»PHANOMENOLOG IE DER PHANOMENOLOG IE«
PHAENOMENOLOGICA REIHE GEGRUNDET VON H.t. VAN BREDA UND PUBLIZIERT UNTER SCHIRM...
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»PHANOMENOLOG IE DER PHANOMENOLOG IE«
PHAENOMENOLOGICA REIHE GEGRUNDET VON H.t. VAN BREDA UND PUBLIZIERT UNTER SCHIRMHERRSCHAFT DER HUSSERL-ARCHIVE
166 SEBASTIAN LUFT
i> PHANOMENOLOGIE
DER PHANOMENOLOGIE«
SYSTEMATIK UND METHODOLOGIE DER PHANOMENOLOGIE IN DER AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN HUSSERL UND FINK
Redaktionskommitee: Direktor: R. Bernet (Husserl-Archief, Leuven) Sekretar: J Taminiaux (Centre d'etudes phenomenologiques, Louvain-la-Neuve) Mitglieder: S. IJsseling (Husserl-Archief, Leuven), H. Leonardy (Centre d'etudes phenomenologiques, Louvain-la-Neuve), U. Melle (HusserlArchief, Leuven), B. Stevens (Centre d'etudes phenomenologiques, Louvain-la-Neuve) Wissenschaftlicher Beirat: R. Bernasconi (Memphis State University), D. Carr (Emory University, Atlanta), E.S. Casey (State University of New York at Stony Brook), R. Cobb-Stevens (Boston College), JE Courtine (Archives-Husserl, Paris), F. Dastur (Universite de Nice), K. Dusing (HusserlArchiv, Kaln), J Hart (Indiana University, Bloomington), K. Held (Bergische Universitat Wuppertal), D. Janicaud (Universite de Nice), K.E. Kaehler (Husserl-Archiv, Kaln), D. Lohmar (Husserl-Archiv, Kaln), WR. McKenna (Miami University, Oxford, USA), IN. Mohanty (Temple University, Philadelphia), E.W Orth (Universitat Trier), P. Ricoeur (Paris), K. Schuhmann (University of Utrecht), C. Sini (Universiti degli Studi di Milano), R. Sokolowski (Catholic University of America, Washington D.c.), B. Waldenfels (RuhrUniversitat, Bochum)
SEBASTIAN LUFT
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»PHANOMENOLOGIE DER PHANOMENOLOGIE« SYSTEMATIK UND METHODOLOGIE DER PHANOMENOLOGIE IN DER AUSEINANDERSETZUNG ZWISCHEN HUSSERL UND FINK
KLUWER ACADEMIC PUBLISHERS DORDRECHT / BOSTON / LONDON
A C.I.P. Catalogue record for this book is available from the Library of Congress
ISBN
1-402o-o901-I
Published by Kluwer Academic Publishers, P.O. Box 17, 3300 AA Dordrecht, The Netherlands. Sold and distributed in North, Central and South America by Kluwer Academic Publishers, 101 Philip Drive, Norwell, MA 0206I, U.S.A.
In all other countries, sold and distributed by Kluwer Academic Publishers, P.o. Box 322, 3300 AH Dordrecht, The Netherlands
Printed on addjree pitper
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He's a real nowhere man sitting in his nowhere land making up his nowhere plans Jor nobody. Doesn't have a point oj view knows not where he's going to isn't he a bit like you and me? (Lennon / McCartney, » Nowhere Man «)
Menschsein in der Menschheit auJ dem Boden der Welt hat sein natiirliches Recht und verliert es nicht in der Uberwindung der Positivitat. Und doch gewinnt alles, indem der Schleier der Transzendentalitat Jallt, alles einen neuen Sinn und seinen absoluten, der alle natiirliche Wahrheit zugleich iiberwindet und berechtigt, sie zugleich berechtigt und relativiert und begrenzt. VernunJt-» Kritik « im neuen Sinn und doch verwandt mit der kantischen: Kritik der VernunJt als positive WissenschaJt, Kritik der Welt, die verstanden ist als Geltungskorrelat, als Seinssinn, der von der transzendentalen Subjektivitat her konstituiert ist: In der Kritik kritisiert die transzendentale Subjektivitat sich selbst nach dieser im Stromen stets unvollkommenen und doch ein ontologisch umgreifbares Ziel vorzeichtlenden Leistung etc. Natiirlich ist dann die Frage: Was bedeutet diese KritikJiir das Leben, das doch nicht bloj3 wissenschciftliches und in der Phanomenologie nicht bloj3 phanomenologisierendes Leben ist? Wie verwandelt sich der unbandige, nie zu bandigende » Wille « zum Leben und sein Diener, der positive Intellekt, durch die Uberwindung der transzendentalen Naivitat? Was wird aus dem noch so hoch interpretierten ethischen Leben, was aus der Wohlfahrt etc.? Der Mensch bleibt doch Mensch, und menschliches Leben geht weiter und soll we iter erwiinschten, bifriedigenden Stil haben. Verwandlung der WissenschaJt, Verwandlung des Weltiebens, Verwandlung der Ethik etc. (Edmund Husserl, A v 20/5, wohl von November 1934)
INHALT
Abkiirzungsverzeichnis ........................................................
Xl
Einleitung .....................................................................
1
1.
2.
3. 4. 5. 6.
Einftihrung in das Problem von Methodik und Systematik und das Projekt einer phanomenologischen Selbstkritik ................................... . Husserls erster Versuch der Selbstkritik: die apodiktische Reduktion (1922123) Der neue Ansatz: » Phanomenologie der Phanomenologie« als Selbstkritik des unbeteiligten Zuschauers ............................................. Zum Verhaltnis von Husserl und Fink ...................................... Zum Forschungsstand ..................................................... Kapitellibersicht ..........................................................
8 15 22 27 29
Kapitel I. Die natiirliche Einstellung. Systematische Rekonstruktion in thematischer und methodischer Hinsicht .................................. 35 Die Moglichkeit und N otwendigkeit einer systematischen Theorie der natiirlichen Einstellung und der Begriff der Einstellung ..................... 1.2. Theorie der natiirlichen Einstellung in thematischer Hinsicht .............. 1.2.1. Der Schematismus Akt-Situation-Einstellung und die Korrelation von Einstellung und Welt ............................................. 1.2.2. Der Plural des Schemas Einstellung-Welt und das Phanomen der Verweisung .......................................................... 1.2.3. Sonderwelt-Sondereinstellung und die Pluralitat der Sondereinstellungen. Die Gespaltenheit von Heimwelt - Heimeinstellung ...... 1.2.4. Heim- und Fremdwelt. Natiirliche Einstellung und Lebenswelt ....... 1.3. Theorie der natiirlichen Einstellung in methodischer Hinsicht .............. 1.3.1. Natiirlichkeit ...................................................... 1.3.2. Naivitat ........................................................... I.3.3. Normalitat ........................................................ 1.4. Die Generalthesis als Ergebnis faktischer Variation. Natiirlich-naive und natiirlich-dogrnatische Einstellung und die Moglichkeit des Abschieds von der natiirlichen Einstellung ............................................... 1.1.
35 41 41 47 50 52 57 57 61 66
72
VIII
IN HALT
Kapitel 2. Die Motivation fUr die Reduktion und die Etablierung des »unbeteiligten Zuschauers« durch radikale Ichspaltung. Die N otwendigkeit einer )) Phanomenologie der phanomenologischen Reduktion« ................................................................ 79 Die Motivation flir die Reduktion ........................................ Das Problem der Motivation ........................................ 2. I.2. Das Grundgesetz der Motivation. Aktive und passive Motivation ...... 2. I.3. Ein Vorschlag Finks: Die Erfahrung von Fremdheit in der Heimwelt................................................................. 2.I.4. Husserls Alternative: Fremderfahrung als Motivation ................. 2.2. Die Etablierung des ))unbeteiligten Zuschauers« durch radikale Ichspaltung ................................................................. 2.2. I. Die Reflexionsproblematik und die Ichspaltung. Leibliche Selbstthematisierung und natiirliche Reflexion ......................... Exkurs. )) Ichspaltung« als psychopathologisches Phanomen im Umkreis Husserls: Oesterreich und Jaspers ......................................... 2.3. Radikale (phanomenologische) Reflexion und die Etablierung des uninteressierten Zuschauers .............................................. 2.4. Die Naivitat des Zuschauers als Forschungshaltung. Der Zuschauer als »)unbewaltigter Rest« der Reduktion und die Forderung einer transzendentalen Selbstkritik .............................................. 2. I.
2. I. I.
79 79 84 89 97 104 107 119 126
134
Kapitel 3. Zur Architektonik des phanomenologischen Systems .............. 143 3. I. Zur Entstehungsgeschichte der VI. Meditation und zur Charakterisierung der Zusammenarbeit und des Verhaltnisses von Husserl und Fink ............ 3.2. Die Zusammengehorigkeit von Systematik und Methodologie und Husserls unausgesprochene Position hierzu ................................ 3.3. Finks Gliederung der phanomenologischen Systematik am Leitfaden der kantischen Architektonik ................................................. 3·4· Die weiteren Spaltungen in der Methodenlehre. Die vollsrandige Freilegung des Zuschauers ................................................ 3.4.1. Der Bruch zwischen konstituierendem und phanomenologisierendem Ich ......................................... 3.4.2. Hoherstufige Spaltung in der Iterabilirat ............................. 3-4.3. Ein vo&iufiges Fragen nach dem ))Konstituieren« des Zuschauers ..... 3.5. Phanomenologisieren in der Elementarlehre ............................... 3.5. I. Phanomenologisieren als Hegressives Analysieren« ................... 3.5.2. Phanomenologisieren als konstruktiver Aufbau ....................... 3.5.3. Phanomenologisieren als theoretisches Erfahren ...................... 3.5.4. Phanomenologisieren als ddeieren« .................................
143 154 161 170 170 177 180 182 183 187 195 201
INHALT
IX
Kapitel 4. Phanomenologische und natiirliche Einstellung: die Verweltlichung ............................................................ 207 4. I. Die Aufgabenstellung: Der Begriff der Verweltlichung ..................... 4.2. Die Pradikation als »Motivation ftir die Verweltlichung«. Finks und Husserls Bestimmung der phanomenologischen Sprache .................... 4.2.1. Fink: Pradikation als »katachretische« Appropriation ................. 4.2.2. Husserl: Pradikation als VerwandlunglIndikation .................... 4.3. Finks und Husserls Konzept der Verweltlichung als Riickkehr in die natiirliche Einstellung. Die VerhaItnisbestimmung von natiirlicher und phanomenologischer Einstellung .......................................... 4.3.1. Finks Konzept der Verweltlichung .................................. 4.3. I. I. Verweltlichen als Verwissenschaftlichen. Der Wissenschaftscharakter der Phanomenologie. Die objektivierte Wissensgestalt und das »eigentliche Subjekt« des Phanomenologisierens. Primare Verweltlichung ................................................... 4.3.1.2. Die sekundare Verweltlichung in subjektiver Richtung: der Schein des phanomenologisierenden Menschen .................... 4.3 ·1.3 Die sekundare Verweltlichung in objektiver Richtung: der Schein der Phanomenologie - ein philosophisches Stonehenge ...... 4.3.2. Husserls Gegenkonzept ............................................ 4.3.2.1. Die Lokalisation des Transzendentalen in der Welt .............. 4.3.2.2. Geschichtsphilosophische Konsequenzen: das Konzept des Einstromens ..................................................... 4.4. Husserls und Finks Bestimmung des Absoluten und das System der Phanomenologie ........................................................ 4.5. Schluss und Ausblick: der Fortschritt von Philosophie und Wissenschaft und die Unauthebbarkeit der natiirlichen Einstellung .......................
207 209 211
219
230 235
236 245 259 264 266 279 288 304
Literaturverzeichnis ........................................................... 309 Werke Husserls ........................................................... I. I. Innerhalb der Husserliana ............................................. 1.2. AuBerhalb der Husserliana ............................................ 2. Weitere Literatur .......................................................... 3. Nachschlagewerke und Worterbiicher ...................................... I.
309 309 311 311
318
EINLEITUNG
I.
EinJiihrung in das Problem von Methodik und Systematik und das Projekt einer phanomenologischen Selbstkritik
Vorliegende Arbeit beschaftigt sich mit dem Verhaltnis von Systematik und Methodologie in Edmund Husserls Philosophie. Diese Themen werden nach der Wende zur transzendentalen Phanomenologie ab den Ideen I und insbesondere im Spatwerk virulent. Hiermit zeichnen sich die Konturen und Fluchtlinien der Endgestalt der husserlschen Phanomenologie ab, einer, wie es Husserls Uberzeugung war, mach allen systematischen Hauptlinien vorgezeichneten Philosophie«.i Die literarische Ausgestaltung dieser Zusammenhange war Husserl das groBte Anliegen in dieser spaten Phase seines Denkens und das eingestandenermaBen fUr ihn »Schwierigste«.2 Der detailversessene Phanomenologe fUhlt sich letztlich dazu veranlasst, ja gedrangt, zu seinen bekanntermaBen subtilen Feinanalysen in Distanz zu treten und die groBen Linien seines Denkens zu iiberschauen, um dadurch seinem Werk eine systematische Form zu geben. Hierdurch soUte die Phanomenologie fUr die Zukunft, die er selbst nicht mehr wiirde direkt beeinflussen konnen, geriistet werden. Das »Systematische der Ph [anomenologie] « soUte den »notwendigen Entwurf der allgem[einen] >Landkarte< des tr[anszendentalen] Continents«3 ausfuhreno Das Motiv hierfur liegt auf der Hand: Nicht nur auf Grund der Erkenntnis, dass die systematische Ausgestaltung bis ins Letzte ihm selbst nicht mehr vergonnt sein wiirde, sondern auch, um einen systematischen Rahmen fUr alle zukiinftigen phanomenologischen Bemiihungen nach ihm vorzugeben, war es notig, einen systematischen Gesamtiiberblick iiber die» Felder« der transzendentalen Phanomenologie zu geben. Hierbei kann es aber nicht allein, im Bilde zu reden, um eine Topographie dieses Kontinents gehen, sondern es gilt, denselben unter systematischen Prinzipien der Forschung als ganzen in den Blick zu bringen. Das allen phanomenologischen Bemiihungen hinsichtlich ihrer Gebiete Gemeinsame ist hierbei die neuartige transzendental-phanomenologische Methode. Eine systematische Darstel-
2
So Husser! am II.8.I920 an Bell, BW 3, I4. Vgl. Husser!s Brief an Albrecht vom 29.I2.I930 (BW 9, 76): »In dem letzten Jahr hat sich im minutiosen Uberdenken, in sorgsamster Endgestaltung und Erganzung alles glanzend bestatigt, aber noch bin ich mit den Vorbereitungen nicht ganz fertig, habe noch einiges Schwierige vor mir und vor allem das jetzt Schwierigste: die systematische Darstellung. {( So Husser! an Pannwitz am 28.129.2.I934, BW 7, 222.
S. Luft, Phänomenologie der Phänomenologie © Kluwer Academic Publishers 2002
2
EINLEITUNG
lung der Horizonte des phanomenologischen Projekts fordert also in besonderem MaBe eine methodologische Riflexion iiber das hierbei zu verwendende methodische Instrumentarium. Bine solche Reflexion auf das eigene philosophische Vorgehen in Hinblick auf das System der Phanomenologie stellt sich dar als eine Selbstkritik der Phiinomenologie beziiglich ihrer eigenen Voraussetzungen, Vorgehensweisen und Grenzen. Das ist - in aller Vorlaufigkeit - der Zusammenhang zwischen Methodik und Systematik aus der Perspektive der »hoherstufigen Kritik« oder Selbstkritik, einer, wie Husserl auch sagt, »Phanomenologie der Phanomenologie«. Einer weitverbreiteten Forschungsmeinung zufolge hat Husserl die Selbstkritik nie durchgefuhrt. Demgegeniiber geht es in der vorliegenden Untersuchung darum zu zeigen, dass Husserls spate Reflexionen im Zusammenhang mit der Methodik und Systematik der Phanomenologie nichts anderes als die auch von ihm selbst wiederholt geforderte Selbstkritik der Phanomenologie darstellen. Husserls Spatphilosophie, urn es pointiert zu sagen, hat die Selbstkritik - als methodologische Untersuchung ihres Selbstverstandnisses und ihres »Zwecksinnes«, ihrer Systematik - geradezu zum vorziiglichen Thema. Dieses Begriffspaar »Methodik« und »Systematik« meint hierbei keine getrennten Reflexionshinsichten, sondern wird in vielen AuBerungen des spaten Husserl in einem Atemzug genannt; hierin kristallisiert sich das Hauptanliegen sowohl von Husserls philosophischem Selbstverstandnis als auch der Selbstverstandigung der Phanomenologie iiber sich selbst. Stellvertretend sei folgendes Zitat von 193 I wiedergegeben: »Es ist eigentlich ein ganzes philosophisches System erwachsen, aber eines v611ig neuen Sinnes und Stiles, eben das System der Methodik und Problematik einer absoluten Wissenschaft als einer absolut begriindeten und auf das Absolute gerichteten, also nicht auf spekulative Konstruktion eines mystischen Absoluten, sondern des aus uns selbst in phanomenologischer Reduktion als Absolutes zu erkennenden und als Urgrund alles ftir uns Seienden.« (BW 9,79)4
Die verwendete Begrifflichkeit macht sogleich augenfallig, dass es hier urn Problemdimensionen geht, die weit iiber das von Husserl immer geforderte »Kleingeld« hinausgehen, sondern die groBen Perspektiven der Phanomenologie zu thematisieren bestrebt sind. So kann man zunachst ganz auBerlich Motive daftir anftihren, dass Husserl sich im Spatwerk mit diesen traditionell von der Phanomenologie (sowohl
4
Husserl an Albrecht vom 22. 12.19JI; vgl. auch den Briefan Mahnkevom 24.1.1932 (BW 3, 479), wo er vom »Ailerwichtigste[n:J (Methode und Systematik)« spricht. Vgl. ferner den Brief an Grimme vom 3.2.1932 (BW 3, 93): »Ailes Lucken schliessen sich, und es ist, trotz der ausserordentlichen Ausdehnung der konkreten und der auf Methode und Systematik bezogenen Untersuchungen, die sichere Aussicht fUr das Fertigwerden [!J: d. i. fUr eine einheitliche mehrbandige systematische Grundlegung der konstitutiven Phanomenoiogie«. Vgl. auch den Brief an Landgrebe vom 1.10.1930 (BW 4, 270f.).
E1NLE1TUNG
3
von den friihen phanomenologischen Schulen in Gottingen und Miinchen, als auch von Husserl selbst) sogar abgelehnten Themen so intensiv beschaftigte: Husserl wechselte im Jahre 1916 nach Freiburg in eine der Hochburgen des vorherrschenden Neukantianismus und iibernahm dort den Lehrstuhl des Neukantianers Heinrich Rickert. Rickert, der nach Heidelberg wechselte, schlug selbst ausdriicklich Husserl als seinen Nachfolger vor. Dass das Systembauen zum wichtigen, wenn nicht hauptsachlichen Anliegen der Neukantianer gehorte, bedarfkeiner besonderen Erwahnung. 5 Es ist verstandlich, dass sich Husserl hierdurch unter einem gewissen Zugzwang ftihlte und es ihm besonders wichtig war, die Phanomenologie, diese neue Disziplin, gegeniiber der v. a. in Deutschland vorherrschenden neukantianischen Philosophie als eigenstandige wissenschaftliche Philosophie zu profilieren, was eben nur durch die Gestaltung eines Systems der Phanomenologie moglich war. Husserl, fUr den (wie man konstatieren muss) diese Aufgabe nicht unmittelbar seinem philosophischen Naturell entsprach, blickte geradezu neidisch auf seine neukantianischen Kollegen, fUr die die systematische Philo sophie zum philosophischen Einmaleins gehorte. 6 Ohne ein »System«, urn es salopp zu formulieren, konnte man nicht beanspruchen, echter Philosoph zu sein. Husserls Phanomenologie, die als eine philosophische Disziplin mit dem Anspruch des ganzlich Neuen auftrat, konnte nur ernst genommen werden, wenn sie sich als System ausbilden und darstellen konnte. Das Gleiche galt auch mr die »phanomenologische Bewegung« ein Terminus, den Husserl selbst mit Vorliebe verwendete -, die nur als »Schule« ernstgenommen werden konnte, sofern sie eine inn ere systematische Einheitlich-
6
Neben Rickerts systematischen Arbeiten seien auch Cohens dreibandiges »System der Philosophie« (1902-12) sowie Natorps »Philosophische Systematik« von 1922123 erwahnt, die allerdings erst 1958 posthum veroffentlicht wurde. Ein Hauptorgan des Neukantianismus war die Zeitschrift »Archiv ftir Systematische Philosophie«. Vgl. den Brief an Rickert vom I I. Februar 1himself(
dienstvolle Werk Bruzinas im Ganzen kritisiert werden soli, ohne welches diese Arbeit nicht denkbar gewesen ware. 28 van Breda schrieb im Jahre 1945 an Merleau-Ponty, aus Anlass der Lektiire der Phenomenologie de la Perception: »Es scheint mir, dass Ihre Arbeit zu stark von der VI. Meditation beeinflusst worden ist. Diese hat Eugen Fink und nicht etwa Husser! redigiert. Dieser Text, sowie auch Finks Aufsatz in den Kant-Studien, ist im Grunde eine Kritik der Grundlagen des Husserlschen Denkens selbst, obwohl der Autor seine Opposition gut zu verbergen wusste und Husser!, in seiner glanzenden Naivitat, es nicht gemerkt hat, wenigstens nicht was den Kant-Studienaufsatz anbeiangt.« (zitiert bei van Kerckhoven 1996, 92) In einem anderen Briefbezeichnet er die VI. Meditation als eine »sehr tiefgriindige Kritik [... j. Fink wollte nicht, dass diese Redaktion Verbreitung findet, weil seine Kritik im Grunde sehr hart war.« (ebd., 92f.) S. auch das Vorwort zur Phdnomenologie der Wahrnehmung, 3, Anm. 2. 29 Vgl. auch Spiegelbergs Urteil (Spiegelberg 243): »Nevertheless, and especially in view of Fink's later criticisms ofHusserl's philosophy, the nature of Fink's collaboration will require careful study. How far did he at the time merely try to sharpen Husser!'s position with regard to such matters as the phenomenological reduction, the doctrine of the ego and idealism in order to test and precipitate Husserl's views without sharing them? Apparently many of Fink's formulations went considerably beyond what has been found thus far in Husserl's own texts.«
KAPITEL
3
Es besteht kein Zweifel, dass sich der friihe Fink ganz im Rahmen der husserlschen Phanomenologie hielt und innerhalb derselben eine wegweisende Untersuchung anfertigte, und dies zu so voller Zufriedenheit Husserls, dass er sie in einem von ihm ausgerichteten Wettbewerb preiskronte und Fink zum Dr. phil. und privaten Assistenten promovierte. Aber schon in seiner ersten eigentlichen Assistenzarbeit, seinem ca. hundertseitigen Anfangsstiick zur Einleitung in das systematische Werk aus dem darauffolgenden Jahr (1930) werden von Husserl abweichende Tendenzen laut. 30 Ein Beispiel hierfur wurde schon im Kontext der Motivation fur die Reduktion gegeben. Vollends die VI. Meditation bringt Thesen und daraus folgende Konklusionen, mit denen Husserl nicht einverstanden sein konnte. Hier werden die Differenzen offensichtlich, auch wenn Fink sie, mit van Breda zu reden, »gut zu verbergen« wusste und sie Husserl in seiner »glanzenden Naivitat« wenn nicht ganz verborgen blieben, so ihn doch nicht ernsthaft aufriittelten. Auch war Fink ja noch kein ausgewachsener Philosoph, wie etwa Heidegger, dem seine philosophische Aberration Husserl viel weniger zu verzeihen gewillt war und die in diesem Fall sogar zum personlichen Bruch fuhrte. Husserl sah Finks Abweichungen von der rechten Lehre eher als Missverstandnisse an, iiber die er ihn glaubte aufzuklaren zu miissen, denn als tiefgreifende Kritik an seinen eigenen Grundlagen. So ist es zu verstehen, dass seine Antworten auf kritische Einwande fast nie Auseinandersetzungen mit deren Inhalt sind, sondern geduldige Nacherzahlungen des schon Bekannten und ihm Unzweifelhaften. Beziiglich Fink war er einfach nicht bereit, die eigenen philosophischen Ansatze seines Schiilers wahrzunehmen, sondern sah sie als unreife Ziige seines »genialen« Assistenten an, ohne zu sehen, dass er sich mit genau dies em ihm vertrauten Schuler - philosophisch gesehen - gleich einem trojanischen pferd3 ! den Feind ins eigene Haus holte. Es ist hierbei irrelevant, ob sich Fink, zumindest in dieser Phase, iiber seine Kritik bzw. deren Radikalitat im Klaren war. 32 Hier liegt genau der Reiz der VI. Meditation; denn offensichtlich ist ihr Anliegen, im Zuge des AbschlieBens der phanomenologischen Systematik unartikulierte Probleme im bisherigen »System«, was ja faktisch keines war, zum Austrag zu bringen, »unbewaltigte Reste« gliicklich aufgehen zu lassen. Dies beriihrte Probleme oder Problemdimensionen, mit denen sich Husserl, moglicherweise unbewusst absichtlich, nicht auseinandergesetzt hatte. Das Interessante ist nun, dass Fink, zunachst ganz orthodox in diesem Horizont
30 Veroffentlicht in
VI. CMI2, 10-105. Dieses Anfangsstlick wurde von Husserl gelesen und ebenso mit zahlreichen kritischen Anmerkungen versehen. 1m Ganzen halt er das Einleitungsstlick ftir »unbrauchbar«; so etwa 100, Anm. 361: »Unklare Darstellung«, 58, Anm. 244: )>llicht hinreichend verstandlich!«, 47, Anm. 183: »Diese ganze Darstellung ist unbefriedigend«, Anm. 26, Anm. 80: »Das ist so nicht brauchbar als Darstellung. « 31 So Fink liber Lowith, in dem Text: »Karl Liiwith und die Phanomenologie«, Vorschlag ftir E. Husser! am 23. I. 1937 (im Husserl-Archiv unter der Signatur P II 2/ 89f.). 32 Es ist eine Lehre der Hermeneutik, dass sich der Kritiker einer anderen Position nicht unbedingt liber die Voraussetzungen seiner eigenen Position im Klaren scin muss.
ZUR ARCHITEKTONIK DES PHANOMENOLOGISCHEN SYSTEMS
153
verbleibend und, aus ihm heraus philosophierend, zu Ergebnissen kommt, die den Horizont der husserlschen Fragestellung sprengen, gerade indem er unausgesprochene Probleme artikuliert und - seiner Auffassung nach - konsequent zuende denkt. Die VI. Meditation »dreht sich« urn die eigene Achse gewissermaBen aus dem abgesteckten Bereich heraus. Dies tut sie allerdings nicht aus eigener Kraft. Fink war in den friihen 30erJahren wichtigen philosophischen Einfliissen neben Husserl ausgesetzt: Er kannte Sein und Zeit und besuchte Heideggers Vorlesungen. 33 1m Wintersemester 1931/32 horte er des sen Vorlesung iiber Hegels Phiinomenologie des Geistes; sowohl heideggersche wie auch schellingsche und hegelsche Tone sind in der VI. Meditation uniiberhorbar. Finks spatere ausftihrliche Auseinandersetzung mit dem Deutschen Idealismus deutet sich hier bereits an. Dass also (Husserl-)fremde Tone hinzukommen, muss bei der Interpretation in Rechnung gestellt werden; aber auch hier ist genau darauf zu achten, inwiefern Fink eigenstandig heideggersche und hegelsche Motive in kritischer Weise aufnimmt, so kritisch, dass sie sogar an manchen Stellen als Heidegger-, bzw. Hegelkritik aus der husserlschen Perspektive gelesen werden konnen. Also schon dass Fink anderen Einfliisse ausgesetzt war als der ab 1933 weitgehend isoliert arbeitende Husserl, ist zu beriicksichtigen. Was ftir ein Gemisch ergibt sich aus diesen Einfliissen in dem durchaus mit dem Zeitgeist » up to date« seienden Fink, der gleichzeitig einen unvergleichlichen Einblick in die Forschungsmanuskripte Husserls hatte? 1st Fink nun »papstlicher als der Papst« oder Haretiker, gar »Feind«?34 Die paradox anmutende Antwort lautet: Er ist beides zugleich. Fink kommt eindeutig aus dem husserlschen Fragehorizont als zunachst orthodoxer Husserlianer. Gleichzeitig aber beschaftigten ihn Probleme, die Husserl zwar antizipierte, aber nicht selbst bearbeitete, und die gerade dadurch den ursprunglichen Horizont aujbrechen. In diesem Sinne ist Fink in der Tat »the other Husserl«, gerade indem er mehr Husserl als Husserl selbst ist - und dadurch die groBtmogliche Distanz zu ihm einnimmt. Ferner brachte Fink die Beschaftigung mit den in den spekulativen Systemen der Idealisten verhandelten Problemen auf Ideen, die Husserl so nicht hatte und aus seiner - wie man durchaus sagen kann: festgefahrenen - Perspektive auch nicht haben konnte. In der Interpretation solI also genau herausgearbeitet werden, inwiefern Fink genuin husserlsche Probleme aufnimmt, entwickelt und zuende denkt und wo er iiber ihn hinausgeht. Dass dieses Hinausgehen die Konsequenz aus dem »Zuendedenken« der urspriinglichen Fragen sein konnte, steht dazu nicht in Widerspruch. Es wird sich zeigen, dass Fink ausgerechnet in der letzten Zielstellung der Phanomenologie, am letzten Punkt in der Systematik, von Husserl nicht nur abweicht, sondern die kontriire Position zu ihm einnimmt: in der Verhaltnisbestimmung von phanomenologischer und natiirlicher Einstellung. Fink ist also mehr als nur ein 33 34
Fink horte bei Heidegger ab dem Zeitpunkt von dessen Riickkehr aus Marburg imJahre 1928. Dies ein Ausspruch Husserls selbst, vgl. van Kerckhoven 1996, 93.
154
KAPITEL
3
Kopist von Husserl, wie Punkt a) annimmt - er ist mehr Husserl als Husserl. Noch ist er gemaB b) ein kritischer Husserlianer, der im Rahmen von Husserl verbleibtdafur ist er zu kritisch. Er ist der orthodoxeste Husserlianer in dem Sinne, dass er, aus der husserlschen Phanomenologie kommend, sie selbst ad absurdum fuhrt, ihre immanente »Aporie« (VI. eM, 184) aufWeist. Die folgenden Analysen mussen diese Andeutungen freilich erst einlosen. Auch die Frage, ob Fink damit im Recht war oder ob sich nicht doch in letzter Instanz Husserl gegen diese Kritik behauptet, wird diskutiert werden. Es solI also zunachst die Architektonik des phanomenologischen Systems von der Perspektive der transzendentalen Methodenlehre untersucht werden, die noch weitgehend Husserl-konform bleibt. Spatestens aber in der Problematik der Verweltlichung des Phanomenologisierens wird Fink zunehmend kritisch und bildet einen eigenstandigen Gedankengang heraus; dies muss gegen Husserl abgegrenzt werden. Es kann sogar gezeigt werden, dass Husser! Alternativkonzepte gegen die finkschen Abweichungen entwickelt. Der Scheideweg zwischen beiden eroffnet sich mit aller Deutlichkeit im Problem der Verweltlichung des Phanomenologisierens. Bei a11er kritischen Einschatzung der Bedeutung und der Uberzeugungskraft der finks chen Ideen muss betont werden, dass es in der Tat die finksche fruchtbare Provokation war, die Husser! zu den pointiertesten, klarsten und schlagkraftigsten Formulierungen trieb, die er wohl je in Bezug auf den Status und die Bedeutung der Phanomenologie machte. Viele Nachlasspassagen lesen sich, als waren sie direkt aus Diskussionen mit Fink entstanden als eine abwagende und wohluber!egte Replik auf kritische Einwande. Die wichtigsten Pas sagen dieser Manuskripte sol1en daher auch zitiert werden.
3.2. Die Zusammengehorigkeit von Systematik und Methodologie
und Husserls unausgesprochene Position hierzu An dieser Stelle ergibt sich eine methodische Schwierigkeit: Wenn Fink gewisse Probleme und Frageste11ungen entwickelt haben solI, zu denen Husserl nur wenige Andeutungen gemacht hat, wie solI man dann Husserl mit Fink kontrastieren konnen? HieBe das nicht, Schattengefechte auszufechten? Es besteht der merkwurdige Befund, dass Husser! sich zum Problem cler Systematik, cl. i. zum Systemcharakter des Systems im Rahmen der Methodenlehre, nur selten auBert. Aber gerade in Bezug auf eine phiinomenologische Systematik ste11t sich die Frage, wie ein solches System auszusehen hat und auszufuhren sei. Es ste11t sich die sachliche Frage: Wenn es Phanomenologie einerseits mit Untersuchungen der »Sachen selbst« zu tun hat, wenn cler Sinn cler Epoche - unter anclerem - darin besteht, aIle und v. a. aIle metaphysischen Vorurteile auszuschalten, und wenn andererseits ein System per se metaphysischen Beiklang hat, also etwas ist, wovon die Epoche gerade befreien solI, wenn schon cler BegriffSystementwuif impliziert, class da etwas noch ohne konkrete
ZUR ARCHITEKTONIK DES PHANOMENOLOGISCHEN SYSTEMS
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analytische Ausweisung, die offenbar dem Entwurf»nachhinkt«, entworfen werden soIl: ware dann nicht zu schlieBen, dass jeglicher Systemgedanke der Phanomenologie prinzipiell fremd sein miisste? 1st nicht das Inbeziehungsetzen von Phanomenologie und Systematik etwas der Phanomenologie AuBerliches, ein ltQiDtov 1jJl,u60~? Wenn dem so ware, dann muss sich aus Husserls hartnackiger Forderung nach einem phanomenologischen System35 ableiten lassen, dass der Systemcharakter eines Systems der Phanomenologie eine eigene Qualitat haben miisste. Sucht man auf diese Fragen Antwort, wird man bei Husserl selbst enttauscht. Selten finden sich Reflexion auf die Systematizitat dieses Systems. Trotz der standigen Betonung der Bedeutung des Systems und der Notwendigkeit, die Phanomenologie in einem (mehrbandigen) »groBen systematischen Werk« darzustellen, finden sich nur wenige explizite Reflexionen auf den spezifisch phanomenologischen Systemcharakter. Dies kann phanomenologisch so begriindet werden, class jegliche methodische Oberlegung zu diesem Systemcharakter eben nicht konkret ausweisbare Analyse ist, ja nicht sein kann; denn ein Entwurf zur Systematik enthalt eo ipso spekulative Elemente, die das Gegenstiick zu phanomenologischen Detailanalysen sind. Spekulation vertragt sich nicht mit Untersuchung der »Sachen selbst«. Zieht man Husserls durchweg pejorative Einschatzung der Systeme des Deutschen Idealismus hinzu, lasst sich daraus eine prinzipiell negative Haltung Husserls gegeniiber einem spekulativ »aufgebauten« System ableiten. Husserl scheute sich vor derartigen Oberlegungen, trotz seines ausdriicklichen »Systemwillens«, und hierin lag auch nicht sein eigentliches philosophisches Talent. Dabei geht sein Widerwillen nicht gegen ein System per se, sondern gegen eine spekulative, »von oben« kommende Darstellung desselben (wie dies ihm zufolge bei den Neukantianern zu beobachten ist),36 die sich nicht »von unten« aufbauend den Sachen selbst anmisst. Seinem eigenen Anspruch aber nach geht es Husserl darum, die wahren philosophischen Intentionen der idealistischen Systemphilosophie - wie aller Philosophie iiberhaupt - unter erneuerten methodischen Voraussetzungen wahr zu machen. 37
35 Der Wunsch nach einem phanomenologischen System taucht schon friih bei Hussed auf, zunachst 1906 (vgl. XXIV, S. 445-7), dann aber verstarkt in den 20er Jahren (vgl. XIV, Einleitung des Hrsg. Kern, XVII ff.), urn dann spater immer mehr Dringlichkeit anzunehmen. In den Gesprachen mit Cairns sagt Hussed einmal, dass er es in seiner Phanomenologie letztlich auf ein System und cine Metaphysik abgesehen habe. Vgl. Cairns, 5I f. (Konversation vom 25. II. 193 I). 36 Vgl. Husseds Brief an Ingarden (BW 3, 289, vom 16.10.1932), sein Idealismus sei »kein >Idealism< des ilist{orischen) Sinnes [... ], auch kein >Transzen{dent)alism< (M{ar)b{urg)) [ ... J.« 37 Vgl. Husserls Briefan den miinchner Phanomenologen M. Beck (BW 2,12, vom I.I1.1931), worin er sich beklagt, dass jener den »Sinn der transzendental-idealistischen Philosophie« »ganz und gar nicht« verstanden habe. Er sehe nicht, »daB dieser Transzen{den)talismus u. Idealism{us) durch Abgriinde des Sinnes von allem historischen getrennt ist, bzw. daB die tr{anszendentale) Reduction einen total neuen philosophierenden Sinn schafft, der die konstit{utive) Phan(omenologie) von allen Philosophien der Vergangenheit schroff abscheidet.« V gl. auch Husserls Brief an Marcuse vom 14. I. 1932 (BW 4,401), ihm flir sein Hegel-Buch dankend: allein die Phanomenologie erreiche den »Boden des Absoluten« (ebd.). »Sie wiirden von der constit(utitven) Phanomenologie her [... J
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Die Tatsache jedoch, dass Husserl keine ausdriickliche Methodenreflexion zum Systemcharakter der Phanomenologie anstellt, heiBt nicht, dass er nicht implizit doch Stellung dazu bezieht. Wie zu zeigen ist, tut er dies sogar emphatisch, wo es darum geht, den »Gesamtsinn« der Phanomenologie zu bestimmen und wo der Anspruch des »Systems« der Phanomenologie zur Debatte steht. Dies geschieht vornehrnlich durch die Lekttire der VI. Meditation, die ihn zu eigenen AuBerungen drangt, die, wie Fink betont »das Prinzipiellste enthalten, was Husserl tiber die Methodik und Systematik der Phanomenologie geauBert hat« (VI. eM, XII). Dass Husserl zu diesen AuBerungen durch die Anregung Finks kommt, ist aber irrelevant hinsichtlich der Frage nach einer vermeintlich fehlenden Systembestimmung Husserls. Seine verstreuten AuBerungen lassen sich als eine Position rekonstruieren. Man kann hieraus dennoch hinsichtlich Husserls impliziter Auffassung eines Systems schlieBen: Die Systematik ergibt sich - gewissermaBen »von selbst« -, sobald die thematische Forschung »von unten« aufbauend, die »Hohen« erreicht und damit abgeschlossen ist. 38 Das System ist die Summe der Einzelanalysen, metaphorisch gesprochen das auf gesicherten Fundamenten stehende vollendete Haus, worin jedes erforschte »Ergebnis« seine Stelle hat; dies legt auch schon die Metapher von den »Schichten« der Konstitution nahe. Jegliche Meta-Reflexion auf die Systematizitat des Systems ist damit von vornherein, eben als »von oben« kommend, als unmoglich erklart. - Es ist hingegen eine Grundeinsicht Finks, dass dieses Verfahren methodologisch naiv ist; denn zunachst ist zu sagen, dass Husserl selbst begriff, dass dieses transzendental-phanomenologische Projekt zu vollenden ihm selbst oder einer bestimmten Person in einem Menschenleben nicht moglich sein wiirde. Ihm selbst kam dabei nur die Aufgabe zu, den Grundstein eines ein fUr alle Mal gesicherten Systems des Wissens zu legen. Allein der Versuch, ein solches iibermenschliches Werk zu vollenden, ware von vornherein aporetisch. Husserl hatte sich im Wissen urn diese Unmoglichkeit mit Einzelanalysen begniigen mussen, was er nicht tat, im Gegenteil: Die Unfahigkeit, ein System zu gestalten und auszufuhren, war ihm auf schmerzvolle Weise bewusst. Notwendig fUr den Entwurf eines Systems ist also eine Rtiflexion auf dessen Systemcharakter.39 Die damit implizierte »metaphysischen Spekulation« war fUr Husserl
sofort bemerken, dass Hegel u(nter) d(em) T(itel) das )Absolute< wohl auf dasselbe hinmeint, was die constit(utive) Phan(omenologie) zu directer Aufweisung u. methodischer Analyse bringt. Doch ich kenne Hegel nicht hinreichcnd, um bei Hcgelintcrpretationcn ernstlich mitrcden zu konnen.« 38 Vgl. hierzu den SystementwurfHusserls in Hua. xv, XXXVI. 39 Dass diese Methodenreflexion ftir Fink nicht ganz zu Anfang, sondern gewissermaBen in der »Mitte«, nach einigen schon geleisteten thematischen Forschungen, stehen muss, spiegelt sich in der Position der VI. Meditation, d. i. nach dem in den vorausgehenden ftinf Meditationen geleisteten schematischen Uberblick. Diese ftinfMeditationen prasentieren lediglich »die Idee der konstitutiven Aufklarung« (VI. eM, 3) und gehen »nicht tiber eine ganz voridujis; und ai(~el1lein gehaltene Charakteristik hinaus« (ebd.).
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aus genannten Grunden unmoglich, auch wenn sie sich ihm »unter der Hand« in seinen Analysen wieder aufdrangte. Man kann sich ihnen aber nicht gut entziehen, wenn man sich urn so etwas wie ein System bemuht. Die husserlsche Phanomenologie ftir diese Probleme empfanglich zu machen, ist u. a. Finks Verdienst. 40 Seine grundlegende Einsicht ist, dass es die Phanomenologie nicht unterlassen kann, Reflexionen zu ihrem System charakter anzusteilen, die nolens volens spekulative Elemente enthalten. Riflexionen auf den Charakter eines Systems und ein Entwuif eines Systems selbst sind jedoch zu unterscheiden: Wahrend die Frage nach dem Systemcharakter das System als gegeben voraussetzt und ,>letzte« Fragen nach Sinn und Zweck des ganzen Unternehmens steHt, ist die Aufgabe des SystementwuifS, einen Vorausblick auf die Gesamtform oder Gestalt der Einzelanalysen in ihrer Totalitat und ihrem Zusammenhang, womoglich nach einem leitenden Prinzip, zu geben. Zur Frage des Entwurfs: Lehrt ein auch nur yager Uberblick uber das "gelobte Land« (v, 161) der Phanomenologie, dass (mit Heraklit zu reden) aile Pfade zu durchschreiten unmoglich ist, ist ein antizipierender Uberblick iiber diese Region, will man eine "Idee« von dessen Totalitat erreichen, unumganglich. Ein solcher entwerfender Ober-Blick aber ist nichts anderes als, wortlich verstanden, Spekulation. Fink ist iiberzeugt, dass phanomenologische Analyse nicht ohne Spekulation auskommt, ja dass sich beide erganzen. 41 Die Weise, die Systematik zu gestalten, liegt also in einer wechselseitigen Tatigkeit von Analyse einerseits, die ein neuerschlossenes Gebiet konkret bearbeitet, und Spekulation andererseits, die das Gebiet in seiner Ganzheit antizipierend durchIauft und ruckblickend das Erforschte in dieses Gebiet systematisierend einordnet. So ist das System der Phanomenologie prinzipieH offen, da es fUr immer neue Erweiterungen empfanglich sein muss. In dieser Hinsicht Zu Finks Verstandnis der husserlschen Phanomenologie vgl. das zutreffende Urtei! von Husserls friiherer Assistentin Edith Stein: »Bei der Interpretation der Phanomenologie durch Dr. Fink ist zu bedenken, dass er Husserls Einwirkung erst in den letzten Jahren erfahren hat, nachdem das Idealis~ musproblem zentral geworden war; dass er selbst auch durch Heideggers Schule hindurchgegangen ist, ausserdem durch Fichtesche und Hegelsche Ideen bestimmt. die Husserls urspriinglichen Inten~ tionen fernlagen.« Dieses Zitat findet sich im Tagungsband La Phenomenologie,Juvisy, I2 septembre I932, hg. von der Societe Thomiste, Journees d'Etudes de la Societe Thomiste !OJ (in Husserls Bibliothek). 4I Fink notiert sich in privaten Notizen aus dem Jahre I930: ),Das Eigentiimliche der Arbeitsweise E. Husserls ist, dass aile systematischen Entwiirfe keiner konkreter Forschung vorausgehende Kon~ struktionen sind, sondern [sie] wachsert in den Analysen. Aber die Ermoglichung der erftillenden Analysen sprengt wieder den systematischen Entwurf, der somit den Charakter der Beweglichkeit hat. Dies ist ein fundamentaler Grundcharakter der Phanomenologie: trotz aller Strenge das offene System.« (zitiert bei Bruzina I996, 46f.) Dieses offene System ist aber nicht erweiterbar ohne »systematische Vorblicke«. In einer anderen Notiz heiBt es: »Das Verhaltnis von Einzelanalyse und System: [... ] bei Husserl: sein System aus den Einzelanalysen herallsgewachsen. Die paradoxe Situa~ tion, dass die Konkretion der phanomenologischen Philo sophie in den Manuskripten liegt, die aber erst die allgemeinen systematischen Entwiirfe ermoglichen. Andererseits konnen erst im Lichte dieser Entwiirfe die allgemeineren Relevanzen dieser Analysen eingesehen werden.« (ebd., 47) 40
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tragt Fink dem phanomenologischen Prinzip aller Prinzipien, sich von nichts in der Analyse der Sac hen selbst abhalten zu lassen darf, durchaus Rechnung. Ein phanomenologisches System muss eine »flexible Architektonik« haben. Dennoch aber bleibt es ein philosophisches System in dem Sinne, class es sich zur Aufgabe setzt, die Totalitat des »Seins« deskriptiv-sprachlich abzubilden oder unter Begriffe zu subsumieren. Das methodische Vorgehen der sich ablosenden Tatigkeiten von Analyse und Spekulation ist vergleichbar mit dem hermeneutischen Zirkel: Jedes Wissen setzt ein Vorwissen voraus und ist auch von einem Vorblick geleitet. 42 In heideggerscher Diktion formuliert Fink: »Setzt nicht jedes Suchen nach ... bereits schon ein Wissen urn das Gesuchte voraus?« (v!. eM, 41), und Husser! sekundiert, indem er »Wissen« durch » Vorwissen« ersetzt (ebd., Anm. 104). Husser! anerkennt also diese Erganzung Finks, der hier subtil eine hermeneutische Position in die Reflexion zur Systematik einarbeitet. 43 Einzelanalyse und Systemspekulation wechseln einander ab, indem die Einzelanalyse, in ihrem Forschen von einem unbewussten Vorwissen geleitet, ein gewisses Gebiet erschlieBt, welches von einer nachtraglichen Systemreflexion expliziert wird, welche ihrerseits spekulativ einen Systementwurf fur zukiinftige Forschung entwirft, der wieder vom dZleingeld« der Einzelanalyse eingelost wird. Der Systementwurf ist (mit einer beliebten Metapher Husser!s) eine »Abschlagszahlung« einer Rechnung, die durch Einzelanalyse in kleinen Miinzen beglichen werden muss. Man kann bereits hier eine Kritik Finks am Forschungscharakter der Phanomenologie sehen: Eine Reflexion auf die Phanomenologie, ausgeftihrt als eine »Phanomenologie der Phanomenologie«, kann nicht selbst wieder phiinomenologisch - oder nicht nur phanomenologisch - veifahren. Eine hoherstufige Reflexion auf die Phanomenologie ist nur zu einem Tei! phanomenologisch, zum anderen spekulativ, sie vereint demnach urspriinglich entgegengesetzte Disziplinen auf einer hoheren Ebene. Analyse und Spekulation sind die beiden Elemente einer selbstkritischen Phanomenologie. Die bisherige Phanomenologie ware so in einer ersten Stufe steckengeblieben, die eine zu iiberwindende »Naivitat hoherer Stufe«44 ist. Die Einsicht findet sich bereits bei Husser!, aber erst Fink zieht hieraus wirklich die
42 V gl. sz, §]2: Verstehen und Auslegung. Auf S. 42 der VI. CM spricht Fink auch vom »Zirkel des Verstehens«. 43 Sowohl Husser! wie auch Fink formulieren jedoch eine Kritik an dieser Konzeption hinsichtlich der Applizierbarkeit auf die transzendentale Sphare. Beide bestehen darauf, dass der hermeneutische Zirkel nur in natiirlichcr Einstellung gelte und keinen Vorentwurf der transzendentalen Sphare leisten kann. Fink schreibt: »Der )Zirkel des Verstehens< ist aber lediglich die formale Grundstruktur des Verstehens iiberhaupt, solange man in der natiirlichen Einstellung verbleibt.« (VI. eM, 41 f.) Ahnlich Husser!: »Das beschriebene Verhaltnis von Frage und Fragesituation gilt aber nur in der natiirlichen Einstellung.« (ebd., Anm. 107) 44 Vgl. VI. CM, 5: »Wir stehenjetzt nach der Uberwindung der Weltnaivitdt in einer neuen, in einer
transzendentalen Naivitdt. «
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Konsequenz: Eine »kritische« Phanomenologie volIzieht sich in standigem Wechsel von Einzelanalyse und Spekulation. 1st das System als Ganzes eine im Unendlichen liegende Limesidee,45 so ist die Aufgabe, ein Veifahren zur Gestaltung dieses Systems als Wechseltatigkeit von Einzelanalyse und Spekulation zu entwickeln, ebenfalls eine solche Limesidee. Der zweite Teil der genannten Forderung betrifft den Systemcharakter des phanomenologischen Systems. Husserls unartikulierte Position scheint hierzu zu sein, dass das System im Wesentlichen die Summe aller Analysen ist, eine naive Abbi/dung der »Sachen «.46 Es ist »vollendet«, sobaid die konkrete Forschung abgeschlossen ist: eine im Unendlichen liegende Aufgabe. Das Ganze des phanomenologischen Systems ist aber mehr ais die Summe der Teile. Hier kann an das Ende des vorigen Kapitels angekniipft werden, demzufoige die phanomenologische Methode ohne eine Reflexion auf ihr Verfahren, ohne eine »Phanomenologie der phanomenologischen Reduktion«, noch naiv ist. Naivitat kann jeweils nur durch eine erneute, selbstkritische Reflexion aufgehoben werden. Eliminierung von Naivitat ist somit das Ziel von Wissenschaft iiberhaupt; dies kann jedoch von positiver Wissenschaft nicht geleistet werden. Daher weist die notwendige UnvolIkommenheit jeder »geraden« Wissenschaft eo ipso auf kritisch-reflexive Analyse, die sich selbstkritisch reflektiert. Urn es mit dem Begriffspaar thematisch-methodisch auszudriicken: Thematische Forschung, sofern sie thematisch bleibt, ist solange naiv, ais sie nicht in methodische Reflexion iibergegangen ist. Phanomenologie ist somit im emphatischen Sinn »Reflexionsphilosophie«,47 welche die thematische Forschung,
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Vgl. hierzu Mertens' Analyse der husserlschen Systematik unter dem Blickpunkt einer sich bewahrenden, im Unendlichenliegendenregulativen Idee (Mertens, 279-84). Den Gedanken der Bewahrung kann man genau auf dieses Verhaltnis von Einzelanalyse und Spekulation applizieren, ins ofern sich beide Elemente gegeneinander bewahren miissen in ihrem kritischen In-Beziehung-Setzen, was nichts anderes ist als ein Bewerten der Einzelanalyse im Hinblick auf das System und die Bewertung des Systems in Verhaltnis zu den Einzelanalysen. 46 Aus einem anderen, nicht ganz unverwandten Zusammenhang kann man eine Kritik Baudrillards an dieser Idee erwahnen: 1m Anschluss an eine Novelle von Borges, nach der der Versuch einer originalgetreuen Nachbildung der Topographie des Landes zu einer Landkarte ftihrt, die so groB ist, dass sie dasselbe iiberdeckt, verwendet Baudrillard diese Geschichte zur Explikation seiner These von der »Simulation« der Wirklichkeit, vgl. Baudrillard 1981, 9f. Die Narration von der Wirklichkeit wird so dominant, dass sie die »wahre« Wirklichkeit iiberdeckt und diese ersetzt. In husserlscher Sprache: Die vollige Explikation der Welt wiirde zu einer vollkommenen Idealisierung ftihren, in der die Lebenswelt nicht mehr zu erkennen ware. Eine vollstandige phanomenologische Aufklarung der Welt ware also nicht nur unmoglich, sondern auch gar nicht wiinschenswert. 47 Diesen Begriffhat Gadamer im Sinne Hegels auch aufHusserl angewendet, wobei dieser Begriffftir ihn eine kritische Grenze markiert, insofern sie idealisierend die Geschichtlichkeit der Erfahrung nicht einholen kann, da sie »ihre Geschichte in sich aufhebt und dadurch ausloscht« (Gadamer 1990, 353). Sein Urteil ist gewiss richtig, wenn es bei der Etikettierung »Refiexionsphilosophie« urn den allgemeinen Denkstil der Phanomenologie geht. Insofern aber die husserlsche Thematisierung der Lebenswelt als vergessenes Sinnesfundament genau diese Refiexivitat wiederum an das faktische Sinnesfundament riickbinden will, ist diese Bezeichnung unangemessen.
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gerade ihre eigene, reflektiert. Phanomenologische Reflexion ist aber eine Riickbeziehung auf sich selbst, die durch radikale Ichspaltung eine neue Forschungsebene etabliert. Diese wird selbst wiederum Gegenstand der thematischen Forschung, die selbst wieder methodisch hinterfragt werden muss. Die Iterabilitat der hoherstufigen Reflexion ist der Grund fur die anscheinend unausrottbare Naivitat, die sich auf jeder reflexiv etablierten thematischen Stufe erneut einstellt, insofern jede einmal erreichte Objektebene wiederum eine Metaebene impliziert. Die die phanomenologische »Elementarlehre« iiberschauende »Lehre« ist somit nicht eine Reflexion auf weitere Ausdehnungen des Systems auf der Objektebene, sondern auf sich selbst. Systematisch kommt die Phanomenologie nur durch eine Selbstkritik zum Abschluss, die aber keine leere hoherstufige Iteration ist, sondern laut Fink eine eigene thematische Untersuchung bedeutet. 48 Eine Bestimmung des Systemcharakters bedeutet nicht eine Vollendung des antizipierenden Systementwurfs - was auf Grund des Limescharakters des Systems unmoglich ist -, sondern die Systemreflexion vollendet sich in einer Autonfiexion des Philosophierenden, dessen Reflexion zugleich eine Reflexion auf den Systemcharakter ist. In diesem Sinne miindet eine Systemreflexion von selbst in eine Methodologie, oder die Methodologie vollendet das System, indem in ihr die Art des Systems bestimmt wird. Die Riickbeziehung der Phanomenologie auf sich selbst in der transzendentalen Methodenlehre ist die radikale Konsequenz aus der Systemforderung, insofern erstens das Verfahren des Systementwurfs in Einzelanalyse und Spekulation nichts iiber die Art des Systems sagen kann - diese Untersuchungsart ware thematisch orientiert - und, zweitens, da jegliche systematische Vollstandigkeit nie durch thematische, sondern nur methodische Analyse, d. h. nur durch selbstbezugliche Riflexion geleistet werden kann. 1st selbst die Reduktion lediglich die » Grundlegung der Moglichkeit zu Philosophieren« (VI. CM, 4), aber noch nicht selbst Methodenlehre, so fordert die Grundlegung der Philosophie die Frage nach der Moglichkeit des Philosophierens, und diese ist Reflexion auf das Tun desjenigen, der philosophiert. In diesem Sinn verlangt die Etablierung des phanomenologisierenden Zuschauers eine Riickbeziehung auf sich selbst, eine Reflexion »des« Zuschauers selbst. Eine Autoreflexion auf das eigene Tun ist per se eine Methodologie. Reflexion nicht auf das System selbst, sondern auf dessen Systematizitat ist identisch mit einer Methodenlehre. Eine Methodenlehre als Autoreflexion des phanomenologisierenden Zuschauers ist, in Finks Worten, eine »transzendentale Selbstverstandigung uber sich selbst« (VI. CM, 9). 48
Fink sagt hierzu: »Haben wir also in der >Methodenlehre< die Selbstvergegenstandlichung eines bereits schon reflektierenden reh, also eine Riiflexion )hiiherer Stufe