Therapie Eine oder wenige probatorische Sitzungen können die „Selbstheilungskräfte“ Betroffener so aktivieren, dass
Funktionsanalysen und ihre Effekte im Therapie-Prozess
Symptomverhalten abgebaut und andere Probleme gelöst werden (s. dazu z. B. Talmon, 1999; „SpielerKatamnesen“ bei Hand, 2004). Solche Resultate können auch dann eintreten, wenn die Exploration zur Exposition führt, wie das folgende Beispiel zeigt.
Beispiel 1. Trichotillomanie – Exploration als Exposition: Die Patientin berichtet initial über quälendes Haareausreißen im vorderen Bereich des Kopfes. Sie erscheint in Begleitung des Ehemannes zu den ersten beiden Gesprächen. Aus der biografischen Entwicklung: Die Patientin hatte bereits als Kind ausgesprochen kräftige und rasch wachsende, stark naturkrause Haare. Sie sei zeitlebens immer auf ihre Haare angesprochen worden. Im Alter von 11 Jahren habe sie innerhalb der Familie eine massive Krisensituation ausgelöst. Sie habe sich bis zu diesem Alter immer sehr intensiv um den Kontakt zur Mutter bemüht. Diese sei aber außerstande gewesen, eine liebevolle Beziehung aufzubauen. Sie habe sich dann recht plötzlich dem Vater zugewandt. In dieser Konfliktsituation habe sie auch begonnen, sich die Haare im Bereich des Vorderkopfes auszureißen. Anfangs sei dies nur dem Vater aufgefallen. Er habe daraufhin sehr liebevolle Gespräche mit ihr geführt, woraufhin sie die Haare vorübergehend nicht mehr ausgerissen habe. Die Mutter habe ihr den „Seitenwechsel“ jedoch nicht verziehen und sie bald darauf – zusammen mit ihren beiden Schwestern – gehänselt und immer wieder auf ihren „negroiden Einschlag“ hingewiesen. Innerhalb der Geschwisterreihe habe sie als die Schönste gegolten, obwohl auch die beiden Schwestern ausgesprochen schöne Mädchen gewesen seien. Die Schwestern hät-
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ten sich jedoch relativ früh gegen sie verbündet, da sie (die Patientin) von der Umwelt aufgrund ihrer Haarpracht die meiste Bewunderung erhalten habe. Die Ablehnung durch die Schwestern habe sehr geschmerzt, z. T. habe sie ihren Haaren dafür die Schuld gegeben. Insgesamt habe sie aufgrund der eingetretenen Konsequenzen ihre Haarpracht nicht besonders geliebt. In der Schule hätte es dieses Problem nicht gegeben. Aufgrund der Familiensituation habe sie aus Verzweiflung versucht, durch stundenlanges Kämmen die Haare zu glätten. Sie habe auch versucht, die Haare glatt zu bügeln. Geändert habe sich die Naturkrause erst nach der Heirat im Alter von 16 Jahren, aber auch in der Ehe blieben ihre Haare das wesentliche Merkmal ihrer Attraktivität für ihren Mann. Die Ehe sei vor drei Jahren in eine Krise geraten. Insgesamt kann die Patientin der Hypothese zustimmen, dass sie sich von frühen Kinderjahren an darüber geärgert habe, dass sowohl die familiäre wie z. T. auch die außerfamiliäre Umwelt sie vor allem über ihre Haare und über ihre Schönheit – sowohl im positiven wie im negativen Sinne – definierte. Sie müsse den Eindruck gewonnen haben, dass sie ohne ihre Haarpracht kaum wahrgenommen worden wäre – mit entsprechenden Konsequenzen für ihr Selbstwertgefühl. Sie stimmt dem unter Tränen zu. Zur aktuellen Beziehung zu den Schwestern gibt die Patientin an, dass die älteste wohl ein zufriedenes Leben führe. Die jüngere Schwester sei aber unglücklich verheiratet – wie sie (die Patientin) selbst inzwischen auch – und habe sich einer sehr rigiden Kirche zugewandt, unter Reduzierung ihrer Sozialkontakte auf das dortige Umfeld. Ihre Schönheit habe sie durch übermäßiges Essen mit entsprechender Adipositas weitgehend ruiniert. Mit dieser Schwester habe sie vor einiger Zeit erstmals ein vertrauensvolles Gespräch
Funktionsanalysen und ihre Effekte im Therapie-Prozess
geführt und dabei den Eindruck gewonnen, dass in der Lebensentwicklung erstaunliche Parallelen zwischen der Schwester und ihr bestünden. Die Patientin kann der Hypothese zustimmen, dass zwischen der „Selbstbeschädigung“ (ihrer Schönheit durch Adipositas) ihrer Schwester und ihrer eigenen (durch Malträtieren ihrer Haarpracht) Parallelen bestehen. Gegen Ende des Gesprächs äußert die Patientin ausgeprägte Aggressionen gegen die Mutter, die sie für ihr eigenes wie auch das Schicksal der jüngeren Schwester verantwortlich macht. In der zweiten Sitzung, eine Woche später, gibt die Patientin an, dass sie nach dem Erstgespräch „geradezu schlagartig und anhaltend keinen Drang zum Haareausreißen mehr empfunden habe“. Sie habe keinerlei Ablenkungsmanöver gemacht und sich auch weiterhin allen Belastungen ausgesetzt, unter denen das Haareausreißen vorher regelhaft zugenommen habe. Ihr Erklärungsmodell: Sie habe erstmals angstfrei schmerzhafte Erlebnisse aus ihrer eigenen und der Familienentwicklung besprechen und ein tiefergehendes Verständnis für die Bedeutung der Haare für ihr Selbstkonzept entwickeln können. Insgesamt habe sie das Gespräch in den Nachwirkungen überraschend beruhigt. Der innere Druck und der Drang, die Haare auszureißen, seien gleichzeitig verschwunden. Ihr Mann habe allerdings in den letzten Tagen kommentiert, dass er sich Sorgen mache, da sie insgesamt ungewöhnlich ruhig geworden sei. Die Patientin wirkt in diesem zweiten Gespräch sogar depressiv, negiert jedoch Traurigkeit. Sie habe allerdings eine starke Tendenz, sich zurückzuziehen, mit sich allein zu sein und auch Bücher zu lesen. Außerdem könne sie erstmals seit Jahren ausgezeichnet schlafen. Sie äußert aber Besorgnis über die Möglichkeit eines
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Rückfalles. Dieses Risiko sieht sie vor allem darin, dass ihre Ehe noch immer in einer Krise ist, aus der sich erst in letzter Zeit wieder die Möglichkeit zu vertrauensvolleren Gesprächen eröffnet hatte. Diesbezüglich wurde die Therapie fortgesetzt. Dieses Ergebnis ist leider nicht typisch für den Verlauf der Therapie bei Trichotillomanie (s. dazu Neudecker, 2006). Interaktionelle Verletzungen aus der Biografie sind bei diesem Störungsbild jedoch eher die Regel als die Ausnahme. Auch der symbolische Charakter in der Kommunikation mit dem engen sozialen Umfeld ist durchaus nicht selten (vgl. auch Kap. 5.3.5, „Münchhausen-Trichotillomanie).
Therapeutisch wird jedoch in der Regel eine multimodale Verhaltenstherapie erforderlich, in der – wie bei den Zwangsstörungen – auch eine gezielte Symptomtherapie und eine viel intensivere Aufarbeitung der interaktionellen Verletzungen unverzichtbar ist.
Beispiel 2. Erythrophobie – Fangnetz für einen Paarkonflikt:
Kurz dauernde Beziehung und akute Symptomatik
Bei diesem Paar (s. Beispiel P1, Kap. 5.2.2.3, Beispiel 2) liegt – wie bei dem Paar in Kap. 5.3.4 (Beispiel 1) – eine kurz dauernde Beziehung und eine akute, im Verlaufe dieser Beziehung entstandene Symptomatik vor. Damit liegt eine prognostisch erst einmal günstige Ausgangssituation vor. Bei der Therapieplanung müssen wir versuchen, hinter den Fassaden des dominant auftretenden Partners und der korrelierend submissiven Partnerin die Ausgangsbedingungen beider Personen vor dem gegenseitigen Kennenlernen zu verstehen. Die Symptomentwicklung der Patientin
Funktionsanalysen und ihre Effekte im Therapie-Prozess
spricht für mangelnden Willen oder mangelnde Kompetenz, sich gegen die Dominanz des Partners durchzusetzen, aber zugleich für eine wachsende Unzufriedenheit mit einer noch aufzudeckenden Entwicklung in der Beziehung. Der initiale Reflex auf Therapeutenseite, die Patientin vor diesem „Ekel“ zu retten und möglichst sofort eine Einzeltherapie zu machen, ist gerade in Bezug auf die Patientin viel zu risikoreich. Noch ist sie ja, trotz der zu vermutenden Ambivalenz, stark in die Partnerbeziehung eingebunden. Wir holen also mühsam die folgenden Informationen zu der biografischen Entwicklung ein, immer wieder unterbrochen vom Partner, der auf eine rasche Symptomtherapie drängt und die Fragen zur biografischen Entwicklung wiederholt als unnötigen Zeitverlust kritisiert: Die Anfang 20-jährige Patientin ist in der Kindheit und Jugend in einer festen Clique in Köln bei eher lockerer Elternbeziehung aufgewachsen. Aus beruflichen Gründen zog sie vor einem Jahr nach Hamburg. Hier vereinsamte sie erst einmal, fühlte sich mit ihrem rheinländischen Temperament fehl am Platze, bis sie nach mehreren Monaten ihren jetzigen Partner durch Zufall in der U-Bahn kennenlernte: Er stand neben ihr, als ihr Gegenstände aus der Einkaufstüte herausgefallen waren, und half beim Einsammeln. Der Mitte 40-jährige Partner ist Ingenieur, hatte Jahrzehnte im Ausland auf diversen Baustellen gearbeitet und war jetzt vor etwa 1 Jahr nach Hamburg in den Innendienst der Firma zurückgekehrt. Die langen Auslandsaufenthalte, jeweils nur durch 1- bis 2-monatige „Heimaturlaube“ unterbrochen, bei denen er bei seinen Eltern wohnte, hatten zum Verlust selbst der wenigen früheren Kontakte zu Gleichaltrigen geführt.
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Auf den Baustellen hätte er sich in der Freizeit weitgehend von Sozialkontakten isoliert und arbeitete im Wesentlichen die Pläne für die jeweils folgenden Tage aus. In Hamburg hatte er sich bei einem seiner Urlaube mit einer Nachbarstochter, die er seit der Kindheit kannte, auf Anraten der beidseitigen Elternteile verlobt; die Verlobung hatten beide dann nach 2 Jahren jedoch wieder aufgelöst, da sie sich nur selten sahen. Sie blieben aber befreundet. Seit der Rückkehr nach Hamburg hatte sich der Partner voll in die neue Büroarbeit in seiner Firma gestürzt und hatte den größten Teil seiner Freizeit damit verbracht, sich am Computer im neuen Aufgabengebiet firm zu machen. Zu der aktuellen Beziehungsentwicklung erhielten wir folgende Informationen: Für beide ist es die erste eigenständig gefundene Beziehung. Die Patientin hatte in ihrer Kölner Clique im Laufe der Jahre einige Beziehungen gehabt, aber keine außerhalb. Frühzeitig stellte der jetzige Partner sie seinen Eltern vor, bald darauf auch seiner Ex-Verlobten, die für ihn zu einer Art Schwesterersatz in der Familie geworden war. Anfangs fühlte sich die Patientin auf diese Weise in der ihr immer noch fremden Stadt angenehm geborgen. Lediglich die Besuche bei der Ex-Verlobten gefielen ihr von vornherein nicht. Zum Erstauftreten der erythrophobischen Symptomatik kam es bei einer gemeinsamen Kaffeetafel bei den Eltern und der ExVerlobten. Die Patientin verließ abrupt den Kaffeetisch in Richtung Garten, wo sie so lange verblieb, bis der Partner sie dort aufsuchte. Sie beschrieb, dass ihr ganz heiß im Kopf geworden sei, dass sie knallrot geworden und dass dieser Zustand für sie unerträglich gewesen sei. Der Freund versuchte vergeblich, sie zu beruhigen und zum Verbleib in dem geselligen Kreis zu bewegen. So verabschiedete man sich ge-
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meinsam. In der Folgezeit verweigerte die Patientin, mit dem Hinweis auf die unerträgliche Symptomatik, die Familien-Besuche. Vergeblich beschwor der Partner sie, dass niemand etwas bemerkt habe und dass, „selbst wenn“, niemand sie deshalb abwerten würde. Die Beziehung geriet in eine Krise. Der Partner informierte sich schließlich in der Selbsthilfeabteilung einer großen Buchhandlung über Ängste und stieß dann auf die Angst vor dem Erröten, die Erythrophobie. Erleichtert und freudig berichtete er der Patientin über seine Entdeckung und die in dem Buch angegebenen verhaltenstherapeutischen Hilfsadressen. Deutlich weniger erfreut und nur zögerlich willigte die Patientin schließlich ein, mit dem Partner das von ihm arrangierte Erstgespräch bei den Verhaltenstherapeuten aufzusuchen. Diese Informationen und die Interaktion des Paares im Gespräch führten zu folgender vorläufiger Hypothese: Beide haben, trotz ausreichender Kompetenzen in der beruflichen Interaktion, erhebliche Defizite in der eigenständigen Gestaltung enger ZweierBeziehungen. Die Clique war für die Patientin im Grunde wie eine Großfamilie gewesen. Das Verlassen derselben und das unterschiedliche Kontaktverhalten vieler Hamburger ließen sie irritiert und subdepressiv reagieren. Der Partner hatte in der Schulzeit und beim Studium kaum richtige Freunde gehabt und war im Wesentlichen auf Familie und Nachbarschaft fixiert gewesen. Auf den zahlreichen Baustellen in diversen anderen Ländern hatte er von früh an von der Hierarchie her eine obere Position. Fachlich war er ausgezeichnet, und so bestand sein Kommunikationsmuster im Wesentlichen im Erteilen von Anordnungen. In der Freizeit im Ausland vermied er Sozialkontakte weitgehend. In den Ferienmonaten in Hamburg waren sie im Wesentlichen auf Familie und Nachbarstochter be-
Defizite in der eigenständigen Gestaltung enger Zweier-Beziehungen
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schränkt. Seit der Versetzung in den Innendienst in Hamburg hatte der Partner sich auch in der Freizeit „auf die Arbeit gestürzt“. Nachdem beide sich durch einen Zufall kennengelernt hatten, versuchten sie, ihre erste eigenständig eingegangene Partnerbeziehung auszubauen. Die Patientin wurde vom Partner umgehend in seine Familie (einschließlich der Ex-Verlobten) integriert. Es gab kaum gemeinsame Aktivitäten in der Freizeit ohne diese Personen. Nach anfänglicher Akzeptanz durch die Patientin (kleine Ersatzfamilie für ihre Clique) wurde ihr diese Situation immer unerträglicher. Der Partner wollte seine erste Freundin ganz für sich absichern (sie 20 Jahre jünger, attraktiv) und sie, wie seine Ex-Verlobte, in den einzig sicheren Kontext, seine Familie, einfügen (und zu einer zweiten Schwester, statt auch zu einer Sexualpartnerin machen?). Die Patientin hatte eher die altersüblichen Partnerschaftsvorstellungen, andererseits aber zu viel Angst, in Hamburg in der Freizeit wieder in ein Loch zu fallen. Ihr Versuch, mit dem Partner eine alternative gemeinsame Freizeitgestaltung aufzubauen, führte zu Streit. Beide sahen die Beziehung bedroht und wollten oder konnten sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht aufgeben. Das Symptom erlaubte der Patientin die beziehungsmäßig relativ ungefährliche Unterbrechung der Familienbesuche. Die Entdeckung von dessen Krankheitscharakter und der leichten Behandelbarkeit gab dem Partner Hoffnung auf baldige Rückkehr in das Familiensetting und wurde für die Patientin zur Bedrohung. In so einer Ausgangssituation sind meistens mehrere Lösungsversuche denkbar. Wir wählten eine indirekte, systemisch orientierte Strategie vom JudoTyp. Der Partner wollte in der Therapie ganz offensichtlich die Kontrolle über das Geschehen nicht ver-
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lieren. Die Patientin war (noch) nicht soweit, sich offen gegen seine Zielsetzungen zu wehren. Nach einer Pause zur Klärung unserer Strategie beschließen wir angesichts der schwierigen Situation, die Sitzung auf insgesamt 2 Stunden auszudehnen. Wir machen dann folgenden Vorschlag, die Kontrolle scheinbar bei dem Partner belassend: Die Erythrophobie ist eine Angsterkrankung wie jede andere auch. Für die Behandlung muss eine Hierarchie angstauslösender Situationen erstellt werden. Die Therapie beginnt mit leichten Übungen, der Schwierigkeitsgrad wird langsam gesteigert. Für die Patientin ist – aus noch nicht geklärten Gründen – die am stärksten belastende Situation die gemeinsame Runde in der Familie. Bei der Exploration der leichteren Situationen (im Beisein des Partners), führten wir die Patientin so, dass sie bald merkte, dass soziale Situationen außerhalb des familiären Milieus als Angstauslöser geringeren Ausmaßes identifiziert werden sollten. Bald haben wir eine Übungsliste unterschiedlicher sozialer Situationen (Freundin vom Arbeitsplatz abholen und sie dem Freund einer Kollegin vorstellen lassen; in ein gut besuchtes Kaffeehaus zu gehen; einkaufen gehen und trotz hektischer Situation zu einer Verkäuferin zu einem Beratungsgespräch durchdringen etc.) – bis zum zweitschwierigsten Item, einer Fahrt in ein Ostseehotel mit Wochenendübernachtungen und Kontaktaufnahme zu anderen dort anwesenden Paaren. Da alle diese Situationen für den sehr kompetenten Partner ja keine Probleme darstellen, könne er seine schon eingenommene Rolle des Co-Therapeuten (Diagnose festgestellt, Therapeuten gefunden, mit in das Gespräch gekommen) konsequent weiter wahrnehmen. In all diesen Übungssituationen könne er die Freundin mithilfe unserer Empfehlungen für co-therapeutisches Verhalten unterstützen.
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Hierarchie angstauslösender Situationen
Rolle des Co-Therapeuten
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Therapeutische Zielsetzung
Verhaltensexperimente
Die therapeutische Zielsetzung war dabei natürlich, dass das Bedürfnis der Patientin nach gemeinsamen Unternehmungen mit dem Partner befriedigt würde und dass zugleich sie und der Partner soziale Aktivitäten außerhalb ihrer bisher bevorzugten sozialen Mikrokosmen erlernen und gestalten würden. Wir vermuteten, dass diese Übungen für den Partner mindestens so schwierig wie für die Patientin sein würden. Diese Verhaltensexperimente sollten beiden eine Chance geben, aus der verfahrenen Beziehungsstruktur auszubrechen und herauszufinden, ob sie wirklich zusammen bleiben und sich weiter entwickeln oder eher trennen wollten. Ein gemeinsamer Besuch bei den Eltern und/oder der Ex-Verlobten stand ja erst dann an, wenn alle anderen Situationen erfolgreich bewältigt sein würden. Bei positivem Verlauf würde sich vermutlich auch das Bedürfnis des Partners nach Familienbesuchen deutlich reduzieren, da nun altersangemessene alternative Aktivitäten aufgebaut sein würden. Gemeinsame Sitzungen mit dem Therapeuten wurden anfangs einmal wöchentlich, dann in längeren Intervallen angeboten. Die Patientin war zunehmend lebhaft an der Entwicklung dieses Übungsprogramms beteiligt, während der Partner immer zurückhaltender reagierte. Das Paar notierte sich den gemeinsam abgestimmten Plan für die kommende Woche – und erschien zum nächsten Termin nicht wieder. 3 Wochen später meldete sich die Patientin alleine. Sie berichtete, dass ihr Partner auf dem Nachhauseweg sehr verärgert reagiert habe. Mit diesem Behandlungsplan würde es ja Wochen oder Monate dauern, bis sie gemeinsam wieder seine Eltern aufsuchen würden. In dem Verhaltenstherapie-Ratgeber habe das ganz anders gestanden, es müsse bessere Therapeuten geben. Sie habe aber auf unserem Plan bestanden. Ihr sei auch langsam deutlich geworden,
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dass ihr Freund mit seinen ständigen Familienbesuchen irgendwie auch vor ihr weggelaufen sei. Er habe ja auch darauf bestanden, dass man vorerst die beiden Singlewohnungen behalte, und sexuelle Kontakte hätten auch noch kaum stattgefunden. Sie habe ihrem Partner nun klar sagen können, dass sie unter keinen Umständen bereit sei, selbst nach erfolgreicher Therapie, diese ständigen Besuche bei der Familie wieder aufzunehmen. Daraufhin sei es zu heftigem Streit und einer vorläufigen Trennung gekommen. Die Patientin wollte sich bei diesem letzten Kontakt nur rückversichern, dass sie sich ggf. wieder an uns wenden könne, wenn sie Hilfe brauche – für ihre Angst vor dem Erröten benötige sie im Moment keine. Ein leichtes Rotwerden in bestimmten sozialen Situationen kenne sie seit der Schulzeit, es habe sie nie wirklich belastet. Die akute, ambivalente Verstrickung dieses Paares (bei erst kurzzeitiger Beziehung und akuter Symptomatik) wurde also durch eine indirekte, systemisch ausgerichtete, verhaltenstherapeutische Übungs-Verschreibung (gegenüber dem Partner im Sinne eines Judo-Ansatzes) rasch aufgelöst. Die Patientin reifte soweit nach, dass sie auf die „SymptomNotbremse“ zur Durchsetzung wichtiger Wünsche verzichten konnte, sie verließ die Patientenrolle. Der Partner verweigerte leider die ihm indirekt zugedachte Patientenrolle. Eine direktive Herauslösung des im Beginn des Erstgespräches destruktiv-dominant erscheinenden Partners hätte nach unserer Hypothese eine deutlich geringere Chance gehabt, diesem Paar zu einer raschen Lösung zu verhelfen. Der Partner hätte dann aus seiner (vor sich selbst nicht eingestandenen) Not versuchen müssen, jeden weiteren Kontakt der Patientin mit diesen Therapeuten zu unterbinden.
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Akute, ambivalente Verstrickung aufgelöst
Übungs-Verschreibung
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Wichtig ist also bei einer „dyadischen Patientensituation“ mit unterschiedlicher subjektiver Rollendefinition „join the system where it is“.
Symptom-Ping-Pong
Dieses System hatte in seiner Interdependenz (dem Willen, zusammenzubleiben, trotz unterschiedlicher Zielsetzungen in der Beziehungsgestaltung) ein „Symptom-Ping-Pong“ entwickelt: Der erste Schmetterball der Patientin war das abrupt aufgetretene Symptom, das ihr die Durchsetzung ihres Willens ermöglichte; der gegnerische Schmetterball war die Entdeckung der „Turbotherapie“. Wer würde gewinnen, wer würde verlieren? Der Ball, den die Therapeuten in das Spiel brachten, war die Verschreibung der ursprünglich spontan vom Partner gewählten Co-Therapeuten-Rolle, die ihn, bei Befolgung, zum Co-Patienten gemacht und erst einmal zur gemeinsamen Umsetzung der Beziehungswünsche der Patientin geführt hätte. So musste er nicht in Konkurrenz um die therapeutische Entscheidungsmacht, risikoreich für die Primärpatientin, aus einer Einzeltherapie ausgeschlossen werden. Der Zeitaufwand für diese klärende, systemisch-orientierte Verhaltens-ÜbungsTherapie war minimal.
5.3.2 Von der Symptom-Exposition zur Konflikt-Exposition Erfolgreiche Exposition (in vivo wie in sensu) im Symptombereich führt häufig dazu, dass die Patienten spontan die erlernten Bewältigungsstrategien für negative Emotionen auf ihr Alltagsleben übertragen (Beispiel 1) oder Beziehungskonflikte (auch interpersonale Konflikte) erst in der Symptom-Exposition „aufgedeckt“ werden (Beispiel 2).
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Beispiel 1. Von der Bewältigung der SchlangenAngst zur Überwindung von Menschen-Angst: Bei Phobien mit schweren Panikattacken geht das Selbstwertgefühl aufgrund der immer wieder erlebten „Niederlagen“ gegenüber dem Auslösereiz im Laufe der Zeit erheblich zurück. In wenigen Sitzungen einer erfolgreichen Expositionstherapie wird dieser Prozess bei vielen Patienten ohne spezifische zusätzliche Maßnahmen nicht nur wieder ausgeglichen, sondern ein neues, ausgeprägtes Selbstvertrauen kann resultieren. Eine dafür typische schriftliche Reflexion einer Patientin mit einer extremen Schlangenphobie nach nur 3 jeweils 3-stündigen Exposition-invivo-Sitzungen mag dies verdeutlichen: „Auf dem Flur, bevor ich den Raum mit der Schlange im Glaskäfig betreten sollte, fühlte ich mich so unendlich hilflos. In dem Raum, als dann noch der Therapeut seinen Stuhl weiter von mir weg setzte, fühlte ich mich auch noch verlassen. Ich fragte mich dann: Warum fühle ich mich bloß so allein? Ja, weil ich in schwierigen Situationen meine Probleme nie allein gelöst habe. Noch an dem Abend beschloss ich, mal allein wegzufahren und selbstständiger zu werden“. Sie schrieb weiter: „Das Betrachten und Beschreiben der Schlange, mich von der Realität überzeugen: Genauso kann ich z. B. bei einer Auseinandersetzung mit meiner Chefin vorgehen, nämlich indem ich mich quasi daneben stelle und die Situation betrachte und beschreibe. Ebenso, wie das Betrachten der Schlange sie schließlich harmlos erscheinen lässt, wird auch die Chefin harmlos … Das Hineinversetzen in die Schlange, genau betrachten, wie sie Angst hat, auch aus der Situation heraus möchte, macht sie harmlos. Versetze ich mich in die Lage meiner Chefin, wird auch sie harmlos. Immer wieder musste ich mich
Selbstwertgefühl
Exposition-in-vivo
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während der Therapie überwinden, Dinge zu tun, die ich stets gemieden habe. In den Sitzungen habe ich gemerkt, dass ich alles, was mir Angst machte, bewältigen konnte, also auch alle Konflikte im täglichen Leben. … Während der Therapie konnte mir niemand die Qual abnehmen, z. B. die Bilder anzusehen. Ich musste mich entscheiden und die Sache durchstehen. Die Therapie war teilweise so hart, dass ich auch hart zu mir sein musste, um sie durchzustehen. Das hat mich widerstandsfähiger gegen meine Umwelt gemacht“. Nicht wenige Patienten machen auch aus Bemerkungen der Therapeuten für sich eine Art „Mantra“, mit deren Hilfe sie dann leichter in angstbesetzten Situationen durchhalten können – so auch diese Patientin: „In den ersten Gesprächen in der Gruppe fragte der Therapeut, was wir täten, wenn wir mit einem lebenden Tier (Schlange) in Kontakt treten müssten. Ich sagte, dass ich wohl gegen die Wand laufen oder mich an den Therapeuten klammern würde. Der Therapeut fragte mich dann, ob das denn so schlimm sei. Tatsächlich habe ich nicht die Flucht ergriffen und habe mich auch nicht an den Therapeuten geklammert – und tue es jetzt auch in schwierigen Situationen nicht mehr, selbst wenn mir die Hände zittern oder meine Stimme unsicher wird – „Ist das denn so schlimm?“ hilft mir dann immer wieder weiter. (S. dazu auch Young, 2006, der das alte analytische Konzept der „Internalisierung des Therapeuten“ in seinem Ansatz voll wieder aufgreift). Auf die Frage, wie sie es geschafft hat, die für sie zu Beginn Panik-auslösende Therapie so erfolgreich in so kurzer Zeit mitzumachen – was ja leider nicht bei allen Teilnehmerinnen ihrer Gruppe der Fall war – berichtete die Patientin das letzte Auslöseerlebnis vor der Therapie: In einem Lokal sei sie beim plötzlichen Anblick einer Schlan-
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genlederimitat-Tasche „ausgerastet“; das habe ihr auf höchst peinliche und grausame Weise verdeutlicht, dass sie nun entweder eine Therapie machen müsse oder bei der nächsten ähnlichen Situation „völlig durchdrehen“ und für „total verrückt“ gehalten werden würde. Ohne dieses Erlebnis hätte sie möglicherweise nicht den „Mut der Verzweiflung“ für diese Therapie aufbringen können. Es sei hier angemerkt: Bei Angststörungen mit so schweren Panikattacken bleibt eine systematische Desensibilisierung in weitaus den meisten Fällen wirkungslos (Hand, 1993, 2007).
Beispiel 2. Von der Exposition zum Telefonhörer zur (Familien-)Konflikt-Exposition: Nicht selten ergeben sich bei Therapeuten-begleiteter, emotionsgeladener Exposition in vivo (bei Zwangskranken insbesondere im häuslichen Milieu) überraschende Zugänge zu bis dahin verschlossenen systemischen Informationen. Die Patientin mit ausgeprägtem Waschzwang (Beispiel P5, s. Kap. 5.2.2.4, Beispiel 3) hat ihrem Ehemann und ihrer noch mit in der Wohnung lebenden Tochter untersagt, das Telefon zu benutzen, da der Hörer dann in unerträglicher Weise verschmutzt würde. Nach der 4. oder 5. Therapiesitzung gibt die Patientin an, nun auch selbst den Telefonhörer nicht mehr in die Hand nehmen zu können und damit ihren einzigen verbliebenen Kontakt zur Außenwelt verloren zu haben. Die ihr vorgeschlagene Übung, den Hörer in die Hand zu nehmen und im Beisein des Therapeuten herauszufinden, was dies bei ihr auslöst, beantwortet sie initial mit der Frage „Sie wissen doch, dass ich vor 10 Jahren eine Psychose hatte …“ (zur Erläuterung: Es hatte sich nach Einschätzung der damaligen Behandler um einen
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umschriebenen Eifersuchtswahn gehandelt), worauf der Therapeut mit der Gegenfrage reagiert, „Möchten Sie jetzt, dass ich genauso viel Angst bekomme wie Sie?“ Die Patientin nimmt den Hörer in die Hand – mit leicht strafendem Blick zum Therapeuten. Bei der Analyse der aufkommenden Emotionen und Kognitionen schildert sie: Angst, Angst vor Schmutz … dann Unruhe und Anspannung … dann plötzlich Ekel. An dieser Stelle interveniert der Therapeut mit dem Vorschlag, sich voll dem Ekel auszuliefern. Nach kurzem Zögern lässt die Patientin sich darauf ein und schildert dann, wie das Ekelgefühl mehr und mehr in Wut umschlägt. Dies geschieht, als die Patientin gebeten wird, mit der Hörmuschel erst das Ohr zu berühren und sich dann damit über die Haare zu streichen. (Der Vorschlag erfolgt intuitiv, da das Kopfhaar für viele Menschen eine stark emotional besetzte „Streichelzone“ ist.) Zornig berichtet die Patientin jetzt, dass sie an die noch im Hause lebende jüngste Tochter denken müsse. Der Telefonhörer wird jetzt völlig unwichtig. Das aktuelle Geschehen zwischen Patientin und Tochter rückt in den Mittelpunkt. Die Patientin hatte vor einigen Tagen beobachtet, wie die Tochter entgegen ihrer Anweisung heimlich das Telefon benutzt hatte. Dies hatte die Patientin in einen fast unerträglichen Konflikt versetzt, da sie bis dahin gemeint hatte, zu dieser jüngsten Tochter als einzigem Menschen auf der Welt noch eine Vertrauensbeziehung zu haben. Diese wollte sie einerseits jetzt nicht gefährden, andererseits war es ihr unerträglich, dass die Tochter sie heimlich in dieser „wichtigen Sache“ hintergangen hatte. Sie versagte sich daraufhin selbst den Zugang zum Telefon, um dann Tochter und Ehemann vorhalten zu können, dass sie aufgrund ihrer Krankheit nun den Kontakt zur Welt völlig verloren habe (in der Hoffnung, dass die Tochter die dahinter-
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stehende Vorwurfshaltung erkennen könne, ohne dass das Tabu der guten Beziehung offen in Frage gestellt würde). Nachdem die Mikroanalyse des Symptomverhaltens bei der In-vivo-Exposition nun mitten in einen Familienkonflikt geführt hatte, konnte die Exposition (Konfrontation) direkt in die Familienarbeit übertragen werden. In der nächsten Sitzung nach der Übung mit dem Telefonhörer stand die Analyse der Mutter-TochterBeziehung im Mittelpunkt. Noch einmal ausgehend von der Emotionsveränderung in der Expositionssitzung – von Angst über Ekel zu Aggression – konnte die Patientin nach und nach Näheres über die dramatische Eifersuchtssituation vor über 10 Jahren berichten. Nicht nur ihr Mann und die ältere Tochter hatten ihr damals vermittelt, dass ihr Mann nicht „fremdgegangen“ war, sondern auch die damals 6-jährige Tochter, ihr Lieblingskind, hatte weiter liebevolles Verhalten zum Vater gezeigt. Die Patientin hatte in den Folgejahren ihre tiefe Enttäuschung darüber unterdrückt, um aufrechterhalten zu können, in dieser Tochter den einzigen vertrauenswürdigen Menschen auf der Welt zu haben. Als sie dann beobachtet hatte, dass die Tochter entgegen ihrer Anordnung heimlich das Telefon benutzt hatte, mochte sie immer noch nicht die Illusion von der vertrauensvollen Beziehung (nach ihrer Definition) zerstören. Ihr emotionaler Konflikt führte zum vorwurfsvoll gemeinten Verzicht auf ihre letzte Verbindung zur Außenwelt. Diese Schilderung eröffnete eine heftige Diskussion zwischen Mutter und Tochter. Wiederholt kamen nun Vorwürfe der Mutter, auch diese Tochter liebe sie nicht wirklich. Die Tochter weinte mehrfach, und die Mutter wandte dann jeweils abrupt ihre Augen von der Tochter zum Therapeuten – als nehme sie die emotionalen Reaktionen der Tochter nicht wahr. Die
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In-vivo-Exposition führt zu Familienkonflikt
Analyse der MutterTochter-Beziehung im Mittelpunkt
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Sitzungen gemeinsam mit dem Ehemann
In beiden Kniegelenken rheumatische Entzündungen
Längere Pause der Verhaltenstherapie
Überraschende Entwicklung
Patientin wurde sanft dazu motiviert, ihre Tochter anzuschauen, ihre Gefühle zuzulassen und diese der Tochter direkt mitzuteilen. Dies führte zu einer wesentlich offeneren Kommunikation zwischen Mutter und Tochter, und wir schlugen vor, jetzt entsprechende Sitzungen gemeinsam mit dem Ehemann durchzuführen. Die Patientin ließ sich darauf ein und formulierte als vorläufiges Ziel dieser Sitzungen, gefühlsmäßig wieder fähig zu werden, mit dem Ehemann das frühere bevorzugte Hobby, das Tanzen, wieder aufzunehmen. Wenige Tage vor diesem gemeinsamen Termin mit dem Ehemann berichtete die Patientin telefonisch, dass sie nicht kommen könne, da sie in beiden Kniegelenken rheumatische Entzündungen bekommen habe. In der internistischen stationären Behandlung konnte das klinische Bild durch die Serologie nicht bestätigt werden. Dennoch wurde eine antibiotische Medikation versucht. Bereits auf die erste Dosis entwickelte die Patientin eine allergische Reaktion, so dass die Medikation abgebrochen werden musste. Die Patientin wurde schließlich mit nicht gebesserten Beschwerden nach Hause entlassen. Wir boten der Patientin dann am Telefon eine längere Pause der Verhaltenstherapie an, die sie sofort akzeptierte. Als wir uns nach 8 Monaten telefonisch bei der Patientin meldeten, erfuhren wir folgende überraschende Entwicklung: Aufgrund ihrer Arthritis hatte die Patientin die meisten ihrer exzessiven Säuberungsrituale in der Wohnung drastisch reduziert – wie die Patientin uns leicht provozierend erläuterte: nicht wegen der Nachwirkungen der Verhaltenstherapie, sondern da ihre Arthritis sie daran gehindert hatte, ihre Zwänge umzusetzen. Einige Zeit später war dann die Arthritis wie durch ein Wunder kontinuierlich abgeklungen, ohne dass die Zwangssymp-
Funktionsanalysen und ihre Effekte im Therapie-Prozess
tomatik in der früheren Stärke zurückkehrte. Dann hatte die Patientin ihren Mann überredet, mit ihm wieder, wie früher, in eine Tanzschule zu gehen (nach über 10-jährigem gefängnisähnlichem Dasein in der Wohnung). Die Begründung dafür war, dass sie damit nicht etwa die Ehe verbessern, sondern ein Training für ihre Knie durchführen wollte. Dann „beichtete“ die Patientin, dass sie einen anderen Therapeuten in der Nähe ihrer Wohnung gefunden hatte, der viel sanfter und weniger fordernd mit ihr umginge. Interessanterweise hatte die Patientin, mit der Stütze dieses Therapeuten im Hintergrund, zwischenzeitlich unseren Behandlungsplan mit beeindruckenden Erfolgen umgesetzt. Rückblickend mussten wir feststellen, dass wir das Tempo der Konfrontation vom Symptomverhalten zu den Beziehungskonflikten – erst mit der Tochter, dann mit dem Ehemann – erheblich zu hoch angesetzt hatten, obwohl die Patientin die Zielsetzungen teilte. Retrospektive Hypothesen: Bei dieser sehr beziehungsempfindlichen Patientin war es über 10 Jahre vor der jetzigen Therapie in einer nicht objektiv rekonstruierbaren Paarkonflikt-Situation zu extremen Eifersuchtsreaktionen gekommen, die von den damaligen Behandlern als Eifersuchtswahn eingestuft und medikamentös behandelt wurden. Die eingetretene Störung in der Paarbeziehung und im Familienleben konnte damals nicht „repariert“ werden. Über die 10-jährige schwere Zwangssymptomatik blieb das Ehepaar zusammen mit der jüngsten Tochter (die ältere war auf Distanz gegangen) verbunden, das Ehepaar sicherlich im Sinne einer „Schlüssel-Schloss“Dyade. Als dann nach vielen Jahren massiven Leidens die Verhaltenstherapie gesucht wurde, ging die Patientin den vorgeschlagenen therapeutischen Weg zwar etwas zögerlich, aber doch mutig mit, bis sie in eine
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Tempo der Konfrontation
„Schlüssel-Schloss“-Dyade
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Emotionale Überforderungssituation
emotionale Überforderungssituation geriet. Daraus „rettete“ sie ihr Körper mit der „reaktiven Arthritis“. Er „rettete“ sie dann gleich ein zweites Mal, indem der medikamentöse Behandlungsversuch der Arthritis über die sofortige allergische Reaktion blockiert wurde. Im Anschluss daran „half die Arthritis“, erst die Zwangssymptomatik deutlich zu reduzieren und dann die Wiederaufnahme des Tanzunterrichtes mit dem Ehemann beziehungsunabhängig zu begründen (mit ihm zu tanzen, ohne ihn deshalb wieder mögen zu müssen). Mit der zusätzlichen Unterstützung durch einen „milderen“ Therapeuten konnte sie so ihre eigenen Tempovorgaben umzusetzen. In den folgenden Jahren blieb der Therapieeffekt aus vielerlei Gründen allerdings nicht stabil, und die Patientin wandte sich noch mehrmals an uns, wobei dann auch zeitweise stationäre Aufnahmen erforderlich wurden. Wir sehen auch an diesem Beispiel, dass die laufende Therapie oft eine Fortsetzung der Verhaltensanalyse und Hypothesenbildung darstellt.
In-vivo-Analyse des Symptomverhaltens
Grundsätzlich wäre es sicherlich sinnvoll, vor der ersten umfassenden Therapieplanung bei komplexen Störungen im Rahmen der probatorischen Sitzungen auch eine In-vivo-Analyse des Symptomverhaltens im häuslichen Umfeld und teilweise im Beisein der anderen Familienmitglieder durchzuführen. Das ist im starren System der Stundenregelung der Richtlinien-VT leider nur schwer möglich bzw. für die Therapeuten wenig attraktiv.
Funktionsanalysen und ihre Effekte im Therapie-Prozess
5.3.3 Familiensitzungen als Ergänzung zur stationären Einzel- Verhaltenstherapie Beispiel 1. Jugendliches „Weglaufen vor der Arbeit“ als hilfloser Hilfeversuch für die Mutter: Der 19-jährige Patient wurde zur stationären Diagnostik eingewiesen, da er den vor 2 Jahren angetretenen Ausbildungsplatz nur 1 Jahr lang regelmäßig wahrgenommen und dann so häufige Fehlzeiten gehabt hatte, dass ihm gekündigt wurde. Seither hat er immer wieder neue Arbeit angenommen – „um die Mutter zu unterstützen“ –, die er dann jeweils nach kurzer Zeit wieder verlor, da er meist in der Nähe des Arbeitsplatzes umkehrte, nach Hause fuhr, Tranquilizer einnahm und Musik hörte oder sich ins Bett legte. Er begründete diese Rückzüge mit seiner Neigung zu Depressionen, konnte aber nicht angeben, was im Moment des Umkehrens nach Hause gedanklich in ihm ablief. Das sei „eben alles eigenartig, das kann man nicht erklären, vielleicht sind es Magenbeschwerden“. Aus der biografischen Entwicklung: Lebt mit geschiedener Mutter und 13-jähriger Schwester zusammen. Scheidung der Eltern vor 5 Jahren. Meint, von der Mutter danach zu sehr in ihre Probleme einbezogen worden zu sein. Die Mutter sei „ebenfalls ein depressiver Typ“, in puncto Arbeitsverhalten aber das Gegenteil von ihm – ginge auch bei noch so schlechtem Befinden pünktlich und regelmäßig zur Arbeit. Sie reagiere sich dann aber in der Freizeit an den Kindern ab, in den letzten beiden Jahren gezielt an ihm. In der ersten Zeit nach der Scheidung habe er Mitleid mit der Mutter gehabt und versucht, ihr zu helfen. In den letzten 2 Jahren sei das immer weniger der Fall, da er die Mutter als ihm gegenüber boshaft
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erlebe. Die Mutter habe angekündigt, mit der Schwester aus der Wohnung auszuziehen. Die Mutter habe keine feste neue Beziehung. Er selbst hat seit 3 Monaten die erste Freundin. Vereinbarung im Erstgespräch: Der Patient soll versuchen, die Mutter und die 13-jährige Schwester zu einem Familieninterview in die Klinik zu holen. Dabei erste Hypothese (dem Patient noch nicht mitgeteilt): Die Mutter geht aus Sicht des Patienten wie ein Uhrwerk zur Arbeit, auch wenn es ihr noch so schlecht geht, und reagiert dann abends den Kindern gegenüber schnell gereizt. Der Patient kommuniziert symbolisch durch sein Verhalten – für die Mutter unlesbar verschlüsselt –, dass sie sich eigentlich so verhalten sollte wie er jetzt: Er geht schon vor der Arbeit nach Hause, wenn er sich schlecht fühlt, und versucht damit, der Mutter „den rechten Weg zu weisen“. In der ersten Familiensitzung fordert die Mutter die Tochter auf, „nur die reine Wahrheit“ zu sagen. Im Gesprächsablauf macht diese mit Abstand den stabilsten Eindruck aller Beteiligten. Sie schildert ausführlich die häusliche Situation, vor allem die konstant schlechter werdende Verfassung der in der Freizeit zurückgezogen lebenden, für die Kinder immer schwerer zugänglichen Mutter. Das jüngste Familienmitglied übernimmt im Gespräch klar die Rolle der „Familienleitung“. Zur zweiten Familiensitzung erscheinen lediglich der Patient und seine Schwester. Sie berichten, dass die Mutter sich seit dem Familiengespräch mit großer Enttäuschung und Verärgerung über das Verhalten ihrer Tochter nun auch von dieser abgewandt habe. Abends komme sie vom Arbeitsplatz meist erst spät oder gar nicht nach Hause. Sie habe es strikt abgelehnt mitzuteilen, wo sie sich dann aufhalte. Die Schwester berichtet, die Mutter habe sie am Telefon
Funktionsanalysen und ihre Effekte im Therapie-Prozess
„angefaucht“ und ihr vorgeworfen, zu ihrem Bruder statt zur Mutter gehalten zu haben. Es gehe sie deshalb „einen Sch…dreck“ an, was sie (die Mutter) jetzt mache. Mit den beiden anwesenden Familienmitgliedern wird nun erst einmal die für die Schwester bedrohliche Situation eines völligen Zerfalls der Restfamilie angesprochen: Die Mutter hat ihren baldigen Auszug angekündigt, nun auch ohne die Tochter. Der Tochter hat sie angedroht, sie in ein Heim einweisen zu lassen. In der Schilderung dieser Abläufe scheint die Tochter kaum irritiert oder deprimiert. Sie betont, voll zu dem zu stehen, was sie in der Familiensitzung berichtet habe, zumal die Mutter sie ja auch ausdrücklich aufgefordert habe, die Wahrheit zu sagen. Der Patient fühlt sich sichtlich unwohl in der Situation und versucht, direkten Fragen nach seiner Reaktion auf die Lage der Schwester auszuweichen. Schließlich gibt er aber an, dass er nun wohl doch eine Arbeit aufnehmen müsse, um für die Schwester und sich selbst den Lebensunterhalt sicherzustellen. Er werde auf keinen Fall zulassen, dass die Schwester in ein Heim komme. Er sei bereit, alle notwendigen Behördengänge zu machen, um als gerade Volljähriger die Verantwortung für die Schwester übernehmen zu können. Der Therapeut sichert volle Unterstützung dieser Schritte zu. Der Schwerpunkt der Sitzung wird dann jedoch dahin verlagert, beiden die Notlage ihrer Mutter zu verdeutlichen. Hinter dem aggressiven Auftreten stünden mit Sicherheit Enttäuschung und Traurigkeit darüber, nun nicht nur den Ehemann und den Sohn, sondern auch noch die Tochter verloren zu haben. Beide Kinder können dieses gut nachvollziehen und meinen, dass die Mutter im Augenblick weniger vor ihnen als „vor sich selbst davonläuft“. Dem Patient wird vermittelt, dass er durch das Verhalten der Mutter nun gegenüber der Schwester
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Wunsch nach verständnisvoller Zuneigung
Suizidversuche
verantwortlich gemacht worden sei. Die Schwester sei aufgrund ihres Alters den entsprechenden gesetzlichen Vorschriften, d. h. äußeren Kräften, völlig ausgeliefert, wenn sie sowohl von der Mutter als auch von ihm verlassen würde. Die Schwester zeigt sich immer noch wenig verunsichert. Der Therapeut wird dem Patient gegenüber indirekt provokativ, indem die Parallelität der Verhaltensweisen seiner Mutter und seiner eigenen herausgestellt wird: Er habe die Mutter immer mehr durch seine Verweigerung einer Berufstätigkeit (keine Beteiligung an der ökonomischen Absicherung der Familie) provoziert – sie provoziere ihn durch zunehmende Verweigerung ihrer Mutterrolle, erst ihm und nun auch der Tochter gegenüber. Der Patient kann, verlegen lächelnd, zustimmen, dass hinter diesen Provokationen auf beiden Seiten der enttäuschte Wunsch nach verständnisvoller Zuneigung stehen könnte. Ihm wird versichert, dass auch er jederzeit ohne Vorwürfe (wie seine Mutter) aus der Therapie aussteigen könne. Er könne sich aber auch Gedanken machen, ob er die verschlüsselte Kommunikation mit der Mutter ändern wolle. Es wird auf das Risiko hingewiesen, dass bei weiterer Eskalation auf der einen oder anderen Seite Suizidversuche drohen könnten. Die Geschwister nicken eifrig und informieren darüber, dass der Patient selbst schon Suizidversuche gemacht habe und sie auch von einem ihrer Mutter wüssten. Dem Patient wird dann vermittelt, dass seine Chancen, nochmals der Mutter zuliebe einen neuen Berufsanfang zu machen, gegen Null gingen. Es sei zwar voraussehbar, dass die Mutter sich in einem solchen Falle ihm wieder freundlich zuwenden würde; daraufhin würde er jedoch wieder mit Aggressionen reagieren, da es ihm nur bestätigen würde, nur akzeptiert zu sein, wenn er Leistungen wie die Mutter erbringe – statt erst einmal die eigenen
Funktionsanalysen und ihre Effekte im Therapie-Prozess
Probleme zu lösen. Mit dem Beginn der Arbeitsaufnahme der Mutter zuliebe sei das Wiederauftreten des alten Symptomverhaltens vorprogrammiert. Beide Geschwister nicken wieder zustimmend. Der Patient meint dann, dass er eigentlich doch auch eine Ausbildung für sich machen wolle. Dies wird sofort in Frage gestellt, da er nach wie vor der Mutter mit seinem Symptomverhalten auch verdeutlichen wolle, dass sie sehr depressiv ist und endlich Hilfe in Anspruch nehmen solle, um die Scheidung zu bewältigen. Solange er sich in diesem Punkt als scheiternd erlebe, könne er gar keine Zukunftsperspektive für sich selber planen. So lange müsse er auch der Mutter den Spiegel vorhalten, dass sie selbst ihre Depression nicht länger über hektische Berufstätigkeit überspielen, sondern lieber verarbeiten und über eine neue Lebensplanung mit wieder aktiver Mutterrolle auflösen solle. Auch hier lebhafte Zustimmung der Geschwister. Der Patient meint daraufhin, wenn ihm dies nun alles klar sei, dann wolle er doch schließlich auch für sich etwas planen und für den Notfall, dass seiner Schwester die Heimunterbringung drohe, funktionsfähig werden. Dies wird vom Therapeuten erneut in Frage gestellt aufgrund der massiven Verstrickung in die Gefühlsbeziehung zur Mutter. Mit dieser Gesprächsführung wird versucht, den Patient von seiner demonstrativ autoaggressiven bisherigen Handlungsweise in eine eher aktive und angemessen fordernde zu provozieren. Beiden Geschwistern wird aufgetragen, der Mutter mitzuteilen, dass sie vom Therapeuten und letztlich auch von ihren Kindern dringend weiter in den Therapiesitzungen benötigt wird. Es wird ihnen noch einmal erläutert, dass das gegenwärtige Therapie- und FamilienFluchtverhalten der Mutter keine leichtsinnige Verletzung ihrer Pflichten darstellt, sondern Ausdruck
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Familien-Fluchtverhalten der Mutter
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ihrer zunehmenden Hilflosigkeit ist. Beide können das gut nachvollziehen und haben das wohl vorher auch schon ähnlich gesehen. Bei der Terminvereinbarung für die nächste Sitzung wird der Schwester deutlich mitgeteilt, dass sie trotz des heutigen geschwisterlich positiven Gesprächsverlaufes damit rechnen müsse, dass der Bruder möglicherweise nicht genug Stärke haben werde, sich der fordernden Situation zu stellen. In diesem Fall solle sie, falls das ihr Wunsch sei, unbedingt den nächsten Termin alleine wahrnehmen. Der Bruder betont daraufhin, dass er es auf gar keinen Fall zulassen werde, dass seine Schwester die Bürde der weiteren Maßnahmen alleine zu tragen habe. Zum nächsten Termin erscheint die Schwester alleine. Dem Bruder sei es in den letzten beiden Tagen schlecht gegangen. Das Verhalten der Mutter habe sich nicht geändert. Sie wisse nun auch nicht mehr so recht, wie es mit der Familie weitergehen könne. Die Schwester wird für ihren massiven Einsatz für den Erhalt der Familie nachhaltig gelobt. Ihr wird vermittelt, dass ihre Aufgabe jetzt erst einmal zu Ende ist. Der Therapeut würde sich jetzt um ein Gespräch mit der Mutter und im Anschluss daran um ein Versöhnungsgespräch zwischen Mutter und Bruder bemühen. Sie selbst könne jederzeit mit uns Kontakt aufnehmen, falls es ihr selber schlechter gehen oder Dinge passieren sollten, mit denen sie alleine nicht zurechtkomme. Erleichtert verlässt die Schwester das Gespräch. Die telefonische Kontaktaufnahme mit der Mutter gestaltet sich am Beginn sehr schwierig. Der Mutter wird vermittelt, dass uns nachvollziehbar ist, dass sie aus ihrer Sicht enorme Enttäuschungen mit den Kindern erlebt hat. Sie wolle für die Kinder das Beste, umgekehrt aber auch die Kinder für sie – und
Funktionsanalysen und ihre Effekte im Therapie-Prozess
alle würden im Grunde noch an der Familie hängen, die vom Ehemann und Vater verlassen ist. Sie wird schließlich überzeugt, ein gemeinsames Gespräch mit Therapeut und Sohn zu führen. In diesem langen Gespräch öffnen sich beide schließlich mit ihren Nöten und Wünschen, sie können sich am Schluss des Gespräches in die Arme nehmen. Die Mutter willigt in eine eigene Therapie für ihre lang anhaltende Depression ein. Dem Sohn wird über den Sozialdienst der Klinik Unterstützung bei der Rückkehr in ein geordnetes Berufsleben angeboten, er nimmt das Angebot an. Die Schwester wird am Ende dieser Sitzung, noch im Beisein des Patienten und der Mutter, telefonisch über das Ergebnis dieses Gespräches informiert. Sie wird nochmals sehr für ihren Mut und ihre Offenheit gelobt – nur dadurch sei „der Stein ins Rollen“ gekommen. Sie ist äußerst erleichtert und erhält nochmals das Angebot, sich im Bedarfsfall jederzeit an uns wenden zu können. Rückblickend bestätigte der Ablauf dieser insgesamt doch sehr kurzen Familien-Analysen und -Interventionen: Die Mutter war nach dem Weggang des Ehemannes in eine massive Depression verfallen, hatte diese jedoch, hoch diszipliniert und im Verantwortungsgefühl gegenüber den Kindern, durch weiteres Funktionieren zu überspielen versucht. Für die Kinder war sie aufgrund ihrer Depression in der Freizeit emotional kaum erreichbar – und das war umso schmerzlicher, als ja schon der Vater weitgehend „verschwunden“ war! Für den erwachsenen Sohn nahm der innere Druck, aus Verantwortungsgefühl für die Mutter etwas tun zu müssen, permanent zu. Auf alle seine Versuche, ihr direkt Ratschläge und Hilfe zu geben, reagierte die überforderte Mutter zunehmend gereizt und mit Rückzug. Nach einem Jahr begann dann das „Weglaufen“ des Sohnes vor den nun rasch
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Familientherapie
„Richtigkeit“ der Neuinterpretationen
wechselnden Arbeitsplätzen. Das appellative Verhalten des Sohnes wurde immer massiver, der depressive Rückzug der Mutter schlug in gereizte Interaktion mit dem Sohn um. Nach der ersten Familiensitzung – in der das stabilste Familienmitglied, die junge Tochter, die Familienproblematik klar auf den Tisch gelegt hatte – reagierte die Mutter hilflos gekränkt-aggressiv auch der Tochter gegenüber. Ihr völliger Rückzug aus der Familie begann. Das äußere Verhalten des Sohnes und der Mutter standen nun in noch krasserem Gegensatz zu ihren inneren Bedürfnissen. Die heimliche Hauptsymptomträgerin der letzten Jahre, die Mutter, wurde nun, neben ihrem Sohn, auch zur offenen Symptomträgerin. Damit bestand die Chance, tiefgehende Veränderungen einzuleiten. Die Stabilität der jungen Tochter in dieser hoch belastenden Situation war vermutlich darauf zurückzuführen, dass sie einen sehr stabilen und stützenden Freundinnenkreis hatte und auch zu deren Familien guten Kontakt hielt. Dieses Beispiel zeigt auch klar, dass hier intermittierend eine Familientherapie und nicht eine Familienberatung durchgeführt wurde. Mit Vorgehensweisen aus der direktiven Familientherapie (s. Kap. 5.1.2) wurde erst eine klare Hypothesenbildung möglich und in drei solchen Sitzungen der Boden dafür vorbereitet, dass die Mutter endlich in eine Verhaltenstherapie für ihre schwere Anpassungsstörung kam und der Sohn dadurch in seinem Verantwortungsgefühl entlastet und auf eine erfolgversprechende neue Berufslaufbahn gebracht werden konnte. Das einzig gesunde und zugleich jüngste Familienmitglied hatte sich nach Einladung mutig als unverzichtbare Co-Therapeutin eingebracht und konnte nun entlastet wieder in ihre Peer-Group zurückkehren. Die „Richtigkeit“ der Neuinterpretationen der Verhaltensweisen des Patienten und der Mutter ist –
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wie immer bei solchen Interventionen – durch die Zustimmung des Patienten und seiner Schwester natürlich nicht „bewiesen“. Die „Angemessenheit“ darf aufgrund ihrer motivierenden Effekte für ein Ausbrechen aus den dysfunktionalen Familienritualen aber vermutet werden.
Beispiel 2. Der zwangskranke erwachsene Sohn als Familienhelfer: Ein ähnliches „Helfer-Symptom“ zeigt dieses Beispiel. Nach 10-tägiger stationärer verhaltenstherapeutischer Behandlung äußert der 22-jährige W. den Wunsch nach einem Familiengespräch. Er gibt folgende Ziele an: der Mutter verdeutlichen, dass sie selbst dringend Hilfe braucht; bei ihrer Ablehnung von Hilfe Klärung, wie er mehr Freiraum erhalten könne, ob er ggf. von Zuhause ausziehen solle; bei den Eltern Verständnis für seine Erkrankung, deren Ursachen und Auslöser zu wecken. Seine Befürchtungen: die Mutter kommt möglicherweise nicht aufgrund massiver Angst, für die Erkrankung des Sohnes beschuldigt zu werden; die Eltern wollen auf keinen Fall über ihre gravierenden Eheprobleme sprechen; der Patient hat Angst, wegen seiner „Bequemlichkeit“ von der Mutter bloßgestellt zu werden. Die bisherigen Analysen während des stationären Aufenthaltes ergaben: Der Patient lebt als Einzelkind noch bei den Eltern. Er erlebt die Ehe der Eltern „frustriert und voller Streit“, er sei für beide das wichtigste Bindeglied. Ihm gegenüber verhielten sich beide Elternteile im Rahmen ihrer Möglichkeiten zugewendet und förderlich. Vom Vater ginge jedoch auch ein sehr starker Leistungsdruck aus, aufgrund seiner eigenen entsprechenden Normen. Die Mutter binde ihn nach einer außerehelichen Beziehung des
Helfer-Symptom
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Familiengespräch in der Klinik
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Vaters viel zu stark an sich. Seit der außerehelichen Beziehung des Vaters habe die Mutter auch eine zunehmende Zwangsstörung entwickelt, die ihn und den Vater inzwischen außerordentlich zu Hause einenge, Besuch dürfe nicht mehr empfangen werden. Die Mutter klammere sich immer mehr an ihn. Seit 2 Jahren hätten sich bei ihm selbst sehr starke Zwangsgedanken, sich oder anderen Schaden zuzufügen oder schon Schaden zugefügt zu haben, entwickelt. Seit etwa der gleichen Zeit habe er eine Freundin, mit der er eine konfliktreiche Beziehung führe. Der Patient deutet indirekt an, dass bei der Mutter eine starke Depression bis hin zur Suizidgefährdung vorliege. Alle Familienmitglieder akzeptieren das Familiengespräch in der Klinik, das nachfolgend entsprechend dem Protokoll einer Psychologin im Praktikum wiedergegeben wird: Nach einleitenden Worten von H. und auf die Frage, was sich in der Familie verändern solle, berichtet Frau B. von den Schwierigkeiten, die ihr Sohn mit seiner Freundin habe. Sie berichtet lange über Eskalationen, die mit der Freundin in der Familie stattgefunden hätten. Sie gibt der Freundin die Schuld an der Erkrankung des Sohnes. Beide Elternteile hätten den Wunsch, dass der Sohn sich von der Freundin trennt, wollen ihn jedoch nicht unter Druck setzen. Nach dem Monolog der Mutter meldet sich der Patient zu Wort und betont gegenüber seiner Mutter sehr kompetent, wie stark er unter seiner Erkrankung leide und dass es auch mit seiner Erkrankung zusammenhänge, dass er sich von seiner Freundin nicht trennen könne. Er erwartet von seinen Eltern mehr Verständnis für seine Erkrankung. Außerdem sei die Freundin manchmal letzter Zufluchtsort, wenn er es unter den Regeln und Vorschriften der Zwangskrankheit der Mutter und dem Streit zwischen seinen Eltern zu
Funktionsanalysen und ihre Effekte im Therapie-Prozess
Hause nicht mehr aushalte. Er äußert gegenüber der Mutter, dass sie dringend professionelle Hilfe wegen ihrer Putz- und Ordnungszwänge brauche. Herr H. fasst zusammen, dass er den Eindruck habe, der Patient stehe zwischen zwei starken Frauen, die beide an ihm zerrten. Zunächst habe sich der Patient aktiv gegen den Druck gewehrt, dann habe er eine passive Art des Widerstandes entwickelt (Zwänge; beginnende Adipositas). Die Familie nimmt diese Hypothese an. Bezüglich der Vater-Sohn-Beziehung wurde im weiteren Gesprächsverlauf bei beiden der Wunsch deutlich, mehr miteinander (ohne die Mutter) zu unternehmen (Fußball zu schauen, in Urlaub zu fahren). Beim konkreten Vorschlag von H., dass sie einen zweiwöchigen Urlaub planen könnten, äußern beide Sorge um die Mutter, die dann alleine zu Hause zurückbliebe. Beide beschreiben sie als hilfsbedürftig, trotz ihres starken Auftretens nach außen. H. fasst das Problem dahingehend zusammen, dass der Lebenswunsch des Sohnes (irgendwann in Südafrika zu leben und dort eine Familie zu gründen) nicht erfüllbar scheint, weil er sich zu große Sorgen um die Mutter macht und sie aus diesem Grunde nicht allein lassen kann. Daraufhin betont die Mutter, er sei durch seine Krankheit auch abhängig von ihr. Die Zusammenfassung, dass beide voneinander abhängig sind und es ihnen z. T. schlecht geht, weil es dem jeweils anderen schlecht geht, können beide annehmen. H. äußert dann: „Wenn ich jetzt Analytiker wäre, würde ich sagen, dass der Sohn sich unbewusst-absichtlich eine Freundin sucht, die für seine Lebensplanung nicht in Frage kommt, damit er auf diese Weise sicherstellt, nicht aus Liebe zu einer anderen Frau die Mutter zu verlassen“. Mutter und Sohn finden diese Hypothese plausibel. Dann werden die Belastungen der Mutter thematisiert, ihre schwere Kind-
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Vater-Sohn-Beziehung
Sorge um die Mutter
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heit, der Zusammenbruch ihrer Herkunftsfamilie, die Eheprobleme und die Sprachlosigkeit in der Ehe (der Vater wirkt in emotional wichtigen Bereichen sehr sprachgehemmt). Ihr wird die Hypothese angeboten, dass sie dadurch eine starke Traurigkeit erlebe, die sie dann mit Ordnungs- und Reinigungszwängen kompensiere. Sichtbar emotional berührt stimmt die Mutter zu. Im Hinblick auf die gegenseitige Abhängigkeit von Sohn und Mutter kann sie annehmen, dass es auch ihrem Sohn helfen würde, wenn es ihr besser ginge, da er sie dann besser loslassen könne. „Auch ihm zuliebe“ willigt sie in eine eigene ambulante Therapie ein. Folgende gemeinsame Vereinbarungen werden am Ende des Gespräches getroffen: Die Mutter nimmt eine eigene ambulante Therapie auf; der Konflikt zwischen Sohn und Freundin wird ausschließlich in der Therapie des Sohnes bearbeitet, die Mutter hält sich zukünftig heraus; das Ehepaar versucht, sich in einer Paarberatung erst einmal auf die positiven Aspekte ihrer Beziehung zu konzentrieren, um mittelfristig die Sprachlosigkeit in emotional wesentlichen Bereichen zu bearbeiten; die Vater-Sohn-Beziehung wird ausgebaut. Dieses Gespräch führte für alle Beteiligten akut zu einer erheblichen Entlastung. Bei der Protokollführenden Mitarbeiterin löste der gewährende Stil des Therapeuten in der ersten Gesprächsphase zunehmende Frustration aus, da sie Bedenken entwickelte, die Mutter würde mit ihrem Monolog über die Freundin die Sitzung sprengen. Die zugrunde liegende Hypothese des Therapeuten war, dass häufig das initial am heftigsten redende Familienmitglied die größte Angst hat, was in dem Gespräch passieren wird (u. a. als „schuldig“ am Krankheitsgeschehen identifiziert zu werden). Nach Eingewöhnung in die
Funktionsanalysen und ihre Effekte im Therapie-Prozess
Gesprächssituation, Erleben eines sanften und zugewendeten Therapeuten und des Ausbleibens von Schuldzuweisungen von anderen Familienmitgliedern ist es dann sehr viel leichter als bei zu frühem Start, die anderen Familienmitglieder zu aktivieren. Es konnte auch davon ausgegangen werden, dass der Sohn sein Anliegen rechtzeitig vorbringen würde. Zu den Hypothesen des Therapeuten ist zu ergänzen, dass sie nicht immer seine Meinung wiedergaben, sondern die Familienmitglieder zu eigener Meinungsäußerung provozieren sollten. Während der dann noch längere Zeit weiterlaufenden stationären Behandlung war trotz der akuten Entlastung im Familienkonflikt und trotz der noch recht jungen Zwangssymptomatik (2 Jahre) beim Patient eine sehr intensive therapeutenbegleitete Exposition in vivo erforderlich! Bei Entlassung des Patienten aus stationärer Therapie wurde folgende zusammenfassende Hypothese formuliert: Die offene Familienkrise begann, als die Affäre des Vaters bekannt und zugleich auch beendet wurde. Die massive und anhaltende depressive Reaktion der Mutter wurde von ihr über rasch zunehmende Wasch- und Kontrollzwänge zu bewältigen versucht (intrapsychische Funktionalität). Die Autonomieeinschränkungen, die sich durch die Zwänge für den Ehemann ergaben, könnten auch als ein „ungefährliches“ Ventil für ihre Aggressionen aufgrund seines „Fremdgehens“ interpretiert werden. Die dabei nicht vermeidbare Einbindung des Sohnes in die „Zwangsvorschriften“ mit Einengung der jugendlichen Autonomiebestrebungen führten bei ihm zu Aggressionen gegen die Mutter. Diese durften aber bewusst nicht gefühlt werden, da es der Mutter so schlecht ging und der Sohn zu diesem Zeitpunkt ihr einziger (überforderter) Helfer war und sich deshalb
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Während der stationären Behandlung
Hypothesen bei Entlassung
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Nach Entlassung
Stabilisierung
nicht gegen sie auflehnen durfte. Seine vor 2 Jahren entstandenen Zwangsgedanken, sich oder anderen Schaden zuzufügen oder zugefügt zu haben, wurden ebenfalls zur „ungefährlichen“ (da Krankheitssymptom) Verschlüsselung seiner Aggressionen. Zugleich ermöglichte der Streit mit der Mutter über die Angemessenheit seiner Zwangsgedanken eine ungefährliche, direkte Abreaktion aggressiver Empfindungen. Die Zwangssymptomatik des Sohnes kann damit auch als Rettungsversuch gegenüber den Zwängen der Mutter über einen „Gegen-Zwang“ interpretiert werden. Sie führte schließlich dazu, dass über seine Behandlung die viel länger zwangskranke und massiv depressive Mutter zu der längst überfälligen Therapie motiviert werden konnte! Idealerweise hätten die Familientherapiesitzungen bei dem guten Start und der Gutwilligkeit aller beteiligten Personen als Schwerpunktinterventionen fortgesetzt werden müssen – was in der Klinik aus Zeitmangel nicht mehr möglich war und außerhalb der Klinik eher regelhaft unmöglich ist. Erst die Wiederversöhnung der Eltern, mit Erlernen offener emotionaler Kommunikation, hätte den Sohn endgültig entlastet und ihn wirklich frei gemacht, sein Beziehungsproblem mit der Freundin zu lösen und seine Zwangssymptomatik als „Sicherheit“ nicht mehr zu benötigen. Die Mutter erhielt, trotz intensiven Bemühens um eine eigene Therapie, diese erst nach sehr langer Wartezeit. Die bei Mutter und Sohn eingetretene Stabilisierung (der Sohn konnte seine Arbeit wieder aufnehmen und ebenfalls nach längerer Wartezeit weitere ambulante Therapie finden) blieb auf diese Weise erheblich unter dem eigentlich möglichen Niveau.
Funktionsanalysen und ihre Effekte im Therapie-Prozess
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5.3.4 Stationär-ambulante Therapievernetzung Bei stationärer Behandlungsbedürftigkeit eines Paar-/ Familien-Mitgliedes ist die initiale, prospektive Vernetzung der stationären und ambulanten Verhaltenstherapie die ideale Prävention der gerade dargestellten Einbrüche nach Klinikentlassung. Bei akuter (Zwangs-)Symptomatik und recht junger Beziehung ist ein familiäres System grundsätzlich wesentlich flexibler als bei Langzeitbeziehung und gleichzeitig chronischer Symptomatik (s. Beispiel P1 Erythrophobie). Das erste Familien-Beispiel möge dies verdeutlichen. Beispiel 1. Akute Symptomatik in junger Beziehung:* Eine junge Frau kommt mit ihrem ebenfalls jungen Ehemann. Beide kennen sich erst seit 2 Jahren, haben vor einem Jahr geheiratet und seit einigen Monaten ein gemeinsames Baby. Erst während der Schwangerschaft und insbesondere nach der Geburt des Kindes wurden für den Ehemann zunehmende Reinigungsund Ordnungszwänge der Patientin erkennbar, die sowohl das partnerschaftliche Zusammenleben als insbesondere auch den Umgang mit dem Baby so stark beeinflussten, dass der Ehemann nicht länger bereit war, dies zu tolerieren. Die Ehefrau ergänzte, dass es ihr sehr schwerfalle, aufgrund all ihrer Sorgen um die körperliche Gesundheit ihres Kindes eine innige emotionale Beziehung aufzubauen. Die aus der Biografie deutlich gewordenen ängstlich-anankastischen Persönlichkeitszüge hatten sich bis zur * Zit. in Anlehnung an Hand, 2002b; mit freundlicher Zustimmung des Verlages Hans Huber, Bern.
Reinigungs- und Ordnungszwänge
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Hierarchisierter, dreistufiger Behandlungsplan
Strategie der Integration systemischer Aspekte
Schwangerschaft in der Beziehung nicht erkennbar ausgewirkt. Es gelang nach zwei gemeinsamen Gesprächen, einen klaren, hierarchisierten, dreistufigen Behandlungsplan zu entwickeln: 1. Alleinige stationäre Aufnahme der Patientin zur Behandlung der Zwangssymptomatik durch eine intensive Expositionstherapie. In dieser Zeit nimmt der Ehemann Urlaub und betreut das Kind. Besuchstermine von Ehemann und Kind in der Klinik werden täglich in Rücksprache mit den Therapeuten neu vereinbart. Sobald die tägliche Expositionsbehandlung hinreichend Erfolg gebracht hat: 2. Aufnahme des Kindes in das Zimmer der Mutter. Erlernen von zwangsfreiem Umgang mit dem Baby und Aufbau einer tragfähigen emotionalen Beziehung. Bei der Umsetzung erlebt die Patientin die spontane Zuwendung und Unterstützung von weiblichen wie männlichen Mitpatienten unterschiedlicher Altersgruppen (deutlich positiver Effekt auf die Stationsatmosphäre!). Der Ehemann arbeitet wieder, kommt aber regelmäßig zu Besuch und wird jetzt teilweise in die Therapie mit der Patientin einbezogen. Nach hinreichendem Beziehungsaufbau zum Baby und im Wesentlichen zwangsfreien Umgang mit diesem: 3. Zunehmende Probe-Beurlaubungen nach Hause (mit dem Baby) und in der Klinik Paargespräche zur Klärung noch vorhandener Differenzen bezüglich der täglichen Lebensführung, um einem erneuten Triggern der Zwangssymptomatik möglichst vorzubeugen.
Funktionsanalysen und ihre Effekte im Therapie-Prozess
Im Anschluss an die insgesamt sehr positive Entwicklung in der stationären Behandlung erfolgt dann über die Ambulanz eine verhaltenstherapeutische Nachbehandlung mit den Schwerpunkten: Unterstützung bei der Übertragung des in der stationären Exposition Erlernten in das häusliche Milieu, und Aufarbeitung jener biografischen Erfahrungen, die vorher die Entwicklung der zwangshaften Persönlichkeitszüge gefördert hatten. Der Ablauf verlief erfreulicherweise einmal genau nach Plan und führte zu einem stabilen Erfolg. Dies ist immer dann wahrscheinlich, wenn die Partnerbeziehung grundsätzlich intakt ist, keiner der Partner schwerere Entwicklungsdefizite hat und der gesunde Partner rechtzeitig (vor Beschädigung der persönlichen Beziehung) für Hilfe sorgt. Der Ausgang elternbezogener systemischer Interventionen im verhaltenstherapeutischen Kontext hängt sehr stark von der psychischen Gesundheit beider Elternteile ab sowie von ihrer Bereitschaft und Fähigkeit, im Interesse des Kindes die vorgeschlagene Trennung von Elternrolle und Paarrolle zu vollziehen. Bei Eltern mit ausgeprägten eigenen Störungen und aggressionsreicher Beziehungs-Ambivalenz und bei (vermutlich) erhöhter genetischer Vulnerabilität für ein Zwangsverhalten beim Kinde sind trotz intermittierend beeindruckender Erfolge die mittelfristigen Krankheitsverläufe eher deprimierend. Dies soll an dem folgenden Beispiel verdeutlicht werden (aus Hand, 2000).
Beispiel 2. Der zwangskranke jugendliche Sohn als Elternhelfer: An diesem zweiten Familienbeispiel wird dargestellt, wie tiefgehende primäre Störungen bei den chronisch
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Nachbehandlung
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
beziehungsambivalenten Eltern die Behandlung und die Langzeitprognose des jugendlichen Symptomträgers beeinträchtigen. Symptomatik und Familien-Problematik: Der 15-jährige Sohn leidet seit 2 ½ Jahren unter teilweise bizarren Zwangs-Handlungen und Zwangsgedanken. Seit 2 Jahren hat er deshalb den Schulbesuch und jeglichen Kontakt zu Gleichaltrigen eingestellt. Die Eltern sind tagsüber berufsbedingt getrennt, in dieser Zeit nimmt der Sohn den größten Teil seines täglichen Schlafs. Sobald die Eltern zu Hause sind, steht ihr Verhalten komplett unter der Kontrolle des Sohnes (s. u.). Die Symptomatik des Sohnes begann, als der Vater eine Intimbeziehung zu einer Wohnungsnachbarin aufgenommen hatte und ausziehen wollte. Der Vater gab diese Beziehung schließlich auf, nachdem der Sohn „sehr krank“ geworden war, die Freundin zog aus dem Hause aus. Die Paarbeziehung der Eltern bleibt weiterhin schwer gestört, der Ehemann sieht sich aufgrund der Erkrankung des Sohnes aber zum Verbleib in der Familie genötigt, die Ehefrau ist mit dem Sohn inzwischen eine „Ersatzehe“ eingegangen. Die Eltern durften nur mehr in seiner Gegenwart miteinander reden, mit einem auf Anordnung des Patienten sehr reduzierten Vokabular und ausschließlich zu von ihm vorgegebenen Themen. Mutter und Vater mussten in der Wohnung getrennt und unter Supervision des Sohnes (bevorzugt von einem bei offenstehenden Türen in der Mitte der Wohnung positionierten Sessel aus) seine Zwangshandlungen durchführen. Er bestand darauf, dass er selbst „zu krank“ dazu sei. So blieb den Eltern „keine Chance“, noch spontan miteinander zu kommunizieren – was aus Sicht des Patienten ja auch viel zu gefährlich gewesen wäre. Gleichzeitig zeigte der Patient zu Hause
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ausgeprägt regressives Verhalten (auf der Ebene eines Kleinkindes): Er hörte auf, sich selbst zu waschen und anzuziehen und urinierte und defäkierte gehäuft nachts in sein Bett, so dass die Mutter kommen und ihn säubern und trockenlegen musste. Auch dies wurde auf bestimmte Zwangsgedanken, die er nicht äußern könne, zurückgeführt. Vorläufige Hypothesen: Die Zwangssymptomatik „diente“ dem Patient dazu, das drohende Auseinanderfallen der Familie zu verhindern. Diese Bedrohung entstand genau zu dem Zeitpunkt, als der Patient in die Pubertät kam und erlebte, wie seine wenigen Freunde begonnen hatten, mit Mädchen Kontakt aufzunehmen. Seine sozialen Defizite waren früh entstanden aus der Einzelkindrolle in einer Familienatmosphäre, die durch den anankastisch-depressiven Interaktionsstil der unglücklich verheirateten Eltern geprägt war, sowie durch eine frühe Außenseiterrolle unter Gleichaltrigen. Für seine Retter-Rolle für die Familie hatte der Patient in den vergangenen 2 Jahren einen sehr hohen Preis gezahlt. Seine früh angelegten sozialen Defizite und Ängste hatten durch den völligen Kontaktverlust zur Gleichaltrigengruppe und durch die reduzierte Lebensführung mit den immer skurriler werdenden interaktionellen Riten innerhalb der Familie eine massive Verschlechterung erfahren. In der Familie hatte er ein forderndes Durchsetzungsverhalten aufgebaut, das ihn unter Gleichaltrigen und im Leben außerhalb der Familie völlig scheitern lassen würde. Die „SymptomWahl“ dürfte sowohl genetisch wie durch elterliches Modelling mit bedingt sein: Beide Eltern zeigten ausgeprägt anankastische Persönlichkeitszüge. Der Mutter hatte die Erkrankung des Sohnes den Ehemann zurück in die Wohnung gebracht – wenn auch nicht in die Familie oder in die Ehe. Die
Symptom-Wahl
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Sekundäre soziale Defizite Pathologische Kommunikationsmuster
Familientherapie
emotionalen Bedürfnisse der Mutter wurden jetzt ausschließlich gesättigt durch das „Hilfeverhalten“ für den Sohn, das sich schließlich bis hin zu dessen Sexual-Erziehung (Vorlesen von Aufklärungs-Literatur) erstreckte. Der Vater sah sich verloren in einer „Verantwortungs-Falle“. Er konnte in keiner Weise der Herausforderung des Sohnes entsprechen, ein starker, verantwortungsbewusster Ehemann und Vater zu sein (selbst dann nicht, als es nachts gehäuft zu viel zu engen Mutter-Sohn-Kontakten kam). Dennoch fühlte er sich verantwortlich für das Wohlergehen seines Sohnes und glaubte, dem nur gerecht werden zu können, wenn er in der Wohnung verbliebe und sich an der Therapie beteilige. Therapieplan: Aufgrund der Erstgespräche war ein hohes Interesse des 15-jährigen Sohnes an einer Paartherapie für die Eltern erkennbar. Er signalisierte unübersehbar, dass er den Beginn einer solchen Therapie durch deutliche Reduktion seiner Zwangssymptomatik und entsprechende Entlastung der Eltern im Hause „honorieren“ würde. Zugleich wurde aber deutlich, dass der Sohn mittlerweile durch den 3-jährigen Rückzug in die Familie (über den Zeitraum seiner Pubertät) erhebliche sekundäre soziale Defizite in der Interaktion mit Gleichaltrigen entwickelt und zugleich pathologische Kommunikationsmuster zur Kontrolle über andere in der Interaktion mit den Eltern erlernt hatte. Es wurde daher ein 3-stufiges Vorgehen geplant, dem alle Familienmitglieder von vornherein zustimmen sollten: 1. Beginn mit einer Familientherapie, in der schwerpunktmäßig neue „Verhaltenskontrakte“ über den Umgang miteinander und mit den Zwängen zu vereinbaren waren. Das Ausmaß des Zwangsverhaltens
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des Sohnes und seiner Forderungen an die Eltern um Mitausführung von Zwangshandlungen war dabei sowohl sein „Spielgeld“ als auch für die Therapeuten der Gradmesser des Wirksamwerdens dieser Intervention. 2. Im nächsten Schritt: Parallele Durchführung einer Paartherapie für die Eltern und einer Einzeltherapie für das Symptomverhalten des Sohnes. 3. Falls beide Maßnahmen die vorher festzulegenden Therapieziele erreichen: Durchführung einer Gruppentherapie in einer Gleichaltrigengruppe für den Sohn, um dessen sekundäre soziale Lerndefizite aufzuarbeiten. Therapieprozess: Es dauerte etwa 1 Jahr, bis die Eltern sich auf diese hierarchisierte, multimodale Behandlung einlassen konnten. In der Zwischenzeit unternahmen sie mehrere, aufgrund des Widerstandes des Sohnes vergebliche Versuche, ihn stationär psychiatrisch unterzubringen. Ab dem Tage der Zustimmung der Eltern zu diesem Behandlungsplan reduzierte der Sohn kontinuierlich die vor allem die Eltern belastenden Zwänge: Er beendete sein nächtliches Einnässen und Einkoten, er wusch sich wieder täglich (vorher allenfalls einmal in der Woche) und seine Haare in mehrtägigen Abständen (vorher in mehrmonatigen Abständen). Er gab also sein „Struwwelpeter-Syndrom“ (sehr lange, ungepflegte Haare und Fingernägel) abrupt auf. Die von den Eltern vorgebrachten Bedenken (geheimer Wunsch?), aufgrund seines in der Öffentlichkeit extrem auffälligen Äußeren die ambulanten Termine gar nicht wahrnehmen zu können, wurden damit gegenstandslos. Ab diesem Zeitpunkt kooperierten Eltern und Sohn über 1 Jahr: Bezüglich der Familieninterventionen beschlossen wir, diese sehr direktiv durchzu-
Struwwelpeter-Syndrom
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Verhaltens-Geschenk
führen, um einige neue Spielregeln zu implementieren. Wir vermieden verhaltenstherapeutische Ansätze, wie „reciprocity counselling“ (Stuart, 1980), da dies bei zwangshaften Familien nur zu endlosen Debatten untereinander führt, wer wem im gegenseitigen Austausch denn nun ein „faires“ VerhaltensGeschenk anbietet (s. dazu auch Kritik von Jacobson, 1984). Stattdessen verordneten wir den Austausch von konkreten „Verhaltensgeschenken“. Wir beanspruchten die Entscheidung darüber, ob das jeweils vorgeschlagene Verhaltensgeschenk im Rahmen der von uns vorgegebenen Regeln akzeptabel oder nicht akzeptabel sein würde. So versuchten wir, in die völlig desolate Kommunikationsstruktur neue Regeln zu bringen und dadurch erst einmal den Sohn als den „Herrscher in der Familie“ teilweise zu entmachten. Dem Sohn und seinen Wünschen kamen wir zugleich dadurch entgegen, dass wir darauf bestanden, dass die Einzel-Verhaltenstherapie des Sohnes für seine Zwangssymptomatik und die entsprechenden Invivo-Sitzungen zu Hause im Beisein der Eltern und unter Neudefinition von deren Rolle nur dann erfolgen könnten, wenn die Eltern parallel bei uns in eine Paartherapie gehen würden. Das äußerliche Verhalten der Eltern wurde im elterlichen wie im Paarbereich weitgehend störungsfrei, die Mutter und der Sohn entflochten ihre Beziehung auf ein adäquates Maß. Der Sohn ging wieder zur Schule und ließ sich sogar erstmalig auf eine kurz dauernde Beziehung zu einem Mädchen ein. Langfristig scheiterte diese Behandlung trotz ihrer fast dramatischen Anfangserfolge vermutlich aus folgenden beiden Gründen: a) Der Ehemann entwickelte trotz der sehr positiven äußeren Veränderungen in der Interaktion des Paares
Funktionsanalysen und ihre Effekte im Therapie-Prozess
keine neue Zuneigung zu seiner Frau. Zugleich wurde aber von beiden Elternteilen klar signalisiert, dass eine geordnete Trennung, unter weiterer Wahrnehmung der elterlichen Funktionen gegenüber dem Sohn, nicht einmal diskutiert werden durfte – vermutlich aus geradezu panischer Angst vor einem Wiederaufflammen der quälenden Zwangssymptomatik des Sohnes. b) Der Sohn verweigerte hartnäckig die abschließende Beteiligung an einer Gruppentherapie mit Gleichaltrigen, da er ja schon genesen sei. Da die beiden wesentlichen Rückfallrisiken nicht abgebaut werden konnten, stellten wir intern eine schlechte Prognose. 2 Jahre nach Therapieende begann ein zunehmender Rückfall. In den Folgejahren kam es zu zwei weiteren stationären Verhaltenstherapien bei uns unter intensiver Einbeziehung der Eltern – mit jeweils recht guter Remission der Symptomatik. Auch jetzt gelang es in vielfachen Anläufen nicht, den Sohn für die genannte Gruppentherapie zu motivieren. Ein weiteres Jahr später war das Verhalten aller 3 Familienmitglieder wieder vergleichbar mit dem vor Therapiebeginn, mit nachfolgender weiterer Chronifizierung. Unter ethischen wie versorgungspolitischen Gesichtspunkten stellt sich bei solchen Verläufen immer wieder die Frage: Sollten solche Patienten/Familien, solange Therapie-Wiederholungen hinreichend positive Erfolge bringen, diese auch alle 3–5 Jahre (mit hohem Zeitaufwand für die Therapeuten) wieder erhalten – trotz non-compliance mit entscheidenden Therapievorschlägen der Therapeuten (vgl. entsprechendes Vorgehen bei Psychosen, Suchterkrankungen und bestimmten somatischen Erkrankungen)? Oder sollte die Therapeutenzeit den auf Wartelisten Lei-
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
denden zur Verfügung gestellt werden? In den meisten solchen Fällen eine schwierige Entscheidungssituation.
Beispiel 3. Pseudo-Psychose: Die Verzweiflung des Sohnes an der Verzweiflung der Eltern: Zwangssymptomatik und Kommunikationsstörung
Schizophrenie
Ein 23-jähriger Sohn mit schwerer Zwangssymptomatik und einer deutlichen Kommunikationsstörung wird von den Eltern zum Erstgespräch gebracht. Er war vorher vergeblich ambulant behandelt worden, dann monatelang in betreutem Wohnen untergebracht und schließlich längere Zeit in Nervenkliniken (mit der Diagnose einer beginnenden Schizophrenie) gewesen. Nachdem anfänglich nur die Eltern geredet hatten, konnte im Einzelgespräch mit ihm beobachtet werden, dass bei alltäglichen Themen scheinbar gravierende Verständnisprobleme bestanden oder an einer Frage vorbeigeredet wurde. Bei dem Ansprechen komplexer Familienprobleme (die aus schriftlicher Vorinformation dem Interviewer bekannt waren) wurden dagegen Gedankenabläufe und Sprache überraschend klar und eindeutig. Aus der von allen Familienmitgliedern erhobenen Vorgeschichte ergab sich, dass bei einem etliche Jahre zurückliegenden Autounfall, bei dem der Vater im Pkw Sohn und Tochter mitgenommen hatte, die Tochter ums Leben gekommen war. In den Folgejahren war der Vater häufig präsuizidal gewesen, hatte aber trotzdem alle seine beruflichen Verpflichtungen weiter erfüllt. Er war in der Familie dem Sohn gegenüber aber so versteinert, dass dieser zu ihm keinerlei Gefühlszugang mehr bekommen konnte. Die Eltern waren häufig in stummer Trauer vereint, auch dann war der Sohn eher ausgeschlossen. Das vorher rege Sozialleben der Familie wurde massiv reduziert, da-
Funktionsanalysen und ihre Effekte im Therapie-Prozess
durch auch die Sozialkontakte des heranwachsenden Jugendlichen zu Gleichaltrigen. Unter diesen Bedingungen entwickelte sich sukzessive eine Zwangssymptomatik, deren Progredienz in den letzten Jahren erheblich zugenommen hatte, bei gleichzeitiger Entwicklung einer fraglich psychotischen Symptomatik. Über einen Zeitraum von einigen Jahren erfolgten bei uns dann mehrere stationäre Behandlungen des Sohnes, mit intensiven verhaltenstherapeutischen und pharmakotherapeutischen Maßnahmen für die Zwangssymptomatik. Eine aus unserer Sicht entscheidende Begleitmaßnahme stellte die teilweise Aufarbeitung der Familiengeschichte sowohl mit dem Patienten alleine als auch in gemeinsamen Therapiesitzungen mit beiden Elternteilen dar. Dabei ergab sich, dass auch die Mutter, die durch ihre äußere Stabilität entscheidend zum Zusammenhalt der Familie beigetragen hatte, in viel höherem Maße hilfsbedürftig war als ursprünglich angenommen. Der Vater lehnte die angebotene intensive Nachbearbeitung seines Traumas und seiner Schuldgefühle aus Angst vor einer Dekompensation ab, ließ sich jedoch voll auf die Familiensitzungen ein, bei denen das vergangene Erlebnis nur als Auslöser angesprochen und dann die Folgen für die Restfamilie in den Vordergrund gestellt wurden. Diese stationären Behandlungsmaßnahmen wurden am Wohnort durch verschiedene ambulante Maßnahmen und Rehahilfen unterstützt. Mit einem insgesamt hohen stationären und ambulanten Therapieaufwand – vergleichbar dem bei der zuletzt beschriebenen Familie – kam es zu einem kontinuierlichen Besserungsprozess bei allen Beteiligten. Auch die Mutter begab sich schließlich noch in eine eigene kurze, aber intensive stationäre Therapie. Weitere stationäre Maßnahmen für den Sohn waren in der Folgezeit nicht mehr
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Intrapsychische PseudoCoping-Strategie
Strategie der Integration systemischer Aspekte
erforderlich. Dessen eigenständige Funktionsfähigkeit im Alltagsleben (einschließlich des Eingehens von Beziehungen) nahm, trotz intermittierender Rückfälle, kontinuierlich zu, woran die ambulante verhaltenstherapeutische Weiterbehandlung in der Richtlinien-VT dann entscheidenden Anteil hatte. Psychotisch anmutende Kommunikationsstörungen traten nach der ersten stationären Verhaltenstherapie nicht mehr auf. Berufliche Belastbarkeit konnte allerdings nur eingeschränkt erreicht werden. Auch der Aufbau stabiler Partnerschaften erwies sich als sehr schwierig – nicht überraschend auf dem intrafamiliären Erfahrungshintergrund des Patienten in Kindheit und Jugend, der extrafamiliär im Gleichaltrigenmilieu nicht kompensiert werden konnte. Dem therapeutischen Vorgehen lag die Hypothese zugrunde, dass von zentraler initialer Bedeutung für das Gesamtsystem Familie das Trauma vor vielen Jahren war. Der verzweifelte Versuch des Sohnes, emotional Zugang zu dem versteinerten (und sich dadurch vor Suizid schützenden) Vater zu gewinnen – sowohl um zu trösten als auch mit dem Wunsch, wahrgenommen zu werden –, blieb erfolglos, ebenso das überfordernde Bemühen der Mutter, ein Familienleben aufrechtzuerhalten. In dieser Situation entwickelte der Sohn dann in entscheidenden Reifungsjahren als Jugendlicher die zunehmende Symptomatik, sowohl als intrapsychische Pseudo-CopingStrategie als auch mit der interaktionellen Funktionalität doch noch liebevolle, anerkennende Aufmerksamkeit vor allem des Vaters, aber auch der Mutter zu erlangen. Die zwei- bis dreistündigen Familiensitzungen verliefen außerordentlich emotionsreich für alle Beteiligten. Aus therapeutischer Sicht schien oft die Grenze der Belastbarkeit einzelner Mitglieder in einer
Funktionsanalysen und ihre Effekte im Therapie-Prozess
Sitzung erreicht, und Vorsichtsmaßnahmen zur akuten Nachbetreuung wurden bereitgestellt, jedoch überraschenderweise nie benötigt. Der anfangs für Familie wie Therapeuten sehr belastende emotionale Konfrontationsprozess hatte aus Sicht aller Beteiligten wesentlichen Anteil daran, dass die sukzessive Genesung wieder möglich wurde. Diese stark geraffte Darstellung des diagnostisch-therapeutischen Prozesses gibt natürlich viele weitere Facetten der Gesamttherapie nicht wieder (nach Hand, 2000).
5.3.5 Ambulante Verhaltenstherapie In unserer Verhaltenstherapie-Ambulanz behandelten wir vom Versorgungsauftrag her erwachsene Patienten. Dennoch kamen gelegentlich Eltern mit ihren (meist) zwangskranken Kindern in die Erstsprechstunde. Dieser Weg erwies sich immer dann als richtig, wenn sich im Erstinterview die Hypothese einer durch die Eltern induzierten Zwangssymptomatik mit intrapsychischer und interaktioneller Funktionalität ergab. Wir führten die Gespräche dann bereits nach kurzer Zeit nur noch mit den Eltern weiter (wobei für eine Betreuung des Kindes während dieser Zeit gesorgt wurde), um die Elternproblematik weiter zu klären. Zur Absicherung wurde das Kind anschließend zur kinderpsychiatrischen und psychotherapeutischen Diagnostik vorgestellt. Bei übereinstimmender Indikationsstellung in beiden Therapiebereichen wurde das Kind dann vorerst nicht in die Therapie einbezogen, sondern eine Behandlung mit den Eltern durchgeführt. Hypothesen entsprechend müsste ein Erfolg in der Behandlung der Eltern dann zum suk-
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
zessiven Rückgang der Symptomatik beim Kinde führen. Im Haleyschen Sinne (Haley, 1977) wird auf diese Weise auch die adäquate Generationenhierarchie wieder hergestellt. Diese Vorgehensweise und ihre Begründung im Einzelfall wird im Folgenden beispielhaft dargestellt (aus Hand, 2000b). Beispiel 1. Akute Kind-Symptomatik bei verstummenden Eltern* (Fortsetzung von Beispiel P2 und Beispiel 1 in Kap. 5.2.2.3):
Magische Handlungszwänge
Symptom als Problemlöseversuch
Hypothesen am Ende des doppelstündigen Erstgespräches: Der Sohn hatte die Depression und das Unglücklichsein der Mutter, zu der ein inniger Kontakt bestand, intuitiv zunehmend gespürt. Er wurde durch ihren depressiven Rückzug und den immer seltener werdenden gemeinsamen Kontakt der Eltern untereinander und mit ihm existenziell zutiefst verunsichert. Mit seinen überwiegend sehr magischen Handlungszwängen konnte er auf der Ebene der intraindividuellen Funktionalität eine Reduktion seiner Unsicherheit und Angst sowie seines Bedrohungsgefühles erreichen. Die interaktionelle Funktionalität der Zwänge (im Sinne der Hypothese vom „Symptom als Problemlöseversuch“) lag darin, dass diese aufgrund ihrer Konsequenzen – sehr auffälliges Verhalten bei Spaziergängen mit den Eltern; auffälliges Verhalten in der Schule mit Rückmeldung der besorgten Lehrer an die Eltern; Abbruch der vorher intensiven Kontakte zu Mitschülern und Nachbarskindern – die Eltern schließlich zu gemeinsamen Aktionen zwangen. Die Mutter wurde durch die Dramatik des Appellcharakters des Krankheitsverhaltens von ihrer Introversion, Depressivität und Passivität abgelenkt. Damit hatte * Zitiert aus Hand, 2002b; mit freundlicher Genehmigung des Verlages Hans Huber, Bern.
Funktionsanalysen und ihre Effekte im Therapie-Prozess
der Sohn indirekt die „Verantwortung“ für das weitere Schicksal der Mutter und der Eltern übernommen und war, nach Haley, auf die Erwachsenenebene geraten. Die Mutter war mit ihrer zunehmenden Passivität auf die Kinderebene gerutscht, der Vater war im Arbeitszimmer „versteckt und verschwunden“. Behandlungsplan: Eine direkte Therapie des Sohnes ist nicht erforderlich, sofern es gelingt, zuerst ein adäquates Elternverhalten im Umgang mit dem Sohn wieder aufzubauen und in einem zweiten Schritt die gestörte Paarbeziehung zu verbessern bzw. eine einvernehmliche Lösung herzustellen. Die Eltern stimmten den Hypothesen und dem Behandlungsmodell nach eingehender Information hoch motiviert zu. Therapieprozess: Im 1. Behandlungsschritt wurde rasch adäquates Elternverhalten wieder aufgebaut (die Kompetenzen dazu waren ja vorhanden). Die Eltern erlernten zudem, im Umgang mit dem Sohn nicht symptomatisches Verhalten intensiv zu verstärken und Symptomverhalten immer weniger zu beachten. Sie zeigten vor dem Sohn wesentlich mehr gemeinsame Aktivitäten als in dem halben Jahr vorher. Bei gemeinsamen Freizeitaktivitäten mit dem Sohn – vor allem der Reaktivierung vom Sohn vorher besonders geliebter Familien-Aktivitäten und -Rituale – waren sie erfolgreich bemüht, ihm gegenüber Übereinstimmung und gegenseitiges Verständnis zu zeigen. Die gemeinsamen Mahlzeiten wurden wieder eingeführt. Innerhalb weniger Wochen ging das Zwangsverhalten des Sohnes drastisch zurück, er nahm wieder die früheren Kontakte mit Schülern und Nachbarskindern auf – im übertragenen Sinne: Er konnte es wieder riskieren, die Eltern sich selbst zu überlassen, ohne sich Sorgen machen zu müssen. Im 2. Behandlungsschritt wurde dann schwerpunkt-
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
Kontrakttherapie
„Sich-wieder-Kennenlernen“-Übung
mäßig an der Klärung der Paarbeziehung im Sinne einer einfachen Kontrakttherapie gearbeitet (unter weiterhin klarer Trennung der Bereiche Elternverhalten und Paarverhalten): Beide Partner erhielten die Empfehlung, sich täglich eine Stunde in Ruhe zusammenzusetzen und folgende Grundregeln einzuhalten: An den Tagen mit geradem Datum gehört die volle Stunde dem einen Partner zum Reden, dies fördert der andere durch themenbezogene Nachfragen (unter Vermeidung jeglicher Kommentare!) – an den Tagen mit ungeradem Datum jeweils Rollentausch (Etablierung eines partnerschaftlichen Rituales!). „Versuche dabei, dem Partner zu helfen, seine Gefühle mutig auszuloten und Dir mitzuteilen. Versuche, auf diese Weise zu erkennen, wie der Partner wirklich ist, und vergleiche ihn dann mit Deinen Wunschvorstellungen über ihn. Entscheide dann, ob der Ist-Zustand Deinem Idealbild entspricht. Denke immer daran, dass der Partner nicht dafür verantwortlich ist, wenn er Deinem Ideal nicht entspricht. Höre auf, den Partner zwingen zu wollen, Deine Gefühle zu verstehen – versuche, sie ihm zu vermitteln.“ Dieses Vorgehen – „Sich-wieder-Kennenlernen“Übung genannt – wurde in drei Paarsitzungen eingeübt. Vor der ersten Paarsitzung besteht meistens die Erwartungshaltung, dass der Therapeut herausarbeiten wird, wer in dem Beziehungsproblem „recht“ hat. Häufig haben auch beide die Hoffnung, nun endlich ihre Sichtweise durchsetzen zu können – gekoppelt mit der Angst vor dem Risiko, dass der Therapeut mit dem Partner koalieren könne. Aufgabe des Therapeuten ist es daher, von vornherein zu vermitteln, dass er nicht die „Wahrheit“ suchen wird, sondern helfen will, dass gemeinsam herausgearbeitet werden kann, warum es die so problematisch gewordenen unterschiedlichen subjektiven Realitäten in der Ehe
Funktionsanalysen und ihre Effekte im Therapie-Prozess
gibt und welche Lösungen sich daraus ergeben können. Damit wird primär am Kommunikationsstil des Paares gearbeitet. Die Ehefrau erlebte einen Rückgang ihrer Depression, nachdem ihre bis dahin heimlichen Fantasien über ein Verlassen des Ehemannes nunmehr öffentlich waren. Sie hatte das Gefühl, nun wieder Wahlmöglichkeiten für ihr weiteres Leben zu haben (einschließlich der, doch in der Ehe zu bleiben). Die „Beziehungs-Depression“ wechselte nun zum Ehemann, nachdem dieser den ersten Schock aus dem Erstinterview überwunden hatte. Beide hielten sich aber an die täglichen einstündigen Paarsitzungen mit den genauen Instruktionen, was in diesen an Austausch ablaufen sollte. Bereits nach kurzer Zeit empfanden beide ein wesentlich verbessertes gegenseitiges Verständnis (die Therapiesitzungen erfolgten nunmehr in dreiwöchigen Intervallen). Insgesamt entwickelte sich sogar wieder ein aktives eheliches Zusammenleben, obwohl es bezüglich der Trennungswünsche der Ehefrau keinerlei Entwarnung gab. Als Resultat dieser Intervention ging die Ehefrau aus eigenem Entschluss schließlich in eine Einzeltherapie zur Aufarbeitung von Verletzungen aus der Zeit vor der Ehe. In der gesamten Zeit blieb der Sohn nahezu symptomfrei. Gelegentlich traten sensible Symptomreaktionen auf, wenn die Eltern zwischenzeitlich, bei Zuspitzungen im Rahmen der Paartherapie, etwas überfordert waren, ihr Verhalten gegenüber dem Sohn in der vereinbarten Weise aufrechtzuerhalten. Diese kleinen Rückfälle – schon am Beginn der Therapie vorausgesagt – waren für die Eltern jedoch eine beeindruckende Bestätigung der Ausgangshypothese – „Symptomverhalten des Sohnes als Feedback für das Problemverhalten der Eltern“ – und verstärkten ihre Kooperation.
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Symptomverhalten des Sohnes als Feedback für das Problemverhalten der Eltern
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
Therapeutische „Auffrischsitzungen“
Richtlinien-Verhaltenstherapie
Nachuntersuchungen: Mit den Eltern wurden über mehrere Jahre, aber jeweils in großen Abständen, therapeutische „Auffrischsitzungen“ durchgeführt. Für die Eltern ergaben sich schließlich einvernehmlich neue Perspektiven, die heranwachsenden Kinder wurden adäquat in diesen Prozess einbezogen. Bei dem Sohn traten keine Rückfälle auf. Aus dem Gesamttherapievolumen von etwa 30 Sitzungen (bei sehr hoher Motivation und ausgeprägtem Selbsthilfepotenzial des Paares) waren etwa 70–80 % der Befähigung des Paares gewidmet, sein die Ehefrau und den Sohn krankmachendes Paarproblem stabil zu lösen. Die Auflösung des Paarproblems war die zentrale therapeutische Intervention, um die schwere akute Zwangssymptomatik des Sohnes und die zunehmende Depression der Ehefrau nachhaltig abzubauen. Müsste dies in der „Richtlinien-Verhaltenstherapie“ zur Ablehnung der Kostenübernahme dieser „Paartherapie“ führen? Würden dann eine „Langzeit-Kinderanalyse“ des Sohnes (war initial empfohlen worden) und eine Behandlung der zunehmenden Depression der Mutter im Einzelsetting „billigend in Kauf genommen“? Wohl kaum!
Beispiel 2. „Was ihm sein Zwang, ist ihr die Phobie“: Die vorsichtige Auflösung einer Verstrickung:
Agoraphobie
Herr R., Ende 40, suchte unsere Ambulanz auf, um seine multiple Zwangssymptomatik behandeln zu lassen. Er war zu diesem Zeitpunkt etwa 20 Jahre verheiratet, seine Zwangssymptomatik hatte kurz nach der Verlobung begonnen. Bei seiner Ehefrau hatte sich kurz nach der Eheschließung eine starke Agoraphobie herausgebildet. Über die letzten 2 Jahre vor
Funktionsanalysen und ihre Effekte im Therapie-Prozess
der jetzigen Therapiesuche hatte sich bei dem Patient auch noch eine erektile Dysfunktion entwickelt. Die Zwangssymptomatik bestand in massiven Zwangsgedanken und in Sauberkeits-, Ordnungsund Kontrollzwängen. Die Kontrollzwänge (4 Stunden täglich am Arbeitsplatz) bedrohten sehr stark seine Arbeitsfähigkeit. Für die Paarbeziehung mit Abstand am belastendsten waren die Zwangsgedanken. Nach der Verlobung bestanden diese in aggressiven, nicht steuerbaren, schimpfenden Sätzen gegen seine Frau. Als 3 Jahre nach der Eheschließung der einzige Sohn geboren wurde, wechselten diese Zwangsgedanken gegen den Sohn. Als dieser im Alter von 15 Jahren verstarb, nahmen die Zwangsgedanken ihren aktuell noch vorliegenden Inhalt an: „Wie schön, dass unser Sohn tot ist“. Der Patient nannte sie die „schlechten Gedanken“, die bei ihm massive Schuldgefühle auslösten. Die Ehefrau hatte nach dem Tod des Sohnes eine anhaltende Depression entwickelt und reagierte emotional hoch empört ob dieser Gedanken ihres Mannes. Dies führte dazu, dass sie jegliche freudvolle gemeinsame Aktivität ablehnte. Der Patient gab als Grund für die Verlobung und Eheschließung an, dass er „Mitleid“ mit seiner Frau wegen ihrer „völligen Unattraktivität“ gehabt habe. Behandlungsplan: Die zentrale systemische Funktionalität der Symptomatik auf beiden Seiten war unübersehbar. Wir unternahmen mehrere Versuche, initial mit einer Paartherapie zu beginnen. Beide beharrten bei diesem Vorschlag jedoch darauf, dass es keine wirklichen Paarprobleme gäbe. Die Ehefrau signalisierte, dass sie aktuell auch kein Interesse an der Behandlung ihrer Agoraphobie habe, solange die schrecklichen Zwangsgedanken ihres Mannes die Beziehung zerstörten.
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Zentrale systemische Funktionalität der Symptomatik
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
Therapie-Paket
Maßnahmen in der „heimlichen Paartherapie“
Förderung des „WirGefühles“
Nach eingehender Beratung beschlossen wir, ausnahmsweise eine „heimliche Paartherapie“ zu versuchen. Der Patient erklärte sich bereit, an seiner gesamten Zwangssymptomatik zu arbeiten. Beide akzeptierten, dass die Ehefrau dabei eine Co-Therapeutinnen-Rolle übernahm. Das dafür entwickelte „Therapie-Paket“ bestand aus symptom-spezifischen Techniken einerseits und der „heimlichen Paartherapie“ andererseits. Die symptomspezifischen Techniken umfassten: „Acting out“ der Zwangsgedanken in Einzelsitzungen in der Ambulanz; Symptomverschreibung für das Kontrollverhalten zu Hause und für die Zwangsgedanken; Umbenennung der Zwangsgedanken von „schlechte Gedanken“ in „spezifische Gedanken“. Die Maßnahmen in der „heimlichen Paartherapie“ umfassten: strukturierte Kommunikation über symptom-bezogene Streitthemen, wie Kontrollverhalten oder Sauberkeitsstandards im Hause (von uns intern „symptom-zentriertes interaktionelles Umtrainieren“ bezeichnet); Kontrakt-Übungen für gegenseitige positive Verstärkung; strukturierte Übungen zur offenen Kommunikation von Gefühlen, am Beginn nur während des Auftretens der Zwangssymptome; Selbstsicherheitstraining zur Abgrenzung des Paares gegenüber der Familie des Patienten (damit Förderung des „Wir-Gefühles“); in Anlehnung an die Sexualtherapie „Verbot“ von Geschlechtsverkehr bei gleichzeitiger Ermunterung zu Streichelübungen außerhalb der Genitalzonen. Dieses Therapiepaket konnte in 5 aufeinanderfolgenden Phasen (7 individuelle Symptom-Therapiesitzungen für den Ehemann und 41 gemeinsame Sitzungen mit dem Paar) mit insgesamt 87 Stunden, verteilt über 6 Monate, umgesetzt werden. Die Therapie konnte auf insgesamt 6,5 Jahren individueller und gruppenpsychoanalytischer Erfahrung, die beide in
Funktionsanalysen und ihre Effekte im Therapie-Prozess
den Jahren zuvor unabhängig voneinander erhalten hatten, aufbauen. Phase 1: Hier wurden im Wesentlichen die Symptom-spezifischen Einzelsitzungen mit dem Patient durchgeführt. Von zentraler Bedeutung wurde das „Ausagieren“ der Zwangsgedanken in der Form, dass der Patient aufgefordert wurde, in ein dickes Kissen zu schlagen und laut die Zwangsgedanken gegen den Sohn zu rufen. Überraschenderweise hatte der sonst nach außen sehr kontrolliert wirkende Patient keine Probleme, diese Übung anzunehmen. Er arbeitete sich bereits in der ersten Sitzung in massive Emotionen hinein, auf deren Höhepunkt das „Wie schön, dass Du tot bist“ gegen den Sohn abrupt umschlug in aggressive Äußerungen gegen seine Frau. Der Patient setzte dies bis zur physischen und emotionalen Erschöpfung fort. Er schien dann mit der Übung sehr zufrieden. Befragt, ob ihn dieser Themenwechsel beunruhige, erwiderte er: „Ich habe die Übung gemacht, die sie von mir wollten … ich bin nicht verantwortlich für das, was passiert ist“. Er willigte sofort in eine weitere derartige Sitzung ein. Für seine Hausübungen erhielt der Patient die Verschreibung, dass, wann immer der Gedanke spontan auftreten würde, er ihn mindestens 5-mal wiederholen müsse. Diese Übungen reduzierten den Zwangsgedanken in der Auftretenshäufigkeit deutlich, während die Spannungen zu Hause zunahmen. Der Patient begann, sich Sorgen um die Ehe zu machen. Diese erste Phase umfasste 4 Sitzungen in anderthalb Wochen, davon 3 mehrstündig für die „Acting-out“-Übungen. Die Ehefrau hatte spontan ihre Tranquilizereinnahme ausschleichend abgesetzt und begann erfolgreich SelbstExposition für ihre Agoraphobie, obwohl sie solche Absichten bei Therapiebeginn noch von sich gewiesen hatte.
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„Ausagieren“ der Zwangsgedanken
Sorgen um die Ehe
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Start der heimlichen Paartherapie, mit 8 gemeinsamen Sitzungen
Strategie der Integration systemischer Aspekte
Phase 2: Diese diente im Wesentlichen dem Start der heimlichen Paartherapie, mit 8 gemeinsamen Sitzungen und nur noch einer Sitzung für den Patient selbst über insgesamt einen Monat. Alle Übungen wurden immer damit begründet, zu lernen, besser mit dem Symptomauftreten umzugehen und den Umgang mit dem Symptom zu trennen von dem Umgang miteinander. Beide arbeiteten hoch kooperativ mit, die Ehefrau bat nun auch um weitergehende Instruktionen für die Selbst-Exposition für ihre Agoraphobie. Am Ende dieser Phase berichteten beide, dass das Zusammenleben wesentlich besser geworden sei und dass sie nun erstmals nach langer Zeit wieder in einen gemeinsamen Urlaub gehen würden. Dies wurde nachhaltig unterstützt, zugleich wurden gemeinsame Rollenspiele durchgeführt, wie sie „mit dem Symptom umgehen“ sollten, sofern dieses den Urlaub stören sollte. Zurück aus dem Urlaub berichteten sie über „unsere beste Zeit, die wir je hatten“. Dennoch hatte der Ehemann einen Teilrückfall in den Zwangsgedanken, er hatte auch die Symptom-Verschreibung nicht befolgt. Phase 3: Diese beinhaltete eine Einzel- und 12 gemeinsame Sitzungen über einen Zeitraum von 7 Wochen. Durch erneute Schwerpunktsetzung auf die Symptomverschreibung ging der Zwangsgedanke bald wieder zurück. So wie wir erfolgreich gemeinsame Übungen „gegen den Zwang“ etablieren konnten, konnten wir jetzt gemeinsame Übungen gegen die Beeinflussungsversuche durch die Eltern des Patienten einführen, die im Wesentlichen in Teilübungen aus standardisierten Programmen zum Assertivitätstraining bestanden. Dabei wurde sorgfältig beachtet, dass nie der Eindruck entstand, dass beide Ehepartner dabei lernen sollten, besser miteinander umzugehen, sondern gemeinsam stark werden sollten, um
Funktionsanalysen und ihre Effekte im Therapie-Prozess
sich gegen eine Bedrohung von außen besser zu verteidigen. Bezüglich des „Risikos“ neuer sexueller Kontaktversuche wurde ein entsprechendes Verbot aufrechterhalten. Wie oft in solchen Situationen, kam es angesichts der erheblichen positiven Veränderungen im Umgang miteinander nun auch zu einem „Verkehrs-Unfall“, den beide danach „nicht glauben konnten“. Dies führte zum Wiederanstieg der Zwangssymptomatik. Wir interpretierten dies als Hinweis darauf, dass dieser plötzliche Durchbruch im Bereich der sexuellen Störung zugleich bedrohlich war, da er schneller erfolgte als die emotionale Nachreifung auf beiden Seiten. Die täglichen Selbstratings ergaben zudem, dass die Zwangssymptomatik keinen gleichmäßigen Verlauf mehr hatte, sondern in Wellen oder Spikes auftauchte und auch wieder verschwand – in Abhängigkeit von Disstressfaktoren, die dann dem Paar auch gut vermittelt werden konnten. Insgesamt hatte sich die Zwangssymptomatik zu Hause wie am Arbeitsplatz deutlich reduziert. Phase 4: Es wurden 10 Sitzungen mit dem Paar über 6 Wochen durchgeführt. Die symptombezogenen Hausübungen empfanden beide nun als leicht bedrohlich, sie äußerten Trennungsangst und machten, ohne vorherige Absprache mit dem Therapeuten, einen eigenen Vertrag, dass der Patient während der Übungen zu Hause keinerlei kritische oder aggressive Bemerkungen gegenüber seiner Frau mehr machen durfte – diese sollten reduziert sein auf Situationen in den vom Therapeuten geleiteten Sitzungen. Dennoch nahm die Zwangssymptomatik kontinuierlich weiter ab, die Agoraphobie war ebenfalls deutlich reduziert. In dieser Phase hatte das Paar dann den zweiten „Verkehrs-Unfall“ im Zusammenhang mit einer der Streichelübungen. Dieser Geschlechtsverkehr wirkte nicht mehr verstörend auf beide, sie berichteten ihn eher
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Symptombezogene Hausübungen
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
Vorbereitung der Therapiebeendigung
4-Monate-Follow-Up
beglückt. Mehrfache Versuche, nun auch offen eine Paartherapie zu machen, wurden insbesondere von der Ehefrau kategorisch abgewiesen mit dem Hinweis, Eheprobleme gäbe es nicht. Phase 5: Diese diente der Vorbereitung der Therapiebeendigung, mit einer Einzel- und zwei gemeinsamen Sitzungen über eine Periode von 4 Wochen. Das Paar wollte noch mehr Erleichterung auf der Symptomebene, statt sich mit seiner Beziehungsproblematik auseinanderzusetzen. Wir reagierten darauf mit der Feststellung, dass weder wir noch sie in der Lage wären, mehr als bisher für die noch bestehende Restsymptomatik zu tun, und dass wir doch alle darüber glücklich sein könnten, dass es keine Eheprobleme gäbe. Darauf reagierte das Paar erstmals in der gesamten Therapie gereizt-aggressiv gegen die Therapeuten, mit dem Vorwurf der Inkompetenz und Unfähigkeit, schwierige Probleme zu lösen. Beide machten entschieden klar, dass sie die noch zu erledigende Arbeit dann eben alleine machen würden. Für uns überraschend, war das Ehepaar dann in der abschließenden Sitzung völlig einverstanden mit der Therapiebeendigung und drückte hohe Zufriedenheit mit dem Erreichten aus. Die beidseitig Symptomatik sei kaum noch vorhanden, sowohl in Bezug auf die häusliche wie auch die Arbeitssituation. Die Ehefrau war wieder alleine bewegungsfähig. Der Patient meinte, dass er begriffen hätte, dass seine kritischen Bemerkungen gegenüber Sohn und Ehefrau eigentlich sein Problem seien, und er hatte begonnen, vertrauensvoller mit seiner Frau zu kommunizieren. Die sexuelle Problematik und die Lösung von der Familie des Ehemannes sahen beide aber als noch bestehendes Problem. Zum 4-Monate-Follow-Up kam ein weiter entspanntes Paar und berichtete auf beiden Seiten nur
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mehr geringe Symptomatik. Die erektile Dysfunktion war, ohne spezifische therapeutische Maßnahmen, massiv zurückgegangen; das Ehepaar hatte wieder wöchentlichen Verkehr aufgenommen. Sie führten dies auf die verschriebenen Streichelübungen zurück. Insgesamt war das Paar in seiner täglichen Lebensführung wesentlich aktiver und zugewendeter geworden. Die Agoraphobie war komplett abgebaut, auf Tranquilizer war nicht mehr zurückgegriffen worden. Im 6-Monate-Follow-Up zeigte sich eine hervorragende Stabilisierung der erzielten Effekte. Wir wollten dem Paar noch weitere Sitzungen für eine offene Paartherapie zukommen lassen. Dies wurde abgelehnt mit dem Hinweis, nun sei man unabhängig von den Therapeuten geworden. Interessanterweise hatte der Patient auch seine frühere mehrjährige Psychoanalyse an dem Punkt beendet, als ihm ein entsprechender Vorschlag gemacht worden war (wobei der Patient konkret positive Effekte der Psychoanalyse darstellen konnte, u. a. ein damals so weit verändertes Verhalten, dass er eine berufliche Verbesserung erzielen konnte). (Weitere Details in Hand et al., 1977.) Ca. 20 Jahre später: Das Paar kommt in die offene Sprechstunde unserer Ambulanz und berichtet, es sei ihnen über all die Jahre seit Therapieende mit Schwankungen relativ gut gegangen. Nunmehr seien sie beide berentet und 24 Stunden zusammen. Sie hätten nie vergessen, dass wir immer wieder versucht hätten, sie für eine Ehetherapie zu motivieren. In dem einen Jahr seit der gemeinsamen Berentung sei ihnen nun klar geworden, dass wir seinerzeit recht gehabt hätten. Im ständigen Zusammensein hätten sich nun doch erhebliche Probleme ergeben. Da sie wüssten, dass Therapie helfen kann, möchten sie sich nun für eine Paartherapie anmelden. Das Paar setzte dann
6-Monate-Follow-Up
Offene Paartherapie abgelehnt
Ehetherapie gewünscht
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Paartherapie-Programm
Strategie der Integration systemischer Aspekte
hochmotiviert und mit gutem Erfolg unter therapeutischer Anleitung das Paartherapie-Programm von Schindler et al. (1999) um.
Beispiel 3. Chronisch rezidivierende Cystitis: Von der Abhängigkeit in Beziehungen zum „Widerstand über die Blase mit Stillstand in der Lebensführung“ zur verhaltenstherapeutischen Wiederbelebung: Die 22-jährige Patientin berichtet, dass sie schon in der Kindheit und Jugend eine Neigung zu „Blasenentzündungen“ gehabt habe, aber diese seit 2 Jahren extrem verstärkt auftreten würden. Seither sei sie auch regelmäßig in urologischer Behandlung und nehme immer wieder Antibiotika und Schmerzmittel ein. Ihre Alltagsaktivitäten seien mittlerweile extrem reduziert. Sie könne nur noch an Orte gehen, wo eine Toilette in unmittelbarer Nähe sei. Die Symptomatik besteht in massivem Blasendruck, oft ohne dass die Blase gefüllt ist, und in brennenden Schmerzen während des Wasserlassens und über längere Zeit danach. Aufgrund der Symptomatik seit einem Jahr zunehmende Depression. Die Patientin sieht dies in starkem Kontrast zu ihrer Befindlichkeit zwischen dem 15.–17. Lebensjahr, damals sei sie sehr unternehmungslustig und selbstsicher gewesen. Jetzt fühle sie sich völlig abhängig von ihrem aktuellen Freund, mit dem sie zusammenwohne. Aus der Biografie: Seit jeher sehr distanzierte Beziehung zu den als kühl empfundenen Eltern. Spätestens ab der Pubertät häufige und heftige Streitsituationen mit den Eltern. Die Eltern als „Schmerzträger“ sind in der gesamten Kindheit und Jugend „Vorbild“, der Vater mit rezidivierenden Magenschmerzen, die Mutter mit rezidivierenden Kopfschmerzen. Zwischen 15–17 in der Peer-Group sehr
Funktionsanalysen und ihre Effekte im Therapie-Prozess
erfolgreiche Ablenkung von der emotionalen Misere in der eigenen Familie – „bisher die schönste Zeit in meinem Leben“. Dann Auszug von Zuhause, erste feste Beziehung und schließlich auch erster Geschlechtsverkehr mit diesem Partner („da alle Freundinnen inzwischen Erfahrungen hatten“). Sowohl diese Beziehung als auch die sexuelle Erfahrung stellten die Patientin in keiner Weise zufrieden. Sie löste die Beziehung auf, musste aber wegen des Wohnungsvertrages noch monatelang mit dem Partner zusammenleben. In dieser Zeit massive Zunahme der Blasenbeschwerden, die ihr dann auch die Verweigerung weiterer sexueller Kontakte „ermöglichten“. Aus dieser Beziehung ist sie dann schließlich über eine neue Beziehung, die bei Therapiebeginn noch besteht, herausgekommen. Auch jetzt wieder hochgradige Unzufriedenheit mit dem Partner, zugleich aber auch aufgrund der Blasensymptomatik ausgeprägtes Abhängigkeitsgefühl. Die Symptomatik erfuhr eine dramatische Verstärkung in der Übergangszeit von dem ersten zu dem jetzigen Freund, als sie noch bei Ersterem lebte, die Beziehung zu dem Jetzigen aber schon aufgebaut hatte. Auslöser waren meist Situationen, in denen sie nicht wagte, ihre eigenen Absichten umzusetzen, und sich anpasste. (Beispiel: Noch mit dem ersten Freund in Urlaub fahren und ihn auf ihrer Geburtstagsparty akzeptieren, obwohl in beiden Fällen die Begleitung durch den neuen Freund ihr eigentlicher Wunsch gewesen war.) Bei der Erhebung der Biografie fällt auf, dass die Patientin nur sehr ungerne über die problematischen Seiten ihrer Eltern- und Freundes-Beziehungen redet! Erste Hypothese: Die Patientin hat trotz ungünstiger intrafamiliärer Sozialisationsbedingungen grundsätzlich viele Verhaltensaktiva in der
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Peer-Group aufbauen können (ausgelebt zwischen 15.–17. Lebensjahr). In der intrafamiliären Sozialisation hat sie aber ausgeprägte Kommunikationsdefizite in engen Beziehungen entwickelt, die sich jetzt in ihren Zweierbeziehungen auswirken. Insbesondere leidet die Patientin darunter, in Konfliktsituationen kein adäquates Durchsetzungsverhalten zur Verfügung zu haben. In diesen Situationen Eskalation der vorher eher diskreten Blasenbeschwerden (bei den Eltern Modelllernen der Somatisierung!). Neben den Beziehungsproblemen mit den beiden Freunden bestehen auch nach wie vor erhebliche Probleme im Kontakt mit den Eltern. Diese empfinde sie zwar nicht mehr als so ablehnend und desinteressiert wie früher, es bestehe aber keine Vertrauensbeziehung. Sie besuche die Eltern regelmäßig aus Verpflichtungsgefühl, empfinde die Besuche aber als beklemmend und unbefriedigend. Auch dadurch immer wieder aktuelle Verstärkung der Symptomatik. Therapieziele der Patientin: Wieder Reisen unternehmen können (an Wochenenden, im Urlaub), da dies früher eine bevorzugte Aktivität war und sie bei einem Reisebüro arbeitet; die Freizeit wieder selbstständiger, auch ohne den Freund, gestalten; wieder so werden, wie sie als 17-Jährige war. Die Therapieziele werden von den Therapeuten geteilt. Therapieplanung
Therapieplanung, mit der Patientin abgestimmt: 1. Abbau der Angst vor den Beschwerden; 2. Verminderung des Auftretens der Beschwerden; 3. Reaktivierung der in der Peer-Group bereits gelernten Kommunikationsfähigkeiten – und Übertragung auf die Interaktion mit dem aktuellen Freund. Für die erste Schwerpunktsetzung wird ein Angstmanagement in der Form eingesetzt, dass die Patien-
Funktionsanalysen und ihre Effekte im Therapie-Prozess
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tin bei zunehmender Angst vor neuem Blasendruck regelmäßig ein früher geliebtes Freizeitverhalten beginnt. Umlenkung der Aufmerksamkeit von den defensiven Blasenbeschwerden auf vorhandene Verhaltensaktiva. Dabei vorerst Beachtung, dass ein ausgewogenes Verhältnis derartiger Aktivitäten teils zusammen mit dem Freund und teils ohne den Freund (z. B. mit Freundinnen) gefunden wird, um Gegenreaktionen des Freundes vorzubeugen. Für den zweiten Schwerpunkt erfolgte darüber hinaus angesichts des offensichtlichen Interesses der Patientin eine frühzeitige Planung von Ausflügen. 4. Reduzierung bzw. Beendigung der Medikamenteneinnahme erst nach deutlichen Erfolgen der verhaltenstherapeutischen Maßnahme. Bearbeitung der Interaktionsprobleme mit dem Freund. Die vorgeschlagene Bearbeitung der Interaktionsprobleme mit den Eltern lehnte die Patientin ab. Behandlungsverlauf: Über einen Zeitraum von 6 Monaten fanden insgesamt 22 Therapiesitzungen statt. Das Schwergewicht lag, wie geplant, anfangs auf der Aktivierung aus der phobisch-depressiven Passivität durch detaillierte Tagesplanung. Hypothesenentsprechend kann die therapiemotivierte Patientin (auch dadurch, dass sie von ihrem Urologen vor der Überweisung an unsere Ambulanz mit Teilerfolgen mit einem Antidepressivum behandelt worden war) auf die in der Peer-Group gelernten Kompetenzen zurückgreifen und entwickelt rasch neue Verhaltensaktiva – teils mit, teils ohne ihren Freund. Bereits in der 4. Therapiewoche unternimmt die Patientin gemeinsam mit dem Freund ein verlängertes Wochenende in London, das noch hohe Erwartungsängste auslöst. Die Reise verläuft dann aber sehr erfolgreich. Das Vertrauen der Patientin in die Therapievorschläge
22 Therapiesitzungen
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Ende der ersten Behandlungshälfte
Strategie der Integration systemischer Aspekte
und zu sich selbst nimmt weiter zu. Es können jetzt die Reduktionen der Antibiotika, der Schmerzmittel und des Psychopharmakons sukzessive so durchgeführt werden, dass bereits am Ende der ersten Behandlungshälfte keines dieser Medikamente mehr eingenommen wird. Kurz darauf verzichtet die Patientin auch auf die „Amulett-Funktion“ der Antibiotika und Schmerzmittel (sie ständig in der Handtasche und in der Wohnung griffbereit zu haben). Die Beziehungsstruktur zum Freund erfährt einen tief gehenden Wandel. Gegen Ende der Behandlung legt die Patientin die eigenen und gemeinsamen Aktivitäten fest, während der Freund sich eher passiv mittreiben lässt. Eine Gefahr für die Beziehung sieht die Patientin zu diesem Zeitpunkt darin nicht, sie ist vielmehr in jeder Hinsicht mit den erreichten Veränderungen zufrieden. 3-, 6- und 12-Monate-Follow-Up: Die Patientin bleibt über den gesamten Follow-Up-Zeitraum beschwerde- und medikamentenfrei. Sie unternimmt mit dem Freund Fernreisen bis nach Asien und Australien. In den ersten beiden Follow-Up-Kontakten wird aber deutlich, dass sie – aufgrund ihrer intrafamiliären Sozialisation – immer noch nicht über die wirklichen Gefühle gegenüber dem Freund sprechen kann oder mag. Es kommt etwa in der Mitte der Follow-Up-Zeit zu einer vorübergehenden Trennung von dem Freund. Danach kann die Patientin sich aber erstmals emotional öffnen und ihre durchaus noch vorhandenen positiven Gefühle ihm gegenüber ansprechen. Im letzten Follow-Up kann sie dann auch mit den Therapeuten ein sehr offenes, emotionsreiches Gespräch über die Zusammenhänge ihrer Symptomatik mit den Beziehungsschwierigkeiten zu Eltern und Freund führen. Die nach wie vor bestehenden Unzufriedenheiten mit der Elternbeziehung
Funktionsanalysen und ihre Effekte im Therapie-Prozess
werden durch diese Entwicklung in ihrer Bedeutung relativiert. Resümee: Diese erfolgreiche Kurzzeit-Therapie ging von einer systemisch orientierten Hypothesenbildung aus, es lag auch eine aktuelle interaktionelle Funktionalität vor. Dennoch erfolgte die Behandlung ausschließlich mit der Patientin selbst. Die Begründung dafür war, dass der Patientin in ihrer Gesamtentwicklung – trotz der erheblichen Entwicklungsbeeinträchtigungen im intrafamiliären Bereich (nicht nur beide Elternteile waren symptomatisch, sondern auch beide Geschwister!) – offenbar eine recht adäquate Sozialisation unter Gleichaltrigen gelungen war. Umfangreiche Verhaltensaktiva waren im Prinzip angelegt. Die Motivation zur Einleitung verändernder Schritte war bei Therapiebeginn ausgesprochen hoch, da die Patientin zum einen große Angst davor hatte, dass ihre Medikamente wirkungslos werden könnten, und andererseits zunehmende Sehnsucht empfand, „wieder so zu werden, wie ich mit 15 bis 17 war“. Bezüglich der aktuellen Partnerschaft war die Patientin bei Therapiebeginn ambivalent und bereit, das Risiko einer Trennung einzugehen. In der Folgezeit haben wir in der Ambulanz noch weitere, ähnlich verlaufene Therapien bei jungen Frauen mit chronisch-rezidivierenden Cystitiden durchgeführt. Vermutlich beruhte die Wirkung auf mehreren Komponenten der Therapie: Auflösung der ängstlichen Fixierung auf die Blase und die Schmerzen; Psychoedukation über symptom-aufrechterhaltende und -verstärkende „Verhaltensfehler“; Reaktivierung von Alternativverhalten im Alltagsleben bei gleichzeitigem Abbau des passiv-depressiven Rückzuges – dabei Nutzung zuletzt brachliegender Verhaltensaktiva; Auflösung der „Medikamenten-Hö-
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Kurzzeit-Therapie
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
rigkeit“ mit Förderung des Selbsthilfevertrauens, in der Summe damit: Stärkung des Immunsystems. Diesen – auch aktuell besonders bei jungen Frauen sehr relevanten und bei Chronifizierung mit erheblicher Gesundheitsgefahr verbundenen – Störungsbereich konnten wir dann aufgrund anderer Schwerpunktsetzungen leider nicht weiter bearbeiten.
Beispiel 4. „Münchhausen-Trichotillomanie“ – Vom Haar zur Mama:
Fortsetzung der „PsychoGespräche“
Die Patientin (Beispiel P3, s. S. 66) hatte sich im Erstgespräch, nach anfänglicher gereizt-aggressiver Ablehnung der Gesprächssituation, zu einer gemeinsamen Beweisführung des Haarausfalles für die Hautklinik bereit erklärt. Zu diesem Zeitpunkt war noch völlig unklar, worum es in der Therapie eigentlich gehen könnte. Klar war lediglich, dass zum Ende des Gespräches die Gereiztheit der Patientin aufgelöst war und dass sie nun – aus welchen Gründen auch immer – an der Fortsetzung der „Psycho-Gespräche“ interessiert war. Um der vermutlich sehr bevormundungssensiblen Patientin entgegenzukommen, wurde vereinbart, dass vorerst die wöchentlichen Termine lediglich 20 Minuten dauern sollten, da ja lediglich die von der Patientin gesammelten Haare besprochen werden müssten. Sollten dafür weniger als 20 Minuten benötigt werden, könne sie die verbleibende Zeit gerne für Themen ihrer Wahl nutzen – oder schon früher gehen. Dies führte in wenigen Sitzungen dazu, dass die Haare Nebenthema wurden. Das erste neue Thema war die Situation an ihrem Arbeitsplatz. Sie war als Jüngste in einem Schreibbüro tätig und ärgerte sich zunehmend darüber, dass die älteren Kolleginnen wie selbstverständlich von ihr erwarteten, dass sie täglich Kaffee koche, Brötchen einkaufe und
Funktionsanalysen und ihre Effekte im Therapie-Prozess
auch den Abwasch mache. Sie habe sich dagegen bisher nicht wehren können. Wir bedauerten die Patientin ausdrücklich wegen dieser schlechten Sitten in ihrem Büro. Es erfordere sehr viel Kraft und diplomatisches Geschick, um sich dagegen durchzusetzen. Der Patientin wurde dann vorgeschlagen, zu überlegen, was sie einer jungen Frau in ihrer Position raten würde. Sie machte dann sehr realistische Vorschläge, die sehr gelobt wurden. Bei der Verabschiedung wurde ihr geraten, von einer Selbstanwendung diese Vorschläge vorerst abzusehen, bis wir das Haarproblem geklärt hätten. Bereits eine Sitzung später berichtete die Patientin strahlend, dass sie es doch gewagt habe, ihre eigenen Vorschläge (an die fiktive andere Frau) im Büro umzusetzen. Zu ihrer Verblüffung hätten die Kolleginnen schon bei ihrem zweiten Versuch nachgegeben. Sie habe seitdem das Gefühl, dass sie dadurch im Kolleginnenkreis deutlich besser anerkannt sei. Die Verhaltensänderung wurde wieder nachhaltig gelobt. Einige Sitzungen später bat die Patientin, beim nächsten Mal eine volle Stunde haben zu können. In dieser Sitzung wurde deutlich, woraus in der anfänglichen Ambivalenz die Therapiemotivation herrührte. Die Patientin hatte vor einigen Monaten gemeinsam mit ihrer einzigen Freundin einen Urlaub gemacht. Beide hatten attraktive junge Männer kennengelernt. Ihre Freundin habe aus dieser Urlaubsbekanntschaft eine enge Beziehung machen können und habe kaum noch Zeit für sie. Sie selbst habe eine sehr schmerzliche Erfahrung gemacht. Als der junge Mann sie umarmen und küssen wollte, habe sie panische Angst bekommen, dass er im Eifer der Umarmung auch in ihre Haare fassen und dann plötzlich ihre Perücke in der Hand halten würde. Peinlichst berührt sei sie aus der Situation geflohen und habe sich nie wieder mit ihm getroffen. Dieses Erlebnis
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war umso bedeutsamer, als sich die Patientin vorher nie auf eine Beziehung zu einem männlichen Partner eingelassen hatte. Nach diesem Urlaub stand sie nun völlig alleine da. Die Patientin wurde gefragt, wie ein Mensch, der sich so viele Jahre nach einer Beziehung gesehnt hat, nach so einem Erlebnis überhaupt wieder einen neuen Versuch wagen könne. Ermutigt durch ihr Büro-Erfolgserlebnis zeigte sich die Patientin erneut lösungsorientiert: Wenn die Haare vielleicht wieder nachwachsen würden, würde ja alles viel einfacher sein … Andererseits könne es aber noch sehr lange dauern, bis es soweit sei … Vielleicht wäre ein Kontaktversuch mit dem Mut, vorzeitig auf das Haarproblem hinzuweisen, der bessere Weg. Ihr wurde rückgemeldet, dass dies aber unendlich viel schwieriger sein würde als die Veränderung der Bürosituation. Wieder wurde der Patientin vermittelt, dass sie hervorragende Ideen hätte, in ihrer momentanen seelischen Verfassung aber wohl noch nicht in der Lage sei, diese umzusetzen. Sie wollte aber weiter klären, wie sie einen neuen Partner finden könnte (ausgehen; auf Zeitungsannoncen reagieren; selber Zeitungsannoncen aufgeben etc.). Bald kam es zu einer ersten Kontaktaufnahme, nachdem diese im Rollenspiel eingehend vorbereitet worden war. Die auf einem Blatt Papier aufgeklebten Haare wurden weiter zu jeder Sitzung mitgebracht (Anzahl schwankend, meist niedrig), im Wesentlichen aber nur noch zur Kenntnis genommen – sie hatten fast die Funktion einer Eintrittskarte. Zu diesem Zeitpunkt lüftete die Patientin dann auch ihr größtes Geheimnis: Zuerst deutet sie an, es könne sein, dass sie sich die Haare selbst ausreiße oder vielleicht auch eher „unbewusst auskratze“. Dann fasst sie allen Mut zusammen und „gesteht“, dass sie sich ihre Haare immer selbst ausgedreht
Funktionsanalysen und ihre Effekte im Therapie-Prozess
habe. Dies sei so, seit sie im Alter von 10 Jahren von der Mutter vor die Wahl gestellt worden sei, entweder ihre beiden wunderschönen langen Zöpfe abzuschneiden („Du bist jetzt zu alt dafür“) oder aber nicht auf die mit großer Freude erwartete Klassenreise mitzufahren. Nach heftigen Auseinandersetzungen mit der Mutter und der ebenfalls in der Wohnung lebenden Großmutter schnitt sie schließlich vor der Klassenfahrt die Zöpfe ab. Von der zweiwöchigen Klassenfahrt kam sie bereits mit ersten kleinen Kahlstellen an den Zopfaustrittsstellen zurück. Diese wurden im Laufe der Jahre immer größer, bis die Patientin schließlich nur mehr einen recht spärlichen Haarkranz hatte. Sie wurde schüchtern im Umgang mit Klassenkameraden, nahm deutlich an Gewicht zu (wurde deswegen auch gehänselt) und zog sich in der Freizeit – bis auf eine Freundin – von Gleichaltrigen zurück. In der Anfangsphase dieser Entwicklung hatten Mutter und Großmutter durchaus richtig vermutet, dass sie sich die Haare selbst ausreiße, um ihnen Schuldgefühle zu vermitteln für die rabiate Art der Nichtbeachtung ihres Herzenswunsches. Die Patientin bestand aber darauf, dass die Haare ausfielen, um den offenen Konflikt zu vermeiden. Sie suchte immer wieder Ärzte auf, um sich dort die Beweise geben zu lassen. Da die Differenzialdiagnostik zwischen Haarausfall und Haareausreißen dermatologisch einfach ist, bekam sie dann jeweils die entsprechende Rückmeldung – und wechselte dann wieder den Hautarzt. Die Patientin wurde nachdrücklich positiv verstärkt für diese „Offenbarung“. Den nachfolgenden Termin nahm sie ohne Absage nicht mehr wahr. Mehrere Versuche, sie telefonisch zu erreichen, blieben anfangs erfolglos. Da die wenig aufwendige Therapie bis zu diesem Zeitpunkt unerwartet erfolgreich verlaufen war, hatten wir für
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
die Patientin und für uns das dringende Bedürfnis, den Sachverhalt aufzuklären. Schließlich gelang es doch, mit der Patientin telefonisch Kontakt zu bekommen. Sie erläuterte uns bedrückt und einsilbig, dass ihre Mutter ihr verboten habe, weiter in diese Therapie zu gehen. Mühsam gelang es, die Patientin zu motivieren, nun eine Übung gegenüber der Mutter zu machen und ihr standhaft anzukündigen, dass sie zumindest zu einem Abschlussgespräch zu uns kommen würde. Dieser Termin wurde fest vereinbart, und die Patientin erschien tatsächlich. Es stellte sich heraus, dass sie nach der letzten Therapiesitzung – gerade zu euphorisch darüber, dass sie ihr Geheimnis uns gegenüber preisgeben konnte – Gleiches am Abend der Mutter und der Großmutter gegenüber getan hatte. Dies löste bei beiden heftigsten Widerstand aus: Statt sich nun zu freuen, dass die Patientin ihnen gegenüber endlich das zugeben konnte, was beide bei Beginn der Symptomatik vermutet hatten, wurde diese „Selbstbezichtigung“ jetzt als völlig absurd eingestuft. Sie wurde vehement aufgefordert, sich nicht weiter „von den Psychiatern verrückt machen zu lassen“. Die Patientin war von der Heftigkeit der Situation so überrascht, dass sie ihre in anderen Kontakten schrittweise aufgebaute Durchsetzungsfähigkeit in dieser Familiensituation nicht einsetzen konnte. Der Patientin wurde nun vermittelt, dass Mutter und Großmutter bei Symptombeginn vermutlich Schuldgefühle hatten (in dem Sinne, wie es die Tochter damals auch gewünscht hatte), aber der Situation völlig hilflos gegenüberstanden und schließlich der These des Haarausfalles erleichtert zustimmten. Nun seien sie durch die neue Offenheit der Patientin wieder mit den alten Schuldgefühlen konfrontiert worden, hätten damit nicht umgehen können und deshalb so heftig reagiert. Dies leuchtete der Patientin ein. Wir boten
Funktionsanalysen und ihre Effekte im Therapie-Prozess
ihr an, mit ihr und der Mutter gemeinsam einen „Versöhnungstermin“ durchzuführen. Die Patientin nahm diesen Vorschlag erleichtert an, zweifelte jedoch an der Kooperation der Mutter. Das entsprechende Gespräch mit der Mutter wurde im Rollenspiel eingehend geübt. Das gemeinsame Gespräch kam zustande. Es gelang, auf beiden Seiten Verständnis für die Nöte der jeweiligen anderen Seite (seinerzeit extrem harte Lebensbedingungen für die Mutter; tiefe Kränkung der Tochter – niemand hatte „Schuld“, beide wussten sich nicht anders zu helfen) und für die eigenen Nöte zu wecken bzw. zu vertiefen. Auf beiden Seiten wurde aktiv bei unserem Vermittlungsversuch mitgearbeitet, die Versöhnung konnte eingeleitet werden. In der Folgezeit wurde die Patientin noch weiter auf der Partnersuche begleitet, bis hin zu einer ersten tiefen Beziehung, in der sie auch erste sexuelle Erfahrungen machen konnte. Die Haare waren deutlich nachgewachsen, aber „trichotillomanes Restverhalten“ in spezifischen Disstress-Situationen blieb leider erhalten. Im 1-Jahres-Follow-Up berichtete die Patientin, ihre neue Beziehung über diesen Zeitraum aufrechterhalten zu haben und sich mit dem Freund „ganz wohl“ zu fühlen. Aus unserer Sicht war rückblickend prognostisch günstig, dass diese Patientin in der Sozialisation in der Familie und insbesondere unter Gleichaltrigen bis etwa zum 10. Lebensjahr keine eruierbaren Störungen entwickelt hatte. Erst in der gehemmt aggressiven Auseinandersetzung mit Mutter und Großmutter, mit nachfolgendem Rückzug aus dem Kontakt mit Gleichaltrigen und entsprechendem Ausbleiben der Reifung ihrer Sexualität, war schließlich die Blockade in der privaten Lebensführung eingetreten. Dieser Zustand wurde dann abrupt unerträglich, als sie die einzige Freundin verloren und
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Trichotillomanes Restverhalten 1-Jahres-Follow-Up
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Strategie der Integration systemischer Aspekte
Join the client where she is But where is she, and is she, where she says to be
zugleich den Genuss in einer Partnerbeziehung andeutungsweise erlebt hatte. In der Therapie war es dann besonders wichtig, die indirekte, scheinbar nondirektive Kommunikation in den Vordergrund zu stellen und der Patientin die Möglichkeit zu geben, in ihrem eigenen Tempo auf früh gelernte soziale Kompetenzen immer mutiger zurückzugreifen. Die beiden wichtigsten aktuellen Therapiezielsetzungen wurden dann: die Versöhnung zwischen Mutter und Tochter und die therapeutische Unterstützung bei dem Abbau ihrer sekundären sozialen und sexuellen Entwicklungsdefizite. „Join the client where she is“ fand auf der Ebene des „Haarausfalles“ statt (erstmals in den Arztkontakten der Patientin!) – „But where is she, and is she, where she says to be“ wurde mit der gewählten Vorgehensweise überraschend schnell deutlich. Bei Symptomausbruch hatte ihr familiäres System die Patientin überfordert, in der Mitte der Therapie hatte sie dann im „Erfolgsrausch“ Mutter und Großmutter „zu viel zugemutet“ – was bei Abstinenz der Therapeuten (nicht „Hinterhertelefonieren“) wohl zu einem völligen Symptomrückfall mit weiterer Chronifizierung geführt hätte (vgl. ähnliche Situation im ersten Beispiel in Kap. 5.3.3)!
6 Epilog: Freie Assoziationen 6.1 Wären die Beispiele in Kap. 5.1.1.2 auch in der Richtlinien-VT abrechenbar gewesen? Diese Frage soll anhand der konkreten Beispiele modellhaft für häufige ähnliche Situationen in den probatorischen Sitzungen diskutiert werden. Bei mehreren der primär vorgetragenen Symptomatiken wird die Indikation für eine Richtlinien-VT initial vielleicht nicht gesehen. Bei der Butter-Phobie ist das fraglich. Möglicherweise wäre nach einer weiteren probatorischen Sitzung herausgekommen, dass eine Familien-Beratung empfohlen worden wäre, mit der Hypothese, dass deren Erfolg indirekt zum Symptomrückgang führen würde. Es sind aber auch andere Entwicklungen denkbar: In den probatorischen Sitzungen ergibt sich, dass ein Elternteil Symptomträger ist und einer eigenen Therapie bedarf (solche Entwicklungen haben wir in mehreren Beispielen dargestellt). In diesem Falle wäre dann zu klären, ob dieser Elternteil zu einer eigenständigen Therapie zu motivieren ist oder ob bei dann zwei Symptomträgern in der Familie verhaltenstherapeutische Familieninterventionen im Rahmen der Richtlinien-VT (s. dazu auch Sulz und Heerkerens, 2002) prognostisch am günstigsten erscheinen. In so einem Falle könnte die Butter-Phobie dann als „Familien-Frühwarn-Symptom“ interpretiert werden, das zu familientherapeutischen Interventionen führt, bevor erheblich größerer Schaden eintritt. Die auch denkbare alleinige Symptomtherapie der Butter-Phobie erscheint in dem dargestellten Kontext demgegenüber nicht sinnvoll.
Butter-Phobie Familien-Beratung
Verhaltenstherapeutische Familieninterventionen im Rahmen der Richtlinien-VT
Familien-FrühwarnSymptom
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Epilog: Freie Assoziationen
Glücksspielen als Provokation in der Mutterbeziehung
Bei dem Glücksspielen als Provokation in der Mutterbeziehung war das Problem die Erwartungsangst der Mutter – das Symptomverhalten könnte aufgrund der Veränderungen in der Lebensführung wieder auftreten – in der ersten probatorischen Sitzung hinreichend geklärt. Bezüglich der Empfehlung eines Gruppentrainings in einer gemischt-geschlechtlichen Gruppe wäre eine Abrechnung im Rahmen der Richtlinien-VT kaum möglich, da eine Krankheitssymptomatik im Sinne der Richtlinien – bis auf den „Ausrutscher“ vor der probatorischen Sitzung – aktuell nicht mehr vorlag. Der Vorschlag erfolgte im Sinne einer Präventivmaßnahme, um die relativ hohe Wahrscheinlichkeit eines symptomatischen Rückfalles (Glückspiel- oder andere Symptomatik) in bestimmten Konfliktsituationen in engen Zweierbeziehungen zu reduzieren, was im Rahmen der Richtlinien (leider!) keine Kostenübernahme durch die Krankenversicherung ermöglicht. Bei dem „Spiel-Durchbruch als Wut-Ausbruch in der Paarbeziehung“ gilt das Gleiche. Zum Zeitpunkt des Erstgespräches liegt keine Krankheitssymptomatik im Sinne der Richtlinien-VT mehr vor. Die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalles in das vor einiger Zeit aufgetretene Symptomverhalten ist schwer beurteilbar. Möglicherweise wurde dieser Patient aufgrund der In-sensu-Exposition mit seinen schmerzhaften Beziehungserlebnissen (s. dazu auch den Patient mit Trichotillomanie, Kap. 5.3.1) und durch die „Spielball-Hypothese“ (wie etliche vergleichbare pathologische Glücksspieler in unserer Ambulanz) in die Lage versetzt, eigenständig die notwendigen Veränderungsschritte vorzunehmen. Falls seine Störung jedoch komplexer ist und eine Trennung von der Ehefrau nicht gewünscht oder möglich ist, und wenn weiterhin die Vorstellung über die Beziehungsgestal-
Erwartungsangst der Mutter
Abrechnung im Rahmen der Richtlinien-VT kaum möglich
Spiel-Durchbruch als WutAusbruch in der Paarbeziehung
Schmerzhafte Beziehungserlebnisse
Spielball-Hypothese
Auch in der Richtlinien-VT abrechenbar?
tung bei dem Patienten stark von denen seiner Frau abweicht, wäre allerdings eine verhaltenstherapeutische Paartherapie (einschließlich eines Trainings in partnerschaftlicher Kommunikation) – gegebenenfalls unter passagerem Einsatz systemischer Motivationstechniken – indiziert.
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Verhaltenstherapeutische Paartherapie
Der Verweis an eine Paarberatung wäre in so einer Situation risikoreich, da der Ausbildungsstand bei deren einzelnen MitarbeiterInnen von außen schwer beurteilbar ist. Auch die Indikation zu einer Richtlinien-VT als Einzeltherapie (bzw. einer tiefenpsychologisch orientierten Paartherapie) ist auf dem aktuellen Kenntnisstand nicht auszuschließen. Zur Klärung wären dann im Rahmen der probatorischen Sitzungen weitere Informationen, auch zur biografischen Entwicklung, unverzichtbar. Bei der Knall-Phobie führte das Erstgespräch (zumindest vorläufig) zur Aufgabe des Therapiewunsches. Bei einer anderen Entscheidung der Patientin hätte eindeutig eine Indikation für eine Richtlinien-VT vorgelegen, da durch die Phobie erhebliche krankheitswertige Behinderungen im Alltagsleben, speziell auch im Beruf, eingetreten waren. Im Rahmen der Expositionstherapie hätte sich dann rasch ergeben, welchen Stellenwert die von der Patientin nur vage angedeuteten, früheren schmerzhaften Beziehungserlebnisse in der Therapiegestaltung bekommen würden. Bei der Patientin mit den versagenden Beinen lag eindeutig die Indikation für eine Richtlinien-VT vor, deren Inhalte in weiteren probatorischen Sitzungen zu klären gewesen wären. Diese beiden Patientinnen konnten das entsprechende Angebot aus dem Erstinterview aufgrund nicht aufgelöster Angst vor den Inhalten und Konse-
Knall-Phobie
Richtlinien-VT
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Epilog: Freie Assoziationen
Unfallchirurgische Maßnahmen
quenzen einer Therapie nicht annehmen. War die Gesprächsführung des Therapeuten Angst-induzierend statt -reduzierend? Oder verhinderte sie eher einen wenig aussichtsreichen Therapieversuch bei noch zu hohem Veränderungswiderstand? Bei der Frosch-Phobie lag eine Therapieindikation eindeutig vor, da aufgrund der Lebenssituation der Patientin ein nicht unbedeutendes Risiko bestand, dass ohne Therapie irgendwann unfallchirurgische Maßnahmen (im günstigeren Falle) erforderlich wer-
Symptom-Exposition
den könnten. Bemerkenswert ist hier, dass eine vorangegangene Psychotherapie mit Familienaufstellung weder an der Einstellung zum Vater noch zu Fröschen etwas geändert hatte und erst die Symptom-Exposi-
Frosch-Phobie
tion mit der Löschung der Phobie auch die VaterprobleHöhen-Phobie
Schlüssel-Schloss-Dyaden
Bedeutung systemischorientierter Analysen
matik entscheidend entschärfte. (Hypothesen dazu?) Bei der Höhen-Phobie bestand kein Indikationsproblem für die durchgeführte Exposition. Sollte in den nächsten Monaten kein hinreichender und stabiler Symptom-Rückgang eintreten, dann wäre die Klärung der vorgetragenen „Spielball-Hypothesen“ und der daraus resultierenden Maßnahmen im Rahmen der Richtlinien-VT indiziert. Bei den beiden Beispielen für Schlüssel-SchlossDyaden liegt aufgrund der Krankheitssymptomatik eindeutig die Indikation für eine Richtlinien-VT vor, auch wenn diese dann nicht gewählt wurde. Bei ähnlichen Patienten haben wir es im Laufe der Jahrzehnte allerdings mehrfach erlebt, dass diese sich nach Änderung der Lebensumstände wieder bei uns gemeldet haben und, dann Therapie- und Veränderungs-motiviert, einen guten Therapieerfolg erzielen konnten (s. dazu auch Kap. 5.3.5, Beispiel 2). Mit den Beispielen sollte nicht nur auf die Bedeutung systemisch-orientierter Analysen hingewiesen wer-
Auch in der Richtlinien-VT abrechenbar?
den, sondern auch darauf, dass auch in der Verhaltenstherapie die initial vorgetragene Symptomatik nicht immer die Hauptstörung des Betreffenden darstellt. Ja, selbst der initiale Symptomträger hat nicht immer die Hauptstörung im System, wie an mehreren Beispielen gezeigt wurde. Weitere Beispiele für negative Konsequenzen bei fehlender Berücksichtigung systemischer Aspekte sind – aus der Erfahrung mit Reanalysen und Nachbehandlungen von Angstpatienten mit ursprünglichem Therapiemisserfolg – bei Fischer-Klepsch et al. (2007) dargestellt. Die Beispiele in diesem Buch stammen überwiegend aus der einmal wöchentlich stattfindenden „Erstsprechstunde“ unserer VT-Ambulanz (bis 2006) (in den letzten Jahren jeweils 30–40 neue Patienten, ohne vorherige Terminvergabe). Bis zu 10 Therapeuten führten meist einstündige Gespräche durch (bei Bedarf mit 1–2 Wiedervorstellungen). Daraus resultierten erste diagnostische Einschätzungen, Therapieempfehlungen und ein- bis zweiseitige Berichte an die Zuweiser (einschließlich wesentlicher Informationen zur biografischen Entwicklung und zur hypothetischen, intrapsychischen und interaktionellen Funktionalität – zumal, wie geschildert, ein Teil der Patienten in Begleitung kam). Die für diese Darstellung gewählten und verfremdeten Beispiele sind natürlich nicht prototypisch für die Patienten der Ambulanz, die weit überwiegend mittelschwere bis schwerere Formen von Angst-, Zwangs- und Zwangsspektrumsstörungen sowie Anpassungsstörungen hatten. Für die meisten ergab sich die Indikation für eine „klassische“ multimodale Einzel- und/oder Gruppen-Verhaltenstherapie – abgeleitet aus dem in Kap. 4 dargestellten Modell. Die hier ausgewählten Beispiele mögen – neben der Verdeutlichung der systemisch orientierten „Spiel-
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Epilog: Freie Assoziationen
ball-Hypothesen“ – aber unterstreichen, wie wichtig probatorische Sitzungen auch als „Ultrakurzzeittherapien“ sein und wie unterschiedlich Patienten in vergleichbaren Situationen reagieren können. Manche Therapeuten führen solche Interventionen – schulenunabhängig! – ausgesprochen gerne durch, andere empfinden sie als belastend oder unergiebig. Die Finanzierung dieser Sitzungen in der Richtlinien-VT ist allerdings nicht adäquat. Vorsorglich wird darauf hingewiesen, dass die Einschätzung der Indikation für eine Richtlinien-VT bei den beschriebenen Patienten die persönliche Meinung des Autors darstellt und nicht die Bewertung der Situationen durch andere (Ober-)Gutachter in der Richtlinien-VT voraussagen lässt.
6.2 Die Bedeutung psychisch schmerzhafter Beziehungserfahrungen Die Berücksichtigung systemischer Aspekte bei den biografischen Analysen ist, wie aufgezeigt, von hoher Bedeutung für eine adäquate Hypothesenbildung und Therapieplanung (selbst bei einer Symptom-EinzelVT; s. unsere eigenen, wie auch die Beispiele der Richtlinien-VT). Herausragende Bedeutung kommt dabei psychisch schmerzhaften Beziehungserfahrungen in der Kindheit, der Jugend und selbst noch im Erwachsenenalter zu.
Beziehungsverwicklungen
Sie können hinter einer Achse-I-Symptomatik verborgen sein und diese (mit) auslösen und aufrechterhalten. Sie können zu vielfältigen, anhaltenden und krank machenden Beziehungsverwicklungen – sowohl mit der „Auslöseperson“ als auch in nachfol-
Die Bedeutung von Beziehungserfahrungen
genden Beziehungen – führen (s. Kap. 5). Fragt ein Therapeut nicht im richtigen Moment und geduldig nach solchen Erfahrungen, so werden sie häufig nicht erwähnt. Fragt der Therapeut, so erhält er vielfach die Informationen – mitunter mag oder kann der Patient sie im Frühstadium der Therapie aber noch nicht vortragen. Beispiele für den ersteren Verlauf haben wir hier angeführt. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel hatten wir auch mit einer Patientin mit einer „Angst vor dem Verschlucken und Ersticken“ (mit zusätzlicher Agoraphobie, Ess-Störungen, Adipositas und Selbstbehauptungsproblemen in der Familie und am Arbeitsplatz), die wir üblicherweise in der Verhaltenstherapie erst einmal mit einer Exposition in vivo behandeln. Bei dieser Patientin ergaben sich durch gezielte Exploration in den probatorischen Sitzungen bereits hinreichend Informationen über frühe und spätere schmerzliche Beziehungserfahrungen und deren direkten Zusammenhang mit der Hauptsymptomatik. Die Zusatz-Symptomatik wurde als sekundär bzw. tertiär zur Hauptsymptomatik eingestuft. Dementsprechend wurde die Therapie dann schwerpunktmäßig mit Exposition in sensu zu diesen Erlebnissen durchgeführt und durch verhaltenstherapeutische Maßnahmen bezüglich der aktuellen Partnerbeziehung und spezifischer Probleme in der alltäglichen Lebensführung ergänzt. Eine Exposition in vivo wurde für die Hauptsymptomatik nicht erforderlich. Die Therapie benötigte das maximale Kontingent der Richtlinien-VT. Sie führte aber auch zum nahezu völligen Abbau der Haupt- und Sekundär-/ Tertiär-Symptomatik und zu erheblichen positiven Veränderung in der familiären und beruflichen Lebensführung. Bei Therapieende erfuhren wir vom Partner dann, dass noch ein Pavor nocturnus der Patientin bestand, der dann in einem Schlaflabor verifi-
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Angst vor dem Verschlucken und Ersticken
Exposition in vivo
Exposition in sensu
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Epilog: Freie Assoziationen
ziert wurde und hypothetisch im Zusammenhang mit der Hauptsymptomatik stand. Eine angebotene Zusatztherapie lehnte die Patientin unter Hinweis auf ihre Symptomfreiheit im Wachzustand ab. Wir prognostizierten (für uns, nicht gegenüber der Patientin): Gelingt es ihr, Symptomfreiheit und reaktivierte bzw. neu aufgebaute Verhaltensaktiva aufrechtzuerhalten, wird der Pavor nocturnus zurückgehen; bleibt der Einfluss der „tieferen Angst-Speicher“ zu stark, wird ein schrittweiser Rückfall eintreten. Während des zweijährigen Follow-Up-Zeitraumes kam es zum „spontanen“ Sistieren des vorher chronischen, nicht direkt behandelten und vor allem den Ehepartner massiv störenden, häufig auftretenden Pavor nocturnus („Angst-Löschung“ also auch in der Amygdala, „Cortex over Amygdala“ oder „Behavior over Amygdala“?). Die primäre Multisymptomatik war nicht wieder aufgetreten (Wieben und Hand, 2004).
6.3 Merkmale erfolgreicher und nicht erfolgreicher Verhaltenstherapeuten
Kächele
Die Frage, welches die Merkmale eines guten und erfolgreichen Therapeuten sind, wird seit Jahrzehnten diskutiert. Hier seien zwei bekannte Vertreter ihrer jeweiligen Schulrichtungen, nämlich Kächele für die tiefenpsychologische Psychotherapie und Fiedler für die Verhaltenstherapie, mit aktuellen Einschätzungen zitiert: Kächele (2006) formuliert seine Erkenntnisse aus etlichen publizierten Einzelstudien so wie Metaanalysen zum Thema wie folgt: „Mehr als alles andere entscheidet über Erfolg und Misserfolg eines Therapeuten seine dynamische Fähigkeit, sich jeweils auf einen
Merkmale von Verhaltenstherapeuten
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anderen Menschen und dessen Defizienzen und Ressourcen einzustellen.“ Wir haben das die „Chamäleon-Qualität“ des Verhaltenstherapeuten genannt (s. Kap. 4.3) – nicht nur in Bezug auf die unterschiedlichen Patienten, sondern auch hinsichtlich der zum Teil sehr unterschiedlichen Therapiestadien beim gleichen Patienten! Kächele sieht in der Literatur keine Evidenz dafür, dass manualisierte Psychotherapien, gleich welcher Schulen, den nicht-manualisierten überlegen seien. Dabei bezieht er sich auch auf die Studie von Hupert et al. (2001) aus der Barlow-Gruppe, die eine entscheidende Bedeutung der „allgemeinen therapeutischen Erfahrung“ für das Therapieergebnis und „nur geringe Effekte des Ausmaßes, mit dem kognitive Therapieelemente durchgeführt wurden“ gefunden hatte. Beutler et al. (2003, zit. bei Kächele, 2006) kommen bezüglich der Manualisierung zu dem Schluss, dass „jene (gemeint: Therapeuten), die am wenigsten Erfahrung haben, am besten von manualisierter Therapie“ profitieren. So folgert Kächele, „dass es nichts Besseres für den Neuling gibt, als sich möglichst viel klinische, patientenbezogene Erfahrung anzueignen“. Völlig gegensätzliche Schlussfolgerungen zieht Fiedler (2003) aus der Literatur: „Durchgängig sehr erfolgreiche Therapeuten halten sich im Unterschied zu weniger erfolgreichen Therapeuten besonders strikt an die Anweisungen und Vorgaben ihres Behandlungskonzeptes bzw. ihres Therapieverfahrens. Besonders erfolgreich sind Therapeuten, die sich an therapeutischen Manualen orientieren – und dies gilt nicht nur für Verhaltenstherapeuten (Verweis auf Schulte et al., 1991), sondern auch für interpersonell orientierte (Verweis auf Rounsaville et al., 1988) und psychodynamisch arbeitende Therapeuten (Verweis auf Luborski et al., 1985, 1986; Strupp et al., 1988)“.
Patientenbezogene Erfahrung aneignen Fiedler
Vorgaben ihres Therapieverfahrens
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Epilog: Freie Assoziationen
Aus unserer eigenen Erfahrung mit Aus- und Weiterbildung können beide Statements gut nachvollzogen werden – aber nicht als allgemeingültig, sondern für unterschiedliche Bereiche der Verhaltenstherapie.
Zustimmung zu Kächele
Zustimmung zu Fiedlers Schlussfolgerungen
Volle Zustimmung zu Kächele, wenn man einen „Allround-Verhaltenstherapeuten“, der bei einem breiten Spektrum von Störungen und Problemen einsetzbar sein soll, aus- und weiterbilden möchte. Erfahrung sammeln, theoretisches Wissen in der Praxis des eigenen Handelns überprüfen, am Erfolg und Misserfolg lernen und in lebendiger Interaktion mit dem jeweiligen Supervisor dessen Denken und Handeln miterleben – all das sind eigentlich unverzichtbare Voraussetzungen. Zugleich Zustimmung zu Fiedlers Schlussfolgerungen, in eigenen Worten ausgedrückt: Eine klare Strategie der Informationsgewinnung, der Informationsordnung, der Hypothesenableitung, der Therapieplanung und der Therapieumsetzung ist in der Verhaltenstherapie unverzichtbar (s. Kap. 4). Die Manualisierung symptomspezifischer Interventionen kann aus unserer Erfahrung aber eher bei Aus- und Weiterbildungstherapeuten positive Zusatzeffekte bringen (vgl. Beutler et al., in Kächele, 2006). Expositionstherapie, z. B. bei Angstoder Zwangserkrankungen, kann durch die Begeisterung des jungen Therapeuten, gepaart mit systematischem, manualisiertem Wissen, beste Erfolge bringen. Patienten in Ausbildungstherapie kommentieren nicht selten, dass sie zwar gemerkt haben, dass der Therapeut keine große Erfahrung hat, dass sie aber zutiefst beeindruckt sind von dessen Engagement, der Zuwendung und dem noch neuen Fachwissen – und dass sie die Therapie dadurch als besonders hilfreich erlebt haben. Diese Ausstrahlung kann der über
Merkmale von Verhaltenstherapeuten
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Jahre oder Jahrzehnte mit zahlreichen Expositionen erfahrene Therapeut nicht immer erbringen. Das Gleiche gilt auch für die Arbeit mit störungsspezifischen Gruppen auf der Grundlage eines klar strukturierten, manualisierten Übungsprogrammes: Junge Therapeuten lernen so schnell, eigenständig hervorragende Ergebnisse zu erzielen. Läuft die Therapie allerdings nicht nach Plan (s. eigene Weiterbildungstherapien des Autors, Kap. 3), so ist der Manual-geleitete, begeisternde Nachwuchs-Therapeut schnell am Ende seiner Möglichkeiten. Da selbst innerhalb einer AchseI-Diagnose die Patienten extrem unterschiedlich bezüglich einer Behandelbarkeit sein können und störungsspezifische Manuale dem in keiner Weise gerecht werden, sollten wir in der multimodalen Verhaltenstherapie „je nach Fall“ entscheiden, ob hier in erster Linie das Standard- und zum Teil auch manualisierte Konzept umzusetzen ist oder ob zur Klärung der Gesamtproblematik Erfahrung, gepaart mit Flexibilität und (erhaltener) Neugierde, zu kreativen Abwandlungen des Standardvorgehens führen sollte. Fiedlers Darstellung der Merkmale des wenig erfolgreichen Therapeuten (2003) wird voll zugestimmt: Das charakteristische Merkmal sieht er in einem „nicht unproblematischen persönlichen Anspruch, möglichst viele Probleme der Patienten möglichst umfassend behandeln zu wollen“. Dieser unrealistische Anspruch laufe häufig sogar den Wünschen der Patienten zuwider. Therapien verliefen umso ungünstiger, „je mehr Interventionen relativ ungezielt erfolgten, wenn Therapeuten ihre Behandlungsziele recht häufig aufgrund vermeintlicher aktueller Entwicklungen wechseln, und je unklarer sie in der Begründung ihres therapeutischen Vorgehens blieben“. Das ist aus unserer Sicht auch eine Kommentierung jener multimodalen Behandlungspläne in der
Kreative Abwandlungen des Standardvorgehens Fiedlers Darstellung
264
Epilog: Freie Assoziationen
Richtlinien-VT, die aus einer vokabelmäßigen Auflistung von 5 bis über 10 unterschiedlichen Verfahren bestehen – ohne eine Individualisierung, Präzisierung und Hierarchisierung von deren Anwendung. Wenn solche Therapien dann keine Fortschritte machen, da sie keinen Plan hatten (s. Kap. 3.5 und 4.2), greift der Therapeut gerne hilf- und dann auch eher wahllos in diesen „Bauchladen“.
6.4 „Unbewusste (Be-)Handlungsmotivation“ – auch beim Autor?
Denk- und Arbeitsweise
Kommunikationsmodell der Verhaltenstherapie Beier
Für die Entwicklung unserer eigenen therapeutischen Denk- und Arbeitsweise seit Mitte der 70erJahre war vermutlich auch ein Autor von Bedeutung, der 30 bis 40 Jahre vor den heutigen neoanalytisch orientierten Verhaltenstherapiemodellen bereits „eine Ehe zwischen Skinner und Freud“ mit seinem „Kommunikationsmodell der Verhaltenstherapie“ versuchte: Beier (1966). Ich hatte Beier kurz nach der Rückkehr aus London und Montreal gelesen und war ebenso beeindruckt wie seinerzeit Klaus Grawe. Das Buch landete dennoch im Bücherregal. Erst zur inhaltlichen Gestaltung dieses Kapitels 6 entdeckte ich es bei Sichtung meiner Bibliothek wieder (deshalb ist Beier auch nicht in Kap. 2 angeführt) und fand, neben etlichen anderen, die hier zitierten Stellen, von mir markiert, in dem Buch vor – nach Jahrzehnten fehlender bewusster Erinnerung! Letzteres bezieht sich dabei nicht auf die einzelnen Inhalte – die waren schon Anfang der 70er-Jahre nicht wirklich neu –, sondern darauf, dass ein Autor daraus damals schon ein Verhaltenstherapie-Modell entwickelt hatte! Was könnten wir daraus übernommen haben?
„Unbewusste (Be-)Handlungsmotivation“
Beier kritisierte damals schon, dass es „eine Mode ist, zu glauben, verbales Verhalten sei entscheidend für den therapeutischen Prozess, … ein Individuum gibt Informationen durch sein Verhalten, ob er dabei auch noch verbalisiert, ist kein entscheidender Aspekt des Austausches“. Dies haben wir nie als allgemeingültiges Credo übernommen, aber es erwies sich anscheinend als ein guter Schutz vor allzu viel Beeinflussung durch die später in Mode gekommene kognitive Therapie bzw. kognitive Verhaltenstherapie. Wir internalisierten: Das Gesagte muss nicht das Gemeinte sein – und das Gemeinte muss nicht unbedingt gesagt werden (s. Kap. 4.3.5). Zur funktionalen und systemischen Betrachtungsweise: „Es wäre höchst unlogisch anzunehmen, dass Menschen gelernt haben, sich Missempfindungen selbst beizubringen – es sei denn, diese Missempfindungen, über die sie oft so heftig klagen, hätten auch eine belohnende Funktion. Diese belohnende Funktion ist sehr wahrscheinlich unbewusst, das heißt, sie dient dazu, einige Probleme zu lösen; sie dient also der psychischen Ökonomie des Patienten dadurch, dass sie ihm wieder Inhalt und Bedeutung in seinem Leben gibt.“ Daraus ergibt sich die Frage: „Wenn ein Patient über ein Symptom klagt – ist das Symptom dann wirklich sein eigentlicher Schmerz?“ (Vgl. unsere Beispiele in Kap. 5.) Am Beispiel eines depressiven Patienten erläutert Beier: „Der Patient stuft sich als depressiv ein, weil dieser Zustand ihm ermöglicht, einige belohnende Verhaltensweisen auszuüben, die er eigentlich in sich selbst nicht akzeptieren kann. Die Quelle seines eigentlichen Schmerzes ist nicht dadurch am besten herauszufinden, dass seiner Schilderung der Symptomatik zugehört wird, sondern durch die Analyse der Konsequenzen seiner Depression. Diese Analyse bezieht sich schwerpunktmäßig auf die
265
Individuum gibt Informationen durch Verhalten
Das Gesagte muss nicht das Gemeinte sein – und das Gemeinte muss nicht unbedingt gesagt werden
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Epilog: Freie Assoziationen
Kommunikative Aspekte des Symptomverhaltens
Spielen mit den SpielballHypothesen
kommunikativen Aspekte des Symptomverhaltens und gibt dann die Informationen darüber, was das Symptom für den Patienten tut.“ Wir haben dieses Phänomen ganz besonders bei unseren ersten Therapien mit pathologischen Glückspielern, Anfang der 80er-Jahre, kennengelernt – und theoriefrei als „nicht gewusste Intention“ bezeichnet (s. Kap. 4.2). In diesem Kontext haben wir dann auch das „Spielen mit den Spielball-Hypothesen“ abgeleitet. Dieses blieb, wie in Kap. 5. gezeigt, bald nicht mehr auf Spieler beschränkt. Heute bezeichnen wir dieses Vorgehen allgemein als die Analyse der intrapsychischen und der interaktionellen Funktionalität des Symptomverhaltens.
Therapeut-PatientBeziehung
Auch zur Therapeut-Patient-Beziehung hatte Beier ganz moderne Ansichten: „Patienten haben Angst vor der Ungewissheit (uncertainty); der Therapeut stellt eine wohlwollende Ungewissheit her, die auf zwei Grundlagen beruht – nämlich dem Gefühl, dass sich jemand wirklich kümmert, einen wirklich ernst nimmt (sense of concern), und der relativen Enthaltsamkeit (freedom) in Bezug auf Bewertungen. Auf diese Weise kann die psychotherapeutische Intervention den Patienten hinsichtlich seines automatisierten Verhaltens (z. B. des Symptomverhaltens) verunsichern und ihm Freiheit wiedergeben, das noch Unbekannte zu erforschen. Der Patient kann sich dann selbst erlauben, solche Gefühle wieder zu empfinden und Gedanken zu haben, die vorher aus seinem Leben ausgeschlossen waren.“ Eine entsprechend hilfreiche Vorgehensweise bestehe darin, dass „der Therapeut es ablehnt, den gegenwärtigen Zustand des Patienten zu verstärken, indem er es ebenfalls ablehnt, die Reaktion zu zeigen,
„Unbewusste (Be-)Handlungsmotivation“
die der Patient in ihm hervorrufen möchte“. Beier gibt dafür Beispiele: Patient: „I hate you“ – Therapeut: „Go on“. (Vgl. motivationale Strategien in der direktiven Familientherapie.) Und auch die heute wieder hoch aktuelle Betonung der Emotionen im Therapieprozess finden wir bei Beier. Ein bestimmtes Ziel bei und mit dem Patienten werde am besten erreicht, wenn der Therapeut „verdeckte Methoden einsetzt, um emotionale Reaktionen beim Patienten auszulösen,“ statt zu versuchen, den Patient „durch die Macht der Logik zu überzeugen“. (Vgl. z. B. die Kontroverse über die Bedeutung kognitiver Disputationen bei Patienten mit Zwangsgedanken versus Expositions-induzierter Emotionen!) Wir finden bei Beier also den Versuch einer Synthese verhaltenstherapeutischer, analytischer und kommunikationstherapeutischer Konzepte. Unsere aus Beiers Modell wohl teilweise mit abgeleitete Arbeitsweise setzt jeweils passende Teilelemente daraus flexibel, bei aus den Verhaltensanalysen abgeleiteter Indikation punktuell, aber nicht als allgemeingültiges Credo, ein! Fiedler (2003) kritisierte vor Kurzem, dass es ein schwerer Fehler der Verhaltenstherapie sei, dass sie zu wenig Bereitschaft zeige, die klinischen Erfahrungen der Tiefenpsychologie und Psychoanalyse zu integrieren. Für etliche kognitive Verhaltenstherapeuten wie auch „orthodoxe Lerntheoretiker“ trifft dies sicherlich zu. Wie wir aber z. B. hier bei Beier, dann aber auch bei Kanfer (hohe Wertschätzung der Arbeit von Sullivan) und seit Jahren bei den verschiedenen „neuen“ Verhaltenstherapiemodellen sehen, gibt es doch auch eine lange Tradition des Versuches der Integration überzeugender Erfahrungen (leider nicht immer unter Angabe der Quellen des „neuen“ Wissens).
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Aktuelle Betonung der Emotionen
Synthese verhaltenstherapeutischer, analytischer und kommunikationstherapeutischer Konzepte
Fiedler
268
Epilog: Freie Assoziationen
6.5 Auf den Punkt gebracht (In a nutshell)
Think flexible
„Colombo“-Haltung
Unsere Therapie-Strategie
Inter- und Supervision in einem Team
Wie alle Psychotherapeuten, so stehen auch wir Verhaltenstherapeuten ständig vor der Aufgabe, das therapeutisch Einfache im scheinbar Komplexen und das Komplexe hinter dem scheinbar Einfachen zu entdecken. „Think flexible“ ist dazu ebenso erforderlich wie anhaltende Neugier – auch dann noch, wenn wir meinen, ein Problem schon verstanden zu haben („Colombo“-Haltung). Last but not least benötigen wir dann eine Strategie, um Struktur und Hierarchie in das so gesammelte Wissen zu bringen, um daraus einen begründeten Therapieplan ableiten und umsetzen zu können. Unsere Therapie-Strategie wurde nicht aus einer Theorie abgeleitet, sondern aus gelernten eigenen und gelesenen Erfahrungen anderer. Sie wurde lebendig gelebt in ständiger Inter- und Supervision in einem Team, das – in enger Kooperation mit dem Psychologischen Institut III der Universität Hamburg – Hunderte von Psychologen, psychologischen Diplomanden und Doktoranden, Psychologen im Praktikum (in Kooperation mit dem IWVT, später IVAH) sowie Ärzten und ärztlichen Doktoranden und schließlich auch Praktikanten aus- und weitergebildet hat. Die kleine, aber stellentechnisch sehr stabile Gruppe der Verhaltenstherapeuten aus der Krankenpflege (nach dem englischen Modell der Behavioural Nurse Therapists; Hand und Schröder-Hartwig, 1985) sicherte angesichts der unvermeidbaren Fluktuation bei den Akademikern die therapeutische Infrastruktur und Konstanz der Basiskonzepte.
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SpringerPsychotherapie Alice Sendera, Martina Sendera Skills-Training bei Borderline- und posttraumatischer Belastungsstörung 2. Auflage. 2007. XVII, 240 Seiten. 50 Abbildungen. Mit CD-ROM. Broschiert EUR 39,95, sFr 65,50 ISBN 978-3-211-71784-4
Das Buch vereint Theorie und Praxis des Skills-Trainings nach der Dialektisch Behavioralen Therapie (DBT) und richtet sich an alle, die im therapeutischen, medizinischen, sozialen und pädagogischen Bereich tätig sind sowie an Betroffene. Es gibt einen Überblick über Diagnostik, Problembereiche, Neurobiologie, Therapiekonzepte sowie Inhalt und Aufbau von Skills-Gruppen. Die typischen Muster von Instabilität, Spannungszuständen, Impulsdurchbrüchen, Schemata, Dissoziation, Somatisierung und Selbstverletzung werden ausführlich erklärt. Wirksame Strategien und Techniken werden in den Modulen Achtsamkeit, Emotionsregulation, Stresstoleranz und Zwischenmenschliche Skills beschrieben. In der 2. Auflage wurden inhaltliche Ergänzungen in den Bereichen chronischer Schmerz, Somatisierungsstörung, DBT und Sucht, DBT in der Forensik, DBT in der Pädagogik vorgenommen. Neu ist auch eine CD-ROM mit Arbeitsblättern und Handouts für Therapiesitzungen.
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SpringerPsychologie Hans Morschitzky Somatoforme Störungen Diagnostik, Konzepte und Therapie bei Körpersymptomen ohne Organbefund
Zweite erweiterte Auflage. 2007. XVI, 401 Seiten. Broschiert EUR 39,95, sFr 65,50* ISBN 978-3-211-48637-5
„Sie haben nichts“, „Seien Sie froh, dass Sie nicht wirklich krank sind“ – jeder vierte bis fünfte Patient geht mit Beschwerden zum Arzt, die keine hinreichende organische Ursache haben. Das Diagnoseschema ICD-10 bezeichnet diese Beschwerden als „somatoform“. Somatoforme Störungen erfordern eine interdisziplinäre Zusammenarbeit. Das Buch beschreibt die Störungen mit ihren wichtigsten Beschwerdebildern und bietet eine verständliche Zusammenfassung der theoretischen und therapeutischen Konzepte. In der 2. Auflage wird die neueste Literatur berücksichtigt, vor allem werden therapeutische Konzepte für die klinische Praxis ausführlicher dargestellt. Ein neuer Selbsthilfe-Teil soll Betroffenen eine erste Orientierung ermöglichen, kann aber auch von Fachleuten an die Patienten weitergegeben werden.
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SpringerPsychologie Christian Fazekas Psychosomatische Intelligenz Spüren und Denken – ein Doppelleben
2006. XII, 290 Seiten. 14 Abbildungen. Gebunden EUR 29,80, sFr 48,50* ISBN 978-3-211-21107-6
Unserem Denken entspricht es, zwischen Körper und Geist zu spalten. Dies kann zu Einschränkungen im Umgang mit dem eigenen Körper und in der Nutzung unserer Intelligenz führen. Ausgehend von alltäglichen Auswirkungen ziehen die Autoren aufgrund jüngster Forschungsergebnisse und klinischer Erfahrungen einen ebenso einfachen wie überzeugenden Schluss: Menschliche Intelligenz beinhaltet auch Fähigkeiten, die sich auf den eigenen Körper beziehen und wohl gerade deswegen kaum Beachtung finden. Im ersten Teil des Buches werden die Bereiche Psychosomatik und Emotionale Intelligenz vorgestellt, um daraus das innovative Konzept der „Psychosomatischen Intelligenz“ zu entwickeln. Danach wird die potentiell zentrale Bedeutung dieses Begriffs für unseren Umgang mit Gesundheit, Individualität und sozialer Verantwortung veranschaulicht: Spüren und Denken könn(t)en einander sinnvoll ergänzen! MedizinerInnen, PsychologInnen, PsychotherapeutInnen und Laien lernen umfassend eine neue Sichtweise der Psychosomatik kennen.
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Springer und Umwelt A LS INTERNATIONALER WISSENSCHAFTLICHER V ERLAG sind wir uns unserer besonderen Verpflichtung der Umwelt gegenüber bewusst und beziehen umweltorientierte Grundsätze in Unternehmensentscheidungen mit ein. V ON UNSEREN G ESCHÄFTSPARTNERN (D RUCKEREIEN , Papierfabriken, Verpackungsherstellern usw.) verlangen wir, dass sie sowohl beim Herstellungsprozess selbst als auch beim Einsatz der zur Verwendung kommenden Materialien ökologische Gesichtspunkte berücksichtigen. D AS FÜR DIESES B UCH VERWENDETE P APIER IST AUS chlorfrei hergestelltem Zellstoff gefertigt und im pH-Wert neutral.