Dieser Band ist auf 100% Recyclingpapier gedruckt. Bei der Herstellung des Papiers wird keine Chlorbleiche verwendet.
...
137 downloads
1790 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Dieser Band ist auf 100% Recyclingpapier gedruckt. Bei der Herstellung des Papiers wird keine Chlorbleiche verwendet.
K-Lesung by
Sektionsrat
Johanna Reiss wuchs in Holland auf. Heute lebt sie in New York, wo sie als Redakteurin an einer Zeitschrift mitarbeitet. Ursprünglich hatte Johanna Reiss die Geschichte ihrer Kindheit für ihre beiden Töchter aufgeschrieben. Ein amerikanischer Verleger fand sie so wichtig, daß er sie als Buch veröffentlichte. In ihrem zweiten Band ›Wie wird es morgen sein ?‹ schildert sie die Ereignisse in ihrer Familie in der Zeit unmittelbar nach dem Krieg.
Johanna Reiss
Und im Fenster der Himmel
Jugendroman
Deutscher Taschenbuch Verlag
Titel der Originalausgabe: »The upstairs Room« Erschienen bei Thomas Y.
Crowell Co., New York 1972 © 1972 Johanna Reiss
Aus dem Englischen von Inge M. Artl
Ungekürzte Ausgabe
Mai 1978
15. Auflage April 1994
Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München
1975 Benziger Edition im Arena Verlag, Würzburg
ISBN 3-545-33057-5 Umschlaggestaltung: Klaus Meyer Umschlagbild: Haidrun Gschwind Gesetzt aus der Aldus 10/11 Papier: ›Recycling Book-Paper‹, Steinbeis Temming Papier GmbH, Glückstadt Gesamtherstellung: Kösel, Kempten Printed in Germany • ISBN 3-423-07807-3
1
Ich war sechs Jahre alt, 1938, und klein genug, um in den Spalt zwischen der Wand und Vaters Sessel zu schlüpfen, der in jenen Tagen immer dicht vor das Radio geschoben wurde. Vater saß vornübergebeugt da, die Beine gespreizt, die Arme auf die Knie gelegt, das Gesicht dicht neben dem Radio. Er lauschte. »Vater, schau mal.« Ich hielt ihm eine Zeichnung hin, die ich gemacht hatte. Er hörte zu, aber nicht mir. »Vater, hör mal. . .« Wo war dieses Österreich, das Hitler im Frühling an Deutschland angeschlossen hatte? Vater schien das nicht nett von Hitler zu finden; er schaute ärgerlich drein. Hitler. Das war das einzige, wovon der Mann im Radio redete. Er mußte ein sehr wichtiger Mann in Deutschland sein. Warum mochte er die deutschen Juden nicht? Er mochte sie wirklich nicht, sonst hätte er sie doch in Ruhe gelassen. Das erzählte der Mann im Radio. Warum durften Juden bloß zu bestimmten Stunden einkaufen gehen? Warum wurden sie verhaftet und in ein Lager gesteckt? War das Lager wie ein Gefängnis? Aber Holland war nicht Deutschland. Das war ein Glück! Wenn hier Deutschland wäre, würde Hitler das mit uns auch machen? Er hatte den Deutschen gesagt, sie dürften die Juden bestehlen und sogar verhaften. Einfach so. Ich verstand das nicht. Im Radio hatten sie gesagt, daß ein junger Jude einen Deutschen erschossen hatte. Das war nicht nett. Aber daß die Leute in Deutschland durch die Straßen liefen und den Juden Angst einjagten, war auch nicht nett. »Vater, warum. .. ?« »Psssst, Annie, ich muß Nachrichten hören.« Das war die einzige Antwort, die ich in jenen Tagen von Vater bekam. Früher hatte er immer freundlich mit mir gesprochen. Wie sollte ich herausfinden, was los war, wenn er meine Fragen nicht beantwortete? Ich stand auf. Mutter würde es mir erklären. Ich ging in ihr Schlafzimmer und fragte sie, aber sie hatte schon wieder Kopfweh. Wieso kriegt man von kranken Nieren Kopfweh ? Nun, Holland war nicht Deutschland. Ich runzelte die Stirn. Aber Deutschland war nicht weit weg. Von Winterswijk bis zur deutschen Grenze waren es kaum zwanzig Minuten. Manche Bauern wohnten so nahe an der Grenze, daß ihre Kühe auf deutschem Boden weideten. Das wußte ich, weil Vater Viehhändler war und mich oft mitnahm, wenn er über Land fuhr, um Kühe zu kaufen. Ich war froh, weil wir mitten in Winterswijk wohnten, und nicht so nahe bei Deutschland, daß man vom Haus aus hinüberschauen konnte.
Wenn ich aus dem Fenster schaute, sah ich das Haus, in dem die Familie Callenbach wohnte. Abends winkten sie mir oft zu und riefen: »Geh wieder ins Bett, oder wir sagen es deiner Mutter.« Das machte nichts, solange sie es nicht meinen Schwestern sagten. Ich habe zwei Schwestern, Sini und Rachel, sechzehn und einundzwanzig. Dann war da noch Marie, unser Hausmädchen, und wir alle lebten in unserem Haus in Winterswijk, weit weg von der deutschen Grenze. Am nächsten Tag fand bei uns ein Familienrat statt. Die Callenbachs kamen auch und Onkel Bram, der Vaters Geschäftspartner war, mit seiner Frau. Onkel Phil kam ohne seine Frau, weil Tante Billa und meine Mutter nicht miteinander sprachen. Das hing mit meiner Großmutter zusammen, die bei Tante Billa und Onkel Phil lebte, aber jeden Tag zu uns herüberkam, um sich bei uns über sie zu beklagen. Das wußte ich; ich hatte es selbst gehört. Wenn ich oben auf der Treppe saß, konnte ich viel verstehen. So wie jetzt. Aufgeregte Stimmen: »Wir müssen den deutschen Juden helfen, die über die Grenze kommen... Sie haben alles zurücklassen müssen ... Ich habe heute mit welchen gesprochen ...« »Aber warum machen sie so etwas?« Das war Mutter. »Weil sie Juden sind, Sophie.« Vaters Stimme klang ungeduldig. »So etwas kann hier nicht passieren... Hier ist Holland, nicht Deutschland ... hier sind wir sicher ...« »Dieser Hitler will Krieg, Sophie... Und wir sind auch Juden...« Schritte. Ich rannte in mein Zimmer und kletterte ins Bett. Ein paar Monate später fuhren Onkel Bram und seine Frau nach
Amerika. Wir gingen zum Bahnhof, um ihnen auf Wiedersehen zu sagen.
Sie hatten wohl vor, lange fortzubleiben, denn sie nahmen eine Menge
Koffer mit. Und Amerika mußte weit weg sein, weil Onkel Bram sagte,
Hitler würde ihn dort nicht erwischen.
»Sophie, wir sollten auch fahren«, sagte Vater.
Aber Mutter sagte, sie habe zu viel Kopfweh, um auf eine Reise zu
gehen, wer weiß wohin. Wir winkten, bis der Zug fast verschwunden war.
Dann ging mein Vater wütend zum Auto, stieg ein, knallte die Tür zu und
fuhr davon. Wir mußten zu Fuß nach Hause gehen.
Im Herbst 1939 machte Rachel ihre Lehrerprüfung. Sie fand sofort eine
Stelle in einer Schule in Winterswijk. Sini arbeitete auf einem Bauernhof.
Abends, wenn meine Eltern zu den Nachbarn Callenbach gingen, wollte
Mutter sich über meine Schwestern unterhalten.
Aber ich merkte oben an meinem Fenster, wenn ich hinübersah, daß
niemand ihr zuhörte. Alle redeten von den Deutschen, die in Polen
einmarschiert waren.
Rachel erklärte mir, daß das sehr schlimm sei. So schlimm, daß England
und Frankreich Deutschland den Krieg erklärt hatten. Geschah ihm recht. In diesem Winter verbrachten die Callenbachs beinahe jeden Abend bei uns vor dem Radio, denn sie hatten selbst keines. Hitler schien auch die polnischen Juden nicht zu mögen. Er mochte sie noch weniger als die deutschen Juden. Er ließ sie einfach totschlagen, und dabei hatten sie doch gar nichts getan. Warum durfte er das tun? Ich war froh, wenn Mutter mir sagte, es sei Zeit zum Schlafengehen. Im Bett konnte ich das Radio nicht hören. »Sophie, wir können nicht mehr hierbleiben«, sagte Vater. »Wir müssen nach Amerika fahren. Das Radio hat gerade gemeldet, daß die Deutschen in Dänemark und Norwegen einmarschiert sind. Sophie, sie kommen immer näher! Hast du mich gehört ? Wir haben keine andere Wahl. Wir sind Juden!« »Ja, und du weißt, daß ich mich gar nicht wohl fühle. Wie kann ich auf Reisen gehen?« Warum mußte Mutter immerzu Kopfweh haben? dachte ich. Vater begann, außerhalb von Winterswijk ein Haus zu bauen, weil Mutter meinte, dort wären wir genauso sicher wie in Amerika. Vater wurde immer wütend, wenn sie das sagte, aber er baute das Haus trotzdem. Und dann kam der 10. Mai 1940. Ich wachte mitten in der Nacht auf. Was für ein Lärm! Ich sprang aus dem Bett. Die Schlafzimmertüren standen auf; wo waren alle? Ich lief ins Wohnzimmer. Sie waren dort. »Was ist los?« fragte ich. »Was sind das für Flugzeuge?« »Ich bin sicher, daß es deutsche Flugzeuge sind«, sagte Rachel. »Haben wir jetzt auch Krieg?« fragte Sini. »Ja, jetzt sind wir an der Reihe«, murmelte Vater. Die Grenze war östlich von Winterswijk. Warum war das neue Haus noch nicht fertig? Dort wären wir in Sicherheit. Mutter sagte das immer. Vater stellte das Radio an. Es läutete an der Haustür, und die Familie Callenbach stürzte herein. »Was sagt das Radio?... Krieg, nicht wahr?... Das habe ich euch gleich gesagt, daß sie auch hierherkommen ... Was, und in Belgien und Luxemburg auch...?« »Ich gehe zu Bett«, sagte Rachel. »Und ich bleibe im Bett, bis der Krieg vorbei ist.« »Wie lange dauert das?« fragte ich. »Höchstens ein paar Tage«, antwortete Rachel. Vater lachte, aber sein Gesicht machte mir Angst. Als es hell wurde und der Lärm aufgehört hatte, gingen wir zum Marktplatz. Unser Haus lag nur ein paar Straßen vom Platz entfernt.
Rachel hielt mich fest bei der Hand. Sie war doch nicht zu Bett gegangen. Wir begegneten anderen Leuten, die genauso verwirrt dreinschauten wie wir und dieselbe Richtung einschlugen. Der Marktplatz, auf dem zweimal in der Woche Blumen verkauft wurden, war voll von deutschen Soldaten und Panzern. Großmutter, Onkel Phil, Tante Billa und meine Kusine Hannie waren auch da. Wir schauten einander an, wortlos. Ein paar Männer verteilten Zigaretten an die Soldaten und klopften ihnen auf die Schultern. »Warum machen sie das?«, fragte ich Rachel. »Sie sind Nazis«, flüsterte sie. »Leute, die genauso wie Hitler denken. Nur werden sie hier die NSBers* genannt.« Ein Soldat fragte etwas. »Der kürzeste Weg nach Enschede?« wiederholte ein NSBer. »Die erste Straße links. Da kommt ihr schnurgerade hin. Beeilt euch. Hier, nimm noch eine Zigarre für unterwegs.« Er klappte die Zigarrenkiste zu. Als er an uns vorbeiging, spuckte er uns vor die Füße. Auf dem Heimweg fragte ich Rachel, warum er das getan hatte. Weil wir Juden sind, antwortete Rachel. Aber er war doch kein Deutscher, und wieso wußte er, daß wir Juden sind? fragte ich. Weil wir anders ausschauen, erklärte Rachel, dunkler. Rachel wußte so viel. Kein Wunder, daß sie Lehrerin war. Sobald wir zu Hause waren, wollte ich nachschauen, wie anders ich aussah. Hitler mußte ungeheuer viele Soldaten haben, denn jetzt waren sie auch in Frankreich. Aber uns passierte in diesem Sommer nichts: es wurde nicht gestohlen, nicht geschlagen, nichts. Vielleicht konnte Hitler die holländischen Juden besser leiden als die anderen. An warmen Abenden saß Vater wieder mit den Callenbachs vor dem Haus. »Hier wird niemand Juden verfolgen«, sagte Vater Callenbach. »Nicht in Holland.« Aber dann überlegte Hitler sich das scheinbar doch anders und mochte die holländischen Juden auch nicht mehr leiden, denn im September durfte Vater seinen Viehhandel nicht mehr betreiben. Er las das auf einem großen Plakat, das an einem Baum auf dem Marktplatz hing. Vater sagte, es sei ihm egal, ob es verboten sei, und er fuhr weiter zu den Bauern. Aber nicht zu allen seinen Kunden; nur zu denen, die nichts gegen Juden hatten und den Deutschen nicht verraten würden, daß er noch immer zu ihnen kam und Kühe kaufte und verkaufte.
* Naational Socialistische Beweging
Er gewöhnte sich an, jeden Tag an dem Baum vorbeizugehen und
nachzuschauen, ob neue Plakate angeschlagen waren.
Anfangs Oktober kam Marie ins Wohnzimmer. »Frau de Leeuw, ich
muß Ihnen etwas sagen«, begann sie ganz nervös.
»Ja?«
»Ich bin sehr unglücklich deswegen, und es tut mir so leid.«
»Was ist denn los?« fragte Mutter mit besorgter Stimme.
»Sie waren immer freundlich zu mir, es tut mir wirklich leid, aber mein Freund sagt...« »Was denn?« »Er hat Angst. Er will, daß ich von Ihnen weggehe.« »Aber warum?« »Er meint, ich kriege Schwierigkeiten, wenn ich weiter bei Ihnen arbeite.« »Schwierigkeiten? Aber wieso, Marie?« »Weil Sie Juden sind. Mir ist das egal und ihm auch; aber er meint, daß bald einige Leute nicht mehr mit mir sprechen, wenn ich bei Ihnen bleibe. Verstehen Sie das?« »Ja«, sagte meine Mutter langsam. Ich verstand das nicht. Warum ging Marie fort? An dem Baum auf dem Marktplatz hing kein Plakat, das so etwas befahl. Sini mußte zu Hause bleiben und Mutter helfen. Sie weinte. Im November erhielt Rachel einen Brief, der in Deutsch geschrieben war, aber sie konnte ihn trotzdem lesen. Als sie fertiggelesen hatte, fing sie an, im Wohnzimmer hin und her zu rennen. »Hör auf, das macht mich schwindelig«, beklagte sich Mutter. »Warum rennst du so hin und her?« »Ich bin fristlos entlassen worden«, antwortete Rachel. »Aber das lasse ich mir nicht gefallen! Der Brief ist von den Deutschen, nicht von der Schule. Die Schule weiß vielleicht nicht einmal davon. Ich gehe sofort zum Rektor.« »Was für eine Situation«, murmelte Mutter, als Rachel aus dem Haus stürmte. Rachel hatte recht gehabt. Der Rektor wußte nichts von dem Brief. Er war beunruhigt, und es tat ihm leid. Aber er fand auch, es wäre besser, wenn Rachel nicht mehr in die Schule käme. So stand es schließlich in dem Brief. Ich hatte meine eigenen Sorgen in der Schule. Willy Bos, meine beste Freundin, saß nicht mehr neben mir. Ihre Mutter war in die Schule gekommen und hatte mit dem Lehrer gesprochen. Als sie gegangen war,
befahl mir der Lehrer, mich in eine andere Bank zu setzen. Ganz allein.
Weil ich zuviel schwatzte. Aber nach der Schule sagte Willy mir, daß sie
nicht mehr neben mir sitzen durfte, weil ich Jüdin war.
»Weine nicht«, sagte Mutter. »Wir haben dich alle gern.«
Das wußte ich. Aber warum hatte Willy mich nicht mehr gern? Vater ärgerte sich über Willy. Er kannte ihren Vater gut. Dr. Bos war Tierarzt, und Vater ließ seit Jahren immer sein Vieh von ihm untersuchen. »Sophie, je länger wir hier bleiben, desto unerträglicher wird das Leben für uns«, sagte Vater. »Mir ist es gleich, was du dagegen einwendest, aber ich schreibe an Bram und bitte ihn, er soll uns helfen wegzukommen. Wenn es nicht schon zu spät ist!« »Wir können doch nicht einfach abreisen und das neue Haus halbfertig stehen lassen«, sagte Mutter. Vater hörte ihr gar nicht zu. Er setzte sich hin und schrieb den Brief. Aber es war schon zu spät. Onkel Bram konnte uns nicht mehr helfen, nach Amerika zu fahren. Und die Polizei in Winterswijk weigerte sich, Vater den Paß zu geben, den wir dafür gebraucht hätten. Im Frühling 1941 trug der Baum immer mehr Plakate mit Bekanntmachungen. Juden durften nicht mehr in Hotels wohnen. Da Mutter fast immer krank war, hätten wir das sowieso nicht getan. Aber das nächste Plakat verkündete, daß Juden nicht mehr an den Strand und in die Parks gehen durften. Das war nicht gerecht. Der Strand und die Parks gehörten allen Leuten! Das Plakat sagte jedoch nichts vom Wald, und rund um Winterswijk gab es viele schöne Wälder. Diese Plakate machten Vater wütend, aber noch längst nicht so wütend wie das Plakat, daß alle Leute sich im Rathaus registrieren lassen müßten. »Alle Leute!« brüllte er. »Nur bekommen wir einen Extra-Stempel in den Ausweis. Ein großes J! Ein J für Jude! Sophie, siehst du, Bram und seine Frau waren gescheit. Wirklich gescheit!« »Ja, aber ich habe dich schließlich nicht zurückgehalten«, sagte Mutter. »Du hättest ja allein fahren können. Sogar mit den Kindern. Ich wäre hier schon zurecht gekommen.« »Natürlich!« Vater lachte. Sein Lachen machte mir von neuem Angst. Manchmal waren die Plakate an den Bäumen für alle Leute. Zum Beispiel,
als das Essen rationiert wurde. Wir hatten damit gerechnet und lagerten
eine Menge getrocknete Bohnen und Konserven im Keller.
»Was darf es sein?« fragte ich Willy Bos.
»Erbsen ? Das tut mit leid, die kriege ich erst morgen wieder. Nehmen Sie doch für heute Bohnen, sie sind sehr gut. Sie mögen doch Bohnen, Frau Bos?« Betrübt stellte ich die Konservendose ins Gestell. Es machte keinen
Spaß, mit einer nicht vorhandenen Freundin zu spielen. Die ganzen Sommerferien machten mir keinen Spaß. Als die Schule begann, war ich in der vierten Klasse. Aber nur für wenige Wochen: Jüdische Kinder durften nicht mehr in die Schule gehen. Ich las das Plakat auf dem Marktplatz und rannte nach Hause. »Das freut mich«, sagte ich. »Ich hoffe, ich muß nie wieder hin.« Aber in Wirklichkeit war es langweilig ohne Schule. Alle anderen Kinder gingen in die Schule. Meine Kusine Hannie ging zwar auch nicht, aber ich besuchte sie nicht gerne. Bei Tante Billa mußte ich mir immerzu die Hände waschen, auch wenn sie nicht schmutzig waren. Arme Großmutter, die bei ihr leben mußte. Kein Wunder, daß sie sich beklagte. Die Ferien waren kurz. In der Nähe der Synagoge wurde eine neue Schule für alle jüdischen Kinder aus Winterswijk und der Umgebung aufgemacht. »Ihr bekommt zwei Lehrer, und du mußt gut aufpassen«, sagte Vater. Ich nickte. Natürlich paßte ich gut auf. Vielleicht saß dort wieder jemand neben mir, so wie früher, ehe ich ein jüdisches Kind wurde. Sini brachte mich ein paarmal in die neue Schule. Dann wollte ich lieber allein gehen. Ich fragte mich, was bloß mit meinem Lehrer los war. Er lobte mich immerzu. Ich wollte, er würde das seinlassen, denn die anderen Kinder streckten mir die Zunge heraus. Jeden Nachmittag nach dem Unterricht mußte ich noch eine Minute dableiben. »Hier, nimm Sini diesen Brief mit, und verlier ihn nicht. Aber ich weiß, ich kann mich auf dich verlassen. Du bist ein kluges Mädchen. Und eh ... sag ihr viele Grüße.« Sini wurde immer rot, wenn sie Herrn Herschels Brief las. »Gib ihm diesen Brief morgen früh. Aber mach ihn nicht auf!« Was war mit den beiden los ? Ich nahm mir vor, Rachel zu fragen. Sie wußte es bestimmt. Auf dem Weg zur Schule fielen mir neue Schilder an verschiedenen Geschäften, Restaurants und auch im Kino auf: »Joden verboden« (Zutritt für Juden verboten). Ins Kino ging ich sowieso nie. Mutter ließ mich nicht mal gehen, wenn es Mickymaus gab. »So etwas ist zu aufregend für Kinder«, sagte sie immer. Das mit den Restaurants war schade; denn wir gingen manchmal sonntags dort essen. Früher, ehe die Schilder dahingen. Aber das andere war viel schlimmer. Eines Tages wartete eine Gruppe Kinder aus der alten Schule vor unserer Schule. Wir gingen alle weiter und schwatzten, als ob nichts los sei und wir sie gar nicht gesehen hätten. Bis sie anfingen, uns zu jagen. Wie konnten wir da noch so tun, als ob nichts los sei? Wir rannten davon. Als sie uns einholten, schlugen sie uns und gaben uns Fußtritte. Immer ein paar zusammen gegen einen von uns.
Willy Bos machte auch mit. Jetzt hatte ich sie nicht mehr gern. Ich wünschte, wir wären endlich in unserem neuen Haus. Ich erzählte zu Hause, daß wir verfolgt und verprügelt worden waren. »Keine Angst, von jetzt an hole ich dich jeden Tag ab«, sagte Sini. Und dann war das neue Haus fast fertig. »Ich will nicht noch länger warten«, sagte der Vater. »Wir ziehen um.« »Aber wir können doch nicht in ein Haus ziehen, in dem noch nicht einmal die Wände tapeziert sind«, beklagte Mutter sich. »Doch, das können wir«, sagte Vater. »Und wenn du nicht mitkommen willst, dann gehen wir allein.« Er nahm den Telefonhörer ab und rief jemanden an, der den Umzug machen sollte. Zwei Tage später hielt ein leerer Möbelwagen vor unserem alten Haus. Vater und ein fremder Mann schleppten die Möbel hinaus; der Mann machte es zuerst sehr sorgsam, bis er sah, wie Vater alles in den Wagen warf. Mutter saß auf einem Küchenstuhl und folgte den Männern, die die Möbel schleppten, mit den Blicken. Sie blieb sitzen, bis auch der Küchenstuhl verladen werden mußte. Die Familie Callenbach winkte uns nach, als wir abfuhren. Es war fast Oktober 1941.
2
Das neue Haus stand für sich allein zwischen Feldern und Wiesen. In der Ferne konnte ich den Kirchturm von Winterswijk sehen. Vater brachte mir einen kleinen braunen Hund mit, Bobbie. Als er ihn mir gab, hob er mich hoch und umarmte mich, gerade so, als ob kein Krieg wäre. Nachmittags nach der Schule gingen Bobbie und ich spazieren. Statt Leuten begegneten wir Kühen. Sie fraßen immerzu. Hielten sie die Augen offen, wenn sie fraßen? Ich bückte mich, um das herauszufinden. Die Kuh beachtete mich nicht einmal. Ich stand lange auf der Wiese. Es wurde kühl. Wie spät war es? Vielleicht machten sie sich zu Hause Sorgen? Im alten Haus war das so. Einmal hatten sie sogar bei der Polizei angerufen. Aber die Polizei fand mich nicht; ich kam dann allein nach Hause, um mir mehr Murmeln zu holen. Sie waren so froh, als ich kam. Vielleicht sollte ich jetzt nach Hause gehen, damit sie sich keine Sorgen machten. Ich brauchte gar nicht erst hineinzugehen, um zu hören, worüber sie sich jetzt Sorgen machten. »Sophie... ich hätte nicht auf dich hören sollen... Amerika...« Ich machte wieder kehrt. Jeden Tag ging ich ein wenig weiter vom Haus weg. Ich entdeckte
einen Bauernhof in der Nähe und fragte Vater danach. »Natürlich kenne ich sie«, sagte er. »Das sind die Droppers. Sie haben einen Haufen Kinder.« »Elf«, sagte ich. »Sie sind sehr nett. Ich mag Fritz. Er ist auch in der vierten Klasse, in der alten Schule.« »Das Kind verbringt zuviel Zeit dort, und das gefällt mir nicht«, beklagte sich Mutter. »Nach dem zu urteilen, was Annie mir von ihm erzählt hat, ist dieser Fritz nicht sehr intelligent.« »Das stimmt nicht!«, schrie ich. »Er weiß eine Menge. Er kann auf Bäume klettern, und viele Sachen!« »Schon gut, aber vielleicht solltest du wirklich nicht so oft hingehen«, sagte Vater. Aber wohin sollte ich denn sonst gehen? Ich beschloß, von jetzt an nicht mehr alles zu Hause zu erzählen. Das würde besser sein. Bei den Droppers zankte sich wenigstens niemand. Und niemand hatte immerzu Migräne. Aber Mutter behielt doch recht, daß wir in dem neuen Haus sicherer waren als in Winterswijk. Wir erfuhren erst am nächsten Tag, was sich dort in einer Oktobernacht ereignet hatte. Im Morgengrauen waren deutsche Soldaten auf Lastwagen durch die Straßen gefahren. Sie hatten Listen mit den Namen und Anschriften aller Juden in der Hand. Auf jedem Lastwagen fuhr ein holländischer Polizist aus Winterswijk mit, der den Deutschen den Weg und die Häuser zeigte. Fast alle Leute schliefen noch. Viele Männer waren im Schlafanzug, als sie die Haustür öffneten. Man befahl ihnen, sich anzukleiden und sich dabei zu beeilen; der Lastwagen wartete, und die Deutschen sagten, sie hätten noch mehr zu tun. Die Soldaten schnitten die Telefonleitungen in den Häusern durch, damit niemand gewarnt werden konnte. Sie kamen auch zu unserem alten Haus. Der Polizist sagte ihnen nicht, daß wir umgezogen waren. Als die Soldaten sahen, daß das Haus leer war, liefen sie zur Familie Callenbach. Sie nahmen die Eltern nicht mit; nur den großen Sohn. »Vater, warum haben die Deutschen alle Männer geholt?« fragte ich. Niemand wußte das genau, aber wahrscheinlich wurden sie nach Mauthausen geschickt, erklärte Vater mir. Mauthausen war in Österreich, und es waren schon viele Juden dorthin geschickt worden; deutsche, österreichische und polnische Juden. Man nannte das ein Konzentrationslager, dieses Gefängnis, und die deutschen Soldaten durften die Juden dort schlagen, soviel sie wollten. Warum hatte ich Angst, als ich am nächsten Tag auf dem Schulweg in Winterswijk an drei deutschen Soldaten vorbeigehen mußte? Mich würden
sie nicht schlagen. Ich war ein Kind.
Aber ich machte die Augen fest zu, als ihre Stiefel dicht neben mir waren.
Sie knallten so laut auf dem Pflaster.
Frau Callenbach kam mit einer gelben Postkarte zu uns. »Bitte, was heißt das?« fragte sie Rachel. »Unser Sohn hat geschrieben, aber in Deutsch, und wir verstehen es nicht.« Ihre Hand zitterte, als sie Rachel die Karte gab. »Ich bin seit dem 10. Oktober in Mauthausen«, stand da in Schreibmaschinenschrift. »Ich bin Nummer 5562, Baracke B.« Oben links in der Ecke war aufgedruckt: Nur Deutsch schreiben. Briefmarke für Antwort beilegen. »Rachel ist so tüchtig, sie kann so gut Deutsch«, sagte Mutter stolz. Rachel schrieb einen Brief in Deutsch für Frau Callenbach. Neun Tage später kam er mit einem dicken Stempel auf dem Umschlag aus Mauthausen zurück: UNBEKANNT. »Komisch, daß sie sich nicht mehr an ihn erinnern, nach so kurzer Zeit«, sagte Mutter. Der Baum mit den Plakaten verkündete, daß Juden nicht mehr auf Reisen
gehen durften. Vater sagte, er wolle nicht in Mauthausen enden oder in
Deutschland oder in Polen, wo es dieselben Konzentrationslager wie
Mauthausen gab. »Hör zu, Sophie, Phil und ich haben einen Plan.
Vielleicht können wir noch in die Schweiz.«
»Wie willst du das machen?« fragte Mutter.
»Jemand fährt uns bis zur Schweizer Grenze. Dann brauchen Phil und ich nur noch zusehen, wie wir hinüberkommen.« »Und was wird aus uns?« fragte Mutter. »Sobald wir in der Schweiz sind, können wir euch nachkommen lassen. Und dann bringe ich dich zum besten Arzt, den ich auftreiben kann. Wir fahren übermorgen.« »Aber du hast gesagt, es ist nur ein Plan.« »Ja, ja, aber...« Dann bemerkte er mich. »Annie, warum bist du nicht draußen und spielst? Hör mal, du darfst niemand etwas davon erzählen. Hast du verstanden?« Mir schwirrte der Kopf. In die Schweiz? Mit Hannie? Hoffentlich war Tante Billa dann nicht dauernd wegen des Händewaschens hinter mir her. Ich sah Mutter an. Vaters schwerer Wintermantel lag auf ihrem Schoß. Sie trennte mit der Scherenspitze den Saum auf, legte Bündelchen von Geldscheinen hinein und nähte den Saum wieder zu. »Du erzählst es doch niemand, Annie?« Ich fing an, mich über Vater zu ärgern. Natürlich erzählte ich es nicht
weiter. Aber ich fand es doch seltsam; wie wollte er unterwegs etwas bezahlen, wenn das Geld im Saum steckte? In der Nacht wartete Vater hinter der Tür auf den Mann, der ihn in die Schweiz fahren wollte. »Da kommt er. Hoffentlich kann er euch in ein paar Tagen nachholen. Seid auf jeden Fall bereit. Auf Wiedersehen, bis bald.« Vater ging hinaus. Zwei Tage später läutete es nachts. Wir liefen hinunter, nahmen den Koffer, den wir gepackt hatten und öffneten die Tür. Vater stand da. Er sah erschöpft aus. Es war ihm nicht gelungen, die Grenze zu überschreiten. Die Schweizer ließen keine Flüchtlinge mehr herein; es war zu spät. Ich hatte gedacht, daß sie uns einfach an unseren Gesichtern erkennen konnten. Rachel hatte gesagt, das sei so. Aber der Stern machte es sicher noch einfacher. Jetzt wußte es jeder, wenn er nur einen Blick auf unsere Brust warf. Jood stand auf dem Stern, Jude, in schwarzen Buchstaben auf gelbem Grund. Vater war wütend. »Und man muß diese Dinger auch noch bezahlen!« schrie er. »Sie wollten sogar Textilpunkte dafür haben!« Ich fand die Sterne gar nicht übel; ich fand, daß ich damit erwachsener aussah. Nicht alle Juden mußten einen Stern tragen; Kinder unter sechs Jahren bekamen keinen. Zu Hause hatte ich noch drei Sterne, lauter richtige, wie für die Großen. Wir brauchten so viele, weil wir immer einen Stern tragen mußten und es zu lästig war, ihn immer wieder von dem Mantel oder der Jacke abzutrennen und auf einen anderen zu nähen. Mit einer Sicherheitsnadel wäre es einfacher gewesen ... aber das durften wir nicht, das stand auf dem Plakat. Nein, mir machte der Stern nichts aus. Großmutter wohl, aber sie war ja auch schon alt. Sie hatte immer etwas gegen überflüssigen Firlefanz an ihren Kleidern. An jenem Nachmittag waren viele Leute mit gelben Sternen auf dem Bahnhof und stiegen in den Zug. Und noch mehr blieben auf dem Bahnsteig zurück. »Auf Wiedersehen bis nach dem Krieg!« schrien die Leute im Zug zu den Fenstern hinaus. »Auf Wiedersehen bis nach dem Krieg!« schrien die Leute auf dem Bahnsteig zurück. Der Zug brachte sie in ein holländisches Lager, in ein Arbeitslager, wo sie für Deutschland arbeiten sollten. Viele Juden hatten so wie Rachel einen Brief bekommen, daß sie fristlos entlassen waren. Ein paar Männer kamen auf uns zu und schüttelten Vater die Hand. »De Leeuw, es ist doch besser, eine Weile für sie zu arbeiten, als zu Hause herumzuhocken! Es dauert bestimmt nicht lange. Sie haben uns gesagt, daß wir ordentlich
behandelt werden. Was kann uns also passieren?« Ein Plakat hatte die Juden aufgefordert, sich freiwillig zur Arbeit zu melden. Die Leute im Zug waren diese Freiwilligen. »Diese Idioten!« sagte Vater wütend. »Komm, Annie, wir gehen nach Hause!« Zu Hause hatte Rachel den Tisch für vier gedeckt, denn Mutter stand jetzt nicht mehr aus dem Bett auf. »Ich begreife nicht, warum sie sich gemeldet haben«, sagte Vater. Ach so, die Männer im Zug. »Annie, hör auf, mit der Scheibe Brot zu spielen«, warnte Rachel. Aber ich wollte das Brot nicht essen. Es schmeckte wie Sägemehl! »Bitte, eßt fertig, damit ich das Geschirr abwaschen kann«, sagte Rachel, »ich habe noch soviel zu tun vor drei Uhr.« Ich wußte, warum Rachel bis drei Uhr fertig sein wollte. Um drei Uhr durften wir einkaufen gehen. Von drei bis fünf Uhr rannten alle Juden von einem Geschäft zum anderen. Meistens war nicht mehr viel übrig in den Geschäften. Vorgestern war Sini an der Reihe gewesen mit dem Einkaufen. Sie kam mit leerer Tasche nach Hause. Anstatt einkaufen zu gehen, war sie mit Herrn Herschel spazieren gegangen. Rachel war sehr wütend auf Sini gewesen. Die Plakate am Baum gaben bekannt, daß noch mehr Freiwillige für die Arbeitslager gebraucht wurden. Bis zu sechzig Jahren wurde jeder genommen. Herr Callenbach war froh, weil er noch nicht zu alt war, um sich zu melden. Er sagte, vielleicht brauchte er nicht in Holland im Lager zu bleiben; viele Leute wären schon in andere Länder geschickt worden. Vielleicht hätte er Glück und würde nach Mauthausen geschickt und träfe dort seinen Sohn wieder. Jedenfalls packte er vorsichtshalber den Lieblingspullover seines Sohnes ein. Es gab wohl sehr viel Arbeit und nicht genug Freiwillige. Das Plakat am Baum forderte die Leute nicht mehr freundlich auf. Es befahl: Alle müssen für die Deutschen arbeiten. Und was passierte, wenn man einfach nicht ging? Vater sagte, er dächte nicht daran, sich zu melden. »Ich suche ein Versteck«, sagte er. »Ich kenne so viele Bauern, einer wird uns schon aufnehmen.« Ich stampfte mit dem Fuß auf. Mutter hatte sich geirrt, geirrt, geirrt. Wir waren in dem neuen Haus nicht in Sicherheit. Als ich am nächsten Morgen zur Schule kam, war Herr Herschel noch nicht da. Wir warteten draußen auf ihn. Dann kam Herr Cohen, der zweite Lehrer, und sagte: »Geht wieder nach Hause, Herr Herschel kann nicht mehr kommen.« Zu Hause fragte mich Sini: »Wieso bist du schon wieder da?«
»Die Deutschen haben Herrn Herschel geholt. Es ist Schluß mit der Schule.« Sini warf sich in einen Sessel und fing an zu weinen. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Das passierte also, wenn man sich nicht freiwillig zur Arbeit meldete. Dann kam der Lastwagen und holte einen? Aber Herr Herschel hatte doch gearbeitet. Er saß nicht zu Hause herum, so wie Fritz Droppers Vater, der den ganzen Tag lang nichts tat. Dann sollte Herr Dropper auch im Lager arbeiten müssen. In diesem Frühling 1942 gab es eine Menge Gerüchte. Manche Leute sagten, der Krieg sei jetzt bald aus. Die Deutschen hätten niemals in Rußland einmarschieren sollen; Rußland war zu groß und zu kalt für sie. Deutsche Soldaten kämpften auch in Nordafrika. »Natürlich, da helfen ihnen die Italiener, aber mit denen ist nicht viel los.« Wie viele Soldaten hatte Hitler? Genug, um sie überall hinzuschicken? Bis zu Onkel Bram? Denn die Deutschen führten jetzt auch Krieg gegen Amerika. Vater sagte, das hätte Hitler eigentlich besser wissen müssen, da habe er einen ganz großen Fehler gemacht. Aber Vater lachte, als er das sagte, und es war sein richtiges Lachen, bei dem ich keine Angst bekam. Es gab auch noch andere Gerüchte. Bald sollten sich auch Frauen freiwillig für die Arbeitslager melden. Frau Callenbach hatte schon gepackt und wartete. Vater sagte, Rachel und Sini sollten in unserem Haus einen Kindergarten aufmachen. Dann erwarteten die Deutschen nicht, daß sie sich für das Arbeitslager meldeten, denn sie taten ihre nützliche Arbeit hier. Jeden Morgen kamen ungefähr zehn Kinder. Ich wartete am Gartentor auf sie; ich trug meinen gelben Stern, genau wie die Mütter. Ich führte die Kinder ins Haus, und Sini zeigte ihnen, wo sie sich hinsetzen sollten. Ich ging von einem Kind zum anderen und half ihnen bei der Bastelei. »Schau mal, du hast das Bild ganz schief aufgeklebt. Und wisch dir die klebrigen Hände nicht am Kleid ab. Dafür ist der Lappen da.« Der Sommer wurde sehr nett. Der arme Fritz, der als Schüler in die Schule gehen mußte! Das hier war auch eine Schule, aber ich war mit meinen zehn Jahren beinahe eine Lehrerin. »Heute machen wir einen Spaziergang in den Wald. Stellt euch schön in Reih und Glied auf, zwei und zwei.« Sogar meine Stimme klang wie Rachels Stimme. »Warum hast du einen Rucksack dabei?« fragte ich einen kleinen Jungen. »Ich habe Kekse drin«, antwortete er. Als Rachel und Sini aus dem Haus kamen, nahm der kleine Junge das Mädchen neben sich bei der Hand und rückte seinen Rucksack zurecht. »Komm, wir gehen nach Polen«, sagte er. Und dann gingen wir in den
Wald. Mutters Kopfschmerzen wurden so schlimm, daß sie ins Krankenhaus mußte. Im Krankenhaus konnte man kein koscheres Essen für sie zubereiten, deshalb kochte Rachel es zu Hause und brachte es Mutter jeden Tag in einem Korb. In der Krankenhausküche gab man Rachel das schmutzige Geschirr vom Tag zuvor mit. Nur wir vier und Großmutter durften Mutter besuchen. Großmutter saß neben Mutters Bett und wußte nicht, was sie sagen sollte, außer »Sophie, Sophie«. Aber wir sagten auch nicht viel. Alles regte Mutter auf, vor allem, wenn man vom Krieg sprach. Aber alles hing jetzt irgendwie mit dem Krieg zusammen. Nur Fritz Droppers nicht, und zum erstenmal hörten die anderen zu, wenn ich von ihm erzählte. Aber eines Tages sagte die Krankenschwester zu Vater: »Es tut mir leid, Herr de Leeuw, aber unsere jüdischen Patienten dürfen keine Besuche mehr empfangen.« »Aber so etwas ist unglaublich!« schrie Vater. »Was ist das für ein neuer, irrsinniger Befehl? Wem schadet das, wenn man einen kranken Menschen besucht?« »Niemand«, sagte die Schwester. »Und ich verstehe, wie Ihnen zumute ist, aber bitte, schreien Sie nicht. Wir sind hier in einem Krankenhaus.« Wir gingen stumm nach Hause. Warum kümmerten sich die Plakate an dem Baum auch noch um unsere Mutter? Rachel ging weiterhin zum Krankenhaus, um Mutter das Essen zu bringen. Mutter legte einen Zettel in das Geschirr vom Tag zuvor. Es stand immer das gleiche darauf: »Die Tage sind so lang. Ihr fehlt mir.« Vater meinte, daß Willy Bos' Vater mir vielleicht die Erlaubnis gab, Mutter zu besuchen, wenn ich ihn darum bat. »Der Nazi!« sagte Rachel. »Den wirst du doch nicht um einen Gefallen bitten!« Aber er war jetzt Bürgermeister. »Warum denn nicht«, meinte Vater. Ich ging also in meinem Sonntagskleid zum Rathaus. »Wo ist das Büro des Bürgermeisters?« fragte ich den Pförtner. Er zeigte die Treppe hinauf. Ich ging die Treppe in den ersten Stock hinauf. Vor Dr. Bos' Büro setzte ich mich auf eine Bank zu den anderen Leuten, die schon auf ihn warteten. Dann wäre ich an der Reihe gewesen. Der Mann hätte nicht einfach vor mir hineingehen dürfen. Er war nach mir gekommen. Er sollte auch warten. Ich versuchte den Türhüter auf mich aufmerksam zu machen, aber es gelang mir nicht. Ich setzte mich wieder. Ich dachte nicht daran, den ganzen Tag auf dieser Bank zu sitzen, bloß weil ich ein Kind war! Oder lag das an dem Stern auf meinem Kleid, daß ich so lange warten mußte? Aber ich mußte den Bürgermeister sprechen. Entschlossen stand ich auf.
»Wann bin ich an der Reihe, bitte?« fragte ich den Türhüter. Er antwortete nicht. Ich setzte mich wieder. »Du, da!« Seine Stimme ließ mich zusammenzucken. Ich ging in das Büro. Dr. Bos saß hinter einem Schreibtisch; er las weiter und achtete nicht auf mich. Ich trat näher. Wann sah er endlich auf? Vielleicht hatte er gar nicht gehört, wie ich hereingekommen war. »Guten Morgen, Herr Doktor«, sagte ich. Er schaute von seiner Zeitung auf. »So eine Überraschung. Du bist doch mit Willy in die Schule gegangen, nicht wahr? Wie heißt du noch mit Vornamen?« »Annie.« »Richtig. Also, Annie, was gibt es? Willst du dich etwa bei mir beklagen, weil es keine Schokolade mehr gibt? Deine Mutter sollte dankbar sein. Wie geht es ihr übrigens?« »Sie ist im Krankenhaus, und wir dürfen sie nicht mehr besuchen. Können sie mir einen Erlaubnisschein geben, damit ich zu ihr kann?« Dr. Bos nahm einen Schreibblock und schrieb etwas. Er riß das Blatt ab und gab es mir. Ich las es schnell. »Vielen Dank, Herr Doktor.« Ich rannte den ganzen Weg nach Hause. Sie würden stolz auf mich sein. Sie waren stolz auf mich ... aber nicht lange. Sie waren viel zuviel damit beschäftigt, sich Sorgen zu machen. Die Plakate am Baum forderten immer mehr Freiwillige. Sogar junge Mädchen. Es mußte ungeheuer viel Arbeit dort geben. Rachel packte heimlich Koffer, die wir mit ins Lager nehmen wollten. Vater durfte das nicht merken. Er wäre wieder wütend geworden. »Wir melden uns niemals, und wir lassen uns auch nicht zwangsweise holen«, sagte er jeden Tag. Und jeden Tag fragte er einen anderen Bauern, ob er uns aufnehmen könnte. »Ich will mich nicht verstecken«, sagte Sini. »Das ist kein Leben, irgendwo in einer Kammer zu hocken.« Vater erklärte ihr, daß ihr gar nichts anderes übrig bliebe, sobald er nur ein Versteck gefunden habe. Ich hatte auch keine Lust, mich zu verstecken. Aber vielleicht behielt Rachel recht und er fand sowieso keinen Bauern, der dazu bereit war. Dann konnte ich mit meinem neuen Koffer in den Zug steigen. Immer weniger Kinder kamen in unseren Kindergarten; die Eltern waren im Lager oder hielten sich irgendwo versteckt. »Wir machen Ferien und ruhen uns aus; einverstanden?« sagte Rachel zu den wenigen Kindern, die noch übrig waren. Die Kinder nickten.
Sobald es dunkel war, durften Juden nicht mehr aus dem Haus gehen.
Doch wir brachten heimlich unsere Möbel zu den Droppers hinüber, ein
Stück nach dem anderen. Rachel sagte, es wäre eine Dummheit, sie für
die Deutschen im Haus stehenzulassen, wenn wir ins Lager müßten.
»Du meinst, wenn wir uns verstecken«, sagte Vater.
Ich durfte Mutter nichts davon erzählen, wenn ich sie besuchte. Ich
konnte ihr überhaupt nichts mehr erzählen. Wenn ich bei ihr war,
schaute ich heimlich auf die Uhr; dreißig Minuten können sehr
lange sein. Es machte mir gar nichts aus, daß ich noch einmal zum
Bürgermeister Bos gehen und ihn um Erlaubnisscheine für Vater und
meine Schwestern bitten mußte, weil Mutter sehr krank wurde. Nun
hatte ich wenigstens Gesellschaft, wenn ich sie besuchte.
Ein paar Tage später, als Sini und ich vom Krankenhaus zurückkamen,
empfing Rachel uns an der Küchentür.
»Bobbie ist fort.«
»Wo ist er?« schrie ich.
»Vater hat ihn zu einem Bauern gebracht, der ihn gut behandeln will.«
Ich gab der Tür einen kräftigen Tritt, als ich hineinging. Bobbie war
fort! Und niemand hatte mir etwas davon gesagt, bis es zu spät war.
3
Es war ein schöner Spätsommertag und Vater sagte, ich solle ihn begleiten. »Wohin?« fragte ich. »Zu den Abbinks. Ich will sie fragen, ob sie uns verstecken können.« »Sei vorsichtig und fahre nicht durch den Ort«, warnte Rachel. »Ich weiß, ich weiß«, antwortete Vater ungeduldig. Ich wußte auch Bescheid. Im Ort waren deutsche Soldaten einquartiert. Außerdem durften Juden nicht mehr Rad fahren; sie mußten ihre Fahrräder abliefern, aber Vater hatte das nicht getan. Es war warm, und das Fahren war mühsam. Wir waren allein auf dem Weg. Alle Bauern waren beim Heuen. Einer begegnete uns auf seinem leeren Heuwagen. Das Pferd zockelte langsam daher und ließ den Kopf hängen, als ob es gar keine Lust habe, weiterzugehen. Der Bauer hob gemächlich die Hand. »Guten Morgen«, sagte er. »Guten Morgen«, antwortete Vater. Wir fuhren weiter. »Da drüben ist der Hof, und der Bauer auf der Wiese ist Abbink«, sagte Vater.
»Guten Morgen.« »Guten Morgen, de Leeuw. Ich habe Sie schon lange nicht mehr gesehen.« »Ich weiß. Ich habe keinen Viehhandel mehr. Wie steht es mit der Heuernte?« Abbink schaute auf. »Wenn die Wolken so weiß bleiben wie jetzt, kriegen wir das Heu rechtzeitig herein.« Er stützte seine Heugabel auf den Boden und wischte sich mit dem Arm den Schweiß von der Stirn. »Wie geht es Ihrer Frau?« »Nicht gut.« »Das sind Zeiten! Wer hätte gedacht, daß wir das erleben würden, de Leeuw? Ich habe erst neulich zu meiner Frau gesagt, ich hätte diesen Sommer gar keine Lust, die Arbeit zu machen. Ich weiß ja nicht, wozu ich sie mache.« »Abbink, es wird nicht mehr lange dauern, und die Deutschen holen uns und schaffen uns in ein Lager.« »Meinen Sie wirklich?« »Ja, wenn ich nicht vorher noch jemand finde, der uns aufnimmt.« Vater und Abbink schauten einander in die Augen. »Ich wollte, ich könnte Ihnen helfen, de Leeuw, aber meine Kinder sind noch zu klein und unvernünftig. Sie würden es sofort in der Nachbarschaft erzählen, wenn jemand neuer im Haus wäre.« Abbink nahm seine Mütze und kratzte sich den Kopf. Die beiden Männer schwiegen eine Weile. »Aber wissen Sie was, de Leeuw? Die Schwester meiner Frau ist doch mit einem Pastor verheiratet. Er ist ein guter Mensch und kennt einen Haufen Leute. Ich werde mit ihm reden.« »Vielen Dank, Abbink.« »Ich weiß nicht, ob er wirklich helfen kann, aber ich werde ihm sagen, er solle auf jeden Fall mit Ihnen reden.« »Vielen Dank. Also, dann wollen wir sie nicht länger von der Arbeit abhalten. Auf die Wolken kann man sich nicht verlassen!« »Gehen Sie doch noch ins Haus, meine Frau gibt Ihnen ein paar Eier mit.« Als er wieder zu seinem Fahrrad ging, bückte Vater sich und pflückte eine
Kornblume. Er steckte sie in das Knopfloch und wartete darauf, daß ich
mich auf den Gepäckträger setzte. »Es ist nett, daß wir beide wieder
einmal zusammen unterwegs sind«, sagte er.
Ja, das war nett. Ich schaute zu ihm auf und lächelte.
Er stieg vorsichtig auf das Rad und hielt die Tüte mit den Eiern in der
Hand. »Rachel kann eine Omelette für Mutter machen«, sagte er sanft.
»Das hat sie früher gern gegessen.« Ein paar Tage später schob ein Junge einen Zettel unter unsere Tür: »Ich komme morgen nachmittag. Pastor Zwaal.« Wir waren alle zu Hause und warteten auf ihn. Doch als er kam, führte Vater ihn sofort ins Wohnzimmer, und wir blieben in der Küche. Es dauerte lange, bis sie wieder herauskamen. Vater hatte rote Flecken auf den Backen. Er sagte sofort, er habe einen Platz in der Nähe von Rotterdam. »Einen Platz?« fragte Sini. »Ja, und der ist für mich, denn die Leute wollen nur einen Mann aufnehmen«, sagte Vater. Pastor Zwaal würde ihn nach Rotterdam bringen. »Wann fährst du?« fragte Rachel. »Sobald ich einen Platz für euch drei gefunden habe.« »Vier«, sagte ich. Vater sah mich an. »Nein, Annie. Mutter ist zu krank, um sich irgendwo zu verstecken. Und sie ist im Krankenhaus in Sicherheit. Schau nicht so traurig drein. Und sage ihr bitte kein Wort davon.« Ich schluckte. Ich versprach zu schweigen. Im September kam Onkel Phil zu uns. Er sagte, er müsse dringend mit Vater sprechen. »Ein christlicher Freund hat uns angeboten, uns bei sich zu verstecken, Billa, Hannie, Großmutter und mich. Aber Tante Billa wollte nicht«, fügte Onkel Phil hinzu. »Warum nicht?« fragte Vater. »Weil die Leute uns kein koscheres Essen kochen können!« Wir schauten ihn alle an. Er war gekommen, um Vater zu fragen, ob er mit diesem Freund sprechen wolle. Vielleicht konnten wir dorthin gehen. Als Onkel Phil fort war, stieg ein Mann, den wir noch nie gesehen hatten, vor unserem Haus vom Rad. Er schaute zum Küchenfenster herein. Rachel öffnete es. »Wen suchen Sie?« fragte sie. »Herrn de Leeuw«, antwortete der Mann. »Ich bin Gerit Hannink, ein Freund von Ihrem Onkel Phil.« Ich betrachtete ihn neugierig. Er war groß, und seine Schultern waren ein wenig gebeugt. Vater führte ihn ins Wohnzimmer und schloß die Tür. Als Herr Hannink wieder fort war, rief Vater uns zu sich. Er sagte, daß wir alle drei zu Herrn Hannink nach Usselo gehen konnten. Fräulein Klein, Rachels und Sinis frühere Lehrerin an der Oberschule, wollte zusammen mit Herrn Hannink dafür sorgen, daß wir sicher dorthin gelangten. »Ich gehe aber nicht«, sagte Rachel plötzlich.
»Was ist in dich gefahren?« fragte Vater. »Wer soll sonst das Essen für Mutter kochen?« Wir schauten Rachel an. Ja, wer sollte Mutter koscheres Essen bringen? »Sie muß eben das essen, was es im Krankenhaus gibt«, sagte Vater. Aber Rachel sagte noch einmal, sie wolle nicht fortgehen, sondern sich um Mutter kümmern. »Das dulde ich nicht!« schrie Vater. »Du versteckst dich mit Sini und Annie! Du kannst Mutter nicht mehr helfen! Niemand kann das. Es ist vollkommen sinnlos, wenn du dein Leben riskierst! Und wenn wir hier bleiben, holen uns die Deutschen eines Tages.« Aber Rachel beharrte darauf, daß sie erst nach Usselo und ins Versteck gehen wolle, wenn ihr wirklich nichts anderes mehr übrigblieb. Anfang Oktober kam dann der Brief, der Vater befahl, sich mit seiner ganzen Familie an einem bestimmten Tag am Bahnhof zu melden, um in ein holländisches Arbeitslager zu fahren. Vater sagte, daß das wahrscheinlich gelogen sei. Diese Züge fuhren oft direkt nach Deutschland, Österreich und Polen, in ein Konzentrationslager. Rachel hörte doch, was Vater da erzählte. Sie wollte doch nicht von Hitlers Soldaten geschlagen werden? Also mußte sie mit Sini und mir nach Usselo kommen. Gleich am nächsten Tag sollte jemand Vater nach Rotterdam bringen. An dem Nachmittag gingen Vater und ich zu Mutter ins Krankenhaus, aber wir sagten kein Wort von dem Brief und von Rotterdam. Auf dem Heimweg hielt ich Vaters Hand ganz fest. »Annie, sei ein braves Kind in Usselo, Fräulein Klein wird dir Schulbücher bringen. Lerne, soviel zu kannst, solange du im Versteck bleiben mußt. Rachel und Sini werden dir dabei helfen. Und wenn der Krieg vorbei ist, fahren wir beide wieder zu den Bauern Kühe kaufen.« Ich umklammerte seine Hand noch fester. Am nächsten Morgen standen wir früh auf, lange ehe Vater aufbrechen mußte. Als ich nach unten ging, hörte ich seine Stimme: »Rachel... du mußt... Usselo.« Der arme Vater regte sich immer so auf. Als ich eintrat, verstummte er. »Sei vernünftig«, murmelte er. »Bitte, Vater«, sagte Rachel. »Rede nicht wie deine Mutter.« Vaters Stimme klang scharf. Niemand sagte etwas. »Also, ich mache mich jetzt fertig. Es ist noch nicht ganz Zeit, aber Pastor Zwaal hat gesagt, vielleicht kommt der Mann auch ein bißchen früher... man kann nie wissen ... verliert das Geld nicht... seid vorsichtig.« Er zog seinen Mantel an und umarmte uns. »Wenn der
Krieg vorbei ist...« Er brach abrupt ab, nahm seinen Koffer und ging hinaus. Die Tür fiel hinter ihm zu. Kurz vor Mittag kam eine zerbrechliche alte Dame. Das war Fräulein Klein. »Euer Vater ist schon in Rotterdam angekommen«, sagte sie. »Ich habe gerade mit Pastor Zwaal gesprochen. Jetzt werde ich euch erklären, wie ihr zu den Hanninks kommt.« Sie wandte sich an Rachel. »Dein Vater hat mir gesagt, daß du nicht fort willst. Du hast es dir noch nicht anders überlegt?« Nein, Rachel wollte noch nicht fort; sie wollte wenigstens noch bis nächste Woche bleiben, bis zum letzten Tag, ehe wir uns am Bahnhof melden sollten. »Dein Vater hat recht, das solltest du nicht tun«, sagte Fräulein Klein. »Pastor Zwaal läßt dir ausrichten, du solltest bis dahin wenigstens bei ihm übernachten und nicht allein hierbleiben.« Dann erklärte Fräulein Klein uns, daß Sini am nächsten Morgen mit dem Fahrrad nach Usselo fahren sollte. Sini mußte sich die Haare färben und sich wie ein Bauernmädchen anziehen. Herr Hannink wollte vor Usselo auf sie warten. »Aber du darfst nicht zeigen, daß du ihn kennst. Fahr nur einfach hinter ihm her. Wenn er in seinen Garten einbiegt, fahr hinter ihm bis in die Garage und warte dort.« Ich hörte gespannt zu. Und wie kam ich hin? Ich müsse einen Matrosenanzug anziehen, und Rachel müsse mir die Haare schneiden wie einem Jungen, sagte Fräulein Klein. »Aber dann sehe ich wie ein Junge aus! Wenn mich dann jemand sieht, der mich kennt!« Das war doch möglich. »Dann können wir nur hoffen, daß er dich nicht erkennt. Das ist schließlich der Zweck der Übung«, sagte Rachel. »Du gehst morgen früh um acht Uhr zu der Bushaltestelle vor meinem Haus«, fuhr Fräulein Klein fort. »Der Bus nach Enschede kommt um acht Uhr sechzehn. Du steigst ein und nimmst eine Fahrkarte bis Enschede. «, »Aber sollte ich nicht nach Usselo?« fragte ich. Ja, aber nicht auf dem direkten Weg, erklärte Fräulein Klein. Usselo war ein kleiner Ort, so daß alle Leute mich bemerken und anstarren würden, wenn ich dort aus dem Bus stieg. Es war sicherer bis nach Enschede zu fahren, das eine große Stadt war. »Du fährst in Enschede bis zur letzten Haltestelle. Dort wartet ein junges Mädchen auf dich, Dini Hannink. Sie nimmt dich hinter sich auf das Rad und fährt nach Hause.« Sini sagte, es sei Zeit, zu Mutter zu gehen. Ich wollte nicht. Sie müßte doch merken, daß wir morgen nicht wiederkommen würden und übermorgen auch nicht.
»Warum ist Vater heute morgen nicht gekommen?« fragte Mutter. Sini beugte sich zu ihr und flüsterte: »Vater mußte sich verstecken, aber es geht ihm gut. Er ist in einem Hotel und das Essen soll ausgezeichnet sein.« Ich wurde rot. Wie konnte Sini so lügen? Aber Mutter lächelte. Als die dreißig Minuten Besuchszeit vorüber waren, verließ Sini als erste das Zimmer. »Annie, vor dem Bahnhof stand doch immer ein Schokoladenautomat?« sagte Mutter. »Funktioniert er noch?« »Vielleicht.« »Hier hast du fünfundzwanzig Cents. Kaufe dir etwas auf dem Heimweg.« Ich riß ihr die Münze aus der Hand und rannte hinaus. Ich wollte nicht, daß sie meine Tränen sah. Sini wartete im Flur auf mich. »Wie lange wird Mutter noch krank sein?« fragte ich. »Das weiß niemand«, sagte Sini. »Aber sie muß sterben. Wahrscheinlich schon bald.« Ich stellte fest, daß mich Sinis Antwort gar nicht erschreckte. Zu Hause erwartete Rachel uns mit einer Flasche Superoxyd in der Hand. »Wasche dir erst die Haare«, sagte sie zu Sini. Ich schaute zu. Sini war hübsch, sie hatte langes, glänzendes schwarzes Haar. Rachel goß ein wenig Superoxyd in ein Glas und füllte mit Wasser auf. Dann goß sie es über Sinis Haar. Wir warteten. Nach einer Weile geschah etwas Gräßliches. Vor unseren Augen wurde Sinis Haar rot, ein stumpfes, rostiges Rot. Sini schaute sich im Spiegel an. »So kann ich nicht herumlaufen! Das ist gräßlich!« sagte sie wütend. Ich zeigte auf ihre Augenbrauen. »Und die sind immer noch schwarz.« Mit einer ärgerlichen Bewegung zupfte Sini sich fast alle Augenbrauenhaare aus. Hinterher war die Haut rot und geschwollen. Es mußte weh tun. Ich wollte, ich hätte nichts gesagt. Dann war ich an der Reihe. Rachel legte mir ein Handtuch um die Schultern, nahm die Schere und fing an zu schneiden. Haarbüschel fielen herunter. Viele. Als keine mehr fielen, ging ich zum Spiegel: Aus einem sehr runden Gesicht schauten mich zwei ängstliche grüne Augen an. Ich konnte runde Gesichter nicht leiden. Mein rundes Gesicht. Mit langen Haaren war es nicht so aufgefallen, wie rund es war. Ich glaubte. Sini und Rachel nicht, die mir versicherten, wie niedlich ich mit kurzem Haar ausschaue. Im Bett zog ich mir die Decke über den Kopf. Es war noch dunkel, als ich aufwachte. Ich knipste das Licht an: vier Uhr.
Ich hörte ein Geräusch aus der Küche. Sini und Rachel mußten schon
auf sein. Ich ging hinunter, um nachzuschauen. Sini war dabei, mit einer
Schere den gelben Stern von ihrem Mantel zu trennen.
»Rachel, wann kommst du nach Usselo?« fragte ich.
»Bald«, antwortete sie.
»Rachel, wenn sie mit dem Lastwagen kommen...« Was wollte Rachel machen, wenn auf einmal der Lastwagen mit den Soldaten vor der Tür stand? Rachel sagte, ich solle mir keine Sorgen machen. Nun, sie war schon fünfundzwanzig, ganz erwachsen, und wußte viel. »Rachel, kommen wir wieder nach Hause aus Usselo?« Rachel sagte, das wüßte sie nicht. Nicht alle Menschen, die sich verstecken mußten, kamen wieder nach Hause. Eine Gruppe Juden, die sich wochenlang in einem Moor in der Nähe von Winterswijk versteckt hatte, war gefunden worden. Die Deutschen sagten, es sei verboten, sich zu verstecken, und sie schickten die Gruppe nach Polen. Vielleicht kamen sie zurück, wenn der Krieg vorüber war. Rachel wußte es nicht. Diese Leute hatten sich alleine versteckt; sie hatten keine christlichen Freunde, die ihnen halfen. So wie wir. Sini kam wie ein Bauernmädchen gekleidet herunter. Ein Kopftuch
verbarg ihr Haar. Sie schnürte ein Kleiderbündel auf dem Gepäckständer
fest. »Ich halte das nicht aus, den ganzen Tag lang im Haus zu bleiben«,
sagte sie mit komischer Stimme. »Warum soll ich das mitmachen. Ich sehe
nicht mal jüdisch aus!«
Rachel sagte, das wüßte sie nicht.
»Auf Wiedersehen, Sini, bis nachher«, sagte ich.
Sini schob das Rad auf den Weg hinaus und stieg auf. Die Kirchturmuhr schlug fünfmal. Drei Stunden später ging ich fort. Rachel sagte, ich sähe ganz echt aus. Wie ein Junge. Vorsichtig schob ich die Finger unter die Mütze und befühlte mein kurzes Haar. Ich drehte mich um, um noch einmal zu winken, aber Rachel war schon wieder ins Haus gegangen. Gar nicht übel! Rachel hatte mir den kleinen neuen Koffer mitgegeben. Ich schwang ihn hin und her. Irgendwie war es komisch, an mir keinen gelben Stern zu sehen. Ich ging schneller. Ich fing an, Lieder zu pfeifen, an die ich nicht mehr gedacht hatte, seit ich in der ersten Klasse gewesen war. Das war vor einer Ewigkeit gewesen, als ich noch ein Baby war. Ich steckte eine Hand in die Hosentasche und pfiff noch lauter. Ich erreichte den Ortsrand.
Auf der Straße herrschte Betrieb; viele Leute waren auf dem Weg zur Arbeit. Ich bog links ab und sah plötzlich einen Nachbarn aus unserer alten Straße in Winterswijk auf mich zukommen. Er war auf dem Rad. Die Entfernung zwischen uns wurde kleiner; dann schaute er mich an, fuhr langsamer, an mir vorbei, sagte nichts und wandte nur den Kopf, um mich noch einmal anzuschauen. Weitergehen, Fuß hochheben, aufsetzen, hochheben, aufsetzen. Vielleicht stieg er vom Rad und meldete es der Polizei? Falls mich jemand nach meinem Namen fragte, so sollte ich sagen: Jan de Wit. Das war ein anständiger christlicher Name. Nur, wer würde mir das glauben ? Ein Schauder lief mir über den Rücken. Ich drehte den Kopf um, um zu sehen, ob er mir folgte. Nein, aber kam da nicht Rachel hinter mir her? Ich blieb stehen, um auf sie zu warten. Rachel schüttelte den Kopf. Sie wollte nicht, daß ich auf sie wartete. Ich erreichte die Haltestelle. Sonst war niemand da. Ich stellte den Koffer ab und wartete. Ein paar Minuten später tauchte ein gelber Bus auf. Der Bus bremste. Die Tür öffnete sich, ich stieg die Stufen hinauf. Die Tür fiel hinter mir zu. »Einmal Enschede, einfach, bitte.« Als ich zum Fenster hinausschaute, sah ich Rachels Rücken. Sie war auf dem Weg nach Hause.
4 Ich setzte mich hin und stellte den Koffer vor mich. Neben mir saß eine ältere Frau. War ich überhaupt schon jemals mit einem Fernbus gefahren? Jedenfalls hatte ich mir noch nie selber eine Fahrkarte gekauft. Ich zog sie aus der Tasche und betrachtete sie. Etwa eine halbe Stunde hinter Winterswijk hielt der Bus plötzlich auf der Landstraße. Der Fahrer öffnete die Tür, und ein paar holländische Soldaten stiegen ein. »Alles sitzen bleiben. Kontrolle. Machen Sie Ihre Taschen auf.« Und wenn sie meinen Koffer aufmachten? Ich konnte doch nicht sagen, daß die Mädchensachen nicht mir gehörten. Warum hatte Rachel nicht daran gedacht und mir nicht erklärt, was ich dann sagen sollte! Ich rutschte auf meinem Platz hin und her. Ein Soldat kam zu mir »Gehört der dir, Kleiner?« Ich schaute unschuldig zu ihm auf. »Der Koffer? Ja, da sind Mädchensachen drin, die ich zu meiner Tante bringen muß.« Er nickte und drehte sich wieder um. Ich wischte mir die feuchten Hände an den Kniestrümpfen ab. Ein paar Minuten später stiegen die Soldaten wieder aus; sie hatten ein frisch geschlachtetes Huhn gefunden.
Der Mann, dem sie es weggenommen hatten, war wütend. »Haben die nichts Besseres zu tun?« beklagte er sich. Der Bus fuhr weiter. Ich hätte meine Nachbarin gern gefragt, ob sie wüßte, wann Usselo kam, aber ich ließ es lieber bleiben. Vielleicht fing sie dann an, mich auszufragen. Ich hielt Ausschau nach dem Ort. Etwa zwanzig Minuten später erreichten wir Enschede. Wir waren durch Usselo gefahren, und ich hatte es nicht gemerkt. Ich blieb sitzen, bis der Fahrer »Endstation!« rief. Dann stieg ich aus. Jemand berührte meine Schulter. Erschrocken drehte ich mich um. »Ich bin Dini Hannink. Wie heißt du?« »Annie de Leeuw.« »Setz dich auf den Gepäckständer, ja? Wir fahren los.« Mit der einen Hand hielt ich meinen kleinen Koffer, mit der anderen hielt ich mich an Dinis Jacke fest. Das war also Usselo. Es schien nur aus einer Dorfstraße zu bestehen, an der ein paar Bauernhöfe und eine Bäckerei lagen. »Siehst du das Haus da rechts? Da wohnen wir«, sagte Dini und radelte in die offene Garage hinein. Ich rutschte vom Rad. Dini schob es in eine Ecke. Ein langhaariger weißer Hund kam hereingerannt. Ich lachte. Großartig, sie hatten einen Hund. Ich folgte dem Hund aus der Garage, aber Dini stürzte hinter mir her und hielt mich zurück. »Bleib hier drin, damit dich niemand sieht.« Damit mich niemand sieht? Ich biß mir auf die Lippen. Beschämt trat ich zurück in die Garage. Erst als Dini sich vergewissert hatte, daß niemand uns beobachtete, liefen wir hinüber ins Haus, wo Herr und Frau Hannink mich erwarteten. Sie führten mich in ein Zimmer im ersten Stock... Dort saß Sini auf dem Bettrand. Stumm schauten wir aus dem Fenster. Es ging auf den Garten hinter dem Haus. Wir schauten im Zimmer herum. Wir betrachteten die geschlossene Tür. Sini schaute lange auf ihre Uhr. Sie runzelte die Stirn, hielt die Uhr ans Ohr und seufzte. Mußten wir Tag und Nacht hier in diesem Zimmer bleiben? Sini hatte recht. Das war kein Leben. Wir brauchten nicht lange, um unsere wenigen Sachen auszupacken, aber wir gerieten dabei in Streit. Sini war nicht gerecht. Ich brauchte schließlich auch ein bißchen Platz. Die Schublade gehörte beiden. Finster starrte ich den ganzen Nachmittag zum Fenster hinaus. Als Sini »Gute Nacht« sagte, antwortete ich ihr nicht. Warum sollte ich? Aber später schob ich meine
Hand zu ihr hinüber.
Ihre Sachen waren größer als meine und brauchten deshalb mehr Platz,
mußte ich mir eingestehen.
Wann sollten wir hier aufstehen? Sini sagte, das sei ganz egal, aber
schließlich konnten wir doch nicht den ganzen Tag im Bett liegen. Ich
öffnete die Vorhänge. Gestern war mir nicht
aufgefallen, wie viele Obstbäume es hinter dem Haus gab. Ich stellte mich
an die rechte Seite des Fensters, legte die Wange an die Scheibe und kniff
ein Auge zu, damit ich besser sehen konnte, was auf der linken Seite war.
Noch mehr Bäume. Ärgerlich ging ich wieder ins Bett.
»Was meinst du, wann die Hanninks aufstehen?« fragte ich.
»Wir sollten Frau Hannink sagen, daß wir die Zimmer hier oben sauber machen«, antwortete Sini. »Sie müßten eigentlich bald aufstehen; Dini muß in die Schule«, sagte ich. »Geht Herr Hannink nicht zur Arbeit? Wie spät ist es?« »Annie, hör auf, mich immerzu zu fragen, wie spät es ist!« Sini sprang aus dem Bett, nahm ihre Armbanduhr ab und legte sie auf die Kommode. »So, jetzt kannst du selber nachsehen!« Jemand ging durch den Flur. Ein Türriegel klinkte. Ich stand auf, lief zur Kommode und schaute auf die Uhr. »Sieben Uhr! Jetzt wissen wir, wann sie aufstehen.« Natürlich, sie mußten ja aufstehen. Sie hatten zu tun, so wie wir früher. Ehe all diese Plakate an dem Baum hingen, waren wir im Sommer an die Küste, ans Meer gefahren. An heißen Tagen rollte Vater seine Hosenbeine hoch und ging am Rand des Wassers entlang. »Komm, Sophie, es ist gar nicht kalt«, rief er dann. Aber Mutter blieb immer in ihrem Liegestuhl und lächelte. Vater ging näher an das Wasser heran, noch näher, bis es ihm über die Zehen schwappte. Dann zog er den Fuß schnell zurück. Wenn eine Welle heranrollte, wich er flink zurück. Ein paar Minuten später kam Vater zu Mutter zurück. »Nun komm schon, Sophie, ich ziehe dich rein.« Dann lachte Mutter, aber sie rührte sich nicht. »Du versäumst etwas, Sophie. Das Wasser ist schön warm,« Mutter lachte noch lauter. Vater zog seinen Liegestuhl neben den ihren, und sie unterhielten sich. Sie schrien sich nicht an, sie stritten nicht. Sie sprachen nett miteinander. Ob Rachel Mutter auch erzählte, wir seien in einem guten Hotel? »Sini, was meinst du, was sie ihr gesagt hat?« »Etwas ähnliches.«
»Aber ob Mutter ihr das glaubt, Sini?« »Das würde mich nicht wundern«, antwortete Sini. »Mutter hat niemals begriffen, daß Hitler die Juden wirklich verfolgt. Wenn sie das begriffen hätte, dann wären wir nach Amerika gegangen, als das noch möglich war.« Ich erinnerte mich an die aufgeregten Stimmen: »Sophie, wir müssen weg! Amerika ...« »Hast du nicht gemerkt, daß Vater Angst hatte, Annie?« Vater und Angst haben? »Er hat keine Angst, Sini!« schrie ich beinahe. »Natürlich hat er Angst, denn sonst wäre er jetzt in Winterswijk und würde sein Leben riskieren. Nicht Rachel. Hast du denn früher nie gemerkt, wenn er Angst hatte?« Wie konnte Sini so etwas sagen? »Nein.« »Ich schon. Jedesmal, wenn ein Bauer nicht bezahlen wollte, dann mußte ich hingehen und versuchen, das Geld herauszuholen. Vater hat sich einfach nicht getraut, das Geld selbst zu verlangen. Und dann ist er auch noch wütend auf mich geworden, wenn ich nur eine Ratenzahlung mit nach Hause gebracht habe.« Ich sah Sini ärgerlich an. Wenn Vater sie schon zum Kassieren schickte, dann mußte sie auch alles Geld mitbringen, was der Bauer ihm schuldete. Und warum mußte diese Unterhaltung über Geld sie an mein Rechenbuch erinnern? »Es ist viel zu früh, Sini. Wir haben noch nicht einmal gefrühstückt!« Frau Hannink erzählte uns, daß ihr Mann im Obstgarten ein unterirdisches Versteck baue. »Dort könnt ihr beide bleiben, falls es hier im Hause zu gefährlich wird.« Ich stellte mir das ganz spannend vor, einmal unter der Erde zu hausen. Hoffentlich zeigte Herr Hannink uns das Versteck. Ich sah Sini lächelnd an; fand sie das nicht auch interessant? Aber Sini hatte scheinbar gar nicht zugehört. Sie lief im Zimmer auf und ab und drohte dem Fenster mit der Faust. »Ich will raus ... raus!« Aber wir waren erst seit einem Tag und einer Nacht in diesem Zimmer. »Ich glaube, ich kann es aushaken, wenn es nur über den Winter dauert/Aber im Frühling, wenn wir immer noch hier sitzen, werde ich verrückt, Annie, hast du gehört?« Ich hatte es gehört. Im Frühling wollte ich auch wieder hinaus, um mit Fritz auf die Bäume zu klettern. »Und ich muß im Sommer braun werden. Ich sehe gräßlich aus, wenn ich nicht braun bin. Annie, sag mir...« Welche Antwort erwartete sie jetzt von mir? »Sag mir mal ganz ehrlich: Bin ich häßlich mit diesen roten Haaren und ohne Augenbrauen?«
Ich mustere Sini kritisch. »Du bist hübsch. Ehrlich. Ich wollte, ich würde so aussehen wie du.« Es würde leichter sein, wenn Rachel auch kam. Ich ging wie zufällig an der Kommode vorbei und warf einen verstohlenen Blick auf die Uhr. Vielleicht erlaubte Frau Hannink, daß der Hund zu uns heraufkam. Als sie und Dini kamen, um sich eine Weile mit uns zu unterhalten, fragte ich sie. »Natürlich«, antwortete sie, und Kees kam. Er wedelte mit dem Schwanz, ließ sich streicheln und rannte dann zur Tür hinaus. Bobbie hätte das nicht getan. Er wäre bei mir geblieben. Ich schaute unglücklich zum Fenster hinaus. »Du hast Glück, weil du heute im Haus bleiben kannst«, sagte Dini. »Es ist scheußlich draußen. Ich wollte, ich könnte bei euch bleiben.« Aber sie mußte zur Schule. Ich wäre heute sogar gern in die Schule gegangen, wenn ich nur hinaus gedurft hätte. Dini hatte recht. Der Wind heulte. Hin und wieder riß er einen vergessenen Apfel vom Baum. Plopp. Mutter starb. Fräulein Klein rief Herrn Hannink an und sagte es ihm. Wir hatten gewußt, daß Mutter bald sterben mußte, aber es tat trotzdem weh, als er es uns sagte. Sini und ich setzten uns auf das Bett und weinten. Ich fragte mich, ob Großmutter es wohl erfahren hatte, oder ob sie schon mit Onkel Phil, Tante Billa und Hannie fortgebracht worden war. Jetzt kam Rachel; sie mußte kommen. Vielleicht war sie schon unterwegs. Aber Rachel kam nicht, weder heute noch später. Sie hatte sich bei anderen Leuten versteckt, und wir wußten nicht einmal, wo und warum. Herr Hannink sagte, Pastor Zwaal hätte am Telefon nicht mehr dazu sagen können. Und Sini und ich hatten sogar schon unsere Sachen zusammengeräumt, damit Rachel eine Schublade für sich allein haben konnte. »Mein Gott, warum muß ausgerechnet ich hier mit dir festsitzen?« rief Sini. »Ich wollte auch, du wärest nicht hier«, sagte ich wütend. »Ich wäre viel lieber bei Rachel.« Aber dann ging ich doch zu Sini, setzte mich auf ihren Schoß, versteckte das Gesicht an ihrem Hals und schluchzte. »Weine nicht«, sagte Sini. »Ich werde schon auf meine kleine Schwester aufpassen.« Sini nahm den Kalender, den Herr Hannink uns gegeben hatte und hing ihn über das Bett. Heute war der 12. November 1942. Wie lange waren wir schon hier? Ich konnte mich nicht mehr genau erinnern. Vielleicht mußten wir für immer und ewig hier bleiben. Sini hatte mir einmal
erzählt, daß es vor langer Zeit einen Krieg zwischen Holland und Spanien gegeben hatte, der achtzig Jahre lang dauerte. Achtzig Jahre. Dann wäre ich neunzig und Sini hundert Jahre alt. Sini trat vor den Kalender und strich die ersten elf Tage des Novembers durch. Elf schwarze Kreuze. Das war wirklich einfach: Man brauchte die Tage nur durchzustreichen, einen nach dem ändern. Ich lief unruhig im Zimmer herum und stolperte jedesmal über den Teppich. Ich preßte das Gesicht an die Fensterscheibe. »Sini, komm mal her. Ich glaube, ich weiß, wo das Versteck im Garten ist.« »Wo?« »Da drüben, zwischen den Bäumen. Siehst du, wie der Boden da ein bißchen höher ist?« Ich wollte, ich wäre jetzt dort drin, damit ich später davon erzählen könnte. »Rate mal, wo ich war. Du kommst nie darauf. Ich habe unter der Erde gelebt. Ja, ganz bestimmt, unter der Erde. Ein Grab? Nein, natürlich kein Grab. Aus einem Grab kommt man schließlich nicht raus. Ein bißchen war es schon wie in einem Grab, nur war ich lebendig.« Fritz Dropper würde mit weit offenem Mund dastehen und mich anstarren, wenn ich ihm dies erzählte. Warum konnte ich nicht in den Garten laufen und mir das Grab wenigstens einmal anschauen? Manche Leute hatten eben Glück; so wie die beiden Juden, die jetzt in dem Unterstand im Garten waren. Herr Hannink hatte sie letzte Nacht in das Versteck gebracht. »Sie bleiben dort, bis ich sie in ihr richtiges Versteck bringen kann«, sagte er. Als ob der Unterstand kein richtiges Versteck wäre! Warum brachte er uns nicht da hinein und ließ die anderen hier im Zimmer schlafen? Und wieso brachte er immerzu neue Juden? Nun, ich hatte nichts dagegen; bis eben auf den Umstand, daß die neuen in den Unterstand durften und ich nicht. Herr Hannink sagte, sie müßten dort bleiben, bis er »ein Heim« für sie gefunden habe. Wahrscheinlich wollten sie gar kein Heim haben; ich jedenfalls wollte das nicht. Ich wollte einen Keller, einen Unterstand, einen Bunker im Garten! Es wurde Dezember, und ich hoffte jeden Tag, es würde schneien. Eines Tages war es soweit. Winzige weiße Schneeflocken wirbelten herunter. Ich versuchte, mir eine Flocke auszusuchen und ihren Weg mit den Augen zu verfolgen. »Sini, laß mich ein bißchen hinaus, nur dieses eine Mal! Es schneit!« Ich schaute zu ihr auf. Was konnte schon passieren, wenn ich ein einziges Mal hinausging? »Sini, bitte!« »Du weißt genau, daß das unmöglich ist, du kannst dir höchstens ein paar Schneeflocken hereinholen.«
Sini öffnete das Fenster einen Spalt. Ich streckte die Hand hinaus, um ein paar Schneeflocken aufzufangen. Schade, sie schmolzen sofort. Ich setzte mich aufs Bett. Ich hörte Dini die Treppe heraufkommen. Sicher war sie voller Schnee. »Soll ich dir einen Schneemann machen?« fragte sie. »Oh, gerne, Dini.« Sie rannte die Treppe hinab. Ich ging zum Fenster. Da war Dini schon und begann, einen Schneeklumpen durch den Garten zu rollen. Der Schneeklumpen wurde größer und größer, aber er war nicht gleichmäßig geformt. Meine Hände hantierten an der Gardine herum. Dini wälzte den Schneeball unter dem Fenster auf einen Standplatz. Sie schob ihn gegen einen Baum. Jetzt noch einen kleineren Ball als Kopf. Was für eine komische Form! Der Schneemann bekam einen spitzen Kopf. »Sini, schau. So ein schöner Schneemann!«'Aber er sollte noch einen Hut haben. Wo war Dini? Vielleicht war sie ins Haus gelaufen, um einen zu holen? Hoffentlich. Ja, sie hatte einen. Ich lachte und winkte ihr zu. Ein großartiger Schneemann. »Hast du kalte Hände?« fragte ich hinter der Fensterscheibe, als Dini aufschaute. Sie konnte es nicht hören. Ich hielt mir die Hände vor den Mund, blies hinein, rieb sie und steckte sie unter die Achseln. Ja? Dini nickte. Sobald ich am nächsten Morgen aufwachte, zog ich die Vorhänge auseinander. Der Schneemann war noch da, aber er war kleiner geworden. Der Hut war ihm über die Augen gerutscht. Er schaute traurig aus. Es wurde Weihnachten, obwohl Sini versichert hatte, dieses Jahr würde niemals zu Ende gehen. Die Hanninks bekamen Besuch. »Ihr dürft keinen Ton von euch geben, solange sie da sind«, sagte Frau Hannink. Natürlich nicht. Das wußte ich doch längst. Zerstreut spielte ich mit dem Stuhl. »Annie, hör auf«, warnte Sini. Womit sollte ich aufhören? Meine Hand lag auf der Stuhllehne, und ich ließ ihn auf zwei Beinen vor- und rückwärts wippen. »Du weißt, was Frau Hannink gesagt hat.« »Ja«, antwortete ich flüsternd, die Hand noch immer auf der Lehne. Und dann fiel der Stuhl um. Sini packte meinen Arm. Aus dem Erdgeschoß war kein Ton mehr zu hören. Und dann fingen Herr und Frau Hannink an, laut zu lachen. Ihr habt gut lachen, dachte ich ärgerlich. Aber das dachte ich nicht mehr, nachdem Herr Hannink mit mir gesprochen hatte, als der Besuch gegangen war. Niemand durfte ahnen, daß die Hanninks in ihrem Haus Juden versteckten. Wenn irgend jemand das auch nur vermutete und es der Polizei meldete, kamen die Deutschen und machten eine Haussuchung. Und wenn sie uns dann fanden,
wurden wir alle, wir und die Hanninks, nach Mauthausen oder in ein Konzentrationslager in Polen verschleppt. Meine Lippen zitterten. Ich wollte nichts mehr von diesen Lastwagen hören, die die Menschen abholten. Ein paar Tage später sagte Herr Hannink uns, daß er verdächtigt werde. Es hatte nichts mit dem umgefallenen Stuhl zu tun. Er hatte ein jüdisches Kind abgeholt und zu einer anderen Familie gebracht. Alles war gut gegangen; es war dunkel gewesen, und das Kind hatte kein Wort gesagt. Aber auf dem Rückweg war ein deutscher Soldat Herrn Hannink gefolgt. »Ich glaube nicht, daß er mir bis nach Hause gefolgt ist«, sagte Herr Hannink. »Vielleicht ist er mir ohne Absicht gefolgt, aber auf jeden Fall ist es besser, wenn ihr für eine Weile verschwindet. Wenn sich eine oder zwei Wochen lang nichts ereignet, könnt ihr zurückkommen.« »Wohin sollen wir gehen?« fragte Sini. »Auf einen Bauernhof in der Nähe«, sagte Herr Hannink, »aber ich kann euch erst morgen abend dorthin bringen.« Bis dahin mußten wir in den Unterstand im Garten, falls es eine Haussuchung gab. Sini und ich packten unsere Sachen. Endlich durfte ich in den Unterstand. »Sini, ich finde das toll. Ich wollte, wir dürften länger als einen Tag drin bleiben. Meinst du, es ist stockfinster und ...« »Sei still«, sagte Sini erschöpft. »Weißt du, was heute für ein Tag ist? Silvester! Den Kalender lassen wir hier. Vielleicht kriegen wir einen neuen für 1943.« Ich schaute ungeduldig auf die Armbanduhr, die Sini mir geliehen hatte. Herr Hannink hatte gesagt, er käme in einer halben Stunde wieder. Wo blieb er nur? Ich war fertig. Leise folgten wir Herrn Hannink die Treppe hinunter. Frau Hannink gab
uns eine Tüte. »Ein paar Butterbrote. Auf Wiedersehen in einer Woche,
Kinder. Höchstens in zwei.«
»Auf Wiedersehen, Frau Hannink.«
Es war kalt draußen. Wir gingen dicht hinter Herrn Hannink her. Endlich durfte ich den Unterstand sehen. Herr Hannink blieb stehen. Er bückte sich und schob ein paar Zweige beiseite. Eine Öffnung wurde sichtbar. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe hinein. »Kommt«, flüsterte er. Sini ging als erste hinein; sie hielt mich bei der Hand. Vorsichtig machte ich ein paar Schritte vorwärts und nach unten. Herr Hannink leuchtete den Raum mit der Taschenlampe aus. Er war
lang und niedrig; die Seiten und die Decke waren mit Holzbrettern bedeckt. Auf dem Boden lagen Decken. Ich schob sie mit dem Fuß beiseite, um zu sehen, was darunter war. Auch Bretter. In der Ecke stand ein Nachttopf. »Ich hole euch morgen abend gegen elf. Also, gute Nacht. Ihr könnt die Taschenlampe brennen lassen, solange ihr wollt. In der Kiste da sind noch mehr Batterien.« Herr Hannink ging hinaus. Er schob die Zweige wieder an ihren Platz. Es war nicht kalt, es roch nur ein bißchen feucht. Wir legten die Taschenlampe zwischen uns auf den Boden und wickelten uns in die Decken ein. Wohin würden wir morgen abend gebracht? Zu Bauern, die Osterveld hießen, aber wer waren sie? Und wenn sie nicht nett zu uns waren? Das war doch möglich. Jetzt war ich endlich in dem Unterstand, doch gefiel er mir nicht. An einem Loch im Boden war nichts Besonderes dran. Ich wollte am liebsten wieder hinaus. Ob die Decke einstürzen konnte? Ich hob die Arme. Dicht über meinem Kopf waren Äste ineinander verflochten. Sie fühlten sich kalt an. Was passierte, wenn jemand darauf trat? Oder darüber fiel? Was sollten wir dann sagen? Ich trat wieder zu Sini. Zögernd setzte ich mich neben sie. »Willst du bis Mitternacht aufbleiben?« fragte ich sie. »Wozu ? Was sollen wir bis dahin machen ? Willst du, daß ich dir dann ein gutes neues Jahr wünsche? Wenn kein Krieg wäre, wäre ich heute abend auf einem Silvesterball. Ganz bestimmt! Doch hier ist es völlig sinnlos, bis Mitternacht wachzubleiben. Je schneller diese Nacht vorübergeht, desto besser.« Es war beinahe unmöglich, es in dem Unterstand auszuhalten. Ich hatte nie zuvor gewußt, daß vierundzwanzig Stunden so lang sein können. Wir versuchten, soviel wie möglich zu schlafen. Dann verging die Zeit schneller. Endlich wurden die Zweige vor dem Eingang beiseite geschoben. »Seid ihr bereit, Mädchen?« Ich schob den Kopf aus der Öffnung. Ja, ich war bereit. Die Deutschen waren nicht gekommen, sagte Herr Hannink. »Aber vielleicht warten sie eine Weile und meinen, dann rechne ich nicht mehr mit einer Haussuchung und werde unvorsichtig. Ich kenne sie. Kommt jetzt.« Es war sehr dunkel. Wir stolperten. Herr Hannink nahm mich bei der Hand. »Gib Sini die andere Hand. Wenn wir auf der Straße sind, geht es leichter.«
In der anderen Hand trug er unseren Koffer. Herr Hannink ging ein paar Schritte voraus. Wir erreichten die Straßenecke. Herr Hannink war schon um die Ecke gebogen. Hier gab es keinen Bürgersteig mehr, nur einen Graspfad. Wir gingen schneller. Kein Mensch war unterwegs. Aber aus der Ferne war das Brummen vieler Flugzeuge zu hören. Wahrscheinlich kamen sie aus England und waren auf dem Weg nach Deutschland, um dort die Städte zu bombardieren. Manchmal wurden sie von deutschen Flugzeugen gejagt, und man konnte hören, wie sie aufeinander schössen. Fliegeralarm... das hätte uns gerade noch gefehlt! Dann mußte man sofort von der Straße verschwinden. Ob Sini auch daran dachte, daß wir jetzt zum erstenmal seit zwei Monaten draußen waren? Es war unheimlich. Ich hielt ihre Hand sehr fest. Herr Hannink blieb stehen, schaute sich um, und hieß uns mit einer Kopfbewegung näherkommen. Er öffnete ein Holzgatter. Wir erkannten die Umrisse eines Hauses. Herr Hannink stellte den Koffer ab und drehte sich zu uns um. »Wartet einen Augenblick«, flüsterte er. Er klopfte an eine Tür und trat ein. Die Tür öffnete sich kurz darauf. »Kommt!« sagte Herr Hannink leise. Die Tür schloß sich hinter uns. Jemand drehte den Schlüssel herum und schaltete das Licht ein.
5 »Das sind die Ostervelds, und das sind Sini und Annie«, sagte Herr Hannink. Sini und ich traten einen Schritt vor. Ich hielt einer alten Frau die Hand hin und sagte: »Guten Abend, Frau Osterveld.« Die alte Frau lachte. »Oh-Gott-oh-Gott-oh-Gott, Frau!« Ich gab der jüngeren Frau die Hand und sagte wieder: »Guten Abend, Frau Osterveld«, aber diesmal zögernder. Sie lachte auch. »Wir sind einfache Leute, du kannst uns beim Vornamen nennen«, sagte der Mann. »Ich heiße Johann, und das ist Heleen, meine Frau, und das ist meine Mutter. Zu ihr kannst du Oma sagen.« Er wandte sich an Herrn Hannink: »Also, in einer Woche holen Sie sie wieder?« »Ja, höchstens zwei Wochen«, antwortete Herr Hannink. »Ist gut. Vergessen Sie es nicht.« Johann knipste das Licht aus, schloß die Tür auf, und Herr Hannink schlich hinaus. »Also, laß dich mal ansehen. Lieber Himmel, bist du ein kleines Ding«,
sagte Oma. »Wie alt bist du?« »Fast elf.« Ich schaute mich um. Wir waren in der Küche. In der Mitte stand ein eiserner Küchenherd. Es gab zwei Fenster, vor denen schwarze Vorhänge hingen wegen der Verdunkelung. Ich trat näher an den Herd heran; hier war es schön warm und trocken. »Wollt ihr eine Tasse Kaffee haben?« Heleen holte zwei Tassen und trat an den Herd, auf dem eine Kaffeekanne aus Email warmgestellt war. »Ich glaube, Annie sollte lieber keinen Kaffee trinken«, sagte Sini. »Ist sie krank?« »Nein, aber sie ist zu klein für Kaffee.« »Kaffee hat noch nie jemandem geschadet«, antwortete Heleen gelassen und füllte zwei Tassen. »Der da bestimmt nicht«, sagte Oma. »Da sind nicht viel echte Kaffeebohnen drin. Es ist bloß Ersatz. Zichorie. Ich habe dir ja immer gesagt, du sollst Kaffee hamstern, solange es noch welchen gibt. Aber du hörst ja nie auf mich.« »Du hast gut reden, hamstern«, murmelte Heleen. Sie sah verärgert drein. Ich hielt die Tasse mit beiden Händen und schlürfte langsam. Der Kaffee schmeckte scheußlich, aber ich fühlte mich sehr erwachsen. Ich beobachtete Heleen. Sie hatte riesige Hände. Ich starrte fasziniert darauf. Auch Johanns Hände waren groß und rot. Und sein Gesicht. Sein braun-graues Haar wuchs kerzengerade in die Höhe. Er glich Oma überhaupt nicht; sie war klein und rund und hatte alte, knotige Hände und eine Warze an der rechten Schläfe. Sie trug ein langes schwarzes Kleid mit langen Ärmeln und darüber eine schwarze Schürze mit grauen Blumen. Verlegen senkte ich den Blick. Es war unhöflich, jemanden so anzustarren. Sini und Johann unterhielten sich über den Krieg. »Weißt du was?« sagte Johann. »Ich habe mein Radio nicht abgeliefert.« Die Ostervelds hatten auch ein Radio? Dann würde mir wieder keiner zuhören. »Pssst!« würden sie immerzu sagen, genau wie zu Hause. »Nein, so blöd war ich nicht. Und abends höre ich Nachrichten aus England, in holländisch. Das sind die richtigen Nachrichten. Die verdammten Zeitungen hier drucken ja lauter verdammte Lügen.« Zweimal »verdammt« in einem einzigen Satz! Ich vergaß, daß ich mich eigentlich über das Radio ärgern wollte. »Ein Beispiel: Die Zeitungen behaupten noch immer, wie prima sich die deutsche Armee in Rußland hält. Und wenn sie eine Stadt aufgeben muß, dann sagen sie, das ist ›eine Frontbegradigung aus taktischen Gründen‹. Alles Scheiße.« »Johann, sage nicht solche Ausdrücke.« Seine Frau schaute ihn tadelnd an. »Was sollen die Mädchen von dir denken ?«
»Das ist mir egal. Jedenfalls erzählt das Radio in London etwas ganz anderes. Eine Niederlage ist eine Niederlage.« »Johann, die Mädchen sind sicher müde. Laß sie schlafen gehen.« »Schon gut, Mutter. Wir gehen alle rauf.« Wir gingen durch ein ziemlich großes Zimmer mit einer roten Plüschdecke auf dem Tisch, hochlehnigen Stühlen und Familienphotos an den Wänden. »Die Treppe ist hinter der Tür da.« Wir gingen hinauf. »Und hier schlaft ihr«, sagte Johann. Das Zimmer war klein, und es standen ein Ofen, zwei Stühle und ein großes Bett darin. Johann zeigte auf das Bett. »Annie kann bei Heleen und mir schlafen«, sagte er, aber es war nicht breit genug, damit auch noch Sini Platz hatte. »Sie muß auf einer Matratze auf dem Boden schlafen. Und wenn nachts eine Kontrolle kommt, schmeißen wir Sinis Bettzeug schnell auf unseres, damit niemand merkt, daß hier noch zwei mehr schlafen.« »Und wo bleiben die Mädchen?« fragte Heleen. »Unter dem Bett, Frau.« »Gute Nacht, Mädchen.« Oma stand unter der Tür. Sie ging in ihr Zimmer nebenan. »Ich habe euch gleich gesagt, wir sind einfache Leute«, sagte Johann. »Bei uns geht es nicht so fein zu wie bei den Hanninks. Wir haben kein Klo im Haus, es ist draußen im Hof, und da könnt ihr nicht hin. Ihr müßt eben auf den Nachttopf gehen.« Johann zog seine Socken, seine Kordsamthosen und sein Hemd aus und stieg in der Unterwäsche ins Bett. Heleen legte sich neben ihn. »Johann, rutsch hinüber, sonst hat Annie keinen Platz.« Ich kletterte neben Heleen ins Bett. Sie hob die Hand und zog an einer Schnur. Sofort war das Zimmer dunkel. Ich lugte über den Bettrand auf den Boden, wo Sini lag. Ich streckte die Hand aus, bis ich Sinis Haar berührte. »Gute Nacht.« »Gute Nacht, Kleines.« Am Rand der schwarzen Jalousien kroch ein wenig Mondlicht herein. Johann schnarchte auf der anderen Seite des Bettes. »Johann, schnarch nicht so! Was sollen die Mädchen von dir denken?« sagte Heleen. Die Ostervelds waren nett. Mitten in der Nacht, so kam es mir wenigstens vor, rasselte der Wecker. »Johann, aufstehn!« rief Oma aus ihrem Zimmer. Nichts rührte sich. Ich zog mir das Federbett über die Ohren. Heleen stützte sich auf dem Ellbogen auf und schaute auf den Wecker. »Johann, hast du den Wecker nicht gehört? Aufstehen !« »Das ist das einzige, was ich von euch Frauen höre. Johann, aufstehen!
Johann, geh melken! Johann, du mußt die Schweine füttern! Warum stehst du nicht selber auf und hilfst mir?« »Sei still, du weißt doch, daß ich morgens früh immer ganz kaputt bin.« »Ich gehe ja schon, Frau.« Johann hob das Federbett hoch, gab seiner Frau einen gutmütigen Klaps auf das Hinterteil und setzte sich auf. Er
tastete nach seinen Kleidungsstücken. »Ich
kann meine Socken nicht finden. Ich muß das Licht anmachen.«
»Johann, es ist schon spät.« Oma machte die Tür auf; sie war schon
angezogen.
»Hör auf zu meckern. Die Kühe laufen nicht davon.«
Johann verließ das Zimmer und ging mit Oma hinunter. Heleen knipste
das Licht wieder aus und rutschte auf Johanns Seite. Es war schön, mehr
Platz im Bett zu haben. Ich schloß die Augen. Von unten waren Omas und
Johanns gedämpfte Stimmen und einige Geräusche zu hören, als sie den
Herd einheizten.
Die Ostervelds standen sehr früh auf. Zumindest zwei von ihnen. Eine Stunde später ging Heleen hinunter und kam kurz darauf mit Johann herauf. Sie sprachen auf der Treppe. »Johann, das lohnt sich nicht für die paar Tage. Hast du gehört?« »Laß ihn in Ruhe«, sagte Oma. »Er hat schon viel gearbeitet.« Sie kamen herein. Dieses Zimmer ginge auf die Dorfstraße hinaus, erklärte Johann. »Wir können die Vorhänge tagsüber nicht zu lassen. Den Nachbarn würde das sofort auffallen, und sie würden das komisch finden. Also geht um Gottes willen nicht ans Fenster!« Die Frauen nickten. »Wir haben noch eine Schlafkammer nach hinten«, fuhr Johann fort. »Aber die ist zu kalt im Winter, und wir können sie nicht heizen. Im Sommer ist sie gerade richtig.« »Aber sie bleiben doch nur zwei Wochen«, stotterte Heleen. »Dort hättet ihr mehr Platz«, fuhr Johann ruhig fort. »Mutter, wo gehst du hin?« »Frühstück für die Mädchen machen.« Heleen hatte offensichtlich auch nicht rechtzeitig schwarzen Tee gehamstert. Er schmeckte komisch. Gar nicht wie Tee. Aber er war schön heiß. Johann holte eine kleine Blechschachtel und ein Päckchen Zigarettenpapier aus der Hosentasche. Vorsichtig zog er ein Blättchen Papier heraus. Er öffnete die Schachtel, nahm ein wenig Tabak heraus und verteilte ihn auf dem Zigarettenpapier. Dann rollte er das Papier um den Tabak herum und leckte den Rand ab, damit er klebte. Er steckte sich die Zigarette in den Mundwinkel, zündete ein Streichholz an und nahm einen tiefen Zug.
»Johann, du mußt an die Arbeit«, drängte Heleen. Er antwortete nicht. Oma starrte auf Sinis Rock. Sie trat näher und berührte ihn. »Das ist ein guter Stoff. Der ist noch von vor dem Krieg, nicht? Heutzutage kriegt man nur noch schlechte Ware. Ich habe schon seit über zehn Jahren keine Sachen mehr gekauft.« »Mutter, beklagst du dich?« Oma wandte sich an uns. »Wie meine Schwester gestorben ist, habe ich all ihre Kleider gekriegt. Sie hatte lauter gute Sachen, solide Stoffe. Sie war anders gebaut als ich, aber das macht nichts bei einer alten Frau. Ich habe noch eine Menge Sachen, die ich überhaupt noch nie angehabt habe. Schöne Sonntagsschürzen. Ich habe so viel, daß es sogar für Heleen reicht, aber sie hat so moderne Ideen im Kopf, sie will sich ihre Sachen im Geschäft kaufen, fix und fertig.« Oma schaute verächtlich drein. Heleen tat so, als ob sie es nicht gehört hätte. Sini und ich aßen langsam unsere Brotscheiben; es war gutes, schmackhaftes Brot. »Das stimmt.« Oma wollte noch gerne weiter darüber reden. »Heutzutage heißt das Textilien. Hochgestochener Name. Zu meiner Zeit haben wir einfach Tuch gesagt. Textilien, das Zeug dauert nicht. Du meinst, du hast was Neues, und nach ein paar Jahren ist es schon alt.« Ich wagte es nicht, Sini anzuschauen. Wahrscheinlich mußte sie auch das Lachen verkneifen. »Schon gut, Mutter. Ich gehe jetzt arbeiten. Ich fahre jede Woche mit meinem Gaul und dem Wagen nach Bokelo in die Bleicherei. Von dem Hof allein können wir nicht leben. Vielleicht könnten wir es doch, wenn Heleen nicht so viel essen würde.« »Johann, was sollen die Mädchen von dir denken? Ich bringe euch Wasser rauf, damit ihr euch ein bißchen waschen könnt«, sagte Heleen und ging mit Johann hinunter. Ein Pumpenschwengel quietschte. Nach ein paar Minuten kam sie mit einer vollen Wasserschüssel herauf. »Bei den Hanninks muß alles sehr fein sein«, sagte sie. »Sie haben richtige Wasserhähne im Haus. Das erzählen wenigstens die Leute im Dorf.« Sie setzte sich auf das Bett. »Wißt ihr, wie gefährlich das für uns ist, daß ihr hier seid? Wir haben es noch nie gemacht, aber wenn die Hanninks einen um etwas bitten, kann man nicht nein sagen. Wir haben nicht mal ein Versteck für euch, wie die Hanninks«, fügte sie ängstlich hinzu. »Du wirst sehen, sie behalten uns keinen Tag länger, als sie unbedingt müssen«, sagte Sini, als Oma und Heleen gegangen waren. »Sie hat Angst. Sie wäre uns am liebsten heute schon los.« Wahrscheinlich hatte Sini recht, aber ich antwortete: »Vielleicht verliert sie mit der Zeit die Angst. Vielleicht streitet sie sich am Schluß mit Frau Hannink wegen uns. Nein, Frau Hannink, wir behalten sie.« Wäre das nicht komisch? Wir lachten und lachten. Heleen rief von
unten: »Um Gottes willen seid still, Mädchen!« Wir beschlossen nachzusehen, was es sonst hier oben noch gab. Wir lugten in Omas Zimmer. Sie schien im Sitzen zu schlafen, mit vier dicken Kopfkissen. Ihr Zimmer ging auch auf die Straße hinaus. Die Treppe war zum Teil mit einem roten Läufer bedeckt, zum Teil grün angestrichen. Wir schauten uns um. Die Wände waren auch grün. Die Ostervelds schienen die Farbe zu mögen. Die rückwärtige Schlafkammer war viel größer und hatte zwei Fenster. Wir traten an das eine. Blauer Himmel. Im Hof standen Schuppen und Ställe. Der Schuppen gleich neben dem Haus schien eine Art Werkstatt und Garage zu sein. Dahinter stand ein kleiner Schuppen, der wie ein Hühnerhaus aussah, und daneben ein niedriges, breites Gebäude. »Das ist sicher der Stall«, sagte Sini. »Ich glaube, ich kann die Kühe hören.« Auf der anderen Seite des Stalles stand noch ein Schuppen; dort schob Johann vielleicht seinen Pferdewagen hinein. Zwischen den Gebäuden standen Obstbäume. »Annie, komm, hier ist es zu kalt.« Heleen machte Feuer im Schlafzimmerofen. Sini fragte sie, ob sie irgendwelche Bücher habe. »Bücher?« Sie hörte auf, Holz in den Ofen zu schieben. »Was für Bücher?« »Irgendwelche. Zum Lesen.« »Warte mal, ich glaube, Johann hat eines. Ich werde ihn heute abend fragen. Wir müssen auch irgendwo eine Bibel haben. Meinst du die?« »Nein.« Wir lachten. Wir hätten uns bei den Hanninks etwas zum Lesen leihen sollen. »Ich lese auch, aber nicht jeden Tag. Manchmal lese ich die Zeitung. Johann liest sie jeden Tag. Er liest jedes Wort und behält es auch. Aber ich, ich vergesse es gleich wieder.« Mit einem verlegenen Blick verließ Heleen das Zimmer. Wir setzten uns neben den Ofen. »Oh Gott, wie lange noch?« stieß Sini seufzend aus. »Bis zum Frühling muß der Krieg endlich aus sein. Annie, meinst du, daß er dann aus ist?« Ich hatte diese Frage allmählich satt. Sini fragte mich das immerzu, und woher sollte ich das wissen? Ich freute mich, als Oma hereinkam. »Ich habe mir gedacht, ich setze mich hierhin und rede ein bißchen mit euch, wenn ich die Socken stopfe. Arme Dinger, den ganzen Tag eingesperrt.« Sie setzte sich schwerfällig. »Oh-Gott-oh-Gott-oh-Gott, was der Mensch nicht alles mitmachen muß!« »Oma, bist du krank?« riefen Sini und ich wie aus einem Mund. »Wieso?«
»Weil du gesagt hast, oh-Gott-oh-Gott-oh-Gott, was ...« »Habe ich das gesagt ? Das weiß ich gar nicht mehr. Nein, ich bin nicht krank. Aber das kommt schon noch.« Oma schob eine Hand in den schwarzen Socken. Ihre Knöchel ragten aus dem Loch. »Dieser Johann. Immer solch große Löcher.« Sie zog die Hand wieder heraus, wickelte einen Wollfaden von einem Knäuel, nahm eine der Stopfnadeln, die sie oben in ihren Schürzenlatz gesteckt hatte, schob die Brille auf die Nasenspitze herunter und versuchte, die Wolle in das Nadelöhr einzufädeln. Sie hielt die Nadel gegen das Licht. Ihre rechte Hand zitterte. Sie verfehlte das Nadelöhr. »Komm, ich fädle für dich ein, Oma.« »Nein, nein.« Sie versuchte es noch einmal. »Komm, ich mache es.« Sini stand auf und nahm ihr Nadel und Faden aus der Hand. »Ich werde ungeschickt. Danke, Sini.« »Vielleicht solltest du zum Augenarzt gehen.« »Unsinn. Ich habe ja schon eine Brille. Ich werde eben alt. Das ist es. Nein, in meinem Alter lohnt sich das nicht mehr, zum Augenarzt zu gehen. Was soll er schon sagen?« Oma beugte sich über den Socken. »Soll ich dir helfen?« fragte Sini. »Nein, deine Hände sind nicht an solche Arbeit gewöhnt.« »Oh, doch! Ich kann stopfen und nähen. Ich habe sehr kräftige Hände. Ich habe lange auf einem Bauernhof gearbeitet.« »Du hast auf einem Hof gearbeitet?« Omas Stimme klang, als ob sie Sini nicht glauben würde. »Bestimmt. Ich habe sogar die Melkerprüfung gemacht.« »Die Melkerprüfung? Gibt es das jetzt? Aber nicht hier, bei uns auf dem Dorf. Wir tun es einfach. Melkerprüfung. Oh-Gott-oh-Gott-oh-Gott! So was Verrücktes. Wenn ich für alles, was ich auf dem Hof mache, ein Zeugnis bekäme, hätte ich eine ganze Truhe voll. Kartoffel-setzen-Zeugnis. Mist-fahren-Zeugnis. Vieh-füttern-Zeugnis. Wieso hast du auf einem Hof gearbeitet?« »Weil mir die Arbeit Spaß macht.« Oma hörte auf zu stopfen und gab Sini den zweiten Socken. »Nein, so etwas.« Heleen kam herauf und brachte vier Tassen und eine Kanne mit. »Wir können alle zusammen hier oben Kaffee trinken. Bloß muß ich bald wieder runter, falls jemand kommt.« »Schließ doch einfach die Tür ab«, sagte ich. »Mitten am Tag?« Oma und Heleen lachten. »Wenn jemand kommt und
nicht herein kann, wißt ihr, was dann passiert? Ganz Usselo weiß das eine
Stunde später. Nein, das können wir nicht machen.«
Sie trank ihren Kaffee schnell aus. »Johann kommt in einer Stunde nach
Hause. Dann essen wir.«
»Der Ersatzkaffee ist gräßlich«, beklagte sich Oma und stand auch auf.
»Oh-Gott- oh-Gott-oh-Gott, was der Mensch nicht alles mitmachen muß.«
Johann roch nach Winterwetter. »Na, ihr Mädchen, wie geht es euch? Ihr
habt ein ganz schön faules Leben. Fühl mal.« Erlegte seine Hand an meine
Wange.
»Oh, wie kalt.«
Als er aus dem Zimmer ging, stieß er beinahe gegen Heleen, die mit einer
dampfenden Schüssel hereinkam. Sie legte zwei Gabeln auf den Tisch und
ging wieder.
»Was gibt es zu Mittag?« Wir schauten in die Schüssel. Kartoffeln, Bohnen und Fleisch. Sini spießte ein Stückchen Fleisch auf ihre Gabel und schnupperte. »Das habe ich mir gedacht: Schweinefleisch. Wir müssen es eben beiseite schieben. Hoffentlich kommt sie bald mit den Tellern.« Wir warteten und warteten. Bald dampfte die Schüssel nicht mehr. »Sini, ich glaube, Heleen hat die Teller vergessen. Hast du nicht gesehen, wie eilig sie es hatte? Können wir nicht ohne Teller essen?« »Du hast recht.« Sini schob das Fleisch auf die Seite und zog mit der Gabel eine Trennlinie. »Das ist für dich und das für mich.« Wir kicherten und kauten und aßen sorgsam um das Fleisch herum. Als Heleen die Schüssel holte und das Fleisch darin liegen sah, fragte sie: »Hat es euch nicht geschmeckt?« Sie sah unglücklich drein. »Wir sind Juden.« »Ja, ich weiß.« »Wir dürfen kein Schweinefleisch essen. Und das war doch Schweinefleisch, nicht?« »Ja. Aber was habt ihr denn bei den Hanninks gegessen?« »Kartoffeln und Gemüse, eben ohne Schweinefleisch.« »Aber anderes haben wir fast nie. Wir essen nur Schweinefleisch, und manchmal gibt es Speck und zu Weihnachten ein Huhn. Mutter, komm mal.« Ihre Stimme klang beunruhigt. Oma kam herauf. Heleen erzählte ihr, daß wir das Fleisch nicht aufgegessen hatten. »Sicher haben sie es liegengelassen, weil es nicht weich war. Ich habe es auch nicht kauen können«, sagte Oma. »Nein, Oma, wir haben es gar nicht versucht.« Sini war ein bißchen rot geworden. »Aber die Kartoffeln und die Bohnen, die sind im gleichen Topf gekocht
worden, zusammen mit dem Fleisch«, sagte Oma. »Und die habt ihr
gegessen. Also habt ihr auch Schweinefett gegessen.«
Ich sah Sini verlegen an.
»Ja«, sagte Sini zögernd, »das nächste Mal essen wir auch das Fleisch.«
Einige Tage verstrichen. Jeden Abend erinnerte Heleen ihren Mann daran,
daß er Herrn Hannink fragen müßte, wann er uns holen würde. »Ich habe
solche Angst, daß die Deutschen uns erwischen. Du weißt, was passiert ist,
als sie den Juden in Enschede gefunden haben.«
»Ja, ja, ich weiß, Frau.«
»Sie haben die Leute erschossen, bei denen er war. Wenn sie uns erwischen, dann geht es uns genauso.« Dann antwortete Johann jedesmal, daß er Herrn Hannink schon noch fragen würde. »Keine Angst, Frau. Ich weiß Bescheid.« Was wußte er? Ich wollte nicht zurück zu den Hanninks. Sini und ich waren gern auf Bauernhöfen. Johann, frage Herrn Hannink nicht. Und höre nicht auf Heleen. Und wenn sie uns wegschicken will, warum erzählt sie mir dann, daß sie mir aus einem ihrer alten Röcke ein Kleid nähen wird? Ein hübsches, buntgeblümtes Kleid. Will sie mir das Kleid zu den Hanninks hinüberbringen, wenn es fertig ist? Aber das wollte ich gar nicht; ich wollte hierbleiben. Als Heleen später wieder deswegen quängelte, verlor Johann die Geduld. »Rede endlich nicht mehr davon, verdammt noch mal!« Am nächsten Tag nahm Heleen mir Maß für das Kleid. Johann sagte, er wollte nicht mit Herrn Hannink sprechen. »Ihr beide bleibt hier.« Ich legte die Arme um seinen Hals. »Ich mag dich, Johann.« »Johann, du mußt die Kühe füttern«, sagte Heleen nervös. »Gehe du erst melken, dann komme ich. Verdammt, es ist Zeit für die Nachrichten. Kommt ihr mit runter?« Wir schlichen hinter ihm die Treppe hinab. Ehe wir ins Wohnzimmer traten, ging Johann voraus und in die Küche. Er schloß die Tür zum Hof ab und zog vor allen Fenstern die Verdunkelungsvorhänge zu. »Jetzt kommt.« Wir gingen durch das Wohnzimmer in den Flur. Johann stieg auf einen Stuhl. Er zog ein breites Brett aus der Decke und streckte den Arm in die Öffnung. Ein altes Radio kam zum Vorschein. Johann zog es bis zum Rand der Öffnung, ließ die Schnur herunterfallen und schob den Stecker in eine Steckdose. Eine Stimme im Apparat flüsterte: »Hier ist Radio Oranien.« »Pssst!« sagte Johann. Sini und Johann reckten sich, damit sie besser hören konnten. Die
richtigen Nachrichten. »Johann, Heleen hat gesagt, du hast ein Buch; können wir das haben?« fragte ich später. »Das ist langweilig für euch. Es ist ein Bauernkalender. Wir haben keine richtigen Bücher. Wir sind eben dumme Bauern.« »Aber Johann, du bist nicht dumm«, sagte Sini. Johann schaute zufrieden drein. »Ist wahr, es gibt dümmere Leute als uns. Wißt ihr was? Wir kennen den Pastor ziemlich gut. Er hat viele Bücher. Wenn Heleen hingeht, kann sie sich bei ihm ein paar ausleihen. Die Hanninks haben auch Bücher, aber zu denen will ich nicht gehen. Wenn die Deutschen sie jemals erwischen, dann schnüffeln sie bei jedem rum, der mit den Hanninks verkehrt hat. Ich muß vorsichtig sein, ich muß euch beide durch den Krieg bringen.« »Wir müssen ein Versteck für sie haben«, sagte Heleen. »Unter dem Bett, das geht nicht. Auch die Hanninks hatten ein richtiges Versteck.« Ich starrte sie mit großen Augen an. »Bitte keinen Unterstand im Garten. Ich ... ich hatte Angst.« »Ich baue keinen Unterstand«, sagte Johann. »Was nützt ein Versteck im Garten, wenn die Deutschen schon vor der Haustür stehen? Aber ich weiß ein prima Versteck. Frau, du wirst dich wundern.« Von da an arbeitete Johann an unserem Versteck. Er teilte den Wandschrank im Schlafzimmer in der Mitte der Schranktiefe durch, fügte eine Zwischenwand ein und baute in der vorderen Hälfte Ablagebretter ein. Endlich war das Versteck fertig. Johann rief uns alle ins Schlafzimmer. Er sagte, wir sollten uns das untere Brett genau anschauen. »Was soll daran sein? Da liegt Wäsche drauf, genau wie auf den anderen«, sagte Oma. Johann sah uns triumphierend an. Er nahm die Wäsche vom Brett und nahm es heraus; ebenso den unteren Teil der neuen Rückwand. Eine dunkle Öffnung zeigte sich: der Eingang zu unserem Versteck. »Dieser Johann«, sagte Oma stolz. Das lassen wir jetzt immer offen, damit die Mädchen sofort hinein können. Dann schieben wir die Rückwand und das Brett rein, legen die Wäsche drauf und machen die Schranktür wieder zu. Ganz einfach, nicht?« »Aber was machen sie, wenn sie allein im Haus sind? Wie kommt dann das Brett wieder rein?« fragte Heleen. »Daran habe ich schon gedacht. Einer von uns muß eben immer zu Hause sein. Außerdem kommen die Deutschen meistens nachts. Probiert das Versteck mal aus, Mädchen.«
Sini kroch zuerst hinein. Erst den Kopf, dann die Schultern. Sie rutschte ganz auf die Seite und ließ die Öffnung für mich frei. Wenn Sini da hineinkriechen konnte, konnte ich das auch. Dieses Versteck war nicht unter der Erde. Langsam kroch ich hinein. Aber auch in diesem Versteck war es stockfinster. »Sini!« flüsterte ich. Sini stand dicht neben mir. »Könnt ihr sitzen?« fragte Johann draußen. Wir versuchten es; wir hatten knapp Platz, wenn wir einander gegenüber saßen und unsere Beine nebeneinander legten. Ich kroch wieder heraus. Was für ein großes Zimmer wir doch hatten. Und wie schön hell es war. Johann sagte noch, daß wir jetzt »einsteigen« üben müßten, bis wir das blitzschnell und lautlos konnten. Es wurde früh dunkel. Richtige Winternachmittage. Sehr selten hörten wir ein Auto vorüberfahren. Die Leute darin mußten Mantel und Schal tragen. Wo war mein Schal jetzt? Wer trug ihn? Aber welchen Unterschied machte es schon, ob ich meinen Schal hier hatte oder nicht. Ich konnte ihn ja nicht benutzen. Ich durfte nicht hinaus! Es wurde dunkler.
6 »So, ich habe einen. Seid ihr jetzt zufrieden?« Oma kam mit einem Kalender in der Hand herein. Wir rissen ihn ihr beinahe aus der Hand. Ja, jetzt waren wir zufrieden; jetzt hatten wir einen Kalender für das Jahr 1943. Sini nahm sofort einen Bleistift und begann, einen Tag nach dem anderen durchzustreichen. Der größte Teil des Januars war schon verstrichen. Oma schaute Sini mit verwundertem Gesicht zu. »Warum verkritzelst du ihn gleich?« »Ich streiche nur die Tage durch.« »Warum?« »Nun, damit wir sehen, daß sie vorbei sind.« Oma betrachtete uns mißtrauisch. »Die Tage gehen sowieso so schnell vorbei. Schaut mich an. Ich bin einundsiebzig, am Sonntag.« »Diesen Sonntag?« »Ja. Tage durchstreichen.« Oma schüttelte noch immer den Kopf, als sie die Treppe hinunterging. Jetzt waren wir schon beinahe einen Monat hier, und wir wußten noch nicht einmal, wie das Haus ausschaute. »Johann, hast du ein Photo vom Haus?« »Ein was?« fragte er. »Wozu brauche ich ein Photo vom Haus? Ich sehe es doch jeden Tag. Vorn ist ein kleiner Garten mit Blumen, die Haustür ist
in der Mitte, und rechts und links davon sind noch zwei Zimmer, in denen ihr noch nicht wart. Wir benutzen sie nie. Ich zeige sie euch nach dem Krieg. Sie schauen beide auf die Straße hinaus. Die Haustür vorn benutzt auch kein Mensch. Wenn jemand kommt, geht er hinten herum und gleich in die Küche.« Wir hatten auch noch immer nichts zum Lesen. Und Johann hatte es doch versprochen ... Ich fragte ihn. »Morgen«, versicherte er. Am nächsten Morgen machte ich meine Rechenaufgaben sehr schnell. Warum zwang Sini mich dazu, jeden Tag eine Seite aus dem Rechenbuch zu machen? Sie war schließlich nicht meine Lehrerin, Ich kritzelte schnell. Ich wollte fertig sein, wenn Heleen wiederkam, damit ich dann sofort lesen konnte. Da war sie schon. Triumphierend öffnete sie ihre Einkaufstasche. »Ich habe ein Buch. Und schaut mal, was für ein dickes!« Sini nahm es aus der Tasche. »Tolstoi, ›Krieg und Frieden‹, las sie. »Vielen Dank. Was hast du ihm erzählt?« »Er hat mir selber aufgemacht und hat gesagt, ich solle reinkommen, und dann habe ich gesagt: Pastor, Sie wissen ja, mein Johann ist eigentlich ein ganz gescheiter Mann, und er möchte ein Buch lesen. Sehr schön, hat der Pastor gesagt, will er ein bestimmtes Buch haben? Nein, eigentlich nicht, und ich möchte auch nicht, daß sie vielleicht denken, wir wollen kein Buch kaufen, Herr Pastor, habe ich ihm erklärt, aber wir kommen jetzt nicht oft nach Enschede, und ich wüßte auch nicht, was ich nehmen soll. Und dann habe ich auf das allerdickste gezeigt und gefragt: Vielleicht sollte er das lesen? Und der Pastor hat gesagt: Ja, warum nicht, und hinterher, wenn er damit fertig ist, würde ich mich ganz gern mit ihm darüber unterhalten. Und dann habe ich gefragt, ob ich dann noch eines haben kann, wenn ich das hier zurückbringe. Natürlich, hat er gesagt.« Heleen kicherte vor sich hin, doch plötzlich wurde sie nachdenklich. »Ich wollte, ich hätte euch zwei Bücher mitbringen können, aber dann wäre er mißtrauisch geworden.« »Wir teilen uns das Buch. Das hast du großartig gemacht!« Es machte uns beinahe verlegen, wie glücklich sie war. »Annie, das ist kein Buch für eine Zehnjährige«, sagte Sini, als Heleen hinuntergegangen war. »Ich bin fast elf«, antwortete ich herablassend. Das sagte Sini nur, weil sie das Buch nicht mit mir teilen wollte. »Du meinst, das ist zu erwachsen für mich? Ha, du hast keine Ahnung, was ich schon alles gelesen habe.« Sie sollte sich ruhig Sorgen machen. Aber Sini lachte. »Schon gut, wir teilen.« Sini setzte sich mit dem Buch vor den Ofen. Jede durfte eine Stunde
lesen, dann wurde gewechselt. Ich wurde unruhig und schaute immer auf die Uhr. Sini war gerade zum dritten Mal an der Reihe, als Johann kam und sagte, daß es Zeit für die Nachrichten sei. Sini klappte das Buch sofort zu. Als ich ihr sagte, ihre Lesezeit sei um, hatte sie es nicht so eilig! Verdrossen ging ich hinter den beiden her. Ich hätte oben bleiben sollen. Dann hätte ich zehn Minuten länger lesen können. Warum war ich bloß mitgegangen? Johann und Sini standen auf einem Stuhl, ihre Köpfe verschwanden beinahe in dem Loch in der Decke, die Ohren dicht am Radio. Sini brauchte mich nicht; Sini würde mich niemals vermissen. Der Stuhl fing an zu quietschen. Die beiden tanzten darauf herum. »Lieber Gott!« flüsterte Johann mit aufgeregter Stimme. »Weißt du was? Die Russen haben Stalingrad zurückerobert! Die Deutschen sind geschlagen, und die Russen treiben sie immer weiter zurück. Komm;' ich hebe dich hoch, damit du es selber hören kannst!« Johann hob mich auf den Stuhl, und ich preßte das Ohr an das Radio. Ich wußte nicht, daß es auch Nachrichten bringen konnte, die Gutes für uns bedeuteten. »So, so?« sagte Oma höflich, als Johann ihr die Neuigkeit erzählte. »Und jetzt müssen sie davonlaufen, die armen Dinger.« »Aber Mutter, diesmal sind es die Deutschen, die laufen!« »Ich weiß, aber sie haben auch Mütter zu Hause«, sagte Oma. Wir lachten alle. Endlich konnten wir ein wenig lachen. Doch in der gleichen Nacht verging uns das Lachen wieder. Ich konnte nicht schlafen, weil so viele Flugzeuge auf dem Weg nach Deutschland über uns hinwegflogen. Ich vergrub den Kopf tiefer im Kissen und steckte mir die Finger in die Ohren. Was für ein gräßliches Getöse. Bitte werft die Bomben nicht hier ab. Johann sagte immer, das könnte jetzt jeden Tag passieren. In Enschede gab es Fabriken, die Ausrüstungen für die deutsche Armee herstellten, und die Engländer und die Amerikaner hatten schon Rotterdam und andere Städte in Holland bombardiert. Nach einiger Zeit flogen die Bomber höher. Die Sirene heulte wieder. Entwarnung. Für diesmal war es vorbei. Ich konnte nicht schlafen. Auch Sini wälzte sich herum. Ich kroch aus dem Bett. »Was ist los? Was hast du?« flüsterte ich. »Ach, heute abend, bei den Nachrichten, habe ich gedacht, vielleicht ist der Krieg doch bald zu Ende. Aber er geht überhaupt nie zu Ende, davon bin ich jetzt überzeugt. Ich werde mich hier verstecken müssen, bis ich alt
und häßlich bin.« Verlegen tätschelte ich ihr Haar. Und wenn Sini recht hatte? Geräuschlos kroch ich ins Bett zurück. Hatte es wirklich einmal einen Krieg gegeben, der achtzig Jahre lang dauerte? Oma hatte am nächsten Sonntag Geburtstag. Sie wurde einundsiebzig. Wir fragten Heleen, ob sie nicht nach Enschede fahren und etwas für sie kaufen könnte. Sie lachte uns aus. Erstens gab es in den Geschäften nichts mehr zu kaufen und zweitens gefiel Oma sowieso nichts, was aus der Stadt kam. »Aber schenkt doch Oma ein Stück Stoff, das Johann vielleicht in der Fabrik noch kriegen kann.« »Was macht Oma damit?« fragten wir. »Nichts. Sie legt es in den Schrank und hebt es auf«, sagte Heleen müde. »Sie trägt nur die Sachen ihrer verstorbenen Schwester.« Am Abend im Bett flüsterte Johann: »Wir sollten an Omas Geburtstag alle zusammen Mittag essen, und zwar unten.« »Aber Johann, die Mädchen.« »Die auch. Wir ziehen die Vorhänge zu.« »Aber das fällt auf, wenn wir bei Tag die Vorhänge zuziehen. Und an Omas Geburtstag kommt immer Besuch. Wenn jemand reinkommt, wenn wir beim Essen sind...« »Es ist noch nie jemand vor drei Uhr gekommen. Aber ich weiß was
Besseres. Wir machen die Gardinen nicht zu, wir machen das Gartentor
zu. Dann hören wir rechtzeitig, wenn jemand kommt, und die Mädchen
können nach oben verschwinden.«
Ich kuschelte mich unter die Decken. Das Leben hier war doch nicht so
langweilig, wie Sini dauernd behauptete. Wir konnten doch manches tun.
Nächsten Sonntag, zum Beispiel. Dann durften wir unten essen, und wir
brauchten nicht einmal zu warten, bis es dunkel war. Zufrieden schloß ich
die Augen. Geburtstage waren eine gute Erfindung.
»Alles Gute zum Geburtstag, Oma!« sagten wir am Sonntag morgen.
»Ja, ja, ein Jahr mehr. Und älter.«
»Aber Oma, du schaust gar nicht älter aus als vorher.«
»Nach dem Aussehen kannst du nicht gehen. Es kommt drauf an, wie
du dich fühlst.«
»Machst du dich heute fein, Oma?« fragte ich.
»Ich? Oh-Gott-oh-Gott-oh-Gott, mich fein machen. Wozu? Die Zeiten sind vorbei.« Aus der Küche stiegen gute Düfte bis zu uns herauf. Johann hatte gesagt, er würde ein Huhn schlachten. »Wenn ihr eines wie verrückt gackern hört, dann ist es das arme Vieh, das dran glauben muß.« Es war längst elf Uhr vorbei, als Johann uns endlich holte. Im
Wohnzimmer war der Tisch für fünf Personen gedeckt: Suppenteller, Löffel und Gabeln. Es waren sogar hübsche Teller, für jeden einer. »Ihr wundert euch? Ihr hättet nicht gedacht, daß ein Bauer so feine Sachen hat. Also, Mutter, auf dein Wohl.« Johann hob seinen Suppenlöffel. »Damit du hundert Jahre alt wirst.« Wir hoben auch die Löffel. »Hundert Jahre, ja, ja. Ich habe Glück, wenn ich noch ein Jahr lang lebe.« Langsam aß Oma ihre Hühnersuppe. »Nicht schlecht. Heleen, nur ein bißchen dünn.« Heleen blinzelte uns zu. Es machte Spaß, unten zu sein und aus einem Teller zu essen. Ich schaute mich im Wohnzimmer um. An einer Wand stand eine große Truhe und auf der Truhe ein paar bräunliche alte Photos. Wahrscheinlich Verwandte. An der Wand mir gegenüber hing ein gesticktes Bild mit einem Pferd und bunten Vögeln. »Heleen, du mußt mir eine Schürze nähen von dem Stoff, den die Mädchen mir geschenkt haben. Er ist hübsch.« »Ich nehm das Stück, das wir dir letztes Jahr gegeben haben. Er ist ganz genauso wie der, den du jetzt von ihnen gekriegt hast. Der Stoff wird nicht besser, wenn er herumliegt.« »Nein, der neue gefällt mir besser.« »Aber es ist fast das gleiche Muster wie der vom letzten Jahr. Und als ich ihn dir gegeben habe, da hast du ein Gesicht gemacht, als ob er dir nicht gefällt.« Heleens Gesicht hatte sich errötet. »Dir ist überhaupt nichts mehr recht, was ich mache.« Sie aß unruhig ihre Suppe auf. »Habt ihr aufgegessen, Mädchen? Johann, hilf mir das Essen reintragen.« »Was soll ich sonst noch alles machen?« brummte Johann, aber er stand auf und folgte ihr in die Küche. Er kam mit einer großen, schwarzen Pfanne zurück. »Warte, stelle sie nicht auf den Tisch, Johann, ich muß erst eine Zeitung darauf legen.« Sie wandte sich an Oma. »Was willst du haben? Ein Bein oder etwas anderes?« »Gib mir ein Stück, das ich leicht kauen kann. Vielleicht ein Stück Brust.« Heleen gab jedem Hühnerfleisch, grüne Bohnen und Kartoffeln auf den Teller. Mit einem Schöpflöffel goß sie braune Soße darüber. Eine Weile sagte niemand etwas. Johann hielt die linke Hand auf die Hüfte gestemmt und schaufelte mit der rechten das Essen in sich hinein. Auch Heleen aß eifrig. Aber sie unterbrach sich hin und wieder, nickte uns aufmunternd zu und drängte: »Eßt, Mädchen, eßt. Ihr seid so dünn.«
Oma hatte Mühe mit dem Kauen. Kein Wunder. Sie hatte nur ein paar Zähne. Aß sie mit dem Zahnfleisch? Ich beobachtete sie verstohlen. Sie steckte sich das Stück Fleisch in den Mund und sog daran. Nun war das Stück, das sie in der Hand hielt, schon ein wenig kleiner. Oma kaute und kaute. Ich fürchtete, sie würde mich dabei erwischen, wie ich sie beobachtete und wandte schnell den Blick ab. »Oma, warum läßt du dir kein Gebiß machen?« fragte ich nach einer Weile. »Viele Leute haben eines.« Sini trat mir auf den Fuß. Autsch. Warum tat sie das? Es war doch möglich, daß Oma einfach noch nie daran gedacht hatte, sich ein Gebiß machen zu lassen. »In meinem Alter? Das lohnt sich nicht. Ich kaue schon seit Jahren so. Ein Gebiß! Wenn Hendrik das wüßte! Willst du fühlen, wie hart meine Kiefer sind? Genau wie Zähne. Gib mir deinen Finger.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann es schon sehen, Oma.« »Das Huhn ist gut«, sagte Johann. »Ich hätte nicht gedacht, daß es so zart wird. Es war nicht mehr das jüngste.« Wir kauten alle. »Es schmeckt wunderbar«, sagte Sini anerkennend. Heleen strahlte vor Stolz. »Ja, sie kann gut kochen«, sagte Johann. »So schaut sie auch aus, nicht?« »Gibt es heute noch einen Nachtisch?« fragte Oma. »Ich habe einen Pudding gemacht, so wie du gesagt hast.« »Hoffentlich ist er richtig kalt geworden.« Oma nahm ihren Schürzenzipfel und wischte sich damit den Mund ab. Heleen machte es genauso. Johann angelte mit zwei Fingern vorsichtig ein großes rotes Taschentuch aus der Hosentasche, wischte sich daran die Hände und den Mund ab und gab es an mich weiter. Ich drehte es herum, bis ich eine saubere Stelle fand, und reichte es dann an Sini weiter. Sie suchte nicht einmal nach einem unbenutzten Zipfel. »Wenn man uns anschaut, dann sollte man nicht meinen, daß die Lebensmittel rationiert sind«, sagte Johann. »In der Stadt geht es den Leuten nicht so gut wie uns. Ich wette, euer Vater kriegt auch nicht viel zu essen. Was ist dieser Herr Hemmes, bei dem er ist? Buchhalter, aber er arbeitet nicht mehr und kriegt schon Rente? Ich hoffe, irgend jemand beschafft ihm irgendwie eine Lebensmittelkarte für euren Vater, sonst geht es ihnen wirklich schlecht. Ich bin froh, daß wir den kleinen Hof haben. Einen Fisch ersäufen und einen Bauern aushungern, das ist gar nicht so einfach!« Wir lachten, und Johann lachte am lautesten. »Ich wollte, ihr beide könntet heute nachmittag hier unten bleiben«, sagte Oma. »Vielleicht nächstes Jahr, Mutter. Dann kommen sie extra für deinen Geburtstag von Winterswijk zu Besuch.« »Johann, glaubst du wirklich, daß wir nächstes Jahr wieder frei sind?«
fragte Sini ernst. »Ganz ehrlich gesagt, ich habe da meine Zweifel. Ich weiß, die Russen verjagen die Deutschen wieder aus Rußland, und die Alliierten treiben sie aus Nordafrika raus.« Johann grinste. »Die Italiener müssen sich schön ärgern. Hitler hat sie dazu überredet, ihm im Krieg zu helfen, und was haben sie davon? Ärger und einen Haufen Tote.« Er schüttelte den Kopf. »Aber es ist schwer zu sagen, wie lange das noch dauern kann.« Wir gingen nach oben. Jemand hatte das Gartentor geöffnet. Oma hatte uns nicht gesagt, daß die Hanninks auch kommen würden. Sie kamen herauf und besuchten uns, als ob wir Geburtstag hätten. »Wißt ihr, was wir Oma mitgebracht haben?« fragte Frau Hannink. »Das erratet ihr nie. Ein Fläschchen Kölnisch Wasser.« Wir lachten. Wir wußten alle, was Oma mit dem Fläschchen machen würde; sie würde es in den Schrank legen wie den geschenkten Stoff und es nie benutzen. Neumodischer Kram, würde sie sagen. Was fragte Herr Hannink da ? Ob wir Nachricht von Vater und von Rachel hätten? »Rachel ist bei einem Pastor, ungefähr sechzig Kilometer von hier«, berichtete Sini. »Sie schreibt manchmal an Johann und an Vater. Aber sie erzählt fast nichts von sich, damit sie sich nicht verrät, wenn die Briefe in die Zensur geraten. Und Johann will auch nicht, daß sie oft schreiben, denn früher ist der Postbote überhaupt nie zu ihm gekommen. Die Nachbarn würden vielleicht mißtrauisch, wenn Johann so oft Post bekäme.« Herr Hannink nickte. »Ja, man kann nicht vorsichtig genug sein. Wir müssen auch wieder hinuntergehen, ehe noch jemand kommt. Schade, daß ihr nicht mit dabeisein könnt. Oma sitzt schon den ganzen Nachmittag stocksteif auf dem Stuhl, die Hände im Schoß gefaltet, und jeder, der zum Gratulieren kommt, sagt ihr, sie sollte heute gemütlich im Sessel sitzen. Und Oma gibt jedem die gleiche Antwort: »Pah, ich bin nicht für Sessel. Ich kann es mir gemütlich machen, wenn ich nicht mehr aus dem Bett kann, und das kommt noch früh genug.« Das sagt sie schon seit Jahren, und dabei sieht sie jedes Jahr besser und jünger aus. »War Hendrik ihr Mann?« fragte Sini. »Ja«, antwortete Frau Hannink, und dann blieb keine Zeit mehr, sich noch länger zu unterhalten, denn das Gartentor hatte sich wieder geöffnet. Sini und ich saßen neben dem Ofen und lauschten. Wie lange würde der Besuch bleiben? »Wahrscheinlich, bis es Zeit zum Melken ist«, meinte Sini. Es wurde dunkel, und der Besuch saß noch immer im Wohnzimmer und
redete und lachte. Die Treppe knarrte. Kam da jemand herauf? »Oh-Gott-oh-Gott-oh-Gott, bin ich müde!« flüsterte Oma, als sie hereinkam. »Ah, ist es hier schön ruhig! Jedes Jahr das gleiche Theater. Aber nicht mehr so lange.« Oma hob ihre Schürze und schob die Hand in die Tasche zwischen die
Falten ihres Rocks. »Ich habe euch ein bißchen Kuchen mitgebracht. Er ist
nicht schlecht. Heleen hat ihn gebacken. Also, ich muß wieder runter,
wieder auf dem Stuhl sitzen.«
»Wie lange noch, Oma?«
»Das weiß man nie, bei diesen Leuten. Wenn sie einmal da sind, hocken sie. Paaa!« Seufzend ging sie wieder hinunter. Zufrieden bissen wir kleine Stückchen von dem Kuchen ab. Es wurde kalt im Zimmer. Sini hob den Eisendeckel vom Ofen, nahm Kohlen aus dem Eimer und ließ sie leise in die Glut gleiten. Zehn Stück genügten; der Tag war fast vorbei.
7 Ich spitzte die Ohren. Klip-klap, klip-klap. Was war das für ein Geräusch draußen? Der kleine Bub von nebenan? Wo war er? Es klang, als ob er seilspringen würde. Ob er so hoch springen konnte wie ich? Ich schaute zum Fenster hinüber. Ich wollte ihn auch sehen, nicht nur hören. Ich stand auf und tat einen Schritt. Sini achtete nicht auf mich. Noch einen Schritt und ich konnte zum Fenster hinausschauen. »Annie, bist du verrückt? Komm sofort zurück!« Ich zuckte zurück. »Warum schreist du mich so an? Du hast mich erschreckt.« »Hast du vielleicht vergessen, was passiert, wenn dich jemand sieht«, fragte Sini. Nein, ich hatte es nicht vergessen. Aber ob ich in Polen im Konzentrationslager saß oder hier im Zimmer eingesperrt, das kam doch so ziemlich aufs Gleiche heraus, oder? Ich pflanzte mich vor Sini auf. »Und woher willst du wissen, daß sie einen da tatsächlich schlagen?« »Wenn du dort wärst, würdest du nicht so dummes Zeug reden«, sagte Sini. »Mir wäre das egal. Hör mal, Sini!« Und ich stampfte mit dem Fuß auf. »Um Himmelswillen, seid still!« rief Heleen von unten.
»Wer hat das gemacht? So etwas Gräßliches! Ich war noch nie in meinem ganzen Leben so wütend.« Oma stürzte ins Zimmer und schaute uns ärgerlich an. »Kommt mit. Ich zeige es euch! Es ist wirklich schrecklich!« Wir folgten ihr in ihre Schlafkammer. »Jetzt schaut euch das an!« Die untere Schublade der Kommode stand auf, und darin lag ›Krieg und Frieden‹. Und? Heleen wollte es zurückbringen. »Wer hat das Buch da reingelegt?« »Ich«, sagte ich. »Schau dir an, worauf du es geschmissen hast! Hast du keine Augen im Kopf? Das einzige, was ich noch von meiner Mutter habe!« Ich schaute. Unter dem Buch lag eine Spitzenhaube. Die eine Seite war ein bißchen zerdrückt. »Meinst du das, Oma?« »Natürlich meine ich das. Was denn sonst. So etwas hat mir noch nie jemand angetan.« »Aber, ich habe es nicht gewußt.« »Was gibt es da zu wissen? Ich weiß nicht, ob ich dir das jemals verzeihen kann.« »Sie hat es bestimmt nicht mit Absicht gemacht«, meinte Sini. Oma schien nicht hinzuhören. Sie bückte sich, hob das Buch von der Haube hoch und drückte es mir mit angewidertem Gesicht in die Hand. »Und auch noch so ein schweres Buch!« »Es tut mir leid.« Ich hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. »Davon habe ich nichts. Du hast meine Haube ruiniert!« Sie schien auch Mühe mit der Stimme zu haben.
»Was ist los?« fragte Heleen schon auf der Treppe.
»Die Kleine hat das Buch auf meine Haube gelegt. Jetzt ist die Haube ruiniert.« »Zeig mal. Wir können sie sicher wieder aufbügeln.« Die Haube war gar nicht zerrissen oder zerbrochen, nur ein bißchen zerdrückt. »Ich habe Oma gesagt, daß es mir leid tut.« »Ich weiß, daß du es nicht mit Absicht gemacht hast. Zeig her.« Heleen zupfte an der Haube herum, zog sie glatt. »Ich kann sie wieder aufbügeln. Dann schaut sie genauso aus wie vorher. Du brauchst dich wirklich nicht so anzustellen, Mutter. Du siehst doch, daß es ihr leid tut. Annie, gib Oma einen Kuß, dann ist sie nicht mehr Bose.« Zögernd ging ich auf sie zu, aber sie drehte sich um und ging hinaus. Dini Hannink kam vorbei, um uns zu warnen. »Die Deutschen machen heute nacht Haussuchung. Sie suchen jemand von der Widerstandsbewegung, und sie glauben, daß er sich irgendwo in Usselo versteckt hat.«
Der Mann war in Enschede im Rathaus eingebrochen und hatte Lebensmittelkarten gestohlen, die er an Leute verteilte, die Juden bei sich versteckt hielten, berichtete Dini. Aber irgend jemand hatte ihn verraten. Dini ging sofort wieder. Sie mußte noch jemand warnen. Was sollten wir jetzt tun? »Ich wollte, Johann wäre zu Hause«, jammerte Heleen. »Oh-Gott-oh-Gott-oh-Gott, was der Mensch nicht alles mitmachen muß«, sagte Oma. »Am besten ist, wir essen früh Abendbrot.« »Was hat das damit zu tun?« Heleens Stimme wurde spitz und scharf. »Wo ist Johann ? Er muß zu Hause sein, wenn die Deutschen kommen. Ich habe Angst.« »Warum fragst du : Wo ist Johann. Auf Arbeit. Halt deinen Verstand zusammen, Dini meint, sie kommen, aber . . .« Sini und ich gingen in unser Zimmer. Jetzt war auch Heleen Bose auf uns. Als Johann nach Hause kam, sagte er: »Bloß keine Aufregung wegen der Haussuchung. Das haben andere Leute auch schon überlebt. Unser Versteck finden die niemals.« Wir mußten die ganze Nacht darin verbringen, damit Sinis Matratze nicht herumlag, sagte Johann. Außerdem wußten wir nicht, mit welchem Haus im Dorf sie anfingen. »Aber Johann, die Mädchen ersticken, wenn sie die ganze Nacht im Schrank hocken müssen. Bist du verrückt?« Omas Stimme klang noch immer ärgerlich. »Wir machen nicht sofort zu, Mutter. Soviel Zeit haben wir schon noch, um das Brett reinzuschieben und die Wäsche draufzulegen. Für eine Nacht halten sie das schon aus.« »Natürlich hoffe ich, sie finden diesen Mann nicht, aber vielleicht kommen sie dann immer wieder?« sagte Sini. »Morgen abend schlaft ihr wieder im Bett. Es wird schon gut gehen«, sagte Johann. »Johann, es ist gefährlich!« protestierte Heleen. »Ich schlafe sowieso fast nie, also kann ich heute nacht genausogut ganz aufbleiben. Wache halten«, meinte Oma. »Unsinn, Mutter. Du sagst immer, du schläfst nicht, und dabei schnarchst du die ganze Nacht.« »Ich schnarche überhaupt nicht! Nicht, Heleen?« »Doch du schnarchst wirklich.« »Habt ihr beide mich jemals schnarchen gehört, Mädchen ?« »Das ist schwer zu sagen, wo die ganze Nacht die Bomber über uns
hinwegfliegen. Vielleicht tönt das Brummen der Flugzeuge wie Schnarchen.« Das war eine geschickte Antwort von Sini. Oma sah wieder zufrieden aus. »Vielleicht fangen sie auch erst morgen in aller Frühe mit der Haussuchung an«, sagte Johann. »Das machen sie oft, weil dann alle Leute noch schlafen. Na, ich hoffe zu Gott, sie finden die Mädchen nicht.« »Johann, es ist Zeit zum Schlafengehen«, sagte Heleen. »Mutter, du gehst auch ins Bett.« Oma stand etwas mühsam auf. »Johann, laß die Schranktür auf. Wenn sie ersticken . . .« »Es passiert ihnen schon nichts, Mutter.« Heleen war verärgert. »Du machst dir immer Sorgen um die Mädchen, als ob Johann und ich nicht wüßten, was wir tun müssen.« »Also, wenn sie heute nacht wirklich kommen und unten an der Tür klopfen, machen Heleen und ich zuerst euer Versteck zu, dann gehe ich runter und lasse sie herein«, sagte Johann. »Ihr Mädchen müßt mucksmäuschenstill sein. Und rührt euch nicht, falls sie den Schrank aufmachen und darin herumwühlen, oder falls sie anfangen, die Wände abzuklopfen, um zu hören, ob irgendwo ein Hohlraum dahinter ist.« Wir krochen in das Versteck. Johann kauerte vor dem offenen Schrank nieder. »Wenn ihr etwas braucht, ruft uns. Und habt keine Angst.« Heleen streckte den Arm in das Loch. »Annie, wo ist deine Hand ?« Sie gab mir zwei Äpfel. »Da, wenn ihr Hunger kriegt. Es ist die Sorte, die ihr so gern eßt.« Wir standen und saßen. Wir saßen und standen. »Sini, ich bin so müde.« Ich lehnte mich an sie. Sini sagte, ich dürfe nicht einschlafen. Aber es war Nacht und stockdunkel. Warum sollte ich nicht einschlafen? »Wann kommen sie, Sini?« Sini wußte es nicht. Vielleicht hatten sie den Widerstandskämpfer längst gefunden, und in dem Fall kamen sie überhaupt nicht. Dann saß ich also die ganze Nacht umsonst hier drin? »Kannst du das Alphabet rückwärts aufsagen?« fragte sie. Ich versuchte es; ich hätte nicht gedacht, daß das so schwierig war. Es dauerte ziemlich lange, bis ich es ungefähr konnte. »Wie geht es euch?« flüsterte Oma vor dem Versteck. »Könnt ihr atmen? Soll ich euch etwas bringen?« »Vielleicht etwas zu trinken.« »Gut, ich mache euch Tee.« Oma kam zurück. »Strecke die Hand aus. Vorsicht, heiß. Ist das deine Hand, Sini?« »Wie spät ist es ?« fragte ich.
»Zwei Uhr vorbei. Könnt ihr die Flugzeuge hören?« »Ja.« Ich nahm noch einen Schluck. »Bist du noch immer Bose auf mich?« »Was? Ich, Bose? Warum? Nein. War der Tee gut?« »Sehr, Oma.« Ich lächelte in der Dunkelheit. Wir reichten ihr die leeren Becher hinaus. »Du bist ein Engel«, sagte Sini. »Und was habe ich davon?« antwortete Oma. Sie ächzte und stöhnte, als sie versuchte, von den Knien hochzukommen. Der heiße Tee hatte mich noch schläfriger gemacht. »Sini, laß mich schlafen.« »Nein.« Sie zog mich auf die Beine und zwickte mich. »Du mußt wach bleiben, Annie, sonst kriege ich dich niemals hoch, falls sie kommen. Ich werde dir ein bißchen Englisch beibringen, zum Zeitvertreib. Das könnten wir überhaupt machen, solange wir noch hier sind. Dann bist du die einzige, die schon ein wenig Englisch kann, wenn du wieder in die Schule gehst. Es ist gar nicht schwer. Gib mir deine Hand. Hand heißt einfach hand und Finger finger.« »Und was heißt todmüde in Englisch, Sini?« »Dead tired.« Die Nacht war vorüber, und die Deutschen waren nicht gekommen. Mit steifen, schmerzenden Beinen stolperten wir zum Bett. Sini holte ihren kleinen Taschenspiegel hervor, warf einen schnellen Blick hinein und legte den Spiegel wieder hin. Ich hatte sie noch nie mit solch einem bleichen Gesicht gesehen. Sie strich sich langsam mit den Fingerspitzen über die geschwollenen Augenlider. Dann drehte sie sich herum und vergrub den Kopf im Kissen. Das war ungerecht. Warum erlaubte Johann Sini, heute abend mit ihm in den Stall zu gehen? Weil sie von Kühen etwas verstand ? Na, und ? Mir hatte es auch keinen Spaß gemacht, die ganze Nacht in dem engen Schrank zu sitzen. War sie vielleicht etwas Besonderes? »Annie, verdirb mir nicht die gute Stimmung.« Sini sah mich flehend an. Warum sollte ich sie ihr nicht verderben ? Ich wollte auch in den Stall hinübergehen. Ich griff nach dem Buch, nach dem ewigen ›Krieg und Frieden‹, das ich noch immer und schon wieder las. Wann ging Heleen endlich zum Pastor und holte ein anderes? Schlecht gelaunt schlug ich es trotzdem auf. Heute machte ich einfach keine Rechenaufgaben. Das würde Sini schon die Laune verderben. Sinis Gesicht rötete sich schon vor Zorn. »Lege das Buch beiseite.«
Ich rührte mich nicht.
»Zum letzten Mal: Lege das Buch beiseite.«
Ich rührte mich nicht. Ich schluckte nur aufgeregt. Sini riß mir das Buch aus der Hand. »Gib es zurück«, sagte ich. »Erst wenn du deine Rechenaufgaben gemacht hast.« »Gib es zurück.« Ich suchte nach Worten. »Wenn du es mir nicht wieder gibst, rede ich den ganzen Tag kein Wort mehr mit dir.« So ! Ich fühlte mich erleichtert. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, den ganzen Tag lang kein
Wort mit Sini zu reden. Ich hätte sagen sollen, ich würde den ganzen
Vormittag lang nicht mit ihr reden.
Sini gefiel die Lage auch nicht. Vielleicht hafte sie wieder
Kopfschmerzen? Wenn sie Kopfweh hatte, sah man ihr das immer an. Sie
sah schlecht aus. Vielleicht hatte sie deswegen heute abend gar nichts
davon, wenn sie in den Stall durfte. So ein Pech.
Ich hätte wirklich vorher daran denken sollen, wie lang ein Tag war.
Aber Sini hatte mich dazu gezwungen, so etwas Drastisches zu tun. Ich
konnte mir das nicht gefallen lassen, wie sie mich immer herumschubste.
Wir gingen schlafen, ohne uns Gute Nacht zu sagen. Ein Glück, daß der Tag
vorbei war ! Aber warum sagte Sini jetzt nichts ? Ich hob den Kopf vom
Kissen. Weinte Sini? Ob es ihr leid tat? Es sollte ihr leid tun, daß sie mir
das Buch weggenommen hatte und ohne mich in den Stall gegangen war.
Und ich hatte es satt, jeden Morgen Rechenaufgaben zu machen. Sini
machte es Spaß, Lehrerin zu spielen, aber mir machte es keinen Spaß,
immerzu ihre Schülerin zu sein. Sie sollte sich jemand anderes dafür
suchen. Aber ich wollte doch, sie würde zu weinen aufhören. Vielleicht
sollte ich ihr Gute Nacht sagen. Vorsichtig rutschte ich aus dem Bett.
»Sini?« flüsterte ich. Sini setzte sich auf und breitete die Arme aus.
Blöd, jetzt weinte ich auch. Angenommen, die Deutschen wären letzte
Nacht wirklich gekommen, und angenommen, sie hätten uns gefunden ?
Dann hätten sie uns mitgenommen und vielleicht voneinander getrennt.
Und wir hätten uns niemals wieder sagen können, wie unglücklich wir
waren, weil wir den ganzen Tag lang nicht miteinander gesprochen hatten.
Und was dann?
»Deine Beine sind komisch«, sagte Sini. Ich musterte meine Beine. Wieso?
»Sie wackeln, wenn du gehst«, sagte Sini mit besorgter Stimme. »Oder
machst du das mit Absicht?«
»Nein, natürlich nicht.« Wieso wackelten meine Beine?
»Bleib stehen und strecke dich. Deine Beine sind krumm, Annie.« »Sind sie nicht!« Ich schaute an mir herunter. Wieso waren meine Beine auf einmal krumm geworden? »Warum ist mir das nicht früher aufgefallen ? Du bewegst dich nicht
genug. Kein Wunder, Muskeln müssen trainiert werden.« Sini beobachtete besorgt meine Bewegungen. Sie sagte, nach dem Krieg könnte man mir richtige Massagen machen lassen, aber bis dahin müßte ich meine Muskeln selber behandeln und im Zimmer hin und her marschieren. »Jeden Tag hundertmal.« »Nicht so oft, Sini.« Meine Muskeln mußten also trainiert werden, und ihre? »Oh doch. Und ich zähle es genau.« »Was machst du da mit Annie?« fragte Oma. »Muß sie das machen? Schau sie dir an. Es gefällt ihr nicht.« »Wenn sie nicht jeden Tag Gymnastik macht, kriegt sie so schwache Muskeln, daß sie nach dem Krieg überhaupt nicht mehr gehen kann.« »So was ist doch unmöglich.« »Nein, das kann passieren.« »Na, dann mache wenigstens eine Minute Pause, Annie, und trink deinen Kaffee.« »Und das ist auch etwas, was ihr gar nicht gut tut. Annie soll keinen Kaffee mehr trinken.« »Lieber Himmel, heute ist dir aber gar nichts recht.« Unter der Tür drehte Oma sich um. »Soll sie auch keinen Tee mehr trinken?« »Ich habe keine Lust mehr, im Zimmer hin und her zu laufen.« »Ich wollte, sie würden sich nicht immer einmischen«, sagte Sini wütend. Ich sah Sini von der Seite an. Ob sie jetzt wieder wütend würde ? Auf
Heleen ? Weil sie gesagt hatte, daß ich heute abend mit ihr ausgehen durfte.
Wir gingen richtig aus. Wir mußten sogar das Rad nehmen, so weit war
das. Wir wollten zu dem Bauern, bei dem Heleen früher einmal gearbeitet
hatte. Er hielt zehn Juden versteckt. Unter ihnen war ein Mädchen in
meinem Alter, mit dem ich mich unterhalten konnte. War das nicht nett von
Herrn Hannink, daß er Johann das erzählt hatte ? Wie kamen wir dahin,
wenn das Wetter schlecht wurde ?
»Heleen, was machen wir, wenn es regnet?«
»Dann fahren wir trotzdem.«
Was sollte ich anziehen ? Das Kleid, das sie mir genäht hatte ? Vielleicht.
Wenn man zu Besuch geht, macht man sich hübsch.
»Wie heißt das Mädchen?«
»Das weiß ich nicht. Du freust dich, weil du hinaus darfst, nicht?« Heleen strahlte. Ich nickte. »Wie lange bleiben wir da?« »Nicht zu lange. Vielleicht eine Stunde.« Ich beschloß, noch eine Weile im Zimmer auf und ab zu marschieren. Ich wollte nicht, daß das Mädchen auch meinte, ich würde wackelig
laufen. »Du siehst hübsch aus«, sagte Sini, als es Zeit war, zu gehen. »Du gehst doch nicht, ohne mir einen Kuß zu geben?« Eigentlich war ich viel zu groß dafür. Aber von mir aus. Ich gab Sini einen Kuß und lief die Treppe hinab. Unten drehte ich mich noch einmal um und winkte Sini zu. »Du kannst kommen«, rief Johann leise. Draußen stand Heleen mit ihrem Rad. Sie sagte, sie würde das Licht nicht einschalten. Wegen der Verdunkelung durfte man sowieso nicht mit Licht fahren, und so konnte sie niemand erkennen. Ich setzte mich auf den Gepäckträger. Heleen stellte den rechten Fuß auf das Pedal, stieß sich mit dem linken ab und setzte sich auf den Sattel. »Leg die Arme um mich und halt dich gut fest.« Ich spürte, daß wir über einen sandigen Weg fuhren. Hin und wieder sank das Rad ein wenig ein, und ich spürte, wie Heleen sich anstrengte weiterzukommen. »Der Weg wird jetzt sehr schmal. Halt dich fest.« Natürlich hielt ich mich fest. Ich wollte nicht herunterfallen und mich schmutzig machen. Die Luft roch gut. Ich öffnete den Mund weit und sog die Luft tief ein. Ich konnte nicht genug davon kriegen. Dankbar rieb ich meine Wange an Heleens Mantel. »Guten Abend !« Heleen hielt mich an der Hand, als wir den Stall betraten. »Wie geht es euch? Das ist Annie.« »Guten Abend. Mimi wartet schon.« Wir folgten dem Bauern zu einem Raum, der sich an den Stall anschloß. »Hier kommt Besuch für euch«, sagte er. Das Mädchen in der Ecke mußte Mimi sein. Sie war ungefähr so groß wie ich. Wir schauten einander aus sicherer Entfernung an. »Nun geh schon und rede mit ihr; deshalb sind wir doch hergekommen.« Heleen schob mich auf Mimi zu. Ich kannte sie doch gar nicht! Was sollte ich denn zu ihr sagen ? Ich wich zurück und lehnte mich an Heleens Stuhl. Sie hörte dem Bauern und seiner Frau zu. »Ich glaube, der Bäcker wird allmählich mißtrauisch«, sagte der Bauer. »Ich hole jeden Tag einen ganzen Korb Brot. Er hat schon ein paarmal zu mir gesagt: Wie willst du durch den Monat kommen, wenn du so viele Brotmarken auf einmal verbrauchst ? Und dann hab ich gesagt: Ja, ja, die Kinder haben eben Hunger. Herr Hannink hat mir Lebensmittelkarten für alle beschafft. Sonst könnte ich ja nicht so viel Brot kaufen. Nur ist es zuviel Brot für meine Familie. Ich mache mir eine Menge Sorgen deswegen.«
Wo schliefen diese zehn Menschen ? Hatten sie ein Versteck ? Ich schaute mich um. Wir hatten es gemütlicher in unserem Zimmer, Sini und ich. Ob sie mich jetzt vermißte? »So ein kleines Ding, nicht ?« sagte Heleen. Sie meinte mich. »Ihr solltet sie essen sehen. Wie ein Spatz.« Ich wand mich verlegen. »Ich weiß nicht, was heute abend mit ihr los ist. Zu Hause ist sie nicht so schüchtern. Nun los, Annie, unterhalte dich doch mit Mimi! Sie ist ein nettes Mädchen. Geh schon.« »Mimi, du bist doch sonst auch nicht so schüchtern. Komm, rede mit Annie«, sagte auch die Bauersfrau. Mimi lachte verlegen. Ich spürte, wie ich rot wurde. Alle starrten uns an und warteten darauf, daß wir anfingen, miteinander zu reden. »Also, den Weg hätten wir uns sparen können«, sagte Heleen. »Komm, wir gehen wieder nach Hause.« »Auf Wiedersehen, Mimi«, sagte ich auf dem Weg zur Tür. »Also, warum hast du nicht ein bißchen früher angefangen ? War das das erste, was ihr zueinander gesagt habt?« Beschämt nickte ich. Es war wirklich dumm. Aber was hätte ich ihr sagen sollen ? Ich kannte sie doch nicht. Mit einem Seufzer der Erleichterung kletterte ich wieder auf den Gepäckträger. Es roch gut, es roch nach Frühling. Mit dem Frühling kam mein Geburtstag. Ich hatte kaum davon gesprochen. Das wäre kindisch gewesen. Schließlich wurde ich schon elf. Doch an meinem Geburtstagmorgen beobachtete ich alle verstohlen. Sie wußten es doch, oder ? Ja, da kam Johann mit einem Päckchen. Ein Buch! ›Die Geheimnisse der Natur‹ von Gert von Natzmer, las ich. »Du hast das gar nicht gemerkt, aber ich bin extra dafür nach Enschede gefahren«, sagte Johann. »Vielen Dank, Johann !« Ich durchblätterte die Seiten. »Ich glaube, es ist ein sehr interessantes Buch.« »Du mußt uns allen einen Kuß geben, denn es ist von uns allen«, sagte Johann. »In dem Laden in Enschede gab es fast nur noch Bücher, die von Deutschen geschrieben sind, weißt du. Das habe ich an den Namen gemerkt, auch wenn ich kein Deutsch kann.« »Aber Annie kann auch kein Deutsch«, sagte Heleen. »Warum hast du ihr ein deutsches Buch gekauft?« »Hör mal, meinst du, ich bin dumm, Frau ? Es ist natürlich übersetzt worden.« »Aber ist es ein gutes Buch, wenn es von einem Deutschen geschrieben
worden ist?« fragte Oma. »Was hat denn das damit zu tun, Mutter ?« »Ich habe ja nur gefragt.« Ich betrachtete ein Bild vom Sommer in Grönland. Was für ein schönes Land! Aber wer hatte Dini Hannink verraten, daß ich heute Geburtstag hatte? »Du, Sini?« Dini lachte. Sie hatte mir ein Spiel geschenkt, Monopoly. »Soll ich es mit dir spielen?« fragte sie. »Ich spiele auch mit«, sagte Sini. »Und du, Heleen?« »Lieber Himmel, nein, ich schaue lieber zu.« Aufgeregt sah ich zu, wie Dini das Geld verteilte. Hübsch, diese verschiedenen Farben. Was für ein schöner Geburtstag. »Annie, biete Dini etwas zum Essen an«, erinnerte mich Heleen. Das hatte ich ganz vergessen. Ich war eine nette Gastgeberin ! Ich hielt Dini den Teller mit den Keksen hin. »Weißt du was?« sagte Johann. »Es ist eine verdammte Sache, aber ich wette, du bist an deinem nächsten Geburtstag auch noch hier. Ja, das glaube ich wirklich.« »Aber warum, Johann?« »Weil die Deutschen erst von hier verschwinden, wenn die Alliierten kommen und sie rausschmeißen. Ich verstehe nicht, warum sie von Nordafrika aus nicht das Mittelmeer überqueren und in Italien landen. Das würde ich machen, wenn ich etwas zu sagen hätte! Eine Invasion in Europa, das ist genau das, was wir brauchen. Wenn die Amerikaner heute in Europa landen würden, dann wäre der Krieg in einem Jahr zu Ende. Aber so . . . das kann noch lange dauern.« Ich sah Sini an. Ihre Mundwinkel zitterten. Warum sagte Johann dies ? Woher wollte er wissen, daß wir eine Invasion brauchten, und daß der Krieg danach noch immer ein Jahr lang dauerte ? Warum konnte er nicht schon nächste Woche zu Ende sein ? Woher wollte Johann das wissen ? Vielleicht irrte er sich. Das mußte ich Sini nachher sagen, wenn alle anderen schliefen. Johann wußte auch nicht alles. Johann legte uns eine Zeitung auf den Tisch. »Verbrennt sie sofort, sobald ihr sie gelesen habt.« »Warum, Johann?« »Weil das eine Zeitung von der Widerstandsbewegung ist, in der steht, was wirklich los ist. Nicht wie in den gottverdammten Nazi-Zeitungen, wo alle Nachrichten so. verdreht werden, wie es denen in den Kram paßt. Wenn die Deutschen die Leute erwischen, die diese Zeitung machen, erschießen sie sie. Und wenn hier eine Haussuchung kommt, und sie
finden diese Zeitung bei uns, werde ich verhaftet.« Ich nahm die Zeitung und begann zu lesen. Gebt die Hoffnung nicht auf, stand da; die Deutschen werden den Krieg verlieren. Aber es stand nicht da, wann. Das wußten die Leute von dieser Zeitung wahrscheinlich auch nicht, überlegte ich mir. Ich las ein Stück weiter. Nein, in dieser Zeitung stand auch nicht die Wahrheit. So etwas konnte nicht wahr sein! Es durfte nicht wahr sein! Mit großer Mühe las ich den Artikel fertig. Dann legte ich die Zeitung beiseite. Jetzt wußte ich Bescheid. Jetzt wußte ich, was das für Lager waren, in Deutschland und in Österreich und in Polen. Mordlager. Natürlich hatte ich gewußt, daß man das »Lager« nannte, wohin die Züge mit den Juden fuhren. Aber ich hatte nicht gewußt, daß Hitler befohlen hatte, alle Juden dorthin zu bringen und sie dann umzu bringen. In jeden Eisenbahnwaggon wurden so viele Menschen hineingequetscht, daß sie sich kaum rühren konnten. Im Lager mußten sie alle aussteigen. Die alten Leute, die Frauen und die Kinder wurden in Autobussen fortgebracht. Sie wurden zu einem Haus gefahren, und man sagte ihnen: Hier könnt ihr euch waschen; nach einer langen Reise ist man immer schmutzig. Die Leute gingen in den großen Duschraum, immer mehr, bis er voll war, und dann wurden die Stahltüren von außen geschlossen. Aber aus den Wasserhähnen drinnen kam kein Wasser, sondern Gas. Es dauerte eine Viertelstunde, bis alle erstickt waren. Dann wurden sie verbrannt. In besonders großen Öfen. Meistens waren alle tot, wenn sie in die Öfen geschoben wurden. Meistens. Die jungen Männer mußten arbeiten. Sie bekamen schlechtes Essen und hungerten. Wenn sie schwach und krank wurden und nicht mehr arbeiten konnten, wurden sie auch in den Duschraum geschickt: In die Gaskammer. Die meisten Menschen, die dort umgebracht wurden, waren Juden. Aber es gab auch viele andere, die keine Juden waren. Sie stammten aus allen Ländern, in denen jetzt deutsche Soldaten waren. Jetzt hatte ich begriffen, warum ich hier war und warum ich nicht zu nahe ans Fenster herangehen durfte. Jetzt wußte ich, was wirklich los war.
8 »Jetzt ist es warm genug, um ohne Ofen auszukommen«, sagte Johann. »Jetzt könnt ihr in der rückwärtigen Kammer wohnen.«
Hier konnten wir endlich aus dem Fenster schauen. Ich setzte mich an das
Fenster über der Küche. Lieber Himmel, die Bäume waren ja schon grün.
Seit wann? Und der Himmel war blau, mit einigen vorbeiziehenden
Wolken. Wohin zogen sie ? Es gab so viel, worüber man nachdenken
mußte. Wo war Sini? Ich wandte mich um. Sie schaute in den Spiegel.
»Sini, mir gefällt es hier viel besser. Dir auch ? Warum sitzt du nicht an
deinem Fenster? Willst du meines eine Weile haben?«
»Bin ich sehr blaß ?«
Ich betrachtete ihr Gesicht aufmerksam. »Ein bißchen, aber du siehst nicht schlecht aus.« »Aber wenn ich von der Sonne braun bin, dann sehe ich besser aus, nicht?« »Ich weiß nicht. Dein Haar ist wieder schön. Weißt du, warum manche Wolken dunkel sind und manche weiß?« Sini antwortete nicht, und ich wiederholte die Frage. »Nein. Soll ich es wieder schneiden?« »Was?« »Mein Haar.« »Ich weiß nicht. Meinst du, der Regen macht sie dunkel?« »Ich bin gar nicht mehr so hübsch wie früher, nicht? Schließlich sehe ich das selber. Sag es ganz ehrlich.« Ich seufzte. »Ich finde, du siehst hübsch aus.« »Das meinst du.« Sinis Stimme klang gereizt. Sini hatte keine Lust, mit mir Monopoly zu spielen. Was konnte ich sonst noch tun ? Ich konnte so tun, als ob Johann mich mit zur Arbeit genommen hätte. Ich schloß die Augen, um mir das besser vorstellen zu können. Zuerst mußten wir das Pferd von der Weide holen und vor den Karren spannen. Dann stieg Johann auf den Kutschbock, nahm die Zügel, schnalzte mit der Peitsche, und ab ging es nach Bokelo. »Lauf, Alter.« Und das Pferd lief. Vor einer Gruppe von Gebäuden zog Johann die Zügel an. Er sprang vom Karren und half mir herunter. »Hier bin ich«, sagte Johann zu einem Mann, der aus einem Eingang trat. »Hast du schon gehört, Johann? Die Alliierten kommen in Afrika gut voran«, flüsterte der Mann. Johann hörte ihm aufmerksam zu und nickte mit dem Kopf. Dann öffnete der Mann die Tür zu dem Gebäude und begann, Johann Stoffballen zu reichen. Johann trug sie einen nach dem anderen zum Karren. Hin und wieder scharrte das Pferd ungeduldig. Als der Karren voll war, nahm Johann die Zügel. »Hü !« Der Mann ging wieder in das Haus. Johann lenkte den Karren zu einem anderen Gebäude hinüber. Die Tür öffnete sich und ein anderer Mann erschien. Johann reichte ihm die Stoffballen, einen nach dem anderen. Als der Karren leer war; fuhr
Johann wieder zu dem ersten Gebäude zurück und holte noch mehr. »Rauf auf den Karren, runter vom Karren, Annie. Eine gottverdammte blöde Art, sich ein bißchen Geld zu verdienen. Du hast Glück, weil du nicht arbeiten mußt.« »Ja, Johann.« Ich öffnete die Augen. Ich hatte die Handfläche nach oben gedreht,
genau wie Johann, wenn er die Stoffballen trug.
Es wurde erst spät dunkel. Manchmal kam Johann abends nicht einmal nach
Hause, um Nachrichten zu hören. Er hatte viel Arbeit auf dem Feld. Das
machte Sini gleichzeitig still und ganz nervös. Sie sagte stundenlang kein
Wort, und dann schrie sie plötzlich: »Annie, wir merken nicht mal, wenn
der Krieg aus ist, wenn wir keine Nachrichten hören! Die Nazi-
Zeitungen
erzählen uns das bestimmt nicht. Wir werden unser Leben lang hier hocken.
Ich halte das nicht mehr aus. Ich will raus!« Sie rannte im Zimmer herum
und drohte dem Fenster mit der Faust. »Verdammt und zugenäht! Ich
will, daß Johann zu Hause ist, wenn es Nachrichten gibt!«
»Ich auch, Sini.« Ich wollte auch raus! Ich wollte über die Wiesen rennen, bis ich atemlos war. Aber ob ich rennen konnte? Meine Beine wackelten noch immer, sagte Sini. Vielleicht ging es draußen besser. Ich schaute zum Fenster hinaus. Wie kam es, daß ich nicht so wütend wie Sini wurde ? Sini sagte Johann, daß sie unbedingt wieder Nachrichten hören wollte, und es war gut, daß sie darauf bestand. Denn die Engländer und die Amerikaner waren in Sizilien gelandet, und Radio Oranien meldete das gerade an diesem Abend. »Was habe ich dir gesagt? Sie machen eine Invasion. Was sagst du zu dem dummen Bauern, der von Anfang an gesagt hat, daß eine Invasion nötig ist?« »Ja, ja, ich weiß, Johann, das hast du gleich gesagt«, nickten Sini und ich. »Komm, tanze mit mir.« »Ich und tanzen? Nicht so schnell, Sini. Hör auf!« »Schwesterchen, das ist der Anfang vom Ende! Johann sagt das auch. Vielleicht dauert es noch ein paar Monate, mehr bestimmt nicht! Weißt du, wie nahe Sizilien bei Holland ist ?« »Nein.« »Es ist viel, viel näher als Rußland und Afrika.« Nun, dann waren wir bestimmt vor Jahresende wieder zu Hause. Was für ein schöner Tag! Die Luft roch so gut! Und Gymnastik machen war auch nicht so schlimm. Ich mußte sie ja nicht mehr lange machen. Sini anerbot sich sogar, Monopoly mit mir zu spielen.
Aber warum brauchten die Alliierten so schrecklich lange, um durch
Sizilien zu marschieren? Vielleicht war es ihnen egal,
wann der Krieg zu Ende ging. Sie mußten ja nicht Tag und Nacht im
Zimmer hocken wie wir.
Noch ein Regentag. Wir hatten schon genug Regentage gehabt. Düster
starrte ich aus dem Fenster. Ich achtete kaum darauf, daß die Ostervelds
hereinkamen.
»Mussolini ist im Gefängnis!« schrie Johann beinahe.
»Wirklich?« Wie konnte Sinis Gesichtsausdruck sich so schnell verändern ? »Wer ist denn das?« »Aber Mutter, das weißt du doch! Dieser Diktator in Italien. Hitlers bester Freund, der ihm im Kriege hilft«, sagte Johann. »Aber Mutter, weißt du wirklich nicht, wer Mussolini ist ? Natürlich weißt du das!« sagte Heleen. »Ja, ja, aber wer hat ihn ins Gefängnis gesteckt?« »Seine Freunde, die italienischen Faschisten, weil sie es satt waren, daß ihre Armee immerzu verliert.« »Feine Freunde! Oh-Gott-oh-Gott-oh-Gott, was der Mensch nicht alles mitmachen muß.« »Ja, feine Freunde. Hitler wird sich schön ärgern!« Sechs Wochen später gab es eine weitere gute Nachricht: die Engländer waren in Süditalien gelandet. Aber welchen Unterschied machte das für uns ? Gar keinen! Und Mussolini war schon wieder aus dem Gefängnis heraus. Es war Herbst geworden, Herbst 1943. Ich beobachtete, wie die Blätter fielen. Wie lange dauerte es, bis die Bäume ganz kahl waren ? Ein, zwei Monate ? Bald wurde es zu kalt in der rückwärtigen Kammer. »Ihr müßt wieder umziehen, Mädchen«, sagte Johann. Ich stand noch einmal am Fenster. Ob wir den nächsten Sommer wieder hier verbrachten ? Dini Hannink kam, um zu sagen, daß Fräulein Klein uns besuchen wollte. »Sie hat Vater angerufen und gesagt, daß sie am Freitag kommen wird.« »Wer ist Fräulein Klein?« fragte Oma. »Erinnerst du dich nicht, Mutter? Das ist die Lehrerin aus Winterswijk, von der sie uns erzählt haben.« »Eine Lehrerin? Und sie kommt zu uns?«
Heleens Gesicht rötete sich ein wenig. »Wir haben noch nie feinen Besuch aus der Stadt gehabt. Kommt sie mit dem Bus ?« »Nein, mit dem Rad, damit sie nicht auffällt.« »Wie lange bleibt sie?« fragte Heleen weiter. »Ich meine, um wieviel Uhr kommt sie ? Ich muß doch wissen, ob sie hier Mittag ißt.« »Aber natürlich! Da kommt jemand von Winterswijk mit dem Rad, und du fragst, ob sie hier ißt!« sagte Oma entrüstet. »Also, ich muß wieder gehen«, sagte Dini. »Dann könnt ihr euch weiter darüber unterhalten.« »Heleen, was kochst du ?« fragte Oma. »Sollen wir das weiße Huhn schlachten?« »Ich werde Johann fragen.« Sie gingen hinunter. Auf halbem Weg wandte Heleen sich um. »Freitag, hat
sie gesagt?«
»Ja.«
»Dann haben wir ein paar Tage Zeit, um uns an den Gedanken zu
gewöhnen.« Sie seufzte erleichtert.
Ob Fräulein Klein oben bei uns aß? Ob es wirklich Huhn gab, wie an
Omas Geburtstag ?
»Wann kommt sie?« fragte ich.
»Ich weiß nicht. Sicher nicht vor elf oder zwölf.« Sini sah etwas beunruhigt aus. »Sini, ich finde das toll! Wir kriegen Besuch!« Noch ein Tag. Und das Wetter war auch ordentlich. Am Donnerstag
gingen Sini und ich immer wieder an das hintere Fenster, um nach dem
Himmel zu schauen.
Am Freitag morgen begann ich, Staub zu wischen. Natürlich brauchte ich
heute keine Gymnastik zu machen. Ich pfiff vor mich hin. Staubwischen
machte Spaß.
»Sehe ich so ordentlich aus ?« Heleen kam herein; sie trug ihr
Sonntagskleid und war richtig rot vor Aufregung.
»Du siehst sehr hübsch aus. Kannst du darin überhaupt l a u f e n ? « f r a g t e i c h u n d z e i g t e a u f i h r e S c h u h e . »Das hättest du nicht gedacht, daß ich so städtische Sachen habe! Ich kann darin laufen, aber ich ziehe sie wieder aus, wenn sie oben ist. Doch zuerst bringe ich euch Kaffee und Kekse.« »Das wäre großartig.« Heleen strahlte vor Zufriedenheit. Ich zupfte einen Faden von meinem neuen Kleid. Auch ich schaute hübsch aus.
Die Treppentür öffnete sich. »Kommen Sie bitte mit herauf, Fräulein Klein. Sie sind oben.« Heleens Stimme klang aufgeregt. Fräulein Klein sah gleich zerbrechlich aus, wie ich sie in Erinnerung hatte. Sie umarmte uns. Sini wurde knallrot. Ich wahrscheinlich auch. Dann saßen wir neben Fräulein Klein und hörten zu. Ein NSBer, ein holländischer Nazi, wohnte jetzt in unserem Haus. Und wußten wir, daß Rachel Winterswijk gerade noch rechtzeitig verlassen hatte? Sie war kaum ein paar Stunden fort, als die Deutschen mit dem Lastwagen kamen, um sie abzuholen. Wir fragten, warum Rachel nicht zu den Hanninks gekommen war. »Pastor Zwaal hat ein Versteck gefunden, wo sie allein ist, und Rachel meinte, das sei sicherer für euch alle.« Wir schwiegen eine Weile. »Ich habe dir ein paar Schulbücher für die fünfte Klasse mitgebracht.« Ich nickte. War ich jetzt schon in der fünften Klasse? Heleen kam etwas unsicher herein und brachte einen Teller Kekse. »Ich habe sie selbst gebacken, Fräulein Klein.« »Vielen Dank. Sie sorgen sehr gut für die beiden Mädchen, das habe ich gleich gesehen.« »Wir sind froh, sie hier zu haben«, antwortete Heleen. »Das klingt komisch, nicht? Aber wir mögen die Mädchen. Wirklich. Natürlich sind wir nicht froh, weil Krieg ist.« Sie brach ab; sie schien verwirrt. »Und unsere Oma hat einen Narren an ihnen gefressen. Der Kleinen läßt sie alles durchgehen. Sie kann gar nichts falsch machen. Bis auf das eine Mal.« »Was war da?« fragte Fräulein Klein. Heleen erzählte ihr den Zwischenfall mit Omas Spitzenhaube. Ich rutschte auf dem Stuhl hin und her. Mußte sie das unbedingt erzählen ? Ich seufzte vor Erleichterung, als Heleen endlich wieder hinunterging. Was jetzt? Ich sollte aufstehen? Warum. »Weißt du, Sini, Annie ist wirklich sehr klein für ihr Alter«, sagte Fräulein Klein. »Ich glaube, sie ist überhaupt nicht mehr gewachsen, seit sie hier ist. Achtest du darauf, daß sie Gymnastik macht?« »Oh ja, jeden Tag, aber sie ist sehr widerspenstig.« Ich spürte, wie meine Ohren glühten. Was hatte Sini davon, daß sie mich verpetzte? Sie hätte einfach »ja« sagen können. Aber nein, sie mußte mich in Verlegenheit bringen, mußte mir den Besuch verderben. Zum Glück kam Oma mit unserem Mittagessen. »Wie gefällt es ihr hier?« fragte Oma uns. »Sehr gut«, antwortete Fräulein Klein. »Sie muß ordentlich essen. Sie hat einen langen Weg hinter sich.«
»Ich werde mich gewiß nicht zieren; es riecht köstlich. Und Huhn ! Wie haben Sie denn das beschafft?« »Wir halten welche und haben eben eines geschlachtet.« Wir aßen stumm. Das Klirren der Gabeln auf den Tellern war das einzige
Geräusch. Ich spürte, wie ich wieder rot wurde. Wir sollten uns doch
unterhalten, oder? Warum sagte Fräulein Klein nichts ? Ich sah sie an.
Sie war ganz darin vertieft, an einem Bissen Hühnerfleisch zu kauen. Bis
jetzt war mir nicht aufgefallen, wie ulkig sie kaute! Sie sah dabei wie
ein Kaninchen aus. Ich spürte, wie mir das Kichern hochstieg, aber
ich wollte auf gar keinen Fall lachen. Aber sie mummelte wirklich wie
ein Kaninchen.
War das wirklich ich, die kicherte ? Annie, hör auf, so etwas tut man
nicht. Ich kicherte nur noch lauter.
»Annie, was hast du?« fragte Sini mich beunruhigt.
Ich hatte einen Kicheranfall, das hörte sie doch. Hoffentlich fragte sie
mich nicht, warum. Weil unser Gast mich an ein Kaninchen erinnerte. Ich
kicherte nicht mehr, ich lachte. Sini sah mich wütend an, wollte etwas
sagen...
»Ach, laß sie doch«, unterbrach Fräulein Klein.
Hatte sie wohl gemerkt, daß ich über sie lachte ?
»Wollen Sie wirklich nicht lieber bei uns übernachten ?« fragte Heleen.
»Nein, vielen Dank, ich muß zurück«, antwortete Fräulein Klein.
»Sechzig Kilometer an einem Tag, das ist schrecklich weit in ihrem
Alter«, warnte Oma. »Ich begreife nicht, wie Sie das schaffen, wo Sie so
dünn sind. Sie müssen vorher wenigstens noch Abendbrot essen.«
»Nein, dann wird es zu spät; ich muß jetzt fahren.«
»Ich packe Ihnen etwas zu essen ein«, sagte Oma.
»Auf Wiedersehen, Fräulein Klein. Vielen Dank für die Bücher.« Zögernd streckte ich die Hand aus. Vielleicht gab sie mir gar nicht mehr die Hand, nachdem ich mich so benommen hatte ? Sie gab mir einen Kuß. Es tat mir leid, daß ich sie nie als Lehrerin haben würde. Mutter war auf dem jüdischen Friedhof begraben worden. Er war ganz in unserer Nähe in Winterswijk. Fräulein Klein hatte gesagt, wir sollten dankbar sein, weil sie noch rechtzeitig sterben konnte: Eine Woche nach ihrem Tod waren die Deutschen gekommen und hatten alle jüdischen Patienten aus dem Krankenhaus geholt. Ich spürte, daß ich wieder weinen mußte. Warum hatten die Deutschen das getan ? Warum ?
Bald war der 5. Dezember, und Sini und ich begannen, kleine Verse auf
jeden zu machen. Ohne Verse war es kein richtiger Nikolaustag. Jeder
mußte seinen Vers laut vorlesen. Oma hielt das Stück Papier dicht vor die
Augen und las feierlich:
Oh-Gott-oh-Gott-oh-Gott,
was der Mensch alles mitmachen muß:
ich schlaf überhaupt nie,
und ich weiß nicht wie
die Nächte so schnell vergehn
eh' ich Lust habe, aufzustehn.
Und wenn Hendrik das wüßte,
daß ich ein Gebiß haben müßte;
ich werd' eben alt,
und die Hühner auch,
drum kau' ich drauf rum,
so lange ich brauch'.
»Also, schämt ihr euch nicht, euch über eine alte Frau wie mich lustig zu
machen?« sagte Oma, aber ihre Stimme klang gar nicht ärgerlich. »Oh-
Gott-oh-Gott-oh-Gott, ich habe schon lange nicht mehr so gelacht. Wenn
Hendrik das wüßte.«
»Da haben wir uns zwei ganz schön freche Küken ins Haus geholt«, sagte Johann. »Ja, ja«, lachte Oma. »Heleen, gib mir noch eine Tasse Kaffee. Der Apfelkuchen ist nicht schlecht, aber warum hast du nicht mehr Äpfel drauf getan ? Wir haben den ganzen Keller voll, und dann gehst du hin und sparst am Apfelkuchen mit Äpfeln. Aber er ist nicht schlecht.« Oma nahm noch einen Bissen. »Wißt ihr, daß ihr morgen ein Jahr hier seid, Mädchen?« »Ja, Johann, das wissen wir.« Wie hätten wir das vergessen können ? »Und wie gefällt es euch hier, nach einem Jahr?« »Gut. Johann, bleiben wir heute bis Mitternacht auf ?« »Nein. Wozu soll ich an Silvester aufbleiben, wenn ich nicht einmal ein Glas Bier habe ? Wenn der Krieg nächstes Jahr um diese Zeit aus ist, dann trinke ich für ein paar Silvester im voraus. Und du, Frau ?« »Aber Johann, ich trinke doch nie. Das weißt du doch.« »Ja, ja, du verstehst eben keinen Spaß«, sagte Johann. »He, Sini, du hast schon den ganzen Abend fast kein Wort gesagt, woran denkst du ?« »An nichts«, antwortete Sini, ohne aufzuschauen. »Also, ein glückliches neues Jahr, alle miteinander«, sagte Johann.
»Vielleicht wird es 1944 doch besser.«
9 Johann kam in unser Zimmer. »Ihr bekommt Besuch, Mädchen. Kommen
Sie rein«, sagte Johann, halb umgewandt, und ein Mann trat ein. »Das ist
Pastor Slomp, der Rachel bei sich versteckt hat.«
Sprachlos starrten wir ihn an. Was wollte er hier ?
Rachel wollte ein paar Tage zu uns kommen, sagte er uns. Sie hielt es allein nicht mehr aus; sie mußte uns wiedersehen. Heleen brach in Tränen aus. »Johann, erlaube das nicht. Das ist viel zu gefährlich.« »Nur die Ruhe, Frau, ich weiß«, antwortete er. Pastor Slomp sagte, Heleen habe recht; Rachel wüßte das auch, aber sie wolle trotzdem kommen. »Bitte, laßt sie kommen«, sagte Sini. Ich setzte mich auf Johanns Knie. »Ich möchte sie so gern wiedersehen«, schmeichelte ich. »Was sollen die Nachbarn sagen, wenn sie Rachel hier reingehen sehen? « warnte Heleen. »Sie kommt am Abend, wenn es dunkel ist«, sagte Pastor Slomp. »Johann, es ist nicht richtig. Und wenn gerade dann Haussuchung gemacht wird ? Wenn die Deutschen uns erwischen, kommen wir alle ins Lager!« sagte Heleen. »Aber wenn die Mädchen sie doch so gern wiedersehen möchten«, sagte Oma. Ich legte Johann die Arme um den Hals. Er schubste mich grob von seinen Knien herunter. »Es ist ein gottverdammter Wahnsinn, den ihr da von mir verlangt, Mädchen«, sagte er klagend. Ich schaute Sini an. Schuldbewußt senkten wir beide den Blick. An dem Abend, an dem Rachel kommen sollte, heulte der Wind.
Richtiges Märzwetter. Wir saßen alle oben und warteten auf sie. Johann
war der erste, der sie unten ans Fenster klopfen hörte. Rachel! Wir
rannten hinunter. »Annie, Sini!« Sie umarmte uns.
»Heleen, stell das Wasser für den Tee auf«, sagte Oma.
»Wie lange hast du gebraucht, um herzukommen?« fragte Johann. »Ungefähr fünf Stunden.« »Gab es Schwierigkeiten unterwegs?« Nein, sagte Rachel, aber hier in Usselo hatte sie an einem Haus gefragt,
wo die Ostervelds wohnten. Sie erklärte, wo. »Verdammt noch mal«, stieß Johann wütend aus. »Das hättest du nicht tun dürfen. Das ist ein Schwätzer. Hat er dir Fragen gestellt?« Besorgt sahen wir Rachel an. Sie schüttelte den Kopf. »Du mußt dich eben mit in das Versteck quetschen, falls sie kommen«, sagte Johann. Heleen, die gerade Rachels Tasse füllen wollte, verschüttete Tee auf den Tisch. »Wie lange bleibst du ?« Morgen abend, sobald es dunkel wäre, ginge sie wieder, antwortete Rachel mit bedrückter Stimme. Als es Zeit zum Schlafengehen war, umarmte Rachel mich. »Ich bin so froh, weil ich meine kleine Schwester wieder bei mir habe.« Morgen müßte ich ihr sagen, daß sie mich nicht mehr wie eine kleine Schwester behandeln sollte; aber es hatte Zeit bis morgen. Was war mit Rachel los ? Auf alle Fragen antwortete sie nur mit den nötigsten Worten. »Macht es dir sehr viel aus, daß du allein bist?« »Nein.« Hatte sie denn nicht mehr zu erzählen? War sie Bose auf uns ? Nein, das war sie nicht; also warum sagte sie dann nichts ? Lag das daran, weil sie immer allein war und niemand hatte, mit dem sie reden konnte ? Aber Sini und ich redeten auch nicht immerzu miteinander. Manchmal mußte ich Sini ärgern, um sie so weit zu bringen, daß sie mit mir sprach. Dann sagte sie eine Menge. Aber das war besser als gar nichts, besser als allein sein. Ich ging und setzte mich Rachel auf den Schoß. Fast zwölf war noch nicht so schrecklich groß. Rachel fragte, ob wir in der letzten Zeit Nachricht von Vater erhalten hatten. Ja. Er hatte immerzu Hunger. Das war das einzige, was er in den seltenen Briefen erwähnte. Er schrieb, was und wie wenig er jetzt zu essen hatte, und wie er sich nach dem Krieg richtig sattessen wollte. Rachel nickte; genau das schrieb er ihr auch. Sie lächelte; es war nett, sie lächeln zu sehen. »Hier ist das Waschwasser, Mädchen.« Heleen stellte die Schüssel auf den Tisch. »Ich habe ein bißchen mehr reingetan, weil ihr heute drei seid.« Als sie wieder hinuntergegangen war, fragte Rachel: »Mehr Wasser
bekommt ihr nicht zum Waschen, Sini?« »Am Samstag bringt sie uns
einen Eimer voll.« »Nur samstags ? Du liebe Zeit. Annie, soll ich dir das
Gesicht waschen?«
»Nein«, sagte ich entrüstet. »Ich bin kein Baby.« Rachel sah gekränkt aus.
Das tat mir leid, aber ich war doch wirklich kein Baby mehr.
Wir standen vor der Schüssel und reichten uns gegenseitig das
Handtuch. Ich sei zu blaß, sagte Rachel. Könnte Johann nicht Lebertran
für mich beschaffen ? Und warum sähen wir
beide so verschlampt aus ? Wir sollten uns mal ansehen ! Gab es hier kein
Bügeleisen im Haus ?
Wieso hatte Rachel jetzt auf einmal so viel zu sagen? Mißmutig wandte ich mich von ihr ab und machte ein paar Schritte durch das Zimmer. »Annie, komm mal her, auf mich zu. Jetzt mach noch einmal kehrt.« Das wäre ihr doch gleich komisch vorgekommen, wie ich gelaufen sei, sagte Rachel. Sie hätte sich also nicht geirrt; ich ginge nicht richtig. Nun, das wußte ich längst. Paßte Sini denn nicht auf, daß ich Gymnastik machte? Doch, doch, Sini war dauernd hinter mir her wegen der Gymnastik, verdammt noch mal. War Rachel bloß hergekommen, um zu meckern? Was sagte da Sini ? »Rachel, bitte nimm sie zu dir. Ich habe es einfach über, dauernd mit ihr kämpfen zu müssen.« Nun, ich hatte es auch über. Vielleicht würde ich Sini tatsächlich verlassen und mit Rachel gehen. Oh, sie konnte mich nicht mitnehmen? Na, gut, ich wäre ja sowieso nicht mitgegangen. Ich verabscheute sie alle beide. »Rachel, du magst doch ein Ei?« »Ja, danke, Oma.« »Es ist ganz frisch, von heute morgen. Ihr beide kriegt sonntags eines. Jedenfalls tut es ihnen gut, daß du da bist, Rachel. Ihr habt euch sicher eine Menge zu erzählen.« Ich zerbrach mir den Kopf, damit mir etwas einfiel, was ich Rachel erzählen konnte. Vielleicht sollte ich ihr zeigen, wo wir uns im Sommer versteckten. »Komm mal mit«, sagte ich geheimnisvoll und öffnete weit die Tür zur rückwärtigen Kammer. »Schau mal, hier gibt es zwei Fenster, und das linke, das gehört mir. Und der Baum da draußen hat schon Knospen.« Ich schaute zu ihr auf. Wie gefiel ihr das ? »Es ist eine nette Kammer für den Sommer«, sagte Rachel. Wir gingen wieder in das Schlafzimmer. Rachel öffnete ihre Schultertasche und holte eine Postkarte hervor. Sini und ich beugten uns darüber. Die Karte war von Onkel Phil. »Wir sind auf dem Weg nach Polen. Ich werfe diese Karte auf dem nächsten Bahnhof aus dem Zug und hoffe, irgend jemand hebt sie auf und steckt sie in den Briefkasten.« Von hier an schrieb Großmutter mit ihrer zittrigen Schrift weiter. »Zum Glück haben wir warme Sachen dabei, denn das Wetter wird immer kälter. Macht Euch keine Sorgen um uns.«
›Macht Euch keine Sorgen um uns .. .< Nein, wahrscheinlich brauchten wir uns keine Sorgen mehr um sie zu machen. Ich wußte, was mit den alten Leuten geschah, wenn sie im Lager aus dem Zug stiegen. Ich schaute verstohlen zu Rachel hinüber. Sie wußte es auch, denn sonst hätte sie nicht so ernst ausgesehen.
A1s es draußen dunkel war, mußte Rachel wieder gehen. Sie umarmte uns
stumm. Ihr Gesicht war naß. Meines auch. Warum mußte sie so schnell
fort? Wir hatten noch nicht einmal angefangen, richtig miteinander zu
reden.
Sie verließ unsere Kammer, zog die Tür hinter sich zu und rannte die
Treppe hinunter. Einen Augenblick später ging Sini in die rückwärtige
Kammer und machte die Tür hinter sich zu. Ich hörte sie trotzdem weinen.
Wir hätten Rachel fragen müssen, wo wir uns nach dem Krieg in
Winterswijk treffen würden. Wir konnten doch nicht einfach zu unserem
Haus gehen; da wohnten jetzt Nazis. Aber sicher durften die unser Haus
nicht einfach behalten, wenn der Krieg vorbei war. Wir konnten einfach
sagen: Verschwindet aus unserem Haus!
Aber wann war das endlich, nach dem Krieg ? Die Deutschen verloren
schon seit Jahren. Gut, seit anderthalb Jahren. Aber wie lange konnten sie
noch verlieren, ohne endlich klein beizugeben ? Wann ?
Jede Nacht donnerten die amerikanischen Flugzeuge über Holland
hinweg. Sie flogen nach Deutschland und zerstörten dort die Städte. Und
die Russen hatten die Deutschen schon fast aus ganz Rußland verjagt und
kämpften in der Nähe der polnischen Grenze. Großartig. Aber was
hatten wir davon,
wenn die Russen in Deutschland waren und die Deutschen noch immer
in Holland blieben ? Und die Amerikaner und die Engländer kämpften
noch immer in Italien. Wahrscheinlich gefiel es ihnen dort. Italien sei ein
schönes Land, mit viel Sonne, hatte Sini gesagt. Warum sollten sie also
nach Holland kommen? Schau doch nur zum Fenster hinaus, nur Regen.
Ich gab dem Tischbein im Vorbeigehen einen Tritt.
Sini merkte es nicht. Sie sprach mit Johann. »Das Geld ist doch sicher alle,
Johann? Vater hat nicht geahnt, daß wir uns so lange verstecken
müssen.«
»Natürlich ist es alle.«
»Was jetzt, Johann?«
»Wie meinst du das, was jetzt ? Nichts. Denkst du vielleicht, ich schmeiße euch aus dem Haus, weil ihr kein Geld mehr
habt?«
»Vater wird dir nach dem Krieg Geld geben, Johann.«
»Immer schön der Reihe nach. Erst muß der Krieg zu Ende sein, und dein Vater muß ihn überleben. Und dann hat er wahrscheinlich gleich nach dem Krieg kein Geld. Das ist nicht schlimm. Er kann mir dann billig eine gute Kuh beschaffen oder eine von meinen für mehr verkaufen, als sie wert ist. Johann ist nicht ganz blöd. Wißt ihr, daß alle sagen, daß jetzt bald eine Invasion kommt?« »Wer, alle, Johann?« »In der Fabrik. Der Mann, mit dem ich arbeite, ist sicher, daß der Krieg jetzt nicht mehr lange dauert. Und ich werde euch sagen, warum er das meint.« »Laß nur«, sagte Sini erschöpft. »Mir ist es ganz egal, was er von der Lage hält.« Warum wollte Sini sich das nicht anhören ? Vielleicht wußte der Mann in der Fabrik wirklich etwas, was wir noch nicht erfahren hatten. Das war doch möglich. Aber nein, woher sollte er das wissen ? Ich seufzte. Ich schaute zum Fenster hinaus. Gleichgültig bemerkte ich, daß die Bäume schon wieder grün waren. Bald würden wir wieder in die Kammer für den Sommer ziehen. Absätze klapperten auf der Dorfstraße. Ich schob meinen Stuhl vom Fenster weg. Ich wußte, daß es jetzt neun Uhr war, ohne auf die Uhr schauen zu müssen. Jeden Morgen um neun Uhr kam Frau Groot Milch holen. Sie klopfte an der Küchentür. »Hallo, jemand da?« Sie blieb nie lange. Und auf dem Rückweg ging sie immer viel langsamer, damit sie keine Milch verschüttete. Kurz danach radelte der Briefträger vorbei. Bei ihm mußte ich sehr vorsichtig sein. Weil er auf dem Rad kam, hörte ich ihn erst, wenn er genau unter meinem Fenster vor der Küchentür hielt und heruntersprang. Ich blinzelte dem Fenster zu. Weißt du, was Radio Oranien gestern abend gemeldet hat? DIE ALLIIERTEN TRUPPEN SIND IN DER NORMANDIE GELANDET! Ich flüsterte das Wort »Normandie« vor mich hin. Wahrscheinlich hast du auch keine Ahnung, wo das ist! Genau wie Oma. »Wo ist denn das, in Italien?« hat sie gefragt. Nein, das ist in Frankreich, in Nordfrankreich, gar nicht so schrecklich weit von Holland wie Rußland oder Italien. Und das ist die Invasion, von der Johann und der Mann in der Fabrik in Bokelo und alle Leute schon die ganze Zeit reden. Auch das hast du nicht gewußt, nicht? Ich schnitt dem Fenster ein Gesicht. Johann und Sini haben darauf gewettet, daß wir im August frei sind. Ja, in diesem August. Und jetzt war schon Juni.
»In der Normandie soll heute schlechtes Wetter sein«, berichtete Johann. »Nichts wie Regen.« »Die armen Burschen, die bei dem Wetter kämpfen müssen«, sagte Oma. »Gehen wir schlafen«, sagte Heleen. »Mir brummt schon der Kopf von all den Nachrichten.« »Na, wenn dir schon von den Nachrichten der Kopf brummt, was sagst du dann erst, wenn die Alliierten hier einmarschieren ? Die Amerikaner und Engländer und Kanadier!« »Du meinst, sie kommen bis nach Usselo ?« »Natürlich. Es wird Zeit, daß wir ein bißchen ... Sini, was reden sie in Amerika und in Kanada?« »Englisch.« »Natürlich. Englisch. Verdammt, Sini, du mußt mir vorher ein bißchen Englisch beibringen. Was heißt: Haben Sie Zigaretten?« »Do you have cigarettes?« Johann versuchte, es zu wiederholen. Seine Zunge stolperte über die Worte. Heleen lachte ihn aus. »Gib es auf, Johann. Jetzt hörst du dich wie ein dummer Bauer an.« Johann versuchte es noch einmal, und diesmal ging es schon besser. Er probierte es, bis er es konnte und die Worte genauso wie Sini aussprach. »Das muß ich richtig sagen können. Der Tabak, den ich die ganze Zeit selbst angebaut habe, hängt mir zum Hals heraus.« Ich nahm mir vor, weiterhin Gymnastik zu machen. Schließlich wollte ich nicht, daß die anderen Kinder nach dem Krieg mit dem Finger auf mich zeigten: Schau mal, die Watschelente! Das klingt gut: nach dem Krieg. Und ich sollte auch Englisch lernen bei Sini. Ich wollte auch mit den Soldaten sprechen können, die uns befreien würden. Gestern hat Oma eine gescheite Frage gestellt: »Wie weit sind die Alliierten gekommen?« Noch nicht weit. Aber sie sind unterwegs. Nur die Ruhe, sie kommen schon. Aber Frankreich scheint ihnen gut zu gefallen, sie lassen sich Zeit dort. Ich verbrachte Stunden damit, zum Fenster hinauszuschauen. Das war immer noch besser, als Sini anzuschauen. Damals, als das Radio meldete, daß jemand versucht hatte, Hitler umzubringen, damals hatte Sini zum letzten Mal gelacht. Und auch nur für ein paar Sekunden, denn der Mann im Radio hatte hinzugefügt, daß Hitler nichts passiert war. Das war im Juli gewesen, und jetzt war längst August, und Johann und Sini hatten ihre Wette verloren. Aber sogar die Tatsache, daß der größte Teil Frankreichs schon befreit worden war, lenkte Sini nicht davon ab, daß sie in diesem
Sommer wieder nicht sonnenbraun wurde. »Noch ein ganzer Sommer ohne Sonnenbad. Schau mich an, Annie, ich sehe aus wie Käse.« »Vielleicht sollten wir Johann fragen, ob er uns für einen einzigen Nachmittag hinausläßt, Sini ?« »Du bist verrückt.« Nun, wir konnten ja wenigstens fragen. Aber wohin konnten wir hier gehen ? »Noch ein paar so schöne Tage, und wir können den Weizen mähen«, sagte
Heleen. »Er steht gut, dieses Jahr.«
»Wo ist das Weizenfeld?«
»Gleich hinter der Scheune.« Heleen warf einen Blick zum Fenster hinaus. »Nein, von hier aus könnt ihr es nicht sehen.« Sini und ich sahen uns an. Wann kam Johann endlich nach Hause ? »Es ist so schön draußen! Johann, bitte!« »Ich will euch mal was sagen. Ihr habt mich herumgekriegt, als ihr Rachel hier haben wolltet, aber diesmal kriegt ihr mich nicht rum.« »Wenn euch jemand sieht!« sagte Heleen und zog mich auf den Schoß. »Dann werden wir alle umgebracht. Seid vernünftig und laßt Johann in Ruhe.« »Um ein bißchen braun zu werden? Was habt ihr denn davon?« sagte Oma. »Aber Johann, es ist so schön draußen ! Und wir sind...« »Ich habe nein gesagt, Mädchen.« »...wir sind schon zwei Jahre lang eingesperrt. Das ist schrecklich lang.« Am nächsten Tag fragte Johann uns, ob wir fertig wären. Wir starrten ihn an. »Ihr habt mich doch gestern abend gefragt, ob ihr raus könnt, nicht?« Ja, gefragt hatten wir, und er hatte nein gesagt. »Ich habe es mir anders überlegt. Sini, komm du zuerst. Annie, du wartest hier, bis ich dich hole.« Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen stieg. Meinte Johann das wirklich ernst ? Offensichtlich doch, denn Sini und er gingen schon die Treppe hinunter. Ich hüpfte zum Fenster. Johann schob einen Schubkarren durch den Hof. Aber er war allein. Vielleicht kam Sini gleich aus der Küchentür. Ob sie einfach zum Weizenfeld lief ? Was war in dem Schubkarren ? Ich preßte die Nase an die Scheibe. Ich konnte nur eine Pferdedecke sehen. Lag vielleicht Sini darunter ?
Ich kniff die Augen zu. Ja, der rundliche Berg konnte Sini sein.
Ein paar Minuten später kam Johann mit dem Schubkarren zurück. Die
Pferdedecke lag flach und zerknüllt darin.
»Annie, jetzt kannst du herunterkommen.«
Der Schubkarren stand in der Küche.
»Steig ein. Ich decke dich zu«, sagte Johann.
»Wenn du wüßtest, wie gefährlich das ist«, sagte Heleen mit furchtsamer
Stimme.
Ich zog die Knie hoch, bis sie beinahe mein Gesicht berührten. Ich
legte beide Hände auf die Wangen, um die rauhe Decke wegzuhalten.
Jemand öffnete die Küchentür. Das Eisenband auf dem Schubkarrenrad
knirschte über den Boden.
»Weg da!« rief Johann. Er verscheuchte die Hühner. Ich lächelte. Sie
mußten mir den Weg freimachen. Es war warm. Ich hob den Arm ein
wenig, um Luft unter die Decke zu lassen. »Annie!« zischte Johann. Sofort
ließ ich den Arm wieder sinken. Blöd von mir.
Johann hielt inne. Dann schob er den Schubkarren mit aller Kraft in das
Weizenfeld hinein. Er nahm die Decke ab. Da saß Sini auf einem Lager aus
flachgedrückten Weizenhalmen. Mühsam kletterte ich aus dem
Schubkarren. Der Weizen stand höher als ich groß war. Johann breitete
die Decke auf dem Boden aus. »So, Mädchen, jetzt habt ihr den ganzen
Tag vor euch. Zum Abendbrot hole ich euch wieder.«
Wir legten uns auf den Rücken. Das Gesicht der Sonne zugewandt. Ich
verschränkte die Arme unter dem Kopf. Zufrieden spürte ich eine
winzige Brise über mein Gesicht streichen. War das nicht schön, daß wir
hier liegen konnten, beinahe so, als ob wir schon frei wären ? Es machte
auch gar nichts, daß es hier keine Leute gab. Keine jungen Männer, die Sini
von mir wegholten. Was sagte sie da? Daß sie nach dem Krieg nicht mehr
in Winterswijk bleiben wollte?
»Warum, Sini ?«
Es sei ein langweiliger Ort, sagte Sini. Man könne dort nur am Samstag
abend tanzen gehen; sonst sei überhaupt nichts los. Nun, heute hatte ich
Sini noch für mich allein. Ich versuchte, die Augen zu öffnen, aber die
Sonne tat weh. Ich legte die Hände über die Augen, um das Licht
abzuwehren. Dann spreizte ich die Finger, damit ich etwas sehen konnte. Der
Himmel war so blau. Es gab keine einzige Wolke. Es war schön, wieder
draußen zu sein.
Ein Flugzeug flog über uns hinweg. Es klang, als ob es über die Spitzen
der Weizenhalme streifen würde. Was würde der Pilot denken, falls er uns
sehen konnte ? Wir zogen die Decke über uns und hielten ganz still, bis wir
das Flugzeug nicht mehr hören konnten.
Wann würde Johann uns holen? Erst zum Abendbrot? »Warum so spät, Sini ?« »Langweilst du dich schon?« »Nein, natürlich nicht.« Aber es wurde allmählich schrecklich warm. Schade, daß es keinen Schatten gab. Ich wischte mir mit dem Arm über das Gesicht. Früher, vor dem Krieg, hätte Mutter mich längst hereingerufen. Ich hätte mich beklagt: »Du läßt mich nie machen«, aber ich wäre erleichtert ins Haus gegangen. Es wäre schön, jetzt wieder oben zu sein, am Fenster zu sitzen und die Bäume zu betrachten. Ich hatte genug von diesem Sonnenbad. Ich schob die Unterlippe vor und pustete ein wenig Atem über meine Nase. War das heiß ! Plötzlich wälzte Sini mich tiefer in den Weizen hinein. Was war los? Sie wies stumm nach rechts, wo die Halme wild schwankten. Da kam jemand. »Wo seid ihr, Mädchen?« Johann, natürlich. Es war fünf Uhr. »Lieber Himmel, ihr habt zuviel Sonne abgekriegt.« Johann sah erschrocken aus. »Heleens Schwester ist gekommen. Ich kann euch erst holen, wenn sie wieder weg ist. Und ich weiß nicht, wie lange sie noch bleibt.« Er setzte sich neben uns. »Verdammt, da habe ich einen schönen Mist gemacht. Haltet ihr es noch eine Weile aus ? Ich gehe wieder ins Haus. Hoffentlich geht sie bald.« Eine halbe Stunde später kam Johann wieder, diesmal mit dem Schubkarren. »Annie, steig ein.« »Bitte laß die Decke weg; es tut weh.« »Ich weiß, aber ohne Decke ist es zu gefährlich.« Ich hielt mir wieder die Hände vor das Gesicht. Johann rannte beinahe. Bei jedem Schritt wetzte die Decke über meine Arme und Beine. Die Küchentür wurde geöffnet. Ich war wieder im Haus. »Oh-Gott-oh-Gott-oh-Gott, Johann, was hast du mit den beiden angestellt?« »Ich habe dir gleich gesagt, du sollst sie nicht hinauslassen, aber auf mich hörst du ja nie. Du hörst immer nur auf die Mädchen.« Heleen beugte sich über mich. »Hole einige nasse Handtücher!« »Sini, ich friere.« »Du frierst?« fragte Sini beunruhigt. »Das ist unmöglich. Laß deine Stirn fühlen. Du glühst vor Hitze.« Aber ich zitterte vor Kälte. »Johann, sie braucht einen Arzt«, sagte Sini. »Ich kenne eigentlich keinen. Es ist zehn Jahre her, seit der aus Bokelo
einmal bei uns war. Damals hatte Oma eine Lungenentzündung.« »Das ist doch länger her, Johann. Ich war noch nicht sechzig. Und er hat mir auch nicht gefallen. So ein Schwätzer. « »Du magst überhaupt keine Ärzte, Mutter.« »Er hat auch nichts gekonnt«, sagte Oma. »Zu dem gehen wir nicht mehr.« »Wen sollen wir denn sonst holen ?« fragte Johann. »Frage die Hanninks. Vielleicht wissen die einen, der den Mund hält«, schlug Heleen vor. Johann und Oma schauten sie voll Überraschung an. Der Arzt sagte, es sei ein Wunder, daß Sini nicht auch krank sei nach so vielen Stunden in der Sonne. Seine Stimme klang ungeduldig und verärgert. »Bist du Bose auf mich, Annie?« fragte Johann. »Ich hätte dich ja früher reingeholt, aber es ging einfach nicht.« »Nein, Johann.« »Gute Nacht, Annie«, sagte Oma. »Wenn du etwas brauchst, rufe mich. Ich bin sowieso wach.« »Sie kann ja mich rufen; ich liege schließlich gleich neben ihr«, sagte Heleen. »Gute Nacht, kleine Schwester.« Sini gab mir. vorsichtig einen Kuß. Es war doch ein schöner Tag gewesen. Nur ein bißchen lang und heiß.
10 Die Alliierten marschierten durch Belgien nach Holland, sagte das Radio. Es war schon ein großartiges Gefühl, bald frei zu sein, und wie großartig mußte es erst sein, wenn die Alliierten wirklich kamen. Holland war doch nur ein wenig größer als Belgien ? Die Leute in Südholland, in der Nähe der belgischen Grenze, konnten die alliierten Soldaten vielleicht jetzt schon sehen. Sie hatten Glück. »Kommst du uns besuchen, wenn wir wieder in Winterswijk sind?« fragte ich Oma. »Ich?« Sie lachte. »Ich bin schon seit über zwanzig Jahren nicht mehr aus Usselo herausgekommen.« »Ich komme«, meinte Johann. »Und nicht in diesem komischen Overall. Nein, ich ziehe meinen guten Anzug an.« »Johann, du kommst schon wieder zu spät zur Arbeit«, sagte Oma. »Ja, du mußt dich beeilen, Johann«, drängte Heleen.
»Verdammt, ich habe zu viele Frauen im Hause.« Johann ging und knallte die Tür hinter sich zu. Johann war kaum fort, als Herr Hannink an der Küchentür klopfte. »Die Deutschen kommen! Haussuchung!« »Haussuchung!« schnaufte Heleen erschrocken, aber Herr Hannink war schon wieder fort. Sini und ich krochen, so schnell wir nur konnten, in das Versteck. »Oh-Gott-oh-Gott-oh-Gott, Heleen, mach nicht sofort zu.« »Aber sie können jede Minute hier sein!« »Du bleibst hier oben beim Fenster, und wenn du den Lastwagen kommen siehst, dann machst du den Schrank zu«, sagte Oma. »Wohin gehst du ?« »In die Küche. Johann kommt um zwölf zum Essen nach Hause.« Sini und ich standen dicht nebeneinander im Schrank, lauschten und warteten. »Sie kommen!« Heleen schob das Brett vor die Luke in der Schrankrückwand. Wir hörten, wie sie das Brett herunterließ, die Schranktür zuschlug und die Treppe hinunterrannte. Dann nichts mehr. Was machten sie so lange unten? Wir konnten hier drin ersticken, wenn sie sich stundenlang Zeit ließen. Ich lehnte mich an Sini. Schritte. Sehr laute. Von Stiefeln. Sie kamen die Treppe herauf. Dahinter das Klappern von Holzschuhen. Sini legte den Arm um mich und zog meinen Kopf .auf ihre Schulter. Laute Stimmen. Grobe Stimmen. Möbel wurden hin und her geschoben. Oma protestierte. Die Schranktür wurde aufgerissen. Hände hantierten auf den Brettern herum. Sini zitterte und hielt mich noch fester an sich gepreßt. Ich atmete nicht mehr durch die Nase. Es war geräuschloser, wenn ich mit offenem Mund atmete. Eine Männerstimme sprach Deutsch. Dann sagte eine andere Männerstimme in Holländisch: »Wir wollen wissen, woher die vielen Stoffstücke kommen.« »Was fällt ihm ein ? Der Stoff gehört mir! Er kann ihn nicht einfach wegnehmen!« sagte Oma. »Sagen Sie ihm das.« Ein Stock schlug ein-, zweimal heftig auf den Fußboden. Die Schranktür wurde zugeknallt. Mein Herz klopfte so laut. Konnten sie es draußen hören ? Mein Mund war trocken, aber ich wagte es nicht, durch die Nase zu atmen. Vielleicht waren sie noch immer da. Ich hatte zuvor gehört, wie sie die Treppe hinuntergetrampelt waren. Aber vielleicht hatten sie einen Soldaten als Wache zurückgelassen ? Sini dachte das wohl auch, denn sonst würde sie mich nicht so festhalten.
Wieder Lärm auf der Treppe. Kommen sie noch einmal? Nein, diesmal waren es nur Holzschuhe. »Sie sind weg!« Heleen zog das Brett vor der Öffnung beiseite. »Haben wir ein Glück gehabt. Der eine stand genau hier. Ich habe Angst gehabt, er höre euch atmen.« »Ich habe euch Kaffee gemacht, Kinder«, sagte Oma. »Ihr könnt herauskommen. Diese gemeinen Kerle. Sie haben das Schwein beschlagnahmt, das wir zu Weihnachten schlachten wollten, und sie haben den Stoff mitgenommen, den ich seit Jahren spare.« Das Schwein und den Stoff? Sie hätten uns aufladen können! »Nein, Oma, wir bleiben heute vormittag im Schrank. Vielleicht kommen sie zurück.« »Wenn ihr nicht schon wieder an mir herumgemeckert hättet, daß ich zu spät zur Arbeit komme, dann wäre ich noch hier gewesen«, sagte Johann, als er mittags von der Haussuchung erfuhr. »Jetzt habt ihr gesehen, was dabei herauskommt. Ihr habt einfach zugeschaut, wie sie das Schwein beschlagnahmt haben? Ihr Dummköpfe. Du hättest sie daran hindern sollen, Mutter.« »Johann, schreie mich nicht an. Ich habe ihnen ja gesagt, daß sie das nicht machen können, aber Heleen wollte nicht, daß ich noch mehr sage. Heleen hatte Angst...« »Ich habe keine Angst gehabt.« »Jedenfalls muß ich heute nachmittag wieder in die Fabrik«, sagte Johann. »Nein, Johann, bleibe zu Hause.« »Wie kommst du darauf ? Ich muß zur Arbeit, sonst kriege ich Scherereien.« »Und wenn sie noch einmal kommen, Johann?« »Ach so, deshalb willst du, daß ich dableibe ? Damit ich euch beschütze?« »Ja.« »Na gut, ich bleibe hier. Und ich wollte beinahe, sie würden noch einmal kommen. Denen würde ich was erzählen, darauf kannst du dich verlassen. Ich wette, ich würde auch das Schwein wiederkriegen. Schon gut, reden wir nicht mehr von dem Schwein. Die Hauptsache ist, sie haben die Mädchen nicht gefunden.« Irgendwann am Nachmittag kam Heleen heraufgerannt. »Wißt ihr noch, wie wir bei dem Bauern waren, der die zehn Juden versteckt hat, Annie und ich? Weil da dieses kleine Mädchen war, mit dem du dann kein Wort geredet hast?« Heleens Stimme zitterte. »Die Deutschen haben sie gefunden. Sie haben sie alle mitgenommen, die Juden und den Bauern
und seine ganze Familie. Alle.«
»Waren sie denn nicht in einem richtigen Versteck?« »Doch, aber sie
haben sie trotzdem gefunden. Versteht ihr jetzt, wie vorsichtig ihr sein
müßt ? Denn wenn sie euch finden, dann ist es aus.«
Ich erinnerte mich an Mimi. Sie hatte auch kein Wort zu mir gesagt. Mimi
war nicht mehr in ihrem Versteck. Vielleicht war sie schon im Zug. Meine
Lippen waren ganz ausgetrocknet.
Es war schon sehr spät, als Herr Hannink noch einmal kam. Er sagte, er
habe etwas Wichtiges mit Johann zu besprechen; es hatte etwas mit dem
Bauern und den zehn Juden zu tun, die heute verhaftet worden waren.
Johann schickte Sini und mich aus dem Zimmer. War die Sache so
gefährlich, daß wir nicht dabei sein durften? Ich schlich mich, ohne daß
Sini es bemerkte, zurück zur Tür und lauschte.
»Jemand hat sie an die Deutschen verraten«, hörte ich Herrn Hannink leise sagen. »Die Deutschen wußten, daß die Juden bei diesem Bauern sind, und sie wußten sogar genau, wo das Versteck war.« Herr Hannink senkte die Stimme noch mehr. Ich konnte ihn kaum verstehen. »Und ich weiß, wer sie verraten hat.« Er räusperte sich. »Dieser Mann muß getötet werden, ehe er noch mehr Menschen an die Deutschen verrät.« Es wurde still. »Kannst du das übernehmen, Johann?« »Also, um die Wahrheit zu sagen«, begann Johann zögernd. »Ich habe noch nie jemanden umgebracht, Herr Hannink.« »Oh-Gott-oh-Gott-oh-Gott«, seufzte Oma. »Natürlich nicht, Johann«, nickte Herr Hannink. Dann sagte er, in diesem Fall bleibe leider gar nichts anderes übrig, als diesen Menschen zu erschießen, um viele andere zu retten. »Ich gebe dir einen Revolver. Du versteckst dich vor seinem Haus im Graben und wartest, bis er herauskommt. Sobald du ihn erschossen hast, mußt du sehen, wie du wegkommst.« Dann vernahm ich Johanns Stimme. Sie klang angstvoll. »Wenn sie mich erwischen, drehen die beiden Frauen durch und verraten alles.« Ein paar Tage später kam ein junger Bursche. Er sagte, er wolle mit Johann über eine Arbeit sprechen, die erledigt werden müsse. Er gab ihm einen Brief von Herrn Hannink. Er blieb eine Weile und nahm dann den Revolver und die Anweisungen mit, die Herr Hannink bei Johann gelassen hatte. Schon am nächsten Tag wurde der holländische Nazi erschossen. Die Deutschen waren wütend, weil sie einen nützlichen Spitzel verloren hatten. Sie nahmen ein paar Holländer als Geiseln gefangen. Wenn derjenige, der den Nazi erschossen hatte, sich freiwillig bei der Polizei meldete, sollten die Geiseln wieder freigelassen werden.
Aber der junge Mann meldete sich nicht, und eines Tages lagen die Geiseln erschossen auf der Dorfstraße von Usselo. Das machte uns alle sehr still, vor allem Johann. Mitte September 1944 sprangen Tausende von englischen Fallschirmjägern über Arnheim ab. »Von Arnheim bis nach Usselo, das kann man mit dem Fahrrad an einem Tag schaffen!« sagte Johann. Sini lachte, und Johann meinte, sie müsse ihm sofort wieder eine Englischstunde geben. Es eilte allmählich damit, es richtig zu lernen; die Engländer seien schon in Arnheim. Ich beobachtete Sini; ihr Gesicht war vor Freude gerötet. Mir war eher nach Weinen zumute. Weißt du nicht mehr, wie lange sie schon in Italien kämpfen, Sini? Warum vergißt du das? Ich weiß, Arnheim ist in Holland, aber... In einer Woche war alles vorbei. Nein, nicht der Krieg, die Schlacht um Arnheim. In Arnheim waren viel mehr deutsche Truppen, als die Alliierten vermutet hatten, und die amerikanischen Soldaten, die durch Südholland kamen, um den Fallschirmjägern zu helfen, mußten sich wieder zurückziehen. Ein Teil von Südholland war schon befreit, aber Usselo war in Nordholland. In Eindhoven tanzten und sangen die Menschen wahrscheinlich auf den Straßen, wie in Paris im August. Radio Oranien hatte uns das gemeldet. Alle Leute wünschten, die Alliierten hätten auch den Rest Hollands befreien können. Die Deutschen benahmen sich immer schrecklicher, und alle hatten vor ihnen Angst. In Amsterdam kamen die deutschen Soldaten eines Abends in ein Kino und holten alle Männer, die noch jung genug zum Arbeiten waren, mitten aus der Vorstellung heraus, um sie nach Deutschland zu schicken. Deutschland brauchte Arbeiter für seine Rüstungsfabriken; seine Männer waren ja im Krieg, also holten sie Holländer. Von dem Abend an gingen die Holländer in den Städten nicht mehr ins Kino; aber das nützte nicht viel. Die Deutschen holten sie sogar aus den Kirchen heraus oder aus den Autobussen. Wenn sie sich ärgerten, weil sie nicht genug Männer zum Arbeiten gefunden hatten, erschossen sie einfach auf der Straße einige. Niemand war mehr sicher. Es wurde kalt, und es gab keine Kohlen mehr. Abends gingen wir eine Weile hinunter in die Küche, um uns aufzuwärmen. »Johann, bist du sicher, daß niemand durch die Verdunkelungsvorhänge schauen kann?« fragte Heleen jedesmal. Aber wer sollte schon hereinschauen? Sobald es dunkel war, durfte niemand mehr auf die Straße: Sperrstunde. Ausgehverbot. Es gab auch keinen Strom mehr abends. Die Industrie brauchte ihn, sagten sie.
»Johann, ich weiß nicht, was ich mit den Leuten aus der Stadt machen soll, die an die Tür kommen und etwas zu essen haben möchten. Heute waren es wieder sechs. Sie haben gesagt, sie hätten Glück, weil sie wenigstens noch auf den Beinen seien und zu den Bauern gehen könnten, aber viele Leute seien vor Hunger schon viel zu schwach dazu.« »Oh-Gott-oh-Gott-oh-Gott, Johann, sie waren so blaß und mager.« »Was hast du ihnen gegeben?« »Ein paar Kartoffeln, was anderes haben wir ja auch nicht«, sagte Heleen. »Und sie wollten mir noch viel Geld dafür geben.« »Das darfst du nicht annehmen.« »Ich habe es auch nicht genommen.« »Es ist eine Schande, wie viele Bauern sich die Lebensmittel mit guten Sachen bezahlen lassen und den Leuten dafür gute Wäsche und Schuhe abnehmen. Sogar Schmuck verlangen sie. Es ist ein Skandal«, sagte Johann. »Ja, ja, wenn schlechte Zeiten sind, dann lernt man die Menschen kennen. Und die meisten taugen nichts«, sagte Oma und schüttelte den Kopf. »Die Leute waren aus der Stadt, wo gekämpft wird, aus Arnheim. Sie haben gesagt, die ganze Stadt sei ein Trümmerhaufen. Und die Leute, die noch fliehen konnten, sind auf der Straße und wissen nicht, wo sie bleiben können. Und es wird Winter.« Johann kratzte sich den Kopf. »Wenn wir die Mädchen nicht hätten, dann würde ich sagen, wir könnten ein paar Flüchtlinge in der Scheune schlafen lassen. Aber so ist es zu gefährlich; wir können uns keine fremden Leute ins Haus holen, die vielleicht doch Nazis sind.« Draußen vor dem Haus hielt plötzlich ein Auto. Ein Wagenschlag knallte. Das Gartentor quietschte, und laute Schritte dröhnten am Haus entlang. Stiefel. Johann stieß uns die Treppe hinauf. »In den Schrank, schnell!« Lieber Himmel, was war jetzt wieder los ? Warum kamen sie nicht herauf ? Ich verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere. Es wurde allmählich stickig in dem engen Loch. Endlich ließ Johann uns heraus und berichtete: diesmal waren die Deutschen nicht gekommen, um Haussuchung zu machen, sondern um einen Teil des Hauses als Büro zu beschlagnahmen. »Ich habe ihnen gesagt: Zum Wohnen ist das nichts für Sie, wir haben kein fließendes Wasser, wir haben nicht einmal ein ordentliches Klo, und im oberen Stock sind zwei kleine Schlafkammern für meine Mutter, meine Frau und mich. Ich habe ihnen die drei Zimmer nach vorne gezeigt, und sie haben sofort
gesagt, die nehmen wir.« Johann putzte sich geräuschvoll die Nase. »Verdammt, ich wette, die hocken Tag und Nacht hier.« »Also, was jetzt?« fragte Sini. »Meinst du, Herr Hannink kann ein anderes Versteck für uns finden ?« »Wie kommst du darauf? Ihr bleibt natürlich hier. Nicht wahr, Heleen?« »Ihr müßt schrecklich vorsichtig sein, aber natürlich schicken wir euch nicht weg«, sagte sie. »Eigentlich seid ihr jetzt viel sicherer als vorher. Denn welcher Idiot würde auf die Idee kommen, ausgerechnet bei uns nach Juden zu suchen ? Niemand ! Ha, ha, die Deutschen und ihr unter einem Dach !« »Aber Johann, wenn sie nach oben gehen?« fragte Heleen besorgt. »Daran habe ich schon gedacht. Ich trenne die drei Zimmer vom Rest des Hauses ab, daß niemand vom Flur aus direkt die Treppe hinauf kann, sondern nur durch die Küche. Und eine von euch Frauen muß eben immer in der Küche sein.« »Und wenn sie trotzdem unbedingt hinauf wollen?« »Heleen, warum verlierst du immer gleich den Kopf ?« sagte Oma vorwurfsvoll. »Wie lange bleiben sie hier?« fragte Sini. »Keine Ahnung. Das konnte ich sie doch nicht fragen. Vielleicht bis zum Ende des Krieges.« Das konnte noch lange dauern. »Ihr müßt den ganzen Tag in der rückwärtigen Kammer bleiben, denn das Zimmer vorn ist genau über ihrem Büro.« »Aber Johann, da erfrieren sie. Es ist der kälteste Raum im ganzen Haus, und es gibt keine Kohlen.« »Dann müssen sie eben im Bett bleiben.« »Und das Radio?« fragte Sini. »Verdammt und zugenäht! Jetzt können wir keine Nachrichten mehr hören. Ich muß das Radio woanders verstecken; das kann ich nicht bei denen im Büro lassen.« »Wie erfahren wir dann, was wirklich los ist, Johann?« »Nur die Ruhe, ich erfahre es schon. Das hat uns gerade noch gefehlt ... deutsche Einquartierung! Eine schöne Abwechslung, Mutter.« Oma schüttelte den Kopf. »Ich wollte, wir hätten das schon hinter uns. Und ein Telephon wollen sie mitbringen. Hast du schon einmal in ein Telephon gesprochen, Sini?« »Natürlich!« »Wie ist das ?« »Das ist schwer zu beschreiben.« »Ja, sicher. Wenn Hendrik das wüßte.«
»Johann, er hat gesagt, die Garage wollen sie auch haben. Und wenn die Mädchen aus Versehen zu nahe ans Fenster herankommen? Johann, sie müssen sich wieder die Haare färben. Das schwarze Haar, das geht einfach nicht.« »Die Haare färben ... wie willst du das machen, Frau?« »Frage Herrn Hannink. Vielleicht hat er das richtige Zeug dafür.« Herr Hannink hatte es. Ich fand mich abscheulich mit rotem Haar. Ich wollte nie wieder hinausgehen. Nicht einmal nach dem Krieg. Wütend nahm ich den Stuhl und setzte mich in die Ecke. In der nächsten Woche zogen die Deutschen ein, und Sini und ich begannen, im Bett zu leben. Es war der 17. Oktober 1944. Die Tage waren lang und still. Die Abende waren genauso lang und still. Sini sprach kaum ein Wort. Vielleicht würde sie endlich wieder richtig reden, wenn ich sie ärgerte, aber wie konnten wir uns streiten, wenn wir nur wispern durften? Oma brachte uns das Essen in einem Handtuchbündel versteckt herauf. »Falls mir einer begegnet. Sie kommen immerzu in die Küche und wollen sich Kaffee machen. Oh-Gott-oh-Gott-oh-Gott, was ist denn das für ein Getöse?« »Das ist das Telefon.« »Das könnt ihr bis hier oben hören ? Gräßlich. Also, ich muß wieder runter.« Runter in die Küche, wo es warm war. Zu ihnen. Was war das überhaupt für ein Büro ? Und warum machten sie sich in der Küche Kaffee? Zogen die Deutschen denn nie wieder ab ? Rastlos wälzte ich mich im Bett
herum.
»Paß auf, ich habe eine Nadel in der Hand.« Warum hatte Heleen keine
Zeit, Socken zu stopfen? Schließlich saß sie den ganzen Tag in der
Küche. »Findest du nicht auch, Sini?«
»Ja«, sagte Sini. »Und ich finde es unglaublich, wie freundlich sie zu
diesen Soldaten sind. Der eine nennt Oma sogar Oma. Er hat ihr
Schokolade geschenkt. Natürlich, wir haben sie gegessen, aber ich finde,
sie sollte nichts von ihnen annehmen. Und Johann prahlt damit, daß er
Deutsch lernt. Jetzt habe ich keine Wolle mehr, und ich wollte den
Socken
doch fertig machen.« Sinis Stimme war immer ärgerlicher geworden.
»Jetzt muß ich wieder warten, bis Heleen irgendwann im Lauf des Tages
heraufkommt und mir welche bringt.« Sini schleuderte den Socken beiseite. »Wir müssen immerzu auf irgend jemand warten!« Sie schluchzte in ihr Kissen. »Ich halte das nicht mehr aus, Annie !« Ja, warum sollte sie das auch noch länger mitmachen ? Ich stand auf. »He, wo willst du hin?« »Hinunter, Wolle holen.« Sini packte mich am Arm. »Laß mich nur machen«, sagte ich, genau wie Johann. »Natürlich passe ich auf. Ich bin nicht verrückt.« Vorsichtig schob ich mich aus dem Bett und kroch bis zur Tür. Mühsam richtete ich mich auf und bewegte meine Beine. Sie taten mir weh. Vier Wochen im Bett ist eine lange Zeit. »Komm zurück ins Bett und vergiß den Einfall. Ich kann warten.« Doch jetzt war ich schon zur Tür hinaus. Es war kalt auf der Treppe. Ich fror in meinem Schlafanzug. Es würde nachher angenehm sein, wieder ins Bett zu schlüpfen. Aber erst, wenn ich die Stopfwolle geholt hatte. Ich hielt mich am Geländer fest. Zögernd stellte ich den einen Fuß auf die Stufe, dann den anderen und verlagerte mein Gewicht. Jetzt die nächste Stufe. Ich war schon halb unten. Ich hielt einen Augenblick inne. Aus dem vorderen Zimmer war Schreibmaschinengeklapper zu hören; also waren sie im Büro. Vielleicht konnte ich es wagen, schneller hinunterzugehen. Ich fühlte mich jetzt auch sicherer auf den Beinen. So, jetzt war ich unten angelangt. Ich legte die Hand auf die Klinke der Treppentür und schaute durch die Glasscheibe. Im Wohnzimmer war niemand. So schnell ich konnte, durchquerte ich es. Ich legte die Wange an die Küchentür. Da schien auch niemand zu sein. Moment. Das war Johanns Stimme. »Was meinst du, kriegen wir heute noch Schnee, Mutter?« »Vielleicht. Ich habe Kopfweh.« Dann Schweigen. Heleen war offensichtlich nicht in der Küche. Sollte ich wieder hinaufgehen und es später noch einmal versuchen? Unsinn. Oma wußte ja auch, wo die Stopfwolle lag. »Wir haben dieses Jahr sehr wenig Heu. Das wird ein schwerer Winter.« »Ja, da kann man nichts machen.« Johann und Oma waren also allein in der Küche. Ich drückte die Klinke herunter. Ich schluckte. Langsam öffnete ich die Küchentür. Ich steckte den Kopf zur Tür herein. Ich sah nur ein Gesicht. Ein unbekanntes über einer deutschen Uniform. Im nächsten Augenblick hatte ich kehrtgemacht, das Wohnzimmer durchquert und war die Treppe hinauf geschossen.
»Hast du die Wolle?« fragte Sini. Und dann: »Warum schaust du so drein ? Was ist passiert ? Warst du wirklich in der Küche ? Antworte doch!« Ich stand neben der Tür. »Ist Oma Bose auf dich geworden?« Ich rührte mich nicht. »War Heleen da?« Ich schüttelte den Kopf. »War ... war einer von ihnen da?« Ich nickte. »Wo?« »In der Küche.« »Aber warum bist du hineingegangen, wenn Oma doch nicht allein war?« Ich schluckte. »Ich dachte, Oma und Johann wären allein.« Sini sprang aus dem Bett. »Zieh dich an.« »Warum ziehst du dich an?« »Weil sie in fünf Minuten hier sind und uns holen.« Mit zitternden Händen zog Sini die Schublade auf und holte Wäsche und Kleider heraus. Ohne einander anzuschauen, zogen wir uns an. Dann setzten wir uns auf das Bett und warteten. Ich hatte nicht einmal Angst. Ich fühlte überhaupt nichts. Kamen sie da ? Nein, Johann trat allein ein. »Verdammt und zugenäht, hast du mir einen Schreck eingejagt! Ein Glück, daß Heleen gerade im Stall war. Was ist denn in dich gefahren?« Ich betrachtete meine Fingernägel. Sie mußten geschnitten werden. »Annie, antworte!« »Johann, wann kommen sie?« fragte Sini. »Wer?« »Die Deutschen.« »Die kommen nicht. Ich habe eine Sekunde lang gedacht, mich trifft der Schlag. Ich habe meinen eigenen Augen nicht getraut. Auf einmal steht sie im Schlafanzug unter der Tür. Und der Soldat hat mich gefragt, wer ist das kleine Mädchen, und warum hat sie solche Angst ? Und dann ist mir eine gute Antwort eingefallen! Ich habe gesagt, ach, das ist Rikie, Heleens Nichte, die für ein paar Tage bei uns ist. Aber sie ist so schüchtern, daß sie nicht wagt hereinzukommen, wenn fremde Leute da sind.« »Dann bin ich zu Heleen in den Stall gegangen und habe ihr die Geschichte erzählt. Ich habe ihr gesagt: setze dich auf das Rad, fahre zu deiner Schwester und hole die Kleine. Du kannst in einer guten Stunde wieder zurück sein. Aber Rikie ist jetzt in der Schule, hat Heleen gesagt. Na und ? Dann hole sie aus der Schule raus.« »Aber meine Schwester weiß nicht einmal, daß wir Juden bei uns
verstecken, sagt Heleen. Dann mußt du es ihr sagen. Und Rikie sieht ganz
anders aus als Annie! Damit hat Heleen recht, aber ich glaube, der
Bursche hat dich nicht lang genug gesehen, um sich noch zu erinnern,
wie du wirklich ausschaust.«
»Aber warum habt ihr euch angezogen?«
»Wir dachten, sie kommen gleich herauf und holen uns.«
»Ihr habt gedacht, ich helfe euch nicht aus dem Schlamassel heraus?
Was glaubt ihr denn?«
»Ihr könnt euch nicht vorstellen, welches Kopfweh ich habe«, sagte Heleen
an dem Abend. »Was für ein Tag. Aber Rikie weiß gar nicht, warum ich sie
hergeholt habe.«
»Ich habe vielleicht eine Arbeit mit ihr gehabt, damit sie nicht nach oben gegangen ist!« sagte Oma. »Oh-Gott-oh-Gott-oh-Gott, ein Dickschädel ist diese Rikie. Aber doch nett. Das war wirklich kein gescheiter Einfall von dir, Annie. Angenommen, er hätte unbedingt mit dir reden wollen und wäre dir nachgegangen, um dich in die Küche zu holen ? Was dann?« Was dann ? Warum hockten die Deutschen dauernd in der Küche
herum? Das hätte ich gern gewußt. Vielleicht aßen sie sogar dort, und jeder
bekam einen eigenen Teller. Unglücklich starrte ich an die Wand. Es war
einfach ungerecht.
Eine Woche später gab es unten in den Büroräumen plötzlich Lärm, als ob
Möbel hin und her geschoben würden. Wir lauschten überrascht.
»Wahrscheinlich machen sie Platz für mehr Schreibtische«, meinte Sini.
»Sicher haben sie ihren Kameraden erzählt, was für nette Leute die
Ostervelds sind.«
Ja, und wie schön warm die Küche hier war.
Aber wir irrten uns.
»Sie sind weg!« schnaufte Johann. »Sie haben auf einmal ihre Siebensachen gepackt und sind weg! Bin ich froh! Ich hatte es allmählich satt, in meinem eigenen Haus bei jedem Schritt über einen Deutschen zu fallen. He, Sini, jetzt können wir wieder Radio hören, gleich heute abend!« Sini lachte. »Ich wette, die Alliierten kommen, und deshalb sind sie so Hals über Kopf davon.« Mit wackligen Schritten ging ich zu meinem Fenster. Es war mit Eisblumen bedeckt. Ich hauchte dagegen, bis das Eis schmolz und ein kleiner, runder Fleck frei war und ich hinaussehen konnte. Himmel.
11
Eine Weile hörten die Deutschen auf, die Männer aus Kirchen und Kinos herauszuholen und zwangsweise zur Arbeit nach Deutschland zu schicken. Statt dessen veröffentlichte die von den Nazis erlaubte Zeitung, die wegen Papiermangel nur noch dreimal in der Woche erschien, Aufrufe, sich freiwillig zu melden. »Wir brauchen euch«, hieß es darin, und die Arbeit sei leicht, und außerdem gäbe es zusätzliche Lebensmittelra tionen. Wegen der versprochenen Lebensmittel meldeten sich viele Holländer, weil sie Hunger hatten. Aber es meldeten sich nicht genug Freiwillige, und bald fuhren die Lastwagen wieder durch die Städte und Orte und verhafteten die Männer von der Straße weg. »Ich traue mich bald nicht mehr auf die Dorf-Straße hinaus«, sagte Johann. »Ihr werdet sehen, es dauert nicht mehr lange, und sie holen uns aus den Häusern. Ich glaube, ich verstecke mich auch.« »Oh-Gott-oh-Gott-oh-Gott, Johann.« »Bei den Mädchen oben?« fragte Heleen. »Nein, Frau, ich kann nicht den ganzen Tag lang sitzen, und außerdem passe ich nicht in den Schrank hinein. Wohin soll ich verschwinden, wenn sie Haussuchung machen ? Nein, ich habe einen besseren Plan.« Johann blies dicke Rauchwolken aus den Nasenlöchern. Mit dünner Stimme fragte Heleen ihn, wo er sich denn verstecken wolle. »In Enschede.« Herr Hannink wisse dort einen Platz, an dem die Deutschen bestimmt niemals suchen würden, fuhr Johann fort. »Bei der Feuerwehr, im Spritzenhaus. Herr Hannink hat gesagt, dort würde er selbst hingehen, wenn er sich verstecken müßte, aber er braucht ja keine Angst zu haben, daß sie ihn holen; er ist schon zu alt.« Heleen und Oma sahen ihn ungläubig an. »Es sind schon einige Männer dort, und ich komme natürlich sofort zurück, sobald sich die Lage ein bißchen beruhigt hat. Das wird nicht sehr lustig, den ganzen Tag zwischen den Feuerwehrautos herumzuhocken, wißt ihr.« Johann drückte seine Zigarette aus. »Verdammt.« »Aber was wird aus den Mädchen?« fragte Heleen mit schriller Stimme. »Was für einen Unterschied macht das für sie, ob ich da bin oder nicht ? Warum soll sich für sie etwas ändern, nur weil ich ein paar Tage fort bin?« Oma nickte zustimmend. Heleen fing an zu weinen. »Aber du warst noch nie weg, Johann.« »Jetzt ist Krieg, Frau.«
Ich holte mir meinen Pullover. Mich fror auf einmal. In dieser Nacht schlief Sini nicht auf der Matratze auf dem Boden. Sie legte sich zu Heleen und mir ins Bett. »Ich habe Angst«, sagte Heleen immer wieder. »Es ist so gefährlich und jetzt, wo Johann nicht da ist... Oma ist keine Hilfe. Habt ihr gehört, Mädchen?« Wir wälzten uns unruhig herum. Natürlich hatten wir gehört. Als Oma am nächsten Morgen hereinkam, um uns zu wecken, waren wir schon aufgestanden. »Mutter, es ist jetzt viel zu gefährlich, die Mädchen hier zu haben«, begann Heleen von neuem. Oma sagte ziemlich scharf, Heleen solle ihre fünf Sinne beisammenhalten. Was hatte sich geändert ? Das Vieh mußte gefüttert werden. Wir mußten auch essen. »Und Johann?« »Der kommt ja bald wieder.« »Ja, aber wann ?« wandte Heleen ein. »Das weiß ich auch nicht, aber er hat gesagt, bald.« Heleen sprach weiter »... viel zu gefährlich... wenn sie uns erwischen ... alles aus ... gleich erschossen ... oder ins Konzentrationslager . . . ja, ja, so ist das . . . du weißt nicht, wovon du redest... Wenn Johann wieder da ist, können sie ja zurückkommen...« Was sagte sie da ? Wohin sollten wir gehen ? Ich nagte an der Unterlippe. »Ich frage Hanninks. Vor zwei Jahren haben sie gesagt, es ist nur für ein paar Wochen. Dort können sie in dem Versteck im Garten bleiben.« Nein. Nicht in dem Loch unter der Erde! Da will ich nicht noch einmal hin. Bitte. Ich schaute zu Oma auf. Sie würde es nicht zulassen, daß Heleen uns fortschickte. Oma versuchte es, aber Heleen blieb unnachgiebig. »Ich tu es auch nicht gerne, und es ist nur für die Zeit, in der Johann weg ist.« Nach einer Weile gab Oma nach, aber sie hatte Tränen in den Augen. Sini sagte kein Wort. Heleen ging. Sie machte ein sehr verlegenes Gesicht, als sie von den Hanninks zurückkam. »Es ist in Ordnung. Ihr könnt heute abend hinübergehen. Sie bringen euch das Essen in den Unterstand. Es tut mir auch leid, Mädchen, aber es geht nicht anders.« Mir war gräßlich zumute. Wenn Johann doch da wäre! Am Abend, als es dunkel geworden war, gingen wir. Wir warteten im Hof, während Heleen bei den Hanninks klopfte. Herr Hannink kam heraus und führte uns zu der Öffnung im Boden. Dort blieben wir stehen. »Es ist wirklich besser so«, flüsterte Heleen. Sini und ich bückten uns und krochen benommen hinein.
Die Tage waren wie Nächte. Trotz der Taschenlampe. Abends brachte Frau Hannink uns das Essen für den nächsten Tag. Jedesmal sagte sie: »Wenn wir ein Versteck im Haus hätten, würden wir euch sicher nicht hier lassen, das könnt ihr mir glauben.« Sini weinte viel. Sie war überzeugt, daß die Ostervelds uns niemals wieder zu sich holten. »Johann läßt uns bestimmt nicht hier, Sini.« »Warum nicht?« antwortete sie. Ja, warum nicht ? »Nein, das tut er bestimmt nicht, Sini. Du wirst schon sehen.« »Was ... sehen?« schluchzte sie. »Gar nichts. Wenn ich jemals wieder rauskomme, dann reicht es mir. Dann verstecke ich mich nicht wieder, und es ist mir ganz egal, was dann aus mir wird.« Und was würde aus mir, wenn Sini sich nicht länger verstecken wollte? Voll Sorgen legte ich mich auf das Strohbündel. Herr Hannink sagte uns, daß Johann vielleicht bald käme. Die Deutschen schienen aufgehört zu haben, die Männer auf der Straße zu verhaften. Am zehnten Abend kam Johann. »Ich bin eben erst nach Hause gekommen«, sagte er. »Verdammt, ich habe den beiden Frauen etwas erzählt, weil ihr nicht da wart! Also, was hockt ihr da wie ein paar Maulwürfe ? Los, kommt mit! Wir gehen nach Hause.« Benommen folgten wir ihm. Er hatte uns wieder geholt. Sini blieb bei dem Vorsatz, den sie im Unterstand gefaßt hatte: Sie wollte sich nicht länger verstecken. »Aber jetzt dauert der Krieg ganz bestimmt nicht mehr lange«, sagte Johann. »Laß mich in Ruhe.« Aber Sini ließ ihn nicht in Ruhe. Und dann, im Dezember 1944, machten die Deutschen in Belgien einen Gegenangriff. Es gelang ihnen, die alliierten Truppen zurückzutreiben. »Das dauert nicht lang; ihr werdet schon sehen, morgen oder übermorgen sind die Deutschen wieder auf dem Rückzug. Alle Leute sagen das.« Sini weinte trotzdem weiter. Auch Heleens ärgerliches: »Um Himmelswillen, sei endlich still!« nützte nichts. »So eine Anstellerei habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht erlebt. Oh-Gott-oh-Gott-oh-Gott, was der Mensch nicht alles mitmachen muß.« »Aber Oma, ich bin dreiundzwanzig und habe es einfach satt, eingesperrt zu sein! Ich will raus !« »Und was kann ich daran ändern?« Johann atmete schwer. Wir alle schauten Sini an. Ja, was konnte Johann daran ändern ?
Er solle Herrn Hannink fragen, ob er ihr falsche Ausweispapiere besorgen könne, antwortete Sini ohne zu zögern. Wie konnte sie es wagen, darum zu bitten! Der arme Mann riskierte schon seit zwei Jahren sein Leben für uns. Nun, vielleicht lehnte er rundheraus ab. Alle schwiegen. »Es sind so viele Leute unterwegs, die in Arnheim ausgebombt wurden und alles verloren haben, auch die Papiere, Johann. Ich könnte doch auch aus Arnheim sein. Ich sehe überhaupt nicht jüdisch aus. Kein Mensch würde etwas merken. Sogar bei euch waren Leute aus Arnheim, die gefragt haben, ob sie hierbleiben können.« Ich wagte es nicht, Johann anzuschauen. Ich fürchtete mich vor seiner Reaktion. »Sini, diesmal verlangst du wirklich allerhand von mir.« Ich schaute auf. Johann schüttelte den Kopf und fuhr fort: »Aber eigentlich ist das gar keine schlechte Idee. Es ist sogar eine gute Idee. Ich könnte dir irgendwo in der Nähe eine Stelle als Stallmagd beschaffen. Schließlich kannst du mit Kühen umgehen. Ich werde mit Herrn Hannink reden.« »Aber das ist doch sehr gefährlich, Johann!« »Ach wo, nicht wenn ich das einfädle, Frau.« Oma schüttelte den Kopf. »Es ist nicht sehr schön für Annie.« »Sie ist ganz anders; ihr macht es nichts aus, hier oben zu bleiben, aber Sini hält es einfach nicht mehr aus.« So, meinst du, Johann! Natürlich, ich finde es großartig, immer in der Kammer zu hocken. Siehst du mir das nicht an ? Strahle ich nicht genug vor lauter Begeisterung? Und jedes Jahr wird mein Lächeln breiter und breiter werden, weil es mir immer mehr Spaß macht. »Was meinst du dazu, Annie?« fragte Oma. »Vielleicht ist es wirklich eine gute Idee«, sagte ich so laut ich konnte. Sini stand auf und legte den Arm um mich. Herr Hannink konnte tatsächlich einen falschen Ausweis besorgen; er brachte ihn ein paar Tage später. In Enschede gab es einen Drucker, der zur Widerstandsbewegung gehörte und heimlich solche Papiere ausstellte. Sini schrieb ihren neuen Namen unter ihr Photo: Sini te Broeke. Daneben stand: geboren am 2. März 1922 in Arnheim. Beruf: Magd. Johann ging zu einigen Bauern und fragte: »Kannst du eine Magd gebrauchen ? Ein Mädchen hat bei mir angefragt, aber ich kann keine Magd bezahlen, sonst würde ich sie behalten. Sie kann zupacken, das sieht man, und sie kann melken und mit Kühen umgehen.« Der dritte Bauer sagte, er könne jemand gebrauchen, und Sini packte ihre wenigen Kleidungsstücke in eine Tasche.
»Annie, wenn du doch lieber möchtest, daß ich bleibe, kann Johann bei dem Bauern immer noch absagen.« Ich schüttelte den Kopf. »Erzähle ihnen nichts von deiner Melkerprüfung«, warnte Oma. »So vornehm sind sie nicht.« »Wir müssen gehen«, sagte Johann. »Ich bringe dich hin.« Ich wollte aufstehen und Sini einen Kuß geben, aber ich konnte es nicht. Sini trat zu mir. Dann nahm sie ihre Tasche und ging zur Tür. Sie drehte sich nicht einmal um. Ich vergrub das Gesicht in den Händen. Es war einfach ungerecht. Ich verbrachte den größten Teil des Tages im Bett. Ich hatte Sini
versprochen, jeden Tag Gehübungen zu machen, aber ich tat es nicht. Wenn
ihr etwas an mir lag, dann konnte sie ja zurückkommen. Es gefiel ihr
aber auf dem Bauernhof. Letzte Woche hatte sie gesagt, daß sie mich
vermißt. Warum war sie dann gestern abend nicht gekommen ? Ich
runzelte die Stirn.
»Vergißt sie dich?« fragte Oma.
»Nein, sie hat eben viel Arbeit«, antwortete ich.
Aber morgen würde sie schon zum Mittagessen kommen
und den ganzen Nachmittag und den ganzen Abend bleiben. Morgen war
Weihnachten.
Heleen kam herein. »Wo soll ich den neuen Kalender aufhängen?«
fragte sie.
»Nirgendwo«, antwortete ich unglücklich.
Wozu auch? Um wieder einen Tag nach dem anderen durchzustreichen,
ein ganzes Jahr lang ? Nein, vielen Dank.
Am nächsten Tag, als es Zeit zum Mittagessen war, ging ich langsam die
Treppe hinunter.
»Ist die Küchentür zugesperrt?« fragte Heleen.
»Ja.«
»Annie, wenn du draußen jemand hörst, dann rennst du sofort nach oben. Komm, setze dich nahe bei der Tür.« Sini setzte sich neben mich. Sie hielt meine Hand. Ihre Hand fühlte sich rauh an. »Johann, kennst du die Wassinks?« »Ja, natürlich.« »Ich bin gestern abend mit dem jungen Wassink ausgegangen.« Ich schaute vor mich hin auf meinen Teller. »Was, du gehst schon aus?« fragte Oma. »Lieber Himmel, ich war zwei Jahre lang eingesperrt!«
»Wo wart ihr?« fragte Heleen. »Na, du weißt doch, in Usselo gibt es nichts, wo man hingehen könnte, also sind wir spazieren gegangen und haben uns unterhalten. Er ist nett. Und er hat mich für Silvester zu seinen Eltern eingeladen.« »An dem Abend solltest du Annie Gesellschaft leisten«, sagte Johann. »Das ist nicht nötig«, widersprach ich. »Ich wollte herkommen, aber ihr geht ja so früh schlafen. Gut, ich kann ja beides machen; ich komme früh am Abend zu euch. Wußtet ihr, daß es in Bokelo einen Theaterklub gibt?« »Was ist denn das?« fragte Oma. -»Da treffen sich alle möglichen Leute am Samstagabend und üben zusammen ein Theaterstück ein. Sie wollen, daß ich mitmache.« »Gehst du hin?« fragte Oma mißtrauisch. »Ich weiß noch nicht.« »Wozu willst du bei einem Theaterstück mitmachen? Du kannst am Samstagabend hierher kommen. Mit jungen Männern ausgehen, Theaterstücke. Was sonst noch!« »Sie ist alt genug, um zu wissen, was sie tut, Mutter.« Ich beobachtete Sini. Ihre Augen strahlten. Kein Wunder, daß die jungen Männer aus der Nachbarschaft sie einluden. Sini war sehr hübsch. »He, Annie, da kommt jemand! Schnell, verschwinde! Nimm deinen Teller mit.« Ich stand auf. Verzweifelt versuchte ich die Treppe zu erreichen. Die Schritte kamen immer näher. Ich konnte mich nicht bewegen. Meine Beine schmerzten so. »Was ist los? Geh rauf!« rief Heleen. Johann sprang von seinem Stuhl auf, packte mich bei den Schultern, riß die Tür auf und stieß mich die Treppe hinauf. Als ich endlich oben in der Kammer anlangte, liefen mir die Tränen über die Wangen. Wie schrecklich, wenn man sich nicht bewegen konnte. Alle hatten mich angestarrt, sogar Sini. Ich warf mich auf das Bett. Da gehörte ich hin, nicht nach unten wie die anderen. Hastig setzte ich mich wieder auf und wischte mir das Gesicht ab. Jemand kam die Treppe herauf. Sini trat ein. »Der Nachbar ist herübergekommen, weil er Johann eine Nachricht erzählen wollte, die er gerade gehört hat: Die Alliierten sind in Belgien wieder auf dem Vormarsch. Ist das nicht großartig? Jetzt brauchst du vielleicht wirklich nicht mehr lange hier zu sitzen, Schwesterchen. Ich denke so oft an dich, weißt du. Gib mir einen Kuß. Ich muß wieder gehen.« »Kommst du morgen wieder?« Warum fragte ich das ? »Ich werde es versuchen. Ganz bestimmt.« Morgen werde ich gesprächiger sein ... wenn sie kommt. Sie kommt
sicher, wenn sie kann. Ihre Hände sind so rauh. Ich weiß, sie muß
schwere Arbeit tun.
Ich hörte, wie sich die Küchentür schloß. Ich preßte mich
neben dem Fenster an die Wand und schielte hinunter. Es war Sini. Sie
schaute zu meinem Fenster hinauf. Ich lächelte.
Die Deutschen waren auf dem Rückzug. Die Alliierten trieben sie nach
Deutschland zurück, und im Osten machten die Russen dasselbe.
Sini besuchte mich. »Los, Annie, aufstehen. Keine Widerrede. Du mußt
dich bewegen! Du kannst sonst überhaupt nicht mehr laufen, wenn der
Krieg aus ist.«
Ob ich wirklich bald wieder richtig herumlaufen durfte? Sogar draußen
? Besorgt streckte ich die Beine zum Bett heraus. Ich bat Heleen, mir doch
den Kalender für 1945 zu geben. Ich mußte schon den ganzen Januar
durchstreichen und zweiundzwanzig kalte Februartage.
»Weißt du, was der Kollege in der Fabrik gesagt hat?«
»Was denn, Johann?«
»Er sagt, in ein paar Wochen ist die kanadische Armee hier! Jetzt zeig
Johann, wie du gehen kannst.«
Warum erzählt Johann immer, was der Kollege in der Fabrik gesagt hat?
Und hat der keinen Namen? Und bis jetzt hat er auch noch nie recht
behalten. Noch nie. Er ist . . . ein Schwätzer. Er lügt. Meine Lippen
zitterten.
Diesmal behielt der Kollege aus der Fabrik ein bißchen recht. Die
Kanadier kamen tatsächlich näher, aber sie waren noch immer nicht hier,
obwohl inzwischen schon fünf Wochen vergangen waren. Draußen
wurden die Bäume wieder grün; aber in meiner Kammer änderte sich
nichts.
Am 31. März 1945 beschlagnahmten die Deutschen sämtliche Pferde und
Pferdewagen, die sie finden konnten.
»Was fällt ihnen ein ? Warum machen sie das ?« fragte Oma.
»Damit sie schneller fliehen können«, antwortete Johann und rannte aus dem Haus. Er wollte sein Pferd verstecken. Johann mußte vorsichtig sein; den ganzen Tag flogen Bomber über uns hinweg. Ob das deutsche Flugzeuge waren ? Ob sie die Kanadier angriffen? Ich hielt mir die Ohren zu. »Annie!« schrie Heleen die Treppe hinauf. »Komm herunter ! Komm in den Unterstand!« »Aber die Nachbarn...!«
»Es ist jetzt kein Mensch auf der Straße. Komm, schnell! Willst du dich vielleicht umbringen lassen, gerade jetzt, wo der Krieg bald aus ist?« Heleen schleppte mich in den Unterstand im Hof. »Oma, bist du auch da?« »Ja, ja. Wo bleibt dieser Johann? Sie hätten das Pferd schon nicht genommen.« »Natürlich hätten sie es mitgenommen. Aber warum ist er noch nicht zurück ? Oh mein Gott, habt ihr das gehört ? Das war ganz nah! Johann, Johann!« jammerte Heleen. »Behalte deinen Verstand beisammen, Heleen. Annie, hast du Angst?« Ich machte mich so klein wie möglich. Natürlich wußte ich, daß Bomben meistens auf Häuser und Fabriken fallen; ich las schließlich die Zeitung. Und Johann erzählte mir die Nachrichten. Ich wußte auch, daß die Leute in den Häusern dann meistens tot sind. Nach zwei Jahren und sieben Monaten im Versteck in der Kammer würde ich jetzt vielleicht von einer Bombe umgebracht. Vielleicht kam ich nie wieder lebendig aus diesem Unterstand heraus. Dieses Getöse, dieser Krach. Wenn das die Befreiung sein sollte, dann lieber nicht. »Seid ihr alle drin?« Johann kroch in den Unterstand. »Und Annie auch? Gut.« »Warum rennst du noch draußen herum? Sie hätten dich erschießen können.« »Der Angriff auf das Dorf scheint vorbei zu sein«, sagte Johann mit tonloser Stimme. »Die Bäckerei hat einen Volltreffer abgekriegt. Sie sind alle tot. Das Pastorhaus ist ein Trümmerhaufen. Aber da war zum Glück niemand drin.« »Und wo warst du, Johann ?« »Ich habe platt auf dem Bauch auf einer Wiese gelegen. Ich habe alles gesehen. Es waren kanadische Flugzeuge.« »Warum bombardieren sie uns? Warum bombardieren sie nicht die Deutschen ? Und warum haben sie eine Bombe auf unsere Bäckerei geschmissen?« fragte Heleen. »Sie waren sicher hinter den deutschen Truppen her. Und dabei haben wir auch etwas abgekriegt. Aus Versehen. Das läßt sich nicht vermeiden.« »Schönes Versehen! Was ist aus dem Pastor geworden?« »Ihm ist nichts passiert, Mutter; ich habe ihn gesehen. Kommt ins Haus. Die Flugzeuge sind weg.« »Ich bin auch Herrn Hannink begegnet auf dem Rückweg, gleich nach dem Bombenangriff«, sagte Johann, als wir oben waren. »Er hat am ganzen
Leib vor Angst gezittert. Mir war ja auch nicht gemütlich zumute, wie ich in der Wiese lag. Aber...« »Ist sein Haus auch getroffen worden ? Es ist so nahe bei der Bäckerei«, unterbrach ihn Heleen. »Nein, alle Fensterscheiben sind kaputtgegangen.« »Da ist Sini an der Küchentür.« Johann schaute zum Fenster hinaus. »Tatsächlich. Komm herein. Du hättest zu Hause bleiben sollen. Ist bei euch drüben auch bombardiert worden?« »Längst nicht so viel wie hier. Ich hatte solche Angst, euch sei etwas passiert.« »Johann, da ist schon wieder jemand an der Tür.« »Das ist Dini Hannink. Was ist los, Dini ? Hat dein Vater sich wieder beruhigt?« »Morgen kommen die Kanadier«, rief Dini. »Die Flugzeuge?« fragte Oma. »Nein, die Soldaten. Bis morgen mittag sind sie hier, und wir sind frei.« »Woher weißt du das, Dini?« »Vater hat es von jemandem gehört. Der Bombenangriff heute sollte ihnen den Weg freimachen. Morgen gibt es bestimmt keine Kämpfe mehr. Hier in der Gegend sind nur noch wenige deutsche Truppen, die sich sicher bis morgen zurückgezogen haben.« »Morgen sind wir frei!« rief Johann. Warum bin ich so ruhig, als ob dies ein ganz gewöhnlicher Abend wäre? Freue ich mich denn nicht ? Natürlich freue ich mich, aber mir ist trotzdem nicht anders als sonst zumute; ich bin gar nicht aufgeregt. Vielleicht ist das gut so, falls es doch nicht stimmt. Und was mache ich morgen, wenn es doch stimmt? Hinausgehen? Ich rutschte voll Unbehagen auf meinem Stuhl hin und her. »Sini, du kommst doch morgen?« fragte Johann. »Natürlich. Ich lasse mir für den Tag freigeben.« »Sage ihnen noch nicht, wer du bist«, warnte Heleen. »Ich bin doch nicht verrückt! Frühestens morgen.« Warum kommen die Kanadier erst morgen ? Sie hätten doch gleich heute nach dem Luftangriff kommen können. Vielleicht bombardieren sie morgen noch einmal, und wir konnten immer noch umgebracht werden. Mein Gesicht war heiß und verschwitzt.
12 Ich stand auf und holte mein Kleid aus dem Schrank. Schluß mit dem
Schlafanzug. Jawohl, heute mußte ich mich richtig anziehen. Oder wollte
ich vielleicht im Schlafanzug auf der Dorfstraße herumlaufen? Und
wenn sie doch gar nicht kommen ? Was dann ?
»Nein, Oma, ich will kein Frühstück.«
»Du mußt essen. Du bist schon dünn genug.«
»Na gut, Oma.« Warum nicht, wenn sie sich freute.
»Sini, haben sie dich schon so früh weggelassen ? Was haben sie gesagt?«
»Gar nichts.« Sini setzte sich vor den Spiegel, als ob sie niemals fort gewesen sei. »Ich bin so froh. Sehe ich ordentlich aus? Komm, ich frisiere dich. Die kanadischen Soldaten müssen bald hier sein. Ich bin neugierig, wie ihre Uniformen aussehen. Hör mal, da ist Herr Hannink gekommen. Warte eine Minute, Annie.« Ich nahm den Taschenspiegel. Verwundert starrte ich mich an. Was für ein
blasses Gesicht. Und das Haar war halb rot und halb schwarz. Gräßlich! Sini
war so aufgeregt. Ich natürlich auch. Ich sehe aus wie eine Gefangene. Ach
ja, weil ich Jüdin bin. Lange? Ja, gräßlich lang! Aber jetzt ist es vorbei.
Hoffentlich kommen sie heute endlich.
Sini kam mit Oma herauf, die ihre Sonntagsschürze trug.
»Herr Hannink hat sie schon gesehen!« verkündete Sini triumphierend. »Wo?« »In Bokelo! Sie sind unterwegs! In einer halben Stunde sind sie hier. Los, komm !« »Wohin?« »Hinaus, natürlich. Sie kommen über die Landstraße. Nun komm schon, Annie.« »Oma, komm auch mit.« »Nein, nein.« »Du mußt! Es ist solch ein Ereignis.« »Na gut, wenn ihr mich mitnehmen wollt. Hendrik hat sicher nichts dagegen. Ich gehe ja sonst nirgendwohin. Aber warte, ich muß erst meine Haube aufsetzen.« Sie öffnete die unterste Schublade. »Sie ist nie wieder so geworden wie vorher, ehe das schwere Buch darauf lag«, beklagte sich Oma. Mit steifen Fingern band sie die Bänder unter dem Kinn zu einer Schleife. »Worauf wartest du noch, Annie? Komm!«
Widerstrebend folgte ich Sini die Treppe hinunter. Ich war schon so lange nicht mehr draußen gewesen, daß ich jetzt nicht einmal auf die Straße wollte. Ich wollte lieber noch einen Tag warten und mich an das Fenster im vorderen Zimmer stellen und hinausschauen. Das durfte ich, schließlich waren wir jetzt frei. Ich würde einfach am Fenster stehenbleiben, auch wenn jemand die Dorfstraße entlangging. »Nun, komm schon«, sagte Johann. Ich nahm Heleens und Sinis Hand. Wir verließen die Küche, gingen um das Haus herum, durch das Gartentor, hinaus auf die Dorf Straße und bogen links ab. Ich schaute mich um. Das Haus sah genauso aus, wie Johann es mir beschrieben hatte. Rote Ziegel mit grünem Holzwerk. Da kommt jemand. Und er schaut mich an. Ich möchte lieber kehrtmachen, ehe es zu spät ist. Zu spät wofür ? Ich weiß nicht, aber ich mag nicht, daß mich jemand so anstarrt. Ich habe ein Kopftuch auf, also kann es nicht an meinem Haar liegen. Es müssen meine Beine sein; sehen sie komisch aus ? Wahrscheinlich. Mein Gesicht glühte. »Guten Morgen, Johann. Das ist ein Tag heute. Und Oma sieht gut aus. Du solltest sie öfter an die frische Luft nehmen.« »Ja, Willem, aber du weißt ja, wie alte Leute sind.« »Ja, ja, ich weiß. Und Besuch habt ihr auch?« »Ja, ich erzähle dir nachher, woher die Mädchen sind. Jetzt haben wir es eilig, wir wollen die Kanadier nicht verpassen«, sagte Johann und zog mich weiter. »Komm, lauf ein bißchen schneller, Annie.« Wir mußten uns wirklich beeilen. Ich wollte die Kanadier auf gar keinen Fall verpassen. »Meine Holzschuhe tun mir weh; ich hätte die anderen - anziehen sollen«, klagte Oma. »Schau dir das an, Mutter, das war die Bäckerei.« »Oh-Gott-oh-Gott-oh-Gott, Johann. Ich wollte, ich wäre nicht mitgekommen. Warum haben die Kanadier das gemacht?« »Guten Morgen, Gerrit! Ja, wir sind auch unterwegs. Ist doch klar, nicht? Ja, wir haben Besuch. Erzähle ich dir nachher.« »Johann, wir sollten uns lieber nicht zwischen all die anderen Leute stellen.« »Ach was, warum nicht, Frau ? Der Krieg ist aus! Komm, wir klettern auf die eingestürzte Gartenmauer vom Pastorhaus. Nein, Groot, sie sind nicht aus Usselo, die beiden. Das erzähle ich dir später. Du wirst dich wundern.« Die Hanninks kamen auf der anderen Straßenseite daher. Sie winkten uns zu. »Annie, winke nicht zurück. Lieber noch nicht.«
»Aus welcher Richtung kommen die Kanadier?«
»Von Bokelo her. Jetzt kann es nicht mehr lange dauern.«
»Annie, dein Kopftuch rutscht herunter.«
»Sie kommen, sie kommen!« Panzerwagen tauchten auf, und darauf saßen
Soldaten in fremden Uniformen, die uns zuwinkten. Die Kanadier! Ich
brauchte mein Haar nicht mehr unter einem Kopftuch zu verstecken. Ich
winkte und winkte.
Die Panzer hielten. Johann trat zu dem Panzer vor uns und rief dem
Soldaten zu: »Have you cigarettes me? Mann, habt ihr das gesehen ? Der
Bursche versteht mein Englisch. Er hat mir ein Päckchen
runtergeschmissen.«
»Dieser Johann.«
» Thank you! Na, den nächsten frage ich auch !« Die Panzer rollten im
Schrittempo weiter. »Hallo, have you cigarettes me ? Verdammt, der will
nicht. Geizhals.«
»Frage ihn, ob er Kaffee hat, Johann.«
Wo war Sini geblieben ? Ich schaute mich um. Großer Gott, sie kletterte auf einen Panzer, und der Soldat zieht sie hinauf, und si e wi rf t i hm di e Arme um den Hal s und küßt ihn! »Oh-Gott-oh-Gott-oh-Gott, diese Sini!« Wieso habe ich auf einmal ein ganz nasses Gesicht? Ich heule doch nicht? Oder doch? Ich heule, weil ich froh bin. Warum habt ihr so gräßlich lange gebraucht, bis ihr hier wart ? So schrecklich lange. Ich bin euch nicht Bose deswegen. Die Hauptsache ist, ihr seid überhaupt gekommen. Immer mehr Bauern standen um Johann herum. Sie schauten von ihm auf Sini und mich. Wer waren die beiden fremden Mädchen, die er auf einmal bei sich hatte ? »Ich weiß, es geht uns nichts an, aber du weißt ja, wie neugierig Nachbarn sind.« »Die beiden ? Das sind die Töchter von dem Viehhändler de Leeuw in Winterswijk. Den kennt ihr doch ? Die de Leeuws sind Juden, also haben wir die beiden bei uns versteckt. Nein, natürlich habe ich keine Angst gehabt. Nicht einmal, als wir die deutsche Einquartierung im Haus gehabt haben. Es war wirklich nichts dabei. Das würde ich jederzeit noch einmal machen. Was unsere Oma dazu gesagt hat? Sie hat eiserne Nerven, aber Heleen hat manchmal geschlottert. Jetzt kannst du das ruhig zugeben, Heleen. Hallo, have you cigarettes me ? Was sagt ihr zu meinem Englisch? Hat mir Sini beigebracht. Thank you! Was hat er mir denn da zugeworfen? Plum-Pudding? Was ist das?« »Nette junge Burschen, Johann.« »Ja, das sind sie, Mutter. Jetzt schau dir diese Sini an! Da klettert sie schon wieder auf einen Panzer! Annie, wenn sie zurückkommt, halte sie
fest, oder die nehmen sie noch mit.« Johann wandte sich wieder an die Bauern. »Ja, zuerst waren sie bei den Hanninks. Für ein paar Monate. Und dann bei uns. Über zwei Jahre. Natürlich haben wie niemand davon erzählt, das wäre viel zu gefährlich gewesen. Ja, ich weiß, ihr hättet uns schon nicht verraten, aber schließlich war ich verantwortlich für die beiden, nicht?« Ich sage gar nichts. Ich schaue und winke. Willkommen, Kanadier. »Ich will nach Hause. Mir tun die Füße weh.« »Wir gehen gleich, Mutter. Du hast recht, wir können nicht den ganzen Tag hier stehen. Wiedersehen, Frau Hannink, Herr Hannink.« »Mädchen, wie ist euch jetzt zumute?« »Ich bin so froh, Frau Hannink!« sagte Sini. Um die Wahrheit zu sagen: Ich fühle überhaupt nichts. Mein Arm bewegt sich einfach von allein auf und ab. Auf Wiedersehen, jetzt muß ich nach Hause. Ein halbes Dutzend Nachbarn folgten uns. Ich drückte mich in eine Küchenecke. Vielleicht mußte ich jetzt wieder nach oben gehen ? Wahrscheinlich. »Bleib da, Annie. Du brauchst nicht mehr in der Kammer zu hocken. Kommt herein!« Johann holte Stühle aus dem Wohnzimmer. »Die armen Mädchen. Schau dir die Kleine an. So blaß. Man sieht gleich, daß sie lange nicht draußen war.« »War es sehr langweilig ? Was habt ihr den ganzen Tag gemacht ? Gut, daß es vorbei ist, nicht?« »Für uns war der Krieg auch kein Vergnügen. Woher seid ihr ?« »Winterswijk ? Und wo sind eure Eltern?« »Hoffentlich hat es euer Vater auch überlebt.« »Und noch eine große Schwester?« »Ja, das war schrecklich, die deutsche Besatzung. Gottseidank, daß es vorbei ist.« »Hör mal, dich habe ich doch in der letzten Zeit ein paarmal in Usselo gesehen? Ich habe mich gefragt, wieso kennt das Mädchen die Ostervelds? Aber man will ja nicht zudringlich sein.« »Was, du arbeitest bei einem Bauern? Schon seit ein paar Monaten? Und du hast die Melkerprüfung gemacht?« »Das ist ein Tag heute, Johann! Der Krieg ist vorbei. Hast du das überhaupt begriffen?« Johann wischte sich die Stirn ab. »Jetzt stelle uns etwas von dem Essen auf den Tisch, das ich vorhin beschafft habe, Frau.« »Das Fleisch aus der Dose taugt nichts. Es schmeckt nach gar nichts«, sagte Oma. »Aber es ist ganz weich.« »Es bleibt mir am Gaumen kleben. Ich möchte wissen, wie sie das Zeug machen.« Oma nahm die leere Konservendose und drehte sie in den Händen. »Ist das Englisch, was drauf steht?« »Ja.« »Englisch! Wenn Hendrik das wüßte.« Oma nahm den Schürzenzipfel
und wischte sich die Augen. »Komm, setz dich auf meinen Schoß«, sagte Heleen zu mir. »Oder magst du mich jetzt nicht mehr, wo ihr frei seid ? In ein paar Tagen könnt ihr wieder nach Hause.« »Ich gehe zuerst allein hin und schaue nach«, sagte Johann. Was würde ich in Winterswijk machen? Wieder in die Schule gehen? In welche Klasse? Niemand würde sich noch an mich erinnern. Ich setzte mich wieder auf meinen Stuhl. »Es war nett, daß ihr zu uns gekommen seid«, sagte Oma. »Du redest, als ob sie fremde Leute wären, die einmal zu Besuch waren und nie wiederkommen, Mutter. Du wirst schon sehen, sie kommen wieder her.« »Ich weiß, aber dann ist es doch nicht das gleiche.« »Werdet ihr mich ein bißchen vermissen?« fragte Heleen. »Natürlich.« »Ich möchte, daß ihr jedes Jahr zu meinem Geburtstag kommt«, sagte Oma. »Es sind ja nicht mehr viele.«
»Natürlich kommen wir.«
»Und schreibt ihr uns manchmal?«
»Wie kannst du nur fragen?«
Ich streckte die Beine unter dem Tisch aus. Sie taten mir weh. Die Leute hier hatten auf meine Beine gestarrt. In Winterswijk würden sie das sicher auch tun. Vielleicht würden sich die Kinder in der Schule über mich lustig machen. Oder so tun, als ob ich nicht vorhanden wäre. Oder sie würden aufhören, miteinander zu sprechen, wenn ich in die Nähe kam, weil sie nicht wollten, daß ich es hörte. Vielleicht... Johann gähnte. »Schlafenszeit!« Oma stand als erste auf. »Ach, meine armen Knochen. Oh-Gott-ohGott-oh-Gott!«
Sini und ich gaben ihr einen Kuß. »Gute Nacht, Oma.
Schlafe gut.« Sie sah erfreut drein. »Ihr wißt doch, ich schlafe nie, aber es ist trotzdem nett von euch, daß ihr mir das wünscht.« Langsam ging sie die Treppe hinauf. Johann und Heleen folgten; dann Sini und ich. Oben an der Treppe blieben wir alle stehen.
»Wo sollen wir jetzt schlafen, Heleen?« fragte Sini.
»Ihr könnt die vordere Kammer haben. Johann und ich schlafen
hinten.«
»He, Frau, unser Bett war Annie immer gut genug, und Sini hat auf der
Matratze auf dem Boden auch immer gut geschlafen, nicht?« »Johann, der Krieg ist aus.« »Ja, und weißt du was ? Mir tut es beinahe leid, daß er für uns wirklich aus ist. Es war doch manchmal spannend, nicht?« »Also, gute Nacht.« Aber niemand rührte sich. »Wollt ihr noch etwas essen?« »Nein, danke, wir haben keinen Hunger.« »Annie, ich mache dir noch ein Kleid, ehe du nach Winterswijk gehst. Dann hast du zwei. Ich habe noch eines von mir, das ich zerschneiden kann. Mit hübschen kleinen Karos.« »Komm, Frau, es ist schon spät.« »Vielleicht können wir jetzt ordentliche Holzschuhe für euch beschaffen.« »Ihr geht doch nicht gleich morgen nach Winterswijk«, sagte Oma. »Wir müssen ein paar Tage warten, bis die Straßen wieder sicher sind.« »Und Sini muß dem Bauern Bescheid sagen, daß sie nicht mehr bei ihm bleibt«, meinte Heleen. »Ich gehe morgen mit ihr hin. Ich möchte gern sehen, was er für ein Gesicht macht.« »Johann, du kannst die Mädchen nicht sofort mitnehmen, wenn du nach Winterswijk gehst. Du mußt erst allein hin.« »Davon rede ich doch die ganze Zeit, Mutter.« »Also, dann gute Nacht«, sagte Heleen verlegen. »Es ist wirklich schon spät.« Johann und sie gingen in die rückwärtige Kammer. »Zurück nach Winterswijk«, sagte Oma mit Tränen in den Augen. Sini und ich gingen leise in die vordere Kammer. Die
Verdunkelungsgardine war nicht heruntergezogen. Kühn ging ich zum
Fenster. Ich preßte die Nase an die Scheibe. Da war die Dorfstraße, und
gegenüber wohnten die Groots. Jemand fuhr auf dem Fahrrad vorbei. Ich
duckte mich.
»Annie!«
Stimmt, ich brauchte mich nicht mehr zu verstecken. Der Krieg war
aus. Ich werde mich mit der Zeit daran gewöhnen. Ich zog den Vorhang
herunter und legte mich ins Bett. »Gute Nacht, Sini.«
»Gute Nacht, kleine Schwester.«
13 Eine Woche verstrich, und Johann war noch immer nicht in Winterswijk
gewesen. »Morgen«, sagte er jeden Tag. Und am nächsten Morgen
erinnerte ihn niemand daran. Dann kam Rachel zu Fuß nach Usselo, denn
es gab noch keine Autobusse.
»Wenn man es so eilig hat wie ich, euch wiederzusehen, schafft man den
Weg an einem Tag«, sagte Rachel.
Wir waren froh, mit ihr zusammen zu sein, bis Rachel sagte, daß sie
gekommen sei, uns nach Winterswijk zu holen.
»Ich kann noch nicht fort«, sagte Sini. »Ich gehe hier mit einem jungen
Mann aus, und ich bin gerade erst dabei, ihn richtig kennenzulernen.«
»Ich kann auch noch nicht fort«, sagte ich. »Ich gewöhne mich erst daran,
daß ich draußen herumlaufen darf.« Trotzig schaute ich mich in der Küche
um. Niemand konnte mich zwingen fortzugehen, wenn ich nicht wollte.
Rachel fuhr also allein nach Winterswijk, um nachzusehen, was aus
unserem Haus geworden war.
Erst einen Monat später verließen Sini und ich Usselo. Ihr Freund, der
junge Bauer, fuhr uns mit seinem verrosteten Milchauto nach Hause. Unser
bißchen Wäsche hatten wir in alte Zeitungen eingewickelt. In meiner
Tasche steckte die Münze, die Mutter mir gegeben hatte, als ich sie zum
letzten Mal gesehen hatte.
Oma stand unter der Tür. Sie weinte. »Ich habe euch lieber als meine
eigene Familie.«
Der junge Mann ließ den Motor anspringen.
Johann putzte sich die Nase. »Verdammt und zugenäht.«
»Vergeßt uns nicht!« rief Heleen.
Langsam fuhren wir davon und winkten.
Vater war auch schon in Winterswijk. Unser Leben dort begann von neuem.
Nach einiger Zeit verließen Rachel und Sini Winterswijk. Noch später ging
auch ich fort. Nach Amerika. In meinem Koffer lag die Spitzenhaube, die
Oma mir bei meinem Abschiedsbesuch geschenkt hatte. »Lege sie oben
drauf, damit sie nicht wieder zerdrückt wird«, befahl sie mir. »Weißt du
noch, damals ... mit dem schweren Buch?«
Nachwort
Dieses Buch handelt von meinem eigenen Leben, von den Jahren, da ich als Kind im Holland des Zweiten Weltkrieges aufwuchs. Daß ich »anders« war als die Kinder meiner Umgebung, als meine Freundinnen und Schulkameradinnen, wurde mir erst nach und nach bewußt. Ich war Jüdin. Mein Buch will kein Geschichtsbuch sein, auch wenn es Einblick in diese Zeit vermittelt. Es ist ein sehr persönlicher Bericht. Ich habe versucht, eine einfache, menschliche Geschichte zu erzählen, aus der Sicht des Kindes, das ich damals war. Sie berichtet von dem, was meine Schwester und ich erlebt haben, von der Familie, die uns aufgenommen und versteckt hat, von Menschen, die nicht einfach Helden waren, auch wenn sie ihr Leben für uns riskierten, sondern Menschen mit Güte, Anstand und Tapferkeit, aber auch mit Schwächen. Johanna Reiss