Alexander Petring Reformen in Wohlfahrtsstaaten
Alexander Petring
Reformen in Wohlfahrtsstaaten Akteure, Institution...
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Alexander Petring Reformen in Wohlfahrtsstaaten
Alexander Petring
Reformen in Wohlfahrtsstaaten Akteure, Institutionen, Konstellationen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. . 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2010 Lektorat: Frank Schindler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-17313-9
Danksagung
Die Tatsache, dass dieses Buch in dieser Form vorliegt, ist Menschen geschuldet, denen ich meinen ausdrücklichen Dank aussprechen möchte. Wolfgang Merkel gebührt der größte Dank. Er hat mir die Gelegenheit gegeben, schon während des Studiums in Heidelberg erste wissenschaftliche Gehversuche zu unternehmen, mir nach dem Studium eine Mitarbeiterstelle in einem DFG-Projekt angeboten und mich 2004 in seine Abteilung an das Wissenschaftszentrum Berlin geholt. Sein kritisches Denken und seine provokanten Fragen haben stets für ein anregendes und herausforderndes Umfeld gesorgt, das ich in dieser Form bislang nirgends antraf – und dies in einer nicht nur kollegialen, sondern freundschaftlichen Atmosphäre. Das Vertrauen, das er mir entgegenbrachte und die Freiheiten, die er mir ließ, waren einzigartig. Bernhard Weßels hatte nicht nur stets eine offene (und glücklicherweise direkt gegenüberliegende) Zimmertür, er hatte vor allem immer ein offenes Ohr für die Fragen und Probleme, mit denen ich mich an ihn wandte. Dafür bin ich ihm überaus dankbar. Seine Begeisterung, Phänomenen nachzuspüren, sein Streben nach Klarheit der eigenen Argumente und die feste Überzeugung, dass es nichts gibt, dem man nicht auf den Grund gehen kann, sind mir ein Vorbild. Für jene Passagen des Buches, in denen die Wortwahl passend und die Interpunktion ohne Fehler sind, hat der Leser vor allem meinem teuren Freund Marcus Krämer zu danken. Sascha Kneip und Christian Henkes, zwei Freunde und Kollegen, haben dieses Buch kritisch gelesen und waren auch in anderer Hinsicht eine wichtige Unterstützung. Ebenso danken möchte ich Kai Mühleck für seine wertvollen Hinweise. Direkt und indirekt haben Lutz Engelhardt, Heiko Giebler, Gudrun Mouna, Philipp Rehm und Martin Höpner das Entstehen oder die Vollendung des Buches befördert. Katarina Pollner hat die Verwandlung des Textes in ein Verlagsmanuskript erledigt und dabei Schusterjungen und Hurenkindern wie immer gründlich den Garaus gemacht. Dank gebührt Cäcilie Schildberg für vieles, das hier unerwähnt bleiben muss. Manches davon mag sie erahnen. Meine Eltern wissen womöglich noch weniger, welch großen Anteil sie hatten. Ihnen ist dieses Buch gewidmet. Fritz Scharpf, dessen analytische Schärfe ich in meinem Jahr am Kölner Max-PlanckInstitut für Gesellschaftsforschung in den Sitzungen der Forschungsgruppe zur Europäischen Liberalisierungspolitik erleben konnte (der Einfluss seiner Schriften wird auf den folgenden Seiten deutlich), hat am Ende des Vorworts seines Buches über die sozialdemokratische Krisenpolitik in Europa die Befürchtung geäußert, dass bei so zahlreicher Hilfe der Leser wahrscheinlich nicht mehr nachvollziehen könne, warum die Verantwortung für die folgenden Seiten dennoch allein beim Autor liegen solle. Seinem Diktum ist nichts hinzuzufügen: Es ist aber so.
Inhalt
Abbildungsverzeichnis ........................................................................................................ 9 Tabellenverzeichnis .............................................................................................................12 Teil I: Theorie 1
Einleitung ....................................................................................................................17 1.1 1.2
2
Reformfähigkeit als analytisches Konzept ...............................................................24 2.1 2.2 2.3
2.4
2.5
2.6
3
Reform: Begriffsgeschichte und Definitionen....................................................19 Die politikwissenschaftliche Definition von Reform .........................................21 Grundlagen.........................................................................................................24 Ursachen von Reformen.....................................................................................28 Reformmaßnahmen und Reformergebnisse .......................................................32 2.3.1 Reformmaßnahmen................................................................................32 2.3.2 Die Reichweite von Programmreformen ...............................................34 2.3.3 Die Prozessdimension von Reformen ....................................................36 2.3.4 Ergebnisse von Reformen ......................................................................38 2.3.5 Zusammenfassung .................................................................................39 Reformen und politische Institutionen ...............................................................41 2.4.1 Präsidentielle und parlamentarische Systeme ........................................42 2.4.2 Mehrheits- und Konsensdemokratien ....................................................44 2.4.3 Vetopunkte und Vetospieler ..................................................................48 2.4.4 Institutionen und ihr Einfluss auf Reformen..........................................52 2.4.5 Zusammenfassung .................................................................................66 Reformen, Parteien und Koalitionen ..................................................................67 2.5.1 Politische Konjunkturzyklen..................................................................68 2.5.2 Parteiendifferenz....................................................................................69 2.5.3 Politische Koalitionstheorie ...................................................................73 2.5.4 Zusammenfassung .................................................................................76 Reformen und Interessengruppen.......................................................................78 2.6.1 Die Theorie kollektiven Handelns .........................................................78 2.6.2 Korporatismustheorie.............................................................................81 2.6.3 Wohlfahrtsverbände und ihr Einfluss auf Reformen .............................83 2.6.4 Zusammenfassung .................................................................................84
Modell(e) der Reformfähigkeit..................................................................................86 3.1 3.2
Die Unmöglichkeit von Reformen .....................................................................87 Die Möglichkeit von Reformen..........................................................................89
8
Inhalt Teil II: Empirie
4
Einleitung ...................................................................................................................93 4.1 4.2 4.3
5
Reformen im internationalen Vergleich ................................................................100 5.1 5.2
5.3
6
6.2 6.3 6.4
6.5 6.6
Exkurs: Methodische Anmerkungen zur empirischen Untersuchung der Reformtätigkeit .........................................................................................143 Der Einfluss des Problemdrucks .....................................................................150 6.2.1 Problemdruck und Rentenreformen ....................................................151 6.2.2 Problemdruck und Reformen der Arbeitslosenversicherung ..............153 Der Einfluss politischer Institutionen ..............................................................154 6.3.1 Politische Institutionen und Rentenreformen ......................................161 Der Einfluss von Parteien und Koalitionen .....................................................165 6.4.1 Politischer Konjunkturzyklus ..............................................................165 6.4.2 Koalitionstheorien ...............................................................................172 6.4.3 Parteien, Koalitionen und Rentenreformen .........................................175 6.4.4 Parteien, Koalitionen und Reformen der Arbeitslosenversicherung ...184 Der Einfluss von Interessengruppen ................................................................190 6.5.1 Interessengruppen und Rentenreformen .............................................193 6.5.2 Interessengruppen und Reformen der Arbeitslosenversicherung ........196 Reformtätigkeit in Wohlfahrtsstaaten: Konturen einer institutionalistischen Handlungstheorie ............................................................................................200 6.6.1 Problemdruck im akteursspezifischen Institutionalismus ...................200 6.6.2 Parteien und Regierungen im akteursspezifischen Institutionalismus 204 6.6.3 Interessengruppen im akteurszentrierten Institutionalismus ...............212 6.6.4 Reformtypen und -prozesse im akteurszentrierten Institutionalismus 214
Schluss ......................................................................................................................220 7.1 7.2
8
Legislative Aktivität im Vergleich ..................................................................100 Rentenreformen im Vergleich .........................................................................104 5.2.1 Strukturmerkmale und Strukturreformen der Rentensysteme .............106 5.2.2 Programmmerkmale und Programmreformen der Rentensysteme .....115 5.2.3 Reformmuster der Rentenversicherung ..............................................119 Reformen der Arbeitslosenversicherung im Vergleich ...................................127 5.3.1 Strukturmerkmale und -reformen der Arbeitslosenversicherung ........127 5.3.2 Programmmerkmale und -reformen der Arbeitslosenversicherung ....131 5.3.3 Reformmuster der Arbeitslosenversicherung ......................................136
Erklärungsfaktoren von Programmreformen ......................................................143 6.1
7
Fallauswahl .......................................................................................................93 Bereichsauswahl ................................................................................................94 Datenquellen .....................................................................................................97
Muster und Mechanismen der Reformtätigkeit ...............................................220 Theoretische Implikationen für die Untersuchung der Reformtätigkeit ..........224
Literatur ...................................................................................................................229
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12: Abbildung 13: Abbildung 14: Abbildung 15: Abbildung 16: Abbildung 17: Abbildung 18: Abbildung 19: Abbildung 20: Abbildung 21: Abbildung 22: Abbildung 23: Abbildung 24: Abbildung 25: Abbildung 26: Abbildung 27: Abbildung 28: Abbildung 29: Abbildung 30: Abbildung 31: Abbildung 32: Abbildung 33: Abbildung 34: Abbildung 35:
Basismodell des akteurszentrierten Institutionalismus .............................25 Modifiziertes Modell des akteurszentrierten Institutionalismus – akteursspezifischer Institutionalismus ......................................................27 Schwellenwertphänomene nach Problemintensität ..................................30 Schwellenwertphänomene nach Zeitdauer ...............................................31 Zwei Dimensionen der Reichweite von Programmreformen ...................35 Ausmaß von Programmreformen .............................................................35 Eigenschaften von Reformprozessen .......................................................37 Maßnahmen und Ergebnisse von Reformen .............................................40 Auswirkungen politischer und organisatorischer Akteurskonstellationen auf die Reformtätigkeit .......................................85 Reformabträgliche Institutionen und Konstellationen ..............................88 Reformzuträgliche Institutionen und Konstellationen ..............................90 Sozialpolitische Gesetzgebungsaktivität in 18 OECD-Ländern .............101 Sozialpolitische Gesetzgebungsaktivität im Zeitverlauf ...........................102 Länderprofile der legislativen Aktivität in der Sozialpolitik ..................103 Zeitpunkte der ersten nationalen Rentengesetzgebung ...........................106 Strukturen der ersten Säule der Rentensysteme im Vergleich ................107 Strukturen der zweiten Säule der Rentensysteme im Vergleich .............109 Lohnersatzquoten der gesetzlichen Standardrente, 1980 und 2002 ........115 Rentenanwartschaftszeiten 1980 und 2002 ............................................117 Häufigkeit von Programmreformen in der Rentenversicherung .............121 Summe der Kürzungs- und Ausbaumaßnahmen in der Rentenpolitik ....122 Programmreformen der Alterssicherung im Zeitverlauf .......................123 Legislative Tätigkeit und Programmreformen in der Rentenpolitik........124 Zeitpunkte der ersten Gesetzgebung zur Arbeitslosenversicherung........127 Lohnersatzquoten der Arbeitslosenversicherungen, 1980 und 2002 .......132 Betrag und Saldo der Veränderungen in der Arbeitslosenversicherung .133 Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes.......................................................134 Notwendige Beitragszeiten zur Arbeitslosenversicherung......................135 Wartetage zum Arbeitslosengeld, 1980 und 2002 ..................................136 Anzahl der Programmreformen der Arbeitslosenversicherung ...............137 Anzahl der Programmreformen der Arbeitslosenversicherung pro Jahr 138 Programmreformen und legislative Aktivität in der Arbeitslosenversicherung ........................................................................139 Summe der eindeutigen Kürzungs- und Ausbaumaßnahmen in der Arbeitslosenversicherung, 1980-2002 ....................................................140 Sozialausgaben und Anteil sozialdemokratischer Kabinettssitze in 18 OECD-Ländern .............................................................................144 Beispiel für eine lineare und logistische Regression bei einer dichotomen abhängigen Variablen ..........................................146
10 Abbildung 36: Abbildung 37: Abbildung 38: Abbildung 39: Abbildung 40: Abbildung 41: Abbildung 42: Abbildung 43: Abbildung 44: Abbildung 45: Abbildung 46: Abbildung 47: Abbildung 48: Abbildung 49: Abbildung 50: Abbildung 51:
Abbildung 52: Abbildung 53: Abbildung 54:
Abbildungsverzeichnis Beispiel für die Darstellung einer logistischen Regression mit zwei unabhängigen Variablen und einem Interaktionsterm ............................149 Agendasetzermacht der Regierungen in 13 OECD-Ländern ..................155 Anzahl der Inaugurations- und Wahljahre, 1980-2002 ..........................167 Regierungsbeteiligung nach Parteifamilien in 18 OECD-Ländern in Prozent der möglichen Regierungsjahre, 1980-2002 .........................168 Histogramm von Links-Rechts-Positionen der im Parlament vertretenen Parteien und Regierungsparteien..........................................171 Durchschnittliche jährliche Kabinettsanteile nach Parteifamilien...........173 Histogramm der durchschnittlichen jährlichen ideologischen Schwerpunkte der Regierungen in 18 OECD-Ländern, 1980-2002 .......174 Durchschnittliche jährliche ideologische Schwerpunkte der Regierungen, 1980-2002 ..................................................................175 Durchschnittliche jährliche ideologische Distanz der Koalitionsparteien, 1980-2002 .........................................................176 Wahrscheinlichkeiten von Rentenerhöhungen bei unterschiedlichen ideologischen Regierungspositionen in Vorwahljahren und Nicht-Vorwahljahren ..............................................................................178 Wahrscheinlichkeit von Rentenerhöhungen in Vorwahljahren bei unterschiedlichen ideologischen Regierungspositionen und zunehmendem Problemdruck .................................................................179 Wahrscheinlichkeit von Rentenkürzungen bei unterschiedlicher Anzahl von Koalitionspartnern und unterschiedlicher ideologischer Distanz ...................................................................................................181 Wahrscheinlichkeiten von Rentenkürzungen von Einparteien- und Koalitionsregierungen bei unterschiedlichen ideologischen Positionen 183 Wahrscheinlichkeit des Ausbaus der Arbeitslosenversicherung zwischen Nicht-Vorwahljahren und Vorwahljahren ...............................185 Wahrscheinlichkeit von Kürzungen der Arbeitslosenversicherung bei unterschiedlicher Anzahl von Koalitionsparteien und unterschiedlicher ideologischer Distanz .................................................186 Wahrscheinlichkeit von Kürzungen der Arbeitslosenversicherung bei unterschiedlicher Anzahl von Koalitionsparteien und unterschiedlicher ideologischer Distanz bei nachlassendem Problemdruck .........................................................................................187 Wahrscheinlichkeit von Kürzungen der Arbeitslosenversicherung von Einparteien- und Koalitionsregierungen bei unterschiedlicher ideologischer Position ............................................................................189 Häufigkeit von Rentenkürzungen in unterschiedlichen Regierungskonstellationen bei starken und schwachen Gewerkschaften ......................................................................................194 Veränderung der Wahrscheinlichkeit von Rentenkürzungen von rechten und linken Regierungen bei unterschiedlicher Gewerkschaftsstärke ..............................................................................195
Abbildungsverzeichnis Abbildung 55: Abbildung 56:
Abbildung 57:
Abbildung 58: Abbildung 59: Abbildung 60:
Abbildung 61: Abbildung 62: Abbildung 63: Abbildung 64:
Abbildung 65: Abbildung 66: Abbildung 67: Abbildung 68:
11
Häufigkeit von Rentenerhöhungen in unterschiedlichen Regierungskonstellationen bei starken und schwachen Gewerkschaften ......................................................................................195 Veränderung der Wahrscheinlichkeit von Rentenkürzungen von rechten und linken Regierungen bei unterschiedlicher Gewerkschaftsstärke und unterschiedlichem Zentralisierungsgrad der Arbeitgeber .......................................................................................196 Häufigkeit von expansiven Maßnahmen in der Arbeitslosenversicherung in unterschiedlichen Regierungskonstellationen bei starken und schwachen Gewerkschaften ......................................................................................197 Häufigkeit von Kürzungen in der Arbeitslosenversicherung in unterschiedlichen Regierungskonstellationen bei starken und schwachen Gewerkschaften ...................................................................198 Veränderung der Wahrscheinlichkeit von Kürzungen der Arbeitslosenversicherung durch rechte und linke Regierungen bei unterschiedlicher Gewerkschaftsstärke ............................................198 Veränderung der Wahrscheinlichkeit von Kürzungen der Arbeitslosenversicherung von rechten und linken Regierungen bei unterschiedlicher Gewerkschaftsstärke und unterschiedlichem Zentralisierungsgrad der Arbeitgeber ......................................................199 Veränderung der Wahrscheinlichkeit von Rentenerhöhungen bei unterschiedlicher Veränderung des Problemdrucks und unterschiedlicher Disproportionalität des Wahlsystems .........................202 Veränderung der Wahrscheinlichkeit des Ausbaus der Arbeitslosenversicherung bei unterschiedlicher Veränderung des Problemdrucks und unterschiedlichem Föderalismusgrad .....................203 Wahrscheinlichkeiten von Rentenerhöhungen in Vorwahljahren und Nicht-Vorwahljahren in unitarischen und föderalen Systemen .......206 Veränderung der Wahrscheinlichkeit des Ausbaus der Rentenversicherung in Vorwahljahren bei unterschiedlichen ideologischen Regierungspositionen und unterschiedlichem Föderalismusgrad ...................................................................................207 Der moderierende Effekt des Bikameralismus auf die Interaktion von ideologischer Regierungsposition und Einparteienregierungen ......209 Der moderierende Effekt des Föderalismus auf die ideologische Distanz bei vier Koalitionspartnern ........................................................212 Der moderierende Effekt des Föderalismus und Bikameralismus auf die ideologische Distanz bei zwei Koalitionspartnern .....................213 Der moderierende Effekt des Bikameralismus auf die Interaktion von Gewerkschaftsstärke und ideologischer Regierungsposition bei Kürzungen der Arbeitslosenversicherung ........................................215
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5: Tabelle 6: Tabelle 7: Tabelle 8: Tabelle 9: Tabelle 10: Tabelle 11: Tabelle 12: Tabelle 13: Tabelle 14: Tabelle 15: Tabelle 16: Tabelle 17: Tabelle 18: Tabelle 19: Tabelle 20: Tabelle 21: Tabelle 22: Tabelle 23: Tabelle 24: Tabelle 25: Tabelle 26: Tabelle 27: Tabelle 28: Tabelle 29: Tabelle 30: Tabelle 31: Tabelle 32: Tabelle 33: Tabelle 34:
Programm- und Strukturveränderungen im Wohlfahrtsstaat ........................34 Unterscheidungskriterien der Mehrheits- und Konsensdemokratie ..............45 Elemente institutioneller Indizes ..................................................................53 Paarweise Korrelationen institutioneller Indizes ..........................................54 Erwarteter Einfluss politischer Institutionen auf die sozialpolitische Reformtätigkeit .............................................................................................67 Kabinettstypen nach Lijphart ........................................................................74 Anteil der Ausgaben für Rente und Arbeitslosigkeit in Prozent des BIP, 1980 und 2002 ..............................................................................................95 Altenquotienten und Arbeitslosenraten der 18 OECD-Länder, 1980 und 2002 ..............................................................................................96 Legislative Aktivität in 18 OECD-Ländern nach Bereichen .......................105 Strukturreformen der Rentenversicherung ..................................................114 Renteneintrittsalter für Männer 2002 in 18 OECD-Ländern ......................118 Renteneintrittsalter für Frauen 2002 in 18 OECD-Ländern ........................118 Kriterien für Programmreformen der Rentenversicherung .........................120 Reformtypen ...............................................................................................124 Programmreformen der Rentenversicherung, 1980-2002 ...........................125 Prozessreformen in der Rentenversicherung, 1980-2002 ...........................126 Verwaltung der Arbeitslosenversicherungen in 18 OECD-Ländern............128 Strukturmerkmale der Leistungen der „ersten Säule“ der Arbeitslosenversicherungen ........................................................................129 Zweite Säule der Arbeitslosenversicherungen ............................................130 Gesetze zu Strukturreformen der Arbeitslosenversicherungen ...................131 Kriterien für Programmreformen der Arbeitslosenversicherung .................137 Programmreformen der Arbeitslosenversicherung, 1980-2002 ..................141 Prozessreformen in der Arbeitslosenversicherung, 1980-2002 ...................142 Misery-Indizes der OECD-18-Länder, Durchschnittswerte 1980-2002 .....151 Logistische Regressionen zu Rentenreformenund Problemdruck ..............152 Logistische Regressionen zu Rentenreformen und Problemdruck im Zeitverlauf ..................................................................................................152 Logistische Regressionen zu Reformen der Arbeitslosenversicherung und Problemdruck ..............................................................................................153 Disproportionalitätsindex der Parlamente in 18 OECD-Ländern ................157 Stärke des Bikameralismus in 18 OECD-Ländern .....................................158 Formaler Föderalismus und fiskalpolitische Zentralisierung, 1980-2002 ...160 Bestimmungen zu Vetobegehren und Volksinitiativen ...............................162 Logistische Regressionen zu Rentenreformen und Institutionen ................163 Logistische Regressionen zu Reformen der Arbeitslosenversicherung und Institutionen .................................................................................................165 Häufigkeit unterschiedlicher Koalitionsregierungen ...................................169
Tabellenverzeichnis Tabelle 35: Tabelle 36: Tabelle 37: Tabelle 38: Tabelle 39: Tabelle 40: Tabelle 41: Tabelle 42: Tabelle 43: Tabelle 44: Tabelle 45: Tabelle 46: Tabelle 47: Tabelle 48: Tabelle 49: Tabelle 50: Tabelle 51: Tabelle 52:
13
Bivariate Zusammenhänge von Rentenerhöhungen und Wahljahren .........177 Bivariate Zusammenhänge von Rentenreformen und Einparteienregierungen ...............................................................................182 Bivariate Zusammenhänge von Reformen der Arbeitslosenversicherung und der ideologischen Position der Regierungen (gewichtet) .....................184 Bivariate Zusammenhänge von Reformen der Arbeitslosenversicherung und Einparteienregierungen ........................................................................188 Gewerkschaftsindikatoren ..........................................................................191 Ausgaben der Wohlfahrtsverbände und staatlicher Finanzierungsanteil ....192 Statistische Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Rentenreformen und Interessengruppenindikatoren ..............................................................193 Statistische Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Reformen der Arbeitslosenversicherung und Interessengruppenindikatoren ....................197 Marginale Effekte von Veränderungen des Problemdrucks und Institutionen auf Programmreformen ..........................................................201 Moderierung von Reformen in Vorwahljahren durch Institutionen ............205 Institutionelle Moderierung des Ideologieeffektes in Einparteienund Koalitionsregierungen auf Abbaumaßnahmen der Renten- und Arbeitslosenversicherung ...........................................................................208 Institutionelle Moderierung des Effektes ideologischer Distanz in Zwei- und Vierparteienregierungen auf Kürzungen der Renten- und Arbeitslosenversicherung ...........................................................................211 Institutionelle Moderierung des Effektes ideologischer Distanz in Zwei- und Vierparteienregierungen auf Kürzungen der Renten- und Arbeitslosenversicherung ...........................................................................214 Unterschiedliche institutionelle Rahmenbedingungen und Typen des Reformausmaßes ........................................................................................216 Varianzanalyse zu institutionellen Merkmalen und der Integrationsdimension von Reformen .........................................................217 Unterschiedliche institutionelle Rahmenbedingungen und Typen des Reformprozesses .........................................................................................218 Unterschiedliche Verbandsmerkmale und Typen des Reformausmaßes .....218 Varianzanalyse zu Verbandsmerkmalen und der Integrationsdimension von Reformen .............................................................................................219
Teil I: Theorie
1 Einleitung Einleitung
Eine Rentenreform, eine Gesundheitsreform, eine Föderalismusreform, sogar eine Rechtschreibreform finden sich neben zahlreichen anderen in der politischen Agenda Deutschlands der vergangenen Jahre. Zahlreiche Studien haben diese Reformen in Deutschland und ihre ausländischen Pendants zum Gegenstand. In dieser Arbeit wird ein vergleichender Blick auf Reformen der Renten- und Arbeitslosenversicherungen in 18 OECD-Ländern von 1980 bis 2002 geworfen. Es geht dabei weniger darum, die Inhalte einzelner Reformen detailliert zu beschreiben oder deren Auswirkungen zu untersuchen und zu bewerten. Der Fokus liegt vielmehr auf der Identifikation von generellen Mustern und Prozessen. Staatliches Handeln in der Sozialpolitik zu beschreiben und zu erklären ist das Ziel der vorliegenden Untersuchung. Es geht um die Staatstätigkeit demokratischer politischer Systeme. Die Staatstätigkeitsforschung beschreibt und erklärt die Bestimmungsfaktoren und Wirkungen der Regierungspraxis (vgl. Schmidt 1993). Spätestens seit Beginn der 80er Jahre rückten vor allem die unterschiedlichen Ausprägungen und Strukturen der wohlfahrtsstaatlichen Institutionen ins Zentrum des Forschungsinteresses dieses Zweigs der Politikwissenschaft. Studien häuften sich, die das unterschiedliche Entwicklungsniveau der sozialpolitischen Arrangements in OECD-Ländern zu erklären suchten. Zu Beginn der 1990er Jahre wandelte sich diese Debatte. Fortan standen nicht länger die Erklärungsfaktoren für den unterschiedlichen Ausbau der Wohlfahrtsstaaten zur Diskussion, vielmehr wurden vermehrt Arbeiten verfasst, die sich mit dem Ab- oder Rückbau des Wohlfahrtsstaates beschäftigten. Damit war die Frage verbunden, ob die gleichen Faktoren, die den Ausbau erklären, auch für den Rückbau gelten. Während etwa Esping-Andersen (1990: 32) diese Erklärungskraft von den Theorien einforderte, behauptete Pierson (1993), dass die Logik sozialstaatlicher Rückbaumaßnahmen sich vom Wohlfahrtsstaatsausbau grundsätzlich unterscheide und deswegen andere Erklärungsmodelle gesucht werden müssten. Eine abgeschwächte Versionen des Arguments von Esping-Andersen besagt, dass die Theorien des Ausbaus zwar nicht grundsätzlich den Rückbau erklären müssen, viele Erklärungsvariablen der klassischen Theorien aber noch immer Erklärungspotential haben (Siegel 2001; Hicks 1999; Scarbrough 2000). Solche lang andauernden Dispute nähren den Verdacht, dass der Grund für die Uneinigkeit bezüglich der Relevanz unterschiedlicher Erklärungsvariablen zu einem beträchtlichen Teil auf unterschiedliche Konzeptionen des zu erklärenden Phänomens selbst zurückzuführen ist. Für diese Vermutung spricht die Tatsache, dass die Befunde über die Entwicklungsrichtung der Wohlfahrtsstaaten zum Teil erheblich variieren. Während einige Autoren von umfassenden Rückbaumaßnahmen sprechen, betonen andere die Beständigkeit sozialstaatlicher Institutionen. Oft lassen sich die abweichenden Ergebnisse mit der unterschiedlichen Auswahl und Anzahl der untersuchten Länder erklären, manchmal sind verschiedene Politikfelder Gegenstand der Untersuchungen. Auch unterschiedliche Untersuchungszeiträume erklären manche Variation. Doch selbst wenn die Untersuchungen in dieser Hinsicht identisch sind, kann die Auswahl der Indikatoren, mit denen Ausbau, Rückbau oder Umbau
18
Einleitung
nachgewiesen werden sollen, zu gegensätzlichen Ergebnissen führen. Je nachdem, ob die Sozialausgabenquote, Sozialausgaben per capita, Lohnersatzquoten oder Zugangskriterien zu sozialen Sicherungssystemen untersucht werden, kommen unterschiedliche oder gar widersprüchliche Befunde zu Tage. Neben diesen Problemen besteht ein weiterer Mangel: Die Untersuchungen haben sich in der Mehrzahl auf die Erklärung von Politikergebnissen konzentriert; die Frage nach der Steuerungsfähigkeit fand nach der intensiven Debatte in den 1970er Jahren lange Zeit nur wenig Beachtung.1 Zwar gibt es keinen Mechanismus, nach dem sich die bestehenden Institutionen automatisch, unverzüglich und angemessen veränderten Rahmenbedingungen anpassen (March & Olsen 1989: 54). Der Ruf nach Reformen zeigt aber auch, dass die Steuerungsfähigkeit nach wie vor ein zentraler Bezugspunkt und Anspruch an Politik ist. Sowohl Kitschelt (2001) wie auch Pierson (2001: 420ff.) betonen die Schwierigkeiten, die sich aus den differierenden Befunden über Wohlfahrtsstaatsreformen ergeben. Wie sollen konkurrierende Erklärungen überprüft werden, wenn keine Einigkeit darüber besteht, was überhaupt erklärt werden soll: Outcomes, Output, Institutionenwandel? Hinter den hier nur grob skizzierten Differenzen steht offenkundig nicht vorrangig ein Daten- oder Indikatorenproblem, vielmehr ist es an erster Stelle ein Problem der Theorie (Green-Pedersen 2004: 4). Der Grund sind verschiedene, unklare und manchmal diffuse Begriffe, die bei jeweiliger Interpretation zwangsläufig zu unterschiedlichen Forschungsergebnissen führen. Ein Beispiel für die begriffliche Problematik findet sich in Edeltraud Rollers Performanzstudie von 21 Demokratien (Roller 2005). Hier wird der Anspruch formuliert, Performanz im Sinn von Outcomes zu messen und zu erklären. Im Bereich der Sozialpolitik wird die Armutsquote als entsprechender Indikator aufgeführt, in der Wirtschaftspolitik unter anderem die Arbeitslosenquote (Roller 2005: 39ff.). Dabei werden aber Sozialausgaben als Outputindikatoren beschrieben. Für eine Analyse der Leistungsfähigkeit von Demokratien erscheinen Armuts- und Arbeitslosenquoten ebenso angebrachte Outcome-Indikatoren zu sein wie die Beschreibung von Ausgaben als Output-Indikator. Werden jedoch politische Reformen untersucht, geraten auch Sozialausgaben zum Outcome-Indikator, der allenfalls als brauchbarer „Proxy“ zur indirekten Messung der Reformtätigkeit dienen kann. Genau diese Proxy-Qualität von Ausgabenindikatoren zur Messung von Politikwandel wurde in den vergangenen Jahren zunehmend in Frage gestellt (Esping-Andersen 1990; Korpi & Palme 1998; ausführlich: Clasen & Siegel 2007). Auch wenn politische Entscheidungen die Reduzierung von Sozialausgaben zum Ziel haben, müssen sich die Maßnahmen zunächst auf Veränderungen sozialpolitischer Strukturen und Programme beziehen, wie z.B. eine Senkung der Höhe des Arbeitslosengeldes. Durch solche Maßnahmen lassen sich möglicherweise die Ausgaben reduzieren – allerdings nur dann, wenn nicht die Arbeitslosigkeit gleichzeitig ansteigt und die erhofften Einsparungen durch eine steigende Zahl von Leistungsbeziehern zur Makulatur werden. Die Entwicklung von Sozialausgaben lässt sich somit zwar politisch beeinflussen, aber nicht vollständig steuern. Eine Untersuchung und Erklärung politischer Reformen sollte sich deswegen zunächst auf jene Objekte beziehen, auf die Politik tatsächlich Einfluss hat. Wenn sich also kleine Reformmaßnahmen nicht notwendigerweise direkt in entsprechenden Veränderungen der Sozialausgaben niederschlagen, so sollten sie zumindest mittel1
In den letzten Jahren hat sich die so genannte Governance-Forschung dieser Frage wieder angenommen. Allerdings geht es hier eher um vermeintlich neue Formen politischer Steuerung und weniger um Ergebnisse dieser Steuerung.
Einleitung
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und langfristig Effekte zeigen. Diese Annahme liegt implizit den Untersuchungen zu Grunde, die das unterschiedliche Niveau (und nicht die jährlichen Veränderungen) der Sozialausgaben mit parteipolitischen Variablen erklären wollen (z.B. Garrett & Mitchell 2001; Huber & Stephens 2001). Nach welchen Mustern die Anpassungen und kleinen Reformen in entwickelten Wohlfahrtsstaaten vonstatten gehen, wurde bislang jedoch weder hinreichend theoretisch reflektiert noch empirisch untersucht: „Therefore it is worthwhile to study not only the long-run developments, but also the short-run political-economic processes. An important contribution in this regard would be the development of theories of short-term adjustments on which empirical analyses could be based“ (Kittel & Winner 2005: 288). Diese Reformschritte und Reformmuster wohlfahrtsstaatlicher Einrichtungen sind das zentrale Erkenntnisinteresse dieser Arbeit. Sie unterscheidet sich dabei in zwei Aspekten von früheren Untersuchungen: Erstens werden keine aggregierten Ausgabendaten herangezogen, um sozialpolitische Veränderungen zu untersuchen. Stattdessen werden Indikatoren verwendet, die direkten Bezug zu den Programmcharakteristika der sozialen Sicherungssysteme haben. Die erste Besonderheit liegt also in der empirischen Grundlage der Arbeit. Zweitens geht die Untersuchung von Erklärungsfaktoren der beobachteten empirischen Phänomene über die Suche nach einfachen linearen Zusammenhängen hinaus. Im Zentrum stehen stattdessen Überlegungen, die Institutionen einen moderierenden Effekt auf Akteurshandeln zuschreiben. Wenn Institutionen Handlungen moderieren, bilden Akteure (als tatsächlich handelnde „Einheiten“) den logischen Fixpunkt der Untersuchung. Akteurshandeln ist jedoch nicht deterministisch, sondern bis zu einem gewissen Grad immer kontingent. Das Konzept der Wahrscheinlichkeit findet deswegen bei der Untersuchung und Darstellung der Empirie Anwendung. Nicht-Linearität, Interaktionen und Wahrscheinlichkeiten kennzeichnen somit den zweiten, theoretisch-methodischen Unterschied zu früheren Untersuchungen über wohlfahrtstaatliche Reformprozesse. Weil die quantitative Untersuchung einzelner Reformschritte ein weitgehendes Forschungsdesiderat ist, besteht eine Aufgabe darin, entsprechende Daten über Reformen aufzubereiten und zu beschreiben. Diese Informationen über Reformschritte werden dann theoretisch angeleitet untersucht und auf Muster überprüft. Um die Reformmuster von Wohlfahrtsstaaten zu analysieren, ist zweierlei zu leisten. Zum ersten geht es darum, die in der Literatur vorhandenen Theorien und Hypothesen systematisch auf ihre Brauchbarkeit und Plausibilität für politische Reformtätigkeit zu überprüfen. Zum zweiten werden die theoretischen Annahmen einer empirischen Prüfung unterzogen. Aus diesem Grund ist die vorliegende Arbeit in zwei Teile untergliedert: einen theoretischen und einen empirischen. Am Anfang steht jedoch die Frage: Was ist eine Reform? 1.1 Reform: Begriffsgeschichte und Definitionen Debatten über Steuer-, Gesundheits- oder Rentenreformen, das Klagen über Reformstau, das Lob über angeblich gelungene und die Kritik an vermeintlich gescheiterten Reformen sind in den Medien und der politischen Öffentlichkeit allgegenwärtig. Dabei fallen die Bewertungen derjenigen, die für eine Reform verantwortlich sind, und jener, die von ihr betroffen sind, oftmals unterschiedlich aus. Die Vieldeutigkeit des Reformbegriffs prädestiniert ihn als „zentrale Achse des begrifflichen Verwirrspiels der Politik“ (Nonnenmacher 1977: 262).
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Auch die rein begriffliche Auseinandersetzung mit der Reform zeigt den schillernden Charakter des Begriffs. Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm führt das Wort „Reform“ zwar noch nicht als eigenes Lemma auf, doch findet es sich hier in einem anderen Zusammenhang, etwa zur Definition des Begriffs „anrätig“, dessen Gebrauch mit folgendem Beispielsatz verdeutlicht wird: „anrätig machen = anraten: dasz gewisse vorzeichen die nothwendigkeit einer reform anräthig machen musten [sic]“. (Grimm & Grimm 1971[1893]: Bd.1, Sp. 423) Das Wort war also schon im 19. Jahrhundert gebräuchlich. Bereits im 15. Jahrhundert wurde der Begriff der Reformation neben kirchlichen Zusammenhängen auch auf politische Belange angewandt. Als Beleg ist im Grimmschen Wörterbuch die Wormser Reichsreform von 1495 zu finden, dessen Gegenstand die Femegerichte und ihre Freischöffen in Westfalen waren: „reformation könig Maximilians, die freischöpfen und das heimlich gericht zu Westphalen betreffend, zu Wormbs, anno 1495 aufgericht [sic].“ (Grimm & Grimm 1971[1893]: Bd. 14, Sp. 492) Im Etymologischen Wörterbuch der deutschen Sprache (Kluge 1989) finden sich neben dem Hinweis auf die Wortverwandtschaft von Reform und Reformation zum Eintrag „reformieren“ die Erläuterungen „neu gestalten, verbessern“. Zusätzlich ist bei Kluge der Hinweis auf die Verwandtschaft zum Begriff der „Form“ enthalten, lediglich das Präfix „re“ ist hinzuzufügen. Diese Vorslibe trägt neben „wieder“ auch die Bedeutung von „zurück“. Das „Oxford English Dictionary“ definiert den reinen Wortsinn des englischen „reform“ ebenfalls als „to form again“. Als übliche Bedeutung wird jedoch im Englischen wie im Deutschen die Veränderung eines mangelhaften Zustandes zum Besseren angegeben („the amendment, or altering for the better, of some faulty state of things“). Der Brockhaus definiert eine Reform als „[…] planmäßige Umgestaltung, Verbesserung, Neuordnung des Bestehenden, besonders (als Gegenbegriff zu Revolutionen) die gezielte, die Legalität wahrende Umgestaltung politischer und gesellschaftlicher Einrichtungen […]“. Im Vergleich zu den vorherigen Definitionen werden hier zwei weitere Merkmale genannt: die Legalität und die Planmäßigkeit des Handelns. Die Legalität ist das Kriterium, mit dem eine Reform von einer Revolution unterschieden wird. Bei der Reform bleibt die Legitimationsgrundlage der Herrschaft bestehen, bei der Revolution wird sie aufgelöst und durch eine neue ersetzt (ähnlich auch Graf von Krockow 1976: 54). Mit dem Merkmal der Planmäßigkeit wird eine Abgrenzung zu evolutionären Veränderungen vorgenommen. Die Intentionalität ist auch Bestandteil der meisten sozialwissenschaftlichen Definitionen des Reformbegriffs (Hillmann 1994; Glotz & Schultze 1995; zur Unterscheidung von geplantem und ungeplantem institutionellen Wandel vgl. auch Esser 2000: 368ff.). Reformen sind also von Akteuren planmäßig initiierte Veränderungen unter Wahrung grundlegender Herrschaftsstrukturen. Was sind die Merkmale dieser Veränderungen? Die Wörterbücher listen mehrere mögliche Eigenschaften auf, die von neutralen Beschreibungen (Umgestaltung) bis hin zu positiven Konnotationen (Verbesserung) reichen. Ebenso gibt es auf den ersten Blick unterschiedliche Richtungsangaben dieser Veränderungen. Einerseits heben Synonyme wie Neuordnung und Neugestaltung die historische Präzedenzlosigkeit der durch Reformen hervorgebrachten Strukturen hervor, andererseits klingt durch den Verweis auf das Präfix „re“ eine an der Vergangenheit ausgerichtete Perspektive an. Diesen Widerspruch löst Gerhard Lehmbruch durch die Differenzierung in Zweck und Mittel: „Die traditionelle Semantik des Reformbegriffs suggeriert, dass es in einer zyklischen Entwicklung einen idealen Ausgangszustand und dann eine Niedergangsphase gegeben habe, aus der die Reform zum Ausgangspunkt zurückführen solle. Es geht also um die
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Wiederherstellung eines Status quo ante, der durch bedauerliche Fehlentwicklungen verschüttet worden sei und wieder freigelegt werden müsse“ (Lehmbruch 2002: 11). Nach dieser Lesart dienen die durch Reformen veränderten Strukturen zur Wiederherstellung einer vormals besseren Situation. Für Manfred G. Schmidt ist dies jedoch nur eine mögliche Ausprägung von Reform. Er schlägt eine Differenzierung in „sozialdefensive“ und „progressive“ Reformen vor (Schmidt 2004). Sozialdefensive Reformen werden zur Abwehr größerer Umwälzungen nachträglich oder vorausschauend durchgeführt, was dem Lehmbruchschen Verständnis zu entsprechen scheint. Progressive Reformen sollen hingegen eine begrüßenswerte Entwicklung anstoßen oder beschleunigen. In dieser Unterscheidung klingt die Verbindung der Reichweite von Reformen mit ideologischen Positionen an: Konservative werden lediglich kleinere Kurskorrekturen vornehmen (bzw. die Reformen der Linken zurücknehmen; vgl. Greiffenhagen & Scheer 1975), um einen bewährten Gesellschaftszustand aufrechtzuerhalten, für progressive Parteien liegt das Glück in der Zukunft und ist mit entsprechenden Reformen anzusteuern. Was aber ist eine begrüßenswerte Veränderung, was stellt eine Verbesserung dar, was ist eine gute Ordnung? Zu Zeiten König Maximilians war für diese Bewertung die Meinung einiger weniger Aristokraten relevant. Durch die Legitimationserfordernisse in modernen Demokratien erlangt die Einschätzung der Wähler bezüglich dessen, was eine Verbesserung (bzw. was ein Problem) darstellt, eine entscheidende Bedeutung. Jede Partei nimmt für sich in Anspruch, dass die eigenen Reformpläne zum Besseren führen werden, wohingegen die Reformen der jeweiligen Konkurrenten angeblich das Gegenteil bewirken: das von Günther Nonnenmacher beschriebene „begriffliche Verwirrspiel“ um die Reform findet im demokratischen Kampf um Wählerstimmen seinen Ausdruck. Was eine gute und was eine schlechte Reform ist, ist interessenabhängig. 1.2 Die politikwissenschaftliche Definition von Reform Die Wörterbücher und Lexika sind sich einig darin, dass eine Reform die geplante Veränderung von Strukturen bedeutet, die eine Verbesserung bewirken soll. Reformen haben somit zwei zeitliche Bezugspunkte: den Status quo, der als problembelastet oder zumindest verbesserungswürdig empfunden wird, und einen Status futurus, der eine Linderung der Probleme oder allgemein eine Verbesserung mit sich bringen soll. Die Reform ist das Mittel zu diesem Zweck; durch die Veränderung von Strukturen soll die Verbesserung eintreten. Beinhaltet die politikwissenschaftliche Untersuchung von Reformen nun die Frage, ob die erhofften oder versprochenen Verbesserungen tatsächlich eingetreten sind, oder geht es bei der Reformfähigkeit nur um die Frage, ob die Veränderung der Strukturen überhaupt zustande kommt? Und was ist mit dem Ausgangspunkt der Reformen, der Problemlage? Aus wissenschaftlicher Perspektive ist die Untersuchung des Verhältnisses von Problemlagen und Problemlösungen nicht ohne Schwierigkeiten. Ein Problem existiert nicht ohne einen Akteur, der es als Problem wahrnimmt. Man könnte dem Wissenschaftler die Problemdefinition überlassen. Doch eine wissenschaftliche Definition von Problemlagen birgt die Gefahr, dass sie möglicherweise nicht gleichermaßen von den handelnden Akteuren geteilt wird. Wenn sich aber Reformen an anderen Problemen als jenen orientieren, die der Wissenschaftler identifiziert hat, ist die Untersuchung der Problemlösungsfähigkeit zumindest fragwürdig. Sie wäre nur dann ohne Weiteres zu leisten, wenn die Problemdefi-
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nition von Reformakteuren und Wissenschaftler vollständig identisch wäre. Eine Untersuchung der politischen Problemlösungsfähigkeit setzt somit streng genommen das vollständige Wissen über die Problemdefinition der Reformakteure voraus. Hätte man es mit einem einzigen Akteur zu tun, wäre diese Information möglicherweise noch zu beschaffen. Doch die moderne Demokratie hat es sich zum Prinzip gemacht, die Definition von Problemlagen und Bewertung von Lösungsvorschlägen den Bürgern zu überlassen, die ihrerseits sehr unterschiedliche Vorstellungen und Interessen haben. Demokratie ist der institutionell geregelte Konflikt über die Bestimmung von gesellschaftlichen Problemen, die Relevanz unterschiedlicher Probleme und die angemessenen Reaktionen auf diese Probleme. Die Aggregation und Vermittlung der Präferenzen und Ansichten der Bürger findet in den modernen Demokratien in zum Teil sehr unterschiedlichen Institutionen statt. Arend Lijphart hat diese Beobachtung als Ausgangspunkt seiner Studien über die „Patterns of Democracy“ genommen: „Who will do the governing and to whose interests should the government be responsive when the people are in disagreement and have divergent preferences” (Lijphart 1999: 1)? Die jeweiligen institutionellen Strukturen und politischen Kräfteverhältnisse haben einen Einfluss darauf, welche Anliegen Berücksichtigung finden. Zwei Extremfälle sind denkbar: Entweder werden nur diejenigen Präferenzen berücksichtigt, die von einer Mehrheit geteilt werden. Oder möglichst viele Interessen finden Berücksichtigung, um dann einen Kompromiss zwischen diesen vielfältigen Positionen herzustellen, dem möglichst viele (im Idealfall: alle) zustimmen können.2 In politikwissenschaftlicher Terminologie stellen diese Fragen die input-Dimension des politischen Prozesses dar (Easton 1965). Folgt man dem systemtheoretischen Blick Eastons auf die politischen Systeme, zielt die Problemlösungsfähigkeit auf die Frage nach dem Verhältnis von outcome zu input ab. Dazwischen liegen politische Entscheidungen, die zu outputs in Form von Gesetzen und Verordnungen führen. Die Untersuchung der Problemlösungsfähigkeit beinhaltet somit auch die Frage, ob und inwieweit die politischen Entscheidungen (output) den outcome in einer positiven Weise beeinflusst haben. Es ist wichtig festzuhalten, dass outcomes außerhalb des politischen Systems liegen. „Denn ein ganzes Bündel intervenierender Variablen, die von nationalen Regierungen kaum oder nicht […] oder nur indirekt beeinflusst werden können, […] haben direkte Auswirkungen auf die outcomes“ (Merkel 1993: 122). Dies gilt nicht für den output, dessen Untersuchung ein zentrales Gebiet der Politikwissenschaft ist: die sogenannte Policy- oder Staatstätigkeitsforschung. Die Staatstätigkeitsforschung tritt vornehmlich in zwei Formen auf: entweder in Form von detaillierten Fallstudien, die auch im vergleichenden Fall selten mehr als drei oder vier Länder bzw. Politikfelder umfassen, dafür aber input-output-outcome-Ketten relativ exakt nachzeichnen können. Verallgemeinerbare Aussagen sind mit diesem Untersuchungsdesign jedoch relativ schwer zu treffen. Die zweite Form sind quantitativ orientierte Studien mit vergleichsweise großer Fallzahl. Hier wird versucht, mit politischen Variablen wie der parteipolitischen Zusammensetzung von Regierungen, institutionellen Strukturen oder den Machtressourcen von Interessengruppen Politikergebnisse (in der Regel Staatsausgaben in einem bestimmten Bereich) zu erklären. Dies geschieht unter der Annahme der über Länder und Politikfelder hinweg ähnlichen Wirkungsrichtung der jeweiligen Variablen. Zudem wird in diesen Untersuchungen die Veränderung von outcomes wie z.B. Sozialstaatsausgaben oft implizit als Indikator für Reformen benutzt. 2
Diesen beiden Extremfällen entsprechen die beiden Demokratietypen Lijpharts: Die Mehrheitsdemokratie auf der einen Seite und Konsensdemokratie auf der anderen Seite.
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Dies ist in denjenigen Fällen sinnvoll, wo Reformen hauptsächlich auf die Veränderung der Ausgaben abzielen. Hier wäre die Gleichsetzung von outcome und output inhaltlich zu rechtfertigen. Oftmals ist die Berücksichtigung der Kosten einer Reform jedoch nur eine (sehr starke) Nebenbedingung und nicht der Hauptzweck einer Reformmaßnahme, wie bereits Esping-Andersen betonte: „[I]t is difficult to imagine that anyone struggles for spending per se“ (Esping-Andersen 1990: 21). Eine andere Form der quantitativen Wohlfahrtsstaatsforschung mit vielen Fällen mündet in die Identifizierung von Ländergruppen oder Wohlfahrtsstaatstypen. Hier werden zwar Aussagen über Strukturen gemacht, jedoch ebenfalls nicht über die Reformmuster, die diese Ländergruppen aufweisen. Halten wir fest: Reformen sind Veränderungen von (wohlfahrtsstaatlichen) Strukturen3 und Programmen. Sie sollen outcomes verändern, sind jedoch nicht mit ihnen gleichzusetzen. Die politikwissenschaftliche Definition von Reform lautet also: Eine Reform ist die intentionale Errichtung, Abschaffung oder Veränderung von formellen (wohlfahrtsstaatlichen) Strukturen oder Programmen durch legislative Maßnahmen. Reformen dienen dazu, Problemlagen zu beseitigen oder abzumildern. Reformfähigkeit bedeutet also die (theoretische) Fähigkeit von Akteuren, Reformen im oben beschrieben Sinne durchzusetzen. Der Begriff der Reformtätigkeit beschreibt hingegen die tatsächliche Durchführung einer Reform. Zunächst wird es darum gehen, die Rahmenbedingungen zu identifizieren, die sich positiv oder negativ auf die Reformfähigkeit auswirken. Die Reformtätigkeit, auf die diese Arbeit letztlich abzielt, sollte mit der Reformfähigkeit korrespondieren. Inwieweit das der Fall ist, wird im zweiten, empirischen Teil untersucht.
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Wohlfahrtsstaatliche Einrichtungen wie die Renten- oder Arbeitslosenversicherung sind Institutionen. Um eine klare begriffliche Trennung vorzunehmen, bezieht sich der Begriff der Institution im Folgenden hauptsächlich auf politische Institutionen (ausführlich dazu: Kapitel 2.4). Reformen der wohlfahrtsstaatlichen Institutionen werden hingegen als Struktur- oder Programmveränderungen einer Einrichtung bezeichnet und nicht als Reform von Institutionen (ausführlich dazu: Kapitel 2.3).
2 Reformfähigkeit als analytisches Konzept Reformfähigkeit als analytisches Konzept
2.1 Grundlagen Aus der begrifflichen Auseinandersetzung mit dem Begriff der Reform wurde deutlich, dass „Reform“ als dynamisches Konzept betrachtet werden muss, wenn es als Grundlage einer sozialwissenschaftlichen Analyse benutzt werden soll. Denn Reformen verweisen zum einen immer auf ein Vorher als Bezugspunkt (zeitliche Dynamik), zum anderen enthalten Reformen als intentionale Veränderungen durch (Gruppen von) Menschen die Idee der Handlungsfreiheit (handlungstheoretische Dynamik). Als erster Schritt der Entwicklung eines Reformmodells erscheint eine Analyse der zentralen Teilaspekte sinnvoll: Eine Reform als intentionale Veränderung hat ein Problem (i.S. einer Defizitdefinition) als Auslöser. Diesem Problem begegnet man mit Maßnahmen. Intentionale Veränderungen von Institutionen benötigen im Gegensatz zu evolutionären Veränderungsprozessen neben einem Problem einen oder mehrere Akteur(e) als Initiator(en) der Reformmaßnahmen. Die von den Akteuren betriebenen Maßnahmen führen schließlich zu bestimmten Ergebnissen. Die Kette der einzelnen Bestandteile lässt sich als Prozess darstellen, bei dem die Ausprägung eines Bestandteils Konsequenzen für die nachfolgenden Elemente des Prozesses zeitigt. Ein solches Untersuchungsraster entspricht dem von Fritz W. Scharpf und Renate Mayntz entwickelten akteurszentrierten Institutionalismus (Mayntz & Scharpf 1995; Scharpf 2000; vgl. Abbildung 1). Diese Forschungsheuristik dient zur theoriegestützten Erklärung von Policy-Prozessen innerhalb von politischen Systemen.4 Die Grundannahme des akteurszentrierten Institutionalismus lässt sich folgendermaßen skizzieren5: Politische Entscheidungen werden nicht von einzelnen Individuen im luftleeren Raum getroffen, sondern sind in der Regel Entscheidungsprozesse zwischen mehreren beteiligten (Verhandlungs-)Parteien unter spezifischen institutionellen Rahmenbedingungen. Besondere Relevanz zur Erklärung von Entscheidungen besitzen somit erstens die Art der Akteure, zweitens die Stellung der Akteure zueinander und drittens die sie einrahmenden Institutionen. Streng genommen können nur Individuen handeln. In politischen Entscheidungen handeln Individuen jedoch meistens im Namen einer größeren Gruppe oder einer Organisation (Scharpf 2000: 96). Scharpf bezeichnet Akteure oberhalb der individuellen Ebene als „komplexe Akteure“. Um eine größere Zahl von Individuen als Akteur zu bezeichnen, müssen „[…] die beteiligten Individuen die Absicht haben, ein gemeinsames Produkt zu schaffen oder ein gemeinsames Ziel zu erreichen“ (ebd.: 101). 4 5
Diese müssen nicht notwendigerweise Nationalstaaten sein. Es kann sowohl zur Erklärung von Entscheidungen innerhalb von Verbänden/Organisationen dienen als auch zwischen ihnen. Auch zur Erklärung von Policy-Prozessen zwischen Nationalstaaten (z.B. innerhalb der EU) kann das Modell angewendet werden. Für die folgende Beschreibung des akteurszentrierten Institutionalismus siehe auch Petring (2006). Für eine allgemeine Diskussion unterschiedlicher Arten des Neo-Institutionalismus siehe Kaiser (2001).
Reformfähigkeit als analytisches Konzept Abbildung 1:
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Basismodell des akteurszentrierten Institutionalismus Institutioneller Kontext
Probleme
Akteure, Handlungsorientierungen, Fähigkeiten
Konstellationen
Interaktionsformen
politische Entscheidungen
Politik-Umwelt Quelle: Scharpf (2000: 85).
Scharpf nennt vier Dimensionen, anhand derer komplexe Akteure unterschieden werden können: Handlungen, Ziele, Ressourcen und Entscheidungen. Diese Dimensionen entfalten ein Kontinuum von aggregierten Akteuren bis zu korporativen Akteuren (Scharpf 2000: 101ff.). Verbleibt die Entscheidungshoheit in den Dimensionen weitgehend bei den Individuen, handelt es sich um einen aggregierten Akteur; liegt die Entscheidungshoheit weitgehend beim Kollektiv, wird der komplexe Akteur als korporativ bezeichnet. Komplexe Akteure können in unterschiedlichen Beziehungen zueinander stehen. Je nach Anzahl, Präferenzen und Strategieoptionen der an einer Entscheidung beteiligten Akteure ergeben sich verschiedene Akteurskonstellationen. „Die Akteurskonstellation beschreibt […] das Konfliktniveau, aber sie enthält noch keine Informationen über den Interaktionsmodus, durch den diese Konflikte verarbeitet werden sollen […]“ (Scharpf 2000: 129). Die Konstellationen können spieltheoretisch als Konflikt-, Koordinations- oder „mixed-motive“-Spiele konzeptionalisiert werden (ebd.). Diese Akteurskonstellationen reichen in der klassischen Spieltheorie aus, um das zu erwartende Ergebnis zu modellieren. Hier hat Scharpf jedoch eine wichtige Erweiterung vorgenommen, die einen entscheidenden Beitrag zur Erklärungskraft des theoretischen Ansatzes leistet. In identischen Konstellationen können unterschiedliche Interaktionsformen Anwendung finden. Es wird zwischen vier Interaktionsformen zur Erklärung von politischen Entscheidungen unterschieden: „einseitigem Handeln“, „Verhandlungen“, „Mehrheitsentscheidungen“ und „hierarchischer Steuerung“. Es ist vor allem der institutionelle Kontext, der festlegt, welche Interaktionsformen überhaupt möglich sind. Da hier die Frage der Reformfähigkeit in entwickelten Demokratien untersucht wird, sind die vorherrschenden Interaktionsformen „Verhandlungen“ und „Mehrheitsentscheidungen“. „Einseitiges Handeln“ tritt nur in einem nahezu institutionenfreien Umfeld auf. Auf politische Entscheidungen bezogen, findet man einseitiges Handeln also nur unter anarchischen, nicht jedoch demokratischen Bedingungen (Scharpf 2000: 169)6. Die „hierarchische Steuerung“ findet 6
Bezeichnenderweise ist das einzige Beispiel Scharpfs die neorealistische Konzeption der Beziehungen von Nationalstaaten zueinander, die als Interaktion im institutionenfreien Raum beschrieben wird.
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Reformfähigkeit als analytisches Konzept
sich zum Beispiel im Verhältnis der Exekutive zur Ministerialbürokratie. Denkbar ist auch, dass vorgelagerte Entscheidungen innerhalb einer Organisation dieser Interaktionsform ähneln, z.B. die Festlegung der Politikstrategie durch einen Partei- oder Regierungschef. Ebenso lässt sich die Nichtberücksichtigung bisher in die Politikformulierung eingebundener Akteure wie Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände zu Teilen als hierarchische Steuerung interpretieren. Allerdings sind zur endgültigen Verabschiedung von Gesetzen Mehrheitsentscheidungen im Parlament unumgänglich. In der Entscheidungspraxis wird also meistens eine Abfolge unterschiedlicher Interaktionsformen in den einzelnen Schritten des Entscheidungsprozesses zu beobachten sein. Dabei wirkt der institutionelle Rahmen der einzelnen Entscheidungsarenen als Filter für die Interaktionsformen. Fritz W. Scharpf selbst diskutiert (wenn auch relativ knapp) die Konsequenzen der unterschiedlichen Ausprägungen institutioneller Arrangements im Hinblick auf Entscheidungen im Westminster-Modell und im Konkordanzmodell (Scharpf 2000: 300ff.). Allerdings werden die Module des akteurszentrierten Institutionalismus nicht systematisch mit den beiden Regierungsformen in Verbindung gebracht. Grundsätzlich hält er diese Form der Unterscheidung demokratischer Systeme ohnehin für wenig realitätsnah, vielmehr sei fast immer eine Kombination von „Wettbewerb“ und „Verhandlungen“ anzutreffen (ebd.: 313). Scharpfs Diskussion von innerparteilichen Verhandlungen, koalitionsinternen Verhandlungen und ‚divided government’ fällt ebenfalls knapp aus (ebd.: 313-318) und ist zudem weder an die Dichotomie von Konkordanz- und Westminsterdemokratien noch an andere Typologien von Regierungssystemen angebunden. Eine Modifikation und Spezifikation des Modells für die Untersuchung (sozialpolitischer) Reformpolitik auf nationalstaatlicher Ebene ist somit notwendig, weil die Diskussion sowohl von politischen Institutionen wie auch von politischen Akteuren nicht hinreichend auf die Entscheidungsprozesse in unterschiedlichen demokratischen Systemen bezogen werden. Es lassen sich zunächst die relevanten Akteure eingrenzen. In liberalen rechtsstaatlichen Demokratien werden Gesetze vom Parlament verabschiedet. Die Parlamentarier sind in Parteien organisiert, so dass die im Parlament vertretenen Parteien als maßgebliche kollektive politische Akteure einen ersten zentralen Untersuchungsgegenstand bilden. Das Konfliktniveau zwischen den Parteien wird von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst: Wie viele Parteien sind im Parlament vertreten, wie ist das Stimmenverhältnis, wie ist es um die ideologische Distanz bestellt? Diese Kriterien haben neben institutionellen Faktoren Einfluss auf das Verhältnis der Akteure zueinander – in der Terminologie Scharpfs: auf die Konstellationen. Eine oder mehrere Parteien bilden eine Regierung, die nicht nur exekutive Macht besitzt. Regierungen verfügen über Agendasetzermacht, zudem haben sie auch die Kompetenz, dem Parlament Gesetzesvorschläge zur Entscheidung vorzulegen. In vielen Ländern führt die politisch-institutionelle Ordnung zu einer engen Verknüpfung von Regierung und Parlamentsmehrheit. Somit sind Regierungen in ihren unterschiedlichen Formen (Einparteien- und Koalitionsregierungen) und Mehrheitsverhältnissen (Mehrheits- und Minderheitsregierungen) in unterschiedlichen Regierungssystemen zu berücksichtigen. Der politische Entscheidungsprozess wird zusätzlich von gesellschaftlichen Interessengruppen wie z.B. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden beeinflusst. Ob sich dieser Einfluss über formale (z.B. korporatistische Strukturen) oder informelle Wege (Lobbyarbeit) vollzieht, ist zunächst eine Frage der institutionellen Ordnung. Somit sind die Organisationsstärke und Organisationsform von gesellschaftlichen Akteuren ebenso in den Blick
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zu nehmen wie ihr Verhältnis zueinander, um unterschiedliche Konstellationen abbilden zu können. Die politischen und gesellschaftlichen Akteure können in unterschiedlichen Formen interagieren. Die von Scharpf als „Verhandlungen“, „Mehrheitsentscheidungen“ und „hierarchische Steuerung“ bezeichneten Formen bieten unterschiedliche Kapazitäten, mit Konflikten umzugehen und zu effizienten und verbindlichen Entscheidungen zu kommen. Diese Interaktionsformen sind stark vom institutionellen Rahmen bestimmt. Die Reduktion der wichtigsten institutionellen Arrangements auf die Idealtypen der Wettbewerbs- und Konkordanzdemokratien, wie Scharpf sie vornimmt, ist zur Illustration der unterschiedlichen Mechanismen und Funktionslogiken sinnvoll. Für eine Theorie der Reformfähigkeit treten diese beiden Idealtypen jedoch empirisch in zu vielen Variationen auf. Zudem ist unklar, warum man gerade den von dieser Typologie berücksichtigten institutionellen Merkmalen Einfluss auf die Reformfähigkeit unterstellen und nicht andere Unterscheidungen wie Präsidentialismus vs. Parlamentarismus als Ausgangspunkt wählen sollte. Nach diesen ersten Ab- und Eingrenzungen lässt sich eine Spezifikation des Modells des akteurszentrierten Institutionalismus erstellen, die im Folgenden als akteursspezifischer Institutionalismus bezeichnet wird (Abbildung 2). Abbildung 2:
Modifiziertes Modell des akteurszentrierten Institutionalismus – akteursspezifischer Institutionalismus Institutioneller Kontext
Parteien und Regierungen Konstellationen
Probleme
Konstellationen
Interaktionsformen
politische Entscheidungen
Interessengruppen Konstellationen Quelle: eigene Darstellung.
Auch wenn bis hierher die wichtigsten Analyseeinheiten für die Frage der Reformfähigkeit von Wohlfahrtsstaaten identifiziert sind, wurden noch keine Aussagen über zu vermutende und zu überprüfende Mechanismen und Wechselwirkungen der einzelnen Elemente des Modells getroffen. Die theoriegeleitete Entwicklung von Hypothesen zu den drei zentralen Erklärungsfaktoren Institutionen, Parteien/Regierungen und Interessengruppen lässt sich mit drei prominenten politikwissenschaftlichen Theorieschulen verknüpfen, die jeweils eine
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Reformfähigkeit als analytisches Konzept
der drei Komponenten in den Fokus nehmen: (1) neoinstitutionalistische Theorien und Typologien, (2) die Parteiendifferenztheorie sowie (3) die Theorie des Gruppenhandelns und die darauf aufbauende Korporatismus- und Interessengruppenforschung. Die weitere Spezifikation des Reformmodells gliedert sich nach diesen drei Kernelementen und den dazugehörigen Theorieschulen. Es werden die Konsequenzen unterschiedlicher „institutioneller Kontexte“ überprüft (Kapitel 2.4), um dann „Parteien und Regierungen“ (Kapitel 2.5) und „Interessengruppen“ (Kapitel 2.6) im Hinblick auf ihren Beitrag zur Reformfähigkeit zu diskutieren. Zunächst werden jedoch „Probleme“ als Ursachen von Reformen (Kapitel 2.2) in den Blick genommen, um dann verschiedene Arten von Reformen und Reformergebnissen zu konzeptionalisieren (Kapitel 2.3). Das Kapitel 3 des theoretischen Teils fasst die zentralen Ergebnisse und Hypothesen für die empirische Prüfung zusammen. Auch wenn sich die bisherigen Ausführungen noch auf die meisten Politikfelder übertragen lassen, wird bei der folgenden Konkretisierung der einzelnen Elemente des Konzeptes eine Beschränkung auf die sozialpolitische Sphäre vorgenommen. 2.2 Ursachen von Reformen Betrachtet man die Darstellung des (politischen) Entscheidungsprozesses im akteursspezifischen Institutionalismus genau (Abbildung 2), lassen sich zwei Aspekte festhalten: Erstens sind Probleme die Auslöser von Reformen. Zweitens liegen diese Probleme zunächst außerhalb des politischen Systems, werden aber von den politischen Akteuren aufgenommen und innerhalb des Systems bearbeitet.7 Politik ist in diesem Sinne also ein Problemverarbeitungsbetrieb. Die Externalisierung des Problems bzw. die Trennung von Problem und Akteuren ist somit eine Abstraktion. Denn ein Problem wird nur durch die Wahrnehmung von Akteuren zu einem Problem. Eine Situation, die von niemandem als verbesserungsbedürftig wahrgenommen wird, stellt kein Problem dar. Folglich gilt es, sich auf diejenigen Probleme zu beschränken, von denen man begründeterweise annehmen kann, dass sie von den meisten Akteuren auch als solche wahrgenommen werden. Es klafft somit eine Lücke zwischen dem Status quo und dem gewünschten Zustand. Dies bedeutet nicht, dass dieses Defizit von allen beteiligten Akteuren gleichermaßen wahrgenommen wird oder dass eine einheitliche Meinung vorherrscht, wie mit den Problemen umgegangen werden sollte. Die Probleme erfüllen lediglich die Bedingung, dass durch sie der politische Problembearbeitungsprozess in Gang gesetzt wird. Für die Entstehung solcher Problemwahrnehmungen werden in der Regel drei Erklärungsansätze herangezogen (z.B. Thelen 2003). So können aus funktionalistischer Perspektive externe Schocks oder gesellschaftsinterne Veränderungen dazu führen, dass die bestehenden Institutionen ihre Aufgaben nicht mehr hinreichend erfüllen können. Die Funktionen des existierenden Institutionengefüges werden also den veränderten oder neuen Herausforderungen nicht mehr gerecht. Die Machtressourcentheorie argumentiert, dass sich durch Veränderungen des gesellschaftlichen Machtgefüges neue oder veränderte Konstellationen
7
Probleme, die in der Konstruktion politischer Institutionen liegen, stellen eine Ausnahme dar. Ein Beispiel hierfür ist deutsche Föderalismusreform von 2006, bei der sowohl das Problem als auch die Lösung im Zentrum des politischen Entscheidungsprozesses liegen. Die Frage, ob solche Konstellationen besondere Konsequenzen für die Reformprozesse haben, wird hier nicht weiter verfolgt.
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der „Definitoren“ von Problemen ergeben können. Aus kulturell-soziologischer Sicht entstehen oder verändern sich Probleme dann, wenn sich die gesellschaftliche Erwartung an das, was Institutionen leisten sollen, verändert. Den Problembegriff des akteursspezifischen Institutionalismus scheint am ehesten die funktionalistische Perspektive zu bedienen. Veränderte Machtressourcen und veränderte Erwartungen werden zwar berücksichtigt. Sie sind jedoch durch das Akteurskonzept (Präferenzen und Ressourcen der Akteure sowie Akteurskonstellationen) interne Bestandteile des politischen Prozesses und nicht externe Auslöser desselben. Aus funktionalistischer Perspektive können Probleme durch externe Schocks oder gesellschaftsinterne Veränderungen entstehen. Ein typisches Beispiel für externe Schocks sind zeitlich begrenzte ökonomische Rezessionen. Mit der Europäisierung und ökonomischen Globalisierung sind dauerhafte Phänomene hinzugetreten, die ebenfalls die Funktionsweise zentraler wohlfahrtsstaatlicher Institutionen beeinträchtigen (Kitschelt et al. 1999: 446). Der Standortwettbewerb um Unternehmen und Investitionen beeinträchtigt z.B. die Funktionen der Steuer- und Sozialsysteme. Auch Institutionen wie Arbeitsmarktregulierungen und Umweltstandards sind aufgrund ihrer potentiell nachteiligen Effekte auf Standortentscheidungen mit einem ungewollten Funktionszuwachs konfrontiert. Der demografische Wandel ist ein Beispiel für ein Problem, das auf gesellschaftsinternern Veränderungen beruht. Hierdurch geraten ebenfalls die Rahmenbedingungen wichtiger sozialpolitischer Einrichtungen ins Wanken. Die durch den demografischen Wandel verursachten wachsenden Kosten für das Gesundheits- und Rentensystem führen zu Finanzierungsproblemen. Zusätzliche Einnahmen durch Steuern oder Beiträge sind angesichts der verstärkten externen Effekte durch die Globalisierung als Handlungsoptionen nur eingeschränkt möglich. Die solcherart verursachten „Krisen“ oder „Probleme“ können Ursache oder Anstoß für Reformen sein. Bezieht man die Zeitdimension in die Betrachtung ein, wird eine weitere analytische Differenzierung möglich. Die Reformursachen aus funktionalistischer Perspektive lassen sich in vier zeitliche Kontexte unterteilen: Prognostizierte (zukünftige) Probleme, plötzlich auftretende Krisenphänomene, das Erreichen eines bestimmten Schwellenwertes des Problemindikators und schließlich das Fortdauern eines Krisenphänomens über einen bestimmten Zeitraum. Prognostizierte (zukünftige) Probleme: Der demografische Wandel ist ein Beispiel für solche Problemstrukturen. Obwohl er kein neues Phänomen ist, dauerte es in vielen Ländern relativ lange, bis Reformprojekte angestoßen wurden. Möglicherweise war der Reformdruck lange Zeit nicht ausreichend stark, um zu Veränderungen zu führen. In den meisten Industrieländern werden die größten Auswirkungen durch die Veränderungen der Altersstruktur für den Zeitraum zwischen 2030 und 2050 erwartet. Plötzlich auftretende Krisenphänomene: Ein Beispiel hierfür ist die Veröffentlichung der ersten PISA-Studie. Sie hat in Deutschland eine Debatte ausgelöst, obwohl viele Forscher, Lehrer, Politiker und Eltern schon vorher Reformbedarf gesehen hatten. Im Zentrum des öffentlichen Interesses stand dieses Thema dennoch lange Zeit nicht. Ein schon längere Zeit bestehendes Problem fand einen plötzlichen Auslöser der Reformdebatte und führte schließlich zu ersten Reformmaßnahmen.8 Ein anderes Beispiel ist der islamistische Terro8
Insbesondere diese Art von Ursachen wird von den Vertretern der Pfadabhängigkeitsthese als Ursprung von neuen Institutionen sowie von größeren institutionellen Reformen angesehen (Mahoney 2000; Collier & Collier 1991: 35-38).
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rismus, der durch die Anschläge vom 11. September 2001 die Rahmenbedingungen der Innen- und Außenpolitik schlagartig veränderte. In beiden Beispielen bestand die Problemlage schon vor dem Auslöser, sie war der Öffentlichkeit und den politischen Akteuren jedoch weitgehend unbekannt oder fand nur am Rand Beachtung. Schwellenwertphänomene: Arbeitslosigkeit wird als grundsätzliches Übel angesehen, eine Reformdebatte entsteht jedoch oft bei sprunghaftem Anstieg der Arbeitslosenquote oder wenn ein länger andauernder Anstieg eine bestimmte (oft symbolische) Höhe überschreitet. Hier ist die Ursache von Reformen entweder ein plötzlicher Anstieg oder das Überschreiten eines Schwellenwertes. Die Verschuldungsregeln der EU (MaastrichtKriterien) sind ein weiteres Beispiel für ein Schwellenwertphänomen, das sogar institutionell verankert ist. Die Abbildung 3 zeigt den idealisierten Fall eines Schwellenwertphänomens, das sich auf die Höhe oder Stärke des Problems bezieht. In dem Zeitraum zwischen t1 und t2 sowie nach t3 wird der Schwellenwert s* jeweils überschritten. Eine notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für das Zustandekommen von Reformen ist hier gegeben (so auch Pierson 2004: 82ff.). Abbildung 3:
Schwellenwertphänomene nach Problemintensität
Problemindikator
s*
Schwellenwert
t1
t2
t3
Zeit
Quelle: Eigene Darstellung nach Pierson (2004).
Fortdauern eines Krisenphänomens über einen bestimmten Zeitraum: Bei einer zeitlich begrenzten ökonomischen Wachstumsschwäche von nur einem oder zwei Quartalen sind Reformforderungen unwahrscheinlich. Zieht sich ein niedriges oder negatives Wirtschaftswachstum jedoch über mehrere Quartale oder gar Jahre hinweg, ist eine Reformdebatte nicht nur wahrscheinlich, sondern unumgänglich. Auch hier ist die Ursache kein plötzliches Ereignis, sondern ein kumulativer Prozess. Im Gegensatz zu der schrittweise ansteigenden Arbeitslosigkeit ist in diesem Beispiel nicht die Höhe des Krisenphänomens die mögliche Ursache von Reformen, sondern das Andauern eines Zustandes (wirtschaftliche Stagnation).
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Solche Problemstrukturen lassen sich ebenfalls als Schwellenwertphänomene interpretieren (siehe Abbildung 4). Allerdings liegt hier nicht in der Intensität des Problems die entscheidende Ausgangsbedingung für Reformen. Vielmehr ist eine bestimmte Zeitspanne notwendig (t*), über die hinweg das Problem existiert. Abbildung 4:
Schwellenwertphänomene nach Zeitdauer
Problemindikator
t*
Zeit
Quelle: Eigene Darstellung.
Die beiden Schwellenwertphänomene ermöglichen eine Präzisierung des oft als Erklärung bemühten Begriffs „Reformdruck“. Zwar mögen die Schwellenwerte in unterschiedlichen Ländern, unterschiedlichen Politikfeldern und zu unterschiedlichen Zeiten jeweils andere sein und sind damit nicht a priori zu definieren. Als analytisches Konzept ermöglichen Schwellenwerte jedoch differenziertere Beschreibungen und Erklärungen als die unpräzise Rede vom Reformdruck. Das wird deutlich, wenn man die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen hinsichtlich der Auswirkung auf den Reformprozess betrachtet: Reformen, die sich auf zukünftige Probleme beziehen, bieten einen vergleichsweise großen Gestaltungsrahmen. Weil die Entscheidungen (noch) nicht im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen, ist ein sach- und problemorientierter Diskurs möglich.9 Auch sind bei Entscheidungen, die erst in der ferneren Zukunft ihre Wirkung entfalten, die „Reformverlierer“ nicht immer eindeutig zu identifizieren oder zum Zeitpunkt der Reform noch nicht organisiert. Die geringere Zahl der an der Reformdebatte beteiligten Akteure erleichtert das Zustandekommen von Reformen, weil die Informations- und Entscheidungskosten geringer sind. Gleichzeitig besteht jedoch auch ein Anreiz, in solchen Fällen keine Reformmaßnahmen zu ergreifen. Gerade weil das Problembewusstsein in der Bevölkerung nicht oder nur schwach ausgeprägt ist, kann Untätigkeit (non-decision) eine rationale Alternative für politische Akteure sein – zumal wenn die Reformen unpopuläre Maßnahmen beinhalten. Wenn aber zukünftige Probleme Gegenstand der Reformbemü9
Das entspricht der Verhandlungsform des „Problemlösens“, vgl. Scharpf (2000: 221ff.).
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hungen sind, stellen sich die Vorraussetzungen aus den genannten Gründen vergleichsweise günstig dar. Ähnlich gute Bedingungen für das Zustandekommen von Reformen lassen sich theoretisch bei plötzlichen und großen Krisen vermuten. Der unmittelbar große Reformdruck kann ebenfalls dazu führen, dass Interessengruppen oder Parteien ihre traditionellen Positionen überwinden und eher sachorientiert als ideologisch motiviert nach Lösungen suchen. Schwellenwertphänomene bieten hingegen schlechtere Voraussetzungen für Reformen. Betroffene Gruppen haben Zeit, ihre Ressourcen zu mobilisieren und werden versuchen, nicht gewünschte Reforminhalte zu verändern oder zu verhindern. Die länger währende Existenz des Problems führt zudem dazu, dass es Einzug in den Parteienwettbewerb halten kann. Existieren konkurrierende Vorschläge der Parteien, kommt es zu anspruchsvolleren Interaktionsformen der maßgeblichen Akteure, was die Reformfähigkeit verringert. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass im Rahmen des hier verfolgten Erklärungskonzeptes Probleme von außen an das politische System herantreten und deren Wahrnehmung von den Akteuren zu einem gewissen Grad intersubjektiv geteilt wird. Probleme als Reformursachen können hinsichtlich der Art ihres Auftretens differenziert werden: bestehen sie bereits oder werden sie erwartet? Wenn sie bereits bestehen, können Schwellenwertphänomene nach Zeit und Intensität unterschieden werden. Das institutionelle Umfeld, die Präferenzen und Ressourcen der Akteure sowie die Konstellationen der Akteure zueinander stellen jedoch einen Filter dar, der die jeweilige Wahrnehmung der Probleme und die Reaktion auf sie beeinflusst (ähnlich auch Elster 1979; Merkel 1993; Merkel et al. 2006). Die unterschiedlichen Reaktionen auf Probleme werden nun genauer in den Blick genommen, bevor der Einfluss von Institutionen und Akteuren konzeptionalisiert wird. 2.3 Reformmaßnahmen und Reformergebnisse Reformen sind Veränderungen von Institutionen, deren Ziele die Beseitigung, Linderung oder Verhinderung von Problemen sind. Allerdings ist allein das Ergreifen einer Maßnahme nicht gleichbedeutend mit deren Erfolg. Deswegen sind Reformmaßnahmen und Reformergebnisse zunächst getrennt voneinander zu behandeln. Weil für die Konzeptionalisierung von Reformmaßnahmen die Abfolge einzelner Reformschritte ein wichtiges Kriterium ist, muss zudem auf Reformprozesse eingegangen werden. Das Vorgehen ist also dreistufig: zunächst Maßnahmen, dann Prozesse, schließlich Output. 2.3.1 Reformmaßnahmen Eines der bekanntesten Konzepte, um die unterschiedliche Reichweite von Reformen zu systematisieren, stammt von Peter Hall. Er unterscheidet zwischen Reformen erster, zweiter und dritter Ordnung (Hall 1993). Ein Wandel erster Ordnung (first order change) bezeichnet eine Neujustierung bestehender Instrumente. Werden hingegen neue Instrumente eingesetzt, um die bisherigen Ziele zu erreichen, handelt es sich um einen Wandel zweiter Ordnung (second order change). Eine Politik, bei der auch die Ziele einer Veränderung unterliegen, ist ein Wandel dritter Ordnung (third order change). Das bedeutet nicht zwangsläu-
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fig die komplette Ablösung eines Politikzieles durch ein anderes, sondern findet meist in der Prioritätenverschiebung zwischen mehreren Zielen ihren Ausdruck. Normalerweise werden in einem Politikfeld mehrere Ziele verfolgt. Hall spricht auch dann von einem Wandel dritter Ordnung, wenn bei Zielkonflikten neue Prioritäten gesetzt werden. Veränderungen erster und zweiter Ordnung sollten daher innerhalb eines Politikfeldes feststellbar sein. Änderungen dritter Ordnung werden vor allem als Verschiebung der Zielhierarchie zwischen einzelnen Politikfeldern auftreten. Die Ursache für Wandel dritter Ordnung sind Anomalien, durch die die herkömmliche Problemanalyse und entsprechende Strategien zur Problemlösung fundamental in Frage gestellt werden (ebd.: 280). Allerdings ist Halls Dreiteilung nicht ganz unproblematisch. Zunächst sind Veränderungen denkbar, in denen keine neuen Instrumente eingesetzt werden, bei der die Neujustierung der bestehenden Instrumente aber so stark ausfällt, dass man sehr wohl auch eine veränderte Zielpräferenz vermuten kann. Darüber hinaus ist die Ebene der Ziele schwer zu operationalisieren. In der besagten Studie von Peter Hall bestand die Änderung auf der Ebene der Politikziele im Wechsel von einer keynesianisch inspirierten Wirtschaftspolitik zum Monetarismus. Dadurch haben niedrige Arbeitslosigkeit und Geldwertstabilität in der Zielhierarchie die Plätze getauscht. Dieser Paradigmenwechsel bewegt sich jedoch ontologisch auf einer anderen Ebene als konkrete Politikmaßnahmen, wie die Veränderung der Geldmenge, und sollte deswegen nicht in die Typologisierung von Reformmaßnahmen einfließen. Vielmehr können solche Paradigmen möglicherweise erklären, warum manche Maßnahmen entsprechend radikal ausfallen. Aus diesen Gründen werden die Reformmaßnahmen hier in etwas anderer Art und Weise systematisiert, indem die Frage der den Reformen zu Grunde liegenden Paradigmen zunächst ausgeblendet wird. Es lässt sich also in einem ersten Schritt eine Justierung bestehender Instrumente von einer Veränderung der Systemstruktur unterscheiden. Auch Paul Pierson betont im Rahmen seiner Untersuchung der Sozialstaatsreformen unter Reagan und Thatcher, dass nicht nur die Höhe der Ausgaben relevant ist, sondern auch die Struktur der Leistungen berücksichtigt werden muss (Pierson 1994: 15). Dies lässt sich an einem einfachen Beispiel illustrieren: Der Rückbau von universalistischen Programmen wie dem „child credit“ in Großbritannien unter Thatcher wurde begleitet von einem Ausbau von bedürftigkeitsgeprüften Leistungen. Die Ausgabenhöhe hat sich dabei insgesamt kaum verändert, gleichwohl handelte es sich um eine wichtige sozialpolitische Reform. Programmveränderungen und Strukturveränderungen sind somit zwei Arten von sozialpolitischen Reformmaßnahmen (vgl. Tabelle 1).10 Programmveränderungen lassen die Grundstruktur der wohlfahrtsstaatlichen Strukturen intakt. Das bedeutet jedoch nicht, dass programmverändernde Reformen in ihren Auswirkungen notwendig hinter Strukturveränderungen zurückbleiben müssen. Zum Beispiel können Kürzungen der Höhe der Transferleistungen eine individuelle private Zusatzversicherung notwendig machen. Damit gäbe es zwar weiterhin eine staatliche Versicherung, der Charakter dieser Einrichtung hätte sich jedoch grundlegend gewandelt. Damit ist ein Hinweis auf ein weiteres zentrales Kriterium für Reformmaßnahmen gegeben, das insbesondere für Programmreformen relevant ist: das Ausmaß der Veränderung. 10
Bei dieser Vorgehensweise bleiben bedauerlicherweise jene Regelungen unberücksichtigt, die den Bezug der Leistungen von einem bestimmten Verhalten abhängig machen. Diese Verhaltensdimension ist seit den 1980er Jahren zunehmend Bestandteil insbesondere von Reformen der Arbeitslosenversicherung. Bislang gibt es jedoch kaum empirisch-vergleichende Studien hierzu. Eine Ausnahme sind Clasen & Clegg (2007).
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Reformfähigkeit als analytisches Konzept
Programmveränderungen (programmatic change)
Tabelle 1: Programm- und Strukturveränderungen im Wohlfahrtsstaat Ansatzpunkt der Maßnahme
Mögliche Ausprägungen
Veränderung des Leistungsniveaus
höhere/niedrigere Transferleistungen
Veränderung der Bezugsdauer
längere/kürzere Bezugsdauer
Veränderung der Zugangskriterien
längere/kürzere Anwartschaftszeiten längere/kürzere Karenzzeiten
Veränderung der Finanzierung
höhere/niedrigere Beiträge/Steuern
Veränderung der Leistungsart
einkommensbezogene Transferzahlungen Einheitssätze
Strukturveränderungen (structural change)
Dienstleistungen/Sachleistungen Veränderung der Zugangskriterien
Universalismus Bedürftigkeitsprüfung
Veränderung der Trägerschaft
staatliche Trägerschaft Privat Mischformen
Veränderung des Finanzierungssystems
Steuern Kopfpauschale lohnabhängige Beiträge risikoabhängige Beiträge
Quelle: Eigene Darstellung.
2.3.2 Die Reichweite von Programmreformen Bezüglich des Ausmaßes lassen sich zwei Dimensionen unterscheiden: der Umfang einer Maßnahme und deren Integration. Der Umfang beschreibt dabei die Veränderung einer gesonderten Regelung, während die Integration aufzeigt, wie viele Regelungen durch die Reform verändert werden. So hat die Kürzung der Arbeitslosenhilfe um 2% (vgl. Abbildung 5, Punkt a) einen geringeren Umfang als eine Kürzung um 25% (Punkt b). Wenn zu der Kürzung um 2% die Verringerung der Bezugsdauer um 6 Monate und die Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln hinzukommen, haben die Einzelmaßnahmen weiterhin einen geringen Umfang, die Reformschritte treten jedoch integriert auf (Punkt c). Die Dimension der Integration muss sich dabei nicht auf eine Einrichtung beschränken. Es können auch mehrere Maßnahmen in unterschiedlichen Bereichen koordiniert werden, oft ist das sogar notwendig. Viele Änderungen in der Arbeitslosen- oder Sozialhilfe oder im Rentensystem machen beispielsweise Änderungen im Steuersystem notwendig. Entscheidend für die Bewertung des Integrationsgrades von Maßnahmen ist dabei neben
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dem inhaltlichen der zeitliche Zusammenhang. Reformen, die mehrere Maßnahmen integrieren, können auch als Sequenz aufeinander folgender Schritte ablaufen. Allerdings sollten die Zeiträume zwischen den einzelnen Schritten so gering sein, dass keine Rückkopplungseffekte zu vermuten sind. Andernfalls wäre der erste Reformschritt der Grund für den folgenden, und man könnte nicht mehr von einer integrierten Reform sprechen, bei der beide Maßnahmen von vornherein geplant waren. Abbildung 5:
Zwei Dimensionen der Reichweite von Programmreformen
Integration
c
a
b Umfang
Quelle: Eigene Darstellung.
Nimmt man die beiden Dimensionen Integration und Umfang als Bewertungskriterien, ergeben sich vier idealtypische Ausprägungen von Reformmaßnahmen (vgl. Abbildung 6). Abbildung 6:
Ausmaß von Programmreformen Umfang
Integration
klein
groß
klein
Detailsteuerung
Isolierte Reform
groß
Integrierte Reform
Umfassende Reform
Quelle: Eigene Darstellung.
Integration und Umfang einer Reformmaßnahme sind problemlos auf Programmveränderungen anwendbar, wie das Beispiel der Arbeitslosenversicherung gezeigt hat. Bei Struktur-
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Reformfähigkeit als analytisches Konzept
reformen ist das Kriterium der Integration von Maßnahmen ebenfalls anwendbar, es ist allerdings davon auszugehen, dass die Veränderung eines Strukturmerkmals die Reform weiterer Strukturen notwendig macht. Schwieriger ist jedoch die Beurteilung des Ausmaßes. Während bei Programmveränderungen die Vergleichseinheit (z.B. Leistungshöhe, Leistungsdauer, Beitragshöhe) erhalten bleibt, besteht die Eigenart von Strukturveränderungen genau darin, dass sich diese Bezugspunkte verändern. Der Bezugspunkt kann nicht mehr strukturimmanent gefunden werden, sondern müsste ein externer sein, der sowohl auf die alte wie auch auf die neue Struktur anwendbar ist. Als Referenzpunkt kann z.B. die durch eine Umstellung von Bedürftigkeitsprüfung auf Universalismus hervorgerufene Veränderung des Personenkreises dienen, der leistungsberechtigt ist. Verändert sich dieser Personenkreis kaum, weil schon vor der Reform nahezu jeder die Zugangskriterien erfüllt hat, ist der Umfang dieser Reform gering. War jedoch zuvor der größte Teil der Bevölkerung von den Leistungen ausgenommen, hat die Umstellung auf ein universalistisches System einen großen Umfang. 2.3.3 Die Prozessdimension von Reformen Die Berücksichtigung der zeitlichen Dimension klang bereits bei der Beschreibung des Integrationsgrads von Reformmaßnahmen an. Allerdings kann die Berücksichtung der Zeit auch in Bezug auf den Umfang einer Reform ein wichtiges Kriterium sein. Detailsteuerungen können sich über Jahre zu einer Reform großer Tragweite entwickeln. Ein klassisches Beispiel hierfür sind veränderte Indexierungsregeln von Sozialleistungen. So betragen die jährlichen Unterschiede zwischen der Indexierung an Lohnsteigerung, Inflation oder einer Null-Anpassung normalerweise nur wenige Prozentpunkte. Stellt man jedoch von einer automatischen Anpassung der Sozialleistungen in Höhe der Inflation auf eine Nichtanpassung um, summieren sich die jährlich geringen Differenzen über mehrere Jahre zu einer beträchtlichen Veränderung (Pierson 1994: 14). In der Steuerpolitik ist dies als „kalte Progression“ bekannt: durch Beibehaltung der nominalen Höhe der Grundfreibeträge und der Einkommensstufen der Steuertarife rutschen auch bei Lohnsteigerungen, die lediglich einen Inflationsausgleich bedeuten (also konstante Realeinkommen), die Steuerzahler bei einem progressiv gestalteten Steuersystem nach und nach in immer höhere Steuersätze. Dennoch hat sich an der Grundstruktur des Steuersystems nichts verändert. Inkrementelle Veränderungen können somit unbemerkt große Wirkungen entfalten.11 Umgekehrt ist es ebenfalls denkbar, dass im Umfang große Reformen nur eine vergleichsweise geringe Wirkung entfalten, weil sie zeitliche befristet sind oder von der Nachfolgeregierung aufgehoben und ins Gegenteil verkehrt werden. Die Kontinuität der Richtung ist somit ein wichtiges Kriterium zur Beurteilung von Reformmaßnahmen unter einer Prozessperspektive. Wenn man eine Aussage über die Richtung einer Reform treffen will, stellt sich die Frage nach dem Bezugspunkt. Bei der vorhergehenden Diskussion der Reformmaßnahmen wurde für Programmreformen die Dichotomie von Ausbau und Abbau vorgeschlagen. Der Referenzpunkt für die Bewertung einer Reformmaßnahme war dabei der vorherige Status quo. Wenn man jedoch Reformsequen-
11
Diese Eigenschaft macht solche Reformschritte bei Regierungen relativ beliebt, die Rückbaumaßnahmen des Wohlfahrtsstaates durchsetzen wollen (Pierson 1994).
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zen in den Blick nehmen will, dann ist nicht der Vergleich zweier Zeitpunkte anzustreben, sondern das Verhältnis einzelner Reformmaßnahmen zueinander über die Zeit hinweg. Der Vergleichsmaßstab ist damit die Richtung einer Reformmaßnahme im Vergleich zur Richtung der jeweils vorhergehenden (oder nachfolgenden) Reformmaßnahme usw. Kriterium ist dabei die Kongruenz einer Maßnahme im Vergleich zur Vorgängermaßnahme. Geht eine Reform in die gleiche Richtung (auf einen Abbau folgt ein weiterer Abbau), ist die Reform kongruent; zeigt sie in die entgegengesetzte Richtung (auf Abbau folgt Ausbau), ist sie inkongruent. Unter einer solchen Prozessperspektive lassen sich auch Strukturreformen einordnen. Wenn eine Strukturreform die Rückkehr zu einem vorherigen Strukturmerkmal darstellt, ist die Reformsequenz inkongruent; führt die Reform zu einem noch nicht dagewesenen Status, handelt es sich um einen kongruenten Reformprozess. Ein zweites Kriterium für die Untersuchung eines Reformprozesses ist die Häufigkeit von Reformen. Folgen viele im Umfang beschränkte Programmreformen in kongruenter Weise aufeinander ab, so können die Auswirkungen unter Umständen größer sein als bei einer einzigen Reform größeren Umfangs, die zudem von einer inkongruenten Reform nach einiger Zeit rückgängig gemacht wird. Nimmt man diese beiden Kriterien – Richtung und Häufigkeit –, lassen sich wiederum vier Typen unterscheiden (Abbildung 7). Bei regelmäßigen Reformschritten in die gleiche Richtung handelt es sich um einen stetigen Reformprozess. Finden Reformen regelmäßig statt, drehen aber die jeweils vorhergehende Maßnahme zurück, handelt es sich um Revisionen oder Gegenreformen. Seltene, aber dennoch kongruente Reformen lassen sich als verstärkende Reformen bezeichnen. Die Grundrichtung des Reformprozesses wird beibehalten, es findet lediglich eine punktuelle Verstärkung statt. Finden hingegen über einen längeren Zeitraum nur sehr wenige Veränderungen statt und zeigt diese einzige Reform dann in eine neue Richtung, handelt es sich um eine Neuausrichtung. Abbildung 7:
Eigenschaften von Reformprozessen Richtung
Häufigkeit
kongruent
inkongruent
regelmäßig
stetige Reformen
Gegenreformen
vereinzelt
verstärkende Reform
Neuausrichtung
Quelle: Eigene Darstellung.
Bei der Untersuchung von Reformprozessen ist die Abgrenzung des Zeitraums entscheidend. Betrachtet man eine Legislaturperiode, werden in den meisten Politikbereichen nur relativ wenige Reformen aufzufinden sein. Gab es zudem in diesem Zeitraum keine Veränderung der Regierungskonstellation, wird man wahrscheinlich nur selten auf Gegenreformen treffen. Über einen Untersuchungszeitraum von 20 oder 30 Jahren, in denen in den meisten Demokratien unterschiedliche Regierungskonstellationen zu beobachten sind, sollten Gegenreformen häufiger auftreten. Wenn man also nach Mustern von Reformprozessen innerhalb von Ländern sucht und Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen unterschiedlichen demokratischen Systemen aufdecken will, dann sollten zumindest zwei unterschiedliche Regierungskonstellationen und mehrere Legislaturperioden in den Blick genommen werden.
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Reformfähigkeit als analytisches Konzept
2.3.4 Ergebnisse von Reformen Die vorherrschende Art und Weise, auf die Ergebnisse von Reformen des Wohlfahrtsstaates zu blicken, beteht darin, nach Ausbau oder Rückbau zu fragen. Da hier institutionelle Merkmale im Vordergrund stehen, sind die Konsequenzen von Reformen vor allem im Hinblick auf die Einrichtungen zu untersuchen, die Gegenstand der jeweiligen Reformen waren. Gerald Cohen hat in Bezug auf ökonomische Veränderungsprozesse drei Formen unterschieden (Cohen 1978: 85-87; vgl. auch Lock 1999: 34). Die drei unterschiedlichen Arten von policy change – strukturerhaltende Veränderungen, typerhaltende Veränderungen und Revolutionen – bezieht Cohen zwar auf das gesamte Gesellschaftssystem, sie lassen sich jedoch auch auf die zentralen Institutionen des Wohlfahrtsstaates übertragen. Bei strukturerhaltenden Veränderungen (structure-preserving changes) fallen uneffiziente Teile weg oder treten neue hinzu, um die Gesamtstruktur zu erhalten. Auf Wohlfahrtsstaatsreformen übertragen, wären die Erhöhung von Rentenbeiträgen oder die Kürzung der Rentenbezüge, um ein defizitäres umlagefinanziertes System zu erhalten, Beispiele für solche Reformen. Typerhaltende Veränderungen (type-preserving change) beschreiben stärkeren Wandel. Hier können neue Einrichtungen geschaffen oder bestehende abgeschafft werden, um das Gesamtsystem zu erhalten. Die zusätzliche Einführung einer privaten Rentensäule, um die Rente als Gesamtsystem zu erhalten, wäre ein Beispiel für diese Art der Veränderung. Die stärkste Form der Veränderung stellen schließlich Revolutionen dar, die auch als changes of social form bezeichnet werden. Hier wird ein gesamtes System durch ein anderes ersetzt. Übertragen auf Sozialstaatsreformen wäre der vollständige Rückzug des Staates aus dem Rentensystem ein Beispiel hierfür. Die Grundstruktur der Veränderungstypologien von Peter Hall und Gerald Cohen ist relativ ähnlich. Allerdings hebt Hall auf die Maßnahmen und Ziele der Reformen ab, Cohen hingegen bezieht sich auf Veränderungen der Funktionen des Gesamtsystems oder seiner Teilsysteme, die durch Reformen verursacht werden. Im einen Fall wird die Reichweite von Reformen in Bezug auf die Reformmaßnahmen untersucht, im anderen Fall sind es die Reformergebnisse, die die Klassifizierung vorgeben. Diese beiden Ebenen sind allerdings nicht monokausal miteinander verkoppelt. So können kleine Änderungen relativ große Auswirkungen zeitigen, wie das Beispiel der Indexierung von Sozialleistungen zeigte; und umgekehrt müssen große Umbaumaßnahmen nicht sofort signifikante Effekte nach sich ziehen. Für die Bewertung von Reformen ist es also wichtig, Maßnahme und Ergebnis zu trennen. Welche Kategorien sind angemessen, um die Ergebnisse von Reformen zu beschreiben? Die übliche Frage der Wohlfahrtsstaatsforschung lautet: Handelt es sich um einen Ausbau (expansion) oder Abbau (retrenchment)? Die Vergleichspunkte für die Beurteilung einer Reformmaßnahme sind der Status quo vor Inkrafttreten der Reform und die Situation nach der Reform. Fanden Programmveränderungen statt, lässt sich die Frage nach Ausoder Abbau einfach beantworten, weil die Grundstruktur nicht verändert wird. Ein höheres Leistungsniveau, schwächere Zugangskriterien und verlängerte Bezugsdauer bedeuten Ausbau, Reformmaßnahmen in der umgekehrten Richtung stellen einen Abbau dar. Diese Klassifizierung in Aus- oder Abbau ist bei Strukturreformen wesentlich problematischer. Veränderte Sozialstaatsstrukturen bedeuten in der Regel, dass einige Personengruppen von der Reform profitieren, während andere schlechter gestellt werden. Wenn sich gleichzeitig der Personenkreis, der zu den Leistungen Zugang hat, mit der Leistungshöhe
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durch die Strukturreform verändert, ist eine Klassifikation in Ab- oder Ausbau nicht ohne Weiteres möglich: Wie ist eine Ausdehnung des Kreises der Bezugsberechtigten bei gleichzeitiger Verringerung der individuellen Leistungshöhe zu bewerten? Oder die Umstellung von monetären Transfers zu Dienstleistungen? Offenkundig würde dies einen interpersonellen Nutzenvergleich erfordern. Interpersonelle Nutzenvergleiche sind jedoch problematisch.12 Sie erfordern normative Maßstäbe einer guten oder gerechten (Sozial-)Politik: Soll den Schlechtestgestellten geholfen werden? Soll die Gesamtwohlfahrt des Landes vermehrt werden? Sollen Einkommensunterschiede verringert werden? Soll das Beschäftigungsniveau steigen? Mit solchen Kriterien ließen sich Strukturreformen in Kategorien von Ausund Abbau einordnen. Es handelt sich bei diesen Kriterien in jedem Fall um externe Bewertungsmaßstäbe, die einer (normativen) Begründung bedürfen. Da die normative Debatte über einen gerechten Sozialstaat an dieser Stelle nicht geführt werden kann und soll, wird bei Strukturreformen nur neutral von einem Umbau gesprochen. Damit ist jedoch ein Hinweis auf eine Bewertungskategorie gegeben, die keiner normativen Prämissen bedarf. Ein immanentes Kriterium ist der Fortbestand der Einrichtung, die Gegenstand der Reform(en) war. Entweder wurde die Einrichtung durch die Veränderungen aufgelöst, oder die Maßnahmen haben zur Stärkung oder Reparatur gedient und die Kontinuität der Einrichtung gesichert. 2.3.5 Zusammenfassung Programm- und Strukturreformen sind die zentralen Unterscheidungskategorien von Reformmaßnahmen. Betrachtet man nicht nur einzelne Reformschritte sondern nimmt Reformsequenzen und damit die Prozessdimension in den Blick, lassen sich kongruente und inkongruente Reformmaßnahmen ebenso unterscheiden wie häufige und seltene Reformen. Als wesentlich problematischer hat sich die Konzeptionalisierung von Reformergebnissen herausgestellt. Will man keine externen Bewertungsmaßstäbe anlegen, bietet sich zunächst nur die Frage des Fortbestehens derjenigen Einrichtung an, die Gegenstand der Reformen war. Diese auf den ersten Blick womöglich enttäuschende Beschränkung hat jedoch in Verbindung mit unterschiedlichen Reformmaßnahmen möglicherweise einen größeren analytischen Nutzen als normative Kategorien wie Ausbau vs. Rückbau, Fortschritt vs. Rückschritt oder gute vs. schlechte Reformen. Wie lassen sich also Maßnahmen und Ergebnisse sinnvoll zusammenführen? Strukturreformen haben grundlegende und dauerhafte Veränderung der betreffenden Einrichtung zum Ziel. Die Umstellung von einkommensabhängigen Transfers auf einen pauschalen Satz, der Wechsel von Beitrags- zu Steuerfinanzierung oder die Privatisierung einer Sozialversicherung bedeuten in jedem Fall eine Veränderung der Funktionslogik. Solche Reformen sollten normalerweise nicht als vorübergehende Maßnahme konzipiert werden, weil der Implementationsaufwand deutlich größer ist als bei Programmreformen. Damit sind die Kosten bei Strukturreformen deutlich höher als bei Programmreformen, zudem sind solche Umstellungen in jedem Fall sichtbar und deshalb für Regierungen riskanter. Das Konzept der Pfadabhängigkeit trifft somit vor allem auf Strukturreformen zu. Handlungen, die mit hohen Anfangskosten verbunden sind und bei denen sich die Erträge 12
Vgl. Arrow (1977), Rawls (1993), Robbins (1932), Sen (1970: 271ff.). Für einen Überblick: Möller (1983, insb. § 13).
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erst relativ spät einstellen, werden normalerweise nur dann umgesetzt, wenn vermutet werden kann, dass diese Maßnahme schon sehr früh hinreichend Unterstützung findet. Zudem bieten die bestehenden Einrichtungen Anreize für Akteure, in die Ausbildung mit diesen Einrichtungen konformer Kompetenzen und Strategien zu investieren. Bei Strukturreformen ändern sich diese Einrichtungen, die „alten“ Kompetenzen und Fähigkeiten sind nicht mehr gefragt. Daraus ergibt sich im Normalfall eine Präferenz der meisten Akteure für den Status quo (North 1990; Pierson 2000; Rose 1990). Strukturreformen sollten also wesentlich seltener auftreten als Programmreformen. Finden jedoch Strukturreformen statt, werden alte Strukturen aufgelöst oder abgeschafft und durch neue ersetzt – die Kontinuität der wohlfahrtstaatlichen Einrichtung ist aufgehoben. Umgekehrt sind auch seltene Fälle denkbar, in denen sich das Umfeld so grundlegend ändert, dass eine Strukturreform notwendig erscheint, um den Fortbestand einer Einrichtung zu sichern. Strukturreformen zum Erhalt einer Einrichtung führen dennoch dazu, dass die Funktionsprinzipien einem Wandel unterliegen. Die alten Kernaufgaben werden weiterhin erfüllt, der „Produktionsprozess“ hat sich jedoch verändert. Bei Strukturreformen ist also danach zu fragen, ob die Reformen so weitreichend sind, dass veränderte Handlungsanreize von der Einrichtung ausgehen oder ob die Anreize nur von neuen Instrumenten ausgehen. Auch dauerhafte und kongruente Programmreformen können dazu führen, dass der Fortbestand einer Einrichtung gefährdet ist, wie das Indexierungsbeispiel gezeigt hat. Solche Fälle lassen sich als „graduelle Transformation“ bezeichnen. Programmreformen hingegen, die lediglich kleine Anpassungsprozesse zum Erhalt der Institution darstellen, reproduzieren die Einrichtung durch Adaption an leicht veränderte Rahmenbedingungen. Nachdem Programmreformen leichter durchsetzbar sind als Strukturreformen und Institutionen sich gerade durch eine relativ dauerhafte Existenz auszeichnen, sollten solche Anpassungsprozesse am häufigsten zu beobachten sein. Es handelt sich dabei um regelmäßige „Aktualisierungsvorgänge“. Abbildung 8:
Maßnahmen und Ergebnisse von Reformen Reformergebnis
Reformmaß- Programmreform nahme Strukturreform
Kontinuität der Einrichtung
Diskontinuität der Einrichtung
Reproduktion durch Aktualisierung
Graduelle Transformation
Fortbestand in neuer Gestalt
Auflösung und Ersetzung
Quelle: Modifizierte Darstellung von Streeck & Thelen (2005: 9).
Ausgehend von der in diesem und dem vorhergehenden Kapitel vorgenommenen Konzeptionalisierung der Ausgangs- und Endpunkte von Reformen soll nun der dazwischenliegende Entscheidungsprozess untersucht werden. Lassen sich mit dem handlungstheoretischen Kern des akteurszentrierten Institutionalismus Hypothesen im Hinblick auf unterschiedliche Reformmaßnahmen und Reformprozesse formulieren? Den Ausgangspunkt dieser Diskussion bilden die politischen Institutionen, die den Rahmen für das Handeln der Akteure darstellen.
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2.4 Reformen und politische Institutionen Der Begriff Institution wird nicht einheitlich verwendet. In der Politikwissenschaft tritt er im Wesentlichen in zwei Bedeutungen auf. In einem engeren Sinn beschreibt eine Institution sanktionierte Regeln, die das Handeln von Akteuren mit Kosten und Nutzen verbinden und dadurch Einfluss auf die Handlungsweise von diesen Akteuren hat: „Institutions are the rules of the game in a society or, more formally, are the humanly devised constraints that shape human interaction“ (North 1990: 3). In einem erweiterten Sinn werden Institutionen darüber hinaus als handelnde Entitäten beschrieben: „Political institutions not only respond to their environments but create those environments at the same time“ (March & Olsen 1989: 162). Der Grund für diesen weiteren Institutionenbegriff in der Politikwissenschaft liegt in einer Eigenart der meisten politischen Institutionen begründet. Sie sind sehr oft über abstrakte Normen- oder Regelsysteme hinaus gleichzeitig handelnde kollektive Akteure. Regierungen, Parteien, Parlamente, Verfassungsgerichte etc. sind gleichzeitig Institutionen und Organisationen (Göhler 1994).13 Im Folgenden wird an dem Institutionenbegriff im engeren Sinne festgehalten. Streng genommen sind es nie Institutionen, die handeln. Ebensowenig lassen sich Institutionen Präferenzen zuschreiben. Sie haben jedoch Einfluss auf die Präferenzen bzw. auf das Kosten-Nutzen-Kalkül von Akteuren. Akteure können zudem im Namen von Institutionen handeln, darüber hinaus verteilen Institutionen Gestaltungsmacht auf unterschiedliche Akteure, sie strukturieren das Verhältnis der relevanten Akteure zueinander, sie bieten unterschiedliche Spielräume und Anreize für Reformen. Handlungen gehen also von (kollektiven) Akteuren aus, deren Entscheidungen vom institutionellen Rahmen beeinflusst werden. Es bleibt somit die Frage, welche institutionellen Kontexte unterschieden werden sollten, die zu spezifischen Handlungsanreizen und Entscheidungskalkülen durch unterschiedliche Ver- bzw. Zuteilung von Machtressourcen von politischen Akteuren führen. Institutionalistische Theorien adressieren diese Frage nur selten direkt. Das liegt zum Teil daran, dass sie sich meistens in der Beschreibung von Strukturunterschieden (oft verbunden mit darauf aufbauenden Typologien) erschöpfen oder sehr weit reichende (implizite) Annahmen über die Wirkung der Institutionen machen, die dann in der Suche nach Korrelationen zwischen institutionellen Unterschieden und Politik-outcomes münden. Im ersten Fall steht die Wirkung der Institutionen auf politische Akteure nicht im Zentrum der Fragestellung, im zweiten Fall scheinen die Institutionen so übermächtig zu sein, dass Akteuren kein Raum für kreatives oder strategisches Handeln zugestanden wird.14 Im Rahmen eines Modells der Reformfähigkeit besteht die Aufgabe zunächst darin, jene Institutionen zu identifizieren, von denen ein Einfluss auf die Präferenzen, Konstellationen und Interaktionsformen der politischen und gesellschaftlichen Akteure ausgeht. Dazu werden im Folgenden die wichtigsten institutionalistischen Konzepte in Bezug auf die Anschlussfähigkeit an die Frage der Reformfähigkeit von Wohlfahrtsstaaten diskutiert. Dabei wird hier eine Beschränkung auf Konzepte zur Klassifizierung liberaler, rechtsstaatlicher Demokratien vorgenommen.15 13 14 15
Organisationen sind „[…] soziale Gebilde, in denen eine Mehrzahl von Menschen zu einem spezifischen Zweck bewusst zusammenwirkt […] unter dem Dach einer expliziten institutionellen Regel und ‚Verfassung’“ (Esser 2000: 238). Aus diesem Forschungsstrang ging konsequenterweise das Konzept der politischen Pfadabhängigkeit hervor (z.B. North 1990; Pierson 1994, 2000; Rose 1990; Mahoney 2000). Eine Kritik an dem geringen Freiheitsgrad der Akteure innerhalb dieser Konzepte findet sich bei Crouch (2003). Zur Unterscheidung von demokratischen und nicht-demokratischen Regimes siehe Merkel (1999).
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Eine Reihe von Konzepten und Typologien bilden die realen Strukturen politischer Gemeinwesen ab: Präsidentialismus vs. Parlamentarismus (Sartori 1994; Shugart & Carey 1992), Mehrheits- vs. Konsensdemokratien (Lijphart 1984; Lijphart 1999) sowie Vetospieler- oder Vetopunktansätze (Colomer 1996; Huber et al. 1993; Immergut 1992; Kaiser 1997; Schmidt 1996; Tsebelis 1995, 2002). Sie nehmen jeweils unterschiedliche Aspekte des politischen Systems in den Fokus und weisen zudem ein unterschiedliches Maß an Komplexitätsreduktion auf. Die Debatte über die Unterscheidung zwischen präsidentiellen und parlamentarischen Systemen hebt relativ stark auf rein formale institutionelle Differenzen zwischen politischen Systemen ab. Die anderen Konzepte berücksichtigen zum Teil auch unterschiedliche (empirische) Akteursstrukturen. Inwieweit weisen diese Konzepte nutzbare Ansatzpunkte für die Analyse und Erklärung der Reformfähigkeit auf? 2.4.1 Präsidentielle und parlamentarische Systeme Die auf Walter Bagehot (1978 [1867]) zurückgehenden Untersuchungen über unterschiedliche Regierungsformen heben vor allem auf das formale konstitutionelle Verhältnis der obersten Staatsorgane ab und konzentrieren sich zunächst auf das politische System im engen Sinne (Fraenkel 1964; Steffani 1979; Duverger 1980). Insbesondere das Verhältnis von Regierung und Parlament ist die differentia specifica zwischen den Demokratietypen Parlamentarismus und Präsidentialismus. In parlamentarischen Systemen Die Abhängigkeit ist die Regierung vom Parlament abhängig. In präsidentiellen Systemen kann der Staatschef nicht vom Parlament abgewählt werden. Das lässt jedoch für sich genommen noch keine Aussage über den tatsächlichen Gestaltungsspielraum und die Machtfülle der Regierung in den beiden Systemen zu. So ist es im Präsidentialismus entscheidend, ob Regierung und Parlamentsmehrheit eine „geschlossene Aktionseinheit“ (Steffani 1979: 59) bilden. Dies sei insbesondere für die Durchsetzung umfassender Reformen notwendig. Andernfalls „[…] bemüht sich die Regierung vielmehr für ihre Programmvorhaben im Parlament um zustimmende ad hoc-Mehrheiten (bzw. sie ist dazu genötigt) […]“ (ebd.). Der Fortbestand der Regierung ist aufgrund der Nichtabberufbarkeit bei gegensätzlichen Mehrheiten jedoch nicht grundsätzlich gefährdet. Die Situation der gegensätzlichen Mehrheiten in präsidentiellen Systemen, das so genannte „divided government“ im Gegensatz zum „unified government“, ist bis heute hinsichtlich seiner Auswirkungen auf die Entscheidungsfindung umstritten. Empirische Untersuchungen konnten die These vom legislativen Stillstand („gridlock“) im Falle von „divided government“ in präsidentiellen Systemen bislang nicht eindeutig bestätigen (Mayhew 1991). Um diesen uneinheitlichen Befund zu klären, wurden unterschiedliche Arten des „divided government“ untersucht. Die Anzahl der Parteien und die Parteidisziplin (Colomer 2005) oder der Ort der gegensätzlichen Mehrheit (in der ersten oder/und zweiten Kammer; vgl. Rogers 2005) wurden als zusätzliche Erklärungsvariablen eingeführt. Mit diesen Erklärungsfaktoren für Veränderungen des legislativen Status quo kommen jedoch Elemente zum Zuge, die nicht zu den definierenden Merkmalen von präsidentiellen Systemen zählen. Damit lässt sich unter Umständen die unterschiedliche Reformfähigkeit von Subtypen präsidentieller Systeme erklären, nicht jedoch ein genereller Unterschied zwischen präsidentiellen und parlamentarischen Systemen begründen. Die für die Frage der Reformfähigkeit begrenzte Nützlichkeit der Dichotomie Präsidentialismus-Parlamentarismus hängt nicht nur mit den von unterschiedlichen Subtypen
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abhängigen Befunden für präsidentielle Systeme zusammen. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch für die parlamentarischen Demokratien. In diesen hängt die Gestaltungsfähigkeit direkt mit der Stabilität der Regierung zusammen, die vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit abhängig ist. Die Handlungsfähigkeit in parlamentarischen Regierungssystemen ist somit stark davon beeinflusst, ob die Regierung von einer einzigen Partei oder einer Koalition mehrerer Parteien gebildet wird. Diese notwendige Differenzierung von Einparteien- vs. Koalitionsregierungen innerhalb der Gruppe der parlamentarischen Systeme hat weitreichende Konsequenzen. „The fact is that ‚parliamentarism’ does not denote a single entity. If the performances of parliamentary systems are as different as they are, this is because they relate to, and result from, very different kinds of executive-legislative linkage“ (Sartori 1994: 101). Das formale Kriterium der Verflechtung und Abhängigkeit von Regierung und Parlament kann unterschiedliche Formen annehmen, die jeweils eine eigene Funktionslogik haben.16 Als formale Entsprechung des „divided government“ in präsidentiellen Systemen wurden Minderheitenregierungen in parlamentarischen Demokratien interpretiert (Laver & Shepsle 1991: 253). Die Exekutive wird von einer einzigen Partei kontrolliert, allerdings verfügt diese Partei nicht gleichzeitig über eine Mehrheit in der Legislative und muss somit die Unterstützung anderer Parteien suchen. Koalitionsregierungen sind dementsprechend eine Abwandlung des „divided government“, bei der sich die Trennung der Macht nicht zwischen Exekutive und Legislative, sondern innerhalb der Exekutive durch unterschiedliche Kabinettportfolios offenbart. In beiden Regierungssystemen kann es somit einerseits Konstellationen geben, die ein relativ kohärentes Entscheidungszentrum aufweisen, wie es andererseits sowohl im Präsidentialismus wie Parlamentarismus Konstellationen gibt, die eher von uneinheitlichen oder gegensätzlichen Interessenlagen der relevanten Akteure geprägt sind. Gleichwohl wird in Untersuchungen die Präsidentialismus-ParlamentarismusDimension nicht selten binär kodiert, um Regressionsanalysen anzustellen. Der in der Studie von Crepaz (1998) festgestellte höhere Dekommodifizierungsgrad parlamentarischer Systeme wurde dann mit der größeren Kapazität dieses Demokratietyps zu Politikformulierung und –implementierung aufgrund der engen Verbindung von Legislative und Exekutive begründet (ebd.: 76). Dass eine solche Vorgehensweise der empirischen Komplexität nicht gerecht wird, haben qualitative Studien belegt. Die Variationen innerhalb der Gruppe von parlamentarischen und präsidentiellen Systemen veranlassten Weaver und Rockman stattdessen, eine zweite und dritte Gruppe von erklärenden Variablen zu berücksichtigen („second and third tier explanations“, Weaver & Rockman 1993a: 23ff.). Darunter finden sich das Wahlsystem, Bikameralismus, Föderalismus, aber auch die Cleavagestruktur der Gesellschaft und frühere Politikentscheidungen. Diese zusätzlichen Variablen sind keineswegs nachrangig: „Second-tier arrangements influence government capabilites at least as much as do the separation or fusion of executive and legislative power“ (Weaver & Rockman 1993b: 449). Der empirische Befund hinsichtlich der Rolle der beiden Regierungsformen zur Erklärung von Politik lautet deshalb: „Neither ‚parliamentarist’ nor ‚presidentialist’ arguments offer satisfactory explanations of capabilities“ (ebd.: 450). Die unterschiedlichen Formen der Interessenaggregation und Machtkonzentration lassen sich also nicht eindeutig entlang der Achse Parlamentarismus-Präsidentialismus veror16
Sartori (1994: 101ff.) unterscheidet „premiership systems“ (z.B. Großbritannien), „assembly governments“ (die Dritte und Vierte Republik Frankreichs) und „party-controlled parliamentarism“ genannte Mischsysteme (Schweden, Norwegen, Spanien ab 1982). Für eine andere Differenzierung parlamentarischer Systeme vgl. Siaroff (2003).
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ten, sondern liegen quer zu diesem Ordnungsschema (siehe auch Tsebelis 2002; Eaton 2000). Damit ist die Unterscheidung zwischen Präsidentialismus und Parlamentarismus für die hier in Frage stehenden Zusammenhänge nicht zielführend. Man wird für die Erklärung von Reformfähigkeit Akteure und Institutionen anders in den Blick nehmen müssen. Dies hat Arend Lijphart mit seiner Unterscheidung von Mehrheits- und Konsensdemokratien in einflussreicher Weise getan. 2.4.2 Mehrheits- und Konsensdemokratien Die Studien von Arend Lijphart (Lijphart 1984, 1999) gehören zu den bekanntesten Demokratie-Typologien der Gegenwart. Im Zentrum dieser Studien standen Fragen der Machtkonzentration, Entscheidungsfindung und Performanz unterschiedlicher demokratischer Regime. Die Ausgangsfrage lautete (Lijphart 1999: 1): „[W]ho will do the governing and to whose interests should the government be responsive when the people are in disagreement and have divergent preferences?“ Auf diese Frage gibt es Lijphart zufolge zwei Antworten: die Mehrheit der Bürger oder so viele Bürger wie möglich. Die zwei Idealtypen der Mehrheits- und Konsensdemokratie repräsentieren diese Antwortmöglichkeiten mit entsprechenden Institutionen und Verfahren. Die beiden Idealtypen werden anhand von zehn Strukturmerkmalen in zwei Dimensionen entwickelt (vgl. Tabelle 2).17 Die erste Dimension Lijpharts („executives-parties dimension“) versammelt fünf Merkmale der Exekutive, des Parteien- und Wahlsystems und der Interessengruppenstruktur. Die zweite Dimension („federal-unitary dimension“) beinhaltet fünf Unterscheidungskriterien zwischen föderalen Staaten und Einheitsstaaten, zwischen Staaten mit einflussreichen und weniger einflussreichen Verfassungsgerichten sowie zwischen Staaten mit und ohne unabhängige Zentralbank. Auf Grundlage der zehn Kriterien mit den entsprechenden Indikatoren wurden 36 Demokratien eingeordnet.18 Trotz großen Lobes ist die Studie nicht ohne Kritik geblieben (u.a. Armingeon 2002; Ganghof 2005; Kaiser et al. 2002; Schmidt 2000a; Taagepera 2003). Diese bezieht sich sowohl auf die Kriterien und Indikatoren der Typologie wie auch auf die Indikatoren der Performanzmessung und die Länderauswahl. Hinsichtlich der Kriterien zur Definition der beiden Demokratietypen lautet ein zentraler Kritikpunkt, dass Lijphart institutionelle Merkmale und Reaktionen der Akteure auf diese Strukturen in unzulässiger Weise vermische (Ganghof 2005). Während mit dem Wahlsystem (viertes Kriterium) ein institutionelles Merkmal beschrieben wird, legt die Auswahl der Indikatoren für die ersten beiden Kriterien nahe, dass dort das Ergebnis der Reaktion der Akteure auf die vom jeweiligen Wahl- und Parteiensystem hervorgebrachten Strukturen abgebildet wird. Noch problematischer wird dies dadurch, dass mit den Interessengruppen (das fünfte Kriterium) Akteure hinzukommen, die weder der Regierung noch dem Parteiensystem zuzuordnen sind (Roller 2005: 98). Mithin besteht allein die erste der beiden Dimensionen im Grunde aus drei Dimensionen, ohne dass erkennbar wäre, wie diese theoretisch und kausal miteinander verbunden sind. Auch bei der zweiten Dimension, 17 18
Die frühere Untersuchung (Lijphart 1984) fußt auf acht nur geringfügig anderen Kriterien. Die Werte der einzelnen Indikatoren wurden standardisiert (z-transformiert) und zu einem Durchschnittswert für jeweils die Exekutive-Parteien-Dimension und die Föderalismus-Unitarismus-Dimension zusammengeführt.
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durch die Unterschiede zwischen föderalen und unitarischen Ländern abgebildet werden sollen, werfen einzelne Indikatoren Fragen auf. Beispielsweise ist der Zusammenhang von Zentralbankunabhängigkeit mit Föderalismus nicht erkennbar. Dieses Problem ließe sich durch eine Umbenennung der zweiten Dimension entschärfen - immerhin besteht die Föderalismus-Unitarismus-Dimension im Gegensatz zur Exekutive-Parteien-Dimension vollständig aus institutionellen Elementen. Tabelle 2: Unterscheidungskriterien der Mehrheits- und Konsensdemokratie
„Föderalismus-Unitarismus-Dimension“
„Exekutive-Parteien-Dimension“
Mehrheitsdemokratie
Konsensdemokratie
Indikator
(1) Konzentration exekuti- (1) exekutive Machtteilung Mittelwert der Regierungsdauer ver Macht bei einer Parvon minimal winning-Regieruntei gen und Einparteienregierungen (2) Dominanz der Exekutive (2) Machtbalance und Gegegenüber dem Parlawaltenteilung von Exement und Machtfusion kutive und Parlament
Durchschnittliche Dauer von Kabinetten
(3) Zweiparteiensystem
(3) Mehrparteiensystem
Zahl der wichtigsten Parteien (Laakso-Taagepera-Indikator)
(4) Mehrheitswahlsystem
(4) Verhältniswahlsystem
Verhältnis von Stimmen- zu Sitzanteilen der größten Parteien (Gallagher-Index)
(5) Interessengruppenplura- (5) Interessengruppenkorpo- Korporatismus-Index (Siaroff lismus ratismus und Ergänzungen) (6) Unitarischer Staat mit (6) Föderaler Staat mit Ver- Föderalismus-DezentralisieVerwaltungszentralisatiwaltungsdezentralisation rungsskala von 1 bis 5 (Lijpharts on Einschätzung) (7) Einkammersystem
(7) Symmetrisches Zweikammersystem
Bikameralismusskala von 1 bis 4 (Lijpharts Einschätzung)
(8) Flexible Verfassung
(8) Rigide Verfassung
Mehrheitserfordnisse zur Verfassungsänderung auf einer Skala von 1 bis 4 (Lijpharts Einschätzung)
(9) kein judicial review
(9) judicial review
Möglichkeiten des judicial review auf einer Skala von 1 bis 4 (Lijpharts Einschätzung)
(10) regierungsabhängige Zentralbank
(10) autonome Zentralbank
Index der Zentralbankautonomie (Mittelwert aus Cukiermann/ Webb/Neyapti, Grilli/ Masciandaro/Tabellini und einem Indikator der Fluktuation der Notenbank-Gouverneure)
Quelle: Lijphart (1999, S. 10-47).
Neben der konzeptionellen und empirischen Arbeit an den Demokratietypen verfolgt Lijphart noch eine zweite Frage: Es soll geprüft werden, welcher Demokratietyp die besse-
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ren Politikergebnisse hervorbringt (Lijphart 1999: Kapitel 15 und 16). Diese Frage scheint anschlussfähig an die Frage der Reformtätigkeit von Demokratien zu sein. In mehreren Untersuchungen wurde der Zusammenhang dieser beiden Regierungsformen mit bestimmten politischen und ökonomischen Bilanzen analysiert. So wurde gezeigt, dass die Konsensdemokratien hinsichtlich der wirtschaftspolitischen Performanz, Demokratiequalität (im Sinne Robert Dahls) und der Frauen- und Familienpolitik bessere Ergebnisse zu Tage fördern (Lijphart 1984, 1999; Crepaz 2000, 2001; Crepaz & Birchfield 2000). Die hinter diesen Analysen stehenden Hypothesen sind jedoch nicht selbstevident. Offenkundig wird dies beim Zusammenhang von wirtschaftspolitischer Performanz und den Regierungsformen. Welcher Mechanismus verbindet das Wirtschaftswachstum eines Landes mit seiner Regierungsform? Zunächst stellt sich die Frage, wie Regierungen überhaupt einen unmittelbaren Einfluss auf das Wirtschaftswachstum ausüben können. Weil es hier um demokratisch verfasste kapitalistische Systeme und nicht um planwirtschaftlich organisierte Länder geht, fällt es schwer, einen direkten Einfluss zu behaupten. Gleichwohl gibt es eine Vielzahl von Rahmenbedingungen, denen unzweifelhaft ein Einfluss auf das Wirtschaftssystem zugeschrieben werden kann und die politisch beeinfluss- oder veränderbar sind: z.B. Steuerpolitik, Arbeitsmarktpolitik oder staatliche Investitionsprogramme. Hier ergeben sich jedoch weitere Probleme, denn in vielen Fällen haben diese Rahmenbedingungen mehrere Funktionen und Wirkungen. So kann man von Steuersenkungen positive ökonomische Impulse vermuten, gleichzeitig wird der Staat zunächst sinkende Einnahmen verzeichnen. Damit wird er andere Rahmenbedingungen, für die er finanzielle Mittel benötigt, nicht mehr im gleichen Maße zur Verfügung stellen können (z.B. im Gesundheitssystem oder im Bildungswesen). Der Saldo solcher Maßnahmen ist nur schwer zu kalkulieren, bei einer Perspektive von mehreren Jahren können die Wechselwirkungen solcher Maßnahmen zwangsläufig nur noch vermutet werden. Damit wird die Entscheidung zwischen Steuererleichterungen und Investitionen in das Gesundheitssystem zu einer Frage von Präferenzen. Einer Regierungsform Präferenzen zu unterstellen, erscheint jedoch unsinnig, vielmehr sollten es die relevanten Akteure sein, deren Präferenzen zu untersuchen wären. Diese Frage nach dem Einfluss unterschiedlicher Parteien bzw. Parteifamilien bei (wirtschaftspolitischen) Zielkonflikten wurde in einer Reihen von Studien untersucht (z.B. Hibbs 1977; Boix 1998; Garrett 1998), damit ist aber noch keine Begründung für den Einfluss der Regierungsformen auf die wirtschaftspolitische Performanz gefunden. Wieso also makroökonomische Vergleiche zwischen den beiden Demokratietypen? Lijphart selbst begründet seinen wirtschaftspolitischen Performanzvergleich über zwei (nur lose miteinander verbundene) Hypothesen. Die erste nimmt eine Ende des 19. Jahrhunderts formulierte These des Politikwissenschaftlers A. Lawrence Lowell auf und lautet: Die Konzentration politischer Macht in einer Hand fördert einheitliches, bestimmtes Handeln und damit kohärente Politik und schnelle Entscheidungen (Lijphart 1999: 259). Dieser theoretische Vorteil kehrt sich jedoch Lijphart zufolge in sein Gegenteil um. Denn die ideologisch kohärente Politik einer Regierung wird durch die regelmäßigen Regierungswechsel konterkariert. Die Regierungswechsel führen zu häufigen und abrupten Kurswechseln in der Politik. Gerade Wirtschaftspolitik brauche aber stetige, und nicht starke Eingriffe des Staates, so die zweite Annahme. Hierfür seien Konsensdemokratien besser geeignet. Denn Politik, die auf einem breiten Konsens aufbaut, sei erfolgreicher umzusetzen und stabiler in der Richtung. Dies sind die Gründe, die Lijphart zu der Arbeitshypothese bringen: „[…] consensus democracy produces better results – but without the expectation that the differ-
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ences will be very strong and significant”(ebd.: 261). Damit setzt Lijphart jedoch voraus, dass die in der Konsensdemokratie notwendigen Verhandlungen auch erfolgreich sind. Die Notwendigkeit von Verhandlungen alleine sagt jedoch nichts über die Erfolgschancen (siehe auch Roller 2005: 99). Schließlich sind auch Nicht-Einigungen denkbar und das Ergebnis wäre Dissens. An die Stelle konsistenter und stetiger Politik träten Reformblockaden und politischer Stillstand. Ebenso gilt umgekehrt, dass in Mehrheitsdemokratien häufige Richtungswechsel zwar (leichter) möglich sind, aber die Existenz dieser Möglichkeit nichts über die tatsächliche Umsetzung regelmäßiger Richtungswechsel aussagt – zumal wenn sie offenkundige Nachteile nach sich ziehen sollten. Auf den ersten Blick konsistenter ist der Befund der Lijphart-Studie von 1999 hinsichtlich des Effekts der Föderal-Unitarischen-Dimension auf die Inflation. Konsensdemokratien weisen signifikant niedrigere Inflationsraten auf (Lijphart 1999: 272f.). Weil eine unabhängige Zentralbank jedoch definierendes Merkmal des Konsensmodells in der zweiten Dimension ist, ist dieses Ergebnis weder erstaunlich noch neu: die preisstabilisierende Wirkung unabhängiger Zentralbanken wurde bereits mehrfach nachgewiesen (u.a. Alesina & Summers 1993; Busch 1995; Rogoff 1985). Allerdings bleibt der mögliche Einfluss der übrigen Kriterien der Föderal-Unitarischen-Dimension auf die Preisstabilität wiederum unklar (siehe auch Schmidt 2000a: 347). Ebenfalls problematisch ist die von Lijphart untersuchte Frage der „Qualität der Demokratie“ (Lijphart 1999: 270ff.). Hier verblüfft vor allem die Wahl der Indikatoren zur Messung der demokratischen Qualität: Unruhen und politische Morde. Beides können zwar Indikatoren für die Qualität der Demokratie sein, allerdings reagieren sie erst bei relativ großen Krisen. Für einen Vergleich zwischen etablierten Demokratien ohne grundlegende Demokratiedefizite eignen sie sich hingegen kaum (Kaiser et al. 2002: 316). Vernachlässigt man jedoch das Indikatorenproblem und versteht stattdessen die Repräsentation der Interessen der Bürger (oder Inklusion der Präferenzen) als einen Kernindikator für die Qualität einer Demokratie, ergibt sich eine Verbindung zu den beiden Regierungsformen Lijpharts. Denn Konsensdemokratien bieten aufgrund des Verhältniswahlrechts Minderheiten eine größere Chance, ihre Interessen im Parlament zuvertreten, als Mehrheitsdemokratien mit Mehrheitswahlrecht. Weil zudem Koalitionsregierungen in Konsensdemokratien den empirischen Normalfall darstellen, kann man auch von einer breiteren Interessenlage innerhalb der Regierung ausgehen. Das bedeutet nicht zwangsläufig auch eine kongruentere Abbildung der Interessen der Bevölkerung. Denn bei einer homogenen Bevölkerung könnte eine Catch-all-Partei die Interessen adäquater repräsentieren als dies bei einer Koalition aus mehreren kleineren Parteien der Fall wäre, wo Partikularinteressen ein unverhältnismäßig starkes Gewicht in der Politikformulierung einnehmen können. Zumindest tendieren Koalitionsregierungen in Verhältniswahlsystemen aber stärker zu Ausgleichs- und Kompromisslösungen. Auf die Frage nach der Qualität der Demokratie im oben genannten Sinn bezogen, lässt sich somit nur eine Hypothese vor dem Hintergrund der Interessenstruktur der Bevölkerung rechtfertigen. Homogene Interessenstrukturen sollten ceteris paribus in Mehrheitssystemen adäquat vertreten werden, bei heterogenen Interessenstrukturen erfüllen Verhältniswahlsysteme diese Aufgabe besser (Lipset & Rokkan 1967; Sartori 1994). Die Performanzvergleiche in Lijpharts Untersuchung sind mit etlichen Problemen belastet. Die Ausgangsfrage Lijpharts hingegen – wer entscheidet bei Dissens: die Mehrheit oder so viele wie möglich? – bietet dennoch Ansatzpunkte für die Untersuchung der Reformfähigkeit von Demokratien. Reformen kennen normalerweise Gewinner und Verlierer. Die
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Verlierer werden die Reform zu verhindern suchen, es herrscht Dissens. Welche Konsequenzen haben die unterschiedlichen Demokratietypen durch ihren spezifischen Umgang mit abweichenden Positionen für Reformen? Manfred G. Schmidt (2000a) hat zu dieser Frage eine weitreichende Hypothese aufgestellt: „Die Mehrheitsdemokratien sind Staaten, in denen die politische Macht der Mehrheit in der Legislative und der Exekutive besonders hoch konzentriert und nur lose gezügelt wird. In solchen Staaten kann ein Machtwechsel zwischen Regierung und Opposition besonders große Richtungswechsel in der Staatstätigkeit herbeiführen. Hier haben die Mehrheiten nämlich wenige Gegenkräfte, Kontrollinstanzen, ‚Mitregenten’ oder ‚Nebenregierungen’ gegen sich.“ Folglich ist ihr Handlungsspielraum in institutioneller Hinsicht groß. Umgekehrt wird behauptet: „Viel geringer ist meist der Spielraum für radikale Kurswechsel in einer dezentralisierten Konsensusdemokratie als in der zentralisierten Mehrheitsdemokratie. Dort ist die politische Macht nicht konzentriert, sondern aufgeteilt und somit gezähmt oder zumindest gezügelt. Unter diesen Bedingungen führen selbst größere Regierungswechsel häufig keine grundlegenden Richtungswechsel der Staatstätigkeit herbei, es sei denn, offene oder verdeckte Große Koalitionen einigen sich auf Planung und Durchführung einer Politikwende“ (Schmidt 2000a: 348f.). Auch Gerhard Lehmbruch spricht den größeren Spielraum für Kurswechsel in Konkurrenzdemokratien an, kommt allerdings zu einer anderen Einschätzung bezüglich der Konsequenzen: „Es spricht vieles dafür, dass sich die Konkurrenzdemokratie durch einen Vorrang der Kurzfristperspektive auszeichnet und deshalb diejenigen Politikoptionen bevorzugt, die auf nahe Sicht Ertrag für den Machtgewinn und die Machterhaltung versprechen, während sie langfristig erwartbare Folgewirkungen systematisch ausblendet oder unterbewertet“ (Lehmbruch 2000: 23). Die beiden Demokratieformen Lijpharts wurden also sowohl von ihm selbst wie auch von anderen benutzt, um implizite oder explizite Rückschlüsse auf die Reformtätigkeit von Demokratien zu ziehen. Allerdings bleibt der kausale Mechanismus oft im Unklaren. Empirische Nachweise kommen dann über den Status von bloßen Korrelationen nicht hinaus. Institutionelle Merkmale und Akteurshandeln werden zudem oft identisch behandelt. Zudem ist nicht bei allen Elementen der beiden Dimensionen der Grund für die Berücksichtigung zu erkennen. Die Unterscheidung von Mehrheits- und Konsensdemokratien ist insgesamt näher an der Frage der Reformtätigkeit angesiedelt als die PräsidentialismusParlamentarismus-Unterscheidung. Eine einfache Übernahme des Konzeptes ist aufgrund der genannten Defizite dennoch nicht möglich. Welche Ansatzpunkte bietet also die dritte Gruppe von institutionalistischen Konzepten, die Gruppe der Vetopunkt- oder Vetospieleransätze? 2.4.3 Vetopunkte und Vetospieler Die Konzepte von Präsidentialismus-Parlamentarismus und MehrheitsdemokratieKonsensdemokratie zielen darauf ab, bestimmte Anordnungen und Kombinationen von institutionellen Merkmalen zu identifizieren, die empirisch häufig zu beobachten sind und theoretische Interdependenzen aufweisen. Darüber hinaus gibt es eine Reihe von Ansätzen, die nicht auf eine Beschreibung institutioneller (Ideal-)Typen abzielen. Institutionen werden hauptsächlich daraufhin geprüft, ob sie zusätzliche Akteure in die politische Entscheidungsfindung einbinden: „We developed a measure of the degree to which a constitution provides for entry points for minority interest groups to block social legislation“ (Huber et
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al. 1993: 727). Diese Einfallstore für zusätzliche Akteure werden als Vetopunkte bzw. die Akteure als Vetospieler bezeichnet. In der Regel werden additive Indizes gebildet, aus denen man ablesen kann, ob ein politisches System viele oder wenige Vetopunkte aufweist. Die spezifische Kombination einzelner Institutionen wird dabei normalerweise nicht berücksichtigt. Es gibt lediglich politische Systeme mit vielen Vetospielern bzw. -punkten und solche mit wenigen. Bei der Auswahl der Vetopunkte und Institutionen unterscheiden sich die wichtigsten Indizes (Colomer 1996; Huber et al. 1993; Schmidt 1996) nur geringfügig. So vernachlässigt Manfred G. Schmidt im Gegensatz zu den beiden anderen Modellen den Präsidentialismus, berücksichtigt dafür jedoch als einziger die konstitutionelle Rigidität, die Unabhängigkeit der Zentralbank und die Frage der EU-Mitgliedschaft. Evelyn Huber, Charles Ragin und John D. Stephens fragen als einzige nach der Ausgestaltung des Wahlrechts. Josep M. Colomer berücksichtigt stattdessen die effektive Anzahl der Parlamentsparteien, blendet dafür jedoch im Unterschied zu den anderen beiden Indizes Referenden aus (siehe unten: Tabelle 3). Referenden und die EU-Mitgliedschaft sind darüber hinaus zwei institutionelle Merkmale, die nicht unter Lijpharts zehn Indikatoren zu finden sind. Allerdings werden die Referenden im Rahmen der Rigidität der Verfassungsänderung diskutiert (Lijphart 1999: 230f.). Für diese Behandlung des Referendums scheint zunächst ein empirisches Argument zu sprechen. Viele Verfassungen, die die Institution eines Referendums kennen, begrenzen die Anwendung auf Verfassungsänderungen. Verfassungen, die Volksentscheide über „einfache Gesetze“ zulassen, sind hingegen seltener (Butler & Ranney 1994). Doch auch die Möglichkeit, normale Gesetzesvorschläge dem Volk zur Abstimmung vorzulegen, sagt noch nichts über die Relevanz für die Frage der Reformfähigkeit. Um positive oder negative Auswirkungen auf die Veränderung des legislativen Status quo zu haben, müssen Akteure ein Referendum veranlassen können, die im normalen legislativen Prozess keine Gesetze verabschieden oder verhindern können: parlamentarische Minderheiten und die Bevölkerung bzw. Teile der Bevölkerung. Diese Möglichkeit ist in Europa nur in drei Staaten gegeben: in der Schweiz, Italien und Dänemark.19 In den meisten Ländern ist eine Parlamentsmehrheit notwendig, um ein Referendum durchzuführen. In diesen Fällen sollte das Referendum keine zusätzliche Reformhürde für legislative Veränderungen darstellen: eine Parlamentsmehrheit kann auch ohne Referendum das Zustandekommen eines Gesetzes verhindern. Problematisch ist auch die Einbeziehung der EU-Mitgliedschaft. Denn die Begrenzung nationaler Handlungsfähigkeit durch die Europäische Union ist politikfeldspezifisch. Die Sozialpolitik im engen Sinne obliegt bis heute voll und ganz der Gestaltungshoheit der Mitgliedsstaaten. Zwar hat die EU Kompetenzen bei arbeitsschutzrechtlichen Bestimmungen und in der Gleichstellungspolitik. Insgesamt kann man jedoch festhalten: „Das Gros der Sozialpolitik wird nach wie vor in den EU-Mitgliedsstaaten weitgehend autonom entschieden und aus nationalstaatlichen Quellen finanziert“ (Schmidt 2005: 132). Allerdings wäre ein mittelbarer Einfluss auf die Sozialpolitik durch die Maastricht-Kriterien denkbar. Auch durch wirtschaftspolitische Maßnahmen der EU wie die Dienstleistungsrichtlinie können indirekt sozialpolitische Strukturen von Mitgliedsländern unter Veränderungsdruck geraten. Es lässt sich im Bereich der Sozialpolitik der 1980er und 1990er Jahre jedoch kein direkter bremsender oder fördernder Impetus auf die Reformtätigkeit von Regierungen
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Stand März 2007. Recherche auf Grundlage der Daten des Research Centre on Direct Democracy (http://c2d.unige.ch).
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konstatieren20. Neben Unterschieden hinsichtlich der Berücksichtigung einzelner Institutionen verfahren die drei genannten Modelle jedoch identisch. Es wird ein additiver Index gebildet, der unabhängig von der jeweiligen Akteurskonstellation ist. George Tsebelis’ (1995, 2002) Vetospieler-Konzept hat zwar einen ähnlichen Ursprungsgedanken, allerdings nimmt er eine Differenzierung zwischen institutionellen und parteipolitischen Vetospielern vor und ergänzt das Modell um eine „Absorptionsregel“. Vetospieler sind individuelle oder kollektive Akteure, deren Zustimmung für eine Veränderung des legislativen Status quo notwendig ist (Tsebelis 2002: 19). Die „notwendige Zustimmung“ ist in einem sehr formalen Sinne zu verstehen, denn es sind ausschließlich Verfassungen, die einer Institution den Status eines Vetospielers zuschreiben (ebd.). Die Hauptaussage lautet zunächst: Je mehr Vetospieler, desto höher die Policy-Stabilität. Bei den demokratischen Regierungssystemen der Gegenwart sind es zunächst drei Institutionen, die den Status eines institutionellen Vetospielers haben können: das Parlament, ein Präsident und eine zweite Kammer. Ob diese Institutionen tatsächlich als Vetospieler gezählt werden, hängt jedoch von der ideologischen Konstellation ab. Wenn beispielsweise die Mehrheitsverhältnisse in der zweiten Kammer mit denen der ersten identisch sind, ist die zweite Kammer kein institutioneller Vetospieler – sie wird von der ersten Kammer absorbiert (Tsebelis 2002: 80). Diese Absorptionsregel wird auch in präsidentiellen Systemen bei parteipolitisch identischer Färbung von Regierung und Parlamentsmehrheit angewendet. Tsebelis benutzt sie ebenfalls dazu, Verfassungsgerichte als mögliche Vetospieler auszuschließen: „While constitutional judges are veto players, most of the time they are absorbed“ (Tsebelis 2002: 227).21 Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und andere Organisationen stellen hingegen lediglich Hintergrundrauschen („random noise“) im Vetospielerkonzept dar (ebd.: 81). Dies ist aus einer rein formalen Perspektive zwar zu rechtfertigen, faktisch kann man in einigen Ländern und Politikfeldern jedoch insbesondere Gewerkschaften die Rolle von Vetospielern zuschreiben (ausführlicher dazu: Bonoli 2001). Die Berücksichtigung von ideologischen Positionen führt dazu, eine Institution nicht an sich als Vetospieler zu interpretieren, sondern die Akteure innerhalb der Institutionen in den Blick zu nehmen. Wenn die Institutionen keine kohärente Handlungseinheit darstellen, sondern – wie in Parlamenten – unterschiedliche (parteipolitische) Positionen vorzufinden sind, bilden abhängig vom Abstimmungsmodus (einfache oder qualifizierte Mehrheit, Einstimmigkeit) die zur Veränderung des Status quo zustimmungspflichtigen (kollektiven oder individuellen) Akteure die Vetospieler. Eine Parlamentsmehrheit ist in parlamentarischen Systemen normalerweise mit der Regierungsmehrheit identisch. Somit entscheidet hier die Zahl der an der Regierung beteiligten Parteien über die Zahl der parteipolitischen Vetospieler, die das Parlament als institutioneller Vetospieler hervorbringt. Ist es eine Ein-ParteienRegierung, gibt es nur einen Vetospieler. Bei einer Zwei-Parteien-Koalition sind es zwei Vetospieler (Tsebelis 2002: 79). Ob bei einer Drei-Parteien-Koalition drei Vetospieler existieren, hängt wiederum von der ideologischen Anordnung der drei Parteien ab. Wenn eine Partei eine Position „zwischen“ den beiden anderen Koalitionspartnern einnimmt, so wird sie absorbiert und ist nicht als Vetospieler zu zählen. Zumindest „der Intuition widerspre20
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Sozialpolitik (und auch nicht alle Bereiche der Sozialpolitik) ist in dieser Hinsicht eine Ausnahme. In den meisten Bereichen der Staatstätigkeit konnte für die 1980er und 1990er Jahre ein Konvergenztrend der OECD-Staaten nachgewiesen werden (Höpner et al. 2009). Diese Zunahme der Ähnlichkeit der Staaten war innerhalb der EU-Mitgliedsländer besonders stark ausgeprägt. Die sozialpolitischen Bereiche waren jedoch von diesem Trend deutlich weniger betroffen oder sogar ausgenommen (ebd.). Für eine Kritik an dieser Sichtweise vgl. Kneip (2008).
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chend“ (Jochem 2003: 8) ist jedoch die Bewertung von Minderheitsregierungen. Denn für eine Mehrheit im Parlament ist die Zustimmung einer oder mehrerer weiterer Parteien notwendig. Tsebelis zählt die Parteien, deren Zustimmung notwendig ist, dennoch nicht als Vetospieler. Der Grund hierfür ist die postulierte zentrale Position im politischen Raum, den die Partei der Minderheitsregierung innehat. Dadurch hat sie die Agendasetzermacht und kann eine Veränderung des Status quo durchsetzen, indem sie die Reform so ausgestaltet, dass sowohl die eigenen Präferenzen erfüllt werden wie auch die Präferenzen einer der Parteien, deren Zustimmung notwendig ist (Tsebelis 2002: 97-99). Doch auch in diesem Fall sind Verhandlungskosten zu erwarten, und möglicherweise sind trotz ähnlicher Präferenzen bezüglich der in Frage stehenden Reform strategische Erwägungen der mehrheitsbeschaffenden Partei vorhanden, die eine Zustimmung nicht ohne weitere Zugeständnisse möglich macht (Jochem 2003: 8). Tsebelis’ Vetospieler-Index ist wie die zuvor genannten Institutionenindizes ebenfalls ein additiver Index. Dadurch unterstellt er zweiten Kammern mit abweichenden Mehrheiten gegenüber dem Parlament die gleiche Wirkung wie einem Koalitionspartner (siehe auch Strøm 2000), d.h. er gewichtet sie gleich. Dabei werden Institutionen in der Analyse weitgehend durch Akteure substituiert. Damit sind letztlich interne Strukturen der Akteure (Kohäsion), die ideologische Distanz zwischen ihnen und die Frage des Agendasetzers die erklärenden Variablen. In welchem institutionellen Umfeld die Akteure handeln, spielt keine Rolle mehr. Institutionen haben neben der Konstitutionalisierung von Vetoakteuren keine weitere Bedeutung in diesem Konzept.22 Ellen M. Immergut (1992) berücksichtigt mit dem terminologisch eng verwandten Konzept der Vetopunkte ebenfalls Institutionen und Akteure. Es wurde zur Erklärung unterschiedlicher Pfade in der Gesundheitspolitik in Frankreich, der Schweiz und Schweden entwickelt. Institutionen bieten auch in diesem Konzept die Eingangstore für Akteure und ihre Interessen in die politische Arena: „In sum, we could say that we do not have veto groups within societies, but rather veto points within political systems“ (Immergut 1992: 8; Hervorhebung im Original). Vetopunkte beschreiben zunächst institutionelle Strukturen. Unterschiedliche Akteure können diese Vetopunkte nutzen, um ihre Interessen in den politischen Prozess einzubringen und Gesetzesvorhaben zu verhindern, abzuändern oder voranzutreiben. Die Institutionen haben somit eine ähnliche Selektionswirkung wie im Vetospielerkonzept, sie wirken aber auch darüber hinaus. Diese Wirkung ist zeit- und kontextabhängig: Die unterschiedliche Kombination von Institutionen findet ebenso Berücksichtigung wie Konventionen und Interpretationen, die sich um die politischen Institutionen herum entwickelt haben (Immergut 1992: 232). Auch innerhalb der Akteure werden vielfältige Differenzierungen vorgenommen: Parteien, Gewerkschaften und Berufsgruppen erklären in diesem Konzept den Verlauf politischer Entscheidungen. Denn die Vetopunkte beschreiben lediglich institutionelle Gelegenheitsstrukturen. Ob und von welchen Akteuren sie zu welchem Zweck genutzt werden, ist damit nicht gesagt. Der Abstraktionsgrad des Konzeptes ist jedoch vergleichsweise gering, nicht zuletzt auch deshalb, weil es für drei Fallstudien entwickelt wurde. So wird die Frage nach den relevanten Institutionen nicht systematisch beantwortet, 22
Einschränkend muss gesagt werden, dass Tsebelis Kohäsion und Agendasetzermacht von Vetospielern mit unterschiedlichen institutionellen Strukturen erklärt: z.B. mit unterschiedlichen Wahlsystemen und der Unterscheidung Präsidentialismus-Parlamentarismus. Wenn man all diese Strukturen jedoch zur Beschreibung der Akteure berücksichtigt, dann ist von der behaupteten Sparsamkeit des Modells nichts mehr vorhanden. Durch die Hintertür haben sich alle institutionellen Unterschiede wieder versammelt – nur ohne Systematik. Sie dienen vielmehr als Ad-hoc Erklärung bestimmter Präferenzen und Eigenschaften der Vetospieler.
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sondern auf die untersuchten Länder und die Gesundheitspolitik beschränkt: „There is not an invariant correlation between a given set of political institutions and a specific set of health policies“ (Immergut 1992: 231). Die Frage, welche Institutionen warum Berücksichtigung finden sollten, lässt sich diesem Konzept zufolge nur fallspezifisch beantworten. 2.4.4 Institutionen und ihr Einfluss auf Reformen Die Diskussion der drei institutionalistischen Theorieschulen zeigte, dass diese hinsichtlich der Eignung zur Erklärung von Reformmustern deutlich variieren. Am wenigsten brauchbar für diesen Zweck sind die Präsidentialismus-Parlamentarismuskonzepte – zumindest für Wohlfahrtsstaatsreformen westlicher Demokratien. Die Vetospielerkonzepte widersprechen aufgrund der additiven Indizes dem hier verfolgten Erklärungskonzept, weisen jedoch hinsichtlich des grundsätzlichen Blicks auf Institutionen deutliche Parallelen zum akteursspezifischen Institutionalismus auf. Ähnliches gilt für Lijpharts Mehrheits- und Konsensdemokratien. Auch wenn die Erklärung von Reformmustern nicht der Anlass seiner Studien war, wurde sein Konzept für Hypothesen zu Reformpfaden in Anspruch genommen (Schmidt 2000a: 348f; Lehmbruch 2000). Dieter Fuchs subsumiert im Rahmen seiner Studie über Präsidentialismus- und Vetospieler-Ansätze Lijpharts Typologie unter die Vetospieler-Ansätze (Fuchs 2000: 29). Ein Blick auf die Selektionsmerkmale zeigt jedoch schnell, dass sich die Studie von Lijphart deutlich von den übrigen Vetospieler-Ansätzen unterscheidet (vgl. Tabelle 3). Dies liegt vor allem an der Akteursstruktur, die im Gegensatz zu den anderen Indizes von Lijphart in größerem Umfang zur Typenbildung herangezogen wird. Die Inklusion von Akteursstrukturen und verhalten in institutionalistische Erklärungsansätze kann durchaus als „fruchtbare Innovation“ im Vergleich zum klassischen Institutionalismus begrüßt werden (Kaiser 1997: 428). Allerdings ist die analytische Vermischung von Institutionen und Akteuren in additiven Indizes dann problematisch, wenn man auf der Suche nach Mechanismen oder Gesetzmäßigkeiten zur Erklärung anderer empirischer Phänomene (i.S. von Politik-output oder -outcome) ist. Denn in dem Fall würde man implizit Akteuren bzw. Akteursverhalten dieselbe Konstanz wie einer Institution unterstellen. Formale Strukturen und kontingentes Verhalten bewegten sich dann auf einer ontologischen Ebene – was nur zu rechtfertigen wäre, wenn man das Verhalten von Individuen und kollektiven Akteuren als vollständig deterministisch begreift. Eine Alternative zu dieser Annahme bestünde darin, additive Indizes nur für einzelne Zeitpunkte zu konstruieren. Dann wären Akteursverhalten und Akteurskonstellationen keine Konstanten, sondern situationsspezifische Ausprägungen. Dies entspricht George Tsebelis‘ Vorgehensweise, der die Existenz eines Vetospielers von der jeweiligen ideologischen Ausrichtung abhängig macht (vgl. das Kapitel zu Vetospielern). Doch auch bei dieser Alternative lässt sich der Einfluss von Institutionen nicht getrennt vom Verhalten der Akteure untersuchen. Wenn es um eine institutionalistische Erklärung geht, und nicht um eine Theorie über Institutionen, spricht vieles dafür, Institutionen und Akteure zunächst analytisch zu trennen.23 Die Tabelle 3 gibt einen Überblick, welche Institutionen die einzelnen Konzepte berücksichtigen und inwieweit sie Akteursverhalten oder Akteurskonstellationen beinhalten.
23
Zur Abgrenzung des Institutionalismus als Methode von Theorien über Institutionen siehe auch Diermeier & Krehbiel 2003.
Reformfähigkeit als analytisches Konzept Tabelle 3:
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Elemente institutioneller Indizes Lijphart Huber/Ragin/ Tsebelis Colomer Schmidt Schmidt 2000a/ 1999 Stephens 1993 2002 1996 1996 Kaiser 1997
A. Formelle (konstitutionelle) Struktur 1. Regierungssystem a. Primäre Merkmale Präsidentialismus
X
X
Bikameralismus
X
X
X
X X
X
X
Föderalismus
X
X
X
X
X
X
b. sekundäre Merkmale Konstitutionelle Rigidität
X
Verfassungsgerichtsbarkeit
X
Referenden Unabhängige Zentralbank
X X X
X
X
EU-Mitgliedschaft
X
X
X
X
X
X
2. Wahlsystem Wahlrecht
X
B. Empirische (Akteurs-)Struktur 1. Verhältnis von Regierungsund Oppositionsparteien Regierungszusammensetzung
X
Dominanz der Exekutive
X
X
X (X)
Konkordanz
X
2. Parteiensystem Effektive Anzahl der Parlamentsparteien
X
Disproportionalität der Wahlen
X
X
3. Einfluss von Interessengruppen Korporatismus
X
(X)
Quelle: Aufbauend auf Fuchs (2000). Erläuterung: (X) bedeutet, dass ein Indikator nicht eindeutig zugeordnet werden konnte. So wurde der Indikator „Minderheitenschutz“ bei Schmidt (2000a) unter „Dominanz der Exekutive“ subsumiert, der Indikator „Selbstverwaltungsstrukturen in der Sozialpolitik“ als „Korporatismus“ verbucht.
Unter den bekanntesten politikwissenschaftlichen Konzepten zur Beschreibung institutioneller Unterschiede sind etliche Gemeinsamkeiten zu beobachten. So finden zum Beispiel
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Reformfähigkeit als analytisches Konzept
institutionelle Merkmale wie Bikameralismus und Föderalismus in fast allen Indizes Berücksichtigung. Doch nicht nur bei der Auswahl der relevanten Institutionen, auch an der empirischen Einordnung der Länder lassen sich die Ähnlichkeiten illustrieren. Betrachtet man die Korrelationskoeffizienten der unterschiedlichen Indizes, finden sich insbesondere zwischen Lijpharts föderal-unitarischer Dimension und den Vetopunkt-Indizes von Huber/Ragin/Stephens, Colomer und Schmidt starke Beziehungen (vgl. Tabelle 4). Wenig überraschend korrelieren auch die beiden Präsidentialismus-Konzepte von Sartori und Shugart & Carey stark. Mit den Indizes von Huber/Ragin/Stephens und Colomer sind ebenfalls noch Ähnlichkeiten festzustellen, von den übrigen Indizes unterscheiden sich die Präsidentialismus-Konzepte hingegen deutlich. Tabelle 4: Paarweise Korrelationen institutioneller Indizes für die OECD-18-Länder Lijphart Lijphart Huber/ Colomer Schmidt Schmidt/ Tsebelis Shugart/ Sartori Kaiser Carey (föderal- (Exekutive- Ragin/ unitarisch) Parteien) Stephens Lijphart (föderalunitarisch)
1
Lijphart (ExekutiveParteien)
-0.06
1
Huber/Ragin/ Stephens
0.84***
-0.22
Colomer
0.82***
-0.04
0.91***
Schmidt
0.85***
0.07
0.79***
Schmidt/Kaiser
0.60**
0.21
0.42
0.44
0.53*
1
Tsebelis
0.43
0.61**
0.24
0.51*
0.48*
0.48*
1 1 0.80***
1 1
Shugart/Carey
-0.26
-0.08
-0.55*
-0.62**
-0.28
-0.33
-0.34
Sartori
-0.34
-0.10
-0.67**
-0.71**
-0.40
-0.29
-0.38
1 0.96***
1
Anmerkung: Pearsons Korrelationskoeffizienten, *= signifikant auf dem 5%-Niveau, **= signifikant auf dem 1%-Niveau, ***= signifikant auf dem 0,1%-Niveau. Datenquellen: Die Werte der beiden Lijphart-Dimensionen stammen aus Lijphart (1999, Periode 1971-1996). Die Werte für die Huber/Ragin/Stephens-, Colomer- wurden aus Armingeon et al. (2008), die Schmidt-Indizes aus Schmidt (2000a) übernommen. Die Werte zu Tsebelis’-Vetospielern stammen aus Tsebelis (2002). Die Präsidentialismus-Indikatoren von Shugart & Carey bzw. Sartori stammen aus der Makro-Datenbank der Abteilung „Demokratie“ des WZB.
Tsebelis’ Vetospieler-Index und die Exekutive-Parteien-Dimension von Lijphart scheinen einer eigenen Systematik zu folgen, die nur wenig mit den übrigen Konzepten übereinstimmt. Dies lässt sich deshalb relativ gut erklären, weil in beiden Fällen der Akteurskonstellation eine große Bedeutung zukommt. Es lässt sich also sowohl theoretisch wie auch empirisch zeigen, dass institutionelle Konstellationen und Akteurskonstellationen unabhängig voneinander auftreten können. Aus diesem Grund werden im vorliegenden Forschungsdesign diese beiden Ebenen zunächst analytisch getrennt. Von den 15 Elementen in Tabelle 3 beschreiben zehn Elemen-
Reformfähigkeit als analytisches Konzept
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te rein institutionelle Merkmale. Dies sind Bikameralismus, Föderalismus, konstitutionelle Rigidität, Verfassungsgerichtsbarkeit, Referenden, Zentralbanken, Wahlsystem, Dominanz der Exekutive, EU-Mitgliedschaft und die formelle Dimension des Korporatismus. Das Konkordanz-Kriterium wird vernachlässigt, da es sich hierbei um eine Verhaltensvariable handelt. Der EU-Mitgliedschaft kann höchstens in einzelnen vergemeinschafteten Politikfeldern ein direkter Einfluss zugesprochen werden. Im Bereich der Sozialpolitik sind bislang jedoch weder direkte positive oder negative Wirkungen auf die Reformtätigkeit von Regierungen theoretisch zu begründen noch empirisch nachzuweisen (z.B. Merkel et al. 2006: 450). Deswegen wird diese institutionelle Variable ebensowenig berücksichtigt wie die Zentralbank-Variable. Zentralbankarrangements mögen einen Einfluss auf die wirtschaftspolitischen Entscheidungen (gehabt) haben, in anderen Politikfeldern ist ihr Einfluss jedoch höchstens indirekt und diffus. Die Präsidentialismus-Variable findet ebenfalls keine Berücksichtigung, da die vorhergehende theoretische Diskussion keinen Rückbezug im Hinblick auf die Frage der Reformfähigkeit ergeben hat. Allerdings ist das Lijphartsche Kriterium des Machtverhältnisses zwischen Exekutive und Legislative ein zentraler Teil der Präsidentialismus-Parlamentarismus-Unterscheidung. Die folgende Diskussion der einzelnen institutionellen Merkmale beginnt also mit dem Machtverhältnis zwischen Exekutive und Legislative. Die weiteren sieben Merkmale, denen zur Erklärung von Reformpfaden eine potentielle Erklärungskraft zugeschrieben werden kann, sind (2) das Wahlsystem, (3) die formale Dimension des Korporatismus, (4) Föderalismus, (5) Bikameralismus, (6) Verfassungen und (7) Verfassungsgerichte sowie (8) Referenden. Welche Hypothesen lassen sich für die jeweiligen Ausprägungen dieser Institutionen in Bezug auf die Reformtätigkeit formulieren? 1) Machtverhältnis zwischen Exekutive und Legislative Mit diesem Unterscheidungskriterium will Lijphart politische Systeme, in denen die Regierung Machtdominanz gegenüber dem Parlament hat bzw. die Regierungsfraktion „kontrolliert“, von jenen abgrenzen, in denen ein Machtgleichgewicht oder eine starke wechselseitige Abhängigkeit herrscht. Dies ließe sich entweder über einen formalen Indikator wie die Abberufbarkeit der Regierung durch das Parlament darstellen oder über die Agendasetzermacht der Regierung (Ganghof 2005, Tsebelis 2002). Lijphart wählt hingegen die Regierungsstabilität (gemessen als durchschnittliche Lebensdauer von Kabinetten) als Indikator – eine theoretisch wie empirisch fragwürdige Entscheidung (Mainwaring 2001: 172). Die Begründung für diese Operationalisierung ist die nicht näher belegte Vermutung, dass ein Kabinett mit kurzer Lebensdauer wahrscheinlich relativ schwach vis-à-vis der Legislative sei und ein langlebiges Kabinett hingegen eine relativ dominante Stellung gegenüber dem Parlament innehabe (Lijphart 1999: 129). Bevor wir uns dem theoretischen Argument widmen, soll kurz auf die Probleme bei der Messung der Kabinettsdauer eingegangen werden. Die Lebensdauer von Kabinetten lässt sich anhand diverser Kriterien messen. Das Ende eines Kabinetts kann durch eine veränderte Parteizusammensetzung, durch Parlamentswahlen, einen neuen Premierminister, ein verändertes Mehrheitsverhältnis der Kabinettspartei(en) im Parlament, neue Minister oder veränderte Portfolios der Minister gekennzeichnet sein. Eine der Pionierstudien auf diesem Feld griff auf eine sehr breite Definition zurück, die lediglich eine veränderte Parteizusammensetzung als Endpunkt eines Kabinetts
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Reformfähigkeit als analytisches Konzept
definierte (Dodd 1976). Die aktuell umfassendste Arbeit zu diesem Thema berücksichtigt hingegen nicht weniger als sieben Kriterien (Woldendorp et al. 2000: 16f.). Lijphart selbst erachtet die breite Definition von Kabinettsdauer für die Frage nach der exekutiven Dominanz als sinnvoller. Er entscheidet sich jedoch für den Mittelwert aus den nach Dodd berechneten Zeitspannen und jenen Werten, die das Ende eines Kabinetts mit veränderter Parteizusammensetzung, neuem Premierminister, verändertem Mehrheitsstatus und Wahlen festlegen (Lijphart 1999: 132). Zusätzlich nimmt er Justierungen für elf der 36 Länder vor, insbesondere für die präsidentiellen Systeme und die Schweiz. Theoretisch begründet wird der Rückgriff auf jenen Mittelwert nicht. Neben den oben genannten grundsätzlichen Einwänden bezüglich des Rückgriffs auf die Kabinettsdauer als Indikator für das Machtverhältnis von Exekutive und Legislative existieren somit auch noch Probleme der Operationalisierung. Wie verhält es sich nun mit dem Machtverhältnis von Exekutive und Legislative im Hinblick auf die Reformfähigkeit? „[A] parliamentary System that does not produce durable governments is unlikely to provide effective policy making” (Warwick 1994: 139). Diese Aussage hält Lijphart für ebenso weit verbreitet wie falsch (Lijphart 1999: 130). Zum einen gebe es eine Reihe von empirischen Gegenbeispielen, insbesondere die effektiven und dennoch kurzlebigen Kabinette der Vierten Französischen Republik. Wichtiger ist jedoch sein Einwand, dass viele Kabinettsänderungen nur den Austausch eines Koalitionspartners bedeuten, der unter Umständen so klein ist, dass die parteipolitische Zusammensetzung des Kabinetts nur marginal betroffen ist. Deswegen können auch formal kurzlebige Kabinette hinreichend (parteipolitische und/oder personelle) Stabilität für Reformen bieten. Die Kabinettsdauer ist deswegen für Lijphart zwar ein Indikator für die Dominanz der Exekutive (und damit für seine Unterscheidung von Konsens- und Mehrheitsdemokratien), bietet aber keine Grundlage zur Formulierung einer plausiblen Hypothese im Hinblick auf die Reformfähigkeit. Ohnehin beschreibt dieser Indikator eher das Verhalten der Akteure und keinen institutionellen Rahmen. Dies wäre bei der alternativen Operationalisierung des Verhältnisses von Exekutive und Legislative über die Agendasetzermacht oder über die Abberufbarkeit der Regierung der Fall. Für die Frage der Reformfähigkeit scheint die Agendasetzermacht besser geeignet zu sein, eine Hypothese zu formulieren. Denn die Abberufbarkeit der Regierung – eines der zentralen Kriterien der ParlamentarismusPräsidentialismus-Distinktion – führte, wie weiter oben bereits argumentiert, nicht zu klaren Aussagen bezüglich des Machtverhältnisses der Exekutive zur Legislative. Dieses Machtverhältnis bei Gesetzesinitiativen ist hingegen direkt mit der Entscheidungsfähigkeit und damit auch mit der Reformfähigkeit verbunden. Herbert Döring hat die zentralen Aspekte dieses Verhältnisses für 18 Länder erhoben (Döring 1995b). Die sieben Kriterien zur Bestimmung der Agendamacht lauten:
Wer legt die Agenda der Parlamentsdebatten fest? Darf das Parlament ausgabenwirksame Gesetze vorschlagen? Stimmt das Parlament über zentrale Punkte des Gesetzesvorschlags ab, bevor dieser an ein Komitee weitergereicht wird? Können Parlamentskomitees Gesetzesvorschläge der Regierung ändern? Wer legt den Zeitplan der Komitees fest? Gibt es eine zeitliche Begrenzung der Parlamentsdebatte vor der Abstimmung über einen Gesetzesvorschlag (und damit eine Begrenzung des „filibustering“)?
Reformfähigkeit als analytisches Konzept
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Wie lange ist ein Gesetzesvorschlag gültig, nachdem er ins Parlament eingebracht wurde?
Sowohl Döring wie auch Tsebelis haben die Ergebnisse der Studie benutzt, um daraus Indikatoren der Agendakontrolle der Regierungen zu erstellen (Döring 1995c, Tsebelis 2002: 104). Die Hypothese bezüglich der Reformfähigkeit lautet: Je stärker die Agendamacht der Regierung ist, umso leichter sollte es der Regierung fallen, Reformen durchzusetzen. 2) Wahlsystem Der zentrale Unterschied verschiedener demokratischer Wahlsysteme besteht zwischen Verhältnis- und Mehrheitswahl. Ergänzt um weitere Attribute, findet sich diese Klassifizierung auch bei Lijphart wieder. Um diese Unterschiede in den Wahlsystemen abzubilden, greift er auf den Disproportionalitätsindex von Gallagher (Gallagher 1991) zurück, der die Differenz von Sitzanteilen zu den Stimmanteilen der Parteien abbildet. Dieser Indikator zeigt an, wie ein Wahlsystem Stimmen in Parlamentssitze übersetzt. Je höher der Disproportionalitätsfaktor ist, umso mehr Stimmen braucht eine Partei, um im Parlament vertreten zu sein. Ist der Disproportionalitätsfaktor niedrig, übersetzen sich auch relativ wenige Stimmen in Parlamentssitze. Neben kleineren methodischen Problemen, die ein Vergleich von 36 unterschiedlichen Wahlsystemen zwangsläufig mit sich bringt, sei hier nur die Behandlung der präsidentiellen Systeme angesprochen. Lijphart vergleicht die Wahlen zu den unteren Kammern in parlamentarischen Systemen mit dem geometrischen Mittel der Wahlen zu den unteren Kammern und den Präsidentschaftswahlen in präsidentiellen Systemen. Dadurch erhalten alle präsidentiellen Systeme hohe Disproportionalitätswerte, denn bei Präsidentschaftswahlen entspricht der Disproportionalitätswert dem Stimmanteil der unterlegenen Kandidaten. Diese Vorgehensweise ist deswegen problematisch, weil Präsidentschaftswahlen einer anderen Logik folgen als Parlamentswahlen und damit – wie bei der Messung des Machtverhältnisses zwischen Exekutive und Legislative – die Frage im Raum steht, ob Lijpharts Disproportionalitätsindex die jeweils komplementären Institutionen der beiden Systemtypen vergleicht. Grundsätzlich stellt der Disproportionalitätsindex für Lijpharts Ausgangsfrage „to whose interests should the government be responsive when the people are in disagreement“ (Lijphart 1999: 1) jedoch einen sinnvollen Indikator dar. Und auch für die Frage der Reformfähigkeit ist diese Maßzahl relevant. Sie lässt sich nämlich als Intensität des Parteienwettbewerbs interpretieren, genauer: als Indikator für die Schwierigkeit von Parteien, in das Parlament zu gelangen (contestability; siehe auch Strøm 1989; Bartolini 1999, 2000). Je einfacher es kleinen oder neuen Parteien fällt, in das Parlament zu gelangen, umso zurückhaltender sollten die Regierungsparteien sein, unpopuläre Reformen durchzuführen. Aufgrund des hohen Wettbewerbsdrucks sollten sie eher risikoavers handeln und Strukturreformen möglichst vermeiden. Wenn jedoch relativ wenig Gefahr besteht, dass neue Wettbewerber in das Parlament gelangen, sollte die Bereitschaft zu Reformen größer sein. Natürlich besteht auch für Parteien in Wahlsystemen mit hohem Disproportionalitätsfaktor die Gefahr, Wähler an Konkurrenzparteien zu verlieren. Die Wahlsysteme mit hohem Disproportionalitätsfaktor führen jedoch in der Regel zu Zweiparteiensystemen. Damit ist die Gefahr für enttäuschte Wähler groß, dass eine ideologisch benachbarte kleinere Partei den Sprung in das Parlament nicht schafft und eine Stimme für sie „verloren“ ist. Die ideologischen Positionen der Partei-
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Reformfähigkeit als analytisches Konzept
en, die sicher ins Parlament gelangen werden, sind möglicherweise sehr weit von den Präferenzen der enttäuschten Wähler entfernt. Unzufriedene Anhänger werden mangels Alternative also eher einer Partei die Treue halten. Die Hypothese lautet demnach: Wahlsysteme mit niedrigem Disproportionalitätsfaktor führen zu starkem Wettbewerb und reduzieren die Wahrscheinlichkeit von Strukturreformen. Für die Frage nach der Reformfähigkeit ist noch ein weiterer Aspekt relevant: die Fähigkeit des Wahlsystems, klare Mehrheiten hervorzubringen. Bei der Übertragung von Wählerstimmen in Parlamentsmehrheiten wird zwischen „earned majorities“ und „manufactured majorities“ unterschieden (Rae 1967), was eng mit der Disproportionalität von Wahlsystemen verbunden ist. „Earned majorities“ meint Situationen, in denen eine Partei sowohl eine Mehrheit der Stimmen wie auch eine Mehrheit der Sitze erzielt hat, wohingegen „manufactured majorities“ Sitzmehrheiten ohne Stimmenmehrheiten beschreibt. Demokratietheoretisch sind die „erzeugten“ Mehrheiten problematisch, weil die Präferenzen der Wähler verzerrt abgebildet werden. Die Entscheidungsfindung in Parlament und Regierung sollte jedoch leichter fallen, wenn das Wahlsystem die unterschiedlichen Präferenzen der Bürger weitgehend aggregiert und möglichst wenige Parteien zur Mehrheitsbildung einheitliche Positionen finden müssen. Zumal Einparteienregierungen gelten als besonders handlungsfähig (siehe unten das Kapitel 2.5.3 zur Koalitionstheorie). Deswegen lautet auch hier die Hypothese: Hohe Disproportionalität des Wahlsystems begünstigt eindeutige Mehrheiten. Dies wirkt sich positiv auf die Reformfähigkeit aus. Das Wahlsystem sollte somit zum einen durch die von ihm verursachte Wettbewerbssituation und zum anderen durch die Mehrheitsproduktion Auswirkungen auf die Reformtätigkeit haben. Ein dritter Aspekt ist die potentzielle Auswirkung des Wahlsystems auf die parteiinternen Strukturen. Hier gilt es, die Auswahlprozedur der Parlamentarier in den Blick zu nehmen (Carey & Shugart 1995; Katz 1980). Das Spektrum reicht von kandidatenbezogenen Wahlsystemen bis zu reinen Listenwahlsystemen. In Listenwahlsystemen liegt die Entscheidung über die Platzierung der Kandidaten bei den Parteien, die Verpflichtungsfähigkeit der Abgeordneten bei Abstimmungen sollte dementsprechend hoch sein, denn abweichendes Verhalten kann mit einer entsprechend niedrigen Listenplatzierung bei der nächsten Wahl sanktioniert werden (Carey & Shugart 1995: 421). In stark personalisierten Wahlsystemen haben die um ihre Wiederwahl besorgten Abgeordneten hingegen neben der Parteidisziplin vor allem die Rechtfertigung ihres Verhaltens gegenüber den Wählern ihres Wahlkreises im Blick. Allerdings kann auch hier die Parteidisziplin stark ausgeprägt sein, wenn – wie in Großbritannien – die Parteiführung über die Auswahl der Kandidaten entscheidet (Carey & Shugart 1995; zu unterschiedlichen Formen der Wahlbewerbung siehe auch Nohlen 2000: 93ff.). Eine stark ausgeprägte Parteidisziplin wirkt sich positiv auf die Kohäsion der Parteien aus. Im Rahmen des Vetospielerkonzeptes von George Tsebelis reduziert dies die Chancen für eine Veränderung des Status quo (Tsebelis 2002: 48f.). Dies ist dann plausibel, wenn die Vetospieler kollektive Akteure sind, deren Zustimmung weitgehend freiwillig ist. Wenn z.B. eine Minderheitsregierung bei anderen Parteien Unterstützung für ein Gesetzesvorhaben sucht oder die Zustimmung der von einer abweichenden Mehrheit beherrschten zweiten Kammer notwendig ist, kann sich eine geringe Parteidisziplin bei diesen Vetospielern positiv auf die Reformfähigkeit auswirken. Wenn jedoch die Zustimmung der Koalitionspartner zu Gesetzesvorhaben aufgrund einer geringen Parteidisziplin permanent in Frage gestellt wird, ist eher eine verminderte Reformtätigkeit zu erwar-
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ten. Das Wahlsystem hat also Auswirkungen auf die Parteidisziplin, eine Hypothese zum Einfluss auf die Reformtätigkeit lässt sich hingegen nicht aufstellen.24 3) Korporatismus Mehrheitsdemokratien zeichnen sich durch eine Vielzahl unkoordinierter und zueinander im Wettbewerb stehender Interessengruppen aus. Konsensdemokratien kennen hingegen koordiniert handelnde und auf Kompromisse ausgerichtete Interessengruppen (Lijphart 1999: 171). Obschon in der Literatur allgemein von Interessengruppen die Rede ist, konzentriert sich die Korporatismusforschung hauptsächlich auf die Struktur und den politischen Einfluss von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. In zugespitzter Form lässt sich Korporatismus allein über das jeweilige Lohnverhandlungssystem eines Landes definieren (Calmfors & Driffill 1988). In der auch von Lijphart übernommenen Operationalisierung von Siaroff (1999) lässt sich die korporatistische Verfassung eines Landes durch strukturelle Merkmale (z.B. Gewerkschaftsdichte), funktionale Aspekte (formelle Mitbestimmungsrechte in einzelnen Politikfeldern), Verhaltensmuster (Konsensorientierung, Streikhäufigkeit) und Kontextfaktoren (z.B. kleine offene Volkswirtschaften, hohe Sozialstaatsausgaben, Dominanz sozialdemokratischer Parteien) beschreiben. Neben der Typologisierung von politischen Systemen wie bei Lijphart wurden korporatistische Strukturen vor allem zur Erklärung wirtschaftlicher Performanz herangezogen (z.B. Calmfors & Driffill 1988; Scruggs 2001; Kennworthy 2002). In jüngerer Zeit wurde jedoch auch der Einfluss korporatistischer Strukturen auf sozialpolitische Reformen untersucht (Ebbinghaus & Hassel 2000; Egle et al. 2004, Hassel 2003; Rhodes 1998). Die Einbindung der Sozialpartner in diesem Politikfeld hat jedoch andere Formen angenommen als im klassischen Korporatismus. So ist die Beteiligung der Gewerkschaften und Arbeitgeber weniger stark institutionalisiert, und Tarifvereinbarungen sind nicht länger der zentrale Bezugspunkt der Vereinbarungen (Ebbinghaus & Hassel 2000; Rhodes 2001). Es sind vielmehr zunehmend Sozial- und Arbeitsmarktprogramme, die Gegenstand der Verhandlungen waren. Aus diesem Grund wurden diese Phänomene als „Soziale Pakte“ beschrieben, die sich nicht nur in Ländern mit korporatistischer Tradition finden, sondern beispielsweise auch in Portugal und Irland zu beobachten waren. Bei den Sozialen Pakten handelte es sich nicht um formale Institutionen, denn die Zustimmung der Sozialpartner war nicht notwendig, um die jeweiligen Reformen durchzusetzen. Möglicherweise lag es im Kalkül der Parteien und Regierungen, durch die Einbindung der Sozialpartner die Legitimität oder Qualität der Reformen zu erhöhen. Auf den Einfluss auf die Reformfähigkeit eines Landes von Interessengruppen als Akteure wird später genauer eingegangen werden (siehe Kapitel 2.6). Im Rahmen der Diskussion über institutionelle Einflussfaktoren ist in Bezug auf die Interessengruppen zunächst nur die Frage relevant, ob sie über formale Mitbestimmungsrechte im politischen Entscheidungsprozess verfügen, die über reine Anhörungsrechte hinausgehen. Formale und generelle Vetorechte von 24
Die Argumentation bei Tsebelis ist in diesem Punkt spieltheoretisch-formal hergeleitet und wird mit wenigen Beispielen aus dem amerikanischen Kontext illustriert. Ein empirischer Nachweis findet mit dem Verweis auf die schlechte Datenlage zu parteiinterner Kohäsion nicht statt (Tsebelis 2002: 49). Von anderer Seite wurde das theoretische Argument auf präsidentielle Systeme mit zwei Parteien eingeschränkt und für parlamentarische Mehrparteiensysteme die gegenteilige Hypothese aufgestellt. Hier soll sich hohe Parteidisziplin positiv auf die Gesetzgebungsaktivität auswirken (Colomer 2005).
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Interessenorganisationen im normalen Gesetzgebungsprozess existieren in keiner Demokratie. So gab es zwar in den Niederlanden bis 1995 eine Konsultationspflicht des tripartistischen Rates für Wirtschafts- und Sozialpolitik (Sociaal Economische Raad, SER) bei Gesetzesvorlagen in der Wirtschafts- und Sozialpolitik (Butter & Mosch 2003), aber auch in dieser (ehemals) typischen Konsensdemokratie verfügten die Sozialpartner nicht über generelle Einspruchs- oder Initiativrechte. Besonderen Einfluss erlangen Interessengruppen freilich dort, wo ihnen die Administration von Teilbereichen des Sozialstaates überlassen ist, wie z.B. die Verwaltung der Arbeitslosenversicherungen durch die Gewerkschaften in Ländern mit Gent-System oder die Möglichkeit der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von betrieblicher Altersvorsorge im Rahmen von Tarifverträgen. Welche Konsequenzen sind von dieser Form der Einbindung in Bezug auf die Reformtätigkeit zu erwarten? Tripartistische Formen der Einbindung von Gewerkschaften und Arbeitgebern führen zu einer größeren Zahl von an der Entscheidung beteiligten Akteuren und sollten sich somit ähnlich wie Föderalismus oder Bikameralismus negativ auf die Reformtätigkeit auswirken. Die „Auslagerung“ von Politikbereichen auf Tarifverhandlungen hingegen sollte sich positiv auf die Reformfähigkeit auswirken, denn hier sind im Idealfall eines geeinten Gewerkschafts- und Arbeitgeberlagers nur zwei Akteure an der Entscheidung beteiligt. Gleichwohl besteht durch das Konsenserfordernis eine anspruchsvollere Entscheidungsschwelle als bei einer Mehrheitsentscheidung. Die Auswirkungen scheinen mithin stärker von der jeweiligen Akteurskonstellation abhängig zu sein als von rein institutionellen Kriterien (zu den unterschiedlichen Akteurskonstellationen von Interessengruppen siehe Kapitel 2.6). Eine von den Akteurskonstellationen unabhängige Hypothese über die Wirkung formaler korporatistischer Strukturen auf die Reformfähigkeit lässt sich nicht formulieren. 4) Föderalismus Föderale Staaten vs. Einheitsstaaten ist das erste Kriterium in Lijpharts zweiter Dimension, der „Föderal-Unitaristischen Dimension“. Föderalismus beschreibt eine territoriale Machtteilung innerhalb eines Staates. In den Worten von William H. Riker (1975): „Federalism is a political organization in which the activities of government are divided between regional governments and a central government in such a way that each kind of government has some activities on which it makes final decisions.“ Diese Machtteilung kann unterschiedliche Ausprägungen annehmen, die als Vereinigung, Föderation, Konföderation, Assoziation etc. bezeichnet werden (für eine Übersicht siehe Watts 1999; Elazar 1991). Die entscheidende Differenz liegt also zunächst zwischen Staaten mit einer föderalen Verfassung und Staaten ohne föderale Verfassung. Lijphart weist jedoch darauf hin, dass das Konzept des Föderalismus als Machtteilung auch die Dezentralisierung der Machtausübung ohne föderale Glieder bedeuten kann. Föderalismus und Dezentralisierung sind Lijphart zufolge verwandte Phänomene, die dementsprechend auch beide zur Bildung seines Föderalismusindikators herangezogen werden sollten. Föderalismus versteht er dabei als eine formal durch die Verfassung garantierte territoriale Form der Machtteilung. Dezentralisierung soll hingegen das faktische Ausmaß der Machtteilung beschreiben, ohne dass Lijphart dafür jedoch konkrete Indikatoren angibt: „centralization and decentralization are obviously matters of degree, but it is not difficult in practice to classify most countries according to the simple centralized-
Reformfähigkeit als analytisches Konzept
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decentralized dichotomy” (Lijphart 1999: 188). Eine Möglichkeit, den Dezentralisierungsgrad als eindeutig von der formal-föderalen Verfassung losgelöst zu erfassen, könnte der Rückgriff auf den fiskalischen Zentralisierungsgrad sein (Keman 2000; allgemein dazu: Watts 1999: 43-56). Dabei zeigt sich, dass „fiskalischer Föderalismus“ empirisch keinesfalls in fester Kombination mit „formalem Föderalismus“ auftreten muss (Keman 2000: 207ff.). Die Hypothesen bezüglich der Reformfähigkeit sollten sich dementsprechend auf die einzelnen Dimensionen Föderalismus-Unitarismus und (fiskalische) DezentralisierungZentralisierung beziehen. Föderalismus und Dezentralisierung beziehen sich auf unterschiedliche Aspekte des politischen Prozesses. Das Föderalismuskriterium fragt vor allem danach, wer das „Recht zur Entscheidung“ hat. Das Dezentralisierungskriterium fragt hingegen nach dem „Recht zur Ausführung“ (Kaiser & Ehlert 2006). Interpretiert man Föderalismus als formale Gewaltenteilung, dann sollte mit ihm im Allgemeinen eine geringere Reformfähigkeit einhergehen. Von 1950 bis zur Mitte der 70er Jahre – während des „goldenen Zeitalters der Wohlfahrtsstaaten“ – wurde eine bremsende Wirkung des Föderalismus auf die Sozialausgaben entwickelter Industrieländer festgestellt (z.B. Cameron 1978; Huber et al. 1993; Swank 2002). Der Status quo wurde weniger stark verändert als in unitarischen Staaten. Allerdings blieb der hinter diesen Korrelationen stehende konkrete Mechanismus oft unklar (Obinger et al. 2005: 4). Zudem ist bislang nicht abschließend geklärt, wie der Föderalismus auf die Sozialpolitik in der Phase des Um- oder Rückbaus wirkt. Es erscheint plausibel, dass formaler Föderalismus durch die größere Zahl von Akteuren, die an Entscheidungen beteiligt sind, Status-quo-Veränderungen schwieriger macht. Fiskalpolitische Dezentralisierung sollte als Strukturprinzip hingegen gerade dazu führen, dass nur diejenigen Akteure an Entscheidungen beteiligt sind, die auch die fiskalpolitischen Konsequenzen verantworten müssen. Eine Vergleichsstudie über Australien, Kanada, die USA, Österreich, Deutschland und die Schweiz kommt zu dem Schluss, dass der Föderalismus die Reformgeschwindigkeit eher reduziert (Leibfried et al. 2005: 332). Weil in die Entscheidungsfindung Akteure der subnationalen Einheiten eingebunden werden, sind in föderalen Systemen im Normalfall Entscheidungskosten höher, und die Verhandlungsdauer ist größer als in unitarischen Ländern. Aus diesem Grund sind Veränderungen des Status quo in föderalen Systemen seltener (Tsebelis 2002), zumal wenn es um die Umverteilung von Ressourcen geht (Scharpf 1992). Besonders stark scheint dieser Effekt in föderalen und gleichzeitig fiskalpolitisch zentralisierten Ländern (wie z.B. Australien, Deutschland und Österreich) zu sein (Leibfried et al. 2005: 333f.). Hier ist allerdings eine begriffliche Klärung notwendig. Zentralisierung bedeutet meistens das Fehlen von Steuerautonomie der subnationalen Einheiten oder das Ausschalten von Steuerwettbewerb durch Institutionen wie z.B. Finanzausgleiche. Francis G. Castles hat jedoch darauf hingewiesen, dass es auch Formen der fiskalpolitischen Dezentralisierung gibt, die sich negativ auf die Reformfähigkeit auswirken können. Dies trifft etwa auf Sozialversicherungsbeiträge zu. Auf die Sozialversicherungsbeiträge kann die Zentralregierung schwerer Einfluss ausüben als auf Steuern, die ihrer direkten Kontrolle unterstehen (Castles 2000: 181). Das Zentralisierungsargument sollte also, sofern es im Zusammenhang mit dem Föderalismus gebraucht wird, auf die Einnahme und Verwendung von Steuern ohne Sozialbeiträge beschränkt sein25. Für die beiden Dimensionen des Föderalismus lauten die Hypothesen somit: Forma25
Wenn Dezentralisierung losgelöst vom Output – also politischen Entscheidungen – untersucht wird, stehen vor allem Fragen der effizienteren Ressourcenallokation dezentraler Systeme im Vordergrund (siehe z.B. Kaiser & Ehlert 2006). Damit rücken also Performanz- und Outcomefragen in den Fokus, und die Frage der
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ler Föderalismus wirkt sich negativ auf die Reformfähigkeit aus. Geht er mit steuer- und ausgabenpolitischem Zentralismus einher, sind die negativen Effekte besonders stark. 5) Bikameralismus Der Bikameralismus ist empirisch eng mit dem Föderalismus verwandt. Von den 36 Demokratien in Lijpharts Studie weisen alle eindeutig föderalen Staaten26 eine zweite Kammer auf. Der Umkehrschluss trifft jedoch nur sehr eingeschränkt zu, denn auch eine Reihe unitarischer Staaten haben eine zum Teil einflussreiche zweite Parlamentskammer, wie z.B. Frankreich, Italien oder – wenngleich weniger wirkmächtig – Großbritannien. Aus diesem Grund ist es sinnvoll, den Einfluss des Bikameralismus auf die Reformfähigkeit getrennt vom Föderalismus zu untersuchen. Wie der Föderalismus treten auch zweite Kammern in unterschiedlichen Erscheinungsformen auf. Sie unterscheiden sich hinsichtlich ihrer formalen Machtfülle, dem Wahlmodus und den Repräsentationsmustern. Lijphart benutzt die beiden ersten Merkmale zur Einteilung in symmetrische und asymmetrische bikamerale Systeme (Lijphart 1999: 206ff.). Symmetrisch bedeutet, dass ein annäherndes Machtgleichgewicht zwischen beiden Kammern besteht. Bei einer Machtsymmetrie hat die zweite Kammer konstitutionell ähnliche Rechte wie die erste Kammer und ist zudem direkt gewählt.27 Das Repräsentationsmuster dient zur Klassifikation in kongruente und inkongruente bikamerale Systeme. Inkongruenz bedeutet hierbei eine Überrepräsentation von Minderheiten in der zweiten Kammer z.B. durch die gleiche Anzahl von Senatoren bzw. Parlamentariern unterschiedlich großer Länder. In inkongruenten zweiten Kammern können somit Parlamentsmehrheiten zustande kommen, die weit davon entfernt sind, eine Mehrheit der Bevölkerung zu repräsentieren. So konnten 1996 in den USA 55% der Senatsmitglieder im „schlechtesten Fall“ nur 20% der Gesamtbevölkerung repräsentieren (ebd.: 208). Der belgische Senat von 1996 wies hingegen nur eine sehr geringe Überrepräsentation der französisch- und deutschsprachigen Minderheiten auf und ist deshalb ein Beispiel für eine kongruente zweite Kammer.28 Zu den Auswirkungen des Bikameralismus gibt es unterschiedliche Befunde. So wurden die Verhandlungen zwischen beiden Kammern als kompromissfördernd und dadurch effizienzsteigernd (i.S. besserer Gesetzgebung) identifiziert (Tsebelis & Money 1997). Die Konsequenzen der Verhandlungen zwischen zwei Kammern wurden jedoch auch als effizienzmindernd beschrieben, weil sie nicht zu Kompromissen sondern zu „logrolls“ führen (Heller 2001). Die reduzierte Lebensdauer von Kabinetten mit abweichenden Mehrheiten in der zweiten Kammer (Druckman & Thies 2002) spricht ebenfalls für die These, dass sich – zumindest bei abweichenden Mehrheitskonstellationen – Bikameralismus negativ auf die Reformfähigkeit auswirkt.
26 27
28
Reformfähigkeit tritt in den Hintergrund. D.h. ein Föderalismus-Wert von 4 oder 5. Lijphart ist hier nicht völlig konsequent: Aufgrund des angeblich starken Vetopotenzials der niederländischen Eersten Kamer und der Besetzung des deutschen Bundesrates mit Mitgliedern der Exekutive aus den Ländern zählt er beide trotz fehlender Direktwahl und ungleicher formaler Rechte zu den symmetrischen bikameralistischen Systemen (Lijphart 1999: 207). Auch nach der Reform von 2004 trifft dies zu. Allerdings hatten die Sprachgruppen auch vorher schon unter bestimmten Bedingungen ein Vetorecht (Hecking 2003).
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Für die Frage der Reformfähigkeit ist sowohl das Symmetrie- wie auch das Kongruenzkriterium relevant. Formale Veto- oder Gestaltungsrechte einer zweiten Kammer („symmetrischer Bikameralismus“) erschweren Reformen zumindest im Fall von abweichenden Mehrheiten zur ersten Kammer. Sind zudem noch Gruppen, die in der Bevölkerung eine deutliche Minderheit bilden, in der Lage, über ihre Vertreter in der zweiten Kammer Mehrheiten zu erzeugen („inkongruenter Bikameralismus“), sollte die Reformfähigkeit noch weiter abnehmen. Die Hypothese lautet also: Länder ohne zweite Kammer weisen eine höhere Reformfähigkeit auf als Staaten mit einer bikameralen Parlamentsstruktur. 6) Verfassung Die Voraussetzungen zur Verfassungsänderung bilden das sechste Kriterium. Verfassungstexte, zu deren Änderung besondere Mehrheiten erforderlich sind, engen den Spielraum des Gesetzgebers ein, wohingegen „flexible Verfassungen“ mit einer normalen Parlamentsmehrheit verändert werden können. Diese flexiblen Verfassungen sind nur selten ungeschriebene Verfassungen, wie in Großbritannien und Neuseeland. Den Normalfall stellen geschriebene Verfassungen dar, die sich lediglich hinsichtlich der zur Verfassungsänderung erforderlichen Mehrheiten unterscheiden. Lijphart unterteilt die 36 Demokratien seiner Untersuchung in vier Typen: Länder, in denen einfache Mehrheiten zur Verfassungsänderung ausreichen, Länder mit erforderlichen Zustimmungsraten im Parlament zwischen einfachen Mehrheiten und Zwei-Drittel-Mehrheiten, Länder mit Zwei-DrittelMehrheitserfordernis und schließlich Länder, in denen die Hürde noch oberhalb der ZweiDrittel-Mehrheit liegt (Lijphart 1999: 219f.). Erschwerte Möglichkeiten der Verfassungsänderung sind ein deutlicher Indikator von Konsensdemokratien, denn zur Bildung von Zwei-Drittel-Mehrheiten (oder mehr) ist normalerweise die Einbindung mehrerer (Oppositions-)Parteien notwendig. Als Merkmale von Lijpharts Demokratietypen sind die Voraussetzungen zur Verfassungsänderung somit ein sinnvoller Indikator. Zur Untersuchung der Reformfähigkeit des politischen Systems selbst müssten die Regeln der Verfassungsänderung ebenfalls in den Blick genommen werden. Die Hypothese würde lauten: Je rigider die Möglichkeiten der Verfassungsänderung, umso geringer die Reformfähigkeit des politischen Systems. Bei Reformen innerhalb einzelner Politikbereiche ist der Zusammenhang jedoch nicht auf den ersten Blick zu erkennen. So sollte die Reformfähigkeit des Sozialstaates nur in jenen Ländern von rigiden Möglichkeiten der Verfassungsänderung eingeschränkt sein, in denen soziale Rechte in der Verfassung niedergeschrieben sind. Zusätzlich sollten soziale Rechte in einer relativ konkreten Form in der Verfassung genannt werden, um tatsächlich einen Einfluss auf sozialpolitische Reformen zu haben. Leider gibt es bislang keine umfassenden Untersuchungen über den Zusammenhang von sozialen Rechten mit Verfassungsrang und sozialpolitischer Staatstätigkeit. Die einzig verfügbare Studie zu diesem Thema kommt zu dem Ergebnis, dass – mit Ausnahme von Bildung – soziale Rechte (Recht auf Einkommen bei Alter oder Arbeitslosigkeit, Recht auf Wohnung, Recht auf Arbeit, Arbeitnehmerrechte) nur selten in konkreter Form in Verfassungen zu finden sind (Ben-Bassat & Dahan 2003). Ein empirischer Zusammenhang zwischen sozialen Rechten und den entsprechenden Staatsausgaben konnte ebenfalls nicht überzeugend nachgewiesen werden. Diese Argumente und Befunde bedeu-
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ten, dass die Bedingungen für eine Verfassungsänderung keinen Einfluss auf die sozialpolitische Reformfähigkeit haben und somit nicht als unabhängige Variable in Frage kommen. 7) Verfassungsgerichte In Kombination mit einer anderen Institution können Verfassungen jedoch sehr wohl Einfluss auf die sozialpolitische Reformfähigkeit haben. Verfassungsgerichte sind grundsätzlich in der Lage, Gesetze zu kassieren und damit Reformen zu verzögern oder zu unterbinden. Die richterliche Normenkontrolle ist in den 36 von Lijphart untersuchten Demokratien in sehr unterschiedlicher Ausprägung vorhanden (Lijphart 1999: 225ff.). Neben sieben Demokratien, in denen die Institution der Normenkontrolle nicht besteht, verfügen 29 Länder über Verfassungsgerichte. Diese Länder gruppiert Lijphart in jene mit schwacher, mittlerer und starker Verfassungsgerichtsbarkeit. Das Kriterium für diese Einteilung scheint das Ausmaß der richterlichen Aktivität auf Grundlage vergleichender Fallstudien zu sein, obschon eine konkrete Richtschnur nicht genannt wird.29 Neben dem impressionistischen Charakter des Index ist auch die stillschweigende Interpretation der richterlichen Normenkontrolle als Merkmal von Konsensdemokratien nicht ohne Probleme. Für diese Interpretation spricht das Argument, dass Verfassungsgerichte einen zusätzlichen Weg für Minderheiten darstellen, ihren Rechten und Belangen Gehör zu verschaffen und dem Walten der Mehrheit Einhalt zu gebieten. Allerdings wurde gerade den besonders aktiven Verfassungsgerichten in den USA und Deutschland der Vorwurf gemacht, nicht nur Rechts- und/oder Minderheitenschutz zu gewähren, sondern selber „Politik zu machen“ (z.B. Landfried 1992; McWhinney 1986; Sandler & Schoenbrod 2003; Schneider 1999; Waltman & Holland 1988). Sollte dieser Vorwurf zutreffen, besäße ein außerordentlich kleines und für solche Befugnisse nicht demokratisch legitimiertes Gremium faktisch die Kompetenzen eines Gesetzgebers.30 Somit wären besonders aktive und mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattete Verfassungsgerichte möglicherweise eher als mehrheitsdemokratisches Element von Demokratien zu interpretieren. Für die Bedeutung von Verfassungsgerichten für die Reformfähigkeit ist diese Einordnungsproblematik zunächst nicht direkt relevant. Indirekt besteht jedoch eine Verknüpfung, denn die oben aufgezeigten empirischen und theoretischen Schwierigkeiten erschweren auch die Formulierung begründeter Hypothesen bezüglich der Auswirkungen von richterlicher Normenkontrolle auf sozialpolitische Reformen. Aufgrund der rudimentären Forschungslage über den Politikeinfluss von Verfassungsgerichten in vergleichender Perspektive lassen sich die Hypothesen nur aufgrund von Fallstudien formulieren. So hat Sascha Kneip (2006: 272) für den deutschen Fall gezeigt, dass im Zeitraum von 1951 bis 2004 die meisten für nichtig oder mit dem Grundgesetz unvereinbar erklärte Bundesgesetze im Bereich der Sozialpolitik zu finden sind. Kassierte Gesetze haben in der Regel Nachbesserungen zur Folge, so dass man davon ausgehen kann, dass sich aktive Verfassungsgerichte positiv auf die Anzahl der verabschiedeten Gesetze auswirken. Ebenso wird man davon ausgehen können, dass bei Gesetzesinitiativen der mögliche Einspruch des Verfassungsge29 30
Dies erscheint auch deshalb problematisch, weil sich die Werte Lijpharts in einigen Fällen deutlich von anderen Einschätzungen unterscheiden (Tsebelis 2002: 232). Für die Unterscheidung von demokratietheoretisch funktionalen und dysfunktionalen Entscheidungen von Verfassungsgerichten vgl. Kneip (2006).
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richtes antizipiert wird. Dies hat eine verstärkte juristische Vorabprüfung der Gesetzesvorlagen zur Folge. Somit lässt sich ebenfalls vermuten, dass die reformpolitische Reaktionszeit in Ländern mit aktiven Verfassungsgerichten größer ist als in Ländern ohne Verfassungsgerichte. Doch auch im deutschen Fall, wo die Stellung des Verfassungsgerichtes durch die institutionelle Unabhängigkeit der Richter, den vergleichsweise offenen Zugang für eine große Anzahl von Akteuren, die weitreichenden Entscheidungskompentenzen und die hohe Legitimität in der Bevölkerung besonders machtvoll erscheint, konnte die These vom Verfassungsgericht als „Gegenregierung“ oder Vetospieler nicht bestätigt werden.31 Verfassungsgerichten kann kein (eindeutig positiver oder negativer) Einfluss auf die Reformtätigkeit zugesprochen werden. Sie kommen somit nicht als erklärende Variable in Frage. 8) Referenden Arend Lijphart geht nur in Form eines kurzen Exkurses auf die Rolle von Referenden ein (Lijphart 1999: 230-231). Dies liegt daran, dass dieses Instrument quer zu seiner Unterscheidung von Mehrheits- und Konsensdemokratien liegt. Dass Referenden jedoch einen Einfluss auf die Reformtätigkeit haben können, erscheint auf den ersten Blick eindeutig: „The possibility of a referendum introduces one additional veto player in each country: the population“ (Hug & Tsebelis 2002: 466). Allerdings gibt es unterschiedliche Formen der direkten Demokratie, von denen das Referendum nur eine institutionelle Ausprägung darstellt – obschon manche Autoren Referenden als Oberbegriff für unterschiedliche direktdemokratische Elemente benutzen (z.B. Butler & Ranney 1994; Suksi 1993). Eine grundlegende Unterscheidung, die üblicherweise getroffen wird, ist die zwischen Referenden und Initiativen. Referenden werden dann als letztverbindliche Sanktionierung von Gesetzesakten oder Verfassungsänderungen durch die Bevölkerung verstanden, wohingegen Initiativen entweder den ersten Schritt zur Abhaltung eines Referendums bedeuten können oder den Auftrag an den Gesetzgeber beinhalten, sich mit einer Sachfrage zu befassen. In seltenen Fällen kann auch direkt ein Gesetz verabschiedet werden, wobei dies empirisch nur auf subnationaler Ebene zu beobachten ist. Eine weitere Differenzierung kann im Hinblick auf die Notwendigkeit vorgenommen werden: Ist die Einbeziehung der Bürger obligatorisch oder fakultativ? Und schließlich finden sich in der Referendumsliteratur Klassifikationen, in denen das Unterscheidungskriterium der Initiator des direktdemokratischen Prozesses ist: die Regierung, (Teile des) Parlament(es) oder eine bestimmte Zahl von Bürgern. Abhängig von den unterschiedlichen Arten des Referendums, die in den Blick genommen werden, fällt die Bewertung für die politischen Konsequenzen aus. So erkennen manche in Referenden eine ausgesprochen Status-quo-konservierende Wirkung (Neidhart 1970), andere hingegen sehen in ihnen ein Mittel, um die gesetzgeberische Lethargie aufzubrechen (Cronin 1989), und schließlich gibt es jene, die weder eine eindeutig konservative noch progressive Wirkung entdecken können (Gallagher 1996).32
31 32
Zu Kriterien für starke und schwache Verfassungsgerichte siehe Kneip (2007). Zur Rolle des deutschen Verfassungsgerichtes und für eine empirische Analyse seiner Entscheidungen siehe Kneip (2008). Für eine demokratietheoretische Bewertung direktdemokratischer Elemente siehe z.B. Suksi (1993) und Abromeit (2003).
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Für die Frage nach den Konsequenzen direktdemokratischer Elemente für die Reformtätigkeit ist zunächst die Unterscheidung von vier Typen sinnvoll, die Dennis C. Mueller in ähnlicher Form getroffen hat (Mueller 1996: 177f.): 1. von der Verfassung vorgesehene Referenden; 2. von der Regierung initiierte Referenden; 3. ein von der Opposition oder den Bürgern initiiertes Vetobegehren; 4. ein von Bürgern initiiertes Gesetzesvorhaben. Für die Reformtätigkeit haben die beiden ersten Formen der direkten Demokratie nur eingeschränkte Relevanz. Obligatorische Referenden sind in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle auf Verfassungsänderungen und/oder internationale Verträge beschränkt. Für die sozialpolitische Reformtätigkeit sind diese Referenden somit zu vernachlässigen – eine Untersuchung der Reformtätigkeit in anderen Politikfeldern müsste sie jedoch berücksichtigen. Von der Regierung initiierte Referenden sollten hingegen in keinem Fall signifikante Effekte auf die Reformtätigkeit nach sich ziehen, denn es ist zu erwarten, dass Regierungen nur dann freiwillig ein Referendum abhalten, wenn sie begründete Hoffnung auf den Erfolg haben oder die angestrebte Reform für sie nur nachrangige Bedeutung hat. Im letzteren Fall könnte es ein blame-avoidance-Instrument für das ohnehin beabsichtigte Nichtstun sein. Konsequenzen für die Reformtätigkeit sind allerdings von den beiden anderen Formen des Referendums zu erwarten. Durch ein von der Opposition oder von den Bürgern initiiertes Vetobegehren steigt die Wahrscheinlichkeit, dass verabschiedete Gesetze aufgehalten oder abgeschafft werden können. Parlamentarische Minderheiten können durch dieses Instrument die Veränderung des Status quo aufhalten oder rückgängig machen. In die entgegengesetzte Richtung sollte die von Bürgern ausgehende Initiative zeigen. Durch die Aufforderung an das Parlament, sich mit einer Frage zu befassen, sollte ceteris paribus die Wahrscheinlichkeit einer Reform steigen. Diese theoretisch zu erwartende unterschiedliche Wirkung von direktdemokratischen Elementen würde möglicherweise auch die oben genannten differierenden Befunde erklären. Für die empirische Untersuchung fällt die Hypothese somit zweigeteilt aus: (1) Von der Opposition oder den Bürgern initiierte Vetobegehren vermindern die Reformfähigkeit. (2) Von Bürgern initiierte Gesetzesvorschläge wirken sich positiv auf die Reformfähigkeit aus. Andere Formen der direkten Demokratie haben (zumindest auf die Sozialpolitik) keinen Einfluss. 2.4.5 Zusammenfassung Die Diskussion der drei wichtigsten institutionellen Konzepte der Politikwissenschaft lieferte zunächst theoretische und empirische Gründe für die analytische Trennung der institutionellen Ebene von der Akteursebene. Die Beschränkung auf rein institutionelle Elemente lieferte acht Merkmale, von denen sechs ein theoretisch begründbarer (positiver oder negativer) Einfluss auf die Reformtätigkeit zugesprochen werden konnte (vgl. Tabelle 5). Allerdings zeigte die Diskussion der einzelnen Institutionen auch, dass die Wirkung oftmals abhängig vom Politikfeld zu bewerten ist. So wirken sich hohe Mehrheitserfordernisse für Verfassungsänderungen fraglos negativ auf die Wahrscheinlichkeit von Verfassungsreformen aus. Im Hinblick auf die sozialpolitische Gesetzgebung lässt sich jedoch kein klar begründbarer Zusammenhang identifizieren. Die Tabelle beschränkt sich somit
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auf die zu erwartenden Konsequenzen unterschiedlicher institutioneller Ausprägungen für die sozialpolitische Reformtätigkeit. Tabelle 5: Übersicht des erwarteten Einflusses politischer Institutionen auf die sozialpolitische Reformtätigkeit Institutionelles Merkmal
Institutionelle Ausprägung
Dominanz der Exekutive
Starke Agendamacht der Regierung
positiv
Wahlrecht
Hohe Disproportionalität Starke Parteidisziplin
positiv -
Bikameralismus
Symmetrischer Bikameralismus Inkongruenter Bikameralismus
negativ negativ
Föderalismus
Formaler Föderalismus Formaler Föderalismus und steuerund ausgabenpolitische Zentralisierung
negativ
Konstitutionelle Rigidität
Einfluss auf die Reformtätigkeit
negativ
Hohe Hürden zur Verfassungsänderung
-
Verfassungsgerichtsbarkeit Schwache Verfassungsgerichte Starke Verfassungsgerichte
-
Korporatismus
Referenden
Sozialpolitik durch Tarifverträge
(abhängig von Akteurskonstellation)
Mitverwaltung von Sozialversicherungen
negativ
Vetobegehren Initiativen
negativ positiv
Quelle: Eigene Darstellung.
Nach der theoretischen Diskussion des Einflusses von Institutionen auf die Reformtätigkeit werden nun die Akteure und Akteurskonstellationen genauer in den Blick genommen. 2.5 Reformen, Parteien und Koalitionen Die moderne Parteienforschung schreibt Parteien die Orientierungen an Wählerstimmen, Ämtern und Politikinhalten zu (Müller & Strøm 2004; Kneip & Merkel 2006). Diese drei Ziele stehen in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Um politische Entscheidungsmacht auszuüben, müssen politische Ämter besetzt werden. Um politische Ämter besetzen zu können, sind in demokratischen Systemen Wählerstimmen notwendig. Umgekehrt beeinflussen die politischen Entscheidungen künftige Wahlentscheidungen der Wähler. Die Ziele der Parteien sind somit wechselseitig aufeinander bezogen.
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Bei der Untersuchung der Reformtätigkeit von Regierungen – seien es Einparteienregierungen oder Koalitionsregierungen – stellt sich die Frage, welche Rolle die Politikorientierung von Parteien im Verhältnis zu den beiden anderen Zielen spielt. Die frühe RationalChoice-Schule der Parteien- und Koalitionsforschung (z.B. Riker 1962) hat das Streben nach Ämtern als alleiniges Motiv der Partien angenommen. Daraus wurde das Theorem der „minimum winning coalitions“ abgeleitet. Wenn Parteien daran interessiert sind, möglichst viele Ämter einzunehmen, ist es rational, die Zahl der an der Regierung beteiligten Parteien zu minimieren. Deshalb sollten die Regierungen nur über eine so große Mehrheit verfügen, dass ein Misstrauensantrag im Parlament überstanden werden kann (50% der Stimmen plus eine). Im besten Fall verfügt die größte Partei alleine über eine absolute Mehrheit. Ist hingegen eine Koalition notwendig, enthält sie nur so viele Parteien, wie zum Erreichen der absoluten Mehrheit erforderlich sind. Der Beweggrund der Ämtermaximierung beschreibt die Realität jedoch nur teilweise. So waren in Westeuropa im Zeitraum von 1945 bis 1971 nur 34% der Regierungen „minimum winning coalitions“ (Budge & Keman 1990: 14), Arend Lijphart hat für 32 untersuchte Demokratien im Zeitraum von 1945 bis 1996 immerhin 61,8% solcher Kabinette gefunden (wenn man minimial-winningEinparteienregierungen aus der Untersuchung ausklammert, reduziert sich der Anteil auf 39,3%; vgl. Lijphart 1999: 98). Die Regierungsbildung scheint mithin nicht alleine durch das Ziel der Ämtermaximierung bestimmt zu sein. Es spricht vielmehr einiges dafür, dass Parteien neben dem „office-seeking“ auch politisch-inhaltliche Ziele verfolgen. Von dieser Annahme gehen die meisten jüngeren Theorien zum Verhalten von Parteien in Regierungsverantwortung ebenso aus wie Theorien, die das Verhalten von Parteien in Koalitionsregierungen erklären wollen. Das theoretische Fundament für die Hypothesen zur Reformfähigkeit von Einparteien- und Koalitionsregierungen bilden die Theorie des politischen Konjunkturzyklus („political business cycle“), die Partiendifferenzhypothese und die politische Koalitionstheorie. 2.5.1 Politische Konjunkturzyklen Die Theorie des politschen Konkunkturzyklus (political business cycle) geht davon aus, dass die ökonomische Situation vor Wahlen das Wahlverhalten beeinflusst.33 Die ersten empirischen Untersuchungen (Kramer 1971; Tufte 1978) haben für die USA einen Zusammenhang der Entwicklung des persönlichen Realeinkommens und der Wahlentscheidung nachgewiesen. Stieg das Realeinkommen im Jahr der Wahl, profitierte die Partei des Amtsinhabers davon. Sank das Realeinkommen, konnte die Oppositionspartei Stimmenzuwächse verbuchen.34 Der einfachste und schnellste Weg für eine Regierung, das individuelle Realeinkommen zu erhöhen, verläuft über höhere Transferzahlungen (Tufte 1978: 29). Dieses Mittel wurde den oben zitierten Studien zufolge von den Amtsinhabern regelmäßig eingesetzt. Auch für Arbeitslosenquoten und Inflationsraten wurde dieser Mechanismus untersucht, ohne jedoch einen eindeutigen Zusammenhang feststellen zu können (Alesina et al. 1997). Der politische Konjunkturzyklus scheint somit eher auf der Ebene der Politikinstru33 34
Für einen umfassenden Literaturüberblick siehe Drazen (2000) und Franzese (2002). Von anderer Seite wurde jedoch betont, dass die Wahlentscheidungen weniger mit der individuellen ökonomischen Entwicklung zusammenhängen als vielmehr mit der ökonomischen Entwicklung des gesamten Landes und deren Einschätzung durch die Wähler (z.B. Lewis-Beck 1988).
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mente (wie z.B. Transferzahlungen) als auf der Ebene der Politikergebnisse (Arbeitslosenquoten, Inflationsraten) aufzutreten (so auch Drazen 2000: 238f.). Wendet man die Theorie des politischen Konjunkturzyklus’ auf Reformen in der Sozialpolitik an, lassen sich einige Hypothesen formulieren. So sollten offensichtliche Kürzungen und Rückbaumaßnahmen relativ früh in einer Amtsperiode stattfinden, so dass der Regierung noch Zeit bleibt, die damit verbundenen Ansehensverluste wiedergutzumachen. Ein Ausbau sozialpolitischer Leistungen sollte hingegen verstärkt im Jahr der Wahlen zu beobachten sein. Ob und inwieweit föderale Strukturen und die damit verbundenen Wahlen zu den Parlamenten der Gliedstaaten diesen Zusammenhang beeinflussen, ist eine offene Frage. Zumindest für Deutschland wird oft der starke Einfluss der Landtagswahlen auf die Bundespolitik betont. Durch die starken Mitwirkungsrechte des Bundesrates und die über die gesamte Amtsperiode hinweg verteilten Wahlen zu den Landesparlamenten ist Deutschland von einer Situation des „Dauerwahlkampfes“ geprägt, so stellen viele Beobachter fest (Merkel 2007; Schmidt & Zohlnhöfer 2006; Lehmbruch 2000). Dies ist vermutlich eher auf die spezifische Konstellation des deutschen Föderalismus („Verbundföderalismus“, „Politikverflechtung“ und unkoordinierte Wahltermine) zurückzuführen als auf föderale Strukturen im Allgemeinen. So gibt es beispielsweise in den USA durch die Bündelung der Wahlen zum Senat und Repräsentantenhaus am sogenannten „election day“ einen konstanten Zweijahresrhythmus für den politischen Konjunkturzyklus. Trotzdem wurde auch für die USA die These des legislativen Stillstandes im Falle unterschiedlicher Mehrheiten von Regierung, Senat und Repräsentantenhaus immer wieder vorgebracht (z.B. Edwards et al. 1997; Sundquist 1988). Allerdings haben die meisten empirischen Studien diesen Zusammenhang nicht nachweisen können (Brady & Volden 1998; Krehbiel 1998; Mayhew 1991). Eine zweite Einschränkung ist anzubringen: Subsumiert man Steuersenkungen unter den Ausbau von Transferzahlungen (und fasst Steuererhöhungen als Abbau von Sozialleistungen auf), sollten die Hypothesen unabhängig von der ideologischen Ausrichtung der Regierung gelten. Differenziert man jedoch hinsichtlich der Art der sozialpolitischen Instrumente, sollten zwischen linken und rechten Parteien systematische Unterschiede festzustellen sein. Diese Einschränkungen bedeuten nicht, dass die Theorie vom zyklischen Handeln zu verwerfen ist. Vielmehr ist eine „Kontext-Konditionalität“ der Zyklen anzunehmen (siehe auch Franzese 2002: 387). Zu diesen Kontexten gehört neben politischen Institutionen wie Föderalismus und Wahlsystem insbesondere die ideologische Ausrichtung der Regierung. Bevor konkrete Hypothesen für das Akteursverhalten formuliert werden können, müssen also die ideologischen Kontexte berücksichtigt werden. Mit solchen ideologisch begründeten Unterschieden bei der Wahl von Politikinstrumenten beschäftigt sich die Parteiendifferenztheorie. 2.5.2 Parteiendifferenz Für die Untersuchung der Politikorientierung von Parteien steht bei den Parteienforschern stellvertretend die Frage: Do parties matter? Douglas Hibbs war mit seinem Artikel über den makroökonomischen Einfluss linker und rechter Regierungen einer der Pioniere auf diesem Gebiet (Hibbs 1977). Das Kernargument der Parteiendifferenzhypothese („Partisan Theory“) besagt, dass sich Unterschiede in den (objektiven) Interessen und (subjektiven)
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Präferenzen der Wähler von Parteien in der Regierungspolitik dieser Parteien widerspiegeln (ebd.). Dies wurde zunächst für zentrale wirtschaftspolitische Entscheidungen zu belegen versucht. Der Ausgangspunkt für die Studie von Hibbs war der Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Inflation, die so genannte modifizierte Phillips-Kurve.35 Sie besagt, dass Inflation und Arbeitslosigkeit in einem relativ stabilen und damit politisch „auszubeutenden“ inversen Verhältnis zueinander stehen. So lässt sich für einige Jahre, so die Aussage von Samuelson und Solow, die Arbeitslosenquote zu Lasten einer höheren Inflationsrate senken. Zwar sei dies nur ein „best guess“, und die Lage der Kurve könne sich über die Jahre hinweg verschieben; die grundsätzliche Wahlmöglichkeit („menu of choice“; Samuelson & Solow 1960: 193) bleibe jedoch bestehen. Diese Erkenntnis der beiden einflussreichen Ökonomen blieb wirtschaftspolitisch nicht ohne Folgen. Nicht nur in den USA (Romer & Romer 2002) wurde versucht, sich höhere Beschäftigung „einzukaufen“. So hat Helmut Schmidt, als er noch Bundesfinanzminister war, einmal gesagt: „Fünf Prozent Inflation sind leichter zu ertragen, als fünf Prozent Arbeitslosigkeit.“ (Schmidt 1993: 36) Auf die politischen Maßnahmen von Parteien gewendet, stellte Hibbs folgende Hypothese auf: Untere und mittlere Einkommensschichten betrachten Arbeitslosigkeit als größeres Übel als Inflation, obere Einkommens- und Statusgruppen sorgen sich hingegen eher um Inflationsraten als um Arbeitslosigkeit. Entsprechend der Kernklientel der Parteien sollten von Linksparteien regierte Länder eher die Kombination von niedriger Arbeitslosigkeit und hoher Inflation aufweisen. In Ländern, die von rechten Parteien regiert werden, sollte die umgekehrte Konstellation vorherrschen (Hibbs 1977: 1471). Seine Untersuchung von 12 OECD-Ländern im Zeitraum von 1960-1969 ergab sowohl einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen dem Prozentanteil von Linksregierungen in dem Zeitraum und der Inflationsrate (r = +.74) wie auch zwischen dem Prozentanteil von Linksregierungen und der Arbeitslosenquote (r = -.68). Die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Linksregierungen, Arbeitslosigkeit und Inflation hat jedoch zwei notwendige Voraussetzungen: Erstens die Überzeugung der Politiker (oder Notenbankchefs) von der Gültigkeit der Phillips-Kurve und zweitens die tatsächliche Gültigkeit des „Phillips-Menüs“. Wenn die erste Voraussetzung erfüllt ist, nicht aber die zweite, dann wäre ein positiver Zusammenhang zwischen Linksregierungen und Inflationsraten zu erwarten. Ob und wie sich die Arbeitslosenquote verändert, hinge dann jedoch von anderen wirtschaftspolitischen Entscheidungen und Konjunkturverläufen ab. Die genannten Ergebnisse ließen sich bei Veränderungen der Länderauswahl oder des Zeitraumes nicht bestätigen (Schmidt 1983; Cameron 1985). Allerdings ist die Ausweitung des Untersuchungszeitraums nicht unbedingt ein geeignetes Verfahren, um die Parteiendifferenzhypothese zu widerlegen. Denn der von Hibbs postulierte Zusammenhang baut wesentlich auf die Akzeptanz der Phillips-Kurve von Seiten der wirtschaftspolitischen Entscheidungsträger in den sozialdemokratischen Parteien (und unabhängigen Notenbanken). In dem Maße, wie die Phillips-Kurve wissenschaftliche (und empirische) Kritik erfahren hat und von anderen Paradigmen abgelöst wurde, wäre auch die abhängige Variable zu ersetzen. Bereits 1968 erschien der einflussreiche Artikel Milton Friedmans über die Rolle der Geldpolitik (Friedman 1968), in den 70er Jahren mehrten sich die Länder, in denen das Phänomen der Stagflation auftrat. Der wirtschaftspolitische Paradigmenwechsel kann somit 35
Die „ursprüngliche Phillips-Kurve“ beschreibt einen Zusammenhang zwischen Nominallohnsteigerungen und Arbeitslosigkeit (Phillips 1958). Die „modifizierte Phillips-Kurve“ behauptet einen Zusammenhang zwischen Inflationsrate und Arbeitslosigkeit (Samuelson & Solow 1960).
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spätestens auf den Beginn der 1980er Jahre datiert werden, Schweden hat mit dem RehnMeidner-Modell schon in den 50er Jahren ein abweichendes Konzept verfolgt (Erixon 1999). Die Verlängerung des Untersuchungszeitraumes bis zum Ende der 80er Jahre zur Falsifikation der Parteiendifferenzhypothese (z.B. Busch 1995: 62) ist somit wenig sinnvoll, der fehlende Zusammenhang zwischen Regierungsparteien und Inflation verwundert kaum. Als Grund dafür die wissenschaftlich ungeklärte klassenspezifische Wirkung der Inflation anzuführen (Busch 1995, 2003: 184), ist aus Sicht der Parteiendifferenzhypothese ebenfalls nur dann zielführend, wenn die wissenschaftliche Debatte über Inflationswirkungen bei den Präferenzen der Wähler wirksam geworden wäre und sich so den Weg in die Politikpräferenzen der Parteien gebahnt hätte.36 Ganz ähnlich verhält es sich mit der Ausweitung des Ländersamples (z.B. Schmidt 1983). Diese Maßnahme ist ebenfalls nur dann zur Überprüfung der Hypothese geeignet, wenn die sozialdemokratischen Parteien in den zusätzlichen Ländern ebenfalls eine Verringerung der Arbeitslosigkeit durch höhere Inflationsraten erwartet haben. Mit der rationalen Parteiendifferenztheorie („rational partisan theory“) wurde versucht, einige dieser Probleme zu umgehen (Alesina 1987, 1988).37 In den Modellen der rationalen Parteiendifferenztheorie ist weder die Philipskurve so einfach zu benutzen noch sind die Wähler so unreflektiert, wie es die Parteiendifferenztheorie in ihrer ursprünglichen Form behauptet. Durch die gegenseitige Antizipation des Handelns und der Motive von Wählern und Politikern entfalten Versuche der „künstlichen“ Reduzierung von Arbeitslosigkeit oder Inflation nur sehr kurzfristige und im Umfang beschränkte Wirkung. Diese Wirkungen kommen überhaupt nur dann zustande, wenn der Ausgang der Wahl die rationalen ökonomischen Akteure überrascht, denn andernfalls könnten sich die Akteure auf die zu erwartende Politik bereits einstellen, und geld- oder fiskalpolitische Maßnahmen würden dadurch keine reale Wirkung mehr entfalten können. Herrscht jedoch Unsicherheit bezüglich des Wahlausgangs, ist die prospektive Anpassung nicht vollständig möglich; dadurch sollten in einem beschränkten Zeitraum nach der Wahl (in den meisten Modellen ein bis zwei Jahre) Parteieneffekte zu beobachten sein.38 Diese Effekte sind jedoch nicht nachhaltig, denn ab dem Zeitpunkt der Bekanntgabe des Wahlausgangs können die Akteure ihre Erwartungen wieder mit vollständiger Sicherheit anpassen. Die meisten politikwissenschaftlichen Modelle der 80er und insbesondere der 90er Jahre, die auf die parteipolitische Zusammensetzung der Regierung als zentrale Erklärungsvariable zurückgreifen, zielten dann im Wesentlichen auf eine Erklärung des Niveaus sozialpolitischer Leistungen ab (z.B. Hibbs 1977; Korpi 1980; Castles 1982a; Esping-Andersen 1990, Palme 1990; Garrett 1998; Boix 2000). Nach der Untersuchung geld- und fiskalpolitischer Politikstrategien ist gegenwärtig die parteipolitische Färbung angebotsseitiger Poli36 37 38
Auch Douglas Hibbs hatte auf die wissenschaftlich umstrittene Wirkung der Inflation hingewiesen und schließlich mit Umfragedaten über Präferenzen der Wähler im Zielkonflikt Inflation-Arbeitslosigkeit argumentiert (Hibbs 1977: 1470). Für eine theoretische Diskussion und einen Überblick der wichtigsten empirischen Ergebnisse siehe Drazen (2000, Kapitel 7) und Franzese (2002). Als Grund hierfür wird beispielsweise die Struktur von Tarifabschlüssen angeführt. Hierbei werden von den Akteuren Inflationserwartungen eingebaut. Bei Tarifabschlüssen, die sich zeitlich über einen Wahltermin hinweg strecken, können somit die „falschen“ Erwartungen zu Grunde liegen und es kann dadurch zu einer Abweichung von der „natürlichen Arbeitslosenquote“ kommen. Erst bei den nächsten Tarifverhandlungen kann die vollständige Anpassung erfolgen. Für eine Kritik an diesem Argument siehe Cukierman (1992), für eine allgemeine Diskussion der Annahmen der rationalen Parteiendifferenztheorie siehe Drazen (2000: 254ff.).
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tikstrategien (supply-side economic policies) am häufigsten Gegenstand der Parteiendifferenzforschung (siehe Boix 1998; Busemeyer 2007). Nach dieser Lesart ist die staatliche Investition in Humankapital (z.B. gemessen an Ausgaben für aktive Arbeitsmarktpolitik oder staatlichen Bildungsausgaben) die genuin „sozialdemokratische Strategie“. Das konservative Pendant stellen Steuersenkungen dar, die private Investitionen in diesem Bereich fördern sollen. Das Ausgabenniveau in unterschiedlichen Haushaltsbereichen ist somit meistens der zentrale Indikator zur Prüfung der Parteiendifferenzhypothese. Eine der wenigen quantitativen Untersuchungen der vergangenen Jahre, in der nicht das Ausgabenniveau die Grundlage für eine Überprüfung der do-parties-matter-Frage war, ist die Studie von James P. Allan und Lyle Scruggs (Allan & Scruggs 2004). Hier wurde anhand der Veränderungen der Lohnersatzquoten der Arbeitslosen- und Krankengeldversicherung ein parteipolitischer Effekt in 18 OECD-Ländern nachgewiesen. Bis zu den frühen 80er Jahren zeigte sich ein positiver Effekt von linken Regierungen auf den Ausbau des Wohlfahrtsstaates, rechte Parteien hatten keinen signifikanten Einfluss auf die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates. Seit den frühen 80er Jahren sind dann rechte Parteien deutlich mit Rückbaumaßnahmen assoziiert, unter der Regierungsverantwortung linker Parteien finden diese Rückbaumaßnahmen in schwächerem Umfang statt (Allan & Scruggs 2004: 507). Auch wenn die Grundaussage der Parteiendifferenzhypothese zunächst intuitiv plausibel erscheint, sind die Befunde insgesamt uneinheitlich. Dies liegt nicht nur an der unterschiedlichen Operationalisierung der abhängigen Variablen in diesen Modellen. Auch die Messung und Einteilung der ideologischen Ausrichtung der Regierungen – und damit der unabhängigen Variable – ist alles andere als trivial (siehe dazu ausführlich Kapitel 6.3). Zudem wird in den meisten Untersuchungen zur Parteiendifferenzhypothese nicht auf die besonderen Auswirkungen des Parteiensystems und die Rolle von Koalitionsregierungen eingegangen. Zweiparteiensysteme sind Lijphart zufolge ein typisches Merkmal von Mehrheitsdemokratien, Mehrparteiensysteme hingegen eine Eigenschaft von Konsensdemokratien (Lijphart 1999: 63). Die Zahl der im Parlament vertretenen Parteien hat wiederum direkten Einfluss auf die Kabinettstypen. Koalitionsregierungen sind der Normalfall in Mehrparteiensystemen, Einparteienregierungen sind typisch für Zweiparteiensysteme. Zur Operationalisierung der effektiven Zahl der Parteien greift Lijphart auf die Laakso-Taagepera-Formel zurück: N = 1/si2, wobei si den Anteil der Sitze der Parteien beschreibt (Laakso & Taagepera 1979). Neben der bloßen (effektiven) Anzahl der Parteien kommt der Wettbewerbssituation zwischen den Parteien eine besondere Bedeutung zu. Im Hinblick auf die Bedeutung des Parteiensystems für die Reformfähigkeit eines Landes hat Herbert Kitschelt zwischen vier Konstellationen unterschieden, die jeweils spezifische Konsequenzen für sozialstaatliche Rückbaumaßnahmen haben (Kitschelt 2001). Da es ihm insbesondere um Rückbaumaßnahmen geht, spielen die relativen Kräfteverhältnisse von unterschiedlichen Parteifamilien eine besondere Rolle. Die vier laut Kitschelt empirisch dominierenden Konstellationen sind:
Vereinte Marktliberale gegen vereinte Sozialdemokraten Fragmentierte Marktliberale und Bürgerliche gegen vereinte Sozialdemokraten Dreiteilung zwischen Liberalen, Bürgerlichen und Sozialdemokraten Schwache Liberale, starke Bürgerliche und starke Sozialdemokraten
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Ohne hier im Detail auf die ideologisch-programmatischen Aspekte des Argumentes einzugehen, lassen sich einige allgemeine Aussagen bezüglich der Auswirkung des Parteiensystems übernehmen. Offenkundig zielen die vier Konstellationen zunächst auf die Frage der Fragmentierung ab. Der Grund hierfür ist der Parteienwettbewerb, denn wenn eine Partei unpopuläre Reformen anstrebt, läuft sie Gefahr, dass die Wähler zu einer ideologisch benachbarten Partei wandern, die sich von diesen Reformen distanziert. Sozialdemokratische Parteien müssen befürchten, bei sozialstaatlichen Rückbaumaßnahmen Wähler an linkssozialistische oder christdemokratische Parteien zu verlieren, für Mitteparteien geht die Gefahr bei Rückbaumaßnahmen von den Sozialdemokraten aus. Verweigern sich die Mitteparteien den Reformen, treten die Marktliberalen unter Umständen als Konkurrenten auf, verweigern sich Sozialdemokraten den als notwendig erachteten Reformen, sind es die Mitteparteien, zu denen Wählerwanderungen zu erwarten sind. Allgemein lässt sich somit festhalten: Je fragmentierter das Parteiensystem auf der rechten oder linken Seite ist, desto schwerer wird es eine Regierungspartei oder -koalition aus diesem jeweiligen Spektrum haben, unpopuläre Reformen durchzusetzen. Die Theorien des politischen Konjunkturzyklus und die Parteiendifferenztheorie gehen in der Regel von Regierungen als einheitlichen Akteuren aus. Dies ist jedoch eine (zu) starke Vereinfachung der Realität, denn in den meisten parlamentarischen Demokratien sind Koalitionsregierungen der Normalfall. Neben der (ideologischen) Fragmentierung des Parlamentes ist auch von der ideologischen Distanz der Koalitionspartner ein Einfluss auf die Regierungspolitik anzunehmen. Deswegen werden nun die wichtigsten Befunde zu Koalitionsregierungen im Hinblick auf die Reformfähigkeit diskutiert. 2.5.3 Politische Koalitionstheorie Den Anstoß zur systematischen Untersuchung von politischen Koalitionen gab William Riker 1962 mit seinem bahnbrechenden Buch „The Theory of Political Coalitions“ (Riker 1962). In der Folgezeit haben sich drei Forschungsstränge herausgebildet.39 Zum einen gibt es die in der Tradition von Riker stehenden Konzepte, die maßgeblich auf die Größe der Parteien abheben, um die Wahl von Koalitionspartnern zu erklären. Gemäß diesen spieltheoretisch inspirierten Theorien verfolgen Parteien hauptsächlich das Ziel der Ämtermaximierung. Sind sie auf Koalitionspartner angewiesen, um eine Regierungsmehrheit zu erlangen, werden sie den kleinsten Partner wählen, mit dem zusammen eine Mehrheit der Stimmen garantiert ist. Der Normalfall sollte mithin eine „minimum winning coalition“ sein, also eine Koalitionsregierung, die über die kleinstmögliche Parlamentsmehrheit verfügt. Auch Lijphart greift im Rahmen der Exekutive-Parteien-Dimension auf den Anteil von Einparteien- und „minimum-winning“-Koalitionen zurück, um damit die Machtkonzentration innerhalb der Exekutive zu messen. Es geht um die Frage, auf wie viele Parteien die exekutive Macht verteilt ist. Innerhalb der Logik von Mehrheits- und Konsensdemokratien sind Minderheitsregierungen schwer einzuordnen. Der Grund hierfür ist, dass insbesondere die skandinavischen Minderheitsregierungen formal eine geringe öffentliche oder parlamentarische Unterstützung erfahren und damit als Mehrheits-, und nicht als Konsensdemo39
Martin & Stevenson (2001) bieten einen guten Literaturüberblick zu Theorien über Entstehungsfaktoren von Koalitionsregierungen. Drazen (2000, Kapitel 3.6) und Laver (2000) bieten einen allgemeinen Überblick über Koalitionstheorien.
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kratien einzustufen wären – immerhin kann eine Minderheitsregierung theoretisch alle Ministerien besetzen. Allerdings weisen die skandinavischen Minderheitsregierungen empirisch ein Verhaltensmuster auf, das eher dem konsensualen Demokratietyp entspricht. Denn für die Verabschiedung von Gesetzen ist die Unterstützung der Minderheitsregierung durch andere Parteien im Parlament unerlässlich, so dass Verhandlungen und Kompromisse für (zum Teil auch dauerhafte) Gesetzgebungskoalitionen den Normalfall in den skandinavischen Ländern seit den 1960er Jahren darstellen (Arter 2003: 96). Somit würde sich die Inklusivität von Gesetzgebungskoalitionen als Indikator zur Messung der Machtkonzentration anbieten (so auch Ganghof 2005 und Müller & Jenny 2004). Anstatt auf andere Indikatoren auszuweichen, interpretiert Lijphart Einparteien-Minderheitsregierungen (wie auch „minimum-winning“-Koalitionen) als Zwischenkategorie. Durch diese Einordnung wird mit diesem Kriterium jedoch nichts gemessen, sondern lediglich Lijpharts qualitative Einschätzung reproduziert.40 Tabelle 6: Kabinettstypen nach Lijphart Demokratietyp Mehrheitstyp Zwischenkategorie
Konsenstyp
Anzahl der Regierungsparteien
Mehrheitsverhältnis
Einparteienkabinett
„minimum winning“
Koalitionskabinett (zwei oder mehr Parteien)
„minimum winning“
Einparteienkabinett
Minderheitsregierung
Koalitionskabinett (zwei oder mehr Parteien)
Minderheitsregierung
Koalitionskabinett (zwei oder mehr Parteien)
„oversized“
Quelle: Eigene Darstellung nach Lijphart (1999: 91).
Für die Reformfähigkeit ist zu vermuten, dass die Frage nach der Inklusivität der Regierung zunächst eine nachrangige Bedeutung hat. Wichtiger scheint die Fähigkeit innerhalb der Regierung zu sein, verbindliche Entscheidungen für Gesetzesvorlagen zu treffen. Dies sollte in Einparteienkabinetten einfacher sein als in Koalitionsregierungen, wenn man davon ausgeht, dass die ideologische Homogenität von Parlamentariern innerhalb einer Partei größer ist als unter Parlamentariern mit unterschiedlicher Parteizugehörigkeit. Zwar müssen Einparteien-Minderheitsregierungen für die Gesetzgebung die parlamentarische Unterstützung aus anderen Parteien gewinnen, allerdings können solche „legislativen Koalitionen“ fallweise geschmiedet werden. Damit ist anzunehmen, dass Einparteien-Minderheitsregierungen ceteris paribus durchsetzungsfähiger sind als formale Koalitionsregierungen mit einem oder mehreren festen Partnern. Diese Hypothesen werden auch von Studien unterstützt, die Gründe für das vorzeitige Scheitern von Regierungen untersucht haben. Hier zeigte sich, dass die Anzahl der Regierungsparteien ein wichtiger Erklärungsfaktor ist, der im Übrigen die Zahl der im Parlament vertretenen Parteien als Erklärungsfaktor überlagert 40
Diese Einschätzung ist zudem umstritten, vgl. z.B. Crombez (1996). Ähnliches gilt auch für seine Einordnung präsidentieller Systeme zu den Einparteien-Kabinetten.
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(Warwick 1992, 1994). Innerhalb der Gruppe der Koalitionsregierungen scheint also die Anzahl der Koalitionspartner relevanter für die Frage der Reformfähigkeit zu sein als die Unterscheidung in „minimum winning“- und übergroße Koalitionen oder als die Anzahl der im Parlament vertretenen Parteien. Eine zweite Forschungstradition innerhalb der Koalitionsforschung hat neben oder an die Stelle der Ämtermaximierung die Orientierung von Parteien an politischen Inhalten gesetzt. Dadurch kommt den ideologischen Distanzen zwischen den Parteien eine entscheidende Rolle zu. Robert Axelrod hat dies spieltheoretisch mit der Minimierung von Transaktionskosten begründet, die durch Verhandlungen zwischen den Parteien entstehen (Axelrod 1970). De Swaan hat ideologische Orientierung und Ämtermaximierung kombiniert und die Entstehung von „minimum winning coalitions“ mit der kleinsten ideologischen Distanz vorhergesagt (de Swaan 1973). Empirisch unterstützt werden diese theoretischen Argumente durch Studien, die eine kürzere Lebenszeit von ideologisch heterogenen Kabinetten festgestellt haben (Warwick 1992). Die dritte Forschungsrichtung hat den Einfluss von Institutionen auf die Koalitionsbildung betont. Wenn Verfassungen für die Koalitionsverhandlungen nach Wahlen eine Person vorsehen, welche die Verhandlungen leitet oder Koalitionskonstellationen vorschlägt (der so genannte Formateur), dann ist die Beteiligung der Partei des Formateurs an der späteren Koalition sehr wahrscheinlich (z.B. Austen-Smith & Banks 1988). Von anderer Seite wurden die Vorteile der Partei des Regierungschefs hervorgehoben (Huber 1996). Der Regierungschef kann in vielen Ländern den Zeitpunkt der nächsten Wahl bestimmen oder zumindest die Themenagenda kontrollieren und dadurch Diskussionen über Themen verhindern oder aufbringen, welche die Koalition gefährden. Institutionelle Regeln wurden auch für die Entstehung von Minderheitsregierungen ins Feld geführt. Beispielsweise fördert das Fehlen eines Investiturrechts des Parlaments („investiture rule“) die Entstehung von Minderheitskabinetten (Strøm 1990). Nun sind die Konzepte zur Erklärung der Entstehung oder Auflösung von Koalitionen nicht direkt für die Frage der Reformfähigkeit zu gebrauchen. Aus den Befunden der geringeren Lebensdauer von ideologisch heterogenen Koalitionen und von Koalitionen mit vielen Partnern lässt sich jedoch ableiten, dass die legislative Arbeit in diesem Falle offenbar deutlich erschwert ist – und damit größeren Reformen auch höhere Hürden im Weg stehen als bei vergleichsweise kohärenten Koalitionen. Ein vergleichsweise kleiner Forschungsstrang innerhalb der Koalitionsforschung stützt diese Hypothesen zusätzlich. Dies sind Untersuchungen über die Verteilung der Ministerien in Koalitionsregierungen (Browne & Frendreis 1980; Gamson 1961; Laver & Schofield 1990). Bei der Frage der quantitativen Aufteilung der Ministerien wurde theoretisch eine Aufteilung entsprechend des Anteils der Koalitionspartner an den Koalitionssitzen prognostiziert (Gamson 1961). Empirisch konnte dieses Entsprechungsverhältnis nachgewiesen werden (Browne & Franklin 1973; Browne & Frendreis 1980), wobei kleine Koalitionspartner eine leicht überproportionale und große eine leicht unterproportionale Zahl von Ministerien erhalten. Die Frage der Verteilung der Portfolios ist zumal dann von Bedeutung, wenn man den einzelnen Ministerien ein gewisses Maß an Unabhängigkeit unterstellt.41 Denn in diesem Fall wären weniger die ideologische Konstellation in Koalitionen und das relative Kräfteverhältnis entscheidend, sondern vielmehr die ideologische Ausrich41
Zu den unterschiedlichen Spielräumen, die die Verfassungen den Ministern gewähren, siehe Laver & Shepsle (1994).
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tung der Partei, die ein bestimmtes Ministerium kontrolliert (Budge & Keman 1990: 89ff.; Laver & Shepsle 1990, 1996). Allerdings konnte ebenfalls gezeigt werden, dass es in Mehrparteienregierungen vielfältige Bemühungen der Koalitionspartner gibt, die Politik in den Ministerien der anderen Koalitionspartner zu kontrollieren (Thies 2001). Das legt den Schluss nahe, dass die Minister tatsächlich ein gewisses Maß an Unabhängigkeit genießen, wobei die Koalitionspartner gleichzeitig versuchen, diese Autonomie auf ein Minimum zu reduzieren. Dies wird durch die Beobachtung gestützt, dass die Gesetzgebung von Koalitionsregierungen einem Muster zu entsprechen scheint. So werden zu Beginn einer Legislaturperiode deutlich mehr Gesetze verabschiedet als später. Parallel dazu nimmt die ideologische Distanz zwischen den Koalitionspartnern bezüglich der Gegenstände der Gesetzgebung zu (Martin 2004). Dieses Muster der abnehmenden Gesetzgebungsaktivität bei zunehmender ideologischer Distanz legt nahe, dass die Unabhängigkeit der Ministerien durch die unterschiedlichen Kontrollversuche des/der anderen Koalitionspartner(s) erfolgreich eingeschränkt wird. Im Hinblick auf die sozialpolitische Reformfähigkeit gibt es also gute Gründe für die Annahme: Je größer die ideologische Distanz der Koalitionspartner in sozialpolitischen Fragen ist (Rechts-Links-Achse), desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit von Strukturreformen. Trotz der vielfältigen Untersuchungen zu Koalitionsregierungen wurden die Auswirkungen unterschiedlicher Koalitionskonstellationen auf die Politik bislang kaum systematisch untersucht. Die Studie von Ian Budge und Hans Keman (Budge & Keman 1990) enthält jedoch einige interessante Befunde. So haben Christdemokraten in Koalitionsregierungen eine vergleichbare sozialpolitische Bilanz wie sozialdemokratische Parteien, in Alleinregierungen ähnelt sie eher der von liberalen Einparteienregierungen (Budge & Keman 1990: 138ff.). Allerdings ist die vorgenommene Operationalisierung der sozialpolitischen Bilanzen der Regierungen problematisch. Die gesamten Sozialausgaben der Untersuchungsländer wurden entsprechend der Höhe geordnet und in vier Gruppen von „hochentwickelten Wohlfahrtsstaaten“ bis zu „schwach entwickelten Wohlfahrtsstaaten“ eingeteilt (Budge & Keman 1990: 139). Dadurch wird jedoch die Höhe der Sozialausgaben zwischen Staaten verglichen, und nicht die Ausgabenpolitik einer konservativen Regierung mit der einer sozialdemokratischen Regierung (und vice versa) im gleichen Land.42 Somit sind diese Ergebnisse nur ein grober Hinweis auf den Einfluss unterschiedlicher Koalitionspartner auf die Politik. Eine konkrete Hypothese lässt sich daraus nicht ableiten. 2.5.4 Zusammenfassung Die Annahme von parteipolitischen Effekten auf den Inhalt der Politik ist eine der normativen Grundlagen von liberalen Demokratien. Eine Demokratie ohne bedeutungsvolle Wahlen („meaningful elections“, vgl. Hadenius 1992) wäre bestenfalls als „defekte Demokratie“ zu bezeichnen (Merkel et al. 2003: 77). Der empirische Nachweis dieser Effekte ist jedoch nicht trivial, wie die obige Diskussion gezeigt hat. Die Theorien der Parteiendifferenz und des politischen Konjunkturzyklus’ sind Ausgangspunkte, um den Einfluss unterschiedlicher Regierungen auf die Reformtätigkeit zu überprüfen. 42
Die jährlichen Veränderungen der Sozialausgaben innerhalb der Länder werden lediglich im direkten Zusammenhang mit den jährlichen Veränderungen der Rüstungsausgaben untersucht (ebd.: 155ff.). Die Ergebnisse zeigen jedoch kein konsistentes Muster.
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Anders als die Theorie des political business cycle trifft die Parteiendifferenzhypothese zunächst keine Aussage über den Zeitpunkt von Reformen. Allerdings lässt sie genauere Aussagen über den zu erwartenden Inhalt bzw. die Richtung der Reformen zu. In der Kombination beider Konzepte lassen sich zunächst zwei Hypothesen formulieren: (1) Kurz vor Wahlen finden verstärkt sozialpolitisch expansive Reformen statt. Bei linken Regierungen geschieht das vornehmlich über die Erhöhung von Sozialleistungen. Rechte Regierungen werden eher Steuersenkungen durchführen. (2) Nach Wahlen werden insbesondere neue Regierungen versuchen, ihre wichtigsten Anliegen umzusetzen. Neue sozialdemokratische Regierungen werden also direkt nach den Wahlen Sozialleistungen erhöhen, konservative Regierungen hingegen die Steuern senken. Wie verhält es sich aber mit christdemokratischen oder bürgerlichen Mitteparteien? Eine Reihe von Untersuchungen hat die grundsätzliche Kontextabhängigkeit des Parteieinflusses betont (für einen Überblick siehe Franzese 2002: 407ff.). Dies gilt insbesondere für Christdemokraten und andere bürgerliche Mitteparteien, was auch durch die Befunde in den Untersuchungen von Budge & Keman (1990) bestätigt wurde. Aufgrund der ideologischen Mitteposition ist gerade das Verhalten von Christdemokraten und Zentrumsparteien theoretisch schwer vorherzusagen und stark von der Struktur des Parteienwettbewerbs abhängig. Unter Rückgriff auf die Überlegungen von Herbert Kitschelt (2001) lassen sich jedoch zwei Konstellationen unterscheiden, und die beiden oben genannten Hypothesen können für die Mitteparteien formuliert werden: (1b) Droht keine elektorale Gefahr von marktliberalen Parteien und konkurrieren die Mitteparteien maßgeblich mit Sozialdemokraten, werden sie in Wahljahren als Regierungspartei eher Sozialleistungen erhöhen, um sich als glaubwürdige alternative Verteidiger des Wohlfahrtstaates zu profilieren. Andernfalls sollten sie eher die Strategie der Steuersenkungen wählen. (2b) Auch neue christdemokratische Regierungen werden nach Wahlen versuchen, ihre zentralen Programmpunkte umzusetzen. Haben sie sich aufgrund der Hauptkonkurrenz von links als Verteidiger des Wohlfahrtsstaates profiliert, werden sie Sozialleistungen erhöhen. Haben sie eher das Bild einer bürgerlich-liberalen Partei abgegeben, werden sie Steuersenkungen durchsetzen. Mit diesen Ergänzungen der zwei Hypothesen werden nicht nur einzelne Akteure in den Blick genommen, sondern zusätzlich die Konstellationen innerhalb des Parteiensystems berücksichtigt. Die politische Koalitionstheorie lässt vermuten, dass die Aushandlungsprozesse in Koalitionsregierungen die Entscheidungsfindung im Vergleich zu Einparteienregierungen erheblich erschweren. Deswegen lauten zwei weitere Hypothesen: (3) Die legislative Aktivität und die Wahrscheinlichkeit von Strukturreformen ist bei Koalitionsregierungen geringer als bei Einparteienregierungen. (4) Die legislative Aktivität und die Wahrscheinlichkeit von Strukturreformen ist umso kleiner, je größer die ideologische Distanz der Koalitionspartner ist.
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Im Hinblick auf sozialpolitische Reformen können durch Unterschiede in der Zahl der Regierungsparteien (Einparteien- vs. Koalitionsregierungen), durch Unterschiede in der Zurechenbarkeit der Politikergebnisse (Einparteien- vs. Koalitionsregierungen, Föderalismus, korporatistische Strukturen) und durch Unterschiede in der Kohäsion bzw. Homogenität der Regierungspartei(en) weitere Abweichungen von den oben genannten Mustern auftreten. Diese Differenzen zwischen unterschiedlichen Regierungen und Ländern sind ihrerseits maßgeblich von Institutionen wie dem Wahlsystem beeinflusst. Gemäß dem hier verfolgten Konzept des akteurszentrierten Institutionalismus können also die in Kapitel 2.4 diskutierten Institutionen eine hemmende oder fördernde Wirkung auf die in den Hypothesen genannten Politikmuster zeigen. 2.6 Reformen und Interessengruppen Für die Untersuchung des Einflusses von Interessengruppen auf die Reformpolitik eignen sich vor allem zwei Theorieschulen. Dies ist zum einen die Theorie des kollektiven Handelns von Mancur Olson und zum anderen die Korporatismustheorie. Während die beiden Werke von Olson (1965, 1982) insgesamt eine skeptische Sicht auf die Wirkung von Interessengruppen auszeichnet, heben die meisten Korporatismustheorien auf die Vorteile der Einbindung von Interessengruppen in die Politikformulierung ab. Ein weiterer Unterschied besteht hinsichtlich des theoretischen Fundamentes. Werden Olsons Argumente systematisch auf der Grundlage der Theorie rationalen Handelns entwickelt, ist die theoretische Stringenz der meisten Korporatismuskonzepte schwächer ausgeprägt (Lehner 1992; Höpner 2007). Neben diesen beiden Theorien wird drittens die Rolle von Wohlfahrtsverbänden in sozialpolitischen Reformen diskutiert. Welche Hypothesen lassen sich im Hinblick auf Reformfähigkeit formulieren? 2.6.1 Die Theorie kollektiven Handelns Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Mancur Olson hat sich in seinen beiden Hauptwerken „The Logic of Collective Action“ und „The Rise and Decline of Nations“ kritisch mit der damals dominierenden Pluralismustheorie auseinandergesetzt. Die Pluralismustheorie hatte vor allem die Vorteile des Einflusses von Interessengruppen und Verbänden für die politische Willensbildung betont, in deren Folge sich auch die Qualität demokratischer Entscheidungen verbessern würde. Olsons „Logik des kollektiven Handelns“ (engl. Original: Olson 1965, dt.: Olson 1968) wartet zunächst mit einem paradoxen Größenargument auf: Kleine Interessengruppen, die ein relativ spezielles Anliegen haben, besitzen einen Organisationsvorteil gegenüber großen und umfassenden Interessengruppen. Den Ausgangspunkt für dieses Argument bilden rationale, den eigenen Nutzen maximierende Individuen. Diese Individuen gründen entsprechend ihrer besonderen Interessen Verbände (z.B. Gewerkschaften, Bauernverbände, den Verband der Bierbrauer, den Bund der Steuerzahler etc.). Diese Organisationen dienen dem Zweck, kollektive Güter für die Mitglieder herzustellen.43 Die kollektiven Gü43
Kollektivgüter sind all jene Güter, von deren Genuss andere Gruppenmitglieder nicht ausgeschlossen werden können.
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ter unterscheiden sich hinsichtlich ihres Allgemeinheitsgrades. An manchen Kollektivgütern hat ein großer Teil der Bevölkerung Interesse, für andere interessiert sich nur eine kleine Schicht. Die Intuition legt zunächst nahe, dass jene Organisationen im Vorteil sind, die für Kollektivgüter eintreten, an denen besonders viele Menschen interessiert sind. Warum ist es aber nicht so? Streng genommen geht es bei Olsons Argument nicht um Unterschiede zwischen kleinen und großen Organisationen, sondern um Unterschiede zwischen kleinen und großen Gruppen. Genauer: um die Frage, wie es um die Chancen steht, dass kleine und große Gruppen ein Kollektivgut für ihre Mitglieder bereitstellen. Ein Beispiel für eine große Gruppe wären alle abhängig Beschäftigten (oder gar alle Menschen, die saubere Luft verschmutzter Luft vorziehen), ein Beispiel für eine deutlich kleinere Gruppe wären Ärzte oder Unternehmer einer speziellen Branche. Die Schaffung eines kollektiven Gutes (höhere Löhne, sauberere Luft, hohe Behandlungsprämien, hohe Preise für die Branchengüter) erfordert in allen Fällen das Zutun einer hinreichend großen Zahl der Gruppenmitglieder. Weil jedoch alle Gruppenmitglieder vom Kollektivgut profitieren, wird das einzelne Gruppenmitglied versuchen, den eigenen Beitrag zu unterlassen und „kostenlos“ am Kollektivgut zu partizipieren („free-riding“). Grundsätzlich werden überhaupt nur dann Beiträge zum Kollektivgut geleistet, wenn der Nutzen für den Einzelnen am Gut die Kosten zur Herstellung übersteigt. Nun ist Olson der Meinung, dass bei großen Gruppen der Nutzen für die einzelnen Mitglieder relativ gering ist, bei kleinen Gruppen der individuelle Nutzen hingegen relativ groß sei – vergleichbar mit einem Kuchen, der in acht oder in 80 Stücke geteilt wird (vgl. Olson 1968: 22f. und 32.).44 Weil der individuelle Nutzen in großen Gruppen geringer ist, ist die Wahrscheinlichkeit entsprechend hoch, dass niemand einen Beitrag leistet. In kleinen Gruppen kann es jedoch vorkommen, dass sogar ein Einzelner die vollständigen Kosten zur Produktion des Kollektivgutes trägt, weil sein eigener Nutzen davon hinreichend hoch ist. Die Annahme, dass der individuelle Nutzen eines Gutes mit der Zahl weiterer Nutzer sinkt, trifft jedoch nicht auf alle Güter zu (sog. perfectly joint goods, z.B. saubere Luft). Doch auch für diese Güter sind Effekte zu beobachten, welche die Herstellung erschweren. So sind die Anreize zum Trittbrettfahren in einer großen Gruppe höher, ohne dass zwingend der individuelle Nutzen vom Kollektivgut geringer ist als in einer kleinen Gruppe. Allerdings ist der Versuch, ohne Kosten von einem Kollektivgut zu profitieren, auch in kleinen Gruppen schon zu beobachten. Das Trittbrettfahren ist streng genommen nur dann ein Größenphänomen, wenn der Nutzen des Kollektivgutes mit steigender Konsumentenzahl abnimmt oder zur Herstellung des Gutes das kollektive Handeln sehr vieler Gruppenmitglieder notwendig ist (z.B. weil die Kosten sehr hoch sind). Auch wenn das Größenargument in der von Olson formulierten Allgemeingültigkeit nicht völlig überzeugend ist, gibt es dennoch viele Fälle, in denen der behauptete Zusammenhang besteht. Welche Mechanismen führen dazu, dass sich dennoch auch große Gruppen bisweilen zu gemeinsamen Handlungen zusammenschließen? Die Antwort auf die geschilderten Grundprobleme des kollektiven Handelns besteht nach Olson in der Gründung von Organisationen, die selektive Anreize zur Mitgliedschaft und Kooperation bieten. Diese Anreize können eine positive Form in Gestalt von speziellen Vergünstigungen für Mitglieder annehmen oder durch Strafen oder Zwang eine negative Form haben. Kleine und homogene Gruppen können zusätzlich auf soziale Anreize zurück44
Für eine überaus lesenswerte Diskussion und Kritik der Verbindung von Gruppengröße mit der Fähigkeit, kollektive Güter herzustellen, siehe Hardin (1982, insbesondere Kapitel 3).
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greifen und damit die Bereitschaft erhöhen, der Organisation Arbeit oder Geld zur Verfügung zu stellen. Zudem sind die Entscheidungsprozesse in kleinen Gruppen im Normalfall schneller und effizienter und die Kontrollkosten geringer. Dies sind, verkürzt dargestellt, die Gründe für den Organisationsvorteil kleiner partikularer Gruppen gegenüber großen Gruppen, die allgemeine Interessen vertreten. Für die Frage des Zusammenhangs von Interessengruppen und Reformtätigkeit interessieren nun die Konsequenzen dieser Theorie. Hiervon handelt das auf die „Logik kollektiven Handelns“ aufbauende Werk „Aufstieg und Niedergang von Nationen“ (Olson 1985, engl. Original: Olson 1982). Normalerweise sollten alle Organisationen, gleichviel ob klein oder groß, ein Interesse an der Gesamtwohlfahrt und am wirtschaftlichen Wachstum ihres Landes haben. Denn wenn die Wohlfahrt eines Landes steigt, können sich die Organisationen berechtigte Hoffnung machen, dass auch sie davon profitieren werden. Interessengruppen sollten aus dieser Sicht einen Anreiz haben, ihre Handlungen am Gesamtwohl auszurichten und den „Kuchen größer zu machen“. Allerdings würden in diesem Fall die Kosten der Wohlfahrtssteigerung nur bei der (oder den) entsprechenden Organisation(en) anfallen; von den Vorteilen der Wohlfahrtssteigerung würden jedoch alle Bürger und Gruppen profitieren. Eine alternative Strategie wäre es, nicht den Kuchen zu vergrößern, sondern die Anstrengung auf die Vergrößerung des eigenen Stücks vom Kuchen zu konzentrieren – eine Umverteilungsstrategie. Auch hier fallen Kosten an, der Nutzen bleibt jedoch auf die eigene Organisation beschränkt (Olson 1985: 53ff.). Es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass durch die angestrebte veränderte Aufteilung das Sozialprodukt insgesamt sinkt. Weil dieser Rückgang jedoch durch den vergrößerten Anteil am Sozialprodukt überkompensiert wird, werden die meisten Organisationen dennoch die Verteilungsstrategie wählen: „Die Organisationen für kollektives Handeln in Gesellschaften, die wir betrachten, sind daher eher und in überwältigender Weise auf Kämpfe um die Verteilung von Einkommen und Vermögen ausgerichtet als auf die Produktion weiterer Güter […]“ (Olson 1985: 56). Diese Organisationen nennt Olson „Verteilungskoalitionen“ oder „Sonderinteressengruppen“, die typischen Beispiele sind Lobbygruppen, Kartelle, Berufsverbände und oft auch Gewerkschaften. Die übliche Methode, die diese Organisationen anwenden, ist die Lobbytätigkeit für eine Gesetzgebung, die den Zwecken der Mitglieder dient. Eine Ausnahme stellen Interessengruppen dar, die einen erheblichen Teil der Gesellschaft umfassen. Diese umfassenden Organisationen („encompassing organizations“) haben, anders als die Sonderinteressengruppen, einen Anreiz, die Wohlfahrt der Gesellschaft insgesamt zu fördern. Weil sie große Gruppen repräsentieren, ist die Kosten-Nutzen-Bilanz einer Strategie, die gleichzeitig den Kuchen verkleinert und das eigene Stück daran vergrößert, oft negativ. Deswegen werden umfassende Organisationen in der Regel versuchen, das Wohlfahrtsniveau insgesamt zu erhöhen, weil sie dadurch den Interessen ihrer Mitglieder am besten dienen (Olson 1985: 62ff.). Was sind nun die Konsequenzen der Olsonschen Theorie im Hinblick auf die Reformtätigkeit in Wohlfahrtsstaaten? Die zentrale Methode der Interessengruppen besteht in dem Versuch, die Gesetzestätigkeit über Lobbyarbeit zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Verteilungskoalitionen vertreten dabei partikulare Interessen. Die Hypothese lautet somit: Es sollte in Gesellschaften ohne umfassende Organisationen zu einem verstärkten Auftreten von partikularen und somit inkongruenten Programmreformen kommen. Umgekehrt sollten Regierungen in Ländern mit umfassenden Organisationen eher dazu in der Lage sein, Strukturreformen und stetige Programmreformen durchzusetzen (siehe auch Olson 1985: 94). Die entsprechenden Indikatoren zur Bestimmung des „Umfassungsgrades“ der Ver-
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bände sind z.B. Zahlen zur Gewerkschaftsdichte und zum Zentralisierungsgrad von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. Günther Schmid hat auf die wichtige Wechselwirkung der Verbandsstruktur mit dem Parteiensystem hingewiesen (Schmid 1992). Es sei schließlich denkbar – so seine Überlegungen –, dass integrierte Parteiensysteme (das Pendant zu umfassenden Verbandssystemen) die Folgen von Sonderinteressengruppen kompensieren oder eine Fragmentierung sowohl des Parteien- als auch des Verbandssystems den negativen Effekt verstärkt (ebd.: 175). Es sind vier Konstellationen denkbar: die Reintypen mit jeweils fragmentiertem oder integriertem Parteien- und Verbandssystem und die beiden Mischformen mit fragmentiertem Parteiensystem und integrierten Verbänden bzw. integriertem Parteiensystem und frgamentierten Verbänden. Die entsprechenden Hypothesen für die kongruenten Fälle sind naheliegend. In beiden Fällen sollten die Effekte verstärkt auftreten, weil im fragmentierten Fall die Sonderinteressengruppen im Parteiensystem für ihre Interessen die entsprechenden Partner finden können. Deckungsgleiche Interessen sind ebenfalls für den Fall von umfassenden Parteien und umfassenden Verbänden zu erwarten. Bei den Mischformen ist die Formulierung einer Hypothese schwieriger, allerdings kann man vermuten, dass der Effekt des Parteiensystems die Auswirkungen des Verbandssystems in der Sozialpolitik dominieren sollte. 2.6.2 Korporatismustheorie Die Korporatismustheorie war wie die Studien Mancur Olsons ebenfalls eine Reaktion auf die Pluralismustheorie (Czada 1994). Die Protagonisten der Korporatismusdebatte der 1970er Jahre waren Philippe C. Schmitter und Gerhard Lehmbruch. Im Gegensatz zu den Pluralismustheorien zielte die Korporatismusforschung stärker auf die Auswirkungen der politischen Einbindung von Interessengruppen auf die Output- als auf Input-Dimension des politischen Prozesses ab (Schubert 1995: 407). Dementsprechend spielt insbesondere das Verhältnis von Verbänden und Staat in den Korporatismuskonzepten eine wichtige Rolle.45 Schmitter nennt in seiner idealtypischen Gegenüberstellung von Korporatismus und Pluralismus acht Merkmale (Schmitter 1979: 66f.). Auf Verbändeseite sind funktionale Differenzierung und hierarchische Ordnung und Kooperation der Verbände innerhalb eines Sektors wesentliche Merkmale von korporatistischen Systemen. Der Staat erkennt seinerseits die entsprechenden (Dach-)Verbände als offizielle Verhandlungspartner an und erschafft damit ein Repräsentationsmonopol. Die regelmäßige und zum Teil fest institutionalisierte Einbindung von Verbänden in die Politikformulierung ist Bestandteil der meisten Korporatismuskonzepte.46 Im Verlauf der Korporatismusforschung beschränkte sich das Konzept zunehmend auf das Verhältnis von (insbesondere sozialdemokratischen) Regierungen und Gewerkschaften (z.B. bei Crouch 1985; Panitch 1981; Garrett 1998). Der Grund hierfür war das spezifische Interesse am Einfluss korporatistischer Strukturen auf die wirtschaftliche Entwicklung (Kenworthy 2003: 12). Dementsprechend berücksichtigten viele Korporatismusindizes Indikatoren wie den Zentralisierungsgrad der Gewerkschaften und der Lohnverhandlungssysteme. Dabei wurden die Organisationsformen und –grade der 45 46
Für eine Übersicht siehe auch Molina & Rhodes (2002). Für eine Übersicht siehe auch Reutter (1991).
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Arbeitgeberseite oft vernachlässigt. Es zeigt sich jedoch, dass eine mit den Gewerkschaften korrespondierende Organisationsstärke der Arbeitgeber eine wichtige Funktionsbedingung für den Korporatismus ist (Weßels 1996). Der klassische korporatistische Tausch verhandelte Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften gegen höhere Investitionen von Unternehmen und Staat. Doch mit dem Siegeszug des Monetarismus und dem Streben nach einem stabilen Währungsregime nahm die Bereitschaft von Regierungen ab, an dieser Form von Tauschgeschäften teilzunehmen. Auch wenn wiederholt das Ende des Korporatismus konstatiert wurde, wurde von anderer Seite eine neue Form korporatistischer Arrangements hervorgehoben (Ebbinghaus & Hassel 2000; Hassel 2003). Der neue Korporatismus in Form von „sozialen Pakten“ ist dabei von einer deutlich stärkeren Machtasymmetrie gekennzeichnet als der klassische Korporatismus. Die Regierungen verfolgen eine weitgehend monetaristische Politik und bieten den Gewerkschaften dementsprechend keine expansive Fiskalpolitik mehr an. Stattdessen zielt diese Form des Korporatismus auf Reformen des wirtschafts- und sozialpolitischen Rahmens ab. Im Falle der Lohnzurückhaltung wird Gewerkschaften also Mitsprache bei Sozialstaatsreformen eingeräumt. Sind sie nicht zur Lohnzurückhaltung bereit, drohen tiefere Einschnitte, um auf diesem Wege die Wettbewerbsfähigkeit des Landes zu verbessern. Soziale Pakte können jedoch auch in einer Form auftreten, die nicht einmal mehr Lohnzurückhaltung als konstitutives Element aufweist. Hier bringen die Sozialpartner vielmehr Informationen und Mobilisierung öffentlicher Unterstützung für eine Reform gegen die vom Staat gewährte Mitsprache bei der Ausgestaltung und Implementation dieser Reform ein (Culpepper 2002; Egle et al. 2004). In Bezug auf die Auswirkungen des Korporatismus auf die Reformfähigkeit eines Landes ist die Frage der ökonomischen Konsequenzen korporatistischer Arrangements allenfalls indirekt relevant. Hier geht es um die Frage nach den Auswirkungen der Einbindung von Verbänden auf die Häufigkeit und das Ausmaß von sozialpolitischen Reformen. Das Ziel des Korporatismus (wie auch der „sozialen Pakte“) ist die Vermittlung und Schlichtung von Konflikten zwischen Akteuren mit unterschiedlichen Interessenlagen (typischerweise Arbeit und Kapital) über wirtschaftspolitische Prioritäten und Strategien. Durch die Institutionalisierung des Konfliktes können konsensuale Lösungen gefunden und offener Konflikt vermieden werden. Diese Form der Kooperation vermeidet gemäß korporatistischen Ansätzen nicht nur gemeinwohlabträgliche Formen der Auseinandersetzung wie z.B. Streiks, sondern führt auch zu Positivsummenspielen. Die korporatistische Hypothese lautet also: Es ist zu vermuten, dass durch die konsensorientierte Orientierung Gegenreformen eine Ausnahme darstellen sollten. Damit ist freilich nicht gesagt, dass Reformen großen Ausmaßes unwahrscheinlich wären. Denn wenn ein Land von großen Umbrüchen oder Herausforderungen betroffen ist, können gerade (neo-) korporatistische Strukturen dazu führen, dass notwendige Reformen durchgeführt werden und eine Blockadestrategie überwunden werden kann. Allerdings ist ein Zickzackkurs im Reformpfad eines Landes (im Sinn von Gegenreformen) unwahrscheinlich, weil die Reformen im Konsens zwischen den wichtigsten politischen Akteuren ausgehandelt werden. Demnach wären Indikatoren wie Gewerkschaftsdichte oder der Zentralisierungsgrad, anders als bei der Olsonschen Theorie kollektiven Handelns, keine brauchbaren Indikatoren, obwohl für korporatistische Arrangements ein Mindestmaß an Repräsentation und Konzentration auf der Verbandsseite gegeben sein muss. Vielmehr wären Existenz und Einfluss von bi- oder tripartistischen Gremien ein wichtiger Indikator. Lane Kanworthy hat
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in seiner Zusammenstellung von 42 Korporatismusindikatoren nur drei identifiziert, die explizit versuchen, diese Dimension zu erfassen (Kenworthy 2003). Diese Indikatoren heben auf die Einbindung in wirtschaftspolitische Entscheidungen ab (Compston 1997; Lehmbruch 1984; Traxler et al. 2001). 2.6.3 Wohlfahrtsverbände und ihr Einfluss auf Reformen Neben Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden spielen in einigen Ländern Wohlfahrtsverbände im sozialpolitischen Bereich eine wichtige Rolle. Dieser Bereich der Verbändelandschaft stellt jedoch ein ausgesprochenes Forschungsdesiderat im Hinblick auf die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung dar. In der umfassendsten deutschen Studie in diesem Bereich (Schmid 1996) wurde für westliche Industrieländer mit vergleichsweise geringen Sozialausgaben eine schwach ausgeprägte Wohlfahrtsverbandslandschaft nachgewiesen. Der umgekehrte Befund war jedoch nicht festzustellen: Unter den Ländern mit überdurchschnittlichen Sozialausgaben sind sowohl solche mit einer stark ausgeprägten Wohlfahrtsverbandsstruktur wie auch solche, in denen die Wohlfahrtsverbände keine besondere Rolle spielen (Schmid 1996: 209f.). Allerdings beziehen sich diese Aussagen zum einen auf das Jahr 1980, zum anderen sind sie mit dem Hinweis auf eine nicht unproblematische Datenlage versehen. Die umfassendste Datenerhebung zu Struktur und Einfluss gemeinnütziger Verbände wurde im Rahmen des Johns Hopkins Comparative Nonprofit Sector Project47 durchgeführt. Die die meisten Publikationen im Zusammenhang mit diesem Projekt beschränken sich jedoch auf Länderstudien oder Strukturvergleiche (vgl. Salamon et al. 1999). Zudem befasst sich dieses Projekt allgemein mit dem gemeinnützigen Sektor, eine fokussierte Untersuchung der Wohlfahrtsverbände ist nicht Bestandteil. Zeitreihen sind ebenfalls nur für wenige Länder verfügbar. Zwar wurde aus dem Projekt eine Studie zur Lobbyarbeit gemeinnütziger Verbände in den USA verfasst (Salamon 2002). Dabei zeigte sich, dass zumal staatlich geförderte Verbände und solche, die sich zu einem vergleichsweise großen Teil über private Spenden finanzieren, aktive Lobbytätigkeiten aufweisen. Bei jenen Verbänden, die vornehmlich über Mitgliederbeiträge oder Gebühren finanziert sind, ist die Lobbytätigkeit geringer ausgeprägt. Dieser Befund spricht dafür, dass Verbände durch staatliche Finanzierung nicht etwa „ruhiggestellt“ werden. Stattdessen scheint die ‚Partnerschaftsthese’ (ebd.: 8) zuzutreffen, nach der staatliche Finanzierung Verbände und Staat in eine Kooperationsbeziehung versetzt. Diese Befunde gelten jedoch nicht spezifisch für Wohlfahrtsverbände, sondern umfassen wiederum die gesamte Verbandslandschaft. Die Frage der Lobbytätigkeit von Verbänden im Allgemeinen stellt in den USA schon seit langem und in Europa innerhalb der letzten zwei Dekaden ein prominentes Forschungsfeld dar.48 Dennoch ist der Anteil der Studien, die sich mit dem tatsächlichen Einfluss der Lobbytätigkeit auf die Gesetzgebung beschäftigen, relativ gering (Coen 2007: 333). Zur Lobbytätigkeit von Wohlfahrtsverbänden sind keine Studien bekannt, die sich mit den Auswirkungen auf Reforminhalte oder ausmaße beschäftigen.
47 48
Daten und Veröffentlichungen sind unter http://www.jhu.edu/~cnp/index.html zu finden. Für einen Überblick der Lobbyarbeit in der EU siehe Coen (2007).
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Es lassen sich somit höchstens im Analogieschluss Hypothesen formulieren. Die erste Hypothese gründet auf dem Zusammenhang von Finanzierungsstruktur und Lobbytätigkeit (Salamon 2002). Es ist zu vermuten, dass der Einfluss von Verbänden auf die sozialpolitische Reformtätigkeit vor allem in jenen Ländern feststellbar sein sollte, in denen Wohlfahrtsverbände zu einem großen Teil staatlich finanziert sind. Die zweite Hypothese bezieht sich auf die Literatur zu den sozialen Pakten. Wohlfahrtsverbände können nicht wie Gewerkschaften oder Arbeitgeber Güter wie Lohnzurückhaltung oder Investitionen anbieten. Sie verfügen jedoch über umfangreiche Informationen über den sozialstaatlichen Sektor. Allerdings scheint für sie kein Kompensationsgut für Sozialkürzungen zu bestehen, wie es die Gewerkschaften in Form erhoffter zusätzlicher Arbeitsplätze kennen. Kooperation im Falle von Kürzungsmaßnahmen sollte also normalerweise nicht auftreten. Damit lässt sich eine zweite Hypothese formulieren: In Ländern mit starken Wohlfahrtsverbänden sind Abbaumaßnahmen schwerer durchzusetzen als in Ländern mit schwachen Wohlfahrtsverbänden. 2.6.4 Zusammenfassung Die Diskussion des Einflusses von Interessengruppen auf die Reformtätigkeit hat Hypothesen hervorgebracht, die sich auf unterschiedliche Merkmale der Verbandslandschaft beziehen. Die Theorie kollektiven Handelns zielt vor allem auf Größe und Zentralisierungsgrad von Interessengruppen ab, und die Korporatismustheorie fragt eher nach der Existenz bioder tripartistischer Institutionen. Forschungen zur Rolle und zum Einfluss von Wohlfahrtsverbänden bleiben ein Desiderat; die entsprechenden Hypothesen wurden im Analogieschluss formuliert. (1) Es sollte in Gesellschaften ohne umfassende Organisationen zu einem verstärkten Auftreten von inkongruenten Reformmaßnahmen kommen. Umgekehrt sollten Regierungen in Ländern mit umfassenden Organisationen eher dazu in der Lage sein, stetige Programmreformen oder Strukturreformen durchzuführen. (2) Es ist zu vermuten, dass durch die konsensorientierte Politik des Korporatismus Gegenreformen eine Ausnahme bleiben. (3) In Ländern mit starken Wohlfahrtsverbänden sind sozialstaatliche Rückbaumaßnahmen schwerer durchzusetzen als in Ländern mit schwachen Wohlfahrtsverbänden. Wie bereits die Untersuchung von Parteien und Regierungen gezeigt hat, spielen die Konstellationen der Akteure eine wichtige Rolle. Dies wurde auch von der Korporatismusforschung in mehrfacher Hinsicht betont, und es spiegelt sich bereits in dem Kriterium des „Umfassungsgrades“ (z.B. Zentralisierungsgrad von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden) wider. Weil die Interessenverbände jedoch keine direkte legislative Gestaltungsmacht haben, ist neben der Konstellation innerhalb der Verbändelandschaft auch das Verhältnis zwischen Verbandsstruktur und Parteiensystem von Belang. Peter Lange und Geoffrey Garrett haben theoretisch und empirisch die Interaktion von politischer und organisatorischer Stärke der Linken untersucht (Lange & Garrett 1985, 1987). Im Hinblick auf die wirtschaftliche Performanz wurden zwei Konstellationen als positiv identifiziert: Umfassende Gewerkschaften und gleichzeitig starke sozialdemokratische Parteien oder schwache
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Gewerkschaften und gleichzeitig eine schwache Sozialdemokratie wirken sich positiv auf das Wirtschaftswachstum aus. Hier kommt es entweder zum korporatistischen Tausch (Lohnzurückhaltung gegen staatliche Investitionen, s.o.) oder zu niedrigen Löhnen aufgrund schwacher Gewerkschaften verbunden mit hohen privatwirtschaftlichen Investitionen wegen der erwarteten hohen Rendite durch die geringen Lohnsteigerungen (Lange & Garrett 1985: 800f.). Die beiden inkongruenten Fälle mit starker Gewerkschaftsbewegung und schwacher Sozialdemokratie bzw. schwachen Gewerkschaften und einer starken politischen Linken sind hingegen abträglich für die wirtschaftliche Performanz. Die Gewerkschaften werden aufgrund der Unsicherheit der politisch induzierten Re-Investition der aus Lohnzurückhaltung entstandenen Gewinne ihre organisatorische Stärke in Form hoher Lohnforderungen durchsetzen. Dadurch steigt die Streikgefahr, die sich negativ auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirkt. Im Falle eines zersplitterten Gewerkschaftslagers hingegen fehlt der politischen Linken der verlässliche Verhandlungspartner. Die einzelnen Gewerkschaften werden sich nicht auf Lohnzurückhaltung einlassen, schließlich droht die Gefahr, dass andere Gewerkschaften als Trittbrettfahrer die Vorteile niedriger Löhne mitnehmen und für ihre Mitglieder dennoch höhere Löhne aushandeln (ebd.: 800). Das Kongruenzargument beruht (implizit) auf unterschiedlichen Interaktionsformen von Parteien und Interessengruppen. Diese Annahmen über das Verhältnis und die Verhandlungen zwischen unterschiedlichen Parteien und Gewerkschaften lassen sich auf die Reformfähigkeit übertragen. Es sollten also ähnliche Interaktionsmuster zu erwarten sein (Abbildung 9). Die Unterstützung von Gewerkschaften für weitreichende Reformen sollte von linken Parteien leichter zu gewinnen sein als von rechten Parteien. Auch hier wird die Einbindung maßgeblich durch eine zentralisierte Verbandslandschaft erleichtert. Ist dies gegeben, kann gesellschaftliche Unterstützung möglicherweise auch für unpopuläre Maßnahmen gewonnen werden. Die elektoralen Kosten für die Regierung sinken somit. Zersplitterte Verbände sind deutlich schwerer in Reformen einzubinden. Gelingt die Einbindung nicht, werden Protest und Mobilisierung gegen Reformen von jenen Organisationen hervorgerufen, deren Mitglieder Nachteile durch die Veränderungen erwarten. Aufgrund der engeren Verbindung von Gewerkschaften zu sozialdemokratischen Parteien (im Gegensatz zu liberalen oder konservativen Parteien) ist diese Mobilisierung vor allem für die politische Linke problematisch. Rechte Regierungen sollten eine größere Immunität gegenüber solchen Protesten besitzen. Abbildung 9:
Auswirkungen politischer und organisatorischer Akteurskonstellationen auf die Reformtätigkeit Zentralisierte Interessengruppen
Zersplitterte Interessengruppen
Linke Regierung
+
–
Rechte Regierung
–
+
Quelle: Eigene Darstellung.
3 Modell(e) der Reformfähigkeit Modell(e) der Reformfähigkeit
Mit den meisten Konzepten oder Theorien, die in den vorangegangenen Kapiteln zur Hypothesenbildung herangezogen wurden, lassen sich Aussagen darüber treffen, welche Bedingungen sich negativ auf die Wahrscheinlichkeit weitreichender Reformen auswirken. Positive Rahmenbedingungen hingegen lassen sich oft nur mit der Analogieannahme identifizieren. Am Beispiel von Tsebelis’ Vetospielerkonzept lässt sich dies verdeutlichen: Viele Vetospieler sind abträglich für die Wahrscheinlichkeit weitreichender Veränderungen des Status quo. Ob wenige Vetospieler zu vermehrten umfassenden Reformen führen, ist damit jedoch nicht gesagt. Dennoch wird dies oftmals – zumindest implizit – angenommen. Das zeigt sich in quantitativen Untersuchungen beispielsweise durch den Rückgriff auf lineare Regressionsmodelle, die genau diesen Analogiezusammenhang prüfen. Es ist jedoch denkbar, dass eine bestimmte institutionelle Ausprägung (oder Akteurskonstellation) sich positiv auf die Reformtätigkeit auswirkt, andere Ausprägungen (oder Konstellation) jedoch nicht – also weder eine positive noch eine negative Wirkung zeitigen. Um nicht vorschnell den Analogieschluss zu übernehmen, werden in den beiden folgenden Unterkapiteln nur diejenigen institutionellen Arrangements und Akteurskonstellationen zusammenfassend dargestellt, denen ein theoretisch begründeter positiver oder negativer Einfluss auf die Reformtätigkeit zugeschrieben werden konnte. Im zweiten Teil der Untersuchung wird die Frage der Wirkung empirisch überprüft, soweit dies möglich ist. Eine weitere wichtige Einschränkung ist vorzunehmen. Bei den institutionellen Merkmalen und den Akteurskonstellationen handelt es sich jeweils um Ausprägungen, die Reformen wahrscheinlich(er) oder unwahrscheinlich(er) machen. Eine logische Notwendigkeit ist damit nicht verbunden. Dies hat vor allem mit der Freiheit der Akteure zu tun. Sie können andere als „normale“ Präferenzen haben, irrational handeln, Fehler begehen und dergleichen mehr. Es handelt sich bei den Modellen somit nicht um strenge Kausalbeziehungen, für die gilt: „Immer wenn X, dann Y.“ Stattdessen liegen den Modellen Aussagen der Form „wenn X, dann ist Y eher wahrscheinlich“ zu Grunde. Die Freiheit der Akteure hat vor allem Auswirkungen für die Erklärung von Nicht-Reformen. Sie können durch Akteure verhindert werden, die ein institutionelles Mitspracherecht haben. Sie können aber auch auftreten, weil kein Akteur eine Veränderung des Status quo anstrebt. Dieses theoretische Problem hat eine empirische Entsprechung: Schließlich werden Reformen als Veränderungen des Status quo gemessen. Nicht-Reformen können hingegen verhinderte Reformen sein oder nicht gewollte Veränderungen des Status quo. Eine Datenbasis über verhinderte Reformen gibt es nicht. Und wenn der Status quo beibehalten wurde, weil niemand ihn verändern wollte, lässt sich keine Aussage darüber treffen, ob er sich überhaupt hätte verändern lassen. Auf dem Weg kontrafaktischer Annahmen ließe sich zwar (begründet) darüber spekulieren. Mit Fakten wären diese Annahmen jedoch nicht zu belegen. Zunächst aber zu den institutionellen Ausprägungen und Akteurskonstellationen, die Reformen wahrscheinlich oder unwahrscheinlich machen.
Modell(e) der Reformfähigkeit
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3.1 Die Unmöglichkeit von Reformen Insbesondere Vetospieler-Konzepte und Vetospieler-Indizes betonen die Einschränkung der politischen Handlungsfähigkeit, die von zusätzlichen Akteuren ausgeht, welche durch Institutionen mit Entscheidungsmacht ausgestattet sind. Die meisten Institutionen werden also im Hinblick auf ihre reformabträgliche Wirkung diskutiert. In Kapitel 2.4 wurde dem symmetrischen und inkongruenten Bikameralismus, dem Föderalismus, der bi- oder tripartistischen Verwaltung von Sozialversicherungen sowie Referenden in Form von Vetobegehren eine hemmende Wirkung auf Reformversuche zugesprochen. Ihnen gemein ist, dass sie jeweils zusätzliche Akteure in den Entscheidungsprozess einbinden und damit zumindest die Transaktionskosten erhöhen. In den meisten Fällen wird durch eine Zunahme der an einer Entscheidung beteiligten Akteure auch die ideologisch-programmatische Heterogenität steigen. Diese Wirkung kann empirisch noch einer weiteren Institution zugeschrieben werden: Wahlsystemen mit starker Proportionalität. In vielen Fällen führt das Verhältniswahlrecht zu einer größeren Zahl von im Parlament vertretenen Parteien und erhöht damit auch die Wahrscheinlichkeit von Koalitionsregierungen. Allerdings ist dies kein notwendiger Zusammenhang. Auch unter einem Verhältniswahlrecht sind Einparteienregierungen oder Minderheitsregierungen theoretisch möglich und empirisch zu beobachten. Allerdings führen stark proportionale Wahlsysteme dazu, dass neue oder vormals nicht im Parlament vertretene Parteien einen im Vergleich zu Mehrheitswahlsystemen leichten Zugang zum Parlament haben. Dadurch stellen ideologisch benachbarte Oppositionsparteien für Regierungsparteien eine besondere Gefahr dar. Diese besondere Konkurrenzsituation sollte dazu führen, dass Regierungsparteien, die mit solchen Wettbewerbern konfrontiert sind, unpopuläre Reformen im jedem Fall zu vermeiden suchen. Wahlsysteme mit hoher Proportionalität haben also durch die verstärkte angebotsseitige Wettbewerbssituation eine reformabträgliche Wirkung. In den Kapiteln 2.5 und 2.6 ließen sich zunächst unabhängig vom institutionellen Kontext konkrete Akteurskonstellationen identifizieren, von denen eine reformabträgliche Wirkung ausgehen sollte. Dies sind allgemein gesprochen zunächst ideologisch heterogene Koalitionen. Nimmt man neben den Koalitionsparteien die Oppositionsparteien und die Interessengruppen in den Blick, um die Konstellationen genauer zu beschreiben, muss man zwischen heterogenen linken und heterogenen christdemokratischen Koalitionen unterscheiden. Im Fall einer linken Koalitionsregierung sollten sich vor allem linkssozialistische und christdemokratische Oppositionsparteien als Reformhindernis erweisen. Denn beide Parteien versuchen in den Worten Herbert Kitschelts das Bild eines „credible protector of the welfare state“ abzugeben (Kitschelt 2001). Ist ideologische Distanz innerhalb einer Koalition ein Reformhindernis, so stellen auch ideologisch nahe Parteien in der Opposition eine zu vermutende Hürde für Reformen dar. Eine zersplitterte Interessengruppenlandschaft sollte sich ebenfalls abträglich auf die Reformtätigkeit linker Koalitionsregierungen auswirken, weil die den Gewerkschaften nahe stehenden Sozialdemokraten keinen umfassenden Ansprechpartner haben. Der Handlungsspielraum einer heterogenen christdemokratischen Koalitionsregierung wird vor allem durch eine starke sozialdemokratische Oppositionspartei eingeschränkt – zumindest dann, wenn der religiöse Cleavage keine dominante Rolle (mehr) spielt. Bei den Interessengruppen sollten in dieser Konstellation umfassende Organisationen einen Nachteil bedeuten. Der Blick richtet sich ebenfalls vor allem auf das Gewerkschaftslager. Da die
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Modell(e) der Reformfähigkeit
„natürlichen Verbündeten“ der Gewerkschaften sozialdemokratische bzw. sozialistische Parteien sind, werden Gewerkschaften einer christdemokratisch geführten Regierung skeptischer gegenüberstehen. Die Einbindung in weitreichende Reformen ist vergleichsweise schwierig, und das geschlossene Auftreten gegen Reformmaßnahmen erhöht die politischen Kosten. Abbildung 10: Reformabträgliche Institutionen und Konstellationen Institutioneller Kontext Proportionale Wahlsysteme
Formaler Föderalismus
Probleme: Beständige Probleme
linkssozialistische und starke christdemokratische Konkurrenzparteien Heterogene linke Koalitionsregierung Zersplitterte und schwache Interessengruppen
symmetrischer oder inkongruenter Bikameralismus
Starke sozialdemokratische Konkurrenzpartei
Vetobegehren Heterogene christdemokratische Koalitionsregierung Bipartistische Verwaltung der Sozialversicherungen
Zentralisierte und starke Interessengruppen
Entscheidungen: Keine Strukturreformen Sozialpolitische Expansion in Wahljahren
Entscheidungen: Keine Strukturreformen Sozialpolitischer Rückbau, außer in Wahljahren
Quelle: Eigene Darstellung.
Insbesondere bei den Akteurskonstellationen sind vielfältige Variationen denkbar, von denen ebenfalls erwartet werden kann, dass die Reformfähigkeit einer Regierung merklich reduziert ist. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass bei den meisten Institutionen empirisch nur eine begrenzte Varianz zu beobachten ist. Koalitions- und Oppositionskonstellationen sind hingegen theoretisch wie empirisch äußerst vielfältig. Die Abbildung 10 identifiziert lediglich zwei Konstellationen, von denen eindeutig eine hemmende Wirkung in Bezug auf die Reformtätigkeit ausgehen sollte. Konservative Regierungen beispielsweise können ebenfalls in einem ungünstigen institutionellen Umfeld und unter schwierigen Akteurskonstellationen an der Macht sein. Allerdings ist nicht zu erwarten, dass der Parteienwettbewerb bei Existenz einer starken konservativen Partei von ideologischer Nähe zu einer sozialdemokratischen Partei geprägt wird, wie es in der Sozialpolitik häufig bei christdemokratischen Parteien der Fall ist. In Bezug auf Wohlfahrtsstaatsreformen ist eine konservative Koalition also in einer komfortableren Situation als eine christdemokratische Koalition. Es wurden also nur diejenigen Konstellationen abgebildet, welche die schlechtesten Ausgangsbedingungen für Reformen darstellen.
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Zusätzlich zu Institutionen und Akteuren und ihren Konstellationen ist die Problemlage aufgeführt. Wie in Kapitel 2.2 ausgeführt, erhöhen länger andauernde Probleme die Wahrscheinlichkeit, dass Parteien unterschiedliche Lösungskonzepte entwickeln und die Reaktionen auf die „objektiven“ Problemlagen Eingang in den Parteienwettbewerb finden. Werden aber einzelne Parteien mit spezifischen Lösungsansätzen für ein Problem identifiziert, wird die Abkehr von einer Lösungsstrategie für diese Partei mit der Angst vor elektoralen Verlusten verbunden sein. Damit steigen die Transaktionskosten für eine Einigung zwischen den Parteien, und es kommt zu schwierigeren Aushandlungsprozessen. Spieltheoretisch steigt die Wahrscheinlichkeit von Ergebnissen, in denen nicht die optimale Lösung erzielt wird (siehe Kapitel 2.2 und Scharpf 2000). 3.2 Die Möglichkeit von Reformen Wie sollten der institutionelle Kontext und die Akteurskonstellationen gestaltet sein, damit die Wahrscheinlichkeit von Reformmaßnahmen steigt? Während die meisten machtaufteilenden Institutionen reformabträglich sind, sollten machtkonzentrierende Institutionen in der Regel die Durchsetzung von Reformen erleichtern. Somit ist das Mehrheitswahlrecht aufgrund der Tendenz, zu klaren Mehrheitsverhältnissen im Parlament zu führen, theoretisch das für Reformen förderlichste Wahlsystem, ebenso wie ein unitarischer Staat und die Existenz nur einer Parlamentskammer. Ist die Agendamacht der Regierung gegenüber der Legislative stark ausgeprägt, sollte sich dies ebenfalls positiv auf die Reformfähigkeit auswirken. Volksinitiativen haben laut Theorie eine reformförderliche Wirkung. Hier stellt sich die empirische Frage, ob es Länder gibt, in denen Initiativen ohne das reformabträgliche Pendant des Vetobegehrens existieren. Ist das nicht der Fall, wäre nach dem Effekt der Kombination beider Institutionen zu fragen. Theoretisch ist diese Konstellation hingegen denkbar und wird somit in die Zusammenfassung der reformzuträglichen institutionellen Merkmale aufgenommen (Abbildung 11). Die genannten institutionellen Ausprägungen sind förderliche Bedingungen für weitreichende Reformen. Hinreichend sind sie jedoch nicht. Denn möglicherweise haben die Akteure kein Interesse an der Veränderung des Status quo. Damit müssen also Akteurskonstellationen identifiziert werden, von denen man annehmen kann, dass die Akteure ein Interesse an Reformen haben. Nach einem Regierungswechsel sollten die neuen Regierungen in den meisten Fällen an der Veränderung des Status quo interessiert sein. Besonders leicht erscheint dies, wenn es sich um eine Einparteienregierung handelt. In Bezug auf die Oppositionskonstellationen und Interessengruppen können wiederum zwei Fälle unterschieden werden. Eine linke Einparteienregierung hat es vor allem dann leicht, wenn die Opposition aus (möglichst schwachen) liberalen und konservativen Parteien besteht, die ideologische Distanz in sozialpolitischer Hinsicht also vergleichsweise groß ist. Eine zusätzliche Ressource stellt in diesem Fall ein zentralisiertes und umfassendes Gewerkschaftslager dar, das in den konservativen und liberalen Parteien keine alternativen Bündnispartner im Parlament findet. Die analoge Konstellation für eine rechte Regierung besteht in einer konservativen Einparteienregierung nach einem Regierungswechsel, die nicht mit einer liberalen oder bürgerlichen Opposition im Parlament konfrontiert ist, sondern lediglich mit Konkurrenzparteien des linken Spektrums. Wenn zudem ein schwaches und zersplittertes Gewerkschaftslager vorhanden ist, sind die Reformhürden besonders niedrig.
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Abbildung 11: Reformzuträgliche Institutionen und Konstellationen Institutioneller Kontext
Disproportionales Wahlsystem
Starke Agendamacht der Regierung
Probleme: Zukünftige Probleme Plötzliche Krisen
Schwache konservative und liberale Konkurrenzparteien
Entscheidungen: Strukturreformen Häufige Programmreformen
linke Einparteienregierung nach Regierungswechsel
Inkongruente Programmreformen
Zentralisierte und starke Interessengruppen
Sozialpolitische Expansion in Wahljahren und direkt nach Wahlen
Unitarischer Staat Schwache linke Konkurrenzparteien
Unikameralismus
konservative Einparteienregierung nach Regierungswechsel Volksinitiativen zersplitterte und schwache Interessengruppen
Entscheidungen: Strukturreformen Häufige Programmreformen Inkongruente Programmreformen Sozialpolitischer Rückbau, außer in Wahljahren
Quelle: Eigene Darstellung.
Hinsichtlich der Problemkonstellationen sollten zukünftige Probleme oder plötzliche Krisen besonders günstige Rahmenbedingungen bieten. Im ersten Fall ist der Problemdruck vergleichsweise gering und bietet einen großen Handlungsspielraum. Im Fall von plötzlich auftretenden Problemen ist der Problemdruck zwar groß, jedoch ohne dass sich gesellschaftliche und politische Koalitionen entlang bestimmter Reformmöglichkeiten gebildet hätten. Aus diesem Grund ist auch hier ein vergleichsweise großer Handlungsspielraum vorhanden. Im Hinblick auf die zu erwartenden Reformmuster lassen sich zwei generelle Hypothesen und eine konstellationsspezifische Vermutung formulieren. Allgemein sollten beide Akteurskonstellationen unter dem beschriebenen institutionellen Kontext die Möglichkeit zu umfassenden Strukturreformen bieten. Durch einen Regierungswechsel ist zudem davon auszugehen, dass vermehrt inkongruente Programmreformen stattfinden, also Reformen, die in die entgegengesetzte Richtung der Vorgängerregierung zeigen. Nimmt man zudem die parteipolitische Ausrichtung in den Blick, ist unter linken Einparteienregierungen vermehrt eine sozialpolitische Expansion zu erwarten. Unter konservativen Einparteienregierungen sollten hingegen vor allem Kürzungen stattfinden – mit Ausnahme von Wahljahren. Denn auch konservative Regierungen werden unpopuläre Maßnahmen normalerweise nicht direkt vor neuen Wahlen verabschieden. Die empirische Haltbarkeit der Modelle in Bezug auf ihre einzelnen Bestandteile und Interaktionen zwischen einzelnen Elementen ist Gegenstand des zweiten, empirischen Teils.
Teil II: Empirie
4 Einleitung Einleitung
Anhand der im Teil I vorgegebenen Struktur werden die Reformen der Renten- und Arbeitslosenversicherung in 18 OECD-Ländern im Zeitraum von 1980 bis 2002 verglichen. Hierfür wurde ein Datensatz erstellt, der im Gegensatz zu den üblichen Untersuchungen wohlfahrtsstaatlicher Reformen nicht auf Ausgabenquoten beruht, sondern die Programmreformen in den beiden Versicherungszweigen erfassen soll (Kapitel 5). Auf Grundlage dieses Datenmaterials werden die Hypothesen schrittweise einer Prüfung unterzogen: Was erklärt der Problemdruck (Kapitel 6.1)? Welche Rolle spielen Institutionen (Kapitel 6.2)? Welchen Einfluss üben unterschiedliche Parteien und Koalitionen aus (Kapitel 6.3)? Beeinflussen Interessengruppen die Reformpolitik (Kapitel 6.4)? Zu Beginn dieser Unterkapitel wird die Operationalisierung der entsprechenden unabhängigen Variablen beschrieben, um dann ihre Erklärungskraft hinsichtlich der Reformen der Renten- und Arbeitslosenversicherung in den Blick zu nehmen. Kapitel 6.5 fragt danach, inwieweit ein integriertes Modell zur Erklärung der Reformen erstellt werden kann. Der Schlussteil (Kapitel 7) resümiert die empirischen Befunde vor dem Hintergrund der theoretischen Annahmen und fasst die zentralen Erkenntnisse zusammen. Zuvor müssen jedoch die Fallauswahl, die Gründe für die Fokussierung auf Rentenund Arbeitslosenversicherung und die zur Anwendung kommenden Methoden diskutiert werden. 4.1 Fallauswahl Welche Länder sollten die Grundlage für eine vergleichende Untersuchung der Reformfähigkeit bilden? Weil die möglichen Unterschiede in den Reformmustern mit unterschiedlichen Ausprägungen demokratischer Institutionen und unterschiedlichen Konstellationen der Akteure innerhalb eines demokratischen Rahmens erklärt werden sollen, engt sich die Gruppe der Länder auf alle rechtsstaatlich verfassten liberalen Demokratien ein. Durch die Fokussierung auf die sozialpolitische Reformfähigkeit von Wohlfahrtsstaaten wird der Kreis der Länder nochmals enger gezogen. Um von Sozialpolitik in einem substantiellen Sinn sprechen zu können, ist ein gewisses ökonomisches Entwicklungsniveau notwendig. Vergliche man sozialpolitische Reformen hoch entwickelter Industrieländer mit jenen von Entwicklungsländern, überdeckten die Niveauunterschiede unter Umständen den Einfluss von politischen Institutionen und Akteurskonstellationen, welche die jeweiligen Reformpfade hervorbringen.49 Dementsprechend wird die Länderauswahl auf die OECD-Welt eingegrenzt. Weil die Untersuchung von Reformpfaden eine Längsschnittdimension mit 49
Der Fall würde anders liegen, wenn die Entstehung von Wohlfahrtsstaaten erklärt werden sollte. Bei dieser Fragestellung wären sowohl Länder mit hoch entwickelten wohlfahrtsstaatlichen Arrangements in das Untersuchungssample aufzunehmen wie auch solche, die keine oder nur eine schwach entwickelte Sozialpolitik aufweisen.
94
Einleitung
sich bringt, erscheint eine weitere Eingrenzung geboten: Es sollten Länder sein, die über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg in die Kategorie der OECD-Staaten fallen. Eine verlässliche Datengrundlage für eine hinreichend große Zahl von Ländern ist ab den 1980er Jahren verfügbar (siehe unten). Die Gründungsstaaten der OECD sind Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Griechenland, Irland, Island, Italien, Kanada, Luxemburg, Niederlande, Norwegen, Österreich, Portugal, Schweden, Schweiz, Spanien, Türkei, das Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten. Aufgrund der Transitionsphase von totalitären Regimen zu Demokratien in der Türkei, Spanien und Portugal fallen diese Länder aus dem Sample. Die Monarchie Luxemburg wird ebenso ausgeklammert wie die rund 300.000 Einwohner zählende Republik Island. Betrachtet man das wirtschaftliche Entwicklungsniveau der übrigen Länder, fällt Griechenland deutlich ab und wird deswegen ebenfalls ausgeschlossen. Neben den verbleibenden 14 Ländern kommen Finnland, Japan, Australien und Neuseeland hinzu, da sie über den gesamten Zeitraum rechtsstaatliche Demokratien waren und ihr wirtschaftlicher Entwicklungsstand dem der übrigen Länder sehr nahe kommt. Mit dieser Fallauswahl reduzieren sich die Unterschiede zwischen den Ländern weitgehend. Damit wird die Problematik vermieden, die Lijpharts Studie über die „Patterns of Democracy“ (Lijphart 1999) durch den Vergleich von so disparaten Ländern wie Deutschland und Papua-Neuguinea kennzeichnet. Dort sind die Unterschiede zwischen Ländern innerhalb einer Gruppe teilweise weitaus beträchtlicher als die Unterschiede zwischen den Gruppen (Schmidt 2000a: 346). Da auch hier Gruppenunterschiede geprüft werden, die sich z.B. durch eine bestimmte institutionelle Konfiguration ergeben, sollten andere Erklärungsfaktoren weitgehend ausgeschlossen werden. Zwar sind auch innerhalb der 18 OECDLänder vielfältige ökonomische, kulturelle und soziale Unterschiede vorhanden. Bei einer Abwägung zwischen Homogenität der Untersuchungsländer und einer möglichst großen und repräsentativen Fallzahl erscheint die Wahl der OECD-18-Länder die sinnvollste Entscheidung zu sein. 4.2 Bereichsauswahl Weniger aus methodischen als aus forschungspraktischen Gründen muss ebenfalls eine Selektion der zu untersuchenden Bereiche der Sozialpolitik vorgenommen werden. Auch wenn eine umfassende Analyse aller sozialpolitischen Politikfelder wünschenswert ist, kann sie hier nicht für 18 Länder über 23 Jahre hinweg durchgeführt werden. Die Untersuchung beschränkt sich vielmehr auf die Renten- und Arbeitslosenversicherungen der 18 OECD-Länder. Für diese Auswahl sprechen mehrere Gründe. Das Rentensystem ist zunächst dasjenige Sicherungssystem, das die meisten Bürger in Anspruch nehmen. Zudem bilden die staatlichen Rentenausgaben in den OECD-Ländern den größten sozialpolitischen Ausgabenblock. Durch den (zum Teil immensen) Anstieg des Anteils der über 65-Jährigen sind in den meisten Industrieländern die staatlichen Ausgaben zur Finanzierung des Rentensystems seit 1980 weiter angestiegen. Im Durchschnitt der 18 Untersuchungsländer entfielen 1980 knapp sechs Prozent des Bruttosozialproduktes auf die Alterssicherung, im Jahr 2002 betrug dieser Wert über sieben Prozent (vgl. Tabelle 7). Das sind im Schnitt über 15 Prozent der Staatsausgaben oder ca. 40% des Sozialbudgets; in einigen Ländern sind es sogar über zwei Drittel aller Sozialausgaben, die für die staatliche
Einleitung
95
Rente verwendet werden. Der steigende Anteil der Rentner stellt jedoch nicht nur die Finanzierung der gesetzlichen Systeme zur Alterssicherung vor Herausforderungen. Rentner sind auch Wähler. Reformen des Rentensystems sind deswegen für Regierungen ein besonders heikles Unterfangen. Tabelle 7: Anteil der Ausgaben für Rente und Arbeitslosigkeit in Prozent des BIP, 1980 und 2002 Staatliche Rentenausgaben in % des BIP
Staatliche Ausgaben für die Arbeitslosenversicherung in % des BIP
Ø OECD-18, 1980 Minimum 1980 Maximum 1980
5,9 % 2,8 % 10,0 %
1,0 %* 0,1 % 4,8 %
Ø OECD-18, 2002 Minimum 2002 Maximum 2002
7,1 % 2,8 % 12,8 %
1,2 % 0,3 % 3,1 %
* 1980 liegen keine Daten für Frankreich und Irland vor Quelle: OECD, Social expenditure Database.
Im Vergleich zu den staatlichen Ausgaben für die Rente sind die Staatsausgaben für Arbeitslosigkeit deutlich niedriger. Im Jahr 2002 machten nach Angaben der OECD die Ausgaben für die Arbeitslosenversicherungen im Schnitt 2,5 Prozent der Staatsausgaben aus. Gleichwohl gehört die Arbeitslosenversicherung zum sozialpolitischen Kernbestand der Wohlfahrtsstaaten. Vor allem in der ersten Hälfte der 1980er Jahre und zu Beginn der 1990er Jahre waren die OECD-Länder mit zum Teil beträchtlichen Anstiegen ihrer Arbeitslosenquoten konfrontiert, so dass über 15 Prozent der Erwerbsbevölkerung ihr Einkommen aus der Arbeitslosenversicherung beziehen mussten. Die beiden sozialen Sicherungssysteme waren also in allen Ländern mit objektiven Problemen konfrontiert. Gleichzeitig variiert jedoch das Ausmaß der Problemlagen zwischen den Ländern und über die Zeit. Dies ist bereits an den Unterschieden bei den staatlichen Rentenausgaben erkennbar. 2002 wurde in Irland nur 2,8 Prozent des BIP für die staatliche Alterssicherung aufgewandt, wohingegen Österreich 12,8 Prozent des BIP für die Renten verwendete. Auch bei den Ausgaben für die Arbeitslosenversicherung variieren die Zahlen beträchtlich. In Belgien und Dänemark flossen zeitweilig über drei Prozent des Bruttosozialproduktes in diesen Bereich, in Großbritannien und den USA war es hingegen 2002 weniger als ein halbes Prozent. Die Unterschiede lassen sich ebenfalls an den Arbeitslosenquoten und am Altenquotient ablesen (vgl. Tabelle 8). So betrug der Altenquotient (Verhältnis der über 65-Jährigen zu den 15-65-Jährigen) 2002 in Japan 0,28, in Irland hingegen nur 0,1650. Und die Arbeitslosenquoten variierten 2002 zwischen Werten von deutlich unter fünf Prozent in Österreich und der Schweiz bis zu über neun Prozent in Italien und Frankreich. Allerdings waren nur vier der 18 Untersuchungsländer (Österreich, Schweiz, Norwegen, Japan) über den Zeitraum von 1980 bis 2002 nicht mit Arbeitslosenquoten von über neun Prozent konfrontiert. 50
Anders formuliert: auf 100 Menschen zwischen 15 und 65 Jahren kommen in Japan 28 über 65jährige, in Irland hingegen nur 16.
96 Tabelle 8:
Einleitung Altenquotienten und Arbeitslosenraten der 18 OECD-Länder, 1980 und 2002
Land
Jahr
Altenquotient
Arbeitslosenquote
Australien
1980 2002
0.15 0.19
6.1 6.4
Belgien
1980 2002
0.22 0.26
8.1 6.9
Dänemark
1980 2002
0.22 0.22
6.9 4.8
Deutschland
1980 2002
0.23 0.27
3.2 8.6
Finnland
1980 2002
0.18 0.23
4.7 9.1
Frankreich
1980 2002
0.22 0.25
6.6 9.1
Großbritannien
1980 2002
0.23 0.24
5.7 5.1
Irland
1980 2002
0.18 0.16
7.4 4.2
Italien
1980 2002
0.19 0.27
7.7 9.1
Japan
1980 2002
0.14 0.28
2.0 5.4
Kanada
1980 2002
0.14 0.19
7.5 7.7
Neuseeland
1980 2002
0.15 0.18
2.2 5.2
Niederlande
1980 2002
0.17 0.20
6.2 2.6
Norwegen
1980 2002
0.23 0.23
1.7 3.9
Österreich
1980 2002
0.24 0.23
1.9 4.0
Schweden
1980 2002
0.25 0.27
2.2 5.2
Schweiz
1980 2002
0.21 0.24
0.2 3.1
USA
1980 2002
0.17 0.19
7.1 5.8
Anmerkung: Der Altenquotient beschreibt das Verhältnis der Bevölkerung über 65 Jahre zur Bevölkerung zwischen 15 und 65 Jahre. Quelle: OECD Employment and Labour Market Statistics (www.sourceoecd.org).
Einleitung
97
Somit sind bei den Untersuchungsländern grundlegende ökonomische und strukturelle Gemeinsamkeiten ebenso gegeben wie grundsätzlich ähnliche Herausforderungen an die Renten- und Arbeitslosenversicherung. Trotz dieser grundlegenden Gemeinsamkeiten, die eine Basis für den Vergleich von 18 Ländern bilden, weisen die Renten- und Arbeitslosenversicherungen vielfältige Unterschiede auf. Um diese Vielfalt zu reduzieren, wurden von Wohlfahrtsstaatsforschen zahlreiche Typologien entwickelt.51 So differenziert die Trennung in Beveridge- und Bismarcksysteme hinsichtlich der Finanzierungs- und Leistungsarten (Steuern und Einheitssätze vs. Sozialversicherungsbeiträge und gestaffelten Leistungssätzen). Die Typologie von Esping-Andersen (1990) fragt vor allem nach dem Dekommodifizierungsgrad und identifiziert eine liberale (niedrige Dekommodifizierung), eine konservative (mittlere Dekommodifizierung) und eine sozialdemokratische Welt (hohe Dekommodifzierung) des Wohlfahrtstaates, in die 18 Untersuchungsländer zugeordnet werden. Spätere Typologien haben den drei Welten weitere hinzugefügt, um den Besonderheiten der südund osteuropäischen Länder Rechnung zu tragen. Hier geht es jedoch nicht um die Wirkungen spezifischer Konfigurationen des Sozialstaates, sondern um die Veränderungsmuster. Um diese Veränderungen abzubilden, wurden in Kapitel 2.3 die zentralen Ansatzpunkte von Struktur- und Programmreformen beschrieben. Die spätere Beschreibung der Rentenund Arbeitslosenversicherungen orientiert sich mithin an dort genannten Merkmalen und nicht an bestehenden Typologien. 4.3 Datenquellen Was ist die Datengrundlage für die Untersuchung der sozialpolitischen Reformfähigkeit von Demokratien? Weil „Reform“ hier zunächst in einem engen Sinn als Veränderung des legislativen Staus quo verstanden wird, sind die meisten Datensammlungen von OECD, Eurostat und ILO nicht oder nur sehr eingeschränkt zu gebrauchen. Denn die sozialpolitischen Indikatoren sind in der überwiegenden Zahl Outcome-Indikatoren. Die Veränderung von Outcomes als Grundlage für die Beurteilung der Reformfähigkeit eines Landes zu nehmen, ist jedoch äußerst problematisch. Denn Veränderungen der Armuts- oder Arbeitslosenquoten sind nicht notwendig auf Veränderungen in der Arbeitslosenversicherung, der Sozialhilfe oder der Rentenversicherung zurückzuführen. Konjunkturelle Einflüsse können ebenso dafür verantwortlich sein wie die Lohnabschlüsse der Tarifpartner oder andere Rahmenbedingungen, die jenseits des direkten Einflusses des Gesetzgebers liegen. Dasselbe gilt für aggregierte Ausgabenquoten wie z.B. die Sozialleistungsquote, die in vielen Studien die Grundlage für die sogenannte „Retrenchment-Debatte“ war. Und selbst wenn man die Veränderungen innerhalb solcher Outcome-Indikatoren auf Reformen des Wohlfahrtsstaates zurückführen kann, würde auf dieser Datengrundlage eher die Frage der Wirkung von Reformen beantwortet als die Frage der Reformtätigkeit. Aus diesen Gründen wird sich die empirische Untersuchung der Reformtätigkeit im Folgenden hauptsächlich auf zwei Datenquellen stützen. Zum einen auf die NATLEX-Datenbank der ILO und zum anderen auf den von Lyle Scruggs konzipierten „Comparative Welfare Entitlements Dataset“ (Scruggs 2005a). Die NATLEX-Datenbank ist eine Sammlung der Sozial- und Arbeitsmarktgesetzgebung von über 170 Ländern, die vom „International Labour Standards Department“ der ILO 51
Für eine Übersicht siehe Arts & Gelissen (2002).
98
Einleitung
geführt wird (ILO 2008). Die Datenbank wurde 1970 ins Leben gerufen, allerdings ist die Erhebung erst seit den 1980er Jahren umfassend (Scholz & Trantas 1995). Im September 2007 beinhaltet die Datenbank über 55.000 Einträge. Die Gesetze aus den Bereichen der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik werden dabei 23 Kategorien zugeordnet, die zum Teil noch weitere Unterkategorien aufweisen52. Die für die vorliegende Untersuchung relevanten Gesetze wurden allesamt aus dem Bereich „Social security“ entnommen, mit folgenden Unterkategorien: „Medical care and sickness benefit“, „Old-age, invalidity and survivors benefit“, „Employment accident and occupational disease benefit“, „Unemployment benefit“, „Social assistance and services“ und „Administration and financing“. Die NATLEXDatenbank lässt somit zunächst generelle Aussagen über die legislative Aktivität in der Sozialpolitik sowohl innerhalb von Ländern über die Zeit wie auch vergleichend zwischen Ländern zu. Damit ist freilich noch nichts über das Ausmaß der Veränderungen gesagt, welches die einzelnen Gesetze nach sich ziehen. Die Entscheidung, ob eine Gesetzesänderung oder ein neues Gesetz eine „signifikante Änderung“ bedeutet, ist schlechterdings nicht durch Einzelfallprüfung zu leisten: Die Datengrundlage umfasst insgesamt 7.051 Gesetze in 18 OECDLändern im Zeitraum von 1980 bis 2002. Eine solche Identifizierung von signifikanten Gesetzen aus der NATLEX-Datenbank wurde zwar von der internationalen Forschergruppe im Rahmen des Projekts „Parliaments and Majority Rule in Western Europe“ durchgeführt (siehe Döring 1995a; Döring & Hallerberg 2004). Dabei handelte es sich jedoch nur um 650 Gesetze aus dem Bereich des Arbeitsrechts in 18 Ländern. Die Einordnung in signifikante und nicht signifikante Gesetze wurde anhand der „Encyclopedia of Labor Law“ vorgenommen, einer von Roger Blainpain herausgegebenen Sammlung der wichtigsten arbeitsrechtlichen Gesetze in einer Vielzahl von Ländern. War ein Gesetz sowohl in der NATLEX-Datenbank wie auch in der Encyclopedia aufgeführt, wurde es als signifikant eingestuft. Leider existiert eine solche Sammlung für die Bereiche der Arbeitslosen- und Rentenversicherung für den Untersuchungszeitraum von 1980 bis 2002 nicht.53 Die zweite und wichtigere Grundlage für die Untersuchung der Reformtätigkeit bildet ein von Lyle Scruggs im Rahmen des „Welfare State Entitlements Project“ erstellter Datensatz. Der Datensatz „Welfare State Entitlements: A Comparative Institutional Analysis of Eighteen Welfare States“ (Scruggs 2005a; im Folgenden CWED) enthält detaillierte Informationen über Renten-, Arbeitslosen- und Krankengeldversicherungen in 18 OECDLändern.54 Für diese drei Versicherungen sind insgesamt über 50 Indikatoren zu Lohnersatzleistungen, Bezugskriterien und Deckungsraten enthalten. Bislang wurden diese Daten für die Beantwortung der klassischen Fragen der Wohlfahrtsstaatsforschung verwendet: Rückbau vs. Ausbau, parteipolitische Effekte auf Rück- und Ausbau oder Überprüfung 52
53 54
Die 23 Kategorien sind: General provisions, Freedom of association, collective bargaining and industrial relations, Elimination of forced labour, Elimination of child labour, protection of children and young persons, Equality of opportunity and treatment, Tripartite consultations, Labour administration, Employment policy, promotion of employment and employment services, Education, vocational guidance and training, Employment security, termination of employment, Cooperatives, Conditions of employment, Conditions of work, Occupational safety and health, Social security, Maternity protection, Migrant workers, Seafarers, Fishers, Dock workers, Indigenous and tribal peoples, Specific categories of workers, International agreements. Für zwölf europäische Länder liegt eine solche Zusammenstellung für den Zeitraum von 1945 bis 1980 vor (Flora 1987). Dieses Projekt wurde nicht fortgeführt. Die Länder sind Australien, Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Irland, Italien, Japan, Kanada, Neuseeland, Niederlande, Norwegen, Österreich, Schweden, Schweiz und die USA.
Einleitung
99
bestehender und Konstruktion neuer Typologien (Allan & Scruggs 2004; Scruggs 2001, 2006, Scruggs & Allan 2006). Allerdings bieten die jährlich dokumentierten Daten auch die Gelegenheit, die Veränderungsmuster in einer anderen Perspektive zu beleuchten. Neben der Häufigkeit von Veränderungen lässt sich das Ausmaß einzelner Reformen ebenso analysieren wie die Sequenz von Reformschritten: Wurde nur die Bezugsdauer verändert oder gleichzeitig auch die Höhe der Leistungen? Fanden mehrere kleine Reformschritte aufeinanderfolgend statt, oder gab es eine singuläre Reform größeren Ausmaßes? Der CWED-Datensatz eignet sich somit vor allem zur Identifizierung von Programmreformen. Aus diesen verfügbaren Daten ergibt sich auch die Begrenzung des Untersuchungszeitraums auf die Jahre von 1980 bis 2002: Für diesen Zeitraum liegen für alle 18 Länder Informationen vor. Für die Strukturveränderungen in der Renten- und Arbeitslosenversicherung wurde neben diversen Artikeln und Monographien zu Renten- und Arbeitslosenversicherungen auf die im Zweijahresrhythmus erscheinenden „Social Security Programs Throughout the World“ (SSAW div. Jahrgänge) zurückgegriffen, in denen zentrale Informationen über die Strukturmerkmale der wichtigsten sozialen Sicherungssysteme aufgeführt werden.
5 Reformen im internationalen Vergleich Reformen im internationalen Vergleich
5.1 Legislative Aktivität im Vergleich Vergleicht man die legislative Tätigkeit in der Sozialpolitik in den 18 OECD-Ländern, sind große Unterschiede festzustellen (Abbildung 12). So führt die NATLEX-Datenbank im Zeitraum von 1980 bis 2002 in Großbritannien insgesamt 883 verabschiedete oder geänderte Gesetze auf, in der Schweiz waren es im gleichen Zeitraum hingegen lediglich 54. Im Durchschnitt gab es 391,7 neue oder veränderte Gesetze pro Land. In diesen Zahlen sind zum Teil jedoch Gebiete enthalten, die nicht oder nur sehr eingeschränkt einer landesweiten Gesetzgebung unterstehen, wie etwa Überseegebiete und Kronkolonien, zum Teil auch föderale Untereinheiten wie Bundesstaaten oder Provinzen. So finden sich in der Datenbank nicht nur die sozialpolitischen Gesetze auf der Bundesebene von Australien, sondern auch insgesamt 209 Gesetze der dortigen Bundesstaaten, einzig für das Australian Capital Territory und das Jervis Bay Territory sind keine Einträge vorhanden. Diese beiden Territorien haben jedoch auch abgestufte legislative Befugnisse im Vergleich zu den übrigen Bundesstaaten. In Kanada sind Gesetze für acht der zehn Provinzen dokumentiert, es fehlen Neubraunschweig (New Brunswick, frz. NouveauBrunswick) und Neuschottland (Nova Scotia, frz. Nouvelle-Écosse). Die stärker unter Bundesverwaltung stehenden drei Territorien Kanadas (Yukon-Territorium, NordwestTerritorien und Nunavut) haben keine eigenständigen Gesetze erlassen oder wurden nicht berücksichtigt. Für Italien sind auf subnationaler Ebene lediglich zwei Dekrete aufgeführt, die die Anpassung der nationalen Gesetzgebung im Bereich der Sozialversicherung für die besonderen Umstände und Bedürfnisse des Aostatals erlauben. Für andere Regionen mit Sonderstatus wie Friaul-Julisch Venetien, Sardinien, Sizilien und Trentino-Südtirol sind keine Gesetze enthalten. Die 13 Gesetze auf regionaler Ebene in Dänemark betreffen ausnahmslos Grönland und Färöer, die beide autonome Bestandteile Dänemarks sind. In Frankreich beinhalten die 60 nicht die nationale Ebene betreffenden Gesetze ausnahmslos nationale Regelungen, die von Überseedepartements und Überseeterritorien übernommen oder abgewandelt wurden (z.B. Guadeloupe, Réunion, Mayotte). Das gleiche gilt für die Niederlande. Hier sind es die Niederländischen Antillen, die formal zum Niederländischen Königreich gehören, die jedoch eine eigene Verfassung und vollständige Autonomie besitzen (bis auf die Außen- und Verteidigungspolitik). Weniger einheitlich stellt sich die Datenlage für Großbritannien dar. Unter den Gesetzen der subnationalen Ebene betreffen zwar viele die Kronbesitztümer und Überseegebiete. Es finden sich jedoch auch Gesetze darunter, die Nordirland und Schottland betreffen. Für Belgien sind im sozialpolitischen Bereich 49 Gesetze der drei Gemeinschaften (die Flämische Gemeinschaft, die Französische Gemeinschaft und die Deutschsprachige Gemeinschaft) und für zwei der drei Regionen aufgeführt (Wallonische Region, Region Brüssel-Hauptstadt, keine Gesetze der Flämischen Region). Die drei Gesetze, die für die subnationale Ebene der USA enthalten sind, betreffen die Inselgruppe der Marianen (Außenge-
Reformen im internationalen Vergleich
101
biet der USA) und die Marshallinseln (bis 1990 unter der Treuhandschaft der USA). Die legislative Tätigkeit der Bundesstaaten wurde nicht erfasst. Abbildung 12: Sozialpolitische Gesetzgebungsaktivität in 18 OECD-Ländern, 1980-2002 900 800 700 600 500 400 300 200 100 0
BEL
FRA
UK
SWE
FIN
DNK
NET
nationale Ebene
AUS
US
NOR
IRE
CAN
AUT
NEZ GER
JAP
ITA
SWI
subnationale und autonome Gebiete
Quelle: ILO 2008, eigene Berechnung.
Die Berücksichtigung von Überseegebieten oder Kronkolonien für die Untersuchung der sozialpolitischen Reformfähigkeit eines Landes erscheint wenig sinnvoll. In den meisten Fällen handelt es sich um die Übernahme oder abgewandelte Übernahme von gesetzlichen Regelungen durch die formal unabhängigen Parlamente der hauptsächlich verteidigungsund außenpolitisch assoziierten Gebiete. In der weiteren Untersuchung werden diese Gesetze nicht berücksichtigt. Schwieriger ist jedoch die Entscheidung, wie mit Gesetzen von föderalen Einheiten umzugehen ist. Beispielsweise ist die konkrete Ausgestaltung der Arbeitslosenversicherung in den USA Angelegenheit der Bundesstaaten (ummantelt von einer bundesstaatlichen Rahmengesetzgebung). Die Gesetzgebung der Bundesstaaten der USA ist jedoch nicht in der NATLEX-Datenbank aufgeführt. In Kanada hingegen werden Teile der Rentengesetzgebung auf der Ebene der Provinzen geregelt und sind auch in der Datenbank enthalten. Nun können für Reformen auf subnationaler Ebene nicht einfach die Institutionen und Akteurskonstellationen der nationalen Ebene als erklärende Variable übernommen werden. Stattdessen müssten diese Variablen spezifisch für die politischen und institutionellen Konstellationen der Bundesstaaten bzw. Länder oder Provinzen erhoben werden. Damit
102
Reformen im internationalen Vergleich
verließe man jedoch die ursprüngliche Fragestellung und würde sich der Untersuchung der Sozialpolitik auf subnationaler Ebene widmen. Deswegen werden im Folgenden sämtliche Gesetze der föderalen Ebenen ebenso vernachlässigt wie die Gesetze der Überseegebiete.55 Abbildung 13: Sozialpolitische Gesetzgebungsaktivität im Zeitverlauf in 18 OECD-Ländern 600
500
Anzahl der Gesetze
400
300
200
100
0 1980 1981 1982 1983 1984 1985 1986 1987 1988 1989 1990 1991 1992 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002
Anmerkung: Ohne Gesetzgebung subnationaler und autonomer Territorien. Quelle: IL= 2008, eigene Berechnung.
Vernachlässigt man die Gesetzgebung subnationaler und autonomer Territorien, ist die Varianz zwischen den Ländern noch immer beträchtlich. Doch auch im Verlauf des Untersuchungszeitraumes von 23 Jahren sind deutliche Veränderungen zu beobachten (Abbildung 13). Von 1983 bis 1987 hat sich die Zahl der jährlich verabschiedeten Gesetze von 79 auf 312 fast vervierfacht, um dann bis 1992 dieses Niveau in etwa beizubehalten. Nach einem kurzen Anstieg auf das Höchstniveau von 497 bzw. 470 Gesetzen in den Jahren 1993 und 1994 ging die legislative Aktivität mit unruhigem Verlauf bis 2002 wieder auf das Niveau von Mitte der 1980er Jahre zurück. Hinter diesen aggregierten Zahlen verbergen sich jedoch durchaus unterschiedliche Länderprofile (Abbildung 14). Während Länder wie Deutschland, Österreich, Italien, Neuseeland und die Schweiz über den gesamten Untersuchungszeitraum hinweg ein konstant niedriges Niveau aufweisen, sind in Dänemark, Belgien, Finnland, Schweden, den Niederlanden und Großbritannien starke Schwankungen bei der Zahl der verabschiedeten Gesetze zu beobachten. Insbesondere Großbritannien hat im Jahr 1997 einen außergewöhnlichen Scheitelpunkt zu verzeichnen. Von 27 verabschiedeten sozialpolitischen Gesetzen im Jahr 55
Natürlich spielt der Föderalismus durchaus für die Untersuchung und Erklärung der Reformen auf nationaler Ebene eine Rolle. Siehe dazu Kapitel 6.2 und 6.5.
50
100 150
1980 1985 1990 1995 2000
UK
1980 1985 1990 1995 2000
NET
1980 1985 1990 1995 2000
FRA
1980 1985 1990 1995 2000
AUT
Jahr
1980 1985 1990 1995 2000
USA
1980 1985 1990 1995 2000
NEZ
1980 1985 1990 1995 2000
GER
1980 1985 1990 1995 2000
BEL
Anmerkung: Ohne Gesetzgebung subnationaler und autonomer Territorien.
1980 1985 1990 1995 2000
SWI
1980 1985 1990 1995 2000
JAP
1980 1985 1990 1995 2000
FIN
1980 1985 1990 1995 2000
AUS
CAN
1980 1985 1990 1995 2000
NOR
1980 1985 1990 1995 2000
IRE
1980 1985 1990 1995 2000
Abbildung 14: Länderprofile der legislativen Aktivität in der Sozialpolitik, 1980-2002
Anzahl pro Jahr
0
100 150
50
0
100 150
50
0
100 150
50
0
1980 1985 1990 1995 2000
SWE
1980 1985 1990 1995 2000
ITA
1980 1985 1990 1995 2000
DNK
104
Reformen im internationalen Vergleich
1996 stieg die Zahl 1997 auf 117 an, um 1998 auf 15 Gesetze zurückzugehen. Neben solchen länderspezifischen Besonderheiten sind auch einige Parallelen zu beobachten. So ist in vielen Ländern in der ersten Hälfte der 1990er Jahre eine überdurchschnittliche legislative Aktivität festzuhalten, die bis auf Frankreich und Belgien danach wieder nachließ. Dies gilt jedoch vor allem für jene Länder, die ohnehin ein mittleres oder hohes Aktivitätsniveau haben. Neben der länderspezifischen und zeitlichen Verteilung lassen sich auch inhaltliche Muster identifizieren. Innerhalb des Bereiches „Social Security“ teilt die NATLEXDatenbank die Gesetze in sieben Unterkategorien ein, wobei einzelne Gesetze teilweise auch mehreren Kategorien zugeordnet wurden (Tabelle 9). Insgesamt wurden die meisten Gesetze im Bereich der Alterssicherung verabschiedet, nahezu 28% aller Gesetze fallen in dieses Gebiet. In Finnland betrafen sogar über die Hälfte aller Gesetze Regelungen zur Renten- und Hinterbliebenversicherung. Nur in Österreich und Belgien liegt der Anteil mit 12% bzw. 17% deutlich niedriger. Auch in den übrigen Unterkategorien fallen einige Besonderheiten auf. So entfällt in Österreich der größte Teil der Gesetzgebung auf allgemeine Regelungen zur sozialen Sicherheit, in Kanada, Dänemark und der Schweiz war es hingegen die Arbeitslosenversicherung, auf die der Gesetzgeber das Hauptaugenmerk legte. Bei den legislativen Veränderungen der Arbeitslosenversicherung ist darüber hinaus ein geografisches Muster erkennbar. Die skandinavischen Länder weisen in diesem Bereich eine überdurchschnittliche Tätigkeit auf. Während über alle Länder hinweg knapp 14% aller Gesetze in diesen Bereich fallen, beträgt der Durchschnitt der vier skandinavischen Länder (Dänemark, Schweden, Finnland, Norwegen) für diesen Bereich knapp 23%. In Deutschland, den Niederlanden und Belgien war der Gesetzgeber bei den Regelungen zur Gesundheitsversicherung und zum Krankengeld überdurchschnittlich aktiv, in Japan und Neuseeland war die Berufsunfähigkeit ein legislativ besonders intensiv behandelter Gegenstand. Die Zahlen zum legislativen Output geben keine Auskunft darüber, wie umfangreich und teifgreifend die Auswirkungen der verabschiedeten Gesetze auf die sozialen Sicherungssysteme tatsächlich waren. Es lassen sich nicht ohne Weiteres Aussagen darüber machen, ob die verabschiedeten Gesetze Programm- oder Strukturveränderungen bedeuten, welche Reichweite und welches Ausmaß die legislativen Maßnahmen hatten (vgl. Kapitel 2.5). Die in der NATLEX-Datenbank aufgeführten Gesetze bedeuten lediglich eine legislative Veränderung des Status quo. Der Datensatz „Welfare State Entitlements“ (CWED) enthält jedoch weitere Informationen zu den beiden von den 18 OECD-Ländern am häufigsten behandelten Bereichen (Alterssicherung und Arbeitslosenversicherung), um diese Frage genauer zu beleuchten. 5.2 Rentenreformen im Vergleich Deutschland war 1889 das Pionierland der Rentengesetzgebung, bereits zwei Jahre später führte Dänemark eine nationale Altersrente ein (siehe Abbildung 15). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte die Einführung nationaler Rentenversicherungen Hochkonjunktur, gegen Mitte der 1930er Jahre folgten die USA, Norwegen und Finnland. Die Schweiz bildet das Schlusslicht unter den Untersuchungsländern – erst 1946 wurde eine nationale Rentenversicherung eingeführt, allerdings gab es bereits seit 1916 eine Pflichtversicherung in den meisten Kantonen.
28,57
29,63
26,45
27,04
19,84
12
Italien
Japan
Kanada
Neuseeland
Niederlande
Norwegen
Österreich
13,78
4,4
24,07
20,95
18,4
19,03
5,64
4,13
38,52
15,18
2,94
3,59
5,41
5,35
17,3
11,5
33,58
18,91
0,29
13,76
4,72
5,56
21,65
31,2
23,08
16,54
19,83
4,44
12,5
14,71
15,9
10,05
19,27
2,34
20,35
4,43
18,16
10,91
11,88
9,43
11,11
10,74
6,4
13,77
23,15
8,26
0,74
11,61
4,41
7,69
4,17
10,4
11,35
21,24
9,59
18,03
13,86
9,49
6,6
20,37
2,99
13,6
3,24
5,84
6,61
5,19
1,79
14,71
8,21
23,18
17,43
5,95
6,19
7,01
7,46
9,14
Arbeits- Soziale Sicher- Gesundheitsver- Administration losigkeit heit (allg. sicherung und und FinanRegelungen) Krankengeld zierung
Anmerkung: Ohne Gesetzgebung subnationaler und autonomer Territorien. Quelle: ILO 2008, eigene Berechnung.
37,11
42,65
Irland
28,46
34,36
Großbritannien
Alle Länder
28,13
Frankreich
USA
23,85
Finnland
27,11
50,45
Deutschland
22,22
21,24
Dänemark
Schweiz
22,14
Belgien
Schweden
44,84
17,16
Australien
Rente und Hinterbliebenenversicherung
Tabelle 9: Legislative Aktivität in 18 OECD-Ländern nach Bereichen (in Prozent)
6,64
10,69
0
3,17
6,4
0,4
7,78
2,48
0
8,04
1,47
14,36
11,9
9,02
2,7
8,85
8,3
6,47
1,77
Sozialhilfe und soziale Dienste
5,97
2,2
7,41
7,57
2,4
4,86
1,36
23,14
1,48
16,96
8,82
2,05
6,03
8,1
5,41
2,65
7,75
6,34
3,54
10,01
24,84
9,26
5,81
9,6
15,79
12,65
9,09
20
5,36
10,29
13,85
11,13
6,57
4,5
7,96
7,2
7,46
15,63
100
100
100
100
100
100
100
100
100
100
100
100
100
100
100
100
100
100
100
Arbeitsunfälle Nicht Summe und Berufs- eindeutig unfähigkeit
106
Reformen im internationalen Vergleich
885
1890
1895
1900
1920
1925
1930
1935
1940
eiz Sc hw
an Ja p
US A No r Fin weg nla en nd
da
n
Ka na
Nie
1915
Be lgie
ien , Ir rei lan d, de c h Au rla str nd alie e, Sc n hw e d Ita en lie n nk
bri tan n 1910
Fra
ch 1905
Gr oß
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Ne us ee
Dä
De u
tsc hla nd ne ma rk
lan d
Abbildung 15: Zeitpunkte der ersten nationalen Rentengesetzgebung in 18 OECD-Ländern
1945
Quelle: SSAW 1981, eigene Darstellung.
5.2.1 Strukturmerkmale und Strukturreformen der Rentensysteme Nicht nur der Zeitpunkt der Einführung von staatlichen Rentenversicherungen unterscheidet sich erheblich, auch die Struktur der Rentensysteme weist eine beträchtliche Variation auf. Die grundlegenden Strukturmerkmale von Rentenversicherungen lassen sich anhand der Leistungsart, der Zugangskriterien, der Trägerschaft und des Finanzierungssystems beschreiben (vgl. Kapitel 2.5.1). Auch wenn theoretisch eine Vielzahl unterschiedlicher Merkmalskombinationen denkbar ist, treten empirisch nur wenige Typen auf. Dabei konzentriert sich die folgende Darstellung und Untersuchung auf die staatlichen Säulen der Rentenversicherungen. In den meisten Ländern gibt es zwei staatliche Säulen: eine staatliche Grundsicherung und eine einkommensbezogene Rentenversicherung. Die dritte Säule besteht aus freiwilligen betrieblichen oder privaten Rentenversicherungen. Zwar ist Politik auch hier in Form von Regulierungen und Anreizen tätig, allerdings werden die Entwicklungen auf diesem Sektor auch von individuellen und betrieblichen Entscheidungen angestoßen, auf die der Staat keinen direkten Einfluss hat. Aus diesem Grund wird die Entwicklung im Bereich der freiwilligen Altersvorsorge hier nicht näher unter die Lupe genommen.56 Bereits innerhalb der ersten Säule der Rentensysteme sind grundlegende Strukturunterschiede zu beobachten. Grundsätzlich lassen sich hier zwei Systemstrukturen unterscheiden (vgl. Abbildung 16). Es gibt erstens Länder mit einer universellen einheitlichen Grundrente und bedürftigkeitsgeprüften Zuschlägen. Der universelle Einheitssatz ist normalerweise lediglich an eine bestimmte Anzahl von Jahren gebunden, in denen das Land der Hauptwohnsitz des Rentenempfängers war. In manchen Fällen (z.B. Norwegen) ist auch eine bestimmte Zahl von Beitragsjahren erforderlich, die Höhe der gezahlten Beiträge spielt allerdings keine Rolle. Zweitens gibt es Länder mit einer vollständig bedürftigkeitsgeprüften Grundsicherung. Nur dann, wenn das Einkommen aus der zweiten oder dritten Säule nachweislich das Existenzminimum unterschreitet, besteht ein Anspruch auf Leistungen. Zum Teil ist diese Mindestsicherung nicht Bestandteil des Rentensystems, sondern wird, wie bis 2003 in Deutschland, über die Sozialhilfe geregelt.57 56 57
Der Grund für die Nichtberücksichtigung ist also methodischer Natur, es handelt sich nicht etwa um ein Relevanzkriterium. Zum 1. Januar 2003 wurde auch in Deutschland mit der „Grundsicherung im Alter“ eine bedürftigkeitsgeprüfte Mindestsicherungskomponente in das Rentensystem eingebaut.
Reformen im internationalen Vergleich
107
Abbildung 16: Strukturen der ersten Säule der Rentensysteme in 18 OECD-Ländern 1980 und 2002 im Vergleich Universelle Einheitssätze & bedürftigkeitsgeprüfte Zulagen
Bedürftigkeitsgeprüfte Grundsicherung
1980
Kanada; Dänemark; Finnland; Irland; Japan; Neuseeland; Schweden; Niederlande; Norwegen; Großbritannien
Australien; Österreich; Belgien; Frankreich; Deutschland; Italien; Schweiz; USA
2002
Kanada; Dänemark; Irland; Neuseeland; Japan; Niederlande; Norwegen; Großbritannien
Australien; Österreich; Belgien; Finnland; Frankreich; Deutschland; Italien; Schweden; Schweiz; USA
Anmerkungen: Die Länder, die 2002 im Vergleich zu 1980 eine veränderte Struktur der ersten Säule des Rentensystems aufweisen, sind hervorgehoben. Quelle: eigene Darstellung.
Betrachtet man ausschließlich diese erste Säule der Rentensysteme, lässt sich die klassische Unterscheidung von Beveridge- und Bismarckmodell noch weitgehend durchhalten. So findet man unter den Ländern mit universellen Einheitssätzen Großbritannien, Irland und die meisten skandinavischen Länder. Umgekehrt sind mit Deutschland, Österreich oder Belgien unter den Ländern mit bedürftigkeitsgeprüfter Grundsicherung die typischen Bezugsländer des Bismarcksystems vertreten. Allerdings handelt es sich in den seltensten Fällen um eine idealtypische Entsprechung. Denn in der Regel sind auch die Einheitssätze an Bedingungen geknüpft (Staatsbürgerschaft, Aufenthaltsdauer, Beschäftigungsdauer), zudem sind die Sätze oftmals nicht hoch genug, um das Existenzminimum zu sichern. Die Zulagen, die in den Fällen gewährt werden, in denen kein weiteres Einkommen verfügbar ist, sind hingegen bedürftigkeitsgeprüft. Die bedingungslose Absicherung der Bevölkerung findet also auch in den Beveridgeländern nicht innerhalb der ersten Säule des Rentensystems statt. Und auch in den Bismarckländern gibt es eine Abweichung vom Idealtyp, denn die bedürftigkeitsgeprüfte Grundsicherung wird in der Regel aus allgemeinen Steuereinnahmen finanziert und nicht über Beiträge, wie es idealtypisch der Fall sein müsste. Insgesamt scheint die Grundkonstruktion der ersten Säule eine bemerkenswerte Konstante in den Rentensystemen darzustellen. Nur in Schweden und Finnland fand eine grundlegende Systemreform der Grundsicherung statt. In Schweden trat durch die 1998 verabschiedete Rentenreform an die Stelle der Grundrente – die neben der Staatsangehörigkeit 40 Jahre schwedischen Wohnsitz oder 30 Jahre Beschäftigung in Schweden verlangte, keine Einkommensprüfung vorsah und an alle Rentner ausgezahlt wurde – eine bedürftigkeitsgeprüfte „Garantierente“.58 In Finnland ist die ehemals universelle nationale Rente (NP) seit der Reform von 1996 einkommensgeprüft. Renteneinkommen aus der zweiten Säule wurden angerechnet, oberhalb eines bestimmten Niveaus (2002 waren es monatlich 814,17 Euro für Alleinstehende; es gibt zwischen den Gemeinden Unterschiede) wird sie nicht mehr ausgezahlt (Kangas 2007; SSAW 1997). Die übrigen Länder beließen die Strukturen der ersten Säule der Rentenversicherung unverändert.
58
Die Rentenreformen in Schweden führte auch zu Veränderungen in der zweiten Säule (s. u.).
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Reformen im internationalen Vergleich
Größere Veränderungen als in der ersten Säule fanden in der zweiten Säule der Rentensysteme der Untersuchungsländer statt. Hier ist vor allem ein Trend zu obligatorischen Betriebs- oder Privatversicherungen festzustellen. Dadurch verschwimmt die Unterscheidung zwischen der zweiten und dritten Säule. Dies spiegelt sich auch in den verfügbaren Daten wider. Weil die Träger dieser Rentenversicherungen oftmals private Unternehmen bzw. Fonds sind, werden in offiziellen Statistiken diese Leistungen zum Teil nicht erfasst (ausführlich zu den daraus resultierenden Datenproblemen: De Deken & Kittel 2007). Dieses Problem entsteht zumal dann, wenn – wie im niederländischen Fall – der Abschluss einer Betriebsrente formal nicht verpflichtend ist, Betriebsrenten aber im Rahmen von Tarifverträgen für die Beschäftigten eines gesamten Industriezweigs vereinbart werden und anschließend durch den Arbeitsminister für allgemeinverbindlich erklärt werden können (vgl. ebd.: 75ff.). Der Effekt dieser Regelung ist offenkundig: während in den oft als Paradebeispiel für Betriebsrenten angeführten USA nur etwa die Hälfte der Erwerbstätigen eine Betriebsrente abgeschlossen hat, waren es in den Niederlanden schon zu Beginn der 1980er Jahre 85-90%, und zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind es über 90%. Aus diesem Grund können die Betriebsrenten in den Niederlanden als „quasi-obligatorisch“ bezeichnet werden. Allerdings verlässt man mit dem Argument der Deckungsrate strenggenommen die Ebene formaler Strukturmerkmale und begibt sich auf die Ebene empirischer und damit in gewisser Weise kontingenter Merkmale.59 Zudem ist die Ausgestaltung der Betriebsrenten nur begrenzt dem staatlichen Einfluss unterworfen, weil die Details der Rentenprogramme autonom von Arbeitgebern und Gewerkschaften ausgehandelt werden. Aus diesem Grund werden die Rentensysteme mit (quasi-) obligatorischen Betriebs- oder Privatrenten zwar bei der Beschreibung der Strukturmerkmale der nationalen Rentensysteme berücksichtigt (vgl. Abbildung 17), nicht jedoch bei der Untersuchung von Programmreformen der staatlichen Rente (s.u.). Der Normfall der zweiten Säule des Rentensystems ist bis heute eine einkommensabhängige staatliche Rente, deren Höhe auf Grundlage der geleisteten Beträge berechnet wird. 1980 hatten die Rentensysteme von 12 der 18 Untersuchungsländer diese Struktur, im Jahr 2002 waren es noch 10 Länder. Irland und Neuseeland sind die einzigen Länder, die bis heute lediglich eine staatliche Einheitsrente ohne einkommensabhängige Komponente auszahlen und auch keine Verpflichtung zum Abschluss einer privaten oder betrieblichen Zusatzrente kennen. Obligatorische Zusatzrenten waren ein Hauptbestandteil der Rentenreformen im Zeitraum zwischen 1980 und 2002. Im Jahr 1980 gab es nur in Frankreich und Finnland diese Vorschrift, in den Niederlanden konnten damals wie heute Betriebsrenten im Rahmen von Tarifverträgen als allgemeinverbindlich erklärt werden und haben somit quasi-obligatorischen Charakter. Bis zum Jahr 2002 hat sich die Zahl der Länder mit obligatorischen Zusatzrenten verdoppelt, es sind nun mit Schweden, der Schweiz, Australien, Dänemark und nach wie vor Frankreich und den Niederlanden insgesamt sechs Länder. Die Einführung obligatorischer Zusatzversicherungen war der zentrale Reformtrend innerhalb der zweiten Säule der Rentenversicherungen. Vor dem Hintergrund alternder Bevölkerungen und der damit verbundenen Kostenproblematik der Rentensysteme erscheint diese Reformmaßnahme zunächst plausibel. Denn im Prinzip verlagert der Staat durch die Ein59
Dies lässt sich am Beispiel Dänemarks illustrieren. Zu Beginn der 1980er Jahre hatten lediglich 19% der Erwerbspersonen Anspruch auf eine Betriebsrente, 1998 waren es 82% (Johansen 1987; Kommission 2004). Aus diesem Grund wird Dänemark 2002 zu den Ländern mit einer obligatorischen Betriebsrente gezählt, 1980 jedoch nicht (vgl. Abbildung 17). Formal gesehen sind jedoch weder die niederländischen noch die dänischen Betriebsrenten obligatorisch.
Reformen im internationalen Vergleich
109
führung obligatorischer Betriebs- oder Privatrenten einen Teil der finanziellen Verantwortung zu Bürgern und Unternehmen. Er entledigt sich damit nicht nur eines Teils der finanziellen Verpflichtungen, sondern überlässt auch die Umverteilungsfrage entweder dem Markt (im Fall von Privatrenten) oder den Sozialpartnern (im Fall von Betriebsrenten). Damit drängt sich die Vermutung auf, dass der Staat in jenen Ländern mit obligatorischen Zusatzversicherungen tatsächlich die Höhe der staatlichen Rente zurückgefahren hat. Diese Hypothese betrifft vor allem Dänemark, Schweden und die Schweiz – also jene Länder, deren Rentensystem zu Beginn des Untersuchungszeitraums die Altersvorsorge maßgeblich staatlich organisiert hatten und mittlerweile einen Mix aus staatlicher und obligatorischer privater Vorsorge in ihren Rentensystemen aufweisen. Abbildung 17: Strukturen der zweiten Säule der Rentensysteme in 18 OECD-Ländern 1980 und 2002 im Vergleich Zweite Säule
Staatliche einkommensabhängige Rente
Staatliche einkommensabhängige Rente & obligatorische Betriebsoder Privatrente
Obligatorische Betriebs- oder Privatrente
n.v.
1980
Österreich; Belgien; Kanada; Dänemark; Deutschland; Italien; Japan; Norwegen; Schweden; Schweiz; Großbritannien; USA
Frankreich
Finnland; Niederlande*
Australien; Irland; Neuseeland
2002
Österreich; Belgien; Kanada; Finnland; Deutschland; Italien; Japan; Norwegen; Großbritannien; USA
Dänemark*; Frankreich; Schweden; Schweiz
Australien; Niederlande*
Irland; Neuseeland
Anmerkungen: Die Länder, die 2002 im Vergleich zu 1980 eine veränderte Struktur der zweiten Säule des Rentensystems aufweisen, sind durch Fettschrift hervorgehoben. Die mit einem Stern (*) gekennzeichneten Länder haben quasi-obligatorische Betriebsrenten. Quelle: Flora (1987); SSAW (1981, 2002); Pensions at a Glance (2005).
Im australischen Sonderfall ist diese Erwartung nicht zu begründen, denn hier trat die obligatorische Zusatzversicherung nicht an die Stelle bzw. an die Seite einer staatlichen zweiten Säule. Es wurde 1992 lediglich die Pflicht zum Abschluss einer Zusatzversicherung eingeführt, der Staat übernimmt nach wie vor nur die Grundsicherung. Da diese Grundsicherung bedürftigkeitsgeprüft ist, sollte sich durch die Einführung obligatorischer Betriebsrenten zwar der Personenkreis der Anspruchsberechtigten mittelfristig reduzieren und müssten damit auch die Gesamtausgaben des Staates für die Grundsicherung zurückgehen. Ein Absinken der Leistungssätze der Altersgrundsicherung ist damit jedoch nicht zu erwarten – es könnte vielmehr ein Spielraum zur Anhebung dieser Leistungssätze bestehen. Die finnische Rentenpolitik ist ebenfalls eine Ausnahmeerscheinung, und zwar gleich in mehrfacher Hinsicht. Finnland war einer der Nachzügler einer allgemeinen staatlichen Rentenversicherung.60 Erst 1939 trat der National Pension Act in Kraft (vgl. Abbildung 15; siehe auch Kangas 2007: 265). Diese universelle Grundrente war im Vergleich zu den 60
Die Alterssicherung für Staatsdiener hat hingegen auch in Finnland eine lange Tradition, sie reicht bis in 18. Jahrhundert zurück (Alestalo & Uusitalo 1987: 130).
110
Reformen im internationalen Vergleich
Grundrenten anderer nordischer Länder niedrig, und es gab lediglich eine bedürftigkeitsgeprüfte Ergänzung. Zwischen 1961 und 1974 wurden obligatorische Betriebsrenten für Arbeitnehmer in Privatunternehmen, für Bauern und Selbständige eingeführt, die Beiträge wurden vollständig von den Arbeitgebern getragen, die Aufsicht der Rentenversicherungsunternehmen oblag einem tripartistischen Gremium (Alestalo & Uusitalo 1987; Kangas 2007). Die bis dahin generöseren Renten für Staatsangestellte wurden 1992 den Renten in der Privatwirtschaft angeglichen. Durch diese Harmonisierung der zweiten Säule existiert heute faktisch eine einheitliche einkommensabhängige Rentenversicherung ohne branchenspezifische Differenzierung der Rentenhöhe. Im Wesentlichen bieten sechs große Rentenversicherungsunternehmen Leistungen an. Diese Anbieter sind jedoch nur eingeschränkt als Privatunternehmen anzusehen: Sie haften gegenseitig füreinander und werden von korporatistisch besetzten Körperschaften beaufsichtigt (ausführlich: Kangas 2007). Finnland ist somit das einzige Land, das im Untersuchungszeitraum eine „korporatistische Verstaatlichung“ der Betriebsrenten erlebt hat, die allerdings eher durch eine Harmonisierung der Rentenhöhe und Rentenformeln (und damit durch Programmreformen) zustande gekommen ist als durch grundlegende Strukturreformen. Der in Abbildung 17 markierte Strukturwechsel in Finnland kam somit nicht durch eine Strukturreform zu Stande, sondern durch inkrementelle Programmreformen.61 Die Einführung obligatorischer Betriebsrenten im Jahr 1985 in der Schweiz geht auf die späten 1960er Jahre zurück. Bis dahin entsprach das schweizerische Rentensystem weitgehend dem Beveridge-System, wie es in Großbritannien oder Schweden existierte. Die staatliche Alterssicherung zielte auf universelle Armutsvermeidung ab, eine Lebensstandardsicherung war nicht vorgesehen. Aus diesem Grund hatten sich zwar Betriebsrenten für einen relativ großen Teil der Arbeitnehmer als Einkommensquelle im Alter etabliert – zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Gesetzes zur obligatorischen Betriebsrente hatten bereits etwa 80 Prozent der Arbeitnehmer eine Betriebsrente –, allerdings waren die Leistungen zum Teil relativ gering.62 Wie in anderen Ländern mit einem Beveridge-System, begann auch in der Schweiz eine Debatte darüber, wie eine umfassende einkommensabhängige zweite Säule der Rentenversicherung ausgestaltet werden sollte. Während in Schweden bereits 1959 mit der ATP-Rente eine staatliche einkommensbezogene Rente eingeführt wurde, dauerte es in Großbritannien bis 1978, bis mit der „state second pension“ eine obligatorische zweite Säule an die Seite der Grundsicherung trat. In der Schweiz wurden ebenfalls die schwedischen und britischen Lösungen debattiert. Durch die vergleichsweise hohe Deckungsrate betrieblicher Renten hatte die von der Kommunistischen Partei präferierte Einführung eines staatlichen Systems wie in Schweden kaum Chancen auf Erfolg bei dem notwendigen Referendum. Der von den Sozialdemokraten eingebrachte Vorschlag orientierte sich am britischen System, sah also die Einführung einer staatlichen einkommensbezogenen Rente vor, aus der Arbeitnehmer mit einer Betriebsrente jedoch austreten können. Die Mitte-Rechts-Parteien traten mit dem Vorschlag einer obligatorischen Betriebsrente an. Daraufhin wurde von der Regierung eine Expertenkommission eingesetzt, die einen Kompromiss ausarbeiten sollte. Dieser „Kompromiss“ bestand schließlich in der 61 62
Zu den Besonderheiten des Inkrementalismus in der finnischen Rentenpolitik vgl. Kangas et al. (2006: 23ff.) und Hinrichs & Kangas (2003). Das 1985 in Kraft getretene Gesetz von 1982 sah eine Mindesthöhe der Betriebsrenten vor, die als Anteil der geleisteten Beiträge berechnet wurden. Von dieser Mindestregelung profitierten ca. 25 Prozent der Empfänger von Betriebsrenten (Bonoli 2007: 221).
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111
weitgehenden Übernahme des Vorschlags der Mitte-Rechts-Parteien. Die Sozialdemokraten schlossen sich diesem Vorschlag an und zogen im Gegensatz zu den Kommunisten ihre Vorlage zurück. Bei einem Referendum 1972 wurde der Einführung einer obligatorischen Betriebsrente mit einer großen Mehrheit von 73 Prozent zugestimmt und einem rein staatlichen System eine Absage erteilt (Bonoli 2007: 228). Die Gesetzesvorlage der Regierung von 1975 wurde vom Ständerat modifiziert und schließlich 1982 verabschiedet; sie trat am 1. Januar 1985 in Kraft. Somit war die Einführung einer obligatorischen Betriebsrente in der Schweiz nur indirekt eine Maßnahme zur finanziellen Entlastung des Staates, denn schließlich gab es zum Zeitpunkt der Einführung überhaupt keine staatliche zweite Säule. Allerdings wurde mit den obligatorischen Betriebsrenten dem Alternativkonzept einer umlagefinanzierten einkommensbezogenen Staatsrente eine Absage erteilt. Der Staat hat sich so von vornherein auf eine regulierende Funktion beschränkt. Eine vergleichbare Situation gab es Mitte der 1980er Jahre in Dänemark. Nach der schweren Rezession zu Beginn der 1980er Jahre gewann das Rententhema wieder an Relevanz. Die staatliche einkommensbezogene ATP-Rente spielte eine geringere Rolle als das schwedische Pendant und war zudem weitgehend eine Einheitsrente, da sich die Zahlungen an der Arbeitszeit und nicht an der Höhe der geleisteten Beiträge orientierten. Das führte dazu, dass zu Beginn der 1980er Jahre ca. 60 % der Erwerbstätigen eine Betriebsrente oder private Rentenversicherung abgeschlossen hatten (Green-Pedersen 2007: 466). Wie in der Schweiz ging es also um die Frage, wie man flächendeckend eine Lebensstandardsicherung einführen sollte, ohne dabei diejenigen zu bestrafen, die bereits eine Betriebsrente abgeschlossen hatten. Die Gewerkschaftsbewegung (LO) und die Sozialdemokraten hatten seit den 1970er Jahren für einen zentralen, von den Gewerkschaften kontrollierten Rentenfonds plädiert, waren jedoch immer wieder an der Durchsetzung gescheitert. Die bürgerliche Regierung sah dezentrale obligatorische Betriebsrenten als den besten Weg an, das Rentenproblem ohne große staatliche Einflussnahme zu lösen. Allerdings sollten die Betriebsrenten im Rahmen von Tarifverträgen quasi-obligatorischen Charakter haben und nicht durch eine staatliche Gesetzgebung eingeführt werden. Nachdem die Sozialdemokraten auch bei der Wahl von 1987 die Konservative Volkspartei nicht als stärkste Partei ablösen konnten, stimmte die LO der Einführung branchenspezifischer Betriebsrenten zu und nahm von der Idee eines zentralen Rentenfonds Abstand. Seit 1991 wurde in allen Tarifverhandlungen die Einführung von Betriebsrenten beschlossen. Der Staat hat somit keine legislative Maßnahme zur Einführung der Betriebsrenten ergriffen, sondern den Sozialpartnern die Ausgestaltung überlassen. In Schweden wurde neben der Reform der Grundrente auch die zweite Säule des Rentensystems verändert. Die große Rentenreform des Jahres 1998 führte eine obligatorische private Alterssicherung ein. Arbeitnehmer müssen 2,5 Prozentpunkte ihrer Beiträge in öffentlich regulierte Kapitalmarktfonds anlegen. Darüber hinaus ist das neue Rentenberechnungssystem der staatlichen zweiten Säule stärker an die individuell geleisteten Beiträge gekoppelt. Waren in der alten „ATP-Rente“ die besten 15 von 30 Erwerbsjahren die Grundlage für die Berechnung der einkommensabhängigen Komponente, sind es in der neuen „Allgemeinen Rente“ die Beiträge über den gesamten Erwerbszeitraum hinweg. Diese geleisteten Beiträge werden mit einer Quasi-Rendite verrechnet.63 Verbunden mit der Lebenserwartung der jeweiligen Alterskohorte ergeben sich daraus die individuellen Rentenansprüche („notional account system“). Durch diese neue Berechnungsformel sind sinkende 63
Diese Quasi-Rendite oder Bilanzzahl enthält unter anderem auch das Verhältnis von Beitragszahlern und Rentenempfängern. Wenn die Bilanzzahl unter 1 sinkt, finden automatisch Rentenkürzungen statt.
112
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individuelle Rentenansprüche bei der gegebenen demografischen Entwicklung vorprogrammiert, der Versuch der Ausgabenbegrenzung ist bei der schwedischen Strukturreform also deutlich zu erkennen. Neben der Grundstruktur der zweiten Säule der Rentenversicherung, die maßgeblich auf die Trägerschaft (staatlich-betrieblich-privat) als Unterscheidungsmerkmal abhebt, gibt es auch hinsichtlich der Finanzierungsarten und der Leistungsberechnungen Systemunterschiede. Hier lassen sich umlagefinanzierte („Pay As You Go“, PAYG) von kapitalgedeckten Systemen („fully funded“) unterschieden. Bei umlagefinanzierten Systemen werden die aktuellen Leistungen aus den aktuellen Einnahmen finanziert. Bei einer kapitalgedeckten Finanzierung werden individuelle oder betriebliche Konten angelegt, die über die Beitragszeit hinweg am Kapitalmarkt eine Rendite erwirtschaften sollen. Die Auszahlung der aktuellen Renten wird also über die in der Vergangenheit individuell aufgesparten Beiträge und deren Rendite finanziert.64 Diese Differenzierung entspricht weitgehend der Unterscheidung in staatliche einkommensabhängige Renten und Privat- oder Betriebsrenten in der zweiten Säule. Nahezu alle staatlichen einkommensbezogenen Renten sind umlagefinanziert, und die meisten Privat- oder Betriebsrenten sind kapitalgedeckt. Allerdings haben im Untersuchungszeitraum einige Länder mit umlagefinanzierten Systemen eine zusätzliche kapitalgedeckte Komponente aufgebaut.65 Bei einer Umstellung von umlagefinanzierten zu teilweise kapitalgedeckten Systemen entsteht grundsätzlich das Problem der Doppelbelastung: Die aktuellen Rentenansprüche müssen aus aktuellen Einnahmen finanziert werden, und aus den gleichen Einnahmen soll zusätzlich ein Kapitalstock aufgebaut werden. Der Grund für die Umstellung liegt in den Prognosen der zukünftig notwendigen Beiträge, um die Leistungen für die in der Zukunft deutlich ansteigende Zahl von Rentnern finanzieren zu können. Im kanadischen umlagefinanzierten System wären nach Berechnungen des Finanzministeriums die Beiträge von 5,6% im Jahr 1996 (paritätisch von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziert) auf 10,1% bis 2016 angestiegen, bis 2030 hätten sie sich mit 14,2% nahezu verdreifacht.66 Um diesen drohenden steilen Anstieg der Beiträge (oder das Absinken der Leistungen) zu verhindern, wurde 1996 beschlossen, die Beiträge bereits bis 2003 auf 9,9% anzuheben und die dadurch entstehenden Überschüsse in einen Kapitalmarktfonds zu investieren.67 Das Volumen der Sicherungsrücklage war bereits 1997 enorm: Die Rentenansprüche der folgenden zwei Jahre hätten gänzlich ohne Einnahmen erfüllt werden können. Aus diesem Fonds soll zukünftig die durch weniger Beitragszahler und mehr Rentenempfänger zu erwartende finanzielle Schieflage ausgeglichen werden. Auch in Schweden spielte die Sicherungsrücklage der staatlichen einkommensbezogenen zweiten Säule (ATP-Rente) eine wichtige Rolle. Die sogenannten AP-Fonds, mit denen 1992 sogar die Rentenansprüche der folgenden fünf Jahre ohne Beiträge finanziert werden 64
65 66 67
Die Finanzierung über ein Umlagesystem wird oft mit dem Bismarckmodell assoziiert. Dies ist genau genommen falsch: Sowohl die unter Bismarck eingeführte Kranken- wie auch die Rentenversicherung waren hauptsächlich kapitalgedeckt. Durch die Hyperinflation nach dem ersten Weltkrieg verloren die Fonds jedoch schlagartig an Wert. Dadurch mussten die aktuellen Leistungen zunehmend über aktuelle Einnahmen finanziert werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg war ebenfalls kein Kapitalstock vorhanden, so dass man ein umlagefinanziertes System implementierte. Für eine Übersicht siehe Leinert & Esche (2000). Vgl. http://www.fin.gc.ca/news97/data/97-083_1e.html; zuletzt besucht am 14.02.2008. Die bis dahin erwirtschafteten Überschüsse wurden den Provinzen zu günstigen Konditionen als Darlehen zur Verfügung gestellt. Der neue Fonds investiert hingegen relativ breit am Kapitalmarkt und soll so eine deutlich höhere Rendite erzielen.
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konnten, ließen die Rentenreform von 1998 ohne die finanzielle Doppelbelastung einer Generation zu (Merkel et al. 2006: 304). In den Niederlanden wurde 1998 der sogenannte „AOW Spaarfonds“ eingerichtet. Das AOW-Gesetz (Algemene Ouderdomswet) von 1997 führte neben der Errichtung eines Sparfonds eine zukünftige Obergrenze der Beiträge von 18,25% ein (1997 betrug der Beitragssatz 15,4%, er wird vollständig von den Arbeitnehmern entrichtet). Der Fonds speist sich aus jährlich steigenden Einzahlungen des Staates, die im Wesentlichen aus eingesparten Zinszahlungen durch die zurückgehende Staatsverschuldung resultieren. Bis 2020 sind nur Einzahlungen möglich, danach soll der Fonds zur Finanzierung des Fehlbetrags durch die Rentner der Baby-Boom-Jahre genutzt werden (Merkel et al. 2006: 266; Anderson 2007: 742ff.). Diese drei Beispiele verdeutlichen, dass es sich bei den Fonds nicht um eine Strukturreform handelte, sondern um ein Instrument, um die finanziellen Belastungen über einen längeren Zeitraum zu verteilen. Durch die Bildung von Rücklagen wird die zeitliche Synchronität von aktuellen Einnahmen und gegenwärtigen Ausgaben, wie es PAYG-Systemen eigen ist, etwas gelockert. Eine komplette Umstellung von Umlagefinanzierung zu Kapitaldeckung fand jedoch nicht statt. Die Berechnungsformeln zur Bestimmung des Rentenniveaus sind eine weitere Möglichkeit der Unterscheidung von Rentensystemen. So wird bei umlagefinanzierten Systemen üblicherweise das „defined benefit-System“ angewandt, bei dem sich die Rentenhöhe aus Dauer und Höhe der geleisteten Beiträge ergibt. Das Pendant in kapitalgedeckten Systemen (z.B. in den meisten Privat- oder Betriebsrenten) sind „defined contributions“. Hier werden die festgelegten Beiträge auf individuelle Konten eingezahlt und am Kapitalmarkt investiert. Die spätere Höhe der Rente bemisst sich an der Rendite der individuellen Konten sowie der Lebenserwartung und ist somit flexibel. Die außer in Schweden auch in Italien angewandten notional accounts sind eine Abwandlung der defined contribution-Systeme, Punktesysteme wie z.B. in Deutschland oder Norwegen sind näher an den defined benefit-Systemen. Auch diese in der Rentenliteratur häufig zu findende Klassifikationen von Rentensystemen über Berechnungsformeln (defined benefit vs. defined contribution) sind jedoch keine Strukturmerkmale, wie sie im Kapitel 2.3 definiert worden sind. Die unterschiedlichen Berechnungsformeln haben zwar Auswirkungen auf die Höhe der Leistungen, nicht jedoch auf die Leistungsart. So ist die zweite Säule der Renten per definitionem immer einkommensabhängig und wird als monetäre Leistung ausgezahlt. Die Strukturmerkmale der Rentensysteme bewegen sich also entlang der Kriterien, wie sie die Abbildungen 16 und 17 wiedergeben: Gibt es universelle Einheitssätze als erste Säule der Rente oder ist die Grundsicherung bedürftigkeitsgeprüft? Ist die zweite Säule der Rente staatlich, quasistaatlich (obligatorische Betriebsrenten) oder privat organisiert? Die Tabelle 10 listet die Strukturreformen mit den entsprechenden Gesetzen noch einmal auf. Gerade in der Rentenpolitik wird deutlich, dass die Auswirkungen von Strukturreformen nur sehr langfristig festzustellen sind. Die schwedische Rentenreform ist hierfür paradigmatisch: Das Gesetz wurde 1998 beschlossen, die Reform wurde bereits 1999 implementiert. Das erste Jahr, in dem Neu-Rentner erstmals zumindest teilweise davon betroffen sein werden, ist 2003. Erst die Jahrgänge, die 2019 in die Rente gehen, werden ausschließlich nach dem neuen System ausgezahlt. Für alle Neu-Rentner zwischen 2003 und 2019 setzt sich die Rente anteilig aus dem alten und neuen System zusammen.68 Das bedeutet, dass erst 20 Jahre nach der Strukturreform die Konsequenzen vollständig sichtbar sein werden. 68
Die schwedischen Rentner, die 2003 in Rente gehen, bekommen 1/16 ihrer Rente nach dem neuen System
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Reformen im internationalen Vergleich
Tabelle 10: Strukturreformen der Rentenversicherung Land
Jahr
Gesetz
Inhalt
FIN
1992 (in Kraft 1993)
Laki valtion eläkelain muuttamisesta
Angleichung der Renten für Staatsdiener an Beschäftigte in der Privatwirtschaft
FIN
1995 (in Kraft 1996)
Laki kansaneläkelain muuttamisesta
Einkommensprüfung der national pension (NP)
SWE
1998 (in Kraft 1999)
Reformerat pensionssystem
Bedürftigkeitsgeprüfte Grundrente
SWE
1998 (in Kraft 1999)
Reformerat pensionssystem
Reform der ATP-Rente (einkommensabhängig)
SWI
1982 (in Kraft 1985)
BVG-LPP
Obligatorische Betriebsrenten
AUS
1992 (in Kraft 1992)
Superannuation Guarantee Act
Obligatorische Betriebsrenten, ca. 9% Beiträge
DEN
1989
-
Betriebsrenten für öffentliche Angestellte über Tarifvertrag
DEN
1991
-
Flächendeckende Betriebsrenten über Tarifverträge
Quelle: eigene Darstellung.
Ein umgekehrtes Bild ergibt sich für Deutschland. Hier sprechen einige Beobachter im Zusammenhang mit der Rentenreform 2001 von einem Paradigmenwechsel in der Rentenpolitik in Form einer Teilprivatisierung der staatlichen Renten (z.B. Hering 2003; Hinrichs & Kangas 2003). Allerdings sind die Grundstrukturen des Rentensystems in Deutschland nicht verändert worden. Indirekt wurden jedoch über eine Absenkung des Rentenniveaus in der zweiten Säule und der steuerlichen Förderung privater Renten („Riester-Rente“) Anreize zur privaten Rentenvorsorge gesetzt. Bis heute gibt es jedoch keine obligatorische private Rentenversicherung. Ähnliches war in Großbritannien in den Thatcher-Jahren zu beobachten. Zwar plante die Regierung 1985 die Abschaffung der einkommensbezogenen staatlichen Säule der Rentenversicherung (SERPS, state earnings related pension scheme), der öffentliche Protest war jedoch so groß, dass diese Pläne fallengelassen wurden. Stattdessen wurden die Leistungen langfristig reduziert und betriebliche und private Altersvorsorge gefördert. Das SERPS blieb also erhalten, eine Strukturreform fand nicht statt (siehe auch Schulze & Moran 2007: 82; Jacobs 2008). Zudem wurde die Indexierung der staatlichen Basisrente vom Lohnanstieg auf den Preisanstieg umgestellt und damit mittelfristig die Höhe deutlich reduziert. Solche Maßnahmen waren es, die Paul Pierson von der „implicit privatization“ in der britischen Rentenpolitik sprechen lassen (Pierson 1994: 59). Diese Beispiele verdeutlichen, dass in der Rentenpolitik Programmveränderungen unter Umständen größere Konsequenzen nach sich ziehen können (und schneller zu beobachten sind) als Strukturreformen. und 15/16 nach dem alten. Bei jedem weiteren Rentnerjahrgang der folgenden 15 Jahre verschiebt sich das Verhältnis schrittweise.
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5.2.2 Programmmerkmale und Programmreformen der Rentensysteme Zur Identifizierung von Programmreformen in der Rentenversicherung wird insgesamt auf drei Indikatoren zurückgegriffen: Renteneintrittsalter, Anwartschaftszeiten und Rentenhöhe. Bevor die Veränderungen in den Rentenversicherungen der 18 Untersuchungsländer anhand der drei Indikatoren genauer unter die Lupe genommen werden, ist ein Blick auf die Ausgangssituationen der Länder instruktiv. So variierte die Höhe der Lohnersatzquoten der gesetzlichen Standardrente für einen verheirateten Alleinverdiener69 zwischen ca. 82 Prozent in Belgien und 42 Prozent in Australien (vgl. Abbildung 18). Abbildung 18: Lohnersatzquoten der gesetzlichen Standardrente für einen verheirateten Alleinverdiener, 1980 und 2002
Lohnersatzquote der Rente
80%
60%
40%
20%
0%
BEL
USA AUT SWE FRA NET GER JAP
ITA
1980
DNK CAN NZL
FIN
NOR SWI
IRE
UK
AUS
2002
Quelle: CWED-Datensatz, eigene Berechnung.
1980 betrug der Durchschnitt der 18 Länder 61 Prozent, bis zum Jahr 2002 ist er leicht auf 62,5 Prozent angestiegen. Im Verlauf des Untersuchungszeitraums ist zudem ein Konver69
Die Daten beziehen sich für jedes Land auf den sogenannten „Eckrentner“, also eine Person, die das gesetzliche Renteneintrittsalter erreicht hat und über das gesamte Erwerbsleben hinweg in die gesetzliche Rentenversicherung eingezahlt hat. Die abgebildete Rentenhöhe bezieht sich auf einen verheirateten Alleinverdiener. In den Untersuchungsländern waren 2002 zwischen 63% (Schweden, Finnland) und 72% (Belgien) der 65-69-Jährigen verheiratet (Deutschland, Niederlande und Norwegen: ca. 70%). Über den Anteil der Alleinverdiener liegen keine Daten vor, allerdings ist zu vermuten, dass das „male-breadwinner-model“ in dieser Alterskohorte in den meisten Ländern noch den Normalfall darstellte. In der CWED-Datenbank wurden die Einzahlungen des Eckrentners in die gesetzliche Rentenversicherung auf Grundlage des Durchschnittseinkommens eines Industriearbeiters berechnet. Die so kalkulierte „Nettoeckrente“ wird dann als Prozentanteil des Nettodurchschnittseinkommens eines berufstätigen Industriearbeiters im jeweiligen Jahr berechnet, in Abbildung 18 bezieht es sich auf einen alleinverdienenden verheirateten Industriearbeiter mit zwei Kindern.
116
Reformen im internationalen Vergleich
genzprozess zu beobachten. Bis auf die Schweiz stiegen die Nettoeckrenten in allen Ländern, die unterhalb des Durchschnitts lagen. Und umgekehrt sank das Rentenniveau mit Ausnahme von Japan und den USA in all jenen Ländern, die 1980 ein überdurchschnittlich hohes Rentenniveau hatten. Allerdings bezieht sich das Rentenniveau ausschließlich auf die staatlichen Rentenversicherungen. Einkommen aus (quasi-)obligatorischen Betriebsrenten sind ebensowenig berücksichtigt wie solche aus privaten Rentenversicherungen. Dieser Konvergenzbefund gilt auch für die Lohnersatzquote eines alleinstehenden Rentners, allerdings sind die Eckrenten in diesem Fall in den meisten Ländern deutlich niedriger (1980 betrug die durchschnittliche Lohnersatzquote 53,5 Prozent, im Jahr 2002 57 Prozent). Ursache für die Unterschiede sind entweder steuerliche Vorteile für Verheiratete oder spezielle Zuschläge für Ehegatten. So beträgt beispielsweise die gesetzliche Familienrente in den USA 150-188 Prozent der Rente eines Alleinstehenden. Die beschriebenen Lohnersatzquoten gehen von einer vollständigen Erwerbsbiografie aus. Dies ist deswegen wichtig, weil es unterschiedliche Anforderungen bezüglich des Zeitraums gibt, in dem Rentenbeiträge eingezahlt werden müssen, um Anspruch auf die gesetzliche Rente zu haben. Diese so genannten Anwartschaftszeiten existieren in jenen Ländern nicht, in denen die staatliche Rente rein steuerfinanziert ist und entweder bedürftigkeitsgeprüft (Australien) oder als Einheitssatz (Neuseeland und Niederlande) ausgezahlt wird. In den übrigen Ländern, in denen die staatliche Rente eine zweite einkommensbezogene Säule aufweist, ist eine Mindestbeitragszeit erforderlich. In Abbildung 19 sind die Beitragszeiten abgetragen, die zum Erhalt der Rente aus der ersten Säule ohne Abschläge notwendig sind. Der erkennbare Anstieg der Rentenanwartschaftszeiten in einer Reihe von Ländern ist in den meisten Fällen auf das „Erwachsenwerden“ der Rentensysteme zurückzuführen. So basiert die staatliche Rente in den USA auf dem Einkommen, das der Antragsteller seit 1950 erzielt hat bzw. das er nach dem 21. Lebensjahr erreicht hat. Dementsprechend beläuft sich die Anwartschaftszeit für einen 1980 in Rente gehenden Arbeitnehmer auf 31 Jahre. Weil das gesetzliche Renteneintrittsalter 65 Jahre beträgt, belaufen sich für alle Rentnerkohorten ab dem Jahr 1994 die notwendigen Beitragszeiten für eine maximale Rente auf 45 Jahre (die Spanne zwischen dem 21. Lebensjahr und dem 65. Lebensjahr). Der sukzessive Anstieg der Rentenanwartschaftszeiten von 31 auf 45 Jahre hat also keine Reform als Ursache, sondern ist dem Startjahr der Rentenberechnung (1950) geschuldet. Das gleiche gilt für die 1965 in Kanada eingeführte einkommensbezogene Rente. Hier beträgt die maximale Rentenanwartschaftszeit 40 Jahre, aufgrund der vergleichsweise späten Einführung dauerte es bis 2006, bis alle Neurentner unter diese Regelung fielen. In Norwegen wurde die einkommensbezogene staatliche Rente 1966 eingeführt, auch hier erwirbt man die vollen Rentenansprüche nach 40 Beitragsjahren. Hier dauerte es mithin bis zum Jahr 2007, bis die Übergangsregeln ausliefen. In Belgien fallen alle Rentnerkohorten ab 1983 und in der Schweiz ab 1994 unter die Anwartschaftsregel von 45 Jahren. In Schweden bildeten alle Jahre ab 1960 die Berechnungsgrundlage, die volle Rente ist nach 30 Beitragsjahren erreicht. Bis 1990 waren somit geringere Beitragszeiten ausreichend. In Dänemark bilden für die einkommensbezogene ATP-Rente ebenfalls sämtliche Beiträge seit Einführung des Systems im Jahr 1967 die Grundlage der Rentenzahlungen – bzw. für spätere Jahrgänge sämtliche Beiträge ab dem 16. Lebensjahr. Bei einem Renteneintrittsalter von 67 Jahren beträgt die Anwartschaftszeit somit 51 Jahre. Lediglich in Japan und Irland wurden die Anwartschaftsregelungen geändert. In Irland wurde durch die Rentenreform von 1990 der Annäherungsprozess der faktischen an die
Reformen im internationalen Vergleich
117
gesetzlichen Anwartschaftszeiten unterbrochen. Für alle Rentenkohorten ab 1993 sind die Beitragszeiten ab 1979 berechnungsrelevant (vor 1993: ab 1953). Dadurch reduzierten sich für die Neurentner des Jahres 1993 die Anwartschaftszeiten auf 13 Jahre, um danach wieder sukzessive anzusteigen. Weil das gesamte Erwerbsleben die Grundlage der Berechnung bildet, werden die notwendigen Beitragszeiten zur vollen Rente bis auf 46 Jahre ansteigen. In Japan wurden die notwendigen Beitragszeiten zur vollen Rente 1990 von 35 auf 40 Jahre angehoben. Weil die Rentenformel der einkommensabhängigen Rente alle Erwerbsmonate als Faktor beinhaltet, erfordert eine Rente ohne Abschläge ebenfalls eine vollständige Erwerbsbiografie. Durch die Anhebung des Renteneintrittsalters der einkommensbezogenen Arbeitnehmerrente von 55 auf 60 Jahre stiegen die Anwartschaftszeiten somit von 35 auf 40 Jahre. Die beiden tatsächlichen Reformen der Anwartschaftszeiten hingen also einmal mit einer Reform der beitragsbezogenen Rente (Irland) und mit der Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters (Japan) zusammen. Abbildung 19: Rentenanwartschaftszeiten 1980 und 2002 50
40
Jahre
30
20
10
0
GER
AUT
UK
ITA
FIN
BEL
FRA
1980
SWI
USA
JAP
IRE
SWE
DNK
CAN
NOR
2002
Anmerkung: Anwartschaftszeiten existieren in jenen Ländern nicht, in denen die staatliche Rente rein steuerfinanziert ist und entweder bedürftigkeitsgeprüft (Australien) oder als Einheitssatz (Neuseeland und Niederlande) ausgezahlt wird. Quelle: CWED-Datensatz, eigene Berechnung.
Neben den Anwartschaftszeiten ist das Renteneintrittsalter ein wichtiger Ansatzpunkt für Programmreformen. Mit Ausnahme Japans liegt das Rentenalter für Männer in den 18 OECD-Ländern zwischen 65 und 67 Jahren, allerdings gibt es in einigen Ländern die Mög-
118
Reformen im internationalen Vergleich
lichkeit, die gesetzliche Standardrente früher in Anspruch zu nehmen.70 So gab es beispielsweise in Schweden formal überhaupt kein staatlich definiertes Renteneintrittsalter, es war vielmehr im Rahmen der Tarifverträge auf 65 Jahre festgeschrieben. Mit der Reform von 1998 wurde eine Alterszone zwischen 61 und 70 Jahren eingerichtet. Ein Renteneintritt vor dem 65. Lebensjahr führt zu deutlichen Abschlägen. Ähnliches gilt für Japan, wo ab dem 60. Lebensjahr ein Rentenanspruch besteht. Zwar sind auch hier Abschläge auf die Rente vorgesehen, allerdings gibt es eine „Spezialrente“, die diese Verluste kompensiert (OECD 2004). Neben der geringen Spannbreite des Renteneintrittsalters der übrigen Länder von nur zwei Jahren fällt auch die große Konstanz auf. Nur in Deutschland, Italien und Neuseeland wurde das Rentenalter der Männer im Untersuchungszeitraum um zwei bzw. um fünf Jahre heraufgesetzt (vgl. Tabelle 11). Tabelle 11: Renteneintrittsalter für Männer 2002 in 18 OECD-Ländern Renteneintrittsalter Länder 67 Jahre
Dänemark, Norwegen
66 Jahre
Irland
65 Jahre
Australien, Belgien, Deutschland (+2), Finnland, Frankreich, Großbritannien, Italien (+5), Kanada, Neuseeland (+5), Niederlande, Österreich, Schweden, Schweiz, USA
60 Jahre
Japan
Anmerkung: Die Länder, die 2002 im Vergleich zu 1980 ein verändertes Renteneintrittsalter aufweisen, sind durch Fettschrift hervorgehoben. In Klammern ist die Veränderung in Jahren angegeben. Quelle: SSAW (div. Jahrgänge)
Deutlich größere Unterschiede sind hingegen im Renteneintrittsalter der Frauen festzustellen (Tabelle 12). Hier liegt auch ohne Japan die Altersgrenze zwischen 60 und 67 Jahren, zudem war das Renteneintrittsalter in acht der 18 Länder Gegenstand von Reformen. Auch hier fanden durchweg Erhöhungen statt. Tabelle 12: Renteneintrittsalter für Frauen 2002 in 18 OECD-Ländern Renteneintrittsalter Länder 67 Jahre
Dänemark (+5), Norwegen
66 Jahre
Irland
65 Jahre
Finnland, Frankreich, Kanada, Neuseeland (+5), Niederlande, Schweden, USA
63 Jahre
Australien (+3), Deutschland (+3), Schweiz (+1)
62 Jahre
Belgien (+2)
60 Jahre
Großbritannien, Italien (+5), Japan (+5), Österreich
Anmerkung: Die Länder, die 2002 im Vergleich zu 1980 ein verändertes Renteneintrittsalter aufweisen, sind durch Fettschrift hervorgehoben. In Klammern ist die Veränderung in Jahren angegeben. Quelle: SSAW (div. Jahrgänge) 70
Auf die unterschiedlichen Frühverrentungssysteme wird hier nicht eingegangen.
Reformen im internationalen Vergleich
119
Die Darstellung der Ausgangs- und Endpunkte deutet bereits einige Veränderungsmuster an. Die genauen Reformzeitpunkte, das Ausmaß einzelner Reformschritte und die unterschiedliche Zusammensetzung der Reformmaßnahmen bedürfen jedoch einer genaueren Untersuchung. 5.2.3 Reformmuster der Rentenversicherung Bei Veränderungen des Renteneintrittsalters und der Anwartschaftszeiten werden zwei Kriterien herangezogen, um zu prüfen, ob es sich um eine Reform im Wortsinn handelt oder nicht. Die notwendige Bedingung ist zunächst eine Abweichung vom Vorjahr. Steigt z.B. das Renteneintrittsalter von 63 auf 65 Jahre, handelt es sich zweifellos um eine Reform. Es ist jedoch auch eine Reform denkbar, bei der das Renteneintrittsalter sukzessive von 60 auf 65 Jahre angehoben wird, wobei diese Anpassung in Einjahresschritten vollzogen wird. Solche inkrementellen Reformschritte werden nicht als jährliche Reformen gewertet, sondern lediglich der Einstieg in den inkrementellen Prozess stellt die Reform dar. Reformen des Renteneintrittsalters von Frauen und Männern wurden dabei gesondert betrachtet. Das Rentenniveau lässt sich durch die replacement rate der Rente abbilden. Diese „Lohnersatzleistungsquote der Rente“ drückt das Verhältnis der Nettorente in Bezug zum Nettolohn eines durchschnittlich verdienenden Arbeitnehmers aus, der Vollzeit im verarbeitenden Gewerbe tätig ist (average production worker income). Die CWED-Datenbank weist die replacement rates sowohl für die Rentenhöhe bei fortwährender Beschäftigung während des Berufslebens („standard pension“) wie auch für die Rentenhöhe komplett ohne Berufstätigkeit („minimum pension“) aus. In beiden Fällen gibt es zudem eine Berechnung für Alleinstehende und eine Kalkulation für verheiratete Paare mit einem Alleinverdiener und zwei Kindern. Das durch die replacement rate gemessene Rentenniveau bildet die Höhe der Nettorenten im Verhältnis zu den durchschnittlichen Nettolöhnen eines Arbeitnehmers ab. Mit dieser Maßzahl lässt sich das Rentenniveau unterschiedlicher Länder vergleichen. Will man jedoch Reformen des Rentenniveaus identifizieren, hat dieser Indikator einen Nachteil: Die replacement rate kann ebenso durch Änderungen der Rentenbezüge steigen oder sinken wie durch Veränderungen des Durchschnittslohns. Für die Identifizierung von Reformen der Rentenniveaus ist aber nicht die relative Höhe der Renten im Vergleich zu anderen Ländern entscheidend, vielmehr geht es um Veränderungen innerhalb eines Landes. Somit ist die Untersuchung der Veränderungen der Nettorenten geeigneter als die Veränderungen der replacement rates. Auch die Nettorenten enthalten jedoch eine potentielle Störgröße. Es ist denkbar, dass sich durch Veränderungen in der Besteuerung der Renten das Niveau der Nettorenten verändert. Wären also Bruttorenten der geeignete Bezugspunkt? Dass dies nicht der Fall ist, verdeutlicht folgendes Szenario: Eine höhere Besteuerung der Renten wird vollkommen durch höhere Bruttorenten kompensiert. In diesem Fall wäre eine Reform der Rentenhöhe zu konstatieren, obwohl sich die Nettorenten nicht verändert haben. Innerhalb der Programmreformen sollen jedoch Veränderung des Rentenniveaus abgebildet werden. Deswegen werden Änderungen der Rentenhöhe anhand der Nettorenten untersucht. Verändern sich Abgaben und Bruttorenten in identischem Ausmaß, hat also keine Reform der Rentenhöhe stattgefunden.
120
Reformen im internationalen Vergleich
Tabelle 13: Kriterien für Programmreformen der Rentenversicherung Indikator
Kriterium für Reform
Renteneintrittsalter Frauen und Männer
Abweichung vom Vorjahr (ohne inkrementelle Prozesse)
Rentenanwartschaftszeiten
Abweichung vom Vorjahr (ohne inkrementelle Prozesse)
Rentenniveau
Kürzung der Standard- oder Mindestrente (Alleinstehende oder Verheiratete) im Vergleich zum Vorjahr oder preisbereinigter Anstieg um mehr als 3%
Quelle: Eigene Darstellung.
Die Operationalisierung einer Reform des Rentenniveaus wird über die jährlichen Veränderungen vorgenommen (Tabelle 13). Über den Zeitraum von 1980 bis 2002 hinweg lassen sich die Veränderungen summieren: sowohl der Betrag der jährlichen Veränderungen wie auch der Nettoeffekt von 1980 bis 2002. Der Betrag der jährlichen Veränderungen – die Bruttoveränderung – gibt das Ausmaß der Reformaktivität an, ohne dabei Rentenkürzungen von einem Ausbau der Renten zu unterscheiden. Der Nettobetrag der Veränderung hingegen beschreibt den Saldo der Veränderung in diesem Zeitraum. Beide Maße geben jedoch nur Auskunft über den gesamten Zeitraum. Will man diejenigen Veränderungen der Rentenhöhe identifizieren, die auf eine Reform zurückgehen, erscheint es wenig sinnvoll, jede Veränderung als Reform zu interpretieren. In den Rentengesetzen einiger Länder (z.B. Italien) ist eine jährliche Anpassung der Renten an die Preis- oder Lohnentwicklung vorgesehen. Wenn man also unter den Veränderungen des Rentenniveaus jene identifizieren will, die eine „signifikante Reform“ darstellen, muss ein Schwellenwert festgelegt werden. Um tatsächliche Reformen von normalen Anpassungen zu unterscheiden, werden erst solche jährlichen Veränderungen des Nettorentenniveaus als Reform interpretiert, die nach Abzug der Inflationsrate eine Steigerung von mehr als drei Prozent betragen. Das Kriterium für Rentenkürzungen ist hingegen jede Kürzung der Nettorenten, ohne dass die Inflationsrate abgezogen wird. Der Grund für die asymmetrischen Schwellenwerte von Rentensteigerungen und Rentenkürzungen liegt in der politisch-ökonomischen Logik von Rentenreformen: Durch nicht vorgenommene Anpassungen der Rentenhöhe an die Preisentwicklung lassen sich beträchtliche Rentenkürzungen erzielen. Solche Rentenkürzungen sind jedoch auch ohne legislative Maßnahmen zu erreichen – nämlich durch Nichtstun des Gesetzgebers.71 Deswegen wird nur die Verringerung der Nettorenten berücksichtigt, unabhängig von der Preisentwicklung. Die Untersuchung der 18 OECD-Länder anhand dieser Kriterien ergibt im Vergleich zur legislativen Tätigkeit geringere Unterschiede zwischen den Ländern (Abbildung 20). Sind die Unterschiede hinsichtlich der Reformhäufigkeit geringer, so variiert allerdings die Komposition der Reformmaßnahmen beträchtlich. In allen Ländern betrafen die meisten Reformen Veränderungen des Rentenniveaus. Von den insgesamt 232 signifikanten Änderungen des Rentenniveaus waren 55 Fälle Rentenkürzungen. In acht Ländern wurde das Renteneintrittsalter verändert – in allen Fällen handelt es sich um Erhöhungen, in der Mehrzahl der Fälle wurde das Renteneintrittsalter der Frauen angehoben. Die Anwartschaftszeiten wurden nur in Japan und Irland geändert. 71
Dies gilt für die Länder, in denen keine automatische jährliche Anpassung vorgenommen wird.
Reformen im internationalen Vergleich
121
Abbildung 20: Häufigkeit von Programmreformen in der Rentenversicherung, 1980-2002
Anzahl der Programmreformen
30
20
10
0
UK
JAP
ITA
FIN
IRE
SWI NOR SWE NZL
NET
DNK CAN
BEL
AUT
USA GER FRA
Höhe der Standardrente
Höhe der Mindestrente
Renteneintrittsalter
Anwartschaftszeiten
AUS
Quelle: CWED-Datensatz, eigene Berechnung.
Für die Programmreformen ist eine Differenzierung in Aus- und Abbaumaßnahmen möglich. Diese Unterscheidung wird zudem für die Überprüfung der „gerichteten“ Hypothesen benötigt, also jene Hypothesen, die sich explizit auf Ausbau und Rückbau bezogen haben. Weil es sich bei diesen gerichteten Hypothesen vornehmlich um solche handelte, die im Zusammenhang mit der Parteiendifferenz oder dem Parteienwettbewerb standen, werden nur solche Länderjahre als Ausbau oder Abbau kodiert, die eindeutig dem einen oder anderen Fall zuzuordnen sind. Länderjahre, in denen sowohl Kürzungen wie auch expansive Maßnahmen stattgefunden haben, werden als indifferent kodiert. In den meisten Ländern überwiegen die „offensichtlichen“ Rentenerhöhungen (Abbildung 21). Eindeutige Rentenkürzungen sind deutlich seltener, lediglich in der Schweiz, Belgien und Frankreich fanden Kürzungen genauso oft oder häufiger statt als eindeutige Ausbauschritte. Vor dem Hintergrund des „blame-avoidance“-Argumentes (Pierson 1994, 1996) ist das wenig verwunderlich. Insbesondere die Muster der Rentenpolitik in den beiden Ländern, die bei Paul Pierson die empirische Grundlage für die Entwicklung des blame-avoidance-Argumentes bildeten – Großbritannien und die USA –, entsprechen seinen Befunden: Der Abbau vollzieht sich nur selten über Kürzungsmaßnahmen, die als solche klar erkennbar sind und öffentlichen Widerstand provozieren können. Im Zeitverlauf ist festzustellen, dass die Häufigkeit von Programmreformen zu Beginn der 1980er Jahre am höchsten war (Abbildung 22). Danach wird die Reformaktivität geringer, um zum Ende des Untersuchungszeitraumes wieder anzusteigen. Ein besonderes zeitliches Muster ist jedoch nicht zu erkennen, so dass auf eine zeitliche Differenzierung des Untersuchungszeitraumes im Folgenden verzichtet wird.
122
Reformen im internationalen Vergleich
Abbildung 21: Summe der eindeutigen Kürzungs- und Ausbaumaßnahmen in der Rentenpolitik, 1980-2002 20
15
10
5
0
UK JAP ITA FIN IRE SWI NORSWE NEZ NET DNK CAN BEL AUT USA GER FRA AUS
Rentenerhöhungen
Rentenkürzungen
Quelle: CWED-Datensatz, eigene Berechnung.
Wäre die Anzahl der verabschiedeten Rentengesetze ein brauchbarer Indikator für die Reformfähigkeit eines Landes, sollte mit steigender legislativer Aktivität auch die Zahl der Programmreformen zunehmen. Zwischen beiden Indikatoren gibt es jedoch keinen offensichtlichen Zusammenhang (vgl. Abbildung 23). So gibt es Länder, die verhältnismäßig viele Programmreformen implementiert haben, ohne dabei jedoch eine besonders hohe legislative Aktivität aufzuweisen (vor allem Japan und Italien). Länder wie Australien und Frankreich haben hingegen eine relativ große Zahl von Rentengesetzen verabschiedet, ohne dass diesen Gesetzen eine erkennbare Wirkung auf die Programmstrukturen der Rentenversicherung nachgewiesen werden kann. Dies gibt einen weiteren Hinweis darauf, dass die vorliegenden Daten zur legislativen Aktivität wahrscheinlich kein sinnvoller Indikator für die Untersuchung der Reformtätigkeit eines Landes sind. Die Programmreformen lassen sich hinsichtlich der Reformtypen differenzieren. Mit der im Kapitel 2.3 vorgenommen Unterscheidung des Umfangs und Integrationsgrades von Reformmaßnahmen können vier Reformtypen unterschieden werden (Tabelle 14). Die Operationalisierung des Integrationsgrades von Programmreformen geschieht über die Anzahl der in einem Jahr vorgenommenen Änderungen: Findet nur in einem Bereich eine Reform statt, handelt es sich um eine Detailsteuerung oder eine isolierte Reform; findet mehr als eine Reform statt, handelt es sich entweder um eine integrierte oder umfassende Reform. Der Umfang wird über das Ausmaß der Veränderung der Leistungshöhe operationalisiert: Liegt die Erhöhung der Rente zwischen drei und sechs Prozentpunkten oder ist die
Reformen im internationalen Vergleich
123
Kürzung nicht größer als drei Prozentpunkte, ist der Umfang gering; fällt die Erhöhung oder Kürzung größer aus oder findet eine Änderung des Renteneintrittsalters statt, wurde der Umfang als groß bewertet. Da die Veränderungen der Rentenanwartschaftszeiten normalerweise mit weiteren Reformmaßnahmen gekoppelt sind (und dies sowohl in Japan und Irland auch der Fall war), wurden sie als umfassende Reformen eingestuft. Abbildung 22: Programmreformen der Alterssicherung in 18 OECD-Ländern im Zeitverlauf
Anzahl der Programmreformen
20
15
10
5
0 1980
1985
1990
1995
2000
Jahr
Quelle: CWED-Datensatz, eigene Berechnung.
Die meisten Reformmaßnahmen in den 18 Ländern fanden als Detailsteuerung statt (vgl. Tabelle 15). 86 der 177 Reformen bezogen sich auf lediglich eine der hier untersuchten Stellgrößen der Rentenversicherung. Am zweithäufigsten sind umfassende Reformen zu beobachten, gefolgt von isolierten Reformen. Integrierte Reformen fanden vergleichsweise selten statt, nur 20 Reformen entsprechen diesem Typ. Japan, Irland und Großbritannien haben mit vier bzw. drei integrierten Reformen am häufigsten mehrere Maßnahmen mit jeweils beschränktem Umfang im gleichen Jahr durchgeführt. Betrachtet man die relative Häufigkeit, finden integrierte Reformen auch in Dänemark und Norwegen vergleichsweise oft statt, allerdings haben diese Länder insgesamt nur sechs bzw. neun Programmreformen durchgeführt. Der Anteil der Detailsteuerung an allen Reformen ist vor allem in den USA, Deutschland, Österreich und Neuseeland hoch, nach absoluten Zahlen liegen auch hier Finnland und Großbritannien vorn. Isolierte Reformen – also großes Ausmaß und geringe Integration – fanden sowohl relativ wie auch absolut in den Niederlanden und Australien am häufigsten statt. Bei den umfassenden Reformen bilden Kanada und Irland die Ausreißer mit 75% bzw. 62,5% der
124
Reformen im internationalen Vergleich
Reformen, die in diese Kategorie fallen. Allerdings ist die Gesamtzahl der Reformen in beiden Fällen nicht sonderlich hoch. Abbildung 23: Legislative Tätigkeit und Programmreformen in der Rentenpolitik in 18 OECD-Ländern, 1980-2002 UK
Rentenreformen pro Land 1980-2002
30
JAP
25
ITA
FIN
20 SWI 15
10
NZL AUT
IRE NOR
DNK
CAN
GER
USA
5 0
100
NET BEL
SWE
FRA AUS
legislative Aktivität
200
300
Quelle: ILO 2008, CWED-Datensatz, eigene Berechnung.
Tabelle 14: Reformtypen Reformtyp
Umfang
Anzahl der Reformen pro Jahr
Detailsteuerung
Preisbereinigte Anhebung der Standard- oder Mindestrente zwischen 3% und 6% und nominelle Senkung zwischen 0 und 3%
1
Integrierte Reform
Preisbereinigte Anhebung der Standard- oder Mindestrente zwischen 3% und 6% und nominelle Senkung zwischen 0 und 3%
2
Isolierte Reform
Preisbereinigte Anhebung der Standard- oder Mindestrente von mehr als 6% und nominelle Senkung von mehr als 3%, Änderung des Renteneintrittsalters
1
Umfassende Preisbereinigte Anhebung der Standard- oder Mindestrente von Reform mehr als 6% und nominelle Senkung von mehr als 3%, Änderung des Renteneintrittsalters, Änderung der Rentenanwartschaftszeiten Quelle: Eigene Darstellung.
2
Reformen im internationalen Vergleich
125
Tabelle 15: Programmreformen der Rentenversicherung, 1980-2002 Detailsteuerung
Integrierte Reform
Isolierte Reform
Umfassende Reform
Großbritannien
8 (38.1%)
4 (19.0%)
3 (14.3%)
6 (28.6%)
21
Finnland
12 (66.7%)
1 (5.6%)
2 (11.1%)
3 (16.7%)
18
Japan
6 (35.3%)
3 (17.6%)
4 (23.5%)
4 (23.5%)
17
Italien
6 (40.0%)
1 (6.7%)
3 (20.0%)
5 (33.3%)
15
Schweiz
6 (46.2%)
1 (7.7%)
3 (23.1%)
3 (23.1%)
13
Niederlande
6 (60.0%)
0 (0%)
4 (40.0%)
0 (0%)
10
Norwegen
3 (33.3%)
2 (22.2%)
0 (0%)
4 (44.4%)
9
Belgien
6 (66.7%)
0 (0%)
3 (33.3%)
0 (0%)
9
Österreich
7 (77.8%)
0 (0%)
2 (22.2%)
0 (0%)
9
Schweden
4 (50.0%)
1 (12.5%)
1 (12.5%)
2 (25.0%)
8
Neuseeland
6 (75.0%)
0 (0%)
0 (0.0%)
2 (25.0%)
8
Irland
0 (0%)
3 (37.5%)
0 (0.0%)
5 (62.5%)
8
USA
6 (85.7%)
0 (0%)
1 (14.3%)
0 (0.0%)
7
Dänemark
1 (16.7%)
3 (50.0%)
1 (16.7%)
1 (16.7%)
6
Frankreich
3 (60.0%)
0 (0%)
1 (20.0%)
1 (20.0%)
5
Australien
2 (40.0%)
0 (0%)
3 (60.0%)
0 (0%)
5
Deutschland
4 (80.0%)
0 (0%)
0 (0%)
1 (20.0%)
5
0 (0%)
1 (25.0%)
0 (0%)
3 (75.0%)
4
86 (48.6%)
20 (11.3%)
31 (17.5%)
40 (22.6%)
177
Land
Kanada Insgesamt
Programmreformen insgesamt
Anmerkung: In Klammern ist der jeweilige Anteil eines Reformtyps an allen Reformen innerhalb eines Landes angegeben. Quelle: CWED-Datensatz, eigene Berechnung.
126
Reformen im internationalen Vergleich
Um die Frage der Kongruenz der Maßnahmen genauer in den Blick zu nehmen, muss die Prozessdimension der Programmreformen untersucht werden. In Kapitel 2.3 wurde eine Differenzierung hinsichtlich der Richtung und der Häufigkeit vorgenommen. Eine stetige Reform geht in die gleiche Richtung wie die Vorgängerreform und findet in einem engen zeitlichen Zusammenhang zu ihr statt. Liegt eine größere Zeitspanne zwischen den Reformen, handelt es sich um eine verstärkende Reform. Eine Reform in die entgegengesetzte Richtung und zeitlich ebenfalls nah an der vorhergehenden Reform ist eine Gegenreform, liegt eine zeitlich entfernte inkongruente Reform vor, ist es eine Neuausrichtung. Wählt man für stetige Reformen und Gegenreformen einen Zeitraum von drei Jahren, ergibt sich für die 18 Untersuchungsländer folgendes Bild (Tabelle 16): Großbritannien, Finnland und Italien sind die Länder mit den meisten stetigen Reformen; die meisten Gegenreformen fanden in Japan und Finnland statt. Neuausrichtungen und verstärkende Reformen sind hingegen in allen Ländern selten oder gar nicht zu beobachten. Tabelle 16: Prozessreformen in der Rentenversicherung, 1980-2002 Land
Stetige Reformen
Neuausrichtungen
Verstärkende Reformen
Gegenreformen
Prozessreformen insgesamt
Großbritannien Finnland Japan Italien Schweiz Niederlande Belgien Österreich Norwegen Schweden Neuseeland Irland USA Dänemark Frankreich Australien Deutschland Kanada
18 (16) 11 (8) 6 (3) 10 (8) 7 (4) 2 (1) 3 (1) 7 (6) 6 (3) 2 (0) 3 (1) 5 (3) 2 (0) 2 (0) 2 (0) 1 (0) 3 (1) 2 (1)
0 0 0 0 0 1 0 1 0 0 0 2 0 1 1 2 1 0
0 0 0 0 1 1 2 0 2 1 2 0 2 1 1 1 0 1
2 (1) 6 (4) 10 (8) 4 (3) 4 (1) 5 (3) 3 (1) 0 (0) 0 (0) 4 (2) 2 (0) 0 (0) 2 (0) 1 (0) 0 (0) 0 (0) 0 (0) 0 (0)
20 17 16 14 12 9 8 8 8 7 7 7 6 5 4 4 4 3
Insgesamt
92 (61)
9
15
43 (24)
159
Quelle: CWED, eigene Berechnung. Anmerkung: in Klammern ist die Häufigkeit der stetigen Reformen und der Gegenreformen angegeben, wenn drei aufeinander folgende Reformen innerhalb von sechs Jahren in die jeweils gleiche oder entgegengesetzte Richtung wirken.
Mit dieser Operationalisierung wird der Prozess auf zwei aufeinander folgende Reformmaßnahmen beschränkt. Zumal bei stetigen Reformen und regelmäßigen Gegenreformen lässt sich argumentieren, dass mehr als zwei aufeinander folgende Reformen berücksichtigt
Reformen im internationalen Vergleich
127
werden sollten. Doch auch wenn man ein strengeres Kriterium für stetige Reformen und Gegenreformen anlegt und drei jeweils gleichgerichtete oder entgegengesetzte Reformen als notwendige Bedingung wählt, ändert sich das Bild nicht grundlegend. Zwar reduziert sich in den meisten Ländern die Zahl der stetigen Reformen und etwas stärker die Zahl der Gegenreformen; die oben beschriebenen Länderbefunde bleiben jedoch erhalten. 5.3 Reformen der Arbeitslosenversicherung im Vergleich Auch wenn die Arbeitslosenversicherung in den meisten Ländern deutlich später als die Unfall-, Kranken- und Rentenversicherung eingeführt wurde, gehört sie heute zum Kernbestand der entwickelten Sozialstaaten. Arbeitslosenversicherungen waren in den meisten Ländern zunächst freiwillige Versicherungen, die allerdings staatlich subventioniert wurden. Frankreich war 1905 das erste Land mit einer staatlich subventionierten, nationalen, freiwilligen Arbeitslosenversicherung, die erste Pflichtversicherung wurde 1911 in Großbritannien eingerichtet (vgl. Abbildung 24; siehe auch Alber 1982: 168ff.). Bis heute haben die meisten Industrieländer obligatorische staatliche Arbeitslosenversicherungen eingeführt, allerdings dauerte es in Frankreich bis 1967 und in der Schweiz sogar bis 1976, bis eine Pflichtversicherung bestand (ebd.: 169). Lediglich Finnland, Dänemark und Schweden haben bis heute eine freiwillige Arbeitslosenversicherung mit finanzieller staatlicher Unterstützung („Gent-Systeme“).72
1900
1905
1910
1915
1920
1925
1930
1935
1940
1945
pa n Ja
Au str ali en
da Ka na
Sc hw e US den A
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Fra nk No reic h rw Dä ege n ne ma rk
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Irla nd Nie de r Fin lan nla de nd Ita lien Be lgi en ,Ö ste rre ich Sc hw eiz
Abbildung 24: Zeitpunkte der ersten Gesetzgebung zur Arbeitslosenversicherung
1950
Quelle: SSAW 1981, eigene Darstellung.
5.3.1 Strukturmerkmale und -reformen der Arbeitslosenversicherung Die Art der Trägerschaft ist zwar ein zentrales Strukturmerkmal der Arbeitslosenversicherungen. Allerdings gab es im Untersuchungszeitraum keine grundlegenden Veränderungen in den 18 Untersuchungsländern. In der OECD-Welt ist die staatliche Arbeitslosenversicherung heute der Normalfall (Tabelle 17). Lediglich vier Länder – Dänemark, Finnland, Frankreich, Schweden – haben Arbeitslosenversicherungen, die von Gewerkschaften (und Arbeitgebern) verwaltet werden. In Belgien spielen die Gewerkschaften ebenfalls noch eine gewisse Rolle bei der Administration der Arbeitslosenversicherung: Auch wenn die Kontrolle vom Arbeitsministerium ausgeübt wird, sind sie über ein tripartistisches Gremium, 72
Diese Systeme werden als Gent-Systeme bezeichnet, benannt nach der belgischen Stadt, in der die freiwillige Arbeitslosenversicherung zu Beginn des 20. Jahrhunderts neben den Beiträgen der Gewerkschaftsmitglieder durch Zuschüsse der Stadt finanziert wurde.
128
Reformen im internationalen Vergleich
das über die Ansprüche auf Arbeitslosengeld entscheidet, und über eigene lokale Auszahlungsbehörden, die Gewerkschaftsmitgliedern die Leistungen auszahlen, bis heute eng mit der Arbeitslosenversicherung verbunden. Tabelle 17: Verwaltung der Arbeitslosenversicherungen in 18 OECD-Ländern, 1980 und 2002 Staatliche Trägerschaft
Gewerkschaften/ Gewerkschaften & Arbeitnehmer
Australien, Belgien, Deutschland, Großbritannien, Irland, Italien, Japan, Kanada, Neuseeland, Niederlande, Norwegen, Österreich, Schweiz, USA
Dänemark, Finnland, Frankreich*, Schweden
* Die Arbeitslosenversicherung wird bipartistisch von Arbeitgebern und Gewerkschaften verwaltet, ist aber eine Pflichtversicherung. Quelle: Eigene Darstellung.
Die grundlegende Struktur der Trägerschaft der Arbeitslosenversicherungen blieb also im Untersuchungszeitraum unverändert. Dies ist allerdings vor dem Hintergrund einer historischen Entwicklung in Europa zu sehen, von der nur Österreich, Deutschland und Italien sowie Großbritannien und Irland ausgenommen sind. In diesen Ländern führte der Gesetzgeber die Arbeitslosenversicherung bereits als staatliche Pflichtversicherung ein.73 In den übrigen Ländern waren die ersten legislativ verankerten Arbeitslosenversicherungen nach dem Gent-System organisiert. Die Gent-Versicherungen waren von Gewerkschaften verwaltet, staatlich subventioniert, und der Beitritt war freiwillig. Um den Versicherungsschutz auszuweiten, wurden in den meisten Ländern staatliche Pflichtversicherungen eingeführt (siehe Alber 1982: 166ff.; Mares 2000). Lediglich Schweden, Dänemark und Finnland haben an dem System der freiwilligen Arbeitslosenversicherung bis heute festgehalten. Frankreich führte zwar 1967 die Versicherungspflicht ein, hielt jedoch an der bipartistischen Trägerschaft fest. Bis heute wird die Arbeitslosenversicherung (UNEDIC, Union Nationale pour l’Emploi dans l’Industrie et le Commerce) von den Sozialpartnern verwaltet. Durch eine Reform in den Jahren 1979/80 wurde dieses System auf der Einnahmenseite durch eine gemeinsame Finanzierung mit Beiträgen und regelgebundenem Staatszuschuss abgelöst (Schmid et al. 1987: 52). Dieses System wurde Mitte 1984 erneut durch ein prinzipiell duales Leistungs- und Finanzierungssystem ersetzt. Damit wurde die „zweite Säule“ der Arbeitslosenversicherung aus dem beitragsfinanzierten und von den Sozialpartnern verwalteten System wieder ausgegliedert und unter staatliche Trägerschaft und Finanzierung gestellt (Milner & Mouriaux 1997: 49). Der erste, beitragsfinanzierte und von den Sozialpartnern verwaltete Zweig der Arbeitslosenversicherung wird seitdem als „Assurance chômage“ bezeichnet, der zweite Zweig als „Régime de solidarité“.74 73
74
Bevor gesetzliche Bestimmungen verabschiedet wurden, gab es auch in diesen Ländern andere Formen der Arbeitslosenversicherung. Beispielweise gab es in Großbritannien vor der Einführung der gesetzlichen Pflichtversicherung 1911 auf Freiwilligkeit beruhende Verbände, die gänzlich ohne staatlichen Einfluss Unterstützungsleistungen anboten (Mares 2000: 232). Darüber hinaus unterlagen insbesondere die Sozialhilfe und das fragmentierte Zulagensystem zahlreichen Reformen, die hier nicht Gegenstand der Untersuchung sind. Siehe dazu: Bonoli & Palier (1997).
Reformen im internationalen Vergleich
129
Neben der Trägerschaft gibt es weitere wichtige Differenzen zwischen den Arbeitslosenversicherungen in den entwickelten Industrieländern. Die Art der Leistungen variiert von Einheitssätzen über einkommensbezogene Lohnersatzleistungen mit konstanten Prozentsätzen bis zu degressiv gestaffelten Leistungen, bei denen die Lohnersatzquote mit höherem Einkommen abnimmt. Viele Systeme mit einkommensbezogenen Leistungen sind ebenfalls degressiv gestaltet, denn die meisten Arbeitslosenversicherungen, die das Arbeitslosengeld als festen Prozentsatz des früheren Einkommens berechnen, haben eine Obergrenze. Das Proportionalitätsprinzip wird also nur bis zu einer bestimmten Leistungshöhe angewandt. Tabelle 18: Strukturmerkmale der Leistungen der „ersten Säule“ der Arbeitslosenversicherungen Einheitssatz
Einkommensbezogen
1980
Australien; Neuseeland;
Österreich; Belgien; Kanada; Dänemark; Finnland; Frankreich; Deutschland; Irland; Italien; Japan; Niederlande; Norwegen; Schweiz; Schweden; Großbritannien; USA*
2002
Australien; Irland; Neuseeland; Großbritannien
Österreich; Belgien; Kanada; Dänemark; Finnland; Frankreich; Deutschland; Italien; Japan; Niederlande; Norwegen; Schweiz; Schweden; USA*
Anmerkungen: Die Länder, die 2002 im Vergleich zu 1980 eine veränderte Struktur der ersten Säule der Arbeitslosenversicherung aufweisen, sind durch Fettschrift hervorgehoben. * Die Arbeitslosenversicherung in den USA ist Angelegenheit der Bundesstaaten und wird nur von einer sehr weiten Rahmengesetzgebung des Bundes umschlossen.
Gestaffelte Leistungssätze hatten zu Beginn des Untersuchungszeitraums lediglich Österreich, Finnland, Schweden und Japan. In Japan war die Höhe des Arbeitslosengeldes neben dem früheren Lohn vom Alter des Antragstellers abhängig, seit Mitte der 1980er Jahre wird zusätzlich die Dauer der vorherigen Beschäftigung berücksichtigt (Seeleib-Kaiser & Tränhardt 2000: 311). In Österreich variierte die Lohnersatzquote je nach früherem Nettoeinkommen zwischen 40% und 58% und wurde über die Einteilung in 43 Lohngruppen vorgenommen. Diese Berechnung über ein Lohnklassenschema wurde 2001 durch eine Umstellung auf eine Nettoersatzrate von 55% abgelöst. In Schweden gab es 1980 eine Staffelung in zehn Lohngruppen, wobei sich der Großteil der Beschäftigten in der höchsten Einkommensgruppe befand, die somit lediglich den Maximalbetrag von 195 Kronen pro Tag erhielten. Durch dieses Maximum war die Lohnersatzleistungsquote für die meisten Arbeitslosen deutlich niedriger als die gesetzlich angestrebten 90% (Olsson 1987: 18). In Finnland sind die Lohnersatzleistungen für Geringverdiener ebenfalls höher und können bis zu 90% des vorherigen Einkommens betragen. Bei einem durchschnittlichen Einkommen beträgt die Lohnersatzleistungsquote ca. 60%. In den übrigen Ländern wurde ein einheitlicher Prozentsatz zur Berechnung verwendet. Großbritannien und Irland waren die einzigen Länder, die im Bereich der Leistungsart eine Strukturreform durchgeführt haben. In Großbritannien wurde 1980 unter Margret Thatcher die Abschaffung des earnings-related supplement beschlossen. 1981 war das letzte Jahr der Auszahlung. In Irland wurde die einkommensbezogene Säule erst 1994 abgeschafft.
130
Reformen im internationalen Vergleich
Neben der „ersten Säule“ der Arbeitslosenversicherung, die in den meisten OECDLändern einkommensbezogene Lohnersatzleistungen für einen bestimmten Zeitraum gewährt, existiert in den meisten Ländern eine „zweite Säule“. Dies liegt daran, dass das einkommensbezogene Arbeitslosengeld in der Regel zeitlich befristet ist. Nach Ablauf dieser Bezugsfrist gibt es in den Wohlfahrtsstaaten der OECD-Welt Anspruch auf weitere Leistungen. Hier sind zwei Strukturvarianten zu beobachten: Entweder existiert ein zweites Programm innerhalb der Arbeitslosenversicherung oder die allgemeine Mindestsicherung (Sozialhilfe, social assistance) übernimmt die Leistungen. In Australien und Neuseeland, also jenen Ländern, in denen das Arbeitslosengeld in Form eines aus Steuermitteln finanzierten Einheitssatzes auftritt, ist das Arbeitslosengeld identisch mit der Sozialhilfe und kennt prinzipiell keine zeitliche Befristung.75 In Großbritannien war das earnings-related supplement bis 1980 auf 26 Wochen befristet, danach bestand weitere 26 Wochen Anspruch auf eine einheitliche Arbeitslosenhilfe. Im Anschluss daran gab es eine bedürftigkeitsgeprüfte Sozialhilfe, die nicht Bestandteil des Arbeitslosenversicherungsregimes war. Nach der Abschaffung der einkommensbezogenen Säule durch den Social Security Act von 1980 gab es für 52 Wochen die einheitliche Arbeitslosenhilfe, die nach wie vor beitragsfinanziert war. Zwischen 1981 und 1995 existierte somit keine zweite Säule in der britischen Arbeitslosenversicherung. Mit dem Jobseekers Act von 1995 wurde die Sozialhilfe in die Arbeitslosenversicherung integriert. Seitdem ist die erste Säule das beitragsfinanzierte einheitliche Arbeitslosengeld, nach Ablauf der 52 Wochen gibt es die bedürftigkeitsgeprüfte, niedrigere und nach Alter gestaffelte so genannte income-based jobseeker’s allowance. Großbritannien ist somit das einzige Land, das ein einheitliches Arbeitslosengeld mit einer dualen Struktur verbunden hat. Aber auch in Ländern, in denen eine einkommensbezogene erste Säule der Arbeitslosenversicherung existiert, gibt es neben der Sozialhilfe nicht notwendigerweise eine zweite Säule. Dies gilt für Dänemark, Belgien, Schweiz, Italien, Norwegen, Japan, Kanada und die USA. Wer in diesen Ländern nicht oder nicht mehr Anspruch auf die einkommensbezogenen Leistungen der Arbeitslosenversicherung hat, ist somit auf die staatliche Grundsicherung angewiesen. Tabelle 19: Zweite Säule der Arbeitslosenversicherungen Zweite Säule
Nicht vorhanden
Einheitssatz
Einkommensbezogen
1980
Finnland, Frankreich, Großbritannien, Schweden, Irland
Deutschland, Niederlande, Österreich
Australien, Belgien, Dänemark, Italien, Japan, Kanada, Neuseeland, Norwegen, Schweiz*, USA*
2002
Finnland, Frankreich, Großbritannien, Schweden , Irland
Deutschland, Österreich
Australien, Belgien, Dänemark, Italien, Japan, Kanada, Neuseeland, Niederlande, Norwegen, Schweiz*, USA*
Anmerkungen: Die Länder, die 2002 im Vergleich zu 1980 eine veränderte Struktur der zweiten Säule der Arbeitslosenversicherung aufweisen, sind durch Fettschrift hervorgehoben. * In einigen Bundesstaaten der USA bzw. Kantonen der Schweiz gibt es eine zweite Säule. 75
Auch in diesen Ländern ist der Bezug der Unterstützungsleistungen jedoch an Bedingungen wie Arbeitsfähigkeit, aktive Arbeitssuche etc. gebunden.
Reformen im internationalen Vergleich
131
Unter diesen Ländern ohne eine zweite Säule der Arbeitslosenversicherung sind einige Besonderheiten zu verzeichnen. So ist in Belgien der Bezug des Arbeitslosengeldes unbefristet. Allerdings nahm die Höhe des Arbeitslosengeldes im Zeitverlauf ab, nach zwei Jahren des einkommensbezogenen Arbeitslosengeldes wurde es auf einen Einheitssatz abgesenkt. Die in vielen Ländern zu beobachtende strukturelle Trennung von zeitlich befristetem, einkommensbezogenem Arbeitslosengeld und einer nachgelagerten einheitlichen Arbeitslosenhilfe wurde in Belgien also innerhalb eines Systems verwirklicht. Diese Struktur – die Integration von erster und zweiter Säule – war auch Kern der Reform der Arbeitslosenversicherung in den Niederlanden 1987. Bis dahin war das niederländische System dem deutschen sehr ähnlich. Es bestand zunächst Anspruch auf 80% des Einkommens für einen Zeitraum von 26 Wochen. Danach gab es bis zu zwei Jahre Arbeitslosenhilfe, die 70% des Arbeitslosengeldes betrug. Die beiden Systeme wurden 1987 zusammengeführt. Die Lohnersatzquote betrug nun nur noch 70% des vorherigen Einkommens. Nach 26 Wochen wurde das Arbeitslosengeld in Halbjahresschritten innerhalb von maximal zwei Jahren auf 70% des Mindestlohns gekürzt. Insgesamt wurde die Bezugsdauer auf fünf Jahre beschränkt (Visser & Hemerijck 1998: 185f.). Tabelle 20: Gesetze zu Strukturreformen der Arbeitslosenversicherungen Land
Jahr
Gesetz
Inhalt
UK
1980
Social Security Act (No.2)
Abschaffung des Earnings Related Supplement (ERS)
UK
1995
Jobseeker’s Act
Einführung der Jobseeker’s Allowance
FRA
1984
-
Finanzielle Trennung der ersten und zweiten Säule
NL
1986 Werkloosheidswet (in Kraft 1987)
IRL
1993 Social Welfare Abschaffung des einkommensbezogenen Anteils der (in Kraft 1994) (Consolidation) Act ersten Säule der Arbeitslosenversicherung (vorher flatrate + 12%; jetzt reine flat-rate)
Integration der ersten (WW) und zweiten Säule (WWV) der Arbeitslosenversicherung
Quelle: Eigene Darstellung.
Neben den Strukturmerkmalen der Arbeitslosenversicherungen differieren auch die Programmmerkmale zum Teil beträchtlich zwischen den Ländern und innerhalb der Länder über die Zeit. 5.3.2 Programmmerkmale und -reformen der Arbeitslosenversicherung Die zentralen Indikatoren, die für die Programmreformen herangezogen werden, sind neben der Höhe die Dauer des Arbeitslosengeldes, die Wartezeiten und die zum Bezug des Arbeitslosengeldes notwendigen Anwartschaftszeiten. Wie war es um den Ausgangspunkt der Länder zu Beginn des Untersuchungszeitraumes bei diesen Indikatoren bestellt? Wie bei der Rentenversicherung werden die Veränderungen des Leistungsniveaus durch Veränderungen der Nettozahlungen operationalisiert. Um jedoch zunächst die Höhe der Leistungen vergleichend darstellen zu können, müssen die Leistungen der Arbeitslo-
132
Reformen im internationalen Vergleich
senversicherung auf eine Vergleichsbasis gestellt werden. Dafür eignen sich die sogenannten replacement rates, also die Nettozahlungen, die ein arbeitsloser Durchschnittsarbeitnehmer erhält, ausgedrückt als Prozentsatz des Durchschnittseinkommens eines berufstätigen Arbeitnehmers. 1980 betrug die durchschnittliche Lohnersatzquote der Arbeitslosenversicherung über alle 18 Länder gerechnet 58,4%. Allerdings wird diese Zahl nicht unerheblich durch die Besonderheiten des italienischen Regimes der Arbeitslosenversicherung beeinflusst. Die allgemeine Arbeitslosenversicherung in Italien sah 1981 für einen alleinstehenden Arbeitslosen lediglich einen Einheitssatz von 180 Lire pro Tag vor (SSAW 1981), was einer replacement rate von etwas über 4% entspricht. Es gab (und gibt) jedoch diverse branchenspezifische obligatorische Zusatzversicherungen, deren Leistungen bis zu 80% des vorherigen Einkommens betragen.76 Vernachlässigt man also den italienischen Sonderfall, beträgt die durchschnittliche replacement rate der verbleibenden 17 OECDLänder 61,5%. Die Arbeitslosenversicherungen der Niederlande, Schwedens und Dänemarks waren 1980 diejenigen mit den höchsten Lohnersatzleistungen; in Finnland, Neuseeland und Australien bekamen Arbeitslose, gemessen am Durchschnittseinkommen eines Industriearbeiters, vergleichsweise wenig Geld (vgl. Abbildung 25). Abbildung 25: Lohnersatzquoten der Arbeitslosenversicherungen für Singles in 18 OECDLändern, 1980 und 2002
80%
60%
40%
20%
0%
NET SWE DEN NOR
US
JAP
SWI
GER FRA
1980
BEL
IRE
CAN AUT
UK
FIN
NEZ
AUS
ITA
2002
Quelle: CWED-Datensatz, eigene Darstellung.
76
Auch in Frankreich gab es Zusatzversicherungen, die hier ebenfalls nicht berücksichtigt werden können.
Reformen im internationalen Vergleich
133
Im Jahr 2002 führten die Niederlande und Schweden die Rangliste noch immer an, allerdings auf niedrigerem Niveau. Insgesamt sind die Lohnersatzleistungen zurückgegangen, 2002 betrug der Durchschnittswert 54,3%. In Großbritannien und Irland waren die Kürzungen besonders massiv, Finnland war nach Italien das Land mit der deutlichsten Anhebung des Arbeitslosengeldes. Die Summe der Prozentpunkte der einzelnen jährlichen Veränderungen ergibt einen ersten Eindruck von der unterschiedlichen Dynamik in den Ländern (Abbildung 26). In immerhin acht der 18 Untersuchungsländer ist ein negativer Saldo der Veränderungen zu beobachten, das Ausmaß der Kürzungen übertraf also das der Ausbaumaßnahmen. In einer Reihe von Ländern übersteigt der Betrag der Veränderungen den Saldo deutlich, was auf einen Zickzackkurs der Reformmaßnahmen hindeutet. Dieses Muster ist vor allem in Japan, den Niederlanden und Irland zu beobachten. In Norwegen, der Schweiz, Finnland und Frankreich liegen Saldo und Betrag hingegen relativ nah beieinander. Abbildung 26: Betrag und Saldo der Veränderungen der Lohnersatzleistungen der Arbeitslosenversicherung für Singles, 1980-2002
Summe der Prozentveränderungen
200
150
100
50
0
-50 ITA*
FIN
NOR SWE SWI
FRA
JAP
NET
AUT AUS CAN BEL
Saldo der Veränderungen
GER DEN
US
NEZ
IRE
UK
Betrag der Veränderungen
Quelle: CWED-Datensatz, eigene Darstellung. * Die Werte für Italien betragen 1037 (Saldo) und 1265 (Betrag) aufgrund der Reform von 1988. Von 1989 an wurde an Stelle des Einheitssatzes von 800 Lire 15 % des vorherigen Einkommens ausbezahlt. Für einen alleinstehenden Durchschnittsarbeitnehmer bedeutete dies in diesem Jahr eine Steigerung von 1044 %. Allerdings wäre der hier zugrunde gelegte Durchschnittsarbeitnehmer auch vor 1989 wahrscheinlich durch eine der Sonderversicherungen abgesichert gewesen, die Lohnersatzleistungen in der Höhe von ca. 80 % des vorherigen Einkommens gewährten.
134
Reformen im internationalen Vergleich
Neben der Höhe ist die maximale Bezugsdauer der ersten Säule der Arbeitslosenversicherung eine weitere wichtige Stellgröße. Auch hier sind beträchtliche Unterschiede zwischen den untersuchten Ländern festzustellen (Abbildung 27). Die Spannbreite reicht von Ländern, in denen es keine zeitliche Beschränkung gibt (Norwegen, Belgien, Neuseeland und Australien), bis zu Ländern, in denen Arbeitslose lediglich ein halbes Jahr Anspruch auf die Transferleistungen aus der Arbeitslosenversicherung haben (Großbritannien, USA, Italien und 1980 auch die Niederlande). Das bedeutet freilich nicht, dass danach kein Anspruch auf Sozialleistungen besteht. Entweder wird dann eine (deutlich) reduzierte Arbeitslosenhilfe gewährt oder man hat Anspruch auf Leistungen aus einem anderen Sozialprogramm (soziale Mindestsicherung, Sozialhilfe; siehe oben). Die Werte beziehen sich also auch hier auf die erste Säule der Arbeitslosenversicherung, die nach Eintritt der Arbeitslosigkeit Anspruch auf Sozialtransfers in der oben (Abbildung 25) genannten Höhe generiert.77 Die meisten Länder gewähren dieses Arbeitslosengeld für eine Dauer zwischen einem halben und einem Jahr. Abbildung 27: Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes in 18 OECD-Ländern, 1980 und 2002
260
Wochen
208
156
104
52
0
NEZ* BEL* AUS* DEN° IRE
SWE GER FRA NOR
1980
FIN
CAN SWI
JAP
AUT
US
UK
NET
ITA
2002
Quelle: CWED-Datensatz, eigene Darstellung. * Die gekennzeichneten Länder haben keine zeitliche Beschränkung für den Bezug des Arbeitslosengeldes. ° Für Dänemark weist die CWED Datenbank 1980 einen Wert von 442 Wochen aus. 77
In einigen Ländern variiert die Dauer der Leistungen entsprechend der Dauer der vorherigen Beschäftigungszeit. In diesen Fällen weist die CWED-Datenbank die Bezugsdauer aus, auf die ein 40-jähriger Arbeitsloser nach 20 Jahren Beschäftigung Anspruch hat (Scruggs 2005b). In Deutschland war die Bezugsdauer z.B. sowohl von der vorherigen Beschäftigungszeit als auch vom Alter des Arbeitslosen abhängig und variierte zwischen sechs und 32 Monaten. Weil solche Regelungen nicht in der CWED-Datenbank abgebildet wurden, sind zwangsläufig nicht alle Reformen erfasst.
Reformen im internationalen Vergleich
135
Auch die Beitragszeiten in Abbildung 28 beziehen sich auf die erste Säule der Arbeitslosenversicherung. So war in den Niederlanden 2002 für den Erhalt des Arbeitslosengeldes in Höhe von 70% des vorherigen Einkommens eine Beschäftigung in vier der letzten fünf Jahre vor Eintritt der Arbeitslosigkeit notwendig. Wurde diese Bedingung nicht erfüllt, bestand gleichwohl ein Anspruch auf eine Grundsicherung in Höhe von 70% des Mindestlohnes, sofern eine reguläre Beschäftigung in sechs der vorangegangenen neun Monate nachgewiesen wurde. In den Ländern, in denen die Arbeitslosenversicherung die Form eines steuerfinanzierten Einheitssatzes annimmt (Australien und Neuseeland), ist keine oder nur eine einmonatige vorherige Beschäftigung notwendig. In Norwegen beträgt die Mindestbeitragszeit zwar nur vier Wochen, allerdings bemisst sich die Höhe des Arbeitslosengeldes an der Höhe des Einkommens im letzten Jahr (oder dem Durchschnitt der letzten drei Jahre, sofern dieser höher ist). Die durchschnittlich notwendigen Beitragszeiten, um Ansprüche auf die einkommensbezogene Arbeitslosenversicherung zu erwerben, betrugen 1980 noch 43 Wochen, 2002 waren es 57 Wochen. Abbildung 28: Notwendige Beitragszeiten zur Arbeitslosenversicherung in 18 OECDLändern, 1980 und 2002 260
Wochen
208
156
104
52
0
AUT
ITA
GER BEL SWE CAN
IRE
SWI
NET
1980
JAP
FIN
DEN
US
FRA
UK
NOR NEZ AUS
2002
Quelle: CWED-Datensatz, eigene Darstellung.
Das letzte Kriterium der Programmstrukturen der Arbeitslosenversicherung sind die Wartetage, die zwischen Eintritt der Arbeitslosigkeit und Anspruch auf Arbeitslosengeld liegen (Abbildung 29). Sechs der 18 Länder (die Niederlande, Italien, Deutschland, Dänemark, Belgien und Österreich) hatten weder 1980 noch 2002 Wartetage. In Irland und Ka-
136
Reformen im internationalen Vergleich
nada war die Wartezeit 1980 mit zwei Wochen am längsten, 2002 ist dieser Höchstwert in Kanada und Neuseeland gültig. Der Durchschnitt der Länder mit Wartetagen betrug 1980 7,5 Tage, im Jahr 2002 waren es 6,8 Tage. Abbildung 29: Wartetage zum Arbeitslosengeld in 18 OECD-Ländern, 1980 und 2002 Quelle: CWED-Datensatz, eigene Darstellung.
Tage
14
7
0
IRE
CAN
UK
US
NEZ
JAP
AUS SWE
FIN
NOR SWI
1980
FRA
NET
ITA
GER DNK
BEL
AUT
2002
Auch wenn sich aus dem Vergleich der zwei Zeitpunkte in den vier Kriterien für Programmreformen der Arbeitslosenversicherung erste Hinweise auf die Reformrichtung und dynamik ergeben, ist keineswegs gesagt, dass sich die Veränderungen konsistent in eine Richtung bewegten, mit einem Mal oder in mehreren Schritten vollzogen wurden oder ob ein identischer Ausgangs- und Endpunkt vorliegt, aber in der Zwischenzeit vielfältige Reformen stattgefunden haben. 5.3.3 Reformmuster der Arbeitslosenversicherung Um die Reformmuster in der Arbeitslosenversicherung abzubilden, müssen auch hier die Veränderungsschritte genauer untersucht werden. Wie bei der Untersuchung der Rentenversicherungen auch, wird bei der Arbeitslosenversicherung eine Veränderung der Leistungshöhe zunächst durch einen preisbereinigten Anstieg des Arbeitslosengeldes für Alleinstehende oder Paare um mehr als 3% oder eine nominelle Kürzung im Vergleich zum Vorjahr operationalisiert. Eine Reform der Leistungshöhe liegt ebenfalls dann vor, wenn sich das Verhältnis der Leistungen für Alleinstehende zu verheirateten Arbeitslosen mit zwei Kindern um mehr als drei Prozentpunkte verändert. Bei den übrigen Indikatoren Wartezeit,
Reformen im internationalen Vergleich
137
Bezugsdauer und Beitragszeiten wurde eine Abweichung vom jeweiligen Vorjahreswert als Reform kodiert (Tabelle 21). Tabelle 21: Kriterien für Programmreformen der Arbeitslosenversicherung Indikator
Kriterium für Reform
Wartezeiten
Abweichung vom Vorjahr (ohne inkrementelle Prozesse)
Bezugsdauer
Abweichung vom Vorjahr (ohne inkrementelle Prozesse)
Beitragszeiten
Abweichung vom Vorjahr (ohne inkrementelle Prozesse)
Leistungsniveau der Kürzung des Arbeitslosengeldes für Alleinstehende oder Paare im VerArbeitslosenversicherung gleich zum Vorjahr oder preisbereinigter Anstieg um mehr als 3%; Veränderung des Verhältnisses der Leistungen für Alleinstehende und Verheiratete mit zwei Kindern Quelle: Eigene Darstellung.
Vergleicht man die Reformtätigkeit der Länder im Zeitraum von 1980 bis 2002 anhand dieser Kriterien, stellt man wie in der Rentenversicherung fest, dass die Reformtätigkeit in den Ländern sehr unterschiedlich ausgeprägt ist (Abbildung 30). Italien, Irland und Finnland führen die Liste an, Belgien, die USA und Neuseeland weisen die geringste Reformtätigkeit auf. Allerdings sind die USA nur sehr eingeschränkt mit den anderen Ländern zu vergleichen, denn die Gesetzgebung zur Arbeitslosenversicherung ist Aufgabe der Bundesstaaten. Mit Abstand die meisten Programmreformen betrafen die Leistungshöhe. Abbildung 30: Anzahl der Programmreformen der Arbeitslosenversicherung, 1980-2002
Anzahl der Reformschritte
25
20
15
10
5
0
ITA
IRE
FIN
UK
SWE SWI NOR NET GER FRA
Leistungshöhe Wartetage
AUS DEN CAN AUT
JAP
NEZ
Bezugsdauer Beitragszeiten
Quelle: Eigene Berechnung auf Grundlage des CWED-Datensatzes.
US
BEL
138
Reformen im internationalen Vergleich
Anders als in der Rentenpolitik ist bei der Reformaktivität in der Arbeitslosenversicherung ein zeitliches Muster zu erkennen. Es gibt zwei vergleichsweise intensive Reformphasen zu Beginn des Untersuchungszeitraums und in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Die länderspezifischen Unterschiede sind jedoch beträchtlich (vgl. Appendix A2). Der Höhepunkt der aggregierten Aktivität ist in den Jahren 1983 und 1996 zu verzeichnen, die wenigsten Programmreformen gab es im Jahr 1981 (Abbildung 31). Abbildung 31: Anzahl der Programmreformen in der Arbeitslosenversicherung pro Jahr in 18 OECD-Länden
Programmreformen der Arbeitslosenversicherung
20
15
10
5
0 1980
1985
1990
1995
2000
Jahr
Quelle: Eigene Darstellung.
Eine Parallele zur Rentenpolitik gibt es allerdings hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen Programmreformen und legislativer Aktivität: Auch in der Arbeitslosenversicherung scheinen die Muster in keinem erkennbaren Verhältnis zueinander zu stehen. Betrachtet man ausschließlich die legislative Aktivität im Bereich der Arbeitslosenversicherung, sind zwei Gruppen von Ländern zu erkennen. Finnland, Dänemark, Schweden und Belgien weisen eine vergleichsweise hohe Zahl von neuen und veränderten Gesetzen auf (zwischen 100 und 200 im Zeitraum von 1980 bis 2002), von den übrigen Ländern ist Kanada mit 52 Gesetzesakten der Spitzenreiter. Differenziert man die einzelnen Programmreformen wie in der Rentenpolitik hinsichtlich der Frage, ob es sich um einen eindeutigen Aus- oder Rückbau in der Arbeitslosenversicherung gehandelt hat, ist ein ähnliches Muster zu erkennen (Abbildung 33). Auch hier fanden mehr Ausbau- als Abbaumaßnahmen statt, lediglich in Japan, Dänemark und der
Reformen im internationalen Vergleich
139
Schweiz übersteigt die Zahl der eindeutigen Kürzungsmaßnahmen die Zahl der Ausbauschritte. Allerdings ist das Verhältnis in den meisten Ländern ausgeglichener, als es in der Rentenpolitik der Fall war. Dies ist ein erster Hinweis darauf, dass Reformen der Arbeitslosenversicherung möglicherweise einer etwas anderen Logik gehorchen als jene, die bei der Rentenversicherung gilt.
25
Abbildung 32: Programmreformen und legislative Aktivität in der Arbeitslosenversicherung in 18 OECD-Ländern, 1980-2002 ITA
20
IRE
Programmreformen 10 15
FIN UK SWE
SWI AUS
NET GER
NOR FRA
AUT
CAN
DEN
JAP
5
NEZ US BEL
0
50
100 legislative Aktivität
150
200
Quelle: Eigene Darstellung.
Wie bei den Reformen der Rentensysteme können auch die Reformmaßnahmen der Arbeitslosenversicherungen neben Aus- und Abbau hinsichtlich Umfang und Integration differenziert werden. Wirft man einen genaueren Blick auf die Art der Programmreformen, so zeigt sich, dass auch in der Arbeitslosenversicherung die meisten Reformen als Detailsteuerung stattfinden (siehe Tabelle 22).78 Isolierte Reformen machen knapp ein 78
Die Operationalisierung wurde analog zur Rentenversicherung vorgenommen. Findet nur in einem Bereich eine Reform statt und ist der Umfang gering, handelt es sich um eine Detailsteuerung. Eine Reform in einem Bereich mit großem Umfang ist eine isolierte Reform. Findet mehr als eine Reform statt, handelt es sich bei kleinem Umfang um eine integrierte Reform; ist der Umfang groß, ist es eine umfassende Reform. Der Umfang wird über das Ausmaß der Veränderung der Leistungshöhe operationalisiert: Liegt die Erhöhung des Arbeitslosengeldes zwischen drei und sechs Prozentpunkten oder ist die Kürzung nicht größer als drei Prozentpunkte, ist der Umfang gering; fällt die Erhöhung oder Kürzung größer aus oder findet eine Änderung des Renteneintrittsalters statt, wurde der Umfang als groß bewertet. Veränderungen der Bezugsdauer und
140
Reformen im internationalen Vergleich
Drittel der Maßnahmen aus, also einzelne Reformschritte mit gleichzeitig großem Umfang. Integrierte Reformen sind hingegen nur einmal, in Österreich, zu beobachten, stattdessen finden jedoch vergleichsweise viele umfassende Reformen statt, also Maßnahmen, die ein großes Ausmaß mit dem Eingriff in mehrere Bereiche kombinieren. Die relative Häufigkeit der einzelnen Typen von Programmreformen ist also in der Arbeitslosen- und Rentenversicherung ähnlich, lediglich integrierte Reformen wurden in der Arbeitslosenversicherung deutlich seltener vorgenommen. Abbildung 33: Summe der eindeutigen Kürzungs- und Ausbaumaßnahmen in der Arbeitslosenversicherung, 1980-2002
20
15
10
5
0
ITA
IRE
FIN
UK
SWE
SWI
NOR
NET
GER
Ausbau der ALV
FRA
AUS
DEN
CAN
AUT
JAP
NEZ
US
BEL
Rückbau der ALV
Quelle: Eigene Berechnung.
Wie ist es in bei den Reformen der Arbeitslosenversicherung um die Kongruenz der Maßnahmen bestellt? Wie auch in der Rentenversicherung gibt es nur relativ wenige länger währende Perioden ohne signifikante Reformen. Die Operationalisierung eines Reform-
der Beitragszeiten wurden ebenfalls als Reformen mit großem Umfang bewertet (bei Reformen der notwendigen Beitragszeiten wurde die Dauer um mindestens 48 Wochen verändert, Reformen der Bezugsdauer waren meistens mit Reformen der Leistungshöhe verbunden – und wo dies nicht der Fall war, betrug die Veränderung mindestens 20 Wochen). Veränderungen bei den Wartetagen wurden als Reformen mit geringem Umfang kodiert, sie traten jedoch ohnehin nur in Verbindung mit größeren Reformen der Leistungshöhe auf und waren somit Bestandteil von umfassenden Reformen.
Reformen im internationalen Vergleich
141
prozesses wurde auch hier über einen Dreijahreszeitraum vorgenommen. Fand die letzte Reform also innerhalb der letzten drei Jahre statt, handelt es sich entweder um eine stetige Reform (bei gleicher Richtung) oder eine Gegenreform (entgegengesetzte Richtung). Ist der Zeitraum zwischen den Maßnahmen größer, handelt es sich entweder um eine verstärkende Reform oder eine Neuausrichtung. In nur 16 Fällen lag ein Zeitraum von vier oder mehr Jahren zwischen einzelnen Reformmaßnahmen; davon stellen sieben Reformen Neuausrichtungen dar und neun verstärkende Reformen (Tabelle 23). Der weitaus größte Teil der Reformen findet in einem engen zeitlichen Zusammenhang statt; wie in der Rentenversicherung auch handelt es sich in der deutlichen Mehrzahl der Fälle um stetige Reformen (72 gegenüber 36 Gegenreformen). Das strengere Prozesskriterium, das drei aufeinander folgende Reformschritte untersucht, führt zwar zu einer Verringerung der Fälle, auch hier blieben die Ländermuster jedoch bestehen. So finden in Italien nicht nur absolut die meisten Reformen statt, es handelt sich auch in zwölf von insgesamt 16 Fällen um kongruente Maßnahmen im Vergleich zur jeweils vorhergehenden Reform. Auch in Australien, Schweden, Großbritannien und Finnland fanden überdurchschnittlich viele stetige Reformen statt. Irland ist hingegen das Land mit den meisten Gegenreformen. Tabelle 22: Programmreformen der Arbeitslosenversicherung, 1980-2002 Land
Detailsteuerung
Integrierte Reform
Isolierte Reform
Umfassende Reform
Programmreformen insgesamt
Italien
3
0
6
8
17
Irland
3
0
5
7
15
Großbritannien
8
0
5
2
15
Schweden
6
0
5
3
14
Finnland
8
0
2
4
14
Niederlande
7
0
3
1
11
Australien
7
0
3
1
11
Deutschland
4
0
6
1
11
Norwegen
7
0
0
3
10
Dänemark
4
0
4
1
9
Österreich
5
1
2
1
9
Frankreich
5
0
1
3
9
Kanada
4
0
2
2
8
Japan
5
0
2
0
7
Schweiz
3
0
1
2
6
Neuseeland
1
0
3
1
5
USA
2
0
0
1
3
Belgien
1
0
2
0
3
Insgesamt
83
1
52
41
177
Quelle: Eigene Berechnung.
142
Reformen im internationalen Vergleich
Tabelle 23: Prozessreformen in der Arbeitslosenversicherung, 1980-2002 Land
Stetige Reformen
Neuausrichtungen
Verstärkende Reformen
Gegenreformen
Prozessreformen insgesamt
Italien Schweden Australien Irland Großbritannien Finnland Norwegen Österreich Niederlande Japan Schweiz Frankreich Kanada Deutschland Neuseeland Dänemark USA Belgien
12 (9) 8 (7) 9 (8) 1 (0) 8 (5) 7 (4) 5 (3) 5 (3) 3 (0) 1 (0) 2 (0) 2 (0) 3 (1) 2 (1) 3 (2) 1 (0) 0 (0) 0 (0)
0 0 0 0 0 0 0 0 0 2 2 0 0 0 1 0 2 0
0 1 1 1 0 0 2 0 1 1 0 0 1 0 0 1 0 0
4 (2) 2 (0) 0 (0) 8 (7) 1 (0) 2 (0) 2 (1) 3 (1) 3 (2) 2 (1) 1 (0) 3 (2) 1 (0) 3 (2) 0 (0) 1 (0) 0 (0) 0 (0)
16 11 10 10 9 9 9 8 7 6 5 5 5 5 4 3 2 0
Insgesamt
72 (43)
7
9
36 (18)
124
Quelle: Eigene Berechnung.
6 Erklärungsfaktoren von Programmreformen Erklärungsfaktoren von Programmreformen
Nach der Darstellung der Ausprägungen der abhängigen Variablen gilt es nun, die Erklärungskraft der unabhängigen Variablen zu überprüfen, die im theoretischen Teil der Arbeit identifiziert wurden. Weil die Operationalisierung dieser Erklärungsfaktoren in manchen Fällen nicht trivial ist, soll zunächst die Auswahl der entsprechenden Indikatoren begründet werden. In einem zweiten Schritt wird dann jeweils der theoretisch postulierte Einfluss auf seine empirische Entsprechung überprüft. Die Zusammenführung der Hypothesen in Kapitel 3 hat dem Konzept des akteursspezifischen Institutionalismus Rechnung getragen, indem der Einfluss der einzelnen unabhängigen Variablen nicht nur isoliert dargestellt wurde. Stattdessen wurde die Konditionalität des Einflusses ebenso diskutiert wie die Interaktion unterschiedlicher Variablen. Diese moderierende Wirkung von Institutionen oder Akteuren zeigt sich in Fragen wie: Handeln linke Regierungen in Vorwahljahren anders als rechte Regierungen? Und wird das parteipolitische Handeln in Vorwahljahren möglicherweise von weiteren Institutionen beeinflusst? Haben umfassende Gewerkschaften einen unterschiedlichen Einfluss auf linke und rechte Regierungen oder sind die Effekte identisch? Fragen dieser Art ziehen methodische Konsequenzen nach sich. Obwohl solche Fragen (oder Hypothesen) in vielen politikwissenschaftlichen Arbeiten vorkommen, wird nicht immer versucht, den methodischen Problemen Rechnung zu tragen. Wenn Beziehungen zwischen einer abhängigen und einer oder mehreren unabhängigen Variablen geschätzt und abgebildet werden sollen, ist die Regressionsanalyse eines der gängigsten Analyseverfahren. Sie wird auch hier Anwendung finden, allerdings nicht in ihrer einfachen linearen Form. Dies liegt zum einen in der Natur der abhängigen Variable: Weil es um Reformereignisse geht, ist die Ausprägung der abhängigen Variablen dichotom (entweder es liegt eine Reform vor oder nicht). Aus diesem Grund werden hauptsächlich logistische Regressionsanalysen vorgenommen. Um nun konditionale oder moderierende Effekte und Wechselwirkungen der unabhängigen Variablen überprüfen zu können, werden Interaktionseffekte eine entscheidende Rolle bei der empirischen Untersuchung der Reformtätigkeit spielen. Der Rückgriff auf Interaktionseffekte ergibt sich also zwingend aus der Art der Hypothesen, die im theoretischen Teil der Arbeit entwickelt wurden. Weil weder die Interpretation logistischer Regressionen noch der Umgang mit Interaktionseffekten den „methodischen Normalfall“ in den Sozialwissenschaften darstellen, werden im Folgenden die Grundideen dieser Werkzeuge knapp beschrieben, um die Interpretation der Tabellen und Abbildungen zu erleichtern. 6.1 Exkurs: Methodische Anmerkungen zur empirischen Untersuchung der Reformtätigkeit Lineare (multiple) Regressionsanalysen untersuchen, wie stark der Zusammenhang einer (oder mehrerer) unabhängigen Variablen mit einer abhängigen Variablen ist. Weil es sich
144
Erklärungsfaktoren von Programmreformen
um einen linearen Zusammenhang handelt, ist die Gleichung, die das Verhältnis beschreibt, eine Geradengleichung. Die lineare Funktion y = a + b·X gibt Auskunft über den genauen Verlauf der Geraden, die den geringsten Abstand zu den Beobachtungspunkten aufweist (ordinary least squares, OLS). Das Į gibt den Punkt an, an dem diese Gerade die y-Achse schneidet (Konstante, intercept), das ȕ gibt die Steigung (slope) der Geraden an. Dies lässt sich an einem einfachen Beispiel aus der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung illustrieren. Die Parteiendifferenzhypothese wurde in zahlreichen Studien anhand von Ausgabendaten untersucht. Die abhängige Variable ist die durchschnittliche Höhe der Sozialausgaben in Prozent des BIP von 1980 bis 2000. Die unabhängige Variable in diesem Beispiel ist der durchschnittliche Anteil sozialdemokratischer und linker Parteien an den Kabinettssitzen im Zeitraum von 1980-2000. In Abbildung 34 sind die Datenpunkte der 18 OECD-Länder zu erkennen. Zusätzlich ist die Regressionsgerade abgebildet, die den geringsten Abstand zu den Beobachtungspunkten aufweist. Abbildung 34: Sozialausgaben und Anteil sozialdemokratischer Kabinettssitze in 18 OECD-Ländern 25
Sozialausgaben in % des BIP (Ø 1980-2000)
Niederlande
20
Schweden Deutschland
Dänemark
Belgien
Österreich Frankreich
Finnland Italien Neuseeland
15 Großbritannien Irland USA Kanada 10
Norwegen
Schweiz
Japan Australien
5 0%
20% 40% 60% Anteil sozialdemokratischer Kabinettssitze 1980-2000
Quelle: Armingeon et al. (2008), eigene Berechnungen.
Die entsprechende Funktionsvorschrift der Regressionsgeraden lautet: y = 13,2 + 0,6·X
80%
Erklärungsfaktoren von Programmreformen
145
Bei einem durchschnittlichen sozialdemokratischen Kabinettsanteil von 0 % wird also eine Sozialausgabenquote von 13,2 % geschätzt. Bei einer Zunahme des durchschnittlichen sozialdemokratischen Kabinettsanteils um einen Prozentpunkt erhöht sich die Sozialausgabenquote um 0,6 Prozentpunkte. Eine höhere sozialdemokratische Regierungsbeteiligung geht also theoriekonform mit höheren Sozialausgaben einher. Ob dieser Zusammenhang ursächlich etwas mit der Regierungsbeteiligung zu tun hat oder vielmehr auf ökonomische und/oder institutionelle Faktoren zurückzuführen ist, soll an dieser Stelle nicht weiter diskutiert werden. Wichtig ist hingegen, dass die Indikatoren der abhängigen Variable in einer Form vorliegen, die sinnvolle Aussagen in der Form „erhöht sich X um eine Einheit, steigt Y um 0,6 Einheiten“ zulassen. Die mit Hilfe der CWED-Daten konstruierten Programmreformen unterscheiden sich nun als abhängige Variable von den in anderen Untersuchungen und im obigen Beispiel benutzten Ausgabenindikatoren. Reformen können nur auftreten oder nicht auftreten, ebenso kann ein Gesetz nur verabschiedet werden oder nicht verabschiedet werden. Das bedeutet, dass die Werte der abhängigen Variablen nur in zwei Ausprägungen vorliegen: 0 und 1. Zwischenkategorien wie z.B. halbe Reformen, viertel- oder 0,23 Reformen ergäben keinen Sinn. Das Ereignis (Reform oder Verabschiedung eines Gesetzes) kann entweder eintreten oder ausbleiben. Das Interesse richtet sich dementsprechend auf die Frage, ob unterschiedliche Bedingungen (also die unabhängigen Variablen in ihren unterschiedlichen Ausprägungen zwischen den Ländern und über die Zeit) das Eintreten oder Ausbleiben einer Reform zu erklären helfen. Einfacher gesagt: Es geht um die Frage, ob und wie die unabhängigen Variablen die Wahrscheinlichkeit des Eintretens oder Ausbleibens einer Reform beeinflussen. Lineare Regressionen bei einer dichotomen abhängigen Variablen eignen sich nur sehr eingeschränkt zur Analyse von Ereignisdaten. Zwar ließen sich auch die geschätzten Werte einer linearen Regression als Wahrscheinlichkeiten interpretieren. Allerdings liegt der Wertebereich der Regressionsgeraden zwischen - und +. Die Regressionsgerade kann also negative Werte annehmen, negative Wahrscheinlichkeiten sind jedoch unplausibel. Ebenso können auch Werte größer als eins auftreten, auch hier ist eine Interpretation unmöglich. In Abbildung 35 ist ein solcher Fall zu erkennen. Die Schätzwerte der linearen Regression (Abbildung 35, gestrichelte Linie) nehmen Werte größer als eins und kleiner als null an. Neben theoretischen Argumenten gibt es auch statistisch-formale Gründe, die gegen die Anwendung von linearen Regressionen bei dichotomen abhängigen Variablen sprechen. So wird eine der mathematischen Vorraussetzungen einer linearen Regression verletzt: Die Residuen – also die Differenzen zwischen den geschätzten Werten auf der Regressionsgeraden und den Beobachtungswerten – müssen normalverteilt sein. Diese Bedingung kann bei dichotomen Variablen jedoch nicht erfüllt werden.79 Durch den Rückgriff auf nichtlineare Funktionen lassen sich diese Probleme umgehen. Ausgangspunkt der logistischen Regression sind „Chancen“ (englisch: odds). Eine Chance beschreibt das Verhältnis der Eintrittswahrscheinlichkeit zur Nicht-Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses bzw. der Wahrscheinlichkeit der Zugehörigkeit zur Nicht-Zugehörigkeit zu einer Kategorie. Nehmen wir an, in einem Datensatz seien Informationen über zehn Jahre unter linken Regierungen und zehn Jahre unter rechten Regierungen enthalten, in 79
Zu den grundsätzlichen Voraussetzungen und Annahmen von Regressionsanalysen siehe z.B. Berry (1993). Für die Unterschiede zwischen kontinuierlichen und dichotomen Variablen in dieser Hinsicht siehe z.B. Pampel (2000) oder Menard (2002).
146
Erklärungsfaktoren von Programmreformen
zwei der Linksregierungsjahre gab es eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes und in einem der zehn Rechtsregierungsjahre gab es desgleichen eine Erhöhung. Die Wahrscheinlichkeit einer Erhöhung des Arbeitslosengeldes unter einer linken Regierung beträgt also 20 %. Dann sind die Chancen, dass es zu einer Erhöhung des Arbeitslosengeldes kommt 0,25 (0,2/0,8) oder 1 zu 4: Auf ein „linkes Regierungsjahr“ mit einer Erhöhung des Arbeitslosengeldes kommen vier „linke Regierungsjahre“ ohne Erhöhungen. Die Wahrscheinlichkeit einer Erhöhung des Arbeitslosengeldes unter einer rechten Regierung betrüge 10 Prozent, die Chance steht also bei 0,11 (0,1/0,9) bzw. 1 zu 9. Hier kommen auf ein Regierungsjahr, in dem das Arbeitslosengeld erhöht wurde, neun Regierungsjahre ohne Erhöhung.
abhängige Variable (z.B. Reform)
Abbildung 35: Beispiel für eine lineare und logistische Regression bei einer dichotomen abhängigen Variablen
1
0
1
2
3 unabhängige Variable
Beobachtungspunkte
4
5
lineare Regression
logisitische Regression
Entscheidend ist nun, dass bei einer logistischen Regression nicht die Chancen, sondern der natürliche Logarithmus der Chancen berücksichtigt wird (logged odds). Dadurch bekommt die Regressionslinie ihre typische Form, wie sie in Abbildung 35 (durchgezogene Linie) zu erkennen ist. Die entsprechende Funktion wird als Logit-Funktion bezeichnet: Logit(y) = a + b·X Als Ergebnis einer logistischen Regression erhält man nicht wie bei einer linearen Regression einen Koeffizienten, der den konstanten Steigungswert einer Geraden angibt. Bei logistischen Funktionen beschreibt der Koeffizient zwar auch den Kurvenverlauf. Die Stei-
Erklärungsfaktoren von Programmreformen
147
gung dieser logistischen Kurve hat an verschieden Punkten jedoch unterschiedliche Werte. Der Koeffizient einer logistischen Regression gibt also Auskunft darüber, ob die s-förmige Kurve steiler oder flacher verläuft und in welche Richtung sie „abknickt“. Bei negativen Koeffizienten fällt die Kurve von links nach rechts ab, bei positiven Koeffizienten steigt die Kurve von links nach rechts an, bei Werten nahe null Verläuft die Kurve annähernd wie eine Gerade. Eine weitergehende Interpretation wie bei der linearen Regression (erhöht sich X um eine Einheit, erhöht sich Y um b) ist jedoch nicht möglich. Eine Alternative zur Interpretation der Koeffizienten ist die Umrechnung in so genannte odds ratios oder Chancenverhältnisse. Im Beispiel des Arbeitslosengeldes beträgt das Verhältnis der beiden Chancen zueinander 2,25 (0,25/0,11). Diese odds ratio besagt, dass die Chance einer Erhöhung des Arbeitslosengeldes unter einer linken Regierung 2,25-mal höher als unter einer rechten Regierung ist. Wählte man linke Regierungen als Referenzkategorie, würde die odds ratio dem Kehrwert von 2,25 entsprechen: 0,44 (0,11/0,25). Die Chance einer Erhöhung des Arbeitslosengeldes unter einer rechten Regierung wäre also 0,44-mal niedriger als unter einer linken Regierung. Chancenverhältnisse größer als 1 bedeuten, dass die Chance in der Alternativkategorie höher ist als in der Referenzkategorie, Chancenverhältnisse kleiner als eins bedeuten, dass die Chancen in der Alternativkategorie kleiner sind als in der Referenzkategorie. Ein Chancenverhältnis von eins bedeutet, dass die Chancen in beiden Kategorien gleich groß sind. Wäre die unabhängige Variable kontinuierlich (z.B. die ideologische Position der Regierung auf einer links-rechts-Skala von 1 bis 5) und nicht dichotom, wäre ein Chancenverhältnis von 0,44 ähnlich zu interpretieren. Es würde bedeuten, dass mit jedem Schritt auf der Links-rechts-Skala die Chance einer Erhöhung des Arbeitslosengeldes um den Faktor 0,44 sinkt. Die Plausibilität von Chancenverhältnissen ist wahrscheinlich größer als diejenige von Logit-Koeffizienten.80 Aus diesem Grund werden im empirischen Teil dieser Arbeit bei den meisten Überblickstabellen die Chancenverhältnisse bzw. odds ratios angegeben. Wird der Einfluss nicht nur einer, sondern mehrerer unabhängiger Variablen untersucht, dann beziehen sich die odds ratios auf die Veränderung der jeweiligen Variablen um eine Einheit, wenn alle anderen Variablen konstant gehalten werden. Chancenverhältnisse und Logit-Koeffizienten sagen also nichts über konkrete Wahrscheinlichkeiten aus. So ist aus der Information, dass die Chance einer Erhöhung des Arbeitslosengeldes mit jedem Schritt auf der Ideologieskala um den Faktor 0,44 abnimmt, nicht zu erkennen, wie hoch beispielsweise die konkrete Wahrscheinlichkeit bei einer Links-rechts-Position von 2 ist. Die Wahrscheinlichkeiten verändern sich zudem aufgrund der Logit-Funktion nicht linear. Für unterschiedliche Werte der unabhängigen Variablen erhält man also unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten – wobei der Faktor, um den sich die Wahrscheinlichkeiten bei einer Veränderung der unabhängigen Variablen um eine Einheit ändern (also die odds ratio), konstant bleibt. Weil für unterschiedliche Werte der unabhängigen Variablen unterschiedliche Eintrittswahrscheinlichkeiten bestehen, werden im Folgenden entweder in tabellarischer Form nur die Einflussrichtung unterschiedlicher Variablen angegeben oder die Wahrscheinlichkeiten für ausgewählte Ausprägungen der unabhängigen Variablen grafisch abgebildet.81 80 81
Zumindest werden in den meisten sozialwissenschaftlichen Artikeln odds ratios und nicht LogitKoeffizienten angegeben. Die Koeffizienten und weitere Informationen zu den Abbildungen sind als Appendix A3 auf der Homepage
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Erklärungsfaktoren von Programmreformen
Reformen als zentrale abhängige Variable dieser Untersuchung machen aufgrund ihrer dichotomen Natur also den Rückgriff auf logistische Regressionen notwendig. Der theoretische Rahmen des akteursspezifischen Institutionalismus erfordert eine weitere methodische Ergänzung. Institutionen bilden in diesem Konzept einen Rahmen, innerhalb dessen Akteure ihre Handlungen vornehmen. Institutionen können Strategien und Präferenzen der Akteure beeinflussen und sollten somit einen indirekten Einfluss auf die Entscheidungen haben. Hypothesen dieser Art lassen sich durch so genannte Interaktionseffekte überprüfen. Interaktionseffekte zeigen an, ob und wie der Einfluss einer unabhängigen Variablen auf die abhängige Variable durch eine zweite unabhängige Variable moderiert wird. Am Beispiel der Erhöhung des Arbeitslosengeldes lässt sich dies illustrieren. Möglicherweise wird der Parteieneffekt durch die Existenz einer zweiten Kammer moderiert. Durch einen Interaktionsterm ließe sich also überprüfen, ob der Einfluss der ideologischen Position der Regierung auf Erhöhungen der Arbeitslosenversicherung durch zweite Kammern verstärkt, abgeschwächt, in sein Gegenteil verkehrt oder unverändert zu beobachten ist. Der akteursspezifische Institutionalismus postuliert jedoch nicht nur den moderierenden Effekt von Institutionen auf Akteurshandeln. Die Interaktion unterschiedlicher Akteure ist ebenfalls Bestandteil dieser Forschungsheuristik. Anhand von Interaktionstermen lässt sich beispielsweise die Frage überprüfen, ob der Parteiendifferenzeffekt von der Stärke der Gewerkschaften oder der Arbeitgeberverbände moderiert wird. Trotz dieser für Sozialwissenschaften typischen Art der Fragestellungen gibt es vergleichsweise wenig Literatur zur Durchführung, Interpretation und Darstellung von Interaktionstermen. Dies gilt zumal für logistische Regressionsanalysen.82 Formal besteht ein Interaktionsterm aus dem Produkt der unabhängigen Variablen: Logit(y) = a + b1·X + b2·Z + b3·X·Z Bei einer solchen logistischen Regression mit einem Interaktionsterm sind die Koeffizienten anders zu interpretieren als bei einer „normalen“ logistischen Regression. So bildet der Koeffizient b3 den Faktor ab, um den sich b1 verändert, wenn sich Z um eine Einheit verändert (ausführlich: Jaccard 2001). Neben dem grundsätzlichen Problem, dass die Koeffizienten logistischer Regressionen keinen Aufschluss darüber geben, wie sich die Chancen bzw. Wahrscheinlichkeiten konkret verändern, ist bei Interaktionseffekten zusätzlich das Problem der Bezugnahme der Koeffizienten aufeinander gegeben. Aus diesem Grund wird auch bei der Darstellung der Interaktionseffekte auf die grafische Illustration zurückgegriffen. Anhand typischer oder besonders interessanter Ausprägungen der unabhängigen Variablen werden die entsprechenden Wahrscheinlichkeiten abgebildet. Die Abbildung 36 ist ein Beispiel für eine solche Grafik. Hier sind die Wahrscheinlichkeiten für das Eintreten eines Ereignisses (Y=1, z.B. eine Kürzung der Arbeitslosenversicherung) für unterschiedliche Ausprägungen der unabhängigen Variablen X (z.B. ideologische Position der Regierung) abgetragen, das durch die Interaktion mit der Variablen Z (z.B. starker Bikameralismus und Unitarismus) moderiert wird. Es ist zu erkennen, dass der Einfluss der Variablen X auf die Wahrscheinlichkeit je nach Ausprägung der Variablen Z variiert. Der Bereich, in dem sich die beiden Kurven mit Sicherheit (d.h. einer Irrtumswahr-
82
des Autors (http://www.wzb.eu/zkd/dsl/leute/alexander_petring.de.htm) einzusehen. Ausführlich widmet sich lediglich Jaccard (2001) Interaktionseffekten bei logistischen Regressionen. Zu Interaktionseffekten im Allgemeinen siehe vor allem Braumoeller (2004) und Brambor et al. (2006).
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scheinlichkeit unter 5 %) unterscheiden, ist als graue Fläche gekennzeichnet. Die durchgezogene schwarze Linie markiert die Ausgangswahrscheinlichkeit, sie beträgt in diesem Beispiel 12 %. Diejenigen Punkte der beiden Linien, bei denen die berechnete Wahrscheinlichkeit diese Ausgangswahrscheinlichkeit nicht mit einschließt (in denen das Konfindenzintervall also den Wert 0,12 nicht beinhaltet), sind schwarz ausgefüllt. Es lässt sich also mit einer fünfprozentigen Irrtumswahrscheinlichkeit behaupten, dass die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten des Ereignisses für Werte von X zwischen -40 und -20 niedriger als die Grundwahrscheinlichkeit und für Werte größer als 10 höher als die Grundwahrscheinlichkeit ist, wenn Z in der Ausprägung 1 vorliegt. Liegt Z in der Ausprägung 2 vor, dann lässt sich für den Bereich von X zwischen -7 und 19 feststellen, dass die Wahrscheinlichkeit des Eintretens des Ereignisses unterhalb der Grundwahrscheinlichkeit liegt. Für Werte von X, die größer als 5 sind, gilt zudem, dass die Wahrscheinlichkeiten für die beiden Ausprägungen von Z nicht identisch sind. Erst ab einem X-Wert von 5 lässt sich also der moderierende Effekt von Z beobachten83. Logistische Regressionen und insbesondere Interaktionseffekte sind also das methodische Werkzeug, mit dem im Folgenden die empirische Frage der Reformfähigkeit untersucht wird. Abbildung 36: Beispiel für die Darstellung einer logistischen Regression mit zwei unabhängigen Variablen und einem Interaktionsterm
Wahrscheinlichkeit (Y=1)
1
.75
.5
.25
0 -40
-30
-20
-10
0
X
10
20
30
40
50
Z (Ausprägung 1) Z (Ausprägung 2) P ¬ .12 bei ausgefüllten Symbolen (p