Sebastian Lesch Psychoblasen in der Wirtschaft
Sebastian Lesch
Psychoblasen in der Wirtschaft Irrungen und Wirrungen im Management
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1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Ulrike M. Vetter Gabler Verlag ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.gabler.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: MercedesDruck, Berlin Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8349-1837-6
Globale Managementkonzepte im Fokus
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Vorwort
Dieses Buch ist weder ein klassisches Management-Lehrbuch – noch ein Ratgeber im herkömmlichen Sinn. Im Gegenteil: Dieses Buch hinterfragt und überprüft gängige Managementmethoden anhand praktischer Beispiele. Angesichts des Zerfalls von traditionellen Unternehmen, ja ganzer Branchenzweige, scheint die kritische Auseinandersetzung mit althergebrachten Managementstrategien und -methoden notwendiger denn je. Während auf den Finanzmärkten eine Blase nach der anderen platzt, scheint sich im Management eine äußert hartnäckige Blase gebildet zu haben. Nach wie vor wird auf bestehende Konzepte zurückgegriffen, mit denen sich die heutigen Anforderungen einer globalen Wirtschaft nicht vollkommen lösen lassen. Während die Innovationskraft in der Technik ungebrochen ist, tritt sie im Management auf der Stelle und verhindert den hier längst überfälligen Paradigmenwechsel. Insbesondere im arbeits- und organisationspsychologischen Bereich wird an traditionellen Konzepten festgehalten, die bereits in der Theorie und in der Praxis widerlegt worden sind, wie zum Beispiel die Zwei-Faktoren Analyse von Herzberg im Bereich Motivation. Deshalb geht es auch in diesem Buch um „Psychoblasen“, da sich die Inhalte grundsätzlich auf psychologische Phänomene beziehen. Das Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit im Management wurde mir bereits in meinem Studium bewusst und hat sich in den ersten Jahren meiner beruflichen Tätigkeit als Trainer und Berater in Unternehmensberatungen bestätigt. Dabei stieß ich auf eine interessante Parallele zwischen der Pädagogik und der Wirtschaft. Während im sozialen Bereich das Wort „Ganzheitlichkeit“ alle Methoden beherrscht, tut dies das Wort „Nachhaltigkeit“ in der Wirtschaft. In beiden Fällen versteht jeder etwas anderes unter dem jeweiligen Begriff, dafür wird er aber als Totschlagargument für fehlendes Problembewusstsein und Verände-
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Vorwort
rungsbedarf inflationär gebraucht. Dahinter steht jeweils ein komplexes Netzwerk von Faktoren und Interessengruppen, die berücksichtigt und koordiniert werden wollen – ja müssen. Das Management der Zukunft muss die aktive Vernetzung von Wertschöpfungsketten ausbalancieren und ein kompetentes Netzwerk von Partnern aufbauen, welche nicht gegeneinander arbeiten. Und genau darum geht es in diesem Buch. Umfassende und fundierte Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung (z. B. Lern- und Sozialpsychologie) sowie aus aktuellen Forschungsergebnissen (z. B. Neuro- und Wirtschaftpsychologie) werden zu den einzelnen Themen wie Kommunikation oder Team zusammengeführt, um daraus adäquate Strategien und Methoden für das Management abzuleiten. Dabei werden Erfolgsfaktoren sowie Lösungsansätze anhand konzeptioneller Beiträge, wie zum Beispiel dem Zusammenschluss der drei wichtigsten Managementmethoden der letzten Jahrzehnte (Management by Instruction, Management by Objectives und Management by Values), und praktische Beispiele, insbesondere im Bereich Kommunikation (communicative term) und Coaching (bilaterales Coaching), vorgestellt. Mein besonderer Dank gilt Anne Kunz, die mir als ständige Ansprechpartnerin zur Seite stand und durch ihre Anregungen dieses Buch bereichert hat. Bedanken möchte ich mich auch bei Ulrike M. Vetter, Cheflektorin Management beim Gabler Verlag, die wesentlich dazu beigetragen hat, dass aus einer Buchidee dieses Buch werden konnte, und bei meinen Mentoren, die mich für die Art zu denken und Dinge zu verstehen geprägt haben, wie sie in diesem Buch zu lesen sind. Das sind vor allem Dr. Ralf Graf und Dr. Jutta Gallenmüller-Roschmann und Frauke Iffland. Zuletzt möchte ich mich bei meiner Familie bedanken, die während der Erstellung dieses Buches ihre persönlichen Bedürfnisse zurückgestellt hat, sowie der „Grampersdorfer Runde“, die bei der Geburtsstunde dieses Buches mitgewirkt hat.
München, im Herbst 2010
Sebastian Lesch
Globale Managementkonzepte im Fokus
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort _________________________________________________ 5 1. Globalisierung – Alter Hut mit neuen Federn _______________ 9 Globale Managementkonzepte im Fokus _______________________ 24 Zum Umgang mit der Globalisierung __________________________ 29 2. Das Dilemma mit Werten – Warum Werte allein nicht führen _ 35 Die Werteblase ___________________________________________ 36 Der Wertstoffhof __________________________________________ 41 3. Die Scheinehe Commitment – Durch dick und dünn? ________ 53 Der Bindungs-Ratgeber_____________________________________ 64 4. Die Akte Motivation – Zwielicht und Halbwelten ___________ 75 Theorien im Zwielicht______________________________________ 76 Halbwelten in der Praxis ____________________________________ 84 5. Der Kommunikation neue Kleider – Freud und Leid des Praktikers__________________________ 101 Die Kommunikationsblase – Freud und Leid in digital ___________ 104 Die Kommunikationsblase – Freud und Leid analog _____________ 116 Die Kommunikationsblase – Freud und Leid im Schulungsraum ___ 119 6. Die Droge Coaching – Speed für Führungskräfte? _________ 137 Die Coachingblase _______________________________________ 141 Der Coaching-Knigge _____________________________________ 147
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Inhaltsverzeichnis
7. Das Team, das unbekannte Wesen – Die Utopie des Teamplayers ____________________________ 161 Achtung, Teamblasen! ____________________________________ 164 Der Team-Ratgeber _______________________________________ 182 8. Die Falle Zeitmanagement – Wenn die Stunde schlägt ______ 191 Die „Zeit“-Falle _________________________________________ 193 Die „Methoden“-Falle_____________________________________ 200 Das Safety Car __________________________________________ 205 Literaturverzeichnis _____________________________________ 209 Der Autor ______________________________________________ 215
1. Globalisierung – Alter Hut mit neuen Federn
Über Globalisierung lässt sich trefflich streiten. Für die einen ein Segen, für die anderen ein Fluch. Wenn auch nicht alle Globalisierungsgegner sind, so überwiegt doch die Skepsis angesichts gehäuft auftretender Krisen von Unternehmen, ja sogar Krisen einzelner Staaten. Selbst bei jungen Menschen zeigt sich kein positives Stimmungsbild. In einer OnlineUmfrage von Mindline Media im Sommer 2009 für das Stern Magazin wurden über 1000 repräsentativ ausgewählte Personen zwischen 18 und 35 Jahren zum Thema Globalisierung befragt. Mit 66 Prozent erhielt die Aussage: „Die Globalisierung ist unvermeidlich, aber wir haben noch nicht die richtigen Antworten darauf“ die größte Zustimmung. Neun Monate nach dem Untergang von Lehman Brothers und milliardenschweren Bürgschaften sowie Konjunkturpaketen glauben zwei Drittel der jungen Menschen nicht daran, dass Politik und Wirtschaft die richtigen Mittel zur Bewältigung von Risiken, die die Globalisierung mit sich bringt, finden. 41 Prozent der Befragten stimmen sogar der Aussage zu, dass die Globalisierung eher eine Gefahr für uns ist und wir uns deshalb mehr auf das eigene Land konzentrieren sollten. Immerhin knapp über die Hälfte der Befragten (52 Prozent) sind der Überzeugung, dass die Globalisierung eine große Chance für unsere Wirtschaft darstellt und sich positiv auf unseren Lebensstil auswirkt. Diesen jungen Leuten ist wohl nicht entgangen, dass eine Exportnation sich nicht nur auf den Heimatmarkt konzentrieren kann. Dafür tun sich immerhin zehn Prozent der jungen Menschen schwer damit die Frage zu beantworten, was eigentlich mit Globalisierung gemeint ist! In der Wirtschaft und noch mehr in der Politik wird der Begriff Globalisierung vor allem dann benutzt, wenn es einen Schuldigen braucht und
S. Lesch, Psychoblasen in der Wirtschaft, DOI 10.1007/978-3-8349-6449-6_1, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Globalisierung – Alter Hut mit neuen Federn
sich keiner finden lässt oder keiner gefunden werden soll. Eine detaillierte Erklärung wird nur in den seltensten Fällen nachgereicht. Was aber genau ist nun unter Globalisierung zu verstehen? Nach Gebhardt (2002) lässt sich Globalisierung als Prozess der Intensivierung weltweiter wirtschaftlicher wie auch kultureller und sozialer Beziehungen verstehen, als zunehmender Prozess der Integration von Märkten, Wirtschaftssektoren und Produktionssystemen in der Folge des strategischen Handelns mächtiger Akteure, wie beispielsweise transnationaler Unternehmen (TNU) oder einzelner Staaten. Globalisierung manifestiert sich dadurch in der weltweit zunehmenden Mobilität von Menschen, Sachgütern, Dienstleistungen sowie Informationen. Als Folge der Globalisierung lassen sich Waren zu geringeren Kosten über weitere Strecken transportieren (Sachkapitalmobilität), Direktinvestitionen unterliegen geringeren staatlichen Auflagen (Geldkapitalmobilität) und hoch qualifizierte Arbeitskräfte sind räumlich und sozial mobiler (Humankapitalmobilität). Typische statistische Indikatoren des Globalisierungsprozesses sind daher u. a.: Wachstum des Welthandels, Zunahme ausländischer Direktinvestitionen, Intensivierung der Kapitalströme und des Technologieaustausches. Ergo: Alle wollen von der Globalisierung profitieren, aber niemand möchte die Konsequenzen tragen. In einem Spiel gibt es immer Sieger und Verlierer, egal ob in Europa oder auf der ganzen Welt gespielt wird.
Globalisierung auf dem Höhepunkt? Wie global ist die Weltwirtschaft eigentlich? Nach Möhring-Hesse (2001) ist die Reichweite der internationalen Handelsverflechtungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts nicht wirklich globaler als fast 100 Jahre zuvor. Zum Start im neuen Millennium wurden nur 20 Prozent der hergestellten Güter auch weltweit gehandelt, nur 30 Prozent der Weltbevölkerung waren an diesem Handel beteiligt. Das Handelsvolumen entsprach damit gerade mal dem Stand von 1914. Auch die ausländischen Direktinvestitionen werden nach wie vor zu 80 bis 90 Prozent in den Industrie-
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und Dienstleistungsstaaten getätigt, wobei nur ein kleiner Prozentsatz auf Niedriglohnländer mit geringen Sozial- und Umweltstandards entfällt. Die Zahl der internationalen und transnationalen Unternehmen ist zwar angestiegen (seit den siebziger Jahren hat sie sich verfünffacht), diese sind aber zumeist keine wirklichen „Global Player“, da sie teilweise an ihre Ursprungsländer gebunden bleiben. Die internationalen Geld- und Finanzmärkte haben sich zwar weiterhin explosionsartig entwickelt, jedoch beruhen sie ebenfalls zum Teil, insbesondere die „derivaten“ Finanzgeschäfte, auf der Existenz von nicht global integrierten Teilmärkten mit unterschiedlichen gesetzlichen Regelungen und Währungen. Darüber hinaus zeigen sich in den letzten zwei Jahrzehnten durch Großfusionen (z. B. Hypo-Vereinsbank, UBS) oder die Zusammenfassung von bis dato einzeln betriebenen Geschäftsfeldern wie Investmentbanking, Kreditgeschäfte und Versicherungen starke Konzentrationsprozesse bei Unternehmen. Vor allem der Bankensektor reagiert auf diese Globalisierungstendenzen. Beim Devisenhandel spielen ebenfalls nur wenige Makleragenturen eine zentrale Rolle, wie zum Beispiel die Currenex (Currenex, mit Sitz in New York, bietet für Händler eine umfassende Handelsplattform für Foreign Exchange Services, kurz Forex genannt, mit der sich z. B. Preisabfragen und andere Brokerfunktionen durchführen lassen.). Handel, Investitionen und Spekulationen finden fast vollständig innerhalb der Staaten der sogenannten „Triade“ statt. Damit sind die drei größten Wirtschaftsräume der Welt, die EU, Nordamerika und Asien (Ostund Südostasien) gemeint. Demgegenüber steht die Marginalisierung aller jener Staaten, die keinen Anschluss an diese Triade finden. Dabei hat sich die Entwicklung zur triadischen Struktur, so zeigt es die Studie von J. P. Poon (1997), erst Ende der neunziger Jahre ausgebildet. Während es 1965 weltweit noch acht große Handelszentren gab (Großbritannien, Deutschland, Schweden, Italien, Spanien, USA, Sowjetunion und Brasilien), waren es 1990 nur noch drei. Das brasilianische Netz ist im USA-Netz aufgegangen, das nun beide amerikanischen Kontinente umfasst. Deutschland und Großbritannien bildeten die Zentren des EUNetzes, in dem das schwedische Netz und Teile des italienischen Netzes
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aufgegangen sind. In Asien hatte sich ein neues, auf Japan zentriertes, Netz entwickelt, mitbegünstigt durch die Auflösung des sowjetischen Netzes. Der Aufstieg Chinas in den letzten Jahren und die Rehabilitierung von Russland haben die Grundstruktur der Triade nicht verändert, nur das Ranking einiger Länder. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Wie global sind wir eigentlich? Vielleicht sind es ja nur die komplexeren Phänomene der heutigen Globalisierung, die den Eindruck entstehen lassen, dass wir globaler sind als die Jahre zuvor? Die Wirtschaft wirkt globaler, weil viele Unternehmen ihre neuen Strategien international ausrichten, sei es durch Verlagerungen von Unternehmensteilen aufgrund günstigerer Produktionskosten (Nokia) oder durch die Androhung des Standortwechsels, um Druck auf die Beschäftigten, aber auch die Steuerpolitik von Staaten auszuüben. Hinzu kommt der steigende Einfluss von transnationalen Organisationen und Regelungssystemen (z. B. WTO, Weltbank, G-8-Konferenzen) auf die Wirtschaftspolitik der einzelnen Staaten sowie den internationalen Handel. Wirtschaftsräume wie EU, NAFTA oder ASEAN erlangen ebenso größeren Einfluss. Zuletzt gewinnt auch der Dienstleistungssektor in allen Ländern – egal ob in Kernstaaten, Schwellen- oder Entwicklungsländern – immer mehr an Bedeutung, weil „Dienstleistungen“ ebenfalls global gehandelt werden. Humankapital wird so zu einem zentralen Standortfaktor, weshalb der Bildungs- und der Gesundheitssektor deutlich an Bedeutung gewonnen haben. Pisa-Studien würden längst nicht den Stellenwert besitzen, wenn die gefühlte Globalisierung nicht so groß wäre. Die Finanzmärkte werden globaler, weil die Finanzgeschäfte immer mehr einen rein spekulativen Charakter und keinerlei Bindung zur Realwirtschaft haben. Nur noch wenige Prozente des täglichen Devisenhandels gehen auf den Warenhandel zurück. Der große „Rest“ sind monetäre Geschäfte, die kein Anleger mehr versteht. Zertifikate als „Wetten abschließen“ zu beschreiben, das ist da noch nachvollziehbar, auch wenn dies ziemlich absurde Wetten sind, noch dazu rein fiktiver Art. Die Mobilität steigt nicht nur auf nationaler Ebene, sondern auch auf internationaler Ebene. Ursachen dafür sind neben wirtschaftlichen Bedingungen auch demographische, politische und ökologische Verände-
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rungen. Damit nimmt auch die Bevölkerung in Städten zu. Auf dem Erdball entstehen Global Cities, welche Städteentwickler vor große Herausforderungen stellen. Globaler werden auch unsere Umweltprobleme. Klimaveränderungen, Pandemien, Wasserverschmutzung und Wassermangel betreffen bereits große Teile unserer Erde und erreichen damit globale Dimensionen. Auf die Simulationen kann man sich nicht verlassen, weil sie nur einen Bruchteil der Variablen berücksichtigen, die einen Einfluss auf das Klima haben. Berechenbarer sind da schon die steigende Weltwirtschaftskriminalität und der globale Terror. Der illegale internationale Handel mit Waffen, Drogen und Zigaretten, Menschen und Medikamenten bildet den profitabelsten Teil der globalen Schattenwirtschaft. Terroristische Organisationen sind weltweit vernetzt und beeinflussen im zunehmenden Maß die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung in den meisten Regionen der Erde. Die Komplexität der Globalisierung nimmt also gefühlt zu. Aber sind die beschriebenen Phänomene wirklich so neuartig und so einzigartig, dass diese allein die kollektive Argumentationskeule „allein die Globalisierung ist schuld“ rechtfertigen? Es lohnt sich also in die Vergangenheit zu schauen.
Alte Federn Die Globalisierung ist beileibe nicht ein Produkt der Neuzeit. Historisch gesehen nimmt die Globalisierung bereits im 15. Jahrhundert ihren Anfang. Bis dahin entwickelten sich die großen politischen und kulturellen Machtzentren der Erde, wie zum Beispiel China, weitgehend isoliert. In zwei Phasen der Kolonisierung (1415-1778 und 1875-1915) kam es zunächst durch die europäischen Großmächte zur politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Unterwerfung vieler Staaten und Regionen der Erde und in einer zweiten Phase durch die USA. Die Hauptmotive lagen u. a. in der Sicherung von Rohstoffen und getätigten landwirtschaftlichen und industriellen Investitionen, in der Verbesserung der Bedingungen für zukünftige Aktivitäten und der Erschließung von Märkten. Motive, die sich auch in der heutigen Wirtschaft wiederfinden, und auch die einge-
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setzten Mittel haben sich nicht wirklich geändert. Es sind nur subtilere und fiesere hinzugekommen und die Lebensbedingungen verändern sich heutzutage globaler, vor allem in Krisensituationen, wenn die Weltwirtschaft plötzlich einbricht und Arbeitsplätze von heute auf morgen wegfallen. Die Globalisierung zeichnete sich schon immer durch Revolutionen aus. In der Handelsrevolution gewannen die westeuropäischen Nationen die technologische Überlegenheit im Schiffbau, in der Navigation und bei den Waffen. Die Handelsnetzwerke konzentrierten sich dabei auf das Dreieck Europa, Afrika und Nordamerika. Damit entstanden die ersten Weltmärkte, wobei die westeuropäischen Staaten sowohl von der Produktion (z. B. Plantagenwirtschaft) als auch vom Transport und vom Handel profitierten. Es gab also schon immer Staaten, die von der Globalisierung mehr profitierten als andere. Mit dem Fortschritt der industriellen Revolution vergrößerten sich die zwar schon bestehenden, aber noch relativ geringen Disparitäten in den wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsständen der beteiligten Staaten immer mehr. Der europäisch-amerikanische Kulturimperialismus verursachte eine intensive Zerstörung von traditionellen Kulturen, wie zum Beispiel der religiösen und politischen Werte und Normen oder auch der Ausdrucksformen wie Kunst und Architektur. Auch wenn die Kolonialisierung in dieser Form schon lange ihr Ende gefunden hat, so wirken auch noch heute oft die Prozesse der „inneren Kolonialisierung“. Damit ist die Nachahmung von Erfolgsmodellen gemeint, welche meistens von den neuen Eliten in den jeweiligen Staaten getragen werden. Diese sind nämlich davon überzeugt, dass sie damit ihre wirtschaftlichen, politischen oder auch militärischen Ziele erreichen können. Im Grunde stellt dies nichts anderes als die „SelbstVerwestlichung“ der Welt dar. Zu den heute besonders wirksamen Einflussfaktoren der „Verwestlichung“ zählen die Medien, welche das Image des westlichen Lebensstandards sowie die Dominanz westlicher Konzerne anpreisen, der globale Tourismus, der Import von westlichen Dienstleistungen, die Direkt-
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investitionen der transnationalen Konzerne (vorausgesetzt, diese besitzen eine globale „Corporate Culture“) und zuletzt konsistente Marketingstrategien (z. B. „McDonaldisierung“). Eine „Veröstlichung“ hingegen erleben wir seit einigen Jahren in der Assimilation fernöstlicher Lebensphilosophien und Methoden. Bedingt durch den Werteverfall der eigenen Kultur suchen wir neuen Halt und Orientierung, beispielsweise in der Meditation, im Yoga oder Feng Shui. Nur findet die „Veröstlichung“ bei weitem nicht so radikal und so einschneidend statt wie die „kapitalistische Verwestlichung“ auf der anderen Seite. Zuletzt wollen noch die Finanzkrisen erwähnt sein. Auch wenn wir seit 2008 die größte Finanzkrise unserer Geschichte erleben, so ist es gar nicht mal so lange her, dass mehrere verhältnismäßig kleine Finanzkrisen um den Erdball kreisten. Besonders in den neunziger Jahren haben sich die Krisen und Zusammenbrüche der Finanz- und Wirtschaftssysteme gehäuft. 1992 und 1993 die Pfund- und Lira-Krise bei unseren europäischen Nachbarn, 1995 die Peso-Krise in Mexiko, 1997 die Asien-Krise in Thailand, Südkorea, Indonesien und Malaysia, 1998 waren Brasilien und Russland an der Reihe und 2000 bzw. 2001 Argentinien und die Türkei. Die Finanzkrisen haben bei den betroffenen Ländern zu hohen Kosten und Einschnitten geführt, insbesondere Bankkredite zur Überwindung der Krisen erforderlich gemacht. Das Ergebnis der historischen Globalisierung, welches Wallenstein (1980, 1984) in seiner World System Theory zusammenfasst, ist ein weltumspannendes System mit einer hierarchisch-dynamischen Struktur, das aus Kernstaaten, semiperipheren und peripheren Staaten besteht und sich durch einen ständigen Auf- oder Abstieg einzelner Staaten auszeichnet. Dem System liegen vier wesentliche Steuerungsmechanismen zugrunde: zunächst eine komplementäre internationale Arbeitsteilung, die aber durch eine ungleiche Verteilung der Arbeit gekennzeichnet ist. Besonders die Kernstaaten stellen mit politischen, wirtschaftlichen und manchmal auch militärischen Mitteln ihre Exklusivrechte an den innovativsten und
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profitabelsten Wirtschaftsformen sowie den dazu erforderlichen Rohstoffen sicher. Des Weiteren existiert ein ebenso ungleiches Verhältnis beim Tauschgeschäft auf dem Weltmarkt. Insbesondere die peripheren und teilweise auch die semiperipheren Länder müssen Produkte, wie zum Beispiel Rohstoffe oder Massenprodukte, in benachteiligter Handelsposition auf den Käufermärkten anbieten. Dadurch entsteht auch eine permanente Abhängigkeit der peripheren Staaten als Gläubiger von Kernstaaten oder internationalen Konsortien, was das dritte Steuerungselement darstellt. Das letzte Steuerungsinstrument ist der einseitige Gewinntransfer in die Kernstaaten aus den Direktinvestitionen der transnationalen Konzerne. Die vier Steuerungsmechanismen sorgen auch heutzutage dafür, dass von einer ungehinderten globalen Marktwirtschaft nicht gesprochen werden kann. Die internationalen und nationalen Einflüsse der Politik der Kernstaaten sowie der Einfluss internationaler Organisationen in Bezug auf die Regulationsmechanismen bestimmen nach wie vor das Wirtschaftsgeschehen auf unserem Erdball. Die Hegenomie von Kernstaaten war und bleibt ein fester Bestandteil der Globalisierung. Vorteilbringende Standortfaktoren werden auf „Teufel komm raus“ beibehalten, damit die Vorherrschaft auf den Weltmärkten und die Dominanz im Finanzbereich bestehen bleiben. Dabei zeigt die Geschichte, dass hegemoniale Staaten früher oder später abgestiegen sind. Der Verfallsprozess ist immer kumulativ: zuerst der Produktionssektor, dann der Handel und zuletzt der Finanzbereich. In unserer Welt stellen die Spekulationen alles andere in den Schatten. Nun fängt es mit der Finanzkrise an, dann kommt der Produktionssektor, der Handel folgt und zum Schluss ist wieder der Finanzbereich an der Reihe. Die Angst vor einem „Double Dip“ wird dadurch bei den Börsianern umso größer (zu einem „Double-Dip“ kommt es, wenn die Konjunktur eines Landes nach einer erst überstandenen Rezession während der Aufschwungphase erneut ins Minus dreht und damit ein zweites Mal hintereinander „abtaucht“). Das ist auch schon einmal passiert. In den frühen achtziger Jahren hatte Amerika aufgrund des Ölpreisschocks eine tiefe Rezession erlebt. Die Inflation wurde mit hohen Zinsen bekämpft. Amerika rutschte
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daraufhin in eine zweite Rezession. In 2009 wurden die Zinsen nicht angehoben, dafür milliardenschwere Konjunkturprogramme aufgelegt. Interessant wird es sein zu beobachten, was passiert, wenn diese in 2011 auslaufen. Wenn dann die Zinsen steigen, sitzen alle westlichen Staaten mit ihrer Konjunkturpolitik erst recht in der Schuldenfalle. Dann kommt die Inflationsspirale so richtig in Gang und die Hyperinflation ist da. Die Probleme und Ungerechtigkeiten der „beschleunigten“ Globalisierung wurden Anfang der neunziger Jahre in großen Konferenzen aufgegriffen. Beispiele dafür sind die UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro oder zwei Jahre später die Weltbevölkerungskonferenz in Peking. Viel getan hat sich bisher nicht. Es sind nur unzählige Konferenzen hinzugekommen. Mit jeder Konferenz werden neue Erwartungen verknüpft, die Ergebnisse sind jedoch immer ernüchternder geworden.
Neue Federn – Globalisierung auf Rekordjagd Dass die Globalisierung schon lange nicht mehr in Kinderschuhen steckt, sondern auf Spikes läuft, wurde spätestens mit dem Run auf die „New Economy“ deutlich. Der Boom auf dem „Neuen Markt“ mit den hohen Gewinnerwartungen bei den Dot-com-Unternehmen erstreckte sich von Mitte der neunziger Jahre bis in das Jahr 2000. Dann kam der Absturz. Die Vermögensverluste waren groß, aber nicht schmerzlich genug, als dass auch Kleinanleger nicht auf den Geschmack von hohen Renditen gekommen wären. Auslöser waren wie bereits in der industriellen Revolution die noch viel rasanteren neuen technologischen Entwicklungen beim Mobiltelefon und dem Internet. Wie schnell das Internet den Boom mit ausgelöst hat, zeigt die Tatsache, dass das Internet erst sieben Jahre zuvor, nämlich 1993, für die allgemeine Nutzung freigegeben worden war. Seitdem erleben wir einen Globalisierungsschub, der trotz aller Krisen ungebrochen ist. Die Ursachen liegen jedoch nicht im gänzlich Neuen, sondern in Optimierungsprozessen und Weiterentwicklungen. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, sind im Folgenden zentrale Einflussfaktoren für den rasanten Fortschritt der Globalisierung aufgeführt.
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Der Ausbau und die Effizienzsteigerung von primären (vor allem Transport- und Kommunikationsnetzwerke) und sekundären (z. B. Zuliefernetzwerke wie „Just in Time“ und Kanban“) Netzwerksystemen: Es sind vor allem die leistungsstarken „Data-Highways“ unserer heutigen Kommunikationsnetzwerke, die mit ihren tausenden Kilometern von Glasfiberleitungen und unzähligen Funknetzen via Satelliten dafür sorgen, dass sich unsere Erde schneller dreht, als es uns guttut. Das Internet selbst stellt eines der größten „sekundären“ Informationsnetzwerke dar. Milliarden von Web-Seiten und Millionen von Internet-Nutzern stehen für ein zentrales Datenkommunikationssystem, welches von Großrechnern und TCP-IP-Protokollen gesteuert wird. Ein Problem, welches sich insbesondere bei den primären Netzwerken zeigt, ist, dass diese Lebenszyklen aufweisen (Nakicenovic, 1995), ähnlich wie Produkte. Nach der Innovationsphase kommt die Wachstumsphase, nach der Wachstumsphase die Reifephase und schließlich die Schrumpfungsphase, welche sich durch Abbau und Spezialisierung kennzeichnet. Je später eine Region von einem Netzwerk erschlossen wird, desto kürzer ist der Lebenszyklus in dieser Region. Deshalb müssen sich Regionen beeilen, damit sie was von ihren Investitionen haben. Damit ist aber die Evolution primärer Netzwerke ein kontinuierlicher technologischer Substitutionsprozess, bei dem schnellere, effizientere oder billigere Verkehrs- oder Kommunikationssysteme ältere Systeme ständig ersetzen. Dadurch bieten sich zwar immer neue Kombinationen von Verkehrs- und Kommunikationssystemen an, jedoch entsteht dadurch eine hierarchische Struktur der überlagerten Netzwerke, wobei die führenden Regionen immer durch die neuesten Systeme miteinander verbunden sind und daher stets von einer besseren Erreichbarkeit und einem Informationsvorsprung profitieren. Wer hat, der bekommt mehr – wer nichts hat, dem wird genommen! Ein gutes Beispiel dafür ist die Macht um den elektronischen Raum des Internets. Schon jetzt bestehen selektive Zugangschancen für Nutzergruppen, und die Machtkonzentration sowie Hierarchiestrukturen nehmen immer mehr zu. Die Kontrollmöglichkeiten durch die Regierungen nehmen hingegen ab.
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Das Ergebnis ist eine andere Form der Kluft zwischen Arm und Reich. Nur ist es eine digitale Kluft, welche auf der ungleichen Verteilung in der Nutzung von Informationstechnologien und Kommunikationsnetzwerken beruht. Kapitalismus macht vor nichts halt, auch nicht vor dem Internet. Die ständige Verbesserung von „vermittelnden“ Standortfaktoren in vielen Regionen der Welt: wahrscheinlich der V12-Motor unter allen Hauptmotoren der Globalisierungs-Aufrüstung. Mit „vermittelnden“ Standortfaktoren sind Partizipationschancen gemeint, welche es regionalen Standorten ermöglichen, über die primären und sekundären Netzwerke an Beschaffungs- und Absatzmärkten oder auch Informations- und Innovationsangeboten teilzuhaben. Das erlaubt nämlich immer mehr Regionen in dieser Welt, die eigenen „gebundenen“ Standortfaktoren (z. B. Bodenschätze, Qualifikationsniveau, Lohnniveau, Naturraum etc.) profitabler einzusetzen. Logischerweise wird der globale Wettbewerb dadurch größer, härter und dynamischer. Kein Staat auf dieser Welt kann sich dabei auf seine „gebundenen“ Standortfaktoren verlassen. Bodenschätze werden nicht unbedingt mehr, und Arbeitskräfte bleiben nicht immer billig. Und gute Ideen haben Menschen überall auf der Welt. Der Trend zu billigen Transport- und Kommunikationskosten: Billige Transportleistungen begünstigen globale Logistikketten und damit die internationale Verteilung von Arbeit. Die Anteile von Transportkosten am Produktionswert liegen oft unter fünf Prozent (z. B. Eisen und Stahl bei ca. 4,5 bis 5 Prozent oder Nahrungsmittel bei ca. 3,6 bis 3,9 Prozent) und in manchen Bereichen sogar noch deutlich niedriger (z. B. Elektrogeräte bei ca. 1,3 bis 1,5 Prozent oder Einzelhandel bei ca. 0,7 Prozent). Eine Veränderung zeigt sich immerhin bei der Betrachtung der vollständigen volkswirtschaftlichen Kosten von Verkehrsträgern, denn mit der Klimaerwärmung ist der Emissionsfaktor zu einer festen Größe geworden. Schadstoffe und Abgase werden nicht mehr so vernachlässigt wie früher. Dabei kommen aber auch kuriose Zusammenhänge zustande, wenn zum Beispiel Äpfel aus Neuseeland weniger die Ozonschicht belasten als Äpfel aus Südtirol.
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Auch bei den Kommunikationskosten wird mächtig gespart. Die Kosten pro verarbeiteter Dateneinheit haben sich schon zum Ende des letzten Jahrhunderts um das 100.000-Fache gesenkt. Die Wachstumsrate des Datentransfers nimmt dafür von Jahr zu Jahr Dimensionen an, die immer unvorstellbarer sind. Die Innovationskraft und Flexibilität von Unternehmen: Die technologischen Innovationen kennen scheinbar keine Grenzen mehr. „Computer Integrated Manufacturing“, „Computer Aided Design“ oder „Computer Numeric Control“, um nur einige Stichworte zu nennen. Die künstliche Intelligenz scheint greifbar nahe. Aber auch die organisatorischen und logistischen Innovationen haben zusätzlich Tempo in den Globalisierungsprozess gebracht. Moderne Organisationsformen von Arbeitsgruppen (z. B. Job Rotation, Job Enlargement und Job Enrichment) und Qualitätsmanagement (z. B. „Kaizen“ und Qualitätszirkel) auf der einen Seite und die bereits weiter oben erwähnten Logistikkonzepte „Just in Time“ und „Kanban“ auf der anderen Seite haben Unternehmen besser auf die wechselnden Anforderungen der Globalisierung eingestellt. Hinzu kommt die größere Flexibilität von Unternehmen durch Outsourcing-Prozesse und den Abbau komplexer Produktionsketten. Der Abbau von Handelsschranken und internationalen Regulierungen: In Anlehnung an Bretton Woods wird der ordnungspolitische Rahmen der Weltwirtschaft von einer Reihe von über-, zwischen- und nichtstaatlichen Institutionen und Vereinigungen festgelegt. Die meisten davon gehören zum Dachverein der Vereinten Nationen (z. B. der Internationale Währungsfonds, IWF, die Weltbank oder die Welthandelsorganisation, WTO), der Rest ist ein Flickwerk von internationalen Verträgen und Verpflichtungen. Die Währungspolitik spielt seither eine wesentliche Rolle im Globalisierungskarussell. Nachdem der US-Präsident Nixon 1973 den festen Wechselkurs für Gold gekündigt hat, entstand ein System der freien Wechselkurse zwischen den Währungen der IWFMitgliedsstaaten und damit die Globalisierung des Finanzkapitals. Der Spielraum für Finanzspekulationen wurde erweitert und durch spätere
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Aufgaben von Währungskontrollen, insbesondere Ausfuhrbeschränkungen, vergrößert. Trotz vieler internationaler Governmental Organizations (GOs) und NonGovernmental Organizations (NGOs) sowie unzähliger Verträge und Abkommen findet aber noch immer kein fairer Handel auf dem Globus statt. Probleme zeigen sich überall. Die Entwicklungsländer haben immer noch das Nachsehen, weil zum Beispiel im Agrarsektor die USA und die EU Exportinvestitionen und Beihilfen für die eigene Landwirtschaft tätigen, wodurch den Entwicklungsländern Milliarden Dollar verloren gehen. Es fehlt immer noch eine globale Wettbewerbsordnung. Das WTOVertragswerk bezieht sich nur auf das staatliche Handeln, das Wettbewerbsrecht, welches sich an die Unternehmen richtet, variiert hingegen von Staat zu Staat, während die TNU aber global agieren und sich zum Teil über jegliche Diktionen hinwegsetzen. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Staaten, die in ihrer Gesetzgebung überhaupt noch kein Wettbewerbsrecht kennen. Schließlich besitzt die WTO nur eine mittelbare demokratische Legitimation, den Parlamenten bleibt häufig nur die Ratifizierung oder Ablehnung von ausgehandelten Verträgen. Hinter der Demokratisierung der WTO bleibt ein großes Fragezeichen. „Demokratien bevorzugen Märkte, aber Märkte bevorzugen nicht Demokratien.“ (Barber, 1995, S. 243.)
Die Finanzblase – Arbeiten bei Schizophrenen und Agnostikern Funktionierende Finanzmärkte leisten einen wichtigen Beitrag zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung von Staaten. Das internationale Finanzsystem mag aber keine Realisten und keine Sparschweine, sondern risikofreudige Bungee-Springer und Egomanen. Mit Beginn der Liberalisierung und Deregulierung der Finanzmärkte in 1973 (Freigabe der Wechselkurse, Aufgabe des Dollars als Leitwährung) hätten die Regierungen einen „Führerschein“ für Banker und Broker einführen müssen, denn spätestens mit dem Einsatz der neuen Informations- und Kommunikationsnetzwerke in den neunziger Jahren wurden die Finanzmärkte
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global, und die „Jumper“ hatten schnellen Zugang zu allen wichtigen Märkten. Dadurch verschob sich auch das Hauptinteresse beim Handel mit Anleihen, Aktien und Derivaten von der Gewinnausschüttung hin zu den Börsenkursen. Die Geburtsstunde der Schizophrenie auf den Finanzmärkten. Seitdem führt der internationale Finanzmarkt immer wieder ein Eigenleben, in dem Börsenkurse und Realwirtschaft Parallelwelten darstellen. Die Hauptakteure der Finanzwelt sind schnell genannt: Banken und Versicherungsgesellschaften, Fonds-Unternehmen, Investitions- und Vermögensverwalter sowie transnationale Unternehmen und Großanleger. Sie alle sind auf der Suche nach hohen Renditen – weltweit. Zur globalen Verbreitung des Spekulationswahnsinns haben HändlerNetzwerke über Direkt Broker und Online Banking beigetragen. Die größten Netzwerke sind dabei Reuters und EBS. Durch sie werden tausende von Finanzdienstleistern und Börsen miteinander verbunden. So kann sich die Manie auch schneller ausbreiten, aber ebenso die Panik. Hier spielen Rating Agenturen eine zentrale Rolle. Zu den drei großen Rating Agenturen gehören Moody’s, Standard & Poor’s und Fitch. Welches Unheil diese Agenturen anrichten können, wissen wir nicht erst seit der globalen Finanzkrise. Erfolgt durch eine Rating Agentur bei den ersten Anzeichen einer Krise, zum Beispiel in „Emerging Markets“ (aufstrebende Staaten oder Regionen mit großen Wachstumsraten), eine Herabstufung, ziehen sich Anleger sofort zurück und lösen dadurch erst schwerste Finanzkrisen aus, wovon nur die profitieren, die auf fallende Kurse gesetzt haben. Griechenland kann 2010 ein Lied davon singen, nachdem dessen Bonität auf Ramschstatus eingestuft wurde. Die Auswirkungen sind jedoch im Vergleich zu Spanien noch harmlos. Spanien kämpft mit einer hohen Arbeitslosenquote und wurde bereits hinsichtlich der eigenen Kreditwürdigkeit Anfang 2010 von „Triple A“ auf „AAPlus“ leicht abgestuft. Gerät Spanien weiterhin in Schieflage, wird das Europa mehr durchschütteln, als es Griechenland bereits getan hat. Die Gründe für die immer neuen und immer gefährlicheren Spekulationsblasen sind aber vor allem die Player und die fehlenden Regeln in der globalen Finanzwelt. Immer neue und kompliziertere Finanzprodukte
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werden für die Termingeschäfte generiert. Darunter fallen vor allem Derivate (Handelskontrakte) wie Forwards, Futures, Optionen und Swaps, die zur Absicherung von Kursrisiken (z. B. Währungs-Swaps) oder Steigerung von Gewinnen (z. B. Optionen) eingesetzt werden. Die neuste Blase hat sich bereits mächtig aufgebläht. Die Banken haben Unmengen von billigem Geld bekommen, sodass selbst der Immobilienmarkt in den USA nichts mehr von seinem Schwächeanfall 2008 erahnen lässt. Selbst die alten toxischen Immobilienpapiere (CDOs) werden wieder unter das Volk gemischt, indem man dem alten Risikopapier einen neuen Namen verpasst hat (REMIC – Real Estate Mortgage Investment Conduit). Die Geschichte wiederholt sich aufs Neue. Das sieht man an der Zocker- und Feierlaune an der Börse und bei den Bankern. Agnostiker mischen sich unter die Schizophrenen und die Maniker stehen auf der Bühne – alles wieder beim Alten! Eine echte Bestrafung gab es ja nicht, dafür viel Geld, mit dem sich noch besser wirtschaften lässt, und wenn alles wieder den Bach runtergeht, dann ist ja da noch Vater Staat als Rückversicherung. Dass aber mit der nächsten platzenden Spekulationsblase die Realwirtschaft vieler Länder vollkommen zerstört wird, bleibt im Unterbewusstsein. Die Herren entscheiden sich immer wieder für die rote Kugel und wollen in der Matrix bleiben. Den Kern des Übels in den Spekulationsblasen zu suchen ist sinnlos – es gibt ihn nämlich nicht! Zu diffus ist das Gasgemisch. Viel leichter ist es da auf den Verursacher zu schauen, also die Akteure, als da wären: Anbieter, Händler und Anleger, die mit ihrer Unerfahrenheit, ihrem Leichtsinn, ihrer Überheblichkeit und Gier die Blase zum Wachsen und am Ende zum Platzen bringen. Jeder hat seinen Anteil. Also müssen die Grundbedingungen für einen funktionierenden Finanzmarkt geschaffen werden, um zum einen der Unwissenheit des größten Teils der „Anleger-Herde“ ein Ende zu bereiten und zum anderen die Verantwortungslosigkeit sowie Maßlosigkeit der professionellen Händler einzuschränken. Nur trauen sich die einzelnen Staaten bei Letzteren nicht
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so recht. Zum Beispiel bei der Erhöhung des Eigenkapitals von Banken, dem Verbot von unsinnigem Handel (immerhin wurden Leerverkäufe bereits unterbunden), der Durchsetzung einer stärkeren Wettbewerbsfähigkeit der nationalen bzw. regionalen Ökonomien untereinander sowie einer begrenzten Aufnahme von ausländischem Kapitel in Abhängigkeit von der Erwirtschaftung von Devisen (d. h., Empfängerländer importieren mehr Waren und Dienstleistungen als sie exportieren). Eine stärkere Transparenz des internationalen Finanzsystems, mit internationalen Standards und effizienteren Aufsichten, wäre ein wichtiger Schritt, um die „Moral Hazard“-Mentalität zu kontrollieren. Dass wir dadurch von weiteren Krisen verschont bleiben, ist ebenso unrealistisch wie das Ausbleiben von Naturkatastrophen. Krisen können auch durch „exogene“ Faktoren wie der Entwicklung von Preisen, Wechselkursen und Zinsen ausgelöst werden. Diese entstehen wiederum durch den Wegfall von Exportmärkten aufgrund neuer Wettbewerber oder dem Verfall bzw. Anstieg von Dienstleistungs- oder Rohstoffpreisen. Wirtschafts- und Finanzkrisen gehören ebenso zu uns wie Lebenskrisen, nur sollten es nicht zu viele in kürzester Zeit sein.
Globale Managementkonzepte im Fokus Unabhängigkeitserklärungen Angesichts der globalen Marktwirtschaft erscheint es paradox, dass die Planungssysteme der großen Unternehmen immer mehr an Bedeutung gewinnen. Zwar verfolgt jedes international agierende Unternehmen ein bestimmtes Ziel, jedoch unterscheiden diese sich nach der Ausrichtung. Eine internationale Unternehmensorganisation sucht ihr Glück in der Erschließung von Absatzmärkten bei Nutzung der Betriebs- und Produktionsvorteile im Heimatstaat (Market Seeking). Die Koordination erfolgt hierarchisch von der Heimatzentrale aus. Die multinationale Unternehmensorganisation besitzt immerhin zusätzliche Produktionsstätten in anderen Ländern, um dortige Standortvorteile zu nutzen (Efficiency
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Seeking und Market Seeking), eine hierarchische Koordination von der Heimatzentrale aus ist hier aber meistens ebenfalls vorzufinden. Transnationale Unternehmensorganisationen lagern hingegen wichtige Kompetenzen und Koordinationsaufgaben aus der Heimatzentrale aus, sodass bestimmten Standorten in anderen Ländern spezifische Unternehmensaufgaben übertragen werden. Diese müssen „nur“ innerhalb ihres Kompetenzbereiches die internationale Ausrichtung des Gesamtunternehmens koordinieren. Transnationale Unternehmensorganisationen können dadurch gezielter exklusive Standortvorteile für sich nutzen (Resource bzw. Strategic Asset Seeking neben Market und Efficiency Seeking). Festzuhalten ist, dass sich bei der Organisation von Unternehmensnetzwerken die Entwicklung von vertikal integrierten, hierarchischen Strukturen hin zu horizontalen Netzwerken beobachten lässt. Produkte und Dienstleistungen, die in einem Land produziert werden, gehen also nicht mehr als Vorprodukte in den Produktionsprozess anderer Länder ein (vertikale Integration), sondern werden in verschiedenen Ländern für die jeweiligen regionalen Märkte erzeugt (horizontale Integration). Damit werden zum Beispiel Zollbarrieren umgangen, was die Kosten senkt, aber die Unternehmen werden damit auch gegenüber einzelnen Staaten unabhängiger. Mit der globalen „Unabhängigkeitserklärung“ von international agierenden Unternehmen wird der Wirkungsgrad der nationalen Politik immer geringer. Die Unternehmen sitzen am längeren Hebel, wenn der nationale Standort infrage gestellt wird. Ein Beispiel ist die Schließung des Nokia-Werkes in Bochum. Osteuropa erschien Nokia nach einigen produktiven Jahren plötzlich lukrativer zu sein als der Ruhrpott und sowohl die Landes- als auch die Bundesregierung konnte daran nichts ändern. Dass der Konzern ursprünglich staatliche Subventionen für mittelfristige Zusagen erhielt, machte die Schließung des Werkes noch bitterer. Staaten und Regionen sind in diesen Fällen nichts anderes als „Hostile Brothers“.
Intravenöse Investitionen Direktinvestitionen sind Teil des internationalen Kapitalverkehrs. Durch die Intensivierung der Kapitalverflechtung profitieren Unternehmen, da sie dadurch mehr Einfluss auf und Kontrolle über Geschäftsaktivitäten
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und -strategien im Ausland und damit auch die Chancen auf mehr Gewinn erhalten. Ob durch die Gründung von Zweigbetrieben oder die Beteiligung bzw. Übernahme von bestehenden Unternehmen, die Gründe für ausländische Direktinvestitionen liegen auf der Hand. Zum einen gibt es absatzpolitische Motive (Market Seeking), da die ausländischen Märkte vor Ort zielgerichteter und effizienter bedient werden und zusätzlich Handelsbarrieren geschickt umgangen werden können. Zum anderen sind Kosteneinsparungen (Efficiency Seeking) bei Löhnen und Steuern möglich, teilweise gibt es auch geringere Auflagen. Direktinvestitionen für Market Seeking finden deshalb vorwiegend in anderen Industriestaaten statt, Investitionen mit Efficiency Seeking vorrangig in Entwicklungsund Schwellenländern. Direktinvestitionen werden oft auch in Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt gebracht. Vor- und Nachteile gibt es aber auf beiden Seiten. Bei den Empfängerländern werden durch neu aufgebaute Produktionskapazitäten mehr Arbeitskräfte nachgefragt, und es treten weitere positive Effekte auf (z. B. vor- und nachgelagerte Bereiche bei lokalen Zulieferern und Subunternehmen sowie neueste Standards im Bereich Qualität, Methoden und Techniken). Auf der anderen Seite werden dafür schlechte Arbeitsbedingungen toleriert (z. B. Textilbranche), und bei Unternehmensübernahmen kommt es wie hierzulande eher zum Abbau von Arbeitskräften. Langfristig gesehen kommen die einheimischen Produzenten unter die Räder. Unter Umständen nimmt dadurch die Eigenständigkeit von Regionen oder sogar ganzen Staaten ab. Bestes Beispiel ist hier der Agrarsektor. Bei den kapitalgebenden Ländern werden Direktinvestitionen oft zur Senkung von Kosten im Heimatland getätigt. Dies führt im Erfolgsfalle zur Steigerung der Geschäfte und gleichzeitigen Entspannung auf der Kostenseite, jedoch erkauft mit dem Verlust von einheimischen Arbeitsplätzen. Dass dafür die verbleibenden Arbeitsplätze sicherer sind oder höherwertige Arbeitsplätze entstehen können, nimmt subjektiv keiner wahr, weil letztlich nur die Wahl zwischen „Friss oder stirb“ bleibt. Und ist bei der bereits erwähnten Tendenz in Richtung horizontale Integrationen ohnehin hinfällig, da durch das Auslandsengagement die Flexibilität der Unternehmen erhöht wird.
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All You Can Share Unternehmenszusammenschlüsse gab es schon immer. Die Anzahl von Fusionen ist aber mit Beginn der neunziger Jahre stark angestiegen. Noch größer ist die Bedeutung von Megafusionen geworden, insbesondere von horizontalen Fusionen – also Zusammenschlüssen von direkten Wettbewerbern. Beispielsweise AOL und Time Warner (Medien) oder auch der Zusammenschluss von Daimler und Chrysler 1998. Über den Aktientausch wurde Autofusion als „Merger of Equals“ über die Bühne gebracht. Auch hier liegen die Gründe klar auf der Hand: Reduzierung von Kosten, Optimierung von Produktionsketten und -kapazitäten, Konzentration von Wissen und Forschungsaktivitäten und, nicht zu vergessen, Marktpräsenz und Marktbeherrschung. Nun gut, wir alle wissen wie die Megahochzeiten bei Daimler 2007 und bei Time Warner 2009 ausgegangen sind. Einen Aspekt wollen wir aber in diesem Zusammenhang näher beleuchten, nämlich den Unterschied zwischen den Konzepten „Shareholder-Value“ und „Stakeholder-Value“. Der „Shareholder-Value“ ist orientiert an den Interessen der Anteilseigner, für die in erster Linie die Maximierung der Wertsteigerung ihrer Aktien im Vordergrund steht. Im Wettstreit um Kapital sollen die Aktionärsgewinne hoch und die Gefahr von Übernahmen gering, der Verkauf oder der Tausch von Aktien umso lukrativer sein. Das Stakeholder-Prinzip ist nicht nur einseitig an den Interessen der Anteilseigner ausgerichtet, sondern berücksichtigt auch die Interessen anderer Gruppen, die mit einem Unternehmen verbunden sind. Dazu gehören die Beschäftigten ebenso wie Gemeinden oder Regierungen. Seit den siebziger Jahren hat aber durch die Liberalisierung der Finanzmärkte das Shareholder-Prinzip bei den großen Unternehmen stärker an Bedeutung gewonnen und ist seit den neunziger Jahren das dominierende Konzept. Dafür sind aber gewisse Voraussetzungen in den Unternehmen zu schaffen. Aktien- und Anleihenfinanzierungen sind Kreditfinanzierungen von der guten alten Hausbank vorzuziehen, und das Mitbestimmungsrecht der Belegschaft muss beschnitten werden, sonst lassen sich strategische Ent-
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scheidungen nicht schnell genug realisieren. Für die „richtige“ Performance der Unternehmen hinsichtlich der Anlagemöglichkeiten sorgen die Rating Agenturen. Über die Kennzahlen Discounted Cash Flow (Schätzwert der zukünftigen Liquidität eines Unternehmens, der fast ausschließlich auf Prognosen beruht) und die tatsächlichen oder prognostizierten Börsenwerte von Unternehmen wird das Kaufverhalten der Anleger gesteuert. Bei gleichgerichtetem Kaufverhalten, welches häufig zu beobachten ist, kommt es so schnell zu Über- oder Unterbewertungen, wo sich die Schizophrenen besonders wohl fühlen und der Rest zwischen Manie und Depression springt. Irrationale Agnostiker sind beide, oder wie lässt es sich sonst erklären, dass der Börsenwert des Internetportals Yahoo in der ersten Jahreshälfte 2000 höher war als der Börsenwert von VW, Lufthansa, Metro, Veba und BASF zusammen? Das Shareholder-Value-Konzept mit oft nur kurz- und mittelfristig auf Aktienkurse ausgerichteten Planungsstrategien hat negative Auswirkungen für die Arbeitsplätze an den Standorten. Bereits 1997 stieg der Aktienkurs von Renault an der Pariser Börse um 11,7 Prozent an, kurz nachdem Renault die Schließung eines Zweigwerkes in Belgien bekannt gab. Der Grund für die Schließung war keine unprofitable Autoproduktion, sondern eine profitablere Finanzabteilung. Eine weitere Auswirkung des „Shareholder-Value“ ist die fehlende Bindung und damit Loyalität der Eigentümer zur Belegschaft und den Standortregionen. Durch die Internationalisierung der Eigentümerverhältnisse sind Exit-Strategien weniger emotional. Die Unternehmenszentralen befinden sich ja nicht unbedingt dort, wo gestreikt wird und die Lichter ausgehen. Die größte Gefahr, die vom Shareholder-Value-Konzept ausgeht, ist die Rollen- und Aufgabenverzerrung des Managements. Das Verbergen von Insider-Geschäften und die Verschleierung von Schräglagen bzw. Schulden führen regelmäßig zum Zerfall und Ausverkauf von traditionellen Unternehmen. Missmanagement lautet dann oft die SymptomAnalyse. Die Motive des Managements sind unterdessen längst bekannt, Compliance hin oder her. Solange aber das Management die Möglichkeit hat, Bilanzen durch unterschiedliche Bilanzierungsvarianten und Einbin-
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dung von Partnerschaften („Special Purpose Entities“) zu frisieren und keine klare Aufgabentrennungen zwischen Beteiligten wie Rechnungslegung, Betriebsprüfung und Rating Agenturen vorhanden sind, werden Zusammenbrüche von Unternehmen auch weiterhin durch das Shareholder-Value-Konzept gefördert.
Zum Umgang mit der Globalisierung Die Herausforderungen, mit denen sowohl kleine und mittelgroße Unternehmen (KMU) als auch transnationale Unternehmen in der globalen Wirtschaft umgehen müssen, wurden bereits weiter oben genannt. Es ist vor allem der kontinuierliche Substitutionsprozess bei den primären und sekundären Netzwerken. Zu den zentralen Aufgaben von Unternehmen gehört es, diese Netzwerke für die eigenen Geschäftsprozesse optimal zu nutzen und gleichzeitig deren Lebenszyklus zu beachten. Das bedeutet beispielsweise im Bereich der Unternehmenskommunikation den Einsatz von BlackBerry-Smartphones oder Twitter zu überprüfen, wenn in einem Unternehmen die Notwendigkeit für Videotelefonie bereits erkannt wurde (was aber mit BlackBerry-Smartphones nicht geht) oder sich das „Zwitschern“ nur als Modeerscheinung bei der Rekrutierung von Fachkräften entpuppt hat. Hinzu kommen das stets kostenbewusste Handeln und der Aufbau sowie Erhalt der Innovationskraft des Unternehmens, insbesondere im Bereich Technologie, Arbeitsformen und Qualitätsmanagement. Innovation findet nicht nur in der Produktentwicklung statt, sondern an jedem Arbeitsplatz, sei es auf der technischen oder psychologischen Ebene (z. B. Kundenorientierung). Immer größere Herausforderungen sind die dauerhafte profitable Nutzung der gebundenen Standortfaktoren (z. B. Ausbildungsniveau, Lohnniveau, Bodenschätze oder politische Situation) und die optimale Abschöpfung der vermittelnden Standortfaktoren, wie zum Beispiel Einkauf, Absatzmärkte, Informationsangebote und Rekrutierung. Unternehmen stehen nicht mehr nur unter der globalen Absatzkonkurrenz, sondern im globalen Standortwettbewerb. Deshalb muss ein Unternehmen weltweit als Standort für Investo-
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ren, Fachkräfte und High Potentials attraktiv sein und bleiben, um optimale Bedingungen für Kapital zu schaffen und Gewinne zu generieren. Der Wettbewerbsmaßstab ist aber kein nationaler oder regionaler mehr, sondern ein „Weltmaßstab“, der nach bestimmten Leistungsindikatoren wie Lohnkosten, Fachkräfteniveau oder Haushaltslage bewertet wird. Für ein Wohlfahrtsunternehmen bleibt hier wenig Spielraum. Ziel des Managements ist es letztlich, die Attraktivität eines Standortes für mobile Faktoren der Weltwirtschaft zu erhöhen und die ortsgebundenen Faktoren zu erhalten. Das Management muss daher globaler denken und Flexibilität sicherstellen, damit Nischen gefunden oder neue Absatzmärkte erschlossen werden können. Zur Hauptaufgabe eines umfassenden Managements gehört es, multiple Zielkonflikte und widersprüchliche Anforderungen des globalen Marktes innerhalb eines Unternehmens auszubalancieren – oder kurz gesagt ein „Interdependenzmanagement“ zu etablieren. Dieser Ansatz aus der Politikwissenschaft wird bereits im Rahmen einer „Global Governance“ diskutiert. Mit Interdependenzmanagement ist dabei die Steuerung des Zusammenwirkens von mehreren Bereichen, Interessengruppen und einzelnen Akteuren in einem Netzwerk, in unserem Fall dem Netzwerk eines Unternehmens, gemeint. Ein Netzwerk kann dabei aus verschiedenen Unternehmenseinheiten, dezentralen Strukturen und unterschiedlichen Personenkreisen (sowohl interne als auch externe Personen oder Personengruppen) bestehen. Die Veränderungen im Markt generieren im Unternehmen immer wieder Zielkonflikte und konfrontieren einzelne Bereiche von Unternehmen mal mehr und mal weniger mit widersprüchlichen Anforderungen. Beispielsweise in der Automobilindustrie, wo im Westen die Nachfrage nach sparsamen Autos und alternativen Antriebstechniken groß ist, aber den Automobilherstellern bewusst bleiben muss, dass eine Familie mit einem Kleinwagen nicht in den Urlaub fahren kann und das Auto ein Statussymbol bleibt. Das Ergebnis sind „leicht“ abgespeckte Fahrzeugvarianten mit unglaublich „sauber klingenden“ Umwelttechnologien fürs bessere Gewissen, ohne aber auf Platz, Luxus und Status verzichten zu müssen (z. B. bei den SUVs mit dem X3 und X1 bei BMW, dem Tiguan bei VW
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oder dem Q5 bei Audi). Gleichzeitig bringt aber Porsche mit dem Panamera eine „Schwergewichts-Limousine“ auf die Straße, die ebenfalls von einem Marktsegment nachfragt wird, und im Fernen Osten verkaufen sich deutsche Premium-Modelle trotz „klassischer“ Antriebsmodelle im Jahr 2010 wie warme Semmeln, sodass BMW den Nachschub sogar in den heimischen Werken produzieren muss – Interdependenzmanagement par excellence! Das Management muss deshalb die internen sowie externen Abhängigkeitsverhältnisse im globalen Kontext analysieren, um für das Gesamtunternehmen die strategischen Ableitungen zu treffen. Damit ist auf der Managementebene insbesondere die Ausbalancierung der grundsätzlichen Unternehmensstrategien wie Market Seeking, Efficiency Seeking und Resource bzw. Strategic Asset Seeking gemeint. Je nach Situation und Anforderungen des Marktes muss das Management den strategischen Schwerpunkt definieren, ohne die anderen Grundausrichtungen zu vernachlässigen. Die Ableitungen des Managements werden dann durch die einzelnen Akteure im Netzwerk vor Ort umgesetzt. Zielstellung dabei ist aber kein Machtausgleich, sondern ein Stabilisierungsprozess, um die Handlungskompetenz im Unternehmensnetzwerk zu gewährleisten. Die Stabilität kann aber nicht allein durch die klassischen Top-down-Prozesse sichergestellt werden, sondern muss durch einen „Across“-Prozess erweitert werden. Wenn sich Unternehmensorganisationen von hierarchischen Strukturen hin zu horizontalen Netzwerken entwickeln, so muss sich dies auch in der Managementsteuerung wiederfinden. Dafür sind grundlegende Handlungsprinzipien in den Unternehmen notwendig. Beispiele dafür sind die Nutzung von gemeinsamem Wissen und Ressourcen (Knowledge Management), kooperatives Verhalten zwischen Unternehmenseinheiten und Personenkreisen (Cooperation) sowie die Legitimation von Entscheidungskompetenzen und Verantwortlichkeiten für eine effektive Umsetzung vor Ort (Decision Competence), vor allem je dezentraler und globaler ein Unternehmen aufgestellt ist. Dafür ist wiederum die grundsätzliche Mobilitätsbereitschaft von Mitarbeitern ebenso notwendig wie ein Subsidiaritätsprinzip, welches regionale und
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globale Probleme und Anforderungen auf der entsprechenden Unternehmensebene – Abteilungen, Bereiche oder Management – bearbeiten und lösen kann. Der dahinterstehende Gedanke ist eine „Organization Life Balance“, bei der ein Unternehmen den ständig aufkommenden internen und externen Spannungen (durch den Einfluss von Märkten, Politik oder Gesellschaft verursacht) aktiv und kompensatorisch begegnet. Das tut das Management aber nicht anhand von Erklärungen aus Vergangenheitsanalysen (historisches Management), sondern auf der Grundlage der Bestimmung derjenigen Einflüsse, die in der unmittelbaren Gegenwart auf das Unternehmen einwirken (ahistorisches Management). Damit steht für das Management die Spezifizierung der gegenwärtigen Determinanten im Vordergrund und nicht die Frage nach den vorangegangenen Gründen, dem „Warum“. Dadurch gelingt es dem Management auch besser die „wirkliche“ Gesamtsituation zu betrachten, da das gesamte Unternehmensumfeld und Vergangenheit wie auch Zukunft in der Gegenwart repräsentiert werden. Veränderungen sind immer gerichtet, deshalb wird es zur Hauptaufgabe vom Management, die Richtung und die Intensität von Veränderungen – egal woher sie kommen – zu erkennen, zu bewerten und zu steuern. Diese Überlegungen sind an die Feldtheorie von Kurt Lewin (1890-1945) angelehnt. Der Feldtheorie (Lewin, 1936) nach wird Verhalten durch das Feld (Konstellation von Person und Umwelt – auf unserer Abstraktionsebene Unternehmen und Umwelt) determiniert. Das Feld, von Lewin als Lebensraum bezeichnet, unterscheidet sich dabei durch personen- und umweltbezogene Komponenten sowie strukturelle und dynamische Komponenten. Deshalb lässt sich dieses Modell auch so gut auf Unternehmen übertragen. Der gemeinsame Nenner ist ein Organismus, der ein ausbalanciertes System darstellt. In diesem System befinden sich wiederum durchlässige und undurchlässige Grenzen zwischen einzelnen Komponenten, welche den Handlungsspielraum von Unternehmen definieren. Ein funktionierendes „Interdependenzmanagement“ bedarf aber einer zentralen Ausbalancierung zweier Prinzipien, die bisher eher als Antagonisten auftreten. Gemeint sind damit die Konzepte „Shareholder-Value“
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und „Stakeholder-Value“. Auch hier muss eine Politik der Balance gefunden werden, da die ausschließliche Anwendung des „ShareholderValue“-Prinzips fatale Folgen für den Lebenszyklus von Unternehmen hat. Die größten Hürden werden deshalb hier sein, ob sich die „hegemonialen“ Shareholder diesen Prinzipien verpflichten und wie stabil sich dieses System dann im Alltag zeigt. Das vorgestellte „Interdependenzmanagement“ ist somit ein Modell, welches in der Weltpolitik bereits Anwendung findet. Die EU stellt dabei das fortgeschrittenste Interdependenz-System dar. Sie ist nicht nur ein wirtschaftlicher Zusammenschluss von mehreren Staaten, sondern versucht auch negative soziale und umweltpolitische Themen durch ein global agierendes Regulierungssystem zu behandeln. Von einem utopischen Ansatz kann man deshalb nicht mehr sprechen. Vielmehr gilt es jetzt, dieses Modell im unternehmensspezifischen Kontext zu implementieren und die notwendigen Kompetenzen in den Unternehmen für die effiziente Umsetzung der Handlungsprinzipien aufzubauen.
Fazit Welchen Weg geht die Globalisierung? Den gleichen, den die Globalisierung bisher gegangen ist! Die Globalisierung sucht immer nach dem optimalen Einsatz von Ressourcen und wird deshalb auch immer in gewisser Weise „moralfrei“ sein. Ein Gleichgewicht zwischen den Akteuren wird es wohl nie geben, ungleiche Verteilungsverhältnisse werden immer bestehen. Ob das Ungleichgewicht und die damit verbundenen Verfalls- und Wachstumsprozesse durch die Märkte in der Zukunft immer größer werden, so wie es die Globalisierungskritiker sehen, hängt viel von den zukünftigen Strukturen, Regulierungen und gelebten Werten ab. Die zukünftigen Managementkonzepte werden eine wichtige Rolle spielen, wenn es um die Umkehr von Verfallsprozessen in Unternehmen geht. Deshalb ist auch nicht die Globalisierung schuld an unseren Problemen und Wirtschaftskrisen, sondern die Dynamik und Komplexität des Marktgeschehens sind ihre Ursachen. Globalisierung gab es schon immer, aber die Dynamik und die Komplexität aufgrund der immer schnelleren technischen Entwicklungen und globalen Netzwerke füh-
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ren zu einem steigenden internationalen Wettbewerb und Kostendruck sowie zu einer Psychologisierung und Manipulierung von menschlichen Verhaltensweisen. Deregulierungsmaßnahmen und neue Netzwerkstrukturen haben Produktion und Dienstleistung globalisiert. Die Globalisierung hat wiederum die Absatzkonkurrenz um die Standortkonkurrenz erweitert. Lösungsansätze gibt es nicht sehr viele, das „Interdependenzmanagement“ ist jedoch ein Ansatz, der die Komplexität und die Abhängigkeitsverhältnisse in der globalen Wirtschaft abbilden und ausbalancieren kann. Was schon jetzt passieren muss, ist, dass sich das Menschheitsprinzip „Learning by Catastrophes“ nicht immer wieder wiederholt und eine immer größere Blase platzt. Die Schäden sind nämlich kaum noch gutzumachen. Vorsorgende Managementkonzepte und internationale Regulierungssysteme sind dafür notwendig, ebenso wie die Veränderung vorherrschender Verhaltensmuster, welche von Egoismus und einer Mischung aus Arroganz und Ignoranz geprägt sind. Der Altbundeskanzler Helmut Schmidt hat es in einem Interview sinngemäß wie folgt ausgedrückt: Wichtig ist, was dem öffentlichen Wohl dienlich ist. Das trifft auch auf die Solidarität innerhalb von Gemeinschaften wie international agierenden Unternehmen zu.
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2. Das Dilemma mit Werten – Warum Werte allein nicht führen
Werte sind „in“ – und das nicht erst seit gestern. Jedoch setzen Unternehmen heutzutage Werte nicht nur zur Induzierung von Produkteigenschaften ein, sondern auch zu Imagezwecken und um die eigenen Mitarbeiter im Unternehmen zu führen. Werte lassen sich nun mal gut „verkaufen“, und das ist auch der Grund, warum so viele Unternehmen darüber sprechen.
Der Ausverkauf von Werten Was zunächst mit Leitlinien und Unternehmensphilosophien harmlos begonnen hat, ist mittlerweile zu einer Schlacht um den ultimativen Wertekanon geworden. Denn mit den edelsten Werten kann man im War for Talents die Besten der Besten für sich gewinnen. Unternehmen ohne Leitbilder gelten unterdessen als Exoten. Exotischer werden sie dann noch, wenn sogar ganze Branchen eigene Wertekommissionen gründen, um noch päpstlicher zu sein als der Papst. Man stülpt sich einfach einen weißen Werteumhang über und erstrahlt in neuem Glanz. Nebenbei erwähnt, diese finden sich ausgerechnet in den Branchen, in denen bisher die meisten Werteverstöße vorgekommen sind. Kritiker sehen unterdessen den „Wertehype“ als allerletzten Strohhalm, etwas zuzustimmen, wenn bereits alle anderen Möglichkeiten versagt haben. Trotzdem weist insbesondere das Thema Führung eine hohe Affinität zu Werten auf. Getrieben von einer immer globaleren Weltwirtschaft reifte in Unternehmen die Idee, dass Führungskräfte ein idealtypisches Führungsselbstverständnis benötigen. Man ist der Überzeugung, dass Werte
S. Lesch, Psychoblasen in der Wirtschaft, DOI 10.1007/978-3-8349-6449-6_2, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Das Dilemma mit Werten – Warum Werte allein nicht führen
auch in Zeiten globaler Veränderungen ein wirkungsvolles Führungsinstrument sind. Eines Tages gehörte es dann zum guten Ton von Managern und Führungskräften, ihre Mitarbeiter mit Werten zu führen. Es reichte also nicht mehr aus, seine Mitarbeiter nur mit Zielen zu führen. Manch einer erhoffte sich sogar, dass ein Management by Values (Wertemanagement) vielleicht das schaffen könnte, was ein Management by Objectives (Führen mit Zielen) nicht geschafft hatte.
Die Werteblase Werte gibt es ja per Definition zur Genüge. Sie müssen nur eine Bedeutung haben. Das Schöne an Werten ist auch, dass sie alle positiv formuliert werden können und vor allem anständig klingen. So wuchs im Schutz der Wertekultur eine heile Unternehmenswelt auf, bis die ersten Vorzeigemanager etwas taten, was so gar nicht zu den Werten passte, die sie selbst zuvor proklamiert hatten. Den Einzelfällen folgten weitere Einzelfälle und es entwickelte sich eine Eigendynamik, welche die Werteblase vollends zum Platzen brachte. In unserer medialen und damit unglaublich schnell informierten Gesellschaft hat dies Empörung ausgelöst, sodass wir als Endergebnis eine anhaltende Wertediskussion haben. Mitarbeiter gehen auf die Straße, weil sie die Werte der Globalisierung nicht verstehen, und Manager in die Gerichtssäle, weil sie sich von niederen und egoistischen Werten haben verleiten lassen. Die aufstrebenden Jungmanager werden dabei unweigerlich in diesen Sog mitgerissen und werden für neuen Zündstoff sorgen. Man darf gespannt sein, welche Ausreden sich die Jungmanager dann einfallen lassen. Laut einer Führungskräftebefragung vermissen junge Manager in ihren Unternehmen Werte wie Ehrlichkeit und Vertrauen. Schuld daran ist
Die Werteblase
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primär das etablierte Top-Management. Sehr anständig und loyal verhalten sich aber hier die Jungmanager auch nicht, wenn sie mit dem Zeigefinger auf andere deuten, zumal sie dieser Zunft selbst angehören. Schöne neue Wertewelt. Aus Fehlern lernt man eben doch nur, wenn man sie selbst machen darf. Die Konsequenzen einer verfehlten Werte- und Führungskultur in Unternehmen haben zutage gebracht, wovor einige gewarnt hatten. Ziele kann man verfehlen und korrigieren, Werte jedoch nur schwer. Warum das so ist, zeigt folgendes Beispiel. Ein Manager erklärt bei einer Betriebsversammlung seinen Mitarbeitern, dass die Umsätze im laufenden Geschäftjahr geringer ausgefallen sind als anvisiert (Ziel verfehlt). Er erwarte deswegen in Zukunft von jedem Einzelnen noch mehr Einsatz und Flexibilität, um sich gegen den Wettbewerb zu behaupten. Auf helle Begeisterung wird das bei der Belegschaft nicht stoßen, aber er verliert auch nicht an Glaubwürdigkeit. Wenn aber ein Manager an die Loyalität und Integrität der Mitarbeiter appelliert, in der Führungsspitze jedoch Machtkämpfe ausgetragen werden oder auf Kosten der Firma persönlichen Interessen nachgegangen wird, macht er sich unglaubwürdig. Was haben also Werte an sich, dass sie stärkere Konsequenzen haben als verfehlte Ziele? Werte sind gegenüber konkreten Zielen allgemeiner und grundlegender. Im Falle von Unternehmen definieren sie die Standards und Leitlinien für das Handeln von Mitarbeitern und Arbeitsgruppen in den jeweiligen Organisationen. Wie auch Ziele geben sie bei Entscheidungen Orientierung, jedoch auf einer übergeordneten, normativen Ebene. Im Kontext von Führung bedeutet dies vor allem: Werte sind Sinn stiftend und somit auch Ziel führend. Mit Werten können Führungskräfte ihren Mitarbeitern die Notwendigkeit für gewünschte Verhaltensweisen verdeutlichen, denn über Werte erschließt sich für die Mitarbeiter der Sinn für anstehende Aufgaben und Herausforderungen. Ein weiterer Vorteil von Werten als Führungsinstrument ist, dass sie den Zusammenhalt und die Leistungsfähigkeit von Abteilungen, ja ganzen Unternehmen aufrechterhalten, weil sie Teamwork und Anstrengung
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Das Dilemma mit Werten – Warum Werte allein nicht führen
einen Sinn geben. Beispielsweise autorisiert der Wert Zusammenarbeit oder Kooperation einen Projektleiter, Fachkräfte aus verschiedenen Abteilungen für eine unternehmensübergreifende Aufgabe zu steuern. Noch viel wichtiger ist dieser Wert für Projektleiter, die keine Weisungsbefugnis besitzen. Werte vermitteln Mitarbeitern demnach ein Warum und stellen die Legitimationsgrundlage für geltende Normen in Unternehmen dar.
Ganz schön grenz„wertig“! Der Glaube, ausschließlich mit Werten führen zu können, ist jedoch ein Irrtum. Denn wie bereits oben erwähnt, vermitteln Werte den Mitarbeitern ein Warum, aber nicht das Was und das Wie. Werteorientiertes Führen kann nur die übergeordneten Zusammenhänge für Entscheidungen, neue Strukturen und veränderte Arbeitsprozesse erschließen. Was aber genau das konkrete Ziel ist und wie dieses Ziel erreicht werden kann, können Werte allein nicht vermitteln. Dafür braucht es weiterhin ein Führen über Ziele und ein Führen über Instruktionen. Diese beiden Führungsinstrumente sind weniger abstrakt und lassen sich wiederum innerhalb von Unternehmenshierarchien besser herunterbrechen, wenn dies auch in der Praxis leider viel zu selten stattfindet. Was aber im Führungshandeln von Managern und Führungskräften in Unternehmen faktisch passiert, ist ein Paradigmenwechsel vom Management by Objectives (MbO) zum Management by Values (MbV). Das gleiche Schicksal ist in den Sechzigern dem Management by Instruction (MbI) widerfahren, als es vom MbO abgelöst wurde. Dabei kann es keines der drei genannten Managementinstrumente allein bewerkstelligen, Unternehmen und Mitarbeiter effektiv zu führen. Erst die Kombination aus allen drei Managementformen (MbI, MbO und MbV) ermöglicht eine transparente und erfolgreiche Mitarbeiterführung. Betrachtet man charismatische Führungskräfte genauer, so führen diese überwiegend über Werte, die sich mit ihren Visionen gut verknüpfen lassen. Schaffen sie es aber nicht, diese auf mittel- und kurzfristige Ziele
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herunter zu brechen und mit klaren Anweisungen konsequent nachzuhalten, scheitern auch charismatische Führungskräfte über kurz oder lang. Umgekehrt wird es eine Führungskraft, welche ihren Mitarbeitern klare Anweisungen gibt, ebenfalls sehr schwer haben. Den Mitarbeitern bleibt das langfristige Ziel, für das sie tagtäglich schuften, verborgen. Die übergeordneten Werte können allenfalls implizit erschlossen werden.
Eine unlösbare Aufgabe? – Ein Praxisbeispiel Wie schwer es ist, alle drei Führungsinstrumente überlegt und konsistent anzuwenden, lässt sich sehr gut am Beispiel des Leistungsentgelts verdeutlichen. Nach Jahren langer und zäher Verhandlungen haben sich die Tarifparteien auf das Entgeltrahmenabkommen, kurz ERA, geeinigt. Dazu kam es, weil die Gehälter von ungelernten Arbeitern, Facharbeitern und Angestellten nicht mehr im richtigen Verhältnis zueinander standen. Mit dem ERA-Tarifvertrag sollte alles besser werden. Ein Paradigmenwechsel in der Leistungsvergütung. Der Wert Arbeit wurde gerechter definiert. Je anspruchvoller die Arbeit, desto höher das Entgelt. Dafür sorgten Entgeltgruppen mit definierten Anforderungsprofilen. Darüber hinaus wurde der Wert Gleichberechtigung durch die Vorgabe realisiert, dass jeder Beschäftigte ein Recht auf Leistungsentgelt hat. Ob am Computer vor der CNC-Maschine oder vorm Computer im Büro, vergleichbare Leistung muss unabhängig von der Methode der Leistungsermittlung zu gleichen Verdienstchancen führen. Nur konnte das neue Leistungsvergütungssystem nicht bei null anfangen. Das wäre wiederum ungerecht gewesen. Hätten doch einige Mitarbeiter von heute auf morgen weniger Geld bekommen. Leicht haben es da die Führungskräfte in diesem Land nicht, ihren Mitarbeitern die neue Gerechtigkeit in der Entlohnung über eine aufgeschobene Gerechtigkeit von Unter- und Überschreitern zu erklären. Die einen bekommen eigentlich weniger, aber genauso viel wie bisher, dafür fallen zukünftige Tariferhöhungen zunächst moderat aus. Die anderen bekommen mehr, aber nicht gleich alles. Alles klar? Alles gerecht! Schöne neue Wertewelt!
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Für die Führungskräfte kommt es aber noch dicker. Die leistungsabhängige Zulage von 30 Prozent lässt sich über drei Methoden bestimmen. Das Kennzahlensystem, die Zielvereinbarung und die Leistungsbeurteilung. Lassen sich das Kennzahlensystem und die Zielvereinbarung noch durch ein Führen über Ziele realisieren, kommt es bei der Leistungsbeurteilung zu einer Vermischung von Werten mit Zielen, was zunächst wünschenswert ist. Wenn auch im Leistungsbeurteilungsbogen als Merkmale bezeichnet, so lassen sich Effizienz, Qualität, Flexibilität und Zusammenarbeit als Werte definieren. Schließlich findet man diese Bezeichnungen regelmäßig in Leitfäden von Unternehmen. Den Werten lassen sich Ziele in Form von Kriterien zuordnen, wie beispielsweise termingerechte Arbeitsergebnisse bei Effizienz. Dass einige dieser Kriterien nicht sehr trennscharf sind und sich mehreren Werten zuordnen lassen, soll an dieser Stelle nur erwähnt sein. Das Kernproblem für Führungskräfte ist die Umsetzung einer realistischen und fairen Festlegung des Leistungsentgeltes. Zum einen stellt die Beurteilungsskala einige Werte auf die Probe. Wenn die Erwartung einer Führungskraft an ihren Mitarbeiter ist, keine Fehler zu machen, dann entspricht das der mittleren Beurteilungsstufe C: „das Leistungsergebnis entspricht dem vollen Umfang der Erwartungen“. Fragt sich nur, wie die höchste Stufe E: „das Leistungsergebnis liegt weit über den Erwartungen“ dann noch zu toppen ist. Kann man noch weniger Fehler machen als gar keine? Hier werden Werte zur Makulatur. Zum anderen stellt die Tarifforderung „15 Prozent Leistungsentgelt müssen erreicht werden können“ viele Führungskräfte vor eine unlösbare Aufgabe. Die Forderung kann dazu führen, dass der Schnitt in Abteilungen, Bereichen und Standorten von 15 Prozent zu gewährleisten ist. Individuellen Spielraum gibt es da kaum, da man erst einem Mitarbeiter etwas wegnehmen muss, bevor man es einem anderen Mitarbeiter geben kann. Sei es im eigenen Team oder zwischen Abteilungen. Im ungünstigsten Fall wird die Leistung von allen Mitarbeitern besser, gleichzeitig ist aber keine Luft für Prozente nach oben vorhanden. Dann bekommen alle das Gleiche wie im Jahr zuvor, obwohl alle mehr geleistet haben. So machen Werte doch mal richtig Sinn!
Der Wertstoffhof
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Wie bereits weiter oben erwähnt, sind die Konsequenzen bei Verletzungen bzw. Verfehlungen von Werten gravierender als bei reinen Zielvorgaben. Die Unglaubwürdigkeit und das Misstrauen gegenüber der Führung übertragen sich auf das gesamte Wertesystem in einem Unternehmen. An diesem Punkt muss man denjenigen Zynikern Recht geben, welche den ganzen Wertezirkus als Farce beschreiben, weil es wieder mal bestätigt, dass der einzige Wert, der in Wirklichkeit zählt, Geld ist.
Der Wertstoffhof Das Wertekonto Halten wir fest: Werte können nur bestätigt werden. Man kann sie nicht übererfüllen. Im Gegenteil, hält man Werte nicht aufrecht, führen sie unweigerlich zum Vertrauensverlust, von dem man sich nur langsam wieder erholt. Hier verhält es sich wie beim Verkaufen. Wenn man alles richtig macht, bleibt man über den gesamten Gesprächsverlauf im guten Kontakt mit dem Kunden, wirkt authentisch, kompetent und der Abschluss wird wahrscheinlicher. Wenn man jedoch nur einen Fehler macht, verspielt man sich schnell das aufgebaute Vertrauen und es braucht Zeit und viel Überzeugungskraft den Kunden wieder für sich zu gewinnen. Das kann eine leichtsinnige Nebenbemerkung im Gespräch sein oder das klassische Vorausrennen von Verkäufern, wenn sie Kunden zu einem gesuchten Produkt bringen wollen. Werte besitzen kein Guthabenkonto, auf dem man sich ausruhen könnte. Insbesondere Führungskräfte müssen jederzeit nach den Werten handeln und jeder Art der Verletzung konsequent nachgehen. Ansonsten entsteht bei den Mitarbeitern schnell der Eindruck, dass die Nichteinhaltung von Werten keinerlei Konsequenzen für sie hat. Sozusagen Werte ohne Wert.
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Ich darf mich vorstellen, mein Name ist Wert! Neben der Konsequenz ist die Konkretisierung von Werten ein weiterer wichtiger Aspekt an dem werteorientiertes Führen scheitern kann. Führungskräfte müssen Tag für Tag im Austausch mit ihren Mitarbeitern Unternehmenswerte in konkreten Situationen verbalisieren. Sei es in Besprechungen, in Mitarbeitergesprächen oder direkt am Arbeitsplatz. Ein Beispiel: Die ständige Anpassung des Personalschlüssels auf der Grundlage neuer Richtlinien mag bei dem ein oder anderen Mitarbeiter bereits zu Frust und Resignation geführt haben. Dass aber davon auch immer die Beweglichkeit bzw. Anpassungsfähigkeit des Unternehmens auf veränderte Rahmenbedingungen verbunden ist (s. Kapitel Globalisierung – Interdependenzmanagement), gerät schon mal schnell in Vergessenheit, weil sich die neue Arbeitssituation gefühlt verschlechtert. Wenn dann die Führungskraft den Wert „Kundenorientierung“ ins Spiel bringt, um dem Mitarbeiter ins Gewissen zu reden, wird sie nicht sehr weit kommen. Ohne die Konkretisierung des Wertes auf die spezifischen Arbeitsprozesse von Mitarbeitern ist der Wert allein für den Mitarbeiter zu abstrakt und zu weit weg von seinen aktuellen Befindlichkeiten. Denn die Bewertung von Werten ist subjektiver Natur. Der Wert mit dem stärksten Motiv gewinnt. Deshalb lösen Werte bei uns auch unweigerlich Reaktionen aus. Nur sollten es die richtigen sein und nicht der Frust über die unendliche Bearbeitung von Listen, Listen und noch mal Listen. Je besser es einer Führungskraft gelingt, Werte in laufenden Arbeitsprozesse und Anforderungen zu konkretisieren, desto weniger klafft die Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit in der Umsetzung von Unternehmenswerten. Auf diese Weise erhält werteorientiertes Führen einen zusätzlich präventiven Charakter.
Was darf es heute sein? Bei der Auswahl von Werten sind Unternehmen nicht geizig. Die besten sollten es sein, und deshalb werden auch Werte wie Loyalität, Integrität, Vertrauen und Qualität inflationär ausgewählt. Vielleicht aber auch deshalb, weil bei der Entstehung einer Wertecharta für ein Unternehmen die aktuelle Wortfrequenz von Werten in den Medien die Benennungsrate
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von Managern stark beeinflusst. Hat mal wieder ein Manager seine Spesen auf unerklärliche Weise mit Schmiergeldern verwechselt, findet man in einem anderen Unternehmen den Wert Ehrbarkeit ganz weit oben. „Wir sind ja anders!“ will man damit sagen. Berichten gemobbte Mitarbeiter über unmenschliche Zustände in Unternehmen, darf der Wert Wertschätzung nicht fehlen. „Bei uns kann man über alles sprechen!“ will man damit sagen, bis auf das Kleingedruckte natürlich. Frei nach Obelix: „Ich mag Fremde. Aber dieser Fremde ist nicht von hier!“ Originelle Wertekonstrukte findet man eher selten. Einige Unternehmen leisten sich sogar den Luxus mehrere Wertekanons für bestimmte Bereiche oder Zielgruppen, insbesondere Führungswerte, zu generieren. Nach welcher Logik und Struktur die finalen Werte letztendlich ausgewählt wurden, lässt sich nicht immer eindeutig nachvollziehen. „Die da oben haben es so entschieden!“ heißt es meistens, wenn man Mitarbeiter fragt. Grundsätzlich sollte man bei der Auswahl von Werten zwischen terminalen und instrumentellen Werten unterscheiden. Terminalwerte decken sich mit Grundwerten wie Gerechtigkeit und Freiheit, die von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung für wichtig erachtet werden. Da sie auf letzte Ziele und angestrebte Endzustände ausgerichtet sind, findet man sie vor allem in Unternehmen mit ethischen und/oder ökologischen Grundüberzeugungen. Instrumentelle Werte hingegen sind weniger universell und überdauernd. Dafür entsprechen sie mehr den Sollvorstellungen bezüglich gewünschter Handlungsweisen, welche sich in allen Organisationsformen und Unternehmenskulturen formulieren lassen. Dabei decken sie sich entweder mit persönlichkeitsnahen Kompetenz- und Selbstverwirklichungswerten, wie verantwortliches Handeln, Zuverlässigkeit und Fachkompetenz, oder beschreiben angestrebte Produkt- bzw. Dienstleistungsanforderungen, wie Qualität und Kundenzufriedenheit. Das Bilden von Wertekategorien bietet hier eine gute Entscheidungsgrundlage bei der Auswahl von geeigneten Werten für ein Unternehmen. Anstands- und Höflichkeitswerte sollten vor allem im Vertrieb und in der Kundenbetreuung thematisiert werden. Prosoziale Werte wie
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Hilfsbereitschaft und Gemeinsinn sind für Unternehmen mit breiteren Gruppenarbeitskonzepten und moderneren Organisationsformen interessant. Bürgerliche Tugenden wie Disziplin und Loyalität lassen sich hingegen in familienbetriebenen Unternehmen besser einsetzen als in Konzernen. Dafür sind Berufswerte wie Fachkompetenz und Flexibilität in Großkonzernen von Vorteil. Unternehmen sollten sich auch den Wandel von Werten bewusst machen. Einmal aufgestellte Werte können sich aufgrund von neuen Gegebenheiten ändern. Die Werteorientierung verändert sich, neue Mitarbeiter werden eingestellt – dies alles geschieht in regelmäßigen Abständen. Werte sind also nicht wie die Zehn Gebote in Stein gemeißelt. Einfluss auf Wertvorstellungen haben Konjunkturschwankungen und Krisen, aber auch kurzfristige und saisonale Bedingungen. Periodeneffekte können deshalb zu einer kurzfristigen Zunahme von Materialismus im Wertedenken führen. Den stärksten Einfluss wird jedoch der Generationeneffekt haben. Für Führungskräfte bedeutet dies, die Werteargumentation auf situative Bedingungen anzupassen. Rationalisierungsprozesse in der Wirtschaft bewirken insbesondere eine stärkere Reflexion über Werte. Deshalb sollten sich auch Führungskräfte bewusst sein, aus welchen Altersstrukturen sich ihre Teams zusammensetzen, denn bestehende Werte werden von neuen Generationen nicht mehr selbstverständlich übernommen. Was nicht heißen soll, dass die bestehenden Werte keine Gültigkeit mehr haben. Oft fehlt es eher an der Erziehung und dem moralischen Bewusstsein jüngerer Generationen. Die Daumenregel lautet somit: Unternehmenswerte können einen stärkeren universellen Charakter besitzen. Führungswerte hingegen sollten einen ausschließlich instrumentellen Charakter aufweisen. Die Werte Nachhaltigkeit oder Kontinuität eignen sich deshalb als Unternehmenswerte. „Orientierung geben“, „Entscheidungen treffen“ oder „Verantwortung übernehmen“ hingegen als Führungswerte, weil diese im Führungsverhalten konkret beobachtbar sind. Dadurch ergeben sich auch deutlich weniger Überschneidungen und Dopplungen zwischen Unternehmens- und Führungswerten, wie z. B. Qualität, Führungsqualität und Kundenzufriedenheit. Bei Bedarf können
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Führungswerte auch kurzzeitig angepasst werden. Deswegen muss man nicht gleich den Führungskanon umschreiben und neu ausdrucken. Es ist ebenfalls sehr sinnvoll, auf implizite Werte von Unternehmen oder einzelnen Abteilungen einzugehen, auch wenn diese nicht explizit aufgeführt sind bzw. für das gesamte Unternehmen gelten.
Wie viele dürfen es heute sein? Damit sind wir beim nächsten Wertekriterium, nämlich der richtigen Anzahl von Werten für Führungskräfte. Von einem einzigen Wert bis hin zu zweistelligen Auflistungen von Werten ist in Unternehmen alles zu finden. Ob eine Führungskraft mit einem einzigen Wert besser bedient ist als mit mehreren, ist zu bezweifeln. Es ist fast unmöglich, alle führungsrelevanten Zusammenhänge anhand eines Wertes festzumachen. Selbst bei Qualität, dem ultimativen Unternehmenswert, muss man in die Trickkiste greifen. Oft verstecken sich hinter einem einzigen Unternehmenswert gleichwohl mehrere, sodass man im Grunde beim Wert Qualität bereits von einer ersten Minderqualität sprechen muss. Wenn sich auch manche Assoziationen mit einem einzigen Wert recht leicht knüpfen lassen, so ist es bei den meisten ratsamer, den Wert beim Namen zu nennen, als ihn durch einen anderen Wert zu ersetzen. Verknüpfen lassen sich beide ohnehin. Gleichzeitig stärken zwei Werte die Argumentationstiefe einer Führungskraft im Austausch mit dem Mitarbeiter. Teamleader von First Recognizing Teams der Marines haben diese Probleme nicht. Da reichen eine Handvoll Leitsätze mit Werten aus, um mit den meisten Situationen fertig zu werden. „Discipline in all its forms enhances the survivability of troops“ ist einer davon und vielleicht die bessere Alternative zu Teamwork. Darunter versteht nämlich jeder etwas anderes. Fragen Sie mal Personaler, die Bewerbungsgespräche führen. Auf der anderen Seite darf man bei einer großen Anzahl von Unternehmens- oder Führungswerten davon ausgehen, dass, wie einleitend in diesem Kapitel erwähnt, entweder kein Konsens im Sinne von Prioritäten
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zustande kam, oder jedermann das einbringen durfte, was ihm schon immer am Herzen lag. Bei Ersterem ist nicht zu hoffen, dass die Werte Kooperation und Teamwork auftauchen. Bei Letzterem nahm man es mit dem Wert verantwortliches Handeln nicht so genau. Gerade bei einer großen Anzahl von Führungswerten werden in der Praxis die meisten erst gar nicht genutzt. Der Komplexitätsgrad steigt mit der Anzahl von Werten so schnell an, dass Führungskräfte beim Anspruch, alle diese Werte im Alltagskontext gezielt einzusetzen, schlichtweg überfordert sind. Eine größere Anzahl von Werten birgt zudem in sich die Gefahr, dass die Wahrscheinlichkeit eines Verstoßes größer ist. Sei es durch die Führungskraft oder durch den Mitarbeiter. Verliert eine Führungskraft die Beherrschung und lässt seinen Zorn an einem Mitarbeiter aus, so schwächt sich die Führungskraft selbst. Brisanter wird es immer dann, wenn noch andere Kollegen anwesend sind. Verheerend sind auch die Auswirkungen von Werteverstößen im Kundenkontakt. Sieht man sich beispielsweise in den Serviceabteilungen von Automobilhäusern um, so entdeckt man häufig Plakate, auf denen das Leitbild des Unternehmens abgedruckt ist, ganz im Sinne der Kundenorientierung. Wenn man diesen Wertekanon bis zur letzten Zeile gelesen hat und bis dahin noch nicht angesprochen wurde, kann man bereits den ersten Werteverstoß festhalten. Da der Mensch in diesem Fall in seinem Beurteilungsmechanismus schnell zur Generalisierung neigt, überträgt er eine Negativbewertung automatisch auf andere Wertekategorien. Den Kunden zunächst auf dem Papier zu einem Hochgefühl oder gesteigerter Skepsis zu bringen und dann zu patzen, wirkt sich wie ein Bumerang aus. Erst recht für die Führungskräfte. Damit ist der Wertezug erstmal abgefahren, und es gilt im nächsten Schritt diesen Eindruck mühsam zu widerlegen. Die richtige Anzahl von Werten gibt es wahrscheinlich nicht. Als Daumenregel könnte aber die lerntheoretische Magical Number 4 hilfreich sein. Im Durchschnitt lassen sich vier plus/minus eine Wissenseinheiten gut speichern. Ein so genannter Junk muss dabei nicht nur aus einem einzigen Wert bestehen. Wie bei Telefonnummern kann sich ein Junk auch aus
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mehreren Werten zusammensetzen. Beispielsweise lassen sich die Werte Vertrauen, Verantwortung und Verständnis gut zu den drei Vs zusammenlegen. Wenn Wertekanons auf diese Art und Weise zusammengestellt werden, sind sie für Führungskräfte im Alltag leichter abrufbar. Das macht es wiederum einfacher die jeweiligen Zielstellung oder Vorgaben mit dem entsprechenden Wert bzw. Wertejunk zu verknüpfen, um dem Mitarbeiter das Warum mitzugeben. Je besser das den Führungskräften gelingt, desto eher entwickeln sich effektive Führungsheuristiken, in denen Ziele und Werte kombiniert sind.
Mich hat ja keiner gefragt! Eine höhere Merk- und Abruffähigkeit von Werten reicht allein noch nicht aus, damit diese in der Führungskommunikation aktiv angewendet werden. Dies hängt stark davon ab, wie sehr sich die Führungskräfte mit den formulierten Werten identifizieren. Das hängt wiederum vom Grad der Beteiligung am Entstehungsprozess sowie der internen Kommunikation ab. In der Regel werden Werte in Unternehmen formal festgelegt und anschließend top-down kommuniziert. Frei nach dem Motto: „Wir sind fair, weil wir sagen, was wir wollen!“ Zwar ist dieser Kommunikationsweg zweifelsohne in der Informationsweitergabe ein sehr effizienter, jedoch kann es länger dauern bis diese Werte im Unternehmen auch gelebt werden. Zunächst müssten sie vom Management und von allen weiteren Führungsebenen getragen und konsequent vorgelebt werden. Da die mittleren und unteren Führungsebenen jedoch an der Entwicklung und Entstehung nicht beteiligt sind, müssen diese erst ins Boot geholt werden. Erst dann sollte man auf die Mitarbeiter zugehen. Dafür muss aber Raum geschaffen werden, damit sich die Führungskräfte untereinander und später auch mit ihren Mitarbeitern über die Werte austauschen können. In Wertekonferenzen könnten zum Beispiel die einzelnen Werte thematisiert und anschließend deren Bedeutung für den
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eigenen Arbeitsbereich und dessen Zielstellungen besprochen werden. Im weiteren Verlauf würden dann die Werte jährlich nach deren Umsetzungsgrad in der Abteilung oder im Team bewertet und notwendige Maßnahmen abgeleitet werden. Als Führungskraft hätte man in diesem Rahmen auch die Möglichkeit über Werte zu sprechen, die nicht in den Unternehmensleitlinien stehen, für eine Gruppe aber sehr wohl relevant sind. Damit würden auch die Werte beachtet werden, von denen Mitarbeiter geleitet werden. Will man von Beginn an die Werte der eignen Mitarbeiter in der Unternehmenskultur stärker berücksichtigen, so bietet sich ein Bottom-upProzess an. Dieser dauert länger und ist intensiver, bringt jedoch Werte zu Tage, die sonst nicht zur Geltung gekommen wären. Ein weiterer Vorteil dieser Vorgehensweise ist, dass die Werte unter Berücksichtigung der Unternehmensziele diskutiert und danach ausgewählt werden können. Methodisch gesehen ist es hier sinnvoll, das Management in die Workshops von Mitarbeitern einzubeziehen. Dieses Vorgehen schafft einen Perspektivenwechsel, für den sonst kein Platz und keine Zeit vorhanden ist. Gleichzeitig schafft es mehr Transparenz bei allen Beteiligten und verleiht dem Thema die angemessene Wertschätzung. Ob top-down oder bottom-up, über Werte muss regelmäßig gesprochen werden, um das Bewusstsein für diese aufrechtzuerhalten und mit den aktuellen Zielen abzugleichen. In der Hinsicht können Werte auch als Kontrollinstanz einen Einfluss auf Unternehmensziele haben.
Friede, Freude, Eierkuchen Wer jetzt meinen würde, die wichtigsten Aspekte von Werten als Führungsinstrument sind abgehandelt, muss sich eines Besseren belehren lassen. Das größte Problem mit Werten in Unternehmen ist deren hierarchische Struktur in der Praxis. Wer mit Werten spielt, sollte nicht der Illusion unterliegen, dass diese sich ausschließlich ergänzen und zusammen mehr ergeben als deren mathematische Summe. Wertekonflikte stehen in Unternehmen an der Tagesordnung. Teilweise hausgemacht, teilweise aber auch unumgänglich.
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Kommen wir noch einmal auf das Beispiel des Leistungsentgelts zurück. Eine Führungskraft kann hier in einem Wertekonflikt zwischen Loyalität und Integrität stehen. Die beiden Werte bieten an sich schon viel Reibungspotenzial. Im Fall des Leistungsentgelts muss sich aber die Führungskraft entscheiden, ob sie sich dem Unternehmen gegenüber loyal verhält und die Vorgabe von maximal 15 Prozent einhält oder aus Gründen der Integrität ihrem Vorgesetzten sinngemäß den Vogel zeigt und den Mitarbeiter nach der realistischeren Leistungseinschätzung bewertet. Wenn dann das Leistungsentgelt über 15 Prozent liegt, muss die Führungskraft bei der Personalabteilung antanzen. Wenn sie deutlich unter 15 Prozent liegt, stellt der Betriebsrat unangenehme Fragen. So oder so wird eine redliche Beurteilung in diesen Fällen zum Verhängnis. Noch mehr bringt sich die Führungskraft um ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie zwar die Vorgaben einhält, jedoch gemeinsam mit dem Mitarbeiter über das schwachsinnige System wettert. Hier signalisiert die Führungskraft dem Mitarbeiter weder Loyalität noch Integrität – Werte, die aber am nächsten Tag in einem anderen Kontext von der Führungskraft selbst eingefordert werden. Fordert nämlich dieselbe Führungskraft Flexibilität zu Überstunden und Samstagsarbeit ein, könnte das wiederum einige Mitarbeiter mit dem Wert Familie in Konflikt bringen. Nun erwartet aber die Führungskraft von ihrem Mitarbeiter Loyalität und Engagement auf Kosten der Rolle als Mutter oder Vater. Man stelle sich jetzt noch vor, das Ganze spielt sich in einem familiengeführten Unternehmen ab. Wie will man hier noch mit Werten führen, wenn man nicht einen Wert über einen anderen Wert stellt. Eine zusätzliche Herausforderung ist, dass aufgrund von globalen Veränderungen in Unternehmen Wertekonflikte entstehen können, die es vorher noch nicht gab. Aufgrund der Finanzkrise 2008/2009 haben sich Manager deutscher Automobilkonzerne auf noch nie da gewesene Kooperationen geeinigt. So sollen der 7er BMW und die S-Klasse von Mercedes denselben Hybrid-Antrieb besitzen. In der Praxis bedeutet das, dass Ingenieure, die sich bis dato einen verbitterten Wettkampf geliefert haben, ihr Know-how austauschen. Erst jahrelang Katz und Maus spielen und jetzt zusammenarbeiten? Kooperation ja, aber nicht so eine. Davon war nie die Rede!
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Interessant sind auch Wertekonflikte zwischen ökonomischen und ethischen Werten. Sollten faire und biologische Produkte auch in Tankstellen vertrieben werden, wo doch bekannt ist, dass Mineralölkonzerne Menschen und Länder schamlos ausbeuten? Was sagen dazu andere Abnehmer, die für die gleichen Werte einstehen? Am Ende steht die Führungskraft, welche ihren Mitarbeitern vermitteln soll, dass es um das Wohle des Unternehmens und damit jedes Einzelnen geht. Wenn dann aber der Standort zugunsten eines anderen, noch lukrativeren Standortes geschlossen wird, gehen die Menschen auf die Straße, weil mit Werten ein gefährliches Spiel gespielt wird. Mal schlägt der Ober den Unter. Dann schlägt wieder der Unter den Ober, weil Unter jetzt Ober geworden ist.
Fazit Menschen wollen Dinge, die gut und wertvoll sind. Jedoch sind Werte nicht automatisch gut und wertvoll, nur weil wir sie wollen. Unsere Bewertungen sind subjektiver Natur und verändern sich mit der Zeit und den Rahmenbedingungen. Will ein Unternehmen Werte als Instrument zur Führung einsetzen, so muss man sich genau überlegen, welche Werte für das Unternehmen die richtigen sind, wie viele es braucht, in welcher Hierarchie sie zueinander stehen und wie man diese von Beginn an kommunizieren sowie nachhalten möchte. Vor allem muss man sich aber bewusst sein, dass sich Menschen mit Werten allein auf Dauer nicht führen lassen. Es dürfen nicht die gleichen Fehler wiederholt werden, die in der Vergangenheit mit anderen Managementinstrumenten gemacht wurden. Die globale Welt ist viel zu komplex geworden, als dass man es sich leisten und mit nur einem Führungsinstrument schaffen könnte. Und wer es sich mit Werten verscherzt, bringt andere Werte ins Spiel, die eine andere Qualität an Konsequenzen mit sich bringen. Die Lösung klingt einfach und ist doch zugleich anspruchvoll. Nur eine sinnvolle Integration von Werten und Zielen mit klaren Handlungsanweisungen schafft es, in der Führung von Unternehmen und Mitarbei-
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tern Lösungen für komplexe Problemstellungen und Aufgaben zu generieren. Ein Management by X (MbI, MbO und MbV), welches immer handlungsfähig bleibt, weil es im richtigen Moment die richtige Führungsstrategie und Dosierung liefert, ohne den Anspruch zu haben, dass eines der Managementinstrumente das einzig Wahre ist.
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Laut einer Umfrage des Great Place to Work Institute im Jahr 2010 ist jeder zweite Arbeitnehmer in Deutschland dazu bereit, bei gleichen Verdienstmöglichkeiten den Arbeitgeber zu wechseln. Da mit 45 Prozent knapp die Hälfte der 1000 befragten Arbeitnehmer zwischen 18 und 65 Jahren ihren derzeitigen Arbeitgeber als sehr gut bewertet, erstaunt dieses Ergebnis zunächst nicht. Was Unternehmen jedoch hellhörig machen sollte, ist die Tatsache, dass nur jeder fünfte Befragte seinen aktuellen Arbeitgeber als mäßig oder schlecht beurteilt. Das wiederum bedeutet, dass eine nicht gerade kleine Anzahl von Arbeitnehmern die latente Bereitschaft zum Wechseln zeigt, obwohl beim aktuellen Arbeitgeber unterm Strich alles passt oder sogar als gut beurteilt wird. In Anbetracht von Fachkräftemangel und Wettbewerbsdruck keine guten Aussichten für Unternehmen. Ein noch dramatischeres Bild vermittelt der Engagement Index 2009 des Gallup-Instituts (2010, dpa). Eine mittlerweile stark angestiegene Anzahl von Mitarbeitern hat ihren Job mehr als satt. Ganze 23 Prozent der Arbeitnehmer haben bereits innerlich gekündigt, 66 Prozent machen nur noch Dienst nach Vorschrift. Nach dieser Studie sind es also gerade einmal elf Prozent der Mitarbeiter, die sich ihrem Unternehmen stark verbunden fühlen. Sieht man sich die Ergebnisse beider Befragungen an, so wird man feststellen müssen, dass es für ein Unternehmen einfach nicht mehr ausreicht einfach „nur“ gut zu sein. Sehr gut muss es sein, sonst ist ein Mitarbeiter schnell woanders, beispielsweise bei der Konkurrenz. Und wenn ein Unternehmen nicht einmal mehr selbst ausbildet, muss es tief in die Tasche greifen, um an geeignetes Fachpersonal zu kommen. Die aufgeführten und weitere ökonomische Faktoren sind die Gründe dafür, warum das Thema Mitarbeiter-Commitment in den letzten Jahren so an Bedeutung gewonnen hat. Mitarbeiter an das Unternehmen zu S. Lesch, Psychoblasen in der Wirtschaft, DOI 10.1007/978-3-8349-6449-6_3, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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binden, das ist zu einer strategischen Aufgabe von Unternehmen geworden. Gute Arbeitsbedingungen allein genügen schon lange nicht mehr (zumindest gilt das für den Großteil der westlichen Industrieländer). Seit der Industrialisierung haben sich das Menschenbild, das Organisationsverständnis und die Arbeitskonzepte der Arbeits- und Organisationspsychologie weiterentwickelt und in den Unternehmen niedergeschlagen. Nach Ulich (2001) starteten wir in der Zeit der Industrialisierung mit dem Economic Man, der als ineffizient und verantwortungsscheu galt und nur durch Geld zu motivieren war. Kopf- und Handarbeit wurden voneinander getrennt und die Arbeitsteilung im Sinne „one best way“ vorgenommen (Taylorismus). In den 30er Jahren entwickelte sich der Mitarbeiter weiter zum Social Man, der sozial motiviert ist und dessen Verhalten von den Normen seiner Gruppe mitbestimmt wird. Gruppendynamik und Teamarbeit flossen somit in das Organisationsverständnis von Unternehmen. Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre reichte es nicht mehr, dass sich der Mitarbeiter „nur“ wohl fühlt. Das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung und Anatomie brachte den Self-actualizing Man hervor und mit ihm erweiterte Arbeitskonzepte wie Teilautonome Arbeitsgruppen (TAGs). Dieses Menschenbild war jedoch immer noch unzureichend, weshalb sich schon bald der Complex Man herauskristallisierte, auf den individualisierte Arbeitskonzepte zugeschnitten werden müssen, selbstverständlich mit flachen Hierarchien. Für den Complex Man muss sich ein Arbeitgeber im 21. Jahrhundert schon mehr einfallen lassen als „gute Arbeitsbedingungen“. Nur noch in Zeiten der Rezession ist dem Arbeitnehmer ein halbwegs sicherer Arbeitsplatz etwas wert. Da macht man als Complex Man schon mal eine Ausnahme, zumindest bis zum nächsten Aufschwung.
Wer A sagt muss auch B sagen? Ein Mitarbeiter, der sich „committet“, handelt aus Überzeugung. Das bedeutet, dass ein Mitarbeiter eine Selbstverpflichtung ausspricht und danach sein Handeln ausrichtet. Das wiederum erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass der Mitarbeiter in einem Unternehmen ein bestimmtes Verhalten regelmäßig zeigt. Spricht ein Mitarbeiter seine Selbstverpflichtung sogar öffentlich aus, verstärkt sich seine Verhaltensbereitschaft, da
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er ja nicht blöd dastehen will, wenn es hart auf hart kommt. Unternehmen sehen es deshalb natürlich gerne, wenn sich ein Mitarbeiter dazu verpflichtet, sich zum Beispiel mit den Werten und Zielen eines Unternehmens zu identifizieren. Wer sich den Zielen und Werten eines Unternehmens gegenüber verpflichtet fühlt, muss bereit sein, sich für ein Unternehmen im erheblichen Maß zu engagieren. Dabei reicht es nicht aus, im Bewerbungsgespräch den starken Wunsch zu äußern, Mitglied einer Organisation zu werden. Dieser Wunsch muss sich durch das gesamte Arbeitsleben des Mitarbeiters hindurch auch zeigen. Aber wie kann man als Unternehmen das Commitment seiner Mitarbeiter gewinnen oder besser noch steuern? Dem Kampf gegen den Klimawandel haben sich auch viele Menschen angeschlossen, aber wenn es plötzlich um persönliche, konkrete Einschränkungen geht, z. B. Abgaben leisten, auf Flugreisen verzichten, kühlt sich die globale Erwärmung schnell wieder ab und es weht ein frostiger Wind. Schließlich geht es in Unternehmen nicht darum Automatismen zu erhalten, sondern Mitarbeiter immer wieder zu überdurchschnittlichen Leistungen zu motivieren und dabei gleichzeitig, auch in schlechten Zeiten, an das Unternehmen zu binden. Wie sehr aber kann sich ein Mitarbeiter überhaupt an ein Unternehmen binden? Als Verbraucher soll ich mich doch ohnehin schon in nahezu allen Lebensbereichen an ein Unternehmen oder kooperierende Unternehmensverbünde binden: an den Supermarkt, die Tankstelle, die Apotheke, den Baumarkt oder die Hotelkette. Bonusprogramme wie Payback- oder Deutschland-Karte binden mich an bestimmte Unternehmen, weil ich in den Genuss von Rabatten komme und Zugang zu Prämien habe. Mitarbeiter nehmen sich das gleiche Recht heraus wie Kunden – nämlich das Recht zu wechseln. Genauso wie ein Kunde mehrere Bonuskarten besitzen kann, so zeigen sich auch viele Mitarbeiter grundsätzlich unternehmensunabhängig und damit wechselfreudig. Wussten Sie, dass die meisten Zugriffe auf offene Stellen in Internet-Jobbörsen montags zu geregelten Arbeitszeiten stattfinden? Angesichts der zu Beginn genannten Befragungsergebnisse wundert mich das nicht! Eine besonders wechselwillige Spezies, welche die Zugriffe auf InternetJobbörsen deutlich mitbestimmt, sind Führungskräfte. Eine repräsentati-
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ve Umfrage von Innofact (2010, dpa) unter ca. 500 Managern ergab, dass 58 Prozent der Führungskräfte in der nächsten Zeit auf jeden Fall die Position wechseln wollen oder zumindest die Augen nach einer neuen Stelle offen halten. In den unteren Ebenen ist die Wechselbereitschaft mit 62 Prozent sogar etwas höher als in den obersten Ebenen mit immer noch 51 Prozent. Hauptmotiv bei drei Vierteln der Wechselwilligen ist der Wunsch nach einer besseren Position oder nach mehr Gehalt. Wenn also Commitment eine „innere“ Haltung bei uns Menschen ist, dann lässt sich damit auch die Einstellung von Mitarbeitern erklären, die sich immer zu dem committen, wo sie den größten Vorteil bzw. den größten Nutzen für sich selbst ziehen können. Wer A sagt, muss eben auch B sagen!
Bindung an drei seidenen Fäden Commitment lässt sich auf verschiedenen Ebenen beschreiben. Eine Unterscheidung ist die Aufteilung in affektive, normative und abwägende (rationale) Ebene. Das hilft die „Bindungsmotive“ von Mitarbeitern besser zu beschreiben und für Unternehmen transparenter zu machen. Mitarbeiter mit einer starken emotionalen Bindung (affektive Ebene) bleiben einem Unternehmen vorwiegend treu, weil sie es „von Herzen“ möchten. Unternehmen, denen man dieses Potenzial zuspricht, sind insbesondere jene, die auf eine lange Tradition blicken oder eine emotionale Marke bzw. entsprechende Produkte vorweisen können. Das sind zum Beispiel einige Konzerne, Automobil- und Sportartikelhersteller, Hersteller von Lifestyle-Produkten oder auch Erfrischungsgetränken. So lobt sich ein bekanntes Unternehmen aus der Getränkebranche selbst, dass „fast“ keine Motivationsprogramme nötig sind, weil die Überzeugung von den Produkten und der Marke bei jedem Mitarbeiter so groß ist, dass immer eine hohe Leistungsbereitschaft gegeben ist. Alle Achtung! Da kann das Budget im Personalbereich klein ausfallen. Aber nicht nur die Leistungsbereitschaft, auch die hier behandelte Identifikation mit dem Unternehmen wird über eine positive Bewertung der Unternehmensmarke, der Produkte oder Dienstleistungen beeinflusst. Die Mitarbeiter trinken oder fahren eben ausschließlich die Hausmarke oder heißen zum Beispiel Siemensianer.
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Was machen aber Unternehmen, deren Produkte, Dienstleistungen oder Geschäftspraktiken in der Gesellschaft kritisch gesehen werden? Kein Problem, man generiert einen Lebensstil oder Normen, mit denen sich die Mitarbeiter identifizieren können. Gute Beispiele findet man im Lebensmittelhandel und in der Tabakbranche. Ob diese Mitarbeiter eine ähnlich starke Verbundenheit zu ihrem Unternehmen entwickeln, wie es Mitarbeiter mit extrem positiver emotionaler Ladung tun, kann den Unternehmen zunächst egal sein. Die Art der Verbundenheit zum Unternehmen entsteht hier vorwiegend durch die Akzeptanz der Werte bzw. Ziele, die das Unternehmen verfolgt (normative Ebene). Damit ist diese Bindung weniger produkt- bzw. markenbezogen. Mitarbeiter, die diese Form der Selbstverpflichtung für sich finden, orientieren sich dann entweder an Unternehmenswerten der Zusammenarbeit wie Offenheit und Toleranz oder an gesellschaftlichen Bedürfnissen, beispielsweise verantwortungsvollem und nachhaltigem Umgang mit Ressourcen (Mineralölkonzern Total: „Unsere Energie ist Energie für Sie.“). Das Handeln kann daran ausgerichtet werden, weil die Normen vorgeben, was man tun soll. Die dritte Ebene der Bindung an ein Unternehmen fällt auf den ersten Blick nüchtern aus. Mitarbeiter binden sich an Unternehmen wegen des Gefühls von Beständigkeit bzw. Kontinuität. Auf dieser rationalen Ebene des Commitments binden sich Mitarbeiter an ein Unternehmen, weil sie durch die Bindung Sicherheit verspüren oder schlichtweg der Meinung sind, es mehr oder weniger tun zu müssen. Denn: Manche Menschen sind einfach zu träge aus eigenem Antrieb zu wechseln, sogar, wenn sich die Rahmenbedingungen im Unternehmen verschlechtern. Suchende Unternehmen sind hier aber auch recht einfallsreich. Umzugskosten, Wohnungssuche, Kinderkrippe – kein Problem! Auf welcher Ebene sich ein Mitarbeiter auch primär an ein Unternehmen bindet, eine Rolle spielen alle Ebenen, denn der Mangel an einer Bindungsform kann den Ausschlag dafür geben, dass ein Mitarbeiter letztlich wechselt.
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Egal also, ob sich ein Mitarbeiter primär an ein Unternehmen bindet, weil er es affektiv will, sich normativ verpflichtet fühlt oder es nach Abwägung tun muss, auf die Dauer sollten Unternehmen nicht nur auf eine Commitment-Karte setzen, sondern versuchen, ihre Mitarbeiter auf allen Ebenen anzusprechen. Schließlich ist es das elementare, strategische Ziel eines Unternehmens, die Marke, die Produkte, die Ziele, die Werte und die Kultur zu festigen und weiterzuentwickeln. Es hat schon so manches Unternehmen die Existenz gekostet, sich auf eine renommierte bzw. bekannte Marke oder von Grund auf positiv geladene Produkte verlassen zu haben. Können Sie sich noch an die Glanzzeiten von Photo Porst erinnern? Das „größte Photohaus der Welt“ wurde zunächst durch den frühen Versandhandel in den 30er Jahren und später in den 70er Jahren durch den Ausbau der Ladenkette bekannt. Der Glanz verblasste jedoch und die Kundenorientierung wurde verspielt, sodass die Photo Porst AG den großen Umbruch im Fotomarkt nicht überlebte und schließlich im Jahr 2002 die Insolvenz anmeldete. Ebenfalls ist es fatal zu glauben, dass man mit bestimmten Produkten oder mit der Branche nicht Punkten kann. Hätten Sie etwa 2001 gedacht, dass der iPod zum Verkaufschlager wird oder die Kunstbranche zu den aktuellen Zukunftsbranchen gehören würde? Die Discounter-Welt hat sich beispielsweise nicht nur im Lebensmittelbereich erfolgreich durchgesetzt, sondern auch in der Textilbranche (kik). Das Image eines Unternehmens kann sich ebenfalls ändern, ohne dass gleich die Unternehmenswerte aufgegeben werden müssen. Ein gutes Beispiel ist hier Edeka, das sein Image in „Wir lieben Lebensmittel“ aufpoliert hat und sich vom Billig-Image der Discounter durch hochwertig gestaltete Einkaufscenter sowie ein breiteres Sortiment abhebt. Das Commitment von Mitarbeitern allein durch leistungsorientierte Einkommen, berufliche Weiterentwicklung und Beteiligung am Geschäftserfolg zu honorieren, wird ebenfalls auf Dauer nicht funktionieren, weil das schlichtweg zu teuer ist. Diese Versprechen geben auch andere Unternehmen, und Unternehmen, bei denen die Mitarbeiter stark am Unternehmenserfolg beteiligt sind, fahren nicht jedes Jahr ein Rekordjahr ein.
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Einige dieser Unternehmen sind trotz des Beteiligungskonzeptes von der Bildfläche verschwunden. Besondere Erwähnung sollte hier noch das normative Commitment finden, weil sein Vorhandensein einen zusätzlichen Sekundärgewinn mit sich bringt: In Studien konnte nachgewiesen werden, dass eine starke normative Verpflichtung bei Mitarbeitern deviantes und kontraproduktives Verhalten am Arbeitsplatz reduziert. Unerlaubtes Surfen im Internet (Cyberloafing), Zeitdiebstahl oder auch Korruption kann mit einem ausgeprägten normativen Commitment am effektivsten bekämpft werden, ohne ständig an der Formalisierungsschraube in Dienstvereinbarungen drehen zu müssen. Vergessen sollte man hier aber auch nicht, dass beim normativen Commitment eines Mitarbeiters sicherlich auch Persönlichkeitsmerkmale und Sozialisierungsprozesse eine Rolle spielen, die aber im Personalauswahlprozess beleuchtet werden können. Wie auch in anderen Bereichen gilt in Unternehmen beim Thema Bindung von Mitarbeitern das Motto „Die Stärken weiterentwickeln und an den Schwachstellen arbeiten!“. Ob affektive, normative oder abwägende Ebene, Bindung von Mitarbeitern findet auf allen Ebenen statt.
Spiel, Satz und Sieg für die Familie Familienfreundlichkeit gehört immer öfter zur Strategie von Unternehmen, um Fachkräfte zu binden. Das ist sinnvoll, weil so ein Kind über viele Jahre betreuungsbedürftig ist. Das aktuelle Resümee des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln (2010), das im Auftrag des Bundesfamilienministeriums und der Robert-Bosch-Stiftung den „Unternehmensmonitor Familienfreundlichkeit 2010“ erstellt hat, lautet: Familienfreundlichkeit ist ein Bestandteil für den Erfolg eines Unternehmens. Nahezu 80 Prozent aller Unternehmen sehen Familienfreundlichkeit als wichtig an, und fast jedes fünfte Unternehmen geht davon aus, dass dieses Thema in den nächsten Jahren noch mehr an Bedeutung gewinnen wird. Schon heute bietet jedes zehnte Unternehmen 13 oder noch mehr Angebote zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie an.
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13 und mehr Angebote? Und es wird noch mehr getan? „Ja um Himmels willen, wohin soll das noch führen?“, das wird sich so manche Führungskraft fragen. „Meine Leute stehen mir jetzt schon nicht jeden Tag zur Verfügung! Es gibt keinen Tag in der Woche, an dem nicht irgendeiner meiner Mitarbeiter zu Hause bleibt. Manche sind sogar nur drei Tage im Büro, weil der Rest von zu Hause erledigt wird.“ Ein deutsches Unternehmen, das eine Namensähnlichkeit zur oben genannten Stiftung besitzt, bietet innerhalb des Konzerns mittlerweile über 100 Arbeitszeit-Modelle, welche regionale Besonderheiten aufweisen und sich an den individuellen Bedürfnissen der Mitarbeiter orientieren. Für mich klingt das eher wie ein Tarif-Dschungel. Wenn man dann noch von Mitarbeitern hört, dass sie nicht mehr auf den zusätzlichen FamilienFreiraum verzichten wollen, muss man wirklich davon ausgehen, dass für einen längeren Zeitraum eine Rückkehr zur Vollzeitstelle nicht geplant ist. Was Führungskräfte wohl dazu sagen würden? Interessanterweise wird die Familienfreundlichkeit von Unternehmen unterschiedlich instrumentalisiert. Für die einen dient sie vor allem als Marketinginstrument und zur Imagepflege, für andere steht die Personalentwicklung mehr im Vordergrund. Einige Unternehmen wiederum sehen in FamilienTeilzeit- oder Job-Sharing-Programmen eine elegante Möglichkeit Entlassungen zu vermeiden und bei Auftragsschwankungen entgegenzusteuern. Was sind das eigentlich für Botschaften, die da gesendet werden? Etwa Win-win-Situationen? Einige Unternehmen wollen anscheinend nur ein weiteres „Siegel“ auf ihrer Homepage platzieren, ohne aber den Ansprüchen der Mitarbeiter wirklich nachkommen zu wollen. Beim Durchlesen von Stellenbeschreibungen muss ich mich dann schon fragen, wie man Flexibilität und außergewöhnliche Leistungsbereitschaft mit Familien-Freiraum konfliktfrei verbinden will. Unternehmen, die unter dem Thema „Beruf und Familie“ Personalentwicklung verstehen, brauchen wohl weniger in Methodenund Sozialkompetenzen ihrer Mitarbeiter zu investieren, weil diese Kompetenzen bereits intensiv in den eigenen vier Wänden trainiert werden. Die restlichen Unternehmen sehen über „Beruf und Familie“ eine weitere Möglichkeit Personalkosten einzusparen.
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Oder denken Sie etwa, dass jemand in Teilzeit tatsächlich nur 24 oder 30 Stunden arbeitet? Studien zeigen auch, dass speziell Väter länger arbeiten, weil das Bedürfnis nach finanzieller Sicherheit größer ist. Wird nicht etwa mit Home-Office erst recht Berufs- und Privatleben miteinander vermischt? Ist es nicht reines Kalkül, wenn wir seit der Dotcom-Blase (geplatzte Spekulationsblase im Jahr 2000, bei der die Kurse von überbewerteten Technologieunternehmen am „Neuen Markt“ rasant abstürzten) ohnehin von einer in die nächste Krise stolpern und deshalb ständigen Auftragsschwankungen und Weltwirtschaftskrisen ausgesetzt sind? Für welche Zielgruppe kann Familienfreundlichkeit überhaupt ein Kriterium sein? 100 Programme hin oder her, kommt Teilzeit überhaupt in Frage, wenn ich meinen Weg nach oben machen will? Gewisse Karriereanforderungen kann man dann nämlich nicht mehr erfüllen, und für eine bestimmte Zeit muss man anderen den Vortritt lassen. Teilzeit ist sicherlich auch für einkommensschwache Haushalte keine Option. Beruf und Familie, dieses Thema darf nicht von Unternehmen instrumentalisiert werden, um Unternehmensinteressen oder Strategien unter einem Deckmantel zu realisieren. Viele Arbeitgeber sind schon damit zufrieden, wenn nicht dauerhaft Überstunden nötig sind und am Wochenende nachgearbeitet werden muss, weil die Arbeit anders gar nicht zu schaffen ist. Da bleibt auch mehr Zeit für die Familie übrig.
Commitment als Allheilmittel Wenn das mit dem Commitment funktioniert, dann haben Unternehmen deutlich weniger Fehlzeiten, eine geringere Fluktuation, niedrigere Kosten, und die Geschäftsleitung kann sich über eine konsequentere Umsetzung der Unternehmensstrategie freuen. Ist das Commitment also ein Allheilmittel? Mitnichten! Insbesondere die Arbeitszufriedenheit und die Einbindung von Mitarbeitern (Involvement) haben eine ähnliche Funktion wie das Commitment und weisen ebenfalls Zusammenhänge mit Indikatoren wie Fluktuation und Fehlzeiten von Mitarbeitern auf. Unterschiede gibt es in der spezifischen Ausrichtung der Merkmale. Involvement ist stärker auf die Identifikation und Motivation von Mitarbeitern ausgerichtet, die durch Entscheidungsprozesse und Ergebnisbetei-
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ligungen im Unternehmen gefördert werden. Eine von den Mitarbeitern wahrgenommene starke Beteiligung führt so zu besseren Arbeitsergebnissen und reduziert Kontrollkosten. Aufgrund der Beziehung zu organisatorischen Regelungen in Unternehmen ergibt sich hier eine besondere Verbindung zum normativen Commitment. Auch die Arbeitszufriedenheit weist trotz unterschiedlicher Facetten (siehe Kapitel Motivation) die höchste Beziehung zur Arbeit selbst auf und ist nicht wie das Commitment von globaleren, organisationalen Merkmalen wie Marke, Größe oder Organisation eines Unternehmens abhängig. Geht es um die Effektivität von Unternehmen, so hat Denison (1990) Kulturfaktoren bestimmt, die sich empirisch bewährt haben. Wer hier Commitment als Begriff erwartet, liegt leider falsch. Jedoch schwebt der Begriff Commitment über allen Merkmalen. Es sind zum einen eine hohe Übereinstimmung (Consistency) in Normen und Werten, eine starke Beteiligung (Involvement) in Form von Identifikation und Motivation, eine klare Sinnhaftigkeit und Bedeutung in Sinne der Bestimmung (Mission), die übrigens über formale Ziele hinausgeht, und zuletzt eine hohe Anpassungsfähigkeit (Adaptability), die aufgrund der Dynamik in unserer Wirtschaft und Gesellschaft notwendig ist. Hohe Ausprägungen in allen vier Merkmalen zeigen bedeutsame Zusammenhänge mit Umsatzwachstum, Qualität oder auch Arbeitszufriedenheit. Commitment ist ein komplexes Konstrukt, das mit anderen arbeits- und organisationsspezifischen Merkmalen zusammenhängt, die alle etwas über die Qualität der Beziehung zwischen den Mitarbeitern und dem Unternehmen selbst aussagen. Commitment ist daher nicht isoliert oder sogar als universales Merkmal zu sehen. Wer sich zu sehr auf das Merkmal Commitment verlässt, vernachlässigt vor allem tätigkeitsbezogene Aspekte der Arbeit selbst und damit individuelle Bedürfnisse von Mitarbeitern.
Commitment kann nicht schaden Binden sich Mitarbeiter an die Zielstellungen und Entscheidungen eines Unternehmens, so wird das als positive Eigenschaft gewertet. Durch die Verpflichtung wird es ja wahrscheinlicher, dass Mitarbeiter dauerhafte Verhaltensweisen zur Zielerreichung zeigen.
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Was aber, wenn in Folge von Korrekturen oder neuen Entwicklungen die einstigen Vorgaben oder die ganze Marschroute nicht mehr in Relation zu den ursprünglichen Zielen und Entscheidungen stehen, aber von der Unternehmensführung erneut das Commitment der Mitarbeiter gefordert wird. Fällt es dann den Mitarbeitern ebenso leicht wie der Geschäftsführung Eingeständnisse zu machen? Was, wenn Commitment an dieser Stelle eskaliert? Die negativen Seiten von Commitment könnten zu Tage treten, wenn in Folge von Veränderungen die Notwendigkeit besteht, das bisherige Commitment durch ein neues zu ersetzen. Jedoch kann es bei Mitarbeitern dazu führen, dass diese ihr altes Commitment nicht korrigieren wollen. Vielleicht auch, weil sie es schon des Öfteren korrigieren mussten, etwa bei der Einführung neuer Produktpaletten, eines anderen Produktdesigns oder geänderter Organisationsstrukturen und Arbeitsprozesse. Wenn Commitment sich bei Mitarbeitern quasi festbeißt, kann ein Unternehmen schon mal auf der Stelle treten. Im Extremfall kann von Mitarbeitern ein Standpunkt sogar aufrechterhalten werden, obwohl die ursprüngliche Grundlage dafür nicht mehr existiert, Beispiel: 35Stunden-Woche. Weil in der Zwischenzeit von den Mitarbeitern zusätzliche Argumente entwickelt wurden, welche die 35-Stunden-Woche stützen, kann das Commitment weiterhin vertreten werden. Andere Beispiele finden sich bei Veränderungen von Dienstvereinbarungen in Unternehmen, etwa bei der Gleitzeitregelung oder der systematischen Leistungsbewertung. Commitment kann zwei Gesichter haben. Eines committet sich zu jeder Neuausrichtung und sagt zu allem Ja, das andere verteidigt eine einmal eingenommene Verpflichtung ohne Wenn und Aber. Beide Formen sind Extreme, letztere wird in der Praxis häufiger anzutreffen sein. Mitarbeiter hingegen, die sich für einen zunächst eingeschlagenen Weg committen und grundsätzlich die Bereitschaft zeigen, eine Veränderung von Unternehmensstrategien oder Zielen mitzutragen, wenn diese plausibel erklärt werden, sind die wertvollsten Mitarbeiter eines Unternehmens. Nicht nur, weil sie sich mit dem Unternehmen entwickeln, sondern gleichzeitig als Kontrollinstanzen von Managemententscheidungen dienen. Eine Voraussetzung dafür sind vielfältige Feedbackschleifen innerhalb des Unternehmens, vorwiegend über die Führungskräfte.
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Der Bindungs-Ratgeber Keep self-consistent – as long as it makes sense! Der Mensch strebt in der Regel danach, sich in Übereinstimmung zu früheren Entscheidungen zu verhalten bzw. an einem einmal eingenommenen Standpunkt festzuhalten. Das gelingt uns zwar nicht immer, aber erfolgreiche Verhaltensweisen behalten wir eher als weniger erfolgreiche. Dadurch entsteht eine gewisse Konsistenz in unserem Handeln, was wiederum Sicherheit vermittelt, weil man sich daran orientieren kann. Wer sich konsistent verhält, dem werden auch positive Eigenschaften wie Zielstrebigkeit und Verlässlichkeit zugeschrieben. Dann heißt es: „Dieser Mitarbeiter hat Charakter, weil er so handelt, wie er denkt.“ Diese Art der Beobachtung trifft aber nicht zu einhundert Prozent zu. Zwar ist die im Laufe der Zeit und über verschiedene Beobachter entstehende Beurteilung von Persönlichkeitsmerkmalen meistens konsistent, weniger jedoch die situationsübergreifende Beurteilung von konkreten Verhaltensweisen. Diese Beobachtung nennt man auch das Konsistenzparadox. Zum Beispiel in der Kommunikation beim Senden von „Mixed Messages“ (Argyris, 1988). Führungskräfte tun das gern, wenn sie zu ihren Mitarbeitern sagen: „Die Aufgabe ist in diesem Zeitraum eigentlich nicht zu schaffen, aber Sie machen das schon!“ (Siehe auch Kapitel Kommunikation.) Auffällig wird dieses Verhalten erst bei konsistenter Inkonsistenz, nämlich wenn Führungskräfte ihren Mitarbeitern ständig Zusicherungen machen, aber dann doch keine einhalten oder sogar immer das Gegenteil davon machen. Was Commitment anbelangt, so ist es daher aus Sicht von Unternehmen erstrebenswert, dass Führungskräfte und Mitarbeiter die Standpunkte einnehmen, die vom Unternehmen gewünscht sind und gleichzeitig im Einklang mit den Überzeugungen oder Einstellungen der Mitarbeiter stehen. Denn dann sind auch diese Mitarbeiter eher bereit den Aufgaben und Herausforderungen nachzukommen, die von ihnen erwartet werden. Muss aber ein Mitarbeiter Verhaltensweisen zeigen, die seinen eigenen Absichten widersprechen, dann entsteht bei ihm eine kognitive Dissonanz (Festinger, 1957). Kognitive Dissonanz kommt aus der Sozialpsy-
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chologie und ist ein innerer Spannungszustand, der entstehen kann, wenn mehrere Kognitionen (z. B. Einstellungen, Wünsche oder Absichten) nicht miteinander vereinbar sind und das eigene Verhalten als inkonsistent wahrgenommen wird. Entscheide ich mich für eine Handlung, und es bleiben genügend Argumente für eine nicht gewählte Handlung bzw. meine Handlung widerspricht meinen Einstellungen (dissonante Informationen), dann empfinde ich das als unangenehm. In unserem Kopf entsteht das Gefühl, dass man vielleicht doch nicht so eine kluge Entscheidung getroffen hat oder einfach eine Handlung daneben war. Ein gezeigtes Verhalten oder ein ausgesprochener Satz lässt sich dann aber nicht mehr rückgängig machen. Also was tun, um die innere Spannung abzubauen? Entweder suchen wir nach „konsonanten“ Argumenten für das gezeigte Verhalten (z. B. Rechtfertigung oder Kompensation) und ändern damit nachträglich unsere Einstellung, oder wir ändern unser Verhalten, um es mit unserer ursprünglichen Einstellung in Einklang zu bringen. Verdrängung ist auch ein probates Mittel, Hauptsache die negativen Gefühle hören auf. Auf Dauer muss aber ein Mitarbeiter seine eigenen Einstellungen und Verhaltensweisen ständig über Bord werfen. Wenn dann noch Krisenzeiten hereinbrechen, wird es für den Mitarbeiter schwieriger, das bisherige Commitment nicht nur zu zeigen, sondern auch noch etwas obendrauf zu legen. Unternehmen sollten sich deshalb genau überlegen, welche Verpflichtungen von Mitarbeitern eingegangen werden sollen. Von großer Relevanz sind hier Unternehmensstrategien. Ein gutes Beispiel dafür ist Mobilität. In einer Denkschrift des Weltwirtschaftsforums zur Mobilität haben über 80 Experten aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft Unternehmen darauf hingewiesen, dass Mobilität in der Zukunft an Bedeutung gewinnen wird und deshalb u. a. ein internationales Mitarbeitermanagement mit Rotationsprogrammen notwendig ist. Die Studie mit dem Titel „Stimulating Economy Through Fostering Talent Mobility“ (2010) wurde mit Hilfe der Unternehmensberatung Boston Consulting Group durchgeführt und ist sicherlich auch für Unternehmen interessant, die ein bundesweites Netzwerk von Standorten besitzen. Verpflichten sich Mitarbeiter von Beginn an zur Mobilität, also auch Auszubildende, wird damit ein riesiger Schritt in eine strategische Personalplanung gemacht, und böse Überraschungen bleiben weitestge-
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hend aus. Nebenwirkungen kann es aber trotzdem geben, da ein Unternehmen auch einige qualifizierte Bewerber oder Mitarbeiter verlieren kann. Für das gesamte Unternehmen sichert aber die Mobilitätsfrage eine effizientere und flexiblere Personalplanung, und viele Mitarbeiter ziehen für sich ebenfalls einen großen Nutzen für die persönliche und berufliche Weiterentwicklung. Mitarbeiter sollen aber nicht den Eindruck bekommen, dass Commitment eine Alibifunktion hat, die man in regelmäßigen Zyklen, wie zum Beispiel jährlichen Mitarbeitergesprächen, ausspricht und bekräftigt. Das ist ein weiterer Grund, warum man Commitment in Unternehmen nicht zu stark instrumentalisieren und mit Vergütungsmanagement verbinden sollte. Damit baut man gegenseitigen Druck auf. Commitment hat nämlich eine enge Beziehung zum Selbstbild eines Mitarbeiters und darf nicht zu sehr von monetären Aspekten dominiert werden. Deshalb Finger weg von Gehaltszusammensetzungen und Leistungszulagen, sonst wird das als Anreiz für Commitment gesehen. In der Denkweise der Mitarbeiter entsteht dann die Haltung: „Mein Commitment ist abhängig von der Höhe meiner Zulagen.“ Dies hätte den kontraproduktiven Effekt, nämlich den, dass in schwierigen Zeiten das Commitment der Mitarbeiter niedriger anstatt größer wird. Gerade in schwierigen Situationen hilft ein gesteigertes Commitment der Mitarbeiter einem Unternehmen dabei, die notwendigen Anstrengungen aufzubringen, um das Überleben und den Fortbestand des Unternehmens zu sichern. Damit wird auch klar, dass Commitment immer ein Grundniveau an Ausprägung benötigt und bei Bedarf automatisch ansteigen muss, wenn es notwendig wird. Diese Form der Verselbstständigung und Steigerung ist beispielsweise bei Streiks zu sehen, wenn Mitarbeiter ihre Bindung an das Unternehmen medial kommunizieren. Beispielsweise ist das Commitment ein „Opelianer“ zu sein bei vielen Mitarbeitern im Selbstbild integriert, d. h., dass ein Verhalten – in dem Fall das Streiken – den Glaubenssatz „Ich bin ein Opelianer“ zusätzlich etabliert bzw. verstärkt. Gleichzeitig wird damit zum Ausdruck gebracht, dass man sich dem Commitment des Arbeitgebers nicht mehr so sicher ist. Da ein Streik aber eher die Ausnahme und dazu mit Ängsten verbunden ist, brauchen Unternehmen für den „Normalbetrieb“ Informationskanäle, über welche die Glaubenssätze kommuniziert werden können. Am besten
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eignen sich dafür Plattformen, in denen über Ergebnisse, Verhaltensweisen und Meinungen von Mitarbeitern berichtet werden kann, diese besitzen einen starken Commitment-Charakter. Solche Plattformen sollten in verschieden Kontexten implementiert sein. Ob in Teambesprechungen, großen Jahresveranstaltungen oder auf elektronischem Weg im Intranet durch Foren und Blog-Einträge. Ein Unternehmen kann das Commitment seiner Mitarbeiter dadurch steigern, indem selbstverpflichtendes Verhalten eine soziale Bewährtheit (Social Proof) erhält und damit einen zusätzlichen Anreiz bekommt. Über den „Marktplatz“, den diese Plattformen schaffen, haben so alle anderen Mitarbeiter die Möglichkeit an der Commitment-Botschaft teilzunehmen, indem sie diese kommentieren können und damit ihrem eigenen Commitment gegenüber positiver eingestellt sind. Je mehr sich daran beteiligen, desto größer ist die Wirkung auf alle anderen Mitarbeiter im Unternehmen.
Commitment by Leadership Man kann Führungskräfte sprichwörtlich nicht genug in die Pflicht nehmen. Hier meine ich es sogar wortwörtlich. Dass Führungskräfte eine wichtige Rolle bei der Bindung von Mitarbeitern spielen, ist Ihnen sicher klar. Commitment darf und soll von Führungskräften angesprochen werden. Wie groß aber der Einfluss von Führungskräften auf das Commitment von Mitarbeitern ist, hat viel damit zu tun, wie sehr sich die Führungskräfte selbst zu einem Unternehmen committen. Denn wenn Führungskräfte das Commitment von Mitarbeitern festigen wollen, dann nur, wenn sie zum einen eine gute Überzeugungsarbeit leisten und zum anderen ein gutes Vertrauensverhältnis zu ihren Mitarbeitern aufbauen. Das geht aber wie gesagt nur, wenn die Führungskräfte selbst eine Verpflichtung eingehen und auch vor ihren Mitarbeitern aussprechen. Unternehmen sollten deshalb das Commitment ihrer Führungskräfte fördern, da diese eine Multiplikatorfunktion einnehmen. Möglichkeiten bieten hier zum Beispiel Führungsdialogveranstaltungen im größeren Stil in einem festgelegten Turnus, aber auch der Vertrauensaufbau und die tägliche Überzeugungsarbeit zwischen Management und Führungskräfteebenen.
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Angenommen eine Führungskraft besitzt dieses Commitment, dann geht es darum, die Unternehmensziele und die dafür gewählten Strategien für die Mitarbeiter so herunterzubrechen, dass die Mitarbeiter diese annehmen können. Versteht ein Mitarbeiter relativ zu seiner Handlungsebene, wohin ein Unternehmen will, wird es ihm leichter fallen sich dem Unternehmen verbindlich anzuschließen, da der Grad der Konkretisierung für ihn verständlich ist. Ziele machen so mehr Sinn, und der Mitarbeiter sieht eher den Zusammenhang zwischen persönlichem Engagement und Unternehmenserfolg. Die Anforderung an Führungskräfte zeigt sich insbesondere bei der Begleitung von Veränderungsprozessen, wie zum Beispiel bei Umstrukturierungen oder Fusionen. Hier sind bis zu einem bestimmten Grad Transparenz und ein gutes Informationsmanagement notwendig, um die übergeordneten Zielstellungen und die geplanten Schritte so zu begleiten, dass die Mitarbeiter selbst mit einem gewissen Grad an Unsicherheit leben können. Ein Führungsansatz, der das Beziehungsverhältnis und damit die Vertrauens- und die Überzeugungskomponente zwischen Führungskraft und Mitarbeiter fokussiert, ist der Leader-Member-Exchange-Ansatz (LMX) von Graen und Uhl-Bien (1995 a, b). Graen und Uhl-Bien heben dabei die Qualität der Dyaden (Zweierbeziehung) zwischen der Führungskraft und ihren Mitarbeitern hervor, welche u. a. in Zusammenhang mit Arbeitszufriedenheit, Fluktuation oder auch Bindung zur Organisation stehen. Die Ergebnisse einer Metastudie von Gerstner und Day (1997) bestätigen die meisten vorhergesagten Zusammenhänge, darunter auch die organisationale Bindung. Nur der Zusammenhang mit objektiven Leistungsfaktoren konnte nicht bestätigt werden. Vermutlich deshalb nicht, weil die Beziehung zwischen LMX und der Arbeitsleistung nicht linear, sondern umgekehrt u-förmig sein könnte. Dies würde wiederum bedeuten, dass eine Führungskraft nicht „zu dicke“ mit ihren Mitarbeitern sein sollte. Führungskräfte sollten bestrebt sein, mit möglichst allen ihren Mitarbeitern eine qualitativ gute Beziehung aufzubauen. So kann die Führungskraft ihr Team nicht nur erfolgreicher führen, sondern auch leichter für die Sache gewinnen.
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Aug um Aug, Zahn um Zahn Wenn man Mitarbeiter interviewt, um einen besseren Einblick in ein Unternehmen zu erhalten, dann sprechen diese unweigerlich über die Aspekte Fairness, Gerechtigkeit und Motivation. Nicht unbedingt auf der abstrakten Ebene, sondern über die vielen Beispiele, von denen sie erzählen: vom Kollegen, der die gleiche Tätigkeit ausübt wie man selbst, Kollegen, die mit Spezialthemen vertraut sind, Mitarbeiter aus anderen Abteilungen und natürlich von Führungskräften. Mit der Zeit entwickelt sich der Eindruck eines sich Auf- und Gegenrechnens. Und genau dieser Ansatz wird in der Equity-Theorie (Adams, 1965) angewendet. Mitarbeiter vergleichen das eigene Verhältnis von Aufwand und Ertrag mit dem Aufwand und Ertrag anderer Mitarbeiter. Abhängig vom Endergebnis des Vergleichs wird das eigene Guthaben als angemessen oder ungerecht empfunden. In der Equity-Theorie geht es um Fairness und darum, eine gerechte Arbeitsbeziehung zu anderen, insbesondere relevanten, Personen aufrechtzuerhalten. Geleistete Beiträge und resultierende Ergebnisse werden so untereinander gegengerechnet. Ist das Verhältnis ausgewogen, dann ist ein Mitarbeiter zufrieden, und die Verpflichtung gegenüber dem Unternehmen ist wahrscheinlicher. Ist das Verhältnis jedoch unausgewogen, hat dies Konsequenzen, indem ein Mitarbeiter zum Beispiel nach einer Gehaltserhöhung fragt oder sein Engagement reduziert. Man muss sich auch vor Augen halten, dass eine subjektiv wahrgenommene fehlende „Equity“ bzw. „Fairness“ zu Stress führen kann. Deshalb werden sich Mitarbeiter immer die Frage stellen, ob es sich lohnt, Belastungen einzugehen, wenn umgekehrt kein Commitment des Unternehmens gegenüber Mitarbeitern besteht. Das ist vor allem dann der Fall, wenn in Unternehmen Entlassungen aufgrund betrieblicher Umstrukturierungen, Fusionen oder schwieriger wirtschaftlicher Situationen erfolgen. Aber auch Unternehmensphilosophien, wie zum Beispiel die Gestaltung von Arbeitszeitverträgen, Leiharbeiter oder eine ausgeprägte Interimskultur, verschärfen das Problem einer gegenseitigen „Verpflichtung“. Da braucht man sich nicht zu wundern, wenn Mitarbeiter nicht viel von Unternehmen erwarten, aber auch nicht bereit sind, hohe Belas-
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tungen über eine längere Zeit auszuhalten. Die Bewältigungsreaktion (Coping) erfolgt dann über den Reflex der Arbeitsreduzierung und in extremerer Form über die Distanzierung (Fehlzeiten, Kündigung).
Mehr als nur Dienst nach Vorschrift Die Verrechnung des Unternehmenskontos hat nicht nur Konsequenzen für das „normale“ Leistungsverhalten von Mitarbeitern, also für die aufgabenbezogene Leistung entsprechend der Stellenbeschreibung, sondern auch für kontextbezogene Leistungen im Arbeitsalltag. Damit ist gemeint, dass Mitarbeiter nicht nur „Dienst nach Vorschrift“ machen, sondern über die formalen Rollenanforderungen hinaus freiwilliges, spontanes und auch innovatives Verhalten zeigen, welches die Funktionsfähigkeit eines Unternehmens steigern kann. Konkrete Verhaltensbeispiele sind insbesondere überdurchschnittliche Arbeitssorgfalt oder Unterstützung von Kollegen ohne Eigeninteresse (Altruismus). Diese Form der „Abweichung“ von formal beschriebenen Aktivitäten eines Mitarbeiters wird als Extra-Rollenverhalten (Katz, 1964) oder auch „Organizational Citizenship Behavior“, kurz OCB (Organ, 1988), beschrieben. OCB steht somit für eine Art von „Bürgersinn“ in Unternehmen und zeigt sich in der Haltung und Einstellung, mehr zu tun, als es die eigentlichen Pflichten und Aufgaben sind. Das Verhalten erfolgt aus freiem Willen, ohne dass man direkt oder explizit vom Unternehmen dafür belohnt wird. Für Unternehmen ist OCB ein grundsätzlich gern gesehenes Verhalten, weil dieses zum Beispiel in Stresssituationen für Kompensation unter den Mitarbeitern sorgt. Aber auch aufgrund der Dynamik der Märkte und der schnellen Entwicklungen von Technologien ist ein eigenverantwortliches Handeln im Sinne eines Extra-Rollenverhaltens von Mitarbeitern wichtig, um die Funktions- und Wettbewerbsfähigkeit von einzelnen Abteilungen oder ganzer Unternehmen aufrechtzuerhalten. Sicherlich werden jetzt einige von Ihnen zu Recht anmerken, dass viele Unternehmen Extra-Rollenverhalten von Mitarbeitern direkt einfordern und beispielsweise mit Zielvereinbarungen verbinden oder bereits in das Anforderungsprofil mit aufnehmen. Inwieweit aber ein Unternehmen das Extra-Rollenverhalten formalisieren kann bzw. soll, ist ein entscheidender Punkt. Begrüßt man es, lässt man Raum für Freiwilligkeit und kann
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dies wiederum auf unterschiedliche Weise wertschätzen (Lob, Incentives). Erwartet man es, kann es nicht mehr freiwillig geschehen, und das Ausbleiben müsste negative Konsequenzen für den Mitarbeiter haben. Bei einer negativen Bewertung von Extra-Rollenverhalten kann sich der Mitarbeiter überlegen, ob das Unternehmen das richtige Arbeitsumfeld für ihn ist, wenn zum Beispiel kollegiale Unterstützung nicht gewollt ist. Der schlimmste Fall ist aber die Gleichgültigkeit gegenüber OCB. Ein klassischer Fall in Unternehmen ist hier das Verbesserungswesen. Wenn ein Mitarbeiter im Rahmen von Qualitätsmanagement und kontinuierlichen Verbesserungsprozessen (KVP) Initiative zeigt, aber keinerlei Rückmeldung bekommt, auch nicht auf Nachfrage, wird er sein ExtraRollenverhalten zumindest in diesem Bereich zurückfahren. Rahmenbedingungen und Vorgaben sollten von Unternehmen nicht überformalisiert werden. Mitarbeiter müssen zwischen Verhaltensweisen, die den formalen Anforderungen entsprechen (Intra-Rollenverhalten), und Verhaltensweisen, welche die formalen Anforderungen übersteigen (Extra-Rollenverhalten), unterscheiden können. Vertrauensarbeitszeit ist beispielsweise eine gute Mischung zwischen formalen Anforderungen an einen Mitarbeiter und Spielraum für OCB. Die manuelle Eintragung der Arbeitszeit bietet eigenverantwortliche Möglichkeiten für Extra-Rollenverhalten in einem gut zu kontrollierenden Rahmen. Hingegen ist bei einer elektronischen, minutengenauen Zeiterfassung der Formalisierungsgrad so groß, dass man sich als Mitarbeiter schon überlegen muss, wie oft man auf die Toilette darf oder ob man für die zweite Tasse Kaffee ausstempeln muss. Dass die halbformalen Organisationssysteme von Mitarbeitern auch ausgenutzt werden können und damit einen Schaden für das Unternehmen verursachen, steht außer Frage. Wer aber systematisch manipuliert, wird früher oder später auffliegen, weil ein „unnatürliches“ Muster entsteht. Und die Systeme sind ja nicht völlig ohne Kontrolle. Arbeitsplätze lassen sich auch deshalb nicht vollständig formalisieren, weil eine zweckorientierte Arbeitsgestaltung menschliche Bedürfnisse nicht generell befriedigen kann, ganz zu schweigen von spezifischen Bedürfnissen von einzelnen Mitarbeitern. Dafür sorgen informelle Prozesse in der Zusammenarbeit. Mitarbeiter sollten deshalb von Unterneh-
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men nicht auf reine Kostenstellen und Produktionsfaktoren reduziert werden, denn der Produktionswert ist weitaus größer. Dafür muss aber ein Unternehmen auch die Rahmenbedingungen und die Kommunikationswege schaffen, damit gewünschtes Extra-Rollenverhalten von den Mitarbeitern gezeigt und auch zurückgemeldet wird. Zwar findet OCB auf individueller Ebene statt, doch sind die Auswirkungen von OCB immer auch auf einer höheren Ebene feststellbar. In einer Studie von Walz und Niehoff (1996) wurden Fast-Food-Restaurants miteinander verglichen. Anhand von OCB-Faktoren konnten die untersuchten Fast-Food-Restaurants in Bezug auf gute bzw. schlechte Umsatzzahlen unterschieden werden. Gemessen wurden u. a. die Servicequalität, Sauberkeit und Kundenzufriedenheit. OCB hat damit nicht nur einen Einfluss auf das individuelle Leistungsund Rollenverhalten, sondern auch auf die Effektivität von ganzen Teams und Organisationen. Auslösende Faktoren für OCB sind jedoch noch spärlich. Mit Sicherheit kann aber gesagt werden, dass die Arbeitszufriedenheit einen großen Einfluss auf OCB besitzt. Wenn sich wiederum in Studien der Zusammenhang zwischen Intra-Rollenverhalten und Arbeitszufriedenheit bestätigen lässt, würde das bedeuten, dass Erfolgserlebnisse am Arbeitsplatz zu Arbeitszufriedenheit führen und die Arbeitszufriedenheit wiederum das Extra-Rollenverhalten begünstigt. Im Rahmen der Personalentwicklung sehr wichtig ist also der Grad der Übereinstimmung zwischen Fähigkeiten, Fertigkeiten und Interessen des Mitarbeiters auf der einen Seite und Anforderungen des Arbeitsplatzes auf der anderen Seite, was etwa in dem auf der Stresstheorie aufbauenden Person-EnvironmentFit-Modell nach French et al. (1982) zum Ausdruck kommt. Personalmanagement rückt somit immer weiter in den Fokus von „Management Attention“.
Fazit Warum Mitarbeiter eine hohe Bereitschaft haben ihren Arbeitgeber zu wechseln? Weil sie sich etwas Besseres erhoffen als das, was sie schon haben, und ihren wachsenden Ansprüchen ebenso gerecht werden wollen wie Unternehmen. Warum sie es dann aber doch nicht
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so schnell tun, wie es angesichts der Befragungen sein müsste, liegt auf der Hand: Der Mensch ist träge und meidet den Schmerz. Und außerdem gibt es noch ein gutes Stück Commitment! Die Selbstverpflichtung, für ein Unternehmen sein Bestes zu geben und auch treu zu bleiben, ist sogar dreidimensional: das emotionale, das normative und das rationale (abwägende) Commitment, Letzteres oft auch als kontinuierliche Ebene von Commitment beschrieben. Unternehmen tendieren jedoch dazu, das Commitment ihrer Mitarbeiter primär auf einer Ebene anzusprechen, und vernachlässigen dabei die anderen Ebenen. Mitarbeiter sehen sich aber im Arbeitsalltag unterschiedlichen Anlässen der Selbstverpflichtung gegenüber, sodass alle drei Formen des Commitments gefördert werden sollten. Auch sollte Unternehmen bewusst sein, dass Commitment eines von mehreren Merkmalen ist, die Einfluss auf Erfolgsindikatoren von Unternehmen haben. Deshalb sollte das Thema Commitment immer im Zusammenhang mit anderen Konstrukten, wie zum Beispiel Arbeitszufriedenheit, gesehen werden, da hier Wechselwirkungen vorhanden sind, die man sinnvoll miteinander verknüpfen kann. Im Zusammenhang mit Fairness und Gerechtigkeit kann Commitment in Unternehmen nicht überschätzt werden. Dabei geht es nicht nur um die Ermittlung des Grundentgelts und der Leistungszulage, sondern auch um Feedback und Anerkennung oder die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die Equity-Theorie und das Konzept „Organizational Citizenship Behavior“ (OCB) liefern hierfür wichtige Ansätze und Hinweise für einen bewussten Umgang mit Mitarbeitern auf Managementund Führungsebene. Führungskräfte sind ohnehin eine zentrale Zielgruppe, was das Thema Commitment betrifft. Nicht nur was deren eigenes Commitment betrifft, sondern auch den direkten Einfluss auf die Einstellungen der Mitarbeiterebene. Hier ist Vertrauens- und Überzeugungsarbeit gefragt, welche nur greifen, wenn es der Führungskraft gelingt, den Mitarbeitern auf deren Handlungsebene die Strategien, Ziele und Normen des Unternehmens sprachlich und durch eigenes Vorleben zu
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vermitteln. Die Leader-Member-Exchange-Theorie bietet hierzu wichtige Anregungen für das Rollenverständnis und die Führungskultur in Unternehmen. Ein psychologisches Grundprinzip für Commitment ist das Konsistenzprinzip. Konsistenz in Unternehmen zahlt sich für Commitment aus, weil Mitarbeiter immer wieder Verpflichtungen eingehen, die ihnen entweder von Beginn an kommuniziert wurden oder aufgrund veränderter Rahmenbedingungen erklärt werden. Dadurch entstehen weniger oft Spannungsfelder, und Führungskräfte sowie Mitarbeiter müssen nicht so oft gegen die eigenen Überzeugungen oder Einstellungen handeln. Wie gut sich aber ein Unternehmen auch aufstellt, gewisse Spannungsfelder wird es im Laufe der Zeit immer geben. Das Konsistenzparadox zeigt jedoch, dass das CommitmentKonstrukt zu einem bestimmten Grad stabil bleibt. Deshalb sollten Unternehmen des Merkmal Commitment nicht zu sehr instrumentalisieren und dadurch in ein formales Korsett stecken. Dann nämlich entsteht von beiden Seiten zu schnell Druck, und inkonsistente Sachverhalte werden von den Mitarbeitern schneller wahrgenommen, was wiederum die Commitment-Bereitschaft reduziert. Umgekehrt können aber Unternehmen das Commitment ihrer Mitarbeiter fördern, indem positive Commitment-Beispiele im Unternehmen über Plattformen kommuniziert und damit die Grundlage für einen „Social Proof“ durch die Mitarbeiter selbst geschaffen werden. Commitment hat auch etwas von einem Gelübde. Jedoch geht man keine ideologische Ehe ein, sondern eine Zusammenarbeit wie einst Daimler und Chrysler. Wie gut diese hält, zeigt sich mit der Zeit. Von dem Glauben aber, dass die Selbstverpflichtung für immer und ewig sein soll, müssen wir uns in unserer heutigen Gesellschaft und Wirtschaft verabschieden. Dafür sind die Zeiten zu unbeständig, und die Reizüberflutung ist zu groß geworden. Und doch sollten Unternehmen und Mitarbeiter alles daran setzen, die Zusammenarbeit so lange und so produktiv wie nur möglich zu gestalten, um sich nicht gleich bei der erstbesten Gelegenheit zu trennen.
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4. Die Akte Motivation – Zwielicht und Halbwelten
Glaubt man einer Umfrage der Wirtschaftswoche aus dem Jahr 2008 (Nr. 15) sind fast 90 Prozent der Manager und Führungskräfte in Deutschland davon überzeugt, dass Lob den Unternehmenserfolg steigert. Für zwei Drittel der Führungskräfte selbst ist verbales Lob sogar genauso wichtig wie materielle Anerkennung. Die Zahlen bestätigen die managementtheoretische Binsenweisheit, dass sich nur mit motivierten und engagierten Mitarbeitern der Unternehmenserfolg im harten Wettbewerb garantieren lässt. Umso unerklärlicher sind dann die Ergebnisse des „Engagement-Index“, der seit 2001 jährlich vom Gallup-Institut veröffentlicht wird und den Grad der emotionalen Verbundenheit der Beschäftigten mit ihrem Arbeitsplatz misst. Der überwiegende Teil der Befragten bekennt sich dort zu einer geringen bzw. zu keiner emotionalen Bindung zum Unternehmen und leistet „Dienst nach Vorschrift“. Als Gründe dafür werden vor allem zu wenig Rückmeldung zur persönlichen Entwicklung sowie mangelnde Anerkennung und mangelndes Lob genannt. Was sagen uns diese Ergebnisse? Die eine Seite weiß zwar um die Bedeutung des Lobes, lobt aber trotzdem nicht. Die andere Seite macht ihre Eigenmotivation von der Fremdmotivation abhängig. In Zeiten, in denen schnelle Veränderungen von Mitarbeitern erwartet werden, um die Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens zu sichern, kommt der Motivation eine erhebliche Bedeutung zu. Ob das in gängigen Change-Management-Strategien so auch immer berücksichtigt wird, ist zu bezweifeln. Die meisten Unternehmensberatungen konzentrieren sich primär auf die Optimierung von Prozessen und die Kommunikation. Was genau mit Kommunikation gemeint ist, zeigt sich in der Umsetzung. Dann heißt es: „Alle mal herhören, in Zukunft wird das Ganze so und so
S. Lesch, Psychoblasen in der Wirtschaft, DOI 10.1007/978-3-8349-6449-6_4, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Die Akte Motivation – Zwielicht und Halbwelten
gemacht. Am Montag geht es los, und am Ende der Woche sind wir auch schon durch.“ Alles andere ist zu kompliziert bzw. zu anstrengend. „Was erwartet mich? Wie profitiert das Unternehmen, was habe ich davon?“ Antworten auf diese Fragen gibt es nicht. Die meisten Mitarbeiter werden notgedrungen das tun, was man von ihnen verlangt, aber gerade so viel, dass sie in Ruhe gelassen werden. Später kann man ja wieder zum Altbewährten zurückkehren. Einige stellen sich gleich quer, weil sie ihren Status bewahren bzw. sich nicht aus ihrer Routine herausbringen lassen wollen, selbst wenn die Veränderung objektiv Vorteile mit sich bringt. Nur, was ist dann die richtige Motivation? Ist es das Geld, das persönliche Lob, die öffentliche Anerkennung – oder sind es zusätzliche Privilegien? Unternehmen wie Coca-Cola behaupten sogar, es ist vor allem das Produkt, was zu hoher Leistungsbereitschaft bei den Mitarbeitern führt, da jeder im Unternehmen von den Produkten überzeugt ist. Die Werte und die hohe emotionale Bindung, die mit dem Produkt verbunden sind, ziehen sich durch die gesamte Unternehmensstruktur. Ach so! Welche das sind, wird aber genauso geheim gehalten wie das Rezept für das braune Koffein-Getränk. Wie kann man klar und verständlich beschreiben, erklären, vorhersagen und am besten kontrollieren, was einen Mitarbeiter zu bestimmten Handlungen motiviert? Schon bei der Definition von Motivation scheiden sich die Geister. Geht zum Beispiel einer Handlung immer nur ein (Grund-) Motiv oder gleich ein ganzes Motivbündel voraus?
Theorien im Zwielicht Von Interesse sollen diejenigen Theorien und Ansätze der Motivation sein, die in der praktischen Arbeits- und Organisationspsychologie primär Anwendung gefunden haben.
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Die Bottom-up-Motivation Pyramiden hinterlassen bei vielen Personen einen mystischen oder zumindest bleibenden Eindruck, sodass sich die Pyramiden-Form gelegentlich auch in theoretischen Modellen wiederfindet. So auch bei Abraham Maslow (1908-1970), einem der Vertreter der humanistischen Psychologie, der mit der Bedürfnispyramide (Maslow, 1965, 1969) eine Motivationstheorie aufgestellt hat, die in Unternehmen im Bereich der Organisationsentwicklung und im Führungskräftetraining Anwendung findet. Nach Maslow sind bei allen Menschen Bedürfnisse anzutreffen, die biologisch determiniert und uns teilweise auch nicht bewusst sind. Maslow ordnete diese Bedürfnisse in fünf Gruppen, welche hierarchisch, wie in einer Pyramide, aufgebaut sind und jeweils einen „hinreichenden“ Grad der Befriedigung benötigen, damit die nächsthöheren Bedürfnisse aktiviert werden. Ein Bottom-up-Prinzip zu Neudeutsch. Ganz unten stehen deshalb die physiologischen Grundbedürfnisse wie Hunger und Schlaf. Auf der nächsten Stufe finden sich die Sicherheitsbedürfnisse wie Ordnung und Sicherheit, gefolgt von den Bedürfnissen nach Zugehörigkeit und Zuneigung auf der dritten Stufe. Zweithöchste Ebene ist das Bedürfnis nach Wertschätzung durch sich selbst und andere Personen, und an der Spitze der Pyramide steht letztendlich nur noch ein einziges Bedürfnis, nämlich das nach Selbstverwirklichung. Da die ersten vier Stufen einem defizitären Prinzip folgen, dominiert ein Bedürfnis in einer dieser Stufen die Wahrnehmung und das Denken einer Person solange, bis es befriedigt ist, bevor ein Motiv der nächsthöheren Ebene einen stärkeren Einfluss gewinnt. Ausschließlich die Selbstverwirklichung folgt einem Wachstumsprinzip, sie kennt keine Sättigung und ist der Grund dafür, warum wir Menschen immer mehr und mehr danach streben – vorausgesetzt, wir haben genügend Schlaf, Sex, Essen, ein warmes Zuhause, ein stabiles Umfeld mit Familie und Freunden sowie Anerkennung von Kollegen und vom Chef. Und da wären wir auch schon bei den Problemen, die sich in der Anwendung der Bedürfnispyramide zeigen. Ist die Pyramide richtig? Gibt es Interaktionen und Konflikte zwischen Pyramidenteilen? Können sich
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höhere Bedürfnisse nur in gesunden ökonomisch-sozialen Kontexten entwickeln? So originell, einfach und plausibel das Ordnungssystem der Bedürfnispyramide auf dem ersten Blick auch zu sein scheint, so tun sich schon allein durch die Alltagsbeobachtung viele Fragen auf, und es fehlt hier und da an Präzisierung. So beispielsweise bei der Rolle und dem Einfluss anderer Bedürfnisse wie dem Wissenserwerb oder der Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Welcher Stufe diese und andere Bedürfnisse zugeordnet werden sollen und welche Funktion sie dabei erfüllen, bleibt jedem selbst überlassen. Wo der Sollwert der einzelnen Motive bei Führungskräften oder Mitarbeitern liegt, bleibt auch unklar, höchstwahrscheinlich bei jedem woanders. Wie soll da ein Unternehmen diesen Soll-Wert für sich ermitteln? Das größte Problem stellt aber die starre Stufenabfolge der Bedürfnishierarchie dar. Zwar hat Maslow die Abfolge der Ebenen nicht nach dem Alles-oder-nichts-Prinzip gestaltet, da zu einem bestimmten Zeitpunkt auch mehrere Bedürfnisse gleichzeitig von Bedeutung sein können, aber allein in der Diskussion mit Führungskräften oder Mitarbeitern wird deutlich, dass einigen die Karriere wichtiger ist als soziale Bindungen. Noch schwieriger wird es, wenn man das Verhältnis der einzelnen Motive innerhalb einer Ebene hinterfragt. Kommt jetzt Hunger vor Durst und Stabilität vor Ordnung? Wenn man dann noch Persönlichkeiten, wie zum Beispiel Nelson Mandela, betrachtet, die selbst bei Mangelernährung, Kälte, sozialer Isolation und extremer Propaganda für ihre Ansichten weitergekämpft haben, muss man sich schon fragen, wie sich dieses Verhalten mit der Bedürfnispyramide erklären lässt. Trotz dieser Problematiken wird die Bedürfnispyramide nach wie vor im Zusammenhang mit Motivation genannt, und ihre Ansätze werden vermittelt, obwohl die Annahmen in dieser Form weder plausibel noch empirisch bestätigt werden konnten. Auch wird vergessen, dass es sich bei der Bedürfnishierarchie nach Maslow um eine Inhaltstheorie und keine Prozesstheorie handelt. Das Modell definiert Motive und gibt diesen eine Ordnung, erklärt aber weniger, wie sie zustande kommen.
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Viel mehr als die Schlussfolgerung, dass die Arbeitsbedingungen human gestaltet werden müssen, lässt sich aus der Bedürfnispyramide daher nicht mehr ableiten. Vielleicht sollte man deshalb die Maslow’sche Bedürfnistheorie speziell den Unternehmen näher bringen, denen es nicht einmal gelingt, die Voraussetzungen für gute Arbeitsbedingungen zu schaffen, unter denen die Mitarbeiter ihren Tätigkeiten voll nachgehen können. Diese sollten sich ihrer eigenen Motive schämen und nicht auf andere Firmen oder Länder, in denen Grundrechte verletzt werden, mit dem Finger zeigen.
Sagrotan für die Seele Ein weiteres Empfängermodell der Motivation, welches in Medien und Unternehmen immer wieder Anwendung findet, ist die Zwei-FaktorenTheorie von Herzberg, Mausner und Snyderman (1959). Herzberg und seine Kollegen legen dem Grad der Motivation das Ausmaß der Arbeitszufriedenheit zugrunde, die von einem Mitarbeiter erlebt wird. Unschwer vom Namen der Theorie abzuleiten, sind dafür zwei Einflussgrößen ausschlaggebend. Zum einen die Hygiene-Faktoren und zum anderen die Motivations-Faktoren. Erstere beziehen sich auf die Aspekte der Arbeitsumwelt. Damit sind Vorgesetzte, Kollegen und die Arbeitsplatzgestaltung gemeint. Mit Hygiene-Faktoren bestimmt man den Grad der Arbeitsunzufriedenheit, da sie einen defizitären Charakter aufweisen. Ist also das Verhalten des Vorgesetzten korrekt, das Betriebsklima in Ordnung, der Arbeitsplatz ergonomisch und sind Lärm und Hitze nicht vorhanden, entsteht schon mal keine Arbeitsunzufriedenheit. So weit, so gut. Inwieweit ein Mitarbeiter aber in seiner Tätigkeit motiviert ist und Arbeitszufriedenheit erlebt, hängt von den Motivations-Faktoren ab, also zum Beispiel der Übereinstimmung der Interessen eines Mitarbeiters mit den Aufgaben in seiner Position, dem Grad der Anforderung, dem Verantwortungsbereich und nicht zuletzt der Selbstverwirklichung. MotivationsFaktoren beziehen sich somit auf die konkreten Arbeitsinhalte eines Mitarbeiters und bestimmen das Ausmaß der Arbeitszufriedenheit, wofür die Hygiene-Faktoren wiederum die Basis bilden. Klingt einleuchtend, oder? Zu dumm, dass sich die Zweiteilung nur durch die methodische Vorgehensweise von Herzberg & Co ergeben hat. Bei der Anwendung einer
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anderen Methode würden sich zwangsläufig eine neue Struktur und wohlmöglich auch eine andere Anzahl von Faktoren ergeben. Der Erklärungsgehalt der Zwei-Faktoren-Theorie ist daher nicht größer als der der Bedürfnispyramide von Maslow. Ernsthafte Prognosen und Entscheidungen für Motivationsprogramme lassen sich durch Inhaltstheorien nicht geben oder ableiten. Es kann aber das Bewusstsein in Unternehmen dafür geschärft werden, nicht nur die Arbeitsprozesse selbst im Auge zu behalten, sondern auch auf die allgemeinen sozialen und materiellen Rahmenbedingungen zu achten. Vorsicht also vor Beratern und Trainern, die mit Sagrotan die Grundmotivation der Belegschaft herstellen und mit Bonbons die Arbeitszufriedenheit füttern wollen. Die Forschungsergebnisse zum Thema Arbeitszufriedenheit jedoch sind uneinheitlich. Ein Großteil der Mitarbeiter scheint „ziemlich zufrieden“ zu sein. Bleibt die Frage im Raum, warum dann ebenso viele nicht noch einmal denselben Beruf ergreifen wollen? Wie so oft ist es unser Bezugssystem, das uns eine Einschätzung über den Status quo erlaubt. Mit anderen Worten: Das, was man hat, bestimmt über das mit, was man anstrebt – ein soziales Naturgesetz. Da darf man auch schon mal antworten, dass man bei einem Neuanfang Dinge anders tun würde. Den Job letztendlich tauschen, das wollen aber dann doch nur die Wenigsten, vor allem dann, wenn sie gut klarkommen. Zum Glück dauerte es nicht lange, bis Agnes Bruggemann (Bruggemann et al., 1975) ein neuer Ansatz in der Arbeitszufriedenheitsforschung gelang. Sie definierte in ihrem Modell verschiedene Formen der Arbeitszufriedenheit, die sich aus einem Soll-Ist-Vergleich und dem Anspruchsniveau der Tätigkeit ergeben. Grundsätzlich kann aus einem positiven SollIst-Vergleich eine „stabilisierende“ Arbeitszufriedenheit entstehen, umgekehrt eine „diffuse“ Arbeitsunzufriedenheit. Je nach Ausrichtung des Anspruchsniveaus (Erhöhung, Senkung, Beibehaltung) entwickelt sich eine Motivationsdynamik, die im Ergebnis unterschiedliche Formen der Arbeitszufriedenheit zur Folge haben kann. Zwar wurden nicht alle Formen der Arbeitszufriedenheit nach Bruggemann et al. (1975) bestätigt, jedoch können vier Grundtypen nach Fischer & Eufinger (1991) festgehalten werden: Die Zufriedenen (meine Arbeit erfüllt mich), die resig-
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niert Zufriedenen (ist zwar nicht alles ideal, könnte aber auch schlimmer sein), die konstruktiv Unzufriedenen (ich versuche die Probleme in meiner Arbeit zu lösen) und schließlich die resigniert Unzufriedenen (die Arbeit ist nicht nach meinen Vorstellungen, und es ist zwecklos etwas daran zu ändern). Will man differenzierte Einschätzungen zur Arbeitszufriedenheit geben, muss man die individuellen Bezugssysteme der Mitarbeiter berücksichtigen. Das sollte in Arbeitsgruppen ohne weiteres möglich sein. Schließlich ist es eine Führungsaufgabe, die Bezugssysteme der eigenen Mitarbeiter zu kennen. Was wiederum nicht gleich heißt, dass man sich ausschließlich daran orientieren sollte. Nicht selten ist die Wahrnehmung und Einschätzung von Mitarbeitern auf die Dauer verzerrt, und eine Führungskraft ist dann angehalten, das Bezugssystem wieder zurechtzurücken. Nicht jedem gelingt es in der Selbstreflexion das eigene Bezugssystem zu korrigieren, so wie es vom Dalai Lama in Perfektion vorgelebt wird. Hört man bei den Ausführungen und Argumentationen des Dalai Lama genau zu, so erkennt man, dass er im Umgang mit schwierigen Lebenssituationen immer nach einem Bezugssystem sucht, nach Situationen, welche sich dramatischer zeigen als die eigene, aktuelle Lebenssituation. Wird man also versetzt oder erhält man einen anderen Aufgabenbereich, sollte man froh sein, dass man nicht gekündigt wurde. Wird einem das Urlaubs- oder das Weihnachtsgeld gestrichen, kann man sich noch immer über 30 Urlaubstage freuen. Andere haben nur 24 Tage Urlaub, und sämtliche Überstunden sind mit dem Gehalt abgegolten. Aber Vorsicht, mit solchen Copingstrategien werden Arbeitsbedingungen sukzessive zurückgeschraubt, und bevor man sich versieht, hat man nur noch 24 Tage Urlaub und Kündigungsschutz gibt’s nicht mehr. Aber auch für ganze Unternehmen sind globale Arbeitszufriedenheitsmessungen nützlich, da sie wichtige Zusammenhänge zu Skalenwerten wie Krankheitsstände, Fluktuation, korruptes Verhalten in Organisationen und, im Positiven, zu Wohlbefinden und Unternehmensbindung aufzeigen. Die Beziehung zwischen allgemeiner Arbeitszufriedenheit und Arbeitsleistung ist faktisch gegeben, auch wenn dies in der allgemei-
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nen Literatur noch immer nicht angekommen ist. Der Natur nach ist diese Beziehung reziprok, sodass sich die Arbeitszufriedenheit und die Arbeitsleistung wechselseitig beeinflussen. Damit sollte aber auch allen Verantwortlichen in Unternehmen klar werden, dass sich die Arbeitszufriedenheit als solche vor allem durch die Einschätzung des Mitarbeiters ergibt, wie er seine Tätigkeit (Arbeit) bewertet. Das, was ich tue, hat den größten Einfluss auf meine Arbeitszufriedenheit und damit auch meine Leistung. Umso trauriger ist es dann, wenn Positionen in Unternehmen fehlbesetzt werden oder andere Faktoren die Lust an der Arbeit nehmen, weil die Rahmenbedingungen oder die Führungsleistung nicht stimmen.
Wahre Motivation kommt von innen Das klingt wie in einer Kosmetikwerbung, bei der suggeriert wird, dass wahre Schönheit von innen heraus kommt. Dennoch werden am meisten Produkte angeboten und auch von uns gekauft, die von außen aufgetragen werden. Vielleicht beruhigt ja die medizinische Erklärung, dass die Stoffe zwar von der Haut aufgenommen werden, aber dann von innen heraus ihre volle Wirkung entfalten. Die Animationen in der Beauty-Welt ähneln den Bildern, die auch zum Thema Motivation benutzt werden. Ein Impuls, der etwas in Gang setzt und im Ergebnis etwas Großartiges produziert. Beim Thema Motivation ist der Prozess aber noch exklusiver. Haben Sie sich schon einmal gefragt, warum dieser Prozess einem Perpetuum mobile gleicht? Da läuft jemand einer Karotte unentwegt hinterher, die er niemals bekommen wird, weil sich der Abstand zur Karotte physikalisch nie verkürzen wird. Dennoch werden mit diesem und ähnlichen Bildern die zwei grundsätzlichen Formen der Motivation vermittelt: intrinsische und extrinsische Motivation. Für Otto Normalmenschen klingen diese beiden Worte wie Fachchinesisch, wie introvertiert und extrovertiert oder implodiert und explodiert. Die einen favorisieren die Schocktherapie der Motivation, weil sie schnellere Erfolge erzielt, andere favorisieren die Kuscheltherapie der Motivation, weil sie beständiger und dauerhafter ist.
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Unterm Strich hat alles hat eine Bedeutung und einen Einfluss auf unsere Motivation. Ob von außen (extrinsisch) oder von innen (intrinsisch). Entscheidend sind die Dosis und das Verhältnis der beiden Motivationen in unserem Arbeitsalltag. Motiviert ist man immer durch etwas. Entweder durch innere Aspekte wie Interesse, Neugier und Spaß oder durch äußere Aspekte wie Erfolg, Lob, Anerkennung oder Geld. An dieser Stelle können wir auch gleich mit dem hartnäckigen Gerücht aufräumen, dass extrinsische Motivation generell einen korrumpierenden Effekt auf die intrinsische Motivation ausübt. Damit ist gemeint, dass die intrinsische Motivation abnimmt, wenn man für die Durchführung der intrinsisch motivierten Handlung eine externe Belohnung erhält. Sprich, wenn ich bisher eine „Fleißaufgabe“ aus Interesse gemacht habe, man mir aber in der Zukunft eine Leistungszulage dafür gibt, mindert dies mein ursprüngliches Interesse an der Aufgabe, weil ich es nun für Geld mache. Extrinsische Motivation tötet also intrinsische Motivation. Halt! Zunächst kann das erst der Fall sein, wenn man die Belohnung auch erwartet. Aber selbst dann, wenn die Belohnung erwartet wird, heißt das nicht gleich, dass die Belohnung einen Teil der intrinsischen Motivation auffrisst. Eine angemessene Rückmeldung, ein Lob oder ein finanzieller Ausgleich für eine gute Arbeit sind nicht gleich korrumpierend, insbesondere dann nicht, wenn die externe Verstärkung kontingent ist und einen informativen Charakter besitzt. Dann nämlich spricht die Belohnung stärker die emotionale Bewertung der Kompetenz und der Selbstbestimmung des Mitarbeiters an. Wird die Belohnung aber zugleich als kontrollierend erlebt, lokalisiert der Mitarbeiter seine Motivation nicht mehr bei sich, sondern eher external, was wiederum seine intrinsische Motivation untergräbt. Jede Belohnung besitzt einen informativen und einen kontrollierenden Aspekt, und es liegt an der Art und Weise der Vermittlung, welcher Aspekt beim Mitarbeiter in den Vordergrund tritt. Unbeirrt dieser Erkenntnisse, predigt aber eine Glaubensgruppe, man müsse alles für den Erhalt der intrinsischen Motivation tun, weil nur das zu multiplen Glücksgefühlen führt, während die andere Glaubensgruppe mit ständig neuen Belohnungssystemen die Leistung der Mitarbeiter auf
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einem künstlichen „Flow“ halten will. Beide Motivationen sind in der Reinform ebenso wahrscheinlich wie die symbolische Win-win-Situation. Mitarbeiter brauchen dann entweder keinerlei Führung mehr, weil sie von sich aus zu Höchstleistungen motiviert sind, oder es ist völlig egal für wen sie etwas tun, weil die Anreize für die Arbeit so exklusiv sind, dass sie die Arbeit nur dieser Anreize wegen machen. Sind wir doch mal ehrlich. Unsere Arbeitswelt ist eindeutig stärker auf die extrinsische Motivation ausgerichtet. Es geht um die Anerkennung, den Status und das große Geld. Gleichzeitig sehnen wir uns nach innerer Ruhe und Kraft und suchen diese in fernöstlichen Religionen, Yogazentren und bei Heilpraktikern. Intrinsische und extrinsische Motivation beeinflussen sich gegenseitig. Oft in positiver Hinsicht, gelegentlich aber mit schädlichem Resultat. In unserer Welt geht es nicht ohne Verstärker, aber auch nicht ohne die Neugier und das Interesse am Schaffen. Verlieren aber das Interesse und die Belohnung zu viel vom ursprünglichen Wert, weil diese auch nicht mehr in einem gesunden Verhältnis zueinander stehen, werden wir uns häufiger Verhaltensweisen gegenübersehen, die wir mit Gier, Maßlosigkeit und Überheblichkeit in Verbindung bringen und die uns von einer in die nächste Krise bringen.
Halbwelten in der Praxis Lob und (T)Adel Wenn Mitarbeiter bei Lob vom Chef nicht vor Freude herumspringen, sondern den Kopf einziehen, dann liegt das entweder an den Erziehungspraktiken der Eltern oder am Führungsverhalten des Vorgesetzten. Den Mitarbeiter zuerst in Sicherheit wähnen und dann zum großen Schlag ausholen, das ist ein Verhaltensmuster, was zur Folge hat, dass ein Mitarbeiter auf Lob nur verhalten reagiert oder dieses als Einleitung zu einem Kritikgespräch versteht. Subtiler und schleichender im Prozess, jedoch nicht löblicher ist das Vorgehen, erreichte Ziele im Nachgang immer zu relativieren. Der Frust ist umso größer und länger. Ein Beispiel aus dem
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Vertrieb. Ein Außendienstmitarbeiter hat gegenüber dem Vorjahr deutlich mehr Kundentermine vereinbart und dadurch auch mehr Abschlüsse getätigt. Sein Vertriebsleiter gibt ihm jedoch als Rückmeldung, dass viele C-Kunden mit wenig Potenzial dabei waren und die Neukundenquote von A-Kunden unverändert niedrig geblieben ist. Also vereinbaren beide für das nächste Jahr den Neugewinn von einer bestimmten Anzahl an AKunden, und der Mitarbeiter investiert viel Zeit in die Akquisition dieser Kunden. Im nächsten Jahresgespräch präsentiert der Außendienstmitarbeiter stolz die vereinbarte Anzahl an A-Neukunden, jedoch gibt ihm sein Vorgesetzter nun zu verstehen, dass die Abschlüsse der Bestandskunden darunter gelitten haben. Wie groß mag nun die Motivation des Außendienstmitarbeiters sein, wenn an seiner Leistung immer wieder herumgemäkelt wird? Nächster These: Wer nicht kritisiert, muss nicht loben! Problem dabei: sozialen Anerkennung entfällt. Zu dumm, denn damit geht die Motivation bei den Mitarbeitern in den Keller. Vor allem bei den Leistungsträgern, da diese besonders sensibel regieren, wenn ihr Eifer und ihr Engagement nicht gewürdigt werden. Das Belohnungszentrum in unserem Gehirn löst nämlich dann eine Stressreaktion aus, und auf Dauer verursacht die Enttäuschung richtigen Stress. Manche entwickeln dann Wut, andere resignieren. Die Leistung nimmt ab, und irgendwann verlässt der Mitarbeiter das Unternehmen. Annerkennung ist eines der wichtigsten Grundbedürfnisse des Menschen, erst recht im Arbeitsleben, wo die Leistung des Mitarbeiters einen Einfluss auf den Unternehmenserfolg hat. Lob fühlt sich einfach gut an, und für eine gewisse Zeit gehen Dinge leichter von der Hand. Andere werden von Lob zu noch mehr Leistung angespornt, weil sie sich um weiteres Lob bemühen oder diesem gerecht werden wollen. Aber Vorsicht, die Antennen des Gegenübers sind insbesondere bei Lob sehr empfindlich. So wird ein halbherziges Lob schnell als Beleidigung aufgefasst, vor allem dann, wenn man Füllwörter benutzt. „Das haben Sie recht gut gemacht!“, das ist nicht die Art von Lob, die Annerkennung vermittelt. Aus der Gerechtigkeitsforschung weiß man, dass es in Bezug auf das Gefühl der Benachteiligung keinen Deckeneffekt über die Zeit gibt. Wird man für annähernd gleiche Leistung vom Unternehmen unterschiedlich belohnt oder wird eine sonst immer ausgezahlte Prämie gestrichen, ver-
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gisst das ein Mitarbeiter nicht (s. o. „Equity-Theorie“). Die Gedächtnisspuren bei Freude bzw. Lob hingegen verblassen recht schnell. Deshalb sollten sich Unternehmen genau überlegen, wie sie mit Belohnungssystemen umgehen, um im Nachgang nicht mehr negative anstatt positive Impulse bei der Belegschaft zu generieren. Wenn der Eindruck in einem Team oder in einem Unternehmen entsteht, Leistung lohnt sich nicht, lässt die Motivation schnell nach. Korruptes Verhalten nimmt hingegen zu. Schafft es ein Unternehmen, Lob und Annerkennung über alle Mitarbeiter hinweg zu vermitteln, entsteht Authentizität. Dies gelingt aber auch nur, wenn die Anerkennung auf nachvollziehbaren und beobachtbaren Kriterien beruht und der individuelle Beitrag zum Ergebnis angesprochen wird. Es macht einen Unterschied in der Wahrnehmung der Mitarbeiter, wenn in der Leistungsbeurteilung das Merkmal Flexibilität honoriert wird, weil man für Kollegen in mehreren konkreten Fällen eingesprungen ist oder Schichten kurzfristig gewechselt hat. Globale Begründungen wie „Sie waren flexibel“ oder „Wir als Team sind flexibel“ hören sich nach Gießkannenprinzip an und wirken eher pauschal als individuell. Jeder Mensch hat eine individuelle Bezugsform, und ein Unternehmen sollte sein eigenes Bezugssystem entwickeln und transparent machen, damit sich die Führungskräfte und Mitarbeiter daran orientieren können. Schafft ein Unternehmen das nicht, wendet die Führungskraft entweder immer ihr eigenes Bezugssystem an oder das des jeweiligen Mitarbeiters. Das Ergebnis ist Chaos, Missgunst und Neid. Das heißt aber nicht, dass eine Führungskraft nicht sehr wohl einschätzen können muss, mit welchem Einsatz und Fleiß ein Mitarbeiter eine bestimmte Aufgabe bewältigt hat. Nur so kann die Führungskraft Nuancen in der Rückmeldung berücksichtigen. Was dem einen leicht fällt, kann einem anderen unter Umständen viel Anstrengung kosten. In anderen Arbeitssituationen kann das wieder umgekehrt sein. Es braucht also Varianz in Lob und Tadel, und zwar in vielerlei Hinsicht: in der Form, der Intensität und im Kontext. Die verschiedenen Bezugssysteme (Personen und Unternehmen) müssen dabei im Blick behalten und in das Verhältnis zueinander gebracht werden. Das ist primär die Aufgabe des Managements und der Führungskräfte.
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Erfolg motiviert, Misserfolg erst recht! Neulich bei Zielvereinbarungsgesprächen. Bei vier Außendienstmitarbeitern geht es um die Festlegung der anvisierten Zahl von Verkaufsabschlüssen für das nächste Jahr. Zwei Vertriebsmitarbeiter waren im letzten Jahr erfolgreich und haben ihre Verkaufsabschlüsse erreicht. Auf die Zielstellungen für das neue Jahr reagieren die beiden Vertriebsmitarbeiter aber unterschiedlich. Der eine strebt mehr Verkaufsabschlüsse an, während der andere mit weniger Abschlüssen rechnet. Bei den beiden anderen Vertriebsmitarbeitern, die beide das Jahresziel verfehlt haben, zeigt sich einer der Vertriebsmitarbeiter übermotiviert und setzt sich eine höhere Abschlussrate als im Jahr zuvor, während der andere auf eine niedrigere Abschlussrate zielt. In beiden Fällen, Erfolgsfall und Misserfolgsfall, gibt es jeweils einen Vertriebsmitarbeiter, der von der Hoffnung auf Erfolg (Leistungsmotiv) angetrieben wird, und ein Gegenüber, das sich vor Misserfolg (Misserfolgsvermeidungsmotiv) fürchtet (Atkinson 1957, 1964). Je nach Motiv wird das Ziel entweder gemieden oder gesucht, unabhängig davon, ob man zuvor erfolgreich war oder nicht. Ganz so einfach ist es dann aber doch nicht. Für jede neue Zielstellung (Schwierigkeitsstufe einer Aufgabe oder Anspruchsniveau eines Projektes) gibt es immer eine individuelle Einschätzung der Erfolgs- und Misserfolgswahrscheinlichkeit. Diese hängt nicht nur davon ab, ob man zuvor erfolgreich war oder nicht und von welchem Grundmotiv man angetrieben wird, sondern auch davon, welche Ursachen man dem Ergebnis bzw. Zwischenergebnissen zuschreibt. Unsere Bewertungen und unsere Gefühle nach Erfolg bzw. Misserfolg resultieren daher nicht aus dem Abgleich mit einer absoluten Leistungsskala, sondern aus der subjektiven Einschätzung des Erreichens bzw. Nicht-Erreichens des zuvor definierten und angestrebten Ziels. In Leistungsbeurteilungssystemen von Unternehmen wird jedoch ein objektiviertes Leistungsniveau vorgegeben. Führungskräfte wundern sich dann, wenn Mitarbeiter auf die gleiche Beurteilung unterschiedlich reagieren, selbst wenn diese positiv ausfällt. Bei Zielvereinbarungen sind die Reaktionen auf die vorherigen Leistungsergebnisse wie bereits weiter oben beschrieben noch kurioser, insbesondere dann, wenn das letzte Jahr nicht so erfolgreich gelaufen ist.
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Misserfolg hat eine noch stärkere Varianz auf die nachfolgende Motivation und Leistung als Erfolg. Wenn jedoch ein Mitarbeiter nach einer Serie von Misserfolgen weiterhin an hohen Zielen festhält, ist eine unzulängliche Leistungsmotivation zu vermuten. Die Vermeidung von Misserfolg nach dem Motto „Die Hoffnung stirbt zuletzt“ ist kontraproduktiv und hat so manches Unternehmen die Existenz gekostet. Schwierig ist die Situation aber vor allem dann, wenn die Führungskraft dieser Verzerrung unterliegt. Mitarbeiter sprechen dann nicht mehr von der Zielvereinbarung, sondern von der Zielvorgabe. Spätestens im nächsten Zielvereinbarungsgespräch nimmt man die Frage der Führungskraft nach den eigenen Zielstellungen nicht mehr ernst. Wie auch immer die „Vereinbarung“ zustande kommt, besser man strengt sich an. Mit Standard-Motivationsprogrammen lässt sich aber damit kein Dauererfolg erzielen. Das zeigt auch folgendes Phänomen: Bei „ungewöhnlichen“ Leistungsergebnissen von Führungskräften oder Mitarbeitern werden immer mehrere Ursachen zur Erklärung herangezogen, also nicht nur solche, die in der Person selbst zu finden sind. Sind die Leistungsergebnisse dagegen nur „gewöhnlich“, wird meistens nur eine Ursache dafür verantwortlich gemacht, die wird wiederum eher bei der Person selbst gesucht. Während also für Erfolg viele Ursachen, wie z. B. Wissen, Können, Anstrengung, Aufgabenniveau und Rahmenbedingungen, optimal ausgerichtet sein müssen, kann bereits der Mangel in einem Bereich ausreichen, dass sich Misserfolg einstellt. Die Zuschreibung von Erfolg oder Misserfolg ist ein Prozess, der nicht identisch ist. Er folgt unterschiedlichen psychologischen Regeln. Misserfolg kann man mangelnder Kompetenz, aber auch mangelndem Engagement zuschreiben. Bei der Zuschreibung einer mangelnden Fähigkeit ist eine Veränderung nicht gleich herbeizuführen, weil die Kompetenz als eine Komponente angesehen wird, die man aktuell besitzt oder eben nicht besitzt. Dann muss man zuerst Wege finden, wo man die Kompetenz erlernen kann. Das zusätzliche Gefühl der Inkompetenz, welches sich dabei einstellt, erschwert wiederum zukünftige Leistungsabsichten. Wird der Misserfolg jedoch der mangelnden Anstrengung zugeschrieben, kann dies schneller zu einem gesteigerten Leistungsverhalten führen, da sich das Maß der Anstrengung vom Mitarbeiter direkt
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beeinflussen lässt. Wird Erfolg wiederum dem Zufall zugeschrieben, geht man nicht unbedingt motivierter an die gleiche Aufgabe heran. Wenn der Zufall es will, ist der Misserfolg bereits vorprogrammiert. Die Lokalisierung der Ursache für Erfolg oder Misserfolg in der Person (internal) oder außerhalb der Person (external) ist daher eine grundlegende Unterscheidung in der Wahrnehmung von Erfolg und Misserfolg. Als internale Faktoren werden meistens die eigenen Anstrengungen und die eigenen Fähigkeiten (z. B. Fachkompetenz) gesehen. Wir hören sie in Aussagen wie: „Der ist nur faul und will sich nicht die Hände schmutzig machen“ oder „Der hat doch gar keine Ahnung, was da zu machen ist“. Hingegen werden die Aufgabenschwierigkeit, der Einfluss von anderen Kollegen oder die sich ständig ändernden Wünsche des Kunden als externale Ursachen gesehen und für Erklärungen von Erfolg und Misserfolg in folgenden Aussagen verwendet: „Die Aufgabe war nicht in der Zeit zu schaffen.“ „Die anderen haben nicht mitgezogen.“ Oder: „Wie sollen wir das machen, wenn ständig Änderungen reinkommen?“ Solche kausalen Denkprozesse, kommen sie vom Mitarbeiter selbst oder von der Führungskraft, beeinflussen die motivationale Bewertung des Mitarbeiters und damit dessen Leistungsbeurteilung. Das schlägt sich dann nicht nur in der Höhe der Leistungszulage nieder, sondern zeigt sich auch in der weiteren Zusammenarbeit und Einstellung zu neuen Aufgaben. Ein anderer wichtiger Bestandteil der Ursache-/Wirkungszusammenhänge bei Motivation ist das Phänomen, dass die Erfolgserwartungen dann höher eingeschätzt werden, wenn der Erfolg stabilen Ursachen zugeschrieben wird. Ist das Engagement oder die Fähigkeit eines Mitarbeiters von Dauer, gehen Führungskraft und Mitarbeiter davon aus, dass Aufgaben auch weiterhin erfolgreich umgesetzt werden. Umgekehrt werden die Erfolgsaussichten aber dann am geringsten eingeschätzt, wenn der Misserfolg ebenso stabilen Ursachen zugeschrieben wird. Fehlt es also grundsätzlich an Einsatzbereitschaft oder reichen die Fähigkeiten eines Projektleiters nicht aus, um komplexere Projekte zu steuern, ist der Misserfolg wahrscheinlicher und damit die Motivation nicht ausreichend. Stabile Ursachen lassen darauf schließen, dass Ergebnisse, die in der
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Vergangenheit erzielt wurden, auch in der Zukunft wieder erzielt werden. Typisch ist daher die Erwartungshaltung von Führungskräften, dass bei ausschließlich fähigkeitsbezogenen Aufgaben der Erfolg oder Misserfolg am Können des Mitarbeiters festgemacht wird, während die Erwartungshaltung bei Aufgaben, die stark von der Stabilität oder Instabilität äußerer Faktoren abhängen, auch untypisch sein kann. Deshalb ist es aber auch schwer, die Erwartungshaltung und damit die Motivation eines Mitarbeiters ins Positive zu verändern, wenn er eine Aufgabe zwar erfolgreich gemeistert hat, aber selbst den Erfolg nicht auf sein „stabiles“ Engagement und seine fachliche Kompetenz zurückführt, sondern einem einmaligen, außergewöhnlichen Kraftakt und besonderen Umständen (Zufall) zuschreibt: „Dieses Mal hat es halt geklappt!“ Diese Zuschreibung lässt sich nur schwer überschreiben bzw. löschen. Als Führungskraft kann man der Löschungsresistenz nur entgegenwirken, wenn man die Zuschreibung des Erfolgs auf die Fähigkeiten und die Leistungsbereitschaft in eine kontinuierliche und konsequente Leistungsrückmeldung integriert und nicht nur hier und da ein kurzes Feedback gibt. Eine letzte wichtige Ursachenquelle ist die Kontrollierbarkeit, die mit der Bewertung von anderen Personen zusammenhängt. In der Praxis lassen sich folgende Extreme beobachten: Stellt sich Erfolg aufgrund hoher Anstrengung ein, wird dies in der Regel auch hoch belohnt. Umgekehrt erntet man bei Misserfolg aufgrund mangelnder Anstrengung besonders harte Kritik, und positive Konsequenzen bleiben aus. Die Ursache dafür liegt auf der Hand. Engagement und Motivation werden von Managern und Führungskräften als willentlich kontrollierbar gehalten. Wenn das Ergebnis nicht zufrieden stellend ist, lag das an einer mangelnden Einstellung und am fehlenden Wollen. Sprich, der Mitarbeiter ist unmotiviert und stinkfaul. Die Zuschreibung von Erfolg bzw. Misserfolg und der daraus resultierenden Motivation für zukünftige Leistungen hängt von den Informationen und Hinweisreizen ab, die eine Führungskraft oder ein Mitarbeiter benutzt, den kausalen Beziehungen, die sie verwenden, sowie individuellen Unterschieden. Wie weiter oben bereits geschildert, hängt die wahrgenommene Ursache des Leistungsergebnisses vorrangig von der Einschätzung der Fähigkeit und der Anstrengung ab, aber auch andere Ursachen-
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faktoren können eine Rolle spielen. Die Ursachen selbst lassen sich immer auf drei Dimensionen charakterisieren, die wiederum unmittelbare Auswirkung auf die Bewertung einer Leistung haben. Der Dimension Lokalisierung (eigene Person oder Umfeld), die mit Selbstwertgefühlen und Selbstwirksamkeit zusammenhängt. Der Dimension Stabilität (stabil – instabil), die einen direkten Einfluss auf die Erwartungshaltung oder Erwartungsänderung bei Arbeitsergebnissen hat. Und zuletzt die Dimension Kontrollierbarkeit (kontrollierbar – unkontrollierbar), die mit zwischenmenschlichen Gefühlen und Bewertungen in Zusammenhang steht. Alle drei Dimensionen haben unmittelbare Auswirkungen auf die Gesamtbewertung, und diese hat wiederum Auswirkungen auf die Intensität und die Ausdauer der Leistungsmotivation bei neuen Aufgaben. Auch die Auswahl von zukünftigen Aufgaben und Verantwortlichkeiten wird von diesen drei Dimensionen mit beeinflusst; sie spielen damit nicht nur im tagtäglichen Arbeitskontext eine wichtige Rolle, sondern auch bei der Suche nach einer neuen Arbeitsstelle.
Motivationsprogramme brauchen nur gute Inhalte Motivationsprogramme in Unternehmen sind nur so gespickt von tollen Inhalten. Beim Vergütungs-Management denkt man sich variable und attraktive Gehaltsmodelle aus, die dann noch von „Benefits“ und „Incentives“ flankiert werden, sodass keine Wünsche mehr übrig bleiben. Das reicht selbstverständlich noch nicht aus. Ein innovatives TalentManagement muss her, damit der Karriereweg in alle Richtungen planbar wird und sich dann im Zeitraffer auch realisiert. Obendrauf wird die in den Medien postulierte Selbstverwirklichung in der Arbeit durch Arbeitsorganisationsformen wie Job Rotation (systematischer Aufgabenwechsel), Job Enlargement (Tätigkeitserweiterung) und Job Enrichment (Arbeitsbereicherung) sichergestellt, auch wenn das mit einschneidenden Änderungen verbunden ist und manche Mitarbeiter diese Organisationsformen überhaupt nicht wollen. Zum Schluss wird die Kantine neu gestrichen, es gibt eine Salatbar und selbstverständlich ein Bioessen zur Auswahl. Die Motivation sollte hier doch ungebremst vorhanden sein und die Maßnahmen einschlagen wie eine Bombe. Um jedoch den Prognosegehalt von Maßnahmen und Verhaltensweisen zur Steigerung der
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Motivation in einem Unternehmen bzw. einer Gruppe zu erhöhen, braucht es auch Erklärungsprozesse, die das Zustandekommen von Motivation beschreiben, in denen sich die Inhalte wiederfinden. Motivationsprogramme brauchen nicht nur Inhalte – sie brauchen auch eine Story! Das wiederum können Prozesstheorien der Motivation bewerkstelligen, die den bereits oben erwähnten Inhaltstheorien der Motivation (Maslow und Herzberg) gegenüberstehen. Sie sind näher am tatsächlichen Verhalten, berücksichtigen die Zusammenhänge von Bewertungen und Resultaten und schließen damit die Lücken, die Inhaltstheorien hinterlassen. Eine für Unternehmen praktikable Prozesstheorie ist die Motivationstheorie nach Porter und Lawler (1968). Sie baut auf den Erwartung-malWert-Ansatz auf, der von der Grundannahme ausgeht, dass sich ein Mensch zwei implizite Fragen stellt: Welchen Wert hat für mich ein Ergebnis, das ich durch mein Zutun erreichen könnte? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich durch meine Anstrengungen dieses Ergebnis erzielen kann? Je positiver die beiden Fragen von einer Person beantwortet werden können, umso stärker ist die Motivation, das Ergebnis zu erzielen. Porter und Lawler kannten bereits den Sachverhalt, den manche Manager, Führungskräfte und Trainer immer noch komplett ausblenden. Die resultierende Anstrengung eines Mitarbeiters aus der Multiplikation von Erwartung mal Wert eines angestrebten Ergebnisses bzw. einer Belohnung ist nicht mit der letztendlich erbrachten Leistung identisch. Die Leistung hängt neben der Motivation auch noch von anderen Faktoren ab. So zum einen von den Fähigkeiten und Persönlichkeitsmerkmalen eines Mitarbeiters. Wie sehr sich zum Beispiel auch ein Teamleiter in einem Callcenter anstrengen mag, seine tatsächliche Leistung wird auch von seiner Stressresistenz und seiner Koordinationsfähigkeit abhängen. Eine weitere Einflussgröße ist dessen Rollenwahrnehmung, also wie der Teamleiter selbst seine Rolle im Callcenter definiert. Als bester Mitarbeiter einer Gruppe, als Interessenvertreter einer Gruppe oder als Führungskraft eines Teams in einer Abteilung, die Unternehmensziele verfolgt. Je nach Rollenwahrnehmung ergibt sich ein anderes Arbeitsverhalten, je nachdem, worauf der jeweilige Fokus gerichtet ist.
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Die grundlegenden Formen der Belohnung, die eine Arbeitsleistung nach sich zieht, werden im Modell berücksichtigt und werden noch weiter unten im Kapitel besprochen. Prozesstheorien zu Motivation, wie die nach Porter und Lawler, stellen klare Zusammenhänge bei der Entstehung der Motivation heraus und besitzen die Flexibilität, in Abhängigkeit von der zu betrachtenden Position eines Mitarbeiters im Unternehmen, die definierten Einflussgrößen mit den entsprechenden Inhalten zu füllen. Dadurch können unterschiedliche Leistungen von Mitarbeitern beschrieben und erklärt sowie notwendige Maßnahmen ergriffen werden. Voraussetzung dafür ist aber, dass die Einflussgrößen Erwartungen, Werte, Fähigkeiten, Persönlichkeitseigenschaften und Rollendefinitionen für einzelne Mitarbeiter oder ganze Arbeitsgruppen eingeschätzt werden können. Dazu braucht es die Unterstützung durch Dritte, wie die eigenen Vorgesetzten, Fachexperten im Unternehmen oder externe Dienstleister. Der Ansatz erklärt auch, warum sich Vorgesetzte darüber im Klaren sein müssen, dass sie in all dem, was sie von ihren Mitarbeitern fordern, Vorbildfunktion zu erfüllen haben. In erster Linie im tagtäglichen Verhalten und den Eigenschaften wie Engagement, Freundlichkeit, Pflichtbewusstsein oder auch Gewissenhaftigkeit. Wenn der Schreibtisch des Chefs wie ein Saustall aussieht, kann er nicht seine Mitarbeiter zur „Clear-Desk“-Mentalität bringen. In zweiter Linie in der eigenen Rollenwahrnehmung als Führungskraft und im Spiegeln sowie Reflektieren der Rollendefinition des jeweiligen Mitarbeiters. Wir lernen primär durch Beobachtung und am Modell, und daran orientiert sich unser motiviertes Handeln. Der Mitarbeiter muss sich deshalb die zentralen Fragen stellen: „Warum soll ich meiner Führungskraft Vertrauen schenken? Warum sollte ich die Eigenschaften und Verhaltensweisen an den Tag legen, die von mir erwartet werden?“ Die Antwort muss von den Führungskräften selbst kommen: „Weil ich dich dabei unterstütze, in deiner Weiterentwicklung voranbringe, wir uns beide dadurch besser kennen lernen und es sich für uns beide und damit das Unternehmen lohnt – also vertraue mir!“ Das geht aber wie gesagt nur über eine Vertrauenswürdigkeit, und diese lässt sich nicht vortäuschen. Jede Form von Unstimmigkeit wird vom Mitarbeiter registriert,
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insbesondere nonverbale Signale in der Mimik, Gestik und im Verhalten. Oft fördert aber auch das System die widersprüchlichen Signale der Führungskräfte. Wenn ständige Rankings, Gruppen- und Standortvergleiche die Motivation nicht steigern, sondern dem Mitarbeiter das Gefühl vermitteln, dass man gegeneinander ausgespielt wird, um mehr Leistung herauszuholen, dann helfen keine Motivationsparolen, wie „Das schaffen Sie schon!“. Das Vertrauen ist damit nicht immer gleich weg, aber wenn es zu häufig und zu schnell hintereinander auf die Probe gestellt wird, schmilzt es schneller als das Eis am Nord- und Südpol zusammen.
Der absolute Wille reicht aus Verhaltensweisen lassen sich nicht so einfach per Willen ändern. Wie oft haben wir nach Seminaren neue Vorsätze gefasst, und nur wenige Tage später machen wir es dann doch wieder so wie immer. Zurück zum Arbeitskontext: In Situationen, die für Führungskräfte oder Mitarbeiter nicht ausreichend erfassbar sind, kann man zweierlei Verhaltensweisen beobachten. Entweder eine Person verharrt in der Situation, trifft keine Entscheidung, die Situation bleibt problembehaftet (lageorientierte Person). Oder eine Person nimmt die vorhandenen Faktoren als hinreichend an, trifft eine Entscheidung und setzt sie um, auch wenn zu diesem Zeitpunkt nicht alle Konsequenzen vollständig vorhersehbar sind (handlungsorientierte Person). Bei einer prozessorientierten Herangehensweise zur Erklärung von Arbeitsmotivation geht es nicht um die zentralen Motive von Arbeit, wie zum Beispiel bei der Leistungsmotivation, sondern um die Prozesse, welche die Art und Weise der Ausführung oder Unterlassung einer Handlung bestimmen. Diese Prozesse lassen sich wiederum unterscheiden in motivationale Prozesse (Auswahl von Handlungen) und volutionale Prozesse (tatsächliche Umsetzung der Handlungen). Und hier sind wir am Kernproblem. Volutionstheorien (Heckhausen, 1989; Kuhl, 1996) befassen sich mit den Willensprozessen (Handlungsvorsätzen), die über das Setzen von Zielen (Zielintentionen) hinausgehen. Dazu gehört auch die Abschirmung gegen Widrigkeiten und Zweifel sowie das Durch-
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halten bei zwischenzeitlichen Misserfolgen oder Erfolgen, die auf sich warten lassen. Dann sind wir an dem Punkt, an dem die „Würfel gefallen sind“: es sich nicht nur vorzunehmen, sondern dann auch umzusetzen. Diese Fähigkeit wird besonders im Change Management strapaziert, weil Termin- und Leistungsdruck besonders hoch sind. Wird zum Beispiel in einem Unternehmen ein neues computergestütztes Qualitätsmanagement eingeführt, und es stellt sich heraus, dass das neue Softwareprogramm für viele Mitarbeiter in verschiedenen Abteilungen sehr anspruchsvoll ist, kann man über die hohen Anschaffungskosten und die schlechte Beratung bzw. Planung klagen oder die nötigen Maßnahmen zur Qualifizierung und Komplexitätsreduzierung der Schnittstelle einleiten. Veränderungen benötigen ihre Zeit, vor allem dann, wenn sie am Ende erfolgreich sein sollen. Führungskräfte, die in Veränderungsprozessen nicht nur motiviert, sondern auch handlungsfähig bleiben, auch wenn sie nicht immer die besten Entscheidungen treffen, sind lageorientierten Führungskräften vorzuziehen. Die sind zwar motiviert, bringen aber das Projekt nicht voran. Der Effekt der Übertragung führt noch dazu, dass bei Lageorientierung das gesamte Team gehemmt wird und die handlungsorientierten Mitarbeiter sich nicht anders zu helfen wissen, als das sinkende Schiff zu verlassen. Die Lageorientierten dagegen sind umgeben von einem demotivierenden Betriebsklima und saufen mit den Kapitänen ab.
Working for Life and Balance Berufsleben und Privatleben können bei richtiger Organisation in Einklang gebracht werden. Das ist seit Jahren ein Dogma, dass in der Wirtschaft hartnäckig aufrechterhalten wird. Vor allem dem starken Geschlecht wird eine utopische Vorstellung von Selbstverwirklichung auf der ganzen Linie suggeriert. Dafür lassen sich Unternehmen eine Menge einfallen. Vom Einkaufs- und Reinigungsservice über Kinderbetreuung und flexible Arbeitszeiten, um einige Beispiele zu nennen. Mit diesen Angeboten sollte sich doch eine Work-Life-Balance realisieren und der (Arbeits-)Alltag human takten lassen. Tatsächlich glauben immer noch alle an ein Gleichgewicht, welches man stabil halten kann. Dabei lehrt uns doch die Kybernetik, dass es sich um einen immerwährenden Ausgleichsprozess handelt, der nie abgeschlossen
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ist. Ständig neue Impulse bringen das eben hergestellte Gleichgewicht gleich wieder ins Ungleichgewicht, und von diesen Impulsen gibt es in unserer heutigen Arbeitswelt eine ganze Menge. Wir bleiben aber dabei, dass nur ein ausgeglichener Mitarbeiter auch ein produktiver Mitarbeiter sein kann, der den Unternehmenserfolg langfristig sichert. Wenn also der Mitarbeiter voll ausgeglichen ist, ist er auch voll produktiv. Aus ökonomischer Sicht ist dies geradezu ein Glücksfall, da ein höchst produktiver und effizienter Mitarbeiter ein Mitarbeiter ist, dessen Arbeitszeiten Maschinenlaufzeiten entsprechen. Im besten Fall also rund um die Uhr. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass der Mitarbeiter seine völlige Ausgeglichenheit durch seine Arbeit selbst erhält, quasi Arbeit gleich Leben für ihn bedeutet. So ist es ja auch beim Chef der Fall. Arbeit hebt die Laune, und so ist der stets gut gelaunte Chef auch ständig von Mitarbeitern umgeben, die ebenso gut gelaunt sind. Diejenigen, die es nicht sind, können zwangsläufig keine Work-Life-Balance besitzen. Irgendetwas verdirbt deren Gleichgewicht, und diese Mitarbeiter wiederum verderben den anderen die gute Laune mit unsinnigen Ansprüchen und Forderungen. In einer Talksendung hörte ich vor einiger Zeit einen Chefarzt, der die Work-Life-Balance anscheinend gefunden hat. Er steht um 5:30 Uhr auf und geht zuallererst für sich und seine Gesundheit joggen. Bevor er die Kinder in die Schule fährt, wird mit der Familie gemeinsam gefrühstückt. Danach geht er für mindestens 12 Stunden seinen Arbeitsinteressen nach, zu denen auch eine Dozententätigkeit gehört. Am späten Abend bleibt dann noch genügend Zeit für seine Frau und eine halbe Stunde Literatur vorm Schlafengehen. Am Wochenende verbringt er etwas mehr Zeit mit der Familie, die es unter der Woche total akzeptiert, dass er seine WorkLife-Balance nur so aufrechterhalten kann. Für mich klingt das eher asketisch als ausgeglichen. Wie viel Disziplin und Motivation muss man aufbringen, um das nur eine einzige Woche durchzuhalten? Vielleicht können das nur Chefärzte und Top-Manager, die wohl das gleiche WLBGen besitzen. Das schräge Verständnis von Work-Life-Balance im Sinne der Verschmelzung von privatem Umfeld und Arbeitsumfeld ist nicht von jedem normalen Mitarbeiter, jeder Führungskraft und jedem
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Dienstleister zu erwarten. Grenzen verschwimmen, und die notwendigen Rückzugsräume werden immer seltener. Zu schaffen ist das nur von Übermenschen, die auf den Punkt genau alles managen und zwischen einer Kundenpräsentation und dem Abholen des Kindes von der Reitstunde in der halbstündigen Yogastunde im Fitness-Center die innere Mitte finden. Dann arbeitet man wirklich 24 Stunden an seinem Life und an seiner Balance, weil selbst der gute Schlaf hart erarbeitet ist. Wie sehr diese Menschen auch ausgeglichene Mensch sind, kann man in Talksendungen beobachten.
Fazit Motivation ist keine Konstante. Motivation ist nicht immer von gleicher Intensität, nicht immer gleichgerichtet und voll allem nicht unerschöpflich. Das geht nicht einmal mit gängigen Management-Drogen. Motivation unterliegt, wie schon an anderer Stelle gesagt, einer Dynamik, die sich mit einer Theorie nicht einfach erklären lässt. Der Grund dafür ist ganz offensichtlich. Im Lebensraum „Arbeitsplatz“ gibt es eine ganze Menge von Faktoren, die unser Verhalten beeinflussen. Neben Einstellungen und Werten sind Motive ganz wesentliche Einflussfaktoren, die unser Handeln bestimmen. Motivation ist kein Einzelkind. Motive kommen selten allein, erst recht am Arbeitsplatz. Erschwerend kommt hinzu, dass es innerhalb eines Motivs unterschiedliche Orientierungen und damit eine große Anzahl von individuellen Bewertungsmustern gibt. Für Unternehmen ist deshalb eine sinnvolle Verdichtung von Motiven ratsam. Autonomie, Kompetenz und Zugehörigkeit sind beispielsweise eine gute Differenzierung, motivationale Aspekte in der Unternehmenskultur zu analysieren und daraus nützliche Maßnahmen abzuleiten. Gerade die aufgabenbezogene Orientierung spielt bei Mitarbeitern eine wichtige Rolle, denn diese zielt auf die Erhöhung der Kompetenz von Mitarbeitern ab.
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Für Zielgruppen wie Manager und Führungskräfte sollten vor allem das Machtmotiv und das Leistungsmotiv von besonderem Interesse sein, denn diese sind ich-bezogen und damit mit einer positiven Karriereentwicklung verbunden. Das hat aber nicht automatisch eine Kompetenzerweiterung zur Folge. Der Wunsch nach einem schnellen Aufstieg hat oft zur Folge, dass die Kompetenzentwicklung hinterherhinkt, wenn nicht sogar im Wege steht. Also nicht vernachlässigen. Motivation hat zwei Hemisphären – eine davon ist dominant. Motiviert ist jemand immer dann, wenn er sich die Frage beantworten kann, was er davon hat. Die Frage stellt sich der Mitarbeiter entweder selbst und kann diese auch im besten Fall für sich selbst beantworten oder die Führungskraft muss diese Frage stellen und im Zweifelsfall auch klar beantworten können. So oder so, die Antwort wird nicht immer intrinsischer Natur sein, siehe oben. Bei vielen steht an erster Stelle doch das Geldverdienen, und gelobt werden will auch jeder. Letztendlich tun wir alle gerne das, was erwünschte Konsequenzen zur Folge hat. Anerkennung und Geld sind dabei nicht unbedingt die schlechtesten Motive. Es kommt nur darauf an, was man dann damit macht. Das Ziel ist es deshalb, den Manager, die Führungskraft oder den Mitarbeiter auf ein Niveau zu bringen, auf dem die kleinen und großen Motivationsrituale ständig notwendig sind. Dies ist genau dann der Fall, wenn die Selbstwirksamkeit ausgeprägt ist. Der Mitarbeiter ist sich seiner Erfolge bewusst und entwickelt daraus ein Gefühl der Bestätigung und der Selbstmotivation. Der Mitarbeiter weiß was er kann, setzt sich herausfordernde Ziele, kann mit Rückschlägen und Kritik umgehen und ist grundsätzlich gut gelaunt. Für den Rest sorgen die Firma, die Führungskräfte und das kollegiale Umfeld. Motivation hat natürliche Grenzen. Es ist schlicht und einfach unrealistisch zu glauben, dass man alle Mitarbeiter auf den Motivationsgipfel schleppen kann. Es wird auch immer Mitarbeiter geben, die dieses Niveau nicht erreichen, weil sie
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die falsche Position innehaben oder auch aufgrund ihrer Persönlichkeit sich selbst im Wege stehen. Und diese müssen unentwegt durch Belohnung, Anerkennung, aber auch Kritik, mal geschoben, mal gezogen werden. Dabei sollte aber die Motivationstrommel nicht überstrapaziert werden. In bestimmten Fällen bedarf es auch endgültiger Entscheidungen und Konsequenzen, um nicht das Motivationsgefüge eines ganzen Teams kippen zu lassen bzw. dauerhaft zu belasten. Motivation allein reicht nicht. Als letzter Punkt soll noch der Willensprozess in der Motivationsdiskussion erwähnt werden. Die Umsetzung einer Motivation in eine Handlung ist ein Schritt, der nicht selbstverständlich ist. Er bedarf der Fähigkeit der Selbstregulation, was sich aber oft durch Kompetenztraining oder Coaching besser und schneller regeln lässt, als durch „wahnsinnige“ Motivationsprogramme, weil man dem Irrtum unterliegt, es handelt sich ausschließlich um ein „Motivationsproblem“. Fehlende Motivation beruht also oft auf mangelnder Kompetenz bzw. nicht vorhandenen Fähigkeiten. Niemand ist in einem Job besonders motiviert, wenn ihm bewusst ist, dass er etwas nicht gut kann. Auch dann nicht, wenn es der „Traumjob“ ist. Eine kontinuierliche und gezielte Förderung der Fähigkeiten des Personals ist somit der bessere Weg hin zu einer kompetenten und motivierten Belegschaft. Wenn dann noch die Führungskräfte nicht wie Schwiegermütter bei der Wocheninspektion agieren, brummt der Laden.
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Vresteehn Sei acuh nru Bhanohf? „Farblose grüne Ideen schlafen wütend.“ Verstehen Sie diesen Satz? Ergibt der Satz für Sie einen Sinn? Der bekannte Sprachforscher Noam Chomsky widerlegte mit diesem Satz die Theorie, dass man Sätze über Assoziationen von Wortpaaren (farblose – grüne, grüne – Ideen) erlernt. Der Satz ist zwar grammatikalisch korrekt, da sich Fragen wie „Was schlief? Schlief nur ein Ding oder schliefen mehrere?“ beantworten lassen, verstehen tut man ihn aber trotzdem nicht. Dafür braucht es eine größere Einheit – und das sind die Phrasen. Unsere Sätze sind somit keine einfache Aneinanderreihung von Wörtern. Das würde unser Gehirn auch schnell überfordern. Wir haben einen übergeordneten Plan für jeden Satz, so genannte „mentale Bäume“. Ein Beispiel: „Es muss mit dem Vorstand über die Fusion gesprochen werden.“ Unser mentaler Baum lautet: über – Fusion – mit – Vorstand – sprechen. So einfach könnte es sein, aber in der Praxis kommt unterm Strich nicht viel heraus, wenn man die Aussagen und Botschaften von Managern oder Politikern verfolgt. Ein gutes Beispiel dafür war das Fernsehduell zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihrem Herausforderer Frank-Walter Steinmeier zur Bundestagswahl 2009. Ein Schlagabtausch blieb aus, ein Duell fand nicht statt. Am Ende war niemand schlauer als vorher. Die Bundeskanzlerin wich Fragen aus und legte sich nur mit den Moderatoren an („Ich beantworte die Frage so, wie ich es mir vorgenommen habe.“). Frank-Walter Steinmeier agierte wiederum nicht wie ein Herausforderer, der den Kanzlerthron unbedingt erringen wollte („Das kann ich nicht mit letzter Sicherheit beantworten.“) und zeigte sich deshalb so leidenschaftlich wie bei einem Kaffeekränzchen.
S. Lesch, Psychoblasen in der Wirtschaft, DOI 10.1007/978-3-8349-6449-6_5, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Tagtäglich spielen sich in Unternehmen ähnliche Dramen im kleineren Stil ab. In Meetings werden Informationen weitergegeben, die entweder alle schon kennen oder keiner so recht glauben will. In Gesprächen zwischen Führungskräften und Mitarbeitern wissen am Ende beide Gesprächspartner nicht mehr so genau, was am Anfang überhaupt der Grund des Gespräches war. In Angeboten sind plötzlich Dinge zu lesen, die überhaupt nicht besprochen bzw. bestellt worden sind, oder das Angebot ist auf einmal so teuer, dass man neu darüber verhandeln muss. Irgendjemand spielt doch hier mit falschen Karten? Oder geben beide Seiten etwas vor, was nicht ganz der Realität entspricht? Leben wir bereits in einer Scheinwelt wie in „Second Life“ und tun uns deshalb so schwer miteinander zu kommunizieren? Vielleicht dreht sich auch unsere Welt mittlerweile so schnell, dass es oft völlig gleich ist, was ich in einem Moment sage, weil im nächsten schon wieder alles anders ist. Die Geschwindigkeit ist wohl die größte Misere in unserer Wirtschaftswelt. Ich ertappe mich selbst dabei, wie ich mit einer Hand versuche eine E-Mail kurz zu beantworten, während ich mit der anderen Hand die Unterlagen für eine Besprechung abgleiche. Bin ich dadurch etwa schneller? Informationen werden so schnell wie noch nie gesendet und empfangen, weil wir die Funkmasten in unseren Taschen tragen und fast jeder Arbeitsplatz mit einem Rechner ausgestattet ist. Die Auswirkungen der Digitalisierung in unserer Kommunikation werden dabei immer offensichtlicher. Wir kommunizieren nur noch aus der Distanz, weil dieser Weg der scheinbar schnellere ist. Oder warum senden sich Mitarbeiter E-Mails, obwohl sie nur wenige Meter voneinander entfernt sitzen? Warum greift keiner zum Hörer, wenn der „Ton“ in E-Mails aus unerklärlichen Gründen von Mal zu Mal schwieriger wird? Warum beschäftigen sich Mitarbeiter in Meetings mehr mit ihren BlackBerry-Smartphones als mit den anwesenden Kollegen? Ich komme mir oft wie in einem Experiment von Pawlow vor, wenn ich bemerke, wie Führungskräfte kollektiv auf einen Handy-Ton reagieren, selbst wenn es nicht das eigene Handy ist, das sich bemerkbar macht. Der Trend ein digitales Medium zu nutzen, anstatt ein Gespräch zu suchen, nimmt immer mehr zu. E-Mail, SMS, Blog, Twitter machen es
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möglich. Ein wirklicher Austausch findet hier oft gar nicht mehr statt. Dafür hat die Einwegkommunikation Hochkonjunktur, bei der es allein darum geht sich mitzuteilen. Hello World! Anybody out there? Es klingt nach einer Sozialutopie von Aldous Huxley, wenn wir eines Tages Emotionen nur noch anhand von Zeichen wie ;-) oder :-) ausdrücken und deuten können, weil wir es verlernt haben Gefühle zu zeigen oder in der Realität zu beobachten. Schöne neue Welt! Die Wissenschaft hat ebenfalls ihren Beitrag geleistet, die Kommunikation noch komplizierter zu machen als sie schon ist. Bestes Beispiel ist das Schulz-von-Thun’sche Kommunikationsmodell, nach dem jede Äußerung die Botschaften „Beziehungshinweis, Sachinhalt, Selbstoffenbarung und Appell“ gleichzeitig beinhaltet. Das „Vier-Ohren-Modell“ ist eine Erweiterung des Bühler’schen Kommunikationsmodells um Watzlawicks Kommunikationsaxiome. Sicherlich hilfreich für das tiefere Verständnis der Kommunikation und deren Variationen. In der Praxis ist jedoch unser rationaler Prozessor (die Großhirnrinde) damit hoffnungslos überfordert. Der emotionale Prozessor (das limbische System) macht fast immer das Rennen, wenn es um Denkprozesse geht, weil er einfach schneller getaktet ist. Wer sein Wissen nicht effizient abrufen kann, hat bereits verloren. Das ist wie in den ersten Runden von „Wer wird Millionär?“. Der Schnellste ist derjenige, der sein Wissen direkt abruft, ohne groß nachzudenken. Manager und Führungskräfte neigen jedoch dazu spontan zu antworten und treten dabei nicht selten ins Fettnäpfchen. „Nicht denken, wissen!“, so heißt hier die Devise. Politiker können davon ein Lied singen. Mit etwas Abstand muss man über unser aktuelles Kommunikationsverhalten folgende Einschätzung abgeben: Es wird immer mehr geschrieben, aber gleichzeitig immer weniger davon gelesen. Es wird noch mehr geredet, aber noch weniger zugehört und damit auch verstanden. Vielleicht sollten wir wieder zu den alten Sitten im römischen Senat zurückkehren. Da hat ein Mitglied erst dann mit seiner Rede beginnen können, wenn es mit seinen eigenen Worten die Botschaft seines Vorredners wiedergeben konnte.
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Die Kommunikationsblase – Freud und Leid in digital Sie haben Post! Kaum ein anderes Kommunikationsmedium hat uns so lieb gewonnen wie die E-Mail. Nichts geht mehr ohne E-Mail. Geht ja auch so einfach und so schnell. Man spart sich sogar das gute alte Telefonat. Der erste Akt am Arbeitsplatz ist nicht mehr den Kaffee zu holen, sondern den Rechner hochzufahren und das E-Mail-Programm zu öffnen. „Sie haben Post!“, so hieß es einst in einem Werbespot eines Internetproviders. Juhu, endlich wieder Post bekommen. Die Post muss man auch nicht mehr unterm Arm tragen, will man sie immer dabei haben. In der Jackentasche ist das viel praktischer. In der Welt der BlackBerry-Smartphones und iPhones ist genügend Speicherplatz für E-Mails vorhanden, sodass wir immer online sind, auch an Orten, an denen man besser beide Hände frei haben sollte. Spätestens beim Händewaschen. Mittlerweile hat sich aber das Blatt gewendet. Heutzutage freut man sich eher, wenn weniger EMails im Posteingang liegen als befürchtet. Was zu Beginn die schnelle Variante des Briefes war, ist nun zur Qual geworden. In Unternehmen werden tagtäglich Unmengen von E-Mails verschickt. Eine Schätzung abzugeben wäre sinnlos. Nach wenigen Tagen ist die Zahl schon längst überholt. Die unzähligen E-Mails haben einem Naturgesetz zur Folge auch schnell zu einem Kategorisierungsprozess bei den Anwendern geführt, denn nicht jede Mail ist gleich wichtig und auch nicht immer gehaltvoll. Mit dem Begriff „Spam“ hat man eigens eine Kategorie für ungewollte E-Mails geschaffen, weil man entweder leichtsinnigerweise sein Einverständnis für ganze Netzwerkpartner gegeben hat oder jemand sich daran bereichert, die Daten von Nutzern zu sammeln und zu verkaufen. Manch einer wünscht sich da den guten alten Brief wieder zurück. So schlägt man sich aber mit seinen E-Mails herum und sucht Wege den Überblick nicht zu verlieren. Einige wenden bereits das ABC-Schema bei Spams an, weil nicht jedes Spam gleich Spam ist. Andere wiederum müssen ihren Spamordner regelmäßig durchforsten, weil sie befürchten, dass vielleicht doch eine wichtige E-Mail irgendwie dahin gelangt ist. Wo hat man hier noch einen Vorteil?
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Interessant ist aber auch die Frage, wie und was alles in E-Mails kommuniziert wird. Es beginnt schon beim Abgleich zwischen der Anrede und der Signatur. In E-Mails darf es lockerer zugehen, deshalb findet sich oft ein „Hallo“ in der Anrede. In der Signatur belässt man es dann dafür öfter beim förmlichen „Mit freundlichen Grüßen“, schließlich will man ja noch etwas Restseriosität ausstrahlen. Im Mittelteil von E-Mails wird es dann noch bunter. Während noch zu Beginn einer E-MailKonversation formal korrekte Sätze überwiegen, entwickelt sich nicht selten mit der Zeit ein Slang aus Geschäftsbeziehung und Brieffreundschaft. Bei der Brieffreundschaft ist man spätestens dann angekommen, wenn in der E-Mail Smileys verwendet werden oder sie belustigende Clips und Powerpoints erhält. Durch die Pseudodistanz von E-Mails sind die Grenzen zwischen Geschäftsbeziehung und freundschaftlichem Kontakt fließend geworden und behindern damit eine sach- und zielorientierte Kommunikation zwischen Unternehmen. Die Problematik dieser Vermischung wird insbesondere dann deutlich, wenn es zu Störungen in der Zusammenarbeit kommt. Nichteinhaltung von Lieferterminen, Absagen von Aufträgen, schlechte Qualität in einer Dienstleistung, verpatzte Termine. Dann tut man sich richtig schwer in den Formulierungen, und plötzlich wird der Schreibstil wieder formeller und damit rauer. Wie soll man auch sonst damit umgehen. Gleichzeitig fühlt sich die andere Seite bis ins Tiefste verletzt und kämpft mit dem harten Schicksal. War man doch bereits so dick miteinander. Also antwortet man ebenso formell und unpersönlich zurück und pocht auf Paragraphen in Verträgen. Die Fronten verhärten sich, und der Konflikt ist damit perfekt, nicht nur auf der Sachebene. Die Schuldfrage braucht man hier erst gar nicht zu stellen. Wenn man im Alltag aus den Augen verliert, welche Rollen man eigentlich ausfüllt und Geschäftliches und Persönliches ohne Bedacht miteinander vermischt, braucht man sich im Nachhinein nicht zu wundern, wenn in der Kommunikation plötzlich der Wurm drin ist. Deshalb redet man auch beim Business Dinner nicht übers Geschäftliche, sondern hat es bereits davor getan oder tut dies erst danach.
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Die taktische E-Mail Sie haben Post bekommen – und zwar gestern um 21:59 Uhr. 21:59 Uhr? Wow! Wie lange arbeiten die da eigentlich? Ach, ich soll was zuschicken. Na, die haben vielleicht Nerven, am besten gleich noch gestern, was? Das machen die doch mit Absicht! Bei E-Mails geht es schon lange nicht mehr ausschließlich um den Inhalt, sondern auch darum, wann ich eine E-Mail schreibe und wie schnell ich auf eine E-Mail antworte. Es sagt ja auch etwas über mich und die Zusammenarbeit aus. Dabei muss man aber so vieles beachten. Antworte ich zu schnell, habe ich mir vielleicht keine Mühe gemacht, vor allem dann, wenn die Antwort oder das Ergebnis unbefriedigend ist. Lasse ich mir zu viel Zeit, sieht es so aus, als ob andere wichtiger sind. Also, wann antworte ich? Jetzt gleich, später oder doch lieber morgen? Viele Mitarbeiter sind mit der Kontextanalyse von E-Mails schlichtweg überfordert oder machen sich erst gar keinen Kopf darüber. Sollten sie aber vielleicht, erst recht, wenn man über die Zeitzonen hinaus kommuniziert. In New York oder Shanghai könnte der eine noch im Bett liegen und der andere gerade Feierabend gemacht haben. Schön, dass es bereits Seminare gibt, wo man mehr über das Kommunizieren über Zeitzonen hinweg lernen kann. Ob Patentrezepte hier aber immer helfen, muss bezweifelt werden. Manchmal ist es auch besser einige Dinge nicht zu ernst zu nehmen, sonst macht man sich noch verrückt. Fingerspitzengefühl hat aber noch niemandem im Job geschadet.
Paranoia lässt grüßen Kennen Sie das auch? Der Absender verlangt nach einer Lesebestätigung. Als ob es nicht schon reichen würde, eine „Mail Delivery Notice“ zu erhalten, wenn die E-Mail bei mir nicht ankommt. Jetzt will er auch noch eine Lesebestätigung haben. Abgesehen von der Notwendigkeit, die Lesebestätigung wegzuklicken, fragt sich doch der Empfänger von Lesebestätigungen: „Warum eigentlich? Wozu der ganze Schnickschnack? Bin ich etwa nicht zuverlässig? Lese ich meine E-Mails nicht regelmäßig? Mache ich es vom Adressaten oder der Betreffzeile abhängig, ob ich eine E-Mail lese oder nicht?“
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Wenn man es bis zum Ende denkt, kann man nicht mal bei einer Lesebestätigung sicher sein, ob der Empfänger die E-Mail auch wirklich gelesen hat. Ihm bleibt ja schließlich immer noch das Argument, ich hab sie gelesen, aber nur kurz überflogen, weil ich keine Zeit hatte. Wie sicher ist also die Sicherheit? Die Lesebestätigung ist nur eine Pseudogewissheit, dass eine E-Mail geöffnet wurde. Ob der Inhalt auch wirklich gelesen und zur Kenntnis genommen wurde, steht auf einem anderen Blatt Papier. Unsere Unsicherheit, dass die eigenen Informationen im Wettbewerb mit anderen auf der Strecke bleiben, hat noch andere ProgrammierFunktionen gefordert: die Prioritätsstufe. Will sagen, meine E-Mail ist wichtig! Und zwar so wichtig, dass sie ein rotes Ausrufezeichen benötigt. Zumindest kann ich doch jetzt sicher sein, dass meiner E-Mail die angemessene Aufmerksamkeit gewidmet wird, oder? Aber was, wenn die anderen E-Mails auch ein rotes Ausrufezeichen haben? Dann schwindet wieder die Wahrscheinlichkeit, dass meine E-Mail wichtig ist und damit nur eine E-Mail unter vielen anderen gleich wichtigen ist. Das Gesetz der Ähnlichkeit spielt uns hier einen Scherz mit fadem Beigeschmack. Ob eine E-Mail eine wirkliche Prioritätsstufe besitzt oder nicht, entscheiden nicht allein die Motive des Absenders, sondern es entscheidet der Gehalt einer E-Mail, der einer Verhältnisskala zugeordnet werden kann, die sich aus allen bisher empfangenen E-Mails eines Nutzers entwickelt hat. Somit kann nur der Empfänger allein entscheiden, welche Priorität eine E-Mail für ihn aufweist. Und auch hier kann bereits der Name des Absenders das ausschlaggebende Kriterium dafür sein, dass eine E-Mail eine hohe Prioritätsstufe erhält. Zum Glück gibt es da aber noch einen geheimen Trick. Ich setze die E-Mail einfach auf vertraulich, und so erhält sie wiederum etwas Mystisches und damit Einzigartiges. Was kann schon von größerem Interesse sein als „top secret“! Das traut sich bestimmt nicht jeder – und meine E-Mail verdient ja auch den Status. Schließlich schicke ich die E-Mail ja auch nur an diese eine Person. Stellt sich dann nur noch die Frage, ob man vertrauliche EMails an mehrere Personen mit demselben Inhalt einzeln verschicken muss? Im Umgang mit der Kennzeichnung von E-Mails zeigt sich die
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gleiche Desorientierung wie beim Zeitmanagement. Sämtliche Features, die generiert werden, um die Wichtigkeit von Informationen einzusortieren, werden im Nu für persönliche Befindlichkeiten und Unreflektiertheiten missbraucht, sodass ständig neue Features erfunden werden müssen. Die Paranoia wächst damit von Tag zu Tag, und es wundert mich, dass der Aspekt der Dringlichkeit noch nicht sein eigenes Feature in E-Mails erhalten hat – den Countdown! Ist er uns doch im Terminkalender und in den Aufgabenfunktionen schon längst ein treuer Wegbegleiter und Nerventreiber geworden. Ich warte bereits auf die erste E- Mail mit Erinnerungs- und Countdown-Funktion, die sich aktiviert, sobald die E-Mail mein Postfach erreicht hat. Wenn ich die E-Mail zum ersten Mal lese, ist bereits ein Teil des Countdowns verstrichen: „Sie haben nur noch drei Stunden die E-Mail zu beantworten.“ Das ganze „E-Mail-Gefeature“ lenkt nur von den zwei wichtigsten Informationsquellen in einer E-Mail ab, nämlich dem Namen des Absenders und der Betreffzeile. Diese zwei Quellen reichen absolut aus, um eine Entscheidung zu treffen, ob und wann ich eine E-Mail lese und wie dringlich und wichtig ich eine Bearbeitung erachte. Alles andere bringt mein eigenes Entscheidungs- und Kommunikationsverhalten durcheinander. Bei einer Person muss ich aufpassen, dass ich die Lesebestätigung nicht vergesse, bei einer anderen Person geht es bei Prioritätsstufe „hoch“ nur um das Mittagsmenü in der Kantine, und beim Dritten heißt „vertraulich“ nichts anderes als „Privates“. Im Seminar nennen wir das Ganze dann effektive Kommunikation mit neuen Medien. Dass wir dabei im Umgang mit diesen Medien immer paranoider werden, fällt wohl nur Wissenschaftlern und Therapeuten auf. Stellen Sie sich mal einen Verhaltenstherapeuten vor, der einem Projektleiter dabei helfen soll, E-Mails ohne Lesebestätigung, Prioritätsstufe und Vertraulichkeitsstufe zu versenden, so wie er einen zwangsgestörten Klienten therapiert, der sich erst 15-mal vergewissert, dass der Ofen auch wirklich ausgeschaltet ist, und 22-mal die Türklinke herunterdrückt, um sicherzustellen, dass die Tür auch wirklich verschlossen ist.
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Haben Sie nicht die E-Mail gelesen? Wenn auch nicht allen Nutzern bekannt, so hat sich doch relativ schnell die Cc-Kultur beim Versenden von E-Mails etabliert. Für all diejenigen, die diese Funktion nicht kennen oder sich schon immer gefragt haben, wie die richtige Bezeichnung dafür lautet, hier die Auflösung: „Cc“ bedeutet Carbon Copy (zu Deutsch: Durchschlag) und ermöglicht die Versendung einer Kopie der E-Mail an die Person, deren E-Mail-Adresse in das Feld „Cc“ eingetragen wird. Praktisch, was? Das spart doch so einige Mühen und Wege! Warum aber in Unternehmen die „CcVersenderei“ mittlerweile solche Ausmaße angenommen hat, kann wohl niemand mehr erklären. Teilweise endlos aneinandergereihte E-MailAdressen sitzen dicht gedrängt wie Hühner auf der Stange im Cc-Feld. Bei diesem Anblick stellt sich mir immer die Frage, warum diese Personen die Informationen nicht auf einem anderen Weg erhalten? Zum Beispiel in Besprechungen, in denen eine Führungskraft den Mitarbeitern die wichtigsten Informationen weitergibt. Und selbst wenn dies nicht möglich war, gehören die E-Mail-Adressen dieser Personen dann nicht gleich in die erste Absenderzeile, wenn sie davon direkt betroffen sind? Das wohl nahe liegendste Motiv ist wahrscheinlich das folgende: „Dass mir keiner sagt, er hätte es nicht gewusst.“ Nach dem Motto „mit gehangen, mit gefangen“ kommt keiner so schnell aus der Sache raus, wenn etwas schief läuft. „Ja, haben Sie nicht meine E-Mail gelesen?“, so heißt es dann in der Besprechung. Noch besser ist die Aussage „Ich setze Sie in Cc“ oder das Pendant von Führungskräften „Setzen Sie mich in Cc“. Hört sich schon fast wie eine Androhung an. Kann natürlich auch wichtig sein, kann aber auch einfach nur bedeuten: „Hat für mich keine große Relevanz, aber schaden tut’s nicht.“ Anders stellt sich die Situation beim Mitarbeiter. „Können Sie mich in Cc setzen?“, das kann entweder bedeuten: „Hey, ich will auch dabei sein.“ Oder jemand will es sich sehr einfach machen. So einen Block mit sich herumzuschleppen, das ist ja nicht mehr zeitgemäß. In unserer heutigen Leistungsgesellschaft kann die „Cclerei“ auch eine unmissverständliche Botschaft an den Vorgesetzten sein: „Behaupte nicht, ich würde nur auf meinen vier Buchstaben sitzen und Däumchen
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drehen.“ Für schüchterne Mitarbeiter in Großraumbüros bietet die CcFunktion wiederum eine elegante Form der Kontaktaufnahme aus der Distanz: „Hey, mich gibt es auch noch!“ Für mich stellt sich da eher die Frage: Reden die alle nicht mehr miteinander? Wohin soll diese Karbon-Kopie-Geschichte führen? Vielleicht will man sich ja damit auch Besprechungen sparen, weil die Hälfte aller Informationen bereits allen bekannt ist. Die Mitteilungsfunktion „Cc“ hat ihren ursprünglichen Verwendungszweck verloren. Es geht nicht mehr darum einen Dritten darüber in Kenntnis zu setzen, was für diese Person eine Relevanz hat. Heute dient die Cc-Funktion dazu sich Wege zu sparen oder sich abzusichern. Dass dadurch die E-MailFlut noch mehr angestiegen ist und der analoge Austausch darunter leidet, kann man in den Unternehmen tagtäglich beobachten. Über die Inhalte wird immer weniger geredet. Es geht nur noch darum, wem was zugeschickt wurde oder zugeschickt werden muss. Und wenn dann doch irgendetwas fehlt oder jemand behauptet, er hätte von nichts gewusst, dann werden die Prozesse und Arbeitsanweisungen überarbeitet. Willkommen in der Welt der Qualitätssicherung und ISO 3010.
Es geht noch schneller – twitter dir einen Weil es ja in der Wirtschaft nicht schnell genug gehen kann, kam Twitter.com im Jahr 2006 gerade recht. Die Mikroform des Blogs (Tagebuch im Internet) unterstützt einen noch schnelleren Kommunikationsaustausch zwischen denjenigen, die sich zu einem sozialen Netzwerk verbinden. So erhält man automatisch Updates von Mitgliedern im Netzwerk in Echtzeit per Abo. Für die Wirtschaft ist das „Twittern“ sehr praktisch. Unternehmen können Twitter dazu nutzen, den Informationsaustausch von internen Netzwerken zu unterstützen oder auch Informationen für externe Partner und Kunden bereitzustellen. Mit maximal 140 Zeichen klingt auch die Informationsmenge wie eine Erleichterung. Man könnte glauben, dass mit nur 140 Zeichen umständliche und ausschweifende Antworten ausbleiben. Oft werden aber in den Kurzbeiträgen Links integriert, die wiederum auf andere relevante Inhalte verweisen. Damit spart man sich Zeichen, der
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Informationsgehalt steigt aber automatisch an. Verwunderlich ist deshalb auch nicht der Dienst „Twitter Mail“. Wer seinen Mikro-Blog hier erstellt, muss sich nicht mehr auf 140 Zeichen beschränken, weil er diesen im E-Mail-Format erstellt. Beim Netzwerkempfänger wird dann der restliche Text über einen Link angezeigt. Vom Vorteil, es auf den Punkt bringen zu können, ist nur dann leider nichts mehr übrig geblieben. Dann kann man gleich wieder eine „normale“ E-Mail schreiben und eine Gruppe in Cc setzen. Dass sich Twitter in den Medienkreisen als Propagandamittel etabliert hat, ist auch Benutzern in Unternehmen bekannt. Twitter bietet die Möglichkeit einer Live-Berichterstattung. Besteht eine Internetverbindung, kann ein Benutzer eine Konferenz, Mitarbeiterversammlung oder Besprechung via Twitter begleiten und sein Netzwerk mit dem Gesagten und eigenen Bemerkungen in Echtzeit füttern bzw. „tweeten“. Für die Reputation von Personen in Unternehmen oder den Anstoß von Veränderungsprozessen kann das nicht immer förderlich sein. Ein Missverständnis oder ein mehrdeutiger Satz kann so ganz schnell die Runde machen – noch bevor man seinen Vortrag oder die Besprechung beendet und vielleicht bis dahin bestimmte Sachverhalte wieder relativiert hat. Im schlimmsten Fall wird man bereits hinter der Tür des Besprechungsraums vom Betriebsrat empfangen. Mittlerweile wird Twitter auch für Recruitingmaßnahmen eingesetzt. Man glaubt, dass man dadurch schneller in Kontakt mit High Potentials kommt oder auch den Kontakt zu potenziellen Bewerbern halten kann, insbesondere Nachwuchsführungskräften. Für den Empfänger ist das ganz praktisch, weil er die Konsumentenhaltung einnehmen kann und der Eindruck entsteht, da hat jemand Interesse an meiner Person und kümmert sich auch darum. Problem ist nur, dass der Mikro-Blog gepflegt werden muss und kein Mist drinstehen sollte. Unternehmenspropaganda wirkt sich hier negativ auf das gewünschte „Employer Branding“ aus – und man vergrault die potenziellen Bewerber. Twitter erleidet das gleiche Schicksal wie alle anderen neuen Kommunikationsformen, die von Unternehmen übernommen werden. Entweder wird es auf die Dauer nicht mehr genutzt oder es wird für
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persönliche Motive missbraucht. Warum? Unternehmen sind nun mal keine informellen, sondern formale soziale Netzwerke. Twitter ist aber ursprünglich für die sozialen Netzwerke im Internet programmiert worden. Diese sind aber informell und gehorchen anderen Naturgesetzen als formale Netzstrukturen, wie sie in Unternehmen vorherrschen. Den gleichen Fehler würde man machen, wenn man die Gruppenphasen nach Tuckman (1965) eins zu eins für die Erklärung und Anwendung von gruppendynamischen Prozessen in Teams heranziehen würde. Das Modell ist im Kontext informeller Gruppen entstanden und beschreibt den Verlauf von Gruppenprozessen von der ersten Kontaktaufnahme der Mitglieder bis zum gewünschten Gruppen-Output in den vier Phasen „Forming, Storming, Norming und Performing“. In Unternehmen ist aber die Zusammenstellung von Teams aus funktionalen Gründen bereits vorgegeben, und die Spielregeln sollte jeder bereits kennen, damit das Team schnell „performen“ kann. Sagen Sie mal als Projektleiter Ihrem Chef, dass das Team noch etwas brauchen wird, weil man sich gerade in der Stormingphase befindet und die ja so wichtig ist, damit man nachher richtig gut performen kann. Wahrscheinlicher ist dann ein sofortiges Storming-Gespräch mit dem Chef. Bei Twitter kommt aber aufgrund der Funktionalität noch der Aspekt hinzu, dass der ursprüngliche Vorteil der Informationsreduzierung auf 140 Zeichen immer mehr aufgeweicht wird und die Verbreitungsgeschwindigkeit im Unternehmen viele Gefahren in sich birgt, wenn Informationen voreilig und in unkontrollierter Form von den Mitarbeitern weitergegeben werden.
24/7 Rundumbetreuung, wer wünscht sich das nicht? Fast wie im Hotel, oder? Ich staune jedes Mal, wenn ich in E-Mails den Satz „Für Fragen stehen wir Ihnen jederzeit gerne zur Verfügung“ lese. Jederzeit? Also auch um Mitternacht und am Wochenende? Ist sich diejenige Person über die Konsequenzen dieser Dienstleistung bewusst? Ähnlich geht es mir mit Aussagen wie „Sie können mich immer auf dem Handy erreichen. Jederzeit, auch außerhalb der normalen Geschäftszeiten. Ich hab es immer bei mir.“ Das sind dann diejenigen, die noch am Abend im Fitness-Club in irgendeiner Ecke stehen und telefonieren und
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dann von zu Hause aus eine E-Mail vom Firmen-Laptop verschicken. Man ist halt immer im Dienst. Der anderen Seite ergeht es unter Umständen nicht besser. Wenn es schon dieses Angebot gibt, kann man sich ja genötigt fühlen, es auch zu nutzen, selbst wenn man sich gerade im Fitness-Club befindet. Das Suggerieren der ständigen Erreichbarkeit und Dienstleistung bringt unsere Lebensbereiche völlig durcheinander. Privates und Berufliches vermischen sich nicht nur im Management und bei Selbstständigen, sondern auch auf der Mitarbeiterebene. Wir sind dadurch nur noch auf Stand-by und in ständiger Bereitschaft. Die Folgen sieht man insbesondere im Privatleben, welches sich zunehmend auflöst und keine Rückzugs- und Ausgleichsmöglichkeiten mehr bietet. Psychosomatische Krankheitssymptome nehmen in unserer Gesellschaft immer mehr zu, und Depression, Mobbing und Burnout sind letzte Auswege aus dem Arbeitskontext. Schuld daran ist auch die Debatte um die eigene Selbstverwirklichung, die sich angeblich nur durch Arbeit und Karriere realisieren lässt. Der 24/7-Wahn zeigt sich beispielsweise in der Anwendung von Skype in Unternehmen, die das kostengünstige und praktische Kommunikationsmedium nutzen, insbesondere wenn man international agiert. Skype bietet den Anwendern sieben Optionen an zu signalisieren, ob eine Kontaktaufnahme im Moment Sinn macht. Diese sind: „Online, SkypeMe!, Away, Not Available, Do not Distrub, Invisible und Offline“. Irgendwie sind die meisten aber immer Online – und die, die es nicht sind, sind es trotzdem. „Kein Problem“, erhielt ich von einer Unternehmerin zur Antwort, als ich zur ihr sagte, dass ich sie am Vortag nicht kontaktiert habe, weil ihr SkypeStatus auf Offline war. Ihre Antwort war: „Das hat nichts zu sagen. Wenn ich sehe, dass mich jemand versucht zu erreichen, antworte bzw. melde ich mich umgehend.“ Wie, das hat nichts zu sagen? Wofür gibt es dann überhaupt diese Funktionen? Was ist das für eine Art von Kommunikation: Achte nicht auf die realen Signale und Zeichen, sondern handle ausschließlich nach deinem situativen Anliegen. Das wäre so, als ob man auf ein Stoppschild nicht mehr achten muss, weil man es eilig hat. Da kann man gleich alle Kommunikationsmodelle in die Tonne hauen. Da be-
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kommt der Satz „Wie wirklich ist die Wirklichkeit“ endlich seine Legitimierung. Da bin ich um die Unternehmen froh, die noch die Funktion „Out of Office“ verwenden. Da ist es eindeutig, dass meine Ansprechperson bis zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht erreichbar ist und ich mich bei Bedarf an die Vertretung wenden kann. Erhalte ich aber eine Antwort von einer Person, der ich ursprünglich nicht mal gemailt habe, frage ich mich schon, wie es dazu kommt. Könnte ja einen Einfluss darauf haben, wie ich mein Kommunikationsverhalten daran ausrichte. Noch irritierender wird es, wenn man eine Antwort vom gleichen E-Mail-Account erhält, aber der Schreibstil nicht so wirklich zur Person passt. Wer antwortet da eigentlich? Das wäre ebenso eine Verschleierung wie in einer Kontaktbörse im Internet, in der jemand, unter falschem Namen und Photo, vorgibt, ein lebenslustiger, intelligenter und sportlicher Typ zu sein. Die neuen Kommunikationsmedien lassen viel mehr Spielräume im Kommunikationsverhalten von Menschen zu, als sie im direkten persönlichen Austausch möglich sind. Damit erschweren sie eindeutige Kommunikationssignale und ein klares Bild von der Identität des Gegenübers.
Moment bitte, ich muss im System nachschauen Maßgeschneiderte Software-Produkte sollen die Kommunikation in Unternehmen und mit dem Kunden einfacher machen. Die Daten sind schnell abrufbar, werden automatisch miteinander verknüpft, sodass auch neue Informationen integriert werden können. Viele Unternehmen investieren eine Menge in IT-gestützte Kommunikation und trachten danach diese kontinuierlich zu verbessern. Die Anforderungen und Schnittstellen sind schnell definiert, sodass programmiert werden kann. Nach dem Piloten ist dann alles auch funktionsfähig, und es kann so richtig losgehen, zum Beispiel mit dem neuen Customer Relation Management Tool (CRM). Da war doch noch eine Schnittstelle, die nicht programmiert werden konnte? Genau, die Schnittstelle Mensch – Maschine. Die Daten müssen ja auch noch eingegeben und gepflegt werden – und hier ist auch schon
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die erste Fehlerquelle. Da wird was in der Hektik vergessen, und aus Herrn Sebastian Lesch wird schnell eine Frau Sebastian Lesch. Eine künstliche Intelligenz besitzen die Programme leider noch nicht, und aus Kostengründen hat man auf eine Absicherung verzichtet. Oder hat etwa jemand geglaubt, das würde nicht vorkommen? Als Kunde findet man das nicht besonders amüsant, erst recht nicht, wenn man auf diesen kleinen Fehler hingewiesen hat und bei der nächsten Post alles beim Alten geblieben ist. Dabei hat man doch persönlich angerufen, und der Mitarbeiter hat die Änderung neu eingespeichert und bestätigt. In diesem Fall haben die Programmierer ganze Arbeit geleistet. Das System erweist sich hier als sehr hartnäckig und stur. Also doch etwas Menschliches einprogrammiert. Bei mehreren Benutzern tritt dann so was wie Verantwortungsdiffusion ein. Keiner fühlt sich verantwortlich etwas zu korrigieren, das muss der Kunde schon selbst machen oder irgendeine Hilfskraft, die die Datenbanken durchforsten darf. IT-gestützte Kommunikation schafft Systematik und Ordnung in der Bewältigung großer Datenmengen. Leider wird jedoch allzu oft die Schnittstelle Mensch – Maschine vernachlässigt, sodass Fehler vorprogrammiert sind. Der Mensch ist nun mal keine Maschine, sondern ein Assoziierer! So, so, Assoziierer. Und was heißt das genau? An guten Tagen füllt der Mitarbeiter alle Felder korrekt aus, und an schlechten Tagen lässt er was weg oder vergisst auf den Button „Speichern“ zu drücken. Schuld ist das Wetter, der verspätete Zug oder eine unnötige Bemerkung des Chefs gleich am Morgen. Wir treten eben bei Gelb nicht immer gleich aufs Bremspedal. Manchmal zögern wir kurz – und manchmal geben wir Vollgas. Dann kommt uns das Rot eher dunkelgelb vor – und wenn es blitzt, dunkelrot. Falsche Entscheidung getroffen! Leidtragender ist am Ende der Kunde. Der muss sich um seine korrekten Daten und die Kundenhistorie selbst kümmern und sich am Telefon in Geduld üben. Denn schuld kann ja der andere Kollege gewesen sein oder ein neues Update des CRM-Moduls, welches mal wieder einige Bugs aufweist. Schöne Kommunikationsbaustelle.
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Die Kommunikationsblase – Freud und Leid analog Quadratisch – praktisch – Post it! Wer glaubt, dass es um unsere Kommunikation auf dem Blatt Papier besser steht, darf sich glücklich schätzen. Derjenige erhält anscheinend keine kleinen gelben Zettel, auf denen der Minimalismus großgeschrieben wird. Ein Stichwort reicht doch aus, oder? Ein Name, ein Begriff, eine Telefonnummer – alles klar! Eben noch kurz weg gewesen, und schon klebt da wieder ein gelber Zettel auf dem Bildschirm oder der Tastatur mit einer eindeutigen Handlungsanweisung. Man schaut nach links, man schaut nach rechts. Von wem kommt eigentlich der Zettel? Vielleicht hilft da die hohe Kunst der Graphologie weiter. Szenenwechsel: „Bin gleich wieder da ;-)“, so heißt es auf dem gelben Zettel am Arbeitsplatz eines Kollegen oder Mitarbeiters. Was heißt hier eigentlich „gleich“? Seit wann ist er überhaupt schon weg? Immerhin weiß man wenigstens, von wem der Zettel stammt. Der Austausch in Unternehmen wird nicht dadurch leichter, dass Informationen auf ein Minimum reduziert werden. Scheinbar irrelevante Informationen werden einfach weggelassen, weil es auch schnell gehen muss. Das Problem liegt aber dabei nicht im Medium „Post it“, sondern bei den Mitarbeitern selbst. Sie sind mit den eigenen Aufgaben so sehr beschäftigt, dass sie den Perspektivenwechsel bei der Weitergabe von Informationen ausblenden und die Konsequenzen nur dann erfahren, wenn sie selbst der Empfänger von Mikroinformationen sind. Als Mensch entwickelt man bereits in frühen Jahren eine „Theory of Mind“, ein Bewusstsein darüber, was das Gegenüber über einen Sachverhalt wissen kann und was nicht. Im Arbeitskontext geht uns aber dieses Bewusstsein immer mehr verloren, sodass unsere Kommunikation untereinander immer mehr darunter leidet, weil man nicht mal mehr alle WFragen auf einem kleinen gelben Zettel beantworten kann. Das müssen dann speziell entworfene Notizvorlagen sicherstellen, die alle Aspekte beinhalten und als Pflichtfelder ausweisen. Aber das ist ja mit Aufwand
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verbunden. Dann lieber geschwind einen kleinen gelben Zettel nehmen und nur das Wichtigste hinschreiben. Uns geht die Selbstverständlichkeit im Denken über die grundlegendsten Aspekte im Austausch von Informationen abhanden, weil unser Bewusstsein das Umfeld aus Effizienzgründen ausblendet. Der Perspektivenwechsel benötigt zu viele Ressourcen, die für scheinbar wichtigere Dinge gebraucht werden. Die Folge sind Seminarbesuche in Kommunikation 1 und 2, wo man mit dem Sender-Empfänger-Modell startet und mit vier Ohren aufhört.
Lies doch mal die Arbeitsanweisung – steht alles drin! Arbeitsanweisungen und Handbücher machen das Leben leichter. Knowledge Management nennt man das zu Neudeutsch. Eine Folge unserer Audit- und Zertifizierungsgesellschaft. Problem dabei, man muss die Zeit dazu haben, sie zu lesen, und jemand muss diese auch auf dem neuesten Stand halten. Nicht jedes Unternehmen hat eine eigene Abteilung für Qualitätsmanagement. Dem Praktiker stellen sich jedoch noch ganz andere Herausforderungen. Erst einmal muss die Arbeitsanweisung gefunden werden. Diese liegt irgendwo digital im Intranet gut abgelegt. Hat man Glück und findet die richtige, ist man noch lange nicht am Ende. Mitunter sind Arbeitsanweisungen miteinander verlinkt, sodass man sich entscheiden muss, welche man zuerst liest. Hat man den Überblick dann noch nicht verloren, lesen sich die Arbeitsanweisungen entweder wie Gebrauchsanweisungen (hohe Informationsdichte auf wenigen Seiten) oder man muss sich durch viel Prosa durchkämpfen. Das Endergebnis sind Datenbanken von Arbeitsanweisungen, die zu wenig Anwendung finden, aber einen hohen Aufwand in der Pflege produzieren. Durch die ständigen Veränderungen in Unternehmen müssen auch die Arbeitsanweisungen fortlaufend überarbeitet werden. Die Information über Änderungen an der Arbeitsanweisung „AA-501/456-3“ wird dann per E-Mail an den betreffenden Mitarbeiterkreis verschickt. Nur was an welchen Stellen verändert wurde, steht nicht in der E-Mail. Das muss schon jeder Mitarbeiter selbst nachlesen. Ist wie in Boulevardblättern in der Rubrik „Finden Sie den Fehler“. Als Mitarbeiter steht man dann wie ein Häufchen Elend da. Informationen erhält man nicht mehr aus erster Hand,
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sondern sie werden per Schriftverkehr vermittelt. Nachfragen sind unerwünscht, steht ja alles genauestens drin. Wer es nicht kapiert oder die Zeit dafür nicht hat, ist auch für den Arbeitsplatz nicht geeignet. Arbeitsanweisungen sollten öfter mal als Übungen im Assessment-Center eingesetzt werden. Sie hätten bestimmt eine größere Vorhersagekraft als so manche Simulation. Arbeitsanweisungen sind nicht mehr nur „reine“ Hilfsinstrumente zur Qualitätssicherung von Arbeitsvorgängen, sondern ersetzen mittlerweile ganze Kommunikationsprozesse in Unternehmen. Die Folge ist eine weitere Verarmung der direkten Kommunikation zwischen Führungskräften und Mitarbeitern.
Die „Light“-fädenkultur Leitfäden geben Orientierung und Sicherheit. Das mögen Führungskräfte, oder? Leitfäden bestehen meistens aus vier Teilen: dem allgemeinen Teil, der den Zweck, die Ziele und die Bestandteile des Gesprächs darlegt. Dann der zweite Teil mit der Anleitung zur Vorbereitung und Durchführung des Gesprächs. Dieser Teil ist oft sehr identisch mit anderen Leitfäden, da hier Hinweise wie „angenehme Gesprächsatmosphäre“ oder „typische Beurteilungsfehler“ stehen. Oft hat man aber als Führungskraft nach diesem Teil schon keine Lust mehr das Gespräch zu führen, weil man entweder Angst hat alles falsch zu machen oder der Aufwand zu groß erscheint. Der dritte Teil ist der Gesprächsbogen selbst, der sich über mehrere Seiten erstrecken kann, und am Ende findet sich eine Art Maßnahmenblatt, in dem die Ziele und Vereinbarungen aus diesem Gespräch festgehalten werden. Mit einer halbwegs guten Vorund Nachbereitung sowie ausreichend Zeit für das Gespräch mit dem Mitarbeiter können da schnell mal zwei Stunden zusammenkommen. In angloamerikanischen Ländern wird eine „Guideline“ eher als grobe Orientierung gesehen. Eine Grundflexibilität in der Auslegung und zeitlichen Reihenfolge wird als selbstverständlich angenommen. Bloß nicht zu kompliziert machen. Am Ende zählt das Ergebnis. Das denken sich wahrscheinlich auch viele Mitarbeiter in unseren Breitengraden, aber man hält sich strikt an die Vorgaben. Deshalb gibt es auch in Deutschland für so ziemlich jeden Gesprächsanlass einen Leitfaden. Beispiele gefällig?
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Jahresendgespräch, Jahreszwischengespräch, Mitarbeitergespräch, Zielvereinbarungsgespräch, Krankenrückkehrgespräch, Leistungsbeurteilungsgespräch, Check-in/Check-out-Gespräch u. v. m. In der konkreten Anwendung zeigen sich ganz andere Probleme. Die Leitfäden sind recht lang, sehr umfangreich und vor allem global, insbesondere bei Leistungsbeurteilungsgesprächen. Wegen der Vergleichbarkeit sind die Hauptkriterien für alle Mitarbeitergruppen gleich, seien es Angestellte im Büro oder Mitarbeiter in der Produktion. Führungskräfte erhalten noch ein zusätzliches Kriterium. Die passenden Merkmale für die Hauptkriterien muss man dann noch selbst zusammenstellen, was für viele eine echte intellektuelle Herausforderung ist. In der Durchführung selbst wirken die Gespräche dann sehr technisch. Vor allem für den Mitarbeiter. Schließlich hält man sich an den Leitfaden. Wer da noch eine angenehme Gesprächsatmosphäre herstellen kann, ist ein Multitalent. Leitfäden sind ein Abbild der Management- und Führungsdogmen des letzten Jahrhunderts. Rigide, unflexibel und an den realen Bedürfnissen der Unternehmen und der Mitarbeiter vorbei kommuniziert. Damit führen die meisten Leitfäden ihr Dasein in einer Parallelwelt, die weder von Mitarbeitern noch von Führungskräften wirklich ernst genommen wird.
Die Kommunikationsblase – Freud und Leid im Schulungsraum Für Grundlagenforscher Bei der Vermittlung von Konzepten und Theorien der Kommunikation im Trainingskontext hat Anfang der achtziger Jahre Schulz von Thun für alle Kommunikationstrainer etwas Wunderbares getan. Er integrierte die drei bis dahin prominentesten Kommunikationsmodelle in ein einziges Modell, das „Kommunikationsquadrat“ (1981), um eine eigene Theorie zur Beschreibung und Erklärung von sozialen Interaktionen aufzustellen. Zum einen das Nachrichtenmodell von Shannon und Weaver (1964),
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welches den linearen Kommunikationsverlauf vom Sender zum Empfänger beschreibt. Zum zweiten das Sprachmodell von Bühler (1934), welches der Sprache die drei Funktionen „Darstellung von Sachverhalten“, „Ausdruck von Gefühlen und Gedanken“ und „Appell an den Empfänger“ zuweist, und als dritte Kommunikationstheorie die von Watzlawick et al. (1980), welche besagt, dass eine Nachricht immer eine Botschaft auf der „Sachebene“ und der „Beziehungsebene“ enthält und somit die Beziehung zum Gesprächspartner beschreibt. Die Integration der Beziehungsfunktion einer Nachricht nach Watzlawick et al. (1980) in das Bühler’sche Kommunikationsmodell hat auch dazu geführt, dass aus dem Bühler’schen Dreieck ein Thun’sches Quadrat geworden ist und in Verbindung mit dem Sender-Empfänger-Modell von Shannon und Weaver (1964) den Trainingsteilnehmern auch deshalb als „Vier-Ohren-Modell“ bekannt ist. Unterm Strich erleichtert das neue Kommunikationsmodell ungemein die Theorievermittlung im Rahmen von Kommunikationstrainings. Schließlich müssen nun nicht mehr die einzelnen drei Grundmodelle hintereinander vermittelt werden, sondern lassen sich mit dem integrierten Modell gut veranschaulichen. Der wissenschaftliche Glücksfall entpuppt sich jedoch in der Praxis als Modell mit geringerem heuristischem Wert, denn im Alltag laufen wir wieder nur mit zwei Ohren herum, und die Analyse auf unseren „vier Ohren“ erweist sich nicht immer als so einfach wie bei den häufig verwendeten Beispielsätzen „Schatz, da ist ein Haar in meiner Suppe“ oder „Schatz, die Ampel ist grün“.“ Für die Praxis reicht es eben nicht aus, wenn man aus verschiedenen Baukästen einzelne Bausteine herausnimmt, in neue geometrische Formen steckt und dann mit Pfeilen verbindet. Erhellend ist ein neues Modell erst dann, wenn sich für den Anwender auch sinnvolle Bezüge untereinander und nachvollziehbare Ursache-Wirkungs-Beziehungen erschließen. Die Absicht, die Komplexität der Realität durch eine Modellintegration zu reduzieren, führt leider oft zur Berücksichtigung von zu vielen Einzelaspekten, was wiederum die Übersichtlichkeit und praktische Anwendbarkeit des „neuen“ Modells mindert und den Erklärungswert für den Nutzer in keiner Weise steigert.
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Aber Vorsicht! Nicht alles ist gleich zu verteufeln, was die Wissenschaft an Theorien in der Kommunikation aufstellt. Generell sollte man das Argument in der Wirtschaft, Wissenschaft und Praxis ließen sich nicht miteinander verbinden, nicht gelten lassen. Das tun vor allem diejenigen, die sich mit der einen oder anderen Materie nicht gut genug auskennen. Die Anwendung des Ausschlussprinzips macht hier das Leben zwar leichter, dafür wird eine gewinnbringende Auseinandersetzung vertan. Vielmehr sollte man eine einfache und verständliche Übersetzung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis anstreben. Denn sie ist oft der Schlüssel zum Erfolg. Wenn eine Führungskraft nach einem Kommunikationstraining im Alltag darauf achtet, wie der Mitarbeiter auf ihre Anweisung reagiert, und daran den weiteren Gesprächsverlauf ausrichtet, hat sie nicht nur das Sender-Empfänger-Modell, sondern auch die unterschiedlichen Wirkungsgrade in der Kommunikation verstanden. In welchem Ausmaß dafür die theoretische Vermittlung der Modelle notwendig ist, hängt von den Teilnehmern selbst ab. Generell sollten aber in Kommunikationstrainings Theorien dosiert und eher am Rande vorgestellt werden. Nur dann findet eine sinnvolle Verknüpfung von Theorie und Praxis statt und endet nicht in Konfusion oder Banalitäten. Nebenbei erspart es einem in der Mittagspause alberne Gespräche zwischen Teilnehmern, die sich als Sender- und Empfängermasten ausgeben, kodieren und dekodieren und nach einem Haar im Essen suchen. Dafür sollte man öfter mal den „Ton“ bei Videoanalysen abstellen, die Videosequenzen sollten unter nonverbalen Aspekten beobachtet werden, um die Aufmerksamkeit ausschließlich darauf zu richten und sich den Bedeutungsgehalt bewusst zu machen. Wem das „Vier-Ohren-Modell“ noch nicht psychologisch genug ist, kann mit dem „Eisberg-Modell“ noch tiefer in die psychische Ebene der zwischenmenschlichen Kommunikation eintauchen. Basierend auf Freuds ersten psychoanalytischen Grundannahmen bedient sich das EisbergModell den drei Bewusstseinsstufen – „Bewusstsein, Vorbewusstsein und Unbewusstsein“. Analog zu einem Eisberg, dessen weitaus größter Anteil sich „unsichtbar“ unter der Wasseroberfläche befindet, setzt sich die zwischenmensch-
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liche Kommunikation ebenfalls nur zu einem geringen Anteil aus der sichtbaren und hörbaren Kommunikation (Eisbergspitze = Bewusstsein) zusammen, der weitaus größte Anteil der Kommunikation bleibt aber zunächst im Verborgenen (Eisberg direkt unter der Wasseroberfläche = Vorbewusstsein und Unbewusstsein). Um nun an den verborgenen Anteil der Kommunikation zu gelangen, vermitteln Trainer ihren Teilnehmern, wie sie diesen erkennen und durch geschickte Fragetechniken im Gespräch herausfinden können. Ziel ist mal wieder ein positives Gesprächsergebnis. Nur sind die Herausforderungen für den Praktiker nicht gerade gering. Zunächst muss er auf die vier beobachtbaren Merkmale der Kommunikation achten: das gesprochene Wort, die Mimik, die Gestik und die gesamte Körperhaltung. Die verborgenen Motive, Gefühle und Erfahrungen, welche unseren Handlungsantrieb zu großen Teilen determinieren, lassen sich zunächst nur indirekt über Mimik, Körpersprache und Stimmlage erschließen. Der Rest ist dann nur noch ein Kinderspiel, die richtigen Fragen in der richtigen Reihenfolge. Dafür reicht eine psychotherapeutische Grundausbildung an zwei Seminartagen vollkommen aus. In diesen zwei Tagen beschäftigt man sich mit 80 bis 90 Prozent der „unsichtbaren“ Kommunikation, welche aber auch 80 bis 90 Prozent unseres Handelns und Antwortens bestimmen. Was das noch mit dem Pareto-Prinzip zu tun hat, welches oft im Zusammenhang mit dem Eisberg-Modell angewendet wird, erschließt sich dem Autor nicht. Es gibt aber auch noch die andere Seite der Medaille. Nicht nur, dass man eine Führungskraft in ihrer Kommunikationsfähigkeit mit tiefenpsychologischen Ansätzen restlos überfordert, nein, es wird auch noch von Mitarbeitern eine höchst differenzierte Selbstbeobachtungsfähigkeit der eigenen Erlebnis- und Verhaltensweise erwartet. Denn die ach so tiefsinnigen Fragen und Analysen müssen ja auch noch von der anderen Seite beantwortet werden können. Die Frage ist nur, ob der „normale“ Mitarbeiter das überhaupt kann. Vielleicht sollten Führungskräfte lieber gleich einen Hypnosekurs belegen, bevor sie Mitarbeitergespräche führen. Statt sich im Arbeitsalltag mit dem Mitarbeiter regelmäßig auszutauschen, ihn in unterschiedlichen Situationen zu beobachten und zusätzliche Informationen über dessen Weltbild, Wertehaltung und Handlungsmotive einzuholen, wird in formalen Mitarbeitergesprä-
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chen versucht in das Unterbewusstsein des Mitarbeiters zu schauen, um die Kommunikation zu verbessern. Da hatte die Titanic bessere Erfolgschancen. Unglücklicherweise kam ihr ein Eisberg in die Quere. Nebenbei bemerkt, muss man sich die Frage stellen, warum mit dem Eisberg-Modell ein topographisches Modell angewendet wird, welches von Freud selbst zu Gunsten des Strukturmodells mit den drei Instanzen „Ich, Über-Ich und Es“ aufgegeben wurde. Mit dem neuen Strukturmodell konnte Freud selbst besser als zuvor die inneren Impulse und deren Gegenkräfte im menschlichen Handeln erklären. Fragen Sie das mal bei nächster Gelegenheit einen Kommunikationstrainer. Diejenigen, denen das Eisberg-Modell zu direktiv in der Gesprächsführung ist, haben die Option, sich der Herangehensweisen der „klientenzentrierten Gesprächs[psycho]therapie“ nach Carl Rogers (1951, 1983) zu bedienen. Rogers steht für Empathie, Wertschätzung und Authentizität. Insbesondere die Empathie ist ein Renner in Kommunikationstrainings. Das Wort allein klingt schon so weich, dass es einem ganz warm ums Herz wird. Nur dass die Empathie auch einer gewissen Reife bedarf, die aber keinen so richtig interessiert. Ist auch zu anstrengend, weil man ja in die Welt des Mitarbeiters eintauchen muss, ohne den eigenen Standpunkt der Beobachtung aufzugeben. Das bedeutet aber auch gleichzeitig, dass Empathie ein Hineinhören in sich selbst ist, um dem „Selbsterleben“ des Mitarbeiters zu begegnen. Alles roger? Im Arbeitsalltag hat es sich spätestens in Konfliktsituationen mit der Empathie erledigt. Der brüllende Kunde am Telefon oder die tobende Führungskraft in der Besprechung lässt einen schnell mal die empathische Grundhaltung zu Gunsten einer effektiveren Strategie aufgeben. Vielleicht auch, weil man in der Praxis am eigenen Leib erfahren musste, wie gut es ankommt, wenn man Gesprächstechniken wie das Spiegeln falsch anwendet. Einem aufgebrachten Kunden am Telefon mittels Paraphrasieren (die Aussage wird mit eigenen Worten wiederholt) beruhigen zu wollen, wird scheitern, weil die Gefahr zu groß ist, dass man es nicht auf den Punkt bringt und zu rational wirkt. Die Emotionalität des Kunden zu spiegeln hat höhere Erfolgschancen. Jedoch nicht, wenn man das Verbalisieren emotionaler Inhalte so versteht, dass man dem Kunden sagt, man merke, wie sehr er sich
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aufrege, und dies den Kunden ärgert. „Aufregen? Ärgern? Ich bin stocksauer! Und wenn Sie jetzt nicht gleich mit Ihrem Psychogeschwafel aufhören, bekommen Sie richtig Ärger!“ Kommen Sie da mal wieder raus. Unter „aktivem Zuhören“ haben sich wohl beide etwas anderes vorgestellt. Kommunikationstrainings haben mittlerweile einen zu starken therapeutischen Touch erhalten. Grundhaltungen und Gesprächstechniken werden in ihrer Anwendung unreflektiert und missverständlich vermittelt, sodass sie Führungskräfte, Mitarbeiter und Kunden in Gesprächssituationen bringen, die einen einfachen und klaren Austausch behindern.
Für Pragmatiker Was für einige nicht wissenschaftlich oder therapeutisch genug sein kann, ist für andere wiederum nicht praxistauglich genug. Quasi nach dem Motto „von der Praxis für die Praxis“. So sieht man sich dann als Teilnehmer plötzlich Sichtweisen in der Kommunikation gegenüber, die auch im Gegensatz zur wissenschaftlichen Meinung stehen. So zum Beispiel bei der Ansicht, dass man im Arbeitskontext Rolle und Person voneinander trennen sollte. Eben noch Hans Huber, Familienvater und leidenschaftlicher Tüftler, jetzt Meister in einer Produktionsabteilung. Mit dem Überstülpen des Arbeitsoveralls schlüpft Hans Huber in seine „Arbeitsrolle“ und verkörpert am besten gleich eine neue Persönlichkeit, nämlich die einer Führungskraft. Die Rolle kann er dann auch in der Wochenbesprechung spielen, wenn es um die Durchsetzung des neuen Schichtplans geht. Am Tisch sitzen dann nicht mehr Klaus Müller und Erwin Meier, sondern der Vorarbeiter und sein Stellvertreter. Heißen tun sie beide zwar immer noch Klaus und Erwin, aber irgendwie sind es nicht dieselben Personen wie am Abend zuvor in der Kneipe. In den nächsten acht Stunden sind die Rollen klar zugeordnet und haben nichts mit der Person an sich zu tun. Klingt ein wenig schizophren, aber die Kommunikation wird dadurch scheinbar erleichtert, weil man es ja nur mit dem Schlosser und dem Rüster zu tun hat.
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Menschen besitzen Merkmale und Eigenschaften, die sie zu ganz individuellen Personen machen. Auch wenn man als Mensch im Laufe eines Tages unterschiedliche Rollen einnimmt, so bleibt man ein und dieselbe Person. Man muss nicht gleich seine Identität ändern, um sich im Arbeitskontext die Kommunikation zu erleichtern. Viel wichtiger ist es, sich seiner unterschiedlichen Rollen bewusst zu sein und den dahinter stehenden Erwartungen. Das kann auch bedeuten, dass man mit sich selbst im Rollenkonflikt steht und dann abwägen muss, wie man damit umgeht und mit seinen Kollegen oder Mitarbeitern kommuniziert. Ein anderer praxisorientierter Ansatz in der Kommunikation ist die Anwendung von Vier-Felder-Modellen, insbesondere in der Führungskommunikation. Analog zu bereits bekannten Führungsmodellen, in denen durch die Definition von zwei Hauptdimensionen (z. B. Aufgabenorientierung und Beziehungsorientierung bei Hersey & Blanchard, 1977) vier Felder entstehen, die wiederum mit vier Führungsverhaltensweisen besetzt sind, werden „Kommunikationsfelder“ besetzt. Diese zielen stärker auf kommunikative Aspekte der Führung ab und beinhalten deshalb Gesprächsanlässe, die sich im Führungsalltag immer wieder ergeben. Diese können im Bereich der Leistungsrückmeldung und der Arbeitsorganisation oder des Controllings liegen. Problematisch an diesen wie auch an den bestehenden Vier-Felder-Modellen ist, dass sie nie das gesamte Spektrum der Führungskommunikation abbilden können und immer mit anderen Kommunikationsformen und Gesprächsanlässen konkurrieren. Beispielsweise können in einem Unternehmen die Instrumente „Mitarbeitergespräch, Beurteilungsgespräch, Jahreszielvereinbarungsgespräch und Krankenrückkehrgespräch“ bereits bestehen. In einem neuen Führungskommunikationsmodell werden aber nun die Instrumente „Arbeitsgespräch, Team-Besprechung, Vertrauensgespräch und Kritikgespräch“ als grundsätzliches Modell vorgestellt. Eine Integration in die bestehenden Instrumente erfolgt nicht, weil das Modell dazu erweitert werden muss und andere geometrische Formen verwendet werden müssten. Besser also eine Parallelwelt aufbauen und zwischen Alltagskommunikation und Regelkommunikation unterscheiden. Sonst würde der Kommunikationsraum immer mehr verschachtelt, ein Kommunikationsmosaik entstünde für die Führungskraft.
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Anwenderfreundlich sieht das nicht mehr aus. Der Trainer sieht dafür umso klarer, für ihn gibt es eben nur das Quadrat. Das Hauptproblem in unserer Kommunikation am Arbeitsplatz wird jedoch dadurch nur noch verschärft. Die Alltagskommunikation wird immer mehr formalisiert und in speziell dafür kreierte Gespräche gepackt. Dann braucht es auch noch das „Wertegespräch“, damit man sich über die Unternehmenswerte unterhalten kann, und das „Tagesbegrüßungs- und Tagesabschlussgespräch“, damit es jeweils zu Beginn und zum Ende des Tages ein gelungenes „Fade in“ und „Fade out“ gibt. Damit wären wir dann am Mosaik gelandet. Der Kommunikationskollaps ist damit vorprogrammiert. Selbst beim Kaffeeholen ist es nicht mehr möglich, einfach mal zu reden. Gleichzeitig verwirren wir unsere Sprachzentren, weil in Kommunikationstrainings Regeln aufgestellt werden, die unserem natürlichen Sprachgebrauch entgegenwirken. Das Wort „aber“ ist ein fester Bestandteil unserer Sprachkultur, um Sachverhalte zu relativieren und hervorzuheben. Wenn man jedoch im Kontext von Lob und Kritik grundsätzlich nicht mit Relativierungen arbeiten darf, wird die formale Kommunikation zum Krampf, die Alltagskommunikation wird bloßgestellt. Ergo: Kommunikationsmodelle müssen nicht den kompletten Kommunikationsraum abdecken, aber sie sollten zumindest den größten Anteil davon abbilden. Deshalb sollte der Abstraktionsgrad für Kommunikationsziele auch höher angesetzt werden, damit sich mehrere Aspekte darunter zusammenfassen lassen. So sollten zum Beispiel Lob und Kritik als Orientierungsfunktionen im Sinne der Leistungsrückmeldung zusammengefasst und nicht der Pointierung wegen getrennt werden. Dafür liegt der Fokus eher auf dem alltäglichen Feedback, statt es auf die Grenzbereiche zu reduzieren. Damit würde gleichzeitig der präventive Aspekt der Kommunikation in den Vordergrund treten, denn schließlich ist ja oft schon eine ganze Menge passiert, bevor es einer Führungskraft reicht und es zu einem Kritikgespräch kommt oder es ein Lob für eine gute Leistung gibt. Unternehmen sollten es sich deshalb gut überlegen, ob sie ein neues Kommunikationsmodell übernehmen wollen. Wenn ja, sollte es in die Gesamtkonstellation des bisherigen Führungskräftekonzeptes integriert und nicht als weitere Ergänzung zu anderen Modulen aufgenommen werden.
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Die Führungskommunikation lässt sich nicht auf wenige spezifische Gesprächsziele reduzieren. Dadurch geraten andere, ebenso wichtige Aspekte in der Kommunikation in den Hintergrund, und die notwendige Flexibilität und Varianz im Kommunikationsverhalten gehen verloren, insbesondere die von Führungskräften. Hierfür ist es erforderlich, Gesprächsanlässe sowie Gesprächsformen zu verdichten und zu strukturieren, ähnlich wie bei Persönlichkeitsmodellen. In der praktischen Anwendung wiederum liegt dann die kreative Leistung in der inhaltlichen Gestaltung des Kommunikationsmodells, welches im Einklang mit der Unternehmensstrategie stehen muss. Weniger was die Ausdifferenzierung der Kommunikation betrifft, als vielmehr in der zeitlichen Abfolge bereiten Phasenmodelle von Gesprächen Probleme. Sei es in der Personalführung, im Customer-Relationship-Management oder im Salesbereich, sequenzielle Gesprächsmodelle versprechen eine effiziente und optimale Gesprächsführung. Viele Kommunikationsexperten scheinen der Meinung zu sein, dass eine additive Gesprächsführung nicht nur Orientierung und Sicherheit, sondern auch maximalen Erfolg mit sich bringt. Prominente Beispiele sind Mitarbeiterund Kritikgespräche oder auch Verkaufsgespräche. Für diese und andere Gesprächsanlässe existieren Phasenmodelle, welche oft mit der Begrüßung beginnen und mit der Verabschiedung enden. Dazwischen gibt es je nach Modell und Gesprächsanlass unterschiedliche Zwischenstufen, welche die Gesprächsführung zielführend gestalten. Das hat einen universellen Charakter und kann somit situations-, branchen- oder produktübergreifend eingesetzt werden. Die Beteiligten fühlen sich dafür eher wie in einem Einrichtungshaus, wo Abweichungen vom Hauptweg nicht gewünscht sind. Für die zentralen Zielstellungen ist das auch notwendig, wie zum Beispiel in Kritikgesprächen, in denen das Bewusstsein für ein Fehlverhalten oder eine unkollegiale Einstellung erreicht werden muss. Nur ist es dazu nicht immer erforderlich ein und denselben Weg zu gehen. Im schlimmsten Fall muss ein Mitarbeiter dem Gesprächsverlauf folgend den „Kniefall praktizieren“, selbst wenn die Einsicht bereits zu Gesprächsbeginn vorhanden ist. Das Phasenmodell erfordert nicht nur
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Einsicht oder Reue, die Mitarbeiter müssen auch auf ihre Glaubwürdigkeit hin überprüft werden. Kommen Ihnen diese Gesprächsmodelle auch wie Workflow-Charts von Informationsverarbeitungsmodellen vor? Die Phasen sind schön aufeinander gereiht und mit Pfeilen verbunden. Man darf nichts auslassen, und wehe, eine Phase kommt zu kurz. Da kann es schon mal vorkommen, dass sich ein Manager, der sich ursprünglich mit dem Kauf eines flotten Flitzers einen Jugendtraum erfüllen wollte, am Ende einem hochmotorisierten SUV zulegt, weil der Automobilverkäufer in der Bedarfsanalyse sämtliche Bedürfnisse und Kaufmotive, auch die der übrigen Familienmitglieder, erfragt hat und mit den Grundmotiven des Managers kombiniert hat. Voilà, das perfekte Auto – jung, frech und altersentsprechend dynamisch! Porsche hatte auch einst als Unternehmensphilosophie die Attribute kraftvoll, innovativ und leicht. Jetzt hat man den Cayenne und den Panamera. Unsere Kommunikation ist nicht rein sequenziell. Sie ist mal sprunghaft, mal logarithmisch, mal exponentiell und manchmal auch parallel. In der Kommunikation sind sequenzielle Gesprächsphasen ebenso vorhanden wie parallele Prozesse oder Rückkopplungsschleifen. Wir sollten deshalb die Kommunikation auch nicht wie ein „Flüsterpostmodell“ behandeln. Vielmehr sind einfache Entscheidungsbäume in der Gesprächsführung gefragt, die es erlauben, beim richtigen Startpunkt zu beginnen, bei den zentralen Fragestellungen in die Tiefe zu gehen und an den passenden Stellen eine sinnvolle Abkürzung oder Rückkopplung vorzunehmen, um das Gespräch auch zu einem guten Gespräch werden zu lassen. Hier spielen auch Emotionen eine große Rolle, die, wie in einer Kurzgeschichte oder in einem Film, Spannungen erzeugen und damit die Aufmerksamkeit und die Gesprächsbindung des Gesprächspartners sicherstellen. Rein sequenzielle Modelle lassen Emotionen nicht hochkochen und lassen viele Gespräche steif wirken.
Für Rhetoriker Was für die einen die höchste Form der Kommunikation ist, ist für die anderen nur noch der Verfall einer einstigen Redekunst, bei der weniger
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der Inhalt im Vordergrund steht als vielmehr die Verpackung und das Feuerwerk drumherum. Im Grunde hat sich jedoch nichts geändert. Einige konnten das schon immer gut und andere eben nicht. Findet man im jeweiligen Kontext die richtige Mischung aus Inhalt, Botschaft und Wirkung, schafft man es in bestimmten Situationen gut rüberzukommen. Das Problem in unserer heutigen Zeit ist aber, dass der Anteil derjenigen, die mit Wort-Bildern und Geschichten die Antworten auf unsere komplexen Problemstellungen geben können, immer weniger wird. Dafür gibt es umso mehr die übermotivierten Rhetoriker, die mit Picture Building und Story Telling die eigene und unserer aller Unwissenheit verschleiern wollen, weil man keine Antworten auf die zentralen Fragestellungen kennt oder die nackte Wahrheit nicht aussprechen will. In Seminaren zu Rhetorik, Auftritt und Wirkung wollen sie nach Möglichkeit erfahren, wie sie mit unbequemen Fragen von Journalisten, Aufsichtsräten, Vorgesetzten oder Mitarbeitern geschickt umgehen können. Man lernt also im Seminar beispielsweise, wie man als Manager oder Führungskraft auf eine kritische Nachfrage reagiert, deren Antwort man nicht kennt. Man legt ganz einfach die Lösung in die Zukunft, unter Einbindung der Anstrengung aller Beteiligten bis dahin – und schon ist man aus dem Schneider. Das führt langfristig nur leider dazu, dass das Vertrauen in eine Person schwindet, weil auf konkrete Fragestellungen immer nur mit globalen Aussagen geantwortet wird. Die Kommunikation dreht sich dann nur noch im Kreis und zielt nicht mehr auf den Kern des Themas ab. Deshalb erwartet auch Cicero von einem guten Redner Klarheit über ein Thema, bevor er es sprachlich und rhetorisch verpackt. Damit hat er aber sicherlich nicht gemeint, unsinnige Vergleiche anzustellen, um den eigenen Standpunkt zu verteidigen. Wenn man zu dem steht, was man sagt, ist das nicht nötig, denn dann steht man sicher. Kommunikationsprobleme in einem Unternehmen mit typischen Situationen in der Kindererziehung zu vergleichen oder mit Volkskrankheiten zu relativieren, hat mit Diplomatie und Taktgefühl wenig zu tun. Wer will sich schon mit einem Fünfjährigen vergleichen lassen oder als uneinsichtiger Raucher bezeichnet werden.
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Die Rhetorik wurde zweckentfremdet und hat nicht mehr den Stellenwert einer effektiven Form der Überzeugungskraft und bildhaften Klarheit. Dafür wird sie immer häufiger mit fehlender Aufrichtigkeit und mangelnder Bedeutungshaltigkeit in Verbindung gebracht. Der Zuhörer schaltet bereits nach den ersten Ausführungen ab. Das Einzige, was die „hohle“ Rhetorik beim Zuhörer noch auslöst, ist Verärgerung und Unmut. Paradoxerweise ist dies genau das, was in Rhetorik-Seminaren geschult wird: Emotionen vor Inhalten. Welche, das ist zunächst zweitrangig, und über die Konsequenzen denkt man gleich gar nicht nach. Sollte man aber, denn die aktuelle Form der Rhetorik weckt mehr denn je den Verdacht, dass die Wahrheit anders aussieht, als es das Management vorgibt.
Fazit: Wege aus dem Kommunikations-Wirrwarr Kurt Tucholsky hat einmal gesagt: „Sprache ist eine Waffe, haltet sie scharf!“ Die Frage ist, ob er damit gemeint hat, Kommunikationstheorien immer komplizierter zu machen und Kommunikationsmedien immer mehr zu überladen. Denn genau das ist in den letzten Jahren geschehen. Unsere Sprache wird immer stumpfer und versteckt sich hinter rhetorischen Auswüchsen. In Unternehmen werden Kommunikationsstrategien und -modelle entweder draufgesetzt oder ausgetauscht, nur nicht integriert. Ergebnis sind Kommunikationsprobleme im Arbeitsalltag. Im ersten Fall werden die Mitarbeiter mit Optionen und Inhalten überschwemmt, die sich im schlimmsten Fall gegenseitig behindern oder widersprechen, im zweiten Fall muss man die psychologische Löschtaste betätigen. In Kommunikationstrainings wird es entweder hoch theoretisch oder unglaublich formell, sodass die Transferleistung in den Alltag so oder so auf der Strecke bleibt. In unserer komplexen Arbeitswelt ist es an der Zeit, die Kommunikation neu auszurichten, um die Zusammenarbeit wieder auf einen Nenner zu bringen. Ähnlich wie in den Kognitionswissenschaften muss die Kommunikation aus den zuletzt sehr kopflastigen Ansätzen heraus, hin zu einem interaktiven Modell, in dem die Kommunikation nicht vom abstrakten Denken und der Logik dominiert wird, sondern sich durch die
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Interaktion mit ihrer Umwelt „verkörperlicht“ und davon geleitet wird. Wenn wir Kommunikation erfolgreich gestalten wollen, können wir das nur, solange die Kommunikation für uns anschaulich ist. Wird sie zu abstrakt, müssen wir mehr Logik anwenden, und das wir darin nicht besonders gut sind, hat uns Andy Clark mit seinem Satz „good at Frisbee, bad at logic“ (1998, S. 60) mehr als verdeutlicht. Ziel muss es deshalb sein, einen „communicative term“ zu entwickeln, der es uns ermöglicht, in der Interaktion mit unserem Umfeld (Situation, Kontext, Personen) die gewünschte Botschaft mit den treffenden Worten auszusprechen und dabei den richtigen Kommunikationsweg zu wählen bzw. das dafür geeignete externe Kommunikationsmittel einzusetzen. Term 1: Sei klar! Und zwar in dem, was du sagst. Dazu braucht es zwei Dinge: Was will ich sagen und wie muss ich es dann sagen. Je konkreter die Botschaft, desto weniger mehrdeutig ist auch die Wortwahl, und desto eher beschränken wir uns auf das Wesentliche. Zum Beispiel im Vertrieb, wenn man einen Kunden zunächst danach fragt, ob er vielleicht kurz Zeit für ein Gespräch hätte, anstatt gleich damit zu beginnen: „Ich möchte Sie als Kunden gewinnen!“ In der heutigen Praxis versucht man eher mit der Sprache Dinge und Meinungen zu verschleiern, als sie direkt auszusprechen. Das ist vor allem dann der Fall, wenn es um Flexibilität oder Engagement geht. Eine Führungskraft kann entweder sagen: „Es könnte sein, dass wir nächsten Monat unter Umständen etwas mehr zu tun haben werden, aber noch kann man nichts mit Gewissheit sagen. Also erstmal bleibt alles beim Alten.“ Oder: „Ich gehe davon aus, dass wir nächsten Monat mit zwei Schichten fahren werden. Die Auftragslage zeigt das. Stellt euch also darauf ein und stimmt euch zu Hause schon mal ab.“ Zu gefährlich ist es, eine klare Position zu beziehen, weil bestimmte Interessengruppen das nicht gut finden könnten, beispielsweise der Betriebsrat. Besonders in konflikthaften Situationen werden schwache Formulierungen gewählt, anstatt klare Worte zu finden. Der Satz:: „Ich bitte Sie
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in der Zukunft pünktlicher zu sein und hoffe, dass es in der Zukunft nicht mehr vorkommt“ lässt noch viel Spielraum offen. Ergebnisse und Konsequenzen werden erst gar nicht angesprochen. Besser wäre es, zuerst das Fehlverhalten, das Ergebnis und die Wirkung des Fehlverhaltens zu benennen: „Sie sind heute eine halbe Stunde zu spät gekommen. Deshalb konnten wir mit der Besprechung nicht pünktlich beginnen. Darüber bin ich sehr verärgert!“ Im späteren Gesprächsverlauf sollten dann auch die Erwartungen unmissverständlich angesprochen werden: „Ich erwarte von Ihnen, dass Sie ab sofort pünktlich an Ihrem Arbeitsplatz erscheinen. Haben Sie mich verstanden? ... Gut, dann bitte ich Sie jetzt wieder an die Arbeit zu gehen.“ Nicht anders zeigt sich der Fall im Beschwerdemanagement. Verärgerte Gesprächspartner wieder „ins Boot“ zu holen ist nicht einfach. Das schafft man aber nicht mit Sätzen wie: „Ich merke gerade, dass Sie sehr verärgert sind ...“ Oder: „Es tut mir leid, ich kann gut verstehen, warum Sie sich so aufregen.“ – Verärgert? Leidtun? Aufregen? Liebe Leut! Der Kunde ist stocksauer und wütend! Das sind seine wahren Gefühle, und die Metakommunikation „Ich merke gerade“ bzw. „Ich kann Sie gut verstehen“ sollte man sich lieber sparen. Das ist so, als wenn ich bei der Bedarfsanalyse dem Kunden sagen würden: „Ich möchte Sie zuerst abholen und werden Ihnen jetzt ein paar Fragen stellen.“ – Nicht abholen, einfach machen! Der Kunde sollte erstmal seinen Gefühlen und Emotionen freien Lauf lassen können, und diese können dann gespiegelt werden: „Jetzt haben Sie aber wirklich Dampf abgelassen.“ Oder: „Sie sind ganz schön wütend.“ Umgekehrt ist es aber auch erlaubt, den Kunden den Spiegel vorzuhalten, wenn dieser ausfällig wird: „Schreien Sie mich bitte nicht an.“ Oder: „Wie soll ich Ihnen einen Vorschlag machen, wenn Sie mich nicht ausreden lassen?“ Die Deutung von Signalen des Gegenübers sollte so konkret wie möglich erfolgen und nicht gleich voller Interpretationen sein. Dabei werden nicht selten nur die verbalen und weniger die nonverbalen (z. B. Mimik oder Gestik) und paraverbalen (z. B. Tonalität, Rhythmus oder Melodie) Signale beachtet. Diese Signale sind aber ebenso zu beachten wie das gesprochene Wort, weil sie oft eine schnellere Klar-
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heit in das Gespräch bringen und zudem bewusster für die eigenen Zwecke genutzt werden können. Bei der Beobachtung des Gesprächspartners ist es deshalb wichtig auf dessen Körpersprache, Haltung und Stimme zu achten, denn diese verraten viel. Unterstützt beispielsweise jemand seine Aussagen zusätzlich mit starken Gesten oder kippt plötzlich die Stimme, wenn man in die heiße Phase der Verhandlung geht? Ein weiterer Aspekt bei der Beobachtung des Gesprächpartners ist die Kongruenz (Passung) einer gezeigten Emotion zum Kontext. Gute Beispiele dafür sind ein verkrampftes Lachen in einer ernsten Situation oder fehlende Überraschung bei einer Information, die eigentlich noch niemand kennen dürfte. Auch Änderungen im Gesprächsverlauf sind wichtige Indikatoren zur Prüfung der Authentizität des Gesprächpartners, zum Beispiel, wenn jemand anfängt sich am Kinn, an der Stirn, am Ohr oder an der Nase zu berühren, und das in einem bestimmten Kontext wiederholt. Bei Bill Clinton konnte man an dies besonders gut in seinen Interviews zur Lewinsky-Affäre beobachten. Während der Passagen, in denen er eine sexuelle Beziehung zu Monika Lewinsky bestritt, fasste er sich ständig an die Nase. Bei Antworten auf weniger delikate Fragen berührte er die Nase hingegen überhaupt nicht. Glaubt man den Erklärungen des Psychiaters Alan Hirsch, schwillt erregbares Gewebe in der Nase an, wenn wir lügen, und das wiederum führt zu Nasenjucken. Das kurze Zusammenpressen der Lippen wird häufig als „Mehr möchte ich dazu nicht sagen“ gedeutet und sollte nicht mit „Mehr habe ich dazu nicht zu sagen“ verwechselt werden. Asymmetrie in der Mimik, wie zum Beispiel ein einseitig hochgezogener Mundwinkel bei Verachtung, oder einseitige Bewegungen am Körper bedeuten tendenziell eine geringe Aufrichtigkeit, aufgesetztes Verhalten bis hin zu Lügen. „Nur in der Sprache kann man lügen“, so heißt es bei Hörmann (1967, Psychologie der Sprache), und in der Wirtschaft kommt das häufiger vor als es uns lieb ist. Da aber Lügen bekannterweise kurze Beine haben, sollten wir damit tunlichst aufhören. Unser Gehirn arbeitet dafür nicht exakt genug. Das Lügen überstrapaziert unser Gehirn, und
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früher oder später sind dessen hemmende Prozesse nicht schnell genug – und schwups, verrät uns unsere Mimik oder ein Satz ist uns herausgerutscht, den man lieber nicht hätte sagen sollen. Klarheit hilft dagegen einen klaren Kopf zu behalten, das Umfeld, die Situation und den Gesprächspartner so wahrzunehmen, wie sie sich darstellen, und daran die Kommunikation auszurichten. Beispielsweise den Blickkontakt zu halten, weil dieser für die Vertrauensbildung wichtig ist. Schauen sie als Führungskraft „offen“ in das Gesicht Ihres Mitarbeiters und zeigen Sie sich entspannt. Das geht vor allem dann, wenn man sich auf Mitarbeitergespräche vorbereitet. Warten Sie auch nicht zu lange mit Mitarbeitergesprächen. Für einen Mitarbeiter ist es leichter, zurückliegende Sachverhalte in einem anderen Licht dastehen zu lassen, als aktuelle Situationen und die damit verbundenen Gefühle zu kaschieren. In Kritikgesprächen muss man auch nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen, vor allem wenn man weiß, dass der Mitarbeiter zunächst alles abstreiten wird oder so tun wird, als ob er von nichts wüsste. Über einen allgemeinen Einstieg über Fehlverhalten können zunächst die Reaktionen des Mitarbeiters beobachtet werden. Versucht der Mitarbeiter das Thema zu wechseln, wird es ihm unangenehm sein – und das wird einen Grund haben. Hat der Mitarbeiter nichts zu verbergen, wird er gelassener über das Thema reden können. Wichtig ist, dass man als Führungskraft keine Hemmungen hat, jemandem weh zu tun, und ernsthaft im Gespräch bleibt, sonst bekommt man keine ehrlichen Antworten. Also, genaues Hinschauen ist gefragt! Term 2: Wähle den richtigen Weg! Wer die Wahl hat, hat die Qual. Das gilt aber nicht im Bereich der Kommunikation. Hier gilt es abhängig vom Gehalt der Botschaft, der Dringlichkeit und der Distanz zum Gesprächspartner zu entscheiden, welches der adäquate Kommunikationsweg ist. Mit Kommunikationswegen sind drei Kategorien gemeint, welche aufeinander aufbauen. Schriftliche Kommunikationsmittel wie Notiz, Brief, E-Mail, SMS und Twitter. Sprachbasierende Kommunikationsmittel wie Voice-Chat, Te-
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lefon bzw. Handy und als oberste Kategorie das persönliche Gespräch von Angesicht zu Angesicht. Als Entscheidungsfindung bei der Wahl des Kommunikationsweges sollten folgende Daumenregeln angewendet werden. Erstens, je gehaltvoller und dringlicher ein Kommunikationsbedarf ist, desto schneller klettert die Wahl des Kommunikationsweges in Richtung des persönlichen Gesprächs, beispielsweise, wenn eine Dienstleistung oder ein Produkt zum wiederholten Mal den Vorstellungen des Kunden nicht entspricht oder ein Auftrag mit dem Standardprozess nicht mehr abgebildet werden kann. Einzige Barriere kann hier die Distanz darstellen. Befindet sich der Gesprächspartner an einem anderen Standort oder auch auf einem anderen Erdteil, ist die höchste Ebene das Telefongespräch oder der Live-Chat. Damit ist auch klar, dass, wenn Kommunikationen auf einer Ebene ins Stocken geraten, die nächsthöhere Kommunikationsebene gewählt werden muss, und zwar lieber früher als später. Dann ist es nämlich besser, gleich zum Hörer zu greifen und den Kunden zu kontaktieren oder ins Büro vom Kollegen bzw. Chef zu gehen, als die „x-te“ Mail oder SMS zu schreiben. Zweitens, je näher die Distanz zum Gesprächspartner, desto eher sollten Abstimmungen und der Austausch in persönlichen Gesprächen oder Besprechungen mit Gruppen erfolgen. Die Kommunikation kann sich hier auf alle verbalen (Wortwahl, Ausdruck), nonverbalen (Mimik, Gestik, Körperhaltung) und paraverbalen (Lautstärke, Betonung, Rhythmus, Melodie) Signale stützen. So kann auch auf den Gehalt von Kommunikationsinhalten (fachlich, informativ, emotional) stärker persönlich Einfluss genommen werden. Damit wird gleichzeitig die Flut an digitalen Kommunikationen am Arbeitsplatz reduziert. Nur bei hoch formalisierten Prozessen, wie zum Beispiel Aktennotizen oder Prüfungspapieren, reichen rein textliche Kommunikationsmittel aus, um einen fließenden und eindeutigen Kommunikationsprozess zu garantieren.
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Mit den „communicative terms“ wird ein einfacher und solider Kommunikationsansatz aufgestellt, welcher die Orientierung bietet, das eigene Kommunikationsverhalten an der Umwelt auszurichten und einen roten Faden in der Gesprächsführung und der Wahl des Kommunikationskanals zu behalten. Damit werden andere Kommunikationstheorien und Kommunikationstrainings nicht obsolet, da sie ja ebenso Bestandteil der Umwelt zweier Gesprächspartner sein können. Alles, was der Kommunikation zwischen zwei Menschen dienlich ist, was dazu beiträgt, sie zu veranschaulichen bzw. zu verkörpern, ist für das Verständnis und einen klareren Austausch für beide Seiten förderlich.
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6. Die Droge Coaching – Speed für Führungskräfte?
„Was halten Sie von ‚Speed-Coaching?‘, so lautete eine Leserbefragung von managerSeminare Anfang 2010. Den Lesern wurde die Frage gestellt, ob Kurzzeit-Coachings eine sinnvolle Ergänzung zu herkömmlichen Angeboten sind oder eher eine Brechstangenmethode, die mit Coaching nicht viel zu tun hat. Das Ergebnis der Online-Befragung, an der knapp über 100 Leser teilgenommen haben, spiegelte die Branchenkritik wider: In konkreten, berufstechnischen Fragestellungen unbedenklich, bei komplexeren Fragestellungen tendenziell problematisch. In nur einer einzigen Fragestellung konnten sich die Leser zu einer einheitlicheren Meinungsbildung deutlich über der 50-Prozent-Marke finden, nämlich, dass das Kurzformat eher für Beratung und Ratschläge, weniger für ein echtes Coaching geeignet ist (60 Prozent). Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Therapeuten oder Nachbarn. Kaum eine andere Methode im Weiterbildungsbereich hat so eine Dynamik und Geschwindigkeit angenommen wie das Coaching. Damit spiegelt die Coachingmethode den Zeitgeist unserer Millenniumgesellschaft wider. Schneller, höher, weiter. Die Krönung wird wohl der iCoach als App zum Downloaden werden. Immer dabei und immer die richtigen Antworten parat auf immer banalere Problemstellungen. Damit der iCoach bei den stetig ansteigenden Apps-Anwendungen im mittlerweile sechsstelligen Bereich nicht in Vergessenheit gerät, erhält er eine Tamagotchi-Funktion. Das garantiert ihm genügend „Aufmerksamkeit“. Survival of the Fittest in der digitalen Welt.
S. Lesch, Psychoblasen in der Wirtschaft, DOI 10.1007/978-3-8349-6449-6_6, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Die Droge Coaching – Speed für Führungskräfte?
Darf man bei Coachings einen Return on Investment erwarten? Das Coaching von Führungskräften ist in vielen Unternehmen eine Selbstverständlichkeit, gilt fast als Statussymbol. Blicken Unternehmen jedoch auf ihre bisherige Coachinghistorie zurück, so stellt sich bei einigen doch eher Ernüchterung ein. Was haben die Coachings in den jeweiligen Führungsebenen bewirkt? Wo ist der Return on Invest, den diese Methode verspricht? Wo zeigen sich die Qualitätssprünge bei den Führungskräften, die sich nun zu wahren Führungskräften entwickelt haben: standhaft gegenüber Mitarbeitern, antizipierend in den Arbeitsprozessen, souverän im Umgang mit Geschäftspartnern und Kunden? Unternehmen haben aus ihren bisherigen Erfahrungen mit Coaching-Maßnahmen Rückschlüsse gezogen und stellen CoachingKonzepte mehr und mehr in Frage. „Bei den meisten Terminen wissen wir doch gar nicht, was da gerade gemacht wird“, bekam ich eines Tages von einem Personalleiter zur Antwort, als ich ihn fragte, welche Erfahrungen er mit Coachings im Unternehmen gemacht hat. Zwar gibt es immer noch eine Reihe von Unternehmen, deren Personalentwicklung sich in Seminar- und Konferenzräumen abspielt, jedoch sind viele Personalverantwortliche alles andere als begeistert, wenn sie mit dem Begriff Coaching konfrontiert werden. Argumente für das Coaching, wie etwa intensive und individuelle Begleitung, „ziehen“ nicht mehr. Auch der naive Glaube, der Coach wird es schon irgendwie richten, findet sich bei den Verantwortlichen in Unternehmen immer seltener. Stattdessen wird bereits zu Beginn, im Sondierungsgespräch, sehr kritisch hinterfragt, wie der Coach an die Problemstellungen herangehen will und welche Vorteile seine Herangehensweise für die Führungskräfte und das Unternehmen haben werden. Wer als Coach neue Begriffe kreiert, um den Eindruck zu erwecken, er würde die Dinge anders anpacken, es aber im Kern auch bei ihm immer noch um das eigentliche, klassische Coaching geht, der tut sich keinen Gefallen. Auch um die Inhalte im Coaching steht es nicht viel besser. Mehr dazu aber später.
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Unternehmen wollen mehr und besser über potenzielle Coachs informiert werden, wollen genau wissen, mit wem sie es zu tun haben. Welchen Hintergrund hat der Coach? Welche Erfahrungen wurden bisher gemacht? Wo liegen die Schwerpunkte und Einsatzgebiete? Ist der Coach ein Generalist oder auf bestimmte Themen spezialisiert? Wie geht er mit schwierigen Führungssituationen um? Das sind die Fragen, die Personalverantwortliche stellen oder besser stellen sollten, wenn es um das Qualitätsmanagement im Personalmanagement geht. Denn in der Weiterbildungsbranche tummeln sich mittlerweile die abenteuerlichsten Coachingansätze. So existieren zum Beispiel bereits Ausbildungsangebote für Coachs mit Schwerpunkt „Klinische Psychologie“. Über die Notwendigkeit dieser Ausbildung lässt sich vielleicht streiten, aber aus der Sicht von Unternehmen können diese Ausbildungsinhalte sehr wohl von Interesse sein. Die Frage allerdings ist, ob der Coach analytisch und strategisch vorgeht oder nur Halbwissen vermittelt. So zum Beispiel die Verwendung von Persönlichkeitsmodellen im Coaching. Wer das DISG-Modell (VierFelder-Modell mit den Grundtypen Dominant, Initiativ, Stetig und Gewissenhaft) zur Einschätzung des Persönlichkeitsprofils unkritisch anwendet, obwohl es um dessen wissenschaftliche Validität nicht zum Besten steht, läuft Gefahr, als Küchenpsychologe zu coachen. Menschen in Quadrate zu packen und zu sagen „So bist du!“, entspricht der Temperamentenlehre von anno dazumal. Der Führungskraft wird ein enges und starres Persönlichkeitsbild vermittelt, auch wenn man ihr nur am Anfang einen „ersten Anhaltspunkt“ geben will und es sich auch nur um eine „Mischform“ handelt. Leider schüttelt man als Mensch den ersten Eindruck nicht mehr so schnell ab. Es macht also schon Sinn, sich Zeit bei der Auswahl von Coachs zu nehmen und genau zu überlegen, welcher Coach zu welcher Zielgruppe im Unternehmen passen könnte. Erst, wenn etwas richtig schiefgelaufen ist, werden Fragen gestellt. Wenn dann nichts mehr zu retten ist, wird der Coach auch ausgetauscht. Coaching-Konzepte werden insbesondere dann in Frage gestellt, wenn die kritischen Rückmeldungen von gecoachten Führungskräf-
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ten immer lauter werden. Das kann viele Gründe haben. Manche Führungskräfte fühlen sich mittlerweile schlichtweg übercoacht und möchten eine gewisse Zeit „in Ruhe“ gelassen werden. Andere empfinden die Aufmerksamkeit, die sie in den Coachings erfahren, als recht angenehm, fragen sich aber im Nachhinein, ob und wo sie darüber hinaus profitiert haben. Andere Führungskräfte wiederum betrachten Coaching als reine Geldverschwendung und sehen großes Einsparpotenzial, mehr als an anderen Stellen im Unternehmen. Coaching-Konzepte werden spätestens dann in Frage gestellt, wenn sie kein Ende nehmen. Unermüdlich wird von den Coachs gepredigt, dass die ursprünglich geplante Anzahl an Coachings nicht genüge, um bereits erreichte Veränderungen zur Routine werden zu lassen. Im Übrigen hatte man ja schon zu Beginn darauf hingewiesen, dass das Coachen der Führungskräfte in der speziellen Situation kein Spaziergang werden würde. Seltsamerweise bekommt man von Coachs nur selten zu hören, dass bei der einen oder anderen Führungskraft jede Mühe vergebens ist und man sich andere Maßnahmen überlegen sollte. Noch seltener kommt der Vorschlag, geplante Coachings nicht mehr oder für andere Führungskräfte zu verwenden, weil eine Führungskraft mittlerweile genau das umsetzt, was man von ihr erwartet hat. Nimmt aber die Anzahl an Coachings auf Dauer nicht ab oder steigt sogar an, wird in den Unternehmen selbstverständlich nach den Gründen gefragt. Sind die Coachs vielleicht nicht qualifiziert genug oder sollte der Fokus auf andere Herangehensweisen und Methoden gerichtet werden, um die Performance von Führungskräften zu steigern? Ist Coaching vielleicht gar nicht das Erfolgsrezept, das aus jeder Führungskraft auch eine gute Führungskraft macht? Anstatt in Unternehmen nach der Ursache des Führungsproblems zu forschen, wird das Problem allem Anschein nach durch ein Coaching erst von hinten aufgerollt, ohne dass es vielleicht jemals gelöst werden kann. Viel Geld und Engagement fließen jährlich in die Coachings der vorhandenen Führungsmannschaften von Unternehmen, und gleichzeitig werden munter neue Führungskräfte nachgeschoben, die ebenfalls gecoacht
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werden müssen. Das Phänomen, immer mehr Geld auszugeben, obwohl es längst klüger wäre, die Handbremse zu ziehen, hat in der Wirtschaftspsychologie bereits einen festen Namen: Escalating Management. Warum geben also so viele Unternehmen so viel Geld für Coachings aus?
Die Coachingblase Da hat doch jemand bei der Auswahl gepennt Steckt ein Unternehmen sehr viel Geld in das Coaching seiner Führungskräfte, macht es bei der Auswahl seiner Führungskräfte etwas falsch. Keiner kann behaupten, dass Recruiting und Personalauswahl einfach wären. Im Zeitalter der Information werden kaum Kosten gescheut, die besten Führungskräfte zu finden, sei es von außen oder in den eigenen Reihen. Dabei wird eine kaum zu überblickende Datenmenge gesammelt. Dies hat dazu geführt, dass die Budgets für Recruiting und Personalauswahl oft größer sind als die Budgets für die Weiterentwicklung der vorhandenen Mannschaft. Schließlich müssen Anforderungsprofile neu erstellt und Schlüsselkompetenzen überprüft werden. Stellenausschreibungen lesen sich auch deshalb wie Wunschzettel, und in Potenzialanalysen wird anstelle des Potenzials nur der Status quo analysiert. In anderen Unternehmen wiederum nimmt man es mit der Auswahl nicht so genau. Da wird einfach der Beste aus dem Team genommen. Ist doch logisch. Dass diese Person aber nicht unbedingt die beste Führungskraft ist, sieht man besonders gut bei Verkäufern und Sachbearbeitern. Beim Ersteren nehmen die Verkaufszahlen ab, beim Letzteren die Qualität. Der eine tut nicht mehr das, was er am besten kann, nämlich verkaufen, und der andere ist damit beschäftigt, die Fehler der anderen zu korrigieren. So oder so, letzten Endes ist das Ergebnis das gleiche. Falsche Person auf der falschen Stelle. Die Fehleinschätzung will sich niemand eingestehen. Die Recruiter nicht, weil die Instrumente doch normiert sind und man
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bereits auf der Suche nach anderen Führungskräften ist. Die Vorgesetzten nicht, weil sie entweder zugestimmt oder die Führungskraft selbst ausgewählt haben. Die Personalberater nicht, weil es keinen besseren Kandidaten gab, und die Personalentwickler können es schon gleich gar nicht gewesen sein, weil sie eh nichts zu entscheiden haben. Ergo, bei der Auswahl und Potenzialanalyse von Führungskräften wird zu wenig darauf geachtet, ob jemand auch wirklich als Führungskraft für eine bestimmte Führungsposition geeignet ist. Dafür wird im Nachgang umso mehr auf allen Führungsebenen trainiert und gecoacht, weil sich die Mängel im Alltag zeigen. Im Rahmen von Unternehmensanalysen und Umsetzungstagen wird diese Praxis dann auch von externen Beratern und Coachs gefördert. Ein Teufelskreis, an dem aber ganz gut verdient wird, wie die nächsten Punkte verdeutlichen.
Er ist noch nicht so weit Coachings fangen erst dann richtig an, wenn der erste Schwung an Terminen umgesetzt ist. Eine weitere Ursache für die hohen Ausgaben für Coachings liegt auch in der Beratungsqualität von freischaffenden Coachs und denjenigen Unternehmensberatungen bzw. Trainingsinstituten, die sich die Personalentwicklung groß auf die Fahne geschrieben haben. Zwei Argumente eignen sich dabei besonders gut, ein gestartetes Coaching fortzuführen: Prozess und Nachhaltigkeit. Haben die ersten fünf Termine stattgefunden, lassen sich damit zwei Sachverhalte beschreiben. Erstens, die Beziehung ist aufgebaut und die ersten Schritte wurden gemacht (Prozessargument). Zweitens, die ersten Erfolge und Veränderungen im Führungsverhalten sind noch nicht gefestigt und könnten wieder durch alte Routinen überschrieben werden (Nachhaltigkeitsargument). Ergo, er ist noch nicht so weit. Nach zehn Terminen heißt es dann: „Wir haben vieles erreicht, aber es sind hier und da noch ein paar neue Baustellen zum Vorschein gekommen“ (Prozessargument), und „Wenn wir jetzt aufhören, war alles umsonst!“ Ergo, weitermachen.
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Die Argumentationskette kann sich beliebig fortsetzen. Der Blick auf die bereits durchgeführten Termine ist konkret (bisherige Erfolge), die Aussichten für die nächsten weniger. Und wenn man das Coaching jetzt beenden würde, gäbe es auch keine Garantie. Der Aspekt der Prognose wird dabei vollkommen außer Acht gelassen. Dabei sollte die Prognosefähigkeit von Coachs ein Qualitätsmerkmal in der Personalentwicklung sein. Mit dem Wissen, der Erfahrung und der bisherigen Zusammenarbeit mit einer Führungskraft sollte es einem Coach doch gelingen, eine Prognose für den weiteren Coachingprozess abzugeben. Auf dieser Grundlage kann der Auftraggeber die Entscheidung für den weiteren Rahmen treffen. In Gutachten von Management Audits und Potenzialanalysen ist die Prognose fester Bestandteil der Gesamteinschätzung und wichtigste Entscheidungsgrundlage für die Einstellung oder Aufnahme in ein Nachwuchskräftepool. Wer sich aber nur auf retrospektive Argumentationen einlässt, muss sich nicht wundern, wenn Coachings immer länger und länger dauern, weil noch lange nicht alles bearbeitet wurde und vieles wieder verloren gehen könnte.
Goodbye auf Raten – jetzt gleich oder doch lieber später? Coachings werden subventioniert, weil sich die Coachs davor scheuen, in einen Selektionsprozess hineingezogen zu werden, obwohl sie selbst diesen zwangsläufig auslösen. Als Coach kommt man schnell ins Schleudern, wenn von Unternehmensseite die Frage gestellt wird, ob eine bestimmte Führungskraft für eine bestimmte Position geeignet ist oder sich überhaupt entwickeln lässt. Der Coach ist spätestens dann mittendrin im Selektionsprozess, wenn er, über den Vorgesetzten oder die Personalabteilung, erfährt, dass man mit der Entwicklung der betreffenden Führungskraft nicht zufrieden ist. Auch dann, wenn der Coach dem Auftraggeber zu Beginn deutlich zu verstehen gegeben hat, dass man sich ausschließlich mit Personalentwicklung beschäftige.
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Was tun? So richtig wehtun will niemand jemandem, weder der Führungskraft noch dem Coach. Also schreibt man einfach den Coachingauftrag um. Die neuen Zielstellungen können dabei in verschiedene Richtungen gehen, zum Beispiel in ein Führungscoaching „intensiv“ oder ein Teamcoaching. Vielleicht lässt sich ja mit dem ganzen Team die Performance der Führungskraft steigern. Damit ergeben sich aber auch weitere Termine auf der Kostenstelle Coaching, weil man sich vor den Konsequenzen scheut und sich lieber für ein Schrecken ohne Ende als ein Ende mit Schrecken entscheidet. Die Begleitung der Führungskraft in eine neue Abteilung und Position oder die Vorbereitung auf einen „Exit“ aus dem Unternehmen sind da schon wesentlich konsequentere Entscheidungen. Bei der Exitstrategie machen nicht unbedingt alle Coachs mit. Ist aber auch nicht schlimm, es gibt ja eigens auf diese Fälle spezialisierte Coachs. Das geht aber auch nicht von heute auf morgen.
Es lebe der Kommunismus Coaching als Gruppenmaßnahme für kränkelnde Führungskulturen Ausgerechnet mit Hilfe von Coachings erhofft man sich in den Unternehmen eine schnellere Umsetzung eines neuen einheitlichen Führungsselbstverständnisses. Was dabei wohl aber irgendwie in Vergessenheit gerät, ist, dass Coaching im klassischen, ideologischen Sinne eine auf den Einzelnen bezogene Methode ist. Während das Management also erwartet, dass die Coachs die Führungskräfte möglichst schnell in die gleiche Richtung marschieren lassen, fangen die Coachs zunächst damit an, eine tragfähige und vertrauensvolle Beziehung zu den einzelnen zu coachenden Führungskräften aufzubauen, um diesen als Partner für individuelle Themen, seien es emotionale oder fachliche, zur Verfügung zu stehen. Damit stehen sich aber zwei grundsätzlich unterschiedliche Auffassungen über Coachings gegenüber, die in der Auftragsklärung unbedingt besprochen werden müssen. Dass der Lerneffekt beim Coaching aus dem Unterschied zwischen Innen- und Außensicht resultiert, ist zwar eine notwendige Voraussetzung für Veränderungen in Unternehmen, aber noch
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keine hinreichende für flächendeckende Maßnahmen. Im klassischen Sinne soll die gecoachte Führungskraft aus der neu gewonnenen Distanz und differenzierten Sichtweise ihrer Arbeitssituation das eigene Handlungsrepertoire erweitern. In diesem Verständnis ist Coaching ein individueller Beratungsprozess, welcher sich auf die einzelne Person in Verbindung mit ihrer Persönlichkeit, ihrer Funktion, ihren Werten und ihrer Rollen in der Organisation bezieht. Aus Sicht des Managements sollen aber die Führungskräfte ihr Handlungsrepertoire nicht in irgendwelche Richtungen erweitern, sondern ein vorgegebenes Führungsverständnis verinnerlichen und die trainierten Führungsinstrumente im Alltag eins zu eins umsetzen.
Die Couch als Coach „Ihre Leute sollen endlich mal coachen und nicht therapieren!“ Liegt hier etwa ein Missverständnis vor? Coaching ist zwar im Prinzip das Gleiche wie Supervision, in der Wirtschaft ist aber der Begriff Coaching allgemein akzeptierter, weil er auch nicht durch ausschließliche psychologische Konnotationen vorbelastet ist. Jedoch wird in der Wirtschaft immer häufiger mit Coachingmethoden gearbeitet, die den ursprünglichen Gedanken von Coaching im wirtschaftlichen Kontext verwässern. Auf dem Coaching-Markt finden sich Methoden mit den unterschiedlichsten Schwerpunkten. Wie bereits weiter oben erwähnt, werden aufgrund der steigenden Anzahl von depressiven, gemobbten und unter dem Burn-out-Syndrom leidenden Führungskräften Coachingausbildungen mit dem Schwerpunkt „Klinische Psychologie“ angeboten. Den Teilnehmern wird klinisches Grundwissen vermittelt, und sie absolvieren während dieser Ausbildung auch Praxisstunden in psychosomatischen Kliniken oder Psychiatrien. Danach beherrschen diese Coachs die Kunst der mobilen psychiatrischen Ambulanz. Angespornt von diesen Angeboten scheuen andere Coachs nicht davor zurück, Techniken einzusetzen, die man sonst bei weiter entfernten Zielgruppen findet. Führungskräfte sollen mit Puppen spielen, weil sie dadurch ihre Probleme „dissoziieren“ und komplexe Zusammenhänge erkennen können. Andere Coachs wiederum sehen im Malen eine
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Methode, die komplexen Problemstellungen von Führungskräften ans Tageslicht zu bringen. Bei diesem Angebot an Techniken ist es nur eine Frage der Zeit, wann Coachs die EMDR-Therapie einsetzen, da diese sich so gut in der Traumatherapie bewährt hat: Während der EMDRBehandlung wird der Klient angeleitet, in kurzen Abschnitten mit einer belastenden Erinnerung in Kontakt zu gehen, während er den Fingeroder Handbewegungen des Therapeuten mit seinen Blicken folgt (bilaterale Stimulation). Nach einer erfolgreichen EMDR-Sitzung erleben die meisten Klienten eine entlastende Veränderung der Erinnerung, die damit verbundene körperliche Erregung klingt deutlich ab und negative Gedanken können neu und positiver umformuliert werden (EMDR steht für Eye Movement Desensitization and Reprocessing). Schließlich leiden heutzutage so einige Führungskräfte an schwersten Traumata. Das größte Trauma überhaupt ist vielleicht die Globalisierung. Als Außenstehender stellt man sich da schon die Frage, ob hier ein klinischer Fall vorliegt oder der Coach einfach nicht in der Lage ist, mit gesundem Menschenverstand und analytischem Denken die Dinge auf den Punkt zu bringen oder ein treffendes Bild auf ein Flipchart zu malen. Das andere Extrem sind die neumedialen Coachs, die mit Hilfe ihres BlackBerry-Smartphones und Twitter in nur 140 Zeichen einer Führungskraft irgendwo auf dem Erdball zur Seite stehen wollen. Daneben gibt es die Gattung der Speed-Coaches, die im Minuten-Takt zwischen Tür und Angel, also immerhin in einem echten „Reality-Coaching“, ohne langwierige Ursachenanalyse Tipps und Ratschläge geben. Wo ist hier der Bezug zur Realität geblieben? Gibt es noch den Coaching-Generalisten, der das Repertoire und die Zeit für eine Prozessberatung hat? Der den Austausch mit Kollegen sucht, um seine eigene Arbeit zu reflektieren und sich ernsthaft damit auseinandersetzt, zu welcher Problemstellung und Persönlichkeitsstruktur einer Führungskraft welcher Ansatz und welche Technik am sinnvollsten und effektivsten ist? Stattdessen werden Seminare mit der Fragestellung: „Darf ein Coach Ratschläge geben?“ besucht. Was für ein Verständnis von Coaching liegt hier überhaupt vor? Will man sich vor Konsequenzen oder Misserfolg
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absichern? Will man die Wirksamkeit von Coachings dem Zufall überlassen? Vielleicht reicht ja den Auftraggebern eine Fifty-fifty-Chance. Oder will man sich als Coach einfach davor schützen, dass eine Führungskraft ihr Handeln mit der Aussage „Mein Coach hat es mir aber so gesagt!“ absichert? Viel wichtiger sind doch diejenigen Fragestellungen, die erst aus der Konsequenz Ratschläge zu geben entstehen, insbesondere dann, wenn man als Coach zwischen die Fronten gerät und zum Buhmann der Führungskräfte oder des Auftraggebers wird. Welchen Weg schlägt man als Coach ein, wenn der Vorgesetzte des Gecoachten Verhaltensweisen zeigt, die nicht der vorgegebenen Führungskultur entsprechen? Hätten Sie, ohne lange überlegen zu müssen, eine treffende Antwort auf diese Frage? Als Coach sollten Sie Antworten geben können. Und die Unternehmen? Die hangeln sich derweil von einem zum nächsten Coach, in der Hoffnung, dass einer der Coachs mit seiner Methode bei den Führungskräften etwas bewirken wird. Was bleibt einem auch anderes übrig.
Der Coaching-Knigge Umarmung oder Zugriff? Würde man Coachs die Frage stellen, welches ihre Stärken und welches ihre Schwächen sind, so könnte man zwei Tendenzen feststellen. Die einen sind gut im Umarmen, die anderen gut im Anpacken. Interessanterweise können die, die gut umarmen können, nicht so gut anpacken und umgekehrt. Umarmungscoachs zeichnen sich also dadurch aus, dass sie empathisch sind, gut zuhören können und es schaffen, dass sich die gecoachte Führungskraft über Dinge klar wird, auch Dinge, die in der Vergangenheit liegen. Das schafft Nähe und Vertrauen. Man „umarmt“ sich. Die neuen Perspektiven und Handlungsmuster, die auf dieser Basis erarbeitet werden, sind nicht vorgegeben und können individuell entwickelt werden.
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Zugriffscoachs interessiert zwar auch zu Beginn die Vergangenheit, aber schnell werden die Ärmel hochgekrempelt, und es wird auf das anvisierte Ziel hin gearbeitet. Sie packen die Dinge an und nehmen die Führungskraft einfach mit. Dabei sind sie erfrischend geradeaus und überzeugend in ihren Ratschlägen und ihrem Handeln. Das müssen sie auch, denn die Führungsinhalte sind oft vom Unternehmen klar abgesteckt und bieten kaum Spielraum für Auslegungen. Welcher Coach ist aber nun der richtige? Oder sollte die Frage eher lauten, zu welchen Anteilen ein Coach Umarmungs- und Zugriffscoach sein sollte? Es wird nur wenige geben, die im richtigen Moment genau das tun, was der Führungskraft am liebsten wäre. Umarmen, wenn es ihr schlecht geht, und zugreifen, wenn sie den Mut und die Kraft zum Verändern hat. Ob das immer das Wirkungsvollste sein wird, ist eher zu bezweifeln. Der Coach sollte besser situativ und kontextabhängig agieren. Anschieben, bevor sich die Führungskraft an die Umarmung gewöhnt hat, und auffangen, bevor es richtig wehtut. Da aber der Coach von der Tendenz her entweder das eine oder das andere ist, sollte man sich bereits in der Auftragsklärung die Frage stellen, welcher Coach gewünscht ist. Es kann selbstverständlich von Führungskraft zu Führungskraft ein anderer Coach beauftragt werden, viel wichtiger ist jedoch, für welche Art von Coaching man sich entscheidet bzw. in welche Maßnahme das Coaching integriert wird.
Lebenshilfe oder Beratung? Wer meint, ein Coach würde einfach nur coachen, hat nicht ganz Unrecht, ihm fehlen aber noch einige Puzzlestücke. Die Art und Weise, mit der ein Coach seine Rolle und Funktion in Unternehmen ausfüllt, reicht ebenfalls noch nicht aus, um beurteilen zu können, ob für den Coach die Führungskraft selbst oder das Führungsverhalten, also die Ausübung von Führung, im Vordergrund steht. Das macht in der Praxis einen großen Unterschied. Persönlichkeitscoachings laufen nun mal anders ab als Umsetzungscoachings. Wo setzt dann aber Coaching demnach an?
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Im Grunde ist Coaching für vieles offen, weil es sich zwischen den Polen Therapie und Training frei bewegen kann, ohne aber den beiden Extremen zu nahe zu kommen. Beim Persönlichkeitscoaching geht es dabei schwerpunktmäßig um die Wahrnehmung und Reflexion des eigenen Erlebens und Handelns als Führungskraft. Mit Hilfe des Coachs werden charakteristische Verhaltensweisen in Führungssituationen aufgearbeitet, und es wird der Umgang mit unterschiedlichen Mitarbeitern analysiert. Dabei helfen mitunter auch Persönlichkeitsmodelle, anhand derer, je nach Typenlehre oder Rollenmodell, eine Kategorisierung vorgenommen und darauf aufbauend an neuen Handlungsstrategien gearbeitet wird. Diese reichen von einfachen Vier-Felder-Schemen bis hin zu anspruchsvolleren Konstrukten mit differenzierteren Ansätzen. Hier bewegt sich Coaching im Sinne der Lebensberatung an der Grenze zur Therapie. Das Handlungsspektrum der Führungskraft wird erweitert und damit einhergehend an einer Persönlichkeitsentwicklung gearbeitet. Beim Umsetzungscoaching geht es schwerpunktmäßig um eine möglichst effektive und effiziente Umsetzung von definierten Führungsinhalten und Führungsinstrumenten. Dazu gehören viele Führungsgespräche, wie zum Beispiel Beurteilungsgespräche, Zielvereinbarungsgespräche, Lob- und Kritikgespräche, aber auch Methoden der Arbeitsorganisation wie Zeit- und Projektmanagement oder die Gruppensteuerung bei Veränderungen. Diese Inhalte werden in der Regel vorab in Trainings vermittelt und sollen dann in der Praxis möglichst schnell und eins zu eins umgesetzt werden. Die philosophischen Aspekte von Führung, welche in den Trainings fast immer zu Beginn der zwei- bis dreitägigen Seminare behandelt werden, kommen später in den Coachings kaum noch vor, wenn nicht der Coach selbst immer wieder die Bezüge herstellt. Aber vielleicht sind diese Führungsideologien ohnehin nicht so wichtig, denn was macht es schon für einen Unterschied, ob eine Führungskraft bei unterschiedlichen Windverhältnissen segeln oder wie ein Fußballtrainer von Spiel zu Spiel taktieren muss. Hier wird besonders deutlich, dass man Persönlichkeitscoaching und Umsetzungscoaching im Prozess nicht zu sehr vermischen sollte. Im ungünstigen Fall werden Glaubenssätze bei
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den meisten Führungskräften gelöscht, im schlechtesten Fall werden sie dazu genutzt, um Missstände im Unternehmen anzuprangern und damit die eigene Untätigkeit zu rechtfertigen. Die Unterscheidung hilft umso mehr bei der Wahl des geeigneten Coachs für die eine oder die andere Zielsetzung. Für das Persönlichkeitscoaching eignet sich eher der Coach, dessen Stärke im Umarmen liegt. Beim Umsetzungscoaching kann wiederum der Zugriffscoach die besseren Ergebnisse erzielen. Nur bei Führungskräften, die bei Umsetzungscoachings schnell an ihre Grenzen stoßen, sollten keine „Hardcore“-Zugriffscoachs eingesetzt werden. Damit sind Zugriffscoachs gemeint, die Führungskräfte zu Dingen drängen, zu denen sie weder bereit noch in der Lage sind. Beispielsweise wenn die Führungskraft ein Kritikgespräch führen soll, aber weder eine Herangehensweise kennt noch den Mut dazu hat. Anstelle auf die Führungskraft einzugehen kämpft der Coach immer mehr gegen den Widerstand der Führungskraft. Hier empfiehlt sich ein gemäßigter Coach, der bei seinem Coaching stets die richtige Dosierung von Erkenntnisgewinn, Wissensvermittlung und Umsetzung findet und dabei die Grenzen des Zumutbaren im Blick behält.
Staccato oder Staccatissimo? Wie viel Coaching braucht eine Führungskraft? Je mehr, desto besser? Kann jedenfalls nicht schaden, oder? Wie viel Coaching sich ein Unternehmen leisten will, hängt zunächst vom Budget und Zeitraum ab, in dem etwas passieren soll. Daneben spielen die Anzahl der Führungskräfte und die Führungsebene eine nicht unerhebliche Rolle. All diese Aspekte können bereits die gewünschte Anzahl und Häufigkeit von Coachings stark beeinflussen. Grundsätzlich orientiert sich die Anzahl und Häufigkeit von Coachings an der Art des Coachings. Es macht nämlich einen Unterschied, ob es um Umsetzungsbegleitung von neuen Methoden und Instrumenten oder um Persönlichkeitsentwicklung geht. Als Daumenregel für das Umsetzungscoaching gelten häufigere Kontaktpunkte, in kürzeren Abständen, über einen mittelfristigen Zeit-
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raum. Hier kann zu Beginn die Frequenz von Coachings auf Kosten kürzerer Begleitungszeiten höher sein. Im weiteren Verlauf können dann die Abstände ausgeweitet werden, nur sollten dann die gecoachte Führungskraft und der Coach auch etwas mehr Zeit haben zu arbeiten. Wichtig bei Umsetzungscoachings ist aber, dass ein definierter Gesamtzeitraum festgelegt wird, in dem die neuen Führungsmethoden und Führungsinstrumente angewendet, bei Bedarf modifiziert und in Routine überführt werden sollen. Andernfalls plätschert das Coaching vor sich hin und von Umsetzungsdruck ist wenig zu spüren. Ist das Ergebnis abschließend unbefriedigend, ist die Führungskraft entweder nicht in der Lage die Dinge umzusetzen oder sie sträubt sich dagegen. Beides sollte der Coach frühzeitig bemerken und ansprechen, ebenso sollte er es frühzeitig thematisieren, wenn er der Führungskraft nicht die notwendigen Erkenntnisse und Tipps zur effektiven Umsetzung geben kann. Je nach Situation sollten dann die entsprechenden Maßnahmen besprochen und ergriffen werden. Im positiven Fall ist der Umsetzungsgrad so groß, dass automatisch andere Themen in den Vordergrund treten. Diese können sehr wohl aufgegriffen und bearbeitet werden, sollten jedoch mit dem Auftraggeber abgestimmt werden. So kann sich im Nachgang zu einem Umsetzungscoaching ein Persönlichkeitscoaching anschließen. Um aber sicherzugehen, dass die sehr schnell umgesetzten Verhaltensweisen nicht genauso schnell wieder verschwinden, sollte nach einer gewissen Zeit überprüft werden, ob der neue Standard auch verinnerlicht wurde. Das geht dann aber zunächst auch ohne ein erneutes Coaching. Beim Persönlichkeitscoaching steht dafür die Kontinuität im Vordergrund. Hier sollten aufgrund der eher personalen Themen regelmäßige Kontakte in gleichen Abständen stattfinden, in denen ausreichend Zeit für die Reflexion von Entwicklungen vorhanden ist, um die nächsten konkreten Schritten zu erarbeiten. Deshalb ist auch bei dieser Form von Coaching das Zeitfenster deutlich länger anzusetzen als beim Umsetzungscoaching. Persönlichkeitsmerkmale (Traits) lassen sich nun mal nur langfristig beeinflussen und dies auch nur innerhalb eines gewissen Spielraums. Erst recht, wenn neue Eigenschaften erlernt werden sollen.
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Da ist es schon wesentlich einfacher, einzelne Verhaltensweisen (Habits) in Führungssituationen zu verändern oder zu löschen, sei es z. B. in der Organisation von Arbeitsabläufen oder in der Durchführung von Meetings.
Interaktiv oder reflektierend? An dieser Stelle wird auch deutlich, dass beim Umsetzungscoaching die Begleitung im Führungsalltag größere Anteile besitzen sollte und der Austausch zwischen Führungskraft und Coach handwerklicher abläuft, während beim Persönlichkeitscoaching die direkte Begleitung mehr einer Begleitung gleicht und in der Reflexion stärker auf der sprachlichen und intellektuelleren Metaebene stattfindet. Zwei Beispiele, welche diese unterschiedlichen Schwerpunkte verdeutlichen: Im ersten Fall soll in einem Unternehmen die Besprechungskultur wieder auf ein altes Niveau gebracht werden. In den Jahren sind die einst aufgestellten Grundregeln bei vielen Führungskräften in Vergessenheit geraten, ebenso die großflächigen Plakate in den Besprechungsräumen, die nichts an ihrer Gültigkeit verloren haben. Die Führungskraft wird in der Vorund Nachbereitung aktiv unterstützt und während der Besprechung nonverbal gecoacht. Abschließend wird die Sequenz reflektiert, und die wichtigsten Erkenntnisse sowie nächsten Schritte werden erarbeitet und, wenn die Zeit es erlaubt, gleich geübt. Ein klassisches Umsetzungscoaching. Ein kurzer Blick in die Vergangenheit, dann aber im Hier und Jetzt mit Blick nach vorne handeln. Im zweiten Fall wird eine Führungskraft in Vorbereitung auf den Sprung in die nächste Führungsebene begleitet. Hier wird zunächst mit Hilfe des Coachs die bisherige Führungstätigkeit aufbereitet, und sowohl die positiven als auch negativen Eigenschaften sowie Verhaltensweisen werden in der aktuellen Führungsposition analysiert. Dazu werden neben der Beobachtung im Alltag auch psychometrische Messmethoden verwendet, um das Bild zu differenzieren. Ist das Profil erst einmal aufgestellt, wird dieses mit der zukünftigen Rollenkompetenz und dem Aufgabenfeld abgeglichen. Darauf aufbauend wird ein Fahrplan für die Zukunft aufge-
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stellt, und die weitere Begleitung wird darauf abgestimmt. Ein typisches Persönlichkeitscoaching. Neben diesen beiden Beispielen lassen sich noch viele andere finden. Festzuhalten ist aber: Beide Formen sind reflektierend und beide intensiv, jedoch zielen sie auf unterschiedliche Bereiche bei der Führungskraft ab.
Stilles Kämmerchen oder große Bühne? Zuweilen hält sich das Gerücht, Coaching würde sich nur in den vier Wänden der jeweiligen Führungskraft abspielen. Sicherlich bedarf es vieler Kontaktpunkte zwischen Führungskraft und Coach in einem geschützten Raum. Stellen Sie sich vor wie es wäre, wenn nach einem Mitarbeitergespräch die Führungskraft mit dem Coach im Großraumbüro an deren Schreibtisch den Verlauf und die Ergebnisse des Gespräches bespricht. Im Unternehmen sollten Coachings jedoch nicht ausschließlich face-toface im stillen Kämmerchen stattfinden. Deshalb empfiehlt es sich auch bereits nach kurzer Zeit die Schnittstellen im Unternehmen im Coachingprozess aktiv mit einzubinden. So zum Beispiel in Form von Tandemcoachings bzw. bilateralen Coachings mit Kollegen der gleichen oder nächstunteren Führungsebene. Hier kann der Coach aktiv den Erwartungsabgleich und die Kommunikation zwischen beiden Personen unterstützen, indem er den Perspektivenwechsel spiegelt und Dinge zu Tage bringt, die sonst unausgesprochen bleiben und vielleicht auch von der einen oder anderen Führungskraft nicht wahrgenommen werden. Die andere, aufwendigere, teurere und langsamere Variante ist, dass jede Führungskraft für sich im Nachgang mit dem Coach die Gespräche mit Kollegen oder Mitarbeitern bespricht, sich Ziele setzt und sich Vorgehensweisen für das nächste Gespräch vornimmt, um diese wiederum im Nachgang individuell mit dem Coach zu besprechen. Die nächste Stufe ist das Teamcoaching. Diese Form des Coachings ist vor allem dann angebracht, wenn gruppendynamische Prozesse anspruchsvoll oder schwierig geworden sind. Dies ist zum Beispiel in Projektgruppen der Fall, insbesondere in führungslosen Projektgruppen, aber
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auch bei einschneidenden Veränderungsprozessen innerhalb von Teams, wo eine Führungskraft über die Maßen gefordert sein kann. Hier kann der phasenweise Einsatz eines zweiten Coachs hilfreich sein, da mit ihm nicht nur die Fülle an Informationen besser verarbeitet werden kann, sondern auch Coachingmethoden wie das „Reflektierende Team“ eingesetzt werden können. In der praktischen Durchführung sieht das wie folgt aus. Zwei Coachs verfolgen zunächst als stille Beobachter eine Gesprächssequenz. Dann reflektieren Coach und Co-Coach vor der Führungskraft oder einem ganzen Team miteinander über ihre Beobachtungen, den Gesprächsverlauf, Inhalte, alternative Wahrnehmungen des Problems und mögliche Lösungen. Danach wendet sich der Coach wieder der Führungskraft oder dem Team zu und fragt nach, was an der Reflexion anregend war, welche Schlüsse daraus gezogen werden etc. Manchmal muss ein Coach auch „ungewöhnliche“ Situationen kreieren, um Offenheit für neue Denkanstöße zu fördern. Einen Musterbruch, der Sackgassen verhindert und neue Türen öffnet. Ein großer Nutzen dieses aufwendigeren Verfahrens, neben der sehr konsequenten Herangehensweise eines systemischen Beratungsansatzes. Die Variation von Intra-, Inter- und Gruppencoachings steigert die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit von Coachings, da die unterschiedlichen Kontextbezüge nicht nur für die Führungskraft, sondern auch für den Coach sehr aufschlussreich sind und somit schneller die richtigen Impulse im Prozess gegeben werden können.
Führen oder managen? Gerade weil Coaching eine universelle Methode ist, kommt sie bei unterschiedlichen Personenkreisen in Unternehmen zum Einsatz. Meistens jedoch ab der ersten Führungsebene aufwärts. Aber Führungskraft ist nicht gleich Führungskraft. Diese lassen sich in Nachwuchsführungskräfte (werden bald Mitarbeiter führen), Führungskräfte (führen Mitarbeiter), obere Führungskräfte (führen Führungskräfte) und Manager (führen Unternehmen) einteilen. Jetzt könnte man meinen, je höher die Position, desto durchdachter und anspruchsvoller die Methoden und Ansätze im Coaching. Das würde aber
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bedeuten, dass der Anspruch und die Qualität von Coachings vom Status der Führungskraft abhängig wären, was man daran gut erkennen kann, dass die Tagessätze von Coachings für Manager deutlich höher sind als die für „normale“ Führungskräfte. Coaching sollte aber unabhängig vom Personenkreis immer durchdacht und anspruchsvoll sein, ganz gleich in welcher Führungsebene. Der Tagessatz eines Coachings sollte sich nicht nur an der Dimension der Führungsebene orientieren, sondern auch die Dimensionen Reflexionsfähigkeit und Erfahrung der Führungskraft berücksichtigen. Oder glauben Sie, dass eine Führungskraft mit Erreichen der nächsten Führungsebene automatisch mehr Reflexionsvermögen erlangt? Je höher also die Position, das Reflexionsvermögen und der Erfahrungshintergrund einer Führungskraft sind, desto vielschichtiger und differenzierter sollte die Kommunikation bzw. Sprache des Coachs sein. Hinzu kommt mit jeder höheren Führungsebene eine stärkere systemische und abstrahierte Betrachtungsweise. Gelingt es dem Coach, der Führungskraft in deren Führungsumfeld auf deren Sprach- und Abstraktionsebene Zusammenhänge und Ursache-Wirkungs-Mechanismen aufzuzeigen, desto eher werden die Einschätzungen und Anregungen von der Führungskraft angenommen und von Nutzen sein.
Coaching by Knowledge oder Trial and Error? Wie bereits weiter oben erwähnt, kennen die eingesetzten Methoden und Techniken im Coaching scheinbar keine Grenzen. Von Ansätzen aus der Esoterik über Psychomethoden aus den unterschiedlichsten Fachdisziplinen bis hin zu Techniken aus Fernost ist alles vorzufinden. Grundsätzlich sollte ein Coach dem alchemistischen „solve et coagula“ – „löse und verbinde“ folgen, um Struktur und Flexibilität zu ermöglichen. Als Eklektiker besitzt er dadurch mehr Möglichkeiten, im Verlauf eines Coachingsprozesses auf Entwicklungen und Veränderungen zu reagieren, vor allem dann, wenn er den Eindruck bekommt, es geht nicht mehr so
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recht voran oder die bisherige Vorgehensweise ist der Gewohnheit zum Opfer gefallen. Ein weiterer Vorteil ist, unabhängig von Führungsthema und Führungskraft, eine passende Methode oder Technik zu wählen. Aber auch hier sollten vorab mit dem Auftraggeber der Rahmen und die Möglichkeiten abgesteckt werden. Schließlich bewegt man sich in einem Unternehmen und nicht in Kursen an der Volkshochschule. In der Praxis kann man die Neigungen und die Präferenzen von Coachs recht gut an deren Schwerpunkten und Angeboten erkennen. Welche Ansätze und Methoden jedoch ein Unternehmen für ihre Führungskräfte für sinnvoll hält, steht auf einem anderen Blatt Papier. Haben die Methoden und Techniken insbesondere beim Umsetzungscoaching keinen direkten Anwendungsbezug, sollte man die Finger davon lassen, außer man hat das Geld und die Zeit für Experimente. Viel wichtiger sind die Heuristiken, mit denen ein Coach den Beratungsprozess beginnt und begleitet. Zwei der wichtigsten Heuristiken beim Coachen sollen an dieser Stelle aufgeführt werden. Heuristik 1: Falsifizieren, nicht verifizieren Um zu überprüfen, ob eine Hypothese über eine Führungskraft oder ihren Mitarbeiter „wahr“ ist, sollte ein Coach nicht nach Beobachtungen und Aussagen suchen, welche die Hypothese bestätigen, sondern danach suchen, ob er sie widerlegen kann. Denn selbst mit nur einer Beobachtung, in der eine Führungskraft oder ein Mitarbeiter etwas tut bzw. sagt, was man mit ihr abgesprochen hat, ist die Hypothese widerlegt und damit falsifiziert. Deshalb sollten vom Coach Situationen begleitet werden, in denen er die aufgestellten Hypothesen testen kann. Andernfalls besteht die Gefahr, dass man aufgrund einer frühzeitigen Entscheidung sein Urteil über eine Führungskraft oder dessen Mitarbeiter nur noch bestätigt sieht. Hinzu kommt die eigene Projektion im Coaching. Sie ist ein ständiger Begleiter des Coachs und sollte über permanente Selbstreflexion und Abgleich mit Dritten analysiert werden, um nicht in die falsche Richtung
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zu coachen. Als betroffene Führungskraft oder betroffener Auftraggeber erkennt man diese Vorgehensweise daran, dass der Coach die Falsifizierung als festen Bestandteil in seine Feedbacks und Berichte integriert. Netzwerke oder Beratungsunternehmen, die mehrere Coachs in Unternehmen einsetzen, sollten über ein Supervisionssystem oder internes Qualitätsmanagement verfügen, um jedem Coach die Chance auf einen Abgleich seiner Coachingfälle zu ermöglichen. Dann würden viele Coachs nicht immer beim gleichen Thema landen und dem Irrtum unterliegen, sie wären extrem gut im Aufspüren von ganz bestimmten Führungsthemen. Und sie würden sich nicht mehr wundern, warum alle Führungskräfte immer mit den gleichen Problemen zu kämpfen haben. Heuristik 2: Kausalität und Finalität unterscheiden Kausalität als Erklärungsmuster von Verhalten und Erleben mag ein sehr pragmatischer und einfacher Weg zum Coachen sein, kann jedoch hier und da zu kurz greifen. Oft ist es sinnvoller über die Kausalität hinaus auf die Ziele von bewussten oder auch unbewussten Verhaltens- und Erlebnisweisen zu schauen. Vernachlässigt der Coach diese Unterscheidung, wird lange am Problemmantel (Kausalität) gecoacht ohne zum Problemkern (Finalität) vorzudringen. Das Coachingergebnis wird deshalb nicht unbedingt schlecht ausfallen, aber auch einiges an Erwartungen nicht erfüllen können, da einige Motive erst gar nicht aufgedeckt werden. Im Extremfall kann es aber auch sinnvoll sein, den Problemkern nicht direkt im Rahmen des Coachings anzusprechen bzw. zu bearbeiten, weil man die Grenze von Coaching oder auch der Führungsaufgabe selbst überschreiten würde, z. B. beim Thema Alkohol. Den Problemkern zu kennen ist jedoch wichtig, um nicht ahnungslos in einem Wespennest herumzustochern. Beide Grundprinzipien, die Falsifizierung sowie die Unterscheidung von Kausalität und Finalität, sind grundlegende Werkzeuge eines Coachs und sowohl bei Persönlichkeitscoachings als auch bei Umsetzungscoachings von grundlegender Relevanz.
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Big Brother oder Laisser-faire? Coachings stellen in Unternehmen keine reine Belohnungsmaßnahme dar. Coaching muss sich für Unternehmen lohnen, deshalb ist auch immer ein gewisser Umsetzungsdruck vorhanden. Schließlich bewegen sich Unternehmen nicht im wettbewerbsfreien Raum, und die Führungskräfte tragen Verantwortung für Arbeitsergebnisse und Informationsfluss. Daraus ergeben sich Schnittstellen, welche mit Instrumenten versehen werden müssen, um den Umsetzungsdruck, die Verbindlichkeit und den Wirkungsgrad von Coachings zu erhöhen. Da wäre zum einen die Arbeitsbeziehung zwischen der Führungskraft und dem Coach. Neben der Umsetzung von den Themen, die direkt im Coaching realisiert werden können, sollte zwischen den einzelnen Coachings eine Verknüpfung über Aufgaben hergestellt werden. Hausaufgaben, die beiden Seiten helfen, Wahrnehmungen und Verhaltensweisen zu verändern und zu reflektieren, um sie bei Erfolg in das Führungsverhalten zu übernehmen oder bei Bedarf zu modifizieren. Als Nächstes wäre die Schnittstelle zwischen der gecoachten Führungskraft und ihrem Vorgesetzten zu nennen. Hier gibt es zwei mögliche Ansätze. Zum einen die Tandemcoachings, in denen zwei Führungskräfte bilateral von einem Coach gleichzeitig gecoacht werden. Der Vorteil dieses Ansatzes liegt darin, dass die gegenseitigen Erwartungen so klar ausgesprochen werden können, dass diese vom Gegenüber, oft zum ersten Mal, verstanden werden. In der Moderation des Gespräches durch den Coach kann darüber hinaus auf diejenigen Projektionen hingewiesen werden, die einer möglichen Fehlinterpretation von Verhaltensweisen oder Umständen in Arbeitsprozessen unterliegen. Das gilt natürlich für beide Seiten. Der zweite Ansatz ist die Einbeziehung des Vorgesetzten zu Beginn bzw. zum Ende einer Coachingsequenz der Führungskraft. Diese Form ist besonders für Umsetzungscoachings zu empfehlen, da ein Abgleich mit dem Vorgesetzen über die erreichten Tagesziele stattfindet, damit dieser
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im Bilde ist und genau weiß, wo er in der weiteren Entwicklung der Führungskraft ansetzen kann. Beide Formen erhöhen den Grad der Verbindlichkeit und stellen den internen Informationsabgleich in der Führungslinie sicher. Ob diese Instrumente zur Coachingkultur eines Unternehmens gehören können, muss mit dem Unternehmen und den Interessengruppen abgestimmt werden. Eine zentrale Schnittstelle sind die Verantwortlichen in der Personalentwicklung nach innen (unternehmensintern) und außen (externe Partner). Die Personalentwicklung tritt nicht nur als Dienstleister, sondern auch als Qualitätssicherer auf. Als wichtigster Ansprechpartner für Interne und Externe tauscht sich die Personalentwicklung direkt und regelmäßig mit den gecoachten Führungskräften, deren Vorgesetzten und den externen Coachs aus. Damit ist nicht gemeint, sich ausschließlich auf die Auswertung von Frage- und Feedbackbögen zu beschränken. Die so gesammelten Informationen werden integriert und bewertet, um den Coachingprozess zu unterstützen und notfalls frühzeitig zu reagieren. Nicht zu vergessen ist die gecoachte Führungskraft selbst. Im Sinne eines selbstgesteuerten Lernens sollte sie ihren Coach mit Fragestellungen und Fallbeispielen fordern und keine Konsumentenhaltung einnehmen. Dies kann auch so weit gehen, dass ein Unternehmen im Rahmen von Personalentwicklungsmaßnahmen seinen Führungskräften neben einer bestimmten Anzahl von „Pflichtcoachings“ eine gewisse Anzahl von zusätzlichen, frei verfügbaren Coachings anbietet. Die Führungskraft kann so selbst entscheiden, ob sie weitere Coachings, eventuell auch mit anderen Coachs, in Anspruch nehmen will, um sich als Führungskraft persönlich weiterzuentwickeln oder den Umsetzungsgrad von neuen Führungsinstrumenten zu steigern. Die Führungskraft erhält damit mehr Eigenverantwortung und Entscheidungsspielraum. Die Führungskraft sollte die Coachings entsprechend ernst nehmen und sie nicht als Pflichtoder Just-for-fun-Veranstaltungen betrachten. Dies kann nur über eine Transparenz der installierten Tools und Instrumente innerhalb eines Unternehmens sichergestellt werden. Sind diese nicht bekannt oder installiert, gibt es an dieser Stelle einen Nachholbedarf im Unternehmen, bevor mit Coachingmaßnahmen begonnen werden kann.
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Fazit Das Coaching von Führungskräften hat vieles versprochen, aber bei weitem nicht alles halten können. Das liegt aber auch zum großen Teil an der bisherigen inhaltlichen Umsetzung und Organisation von Coachings in Unternehmen. Der Coachingmarkt hat sich ebenso wie viele andere Dinge in unserer Welt verselbstständigt, sodass bei immer mehr Unternehmen ein ernüchternder Konsolidierungsprozess einsetzt. Neue Coachingformen werden das nicht ändern, sondern eher noch verschlimmern. Für die Qualität von Coachings kann dies letztlich nur von Vorteil sein, auch wenn dies ein schmerzlicher Prozess ist. Am Ende bleibt das erhalten, was Coaching letzten Endes ausmacht: Ein individueller Beratungsprozess, welcher der Führungskraft neue Haltungen und Wege in ihrer Führung aufzeigt. Wichtigstes Werkzeug beim Coaching bleibt die Sprache. Sie beeinflusst direkt das Denken, Fühlen und Handeln von Menschen. Coachs sollten sie deshalb kultivieren und dazu nutzen Probleme bewusst werden zu lassen, Ursachen aufzudecken und mit der Führungskraft Lösungen zu erarbeiten. Das kann mal schneller und mal langsamer vonstattengehen. Der Auftrag und die Erwartung ist jedoch Menschen im Positiven zu bewegen, anstatt immer neuere und ausgefallenere Methoden und Techniken anzubieten. Nicht zuletzt sollte der Aspekt der Prognose stärker beleuchtet werden. Die Prognose hilft allen Beteiligten das Prozessziel und die Prozessgeschwindigkeit zu konkretisieren und damit den Rahmen für ein wirkungsvolles und klar abgestecktes Coaching in einem Unternehmen zu geben.
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Wenn Ziele bekanntlich „SMART“ sein sollen, dann sollten es Teams erst recht sein. Spezifisch in der Zusammensetzung der einzelnen Mitstreiter, messbar im Vergleich zu Einzelleistungen, akzeptiert von allen Teammitgliedern, realistisch in den Entscheidungs- und Handlungskompetenzen und zuletzt für die vorgesehene Dauer der Teamarbeit terminiert. Für viele Führungskräfte, aber auch Mitarbeiter ist ein Team kein „Smart“, sondern ein „Jeep“: Jovial in den Taktiken, um über wahre Absichten oder Beziehungsverhältnisse hinwegzutäuschen, emotional in der Formulierung von Bedürfnissen, explosiv im Umgang mit Konflikten und parteiisch bei Entscheidungsfindungen. Mit einem „Smart“ kommt man jedenfalls in diesem Gelände nicht sehr weit. Aber auch die Definition von Teamfähigkeit ist alles andere als „SMART“. Ein Mitarbeiter, der das gemeinsame Ziel betont, Kompromisse eingeht und entgegenkommend ist, wird als „kooperationsfähig“ und nicht als „teamfähig“ beschrieben. Dafür wird ein Mitarbeiter, der zur Zielereichung aktiv beiträgt, Konflikte zwischen anderen schlichtet und schwächere Teammitglieder unterstützt, als primär „teamfähig“ und weniger als „kooperationsfähig“ bezeichnet. Für den Laien ist das schlichtweg nicht zu unterscheiden. In Unternehmen und bei externen Dienstleistern herrscht auf der konzeptionellen Ebene Uneinigkeit darüber, welche Merkmalsdimensionen insbesondere der Anforderung „Teamfähigkeit“ zuzuordnen sind. Experten sollten es eigentlich besser wissen, dennoch wird Teamfähigkeit teils S. Lesch, Psychoblasen in der Wirtschaft, DOI 10.1007/978-3-8349-6449-6_7, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Das Team, das unbekannte Wesen – Die Utopie des Teamplayers
als Persönlichkeitsmerkmal, teils als Einstellung, teils als Motiv oder Kompetenz gesehen und dementsprechend umschrieben, und das, obwohl der Begriff Teamfähigkeit selbst ja schon die „Fähigkeit“ beinhaltet. Dabei lässt man sich meist von alltäglichen Arbeitserfordernissen leiten, stellt jedoch keine theoretischen Überlegungen an hinsichtlich der Art der Dimension und der Relevanz für eine bestimmte Position. Ganz zu schweigen von allgemeinen Zielstellungen in der späteren Personalentwicklung. Beim Außendienstmitarbeiter auf Teamfähigkeit zu schauen ist ebenso unsinnig, wie einen Verkäufer auf seine „wahre“ Authentizität hin zu prüfen. Der eine muss sich als Einzelkämpfer in einer Region durchschlagen, der andere ist gezwungen sich wie ein Chamäleon auf jeden Kunden neu einzustellen. Nicht viel besser steht es um die Konzepte zum Thema „Gruppenarbeitsformen“, die den Teamgeist im ganzen Unternehmen entwickeln sollen. Da werden Qualitätszirkel, Erfahrungsgruppen oder Lernwerkstätten ins Leben gerufen, damit sich die Mitarbeiter untereinander noch aktiver austauschen können, dabei hetzen diese nur von einer Besprechung in die nächste. Projektteams werden nach den besten und kreativsten Köpfen zusammengestellt, zusätzlich die notwendigen Teamtypen bestimmt, und die Führungskräfte sollen sich nur den Kopf darüber zerbrechen, wie sie einem Projektteam am besten nicht im Weg stehen.
Narziss oder Empathie – Brauchen wir überhaupt den Teamplayer? Braucht unsere Ellenbogengesellschaft überhaupt Teamplayer? Warum müssen wir in Bewerbungsgesprächen immer wieder aufs Neue versichern, der Teamplayer unter allen Teamplayern zu sein? Ich warte auf den ersten Bewerber, der die Teamfrage wie folgt beantwortet: „Ich bin gerne ein Teamplayer, wenn es um nichts geht! Ansonsten schaue ich, dass ich meine Zielvorgaben erreiche.“ Nichtsdestotrotz: In Schulen, Universitäten und in Unternehmen setzt man wieder verstärkt auf Teamgeist. Eine Generation selbstverliebter Individualisten versucht nun krampfhaft die Uhr wieder zurückzudrehen. Begriffe wie Spiegelneuronen, aktives Zuhören und Empathie haben dazu geführt, dass wir quasi vor der Modernisierung unserer Gesellschaft
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stehen! Aber müssen wir jetzt wieder auf Kosten der individuellen Freiheit und Genialität unser persönliches Engagement in den Dienst eines Teams stellen? Was macht den Teamplayer eigentlich aus? Fühlt er sich stärker an das Gruppenergebnis gebunden, hat er ein grundsätzliches Verständnis von Zusammenarbeit und Respekt oder einfach nur den Wunsch nach Sicherheit und Geborgenheit? Man könnte die Führungskraft befragen, ob ein Mitarbeiter zur „Ingroup“ oder zur „Outgroup“ gehört (Graen & Uhl-Bien, 1995b), um dessen Teamfähigkeit einzuschätzen. Beschreibt die Führungskraft einen Mitarbeiter als loyal, freundlich und kompetent, wird der Mitarbeiter der „Ingroup“ angehören. Hat die Führungskraft mit dem Mitarbeiter hingegen Probleme, geht die Führungskraft auf Distanz und schützt sich durch formalen Umgang und Betonung der Rollenhierarchie. Damit gehört der Mitarbeiter der „Outgroup“ an und entspricht weniger dem Teamgedanken der Führungskraft. Vielleicht gehört aber auch der Teamplayer zu einer aussterbenden Rasse, weil die elektronischen Kommunikationsmedien in unserer Arbeitswelt nicht mehr nur eine Ergänzung zur Face-to-FaceKommunikation sind, sondern bereits als Ersatz bisheriger Kommunikationsformen dienen. In diesem Fall darf man schon die Prognose stellen, dass die soziale Kompetenz und damit die Teamfähigkeit zu Rudimenten verkümmern werden. Wozu dann noch nach dem Teamplayer suchen? Ganz so schlimm wird es dann doch nicht kommen, denn die soziotechnischen (darunter versteht man die Schnittstellen zwischen den sozialen Teilkomponenten (Mitarbeiter) und den technischen Teilkomponenten (z. B. Maschinen) innerhalb einer Organisation, welche in einer bestimmten Art und Weise strukturiert sind, damit Output entsteht) und handlungstheoretischen Konzepte in unserer Arbeitswelt, wie zum Beispiel Aufgabenverteilung, Arbeitsplatzrotation, Mehrfachqualifizierung von Mitarbeitern und Umgang mit gemeinsamen Entscheidungsbereichen, werden immer eine Rolle in unserem Arbeitsalltag spielen. Gleichzeitig wird es aber für Unternehmen immer schwieriger werden, geeignete Mitarbeiter für die jeweiligen Aufgabenanforderungen und Teamkonstellationen zu finden.
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Das Team, das unbekannte Wesen – Die Utopie des Teamplayers
Achtung, Teamblasen! Teamfähigkeit ist eine Fähigkeit – Was für eine Frage!? Dass Teamfähigkeit eine „Fähigkeit“ ist, scheint sich noch nicht überall herumgesprochen zu haben. Im Assessment-Center etwa werden nach Schema F immer genau die Gruppenaufgaben gestellt, bei denen jedem Teilnehmer sofort klar wird, um welche Kompetenz es gerade geht, unabhängig davon, ob diese den tatsächlichen Anforderungen an eine bestimmte Stelle entspricht – oder eben nicht. Das Ergebnis ist eine Art Küchenpsychologie, die auf Signalwörter wie „Teamfähigkeit“ quasi per Knopfdruck reagiert. Wenn der Kandidat nicht die gewünschten Verhaltensweisen zeigt oder nicht die Floskeln verwendet, die vom Unternehmen selbst definiert wurden, hat man als Bewerber seine Vorstellungen zu Teamfähigkeit entweder aus Bewerbungsbüchern oder schlicht die „falsche“ Auffassung von Teamfähigkeit. Menschen denken in Eigenschaften und nicht in Dimensionen. Das führt dazu, dass die Teamfähigkeit unterschiedlich operationalisiert wird, weil bereits das Konzept der sozialen Kompetenz schwammig ist. Haben Sie schon einmal in einem Assessment-Center im Feedback gehört, dass Sie Teamfähigkeit zu 5 Prozent besitzen? Nein, haben Sie nicht. Sie erhalten in einem solchen Fall die Rückmeldung, dass Sie sich aktiver im Gruppengespräch einbringen und weniger auf Ihrem Standpunkt verharren müssen, um für die gesuchte Position eher infrage zu kommen. Apropos Position, müssen Manager oder Führungskräfte auch Teamplayer sein? Wirft ein neuer Geschäftsführer bei der ersten Ansprache vor seinen Führungskräften einen Ball durch die Reihen und schwört auf den Teamgeist, könnte man davon ausgehen. Ist das aber tatsächlich auch im Arbeitsalltag der Fall? Gemäß den Kriterien von BIP, dem Bochumer Inventar zur berufsbezogenen Persönlichkeitsbeschreibung (Hossiep & Paschen, 2003), welche häufig in der Personalauswahl angewendet werden, um berufsrelevante Persönlichkeitsmerkmale systematisch zu erfassen, wird es schwerfallen Teamorientierung und Führungsmotivation
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miteinander zu vereinbaren. Teamorientierung zeichnet sich hier unter anderem durch die bereitwillige Zurücknahme eigener Profilierungsmöglichkeiten zugunsten der Arbeitsgruppe aus. Damit würde aber eine Führungskraft an Durchsetzungsstärke verlieren, weil sie ihre Tendenz zur Dominanz in sozialen Situationen, zum Beispiel bei Entscheidungen zu strategischen Neuausrichtungen, aufgibt. Mal ganz davon abgesehen, dass sich Führungsmotivation durch die Präferenz von Führungs- und Steuerungsaufgaben auszeichnet. Wie kann ein Manager oder ein Geschäftsführer noch als Autorität und Orientierungsmaßstab für andere wahrgenommen werden, wenn er die Rolle eines Teamplayers einnimmt? Eine Führungskraft soll das Team führen und nicht darin eintauchen. Sie sorgt für klare Zielstellungen und Arbeitsprozesse, lässt die Beziehungen zwischen den Mitarbeitern erkennbar werden und meldet Arbeitsergebnisse zurück. Auf der Ebene mit Kollegen ist wiederum Kooperation von den Führungskräften gefordert. Jedoch unterscheidet sich die Kooperationsfähigkeit von der Teamfähigkeit dahingehend, dass die Abhängigkeiten zwischen Führungskräften und deren Verantwortungsbereichen mit steigender Funktion organisatorisch und operativ geringer sind und damit eine andere Art der Zusammenarbeit erfordern als auf Mitarbeiterebene. Was steckt aber nun hinter der Eigenschaft Teamfähigkeit – und gibt es diese überhaupt? Orientiert man sich an den zu Beginn genannten Verhaltensbeispielen, wird eines ganz deutlich: Es geht immer um den Kontext Gruppe. Wenn also jemand im Gruppenkontext „fähig“ ist aktiv zur Zielerreichung beizutragen, wenn er in Entscheidungssituationen Kompromisse eingeht und es für angebracht hält, Konflikte bei anderen Teammitgliedern zu schlichten, dann kann man zu Recht von Teamfähigkeit sprechen. Bleibt nur noch die Frage zu beantworten, welche konkreten Eigenschaften sich hinter diesen Verhaltensweisen verbergen, die einen Mitarbeiter wie einen Teamplayer aussehen lassen. Legt man das Persönlichkeitskonstrukt der Big Five zugrunde (ein FünfFaktoren-Modell der Persönlichkeit, welches die Persönlichkeit mit den Faktoren Neurotizismus, Extraversion, Offenheit für Erfahrungen, Verträglichkeit und Gewissenhaftigkeit beschreibt), findet man die folgen-
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den beispielhaften Bedeutungsinhalte für Teamfähigkeit: gesellig und kommunikativ (werden Extraversion zugeordnet), aufgeschlossen (offen für Erfahrungen) sowie hilfsbereit, tolerant und fähig zur Zusammenarbeit (verträglich). Ist ein Mitarbeiter tendenziell extrovertiert, offen für neue Erfahrungen und gut verträglich, dann kann er auch besser im Team agieren, weil er sich einbringt und nicht stumm dasitzt, weil er sich auf Neues einlassen kann (sowohl Themen als auch Personen) und ein Miteinander schätzt. Wie man das am besten herausbekommt? Aus der Biographie des Mitarbeiters! Aber fragen Sie in die Tiefe und nicht nur nach den oberflächlichen Vorlieben. Wenn ein Kandidat oder ein Mitarbeiter konkrete Beispiele für seine Fähigkeit in Teams arbeiten zu können nennen kann, dann befindet man sich nicht mehr an der Oberfläche. Obwohl es um den Arbeitsplatz und nicht um das Fußballfeld oder die Bowlingbahn geht, kann auch ein Beispiel aus dem Vereinsleben aufschlussreich sein. Wenn kein Beispiel zu Teamarbeit im Arbeitskontext genannt wird, dann hat das auch etwas zu bedeuten. Hier muss man nachbohren. In andere Lebensbereiche kann man gerne später noch vordringen, wenn man erfahren will, wie der Mitarbeiter es gelernt hat sich in Gruppen zu verhalten und zu bewegen. Nicht zuletzt sollte man auch Gefühle und Emotionen ansprechen, denn Teamwork kann man spüren und fühlen. Wenn ein Mitarbeiter oder Bewerber diese Gefühle besser beschreiben kann als nur mit den Sätzen „Das fühlt sich gut an“ oder „Es macht mir Spaß“, dann hat für ihn auch die Gruppe eine höhere emotionale Bedeutung und damit eine Funktion, auf die er Wert legt. Wer dann das Gefühl „gebraucht werden“ nicht mit „Helfersyndrom“ verwechselt, kann sich als Teamplayer fühlen.
xy – Die Potenz des Teamplayers Hartnäckig hält sich bei Managern und Führungskräften die Meinung, dass mit einem neuen Teamplayer die Leistung im Team automatisch zunimmt. Der Neue in der Abteilung wird ja nicht nur stur seinen eigenen Aufgabenbereich abdecken, sondern auch den Kollegen seine Unterstützung anbieten, wenn diese Hilfe benötigen. Tatsächlich wird das aber nur dann der Fall sein, wenn der Vorgänger des neuen Mitarbeiters ein sozia-
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ler Faulenzer war oder das Team um einen Mitarbeiter aufgestockt wurde und dieser sich ebenso engagiert zeigt wie seine Kollegen. In allen anderen Fällen wird sich die Teamleistung nicht merklich verbessern, denn der Effekt der Gruppennorm, der in der Literatur schon recht früh beschrieben wurde, ist nicht zu unterschätzen. In Gruppen besteht eine implizite Aufforderung, zu wichtigen Meinungen und in bestimmten Situationen die Gruppennorm einzuhalten. Die geteilten Erwartungen in einem Team haben zur Folge, dass Mitglieder auf eine ganz bestimmte Art und Weise denken und ein spezifisches Verhalten an den Tag legen. Der Grund dafür scheint banal: Da man voneinander abhängig ist, bringt es der Gruppe Vorteile, wenn man die Normen beachtet, während bereits die Abweichung eines Teammitglieds von der Norm mit Nachteilen für das ganze Team verbunden ist. Die Normbeachtung ist für die Zielerreichung eines Teams von großer Bedeutung. Geht es beispielsweise um die Bereitschaft an Wochenenden zu arbeiten, ist es für ein Team einfacher einen Standpunkt zu vertreten, wenn man geschlossen agiert. Tanzt jedoch ein Teammitglied aus der Reihe, bringt er das Team in Zugzwang. Hat sich eine Gruppennorm erst einmal gebildet, ist diese nur schwer zu verändern, und so groß kann die Fluktuation in einem Team gar nicht sein, als dass die Führungskraft hoffen könnte, dass mit den neuen Teammitgliedern die Leistungsbereitschaft automatisch wieder steigen wird. Nur wenn die Führungskraft die Gruppennorm selbst definiert und von allen konsequent einfordert, besteht die reelle Chance, dass ein bestehendes Team mit einem neuen Mitglied einen höheren Leistungslevel bei geringer Streuung erreicht. Andernfalls wird sich der Neue an der bestehenden Gruppennorm orientieren, will er nicht zum Außenseiter werden. Liegt er darunter, muss er sich anstrengen, um den Anschluss nicht zu verpassen. Liegt er jedoch darüber, und es gelingt der Führungskraft nicht, eine neue Gruppennorm daran zu orientieren, wird der Neue früher oder später dem Team und letztlich dem ganzen Unternehmen den Rücken kehren, will er seine Einstellung und Leistungsbe-
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reitschaft nicht aufgeben. Hoffentlich hat er bis dahin den Glauben an den Teamgeist nicht verloren, denn die Restriktionen seitens des Teams hinsichtlich einer abweichenden Leistung gehen nicht spurlos an einem vorüber. Wer will sich schon vom Team als Klassenprimus ständig schikanieren lassen. Je wichtiger aber einem Mitarbeiter das Team ist, desto eher werden ihn die Sanktionen bei Nichtbeachtung der Norm treffen. Folglich wird sich der Teamplayer an der Gruppennorm orientieren und nicht an den Erwartungen der Führungskraft, wenn diese darüber liegen. Umgekehrt kann sich aber zum Beispiel ein Vorstand bei einigen Entscheidungen glücklich schätzen, wenn seine Führungskräfte keine Gruppennorm entwickelt haben. Dann nämlich ist es für den Vorstand leichter, die eigenen Vorgaben und Ideen durchzusetzen, weil sich die Führungskräfte untereinander nicht grün sind und damit auch nicht am gleichen Strang ziehen. An einem gut zusammenhaltenden Team hat sich schon so mancher Vorstand und Manager die Zähne ausgebissen. Glücklicherweise gibt es ja nicht so viele Teamplayer in den oberen Führungsebenen, und die Berührungspunkte zwischen Unternehmensbereichen sind nicht so eng wie in den operativen Ebenen innerhalb eines Unternehmensbereiches. Vorstände und die obere Führungsebene sollten sich aber dann nicht überrascht und verständnislos zeigen, wenn Führungskräfte der mittleren und unteren Führungsebene von Widerständen in ihren Teams berichten, weil diese Teams als Einheit auftreten. Vielmehr sollte man sich beim Aspekt der Gruppennorm bewusst machen, dass hohe Leistungsnormen und deren Einhaltung die erfolgreiche Umsetzung im operativen Prozess langfristig garantieren, hingegen bei Problemlösungsund Entscheidungsgruppen Innovation und Kreativität durch ein zu starres Normbewusstsein behindert werden können. Je nach Zielstellung sollten diese Aspekte in der Strategie eines Unternehmens berücksichtigt werden.
Tick, Trick und Track Wie jetzt? Bisher wurde nur vom universalen Teamplayer gesprochen, und jetzt wird doch eine Differenzierung vorgenommen? Eine Reihe von Team-Modellen geht von der Annahme aus, dass Mitarbeiter in Teams bestimmte Rollen einnehmen. So gibt es zum Beispiel nach dem Modell
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der Teamrollen von Belbin (1981) den Erfinder, der neue Ideen aufgrund seines orthodoxen Denkens einbringt, oder den Macher, der den Mut hat Hindernisse zu überwinden, und sicher und vertrauensvoll agiert. Belbin hat mittlerweile neun Teamrollen analysiert, die in seinem Modell zusammengefasst sind. Nach Belbin nehmen alle Mitglieder eines Teams eine funktionale Rolle und eine Teamrolle ein. Dabei hat jedes Mitglied regelmäßig eine „bevorzugte“ Teamrolle. Die meisten haben auch eine „zweitliebste“ Rolle, die sie einnehmen können, wenn niemand anderes für die Rolle geeignet ist oder ein anderes Mitglied aus dem Team die „bevorzugte“ Rolle besser ausfüllt. Am besten performt ein Team dann, wenn die Rollenverteilung ausgewogen ist. In dieser Kombination ergänzen sich alle Teammitglieder gegenseitig und unterstützen sich nach ihren Fähigkeiten. Aber was tun, wenn das Team trotzdem versagt? Wenn das Ergebnis unterirdisch ist, die Zeit abgelaufen ist und es keinen Plan B gibt? Dann muss aus gruppendynamischen Prinzipien ein Sündenbock her, und zwar schnell. Nur wer soll es sein? Der Beobachter? Nein, der hat doch darauf hingewiesen, dass die Vorschläge nicht realisiert werden können. Der Umsetzer? Nein, der auch nicht. Erstens kann er nicht für falsche Ideen und Ansätze verantwortlich gemacht werden, und zweitens, wer soll denn beim nächsten Projekt die Pläne umsetzen? Der Netzwerker etwa? Nein, auf den kann nicht verzichtet werden. Der hat ja bestens funktioniert, sonst wäre überhaupt kein Ergebnis zustande gekommen. Zum Glück gibt es ja noch die Führungskraft! Die kann man einfach austauschen wie einen Fußballtrainer, und mit dem nächsten Trainer/der nächsten Führungskraft arbeitet das Team wieder erfolgreicher, jedenfalls für eine Weile. Rollendifferenzierungen in Teams erfolgen immer mehrdimensional. Während die vertikale Differenzierung aufgrund des Grundprinzips der Hackordnung durch die Führungskraft und maximal noch ihren Stellvertreter vorgegeben wird, bietet die horizontale Differenzierung von Mitgliedern mehr Freiheitsgrade und damit mehr Interpretationsspielraum. Deshalb kann es auch als gegeben angesehen werden, dass sich auch horizontal unterschiedliche Rollen in Teams bilden. Ob
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jedoch die Einschätzung der Teamrollen vor dem psychoanalytischen Hintergrund von Belbin erfolgen muss, sei dahingestellt. Die verhaltensbasierten Konstruktionen der einzelnen Rollen sind nicht normiert und daher konstrukt- sowie messtheoretisch kritisch zu sehen. Des Weiteren lassen sich ca. drei Prozent der Mitarbeiter nicht klar einordnen, da sie sich selbst entweder in den Teamrollen nicht wiedererkennen oder keine der aufgestellten Teamrollen besonders ausgeprägt ist. Eine Hilfestellung zur Objektivierung von Rollen innerhalb einer Gruppe bietet dieses Modell jedoch schon, sollte aber für Führungskräfte nicht als Entscheidungsgrundlage dafür dienen, welcher Mitarbeiter welche Rolle im Team einnehmen soll. Weniger spektakuläre Einteilungen von Teamrollen nach Führern, Spezialisten, Arbeitern, Mitläufern, Außenseitern und Sündenböcken sind einfacher und hilfreicher, um die Funktionen und das Rollenverhalten in einem Team zu analysieren und daran zu arbeiten. Einige Rollen, wie z. B. die des Arbeiters, sind immer vorzufinden, andere wiederum, wie z. B. die des Spezialisten, nicht immer besetzt. Mit einem Soziogramm lässt sich das schnell und unkompliziert herausfinden. Dabei werden die Urteile von Mitarbeitern, mit welchem anderen Teammitglied sie auf der einen Seite besonders gern und auf der anderen Seite besonders ungern zusammenarbeiten würden, mit Kreisen und Verbindungen anschaulich dargestellt. Mit den Ergebnissen lässt sich gut arbeiten, und so können mit dem Team die Spielregeln für die Zukunft sowohl auf der Sach- als auch der Beziehungsebene erarbeitet und in Folgeterminen reflektiert werden. Aber Vorsicht, kalte Konflikte zwischen Mitarbeitern lassen sich damit nicht lösen! An dieser Stelle seien auch noch einige Anmerkungen zur Geschlechterfrage gestattet, denn die Zusammensetzung von Teams aus überwiegend weiblichen oder männlichen Kollegen hat einen Einfluss auf den Kommunikationsstil im Team. Die Frage, ob Frauen oder Männer die besseren Teamplayer sind, sollte so nicht gestellt werden. Die Frage sollte vielmehr lauten, welcher Kommunikationsstil besser zu einer Führungskraft und welcher besser zu einem Team passt. Wünscht man sich eine offene, gefühlsthematische Kommunikation mit weniger Missverständnissen und
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einer stärkerer Tendenz hin zum Konsens, wird man das eher bei Teams, die überwiegend mit Frauen besetzt sind, finden. Problematischer wird es jedoch, wenn sich ein weibliches Teammitglied übergangen fühlt, dann ist die Wahrscheinlichkeit einer inneren Distanzierung vom Team höher. Männer hingegen bevorzugen den sachlicheren Kommunikationsstil und geben sich eher mit Mehrheitsentscheidungen ab, um keinen Konsens finden zu müssen. Dafür bemühen sich Männer nicht so sehr um die Beziehungspflege untereinander und ein harmonisches Teamklima. Soll aber alles nicht heißen, dass nicht auch das andere Geschlecht Verhaltensweisen an den Tag legt, die eher untypisch für ein bestimmtes Geschlecht sind. Vor einer pauschalen und stereotypen Zusammensetzung von Teams ist generell zu warnen. Teams bilden in der Praxis nicht automatisch eine Normalverteilung ab, wie sie in größeren Populationen vorzufinden ist. Nur weil ein Team aus Frauen besteht, heißt das nicht automatisch, dass ein gefühlsbetonter Kommunikationsstil dominiert. Dafür sind die Teams oft zu klein, als das nicht auch ein Team aus Frauen einen sachlichen Kommunikationsstil bevorzugen könnte. Auf die Zusammensetzung von Teams kann man aber gezielt Einfluss nehmen, beginnend bei der Funktionserfüllung eines Mitarbeiters bis hin zur gesamten Teamkonstellation und dem gewünschten Rollenverhalten in einem Team. Dessen sollten sich Unternehmen, Führungskräfte und Personaler bewusst sein.
Gemeinsam sind wir stark In der Praxis wird das Wir-Gefühl in Teams großgeschrieben. Die Förderung des Gemeinschaftsgefühls und Zusammenhalts von Teams, im Fachjargon als Kohäsion bezeichnet, führt zur deutlichen Steigerung der Leistungsbereitschaft und zu geringeren Fehlzeiten sowie weniger Fluktuation im Unternehmen. Ein Grund auch, warum in Unternehmen nicht nur die Gruppenarbeit in Form von Organisationsstrukturen wie Profit Center und Projektarbeit gestaltet wird, sondern darüber hinaus mit Angeboten wie Betriebsausflügen, Mitarbeiterfrühstück oder Stammtischen das Wir-Gefühl intensiviert werden soll.
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Ob jedoch Fehlzeiten und Fluktuation auf derselben Dimension zu betrachten sind, ist eher fragwürdig. Da eine negative Beziehung zwischen der Neigung dem Arbeitsplatz fernzubleiben und der Neigung den Arbeitgeber zu wechseln gefunden wurde, muss man beide Abwesenheitsformen differenziert betrachten. Zu höheren Fehlzeiten kommt es demnach, wenn das Wir-Gefühl im Team nicht so stark ausgeprägt ist, aber eine Kündigung nicht infrage kommt, da mit dem Ausscheiden Vorteile verloren gehen würden (so genannte Dependenz von der Gruppe). Sind hingegen das Wir-Gefühl und die Dependenz von einer Gruppe gering, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass ein Mitarbeiter das Team verlässt. Noch wichtiger als Fehlzeiten und Fluktuation ist der Zusammenhang zwischen Wir-Gefühl und Leistungsverhalten in Teams. Nicht selten lässt sich im Alltag beobachten, dass gerade schwache Teamergebnisse aufgrund von Fehlentscheidungen oder Leistungssanktionen untereinander entstehen, eben weil das hohe Zusammengehörigkeitsgefühl stark ausgeprägt ist. Befürchtet ein Team als Folge hoher Leistungsbereitschaft über längere Zeit, zum Beispiel aufgrund einer unbesetzten Stelle, dass das Unternehmen entscheiden könnte keine Neueinstellung vorzunehmen, weil das bestehende Team das gleiche Volumen auch so stemmt, wird das Team die Leistung bewusst zurückhalten. Überschreitungen dieser „informellen“ Norm durch einzelne Teammitglieder werden sofort sanktioniert, wie bereits weiter oben beim Aspekt der Gruppennorm beschrieben. Zusammengehörigkeitsgefühl ist eine notwendige, jedoch keine hinreichende Bedingung für sehr gute Teamleistungen. Neben einem ausgeprägten Wir-Gefühl muss auch eine hohe Leistungsnorm vorliegen, damit Zielstellungen von den Teammitgliedern selbst streng beachtet und verfolgt werden. Ist die Kohäsion im Team zwar stark ausgeprägt, die Leistungsnorm jedoch gering, fällt auch das Leistungsergebnis häufig schwach aus. Ist das Wir-Gefühl nur schwach ausgeprägt und die Teamleistung streut sehr, wird sich langfristig auch keine hohe Leistungsnorm mit geringer Streuung im Team entwickeln. Die Anstrengungen, im Rahmen von Konzepten zur Teamentwicklung das Wir-Gefühl und die Teamleistung durch
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gezielte Maßnahmen und Trainings zu fördern, sind in Unternehmen zwar recht vielfältig, die Effektivität der Interventionsmaßnahmen ist jedoch bislang fraglich. Die im Training simulierten Situationen sind häufig von der Realität weit entfernt, und selbst wenn ein Mitarbeiter für sich glaubt, persönlich etwas mitgenommen zu haben, lassen sich konkrete Verhaltensveränderungen am Arbeitsplatz selten beobachten. Damit wären wir beim Transferproblem von Maßnahmen zur Teamentwicklung. Paradebeispiel dafür ist das Outdoor-Teambuilding, das sich nach wie vor großer Beliebtheit erfreut. In Hochseilgärten, wilden Bächen und unter anderen Extremsituationen werden Übungen gemeinsam durchgeführt, um die gegenseitige Abhängigkeit zu verdeutlichen und den Teamgedanken damit zu schulen, egal ob dies im wirklichen Arbeitsalltag so vorzufinden ist oder nicht. Das Transferproblem zeigt sich dann darin, dass man am Vortag zwar noch von allen Teilnehmern aufgefangen wurde, aber schon am nächsten Tag keinerlei Unterstützung bei einer Aufgabe findet. Outdoor-Teambuilding sollte ausschließlich als Belohnung für ein bereits funktionierendes Team durchgeführt werden und nicht um Probleme in einem anderen Kontext aufzuzeigen und positive gemeinsame Erlebnisse als Team zu generieren. Wirkungsvollere und Erfolg versprechendere Interventionsmaßnahmen für Teams sind vor allem Aufgaben, die möglichst ähnlich zu den tatsächlichen Aufgaben im Arbeitsalltag sind, dem Kontext des Arbeitsplatzes entsprechen (wenn nicht sogar vor Ort am Arbeitsplatz selbst stattfinden) und über einen längeren Zeitraum parallel zur Arbeit durchgeführt werden (Comelli, 1994). Dadurch werden deutlich mehr und konkretere Feedbackschleifen generiert, und der Lernprozess kann zusätzlich durch die CoachingFunktion der Führungskraft im Alltag multipliziert werden. Der direkte Vorgesetzte muss dabei glaubwürdig hinter den Maßnahmen zur Teamentwicklung stehen und für die Einhaltung der vereinbarten Maßnahmen sorgen. Er sollte aber auch hier nicht alleine dastehen, denn die Unterstützung eines Teams durch höhere Führungskräfte, wenn nicht sogar durch die Unternehmensführung, führt zu den besten Leistungsergebnissen. Die Teammitglieder nehmen nicht nur eine gegenseitige Unterstützung und ein Wir-Gefühl wahr, sondern entwickeln darüber hinaus eine
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positive Einstellung zum Unternehmen (siehe dazu Kapitel 3 Commitment).
Never Change a Winning Team Warum hat wohl Fußballtrainer Ottmar Hitzfeld in seiner ersten Amtszeit beim FC Bayern München das Rotationsprinzip eingeführt? Die Empörung war groß, als Spieler auch auf anderen Positionen eingesetzt wurden und hin und wieder sogar die Ersatzbank drücken mussten. Der Erfolg gab Hitzfeld zwar recht, aber so richtig anfreunden konnte sich mit diesem Prinzip niemand. Schließlich ist es auch bequemer alles beim Alten zu lassen, speziell, wenn es gut läuft. Das Team ist aufeinander eingespielt, die Prozesse sind bekannt, werden eingehalten, und es werden kaum Fehler gemacht. Argumente gegen Veränderungen im Team sind ebenfalls schnell zur Hand. Neustrukturierung und Prozessanpassungen sind erforderlich, was als zusätzliche Beanspruchung von den Teammitgliedern gesehen wird. Flexibilität und Veränderungsbereitschaft sind ja ohnehin schon groß genug. Bei ständigen Veränderungen der Arbeitsabläufe und der Teamkonstellation drohen früher oder später Motivationsprobleme und psychosomatische Erkrankungen, die Arbeitszufriedenheit nimmt ab und die Fehlzeiten steigen. Wenn Teams relativ geschlossen sind und über längere Zeit unverändert bleiben, so besteht die reelle Gefahr, dass die Leistungs- und Innovationskraft eines Teams deutlich abnimmt. Das wird vor allem den Teams zum Verhängnis, bei denen der Innovationsgrad durch den steigenden Wettbewerb und die höheren Kundenansprüche größer ist als in anderen Bereichen, wie zum Beispiel in der Entwicklungsabteilung. Wenn es dann schon zu spät ist, werden die strukturellen Schwächen in der Zusammenarbeit und im Kommunikationsverhalten im Unternehmen offensichtlich. Schnelle Nachschulungen sind dann nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, und oft müssen größere strukturelle und personelle Veränderungen vorgenommen werden. Fatal wird es aber dann, wenn die Unternehmensführung zusätzlich strategische Fehlentscheidungen trifft. Dann kann auch schon mal eine neue Technologie, wie zum Beispiel der
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Hybrid-Antrieb in der Automobilbranche, komplett verschlafen werden. Ein weiterer Nachteil von festgefahrenen Gruppenstrukturen ist, wenn durch ein neues Gruppenziel Zielkonflikte zwischen den Mitarbeitern entstehen und diese von der Geschäftsführung oder der Führungskraft nicht bedacht und bearbeitet werden. Dies ist dann der Fall, wenn zum Beispiel ein Service-Team die Quote von zu bearbeitenden Kundenanrufen anheben muss, um externe Kosten zu sparen. Dass dadurch einige Mitarbeiter mit ihren persönlichen Vertriebszielen unter Druck geraten und wiederum andere Mitarbeiter Einbußen in der Kundenzufriedenheit befürchten, weil nicht mehr ausreichend Zeit für eine individuelle Betreuung vorhanden ist, wird oft übersehen oder mit der Parole „Das schaffst du schon“ abgetan. Was dann genau passiert? Richtig, mindestens eines der Ziele muss aufgegeben werden, und das Klima im Team verschlechtert sich rapide. Besser die Führungskraft bringt gleich das neue Teamziel mit den bisherigen individuellen Zielstellungen zur Sprache und sucht nach gemeinsamen Lösungsmöglichkeiten, wie beispielsweise strukturellen Anpassungen, optimierten Arbeitsabläufen und effizienteren Kommunikationsprozessen, um sowohl das Gruppenziel als auch die individuellen Ziele best möglich zu realisieren. Dabei darf eine Priorisierung von Zielen in kritischen Situationen nicht fehlen, damit die Mitarbeiter für diese Fälle klare Handlungsanweisungen haben und der Stress nicht überhandnimmt. Ein starres und festgefahrenes Team wird jedoch damit Probleme haben, weil es als Team weder das Bewusstsein noch die notwendigen Verhaltensweisen erlernt, sich auf veränderte Bedingungen und Zielsetzungen einzustellen. Zugegeben, kaum ein Team in der Wirtschaft hat eine Ersatzbank, aber ein Rotationsprinzip kann eine Führungskraft sehr wohl einsetzen. Der Einsatzbereich von Mitarbeitern vergrößert sich und bietet Kompensation bei Ausfällen oder neuen Rahmenbedingungen bzw. Anforderungen. Damit bleibt das Team dynamischer und flexibler und kann sich so immer besser auf den nächsten „Gegner“ einstellen. Dann heißt es nicht „Never Change a Winning Team“, sondern „Do not Change a Running System“.
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An dieser Stelle sei auch ein kurzer Exkurs zum Thema „Phasenverläufe von Teams“ gestattet. Klassische Theorien zur Gruppenentwicklung gehen von statischen Phasenmodellen aus, wie das bekannteste Phasenmodell nach Tuckman und Lorge (1977). Nach diesem Modell durchlaufen insbesondere neu gebildete Teams fünf Phasen, bis das Team das Leistungspotenzial voll ausschöpfen kann. Dies würde vor allem auf Projektteams zutreffen. In der ersten Phase (Forming-Phase) lernen sich die Mitglieder kennen und tauschen ihre Erwartungen aus. Mit der Zeit werden jedoch Konflikte bezüglich Führung, Kontrolle und Zusammenarbeit offensichtlich (Storming-Phase), welche dann in der dritten Phase durch Regeln und Standards definiert werden, es bildet sich ein Rollenverständnis (Norming-Phase). Damit sind die Voraussetzungen für die volle Produktivität geschaffen (Performing-Phase), bevor es im Laufe der Zeit oder zum Ende eines Projektes hin zum Ausscheiden von Teammitgliedern kommt (Adjourning-Phase). Ihnen wird sicherlich aus eigener Erfahrung das ein oder andere Beispiel aus der Praxis einfallen, wo dieser sequenzielle Verlauf in Teams nicht bilderbuchmäßig vonstattenging. Oft ist zu beobachten, dass Teams in die Norming- oder Storming-Phase zurückfallen, weil unterschiedliche Auffassungen über Zielstellungen und Herangehensweisen aufkommen oder auch durch neue Anforderungen des Kunden entstehen. Deshalb sind dynamische Phasenmodelle vorzuziehen, in denen einzelne Phasen nicht einer festen Sequenz folgen müssen, wie zum Beispiel Planungsund Ausführungsphasen, sondern Rückkopplungsschleifen berücksichtigen und verschiedene Abläufe erklären können. Des Weiteren sollte man im Unternehmenskontext berücksichtigen, dass Phasenmodelle wie das von Tuckman und Lorge bei informellen Gruppen beobachtet wurden, Teams in Unternehmen jedoch immer formellen Gruppen entsprechen, da Strukturen, Spielregeln und Rollen in der Regel bekannt sind. Sind sie es jedoch nicht, lassen sich auch bei formellen Gruppen ähnliche Prozesse wie bei informellen Gruppen beobachten, was zu zeitlichen und produktiven Einbußen im Endergebnis führt. Hier sind insbesondere die Führungskräfte in die Pflicht zu nehmen und zur Verantwortung zu ziehen.
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Den Ball flach halten Eines der wesentlichsten Merkmale, die als Grundvoraussetzung von neuen und kreativen Teams zur Bewältigung von zukünftigen Herausforderungen gesehen werden, ist das Aufgeben von hierarchischen Strukturen. Das Hierarchiedenken wird als Handbremse verstanden, weil die Mitarbeiter bereits das selbstständige Denken und Agieren in Unternehmen verinnerlicht haben. Zudem geht man von der geradezu naiven Vorstellung aus, dass wirklich jeder Mensch mehr Verantwortung in seinem Job übernehmen will, denn nur so kann er sich ja auch selbstverwirklichen. Der neue Mitarbeiter soll sich wie ein Unternehmer im Unternehmen fühlen und danach handeln. Deshalb braucht es flache Hierarchien. Die logische Konsequenz ist eine Veränderung des Führungsstils vom „Anweisen und Kontrollieren“ hin zum „Kultivieren und Koordinieren“, wie es beispielsweise Thomas Malone, Managementprofessor am MIT (Massachusetts Institute of Technology), fordert. In letzter Konsequenz bedeutet das, ein Team an der langen Leine laufen zu lassen, da sich das Rudel aus lauten, selbstverantwortlichen und teamorientierten Mitarbeitern selbst führt und den kreativen Workflow aufrechterhält. Das Ergebnis sind dann die innovativsten Produkte und Dienstleistungen dieser Welt. Logischerweise findet hier das Zielvereinbarungsgespräch mit dem ganzen Team und nicht mit jedem einzelnen Mitarbeiter statt. In der Praxis stecken aber die „alten“ Führungskräfte ihre Nase nach dem Motto „Command and Control“ überall hinein und reißen das Ruder in Teammeetings wieder an sich, sobald vom Kurs abgewichen wird. Externe Berater werten das dann so, dass den Mitarbeitern die Freude an der Verantwortung genommen und obendrauf noch der kreative Prozess erstickt wird. Fehler müsse man tolerieren, da diese Teil des Lernprozesses sind. Wie bitte? Fehler müssen toleriert werden? Da soll eine Führungskraft ernsthaft zuschauen, wie Anfängerfehler gemacht werden, und erst eingreifen, wenn das Projekt kurz davor ist zu scheitern? Anscheinend zieht man hier das instrumentelle Lernen nach Skinner dem Modelllernen von Bandura vor. Lernen aus Fehlern und Konsequenzen, das scheint manchen Führungskräften bzw. externen Beratern kalkulierbar und auch bezahlbar zu sein. Also werden die gestandenen Führungskräfte
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zurückgepfiffen und die Nachwuchskräfte gelobt, welche die neuen Führungsmethoden lehrbuchreif anwenden. Hierarchiefreiheit und Freiräume sind zwar wichtige Variablen für den Wirkungsgrad von Teamarbeit, jedoch kann nicht der maximale Ausprägungsgrad angestrebt werden. Unternehmen sind keine hierarchiefreien Organisationen, und nicht jede Abteilung ist mit der KreativTruppe im Schuppen zu vergleichen. Der Traum von einem hierarchiefreien Team ist ebenso eine Utopie wie eine Gesellschaft, in der alle gleich sind. In Teams werden sich immer Alpha-, Beta- und Gammatiere tummeln. Es entsteht Reibung, die sich positiv oder negativ entlädt. Spannungen gehören zu Teamarbeit ebenso wie Krisen. Insbesondere große Teams, wenn hier nicht sogar der Begriff „Gruppe“ passender wäre, zerfallen in der Praxis in mehrere kleine „informelle“ Gruppen. Wenn diese einfach nebeneinander arbeiten, ist von keiner Störung auszugehen. In der Praxis kann sich aber das Nebeneinander schnell in ein Gegeneinander entwickeln, wenn Strukturen und Prozesse verändert werden oder neue Zielerreichungssysteme unterschiedlich bewertet werden. Führungskräfte mit hoher Führungsspanne sollten deshalb größtes Augenmerk auf „informelle“ Gruppen in ihrem Verantwortungsbereich legen. Des Weiteren sollte dieses Phänomen in Führungskräfteprogrammen thematisiert und geschult werden, denn mit steigender Gruppengröße sinken Kohäsion und Zufriedenheit der Teammitglieder, und leistungsbezogene Anreize lassen sich in größeren Gruppen schwerer platzieren, da der eigene Beitrag zum Teamergebnis und damit die zu erwartende Belohnung geringer wird.
Diversity ist Trumpf Die Tage, in denen allein die Entwicklungsabteilung neue Produkte entwickeln durfte, sind längst vorbei. Heutzutage werden Projektteams aus unterschiedlichen Abteilungen zusammengestellt: ein Mitarbeiter aus der Entwicklung, ein Mitarbeiter aus der Produktion, ein Mitarbeiter aus dem Vertrieb, ein Mitarbeiter aus dem Marketing und, nicht zu vergessen, den Mitarbeiter von der Qualitätssicherung.
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Heterogenität schlägt Homogenität. Man nehme eine Handvoll Mitarbeiter, am besten gleich einen interkulturellen Mix aus Experten, und schon hat man ein innovatives und leistungsstarkes Team, dass vor lauter Kreativität nur so sprüht. Das Prinzip „Diversity“ erfüllt zwar den Wunsch nach „Political Correctness“, die generelle Aussage der Leistungssteigerung lässt sich jedoch dadurch nicht dauerhaft aufrechterhalten. Vielmehr sollte im Vordergrund stehen, wie viel Heterogenität für ein Team überhaupt gut ist, da gerade bei extremen kulturellen und ethnischen Unterschieden Lern- und Kommunikationsstörungen entstehen. Stellen Sie sich zum Beispiel ein Callcenter irgendwo auf der Welt vor, dessen Teams aus Europäern, Asiaten, Muslimen und jüdischen Mitarbeitern bestehen. Welche Rahmenbedingungen und welches Lernkonzept muss man schaffen, damit „Diversitiy“ zu Qualität und Innovation führt und nicht in einem schlechten Klima endet, weil man schnell Gefahr läuft von einem Fettnäpfchen ins andere zu treten. Auch bei Projektteams im interdisziplinären Feld kann die Heterogenität, mit Ausnahme der fachlichen, zuweilen zu Problemen führen. Bestes Beispiel bietet hier die Kommunikation. Dass ein Expertenteam sich vielleicht nicht besonders gut austauscht, wenn alle Mitglieder extrem introvertiert bzw. extrovertiert sind, wäre an dieser Stelle zu einfach. Aber was, wenn den Experten die Kommunikationsstruktur nicht ganz klar ist bzw. das Management davon ausgegangen ist, dass Experten es ohne Vorgaben hinbekommen müssten sich effektiv auszutauschen? Wird die Kommunikationsstruktur nicht der Aufgabenstruktur entsprechend ausgewählt, kann dies bereits die erste Ursache für Leistungsverluste sein. Für komplexe Aufgabenstellungen braucht es eine zentrale Person, welche die Informationen bündelt und koordiniert. Die Radstruktur, bei der sich diese Person in der Mitte (Achse) des Teams befindet, ist jedoch nicht die richtige Wahl, da sie bei komplexen Problemen mit der Informationsverarbeitung und Weitergabe schnell überfordert wäre. Hingegen bietet die Struktur der Totalen, bei der sich alle Experten untereinander im regen Austausch befinden, einer übergeordneten Person die
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Möglichkeit, nicht alle Informationen zu bündeln und zu koordinieren, sondern hauptsächlich den Überblick zu behalten und die wichtigen Impulse zu geben. D. h. aber nicht, dass sich die Entscheidungsstruktur im Expertenteam ebenso durch das gesamte Projekt durchziehen muss. Kommunikations- und Entscheidungsstruktur sind prinzipiell unabhängig voneinander zu betrachten. Endgültige Entscheidungen in Expertenteams können auch von einer vorgesetzten Person getroffen werden, wie zum Beispiel die Entscheidung über das endgültige Designkonzept einer neuen Modellserie bei einem Automobilhersteller. Bis dahin sollte aber das Expertenteam bei „beratenden“ Entscheidungen in der Lage sein diese gemeinschaftlich zu treffen. Aber gerade hier kann es zu Fehlentscheidungen kommen, wenn die Expertengruppe dem „Groupthink“-Phänomen unterliegt. Das Phänomen wurde erstmals von Janis (1972) beschrieben, der die Entscheidungsprozesse in der Kennedy-Ära im Nachgang untersucht hat. Unter der Regierung Kennedy kam es zu Fehlentscheidungen in der obersten Führungsebene, welche fast den ersten Atomkrieg zur Folge gehabt hätten. Die Analyse der Protokolle und die Rekonstruktion der Sitzungen brachten die Umstände zu Tage, die das „Groupthink“-Phänomen begünstigen. Generell lässt sich „Groupthink“ in Gruppen immer dann beobachten, wenn unerwünschte Informationen herausgefiltert werden, um einen Konsens zu erreichen, insbesondere dann, wenn der Konsens mit dem Standpunkt des Gruppenführers übereinstimmt. Durch die systematische Ausblendung werden unter Umständen wichtige Informationen für die Entscheidungsfindung unterschlagen und es kommt so zu fatalen Fehlentscheidungen. Zu den spezifischen Merkmalen und Mechanismen des „Groupthink“ gehört die Illusion der Unfehlbarkeit und der damit verbundene Gruppendruck, alle Argumente, die diese Illusion infrage stellen, nicht zu beachten. Das hat gleichzeitig zur Folge, dass einige Mitglieder sich einer Selbstzensur unterwerfen, um nicht vom Gruppenkonsens abzuweichen. Die aufgeheizte Stimmung begünstigt darüber hinaus die Verwendung von Scheinargumenten, moralische Rechtfertigungen und einen unrealistischen Optimismus, dass die Dinge so eintreffen werden, wie man sie prognostiziert.
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Kommen Ihnen einige von diesen Tendenzen in manchen Besprechungen bekannt vor? Häufig ist dies bei der Einschätzung von Strategien oder Produkten von Wettbewerbern oder des eigenen Unternehmens zu beobachten, insbesondere im Vertrieb. Achten Sie in der Zukunft einmal darauf, und Sie werden feststellen, wie schnell sich ein „Groupthink“ einstellen kann. Übrigens, leistungsmindernde Prozesse in der Teamarbeit lassen sich auch beim Brainstorming beobachten. Die individuelle Sammlung von Ideen vor der eigentlichen Besprechung ist fruchtbarer, als wenn das Sammeln von Ideen direkt in der Besprechung stattfindet. Nicht nur, weil es länger dauern könnte, bis man seine Idee endlich einbringen kann, sondern auch, weil die Wahrscheinlichkeit höher ist, dass entweder die anderen Mitarbeiter schon die „guten“ Ideen einbringen, oder befürchtet wird, dass die eigene Idee vielleicht nicht akzeptiert oder sogar negative Folgen haben könnte. Die Basis für jegliche produktive Teamarbeit ist ein Mindestmaß an Toleranz und Qualität in der Zusammenarbeit bei jedem einzelnen Teammitglied, insbesondere bei heterogenen Teams. „Synergy ist not for free“, lautete deshalb das Fazit von Brodbeck (1999) zu seinen Untersuchungen zum Thema Diversität bzw. Heterogenität, und gerade die ist bei Experten nicht immer gegeben. Experten lassen sich einfach nicht gerne sagen, dass sie auch mal daneben liegen. Komplexe Aufgaben benötigen jedoch ein heterogenes Team mit klugen Köpfen, um kreative Lösungen hervorzubringen. Damit aber Prozessgewinne und nicht Prozessverluste entstehen, muss jedes Mitglied in das Team in Form von Zeit, kognitivem Schmalz und Übung im partnerschaftlichen Austausch investieren, d. h., jeder muss sich anstrengen. Wenn ein Experte diese Einstellung und Verhaltensweisen nicht mitbringt, schadet er dem Prozess und dem restlichen Team. Da kann man dann noch so viele Regeln aufstellen und ermahnen, wie man will, lange hält der Frieden nicht.
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Das Team, das unbekannte Wesen – Die Utopie des Teamplayers
Der Team-Ratgeber Lege die Spielregeln fest Ein Team braucht klare und spezifische Regeln für eine effektive Zusammenarbeit. Die Regeln müssen von allen Mitgliedern respektiert und getragen werden, damit ein Gefühl der sozialen Einheit entstehen und die Leistungsnorm kontinuierlich gesteigert werden kann. Wer dafür in erster Linie S orge trägt? Die Führungskraft. Sie führt und lenkt das Team entlang der Rahmenbedingungen und Ressourcen, die ihr zur Verfügung stehen. Dabei orientiert sich die Führungskraft an den Unternehmenswerten und vorhandenen Strukturen des Unternehmens und richtet daran die effektivsten Interaktions- und Kommunikationsprozesse für das Team aus. Der Spielraum und der Grad der Einbindung des Teams bei der Gestaltung und Weiterentwicklung der Zusammenarbeit hängen dabei zum großen Teil vom Führungsstil der Führungskraft, aber auch von der Zusammensetzung und der Reife der einzelnen Mitglieder ab. Je flexibler eine Führungskraft in ihrem Führungsstil ist und je verantwortungsbewusster die Mitarbeiter agieren, desto eher können anspruchsvollere Kommunikationsstrukturen, wie zum Beispiel der Kreis oder die Totale, praktiziert werden, um auch komplexere Aufgaben erfolgreich zu bearbeiten. Des Weiteren helfen klare Regeln zum vertrauensvollen Umgang zwischen Führungskraft und Mitarbeiter sowie Mitarbeitern untereinander, weil sich alle in ihrer Rolle und Verantwortung wiederfinden und ein Zusammengehörigkeitsgefühl aufbauen können. Das vermittelt wiederum Sicherheit im Umgang miteinander und legt die zulässigen Verhaltensund Entscheidungsspielräume fest. Gleichzeitig beugen die Spielregeln vor, dass Phänomene wie das „Groupthink“ auftreten oder Mitglieder aufgrund „sonderlicher“ Eigenschaften ausgegrenzt werden und sich im Extremfall zum Mobbing-Fall entwickeln. Gerade hier werden die anfänglichen Verstöße zunächst nicht erkannt, oder man sieht bewusst darüber hinweg. Am Ende erhält ein Mitarbeiter eine Stigmatisierung, die er ohne Unterstützung nicht mehr abschütteln kann, und das Team lässt eine Integration nicht mehr zu.
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Bei Problemlösungen sollten die Spielregeln immer den Einzelbeitrag eines Teammitglieds berücksichtigen. Das fällt natürlich leichter, wenn das Team aus nur fünf anstatt zwölf Mitarbeitern besteht. Je größer die Gruppe, desto mehr muss die Führungskraft diesen Aspekt im Blick behalten. Das kann sie durch eine formalisierte Regelung der Aufgabenverteilung und Kleingruppenarbeit steuern oder auch durch eine rotierende und zeitlich definierte Aufgabenzuordnung innerhalb des Teams gewährleisten. Will die Führungskraft auch bei der Kleingruppenarbeit den Teamcharakter erhalten, ist die Anzahl von drei Mitarbeitern die Untergrenze. Zu produktiven Spielregeln in Teams gehört es auch eine gemeinsame Sprache zu sprechen. Eine wichtige Aufgabe der Führungskraft ist es deshalb, jedes Teammitglied dazu zu befähigen, diese zu kennen bzw. zu erlernen. Unterschätzt eine Führungskraft den Aspekt der gemeinsamen Sprache, entwickelt sich im Team eine stark informelle Sprache, die nicht nur zum Vorteil für die Führungskraft und das Unternehmen ist. Vor diesem Hintergrund sollte man bedenken, dass auch Auszubildende und Nachwuchsführungskräfte im Verlauf ihrer Ausbildung bzw. ihres Entwicklungsprogramms die Sprache des Unternehmens und der einzelnen Abteilungen kennen lernen. In diesen Fällen sollte es dann schon die gewünschte und weniger die informelle Unternehmenssprache sein. Der letzte und wichtigste Aspekt im Rahmen von Spielregeln bei Teams ist das Niveau der Leistungsnorm. Wie bereits weiter oben erwähnt, ist die Leistungsnorm für die Leistungsfähigkeit und -entwicklung eines Teams von wesentlicher Bedeutung. Sie stellt das Bezugssystem dar für alle Teammitglieder, auch die neu hinzukommenden. Die Führungskraft sollte deshalb die Leistungsnorm wesentlich bestimmen, da davon die Zielerreichung abhängt. Das Team wiederum sollte soweit involviert werden, wie es dazu in der Lage ist. Da Abweichungen von der Norm von den Teammitgliedern selbst sanktioniert werden, ist es für die Führungskraft nur von Vorteil, wenn das Team in einem selbstregulierenden Mechanismus dafür sorgt, dass das Leistungsniveau von allen eingehalten wird. Dadurch kann die Führungskraft einen Teil ihrer Kontrollfunktion auf das Team übertragen und muss dadurch weniger oft selbst eingreifen und den Spielverderber spielen.
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Prüfe die Voraussetzungen, das Feintuning kommt später In der Regel findet man eine Gruppe von Mitarbeitern als bestehendes Team bereits vor und kann sich dieses nicht neu zusammenstellen, es sei denn, es handelt es sich um Projektteams. Das hält jedoch Unternehmen und Führungskräfte nicht davon ab, im laufenden Rekrutierungsprozess und in der Personalentwicklung kontinuierlich daran zu arbeiten. In Anlehnung an die Überlegungen von Thornton et al. (1992) sollte sich die Auswahl der zu überprüfenden Dimension an der grundlegenden Fragestellung des Einsatzzwecks von Mitarbeitern orientieren. Im Bereich der Personalauswahl sollten deshalb zeitlich stabile Anforderungsdimensionen unter die Lupe genommen werden, während in der Personalentwicklung diejenigen Dimensionen behandelt werden sollten, die im Rahmen der Personalentwicklungsmaßnahmen geschult und gefördert werden können. Daraus ergibt sich für die Teamfähigkeit folgende Konsequenz: In der Personalauswahl sollte besonderer Wert auf die Einstellung, eine gute soziale Kompetenz und die Präferenz für Teamarbeit gelegt werden. Für den Einsatz in Projektteams sollten darüber hinaus auch noch ausreichende Kenntnisse im Bereich der methodischen Kompetenz und keine große Diskrepanz zwischen Wissensstand und Fähigkeiten vorhanden sein. Hingegen kann in der Personalentwicklung die Teamfähigkeit in Themenbereichen wie Kommunikation, Konfliktmanagement und Projektmanagement verbessert werden, in Teamentwicklungsmaßnahmen können die vorhandenen Kenntnisse und Methoden der Mitarbeiter weiterentwickelt und an die Bedürfnisse des Unternehmens ausgerichtet werden. Dies sollte auch immer in enger Abstimmung mit der strategischen Ausrichtung des Unternehmens erfolgen, um die richtigen Rückschlüsse für die Notwendigkeit von Maßnahmen wie Teamarbeit zu ziehen, d. h., um festzustellen, unter welchen Bedingungen und in welcher Form Teamarbeit organisiert und durchgeführt werden soll, damit die angestrebten Unternehmensziele erreicht werden können.
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Strukturelle Voraussetzungen für Teambildung werden vor allem durch die Häufigkeit der zwischenmenschlichen Kontakte und durch die wahrgenommene Ähnlichkeit des Arbeitsumfeldes sowie Aufgabenbereiches bestimmt. Mit der Anzahl der Kontakte steigt die Wahrscheinlichkeit von Sympathie (Homans, 1950), und wenn sich Sympathie bildet, ist es wahrscheinlicher, dass die Kontakthäufigkeit steigt. Für die Kontakthäufigkeit selbst ist wiederum räumliche Nähe von Vorteil, welche jedoch in einigen dezentralen Unternehmen nicht immer gewährleistet ist. Hier helfen zwar die neuen Medien, dennoch sollten regelmäßige Treffen an einem Ort stattfinden, damit Nähe stärker wirken kann und sich Kohäsion bildet. Kurz gesagt, Mitarbeiter brauchen Zeit und ausreichend Kontaktpunkte, um sich als Team zu erleben und sich zu einem starken Team zu entwickeln. Die wahrgenommene Ähnlichkeit des Arbeitsumfeldes und/oder der Arbeitstätigkeit selbst erhöht wiederum die Wahrscheinlichkeit, dass Probleme im Team besser gelöst werden können und die Bewältigung von Stress gemeinsam leichter fällt. Die arbeitsbedingte Nähe und damit auch der Typ des Teamplayers können jedoch sehr unterschiedlich ausfallen. Beginnen wollen wir mit der Stufe der koagierenden Zusammenarbeit, die dadurch gekennzeichnet ist, dass Teile von Aufgaben ohne jegliche echte Interaktion erledigt werden. Das ist in Arbeitsprozessen wie der Akkordarbeit der Fall oder in Handelsgeschäften vorzufinden, wo Aufgabenbereiche und Schwerpunkte breit gestreut sind und sich gut voneinander trennen lassen. Verkäufer, Kassierer und Lagermitarbeiter gehen ihren Tätigkeiten recht unabhängig voneinander nach, und es ergeben sich nur wenige Berührungspunkte im Arbeitsalltag. Zwar gehören diese Mitarbeiter wiederum einem Team von Verkäufern, Kassierern und Lagermitarbeitern an, jedoch ist auch hier der Grad der Zusammenarbeit nicht besonders hoch, da die individuelle Performance beim Kunden im Vordergrund steht und auch mit individuellen Zielstellungen verbunden ist. Die Teamfähigkeit ist bereits gewährleistet, wenn sich der Kunde bei einem Mitarbeiter über den vorherigen Mitarbeiter nicht ärgern muss und die Mitarbeiter selbst „Hand in Hand“ arbeiten. In der Praxis erlebt man es aber hin und wie-
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der, dass es Verkäufern schwerfällt bereichsübergreifend zu beraten, um Kunden einen Mehrwert zu bieten. Da scheint es manchmal schon zu viel verlangt, auf eine andere Abteilung zu verweisen oder in die Richtung zu zeigen, wo sich die andere Abteilung befindet. Zu viel Teamgeist hingegen führt dazu, dass sich Mitarbeiter im Team so wohlfühlen, dass der Kunde das Nachsehen hat. Schließlich möchte man als Mitarbeiter im Aufenthaltsraum oder im regen Gesprächen auf der Verkaufsfläche nicht gestört werden. Patenprogramme, Rotationsprinzip oder thematisch sinnvolle Mischbereiche von Produktpaletten können hier Abhilfe schaffen, erfordern aber auch von den Mitarbeitern mehr Kompetenzen. Eine höhere Stufe der Zusammenarbeit ergibt sich immer dann, wenn die Aufgabenstellung einen regelmäßigen Austausch erfordert. Dieser Austausch kann entweder kontraagierender Natur sein, wenn unterschiedliche Perspektiven und Meinungen in Einklang gebracht werden müssen, wie z. B. zwischen Betriebsrat und Geschäftsführung, oder interagierender Natur, wo der Austausch zwischen Mitarbeitern ein fester Bestandteil der Arbeitsprozesse ist, beispielsweise in der Abteilung Human Resources zwischen Business Partnern und Competence Center. Hier geht es kaum voran, wenn die Beiträge von Mitarbeitern fehlen oder der Austausch nicht reibungslos funktioniert. Insbesondere in Matrixorganisationen zeigt sich, ob die Zusammenarbeit kontraagierend oder interagierend ist. Die Organisationsform zwingt Manager, Führungskräfte und Experten dazu, bei gegensätzlichen Standpunkten Kompromisse zu finden, die letztlich auch innovative Lösungen hervorbringen sollen. Die formalen Grundlagen und Prinzipien werden zwar in den Unternehmen geschaffen, ob aber die Kollegen aus Produktion, Marketing, Einkauf, Finanzen oder Personal mit dieser Konstellation immer verantwortlich umgehen, steht auf einem anderen Blatt Papier. Von einem Teamplayer wird jedoch erwartet, dass er nicht nur Hilfe anzubieten hat. Grundsätzlich sollte ein angemessener Grad der interindividuellen Heterogenität in einem Team angestrebt werden. Je nach Art der Zusammenarbeit ist eher der harmoniebedürftige oder eher der stärker prozessorientierte Teamplayer gefragt. Ersterer fühlt sich in homogeneren Arbeitsgruppen wie Fachbereichen wohler, Letzterer in Projektgruppen.
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Lenken, nicht bremsen! Grundsätzlich geht man bei der Teamarbeit von Leistungsvorteilen gegenüber der Summe von Einzelleistungen aus. Warum das nicht immer der Fall ist, liegt an der Aufgabenstellung, vor allem aber an Motivationseffekten. Negative Motivationseffekte – „social loafing“ (sozialer Faulenzer), „free rider“ (Trittbrettfahrer) und „sucker“ (warum bin ich eigentlich immer der Dumme) – können dabei eher auftreten als positive Motivationseffekte – „social facilitation“ (soziale Föderung) oder „social compensation“ (soziale Kompensierung). Sehen wir uns die Motivationseffekte am Beispiel von Veränderungsprozessen an, nimmt klassischerweise die Leistung während des Veränderungsprozesses zunächst ab, bevor sie im besten Fall auf ein höheres Grundniveau steigt. Neue und unbekannte Arbeitsschritte, Instrumente oder Schnittstellen müssen zunächst erlernt und in eine tägliche Routine überführt werden. Hinzu kommt die Angst der Mitarbeiter vor Unbekanntem und Abläufen, die zu heftigsten Widerständen führen können. Da in der Regel Führungskräfte ein Team führen, gilt es die Effektivität der Teams zu fördern, um motivationale Prozesse im Positiven zu beeinflussen. Abhängig davon, wie groß eine Gruppe ist und inwieweit individuelle und Gruppenbewertungsstandards für einen Mitarbeiter nicht nachvollziehbar sind, treten Motivationsverluste und Leistungseinbußen umso stärker auf. Der soziale Faulenzer leistet unbewusst weniger als er leisten könnte, weil die eigene Leistung nicht bewertet wird. Der Trittbrettfahrer glaubt, dass die Leistung anderer bereits genügt, um das Gruppenziel zu erreichen. Wird dies von den Leistungsträgern erkannt, kann das dazu führen, dass die Leistungsträger wiederum in ihrer Leistung nachlassen, weil sie nicht mehr die Dummen sein wollen (GimpelEffekt). Es ist daher für eine Führungskraft wichtig, negative gruppendynamische Prozesse zu erkennen und frühzeitig entgegenzuwirken bzw. sie wieder umzupolen, wenn sich die Motivationsverluste bereits bemerkbar gemacht haben. Soziale Kompensation erreicht die Führungskraft beispielsweise dann, wenn die leistungsstärkeren Gruppenmitglieder die Leistungen schwächerer Mitglieder kompensieren. Die Führungskraft
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muss hier dafür sorgen, dass das Gruppenziel als wichtig erachtet wird, und deutlich machen, dass alle Einzelbeiträge dafür benötigt werden. Damit erreicht sie auch, dass sich die leistungsschwächeren Gruppenmitglieder ebenfalls an strengen, da auch ihr Beitrag unverzichtbar für die Erreichung des Gruppenziels ist (Köhler-Effekt). Da der Fokus auf motivationalen Prozessen liegt, kommt hier der Belohnung eine entscheidende Rolle zu. Belohnung ist eines der besten Mittel zur Verhaltensänderung. Dies bestätigen auch neuropsychologische Studien. Entscheidend ist dabei, was die richtige Belohnung für den Einzelnen und das Team ist. Wie bereits im Kapitel Motivation erläutert, ist langfristig gesehen die Form von Motivation am erfolgreichsten, welche die Selbstwirksamkeit der Mitarbeiter fördert. Nicht zu vergessen ist aber auch der positive Effekt des Ausbleibens negativer Verstärker. Die Auflösung der zu Beginn erwähnten Angst von Mitarbeitern vor Veränderungen, welche meist auf dem angenommenen Verlust der Sicherheit, der Machtposition oder der Wertschätzung fußt, kann ebenso als eine Belohnung im weiteren Sinne genutzt werden. Nicht zuletzt kann es in Veränderungssituationen von Vorteil sein, Ventile für den sich unvermeidlich aufbauenden Druck in einer Gruppe zu öffnen. Nehmen wir als Beispiel Besprechungen, in denen Woche für Woche und Monat für Monat dieselben Abläufe und Zahlen behandelt werden. Ist es dann nicht ratsam, die eine oder andere Besprechung mit anderen Inhalten zu füllen? Ist es nicht sinnvoll, d en Raum zum „Druckablassen“ und Austausch von Befindlichkeiten in der Gruppe zur Verfügung zu stellen, um im Anschluss lösungsorientiert in die erneute Performancephase einzusteigen, anstatt Balkendiagramme zu präsentieren? Hier ist Fingerspitzengefühl von den Führungskräften gefordert. Es kann nicht sein, dass Mitarbeiter ihre Absorptionskanäle ausschließlich im privaten Umfeld ausleben sollen, zumal Beruf und Arbeit sich immer mehr verschmelzen.
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Fazit Es ist fraglich, ob es sich bei der Anforderung Teamfähigkeit überhaupt um eine messbare Dimension handelt oder ob sich nicht auf der Grundlage des Sozialisierungsprozesses eines Menschen eine individuelle Einstellung zu Teamwork entwickelt. Damit ist Teamfähigkeit stark abhängig von der Persönlichkeitsstruktur und einer günstigen Sozialisierung. Man muss Gelegenheit gehabt haben, um seine Persönlichkeit und die Einstellung zu Teamwork reifen zu lassen. Sei es in der Familie, in der Schule, im Verein oder im Ausland, überall hat man die Chance Erfahrungen zu sammeln, wie sich eine Gruppe anfühlt, was die Gruppe einem geben kann, aber auch was sie einem abverlangt. In diesem Prozess muss man herausfinden, wie viel Teamgeist man in sich trägt oder entwickeln kann. Im späteren Berufsleben ist schließlich ein Abgleich zwischen den gewünschten individuellen und kollektiven Bedürfnissen in der anvisierten Tätigkeit vorzunehmen. Dazu gehören auch die Berücksichtigung der Organisationsstruktur eines Unternehmens, die personelle Konstellation des Teams und das konkrete Anforderungslevel der Tätigkeit. Das „Wir-Gefühl“ hat nämlich seine Grenzen und lässt sich gut am Grad der Hierarchie, der Gruppenkohäsion und der Gruppennorm ablesen. Teamfähigkeit ist daher keine Konstante, sondern verändert sich mit den Gegebenheiten. In erster Linie verändert sich die Funktion oder die Position, die man in einem Team einnimmt. Mit der Zeit verändert sich auch die Struktur im Team, Normen werden angepasst und die Rollendifferenzierung entwickelt sich immer wieder aufs Neue. Im günstigsten Fall bleibt jedoch ein Grundstock an Zusammenhalt und Zugehörigkeitsgefühl bestehen. Teamfähigkeit hat damit nicht nur ein Gesicht, sondern viele Gesichter. Ob im reinen Fachexpertenteam, einem bereichsübergreifenden Projektteam oder Qualitätszirkel, einer Arbeitsgruppe mit überwiegend Männern oder einer bunt gemischten Erfahrungsgruppe, Teamarbeit hat immer ein anderes Gesicht, auf das man sich einstellen können muss, ansonsten ist man schlichtweg
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nicht teamfähig. Unabhängig von den individuellen Anforderungen der Teamfähigkeit muss sich ein Unternehmen über die Rahmenbedingungen Gedanken machen, unter denen die Mitarbeiter gemeinsame Aufgaben bewältigen sollen. D. h., inwiefern eine gemeinsame Aufgabenorientierung entwickelt werden kann, wie man sich gegenseitig unterstützen kann bzw. soll und wie flexibel und effizient Veränderungen oder Störungen im Unternehmen begegnet werden muss. Manager und Führungskräfte sollten daher darüber Auskunft geben, welchen Stellenwert Teamarbeit in der Organisation einnehmen soll und welche Bewertung das Kriterium Teamarbeit in einem Organisationsbereich bzw. Unternehmen erhält. Deshalb ist es auch für ein Unternehmen unabdingbar, selbst die Regeln und die Normen für Teamarbeit aufzustellen und diese durch die Führungskräfte sicherzustellen. Andernfalls tun es die Mitarbeiter selbst, und ob das immer den Anforderungen der Geschäftsleitung entspricht, sei dahingestellt. Ich würde hier eher auf Nummer sicher gehen.
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Warum Zeitmanagement keine einfache Aufgabe ist, wird deutlich, wenn wir uns mit der Hirnregion beschäftigen, die auf die Qualität unseres Zeitmanagements einen großen Einfluss ausübt – dem Frontalhirn. Der vordere Teil unserer Großhirnrinde ist maßgeblich an den integrativen Funktionen der Handlungsplanung und Handlungskontrolle (so genannte Exekutivfunktionen) beteiligt. Zu den weiteren kognitiven Leistungen des Frontalhirns gehören auch die Erkennung und Evaluierung neuer Reize, die Hemmung irrelevanter Informationen, Arbeitsgedächtnisfunktionen und schließlich Enkodierungs- und Abrufprozesse des Langzeitgedächtnisses. Alles Aufgaben, die für ein gutes Zeitmanagement elementar sind. Das schafft das Frontalhirn selbstverständlich nicht alleine. Das Frontalhirn erfüllt seine Funktion in Rahmen neuronaler Netzwerke – also einem Verbund –, weshalb es eine besonders intensive und wechselseitige Verschaltung mit vielen anderen Hirnregionen besitzt. Schließlich zeichnen wir uns durch flexibles und intentionales (Arbeits-)Verhalten aus, und dieses setzt eine Berücksichtigung von sensorischen und motorischen Informationen sowie Motivation und Emotion voraus. Die dem Frontalhirn zugeschriebenen Funktionen sind somit nicht allein dessen Produkt, sondern entstehen vielmehr durch das Zusammenwirken des neuronalen Verbundes. Zeitmanagement ist daher aus neuropsychologischer Sicht in einem komplexen Funktionskreislauf eingebettet, in dem es nach seiner Installierung kein Oben, kein Unten, kein Anfang und kein Ende mehr gibt. Leider fühlen sich auch viele Menschen genau so bei der Bewältigung ihrer täglichen Aufgabenflut. „Ich weiß schon nicht mehr, wo mir der
S. Lesch, Psychoblasen in der Wirtschaft, DOI 10.1007/978-3-8349-6449-6_8, © Gabler Verlag | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Kopf steht“ heißt es dann. Wie recht sie doch mit dieser Einschätzung haben. In Seminaren und Büchern werden Führungskräfte und Mitarbeiter entweder mit Ratschlägen und Rezepten zum Thema Zeitmanagement nur so überhäuft – oder man sagt ihnen hier klipp und klar, dass sie ihre Zeitprobleme ohnehin nicht in den Griff bekommen werden. Ganz schön paradox, nicht wahr? Seitdem ich das erste Mal an einem Zeitmanagement-Seminar teilgenommen habe, frage ich mich, ob diejenigen, die eine ABC-Liste führen und jeden Tag ihren Schreibtisch aufräumen, wirklich keine Zeitprobleme haben. Sind die von diversen Autoren und/oder Beratern angepriesenen Methoden und Tipps zum individuellen Zeitmanagement überhaupt hilfreich? Jedenfalls kenne ich einige Menschen, mich eingeschlossen, die sich nach wie vor schwer damit tun. Mein eigenes Zeitmanagement bei diesem Buchprojekt war auch nicht immer das beste. Am intellektuellen Anspruch kann es ja nicht liegen, denn der ist beim Zeitmanagement nicht besonders hoch. Wer sich nicht einmal die Prinzipien der ABCAnalyse (Dickie, 1951) und der ALPEN-Methode (Seiwert, 2005) merken und sie grundsätzlich anwenden kann, der hat ein wirkliches Problem und sollte dann seine Gedächtnisspanne und Aufmerksamkeitsfähigkeit untersuchen lassen. Die Gründe für fehlendes Zeitmanagement müssen also woanders liegen. Bei der Ursachenforschung in eigener Person muss ich eingestehen, dass die vorgegebenen Zeitslots, mit denen ich in der Regel gut fahre, von mir selbst hin und wieder verschoben oder gleich ganz gestrichen werden. Gründe dafür gibt es genügend. „Endlich Wochenende“, dieses Argument steht immer hoch im Kurs. Manchmal fehlt es auch an der nötigen Disziplin, die bei mir im häuslichen Umfeld nicht so ausgeprägt ist wie im Job. Die Wochenenden sind dadurch immer schneller vorbei als mir lieb ist. Aber keine Sorge, dieses Kapitel soll nicht künstlich in die Länge gezogen werden. Das hat auch einen Grund. Wie gut oder wie schlecht ich meine Zeit manage, das liegt weniger an praktikablen Methoden als vielmehr an mir selbst, an den anderen und der Interaktion zwischen mir und den anderen. Ob man deshalb generell die Begrifflichkeit von Zeit-
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management auf Selbstmanagement umstellen sollte, sei einmal dahingestellt. Das Argument, Zeit ließe sich nicht managen, halte ich auch nicht für sehr zielführend. Einen neuen Namen für die gleiche Problematik zu schaffen, das klingt eher nach Marketingschachzug. In diesem Kapitel soll der Name Programm sein, und deshalb wollen wir uns in diesem Kapitel auch kurz fassen.
Die „Zeit“-Falle Mit Zeitmanagement ist es wie mit Diäten – sie helfen nur kurzfristig Bei keiner anderen Methodenkompetenz existieren so viele konkrete Modelle und elektronische Hilfsmittel wie beim Zeitmanagement. To-doListen, Filofaxe, elektronische Kalendersysteme mit E-Mail-Funktion, Mind Mapping, Salami-Taktik oder das Pareto-Prinzip, um nur einige zu nennen. Alle aber geben eine Antwort darauf, wie man der davonlaufenden Zeit wieder Herr werden könnte. Könnte? Nein kann! Selbstverständlich gibt es in Seminaren auch Antworten auf die Frage, was die konkrete Umsetzung so schwer macht. Besonders beliebt ist hier der Sägeblatt-Effekt: Da ein Mensch ca. 20 Minuten benötigt, um sein ganzes geistiges Potenzial für eine Aufgabe zu entfalten, sind Unterbrechungen durch Kollegenbesuche oder Anrufe alles andere als gewünscht. Durch die Unterbrechung fällt das geistige Potenzial fast auf den Nullpunkt zurück, und man benötigt wiederum 20 Minuten, um auf Hochtouren zu kommen. Nur erreicht man jetzt keine 100 Prozent mehr, sondern etwas weniger. Mit jeder neuen Störung fällt man wieder ab und büßt gleichzeitig wieder ein Stück der Maximalleistung ein. Grafisch dargestellt sieht das dann so aus wie ein Sägeblatt. Störungen sind also Gift für den Output und die Kreativität, insbesondere bei anspruchsvollen Aufgabenstellungen, wie beispielsweise dem Schreiben von Gutachten. Dieser Sägeblatt-Effekt würde bei mir allerdings eher bei der Bearbeitung einer völlig neuen Aufgabe eintreten. In diesem Fall bräuchte meine Großhirn-
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rinde eine Anlaufzeit, und Unterbrechungen würden mich immer wieder komplett aus dem Konzept bringen, da die Wechselkosten hier sehr hoch wären. Die Frage, die sich mir aber stellt, ist, wie häufig diese Situation in meinem Arbeitsalltag überhaupt vorkommt. In der Regel befasse ich mich mit Inhalten und Aufgabenstellungen, für deren Bewältigung ich bereits Kompetenzen und bestimmte Herangehensweisen habe, die ich fortwährend weiterentwickle. Sonst würde ich ja für eine Stelle oder Dienstleistung überhaupt nicht infrage kommen. Wechselkosten sind bei Störungen unterschiedlich und hängen sowohl von der Komplexität bzw. Neuartigkeit einer Aufgabenstellung ab als auch von der Art und Intensität der Störung. Das Sägeblatt hat daher unterschiedlich hohe Spitzen mit unterschiedlich tiefen Kerben und unterschiedliche Abstände zwischen den Spitzen. Außerdem hat sich die Natur auch noch etwas einfallen lassen, dass wir die Energie haben an der unerledigten Aufgabe weiterzumachen. Wenn wir nämlich bei etwas unterbrochen werden, haben wir die Tendenz die unerledigte Handlung wieder aufzunehmen, weil unser Handlungsziel noch nicht erreicht wurde (Ovsiankina-Effekt). An dieser Stelle muss es auch erlaubt sein zu hinterfragen, wann eine Störung eine wirkliche Störung ist. Für einen Kundenberater, gleich welcher Branche, der gerade dabei ist für einen Kunden einen Antrag auszufüllen, ist ein neuer Kunde am Beratungstisch keine „echte“ Störung. Kunden zu beraten ist seine Hauptaufgabe. Auch eine Sekretärin, die Korrespondenz auf Vorlage verfasst, sollte das Klingeln des Telefons nicht als Störung empfinden. Entwickelt ein Mitarbeiter im Laufe seiner Tätigkeit eine solche Einstellung zu Störungen, wird es für ihn und das Unternehmen gefährlich. Eine solle Auffassung sollte von Führungskräften rechtzeitig thematisiert und wieder ins rechte Licht gerückt werden. Das Hauptproblem des Transfers von Zeitmanagement-Seminaren bleibt jedoch, dass die dort erlernten Methoden und Techniken im Alltag nur kurzfristig bestehen bleiben. Nach schon wenigen Tagen ist alles schon wieder so hektisch, dass die Tools mit Aufwand verbunden sind und sich unser emotionaler Prozessor dafür entscheidet diese wieder aufzugeben. Mit Aufwand sind dabei drei Dinge gemeint: einmal das Gefühl, dass für
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die Planung und das Aufschreiben zuviel Zeit draufgeht. Die ewige „Ausfüllerei“ der To-do-Liste und die noch aufwändigere Neusortierung der Aufgaben nach ABC erscheinen früher oder später zwecklos und steigern ausschließlich das Frustrationspotenzial. Zum Zweiten ist da das Gefühl, dass man doch nichts schafft. Für dieses Phänomen ist der Zeigarnik-Effekt verantwortlich. Die Dame fand heraus, dass wir uns eher an unerledigte als an erledigte Handlungen erinnern, weil diese besser in unserem Gedächtnis haften bleiben. Unsere stets vollen Blätter bzw. Erfassungssysteme tun hier noch ihr Übriges. Sobald eine Aufgabe erledigt ist, verschwindet diese von der Liste, und so füttern wir unser Gedächtnis zusätzlich nur mit den unerledigten Aufgaben, wenn wir uns diese zu Gemüte führen. Eigentlich schon deshalb ein guter Grund, keine Liste zu führen oder zumindest eine Liste mit ausschließlich erledigten Aufgaben zur Hand zu haben, um sich Mut zu machen. Der dritte und letzte Punkt ist die Kompatibilität des eigenen Zeitmanagements mit dem Zeitmanagement der Kollegen und insbesondere der Führungskraft. Hier treffen oft Welten aufeinander, und schlechte Kommunikation sowie mangelnde Offenheit verhindern einen konstruktiven Austausch in Bezug auf die Prioritäten und die Organisation von Aufgaben. Zeitmanagement gehört deshalb nicht in den Seminarraum, sondern in den Arbeitsalltag, wo die Mitarbeiter auch hierarchieübergreifend lernen, ein gemeinsames Zeitmanagement zu entwickeln. Es ist von Nachteil, wenn die Gruppenkonstellation bei Zeitmanagement-Seminaren eine homogene ist und Mitarbeiter auf der gleichen Ebene ihr gleiches Leid klagen. Dabei wäre es gerade beim Zeitmanagement sinnvoller, die Personen in einen Raum zu bekommen, die auch im Arbeitsalltag ständig im Austausch stehen. Im Seminar können so die Instrumente und die Methoden zunächst gemeinsam ohne philosophische Ausschweifungen vermittelt und noch am gleichen Tag bei der Arbeit vom Trainer begleitet werden. Einsatz und Umgang mit den neuen Instrumenten werden so direkt im Arbeitsalltag geübt und bisherige ungewünschte Kommunikationsmuster und Gewohnheiten überschrieben. Darüber hinaus wird das Bewusstsein bei allen Beteiligten gleichzeitig gesteigert, dass das Gegenüber aktuell mit einem neuen Zeitmanagement hantiert und so der Perspektivenwechsel für beide Personen leichter fällt. Plötzlich
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spricht man über die Dinge, die für das Zeitmanagement im Moment der Arbeitsabsprache von Wichtigkeit sind, weil sich beide Mitarbeiter zum gleichen Zeitpunkt damit beschäftigen. Es kann sogar sein, dass sich dabei ein Team auf ein einheitliches Instrument verständigt, damit die Übersetzung leichter fällt. In Abständen wiederum, die mit der Zeit länger werden sollten, reflektiert das Team die neuen Wege und Regeln in der Zusammenarbeit, bis die neue Form der Absprache gefestigt ist.
Pac-Man is back Wenn nicht wir, dann sind es eben die Zeitfresser, die unser Zeitmanagement zunichtemachen! Wie kleine Pac-Man-Figuren (kleine gelbe, runde Computer- bzw. Videospielfiguren, die den Mund ständig öffnen und wieder schließen und in einem Labyrinth Punkte sammeln) lauern sie auf den Gängen, in den Besprechungsräumen und in unseren digitalen Netzwerken, wo sie uns wertvolle Minuten unserer Arbeitszeit kosten. Vermeiden Sie also Zeitfresser! Zeitfresser? Ich liebe Zeitfresser. Ein kurzes Gespräch mit dem Chef oder einem Kollegen, ein Telefonat mit Kunden oder das Checken von E-Mails. Zeitfresser sind eine willkommene Abwechslung zu längeren Konzentrationsphasen. Da kann man endlich wieder Luft schnappen, und die Gedanken können sich wieder sortieren. Zeitfresser sind Stresslöser, wie kleine nützliche Käfer. Deshalb sollten sie nicht stigmatisiert werden. Über eine längere Zeit nimmt der Wirkungsgrad unserer Denkleistung und Kreativität ohnehin ab, und unser Gehirn lechzt nach neuen Stimuli. Zeitfresser sind natürliche Katalysatoren in unserem Arbeitsalltag und haben eine psychohygienische Wirkung. Selbstverständlich sollte man sich mit Zeitfressern nicht zu lange aufhalten, weil sonst die Gedächtnisspuren zu sehr verblassen und die Wiederaufnahmegeschwindigkeit einer bereits begonnenen Tätigkeit erschwert wird. Auch sollte man in einigen Situationen Zeitfressern Einhalt gebieten und die Hand gleich heben. Zum Beispiel wenn man in einer produktiven Phase steckt oder nur noch wenige Handgriffe benötigt, um ein Zwischenergebnis zu erreichen bzw. die Aufgabe vollständig abzuschließen. Das ist das Problem, mit Zeitfressern – und nicht deren Existenz.
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Bergauf, bergab Gutes Zeitmanagement bedient sich heutzutage der Biopsychologie. Von besonderem Interesse ist unsere Leistungskurve, was zur Folge hat, dass in den Seminaren wie wild Tageskurven gezeichnet werden. Damit lässt sich gut feststellen, wer zu den Lerchen (Frühaufsteher) und wer zu den Eulen (Schlafmützen) gehört. Im Abgleich mit einem „typischen“ Arbeitstag und Störmuster kann so austariert werden, wann man im Abgleich mit dem eignen Biorhythmus Besprechungen halten, E-Mails checken und Konzepte bearbeiten sollte. Das ist aber noch nicht alles. Zeitmanagement-Trainer fungieren bereits als Ernährungsberater, was bisher nur Stressmanagement-Trainern vorbehalten war. Die Art der Ernährung und der Zeitpunkt, zu dem man bestimmtes Essen zu sich bzw. nicht zu sich nehmen sollte, werden geradezu in medizinischer Expertenrolle wiedergegeben. Denn unsere Ernährung beeinflusst zusätzlich unsere Leistungskurve. Will man aber die Ernährungsratschläge von Medizinern, Ernährungsberatern und Trainern erfüllen, macht Essen keinen Spaß mehr, und das schlägt ganz schön auf die Stimmung, die wiederum die Kollegen am Arbeitsplatz abbekommen. Deshalb gehen solche Appelle bei den Teilnehmern auch oft in das eine Ohr hinein und zum anderen Ohr gleich wieder hinaus. Da lässt es sich besser mit folgender Faustregel leben: Ich esse was mir schmeckt, trinke einen Espresso nach dem Mittagessen und bleibe nicht 9 Stunden auf meinem Platz hocken, indem ich nur per E-Mail kommuniziere und mir die ausgedruckten Unterlagen nicht selbst hole, sondern mitbringen lasse. Zeitmanagement sollte nicht auch noch durch medizinische Ratschläge zum persönlichen Biorhythmus und zur richtigen Ernährung verwässert werden, sondern sich ausschließlich auf die Arbeitsorganisation und Qualität von Arbeitsabsprachen konzentrieren. Themen wie Ernährung und Stressbewältigung gehören in das betriebliche Gesundheitswesen von Unternehmen, da dort die Möglichkeiten und Ansatzpunkte vielfältiger sind und sich auch bewusster und nachhaltiger implementieren lassen. Der Schuster sollte eben bei seinen Leisten bleiben.
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Zeit für Spiritualität Der Hype um die fernöstlichen Ansätze der Lebensgestaltung hat auch vor dem Zeitmanagement nicht Halt gemacht. Im Sinne einer ganzheitlicheren und tieferen Sinnhaftigkeit im Leben kommt dem Zeitmanagement in der westlichen Welt eine weitaus größere Bedeutung für die Lebensgestaltung zu, als etwa darauf achten zu müssen, dass Aufgaben in eine bestimmte Rangordnung gebracht werden oder der Schreibtisch aufgeräumt ist. Auch das Zeitmanagement bedarf einer Lebensphilosophie. Berufs- und Privatleben verschmelzen ja ohnehin immer mehr miteinander. Also braucht das Zeitmanagement Visionen, einen Wertekodex und Ziele, damit alles erst Sinn macht und die Umsetzung der konkreten Methoden und Instrumente tagtäglich wie Yoga praktiziert werden kann. Um jedoch ein Stück westliche Individualität zu berücksichtigen, braucht es natürlich abendländische Persönlichkeitstypologien, auf die noch eingegangen werden muss. Sonst ist doch alles zu fremd, und man will ja auch die zum jeweiligen Persönlichkeitstyp passenden ZeitmanagementMethoden an die Hand bekommen. Komisch nur, dass man mit der neuen Lebenseinstellung und sensibilisierten Wahrnehmung nicht selbst draufkommen kann. Aber kein Grund zur Panik, zum Glück gibt es Leitfäden, an denen man sich orientieren kann. Schritt für Schritt wird beschrieben, wie man den Weg zur zeitlichen Erleuchtung erhält. Nur ist das eben ein Leidensweg. Zeitmanagement ist kein Glaubensweg, sondern eine Methodenkompetenz, die man erlernen kann. Sehr wohl gibt es aber verschiedene Wege, wie man sein Zeitmanagement für sich am besten gestaltet.
Zeit für Therapie Für diejenigen, die mit der reinen Methodenlehre oder einer neuen Geisteshaltung nicht erfolgreich waren, gibt es noch den letzten Ausweg in die Therapie. Ist auch ganz praktisch, da hier die Chance besteht herauszufinden, dass hinderliche Verhaltensweisen auf frühkindliche Prägungen zurückzuführen sind. Denn viel von dem, was wir tun, so lehrt uns der Therapeut, wird unbewusst gesteuert – das erleichtert die Ursachenzu-
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schreibung und unser schlechtes Gewissen ungemein. Zeitmanagement wird so auf eine Stufe mit persönlichen Schwächen, wie zum Beispiel Rauchen, gestellt. Dem subjektiv kurzfristigen Nutzen zu widerstehen, auch wenn einem die langfristig negativen Konsequenzen bewusst sind, ist für die meisten schon eine große Hürde. Was mich bei diesem Ansatz wirklich ins Staunen versetzt, ist die Tatsache, dass Zeitmanagement ein physisches, ein psychisches und ein Suchtpotenzial haben soll. Blickt man mit professioneller Hilfe in sein Unterbewusstsein, ist man plötzlich ein angst- und schuldgetriebenes Kind, was sich im perfektionistischen Handeln und der Unfähigkeit Nein zu sagen ausdrückt. Gleichzeitig ist man aber auch ein aufmüpfiger kleiner Zwerg, weil man seinen Schreibtisch trotz Clear-Desk-Vorgaben unaufgeräumt lässt. Motive wie falscher Stolz, Bedürfnis nach Liebe und Aufmerksamkeit oder Zugehörigkeit stecken also hinter einem ineffektiven Zeitmanagement – und dies gilt es in der Gruppe aufzulösen. Na dann viel Spaß bei der Gruppentherapie! Zeitmanagement findet im Hier und Jetzt statt und ist weder ein Trauma noch eine Beziehungsproblematik. Der Blick in die Vergangenheit ist hilfreich, aber der Blick sollte nicht gleich in die eigene Kindheit zurückgehen. Ein unaufgeräumt wirkender Schreibtisch kann auch zum Denkprozess eines Mitarbeiters gehören, weil dieser erst den Gesamtüberblick benötigt, um daraus die Lösung für eine spezifische Aufgabenstellung abzuleiten. Auch im Chaos gibt es eine Ordnung. Das Ergebnis sollte abgewartet werden. Sicherlich gibt es aber auch Kontexte, wo ein unaufgeräumter Schreibtisch alles andere als einen positiven Eindruck hinterlässt. So zum Beispiel im direkten Kundenkontakt. Beurteilungstendenzen wie der erste Eindruck oder der Halo-Effekt (von einem hervorstechenden Merkmal wird auf andere (Persönlichkeits-)Merkmale geschlossen, z. B. Brillenträger sind klug) wirken sich hier nachteilig auf die Kundenbindung aus, selbst wenn der Schreibtisch des Kunden ähnlich unaufgeräumt wie der des Kundenberaters ist. Die Erwartungshaltung ist hier doch eine andere.
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Die „Methoden“-Falle In den folgenden Abschnitten wird eine Auswahl der gängigsten Zeitmanagement-Methoden vorgestellt. Dabei geht es vorwiegend um die Hürden, mit denen man sich im Arbeitsalltag konfrontiert sieht, und darum, welche der Hürden die Umsetzung der ansonsten recht effizienten und einleuchtenden Methoden so schwierig machen.
Zeitmanagement für Alphabeten Mit der ABC-Analyse kann eine Klassifizierung vorgenommen werden, um Aufgaben in eine Rangordnung zu bringen. Dazu benötigt man geeignete Wertepaare, auf denen sich die Aufgaben abbilden lassen (Mengenanteil, z. B. Häufigkeit, und Wertanteil, z. B. Nutzen). Die Aufgaben werden nach jeweiligem Prozentanteil am Gesamtwert sortiert, kumuliert und anschließend einer „Klasse“ (A, B oder C) zugeordnet. Beim Zeitmanagement orientiert man sich dabei gerne an der 80:20-Regelung (Pareto-Prinzip), was jedoch nicht unbedingt sinnvoll ist (siehe weiter unten). Ob dieses Vorgehen in Zeitmanagement-Seminaren mit realen Aufgaben und Werten von den Teilnehmern auch so konsequent durchgeführt wird, bezweifle ich stark. Ein Grund dafür könnte sein, dass das Finden von geeigneten Wertepaaren für eine Aufgabe, geschweige für alle Aufgaben, nicht so einfach ist. Probieren Sie es doch selbst mal aus, für einen Aufgabentyp ein Wertepaar zu definieren und nach der Berechnung eine Eingruppierung nach Pareto vorzunehmen. Kommen wir aber zu den offensichtlicheren Problemen, die sich bei Anwendung der ABC-Methode ergeben. Da wäre zunächst die Konsistenz der Daten. So kann es sein, dass ein bestimmter Aufgabentyp von ein und derselben Führungskraft zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedlich bewertet wird oder vom Vorgesetzten der Führungskraft eine ganz andere Einstufung vorgenommen wird als von der Führungskraft selbst. Die Inkonsistenz ist damit perfekt, und das Kriterium für die Klassifizierung einer Aufgabe lautet nicht mehr Wertanteil, sondern Adressat und im ungünstigen Fall die Multiplikation von beiden Kriterien Wertanteil * Adressat. Hier zeigt sich wieder einmal das Phänomen „Ober schlägt Unter“. Ein weiterer Nachteil der ABC-Analyse ist die
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Abbildung der Ist-Situation, nicht der Strategie, wie und in welcher Reihenfolge man diese Aufgaben im Alltag bearbeiten muss. Effiziente Handlungsanleitungen müssen deshalb vorhanden sein – und damit haben die meisten Schwierigkeiten. Den Arbeitsalltag zu planen, das will eben gelernt sein, erst recht, wenn der Arbeitsalltag von einer Dynamik geprägt ist. Dann nämlich ist der Abgleich des Ist-Zustandes am Tag mehrmals erforderlich, insbesondere bei Führungskräften. Die ABC-Analyse dient nicht dazu das „Wesentliche“ vom „Unwesentlichen“ zu trennen, sondern die Voraussetzung für eine effiziente Arbeitsplanung zu schaffen. Unwesentliche Dinge sollen erst gar nicht auf die Liste kommen. Man würde ja damit zugeben, dass man sich in der Arbeit mit unwesentlichen Dingen beschäftigt. Schon eher hört man da die Aussage: „Bei uns ist alles wichtig!“ Mit der ABC-Analyse lässt sich eine Gewichtung von Aufgaben vornehmen, um eine Wertigkeit zu erhalten. Damit schafft man mit der ABC-Analyse zwar eine gute Ausgangsposition, aber noch keine Garantie für ein effizientes Zeitmanagement.
Zeitmanagement für Staatsmänner Auch beim Eisenhower-Prinzip erfolgt eine Klassifizierung, und zwar in ein Vier-Felder-Schema, welches sich aus den Dimensionen „Wichtigkeit“ und „Dringlichkeit“ ergibt. In Kombination mit der ABC-Analyse sind A-Aufgaben wichtig und dringend, B-Aufgaben wichtig, aber nicht dringend. C-Aufgaben sind dafür dringend, aber nicht so wichtig. Für den letzten Quadranten ist der Müllkorb vorgesehen, da diese Aufgaben weder wichtig noch dringend sind. Auch wenn heutzutage im Zeitmanagement die Meinung vorherrscht, dass wir uns zu wenig mit den wichtigen Dingen beschäftigen (die selten dringlich sind) und zu schnell die dringlichen Aufgaben erledigen (die oft weniger wichtig sind), so lässt sich mit dem Eisenhower-Prinzip schon viel besser die Dynamik von sich verändernden Sachverhalten in unserem Alltag abbilden. Ob aber die Dynamik von den Anwendern auch immer genutzt wird, ist der springende Punkt. Denn hier steht der Anwender den gleichen Herausforderungen gegenüber wie einst Herr Ei-
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senhower. Situationen können sich aufgrund neuer Ereignisse schnell ändern – und darauf muss reagiert werden. Wenn die Qualitätssicherung mit einem fehlerhaften Produkt aufkreuzt oder der Kunde einen kurzfristigen Änderungswunsch hat, dann ändert sich das Prioritätengefüge binnen Sekunden, und darauf muss eine Führungskraft bzw. ein Mitarbeiter reagieren können. Zeitmanagement-Methoden dürfen nicht statisch angewendet werden. Die Berücksichtigung der Dynamik im Arbeitsalltag aufgrund zeitlicher Veränderungen ist ein wesentlicher Schritt zu einem effizienteren Zeitmanagement. Selbst im Verlauf einer geregelten Arbeitswoche können sowohl B- als auch C-Aufgaben zu A-Aufgaben werden, weil ein geregelter Arbeitsfluss dies erfordert. Wenn man B-Aufgaben terminiert, dann kommt irgendwann mal der Zeitpunkt, wo B-Aufgaben „sofort erledigt“ werden müssen. Ebenso C-Aufgaben, die oft als Tagesgeschäft beschrieben werden, also immer „sofort erledigt“ werden müssen. Aufgaben bleiben somit nicht in dem Quadranten, dem sie ursprünglich zugeordnet wurden. Gemacht werden muss alles, auch angeblicher Kleinkram!
Zeitmanagement für Wahrscheinlichkeitstheoretiker Das Pareto-Prinzip beschreibt eine stetige Wahrscheinlichkeitsverteilung, bei der 20 Prozent der Eingangsgrößen 80 Prozent der Gesamtmenge erfassen oder anders formuliert 80 Prozent eines Geschehens auf 20 Prozent der Beteiligten entfallen. Das Pareto-Prinzip beschreibt damit einen statistischen Sachverhalt, der in der Praxis oft beobachtet werden kann. Beispiele dafür gibt es reichlich: 20 Prozent aller Biertrinker trinken 80 Prozent des gesamten Biervolumens und 20 Prozent der Teppichfläche weisen 80 Prozent des Verschleißes auf. Ob diese Verteilung auch auf das Oktoberfest zutrifft oder sich der prozentuale Teppichverschleiß verändert, wenn Kleinkinder eine Wohnung betreten, würde mich mal interessieren. Die idealtypischen Verteilungen werden jedenfalls gerne in Zeitmanagement-Seminaren als Rechenbeispiel angeführt und entsprechend umformuliert: Viele Aufgaben lassen sich mit einem Einsatz von ca. 20 Prozent so weit erledigen, dass 80 Prozent der Anforderungen dadurch erzielt bzw. Probleme gelöst werden.
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Damit wird jedoch das Pareto-Prinzip kritiklos für eine Vielzahl von Situationen im Arbeitsalltag eingesetzt, ohne dass die Anwendbarkeit im Einzelfall Sinn macht. Wenn Sie einem Kunden eine PowerPoint präsentieren, die Sie bereits nach 20 Prozent Aufwand abgeschlossen haben, um Ihre restliche Zeit für andere wichtige Dinge zu nutzen, wird der Kunde nicht gerade begeistert sein. Der Aufbau und das Grundkonzept werden ihm sicherlich verständlich sein, jedoch wird die Präsentation Rechtschreibfehler, uneinheitliche Formate und lieblose Grafiken aufweisen. Keine guten Voraussetzungen dafür, einen Zuschlag gegenüber einem anderen Wettbewerber zu erhalten. Der Eindruck von Qualität und Kundenwertschätzung wird so nicht vermittelt. Die Pareto-Regel greift nur, wenn die Elemente eines Systems unabhängig voneinander sind. Bei der Abhängigkeit von Elementen, wie es in soziotechnischen Systemen (z. B. Unternehmen) der Fall ist, stellt sich die Situation oft anders dar. Die Anzahl der relevanten Elemente ist dann immer noch gering, jedoch zum Großteil vom Element „Mensch“ abhängig, und so ein Kunde, Chef oder Kollege kann das eigene Zeitmanagement ganz schön bestimmen bzw. durcheinander bringen. Da muss man schon mehr Zeit und Einsatz investieren, damit das Gegenüber auch zufrieden ist. Dann ist eine PowerPoint erst dann fertig, wenn sie den Anforderungen des Auftraggebers entspricht und nicht etwa dem Pareto-Prinzip. Das soll aber niemandem den Freifahrschein dafür ausstellen, die Zeit mit unsinnigen Experimenten zu vergeuden. Schließlich gibt es auch eine Corporate Identity (CI) und Masterfolien.
Zeitmanagement für Gipfelstürmer Die ALPEN-Methode ist eine logische Abfolge von Schritten für ein strukturiertes Zeitmanagement. Liegt einem die Methode, so lässt sie sich problemlos in den Arbeitsalltag integrieren. Jedoch gibt es bei jedem Schritt einen neuralgischen Punkt, der in der Umsetzung eine Hürde darstellen kann. Das Notieren von Aufgaben kann zur Tortur werden, wenn wir alles doppelt und dreifach aufschreiben müssen. Vom Notizblock auf die Todo-Liste, von der To-do-Liste ins Outlook, im Outlook von der Aufga-
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benliste in den Kalender usw. Da kann man schon die Nerven verlieren und alles hinwerfen. Wenn das Notierungsprozedere zu viel Zeit in Anspruch nimmt, dann ist Zeitmanagement nicht mehr effektiv. Mehr als zwei Medien sollte man nicht verwenden, um Aufgaben zu sammeln und zu integrieren. Beim Schätzen des Zeitbedarfs für eine Aufgabe ist es wichtig, dass wir uns nicht selbst belügen. Wir rennen in der Regel nicht mit einer Stoppuhr herum und können so nicht mit absoluter Gewissheit sagen, wie lange wir wirklich für eine Aufgabe gebraucht haben. Wir verlassen uns da gerne auf die Schätzung, die wir von unserem Gedächtnis leicht abrufen können. Ist aber die verfügbare Gedächtnisinformation nicht genau genug – und davon kann man ausgehen –, machen wir hier bereits den ersten Fehler. Haben wir mit einer Aufgabe wenig oder sogar gar keine Erfahrung gemacht, wird die Schätzung noch ungenauer. Deshalb ist das Einplanen von Pufferzeiten eine logische Folge. Aber nicht allein wegen der ungenauen Schätzungen, sondern auch, weil einige Aufgaben nicht vorhersehbar sind. In der Kommunikation mit der Führungskraft kommt das aber nicht gut, weil das entweder missbilligt wird oder im Umkehrschluss von der Führungskraft als Argument verwendet wird: „Sie haben doch dafür Ihre Pufferzeiten eingeplant, nicht wahr?“ Der Tag hat mindestens neun Arbeitsstunden – und die werden voll gemacht, so oder so. Warum dann überhaupt Pufferzeiten einplanen? Ist man bis hierher gekommen, müssen nun Entscheidungen getroffen werden. Das ist aber einfacher gesagt als getan. Entscheidungsfindung gehört mit zur anspruchvollsten Aufgabe für unser Gehirn. Es gibt seitenlange Abhandlungen zu Entscheidungsanomalien und Modellen, die erklären, warum wir uns alles andere als rational entscheiden. Der offensichtlichste Grund ist, dass unser emotionaler Prozessor immer noch schneller arbeitet als unser rationaler Prozessor, und das wird sich auch nicht ändern. Deshalb werden wir uns auch hin und wieder von Faktoren wie persönlichen Interessen oder der Beziehung zum Kollegen beirren lassen und unser Zeitmanagement daran ausrichten. Selbst die Länge einer Aufgabe kann einen Einfluss auf die Entscheidung haben, mit welcher Aufgabe wir im Arbeitsalltag fortfahren, da unser emotionaler Prozessor den Daumen entweder nach oben oder nach unten richtet. Wem es
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nicht gelingt, das Rennen zwischen beiden Prozessoren in Balance zu halten, der wird bei diesem Punkt oft der Zeit hinterherlaufen. Der letzte Schritt bei der ALPEN-Methode ist die Nachkontrolle der Zeitplanung. Das Problem aber, was sich hier einschleichen kann, ist, dass man sich an einige Dinge nicht mehr korrekt erinnern kann und damit auch wichtige Faktoren unberücksichtigt bleiben. Wenn also alles gut oder alles schlecht gelaufen ist, warum sich die Zeit zur Kontrolle erst am Ende des Tages oder der Woche nehmen? Die Erkenntnis, dass an einem bestimmten Punkt der Arbeit etwas besser oder schneller hätte gemacht werden können, findet doch direkt in dem Moment statt, wo das Zwischen- oder Endergebnis vorliegt. Die direkte Verknüpfung des Ergebnisses mit der daraus resultierenden emotionalen Bewertung erleichtert eine spätere Erinnerung, die wiederum Voraussetzung für weitere Entscheidungen und Planungen ist. Nachkontrolle ist essenziell, aber es ist ein fortlaufender, kein zyklischer Prozess zu bestimmten Tages- oder Monatszeiten.
Das Safety Car Mein konkreter Vorschlag zum Umgang mit der Zeit ist weder eine neue Methode noch ein neues Instrument, in der Hoffnung, dass diese oder dieses die Zeit „in den Griff“ bekommt. In meinen Überlegungen zum Thema Zeitmanagement sehe ich zwei konkrete Ansatzpunkte von größerem Nutzen:
1. Das selbstgesteuerte Lernen steigern Viele Teilnehmer schaffen es nicht, die in den ZeitmanagementSeminaren vermittelten Methoden im Alltag anzuwenden. Warum das so ist? Die Lernformen in den Seminaren sind noch zu passiv, und in der Konsumentenhaltung hört sich alles ganz einfach an. Die Ratschläge und Tipps werden instruktionspsychologisch vermittelt und systematisch bearbeitet, ohne dass sich die Teilnehmer selbst aktiv als Problemlöser erleben können. Der Transfer in den Arbeitsalltag fällt dadurch schwerer,
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auch wenn man alles zum Nachlesen mitbekommt. Konstruktivistische Lernmethoden hingegen kommen im Zeitmanagement noch zu kurz. Das selbstständige Erarbeiten von Lösungsstrategien für die bereits vorhandenen Roadmaps und Prinzipien bleibt aus, stattdessen widmet man sich lieber den ganzheitlichen Prinzipien der Zeitgestaltung. Dafür wäre der Erwerb allgemeiner Lern- und Denkprinzipien nicht nur für das Zeitmanagement, sondern auch für die gesamte persönliche Weiterbildung von Nutzen. Ein Selbstgesteuertes Lernen hilft Methoden und Instrumente schneller zu begreifen und im Arbeitsalltag nachhaltiger anzuwenden. Eine gute Methode des Selbstgesteuerten Lernens ist das Lernen anhand heuristischer Regeln (vgl. Greif & Kurtz, 1999). Heuristische Regeln sind kognitive Strategien in Form von Daumenregeln, welche uns auf Lösungswege und Strategien in Situationen hinweisen, die für uns schwer zu überschauen sind, oder wo schnell entschieden werden muss, was als Nächstes zu tun ist. Also typische Situationen im Zeitmanagement: Das Telefon klingelt und ein Kollege aus einer anderen Abteilung bittet um eine Auswertung, oder Ihr Vorgesetzter kommt mit einer dringenden Angelegenheit zu Ihnen. Daumenregel von Kollege 1: „Habe ich für die Aufgabe ausreichend Puffer? Wenn nicht, welche Konsequenzen hat dies für meine aktuelle Aufgabe und den restlichen Tag?“ Daumenregel von Kollege 2: „Sofort anfangen!“. Kollege 2 schwimmt für den restlichen Tag, Kollege 1 stimmt sich mit seinem Vorgesetzten kurz über Prioritäten ab und entscheidet daraufhin, was er als Nächstes tut. Mit der weiteren Daumenregel „Wenn sich etwas in der Tagesplanung ändert, informiere die Personen, die davon betroffen sind“, findet der Abgleich nicht nur mit dem Vorgesetzten statt, sondern auch mit den Kollegen oder anderen Bereichen. Glauben Sie aber nicht, dass man mit Heuristiken grundsätzlich Überstunden vermeiden kann! Mit Hilfe der Heuristiken wird ein selbstgesteuerter Prozess in Gang gesetzt, der den Anwender in die Lage versetzt eine neue Ausgangssituation zu analysieren, die Handlungsalternativen zu finden und deren Konsequenzen abzuschätzen. Heuristiken sind aber keine determinierten Prozesse, sondern stellen einen Kompromiss zwischen dem Wunsch nach der exakten Bestimmung aller relevanten Faktoren und einem akzeptablen Ergebnis her. Eben Daumenregeln und keine Algorithmen. Die Me-
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thode gewinnt dadurch hohe Akzeptanz bei den Teilnehmern und kann auch auf andere Themen übertragen werden.
2. Den Austausch bei der Arbeitsorganisation verstärken Die Steigerung des Austausches mit Blick auf die Arbeitsorganisation ist die zweite Prämisse für ein nachhaltiges Zeitmanagement. Es geht dabei in erster Linie um einen offeneren Austausch zwischen Führungskräften und Mitarbeitern und Führungskräften und Vorgesetzten im Besonderen. Es fehlt der aktive Austausch über die Planung, die Prioritäten und die Gewissheit auch mal etwas liegen lassen zu können, ohne dass man nachher „eins auf den Deckel“ bekommt. Deshalb ist auch hier ein Umdenken hinsichtlich der Gestaltung der Gruppen in ZeitmanagementSeminaren sowie der Aufteilung auf Schulungsraum und Arbeitsumfeld notwendig. Zeitmanagement muss stärker im Arbeitskontext stattfinden, um den Austausch untereinander zu fördern und einzuüben. Die Transferleistung wird dadurch erhöht und der Perspektivenwechsel gefördert. Die am Vormittag im Schulungsraum aufgestellte Daumenregel „Erst Prioritäten klären, dann weitermachen“ kann schon am Nachmittag während der Umsetzungsphase bewusst und mit Unterstützung des Trainers angewendet werden, bevor sie nach und nach zur Routine wird. Simulationen im Schulungsraum erübrigen sich damit, weil die neuen Verhaltensweisen vor Ort an den Arbeitsplätzen eingeübt werden. Auch für den Austausch zwischen Führungsebenen ist dieses Vorgehen von Vorteil, weil das Aufgabenfeld hier ein inhaltliches Gefälle besitzt. Mit jeder höheren Führungsebene entfernt man sich vom operativen Geschäft, dafür gewinnt das strategische Geschäft an Bedeutung. Teilweise stellt sich die Situation in Unternehmen so dar, dass wenn ein Vorgesetzter das Kerngeschäft nicht mehr ausreichend kennt, ein Austausch über Prioritäten logischerweise erst gar nicht stattfindet. Der Teamleiter traut sich dann nicht nachzufragen, und der Abteilungsleiter kennt sich nicht gut genug aus und gibt den Druck von oben eins zu eins weiter. Schimpfen tun am Ende alle, am meisten der Mitarbeiter. Dabei ist gerade in hektischen Phasen und während Veränderungsprozessen ein ständiger Austausch zwischen den Mitarbeitern und den Führungskräften abso-
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lut notwendig, um die anstehenden Aufgaben in der richtigen Reihenfolge und Intensität zu bearbeiten. Je selbstverständlicher und offener der Austausch dann über den aktuellen Arbeitsstand und die zwischenzeitlich neuen Anforderungen stattfindet, umso eher gelingt es, ein über das gesamte Team funktionierendes Zeitmanagement sicherzustellen.
Fazit Das heutige Zeitmanagement befindet sich am Scheideweg. Entweder entwickelt es sich gemeinsam mit dem „Stressmanagement“ und der „Work-Life-Balance“ zu einer neuen Mischmasch-Veranstaltung, oder es erhält sich ein Alleinstellungsmerkmal durch einen Paradigmenwechsel in der Methodik und in der Gruppenzusammenstellung in den Unternehmen. Bei der Methodik sind es vor allem konstruktivistische Ansätze mit eigenverantwortlichen Lernprinzipien, wie etwa dem Selbstgesteuerten Lernen anhand Heuristiken. Bei der Gruppengestaltung hingegen sollte auf eine team- und schnittstellenorientierte Zusammensetzung geachtet werden, um auch das Schulungsumfeld stärker in den normalen Arbeitsablauf zu integrieren. Zeit sollte nicht relativ im Seminarraum, sondern am Arbeitsplatz behandelt werden. Auch eine Anforderung an Führungskräfte und Trainer, sich im Arbeitsumfeld der Teilnehmer sicher bewegen zu können. Bei der kritischen Auseinandersetzung mit den vorhandenen Methoden im Zeitmanagement sollte immer berücksichtigt werden, aus welcher Zeit und in welchem Kontext die Theorie entstanden ist. Damit wird nicht jede Theorie gleich in Frage gestellt, aber gute Methoden unterscheiden sich von schlechten Methoden dahingehend, dass die guten auf mehrere Kontexte gut übertragbar sind und auch den Anforderungen des dynamischen Prinzips beim Zeitmanagement Rechnung tragen. Es ist schlichtweg unrealistisch zu glauben, dass ein Zeitmanagement mittels einfacher Ratgeber, Rezepte und Zeitspartipps jene unangenehmen Probleme lösen kann, die für Hektik, Stress und Zeitdruck im Arbeitsalltag verantwortlich sind. Ein guter Zeitmanagement-Leitfaden kompensiert keine mittelmäßige Daumenregel im Arbeitsalltag. Die Zeit drückt immer, wenn man die falschen Schuhe trägt.
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Der Autor
Der Autor
Sebastian Lesch, Jahrgang 1977, ist Experte im Personalbereich einer großen deutschen Krankenkasse. Davor war er in verantwortlicher Position bei einer Unternehmensberatung in der Nähe von München und Trainer bei einer Unternehmensberatung in Stuttgart. Sein Studium der DiplomPsychologie absolvierte er an der Kathol. Universität Eichstätt-Ingolstadt mit den Schwerpunkten Arbeits- & Organisationspsychologie sowie Klinische Psychologie.
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