Handbuch Versicherungsmarketing
Michael P. Zerres · Michael Reich Herausgeber
Handbuch Versicherungsmarketing
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Herausgeber Prof. Dr. Michael P. Zerres Universit¨at Hamburg Fakult¨at Wirschafts- und Sozialwissenschaften FB Sozial¨okonomie Fachgebiet Marketing Von-Melle-Park 9 20146 Hamburg
[email protected] Dr. Michael Reich 67 rockwell Consulting GmbH Große Elbstr. 45 22767 Hamburg
[email protected] ISBN 978-3-642-10275-2 e-ISBN 978-3-642-10276-9 DOI 10.1007/978-3-642-10276-9 Springer Heidelberg Dordrecht London New York Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet u¨ ber http://dnb.d-nb.de abrufbar. c Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010 Dieses Werk ist urheberrechtlich gesch¨utzt. Die dadurch begr¨undeten Rechte, insbesondere die der ¨ Ubersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielf¨altigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielf¨altigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zul¨assig. Sie ist grunds¨atzlich verg¨utungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten w¨aren und daher von jedermann benutzt werden d¨urften. Einbandentwurf: WMXDesign GmbH, Heidelberg c Sabine Wild/VG Bildkunst. www.kunstwild.de Coverfoto: Gedruckt auf s¨aurefreiem Papier Springer ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com)
Geleitwort
Die deutsche Versicherungswirtschaft stellt sich seit Jahren den Herausforderungen eines liberalisierten Marktes, der durch stagnierendes Wachstum und intensivierten Wettbewerb geprägt ist. Die Folgen waren insbesondere bei den in der Kraftfahrzeugsparte heimischen Versicherungsunternehmen zu bemerken. So sahen sich die Unternehmen im Hinblick auf die Sparte Kraftfahrzeug trotz leicht steigender Zulassungszahlen mit sinkenden Bruttobeitragseinnahmen konfrontiert. Darüber hinaus beeinflusst die Reform des Rentenversicherungssystems den Versicherungsmarkt maßgeblich. In den nächsten Jahren wird das umlagefinanzierte System der gesetzlichen Rentenversicherung dem Druck auf das sogenannte Generationenmodell nicht mehr standhalten können. Die Finanzierungslücke, die sich auf Grund der demografischen Entwicklung - einer steigenden Zahl von Rentenempfängern steht eine sinkende Zahl von Beitragszahlern gegenüber - immer weiter vergrößern wird, zwingt zu einer Reformierung des Systems. Angesichts der Marktauswirkungen dieser Rahmenbedingungen ist für den deutschen Markt zu vermuten, dass sich insbesondere für Lebensversicherungen eine Wachstumschance eröffnen wird. Das Wissen um die Unzulänglichkeit der staatlichen Vorsorge sowie die aktuelle Diskussion der Reform der Rentenversicherung veranlassen die Beitragszahler schon heute verstärkt dazu, in die private oder betriebliche Eigenversorgung zu investieren. Darüber hinausgehend herrscht unter Experten weitestgehend Einigkeit über Richtung und Struktur der Bevölkerungsentwicklung und damit über Nachfragefaktoren für Versicherungsprodukte. Das stagnierende Bevölkerungswachstum und die sich verändernde Bevölkerungsstruktur üben in Verbindung mit soziokulturellen Trends, etwa einer steigenden Anzahl von Single-Haushalten, einen starken Einfluss auf die Beschaffenheit des Versicherungsmarktes aus. Dieses zeigt sich insbesondere in sich ändernden Nachfragemotiven. Während zum Beispiel durch eine höhere Anzahl an Single-Haushalten die Hinterbliebenenvorsorge an Bedeutung verlieren könnte, gewinnen die private Altersvorsorge und die Kapitalanlage an Relevanz. Die Tendenz zum Alleinleben führt dazu, dass die Zahl der Haushalte und damit auch das potenzielle Nachfragevolumen steigen. Die zu erwartende Marktentwicklung bietet den Versicherungsunternehmen große Chancen, ihre Marktposition zu verbessern. Gleichzeitig besteht jedoch auch das Risiko, Marktanteile durch den starken Verdrängungswettbewerb zu verlieren. Ein maßgeblicher Stellhebel, die Marktchancen zu realisieren und das Risiko des Verdrängungswettbewerbes zu minimieren, ist das Versicherungsmarketing. Zur Generierung von Wettbewerbsvorteilen über diesen Stellhebel ist eine Intensivierung der Marketingaktivitäten der Versicherungsunternehmen notwendig. Gleichzeitig gilt es, die wirkungsstärksten Marketingaktivitäten zu identifizieren und umzusetzen.
VI
Geleitwort
In dem vorliegenden Handbuch Versicherungsmarketing wird anhand praxisorientierter Beiträge dargestellt, mit welchen Konzepten Versicherungsunternehmen den anstehenden Herausforderungen begegnen können. Der Leser erhält eine umfassende Darstellung der aktuellen Situation und der absehbaren Entwicklungen. Auch aus wissenschaftlicher Sicht schließt diese Publikation eine Lücke in der einschlägigen Marketingliteratur für Versicherungsunternehmen. Den Herausgebern ist es gelungen, die Brücke zwischen Wissenschaft und Praxis zu schlagen.
Dr. Wolfgang Breuer Vorsitzender der Vorstände HDI-Gerling Firmen und Privat Versicherung AG HDI Direkt Versicherung AG HDI-Gerling Vertrieb Firmen und Privat AG
Köln, im Oktober 2009
Vorwort der Herausgeber
Lange Zeit wurde Marketing in der deutschen Versicherungswirtschaft vernachlässigt. Häufig konzentrierten sich diesbezügliche Bestrebungen lediglich auf eine Optimierung der Vertriebspolitik. Ein Marketing-Broadening, wie etwa bei Banken, fand bisher nicht statt. Auch wenn in letzter Zeit einige Ansätze zur Entwicklung eines eigenständigen Versicherungsmarketing zu beobachten sind, müssen doch weiterhin Defizite festgestellt werden. Marketing im Sinne einer Unternehmensphilosophie, bei der alle betrieblichen Bereiche auf den Markt und seine Anforderungen ausgerichtet werden, sollte jedoch auch in Versicherungsunternehmen eine höhere Bedeutung erfahren. Eine solche Entwicklung bedarf auch entsprechender Fachliteratur. Das vorliegende Handbuch Versicherungsmarketing soll diese Entwicklung unterstützen. In seinem Aufbau orientiert es sich an der Struktur des Dienstleistungsmarketing. Die Übertragung von Erkenntnissen aus Marketing beziehungsweise Dienstleistungsmarketing auf das Marketing von Versicherungsunternehmen ist dabei mit großen Herausforderungen verbunden, da es hier gilt, die wesentlichen Merkmale des Versicherungsgeschäftes zu berücksichtigen, An dieser Stelle sei allen Autorinnen und Autoren für das Einbringen ihrer hohen Fachkompetenz und ihres Engagements gedankt.
Dr. Michael Reich/Prof. Dr. Michael Zerres
Hamburg, im Oktober 2009
Inhalt
Abbildungsverzeichnis ................................................................................. XX I II
Teil I Entwicklung, Gegenstand und Besonderheiten des Versicherungsmarketing........................................................... 1 Kapitel 1 Anbieter von Versicherungsleistungen ................................................................ 3 Michael Dorka 1
Überblick ..................................................................................................... 3 1.1 Sozialversicherungen ............................................................................ 4 1.2 Individualversicherungen .................................................................... 7 1.2.1 Rechtliche Rahmenbedingungen ............................................. 7 1.2.2 Wirtschaftliche Erscheinungsformen ...................................... 8 1.2.3 Marktüberblick ........................................................................ 9 2 Entwicklungen bei den Versicherungsanbietern ....................................... 13 2.1 Entwicklungen in der Sozialversicherung .......................................... 13 2.2 Entwicklungen in der Individualversicherung .................................... 13 Literatur ........................................................................................................... 18
X
Inhalt
Kapitel 2 Nachfrager von Versicherungsleistungen .......................................................... 19 Andreas Weihs 1
Grundlagen zum Konsumentenverhalten .................................................. 19 1.1 Erklärungskonstrukte .......................................................................... 19 1.2 Informationsverarbeitungsprozess ...................................................... 25 1.3 Kaufentscheid ..................................................................................... 29 2 Konsumentenverhalten auf dem deutschen Versicherungsmarkt .............. 30 2.1 Konsumentengruppen ......................................................................... 31 2.2 Konsumentenvertrauen ....................................................................... 32 2.3 Preisverhalten ..................................................................................... 33 2.4 Einflussnahme der Werbung .............................................................. 35 2.5 Ausblick ............................................................................................. 38 Literatur ........................................................................................................... 40 Kapitel 3 Besonderheiten und Systematisierung von Versicherungsleistungen ............ 43 Robert Brajak/Nicolai De Marco 1 2
Einführung ................................................................................................ 43 Begriffsabgrenzung des Versicherungsproduktes ..................................... 44 2.1 Definition nach dem Versicherungsaufsichtsgesetz ........................... 44 2.2 Versicherungsschutzkonzept von Farny ............................................. 45 3 Besonderheiten von Versicherungsleistungen ........................................... 46 4 Marktsegmentierung und Systematisierung der Versicherungsleistungen 50 5 Zusammenfassung ..................................................................................... 50 Literatur ........................................................................................................... 52 Kapitel 4 Rechtsrahmen des Versicherungsmarketing ..................................................... 53 Dr. Jens Gal 1
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Einführung ................................................................................................ 53 1.1 Recht als erheblicher Makrofaktor ..................................................... 54 1.2 Recht als Steuerungsrahmen ............................................................... 55 Ausgewählte Rechtsbereiche ..................................................................... 58 2.1 Gewerblicher Rechtsschutz ................................................................ 59 2.1.1 Markenschutz ........................................................................ 59 2.1.2 Geschmacksmusterschutz und Patentschutz ......................... 62 2.2 Urheberrecht ....................................................................................... 63 2.3 Unlauterer Wettbewerb ...................................................................... 64
Inhalt
XI
2.3.1 Rechtsgrundlagen .................................................................. 64 2.3.2 Nicht-werbespezifische Beispielsfälle .................................. 66 2.3.3 Werbespezifische Beispielsfälle............................................ 67 2.4 Kartellrecht ......................................................................................... 69 2.5 Datenschutz ........................................................................................ 70 2.6 Direktmarketing.................................................................................. 71 2.7 Versicherungsvertragsrecht inklusive AGB-Recht ............................. 73 2.8 Versicherungsaufsichtsrecht ............................................................... 74 Literatur ........................................................................................................... 75
Teil II Theoretische Grundlagen des Versicherungsmarketing ............ 79 Kapitel 5 Theoretische Grundlagen des Versicherungsmarketing .................................. 81 Tim Sutor 1 2
Einleitung .................................................................................................. 81 Produktspezifische Besonderheiten der Versicherung und Implikation für das Versicherungsmarketing ................................................................ 82 2.1 Dienstleistungscharakteristika der Versicherung................................ 82 2.2 Gesamtleistung Versicherung als Gestaltungsobjekt des Versicherungsmarketing............................................................... 85 3 Erklärungsbeiträge ausgewählter theoretischer Ansätze zum Versicherungsmarketing .................................................................... 88 3.1 Institutionenökonomische Ansätze und deren Erklärungsbeitrag zum Versicherungsmarketing ............................................................. 88 3.1.1 Ansätze der Informationsökonomie ...................................... 89 3.1.2 Ansätze der Transaktionskostentheorie ................................. 92 3.2 Verhaltenswissenschaftliche Ansätze und deren Erklärungsbeitrag zum Versicherungsmarketing ............................................................. 94 3.2.1 Interaktions- und beziehungsorientierte Ansätze .................. 94 3.2.2 Involvement-Theorie............................................................. 96 4 Zusammenfassung ..................................................................................... 98 Literatur ......................................................................................................... 100
XII
Inhalt
Teil III Informationsgrundlagen des Versicherungsmarketing............ 101 Kapitel 6 Megatrends im Versicherungsmarkt ............................................................... 103 Markus Rosenbaum 1 2
Megatrends und ihre Bedeutung für das Versicherungsmarketing .......... 103 Methoden für die Erfassung und Auswertung von Megatrends im Versicherungsmarkt................................................. 105 3 Megatrends: Gliederung und Ansätze einer aktuellen Bestandsaufnahme ................................................................................... 108 3.1 Vorbemerkungen .............................................................................. 108 3.2 Teilsystem Politik ............................................................................. 108 3.3 Teilsystem Wirtschaft ....................................................................... 109 3.4 Teilsystem Soziodemographie .......................................................... 110 3.5 Teilsystem Technologie.................................................................... 110 3.6 Teilsystem Ökologie ......................................................................... 111 3.7 Teilsystem Gesetzgebung ................................................................. 112 4 Zusammenfassung und Ausblick............................................................. 113 Literatur ......................................................................................................... 114 Kapitel 7 Strategische Steuerung – von der Balanced Scorecard zu Strategy Maps ... 115 Dr. Stephan Paprottka/Torsten Kresse 1
Status Quo der Unternehmenssteuerung in der deutschen Versicherungswirtschaft ............................................... 115 2 Balanced Scorecard ................................................................................. 118 2.1 Grundkonzept und Kernelemente ..................................................... 118 2.2 Key Performance Indicators und Zielgrößen .................................... 120 2.3 Entwicklungsprozess ........................................................................ 121 3 Strategy Maps.......................................................................................... 125 4 Einführung einer Balanced Scorecard am Beispiel einer deutschen Lebensversicherung ................................................................................. 127 4.1 Vorgehensmodell.............................................................................. 127 4.2 Beispielhafte Konzeption ................................................................. 129 5 Ausblick – Strategy Landscaping als Lösung für die zukünftige Unternehmenssteuerung............................................. 136 Literatur ......................................................................................................... 137
Inhalt
XIII
Kapitel 8 Wertorientierte Produkt- und Vertriebswegesteuerung ................................ 139 Adrian Wepner/Arne Soldat 1
Herausforderungen für Sachversicherungen im Produkt- und Kundenmanagement ..................................................... 139 2 Einflüsse der wertorientierten Steuerung auf die Produkt- und Vertriebswegesteuerung .......................................................................... 140 2.1 Konzeptionelle Grundlagen .............................................................. 140 2.1.1 Wertorientierte Steuerung von Unternehmen ..................... 140 2.1.2 Theorie der Wertorientierung .............................................. 142 2.2 Elemente der Vertriebswege- und Produktsteuerung ....................... 144 2.2.1 Elemente der Vertriebswegesteuerung ................................ 144 2.2.2 Elemente der Produktsteuerung .......................................... 145 2.3 Produktergebnisrechnung im Steuerungsmodell eines Sachversicherers ...................................................................... 147 3 Voraussetzungen, Rahmenbedingungen und Grenzen einer Implementierung ....................................................... 153 3.1 Voraussetzungen .............................................................................. 153 3.2 Rahmenbedingungen ........................................................................ 154 3.3 Grenzen ............................................................................................ 155 4 Zusammenfassung und Ausblick............................................................. 155 Literatur ......................................................................................................... 157
Teil IV Strategisches Versicherungsmarketing ...................................... 159 Kapitel 9 Multichannel-Management ............................................................................... 161 Dr. Christin Emrich 1 2
3
4
Einleitung ................................................................................................ 161 Wandel in der Versicherungswirtschaft .................................................. 162 2.1 Strategische Unternehmensführung vor und nach der Liberalisierung............................................................................ 162 2.2 Von der Produkt- zur Kundenorientierung ....................................... 163 Multichannel-Marketing-Strategien und Multichannel-Management ... 165 3.1 Multichannel-Marketing-Strategie als Unternehmensführungskonzept ........................................................ 165 3.2 Multiple-Channel-Retailing-Konzept ............................................... 166 3.3 Auslöser und wesentliche Chancen .................................................. 167 3.4 Ausgewählte Risiken ........................................................................ 169 Multichannel-Strategien in der Versicherungsbranche .......................... 169 4.1 Kommunikationsportfolio Status quo ............................................... 169
XIV
Inhalt
4.1.1 Botschaftsinteraktive offline-Kommunikationskanäle ....... 170 4.1.1.1 Stationäre Kanäle POS (Agentur).............................. 170 4.1.1.2 Mobile Kanäle Außendienst, Brief und Telefon ........ 171 4.1.2 Botschaftspassive offline-Kanäle Fernsehen und Print ...... 172 4.1.3 Botschaftsinteraktive online-Kanäle der Web 1.0-Welt..... 173 4.1.4 Bewertung des Kanalportfolios nach Emrich ..................... 174 4.1.5 Problembereiche beim Multichannel-Management in der Versicherungsbranche.............................................. 177 4.1.6 Praxisbeispiel: Multiple-Channel-Retailing-Strategie ....... 178 4.2 Resümee .......................................................................................... 179 Literatur ......................................................................................................... 181 Kapitel 10 Strategieentwicklung ......................................................................................... 183 Dr. Michael Reich/Tim Braasch 1 Ausgangssituation ................................................................................... 183 1.1 Strategien erfolgreicher Unternehmen – die Hidden Champions .... 183 1.2 Strategische Planungen in Versicherungen ...................................... 184 2 Strategische Analysen ............................................................................. 185 2.1 Ausgangssituation ............................................................................ 185 2.2 Wachstum des Neugeschäftes .......................................................... 186 2.3 Operative Exzellenz.......................................................................... 188 2.4 Kapitalanlage .................................................................................... 190 3 Ableitung eines strategischen Programmes ............................................. 191 4 Zusammenfassung ................................................................................... 192 Literatur ......................................................................................................... 194 Kapitel 11 Strategische Umsetzungsprogramme von Wachstums- und Kosteninitiativen ........................................................... 195 Dr. Michael Reich/Tim Braasch/Thorsten Schramm 1 2
Turbulenzen der Branche ........................................................................ 195 Vorgehen bei der Operationalisierung von strategischen Programmen .. 198 2.1 „Steckbriefe“ für strategische Initiativen......................................... 198 2.2 Masterplanung .................................................................................. 200 2.3 Steuerung und Transparenz .............................................................. 201 3 Umsetzungsmanagement ......................................................................... 203 3.1 Managementkreislauf ....................................................................... 203 3.2 Managementsitzungen ...................................................................... 204 4 Permanente Revolution? ......................................................................... 205 Literatur ......................................................................................................... 206
Inhalt
XV
Kapitel 12 Six Sigma in Versicherungen ............................................................................ 207 Dr. Michael Reich/Marcus Laakmann 1
Kontinuierliche Verbesserungsprozesse .................................................. 207 1.1 Entstehung und Entwicklung ............................................................ 207 1.2 Qualitätsorientierte Veränderungsprozesse in der deutschen Versicherungsbranche ...................................................................... 209 2 Konzeptionelle Grundlage einer Einführung von Six Sigma bei einem Versicherer.............................................................................. 214 2.1 Business Excellence als Grundlage qualitätsorientierter Veränderungsprozesse ...................................................................... 214 2.2 Kernelemente von Six Sigma ........................................................... 216 2.3 Organisatorische Einbindung und Personalentwicklungskonzepte .. 221 3 Inhaltliches und methodisches Vorgehen bei der Einführung von Six Sigma .......................................................... 224 4 Kritische Erfolgsfaktoren bei qualitätsorientierten Verbesserungsprozessen in der Versicherung ......................................... 227 5 Zusammenfassung und Ausblick............................................................. 228 Literatur ......................................................................................................... 229 Kapitel 13 Corporate Citizenship bei Versicherungen ..................................................... 231 Dr. Nicole Fabisch 1 2
Herausforderungen an das Versicherungsmarketing ............................... 231 Begriffsklärung und theoretische Einbettung .......................................... 232 2.1 Corporate Citizenship ....................................................................... 232 2.2 Corporate Social Responsibility ....................................................... 233 2.3 Verantwortungspyramide als theoretische Basis des CC.................. 234 3 Strategisches Corporate Citizenship ........................................................ 235 3.1 Instrumente des Corporate Citizenship-Mix ..................................... 235 3.2 Business Case für Corporate Citizenship ......................................... 237 3.2.1 Personalentwicklung ........................................................... 237 3.2.2 Corporate Communication .................................................. 238 3.2.3 Neukundengewinnung und Kundenbindung ....................... 239 3.2.4 Standortentwicklung ........................................................... 241 3.3 Implementierung des Corporate Citizenship .................................... 241 3.3.1 Soziales Commitment und strukturelle Anpassung............. 241 3.3.2 CC-Prozess.......................................................................... 243 4 Fazit ......................................................................................................... 244 Literatur ......................................................................................................... 245
XVI
Inhalt
Kapitel 14 Innovatives Kundenrückgewinnungskonzept ................................................. 247 Andreas Hülsing 1 2
Einleitung ................................................................................................ 247 Grundlagen einer Kundenrückgewinnung ............................................... 248 2.1 Begriffsabgrenzungen....................................................................... 248 2.2 Zieldimensionen der Kundenrückgewinnung ................................... 251 3 Entwicklung eines Kundenrückgewinnungskonzeptes ........................... 253 3.1 Identifikation von abgewanderten Kunden ....................................... 254 3.2 Wertorientierte Segmentierung abgewanderter Kunden ................... 255 3.3 Analyse der Abwanderungsgründe ................................................... 256 3.4 Problembehebung ............................................................................. 259 3.5 Maßnahmen zur Rückgewinnung abgewanderter Kunden ............... 261 3.6 Nachbetreuung erfolgreich zurückgewonnener Kunden .................. 264 4 Voraussetzungen für die erfolgreiche Operationalisierung des Rückgewinnungskonzeptes ............................................................... 265 4.1 Integrative Organisationsstruktur ..................................................... 265 4.2 Leistungs- und kundenorientierte Mitarbeiter .................................. 267 Schlussbetrachtung ........................................................................................ 269 Literatur ......................................................................................................... 270
Teil V Operatives Versicherungsmarketing ......................................... 273 Kapitel 15 Post Merger Integration bei einem Versicherungsunternehmen .................. 275 Dr. Michael Reich/Tim Braasch/Thorsten Schramm 1 2 3
Konsolidierungswellen in Branchen ....................................................... 275 Voraussetzungen für einen erfolgreichen Merger ................................... 278 Konzeptionelles Vorgehen bei der Integration am Beispiel zweier Versicherungsunternehmen...................................... 281 3.1 Integrationsansatz ............................................................................. 281 3.2 Integrationsstrategie und Grundsatzentscheidungen ........................ 282 3.3 Masterplan und Prozesse im Programm-Management ..................... 284 3.4 Organisatorische und personelle Integration .................................... 288 4 Integration der Systeme ........................................................................... 290 5 Erfahrungen aus dem Integrationsprozess ............................................... 291 6 Zusammenfassung und Ausblick............................................................. 293 Literatur ......................................................................................................... 294
Inhalt
XVII
Kapitel 16 Innovatives Schadenmanagement in Versicherungen .................................... 295 Tim Braasch/Michael Danisch 1
Einleitung ................................................................................................ 295 1.1 Optimierungsansätze in der Schadenfunktion .................................. 295 1.2 Von der institutionellen Sichtweise hin zur Kundenorientierung ..... 296 2 Schadenfunktion und Rentabilität ........................................................... 298 2.1 Schadenhäufigkeit und -höhe zeigen Einsparpotenziale auf ............ 298 2.2 Stellhebel zur Optimierung der Schadenfunktion ............................. 299 3 Ausgangspunkt: Verständnis der Kundenbedürfnisse ............................. 301 3.1 Kundenanforderungen an die klassischen Kfz-Versicherungen ....... 301 3.2 Bewertung des Erfüllungsgrades der Kundenanforderungen im TRI:M Grid ................................................................................. 302 4 Erwartete Optimierungsergebnisse.......................................................... 303 5 Zusammenfassung ................................................................................... 304 Literatur ......................................................................................................... 306 Kapitel 17 Mögliche Industrialisierungsansätze für Kundenservice-Center .................. 307 Marcus Laakmann/Oliver Pietzsch 1 2
Einleitung ................................................................................................ 307 Anforderungen an ein Kundenservice-Center in der Versicherungswirtschaft ................................................................ 308 3 Gestaltung des modernen Kundenservice-Centers .................................. 311 3.1 Industrialisierung in der Assekurranz ............................................... 311 3.2 Gestaltungsprinzipien der Industralisierung ..................................... 312 3.3 Strategische und organisatorische Neuausrichtung eines Kundenservice-Centers ........................................................... 314 4 Nutzen ..................................................................................................... 315 5 Zusammenfassung ................................................................................... 317 Literatur ......................................................................................................... 318 Kapitel 18 Innovative Vertriebskonzepte........................................................................... 319 Jörg Hodann/Alexander Wulf 1 2
Einleitung ................................................................................................ 319 Steuerungskonzepte ................................................................................. 320 2.1 Management by Objectives .............................................................. 320 2.2 Balanced Scorecard .......................................................................... 321 2.3 Benchmarking .................................................................................. 324 2.5 Fazit für die Steuerung des Versicherungsvertriebes ....................... 327
XVIII
Inhalt
3
Fallstudie: Innovatives Steuerungskonzept für den Leben-Maklervertrieb ................................................................. 328 3.1 Ausgangssituation ............................................................................ 328 3.2 Analyse ............................................................................................. 328 3.3 Konzeption ....................................................................................... 329 3.4 Umsetzung ........................................................................................ 329 3.5 Wirkung ............................................................................................ 335 Literatur ......................................................................................................... 337 Kapitel 19 Erfolgsfaktoren einer Auslagerung von IT-Infrastrukturservices ................ 339 Tim Braasch 1
Einleitung ................................................................................................ 339 1.1 IT-Outsourcing als Teil der Management-Strategie ......................... 339 1.2 Kriterien für eine Outsourcing-Entscheidung ................................... 340 2 Marktentwicklung und Trends ................................................................ 342 2.1 Anbieter IT-Outsourcing .................................................................. 342 2.2 Selektives Outsourcing ..................................................................... 343 3 Chancen und Risiken ............................................................................... 344 3.1 Vorteile des selektiven IT-Outsourcing ............................................ 344 3.2 Outsourcing-Risiken ......................................................................... 346 4 Erfolgsfaktoren für die IT-Auslagerung .................................................. 348 4.1 Projektorganisation ........................................................................... 348 4.2 Zehn Erfolgsfaktoren für das IT-Outsourcing .................................. 348 5 Zusammenfassung ................................................................................... 350 Literatur ......................................................................................................... 352 Kapitel 20 Effektive Personalauswahl ................................................................................ 353 Dr. Michael Reich/Oliver Pietzsch 1 2
Einführung .............................................................................................. 353 Innovatives Konzept zur effizienten Durchführung von Großprojekten zwischen Fachbereichen und der IT ......................... 354 3 Anforderungen an das Personalauswahlverfahren .................................. 355 4 Zusammenarbeit zwischen Personalbereich und Fachabteilungen .......... 357 5 Zusammenfassung ................................................................................... 364 Literatur ......................................................................................................... 366
Inhalt
XIX
Kapitel 21 Erfolgsfaktoren im Rahmen von großen IT-Veränderungsprozessen .......... 367 Dirk Weske/Torsten Hübenthal 1
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Neue Rahmenbedingungen ..................................................................... 367 1.1 Stagnierende Märkte und Verdrängungswettbewerb ....................... 367 1.2 Neue Anforderungen ....................................................................... 367 Zielkonflikt zwischen Vertrieb und Informationstechnologie ................. 368 2.1 Bedingungen des Vertriebes ............................................................ 368 2.2 Vernetzung von Vertrieb und IT ..................................................... 370 2.3 Mentales Problem ............................................................................ 371 Neue Rolle der Informationstechnologie für Versicherungen ................. 372 3.1 IT und Versicherungen .................................................................... 372 3.2 Aktuelle Defizite ............................................................................. 373 Koordinaten der strategischen Integration............................................... 374 4.1 Transparenz und Zuordnung der Kosten .......................................... 374 4.2 Effizienz und Effektivität ................................................................ 375 4.3 Agilität ............................................................................................. 376 Case Study – Kundenorientierte Weiterentwicklung der IT in einer Post-Merger-Situation ................................................................ 378 5.1 Kundenorientierung in der Koexistenz ............................................. 378 5.2 Kundenorientierte Weiterentwicklung.............................................. 380 Wer nur etwas von IT versteht, hat nichts verstanden! ........................... 382
Kapitel 22 Versicherung 2.0 – Marketing und Kommunikation im Social Media-Zeitalter.................................................................................. 383 Uwe Schumacher 1 2
Einleitung ................................................................................................ 383 Kommunikation 2.0 und Marketing 2.0 für Unternehmen ...................... 385 2.1 Grundlagen, Instrumente und Einsatzmöglichkeiten ........................ 385 2.2 Online Marketing (SEO, SEM) bei der Direct Line ......................... 386 2.3 Online Reputationsmanagement bei der Direct Line ........................ 389 3 Social Media-Strategie und (Online-) PR................................................ 392 3.1 Beispiele Web2.0-Instrumente (Corporate Blog, Social Media-Kanäle) bei Direct Line .............................................. 392 3.2 Verzahnung von Online-PR und Web2.0-Instrumenten .................. 394 4 Fazit ......................................................................................................... 394 Literatur ......................................................................................................... 395
XX
Inhalt
Kapitel 23 Kommunikationspolitik im Versicherungssektor ........................................... 397 Dr. Ute Rohbock/Martha Jagoda 1 Besonderheiten im Dienstleistungssektor................................................ 398 2 Kommunikationsempfehlung .................................................................. 399 2.1 Klassische Kommunikation .............................................................. 399 2.2 Interne Kommunikation.................................................................... 403 2.3 Interne Krisenkommunikation .......................................................... 403 2.4 Virales Marketing ............................................................................. 404 2.5 Kommunikation im Web 2.0 ............................................................ 405 3 Fazit und Ausblick .................................................................................. 406 Literatur ......................................................................................................... 408 Kapitel 24 Unternehmenskommunikation in der Krise .................................................... 411 Dr. Nicole Plankert 1 2 3
Einführung .............................................................................................. 411 Herausforderungen an Versicherungsunternehmen................................. 411 Krisenkommunikation ............................................................................. 412 3.1 Begriff und Bedeutung ..................................................................... 412 3.2 Strategien und Akteure ..................................................................... 413 4 Erfolgsfaktoren in der Krisenkommunikation ......................................... 415 5 Fazit ......................................................................................................... 426 Literatur ......................................................................................................... 428
Teil VI Versicherungsmarketing-Implementierung, -Controlling und -Techniken ...................................................... 431 Kapitel 25 Ausrichtung des Produktmarketing in der Assekuranz ................................ 433 Dr. Stephan Paprottka 1
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Entwicklung des Produktmarketing ........................................................ 433 1.1 Produktmarketing als Erfolgsfaktor im Unternehmen ...................... 433 1.2 Herausforderungen in der Versicherungsbranche............................. 434 Produktmarketingkonzept in der Assekuranz .......................................... 436 2.1 Marketing und Produktmarketing ..................................................... 436 2.2 Rahmenbedingungen und Erfolgsfaktoren auf dem Markt für Versicherungen .................................................. 438 2.3 Ausrichtung der Produktmarketinginstrumente ................................ 440 2.4 Produktentwicklungsprozess ............................................................ 442 Organisation des Produktmarketing ........................................................ 444
Inhalt
XXI
3.1 Gestaltungsprinzipien ....................................................................... 444 3.2 Funktionen und Organisationsmodell ............................................... 445 3.3 Strukturierungsrahmenbedingungen ................................................. 447 4 Neuausrichung des Produktmarketing – ein Praxisbeispiel.................... 449 Literatur ......................................................................................................... 453 Kapitel 26 Kundenorientierte Frühwarnsysteme in Versicherungen .............................. 455 Dr. Michael Reich/Tobias Blodau 1 2
Herausforderungen durch die Finanzkrise............................................... 455 Notwendigkeit neuer Frühwarnsysteme .................................................. 457 2.1 Zentrale Herausforderungen für Versicherungsunternehmen ........... 457 2.2 Kundenbindungsmanagement als Reaktion auf die Herausforderungen ............................................................... 461 2.3 Implikationen für innovative Frühwarnsysteme im Kundenbindungsmanagement von Versicherungen ......................... 462 3 Kundenwert als Frühwarnindikator ......................................................... 463 3.1 Ausgangslage.................................................................................... 463 3.2 Konzeptansatz für Frühwarnsysteme ................................................ 465 4 Implikationen für das Management ......................................................... 472 Literatur ......................................................................................................... 473 Kapitel 27 Weiterbildung im Versicherungsmarketing .................................................... 475 Matthias Heußner 1 2 3
4 5
Weiterbildung im Versicherungsmarketing ............................................ 475 Ist-Analyse des Weiterbildungsangebotes für Mitarbeiter im Versicherungsmarketing .................................................................... 475 Konzept einer innovativen Weiterbildungsakademie als Ansatz für das Versicherungsmarketing ............................................ 476 3.1 Akademisches Dienstleistungsangebot – Bachelor of Arts (Insurance) ......................................................... 476 3.2 Akademisches Dienstleistungsangebot – Master of Arts (Insurance) ............................................................. 478 3.3 Weiterbildungsangebot für Führungskräfte ...................................... 479 Akkreditierung und Qualitätsmanagement .............................................. 480 Zusammenfassung ................................................................................... 481
XXII
Inhalt
Kapitel 28 Business Intelligence als strategische Grundlage der Unternehmenssteuerung............................................................................. 483 Torsten Schwarz 1
Business Intelligence ............................................................................... 483 1.1 Ausgangslage.................................................................................... 483 1.2 Begriffsabgrenzungen....................................................................... 484 1.3 Komponenten ................................................................................... 484 1.4 Anbieter ............................................................................................ 485 2 Business Intelligence in Versicherungsunternehmen .............................. 485 2.1 Problemhintergrund .......................................................................... 485 2.2 Wirkungshebel.................................................................................. 486 2.3 Erfahrungen ...................................................................................... 487 2.4 Potenziale ......................................................................................... 488 3 Zusammenfassung ................................................................................... 489 Literatur ......................................................................................................... 490
Teil VII Internationales Versicherungsmarketing und Entwicklungstendenzen ....................................................... 491 Kapitel 29 Internationale Markteintrittsstrategie für deutsche Lebensversicherer ...... 493 Tim Braasch/Marcus Laakmann 1 2
Investitionen im Ausland ........................................................................ 493 Gründe für die Internationalisierungsstrategie ........................................ 494 2.1 Volkswirtschaftliche Entwicklungen ................................................ 494 2.2 Wettbewerbsverschärfung ................................................................ 498 3 Leitprinzipien der Internationalisierung ................................................. 500 3.1 Marktgröße ....................................................................................... 501 3.2 Marktumfeld ..................................................................................... 504 4 Durchführungswege der Internationalisierung ........................................ 505 4.1 Fähigkeit zur Internationalisierung ................................................... 505 4.2 Wege der Internationalisierung ........................................................ 506 4.2.1 Greenfield-Operations ......................................................... 506 4.2.2 Kooperationen/Fusionen ..................................................... 506 4.2.3 Übernahmen ....................................................................... 506 4.3 Steuerung der internationalen Expansion ......................................... 507 5 Schlussbemerkung ..................................................................................... 508 Literatur ......................................................................................................... 509 Autorenverzeichnis ............................................................................................ 511
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1.1: Abb. 1.2: Abb. 1.3: Abb. 1.4: Abb. 1.5: Abb. 1.6: Abb. 1.7: Abb. 1.8: Abb. 1.9: Abb. 2.1: Abb. 2.2: Abb. 2.3: Abb. 2.4: Abb. 2.5: Abb. 2.6: Abb. 2.7: Abb. 2.8: Abb. 3.1: Abb. 3.2: Abb. 5.1: Abb. 5.2: Abb. 5.3: Abb. 5.4: Abb. 5.5: Abb. 5.6: Abb. 5.7: Abb. 6.1: Abb. 6.2:
Anzahl der Mitglieder in den gesetzlichen Krankenversicherungskassen .............................................................. 5 Anzahl der beaufsichtigten Versicherungsunternehmen (VU) und Pensionsfonds in 2008 ................................................................ 9 Anzahl der Versicherungsunternehmen nach Rechtform in 2006......10 Gebuchte Brutto-Beiträge aus 2007 in Tsd. EUR ..............................11 Deutscher Versicherungsmarkt im Jahr 2006 ....................................11 Die zehn größten Unternehmen in der Lebens-, Krankenund Schaden-/ Unfallversicherung im Jahre 2007 .............................12 Verdiente Bruttobeiträge – Schaden-/Unfallversicherung gesamt .....15 Einschätzung über die Wachstumsaussichten der einzelnen Vertriebswege ....................................................................................16 Größte Herausforderungen für die Versicherer..................................17 Grundlegende Bedürfniskategorien nach Maslow und Möglichkeiten der Ansprache durch Marketinginstrumente ..............21 Informationsverarbeitung anhand eines Gedächtnismodelles ............26 Stufen der Kaufentscheidung .............................................................29 Struktur des deutschen Versicherungsmarktes...................................31 Vollständiges S-O-R-Modell der Werbekommunikation...................36 Produktinteresse im Branchenvergleich .............................................37 Recall der Werbung verschiedener Branchen ....................................37 Erwartete Veränderungen im Kundenverhalten in den nächsten zehn Jahren ...............................................................39 Versicherungsschutzkonzept nach Farny ...........................................46 Unterschiedliche Sicherheiten bei Sachgütern und Dienstleistungen 47 Dienstleistungscharakteristika der Versicherung und Implikationen .85 Marketingkonzept in der Versicherung ..............................................85 Drei-Ebenen-Konzept des Versicherungsproduktes ..........................86 Informationsaktivitäten der Marktpartner ..........................................89 Informationsökonomisches Dreieck...................................................90 Transaktionsmarketing vs. Relationship Marketing...........................95 Theorie-Beiträge zur Erklärung der Dienstleistung Versicherung .....99 SWOT-Analyse als Bestandteil der strategischen Unternehmenspolitik ........................................................................105 PESTEL-Analyse für die Versicherungswirtschaft (mit Beispielen)................................................................................107
XXIV
Abbildungsverzeichnis
Abb. 7.1: Abb. 7.2: Abb. 7.3: Abb. 7.4: Abb. 7.5: Abb. 7.6: Abb. 7.7: Abb. 7.8: Abb. 7.9: Abb. 7.10: Abb. 7.11: Abb. 7.12: Abb. 7.13: Abb. 7.14: Abb. 8.1: Abb. 8.2: Abb. 8.3: Abb. 8.4: Abb. 8.5: Abb. 8.6: Abb. 8.7: Abb. 9.1: Abb. 9.2: Abb. 10.1: Abb. 10.2: Abb. 10.4: Abb. 10.5: Abb. 11.1: Abb. 11.2: Abb. 11.3: Abb. 11.4: Abb. 11.5: Abb. 11.6: Abb. 11.7: Abb. 12.1: Abb. 12.2: Abb. 12.3: Abb. 12.4: Abb. 12.5: Abb. 12.6: Abb. 12.7: Abb. 12.8: Abb. 12.9:
Erweiterung des Risikomanagement-Prozesses durch Solvency II..116 Paradigmenwechsel in der Unternehmenssteuerung ........................117 Informationsanforderungen je BSC-Perspektive .............................121 BSC als Managementinstrument ......................................................122 Herleitung einer Balanced Scorecard ...............................................123 Rahmenbedingungen der BSC-Entwicklung ...................................124 Strategiebeschreibung mit Hilfe der Strategy Map……………..…126 Vorgehensweise……………………………………………………129 Erfolgsfaktoren und strategische Ziele…………………………….130 Beispiel einer Stragegy Map…..…………………………………..131 Verdichtete Stragegy Map………………………………….……..132 Ableitung von Kennzahlen aus den Erfolgsfaktoren………………133 Steckbrief…………………………………………………………..134 Steuerungskreislauf………………………………………………..135 Steuerungsdimensionen Vertriebsweg, Produkt, Kunde…………..140 Einfluss wertorientierter Führung auf das S&P-Rating……………141 Beispielhafte Darstellung eines Wertetreiberbaumes……………...141 Wertorientierte Deckungsbeitragsrechnung……………………….146 Vorgehen bei der intitialen Modellentwicklung…………………...150 Vertriebswege- und Produktsicht im Steuerungsmodell…………..151 Differenzierungsmöglichkeit Reportingsichten…………………....152 In der Versicherungsbranche eingesetzte Kommunikationskanäle ..170 Bewertung botschaftsinteraktiver Kanäle in der Versicherungsbranche ............................................................175 Entwicklung Gesamtmarkt Lebensversicherung Deutschland .........187 Marktkapazität und -durchdringung .................................................175 Beispielhafte Darstellung einer Abschlusskostenzerlegung .............175 Beispielhafte Darstellung des Zusammenhanges von Handlungsfeldern und Initiativen ..............................................175 Unternehmen im Mittelpunkt ...........................................................196 St. Galler Strategieansatz .................................................................197 Beispiel für einen Steckbrief einer strategischen Initiative ..............199 Initiativenmatrix ...............................................................................199 Beispiel für den Auszug eines Masterplans .....................................201 Zusammenwirken Balanced Scorecard und Strategy Maps .............202 Managementkreislauf .......................................................................203 Zusammenhang zwischen Innovation und KVP ..............................209 Einflussfaktoren und Marktdynamik................................................210 Implementierungsgrad von Six Sigma .............................................213 Business Excellence .........................................................................216 Kernelemente von Six Sigma ...........................................................217 Methoden im Überblick ...................................................................219 Beispiel Projekt-Charta ....................................................................221 Übergreifendes Personalentwicklungskonzept ................................223 Vorgehen zur Einführung.................................................................225
Abbildungsverzeichnis
XXV
Abb. 12.10: Projektauswahlverfahren .................................................................226 Abb. 13.1: Verantwortungspyramide .................................................................233 Abb. 13.2: Corporate Citizenship-Mix ..............................................................236 Abb. 13.3: Nutzenfelder für Unternehmen ........................................................237 Abb. 13.4: Corporate Citizenship im Marketingmix .........................................240 Abb. 13.5: CC-Prozess.......................................................................................243 Abb. 14.1: Drei Phasen einer Kundenbeziehung ...............................................249 Abb. 14.2: Begriffsinterpretation der Kundenrückgewinnung...........................250 Abb. 14.3: Zieldimensionen der Kundenrückgewinnung ..................................252 Abb. 14.4: Prozessablauf eines Kundenrückgewinnungskonzeptes ..................253 Abb. 14.5: Klassifizierung von Abwanderungsgründen ....................................257 Abb. 14.6: Strukturierter Fragebogen zur Kündigungsgrundanalyse.................260 Abb. 14.7: Ansatzpunkte für eine zielorientierte Problembehebung .................261 Abb. 14.8: Kundenrückgewinnungsstrategien ...................................................262 Abb. 14.9: Integratives Modell einer ganzheitlichen Rückgewinnungsstruktur 266 Abb. 14.10: Idealtypisches Skillprofil eines Rückgewinnungsmanagers ............268 Abb. 15.1: Endgames-Kurve..............................................................................277 Abb. 15.2: Integrationskonzept ..........................................................................282 Abb. 15.3: Beispiel von Integrationszielsetzungen ............................................283 Abb. 15.4: Matrixprojektorganisation für Integrationsprojekt ...........................285 Abb. 15.5: Zusammenspiel Top-down und Bottom-up Masterplan ...................287 Abb. 15.6: Vorgehen bei der personellen Integration ........................................288 Abb. 15.7: Beispiel einer IT-Roadmap ..............................................................291 Abb. 16.1: Kundenorientierung als zentraler Erfolgsfaktor ...............................296 Abb. 16.2: Von der institutionellen Sichtweise hin zur Kundenorientierung ....297 Abb. 16.3: Schadenhäufigkeit und -höhe im deutschen Versicherungsmarkt im Jahre 2007 ...................................................................................298 Abb. 16.4: Stellhebel zur Optimierung der Schadensfunktion...........................299 Abb. 16.5: Bewertung im TRI:M Grid für die klassischen Kfz-Versicherungen .........................................................................303 Abb. 17.1: Zieldimensionen und Zielkonflikte ..................................................308 Abb. 17.2: Ausprägungen von Marktanforderung .............................................309 Abb. 17.3: Ausgestaltungsmöglichkeiten interner Parameter ............................311 Abb. 17.4: Zusammenhang zwischen Gestaltungsprinzipien und Industrialisierungsgebeln bei Kundenservice-Centern…………….314 Abb. 17.5: Neuausrichtung Kundenservice-Center…………………………….315 Abb. 17.6: Effizienzsteigerungspotenziale…………………….……………….316 Abb. 18.1: Innovationsansätze im Versicherungsvertrieb .................................319 Abb. 18.2: Vor- und Nachteile bei Management by Objective ..........................321 Abb. 18.3: Perspektiven der Balanced Scorecard ..............................................322 Abb. 18.4: Vor- und Nachteile der Balanced Scorecard ....................................324 Abb. 18.5: Benchmarkingtechniken ..................................................................325 Abb. 18.6: Benchmarking-Prozess ....................................................................326 Abb. 18.7: Vor- und Nachteile von Benchmarking ...........................................327 Abb. 18.8: Treibermodell für den Vertriebsdeckungsbeitrag ............................330
XXVI
Abbildungsverzeichnis
Abb. 18.9: Portal des Vertriebsinformationssystems .........................................332 Abb. 18.10: Informationsbereitstellung mit Analysefunktionen..........................333 Abb. 18.11: Cross-Selling als Beispiel für Potenzialberichte ..............................333 Abb. 18.12: Cross-Selling-Quoten der Vermittler ...............................................334 Abb. 18.13: Benchmarkbericht für Maklerbetreuer .............................................335 Abb. 19.1: Outsouring-Typen ............................................................................339 Abb. 19.2: IT-Outsourcing-Markt Deutschland (Mrd. EUR) ............................340 Abb. 19.3 : Projektorganisation ..........................................................................348 Abb. 19.4: Roadmap - beispielhaftes Vorgehensmodell zur Auslagerung von IT-Services ................................................................................350 Abb. 20.1: 6 Säulen des Rekrutierungsprozesses...............................................356 Abb. 20.2: Anforderungsprofil CI-Methode ......................................................358 Abb. 20.3: Beispiel Anforderungsprofil Business Consultant ...........................359 Abb. 20.4: Interviewprozess ..............................................................................362 Abb. 20.5: Bewerberbewertung .........................................................................363 Abb. 21.1: Hauptsächliche Vertriebswege .........................................................369 Abb. 21.2: Erwartungen an ein Versicherungsprodukt ......................................370 Abb. 21.3: Ausgewählte Wirtschaftlichkeitszahlen ...........................................374 Abb. 21.4: Maßnahmen der Informationstechnologie zur Effizienzsteigerung. 375 Abb. 21.5: Entlang der Wertschöpfungskette erhöht effektive Informationstechnologie die Prozessleistung des Versicherungsunternehmens. ...........................................................376 Abb. 21.6: Effizienzsteigerungen in der IT schaffen die Möglichkeit zum erhöhten Einsatz wahlfreier Anwendungen. ............................377 Abb. 21.7: Aufgabenstellung Phase 1 ................................................................378 Abb. 21.8: Aufgabenstellung Phase 2 ................................................................381 Abb. 22.1: Imagewandel der Medien. Informationsquellen der 20- bis 39Jährigen mit Fach- beziehungsweise Hochschulreife ......................385 Abb. 22.2: Relevanz der beiden Werbekanäle TV & Print, Vorteil von SEM: .389 Abb. 22.3: Online Reputationsmanagement ......................................................390 Abb. 22.4: Direct Line Versicherungs AG, Corporate Blog ..............................393 Abb. 22.5: Communities und Foren ...................................................................393 Abb. 23.1: Vom 4-P-Modell zum 7-P-Modell ...................................................398 Abb. 23.2: Überblick über ausgewählte Ausprägungen von PR ........................402 Abb. 25.1: Ausrichtung des Marketing ..............................................................436 Abb. 25.2: Kundenbeziehungen in der Assekuranz ...........................................439 Abb. 25.3: Erfolgsfaktoren am Markt ................................................................439 Abb. 25.4: Marketingprozess .............................................................................440 Abb. 25.5: Marketinginstrumenteneinsatze in der Praxis ..................................441 Abb. 25.6: Einfluß der Marketinginstrumente auf Erfolgsfaktoren ...................442 Abb. 25.7: Ausgangspunkt im Produktentwicklungsprozess .............................442 Abb. 25.8: Produktentwicklungs- mit Produktmanagementprozess ..................443 Abb. 25.9: Marketingfunktionen in Versicherungsunternehmen .......................445 Abb. 25.10: Produktmarketing-Organisationsmodell ..........................................447 Abb. 25.11: Historisch geläufiges Strukturmodell in der Assekuranz .................448
Abbildungsverzeichnis
XXVII
Abb. 25.12: Übergreifende Marketingaufgaben der Versicherer.........................448 Abb. 25.13: Alternativen von Strukturmodellen..................................................450 Abb. 26.1: Vorgehen bei der Bestimmung zentraler Herausforderungen .......... 457 Abb. 26.2: Beispiel Produktentwicklungsprozess ............................................. 460 Abb. 26.3: Konzeptionelle Bausteine des Kundenwertes .................................. 464 Abb. 26.4: Kunden-Lebenszyklusrechnung ohne Verzinsung als Berechnungsverfahren ..................................................................... 466 Abb. 26.5: Mikroskopische Betrachtung der Determinanten ............................ 468 Abb. 26.6: Wirkungen des Konzeptansatzes ..................................................... 469 Abb. 29.1: Beitragseinnahmen und Vertragsauszahlungen ...............................495 Abb. 29.2: Marktdurchdringungs-Quoten ..........................................................497 Abb. 29.3: Versicherungsbeiträge und -dichte in Europa ..................................501 Abb. 29.4: Versicherungsbeiträge und -dichte außerhalb Europas ....................503
Teil I Entwicklung, Gegenstand und Besonderheiten des Versicherungsmarketing
Kapitel 1 Anbieter von Versicherungsleistungen Michael Dorka
1
Überblick
Versicherungsleistungen unterschiedlichster Art werden in Deutschland von einer Vielzahl von Unternehmen und Institutionen zur Verfügung gestellt. Grundsätzlich wird dabei zwischen Individual- und Sozialversicherungen unterschieden. Die Sozialversicherung besteht aus fünf Zweigen: gesetzliche Rentenversicherung, gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung, gesetzliche Unfallversicherung sowie der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung. Die Individualversicherung kennt ca. 300 Versicherungsarten, wobei bezüglich des Beitragsvolumens der Bereich der Lebensversicherung der bedeutendste ist. Es lassen sich diese beiden Versicherungsbereiche anhand verschiedener Merkmale differenzieren. Bei der Rechtsform der Sozialversicherungen handelt es sich um Anstalten und Körperschaften des öffentlichen Rechts mit Selbstverwaltung. Die Unternehmensformen der Individualversicherer sind Aktiengesellschaften, Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit und öffentlich-rechtliche Versicherungseinrichtungen. Das Versicherungsverhältnis entsteht bei der Sozialversicherung per Gesetz durch Aufnahme einer Beschäftigung, quasi als Pflichtversicherung. Bei der Individualversicherung entsteht das Versicherungsverhältnis per individuellem Vertrag, das heisst, es wird jedem grundsätzlich selbst überlassen, ob und in welchem Umfange Versicherungsschutz eingekauft wird. Unterschieden wird auch in der Bemessung der Beiträge, die bei der Sozialversicherung nach der Höhe des Einkommens bestimmt werden, während bei der Individualversicherung das Äquivalenzprinzip nach Risiko gilt. Für die entrichteten Beiträge beziehungsweise Prämien sind die Leistungen bei der Sozialversicherung gesetzlich festgelegt und bei der Individualversicherung grundsätzlich frei vereinbar. In der Art der Finanzierung der Leistungsfälle liegt ein weiterer Unterschied zwischen den Bereichen. In der Sozialversicherung wird der Leistungsbedarf eines Jahres fast vollständig aus den Beitragseinnahmen des gleichen Jahres finanziert, bis auf einen kleinen Teil angesparter Beiträge, die als eine Art SchwankungsreM.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing, DOI 10.1007/978-3-642-10276-9_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
4
Michael Dorka
serve dienen. Bei der Individualversicherung werden die Beiträge beziehungsweise Prämien nach bestimmten Grundsätzen angelegt, um jederzeit die zukünftigen Ansprüche der Versicherten erfüllen zu können. Sozial- und Individualversicherung schließen sich nicht gegeneinander aus, sondern ergänzen sich grundsätzlich, da der Leistungsumfang der gesetzlichen Sozialversicherung häufig nicht ausreicht, um den gewohnten Lebensstandard aufrecht zu erhalten.
1.1
Sozialversicherungen
Die deutsche Sozialversicherung nimmt als gesetzliches Versicherungssystem einen Teil der sozialen Sicherung Deutschlands ein. Arbeitnehmer sind in der Regel mit Aufnahme einer Beschäftigung, sofern eine bestimmte Einkommensgrenze nicht überschritten wird, automatisch pflichtversichert. Die Finanzierung der verschiedenen Zweige der Sozialversicherung erfolgt grundsätzlich durch die Beiträge der versicherten Mitglieder und deren Arbeitgeber. Die Sozialversicherungen werden in fünf verschiedene Zweige unterteilt. Der älteste Zweig ist die gesetzliche Krankenversicherung, die 1883 begann, während der jüngste Sozialversicherungszweig die gesetzliche Pflegeversicherung aus dem Jahre 1995 ist. Die einzelnen Zweige sind im wesentlichen in den Sozialgesetzbüchern (SGB) geregelt: • • • • •
gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI), gesetzliche Krankenversicherung (SGB V), gesetzliche Pflegeversicherung (SGB XI), gesetzliche Arbeitslosenversicherung (SGB III) und gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII).
Die wesentlichen Kennzeichen der Sozialversicherungen sind • die Absicherung von grundsätzlich personenbezogenen Risiken, • die weitestgehend durch Gesetz einheitlich geregelten Versicherungsleistungen, • das Solidaritätsprinzip, • der überwiegende Zwangscharakter und • der Betrieb durch Sozialversicherungsträger in Selbstverwaltung. Die Gesamtlast der Abgaben zur Sozialversicherung, die die Arbeitnehmer und Arbeitgeber gemeinsam zu tragen haben, summierten sich im Rahmen sozialversicherungspflichtiger Beschäftigungsverhältnisse im Jahre 2009 auf ca. 39 % des Bruttolohnes. Diese Beiträge werden bis zu einer bestimmten Einkommenshöhe, der Beitragsbemessungsgrenze, einbehalten. Die Beitragsbemessungsgrenze liegt in 2009 für die Renten- und Arbeitslosenversicherung bei 64.800 EUR im Jahr (54.600 EUR in den neuen Bundesländern) sowie in der Kranken- und Pflegever-
1 Anbieter von Versicherungsleistungen
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sicherung bei 44.100 EUR im Jahr. Ausnahme ist die gesetzliche Unfallversicherung, die ausschließlich vom Arbeitgeber gezahlt wird. Gesetzliche Krankenversicherung Die gesetzliche Krankenversicherung deckt die Krankheitskosten der versicherten Person und dessen mitversicherten Familienangehörigen ab. Die wesentlichen Leistungsschwerpunkte sind die ambulante, stationäre und zahnärztliche Behandlung sowie die Arzneimittelversorgung. Darüber hinaus werden auch Leistungen zur Gesundheitsvorsorge, Rehabilitation und Mutterschaft erbracht. Die schwierige finanzielle Situation in der gesetzlichen Krankenversicherung durch die Kostenexplosion im Gesundheitswesen macht immer wieder deutliche Einschnitte in den Leistungsumfang notwendig. Die Versicherten können die Krankenkasse frei wählen. Die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung sind die • • • • • •
Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK), Betriebskrankenkassen (BKK), Innungskrankenkassen (IKK), Ersatzkassen, landwirtschaftlichen Sozialversicherung und die Knappschaft.
In der gesetzlichen Krankenversicherung gehört jedes dritte Mitglied einer der 15 AOK an und etwa jedes Dritte einer der acht Ersatzkassen. Die 155 Betriebs- und 13 Innungskrankenkassen sind ebenfalls von Bedeutung. Der Beitragssatz beträgt seit dem 01.07.2009 einheitlich 14 % des Arbeitsentgeltes des Beschäftigten, bis zur Beitragsbemessungsgrenze. Außerdem gibt es einen zusätzlichen Beitrag für die versicherten Mitglieder in Höhe von 0,9 %. Abbildung 1.1 gibt einen Überblick über die Anzahl der Mitglieder in den gesetzlichen Versicherungskassen. Gesetzliche Krankenkassen
Anzahl der Mitglieder in Millionen
AOK
18,6
Ersatzkassen
16,8
Davon: Barmer
5,3
DAK
4,7
TK
4,1
KKH
1,4
GBK
1,1
BKK
10,3
IKK
4,5
Sonstige
1,8
Quelle: vgl. Schallöhr (2009), S. 33
Abb.1.1: Anzahl der Mitglieder in den gesetzlichen Krankenversicherungskassen
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Die gesetzliche Krankenversicherung ist, in Verbindung mit der Pflegeversicherung, die einzige Sozialversicherung, bei der ein echter Wettbewerb besteht. Insbesondere der nahezu einheitliche Leistungsumfang der gesetzlichen Krankenversicherungen und der einheitliche Beitragssatz macht die Anbieter austauschbar und ein gutes Marketing in diesem Bereich wichtig. Die Etats für Werbemaßnahmen zeigen, dass der Gesundheitsmarkt hart umkämpft ist. In den ersten drei Quartalen des Jahres 2008 hat die AOK mit 14,1 Mio. EUR von den gesetzlichen Krankenkassen die höchsten Werbeausgaben. Die Betriebskrankenkassen lagen im Vergleichszeitraum bei 4,9 Mio. EUR und die Techniker Krankenkasse bei 4,0 Mio. EUR. Insgesamt lagen die Ausgaben für Werbung bei den gesetzlichen Krankenkassen bei ca. 30 Mio. EUR und damit ungefähr in gleicher Höhe, wie die Ausgaben der privaten Krankenversicherer (vgl. BKK 2009, S. 1). Gesetzliche Pflegeversicherung Die gesetzliche Pflegeversicherung sichert das finanzielle Risiko im Pflegefall ab, abgestuft nach dem Grad der Pflegebedürftigkeit. Allgemein gilt der Grundsatz „Pflege- folgt Krankenversicherung“, das heisst Mitglieder einer gesetzlichen Krankenversicherung erhalten auch dort ihre Pflegeversicherung. Die Träger der Pflegeversicherung sind die Pflegekassen, die bei den jeweiligen Krankenversicherungen angesiedelt sind. Der Beitragssatz zur gesetzlichen Pflegeversicherung liegt grundsätzlich bei 1,95 % des Arbeitsentgeltes, bis zur Beitragsbemessungsgrenze. Versicherte ohne eigene Kinder, die mindestens 23 Jahre alt sind und nach dem 31.12.39 geboren sind, zahlen einen Zuschlag in Höhe von 0,25 %. Gesetzliche Rentenversicherung Die gesetzliche Rentenversicherung leistet vor allem Renten wegen Alters, Tod und Berufsunfähigkeit beziehungsweise Erwerbsminderung. Ein wichtiger Bestandteil sind auch die Rehabilitationsleistungen zur Wiedereingliederung ins Berufsleben bei Erwerbsminderung. Träger der gesetzlichen Rentenversicherung ist die Deutsche Rentenversicherung mit ihren einzelnen regionalen Versicherungsträgern, der Deutschen Rentenversicherung Bund und der Deutsche Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See. Die wesentlichen Finanzierungsbeiträge sind die Beiträge der Arbeitnehmer und deren Arbeitgeber und der Bundeszuschuss. Der Beitragssatz in der gesetzlichen Rentenversicherung liegt bei 19,9 % des Arbeitsentgeltes, bis zur Beitragsbemessungsgrenze. Gesetzliche Unfallversicherung Die gesetzliche Unfallversicherung leistet bei berufsbedingten Unfällen, Wegeunfällen und Berufskrankheiten sowie für die Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit und Unfallrenten. Dazu kommen noch Maßnahmen zur Verhütung von Arbeitsunfällen, Berufskrankheiten und arbeitsbedingten Gesundheitsverfahren.
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Träger der gesetzlichen Unfallversicherung sind die Berufsgenossenschaften, die Gemeindeunfallversicherungsverbände und Unfallkassen. Die Finanzierung der gesetzlichen Unfallversicherung erfolgt ausschließlich durch die Beiträge der Arbeitgeber. Die Höhe der Beiträge wird im Umlageverfahren im Rahmen einer nachträglichen Bedarfsdeckung ermittelt und lag 2008 durchschnittlich bei 1,26 EUR je 100 EUR Lohnsumme. Gesetzliche Arbeitslosenversicherung Die gesetzliche Arbeitslosenversicherung mindert die finanziellen Folgen einer Arbeitslosigkeit durch Zahlung von Arbeitslosengeld und unterstützt die Integration in den Arbeitsmarkt. Der Versicherungsträger für die gesetzliche Arbeitslosenversicherung ist die Bundesagentur für Arbeit. Der Beitragssatz beträgt seit dem 01.01.2009 2,8 % des Arbeitsentgeltes des Beschäftigten, bis zur Beitragsbemessungsgrenze.
1.2
Individualversicherungen
Bei der Individualversicherung hat jeder grundsätzlich die freie Wahl, ob eine Versicherung per individuellem Vertrag abgeschlossen wird und bei welchem Anbieter dieses erfolgt. Die Haftpflichtversicherung für Kraftfahrzeuge ist die Ausnahme, da diese für die Zulassung abgeschlossen sein muss; jedoch besteht die Wahl des Anbieters. 1.2.1 Rechtliche Rahmenbedingungen Um die Belange der Versicherten ausreichend zu wahren und sicherzustellen, dass die Verpflichtungen aus den Versicherungsverträgen jederzeit erfüllbar sind, gibt es eine Versicherungsaufsicht. Die Grundlage für die Aufsicht findet sich im Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) und wird von der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) wahrgenommen. Das Versicherungsaufsichtsgesetz regelt insbesondere die Zulassung, den Geschäftsbetrieb, die Rechtsformen, die Kapitalanlagen und die Aufsicht. Die BaFin führt nicht nur die laufende Beaufsichtigung der Versicherungsunternehmen durch, sondern erteilt auch die Erlaubnis zum Betreiben von Versicherungsgeschäften. Um einen wirksamen Schutz für die Versicherungsnehmer zu bieten, sind für den Betrieb von Erstversicherungsgeschäften nach dem deutschen Aufsichtrecht nur die Aktiengesellschaft (AG), der Versicherungsverein auf Gegenseitigkeit (VVaG) und die öffentlich-rechtliche Körperschaft beziehungsweise Anstalt als Rechtform erlaubt. Damit die zukünftigen Ansprüche der Kunden jederzeit und vollständig erfüllt werden können, ist es für die Individualversicherer notwendig, dass bereits in der Gegenwart Geld dafür angelegt wird. Grundlegende Regelungen zur Kapitalausstattung und Vermögensanlage von Versicherungsunternehmen finden sich im Versicherungsaufsichtsgesetz. Die Versicherer spielen dabei eine wichtige Rolle
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als Investor und Finanzier, um die finanziellen Mittel sicher, rentabel und mit entsprechender Liquidität anzulegen. Jeder in einem Mitgliedsland der Europäischen Union (EU) zugelassene Versicherer kann seit 1994 grenzüberschreitend in allen EU-Staaten Versicherungsschutz anbieten, ohne dafür in dem jeweiligen Land eine separate Erlaubnis zum Geschäftsbetrieb einholen zu müssen. Versicherer aus einem Nicht-EU-Land dürfen in der EU Versicherungsgeschäfte nur über Niederlassungen betreiben und unterliegen der jeweiligen Aufsicht des Landes. Die Versicherungsunternehmen unterliegen noch weiteren rechtlichen Rahmenbedingungen, wie unter anderem dem Unternehmens- und Konzernrecht, dem Versicherungsvertragsrecht und dem Versicherungsvermittlungsrecht. 1.2.2 Wirtschaftliche Erscheinungsformen Die in Deutschland tätigen Versicherungsunternehmen der Individualversicherung können nach zahlreichen Merkmalen klassifiziert werden. Hinsichtlich der wirtschaftlichen Erscheinungsformen sind folgende Merkmale wichtig (vgl. Farny 2006, S. 231): • • • • •
Betrieb der Erst- und Rückversicherung, betriebliche Versicherungszweige oder Versicherungszweiggruppen, Region der Geschäftstätigkeit, Größe sowie Unternehmensträger oder -eigentümer.
Die größte Anzahl an Versicherungsunternehmen in Deutschland sind Erstversicherungsunternehmen (Direktversicherungsunternehmen), die ausschließlich Versicherungsgeschäfte mit Versicherungsnehmern in Form von gewerblichen Unternehmen, privaten und öffentlichen Haushalten abschließen. Als Rückversicherungsunternehmen (Indirektversicherungsunternehmen) gelten die Versicherungsanbieter, die ausschließlich Rückversicherungsgeschäfte bei anderen Erst- und Rückversicherern betreiben (vgl. Farny 2006, S. 231). Eine besondere Art der Individualversicherung ist die Rückversicherung, bei der die Erstversicherer ihren Versicherungsbestand risikomäßig ausgeglichener gestalten, indem die übernommenen Gefahren bei einem Rückversicherer versichert werden. Durch die Rückversicherung wird ein übernommenes Risiko auf viele Risikoträger verteilt und ermöglicht den Erstversicherern höhere Wagnisse einzugehen, die eigentlich die Summe übersteigen, die nach Zusammensetzung des Bestandes möglich wäre (vgl. Grote/Köster 1996, S. 178). Ein einzelnes Erstversicherungsunternehmen kann aufgrund des gesetzlichen Spartentrennungsprinzipes nicht alle Versicherungszweige betreiben, sondern muss das Lebens-, Kranken- sowie das übrige Schaden- und Unfallversicherungsgeschäft grundsätzlich in jeweils rechtlich selbständigen Versicherungsunternehmen betreiben. Um verschiedene Versicherungsarten „aus einer Hand“ anbieten zu können, hat der Grundsatz der Spartentrennung die Konzernbildung zur Folge. Es
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lassen sich nach der Geschäftsbezeichnung in der Praxis folgende Typen von Erstversicherungsunternehmen unterscheiden (vgl. Farny 2006, S. 232 f.):
• Lebensversicherungsunternehmen, • Krankenversicherungsunternehmen, • Schaden- und Unfallversicherungsunternehmen (Kompositversicherungsunternehmen, Sach-/HUK-Versicherungsunternehmen), • Rechtschutzunternehmen sowie • Kreditversicherungsunternehmen. Die Anbieter von Versicherungsleistungen, die mehrere Versicherungszweige innerhalb eines Unternehmens betreiben (mehrere Sach- und Haftpflichtversicherungen), werden als Mehrbranchen- beziehungsweise Kompositversicherer bezeichnet. Die Einbranchen- beziehungsweise Spezialversicherer haben sich dagegen aus geschäftspolitischen (zum Beispiel Transportversicherung) oder aufsichtsrechtlichen Gründen (zum Beispiel Lebens- und Krankenversicherungen) nur auf einen Versicherungszweig beziehungsweise eine Branche spezialisiert (vgl. Grote/ Köster 1996, S. 18).
1.2.3 Marktüberblick Im Jahre 2008 waren insgesamt 664 Versicherungsunternehmen und Pensionsfonds, ohne die zumeist regional tätigen kleineren Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit unter Landesaufsicht, zum Versicherungsgeschäft zugelassen. (vgl. BaFin 2009, S. 75 f., vgl. Abb. 1.2)
Abb. 1.2: Anzahl der beaufsichtigten Versicherungsunternehmen (VU) und Pensionsfonds in 2008
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Die 664 Unternehmen sind nicht mit der Anzahl an Wettbewerbern am Markt gleichzusetzen, da in dieser Gesamtzahl auch die Versicherungsunternehmen enthalten sind, die wegen des gesetzlichen Spartentrennungsprinzips als rechtlich selbständige Unternehmen geführt werden müssen. Wenn nur die Versicherungskonzerne beziehungsweise -gruppen als Wettbewerber berücksichtigt werden, die sich aus miteinander verbundenen Versicherungsunternehmen zusammensetzen, können ca. 70 Wirtschafteinheiten gezählt werden. Für das Jahr 2006 liegt auch die Aufteilung der Versicherungsunternehmen nach Rechtsform vor. Aufgeführt sind die Unternehmen mit Geschäftstätigkeit, die unter deutscher Aufsicht stehen, ohne die zumeist regional tätigen kleineren VVaG unter Landesaufsicht. Deutlich ist, dass der deutsche Versicherungsmarkt im Wesentlichen aus Aktiengesellschaften und Versicherungsvereinen auf Gegenseitigkeit besteht, wobei die Aktiengesellschaften am stärksten vertreten sind (vgl. Abb. 1.3).
Quelle: BaFin 2009, S.76
Abb. 1.3: Anzahl der Versicherungsunternehmen nach Rechtform in 2006
In den letzten Jahren hat sich die Anzahl an Unternehmensübernahmen, Fusionen und Kooperationen bei der Erbringung von Versicherungsleistungen deutlich erhöht. Die Gründe dafür lagen in der steigenden Dynamisierung der Märkte, enger gewordenen Wachstumsspielräumen, steigendem Druck auf die Ertragsmargen und die Technologieentwicklung (vgl. GDV 2008, S. 56). Eine bedeutende Größe in der Versicherungsbranche ist das Beitragsvolumen. Dieses betrug, in gebuchten Brutto-Beiträgen, im Jahre 2007 über alle beaufsichtigten Erstversicherungsunternehmen 172.884 Mio. EUR. Die Verteilung auf die einzelnen Sparten ist in der folgenden Abbildung zu erkennen (vgl. Abb. 1.4) Wie sich das Geschäft der Versicherer auf die einzelnen Unternehmen verteilt, spiegelt der Konzentrationsgrad wider. Im Jahre 2007 entfielen bei den Lebensversicherern 50,6 % der gesamten verdienten Brutto-Beiträge auf die jeweils zehn größten Versicherer. Bei der Krankenversicherung lag der Marktanteil der jeweils zehn größten Krankenversicherungen bei 68,3 %. In der Schaden-/Unfallversicherung beziehungsweise Rückversicherung entfielen 44,3 beziehungsweise
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91,9 % der verdienten Brutto-Beiträge auf die zehn größten Versicherer (vgl. BaFin 2009a, S. 10).
Quelle: BaFin 2009a, S.10
Abb. 1.4: Gebuchte Brutto-Beiträge aus 2007 in Tsd. EUR
Der Marktanteil der Versicherer aus dem europäischen Wirtschaftraum am deutschen Versicherungsmarkt ist relativ gering. Betrachtet man den Umfang des Niederlassungs- und Dienstleistungsgeschäftes von Versicherern aus dem europäischen Wirtschaftraum in Deutschland, so lag der Anteil im Lebensversicherungsbereich im Jahre 2006 bei 6,6 % und im Nicht-Lebensversicherungsbereich bei 2,8 %. Im Jahre 2007 sank dieser Anteil in der Lebens- sowie der Nicht-Lebensversicherung leicht ab (vgl. Abb. 1.5)
Quelle: BaFin 2009a, S.10
Abb.1.5: Deutscher Versicherungsmarkt im Jahr 2006
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Das selbst abgeschlossene Niederlassungs- und Dienstleistungsgeschäft der deutschen Versicherer im europäischen Wirtschaftraum lag im Jahre 2006 im Bereich der Lebensversicherung bei 250,8 Mio. EUR. Die gebuchten Bruttobeiträge im Nicht-Lebensversicherungsbereich lagen bei 1.404,5 Mio. EUR (vgl. GDV 2008a, S. 12).
In der nachfolgenden Abbildung sind die zehn größten Unternehmen in der Lebens-, Kranken- und Schaden-/Unfallversicherung dargestellt. In den Marktanteilen ist auch das im Ausland akquirierte Versicherungsgeschäft integriert; es wird der Anteil des jeweiligen Unternehmens am gesamten, unter deutscher Aufsicht abgeschlossenen Geschäftes angegeben, das heisst diese Anteile entsprechen nicht den Marktanteilen am gesamten deutschen Versicherungsmarkt (vgl. Abb. 1.6)
Quelle: BaFin 2009a, S.6
Abb. 1.6: Die zehn größten Unternehmen in der Lebens-, Kranken- und Schaden-/ Unfallversicherung im Jahre 2007
Diese Übersicht zeigt deutlich die Bedeutung der Allianz am Gesamtmarkt. Deutlich wird jedoch auch, wie sich die Geschäftpolitik auf die Marktanteile auswirkt. Die Debeka, die mittlerweile ein umfassendes Versicherungs- und Finanzdienstleistungsangebot hat, findet sich, im Gegensatz zur Allianz, „lediglich“ in der Lebens- und Krankenversicherung unter den größten zehn Versicherern. Hintergrund ist, dass die Debeka 1905 1905 als reiner Krankenversicherer gegründet wurde und im Laufe der Zeit im Rahmen einer veränderten Geschäftspolitik andere Sparten ergänzt worden sind. Zum Beispiel wurde 1981 die Debeka Allgemeine Versicherung gegründet, die mit der Unfallversicherung startete startete und nach Integra-
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tion weiterer Sparten den Vertrieb von Kraftfahrzeugversicherungen erst 1996 aufgenommen hat. In dieser relativ kurzen Zeit ist es der Debeka noch nicht gelungen, unter die ersten zehn größten Schaden-/Unfallversicherer zu gelangen. Die Anbieter von Versicherungen sehen sich vor einem gesättigten Markt, in dem ein signifikantes Wachstum nur durch Verdrängung erzielt werden kann. Bei Betrachtung der letzen Jahre ist festzustellen, dass die Versicherungswirtschaft real stagniert und inflationsbereinigt sogar schrumpft. Die Aussichten der traditionellen Anbieter im deutschen Versicherungsmarkt sind durch die Wachstumsschwäche, einen scharfen Preiswettbewerb, eine abnehmende Kundenbindung und neue Wettbewerber belastet. Ein Wachstum durch Fusionen ist bei dem relativ hohen Konzentrationsgrad nur begrenzt möglich (vgl. Focke/Engler/Thiele/Grüneberg 2008, S. 1160 ff.).
2
Entwicklungen bei den Versicherungsanbietern
2.1
Entwicklungen in der Sozialversicherung
Die Auswirkungen des zum 01.01.2009 eingeführten Gesundheitsfonds und des allgemeinen Beitragssatzes werden sich noch zeigen. Ziel des Gesundheitsfonds ist es, die Beitragsgelder der Versicherten und die ins Gesundheitssystem fließenden Steuermittel fair und zielgenau an die Krankenkassen zu verteilen. Dadurch werden nur noch die wirtschaftlich arbeitenden Krankenkassen mit dem Geld auskommen. Der allgemeine Beitragssatz fördert den Wettbewerb, bei dem insbesondere auf den Kundenservice, die Zusatzleistungen und die Wahltarife abgestellt wird. Die gesetzliche Pflegeversicherung soll mittels des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes besser auf die Bedürfnisse der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen ausgerichtet werden. Es sollen unter anderem bis 2012 die meisten Leistungen schrittweise erhöht und Pflegestützpunkte geschaffen werden. Durch das so genannte SGB-IV-Änderungsgesetz soll unter anderem das Vertrauen in die gesetzliche Rente gestärkt werden, indem eine gesetzliche Garantie ausgesprochen wird, dass die Renten auch dann stabil bleiben, wenn die Löhne und Gehälter irgendwann einmal übers Jahr sinken sollten. Auswirkungen auf den Leistungsumfang werden sich sicherlich auch noch durch den demographischen Wandel in den nächsten Jahren zeigen.
2.2
Entwicklungen in der Individualversicherung
Die Entwicklungsgeschwindigkeit der Versicherungsbranche wird weiter zunehmen und durch die folgenden Aspekte beeinflusst werden (vgl. Focke/Engler/ Thiele/Grüneberg 2008, S. 1160):
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• Durch die Globalisierung entstehen Möglichkeiten, unternehmerische Funktionen und Prozesse ins Ausland zu verlagern. Sie bedingt eine wachsende Abhängigkeit von internationalen Kapitalmärkten. • Die zunehmende Langlebigkeit in Verbindung mit der immer geringer werdenden Anzahl an Kindern bestimmt die Alterung der Bevölkerung und ist kennzeichnend für die deutsche Demographie. • Die Kunden sind preis- und markenbewusster und haben sich zum „hybriden Kunden“ entwickelt. • „Smart Solutions“ und neue, intelligente Prozesse werden durch den technischen Fortschritt ermöglicht. • Die Branche wird zu zusätzlichen Anpassungen durch die De- und Reregulierung gezwungen werden, wie zum Beispiel Öffnung des Altersvorsorgemarktes, Gesundheitsreform und VVG-Reform Die Entwicklung der Versicherungsbranche könnte auch bestimmt sein durch einen Fokus auf die Emotionalisierung von Produkt und Marke, neue Leistungsangebote durch Erweiterung von Aktivitäten in angrenzenden Märkten und ein Komplexitätsmanagement durch reduzierte Eigenfertigung und Kooperation (vgl. Focke/ Engler/Thiele/Grüneberg 2008, S. 1160 ff.). Seit vielen Jahren interessieren sich zunehmend die deutschen Versicherungsunternehmen für Geschäftsmöglichkeiten im Ausland, während auch ausländische Versicherer den deutschen Markt entdeckt haben. Insbesondere in den Emerging Markets in Mittel- und Osteuropa, China und Indien haben die international tätigen Erstversicherer ihre Aktivitäten in den letzten Jahren deutlich ausgeweitet (vgl. GDV 2008, S. 58). Die Versicherungsmärkte in Mittel- und Osteuropa sind als Folge des anhaltenden wirtschaftlichen Wachstums und der damit verbundenen Nachfrage nach Versicherungsschutz relativ schnell gewachsen. Das Prämienaufkommen stieg in dieser Region im Jahre 2007 mehr als viermal so schnell wie in den Industrieländern (vgl. GDV 2008, S. 30). Um an den aufsteigenden Versicherungsmärkten teilzuhaben, dehnen auch die deutschen Versicherer ihr Geschäft auf die Emerging Markets aus, wie zum Beispiel die Ergo Versicherungsgruppe ihre Zusammenarbeit mit der UniCredit Gruppe in der ersten Hälfte des Jahres 2009 auf die Länder Slowakei, Ungarn und Rumänien erweitert hat. Erklärtes Ziel der beiden Konzerne ist es, die bisherige Bancassurance-Zusammenarbeit auf weitere Wachstumsmärkte auszudehnen. Die Versicherer sind aufgrund der Grenzen des Wachstums der eigenen Vertriebskanäle offen für die Erschließung neuer Vertriebskanäle. Die Vertriebskooperation mit Nicht-Finanzdienstleistern ist dabei zukünftig ein wichtiger Aspekt und wurde mit der Kooperation von zum Beispiel HanseMerkur und Fielmann oder Arag und Penny bereits ausprobiert. Wesentlich zum Erfolg einer solchen Kooperation tragen unter anderem bereits vorhandene Erfahrungen im Direktvertrieb bei, wie die nachhaltig funktionierende Kooperation von Asstel mit Tchibo zeigt (vgl. Focke/Engler/Thiele 2008, S. 545 ff.).
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Die Frage, welche Vertriebswege in den nächsten Jahren die wesentlichen sein werden, bleibt ein spannendes Feld. Im Bereich des Vertriebes von Schaden-/ Unfallversicherungen holte sich die Ausschließlichkeit Marktanteile zurück (vgl. Abb. 1.7).
Quelle: Hauser 2009, S. 4
Abb. 1.7: Verdiente Bruttobeiträge – Schaden-/Unfallversicherung gesamt
Fraglich ist, wie sich die Vertriebswege in den nächsten Jahren entwickeln werden. Mehrheitlich wird damit gerechnet, dass der Vertrieb über die Makler zunehmen wird. Auch beim Ausschließlichkeitsvertrieb wird von einer zunehmenden oder zumindest gleich bleibenden Bedeutung ausgegangen. Bisher konnten die Wachtumserwartungen beim Verkauf über den Bankschalter noch nicht erfüllt werden, dennoch wird diesem Vertriebsweg mehrheitlich eine wachsende Bedeutung zugeschrieben. (vgl. Abb. 1.8):
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Quelle: Hauser 2009, S.4
Abb. 1.8: Einschätzung über die Wachstumsaussichten der einzelnen Vertriebswege
Seit längerem findet ein Rückzug des Staates aus der öffentlichen Vorsorge statt, insbesondere bei der gesetzlichen Altersvorsorge und der gesetzlichen Krankenversicherung; mit der Folge, dass von den Versicherten ein höherer Eigenanteil verlangt wird. Diese Reduktion des Schutzes in der Sozialversicherung führt zu einer Stärkung (Wachstumsimpulse) der Individualversicherung der relevanten Bereiche, da es für die Versicherten immer wichtiger wird, sich selbst umfangreich gegen soziale Risiken abzusichern. Die Geschäftsaussichten der Versicherer bis 2011 werden nicht positiv gesehen. 25 % der Topentscheider bei den Versicherern gehen von einem Umsatzrückgang aus und ca. 50 % rechnen mit stagnierendem Geschäft. Als Gründe nennen die Topentscheider zum Beispiel die Auswirkungen der globalen Finanzkrise, die Gesundheitsreform 2007 und die Verteuerung durch die Umsetzung der VVGNovelle sowie Solvency II. Die Herausforderungen der Versicherer sind in der folgenden Abbildung zu erkennen (vgl. Abb. 1.9).
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Quelle: Oberländer 2008, S. 1968
Abb.1.9: Größte Herausforderungen für die Versicherer
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Literatur BKK Bundesverband: BKK Faktenspiegel, Essen, Januar 2009. Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin): Jahresbericht der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht 2008, Bonn, Frankfurt am Main 2009. Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) (2009a): Statistik der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht – Erstversicherungsunternehmen 2007, Bonn, Frankfurt am Main. Farny, D.: Versicherungsbetriebslehre, 4. überarbeitete Aufl., Karlsruhe 2006. Focke, H./Engler, K./Thiele, J.: Mythos oder gestaltbares Erfolgspotenzial? Vertriebskooperationen von Versicherern mit branchenfremden Partnern, in: Versicherungswirtschaft, Karlsruhe, 63, 2008, 7, S. 545 – 549. Focke, H./Engler, K./Thiele, J./Grüneberg, M.: Was kommt nach der Industrialisierung? Emotionalisierung, Erweiterung des Leistungsangebotes und Kooperationen sind der Schlüssel zu einem erfolgreichen Geschäftsmodell, in: Versicherungswirtschaft, Karlsruhe, 63, 2008, 14, S. 1160 – 1165. Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. GDV (2008): Jahrbuch 2008, Die deutsche Versicherungswirtschaft, Berlin. Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. GDV (2008a): Statistisches Taschenbuch der Versicherungswirtschaft, Berlin 2008. Grote, W./Köster, P.: Allgemeine Versicherungslehre, 4. Aufl., Haan-Gruiten 1996. Hauser, H.: Ausschließlichkeit holt Marktanteile zurück, Trendwende beim Vertrieb von Schaden-/Unfallversicherungen, in: Versicherungswirtschaft, Karlsruhe, 64, 2009, 1, S. 4 – 5. Oberländer, H.: Deutsche Versicherer schrauben Erwartungen zurück, Weitere Konsolidierung erhofft, in: Versicherungswirtschaft, Karlsruhe, 63, 2008, 23, S. 1968. Schallöhr Verlag GmbH: Informationen aus dem Versicherungs-, Finanz- und Vermögensbereich 2009 – Stand 15. Februar 2009, Berg.
Kapitel 2 Nachfrager von Versicherungsleistungen Andreas Weihs
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Grundlagen zum Konsumentenverhalten
Unter dem Begriff Konsumentenverhalten werden alle beobachtbaren Handlungen von Individuen beim Kauf oder Konsum von wirtschaftlichen Gütern verstanden. Konsumentenverhaltensforschung wird als angewandte Verhaltenswissenschaft verstanden und vereint als interdisziplinäres Forschungsgebiet Überlegungen aus Psychologie, Soziologie, biologischer Verhaltensforschung und Marketing (vgl. Homburg/Krohmer 2006). Während Individuen in der Psychologie als separate Einheit betrachtet werden, befasst sich die Soziologie mit den Interaktionen und persönlichen Beziehungen zwischen Individuen. Die biologische Verhaltensforschung beschäftigt sich mit den Verbindungen zwischen psychischen Prozessen, wie Emotionen und biologischen Prozessen, etwa elektrischen Gehirnaktivitäten. Aus der Sicht des Marketing wird versucht, aus dem Verständnis über das Konsumentenverhalten einen ökonomischen Nutzen zu ziehen und durch gezielte Maßnahmen, das Konsumentenverhalten im Sinne der Unternehmensziele zu beeinflussen. Das fundamentale Ziel der Konsumentenverhaltensforschung liegt demnach in dem Verstehen und Erklären des Verhaltens von Konsumenten sowie die Entwicklung von Empfehlungen für den Einsatz von Marketinginstrumenten. Im nächsten Abschnitt werden zunächst die zentralen Erklärungskonstrukte des Konsumentenverhaltens dargestellt und anschließend der Informationsverarbeitungsprozess durch die Konsumenten erläutert. Abschließend ist der eigentliche Kaufentscheid Gegenstand der Betrachtung.
1.1
Erklärungskonstrukte
Für das Verständnis des Konsumentenverhaltens sind folgende Konstrukte von zentraler Bedeutung (vgl. Homburg/Krohmer 2006): • Aktivierung, • Motivation, • Emotion, M.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing, DOI 10.1007/978-3-642-10276-9_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
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• Involvement, • Einstellung und Kundenzufriedenheit. Aktivierung ist eine Grunddimension aller Antriebsprozesse. Die Aktivierung eines Konsumenten wird als Erregungsvorgang charakterisiert, durch den der Konsument leistungsbereit und -fähig wird. Es kann dabei zwischen zwei Arten der Aktivierung unterschieden werden, der tonischen und der phasischen Aktivierung. Die tonische Aktivierung bestimmt die allgemeine Leistungsfähigkeit von Individuen, die sich nur langsam verändert. Unter der phasischen Aktivierung werden dagegen die kurzfristigen Aktivierungsschwankungen verstanden, die als Reaktionen auf bestimmte Reize ausgelöst werden. Tonische und phasische Aktivierung sind nicht unabhängig voneinander (vgl. Kroeber-Riel/Weinberg/GröppelKlein 2008). Im Zusammenhang mit der Frage nach der Auslösung von Aktivierungsvorgängen lassen sich innere und äußere Reize unterscheiden. Innere Reize sind beispielweise Stoffwechselvorgänge, die etwa bei dem Genuss von Kaffee entstehen oder auch bildliche Vorstellungen, wie etwa von der Lieblingsspeise, die dann Hunger auslöst und letztlich auch gedankliche Aktivitäten, bei denen gespeicherte Informationen ins Bewusstsein gerufen werden. So kann etwa beim Einkauf von Kaffee dem Konsumenten bewusst werden, dass er noch Milch benötigt. Äußere Reize werden durch die Umwelt geprägt und gehören zum klassischen Instrumentarium der Werbung, um die Aufmerksamkeit des Zuschauers zu gewinnen. Äußere Reize lassen sich folgendermaßen kategorisieren (vgl. Kroeber-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein 2008): • Emotionale Reize sind natürliche Schlüsselreize, die besonders zuverlässig eine Aktivierung hervorrufen, wenn sie biologisch vorprogrammierte Reaktionen auslösen, wie erotische Abbildungen oder die Abbildung eines schutzlosen Kleinkindes. • Kognitive Reize lösen eine Aktivierung durch gedankliche Konflikte, Widersprüche oder Überraschungen aus. Beispiele hierfür sind Anzeigen, die typischen Denk- und Verhaltensmustern widersprechen, wie Werbeanzeigen, bei denen Menschen mit einem Tierkopf gezeigt werden. • Physische Reize rufen eine Aktivierung durch die physische Beschaffenheit von Objekten hervor; eine physische Beschaffenheit kann zum Beispiel die Größe einer Anzeige in einem Wochenmagazin sein. Im Hinblick auf die Frage, welche wichtigen Verhaltensauswirkungen eine Aktivierung von Konsumenten bewirkt, wurde vielfach nachgewiesen, dass mit zunehmender Aktivierung die Bereitschaft von Konsumenten zur Informationsverarbeitung steigt. Auch die Kaufentscheidung eines Konsumenten wird durch die Aktivierung beeinflusst (vgl. Homburg/Krohmer 2006). Motivation stellt einen Beweggrund in Verbindung mit einem Ziel dar, mit dessen Hilfe die Ursachen des Verhaltens erklärt werden können. Die Konsumentenforschung befasst sich beispielsweise mit den Fragestellungen, aus welchen Motiva-
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tionen Konsumenten bestimmte Kaufentscheidungen treffen oder warum bestimmte Werbebotschaften bevorzugt werden und andere dagegen nicht. Motivation entsteht aus der Interaktion zwischen grundlegenden und kognitiven Antriebskräften. Beispielsweise kommt durch das Zusammenwirken der grundlegenden Antriebskraft Hunger mit kognitiven Vorgängen der Zielorientierung (wo kann ich meinen Hunger stillen?) die Motivation zustande, in ein Restaurant zu gehen. Darüber hinaus umfasst die Motivation von Konsumenten mehrere einzelne Motive, die in einem engen Verhältnis zu Bedürfnissen stehen. Folglich ist die Motivation auf die Befriedigung von Bedürfnissen ausgerichtet. Der wohl bekannteste und zugleich auch umstrittenste Versuch, Motive zu klassifizieren, ist die Bedürfnispyramide von Maslow (1975), die einen zentralen Beitrag zur Klärung der Frage leistet, welche Motive Konsumenten haben (vgl. Abb. 2.1). Diesem Denkmodell liegt die Annahme zugrunde, dass das Verhalten des Menschens im Wesentlichen durch fünf Bedürfnisklassen beeinflusst wird: Existenzbedürfnisse, Sicherheitsbedürfnisse, soziale Bedürfnisse, Anerkennung und Selbstverwirklichung. Die Bedürfnisse nach Maslow sind hierarchisch abgestuft und ein Bedürfnis behält so lange verhaltensbestimmende Kraft, bis es vollständig befriedigt ist. Erst anschließend wird die nächst höhere Stufe aktiviert. Allerdings bekennt Maslow selbst, dass sein Modell eine idealtypische Betrachtungsweise beschreibt: „Bei vielen Menschen ist die Motivationsrangfolge anders ausgeprägt, weil es zum Beispiel Leute gibt, für die Geltung wichtiger ist als Liebe“ (vgl. Maslow 1975).
Quelle: Homburg / Krohmer 2006, S. 32
Abb. 2.1: Grundlegende Bedürfniskategorien nach Maslow und Möglichkeiten der Ansprache durch Marketinginstrumente
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Emotion ist ein „augenblicklicher oder anhaltender Gefühlszustand (zum Beispiel Freude, Überraschung oder Furcht) eines Individuums, der zumeist mit körperlicher Erregung verbunden ist“ (Homburg/ Krohmer 2006). Im Marketing ist die emotionale Ansprache zur Verhaltensbeeinflussung im Rahmen der Kommunikationspolitik ein wesentliches Thema. Die Notwendigkeit besteht darin, dass in vielen Märkten die verschiedenen Angebote nur geringe Qualitätsunterschiede besitzen. Eine zentrale Zielsetzung besteht dabei darin, eigene Produkte durch emotionale Erlebnisse unterscheidbar zu machen. Konsumenten können sich oftmals besser an ein Produkt erinnern, wenn bei ihnen vorher Emotionen erzeugt wurden (vgl. Friestad /Thorson 1986). Beim Ansprechen von Emotionen im Rahmen der Kommunikationspolitik sollten die folgenden Hinweise beachtet werden (vgl. Homburg/Krohmer 2006): • Emotionen können eher durch visuelle als durch verbale Kommunikation beeinflusst werden. • Der Einsatz von Humor sollte auf Produkt und Zielgruppe abgestimmt werden. • Negative Emotionen (zum Beispiel Furcht) können über Angstappelle vermittelt werden, allerdings sollte die Gefahr der Verdrängung durch den Konsumenten berücksichtigt werden. • Das Umfeld der Werbung beeinflusst die Emotionen des Betrachters (zum Beispiel positiv, wenn der Konsument einen TV-Spot während seiner Lieblingssendung sieht). Emotionen nehmen Einfluss auf den Informationsverarbeitungsprozess und beeinflussen dadurch die Beurteilung und den Abruf von Informationen und die daraus resultierende Urteilsbildung. Diese Auswirkungen schlagen sich ebenfalls im Verhalten des Konsumenten nieder. Involvement ist eine „zielgerichtete Form der Aktivierung des Konsumenten zur Suche, Aufnahme, Verarbeitung und Speicherung von Informationen“ (Trommsdorff 2004). Es gibt verschiedene Arten des Involvements und seiner Verhaltensauswirkungen (vgl. Kroeber-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein 2008): • Langfristiges Involvement liegt vor, wenn der Konsument Interesse an einem Produkt über einen langen Zeitraum hinweg aufweist. Beispielsweise sind Autoliebhaber kontinuierlich an Autos interessiert. • Situatives Involvement bezeichnet ein zeitlich begrenztes Interesse an einem Produkt. Beispielsweise Interesse an Autos in der Situation des Autokaufes, allerdings sinkt nach dem Kauf das Involvement wieder ab. • Kognitives Involvement bedeutet, dass der Konsument Interesse bekundet, über die mit seinen Zielen verbundene Informationen nachzudenken und diese kognitiv zu verarbeiten. Dieses führt dazu, dass der Konsument möglichst viel über ein Produkt erfahren will, beispielsweise über die technischen Daten eines Communicators.
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• Bei emotionalem Involvement hat der Konsument spezielle Gefühle in Bezug auf ein bestimmtes Produktangebot, beispielsweise als leidenschaftlicher Fan einer Musikgruppe für deren CDs. • High Involvement liegt meist bei Produkten vor, die für den Konsumenten elementar wichtig oder mit höheren Risiken verbunden sind. Bei diesen Produkten investiert der Konsument viel Energie und Zeit in die Informationssuche und in den Kaufentscheidungsprozess. • Low Involvement liegt dagegen bei Produkten vor, die ein geringes Risiko für den Konsumenten aufweisen und weniger wichtig für ihn sind. Dieses führt zu einem passiven Informationsverhalten. Das Konstrukt Involvement hat eine hohe Relevanz für das Marketing. In diesem Zusammenhang sollten insbesondere drei Hinweise beachtet werden (vgl. Homburg/Krohmer 2006): Erstens sollten Unternehmen bei der Vermarktung von Produkten berücksichtigen, ob das Involvement der Konsumenten eher hoch oder niedrig ist. Es ist nicht sinnvoll, wenig involvierte Konsumenten mit umfangreichen Informationen zu belasten. Zweitens können Unternehmen hohes situatives Involvement zur Ansprache von Konsumenten nutzen. Hat beispielsweise ein Kunde, der im Allgemeinen an Geldanlagen kein Interesse hat (geringes Invovement) gerade eine Lebensversicherung ausgezahlt bekommen, so dürfte sein Involvement erheblich angestiegen sein. Ein Beratungsgespräch durch einen Finanzdienstleister könnte in einer solchen Situation sehr erfolgsversprechend sein. Drittens können Unternehmen in einem begrenzten Rahmen das Involvement von Konsumenten beeinflussen. Beispielsweise können Finanzdienstleister in ihrer Werbung auf die Problematik der staatlichen Altersvorsorge aufmerksam machen und so das Involvement für entsprechende Produkte steigern. Einstellung wird definiert als eine „innere Denkhaltung des Konsumenten gegenüber einer Person, Verhaltensweise, Idee oder Sache, verbunden mit einer Wertung oder Erwartung“ (Homburg/Krohmer 2006). Bezugnehmend auf die Frage nach Arten von Einstellungen existiert eine Reihe von Kategorisierungen (vgl. Kroeber-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein 2008): • Kognitiv vs. emotional Kognitiv geprägte Einstellungen gegenüber einem Bezugsobjekt stützen sich auf gedanklich bewertete Informationen über dieses Objekt. Emotional geprägte Einstellungen hingegen stammen aus Gefühlen des Konsumenten gegenüber dem Bezugsobjekt. • Stabil vs. instabil In Abhängigkeit davon, wie fest Einstellungen im Langzeitgedächtnis des Konsumenten verankert sind und wie beständig sie folglich im Zeitverlauf sind, lassen sich stabile Einstellungen von eher instabilen Einstellungen abgrenzen.
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• Kategorial vs. spezifisch Kategoriale Einstellungen nehmen Bezug auf Kategorien von Objekten, zum Beispiel Produktkategorie Wein, und nicht auf einzelne konkrete Objekte. Spezifische Einstellungen beziehen sich auf konkrete Bezugsobjekte, zum Beispiel einzelne Unternehmen, Produkte oder Marken. • Erfahrungsbasiert vs. gelernt Erfahrungsbasierte Einstellungen stammen aus der persönlichen Erfahrung mit dem Bezugsobjekt. Gelernte Einstellungen hingegen basieren auf externen Informationen. Im Hinblick auf die Beeinflussung der Einstellungen durch einen Anbieter sind dabei folgende Ansatzpunkte zu berücksichtigen: Erstens lassen sich Einstellungen durch die Anwendung der Kommunikationsinstrumente und die Gestaltung des Kommunikationsauftritts gezielt beeinflussen. Der Anbieter vermittelt den Konsumenten bestimmte Kommunikationsbotschaften, mit der erhofften Folge, dass sich diese die gewünschten Einstellungen zu dessen Produkten aneignen. Zweitens spielen im Rahmen der Produktpolitik die Gestaltung existierender und neuer Produkte und das Markenmanagement eine zentrale Rolle für die Beeinflussung von Einstellungen. Auf diese Weise stellen die Produkteigenschaften die Grundlage für die persönliche Erfahrung der Konsumenten dar. Durch die Einführung neuer und die Verbesserung vorhandener Produktattribute können die produktbezogenen Einstellungen der Konsumenten beeinflusst werden. Die Marke selbst basiert als eine im Bewusstsein des Kunden verankerte Voreinstellung auf den Einstellungen der Konsumenten. Drittens stellt im Bereich der Vertriebspolitik insbesondere die Gestaltung der Verkaufsaktivitäten einen wesentlichen Ansatzpunkt dar. Vornehmlich der persönliche Verkauf, bei dem Verkäufer und Kunden in direkter Interaktion stehen, spielt eine wichtige Rolle bei der Beeinflussung der Konsumenteneinstellung. Kundenzufriedenheit ist eine spezielle Form der Einstellung. Als integrativer Rahmen der Theorien und Konzepte, die im Zusammenhang mit der Entstehung von Kundenzufriedenheit relevant sind, dient das C/D-Paradigma (vgl. Homburg/ Krohmer 2006). Die Kernaussage des C/D-Paradigmas lautet, dass die Kundenzufriedenheit aus dem Vergleich der tatsächlichen Erfahrung bei der Inanspruchnahme einer Leistung (Ist-Leistung) mit einem Vergleichsstandard des Kunden (Soll-Leistung) hervorgeht. Entspricht die wahrgenommene Ist-Leistung der SollLeistung, handelt es sich um das Konfirmationsniveau der Zufriedenheit (Bestätigung). Übertrifft die Ist-Leistung die Soll-Leistung, folgt ein Zufriedenheitsniveau, das über dem Konfirmationsniveau liegt (Zufriedenheit). Ist hingegen die Ist-Leistung geringer als die Soll-Leistung, führt dieses zu einem Zufriedenheitsniveau, das unterhalb des Konfirmationsniveaus liegt (Unzufriedenheit). Hinsichtlich der Auswirkungen der Kundenzufriedenheit auf das Verhalten von Kunden lassen sich zwei Bereiche abgrenzen. Es geht zum einen um den Effekt
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der Kundenzufriedenheit auf die Kundenloyalität und zum anderen um ihren Effekt auf das preisbezogene Verhalten der Kunden. Kundenzufriedenheit wirkt sich positiv auf die folgenden drei Facetten der Kundenloyalität aus (vgl. Homburg/Bucerius 2006): • Wiederkaufverhalten des Kunden, • Bereitschaft zu Zusatzkäufen sowie • Bereitschaft, das Unternehmen und seine Produkte an andere potentielle Nach-frager weiter zu empfehlen Auch zur Wirkung der Kundenzufriedenheit auf das preisbezogene Verhalten liegen Erkenntnisse vor. Es liegt ein stark positiver Zusammenhang zwischen Kundenzufriedenheit und der Zahlungsbereitschaft des Kunden vor (vgl. Homburg/Koschate/Hoyer 2005). Im Hinblick auf die Frage, wie ein Unternehmen Kundenzufriedenheit beeinflussen kann, lassen sich auf der Basis des C/D-Paradigmas drei Ansatzpunkte identifizieren: Erstens kann ein Unternehmen die Qualität seiner Leistung verbessern. Dieses kann zum Beispiel durch zusätzliche Produktfunktionen, eine gesteigerte Zuverlässigkeit des Produktes sowie ein höherwertiges Produktdesign erreicht werden. Zweitens kann ein Unternehmen durch entsprechende Kommunikationsaktivitäten die Qualitätswahrnehmung der Kunden positiv beeinflussen, zum Beispiel durch Betonung der Produktqualität in der Werbung oder die Veröffentlichung von positiven Testergebnissen. Drittens kann ein Unternehmen auf die Erwartung der Kunden Einfluss nehmen, zum Beispiel durch Beschränkung auf realistische Versprechungen in der Werbung und im Verkaufsgespräch.
1.2
Informationsverarbeitungsprozess
Bei der Informationsverarbeitung handelt es sich um einen Kernprozess des Konsumentenverhaltens. Dieser liegt zwischen dem Unternehmen als Sender von Informationen und der Kaufentscheidung auf der Seite des Konsumenten. Ausmaß und Qualität dieses Prozesses entscheiden, welche Informationen zum Kunden gelangen und auf welche Art er sie aufnimmt, beurteilt, speichert und im Hinblick auf eine Kaufentscheidung einsetzt. Die Informationsverarbeitung (vgl. Abb. 2.2) setzt sich aus verschiedenen Facetten zusammen, die sich anhand eines Prozesses darstellen lassen (vgl. Homburg/Krohmer 2006): • • • • •
Informationssuche, Informationsaufnahme, Informationsbeurteilung, Informationsspeicherung und Informationsabruf.
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Quelle: Homburg/Krohmer 2006, S. 55
Abb. 2.2: Informationsverarbeitung anhand eines Gedächtnismodelles
Informationssuche befasst mit der Gewinnung von Informationen, die noch nicht intern im Langzeitgedächtnis gespeichert sind. Sie bezieht sich demnach uneingeschränkt auf die Suche nach externen Informationen. Diese ist in der Regel mit einem höheren Aufwand verbunden als der interne Abruf von Informationen, so dass Konsumenten meist nur dann nach externen Informationen suchen, wenn zwischen gewünschtem und aktuellem Informationsstand eine Informationslücke erkannt wird und diese Lücke nicht mit intern verfügbaren Informationen geschlossen werden kann (vgl. Hoyer/MacInnis 2004). Ein weiterer Anlass zur Suche besteht, wenn interne Informationen als ungeklärt empfunden werden und dadurch ein Bedürfnis nach externer Informationssuche aktiviert wird (vgl. Kroeber-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein 2008). Es können zwei Arten der Informationssuche von Konsumenten unterschieden werden (Block/Sherell/Ridgway 1986): Zum einen die einmalige Informationssuche zur Fundierung einer Kaufentscheidung, die gezielt und bewusst im Vorfeld einer spezifischen Kaufentscheidung stattfindet und zum anderen die stetige Informationssuche, bei der hingegen keine unmittelbare Kaufentscheidung vorliegt, sondern vielmehr ein kontinuierliches Interesse an Informationen über ein Produkt. Im Rahmen der externen Suche nach Informationen stehen zwei Arten von Informationen im Vordergrund (vgl. Homburg /Krohmer 2006). Bei Objektinformationen geht es darum, Informationen darüber zu finden, welche verschiedenen Pro-
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dukte beziehungsweise Marken im Rahmen der Kaufentscheidung als Entscheidungsalternativen überhaupt zur Verfügung stehen. Die Eigenschaftsinformationen beziehen sich auf die Charakteristika der entsprechenden Objekte, zum Beispiel Preis oder Qualität der Produkte. Von besonderem Interesse für das Marketing ist die Frage, von welchen Faktoren das Ausmaß der Informationssuche abhängt. Hier sind insbesondere fünf Faktoren zu nennen (vgl. Schmidt/Spreng 1996): Erstens die Fähigkeit des Konsumenten zur Informationssuche (zum Beispiel abhängig vom Wissen über Informationsquellen, über die Beschaffung von Informationen, über die Nutzung der Informationen), zweitens der erwartete Nutzen der Informationssuche (zum Beispiel abhängig vom Wissensstand, dem finanziellen Aufwand, Höhe des Risikos, Wunsch nach optimaler Entscheidung), drittens der erwartete Aufwand der Informationssuche (zum Beispiel abhängig von Anzahl der zu berücksichtigenden Produkte, der Produktkomplexität, der Verfügbarkeit der Informationen), viertens das Ausmaß der früheren Erfahrungen des Konsumenten mit dem Produkt (zum Beispiel Produktexpertise) und fünftens das Involvement des Konsumenten. Der Anbieter sollte folglich sein Informationsangebot an die Fähigkeiten seiner Zielgruppe anpassen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die potentiellen Konsumenten überfordert werden und ihre Informationssuche beenden. Der Prozess der externen Informationsaufnahme umfasst sämtliche Vorgänge, in denen Informationen beziehungsweise Reize aus der Umwelt zunächst in das sensorische Gedächtnis und dann anschließend in das Kurzzeitgedächtnis gelangen. Die Informationsaufnahme geschieht über die Sinne (sensorische Prozesse): Sehen, Hören, Riechen, Tasten und Schmecken (vgl. Homburg/Krohmer 2006). Das Ausmaß der Informationsaufnahme hängt von verschiedenen Einflussfaktoren ab. Maßgeblich ist, dass der Rezipient mit dem Stimulus physisch in Kontakt kommt (vgl. Hoyer/MacInnis 2004). Das Vorliegen dieser Basisvoraussetzung der Informationsaufnahme hat für das Marketing direkte Auswirkungen: Je häufiger und besser platziert eine kommunikationspolitische Maßnahme, zum Beispiel eine Anzeige oder ein Werbespot, ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Konsument hiermit in Kontakt kommt, so dass eine Informationsaufnahme stattfinden kann (vgl. Homburg/Krohmer 2006). Neben dieser Grundvoraussetzung eines psychischen Kontaktes mit dem Reiz ist insbesondere der Grad der Aufmerksamkeit entscheidend für das Ausmaß der Informationsaufnahme. Unter Aufmerksamkeit wird dabei „das Ausmaß, zu dem sich ein Konsument auf einen Reiz konzentriert, der sich innerhalb seines Aufnahmeradius befindet“ verstanden (vgl. Solomon 2006). Die Aufmerksamkeit hängt ihrerseits von zahlreichen Einflussfaktoren ab, die in drei Gruppen eingeteilt werden können (vgl. Hawkins/Best/Kenneth 2004): • Faktoren, die sich auf den Stimulus beziehen, • individuelle Faktoren des Konsumenten sowie • Umfeldfaktoren.
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Unter den Stimulusfaktoren sind Gestaltungsaspekte des Stimulus, wie die Größe und Intensität sowie Farbe oder Bewegung, die Position, das Format oder auch die Informationsmenge zu berücksichtigen. Zu den konkreten Wirkungen dieser Faktoren auf die Aufmerksamkeit lässt sich in der Regel sagen, je größer, intensiver und farbiger ein Stimulus ist, desto mehr Aufmerksamkeit wird erzielt (vgl. Homburg/Krohmer 2006). Individuelle Faktoren des Konsumenten, die einen Einfluss auf dessen Aufmerksamkeit ausüben, sind insbesondere dessen Interessen und Bedürfnisse (vgl. Hawkins/ Best/Kenneth 2004). Hierzu zählen sowohl dauerhafte Interessen, wie ein bestimmtes Hobby, als auch temporäre Bedürfnisse, wie Hunger, Durst oder der akute Bedarf an einem neuen Kühlschrank oder einem neuen Auto. Darüber hinaus hängt die Aufmerksamkeit von Umfeldfaktoren ab. Dabei kann hohe Aufmerksamkeit durch die Nutzung von Kontrasten erzielt werden, beispielsweise durch die einer einzigen Frau in einer Gruppe von Männern (vgl. Bless/Fiedler/Strack 2004). Ähnlich kann auch gezeigt werden, dass ein bewegtes Objekt in einem ruhigen Umfeld besondere Aufmerksamkeit erfährt (vgl. McArthur/Post 1977). Der Prozess der Informationsbeurteilung findet im Kurzzeitgedächtnis statt und stellt das Kernstück der Informationsverarbeitung dar. Die Informationsbeurteilung umfasst • die Interpretation der aufgenommenen Sinnesreize und • die Entscheidung darüber, welche Informationen bei der Bildung, Aufrechterhaltung oder Änderung von Einstellungen herangezogen werden und wie diese bewertet und gewichtet werden. Ist ein Konsument zum Beispiel vielfältigen Informationen über ein Produkt ausgesetzt, muss er diese zunächst bezüglich ihrer Bedeutung interpretieren und dann die für seine eigene Einstellungsbildung relevanten und glaubwürdigen Informationen herausfiltern (vgl. Homburg/Krohmer 2006). Interpretieren bedeutet dabei, den aufgenommenen Informationen Bedeutung beizumessen, um die neuen Informationen mit bereits vorhandenem Wissen in Verbindung zu bringen. Auf diese Weise können neuartige Informationen identifiziert, kategorisiert und verstanden werden sowie Schlussfolgerungen und Erwartungen abgeleitet werden (vgl. Hawkins/Best/Kenneth 2004). Nach der Interpretation ist die Entscheidung darüber wesentlich, ob und in welchem Ausmaße die gewonnenen Informationen zur Bildung, Beibehaltung oder Veränderung der eigenen Einstellungen herangezogen werden. Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass der Konsument nach der Bildung einer möglichst zutreffenden Einstellung strebt und daher an der sorgfältigen Prüfung interessiert ist. Allerdings stehen ihm hierfür nur begrenzte kognitive und zeitliche Ressourcen zur Verfügung, so dass der Aufwand bei der Informationsbeurteilung in einem sinnvollen Verhältnis zum Nutzen stehen muss (vgl. Homburg/Krohmer 2006).
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1.3
Nachfrager von Versicherungsleistungen
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Kaufentscheid
Eine Kaufentscheidung kann als mehrstufiger Prozess dargestellt werden (vgl. Abb. 2.3).
Quelle: Homburg /Krohmer 2006, S. 103
Abb. 2.3: Stufen der Kaufentscheidung
Auf der ersten Stufe ist zu bestimmen, ob überhaupt ein Kauf stattfinden soll. Auf dieser Stufe handelt es sich folglich um eine Ja/Nein-Entscheidung. Bei dieser Grundsatzentscheidung spielen Faktoren, wie das aktuelle Einkommen und die Vermögenssituation des Konsumenten, aber auch Aspekte, wie Kaufanreize, attraktive Einkaufsstätten oder günstige Finanzierungsmöglichkeiten eine zentrale Rolle. Die zweite Stufe setzt sich mit der Frage auseinander, in welcher Produktkategorie der Kauf stattfinden soll. Häufig treten in dieser Phase aufgrund eines limitierten Budgets Zielkonflikte zwischen mehreren als erstrebenswert empfundenen Kaufobjekten auf. Ein Beispiel hierfür stellt die Entscheidung zwischen einer Urlaubsreise oder neuem Mobiliar dar. Anschließend erfolgt auf der dritten Stufe die Auswahlentscheidung bezüglich eines konkreten Produktes oder einer bestimmten Marke innerhalb der Produktkategorie. Die wesentlichen Faktoren sind hier die vom Konsumenten wahrgenommenen Leistungsattribute sowie der geforderte Preis. Auf der vierten Stufe wird schließlich über die zu kaufende Menge entschieden. Diese kann durch den Verkäufer beispielsweise durch Mengenrabatte im Rahmen der Preispolitik beeinflusst werden. Für das weitere Verständnis der Kaufentscheidung ist es hilfreich, diese zu typologisieren. Zur Typenbildung werden zwei Ausprägungen herangezogen: das emotionale und das kognitive Involvement (vgl. Kroeber-Riel/Weinberg/GröppelKlein 2008). • Bei extensiven Kaufentscheidungen demonstrieren Konsumenten ein hohes kognitives und emotionales Involvement. Diese Art der Kaufentscheidung tritt relativ selten auf. Die Konsumenten berücksichtigen hier sowohl um-
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fangreiche Informationen als auch die eigenen Gefühle und benötigen daher relativ viel Zeit für ihre Entscheidung. • Primär rationale Kaufentscheidungen kennzeichnen sich durch ein hohes kognitives und ein niedriges emotionales Involvement. Im Zentrum steht der funktionale Nutzen des Produktes, so dass Kaufentscheidungen in hohem Maße auf Basis objektiver Informationen getroffen werden. Emotionen spielen hier nur eine sehr untergeordnete Rolle. • Bei impulsiven Kaufentscheidungen (Spontankauf) liegen ein niedriges kognitives und ein hohes emotionales Involvement vor. Konsumenten reagieren hier intensiv und schnell auf emotionale Reize. Diese Art von Kaufentscheidungen werden oftmals nicht kognitiv hinterfragt, folglich findet also keine gedankliche Kontrolle statt (vgl. Wertenbroch 1998). • Habitualisierte Kaufentscheidungen zeichnen sich durch ein niedriges kognitives und emotionales Involvement aus und werden als Routine-Entscheidungen charakterisiert, bei denen der Konsument gewohnheitsmäßig und unreflektiert entscheidet. Die Entscheidung wird hier meist relativ schnell getroffen, weil dem Kaufobjekt nur eine geringe Relevanz beigemessen wird oder weil der Konsument bereits eindeutige Präferenzen besitzt und auf vertraute Entscheidungen zurückgreift.
2
Konsumentenverhalten auf dem deutschen Versicherungsmarkt
Die Nachfrage nach Versicherungsschutz hat sich stark verändert. Das Wertebewusstsein der Konsumenten auf dem Versicherungsmarkt hat sich in den letzten Jahren gewandelt. Der Kunde von heute ist anspruchsvoller, selbstbewusster, kritischer und weniger loyal gegenüber dem Produkt beziehungsweise dem Unternehmen. Die Anbieter von Versicherungsleistungen stehen dem Leitbild eines aufgeklärten Verbrauchers gegenüber. Darüber hinaus hat auch die demographische Entwicklung Einfluss auf den deutschen Versicherungsmarkt. Aufgrund der sinkenden Geburtenraten ist mit einer abnehmenden Bevölkerungszahl zu rechnen, was zu einer Verringerung potentieller Kunden führt. Der zukünftige Versicherungsmarkt wird sich folglich mit einem höheren Wettbewerbsdruck auseinander setzen müssen. Dem Verständnis des Konsumentenverhaltens wird daher zukünftig eine noch wichtigere Rolle beigemessen und der Einsatz gezielter Maßnahmen, zur Beeinflussung des Konsumentenverhaltens im Sinne der Unternehmensziele wird ein zentraler Bestandteil der Unternehmensstrategie werden müssen. Nachdem im vorigen Abschnitt die Grundlagen des Konsumentenverhaltens im Marketing thematisiert worden sind, werden nun die Erkenntnisse auf den Versicherungsmarkt reflektiert. Zunächst werden dazu die unterschiedlichen Konsumentengruppen in der deutschen Versicherungswirtschaft vorgestellt. Danach wird das Konsumentenvertrauen in der Versicherungsbranche als Ansatz zur Erklärung
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des Konsumentenverhaltens thematisiert. Die nächsten Abschnitte analysieren das Preisverhalten der Konsumenten und den Einfluss der Werbung auf das Kaufverhalten. Abschließend ist ein Ausblick zum Konsumentenverhalten Gegenstand der Betrachtung.
2.1
Konsumentengruppen
Versicherungen werden von vielen verschiedenen Konsumenten nachgefragt. Versicherungsunternehmen, die ihre Kunden differenziert betrachten und sie nach diversen Merkmalen kategorisieren, können ihren Umsatz durch angepasste Produkte und effektivere Absatzverfahren steigern (vgl. Kraszka 2006). Die Bildung von Kundengruppen ist vorteilhaft, weil sie es den Versicherern ermöglicht, auf den Kunden abgestimmte Absatz- und Marketingentscheidungen zu treffen. Dieses basiert auf der Annahme, dass Kunden einer Käufergruppe eine ähnliche Risikolage und dadurch einen ähnlichen Versicherungsbedarf aufweisen. Ein ähnliches Nachfrageverhalten innerhalb einer Käufergruppe erlaubt es, abgestimmte Absatzverfahren mit dem Ziel zu entwickeln, die potentiellen Kunden noch besser erreichen zu können. Der deutsche Versicherungsmarkt ist üblicherweise in Versicherungssparten beziehungsweise Versicherungszweige gegliedert (vgl. Abb. 2.4). Diese Spartentrennung ist vor allem auch ökonomisch sinnvoll, da die Berechnung einer risikogerechten Prämie nur für eine Gruppe gleichartiger Risiken möglich ist (vgl. Koch 2005).
Individualversicherung
Erstversicherung
Rückversicherung
Personenversicherung
Lebensversicherung
Nicht-Personenversicherung
Schaden- und Unfallversicherung
Private Krankenversicherung
Privatkundengeschäft (Personen/private Haushalte)
Quelle: Pham-Ti 2006, S. 131
Abb. 2.4: Struktur des deutschen Versicherungsmarktes
Firmenkundengeschäft (Unternehmen)
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Als Anbieter von Versicherungsleistungen treten Erstversicherer sowie Rückversicherer auf. Erstversicherungen richten sich sowohl an Privatpersonen als auch an Unternehmen. Rückversicherer beziehen sich ausschließlich auf das Verhältnis zwischen Versicherungsunternehmen und beschränken ihre gewöhnliche Geschäftstätigkeit auf die Abdeckung des versicherungstechnischen Risikos der Erstversicherer (vgl. Koch 2005). In der Praxis werden die Versicherungssparten entsprechend ihrer jeweiligen Versicherungsart „Personenversicherung (Personenschaden)“ und „Nicht-Personenversicherung (Güter- und Vermögensschaden)“ in die Segmente Lebens- und private Krankenversicherung sowie die Schaden- und Unfallversicherung aufgeteilt. In dem Segment Schaden- und Unfallversicherung wird zwischen dem Privatkundengeschäft für Privatpersonen und dem Firmenkundengeschäft für Unternehmen unterschieden. Die Versicherungsnachfrager lassen sich demnach grob in zwei Gruppen einordnen: Gewerblichen Kunden und Privatkunden. Die Kundengruppe der privaten Haushalte kann nach diversen Kriterien weiter differenziert werden. Üblich sind Kriterien wie Haushaltsgröße, Alter, Beruf und Familienstand. Die Privatkunden zeichnen sich durch eine im Durchschnitt geringere Schadenssumme aus. Die Kernzielgruppe für Versicherungen wird als diejenige Personengruppe definiert, die mindestens sechs Versicherungsarten im Haushalt vorweisen kann. Das größte Nachfragepotential hat dabei die Altersgruppe der 20-39-Jährigen, bei denen in der Regel noch keine erste Absicherung durch Versicherungsschutz stattgefunden hat und die sich erst für Versicherungsarten und Versicherungsunternehmen entscheiden müssen (vgl. Hujber 2005). Zu den typischen, von Privatkunden nachgefragten Versicherungsprodukten gehören zum Beispiel die Hausratversicherung, die Kfz-Haftpflichtversicherung, die Unfallversicherung, die Lebensversicherung oder auch die Rechtsschutzversicherung (vgl. Kraszka 2006). Die Kundengruppe der gewerblichen Kunden umfasst eine sehr große und heterogene Gruppe und macht es daher unmöglich alle Kunden mit den gleichen Versicherungsprodukten anzusprechen. Die Gruppe der gewerblichen Kunden wird folglich weiter in Untergruppen differenziert wie beispielsweise in Industrie- und Großgewerbekunden, zu denen Konzerne und große Industriebetriebe gehören. Des Weiteren können gewerblichen Kunden noch den Gruppen gewerblichen mittelständischen Kunden und Landwirte zugeordnet werden. Die Gewerbekunden fragen eigens für ihre Zwecke oder an ihren Bedarf angepasste Versicherungsprodukte nach, die sich durch eine, im Durchschnitt hohe Schadenssumme auszeichnen. Dazu gehören typischerweise Sachversicherung, Betriebsunterbrechungs-Versicherung, betriebliche Haftpflichtversicherung, Industrie-Feuerversicherung, Transportversicherung, Firmengruppenversicherung oder auch der Firmenschutzbrief (vgl. Kraszka 2006).
2.2
Konsumentenvertrauen
Vertrauen ist für menschliches Handeln bedeutend, da es einen Mechanismus zur Reduktion der wahrgenommenen Unsicherheit darstellt und somit die Komplexität
2
Nachfrager von Versicherungsleistungen
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von Entscheidungsspielräumen begrenzt (vgl. Luhmann 2000). Im wirtschaftsbezogenen Kontext wird von der Erkenntnis ausgegangen, dass Marktteilnehmer nur unvollständiges Wissen über genaue Vorgänge und Strukturen besitzen können. Der Auftragnehmer (Agent) besitzt einen Wissensvorsprung und handelt nur mit begrenzter Rationalität und darüber hinaus durchaus mit opportunistischem Verhalten. Diese Faktoren bedingen auch die Marktunsicherheit und das Informationsdefizit eines Auftraggebers (Prinzipal) und sind damit Kernbestandteile der Prinzipal-Agent-Theorie, die sich mit ungleich verteilten Informationsniveaus auseinandersetzt. Aus diesem Grunde nimmt das Vertrauen eine zentrale Rolle für das Funktionieren von Marktprozessen ein. Beim Vertrauen in einer Branche handelt es sich um ein eigenständiges Konstrukt, das einen Beitrag zur Erklärung von Konsumentenverhalten leistet, welches sich im Informationssuchverhalten niederschlägt (vgl. Wilke 2007). Das Münster Research Institute hat eine Studie zum Vertrauensbarometer in verschiedenen Branchen in Deutschland durchgeführt. Für die Versicherungsbranche wurden im Jahre 2008 782 Privatkunden befragt und zum Thema Vertrauen untersucht. Das Ergebnis war, dass 80% der Befragten der Versicherungsbranche nicht ihr generelles Vertrauen aussprechen, obwohl 95% der Befragten viel Wert auf ein Vertrauensverhältnis zu ihrer Versicherung legen. Des Weiteren können 70% der Befragten sich nicht auf ihre Versicherungen verlassen. Im Vergleich schneidet nur die Branche der Mobilfunkanbieter unwesentlich schlechter ab, während das Vertrauen in den Branchen Banken und Reiseveranstalter doch signifikant besser ausfiel. Auswirkungen hat das Vertrauensniveau auf das Informationssuchverhalten der Konsumenten. Versicherungsvertreter werden stärker von Personen, die der Branche vertrauen, als Informationsquelle genutzt. Bei Maklern trifft dieses im Fall von geringem Vertrauensniveau zu. Das geringe Vertrauen in der Versicherungsbranche hat ebenfalls zur Folge, dass die Konsumenten häufiger Verbraucherberatungen aufsuchen und Vergleichsangebote im Internet und Test-Zeitschriften nutzen. Es ist aber auch festzustellen, dass die Branche immer etwas kritischer gesehen wird als die eigene Versicherung, die in den meisten Fällen zufriedenstellend ist (vgl. Wilke 2007).
2.3
Preisverhalten
Das Preisverhalten kennzeichnet das Verbraucherverhalten beim Kauf von Produkten zu bestimmten Preisen und muss bezüglich verschiedener Branchen und Konsumentengruppen differenziert betrachtet werden. Indikatoren für das Preisverhalten sind die Preiswahrnehmung und die Preisbeurteilung. Unter dem Begriff der Preiswahrnehmung wird die sensorische Aufnahme und Verarbeitung von Preisinformationen durch ein Individuum verstanden, ohne dass die Preisinformationen bereits vorher beurteilt und als „teuer“ oder „günstig“ eingestuft worden sind (vgl. Müller-Hagedorn 1983). Für das Preisverhalten der Kunden sind dabei nicht die objektiven Preisinformationen entscheidend, sondern die subjektiv wahrgenommenen Angebote. Jedes
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Individuum nimmt den Preis von Produkten subjektiv unterschiedlich wahr und je nach Preiskenntnis und Anspruchsniveau wird dieser auch unterschiedlich beurteilt. Es ist folglich nicht ausreichend, den auf dem Markt objektiv besten Preis anzubieten, es muss vielmehr sichergestellt werden, dass die Nachfrager diesen auch wahrnehmen können und wollen (vgl. Muchitsch 2005). Bezogen auf die Versicherungsbranche unterscheiden sich Produkte in der Preiswahrnehmung und Preisbeurteilung von materiellen Sachgütern anderer Industrien: • Für Versicherungskunden ist es häufig schwierig, die Angebote einzelner Unternehmen zu vergleichen, da die Prämien häufig nicht transparent genug sind (vgl. Görgen 2002). • Die Beurteilung des Preis/Leistungsverhältnisses durch den Kunden ist erschwert, da es bei dem Versicherungsvertrag nicht zwangsläufig auch zum Leistungsfall kommt (vgl. Nickel-Waninger 1987). • Das Versicherungsprodukt ist kompliziert und folglich vielfach erklärungsbedürftig (vgl. Kurtenbach et al. 1995). Die Antwort auf die Frage, warum Konsumenten Preise unterschiedlich wahrnehmen und ein unterschiedliches Preisverhalten aufweisen, liegt darin, dass Individuen unterschiedlich ausgeprägte Preisinteressen zeigen. Das Preisinteresse kann dabei als Bedürfnis eines Konsumenten bezeichnet werden, nach Preisinformationen zu suchen und diese bei den Kaufentscheidungen zu berücksichtigen (vgl. Diller 2000). Das Produktinvolvement steht im Zusammenhang mit dem Preisinteresse und im Allgemeinen ist bei Produkten, die ein hohes Involvement aufweisen, das Preisinteresse geringer ausgeprägt, als bei Produkten des täglichen Bedarfes. Versicherungskunden dürften demzufolge eher preisdesinteressiert sein, weil Versicherungsprodukte in der Regel eine lange Vertragslaufzeit besitzen und daher seltener gekauft werden (vgl. Diller 2000). Darüber hinaus wird das Preisdesinteresse noch durch die niedrige Markttransparenz verstärkt. Für die Anbieter von Versicherungsprodukten ist es daher schwierig, eine hohe Preiswahrnehmung bei den Käufern zu erzeugen. Trotzdem wird auf ein persönliches Gespräch zwischen Versicherer und Versicherungsnehmer kaum verzichtet werden können, weil das Versicherungsprodukt erklärungsbedürftig ist und zudem sind die Versicherer von der Informationsbereitschaft ihrer Kunden abhängig, um das versicherte Risiko kalkulieren zu können (vgl. Kurtenbach et al. 1995). Bei der Preisbeurteilung wird der objektive Preis in einen subjektiv wahrgenommenen Preis umgewandelt (vgl. Muchitsch 2005). Diesen subjektiv wahrgenommenen Preis beurteilen manche Kunden als „zu teuer“, während andere Kunden ihn bei gleichem Informationsstand als „günstig“ einstufen. Auf dem Versicherungsmarkt muss der Kunde die Leistung des Versicherers und die dafür zu zahlende Prämie wahrnehmen und bewerten, um die Leistungs- und Preiswerte erfolgreich vergleichen zu können. Überwiegt der individuelle Nutzen der Leistung, kommt es zum Vertragsabschluss, überwiegt jedoch der zu zahlende Preis, kommt es zu keinem Vertragsabschluss (vgl. Muchitsch 2005). Um eine solche Bewer-
2
Nachfrager von Versicherungsleistungen
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tung vornehmen zu können, behelfen sich die Kunden mit einem Preisgünstigkeitsurteil und einem Preiswürdigkeitsurteil. Bei dem Preisgünstigkeitsurteil bezieht sich die Beurteilung ausschließlich auf den zu zahlenden Preis und nicht auf die Qualität des Produktes. Für Versicherungsunternehmen wird vermutet, dass Preisgünstigkeitsurteile insbesondere dann für einen Konsumenten desto entscheidender sind (vgl. Müller/Klein 1993), • je größer der Standardisierungsgrad der Angebote bei allen Anbietern ist, • je geringer die Differenz zwischen einzelnen Leistungsmerkmalen zwischen den Versicherungsunternehmen ist und • je mehr Erfahrung der Kunde mit den Versicherungsprodukten bereits hat. Das Preiswürdigkeitsurteil beschränkt sich nicht ausschließlich auf den zu zahlenden Preis, sondern befasst sich mit dem Preis-/Leistungsverhältnis von Produkten. Die Leistungskomponente umfasst Qualität, Nutzen, Einstellung und Zufriedenheit (vgl. Muchitsch 2005). Ein Versicherungsabschluss kommt dann zustanden, wenn die Preisobergrenze des Versicherungsnehmers größer ist, als die Preisuntergrenze des Versicherers (vgl. Farny 2000).
2.4
Einflussnahme der Werbung
Ziel der Werbung ist es, beim Rezipienten positive Einstellungsbildungen oder Einstellungsmodifikationen gegenüber der eigenen Sache zu erzeugen, die am Ende ein konkretes Verhalten als Absicht hat. Im Ergebnis sollen die Kaufhandlung und die Weiterempfehlung erzielt werden. Um das Beeinflussungsziel der Werbebotschaft zu erreichen, sind folgende Teilwirkungen auf den Rezipienten notwendig (vgl. Hujber 2005): • • • •
Beachtung der Werbung, richtige Interpretation der Botschaft, Speicherung der wesentlichen Botschaftsinhalte im Gedächtnis und Handlungsauslösung.
Die folgende Abbildung veranschaulicht die einzelnen Teilwirkungen in einem vollständigen S-O-R Modell der Werbekommunikation (vgl. Abb. 2.5). Nach diesem Verständnis ist nicht nur die Wahrnehmung der objektiven Reize bedeutsam, sondern auch die Verarbeitung dieser Reize. Der beobachtbare Stimulus (S) löst in der Person (Organismus beziehungsweise O) einen Verarbeitungsprozess aus, der zu einer beobachtbaren Reaktion beziehungsweise Response (R) führt (vgl. Hujber 2005).
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Dissonanzvermeidung
Wahrnehmung von Irritation und Reaktanz
Dissonanzreduktion
Irritation Reaktanz
STIMULUS
RESPONSE AUFMERKSAMKEIT
WAHRNEHMEN
Werbebotschaft
Involvement
beobachtbar
WAHRNEHMUNGSFILTER
Kognitive Strukturierung Aktivierung
LERNEN
• Wissen • Emotionen
Subjektive Reize + Hypothese • Kontext • Emotionen • Motive
• Motive/ Verhaltensintensionen
nicht beobachtbar
Einstellung
Kauf
• Bildung • Konstanz • Änderung
Nicht-Kauf
beobachtbar
Quelle: Hujber T 2005, S. 254)
Abb. 2.5: Vollständiges S-O-R-Modell der Werbekommunikation
Damit die gezeigte Werbebotschaft im ersten Schritt auch die gewünschte Aufmerksamkeit bekommt, um wahrgenommen zu werden, muss beim Betrachter auch ein gewisses Produktinteresse vorliegen. Demographische Untersuchungen aus verschiedenen Jahren beziehungsweise Jahrzehnten bestätigen das Versicherungsprodukt als low-Interest-Produkt. Die folgende Abbildung zeigt im Branchenvergleich, dass 72% der befragten Personen gar kein oder ein nur geringes Interesse für Versicherungsprodukte aufweisen. Die Versicherungsbranche liegt damit an drittletzter Stelle vor den Stromanbietern mit 77% und den Bausparkassen mit 82%. Bei differenzierter Betrachtung lässt sich feststellen, dass Männer im Vergleich zu Frauen ein doppelt so hohes Versicherungsinteresse aufweisen und da 73% unter den jüngeren potenziellen Konsumenten zwischen 14 bis 29 Jahren überhaupt kein Interesse an Versicherungsprodukten bekunden (vgl. Hujber 2005). Aus diesen Zahlen wird die Erkenntnis gewonnen, dass die Werbebotschaften in der Versicherungsbranche aufgrund des niedrigen Produktinteresses größtenteils schon in der Aktivierungsphase „verpuffen“. Des Weiteren verlangen die Komplexität und Intangibilität der Versicherungsleistung vom Versicherungskonsumenten im Gegensatz zu materiellen Gütern, höhere intellektuelle Anstrengungen. Nur ein Drittel aller privaten Versicherungskonsumenten behaupten von sich selbst, sich in Versicherungsangelegenheiten gut auszukennen (vgl. Hujber 2005). Dieses wird die richtige Interpretation der Werbebotschaft erschweren (vgl. Abb. 2.6).
2
Nachfrager von Versicherungsleistungen
37
Abb. 2. 6: Produktinteresse im Branchenvergleich
Eine Speicherung der wesentlichen Botschaftsinhalte im Gedächtnis setzt dabei voraus, dass der Betrachter sich noch an die Werbung erinnern kann (vgl. Abb. 2.7). Anteil der Befragten zwischen 14 – 49 Jahren, die sich an die Branchenwerbung erinnern können (in %) 80
76 72
75
68
70 65 60
53
55 50 45
58
55
44
41
41
38
40 35 30
24
25 20 15
18 14
18
18
15
12
11
10 5
0
1
0
1
2 2
2 2
PKW
Reiseveranstalter
Mobilfunkanbieter
Kraftstoffe
Festnetzanbieter
Geldinstitute
0
14 9
1 1
0
1 1
Stromanbieter
Bausparkasse
0
Minimum
Maximum
Online- VersicheDienste rungen
Durchschnitt
Quelle: Hujber T 2005, S. 246)
Abb. 2.7: Recall der Werbung verschiedener Branchen
Abbildung 2.7 zeigt, dass die durchschnittliche Werbeerinnerung in der Versicherungsbranche mit 9% den letzten Platz im Branchenvergleich einnimmt und weit unter dem Durchschnitt von 13% liegt (vgl. Hujber 2005). Auch wenn der Schluss
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gezogen werden kann, dass es die Versicherungswerbung schwer hat, die gewünschte Kaufhandlung im Ergebnis zu erreichen, so sollte deren Wirkungskraft dennoch nicht vernachlässigt werden. Insbesondere aus den Ergebnissen der Branchen der Stromanbieter und der Bausparkassen lässt sich die Chance ablesen, diejenigen Konsumenten mit der Versicherungswerbung anzusprechen, die sich eigentlich gar nicht für dieses Versicherungsunternehmen oder das Versicherungsprodukt im Allgemeinen interessieren.
2.5
Ausblick
Die Universität St. Gallen und die Unternehmensberatung accenture haben in ihrer Studie „Retailmärkte im Umbruch“ (2005) Trends und Herausforderungen in der Versicherungswirtschaft analysiert, in der auch die zukünftigen, von Führungskräften erwarteten Veränderungen im Konsumentenverhalten Gegenstand der Betrachtung waren. Das Verhalten von Versicherungskunden hat sich im Verhältnis zum Konsumverhalten vieler anderer Wirtschaftszweige in den letzten Jahren nur sehr langsam verändert und das, obwohl der Informationsstand der Kunden, vor allem infolge des Internets, von den Umfrageteilnehmern als substanziell höher eingeschätzt wird. Das Desinteresse der Kunden äußert sich zum Beispiel in einer niedrigen Wechselquote in ihren Versicherungsbeziehungen und in der niedrigen Preisempfindlichkeit. Das zukünftige Kundenverhalten in der Versicherungswirtschaft wird sich zukünftig stark verändern (vgl. Abb. 2.8). Die große Mehrheit der befragten Manager waren sich einig, dass die Kundenbedürfnisse insbesondere in den Bereichen: • • • • • • • •
Preissensitivität, Bedürfnis nach Unterstützung, Nachfrage nach standardisierten und günstigen Produkten, Bedürfnis nach Absicherung und Schutz, Bedürfnis nach Beratung, umfassende Gesamtlösungen/Kombiprodukte, Informations- Wissenstand und Anzahl der Versicherungsbeziehungen
stark zunehmen werden und dagegen im Bereich • der durchschnittlichen Kundenbeziehungen und Loyalität stark abnehmen werden.
2
Bedürfnis des Kunden nach Unterstützung/Care
23%
Bedürfnis nach Absicherung/Schutz
22%
Bedürfnis nach Beratung
21%
Umfassende Gesamtlösung/ Kombiprodukte Informations- und Wissensstand des Kunden
Stark zunehmend (++)
45%
5%
6%
32% 30%
32%
41%
16%
4%
30%
46%
12%
4%
29%
43%
56%
1% 1%
21%
43%
6%
16%
52%
17%
39
12%
54%
29%
Nachfrage nach standardisierten, günstigen Produkten
Durchschnittliche Dauer der Kundenbeziehung (Loyalität)
47%
40%
Preissensitivität des Kunden
Anzahl der Versicherungsbeziehungen
Nachfrager von Versicherungsleistungen
7% 1% 11% 1% 20%
1%
22%
1% Leicht zunehmend (+)
Unverändert (=)
Leicht abnehmend (–)
Stark abnehmend (–100% –)
Quelle: Universität St. Gallen und accenture (2005) Assekuranz 2015 – Retailmärkte im Umbruch: Trends und Herausforderungen in der Versicherungswirtschaft, S. 13
Abb. 2.8: Erwartete Veränderungen im Kundenverhalten in den nächsten zehn Jahren
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1
Einführung
Im Zuge der Deregulierung des deutschen Versicherungsmarktes im Jahre 1994 erhielten Versicherungsunternehmen weitgehende Freiheiten bei der Produkt- und Prämiengestaltung. So ergaben sich Möglichkeiten, besser auf Kundenwünsche und -bedürfnisse einzugehen. Heute reicht eine undifferenzierte Marktbearbeitung mit einheitlich eingesetzten absatzpolitischen Instrumenten nicht mehr aus, um den wachsenden und heterogenen Ansprüchen von Versicherungskunden gerecht zu werden. Der Wettbewerb in der Versicherungsbranche hat sich dabei in mehrfacher Hinsicht verstärkt. Zunehmend konkurrieren auch branchenfremde Unternehmen, wie Banken, Warenhäuser und Reisebüros, miteinander. Daneben sind die Märkte der europäischen Nachbarn wegen lokaler Besonderheiten der Versicherungskulturen und bei den Kundenbedürfnissen für expansionswillige Versicherer teilweise nur schwer zugänglich (vgl. Görgen 2002, S. 20). Versicherungsunternehmen stehen nun vor der Aufgabe, sich mit dem Vorgehen bei der Implementierung von Versicherungsprodukten gezielter auseinanderzusetzen. Durch eine Angleichung der Normen und ein damit einhergehender Wegfall der möglichen Vergleichbarkeit der Versicherungsprodukte sind nunmehr höhere Anforderungen an die Versicherer gestellt, sich durch eine individuellere Produktgestaltung am Markt hervorzuheben. Dadurch ergibt sich eine spezielle Fokussierung auf die Besonderheiten von Versicherungsleistungen und deren Bedeutung für den Versicherungsmarkt unter den Prämissen des Versicherungsmarketing.
M.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing, DOI 10.1007/978-3-642-10276-9_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
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2
Robert Brajak/Nicolai De Marco
Begriffsabgrenzung des Versicherungsproduktes
Bevor auf die Besonderheiten der Versicherungsleistungen eingegangen wird, muss zunächst der Begriff der Versicherung beziehungsweise der Versicherungsleistung erläutert werden. Im vorliegenden Fall wird dabei die Betrachtung auf das Produkt gelegt und nicht auf den Anbieter. Typisch für alle Versicherungsgeschäfte ist die Ungewissheit hinsichtlich des Eintrittes und des Umfanges des versicherten Ereignisses. Für den Versicherungsnehmer besteht der Nutzen hauptsächlich in der Befriedigung seines Sicherheitsbedürfnisses. Versicherungen verbessern die Risikoallokation, schützen das bestehende Vermögen, fördern die Kapitalkummulation, mobilisieren finanzielle Ressourcen und bewirken eine Kontrolle des Unternehmensverhaltens (vgl. Görgen 2002, S. 14 ff.).
2.1
Definition nach dem Versicherungsaufsichtsgesetz
„Der Versicherer verpflichtet sich mit dem Versicherungsvertrag, ein bestimmtes Risiko des Versicherungsnehmers oder eines Dritten durch eine Leistung abzusichern, die er bei Eintritt des vereinbarten Versicherungsfalles zu erbringen hat. Der Versicherungsnehmer ist verpflichtet, an den Versicherer die vereinbarte Zahlung (Prämie) zu leisten“ (-http://www.versicherungsgesetze.de/ versicherungsvertragsgesetz2009/1_Vertragstypische _Pflichten.htm 13.07.2009). Nach Kleinaltenkamp konkretisiert sich die Leistung der Versicherungsunternehmen durch folgende Punkte: • die Gewährung von Sicherheit vor (negativen) finanziellen Folgen versicherter Schadensereignisse für den jeweiligen Kunden, • die Bereitstellung eines Kollektivs und eines ausreichenden Finanzpotenziales, o mit dem Ziel des Erhaltes des finanziellen Status (quo ante), o in Form einer Garantie zur finanziellen Restitution im Entschädigungsfall, o in Höhe des tatsächlichen Schadens und nicht nur in Höhe der bisher geleisteten Beiträge, o mittels versicherungsmathematischer Verfahren auf der Basis von Schadenserfahrungen sowie o über einen vorab (ex ante) festgelegten Zeitraum. Obwohl es sich bei der Versicherungsleistung eindeutig um eine Dienstleistung handelt, wird in der Versicherungswissenschaft grundsätzlich von einer Produktion von Versicherungsschutz gesprochen (vgl. Hujber 2005, S. 67). Das traditionelle Konzept eines Versicherungsproduktes oder Versicherungsgeschäftes interpretiert dessen Kern als Versicherungsschutz, das das Versicherungsschutzversprechen
3 Besonderheiten und Systematisierung von Versicherungsleistungen
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und dessen Einlösung in Form von Versicherungsleistungen nach Eintritt der exakt definierten Versicherungsfälle umfasst (vgl. Farny 2006, S. 8).
2.2
Versicherungsschutzkonzept von Farny
Nach Farnys Versicherungsschutzkonzept, das weite Verbreitung in der Praxis gefunden hat, ergibt sich folgende Definition: „Versicherungsschutz ist ein immaterielles Wirtschaftsgut. Wirtschaftsgüter sind aus Sicht des Produzenten komplexe Leistungsbündel, aus der Sicht des Verwenders komplexe Nutzenbündel, die zwar theoretisch, meist aber nicht im praktischen Geschäftsverkehr in die einzelnen Elemente aufgegliedert werden können.“ Farny unterteilt das Gesamtversicherungsgeschäft in (vgl. Farny 2000, S. 22): 1. Risikogeschäft, 2. Spar- und Entspargeschäft, das in einigen Versicherungszweigen mit dem Versicherungsgeschäft verbunden ist sowie 3. Dienstleistungsgeschäft in Form von Beratung und von Abwicklung des Risiko- und des Spar-/Entspargeschäftes. Das Risikogeschäft ist der Grundbestandteil des Versicherungsgeschäftes. Der Versicherungsnehmer sichert seine wirtschaftliche Lage ganz oder teilweise ab, indem sich ein Transfer von Risiken und Schadenswahrscheinlichkeiten vom Versicherungsnehmer an die Versicherer vollzieht. Dieser Vorgang entsteht durch das Versprechen des Versicherers, Versicherungsleistungen nach Eintritt von Versicherungsfällen zu gewähren. Das Kollektiv der Versicherungsnehmer und der Faktor Zeit ermöglichen den Versicherungen die Übernahme der Schadenswahrscheinlichkeiten. Die Spargeschäfte entstehen aus laufenden oder einmaligen Sparbeiträgen. Es entsteht dabei die Verpflichtung, aus angesammeltem Sparkapital Zins- und Kapitalauszahlungen zu leisten. Laut Farny sind einige Versicherungszweige rechtlich und/oder faktisch mit Spar- oder Entspargeschäften verbunden (Lebensversicherung, Rentenversicherung etc.). Das Dienstleistungsgeschäft umfasst den Absatz der Versicherungsprodukte, die Beratung vor und nach dem Kauf, die Vertrags- und die Schadensbearbeitung. Das Dienstleistungsgeschäft unterstützt das Risiko- und das Spargeschäft, um es damit für den Marktverkehr handhabbar zu machen (vgl. Farny 2000, S. 22, vgl. Abb. 3.1). Als Glückspielcharakter sieht wiederum Helten die Versicherungsleistung der Versicherungsgesellschaften, da es zu Zahlungen nur in einem Schadenfall kommt, jedoch bei schadenfreiem Versicherungsverlauf keine Prämienrückzahlungen zu erwarten sind. Somit werden Zahlungen der Versicherungen häufig mit negativen Ereignissen assoziiert. Ausgenommen sind hiervon die Erlebensfallleistungen. Infolgedessen kann eine Tendenz zum moralischen Risiko- beziehungs-
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Robert Brajak/Nicolai De Marco
weise Versicherungsbetrug entstehen oder sich die Grundhaltung einstellen, Versicherungen seien legaler Betrug (vgl. Helten 1986, S. 4 ff.). VERSICHERUNGSUNTERNEHMEN Risikogeschäft • Übernahme einer WahrScheinlichkeitsverteilung von Schäden
VERSICHERUNGSNEHMER VERWENDUNG VON VSCHUTZ
Gesamtversicherungsgeschäft
Risikogeschäft • Abgabe einer Wahrscheinlichkeitsverteilung von Schäden Sicherung der Wirtschaftslage durch
• Risikodeckung durch – Annahme Vschutzversprechen
– Abgabe Vschutzversprechen – Gewährung von VLeistungen nach Eintritt von Vfällen • Risikoausgleich im Kollektiv und in der Zeit Spar-/Entspargeschäft • LebensV, KrankenV, UnfallV mit Prämienrück-Gewähr • Durchführung von planmäßigen verzinslichen Spar-/Entsparprozessen Dienstleistungsgeschäft Interne (innerBetriebliche Leistungen)
Risikotransfer
– Empfang von VLeistungen nach Eintritt von Vfällen zum Ausgleich von Schäden (Mittelbedarf)
Spar-Entspargeschäft (LebensV, KrankenV, UnfallV mit Prämienrück Gewähr)
Transfer Spar-/Entspargeschäft
• planmäßige, verzinsliche Kapitalbildung bzw. Kapitalverzehr
Dienstleistungsgeschäft
externe ( Kundenbezogene Leistung)
Beratungsleistungen zum Risikogeschäft, Spar-/ Entspargeschäft und zur Abwicklung
Transfer Dienstleistungen
Abwicklungsleistungen zum Risiko, Spar-/ Entspargeschäft in den Funktionen Leistungserstellung (Vertrags-, Schadensbearbeitung) und Absatz
Empfang von Beratungsund Abwicklungsleistungen Zum Risiko- und Spar-/Entspargeschäft
Quelle: Farny 2000, S. 23
Abb. 3.1: Versicherungsschutzkonzept nach Farny
3 Besonderheiten von Versicherungsleistungen Immaterialität Der Versicherungsschutz besteht aus einem rein rechtlich fixierten Leistungsversprechen, welches für die komplette Dauer des Versicherungsvertrages gilt. Dieses Leistungsversprechen tritt aber für den Versicherungsnehmer erst dann in Erscheinung, wenn ein definierter Versicherungsfall mit der dafür vorgesehen Leistung eintritt (vgl. Puschmann 2003, S. 14). Die Versicherer beschränken sich bei ihren Produktdarbietungen im Regelfall auf abstrakte Leistungsbeschreibungen. Die Inhalte der Leistung sind sehr komplex und ihr Nutzen ist für die Versicherungsnehmer durch die zeitliche Differenz zwischen Vertragsabschluss und Leistungserstellung nicht sichtbar (vgl. Schulenberg 2003, S. 8). Somit sind Versicherungen vor ihrem Abschluss für den Kunden physisch nicht greif- und wahrnehmbar. Anders als bei einem Konsum- oder Gebrauchsgut, bei denen vor dem Kauf das Produkt konkret greifbar ist und betrachtet werden kann, ist eine Leistungsbeurteilung selbst nach dem Kauf einer Versicherung überwiegend nicht möglich; des-
3 Besonderheiten und Systematisierung von Versicherungsleistungen
47
halb sind die persönlich wahrgenommenen Kaufwiderstände bei Versicherungen höher (vgl. Kühlmann et al. 2002, S. 23). Dienstleistungen gelten als Vertrauensgüter; folglich haben der immaterielle Charakter und die erhöhten Kaufwiderstände von Versicherungen weitreichende Auswirkungen auf das Marketing. Versicherungsmarketing erfordert im Gegensatz zu Marketing von Sachgütern ein spezielles Marketing, bei dem ausgewählte Qualitätsindikatoren als Ersatzmerkmale für die fehlende physische Gestalt eines Leistungsversprechens fungieren, um die produktimmanente größere Kaufunsicherheit bei Versicherungsdienstleistungen abzubauen (vgl. Kühlmann et al. 2002, S. 22, vgl. Abb. 3.2). Unterschiedliche Bewertungssicherheiten bei Sachgütern und Dienstleistungen Sachgutcharakter
Dienstleistungscharakter
Überwiegend experience qualities
• Fernsehreparatur • Autoreparatur • Versicherungsleistungen • Rechtsberatung • Mediznische Beratung
• • • • • •
• • • • • Überwiegend search qualities
Restaurantessen Urlaub Reisen Friseur Kinderbetreuung Finanzdienstleistung
schwerer zu bewerten
Kleidung Edelsteine Möbel Häuser Autos
leichter zu bewerten
Überwiegend credende qualities
Quelle: Kühlmann et al. 2002, S. 24
Abb. 3.2: Unterschiedliche Sicherheiten bei Sachgütern und Dienstleistungen
Problembehaftes Image Mit der Verdrängung des Gemeinnützigkeitsprinzips durch das Gewinnmaximierungsprinzip der Versicherer und die später folgende Einführung von Provisionszahlungen an Versicherungsvermittler begannen die bis heute andauernden Imageprobleme. Des Weiteren ist das Eintreten eines Schadenfalles/Leistungsfalles häufig mit einem Unglück verbunden, woraus negative Assoziationen zu dem Produkt entstehen. Selbst beim Aufzeigen von konkretem Versicherungsbedarf entstehen sehr leicht negative Assoziationen, welche das Image des Produktes Versicherung verschlechtern. Eine bedeutende Auswirkung für die Versicherer ist, dass eine negative Einstellung zum Versicherungsprodukt die Neigung zum Versicherungsbetrug erhöht (vgl. Görgens 2002, S. 32).
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Robert Brajak/Nicolai De Marco
Versicherungen sind sowohl High-Involvement- als auch Low-Interest-Produkte mit einem abstrakten Nutzenwert für den Kunden, da der Nutzen aus einem Vertrag, im Gegensatz zum Beispiel bei Luxusgütern, nicht sinnlich wahrnehmbar ist oder nicht den Erlebniswert etwa einer Reise bietet (vgl. Bruhn 2000, S. 23). Kein Patentschutz Innovationen in der Versicherungswirtschaft können nur beschränkt vor einer Nachahmung durch andere Versicherer geschützt werden. Sie werden nicht vom Paten-, Urheber- oder Wettbewerbsrecht erfasst und sind deswegen leicht zu imitieren. Die Art der Produktion einer Versicherung und das dazugehörige Knowhow unterstützen diesen Umstand sogar (vgl. Köhne 2008, S. 33). Eine Möglichkeit, um die Risiken einer Nachahmung zu begrenzen, bietet bestenfalls das Markenrecht. Hier gilt es jedoch zu beachten, dass nur die Bezeichnung eines Versicherungsproduktes und Werbeideen geschützt werden können (vgl. Görgens 2002, S. 149). Erklärungsbedürftigkeit Sowohl die sehr umfangreichen und komplexen Vertragsinhalte als auch die juristisch ausformulierten Vertragsklauseln sind für Versicherungsnehmer sehr erklärungsbedürftig (vgl. Puschmann 2003, S. 14). Versicherungen werden aufgrund dessen von der Mehrzahl der Versicherungsnehmer selten vollständig verstanden. Langfristige vertragliche Bindung Die Laufzeiten von Versicherungsprodukten können über mehrere Jahrzehnte gehen (zum Beispiel bei Renten- und Lebensversicherungen). Für die Versicherungsnehmer entstehen daher Entscheidungsprobleme beim Vertragsabschluss und für die Versicherer mündet die langfristige Bindung in entsprechend lange Serviceverpflichtungen, mit einer daraus resultierenden Verantwortung (vgl. Puschmann 2003, S. 15). Unerkennbarer Bedarf In den meisten Fällen haben Versicherungsnehmer sehr geringe Vorstellungen über den Bedarf von Versicherungsschutz; eine gute Einschätzung gelingt allenfalls Gewerbekunden (vgl. Puschmann 2003, S. 14). Der Bedarf nach einem Versicherungsschutz wird von den meisten Versicherungsnehmern verdrängt, obwohl er objektiv begründet und auch gegeben ist. Rechtliche Beschränkungen Durch das Versicherungsaufsichtsgesetz, in dem eine Gewährleistung der Versicherungsverträge und Verbraucherschutz gefordert wird, gibt es rechtliche Beschränkungen für Versicherungen. Sowohl die Spartentrennung, das Verbot von versicherungsfremden Leistungen, die geforderte Einhaltung des Grundsatzes der Gleichbehandlung, als auch die Kapitalvorschriften (Solvency II) schränken die Produkt- und Leistungserstellung der einzelnen Versicherer ein. Des Weiteren schränkt das Verbot der Vergabe von Sondervergütungen an Versicherungsneh-
3 Besonderheiten und Systematisierung von Versicherungsleistungen
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mer, das Provisionsabgabeverbot sowie das Verbot von Begünstigungsverträgen die Möglichkeiten der Versicherer in der Preispolitik stark ein. Zusätzlich gilt es zu erwähnen, dass Versicherer einer ständigen Berichterstattung an die Aufsichtsbehörde unterliegen. Ebenfalls von großer Bedeutung sind schliesslich die politisch initiierten, zukünftigen Gesetzesänderungen. Produktion Da der Versicherer bereits beim Abschluss eines Versicherungsvertrages auf eine Auskunft und die Informationsbereitschaft des Kunden angewiesen ist, lässt der mitwirkende Faktor des Kunden keine Produktion auf Vorrat zu. Die dafür nötigen Ressourcen verursachen erhebliche Kosten; darunter fallen nicht nur die Kosten der Verwaltung, verursacht durch die Antragsprüfung und die Policenfertigung, sondern auch die Kosten für beispielsweise die Mit- und Rückversicherung (vgl. Puschmann 2003, S. 15). Nach Kühlmann et al. ist bei Dienstleistungen zugleich eine Synchronität bei der Leistungserstellung, das heisst eine Zeitgleichheit von Leistungserstellung und Leistungsinanspruchnahme gefordert. In diesem Zusammenhang wird auch vom „Uno-actu-Prinzip“ gesprochen. Der externe Faktor stellt besonders hohe Anforderungen an die Flexibilität des Anbieters von Versicherungsdienstleistungen (vgl. Kühlmann et al. 2002, S. 21). Erst mit einem Risikoausgleich im Kollektiv und der Erfüllung des „Gesetzes der Großen Zahl“ wird die Produktion von Versicherungsschutz realisierbar. Aufgrund dessen und um eine Minimierung von Fixkosten pro Vertrag zu erreichen, sind Versicherer stetig bemüht, ihren Absatz zu forcieren (vgl. Kühlmann et al. 2002, S. 32). Allerdings sind die Kapazitäten von Versicherern nicht unbegrenzt, da sie sich auch hier an Eigenkapitalvorschriften und möglichen Mit- und Rückversicherern orientieren müssen. Assistanceleistungen „Assistance-Geschäfte sind Hilfs-, Beistands-, Notfall-, Problemlösungs-, Serviceund ähnliche Leistungen in bestimmten Situationen. Herkunft, Entwicklungslinien und derzeitige Situation der Assistance-Geschäfte sind komplex; deshalb ist auch ihre Verbindung zum Sortiment von Versichern (noch) nicht ganz klar. Einerseits bestehen enge Beziehungen zu Versicherungsgeschäften. Die Schadensbearbeitung nach Eintritt von Versicherungsfällen umfaßt außer den Geldzahlungen für Versicherungsleistungen häufig weitere Hilfs-, Beistands- und Serviceleistungen. Weiter gibt es Versicherungsgeschäfte, die unmittelbar Kosten von Assistanceleistungen versichern, zum Beispiel die Versicherung von Beistandsleistungen (Schutzbriefversicherung), oder die bestimme Kosten im Zusammenhang mit Versicherungsfällen ersetzen, wie in vielen Sparten der Sachversicherung und in der Krankenversicherung. Andererseits gibt es Assistance-Geschäfte, die mit Versicherungsgeschäften keine oder nur geringe Zusammenhänge aufweisen, wie beispielsweise Auskunftsdienste über Wetter oder Verkehrsverhältnisse“ (Farny 2000, S. 350).
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4
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Marktsegmentierung und Systematisierung der Versicherungsleistungen
Das Zusammenwirken von Marketing und den Versicherungssparten ergibt sich in Fragen der Produktgestaltung, der Tarifierung und der Annahmepolitik. Kern der Marketingfunktion in einer solchen Organisationsform ist es, Zielgruppen-Knowhow und eine gute Kenntnis der Marketinginstrumente und -methoden in den Entscheidungsprozess einzubringen. Eine Form der Systematisierung von Versicherungskonzernen ist die Einteilung nach privatem und gewerblichem Geschäft. Folgende Differenzierung ist üblich: • • • • • • •
Privatkunden, Geschäftskunden, Young Potentials, vermögende Privatkunden, Freiberufler, Handel und Industrie.
Eine weitere Systematisierung erfolgt in den Geschäftsfeldern der Unternehmen nach: • • • • •
Sachversicherungen, Lebensversicherungen, Krankenversicherungen, Bausparkassen und Industrieversicherung.
Durch die Differenzierung der Geschäftsfelder besteht danach die Möglichkeit, den Markt mehrfach zu bearbeiten und den unentdeckten Kundenbedarf mehrfach zu wecken. Infolgedessen erfolgt eine aktiv strukturierte Analyse jedes einzelnen Kunden und dadurch die maximale Auslastung der Bedürfnisanalyse. Denn nur durch Deckung des Bedarfes und die Zufriedenheit des Kunden entsteht eine längerfristige Bindung an das betreffende Versicherungsunternehmen.
5
Zusammenfassung
Abschließend gilt es festzuhalten, dass die Besonderheiten der Versicherungsleistungen nicht grundsätzlich verkaufsfördernd wirken und daher eine große Herausforderung für das Versicherungsmarketing darstellen. Da Versicherungen aufgrund ihrer Immaterialität, der hohen Erklärungsbedürftigkeit, dem schlechten Image der Versicherer und dem schlechten Image des Produktes per se beim Versicherungsnehmer beziehungsweise dem zukünftigen Kunden oftmals hohe Kaufwiderstände auslösen, ist es wichtig, beim Versicherungsmarketing darauf zu achten, dass ein gutes Image erstellt wird, um das Vertrauen der Zielgruppe zu
3 Besonderheiten und Systematisierung von Versicherungsleistungen
51
gewinnen und so die Kaufwiderstände und die Bereitschaft zum Versicherungsbetrug abzubauen. Unterstützend hierzu sollte das Marketing die Qualität des Leistungsversprechens in den Vordergrund stellen und ein Quality-Management errichten, um langfristig hohe Qualität zu garantieren und so die Besonderheit einer langfristigen vertraglichen Bindung zu berücksichtigen. Aufgrund des latenten Versicherungsbedarfes und des externen Faktors sollte es eine weitere Aufgabe des Versicherungsmarketing sein, den Versicherungsbedarf zu wecken beziehungsweise die Versicherungsnehmer entsprechen aufzuklären. Durch die gesetzlich hervorgerufenen Beschränkungen im Bereich der Produktinnovationen und der zunehmenden Homogenisierung einzelner Versicherungsprodukte, bilden Assistance-Leistungen für das Versicherungsmarketing eine Möglichkeit, sich von der Konkurrenz abzusetzen. Eine spezielle Kundenstrategie hilft besonderes im gesättigten Versicherungsmarkt, neue Kunden zu generieren und den bestehenden Versicherungsbestand auszubauen. Es ist von großer Bedeutung, flexibel am Markt zu agieren, um auf politisch initiierte zukünftige Gesetzesänderungen oder aufkommende Versicherungstrends zu reagieren und die Produkte den Kundenwünschen anzupassen. Versicherer, die die Distanz und Diskrepanz zwischen dem Kunden minimieren möchten, müssen durch gezielten strategischen Einsatz der Marketinginstrumente Lösungsansätze finden.
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Literatur Bruhn, M.: Qualitätssicherung im Dienstleistungsmarketing – eine Einführung in die theoretischen und praktischen Probleme, in: Bruhn, M./Stauss, B. (Hrsg.): Dienstleistungsqualität - Konzepte – Methoden – Erfahrungen, 3. Aufl., Wiesbaden 2000. Esser, M.: Assistance in der Versicherungswirtschaft – Ein marketingorientierter Ansatz zur Unternehmenserweiterung, Karlsruhe 2004. Farny, D.: Versicherungsbetriebslehre, 3. Aufl., Karlsruhe 2000. Farny, D.: Versicherungsbetriebslehre, 4. Aufl., Karlsruhe 2006. Görgen, F.: Versicherungsmarketing, Stuttgart 2002. Görgen, F.: Versicherungsmarketing – Strategien, Instrumente und Controlling, 2. Aufl., Stuttgart 2007. Helten, E.: Versicherung – Solidarhilfe oder Glückspiel?: Gedanken zum Selbstverständnis und Ansehen der Versicherung, Mannheimer Manuskripte Nr. 17 des Instituts für Versicherungswissenschaft der Universität Mannheim, Mannheim 1986. Hujber, T.: Werbung von Versicherungsunternehmen – Eine Analyse der versicherungsspezifischen Besonderheiten, Wiesbaden 2005. Köhne, T. (Hrsg.): Produktinnovationen in der deutschen Versicherungswirtschaft, Karlsruhe 2008. Krausz, S.: Strategische Unternehmenspolitik von Erstversichern unter Verbindung von Zielgruppen-Marketing und Kernkompetenz-Management, in: Leipziger Schriften zur Versicherungswirtschaft, Heft. 4, Koch, G./Wagner, F. (Hrsg.), Karlsruhe 2002. Kühlmann, K/Käßler-Pawelka, G./Wengert, H./Kurtenbach, W.: Marketing für Finanzdienstleistungen – Mit Besonderheiten für Banken, Versicherungen, Bausparkassen und Investmentfonds, Frankfurt am Main 2002. Kurtenbach, W.: Versicherungsmarketing, Frankfurt am Main 1981. o.V.: Versicherungsgesetze, http://www.versicherungsgesetze.de/versicherungsvertragsgesetz2009/1_Vertragstypische_Pflichten.htm (letzter Abruf am 13.07.09). Puschmann, K.-H.: Praxis des Versicherungsmarketing, 2. Aufl., Karlsruhe 2003. Schulenberg, J.-M. (Hrsg.): Kundenbindungsmanagement für Versicherungsunternehmen, Göttingen 2003. Zweifel, P. /Eisen, R.: Versicherungsökonomie, Berlin 2000.
Kapitel 4 Rechtsrahmen des Versicherungsmarketing Dr. Jens Gal
1
Einführung
Gesetze und das Recht im Allgemeinen strahlen in alle Lebensbereiche aus, wobei sie auch die Freiheit des Einzelnen – sei es ein Individuum oder ein Unternehmen – gestalten und definieren. Von dieser Grundregel macht auch das Marketing keine Ausnahme. Es ist zunächst auffällig, dass der Begriff des Marketing zwar in einer Vielzahl gesetzlicher Vorschriften verwendet,1 aber, soweit ersichtlich, an keiner Stelle legal definiert wird. Der Gesetzgeber setzt den Begriff des Marketing vielmehr voraus und überlässt es der wirtschaftswissenschaftlichen Lehre und Praxis ihn auszugestalten2. Dieses stellt jedoch keinen „Freibrief“ dar, da zwar das Marketing als umfassender Sammelbegriff nicht definiert und reglementiert ist, aber viele seiner Einzelbestandteile Gegenstand einer extensiven gesetzlichen Normierung sind. Insofern besteht also zwar die Freiheit ein Marketingkonzept selbstbestimmt zu entwerfen, es muss aber stets bedacht werden, dass die Implementierung einzelner Maßnahmen ein Gesetzesgebot oder -verbot missachten und hierdurch verwaltungsrechtliche, strafrechtliche oder zivilrechtliche Folgen nach sich ziehen kann.
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2
Ein großer Teil dieser, den Begriff des Marketing verwendenden Normen findet sich in Ausbildungsverordnungen, in denen das Marketing als Teil des Ausbildungsstoffes aufgeführt wird, siehe bspw.: § 4 Abs. 4 Nr. 2 AusbildungsVO Kaufmann für Versicherungen und Finanzen; § 3 Nr. 2.2 BankKfmAusbV; § 3 Nr. 4.5 AutoKfAusbV. In diesem Beitrag erfolgt ein Zitieren, wie in den Rechtswissenschaften üblich, ausschließlich in Fußnoten. Inwieweit dies der Betriebswirtschaft bisher gelungen ist, mag bezweifelt werden. Tatsächlich scheint aber eine abschließende, trennscharfe Definition auch gar nicht notwendig, da man im Marketing vorrangig eine Denkhaltung sieht; vgl. zum Ganzen bspw. Kotler u.a., Marketing Management – European Edition, 1. Auflage (2009), S. 6 f.; Pepels, Hdb. des Marketing, 5. Auflage (2009), S. 21 ff.
M.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing, DOI 10.1007/978-3-642-10276-9_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
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Dr. Jens Gal
Neben dieser Eigenschaft als Steuerungsinstrument, das dem Marketing regulatorisch einen Handlungsrahmen steckt, spielt das Recht im Absatzwesen aber auch dahingehend eine Rolle, dass rechtliche Rahmenbedingungen den betrachteten Markt beeinflussen oder sogar (mit-)definieren. Für das Versicherungsmarketing kommt diesen beiden Eigenschaften eine noch größere Bedeutung zu als in anderen Sektoren, da es sich bei der Versicherung um ein „Rechtsprodukt“3 handelt, welches nicht außerhalb des Rechtes bestehen kann (anders als beispielsweise ein physischer Gegenstand). Eine wirksame Versicherungsmarketingstrategie setzt insofern auch zwangsläufig voraus, dass diese Wechselwirkung des Rechts und des Produkts nicht vollständig vernachlässigt, sondern möglichst zu einem frühen Zeitpunkt – also nicht erst zum Zeitpunkt der operativen Umsetzung von Aktivitäten im Markt – miteinbezogen wird.
1.1
Recht als erheblicher Makrofaktor
Im strategischen Versicherungsmarketing, dieses haben gerade die letzten Jahre gezeigt, kann dem Recht als Determinante des Makroumfeldes kaum zu viel Bedeutung beigemessen werden. So sind beispielsweise im Rahmen einer SWOTAnalyse4 bevorstehende rechtliche Änderungen – seien sie schon beschlossen oder noch im ungewissen – meistens doppelerheblich, da sie oftmals zwar ein Risiko (threat) für die gegenwärtige Marktpositionierung darstellen, aber gleichzeitig auch eine Chance (opportunity) zur effizienten Repositionierung eröffnen. Als eines der einprägsamsten Beispiele der letzten Jahre mag die Reaktion der Lebensversicherer auf die durch das Alterseinkünftegesetz5 eingeführte Besteuerung der Erträge von kapitalbildenden Lebensversicherungen gesehen werden. In dieser Aufhebung der steuerrechtlichen Vorteile der kapitalbildenden Lebensversicherung war das Risiko begründet, dass potentielle Versicherungsnehmer ihre Altersvorsorge vermehrt auf andere Finanzprodukte aufbauen würden – sei dies die staatlich geförderte „Riester-Rente“ (von der letztlich auch die Lebensversicherer profitiert hätten) oder vom Bankengewerbe angebotene Kapitalanlageprodukte. Gleichzeitig lag im Alterseinkünftegesetz auf Grund seiner Übergangsregelung, die eine Versteuerung nur für Verträge vorsah, die ab dem 01.01.2005 3 4
5
Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt (1991), insb. S. 145 ff. Vgl. zum Begriff der SWOT-Analyse (interne Faktoren: strengths und weaknesses; externe Faktoren: opportunities und threats) bspw. Kotler u.a., Marketing Management – European Edition, 1. Auflage (2009), S. 101 ff.; 849 f.; Reinbacher, OrganisationsEntwicklung 2009, S. 72 ff. Gesetz zur Neuordnung der einkommenssteuerrechtlichen Behandlung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersbezügen vom 05.07.2004, BGBl. 2004-I, S. 1427 ff.; vgl. hierzu bspw. Schröder, Die neue Rentenbesteuerung (2005), S. 52 ff.; Preißer/ Sieben, Die Neuordnung der Besteuerung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersvorsorgebezügen (2005), S. 81 ff.
4 Rechtsrahmen des Versicherungsmarketing
55
abgeschlossen wurden, aber auch eine (zumindest kurzfristige) Chance für die klassische kapitalbildende Lebensversicherung eine überproportionale Anzahl von Neukunden zu akquirieren. Diese Chance wurde von den meisten Lebensversicherern auch gesehen, was sich in einem Zuwachs von 34,7% beim Neuabschluss von Lebensversicherungen im Geschäftsjahr 2004 im Vergleich zum Vorjahr zeigt.6 Vergleichbare Beispiele ließen sich gerade im Rahmen der VVG-Reform noch zuhauf bringen. Auch die durch Solvency-II bevorstehende Reform des Versicherungsaufsichtsrechts wird eine Vielzahl von Chancen und Risiken begründen.7 Chancen und Risiken sind aber eben nicht nur in den bahnbrechenden Gesetzreformen sondern auch in kleinen Änderungen zu sehen. Noch deutlicher als im nationalen Geschäft zeigt sich die marktdefinitorische Funktion des Rechts bei Auslandsgeschäften. Hier stellen politisch-rechtliche Transformationen – beispielsweise von einer zentralen Planwirtschaft hin zu einem liberalen, kapitalistischen Wirtschaftsmodell oder aber von einem solchen hin zur Verstaatlichung – bedeutende Marktchancen und -risiken dar.8 Es ist gerade die Dynamik des rechtlichen (und gesellschaftlichen) Umfeldes die im Zusammenspiel mit der zunehmenden Wettbewerbsintensität auf dem Versicherungsmarkt das Streben nach Produktinnovationen und -variationen beinahe zu einer Überlebensfrage machen.9
1.2
Recht als Steuerungsrahmen
Neben diesem indirekten Einfluss des Rechts, bei dem das Recht als einer der Betrachtungsgegenstände des Marketing erscheint, wirken Gesetze auch imperativ auf das Marketing. In dieser Funktion steckt das Recht dem Marketing seinen Handlungsrahmen, indem ein bestimmtes Tun verlangt oder untersagt wird. Gleichwohl kann die Grenze zwischen diesen beiden Aspekten des Rechts im 6
7
8
9
Siehe GDV, Geschäftsentwicklung 2004 – Die deutsche Lebensversicherung in Zahlen (2005), S. 6. In diesem überproportionalen Zuwachs der Neuabschlüsse war seinerseits wieder ein Risiko zu sehen, welches sich dann 2005 mit einem Rückgang der Neuzugänge um 39% verwirklichte, siehe GDV, Geschäftsentwicklung 2005 – Die deutsche Lebensversicherung in Zahlen (2006), S. 6. Siehe bspw. (allerdings nur für kleine Versicherer) Nießen, Risiko-Manager 2009, Heft 15, S. 12 ff.; (für Rückversicherer) Schneider, in: Gründl/Perlet, Solvency II & Risikomanagement (2005), S. 399, 409 ff. Für instruktive Beispiele, wie sich diese Chancen und Risiken darstellen, siehe Görgen, Versicherungsmarketing, 2. Auflage (2007), S. 115 f.; ders./Wiebe, ZfV 2003, S. 750 ff. (zum russischen Versicherungsmarkt); Grimm, ZfV 2005, S. 818 ff. (zum chinesischen Versicherungsmarkt); Greiner/Freymuth, ZVersWiss 1999, S. 99 ff. (zum brasilianischen Versicherungsmarkt). S[urminski], ZfV 2005, 235, Görgen, Versicherungsmarketing, 2. Auflage (2007), S. 143.
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Dr. Jens Gal
Marketing nicht klar gezogen werden. Letztlich ist jeder an die Gesamtheit der Rechtsunterworfenen gerichtete gesetzliche Befehl auch wieder in die Dichotomie von Chancen und Risiken auflösbar. Zudem sind Gesetze nicht selbstvollstreckend, sodass es für sich genommen legitim ist, sich zu fragen, ob es marktbezogen effizienter erscheint, sein Handeln an dem jeweiligen Gesetz auszurichten oder dieses zu missachten. Gerade im Versicherungssektor, dessen wertvollste Divise das Vertrauen ist, erscheint jedoch eine bewusste Übertretung des rechtlichen Handlungsrahmens als ausgesprochen riskant. Hier ist eben neben den vom jeweiligen Gesetz vorgesehenen Rechtsfolgen und den eventuellen Folgen der Missstandsaufsicht durch die BaFin (bis hin zum Widerruf der Erlaubnis zum Geschäftsbetrieb10) auch zu beachten, dass ein gesetzesuntreuer Versicherer bei potentiellen Versicherungsnehmern kaum Vertrauen in seine vertragliche Verlässlichkeit induzieren wird. In vielen Fällen wird das gesetzliche Ge- oder Verbot jedoch nicht so scharf umrissen sein, dass sich dem Versicherungsunternehmen zwingend nur die bewusste Entscheidung zwischen Beachtung und Verstoß stellt – wobei der Versicherer aus den obengenannten Gründen im Zweifel immer zu gesetzeskonformem Verhalten tendieren sollte. Vielmehr arbeiten Gesetze gerade auch in den für das Marketing relevanten Bereichen vielfach mit sogenannten Generalklauseln beziehungsweise mit unbestimmten Rechtsbegriffen,11 also solchen Normen mit einem sehr weiten Tatbestand der durch die Rechtsprechung zu konkretisieren ist. Als marketingrelevantes Beispiel mag hier § 3 Abs. 1 UWG dienen, der „unlautere geschäftliche Handlungen“ für unzulässig erklärt. Zwar erklärt das Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb im Folgenden einige Praktiken explizit für unlauter, was aber letztlich nicht im Umkehrschluss heißt, dass nicht aufgeführte Praktiken nicht gleichwohl als unlauter zu bewerten sein könnten.12 Es ist insofern am jeweiligen Rechtsunterworfenen – also am Versicherungsunternehmen – im Voraus zu untersuchen, ob die von ihm geplanten Maßnahmen als unlauter angesehen werden könnten.13 Zudem ist zu beachten, dass das Recht nicht statisch, sondern dynamisch ist.14 Zugespitzt gesagt, kann der Rechtsverstoß der Gegenwart der Industriestandard der Zukunft sein. So verstanden, kann es auch die Aufgabe des Marketing sein, 10 11
12
13
14
Vgl. § 87 VAG, vertiefend bspw. Kollhosser, in: Prölls (2005), § 87, Rdn. 1 ff. Siehe zur Funktionsweise von Generalklauseln bspw. Roth in MünchKommBGB (2007), § 242, Rdn. 1 ff., 21 ff. Piper, in: Piper/Ohly, 4. Auflage (2006), § 3 UWG, Rdn. 9, 28 f.; Sosnitza, in: MünchKommLauterkeitsR (2006), § 3, Rdn. 57 ff. Zur Problematik dieser Unvorhersehbarkeit der richterlichen Konkretisierung gerade im Versicherungssektor Nordemann, ZVersWiss 1995, S. 129, 134. Sehr verkürzt kann man sagen, dass eine optimale Rechtsordnung einen bestmöglichen Ausgleich zwischen Konstanz und Dynamik herstellen muss, da Konstanz das Grundbedürfnis der Rechtssicherheit befriedigt und die Dynamik jenes der Einzelfallgerechtigkeit und die Notwendigkeit der Anpassung des Rechts an veränderte gesellschaftliche Bedingungen.
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eine Änderung der Rechtsauffassung zu antizipieren und im Wege von Pionierarbeit die Graubereiche bestimmter Normen auszuloten und dadurch auch den Handlungsradius für die gesamte Industrie genauer zu definieren. So war beispielsweise bis Ende der 90iger Jahre in Deutschland vergleichende Werbung grundsätzlich untersagt.15 Durch die Weiterverwendung des Instruments der vergleichenden Werbung durch einige Wettbewerber in unterschiedlichen Industriezweigen wurde jedoch eine differenzierende Rechtsprechung angestoßen, die einen Vergleich zumindest dann für zulässig hielt, wenn die Produkte sachlich vergleichbar waren, ein hinreichender Anlass zum Vergleich bestand und sich die Angaben nach Art und Maß in den Grenzen des Erforderlichen und der wahrheitsgemäßen sachlichen Erörterung hielten.16 Letztlich führten diese Pioniertätigkeiten einiger Teilnehmer auch zur Änderung der Rechtslage, sodass vergleichende Werbung heute nur noch unter eingeschränkteren Bedingungen untersagt ist17. Umgekehrt kann sich aber auch ein bisheriger Industriestandard in einen Rechtsverstoß verkehren. So war es beispielsweise lange Zeit Gang und Gebe, dass Versicherungsunternehmen potentielle Versicherungsnehmer durch das Versprechen einer Provision zum Abschluss von Gruppenversicherungen zu bewegen suchten. 18 Das Problem lag hierbei darin, dass der Versicherungsnehmer (auch als Gruppenspitze bezeichnet) bei bestimmten Konstellationen eines Gruppenversicherungsvertrags nur ein untergeordnetes eigenes Interesse am Vertrag hat, während die Hauptbetroffenen die Versicherten sind. In der Hingabe von Provisionen war insofern die Gefahr begründet, für Versicherungsnehmer (häufig Arbeitgeber) einen Anreiz zum Abschluss eines Vertrages zu setzen, der für seine Arbeitnehmer eher ungünstig ist, und diese unter Ausnutzung des besonderen Vertrauensverhältnisses zum Beitritt zur Gruppe und letztlich zur Zahlung der Prämien zu bewegen. Auch aus diesen Gründen wurde 1934 durch die Versicherungsaufsicht ein Provisionsverbot eingeführt, welches letztlich den einstigen Industriestandard auf einen
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St. Rspr. siehe ausführlich BGHZ 138, 55 (Testpreis-Angebot). BGH, GRUR 1986, S. 618, 620 (Vorsatz-Fensterflügel); BGH, NJW 1989, S. 2326, 2337 (Generikum-Preisvergleich); BGH, GRUR 1996, S. 502, 506 (EnergiekostenPreisvergleich). Für versicherungsrelevante Beispiele siehe: LG Magdeburg, WRP 2003, S. 548 (Vergleich privater und gesetzlicher Krankenversicherungen); OLG Köln, NVersZ 2000, 543 (Tarifgegenüberstellung privater Haftpflichtversicherer). § 6 UWG; einführend hierzu Ohly, in: Piper/Ohly, 4. Auflage (2006), § 6 UWG, Rdn. 39 ff.; ausführlich Menke, in: MünchKommLauterkeitsR (2006), § 6, Rdn. 100 ff. Vgl. Herdter, Der Gruppenversicherungsvertrag – Manuskript; siehe ferner Kollhosser, in: Prölss, Versicherungsaufsichtsgesetz, 12. Auflage (2005), § 81, Rdn. 69 ff.
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Schlag unzulässig machte.19 Vor einem ähnlichen Problem sehen sich Versicherer auch durch die Reform des VVG, durch welche das bisher übliche Vertragsabschlussmodell, das Policenmodell, durch einen Federstrich des Gesetzgebers obsolet wurde.20
2
Ausgewählte Rechtsbereiche
Im Folgenden sollen solche Rechtsbereiche dargestellt werden, die das Versicherungsmarketing typischerweise tangiert. Die Darstellung kann hierbei systembedingt nur exemplarisch sein: Da es sich beim Marketing um eine ganzheitliche Denkhaltung handelt,21 kann Marketing begriffsnotwendig mit einem so breiten Spektrum des Rechts in Berührung kommen, dass dessen Darstellung jeden Umfang sprengen würde. Beispielsweise könnte man sich aus Marketinggesichtspunkten fragen, welche Rechtsform ein Versicherungsunternehmen wählen sollte.22 Unter Anwendung des deutschen Rechts würde diese Frage des Versicherungsunternehmensrechts durch § 7 VAG zu einem gewissen Grad determiniert, da nur Aktiengesellschaften,23 Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit und öffentlich-rechtliche Körperschaften oder Anstalten zum Betrieb des Versicherungsgeschäfts zugelassen werden dürfen.24 In anderen Rechtsordnungen mag der numerus clausus – wenn es einen solchen überhaupt gibt – der zulassungsfähigen Rechtsformen hingegen weitaus umfangreicher sein. Aus Marketinggesichtspunkten erscheint neben den Fragen der Kapitalbeschaffung und der Entscheidungs19
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Siehe hierzu Richtlinien über Sondervergütungen und Begünstigungsverträge in der Krankenversicherung vom 11.06.1934 in der Fassung der Rundschreiben vom 26.02.1953 (VerBAV 1953 S. 44 ff.) und 09.05.1955 (VerBAV 1955 S. 151 ff.) sowie des Schreibens des BAV an den Verband der privaten Krankenversicherung e. V. vom 25.09.1959 und des Rundschreibens R 4/64 (VerBAV 1964 S. 130); Rundschreiben R 2/97 (VerBAV 1997, S. 154 f.). Zur Abschaffung des Policenmodells und zu Alternativmodellen: Herrmann in Bruck/Möller, 9. Auflage (2008), § 7 VVG, Rdn. 63 ff.; Wandt, Versicherungsvertragsrecht, 4. Auflage (2009), Rdn. 288 ff. Kotler u.a., Marketing Management – European Edition, 1. Auflage (2009), S. 6 f.; Pepels, Hdb. des Marketing, 5. Auflage (2009), S. 21 ff. Allgemein zur Marketingrelevanz der Rechtsformwahl T. Zerres, Marketingrecht (2002), S. 37 f.; ders., Rechtsrahmen des Marketing (2002), S. 207 ff.; M. Zerres, Marketingstrategie und Rechtsrahmen (1999), S. 191 f. Hierunter fällt auch die Societas Europea (SE); Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 des Rates vom 08. Oktober 2001 über das Statut der Europäischen Gesellschaft (SE), ABl. Nr. L 294, S. 1. Siehe Wandt, Versicherungsvertragsrecht, 4. Auflage (2009), Rdn. 49 ff.; Armbrüster, in: Beckmann/Matusche-Beckmann, Versicherungsrechts-Hdb., 2. Auflage (2009), § 6, Rdn. 2 ff.; Neef, in: Halm u.a., Hdb. Versicherungsrecht, 3. Auflage (2008), 4. Kapitel, Rdn. 2 ff.
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strukturen von außerordentlichem Interesse, ob bestimmte Gesellschaftsformen auf dem anvisierten Markt besonderes Vertrauen oder besonderes Misstrauen erwecken.25 Um eine gedrungene, auf das Wesentliche reduzierte Darstellung zu gewährleisten, müssen solche wichtigen „Randerscheinungen“ außer Betracht bleiben und das Augenmerk ausschließlich auf solche Rechtsgebiete gerichtet werden, die fast zwangsläufig durch jede Versicherungsmarketingtätigkeit berührt werden.
2.1
Gewerblicher Rechtsschutz
Im Vergleich zu anderen Industrien kommt dem gewerblichen Rechtsschutz für das Versicherungsmarketing eine deutlich geringere Bedeutung zu.26 Dies heißt aber nicht, dass er vernachlässigbar wäre. So spielen zwar das Patentrecht (Schutz technischer Erfindungen), das Gebrauchsmusterrecht (oft als sogenanntes „kleines Patent“27 bezeichnet) und das Geschmacksmusterrecht (Schutz von ästhetischoptisch vermittelten technischen Leistungen) für das Versicherungsmarketing kaum eine Rolle – anders nur dann, wenn gerade diese Rechte versichert werden sollen. Dem Markenrecht kommt aber auch für das Versicherungsmarketing eine sehr bedeutende Funktion zu. 2.1.1 Markenschutz Als Marken28 geschützt werden können alle Zeichen insbesondere Wörter (auch in ihrer Zusammenfügung, also auch Sätze und Slogans) einschließlich Personennamen, Abbildungen, Buchstaben, Zahlen, Hörzeichen, dreidimensionale Gestaltungen einschließlich der Form einer Ware oder ihrer Verpackung sowie sonstige
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So wäre es beispielsweise auf dem deutschen Versicherungsmarkt, selbst wenn dies zulässig wäre, keinem Versicherer anzuraten, die Rechtsform der Limited zu wählen, da diese von deutschen Konsumenten (nicht ganz unberechtigt) mit schlechter Liquidität und wenig vertrauenserweckenden Geschäftspraktiken assoziiert wird, vgl. bspw. Bischoff, ZInsO 2009, S. 164. Zum Verhältnis des gewerblichen Rechtsschutz und des (allgemeinen) Marketings siehe Pepels, Hdb. des Marketing, 5. Auflage (2009), S. 1002 ff. Vgl. Bunke, Gebrauchsmusterschutz oder kleines Patent, in: GRUR 1957, S. 110; Schlenk, GRUR 1985, 755; einführend zum Gebrauchsmusterschutz im Verhältnis zum Patentschutz Kraßer, Patentrecht, 6. Auflage (2009), 1. Abschnitt, 1. Kap., § 1 B I und V. Genaugenommen schützt das Markengesetz neben Marken auch sonstige Kennzeichen, nämlich die geschäftlichen Bezeichnungen und geographische Herkunftsangaben, § 1 MarkenG. Da letztere aber für Versicherungsunternehmen kaum von Bedeutung sind, erfolgt vorliegend eine Beschränkung der Darstellung auf die Marke.
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Aufmachungen einschließlich Farben und Farbzusammenstellungen.29 Um einige Beispiele aus dem Versicherungssektor am Beispiel der Allianz SE30 zu geben: Eine Wortmarke stellt hierbei der Name Allianz dar, jedoch auch, da Slogans ebenfalls Wortmarken darstellen, der Werbespruch „Hoffentlich Allianz (versichert)“.31 Eine markenrechtlich geschützte Abbildung ist der stilisierte Allianzadler, geschützt auch als Wort-Bild-Marke in Verbindung mit dem Namenszug Allianz.32 Eine Buchstaben- bzw. Zahlenmarke ist in der Allianz Group nicht prominent vertreten, am ehesten kommt noch der über ein Tochterunternehmen gehaltenen Marke Allianz24 eine solche Zahlenmarkenqualität zu – wobei der Zahl vierundzwanzig hier nur durch die Zusammenfügung mit dem Wort Allianz eine Unterscheidungskraft zukommt.33 Die Hörmarke der Allianz ist das Allianz(klavier)motiv und der Allianzton, die beide in den Werbeauftritten verwendet werden.34 Dreidimensionale Marken (man denke hier beispielsweise an die Form der Coca Cola Flasche oder die Rolls-Royce Kühlerfigur Emily) sind im Versicherungssektor unüblich und auch die Allianz tritt zumindest nicht offensiv mit einer solchen auf. Soweit bekannt, kommt dem von Allianz verwendeten Blau keine Farbmarkenqualität zu.35 Tatsächlich sind (abstrakte) Farbmarken auch hinsichtlich ihrer Unterscheidungskraft problematisch und daher nicht exorbitant verbreitet und typischerweise nur in eher begrenzten Industriesegmenten zulässig36. Das bekannteste Beispiel einer Farbmarke ist Magenta der Deutschen Telekom.
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§ 3 MarkenG; siehe zu den einzelnen schutzfähigen Zeichenformen bspw. Ingerl/Rohnke, Markengesetz, 2. Auflage (2003), § 3, Rdn. 25 ff.; Fezer, Markenrecht, 3. Auflage (2001), § 3, Rdn. 235 ff. Zur Markenportfoliopolitik der Allianz Bruhn/Hatwich, in: Gardini/Dahlhoff, Management internationaler Dienstleistungen (2004), S. 263, 277; Gross/Esser/Oberhuber, in: Göttgens u.a., Profitables Markenmanagement (2003), S. 321 ff. Eine Personennamensmarke ist soweit ersichtlich nicht im Portfolio der Allianz enthalten. Ein prominentes Beispiel einer Personenmarke im Versicherungssektor ist die nach ihrem Begründer Robert Gerling benannte Gerling GmbH. Zur geschichtlichen Entwicklung des Allianzadlers siehe Görgen, Versicherungsmarketing, 2. Auflage (2007), S. 43. Beispiele aus anderen Industriezweigen für Buchstaben- und Zahlenmarken wären E+ oder O2. Zur Entstehungsgeschichte der Klangmarken des Allianz Konzerns siehe www.metadesign.de/download/news/MD_Themendienst_CS.pdf. Eine früher im Allianz Konzern vorhandene Farbmarke waren die durch die Dresdner Bank für das Bankgewerbe geschützten Grüntöne (Pantone 382/386). Der Markenschutz gilt unbeschränkt grundsätzlich nur für abgrenzbare Segmente in denen der Markeninhaber auch tatsächlich tätig ist. So sah HansOLG, GRUR-RR 2002, S. 190 beispielsweise keine Verwechslungsgefahr bei der Verwendung der Bezeichnung HDI zur Bezeichnung eines Dieselmotors für Kfz der Marke Peugeot gegenüber der HDI V.a.G.
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Damit Markenschutz erlangt werden kann, müssen diese Zeichen geeignet sein, die Waren oder Dienstleistungen eines Unternehmens von denen anderer Unternehmen zu unterscheiden, sie müssen grafisch darstellbar sein37 und dürfen nicht per Gesetz von der Eintragungsfähigkeit ausgeschlossen sein (§ 8 MarkenG).38 Solche Schutzhindernisse sind neben der fehlenden Unterscheidungskraft, beispielsweise dass es sich um für die allgemeine Benutzung freizuhaltende beschreibende Angaben handelt, eine ersichtliche Irreführungsgefahr besteht, die Marke Hoheitszeichen enthält oder ein Verstoß gegen die guten Sitten oder die öffentliche Ordnung zu sehen ist. Entstehen kann der Markenschutz in dreifacher Weise: Durch Eintragung des Zeichens in das Markenregister, durch Benutzung, wenn die Marke Verkehrsgeltung erlangt hat und dadurch dass die Marke notorische Bekanntheit erlangt hat (§ 4 MarkenG).39 Eine geschützte Marke vermittelt dem Rechteinhaber insbesondere ein Ausschlussrecht. Dem Rechteinhaber kann gegen einen Verletzer insofern ein Unterlassungsanspruch (vorgelagert bereits ein Widerspruchsrecht, um die Eintragung einer verletzenden Marke zu verhindern), ein Löschungsanspruch und ein Schadensersatzanspruch zustehen.40 Umgekehrt hat der Rechteinhaber ein Verfügungsrecht über die Marke, die einen Vermögensgegenstand darstellt. Der Rechteinhaber kann Marken, die gerade in der Versicherungswirtschaft oft einen erheblichen Vermögenswert ausmachen, also verkaufen oder aber deren Verwendung vollumfänglich oder begrenzt an einen Dritten lizensieren. Zu beachten ist abschließend, dass der Markenschutz wie der gewerbliche Rechtsschutz allgemein geographisch begrenzt ist („Territorialprinzip“). So bewirkt die Eintragung ins deutsche Markenregister nicht zwangsläufig den Schutz der Marke in anderen Rechtsordnungen. Marketingbezogen stellt sich also die Frage, für welche Märkte Markenschutz erlangt werden soll und wie dies am effizientesten zu erreichen ist. Überlegenswert ist hier beispielsweise die Beantragung einer europäischen Gemeinschaftsmarke, die Registrierung einer Marke über das Madrider Markenabkommen oder eine Beantragung bei den zuständigen nationalen
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Bei einer Hörmarke ist die grafische Darstellbarkeit durch Notenschrift oder Sonagramm möglich, problematisch ist dies jedoch für Geruchs-, Geschmacks- und Bewegungsmarken, weshalb diese bisher auch sehr selten sind, vgl. Ingerl/Rohnke, Markengesetz, 2. Auflage (2003), § 8, Rdn. 109; Fezer, Markenrecht, 3. Auflage (2001), § 3, Rdn. 279 ff. Siehe Ingerl/Rohnke, Markengesetz, 2. Auflage (2003), § 3, Rdn. 9. Zu den einzelnen Voraussetzungen einführend T. Zerres, Marketingrecht (2002), S. 63 ff.; ders., Rechtsrahmen des Marketing (2002), S. 31 ff.; tiefergehend Ingerl/Rohnke, Markengesetz, 2. Auflage (2003), § 8, Rdn. 4 f., 6 ff., 27 ff. Zu diesen und weiteren Rechtsansprüchen Ingerl/Rohnke, Markengesetz, 2. Auflage (2003), Vorb. zu §§ 14-19, Rdn. 52 ff.
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Stellen in anvisierten Märkten, eventuell unter Berufung auf den Grundsatz der Inländergleichbehandlung nach dem Pariser Verbandsübereinkommen.41 2.1.2 Geschmacksmusterschutz und Patentschutz Neben dem Markenrecht sollten aber auch die anderen drei Bereiche nicht vollständig aus den Augen verloren werden. So besteht beispielsweise die Möglichkeit für ein High-End Versicherungsprodukt eine besonders gestaltete Aktenmappe zu entwerfen, in der die Versicherungspolice an den Versicherungsnehmer übergeben wird, um diesem bereits optisch und haptisch die Exklusivität des Produkts zu vermitteln. Eine solche Mappe wäre als Geschmacksmuster schützbar, soweit sie in ihrer zweidimensionalen und/oder dreidimensionalen Erscheinungsform, die sich insbesondere aus den Merkmalen der Linien, Konturen, Farben, der Gestalt, Oberflächenstruktur oder der Werkstoffe der Mappe selbst oder ihrer Verzierung ergibt, neu und eigentümlich wäre.42 Sollten diese Voraussetzungen gegeben sein, so kann eine Eintragung in das Musterregister schriftlich beantragt werden.43 Da über das Patentgesetz nur Erfindungen, also Lösungen technischer Probleme, schützbar sind – sofern sie neu, auf erfinderischer Tätigkeit beruhend und gewerblich anwendbar sind, § 1 PatentG – hat der Patentschutz in der Versicherungswirtschaft nur geringe Relevanz. Die Gestaltung von neuen Versicherungsprodukten stellt die Schöpfung innovativer Dienstleistungsmodelle dar, was sich nicht unter den (technikbezogenen) Erfindungsbegriff subsumieren lässt.44 Gleichwohl mag auch der Patentschutz für den einen oder anderen Bereich an Bedeutung gewinnen. So sind zwar Computerprogramme grundsätzlich nicht patentierbar – für sie besteht aber Schutz unter dem Urheberrechtsgesetz – gleichwohl ist Patentschutz zumindest dann zu erlangen, wenn die Software über das übliche Zusammenwirken mit dem Computer hinaus einen technischen Inhalt aufweist, insbesondere wenn es einen zusätzlichen technischen Effekt auslöst.45 So wären beispielsweise die von einigen Versicherern zur Individualtarifierung in der Kraftfahrzeugversicherung (pay-as-you-drive Policen) verwendeten telematik-basierten Systeme (sog. Black-Boxes) patentierbar gewesen – dies natürlich unter der Voraussetzung
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Siehe hierzu im Einzelnen Ingerl/Rohnke, Markengesetz, 2. Auflage (2003), Einleitung, Rdn. 16 ff.; Fezer, Markenrecht, 3. Auflage (2001), 2. Teil: Internationales Markenrecht; für einen Überblick über ausländischen Markenschutz siehe Ekey/Kippel/Bender (Hrsg.), Markenrecht Bd. 1, 2. Auflage (2009). §§ 1 Nr. 1, 2 GeschmMG; vgl. Eichmann, in: ders./v. Falckenstein, Geschmacksmustergesetz, 3. Auflage (2005), § 1, Rdn. 3 ff. § 11 GeschmMG i.V.m. MusterAnmV, vgl. v. Falckenstein in: Eichmann/v. Falckenstein, Geschmacksmustergesetz, 3. Auflage (2005), § 11, Rdn. 10 ff. Nordemann, ZVersWiss 1995, S. 129, 131. BGHZ 115, 23, 30 f. – Chinesische Schriftzeichen; Bacher/Melullis, in: Benkard, Patentgesetz, Gebrauchsmustergesetz, 10. Auflage (2006), § 1 PatentG, Rdn. 107 ff.
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sie wäre neu gewesen.46 Im gleichen Kontext wurde durch die Swiss Re eine Chipkarte zum Patent angemeldet (mileage monitoring), die bei jedem Tankvorgang zur Verwendung kommen soll und durch die die Fahrleistung eines Pkw registriert wird, um eine fahrleistungsindizierte Tarifierung zu ermöglichen.47
2.2
Urheberrecht
Eines der Probleme im Versicherungsmarketing besteht darin, dass sich das Versicherungsprodukt selber nur unzulänglich schützen und zudem leicht durch Wettbewerber nachahmen lässt. Hierdurch entsteht ein negativer Anreiz zur Produktneuentwicklung.48 Ein gewisser Schutz lässt sich hier natürlich dadurch erzielen, dass das Produkt unter einem Namen beworben wird, der wiederrum markenrechtlich geschützt ist. So wäre es aus hier vertretener Sicht beispielsweise für die First-Mover49 auf dem deutschen Markt der Organ- und Manager-Haftpflichtversicherung möglich gewesen, sich den Namen D&O-Versicherung markenrechtlich schützen zu lassen, da dieser eben nicht rein deskriptiv ist und zumindest Mitte der 80iger Jahre auch noch nicht zum allgemeinen Sprachgebrauch gehörte.50 Hierdurch ist jedoch nicht die im Produkt selber verkörperte Idee geschützt. Dieser Schutz kann jedoch zu einem gewissen Grad über das Urheberrecht erlangt werden. Das Urheberrecht schützt Werke, die das Produkt persönlicher, geistiger Schöpfung sind, § 2 UrhG. Hierbei ist der Werksbegriff denkbar weit zu sehen. Notwendig ist letztlich nicht einmal die Körperlichkeit des Werkes sondern einzig die abstrakte Möglichkeit seiner Fixierung,51 wobei das Werk aber trotzdem nicht in seiner abstrakten sondern nur in seiner konkreten Form geschützt wird (beispielsweise kann eine Stehgreifrede ein Werk sein, obwohl sie nicht fixiert ist, Schutzobjekt ist aber nicht der der Rede zugrunde liegende abstrakte Gedanke, sondern 46
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Zur Verwendung von Black-Boxes in der Kraftfahrzeugversicherung siehe Görgen, Versicherungsmarketing, 2. Auflage (2009), S. 147 f.; Sauer/Thiele, VW 2006, 1153 ff.; zu einem Aufriss zur datenschutzrechtlichen Problematik bei der Verwendung von Black-Boxes siehe Brenner/Schmidt-Cotta, SVZ 2008, S. 41, 47 f. Voggenauer/Förster, AssCompact 2006, Heft 11, S. 88. Siehe Görgen, Versicherungsmarketing, 2. Auflage (2009), S. 148; Vielreicher, Produktinnovationsmanagement in Versicherungsunternehmen (1995), S. 29 f. Es handelte sich hierbei um amerikanische Gesellschaften, AIG und Chubb, die die aus ihrem Heimatmarkt bekannte D&O Versicherung für den deutschen Markt adaptierten; vgl. Görgen, Versicherungsmarketing, 2. Auflage (2009), S. 66. Ein aktuelles Beispiel für ein recht innovatives Produkt, welches unter einem einprägsamen markenrechtlich geschützten Namen vertrieben wird, ist die von den Versicherern der Ergo-Gruppe zur Hundehalterhaftpflichtversicherung angebotene Zusatzversicherung „Haus & Gassi“, vgl. Versicherungsmagazin 8/2009, S. 12. Vgl. zur Frage des ästhetischen Gehalts insg. bspw. Ensthaler, Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, 3. Auflage (2009), S. 15 ff.
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nur die konkrete Form in der dem Gedanken Ausdruck verliehen wird). Insofern können neuartige Versicherungsprodukte zumindest in ihrer Verkörperung als Werbeunterlagen, Antragsformulare, Vertragsmuster, AVB, Prospekte etc. Schutzobjekte des Urheberrechts werden.52 Geschützt ist hierdurch jedoch eben nicht die Idee per se, sondern nur ihre konkrete Verkörperung in der Form von Text, Fotografie und grafische Abbildung. Untersagt ist über das Urhebergesetz mithin nur die wortgetreue Abschrift (und sei es auch nur von einzelnen Textblocks), die Übernahme eines Fotos oder einer Grafik. Sobald der Wettbewerber sich hingegen nur auf das Kopieren der Idee konzentriert und die konkrete Ausgestaltung in Wort- und Bildwahl hinreichend variiert, muss der urheberrechtliche Schutz leerlaufen. Man kann wohl sagen, dass das Urheberrecht im Versicherungssektor nur gegenüber dem ungeschickten, wenig erfahrenen „Trittbrettfahrer“ schützt.53
2.3
Unlauterer Wettbewerb
Von besonderer Bedeutung für das Versicherungsmarketing, da hierdurch mehrere Bereiche und Instrumente berührt werden, ist das Lauterkeitsrecht. 2.3.1 Rechtsgrundlagen Normiert wird das Lauterkeitsrecht im Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb (UWG), welches durch Vorgaben, wie der Wettbewerb durchzuführen ist, einen fairen Wettbewerb garantiert.54 Hierzu dient vorrangig § 3 Abs. 1 UWG, der „unlautere geschäftliche Handlungen“ für unzulässig erklärt. Was hierbei als unlauter anzusehen ist, wird beispielshaft durch §§ 4-6 UWG festgelegt.55 Unlauter sind dementsprechend beispielsweise die Ausübung von
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Nordemann, ZVersWiss 1995, S. 129, 131; für AVB ist jedoch zu beachten, dass diese dann nicht urheberrechtlich geschützt werden können, wenn sie hoheitlich für allgemeinverbindlich erklärt werden, siehe Ahlberg, in: Möhring/Nicolini, Urhebergesetz, 2. Auflage (2000), § 5, Rdn. 12. Nordemann, ZVersWiss 1995, S. 129, 132 f. Das Bundesverfassungsgericht sieht es als das Ziel des Lauterkeitsrechts, das Verhalten der konkurrierenden Marktteilnehmer in Übereinstimmung mit der Wertordnung des Grundgesetzes „in den Bahnen des Anstands, der Redlichkeit und der guten kaufmännischen Sitten zu halten“, vgl. BVerfGE 32, 311, 316 (Grabsteinwerbung); BVerfG, GRUR 1993, S. 751 (Großmarktwerbung I); BVerfG, GRUR 1993, S. 754 (Großmarktwerbung II). Die Unzulässigkeit kann sich aber nicht nur aus § 3 Abs. 1 (i.V.m. §§ 4-6 UWG oder alleine) ergeben, sondern auch aus § 3 Abs. 2, 3 UWG i.V.m. Anhang (unzulässige geschäftliche Handlungen gegenüber Verbrauchern) und aus § 7 UWG (unzumutbare Belästigung).
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unzulässigem Druck auf Verbraucher oder andere Marktteilnehmer,56 die Ausnutzung geistiger und körperlicher Schwächen, die Verwendung von Schleichwerbung, die Verwendung bestimmter Verkaufsförderungsmaßnahmen (bspw. Preisnachlasse und Gewinnspiele), wenn derer Bedingungen nicht transparent gestaltet sind, Herabsetzung oder Verunglimpfung von Wettbewerbern, gezielte Behinderung von Mitbewerbern (§ 4 UWG). Versicherungsunternehmen sollten sich zudem der Verwendung solcher Praktiken enthalten, die in einer Irreführung des Verkehrs resultieren können (§ 5 UWG). Hierbei kann eine solche Irreführung auch durch Verschweigen einer mitteilungsbedürftigen Tatsache zurechenbar herbeigeführt werden (§ 5a UWG). Schließlich kann auch eine vergleichende Werbung unter bestimmten Voraussetzungen unlauter sein (§ 6 UWG).57 Daneben erfährt das versicherungsspezifische Lauterkeitsrecht eine besondere Konkretisierung durch die Wettbewerbsrichtlinien der Versicherungswirtschaft (WettbRL).58 Hierbei handelt es sich um eine sektorenspezifische Selbstbeschränkung, in der sich die Versicherungsunternehmen vertreten durch einzelne Versicherungsverbände und den Verband des Versicherungsaußendienstes zu einem bestimmten Verhalten verpflichten. Die WettbRL hat in der Auslegung der §§ 3 ff. UWG jedoch keine bindende Wirkung, kann aber als konkretisierter Handelsbrauch in der Auslegung eine verstärkte Indizwirkung haben.59 Besondere Bedeutung kommt der WettbRL unter Geltung des reformierten UWG zudem dort zu, wo explizit auf einen Verhaltenskodex Bezug genommen wird.60 Eine weiteres Instrument, durch welches das Lauterkeitsrecht für Versicherungsunternehmen zu einem gewissen Grad konkretisiert wird, sind aufsichtsrechtliche Rundschreiben der BaFin. Zwar sind diese für ein über einen Verstoß gegen das UWG befindendes Zivilgericht in der Auslegung nicht bindend – vielmehr ist eine Missachtung vor allem für das eventuelle Vorliegen eines Missstandes relevant61 – 56
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Neben der physischen bzw. psychischen Gewalt(-androhung) kann eine Vielzahl von Verhaltensweise hierüber untersagt sein, bspw. eine bestimmte Ausgestaltung von „Kaffeefahrten“ oder eine Überrumpelung, vgl. zu den Grenzen Piper, in: Piper/Ohly, 4. Auflage (2006), § 4 UWG, Rdn. 1/29, 1/35 f. Für eine einführende versicherungsspezifische Betrachtung (allerdings nur für die Werbegestaltung und unter Geltung der alten Fassung des UWG) siehe Neumayer, Werbung der Versicherungen (1993); Hujber, Werbung von Versicherungsunternehmen (2005), S. 86 ff. Für die Werbung können zudem noch andere branchenübergreifende Selbstbeschränkungen greifen, nennenswert ist hier insbesondere der Kodex der Internationalen Handelskammer (ICC) zur Praxis der Werbe- und Marketingkommunikation – Konsolidierte Fassung (2006). Vgl. Köhler, in: Hefermehl u.a., UWG, 27. Auflage (2009), § 4, Rdn. 10.45. Vertieft zur Bedeutung der WettbRL Hujber, Werbung von Versicherungsunternehmen (2005), S. 94. Bspw. § 5 Abs. 1 Nr. 6 UWG und Nr. 1, 3 Anhang zu § 3 Abs. 2, 3 UWG. Hujber, Werbung von Versicherungsunternehmen (2005), S. 92.
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aber sie können eine starke Indizwirkung haben62. Um ein Beispiel zu geben, untersagte das BAV 1995, dass in der Lebensversicherung mit Überschussanteilen geworben wird, wenn zum gegebenen Zeitpunkt bereits ersichtlich ist, dass das Versicherungsunternehmen die Überschussanteile herabsetzen muss.63 2.3.2 Nicht-werbespezifische Beispielsfälle Zwar sind Versicherungsprodukte, wie oben im Rahmen des Urheberrechts aufgezeigt wurde, nur begrenzt schutzfähig, aber ein Schutz kann sich indirekt über das Lauterkeitsrecht ergeben. So wird beispielsweise in dem Verhalten eines Mitbewerbers, alle vom Marktführer angebotenen Produkte sklavisch nachzuahmen, ein unlauteres Verhalten gesehen.64 Eine Übertragung dieser Rechtsprechung auf den Versicherungsmarkt ist nicht ganz einfach, da sich viele Produkte auch heute noch auf Grund der bis 1994 versicherungsaufsichtsrechtlichen gebotenen Genehmigungspflicht nur in Details unterscheiden. Auch führen die Orientierung an den Musterbedingungen des GDV, die notwendige, sprachliche Spiegelung gesetzlicher Regelungen und die versicherungsspezifische Behandlung bestimmter Probleme nahezu zwangsläufig zu einer starken Annäherung der einzelnen Produkte. Ein Fall der planmäßigen Nachahmung aller Produkte wird auf dem Versicherungsmarkt also wohl nur dann anzunehmen sein, wenn gerade die Innovationsprodukte unablässig sofort von einem Mitbewerber imitiert werden und hinsichtlich der sprachlichen Gestaltung der AVB und der Tarifierung ein auffälliger Gleichlauf besteht.65 Die Unlauterkeit kann sich auch aus der Modalität der Verschaffung der Kenntnis von Produkten aber auch allen anderen marketingrelevanten Informationen des Mitbewerbers ergeben. Man denke hier insbesondere an Betriebsspionage oder zu diesem Zwecke abgeworbene Mitarbeiter. Insgesamt dürfte zumindest die Betriebsspionage im Versicherungsgewerbe seltener sein als in anderen Sektoren,66 kann aber gleichwohl vorkommen, beispielsweise mit dem Ziel ein innovatives Produkt schneller oder besser als ein Konkurrent auf dem Markt zu platzieren oder Kenntnisse über dessen aktuarischen Berechnungsgrundlagen zu erlangen. Sowohl die Abwerbung von Mitarbeitern als auch von Kunden ist für sich genommen nicht unlauter, kann dies aber unter bestimmten hinzutretenden Umständen sein. Für das Abwerben von Versicherungsnehmern ergibt sich dies insbeson-
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Zur Qualifizierung einer Werbung als unzulässig (allerdings nicht unter Gesichtspunkten der Lauterkeit) stützte sich bspw. OLG Koblenz, VersR 2000, S. 1357 auf eine Richtlinie des BAV. Nr. 2 Rundschreiben R 1/95 (VerBAV 1995, S. 278). Für weitere Beispiele siehe Hujber, Werbung von Versicherungsunternehmen (2005), S. 92 ff. Siehe bspw. BGH, MDR 1960, S. 202 (Simili-Schmuck). So wohl auch Nordemann, ZVersWiss 1995, S. 129, 135. Nordemann, ZVersWiss 1995, S. 129, 135.
4 Rechtsrahmen des Versicherungsmarketing
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dere auch aus Nr. 43 der Wettbewerbsrichtlinie der Versicherungswirtschaft (für Versicherungsvertreter aus Nr. 8). Hiernach ist es unzulässig mit unlauteren Mitteln in fremde Versicherungsbestände einzudringen.67 Es langt dabei nicht, dass das Versicherungsunternehmen planmäßig bei der Abwerbung vorgeht, da die Planmäßigkeit bei der Kundenakquise geradezu notwendig ist.68 Nr. 48, 65 lit. a WettbRL geben hierzu für die Kranken- und die Lebensversicherung ein Beispiel, indem sie ein Ausspannen dann für unzulässig erklären, wenn eine nach den Umständen erforderliche Aufklärung über die mit der Vertragsbeendigung verbundenen Nachteile unterblieben ist (also insbesondere über den Effekt der Zillmerung69). 2.3.3 Werbespezifische Beispielsfälle Versicherungsmarketing hat jede Art der irreführenden Werbung zu unterlassen. Dies gilt bei einem für den durchschnittlichen Verbraucher teilweise recht schwer verständlichen Produkt wie der Versicherung umso mehr. So darf Versicherungswerbung beispielsweise keine unberechtigten Erwartungen in das beworbene Produkt wecken. Insofern wäre die Bewerbung einer Reparaturkostenversicherung für Unterhaltungselektronikgerätschaften, dass „100%ig alle Reparaturen“ gedeckt werden, dann irreführend, wenn der dann geschlossene Vertrag einen Risikoausschluss für Spannungsschäden durch Blitzschlag vorsieht.70 Auch hat Werbung ein sogenanntes übertriebenes Anlocken zu unterlassen. So sahen Gerichte eine Werbeaktion als unlauter an, bei der Versicherungsnehmer einer Kraftfahrzeugversicherung Tagesnetzkarten für den öffentlichen Personennahverkehr im Großraum München zum halben Preis erstehen können sollten. Hierin wurde ein unzulässiger psychologischer Kaufzwang gesehen, da das ganze neben der Vergünstigung unter das Motto des Umweltschutzes gestellt wurde.71 Besonders problematisch stellt sich im Versicherungsbereich das Verbot der Gefühls- und Vertrauensausnutzung dar. Das Produkt Versicherung steht nahezu
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Zu der Frage welche hinzutretenden Umstände sich als unlautere Mittel darstellen können siehe Neumayer, Werbung der Versicherungen (1993), S. 66 ff. Köhler, in: Hefermehl u.a., UWG, 27. Auflage (2009), § 4, Rdn. 10.46; Neumayer, Werbung der Versicherungen (1993), S. 64 ff. Für eine aktuelle Betrachtung der rechtlichen Probleme der Zillmerung bspw. Herrmann, VersR 2009, S. 7 ff. KG Berlin, GRUR 1991, S. 787; siehe auch Neumayer, Werbung der Versicherungen (1993), S. 28 f.; Hujber, Werbung von Versicherungsunternehmen (2005), S. 87. Für ein weiteres instruktives Beispiel siehe OLG Hamm, WRP 2002, 592. OLG München, WRP 1993, S. 197; daneben war unter dem damaligen Recht in der Reduzierung der Ticketpreise ein Rabattverstoß durch das Beförderungsunternehmen und eine Beihilfe hierzu durch den Versicherer zu sehen OLG München, WRP 1992, S. 264; siehe zum Ganzen ferner Neumayer, Werbung der Versicherungen (1993), S. 38.
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wesensnotwendig mit der Emotion Angst in Verbindung. So geht es beim Abschluss einer Versicherung vielfach auch gerade darum, dass die durch Unsicherheit beziehungsweise Ungewissheit hervorgerufene Angst reduziert wird.72 Sinnvolles Versicherungsmarketing muss insofern durch Werbung auch Risiken und somit einen Versicherungsbedarf aufdecken, was, obgleich nicht irreführend oder gar unwahr, beim Rezipienten in vielen Fällen Angst hervorrufen wird.73 Insofern gilt für die Beurteilung, wann eine Werbung Ängste unzulässig ausnutzt, für die Versicherungswirtschaft ein eher großzügiger Maßstab74 und die Prüfung fällt tendenziell nur dann negativ aus, wenn (unwahrscheinliche) Gefahren übertrieben dargestellt werden oder eine Werbung übertrieben um Gefühle bzw. Mitleid heischt.75 Von besonderer praktischer Bedeutung war in den letzten Jahren die Frage, in welchem Umfang vergleichende Werbung im Versicherungssektor zulässig ist.76 Entsprechend § 6 UWG ist eine vergleichende Werbung im Versicherungssektor dann unlauter, wenn der Vergleich a) sich nicht auf Versicherungsprodukte für den gleichen Bedarf bezieht; b) nicht objektiv auf eine oder mehrere wesentliche, relevante, nachprüfbare und typische Eigenschaften oder den Preis des Versicherungsprodukts bezogen ist; c) im geschäftlichen Verkehr zu einer Gefahr von Verwechslungen zwischen dem Werbenden und einem Mitbewerber oder zwischen deren Versicherungsprodukten oder Marken führt; d) den Ruf der von einem Mitbewerber verwendeten Marke in unlauterer Weise ausnutzt oder beeinträchtigt; e) die Versicherungsprodukte, Tätigkeiten oder persönlichen oder geschäftlichen Verhältnisse eines Mitbewerbers herabsetzt oder verunglimpft oder f) ein Versicherungsprodukt als Imitation oder Nachahmung eines unter einem geschützten Kennzeichen vertriebenen Versicherungsprodukts darstellt.
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Vgl. Görgen, Versicherungsmarketing, 2. Auflage (2009), S. 28. So auch bei Hujber, Werbung von Versicherungsunternehmen (2005), S. 88. So wurde beispielsweise eine Werbung nicht beanstandet, in der mit Ängsten vor den durch die Gesundheitsreform gerissenen Lücken in der Gesundheitsversorgung gespielt wurde („…Sie sind gesetzlich krankenversichert? Dann reicht Ihre Versorgung für das medizinisch Notwendige. Wollen Sie mehr, erhält Ihre Lebensfreude einen Dämpfer. Wer Ansprüche stellt, muß zuzahlen“) OLG Stuttgart, VersR 1999, S. 1036. Siehe zum Ganzen Neumayer, Werbung der Versicherungen (1993), S. 42 ff. Zwar fehlt es bisher noch an einer versicherungsrechtsspezifischen Monographie, allgemein ist die vergleichende Werbung aber schon vielfach monographisch aufgegriffen worden; um nur einige der letzten fünf Jahre zu nennen: Holtz, Vergleichende Werbung in Deutschland (2009); Erdogan, Vergleichende Werbung nach § 6 UWG (2008); Eichholz, Herabsetzung durch vergleichende Werbung (2008); Kadelbach, Das funktionelle Verständnis des § 2 UWG (vergleichende Werbung) (2007); Šaponjić, Vergleichende Werbung: Rechtslage, Praxis, Perspektiven (2007), Kebbedies, Vergleichende Werbung (2005); Fröndhoff, Harmonisierung des Rechts der vergleichenden Werbung durch die Richtlinie 97/55/EG? (2004).
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Um einige Praxisbeispiele zu geben: Ein Versicherungsunternehmen darf nicht unter der Behauptung „die günstigste Risikolebensversicherung!“ einen ihrer Tarife mit anderen Tarifen vergleichen, wenn nicht darauf hingewiesen wird, dass dieser Tarif erst ab einer Versicherungssumme von 150.000 € angeboten wird.77 Ebenso wurde ein anderer Versicherer erfolgreich verklagt, es zu unterlassen seinen Haftpflichttarif mit denen anderer zu vergleichen, ohne darauf hinzuweisen, dass der eigene, als besonders günstig bezeichnete Tarif nur bei Abschluss oder Aufrechterhaltung einer Autoversicherung bei diesem Versicherer verfügbar war.78
2.4
Kartellrecht
Das Wettbewerbsrecht hat insofern große Wichtigkeit für das Versicherungsmarketing, wobei neben dem UWG auch noch das Kartellrecht dem Wettbewerbsrecht i.w.S. angehört. Das Kartellrecht ist für Deutschland im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen und für Europa in den Artt. 81 ff. EG-Vertrag und einigen EG-Verordnungen niedergelegt79 und soll die Freiheit des Wettbewerbs garantieren und wirtschaftliche Übermacht da beseitigen, wo durch sie das Funktionieren des Marktes schwerwiegend beeinträchtigt wird. Das Kartellrecht gliedert sich neben der Fusionskontrolle zur Verhinderung von Monopolen hierbei im Wesentlichen in vier Bereiche, aus denen ein unzulässiges Verhalten stammen kann: a) Horizontale Wettbewerbsbeschränkungen (§ 1 GWB; also wettbewerbswidrige Koordinierung zwischen miteinander in Wettbewerb stehenden Unternehmen), b) vertikale Wettbewerbsbeschränkungen (§ 1 GWB; Wettbewerbsbeschränkungen zwischen zwei Produktionsstufen [also insb. zwischen Versicherer und Makler etc.]), c) Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung (§§ 19 f. GWB; auch Diskriminierungsverbot) und d) sonstiges wettbewerbswidriges Verhalten (§ 21 GWB; Boykottverbot und ähnliches). Besonders anfällig dürfte die Versicherungswirtschaft für Preis-, Konditionen- und Gebietskartelle sein – wobei seit der Deregulierung 1994 ein stetig wachsender Wettbe-
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OLG Saarbrücken, OLGR Saarbrücken 2009, S. 146. OLG Köln, NVersZ 2000, S. 543, 544 (zunächst eingelegte Revision zurückgenommen NVersZ 2001, 48). Zum Verhältnis des deutschen zum europäischen Versicherungskartellrecht bspw. Meyer-Lindemann, Das Versicherungskartellrecht in Deutschland nach der 7. GWBNovelle (2006), S. 5 ff. Es ist zudem zu beachten, dass gerade im Rahmen von Fusionen nicht nur das Kartellrecht der Sitzstaaten zu berücksichtigen ist, sondern im Grundsatz das Recht jedes Staates dessen Markt durch die Fusion betroffen ist.
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werb zu verzeichnen ist, der sich insbesondere auch in einer diversifizierenden Preis- und Produktpolitik niederschlägt.80
2.5
Datenschutz
Ohne Informationen und Daten ist Marketing nicht möglich, insofern sind gerade auch in der Versicherungsbranche Daten der Grundstein jeder Marketingtätigkeit. Im Gegenzug sind aber die Verarbeitung und Verwendung von personenbezogenen Daten81 eine für das Individuum heikle Angelegenheit und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und der Schutz der Privatsphäre gewinnen seit Jahren immer mehr an Bedeutung und Form.82 So ist auch der Versicherer im Hinblick auf die Gewinnung, Verarbeitung und Nutzung von Daten einigen Beschränkungen unterworfen.83 Schwerpunktmäßig existieren folgende datenschutzrechtliche Problemkreise in der Versicherungswirtschaft: a) Datenverarbeitung und Nutzung zur Marktforschung, b) Datenverarbeitung und Nutzung zur Vertragsdurchführung, c) Datenverarbeitung und Nutzung zur Schadensregulierung, d) Datenübermittlung im Fall von Mit- oder Rückversicherung, e) Datenzugriff im Versicherungskonzern, f) Dateneinstellung in Warn- und Hinweissysteme84 (UNIWAGNIS).85 Die Zulässigkeit der Nutzung beurteilt sich nach dem Bundesdatenschutzgesetz (BDSG).86 Nach diesem gilt ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt, sodass die Erhebung, Verarbeitung und Nutzung personenbezogener Daten grundsätzlich untersagt ist, es sei denn, der Betroffene stimmt diesen zu oder ein Gesetz (insb. auch das BDSG) erlaubt
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Für weitere Besonderheiten des Versicherungskartellrechts sei auf die einschlägige Fachliteratur verwiesen Kirscht, Versicherungskartellrecht: Problemfelder im Lichte der Europäisierung (2003); Meyer-Lindemann, Das Versicherungskartellrecht in Deutschland nach der 7. GWB-Novelle (2006); Bunte/Stancke, Leitfaden Versicherungskartellrecht, 2. Auflage (2007). Dies sind entsprechend § 3 Abs. 1 BDSG Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person; vgl. auch Kühling u.a., Datenschutzrecht (2008), S. 100 ff.; Dammann, in: Simitis, Bundesdatenschutzgesetz, 6. Auflage (2006), § 3, Rdn. 3 ff. Sehr kritisch beispielsweise zur Datenverarbeitung zum Zweck der Erstellung von Kundenscores Görgen, Versicherungsmarketing, 2. Auflage (2009), S. 287. Für eine ausführliche Betrachtung Wesselhöft, Datenschutz im Versicherungswesen (1996); Meier, Der rechtliche Schutz patientenbezogener Gesundheitsdaten (2003). Siehe bspw. Waniorek, RDV 1990, S. 229. Weitere Problemfelder bei Wesselhöft, Datenschutz im Versicherungswesen (1996), S. 153 ff. Erwähnt sei auch noch der internationale Kodex für die Praxis der Markt- und Sozialforschung sowie die bereits oben erwähnte WettbRL, die auch datenschutzrelevante Standesregeln aufstellen.
4 Rechtsrahmen des Versicherungsmarketing
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oder ordnet sie an.87 In den Fällen in denen eine Datenverarbeitung eventuell auch ohne Erlaubnis des Betroffenen möglich ist, besteht aber zumindest eine Verpflichtung des Versicherers, den Betroffenen zu benachrichtigen, dass auf ihn bezogene Daten verarbeitet wurden und dieser kann gegebenenfalls verlangen, dass diese Daten berichtigt, gesperrt oder gelöscht werden.88 Eine Besonderheit besteht bei personenbezogene Gesundheitsdaten, da deren Erhebung nicht nur die Einwilligung des Betroffenen erfordert, sondern diese nur bei Ärzten, Krankenhäusern und ähnlichen Einrichtungen sowie anderen Personenversicherern, Krankenkassen und ähnlichen Einrichtungen und Behörden erfolgen darf, § 213 VVG.89 Von großem Interesse ist es insofern, dass Versicherer von allen ihren Versicherungsnehmern eine Einwilligung in die Datenverarbeitung erhalten. Die Ermächtigungsklausel sollte möglichst für alle Versicherungsnehmer (einer bestimmten Gruppe) einheitlich sein, um Datenverarbeitungsabläufe zu vereinfachen, sollte ein möglichst breites Spektrum der Datenverarbeitung erlauben (also insbesondere die oben abgebildeten Problemfelder abdecken) und rechtlich verbindlich sein, was insbesondere bedeutet, dass die typischerweise als AVB geschlossene Datenverarbeitungsklausel der AGB-Kontrolle standhält.90
2.6
Direktmarketing
Direktmarketing spielt in der Versicherungswirtschaft eine nicht unbedeutende Rolle. Die drei wichtigsten Instrumente sind hierbei der Besuch eines Versicherungsvermittlers, das Anschreiben und das Telemarketing (Anruf, Email und Fax). Der Besuch des Versicherungsvermittlers beim (potentiellen) Versicherungsnehmer vereint als Direktmarketinginstrument distributive mit kommunikativen Elementen.91 Es ist zunächst zu beachten, dass den Versicherungsvermittler bereits beim ersten Geschäftskontakt eine gewisse Informationspflicht über seinen Name, 87
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§ 4 Abs. 1 BDSG; siehe auch Gola, in: ders./Schomerus, Bundesdatenschutzgesetz, 9. Auflage (2007), § 4, Rdn. 3; M. Zerres, Marketingstrategie und Rechtsrahmen (1999), S. 193; T. Zerres, Marketingrecht (2002), S. 43; ders., Rechtsrahmen des Marketing (2002), S. 3. M. Zerres, Marketingstrategie und Rechtsrahmen (1999), S. 193; Pepels, Hdb. des Marketing, 5. Auflage (2009), S. 1011; tiefergehend auch Günther, VersR 2003, S. 18, 20 f. Leicht veraltet hierzu Meier, Der rechtliche Schutz patientenbezogener Gesundheitsdaten (2003); aktueller Eberhardt, in: MünchKommVVG (2009), § 213, Rdn. 22 ff; Muschner, in: Rüffer u.a., Versicherungsvertragsgesetz-HK (2009), § 213, Rdn. 11 ff. Zu diesem Themenkomplex Wesselhöft, Datenschutz im Versicherungswesen (1996), S. 234 ff. M. Zerres, Marketingstrategie und Rechtsrahmen (1999), S. 258 f.; T. Zerres, Marketingrecht (2002), S. 190; ders., Rechtsrahmen des Marketing (2002), S. 245.
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seine Verhältnisse und ähnliches trifft.92 Darüber hinaus besteht mittlerweile eine Pflicht zur Beantragung einer Gewerbeerlaubnis und zahlreiche anlassbezogene Beratungs- oder Informationspflichten für Versicherungsvermittler.93 Neben diesen versicherungsspezifischen „Problemen“ gibt es auch allgemeingültige Problemfelder. So ist zwar der bestellte Vertreterbesuch unbedenklich, unbestellte Vertreterbesuche können jedoch dann unzulässig sein, wenn sie sich als unlauter im Sinne des UWG darstellen, also beispielsweise eine erhebliche Belästigungsschwele überschreiten.94 Daneben kann der breitflächige Einsatz des Instruments des unerbetenen Vertreterbesuchs als Missstand auch die BaFin auf den Plan rufen95 und es sollte beachtet werden, dass solche Praktiken von einem großen Teil der potentiellen Kunden als unseriös empfunden wird, was das Ansehen des Versicherungsunternehmens langfristig schädigt. Das Direktmarketing per Anschreiben (sogenanntes „Mailing“) ist auch in der Versicherungswirtschaft ein beliebtes Instrument. Hierbei kommen sowohl unadressierte Wurfsendungen an alle Haushalte (Briefkastenwerbung) als auch adressierte Werbebriefe (Briefwerbung) vor und beide Varianten sind grundsätzlich auch wettbewerbsrechtlich zulässig.96 Ein solches Vorgehen kann jedoch dann als unlauter bzw. als unzumutbare Belästigung bewertet werden, wenn der Adressat entweder ausdrücklich der Zusendung von Werbematerial widersprochen hat oder aber der Empfänger in einer Robinson-Liste eingetragen ist bzw. einen entsprechenden Briefkastenaufkleber angebracht hat.97 Hierbei sollte das Werbeschreiben möglichst schon von außen und muss spätestens nach Öffnen des Umschlags als solches erkennbar sein,98 und muss zudem wie alle derartige Werbeformen den Werbenden mit Anschrift deutlich zu erkennen geben. Das Telemarketing stellt sich auf der einen Seite effizienter dar als das Briefmarketing, da ein unmittelbarer Kontakt zum potentiellen Kunden entsteht und so besser auf Bedürfnisse eingegangen werden kann, auf der anderen Seite ergibt sich die Gefahr des erhöhten Belästigungspotentials, da viele Kunden insbesondere Anrufe als sehr störend empfinden aber es ihr Verständnis von Höflichkeit verbie-
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§ 11 VersVermV; siehe Gamm/Sohn, Versicherungsvermittlerrecht (2007), S. 59 f. Siehe Gamm/Sohn, Versicherungsvermittlerrecht (2007). Leible, in: MünchKommLauterkeitsR (2006), § 7, Rdn. 206 ff. insb. 214 ff. Dazu dass auch Verstöße gegen das UWG Missstände i.S.d. VAG darstellen können Kollhosser, in: Prölss, Versicherungsaufsichtsgesetz, 12. Auflage (2005), § 81, Rdn. 21. Vgl. zu diesen Instrumenten allgemein M. Zerres, Marketingstrategie und Rechtsrahmen (1999), S. 265; T. Zerres, Marketingrecht (2002), S. 201 f.; ders., Rechtsrahmen des Marketing (2002), S. 254. Siehe hierzu bspw. Ohly, in: Piper/Ohly, 4. Auflage (2006), § 7 UWG, Rdn. 33 f. Vgl. Köhler, in: Baumbach/Hefermehl, UWG, 27. Auflage (2009), § 7, Rdn. 30; Ohly, in: Piper/Ohly, 4. Auflage (2006), § 7 UWG, Rdn. 32.
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tet einfach sofort wieder aufzulegen.99 In Deutschland ist anders als in vielen anderen Rechtsordnungen auch aus den letztgenannten Gründen die Praktik des cold-calling, also des aktiven Anrufens einer Person ohne deren Einwilligung100 und ohne bestehenden Geschäftskontakt, unzulässig.101 Bei einer Werbung per automatische Anrufmaschine, per Fax oder Email ist eine ausdrückliche Einwilligung des Rezipienten erforderlich.102 Aufgrund dieses grundsätzlichen Verbots unter Einwilligungsvorbehalt dieser Direktmarketinginstrumente, spielen sie in Deutschland auch im Versicherungsgewerbe eine eher geringere Rolle. Zwar wurden diese Verbote wiederholt als wenig effektiv und oft umgangen beschrieben,103 aber auf Grund der nunmehr bestehenden Möglichkeit der Gewinnabschöpfung (§ 10 UWG) und dem Bedürfnis der Versicherungswirtschaft, dem Kunden gegenüber so seriös wie möglich aufzutreten, wird eine Missachtung mittel- und langfristig kaum vorteilhaft sein.
2.7
Versicherungsvertragsrecht inklusive AGB-Recht
Zentrale Bedeutung für den Rechtsrahmen des Versicherungsmarketing hat das Versicherungsvertragsrecht. Diese vorrangig im Versicherungsvertragsgesetz (VVG) geregelte Materie gibt dem Versicherer mittels zwingender und halbzwingender Normen – also solcher Normen von denen nur zum Vorteil des Versicherungsnehmers abgewichen werden kann104 – vor, wie Produkte auszugestalten sind, welche Risiken versicherbar sind,105 welche Rechtsfolgen eine Obliegenheitsverletzung nach sich ziehen darf, wie Verträge zustande kommen, wann AVB in den Vertrag einbezogen wurden, welche Nebenpflichten den Versicher treffen etc. Aber auch dispositive rechtliche Regeln des VVG sind hier von Belang, da man sich beim Entwurf des Produktes oder anderen Marketingaktivitäten darüber
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Siehe Ubber, in: Harte-Bavendamm, 2. Auflage (2009), § 7 UWG, Rdn. 121; Köhler, in: Baumbach/Hefermehl, UWG, 27. Auflage (2009), § 7, Rdn. 49. Wenn es sich beim Rezipienten nicht um einen Verbraucher sondern um einen sonstigen Marktteilnehmer handelt genügt bereits eine mutmaßliche Einwilligung; § 7 Abs. 2 Nr. 2 UWG. Kritisch zu diesem Verbot Paschke, WRP 2002, S. 1219; einführend Ohly, in: Piper/Ohly, 4. Auflage (2006), § 7 UWG, Rdn. 36 ff. § 7 Abs. 2 Nr. 3 UWG; hierzu Ohly, in: Piper/Ohly, 4. Auflage (2006), § 7 UWG, Rdn. 57 ff. Ohly, in: Piper/Ohly, 4. Auflage (2006), § 7 UWG, Rdn. 36 mit zahlreichen Nachweisen. Siehe zur Kategorie der halbzwingenden Vorschriften bspw. Wandt, Versicherungsrecht, 4. Auflage (2009), Rdn. 159. Man denke hier beispielsweise an die Lösegeldversicherung (kidnap & ransom insurance), die in Deutschland über lange Jahre als unzulässig, da gegen den sog. ordre public verstoßend, angesehen wurde; vgl. Schneider, Versicherungsschutz gegen Erpressungen (2003), S. 11.
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klar werden muss, ob man die Grundregelung des Gesetzes beibehalten möchte oder ob man eine abweichende Regelung herbeiführen will und wenn ja, welche und wie dies zu bewerkstelligen ist. Bei der Produktgestaltung ebenfalls zu beachten sind insbesondere die AGB-rechtlichen Vorschriften der §§ 305 ff. BGB, wenn es sich bei dem zu vermarktenden Produkt um eine Pflichtversicherung handelt, müssen ferner die gesetzlichen Vorschriften zur Mindestdeckung beachtet werden. Im Rahmen eines Handbuchs auch nur ansatzweise einen sinnvollen Überblick über das Versicherungsvertragsrecht zu geben, erscheint illusorisch. Es ist am einzelnen Mitarbeiter der Marketingabteilung sich mittels einführender Literatur106 oder interner Schulung einen Einblick in diese Materie zu verschaffen oder aber ad hoc in Bezug auf ein einzelnes Produkt mit Mitarbeitern der Rechtsabteilung über eventuelle rechtliche Probleme zu sprechen.
2.8
Versicherungsaufsichtsrecht
Das zum Versicherungsvertragsrecht Gesagte gilt ebenso für das Versicherungsaufsichtsrecht. Auch hier muss der Versuch einer abschließenden Darstellung an der Fülle wichtiger marketingbezogener Anknüpfungspunkte scheitern. Grob dargestellt handelt es sich beim Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) um die normative Ordnung des Versicherungsmarktes – bestehend aus Verhaltensanforderungen an die Beaufsichtigten und Kompetenzen der Aufsichtsbehörde (der BaFin) – deren Schutzziele die Wahrung der Belange der Versicherten und das Funktionieren des Versicherungswesens sind.107 Der versicherungsaufsichtsrechtliche Einfluss auf das Marketing reicht bspw. vom Verbot versicherungsfremde Geschäfte zu führen (§ 7 Abs. 2 VAG), über das Prinzip der Spartentrennung (§ 8 Abs. 1a VAG) bis hin zur Missstandsaufsicht (§§ 81 ff. VAG).
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Empfehlenswert bspw. Wandt, Versicherungsrecht, 4. Auflage (2009); Schimikowski, Versicherungsvertragsrecht, 4. Auflage (2009); eine eher punktuelle Einführung in die Neuerungen durch die VVG-Reform Marlow/Spuhl, Das neue VVG, 3. Auflage (2008). Kaulbach, in: Fahr/Kaulbach/Bähr, VAG, 4. Auflage (2007), vor § 1, Rdn. 3 ff.; R. Schmidt/Präve, in: Prölss, Versicherungsaufsichtsgesetz, 12. Auflage (2005), Vorbem. Rdn. 56 ff.
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Literatur Baumbach/Hefermehl (Bgrd.), Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb: Preisabgabenverordnung - Unterlassungsklagengesetz, 27. Aufl. 2009. Beckmann/Matusche-Beckmann (Hrsg.), Versicherungsrechts-Handbuch., 2. Aufl. 2009. Benkard (Brgd.), Patentgesetz, Gebrauchsmustergesetz, 10. Aufl. 2006. Bischoff, Mißbrauch der Limited in Deutschland, ZInsO 2009, S. 164 ff. Brenner/Schmidt-Cotta, Der Einsatz von Unfalldatenspeichern unter dem Brennglas des Europarechts, SVR 2008, S. 41 ff. Bruck/Möller (Brgd.), Versicherungsvertragsgesetz: Großkommentar, 9. Aufl. 2008. Gardini/Dahlhoff (Hrsg.), Management internationaler Dienstleistungen: Kontext – Konzepte –Erfahrungen 2004. Bunke, Gebrauchsmusterschutz oder kleines Patent, GRUR 1957, S. 110 ff. Bunte/Stancke, Leitfaden Versicherungskartellrecht: ein Leitfaden für Vorstände, Führungskräfte und Mitarbeiter zur Vermeidung von Verstößen gegen das Kartellrecht im Versicherungsgeschäft, 2. Aufl. 2007. Dreher, Die Versicherung als Rechtsprodukt 1991. Eichholz, Herabsetzung durch vergleichende Werbung: eine Untersuchung zum europäischen, deutschen, englischen und österreichischen Recht 2008. Eichmann/v. Falckenstein (Hrsg.), Geschmacksmustergesetz: Gesetz über den rechtlichen Schutz von Mustern und Modellen, 3. Aufl. 2005. Ekey/Kippel/Bender (Hrsg.), Markenrecht, 2. Aufl. 2009. Ensthaler, Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht, 3. Aufl. 2009. Erdogan, Vergleichende Werbung nach § 6 UWG 2008. Fahr/Kaulbach/Bähr (Hrsg.), VAG: Versicherungsaufsichtsgesetz – Kommentar, 4. Auflage (2007); Fezer, Markenrecht, 3. Aufl. 2001. Fröndhoff, Harmonisierung des Rechts der vergleichenden Werbung durch die Richtlinie 97/55/EG? 2004. Gamm/Sohn, Versicherungsvermittlerrecht – Rechtliche Auswirkungen, 2007. GDV, Geschäftsentwicklung 2004 – Die deutsche Lebensversicherung in Zahlen, 2005. GDV, Geschäftsentwicklung 2005 – Die deutsche Lebensversicherung in Zahlen, 2006.
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Görgen, Versicherungsmarketing: Strategien, Instrumente und Kontrolling, 2. Aufl. 2007. Görgen/Wiebe, Neue Entwicklungen auf dem russischen Versicherungsmarkt aus der Sicht internationaler Versicherer, ZfV 2003, S. 750 ff. Greiner/Freymuth, Der brasilianische Versicherungsmarkt – Strategien für das Auslandsgeschäft deutscher Versicherungsunternehmen, ZVersWiss 1999, S. 99 ff. Grimm, Der Versicherungsmarkt in der VR China, ZfV 2005, S. 818 ff. Gründl/Perlet (Hrsg.), Solvency II & Risikomanagement, 2005. Göttgens u.a. (Hrsg.), Profitables Markenmanagement: Strategien – Konzepte – Best Practices, 2003. Günther, Betrugsaufklärung versus Datenschutz am Beispiel der Sachversicherung, VersR 2003, S. 18 ff.; Halm u.a. (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts – Versicherungsrecht, 3. Aufl. 2008. Harte-Bavendamm (Hrsg.), Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) mit Preisangabenverordnung: Kommentar, 2. Aufl. 2009. Herdter, Der Gruppenversicherungsvertrag – Grundlagen und ausgewählte Problemfelder (Manuskript). Herrmann, Zillmerungsregeln in der Lebensversicherung und kein Ende, VersR 2009, S. 7 ff. Holtz, Vergleichende Werbung in Deutschland: die Zulässigkeit vergleichender Werbung nach der UWG-Novelle 2009. Hujber, Werbung von Versicherungsunternehmen: Eine Analyse der versicherungsspezifischen Besonderheiten, 2005. Ingerl/Rohnke (Hrsg.), Markengesetz – Gesetz über den Schutz von Marken und sonstigen Kennzeichen, 2. Aufl. 2003. Kadelbach, Das funktionelle Verständnis des § 2 UWG (vergleichende Werbung) 2007. Kebbedies, Vergleichende Werbung: die europäischen Harmonisierungsbemühungen im deutschen und englischen Lauterkeitsrecht, 2005. Kirscht, Versicherungskartellrecht: Problemfelder im Lichte der Europäisierung, 2003. Kotler u.a., Marketing Management – European Edition, 1. Aufl. 2009. Kraßer, Patentrecht: Ein Lehr- und Handbuch zum deutschen Patent- und Gebrauchsmusterrecht, Europäischen und Internationalen Patentrecht, 6. Aufl. 2009.
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Kühling u.a., Datenschutzrecht, 2008. Marlow/Spuhl, Das neue VVG kompakt – Ein Handbuch für die Rechtspraxis, 3. Aufl. 2008. Meier, Der rechtliche Schutz patientenbezogener Gesundheitsdaten, 2003. Meyer-Lindemann, Das Versicherungskartellrecht in Deutschland nach der 7. GWB-Novelle, 2006. Möhring/Nicolini (Hrsg.), Urheberrechtsgesetz: Kommentar, 2. Aufl. 2000. Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 5. Aufl. 2007. Münchener Kommentar zu Lauterkeitsrecht, 2006. Münchener Kommentar zum Versicherungsvertragsgesetz, 2009. Neumayer, Werbung der Versicherungen: Grenzen zulässiger Werbung von Versicherungsunternehmen nach nationalem und europäischem Recht, 1993. Nießen, Solvency-II – Bedrohung oder Chance für kleine Versicherer?, RisikoManager 2009, Heft 15, S. 12 ff. Nordemann, Innovationsschutz für Versicherungsprodukte, ZVersWiss 1995, S. 129 ff. Paschke, Zur Liberalisierung des Rechts des Telefonmarketing, WRP 2002, S. 1219 ff.; Pepels, Handbuch des Marketing, 5. Aufl. 2009. Piper/Ohly (Hrsg.), Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb mit Preisangabenverordnung: Kommentar, 4. Aufl. 2006. Preißer/Sieben, Die Neuordnung der Besteuerung von Altersvorsorgeaufwendungen und Altersvorsorgebezügen, 2005. Prölss (Hrsg.), Versicherungsaufsichtsgesetz, 12. Aufl. 2005. Reinbacher, SWOT-Analyse: Der Klassiker für Fortgeschrittene, OrganisationsEntwicklung, 2009, S. 72 ff. Rüffer u.a. (Hrsg.), Versicherungsvertragsgesetz – Handkommentar, 2009. S[urminski], Versicherungsinnovationen, ZfV 2005, S. 235. Šaponjić, Vergleichende Werbung: Rechtslage, Praxis, Perspektiven, 2007. Sauer/Thiele, Pay-as-you-drive – Top oder Flop?, VW 2006, 1153 ff. Schimikowski, Versicherungsvertragsrecht, 4. Aufl. 2009. Schlenk, Quo vadis Gebrauchsmusterrecht? – Anmerkungen zu der anstehenden Gebrauchsmuster-Novelle, GRUR 1985, S. 755 ff. Schneider, Versicherungsschutz gegen Erpressungen, 2003. Schröder, Die neue Rentenbesteuerung: das Alterseinkünftegesetz, 2005.
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Teil II Theoretische Grundlagen des Versicherungsmarketing
Kapitel 5 Theoretische Grundlagen des Versicherungsmarketing Tim Sutor
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Einleitung
Mit der Etablierung des Marketing als wissenschaftliche Disziplin sind unterschiedliche Forschungsansätze und Theorien entwickelt worden. Diese werden zum Teil ergänzend oder auch konkurrierend zur Analyse, Erklärung und Gestaltung des Marketing betrachtet. Das Versicherungsmarketing, interpretiert als spezielle Form des Dienstleistungsmarketing, kann auf vorhandenen Ansätzen aus Marketing und Dienstleistungsmarketing aufbauen. Es setzt gleichsam aber die Berücksichtigung einer Reihe von Besonderheiten voraus. Ausgangpunkt des folgenden Beitrages sind die Dienstleistungscharakteristika und spezifischen Wesensmerkmale der Versicherung. In der Folge wird deutlich, dass alleine die Betrachtung des Kernproduktes „Versicherungsschutz“ nicht ausreicht. Kunden rücken die Kundenbeziehung in den Vordergrund. Ein fehlerloses Kernprodukt wird von ihnen als Selbstverständlichkeit eingestuft. Dennoch konzipieren Versicherer vielfach allein rein sachlich-rationale Leistungsbestandteile. Leistungen, die mit der Interaktion und Beziehung verbunden und für den Kunden sehr wichtig sind, beispielsweise spezielle Serviceleistungen, werden dagegen häufig vernachlässigt. Mit dem Marketingkonzept und dem Drei-Ebenen-Konzept der Versicherung werden zwei Ansätze vorgestellt, anhand derer sich die geforderte Kundenorientierung in der Produktgestaltung verankern lässt. Das Produkt Versicherung wird im Sinne einer Gesamtleistung betrachtet, die über das Kernprodukt hinausgehende Problemlösungsbündel für den Kunden bereitstellt. Angesichts der aufzuzeigenden Besonderheiten des Versicherungsproduktes und deren Implikationen für das Versicherungsmarketing kommt einer fundierten theoretischen Basis eine hohe Bedeutung zu. Die vorhandenen Ansätze der Marketingtheorie liefern verschiedene Erklärungsbeiträge und Handlungsempfehlungen für das Versicherungsmarketing. Die Besonderheiten der Dienstleistung Versicherung induzieren jedoch teilweise eine nur eingeschränkte Relevanz einiger Theorien, ohne im Rahmen dieses Beitrages deren vertiefende Diskussion und Bewertung vornehmen zu wollen. Vielmehr sollen mit der Informationsökonomik M.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing, DOI 10.1007/978-3-642-10276-9_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
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und der Transaktionskostentheorie zwei Ansätze der Neuen Institutionenökonomie vorgestellt werden, denen eine grundsätzliche Eignung zur theoretischen Fundierung des Dienstleistungsmarketing zugesprochen wird. Gleiches gilt für die Interaktions- und beziehungsorientierten Ansätze sowie die Involvement-Theorie. Diese werden im Rahmen der verhaltenswissenschaftlichen Marketingtheorien behandelt. Die genannten Theorien setzten sich alle im Kern mit dem Kunden und der Kundenbeziehung auseinander. Dabei beleuchten sie die Problemstellungen im Versicherungsmarketing aus unterschiedlichen Perspektiven. Der Erklärungsbeitrag der Neuen Institutionenökonomik bezieht sich speziell auf bestehende Informationsasymmetrien zwischen Anbietern und Nachfragern unter Unsicherheit. Die interaktions- und beziehungsorientierten Ansätze betrachten die Kundenbeziehung in einem dynamischen und umfassenderen Sinne. Hier wird nicht nur die Informationsverteilung bei einer Transaktion analysiert, sondern die gesamte Kundenbeziehung über einen längerfristigen Zeitraum untersucht. Anders die InvolvementTheorie, die wertvolle verhaltenspsychologische Beiträge im Kontext von Kaufentscheidungen von Versicherungsprodukten liefert. Die einzelnen Erklärungsansätze tragen in unterschiedlicher Weise zum Verständnis der Versicherung und theoretischen Fundierung des Versicherungsmarketing bei. Die nachfolgenden Ausführungen greifen die wichtigsten Erkenntnisse zu diesem Thema auf, um sie gleichzeitig auf die Berücksichtigung grundlegender Besonderheiten der Versicherung zu prüfen.
2
Produktspezifische Besonderheiten der Versicherung und Implikation für das Versicherungsmarketing
2.1
Dienstleistungscharakteristika der Versicherung
Die Fachexperten sind sich grundsätzlich einig, dass es sich bei der Versicherung um eine Dienstleistung handelt. Eine Dienstleistung umfasst „jede einem anderen angebotene Tätigkeit oder Leistung, die im Wesentlichen immaterieller Natur ist und keine direkten Besitz- oder Eigentumsveränderungen mit sich bringt“ (Kotler/Bliemel 2006, S. 772). Dienstleistungen weisen gegenüber Sachgütern verschiedene Besonderheiten auf. Sie kennzeichnen sich durch drei konstituierende Merkmale, aus denen sich verschiedene Implikationen für das Marketing ableiten (vgl. Meffert/Bruhn 2009, S. 40): (1) Notwendigkeit der Leistungsfähigkeit des Dienstleistungsanbieters Keine Dienstleistung kann ohne spezifische Leistungsfähigkeiten erstellt werden (zum Beispiel Know-how, körperliche Fähigkeiten, Technologien). Dieses bedeu-
5 Theoretische Grundlagen des Versicherungsmarketing
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tet für fähigkeitsintensive Dienstleister wie Versicherungen, besonders bei herausragenden Wettbewerbsvorteilen die vorhandenen Kompetenzen in den Vordergrund stellen und dokumentieren zu müssen (zum Beispiel in der Produktentwicklung). Handelt es sich um marktübliche Standards, sind dagegen das Personal, das Unternehmen oder profilierende Leistungselemente zu betonen. (2) Integration des externen Faktors in den Dienstleistungserstellungsprozess Der Prozess der Dienstleistungserstellung zielt stets auf eine Veränderung an bestehenden Objekten oder Menschen ab, über die der Kunde die Verfügungsgewalt behält. Für Versicherungen gilt dieses beispielsweise für das Erreichen der inneren Sicherheit des Kunden (Wissen um Versicherungsschutz). Demzufolge kann kein Dienstleistungsanbieter unabhängig vom Kunden oder dessen Objekt leisten. Der Anbieter ist an die Mitwirkung des Fremdfaktors (hier: Kunde) geknüpft, dessen Beteiligung aktiv oder passiv erfolgt. Für das Marketing resultiert hieraus Erfordernis und Chance zugleich, den Kunden in die Leistungserstellung einzubinden. (3) Immaterialität der Leistung Dienstleistungen sind intangibler Natur. Eine Versicherung kennzeichnet sich durch ihren immateriellen Status. Hieraus resultieren zwei weitere Abgrenzungskriterien von Dienstleistungen, die Nicht-Lagerfähigkeit und die Nicht-Transportfähigkeit. Eine zentrale Schlussfolgerung leitet sich aus der Immaterialität ab: Die Materialisierung von Dienstleistungen. Um die Aufmerksamkeit des Kunden zu wecken, muss auf die Art und Qualität der (intangiblen) Leistung hingewiesen werden. Die fehlende Lagerfähigkeit impliziert die Anforderung nach einer intensiven Koordination zwischen Produktion und Nachfrage. Für Versicherungen ist die Koordination von Innen- (Produktion) und Außendienst (Produktnachfrage) konstitutiv. Die Nicht-Transportfähigkeit verweist darauf, dass Konsum und Leistung zusammenfallen (Uno-actu-Prinzip). Versicherungen werden zeitgleich produziert und verkauft. Mit der theoretischen Einordnung der Versicherung als Dienstleistung bleibt noch immer die Frage offen, inwiefern sich Versicherungen von anderen Dienstleistungen unterscheiden. Welche produktspezifischen Besonderheiten weisen sie auf und welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für das Marketing? Zur Beantwortung soll auf die anerkannte Definition des Versicherungsproduktes nach Farny zurückgegriffen werden (vgl. Farny 2006, S. 8 und S. 22): Versicherung ist der Transfer einer aus Sicht des Kunden ungewissen Wahrscheinlichkeitsverteilung von Schäden auf den Versicherer gegen Zahlung einer tendenziell festen Prämie. (Kundensicht) Versicherung ist die Deckung eines (aus Sicht des Versicherers) im einzelnen ungewissen, insgesamt geschätzten Mittelbedarfs auf der Grundlage des Risikoausgleichs im Kollektiv und in der Zeit. (Versicherersicht) Aus dem Dienstleistungscharakter der Versicherung resultieren in Verbindung mit ihren Wesensmerkmalen einige Besonderheiten des Versicherungsproduktes:
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Der Versicherungsschutz • • • • • • • • • • •
ist nicht gegenständlich, nicht greifbar und nicht sichtbar, ist eine momentan nicht realisierbare Leistung, bietet demzufolge keinen konkreten Grenzwert, ist einem latenten Bedürfnis ausgesetzt, das erst geweckt werden muss, wird gleichzeitig produziert und verkauft (Uno-actu-Prinzip), deckt einen nur schwer fassbaren Zukunftsbedarf, weist einen abstrakten Nutzen auf, verspricht keinen Prestigenutzen, ist typischerweise mit negativen Assoziationen verbunden, führt meist zu einer längerfristigen Vertragsbindung und bedarf zum Risikoausgleich im Kollektiv der „Massenproduktion“.
In der Konsequenz muss sich das Marketingmanagement insbesondere mit vier negativen Produktcharakteristika auseinandersetzen (vgl. Köhne 2006, S. 304): 1. Versicherungsprodukte weisen aufgrund ihrer Immaterialität und Abstraktheit eine hohe Erklärungsbedürftigkeit auf. 2. Versicherungsprodukte kennzeichnen sich durch die Schwerverkäuflichkeit einer Leistung, die der Kunde typischerweise nach dem Eintritt eines negativen Ereignisses erhält oder die ihn zumindest dazu zwingt, sich gedanklich mit negativen Ereignissen auseinanderzusetzten. 3. Versicherungsprodukte und konkret der Versicherungsschutz an sich stellen kein selbstwerbendes Gut dar. 4. Versicherungskunden weisen eine relativ geringe Konsumneigung auf. Abbildung 5.1 fasst die bisherigen theoretischen Ausführungen zusammen und gibt einen Überblick über deren verschiedene Implikationen. Festzuhalten bleibt, dass die Besonderheiten des Versicherungsprodukts das Marketing strategisch und operativ beeinflussen und ihre Berücksichtigung wichtige Beiträge zur Vorbereitung marketingpolitischer Entscheidungen liefern können (vgl. Abb. 5.1).
5 Theoretische Grundlagen des Versicherungsmarketing
Besonderheiten des Versicherungsprodukts
Merkmale von Dienstleistungen 1
Notwendigkeit der Leistungsfähigkeit
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Implikationen für das Versicherungsmarketing
• nicht gegenständlich, nicht greifbar und nicht sichtbar
1 Hohe Erklärungsbedürftigkeit
• momentan nicht realisierbare Leistung
2
3
Integration des externen Faktors
• bietet demzufolge keinen konkreten Grenzwert • ist einem latenten Bedürfnis ausgesetzt, das erst geweckt werden muss • wird gleichzeitig produziert und verkauft (Uno-actu-Prinzip)
Immaterialität
• deckt nur einen schwer fassbaren Zukunftsbedarf • weist nur abstrakten Nutzen auf • verspricht keinen Prestigenutzen
2 Schwerverkäuflichkeit / Negativassoziationen
3 Kein für sich selbstwerbendes Gut
4 Vergleichsweise geringe Konsumneigung
• meist mit negativen Assoziationen verbunden • längerfristige Vertragsbindung • bedarf der „Massenproduktion“
Quelle:
Eigene Darstellung
Abb. 5.1: Dienstleistungscharakteristika der Versicherung und Implikationen
2.2
Gesamtleistung Versicherung als Gestaltungsobjekt des Versicherungsmarketing
Bereits mit der Definition der Versicherung als Dienstleistung wird deutlich, dass allein die Betrachtung des Kernproduktes „Versicherungsschutz“ nicht ausreichend ist. Es ist notwendig, das Kernprodukt „Versicherungsschutz“ in problemlösungsorientierte Dienstleistungsbündel für den Kunden einzubinden und im Sinne einer Gesamtleistung zu vermarkten. Kundenorientierung tritt in den Vordergrund. Eine theoretische Basis für diese Perspektive liefert das so genannte Marketingkonzept nach Haller (vgl. Abb. 5.2). 1. Kundenbezogenheit
2. Problemorientierung
1. Kunde / Vertriebspartner
1a Welches Grundbedürfnis?
Quelle:
1b Welche Funktion können wir dabei erfüllen?
3. Produktion / Verwaltung
2. Welche Marktleistung benötigt der Vertriebspartner / Kunde, um sein Problem zu lösen?
2a Welches Produkt?
In Anlehnung an Haller 2000, S. 274
Abb. 5.2: Marketingkonzept in der Versicherung
2b Welche Dienstleistung?
3. Produktion / Verwaltung zur optimalen Erfüllung von 1 und 2
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Ausgangpunkt des Marketingkonzeptes sind Märkte und deren Potenziale. Für Versicherungsunternehmen gilt es zu beantworte beantworten: n: Welche latenten Wünsche, Bedürfnisse und Probleme weisen (potenzielle) Vertriebspartner und Endkunden auf (1a)? Welche Funktionen kann die eigene Leistung beim Kunden erfüllen und welche sollte sie erfüllen (1b)? Auf dieser Grundlage ist im zweiten Schritt Schritt die Marktleistung als Kombination von Produkt (2a) und Dienstleistung (2b) zu gestalten. Die Markleistung sucht konsequent nach adäquaten Problemlösungen für den Kunden (2 Problemorientierung). Erst im dritten Schritt geht es um die Leistungserstellung. Die Bedingungen (1) und (2) sind optimal zu erfüllen und die Wertschöpfungskette adäquat zu konfigurieren (3 Produktion und Verwaltung). In der Umsetzung heißt Kundenorientierung damit andauernde Anpassung und Änderung, um in einem integrierten Ansatz verbesserte verbesserte Problemlösungen für den Kunden zu entwickeln. Die Denkhaltung kehrt sich vom Produkt zum Kunden, der zum Dreh- und Angelpunkt des Marketingprozesses wird. Eng verbunden mit dem Marketingkonzept ist das Drei-Ebenen-Konzept. Das Drei-Ebenen-Konzept unterteilt die Gesamtleistung Versicherung in drei Produktebenen, die einen Wert für den Kunden generieren (vgl. Abb. 5.3).
Quelle: In Anlehnung an Haller 2000, S. 282
Abb. 5. 3: Drei-Ebenen-Konzept des Versicherungsproduktes
Ebene 1 besteht aus dem Kernprodukt Kernprodukt „Versicherungsschutz“. Auf den Ebenen 2 (Kernfunktionen) und 3 (erweiterte Funktionen) werden mit Blick auf den Kunden und die Beziehung die Hauptwirkungen erzielt. Zu den drei Produktebenen folgende Vertiefung (vgl. Köhne 2006, S. 304):
5 Theoretische Grundlagen des Versicherungsmarketing
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• Ebene 1 umfasst mit der Versicherungsdeckung das Kernprodukt. Das Kernprodukt beinhaltet die technisch-leistungswirtschaftliche, finanzielle und soziale Dimension. Der Versicherte erfährt eine innere Sicherheit (Wissen um Versicherungsschutz) und eine äußere Sicherheit (Verfügen über Versicherungsschutz). Nach dem Schutzkonzept besteht die Leistungserbringung des Versicherers nicht in der Schadenzahlung. Entscheidend ist die während der Vertragsbeziehung vermittelte Gewissheit, formulierte finanzielle Ziele trotz Störungen erreichen zu können. Der Versicherungsvertrag konstituiert den objektiven Rahmen. Dieser berücksichtigt auch Dienstleistungen im Schadenfalle. Insofern sind in der Produktgestaltung Spielräume für nachfragegerechte Serviceleistungen „rund um die Schadenzahlung“ zu schaffen. • Ebene 2 ergänzt das Kernprodukt zur Marktleistung Versicherung. Unmittelbar an der Grundfunktion des finanziellen Sicherns orientiert, erweitern flankierende Dienstleistungen das Kernprodukt zur Marktleistung Versicherung. Beispiele hierfür sind Beratung, Abschluss, Betreuung, Schadenbearbeitung oder auch Convenience beim Service, wie Schnelligkeit oder Einfachheit. Versicherungsanbietern stellt sich die Frage, wie Komponenten und Dienstleistungen kundenorientiert zusammengeführt und standardisierte Kernprodukte individualisiert werden können. Die kundenorientierte Beratung und Betreuung betreffen den gesamten Sicherungsprozess, angefangen von der Berücksichtigung der individuellen Risikoneigung bis zur Betreuung im Schadenfalle. Beratungs- und Unterstützungsleistungen innerhalb der Schadenbearbeitung sind somit Bestandteile der Marktleistung Versicherung. • Ebene 3 beschreibt die Gesamtleistung Versicherung. Die bisherige Marktleistung wird mit erweiterten Funktionen kombiniert. Während ein isolierter Versicherungsschutz an Bedeutung verliert, sichert die Bündelung verschiedener Problemlösungen und funktionsorientierter Leistungen die Marktposition gegen den Wettbewerb ab. Zur Absicherung der Wettbewerbsposition lässt sich auf der Ebene 3 die Gesamtleistung der Versicherung erweitern (vgl. Rahlfs 2007, S. 124): 1. Erweiterung in der finanziellen Dimension Erweitert das Leistungsangebot um verbundene Finanzdienstleistungen (Allfinanz). Kombiniert verschiedenste Finanzdienstleistungsfunktionen, zum Beispiel die Leistung Schutz mit den Funktionen Einnehmen und Ausgeben, Vermögensbildung und Sparen sowie Anlegen und Verteilen. 2. Erweiterung in der technisch-leistungswirtschaftlichen Dimension Orientiert sich an einer Spezialisierung im technischen Bereich. Stellt eine Erweiterung der Wertschöpfungstiefe dar. Mögliche Optionen sind die Vertiefung der Risiko-Management-Beratung oder das Angebot von Managed-Care-Leistungen in der Kranken- und Unfallversicherung.
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3. Erweiterung in der sozialen Dimension Bietet die Chance, mit so genannten Total-Care-Strategien den sozialen und emotionalen Kundenanforderungen zu begegnen. Umfassen beispielsweise Altersleistungen immaterieller Natur und Assistance-Leistungen aller Art. Die Ausführungen verdeutlichen in der Zusammenfassung die Chance der Versicherer, sich durch die geschickte Kombination von finanziellen und nichtfinanziellen Funktionen im Wettbewerb zu differenzieren. Gerade die erweiterten Funktionen, zum Beispiel in der sozial-psychologischen Dimension, machen das Produkt aus Kundensicht letztlich aus (vgl. Haller/Mass/Ackermann 2004, S. 630).
3
Erklärungsbeiträge ausgewählter theoretischer Ansätze zum Versicherungsmarketing
3.1
Institutionenökonomische Ansätze und deren Erklärungsbeitrag zum Versicherungsmarketing
Die Neue Institutionenökonomie hat sich als Theorie aus der mikroökonomischen Tradition entwickelt. Sie ist bestrebt, die Unvollkommenheit der Märkte durch die Einbeziehung von Unsicherheit über das Verhalten der Marktteilnehmer und zukünftige Marktentwicklungen realitätsnäher abzubilden. Die Abwicklung von Transaktionen verursacht aus Sicht der Akteure Kosten in Form von Geld, Zeit und Bemühungen. Nach der Theorie dienen Institutionen, beispielsweise Unternehmen, dazu, die vorhandenen Unsicherheiten zu reduzieren und Anreize zu schaffen. Verknüpft man die Funktion des Marketing mit den Gedanken der Neuen Institutionenökonomie, dient das Marketing der Koordination von Marktteilnehmern und Förderung von Transaktionen. Marketing wirkt in diesem Sinne als eine Institution, die Unsicherheit reduziert, Anreize setzt und Transaktionskosten senkt (vgl. Kaas 1995, S. 5). Aufgabe des Versicherungsmarketing als Institution ist es, die hohen Unsicherheitsgrade und Informationsasymmetrien der Marktteilnehmer zu reduzieren. Marketingstrategisch werden zu diesem Zweck weitere Institutionen erzeugt. Hierzu zählen beispielsweise Anbietermarken, qualifiziertes Dienstleistungspersonal oder dauerhafte Geschäftsbeziehungen, die alle vor dem Hintergrund der Immaterialität der Versicherung unsicherheitsmindernd wirken. Die Neue Institutionenökonomie bietet gerade zu diesen Problemstellungen einen geeigneten analytischen Rahmen, auf explikativer wie auf normativer Ebene (vgl. Meffert/Bruhn 2009, S. 55).
5 Theoretische Grundlagen des Versicherungsmarketing
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3.1.1 Ansätze der Informationsökonomie Die Informationsökonomik untersucht das aus Unsicherheitsphänomenen abgeleitete Informationsverhalten auf Märkten. Im Vordergrund steht die Analyse der Voraussetzungen und Konsequenzen von Informationsasymmetrien zwischen Anbietern und Nachfragern. Beide kennzeichnet bei jeder Erst- beziehungsweise Einzeltransaktion ein Informationsdefizit, das auf leistungs- und transaktionspartnerbezogene Informationsprobleme zurückgeführt werden kann. Die bestehenden Unsicherheiten und Informationsasymmetrien fördern implizit opportunistische Verhaltensweisen eines besser informierten Transaktionspartners. Beide werden daher bemüht sein, durch die Beschaffung von Informationen ihre Unsicherheiten zu reduzieren. Die Informationsökonomie unterscheidet zwei Formen der Informationsbeschaffung und -übertragung (vgl. Abb. 5.4): • Signaling = aktive Bereitstellung glaubwürdiger Informationen durch den besser informierten Marktteilnehmer • Screening = aktive Suche nach relevanten Informationen durch den schlechter informierten Marktteilnehmer. SIGNALING (Informationsaussendung)
ANBIETER
Besser informiert bezüglich der eigenen Potenziale
Schlechter informiert bezüglich des externen Faktors
• Darstellung der eigenen Leistungsfähigkeiten
• Nachweis der Zahlungsfähigkeit
• Übernahme von Servicegarantien • Referenzkunden, Reputation, Image
NACHFRAGER
• Marktforschung • Aufforderung zur Selbsteinordnung
Besser informiert bezüglich des externen Faktors
Schlechter informiert über die Potenziale der Anbieter
• Preisgabe konkreter Informationen zum Individualisierungsbedarf
• Angebotsvergleiche (Preis, Qualität, Service etc.)
• Kundenerwartung und Kundenzufriedenheit
• Mund-zu-Mund-Kommunikation
• Bereitschaft zur Selbsteinordnung
Quelle:
SCREENING (Informationssuche)
• Rating-Agenturen, Testergebnisse
Eigene Darstellung
Abb. 5.4: Informationsaktivitäten der Marktpartner
Aus Sicht des Versicherungsanbieters dienen Signaling-Maßnahmen der Verbreitung glaubwürdiger Informationen über die Fähigkeiten des Unternehmens. Sie sind insbesondere Gegenstand der Kommunikationspolitik. Eine gute Reputation oder Servicegarantien sind Informationssignale, denen eine hohe Glaubwürdigkeit zugesprochen wird. Die klassische Werbung gilt vergleichsweise weniger glaub-
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würdig und damit weniger geeignet, Unsicherheiten abzubauen (vgl. KroeberRiel/Weinberg/Gröppel-Klein 2009, S. 657).
Im Kontext der (Neu-)Kundenakquisition ist es für Versicherer interessant, welche Screening-Aktivitäten ihre Nachfrager auszeichnen. Gebräuchlichstes Gebräuchlichstes Muster sind Angebotsvergleiche zwischen mehreren Anbietern, in der einfachsten Form die Suche nach Entscheidungshilfen im Internet (zum Beispiel anhand von Testergebnissen, Ratings und Preisvergleichen). Empfehlungen aus dem sozialen Umfeld bieten ein zweites besonders effektives Signal. Freunde, Familie oder Bekannte agieren als neutral eingestufte Dritte, deren Urteil als Qualitätssurrogat fungiert. Demzufolge sind die Beziehungsgeflechte der Kunden marketingstrategisch in die Überlegungen mit einzubeziehen. Das Ausmaß der aktiven Informationssuche des Kunden ist abhängig von der zu Beginn des Kaufentscheidungsprozesses wahrgenommenen Dominanz an Such-, Erfahrungs- und Vertrauenseigenschaften des Produktes (vgl. Abb. 5.5).
Quelle: In Anlehnung an Weiber/Adler 1995, S. 61
Abb. 5.5: Informationsökonomisches Dreieck
Hierzu eine Detaillierung:
• Sucheigenschaften Kennzeichnen sich dadurch, dass die Leistungsmerkmale vom Kunden bereits vor dem Kauf vollständig beurteilt werden können. • Erfahrungseigenschaften Eine Leistungsbeurteilung kann durch den Kunden erst ex post erfolgen, entweder direkt nach dem Kauf oder erst anhand der beim Gebrauch beziehungsweise Verbrauch gemachten Erfahrungen.
5 Theoretische Grundlagen des Versicherungsmarketing
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• Vertrauenseigenschaften Die Qualitätsmerkmale lassen sich vom Kunden selbst nach Kauf und Nutzung nicht vollständig beurteilen. Das erforderliche Wissen um das Produkt beziehungsweise die Dienstleistung liegt nicht vor und kann nicht in angemessener Zeit aufgebaut werden. Die Zuordnung einzelner Leistungsmerkmale zu den Eigenschaftskategorien lässt sich grundsätzlich nicht objektivieren. Sie hängt immer von der subjektiven Wahrnehmung der Konsumenten ab. Steigt der Anteil an Erfahrungs- oder Vertrauenseigenschaften, nimmt der Grad an Informationsdefiziten und Unsicherheit zu. Anhand des „informationsökonomischen Dreiecks“ werden Leistungen je nach Dominanz einer Leistungseigenschaft einem Such-, Erfahrungs- oder Vertrauenskauf zugeordnet. Es ist zu erwarten, dass Kunden in Abhängigkeit des jeweils dominierenden Eigenschaftstyps unterschiedliche Strategien zur Risikoreduktion wählen. Bei weniger komplexen Versicherungsprodukten wie der KFZ-Versicherung dominiert beispielsweise der Anteil an Sucheigenschaften. Nachfragern bieten sich Möglichkeiten der Leistungsinspektion, Vergleiche der im „evoked set“1 befindlichen Produkte oder der anderweitigen Informationssuche. Eine Risikoreduktion via Markenpräferenz scheint in diesem Falle ebenso unwahrscheinlich wie der vorherige Erfahrungsaustausch im sozialen Umfeld. Bei einem wahrgenommenen Übergewicht von Erfahrungseigenschaften wird dagegen postuliert, dass ein Risiko primär durch den Kauf bekannter Marken, die Inanspruchnahme der Beratungs- und Serviceleistungen des Anbieters und den Rat aus persönlichen Informationsquellen reduziert wird. Viele Versicherungsprodukte kennzeichnen sich durch die Dominanz von Vertrauenseigenschaften. Eine Risikolebensversicherung verfügt über Leistungsmerkmale, die auch nach Kauf und Konsum nicht zweifelsfrei beurteilbar sind. Konsumenten dürften aktiv nach Informationen suchen, die mit hoher Wahrscheinlichkeit die Vertrauenswürdigkeit der zur Auswahl stehenden Anbieter vorhersagen. Mögliche Indikatoren sind neben positiven eigenen Erfahrungen Reputation, Bekanntheitsgrad und Firmenimage sowie Erfahrungen als glaubwürdig eingestufter Dritter. Abhängig von der informationsökonomischen Einordnung einer Leistung ergeben sich verschiedene Implikationen für das Marketing von Versicherern. Wesentliche Ansatzpunkte sind in der nachfolgenden Zusammenfassung aufgeführt: • Berücksichtigung kundenseitig wahrgenommener Eigenschaftsmerkmale von Produkten und Dienstleistungen. • Orientierung der Ausgestaltung von Marketingaktivitäten am Informationsbeschaffungs- und Auswahlverhalten der Nachfrager. 1
Das „evoked set“ umfasst die überschaubare Menge von als kaufverhaltensrelevant eingestuften Marken (vgl. Kroeber-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein 2009, S. 175).
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• Überprüfung des eigenen Produktportfolios unter vertriebsstrategischen Aspekten nach Such-, Erfahrungs- und Vertrauenskäufen: zur Gewinnung von Neukunden können zum Beispiel einfache Produkte mit einem hohen Anteil an Sucheigenschaften dienen, um nach dem Erfahrungsaufbau das gewonnene Vertrauen des Nachfragers zu nutzen und diesem Erfahrungs- und Suchgüter der eigenen Marke zu verkaufen. • Wertschöpfung in den Funktionen des Kundenkontakts (beispielsweise im Schadenmanagement) durch Förderung positiver Erfahrungen des Kunden mit dem Dienstleistungspersonal und Aufbau von Vertrauen. • Dynamische Betrachtung der Kundenperspektive und deren Veränderung im Rahmen längerfristiger Geschäftsbeziehungen: für Kunden mögen zunächst Vertrauens- und Erfahrungseigenschaften dominieren, während sich mit zunehmender Erfahrung und Wissen die Einordnung zu einem größeren Teil an Sucheigenschaften umkehrt (wodurch mit der Dauer der Geschäftsbeziehung beispielsweise eine Reihe leistungsbezogener Informationsprobleme entfallen). 3.1.2 Ansätze der Transaktionskostentheorie Die Transaktionskostentheorie beschäftigt sich im Kern mit einer einfachen Frage: „Warum gibt es Unternehmen?“ Anders gefragt: Wie lässt es sich erklären, dass nicht ausnahmslos alle ökonomischen Transaktionen über Märkte abgewickelt werden, sondern stattdessen eine erhebliche Anzahl von Transaktionen innerhalb hierarchisch geführter Organisationen stattfinden? Die Antwort der Transaktionskostentheorie ist ebenso einfach wie weitreichend: Die Inanspruchnahme des Koordinationsinstrumentes Markt und des ihn regelnden Preismechanismus verursacht Kosten, so genannte Transaktionskosten. Der Markt als dezentrale Koordinationsform und das Unternehmen als hierarchische Entität stellen alternative Modi des ökonomischen Austausches dar, wobei hybride Formen und Übergänge existieren können. Die optimale Koordinationsform wird durch die Höhe der Transaktionskosten determiniert. Transaktionen werden im Rahmen der Theorie als Übertragung von Verfügungsrechten definiert, die sowohl mit der physischen Übergabe als auch durch einen rein rechtlichen Akt stattfinden können. Bei jeder Transaktion entstehen Kosten. Diese fallen für die Informationsbeschaffung und Kommunikation bei der Anbahnung, Aushandlung, Kontrolle und Durchsetzung von Transaktionen an. Grundlage transaktionstheoretischer Untersuchungen ist die Identifikation von Bestimmungsfaktoren für die Höhe der Transaktionskosten. Beispiele hierfür sind die Spezifität der zu erbringenden Leistung oder das Verhalten der Akteure. Weiterhin können die Kosten nach dem Zeitpunkt ihrer Entstehung in Ex-Ante-Kosten, die vor der Transaktion entstehen, und nach der Transaktion anfallende Ex-PostKosten unterschieden werden (vgl. Picot/Reichwald/Wigand 2003, S. 41). Wie kann nun der Zusammenhang zwischen Transaktionskosten und dem Marketing in der Assekuranz dargestellt werden? Hierzu sollen im Weiteren Erklärungs-
5 Theoretische Grundlagen des Versicherungsmarketing
93
beiträge konkretisiert werden, die sich aus den Aspekten Spezifität der Leistung, opportunistisches Verhalten und Transaktionshäufigkeit ableiten lassen. Informationsasymmetrien und -probleme, die etwa aus der hohen Erklärungsbedürftigkeit komplexer Versicherungsprodukte resultieren, induzieren vergleichsweise hohe Transaktionskosten. Um möglichst viele erfolgreiche Transaktionen einzuleiten, wird die Senkung der Transaktionskosten zu einer bedeutsamen Aufgabe des Versicherungsmarketing. Zwar neigen Wirtschaftssubjekte zu opportunistischen Verhaltensweisen, doch sind sowohl Nachfrager als auch Anbieter gemeinsam an einer Senkung ihrer Transaktionskosten interessiert. Das Marketing kann an dieser Stelle leisten, dass auch schwer quantifizierbare Kosten der Nachfrager, etwa kognitive Anstrengungen oder typische Negativassoziationen, bei der Qualitätsbeurteilung des Versicherungsproduktes Berücksichtigung finden. Aus der Transaktionskostentheorie lässt sich in Verbindung mit dem Dienstleistungscharakter der Versicherung eine hohe Kaufverhaltensrelevanz von Mund-zuMund-Kommunikation ableiten. Die Intangibilität der Beratungsleistung sowie die des Dauerschutzversprechens bedingt für den Kunden ein hohes finanzielles Kaufrisiko. Empfehlungen aus dem sozialen Umfeld schaffen hier ein differenziertes Bild und helfen bei der Informationsselektion und -komprimierung. Der Käufer des Versicherungsproduktes reduziert durch die vorherige Absicherung die Wahrscheinlichkeit und Konsequenzen eines Fehleinkaufes. Im Ergebnis sinken seine Transaktionskosten, indem die eigene Leistungserfahrung durch die Erfahrung Dritter substituiert wird. Damit geht nicht die Vermutung einher, dass sich die transaktionskostensenkende Eigenschaft von Weiterempfehlungen ausschließlich positiv für ein Unternehmen auswirken muss; lediglich die Kaufentscheidung des Kunden vereinfacht sich (vgl. Meffert/Bruhn 2009, S. 63). Weiterführende Erklärungsbeiträge der Transaktionskostentheorie ergeben sich im Zuge der dynamischen Betrachtung einer Reihe von aufeinanderfolgenden Transaktionen. Argumentiert wird, dass dauerhafte Transaktionsbeziehungen aufgrund der hohen Kosten in der Vertragsanbahnung mit diversen Vorteilen verbunden sind. Für den Kunden entfallen bei der wiederholten Inanspruchnahme desselben Anbieters Such-, Wechsel- und Informationskosten. Durch den Aufbau von Vertrauen als Resultat wiederkehrender Interaktionen und Erfahrungswerte können Kontrollkosten reduziert werden. Auch aus Sicht des anbietenden Unternehmens sinken die Transaktionskosten mit zunehmender Geschäftsdauer. Die Erwartungen des Kunden hinsichtlich der zu erbringenden Services und erweiterten Funktionen müssen nicht mehr grundlegend neu ermittelt werden. In der Zusammenfassung liegt der Mehrwert des Transaktionskostenansatzes in der Einführung eines differenzierten Kostenverständnisses, das zur Erklärung einiger dienstleistungsspezifischer Merkmale beiträgt. Unsicherheitsphänomene werden nicht alleine anhand von Informationsasymmetrien untersucht, sondern ebenfalls in Umweltbedingungen und -veränderungen begründet.
94
3.2
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Verhaltenswissenschaftliche Ansätze und deren Erklärungsbeitrag zum Versicherungsmarketing
Verhaltenswissenschaftliche Ansätze versuchen, Erkenntnisse über das tatsächliche (Entscheidungs-)Verhalten von Einzelpersonen, Gruppen und ganzen Organisationen bereitzustellen. Sie greifen auf sämtliche Wissenschaftsrichtungen zurück, die der Erklärung des menschlichen Verhaltens dienen. Hierzu zählen in erster Linie die Sozialwissenschaften (Psychologie, Sozialpsychologie und Soziologie), die vergleichende Verhaltensforschung sowie physiologische Verhaltenswissenschaften. Zwei grundlegende Verhaltensannahmen sind den Ansätzen gemeinsam: Die Prämisse der begrenzten Motivation und die Prämisse begrenzter Rationalität (vgl. Kroeber-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein 2009, S. 3). Das Erkenntnisziel der verhaltenswissenschaftlichen Ansätze ist im Kontext des Versicherungsmarketing in der Erklärung und Gestaltung von Ursachen und Wirkungen marketingpolitischer Maßnahmen zu sehen. Zusammenhänge werden anhand verhaltenswissenschaftlicher Konstrukte (zum Beispiel Motive, Einstellungen und Involvement) und Verhaltensweisen der Konsumenten erklärt. Ziel ist es, Techniken zur Steuerung des menschlichen (Kauf)-Verhaltens abzuleiten. Neuere Theorien, wie die interaktions- und beziehungsorientieren Ansätze, konzentrieren sich im Kontext dauerhafter Kundenbeziehungen auf die Bedeutung laufender Interaktionen. 3.2.1 Interaktions- und beziehungsorientierte Ansätze Interaktions- und beziehungsorientierte Ansätze untersuchen die gegenseitigen Abhängigkeiten, Aktionen und Reaktionen im Rahmen von Austauschprozessen, die zwischen zwei oder mehreren Individuen stattfinden. Ihnen liegt die These zu Grunde, dass die Vorstellung einzelner Transaktionen für das Verständnis von Kundenbeziehungen und die Entstehung neuer Organisationsformen (zum Beispiel Netzwerkorganisationen) nicht adäquat sei. Das lange Zeit übliche instrumentelle, transaktionsorientierte Vorgehen soll durch eine prozessuale, ganzheitliche und dynamisch angelegte Betrachtung von Austauschbeziehungen abgelöst werden. Anstelle des Transaktionsmarketing wird Beziehungsmarketing gefordert (vgl. Meffert/Burmann/Kirchgeorg 2008, S. 41). Diese Sichtweise hat für Versicherungsunternehmen fundamentale Auswirkungen auf die Analyse und Bewertung von Kundenbeziehungen. Gleiches gilt für die Operationalisierung eines auf die Beziehungspflege ausgerichteten MarketingMix. Deutlich wird dieses anhand der Unterscheidungsmerkmale von Transaktionsmarketing und Relationship Marketing (vgl. Abb. 5.6).
5 Theoretische Grundlagen des Versicherungsmarketing
Unterscheidungskriterien
Transaktionsmarketing
Relationship Marketing
Betrachtungsfristigkeit
Kurzfristigkeit
Langfristigkeit
Marketingobjekt
Produkt
Produkt und Interaktion
Denkschema
Produktlebenszyklus
Kundenlebenszyklus
Dominantes Marketingziel
Kundenakquisition
Kundenakquisition, Kundenbindung, Kundenrückgewinnung
Marketingfokus
Leistungsdarstellung
Leistung und Dialog
Ökonomische Erfolgsund Steuergrößen
Gewinn, Deckungsspanne, Umsatz, Kosten
Zusätzlich: Kunden-DB, Kundenwert, Customer Lifetime Value
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Quelle: In Anlehnung an Bruhn 2008, S. 31
Abb. 5.6: Transaktionsmarketing vs. Relationship Marketing
Gegenstand des Relationship Marketing ist die langfristige Gestaltung von Kundenbeziehungen. Die Erklärung einmaliger Kaufentscheidungsprozesse steht weniger im Vordergrund. Marketing-Maßnahmen beziehen sich, neben der Leistung an sich, auf die Interaktion mit dem Kunden. Als Denkschema kann der Kundenlebenszyklus herangezogen werden, um die Kundenbeziehung dauerhaft aufrecht zu erhalten. Dominante Marketingziele sind neben der Initiierung von Kundenbeziehungen auch die Stabilisierung und Intensivierung bestehender Beziehungen. Gleiches gilt für die Rückgewinnung ehemaliger Kunden. Der Marketingfokus liegt auf der Interaktion mit dem Kunden, um die Leistungen an dessen individuellen Bedürfnissen auszurichten. Neben klassischen ökonomischen Kennziffern treten kundenindividuelle Erfolgs- und Steuerungsgrößen. Beispiele sind der Kundendeckungsbeitrag, Kundenwert und Customer Lifetime Value. Letztgenannter beschreibt den zukunftsgerichteten Wert eines Kunden über die gesamte voraussichtliche Lebensdauer der Geschäftsbeziehung (vgl. Meffert/Bruhn 2009, S. 51). Einige weitere Implikationen interaktions- und beziehungsorientierter Überlegungen für das Versicherungsmarketing im Überblick: (1) Implementierung des Relationship Marketing als integrierten Ansatz Relationship Marketing umfasst einen ganzheitlichen Managementansatz, unter dessen Dach sämtliche Marketingmaßnahmen im Unternehmen gefasst werden. Ausdruck dessen ist beispielsweise eine integrierte, beziehungsorientierte Kommunikationspolitik, die neben einseitigen Instrumenten auch interaktiv ausgerichtete Dialogmöglichkeiten bietet (vgl. Bruhn 2006, S. 25). (2) Anspruchsgruppenorientierung Beziehungsmarketing im weiteren Sinne betrachtet neben Beziehungen zum Kunden (hier: Endkunden und Vertriebspartner) auch die Beziehungen zu
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weiteren Anspruchsgruppen. Hierzu gehören Verbände, Rating-Agenturen, die eigenen Mitarbeiter, die Öffentlichkeit, die Konkurrenz und weitere. (3) Berücksichtigung der Einflussfaktoren langfristiger Geschäftsbeziehungen Die Ansätze referenzieren direkt oder indirekt auf die hohe Bedeutung der Konstrukte Kundenzufriedenheit, Beziehungsstärke, Kundenbindung, Commitment und Vertrauen zur Erklärung von langfristigen Geschäftsbeziehungen (vgl. Meffert/Bruhn 2009, S. 52). (4) Verankerung der Kundenorientierung als Denkhaltung im Unternehmen Versicherungen kennzeichnen sich durch einen hohen Grad persönlicher Interaktion des Personals mit dem Kunden. Die Wahrnehmung der Interaktionsphase steht aus Kundensicht häufig stellvertretend für die Qualitätswahrnehmung der gesamten Dienstleistung und Anbietermarke. Das Kontaktpersonal entscheidet somit über die Zufriedenheit des Kunden und das Wiederkaufverhalten (vgl. Meffert/Burmann/Kirchgeorg 2008, S. 43). (5) Erweiterung der Betrachtung um Interaktionen zwischen Endkonsumenten Versicherungsunternehmen sind Teil einer neuen, fragmentierten Kommunikationslandschaft mit sozial vernetzten und interagierenden Konsumenten. Diese tauschen ihre Informationen über Produkte, Dienstleistungen und Marken neben direkten Gesprächen auch digital über Bewertungsportale, Communities, Blogs oder E-Mails aus, um sie deutlich schneller einer sehr viel breiteren Masse zur Verfügung zu stellen. Marketingstrategisch bieten derartige soziale Beziehungsgeflechte vielfältige Anknüpfungspunkte zur Anregung von Mundpropaganda. Auch über Versicherungsmarken und -produkte. Der Mehrwert interaktions- und beziehungsorientierter Ansätze ist insbesondere in deren strategisch angelegter Perspektive zu sehen. Die strategische Perspektive kommt im Zuge der Erklärung langfristiger Geschäftsbeziehungen zum Beispiel in dem auf Harmonie ausgerichteten Leitbild der Beziehung zum Ausdruck. Die Annahme des opportunistischen Verhaltens der Marktpartner wird zugunsten eines auf Vertrauen und Kooperation ausgerichteten Handels aufgegeben. 3.2.2 Involvement-Theorie Die Involvement-Theorie fokussiert eines der zentralen verhaltenswissenschaftlichen Konstrukte zur Erklärung des (Kauf-)Verhaltens von Konsumenten. Grundsätzlich handelt es sich beim Involvement um ein nicht beobachtbares, hypothetisches Konstrukt. Es bezeichnet das persönliche Engagement einer Person, sich mit einem bestimmten Sachverhalt oder einer Aktivität auseinanderzusetzen (vgl. Kroeber-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein 2009, S. 412). In Abhängigkeit von der persönlichen Relevanz eines Objektes beziehungsweise einer bestimmten Situation ergeben sich verschiedene Involvement-Niveaus. Diese begründen die unterschiedliche Bereitschaft zur Informationssuche und somit das unterschiedliche,
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objektspezifische Wissen der Konsumenten, deren Marken-Commitment wie auch deren empfundene Bindung. Der Ansatz nach Kanther differenziert nach Produkt- und Kaufinvolvement (vgl. Kanther 2001, S. 41). Das Produktinvolvement stellt auf die durch die zu kaufende Produktart ausgelöste Involvierung ab. Das Kaufinvolvement umfasst lediglich das durch die zu treffende Kaufentscheidung bedingte Engagement. Anders als das Produktinvolvement entsteht das Kaufinvolvement nur dann, wenn sich der Konsument in einer konkreten Entscheidungssituation befindet. Damit wird das Kaufinvolvement im Gegensatz zum Produktinvolvement als kurzfristig variabel, in seiner Ausprägung situationsabhängig und von nur kurzer Wirkungsdauer konzeptionalisiert. Für die Höhe des Produktinvolvements ist die Wichtigkeit des Produktes verantwortlich, die unter anderem von dem funktionalen Nutzen und wahrgenommenen Selbstdarstellungswert der Produktart bestimmt wird. Die Stärke des Kaufinvolvements wird dagegen durch das Ausmaß des in der Entscheidungssituation wahrgenommenen Risikos determiniert. Bezieht man derartige Überlegungen in die Kaufentscheidung von Versicherungsprodukten mit ein, sind interessante Thesen für das Versicherungsmarketing skizzierbar: • Kaufentscheidungsprozesse von Versicherungsprodukten sind von einem eher geringen Produktinvolvement gekennzeichnet. Die Versicherung kennzeichnet sich durch die Schwerverkäuflichkeit einer Leistung, die meist mit negativen Assoziationen verbunden und lediglich einem latenten Bedürfnis ausgesetzt ist. Der Versicherungsschutz stellt kein selbstwerbendes Gut dar, der Nutzen scheint abstrakt. • Kaufentscheidungsprozesse von Versicherungsprodukten sind situativ geprägt und von vergleichsweise hohem Kaufinvolvement gezeichnet. Dienstleistungserstellung und Konsum fallen zeitlich zusammen (Uno-actuPrinzip), weshalb das situative Involvement kurz vor und zum Zeitpunkt der Dienstleistungserstellung am höchsten sein wird. Das wahrgenommene Kaufrisiko determiniert die Höhe des Kaufinvolvements. • Der Einsatz der persönlichen Kommunikation des Dienstleistungspersonals erhöht das wahrgenommene Kaufinvolvement der Nachfrager. Die Integration der Nachfrager in den Leistungserstellungsprozess sorgt typischerweise für ein höheres Involvement als beim Kauf von Sachgütern. • Versicherungsprodukte eignen sich für (positive sowie negative) Mund-zuMund-Kommunikation zwischen Konsumenten, worauf das Marketing direkt oder indirekt (über Meinungsführer) einwirken sollte. Ein hohes (Kauf-)Involvement gilt als zentrale Größe zur Erklärung des Wieterempfehlungsverhaltens zwischen Konsumenten (vgl. Trommsdorf 2002 S.
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Tim Sutor
54). Empfehlungen bieten eine glaubwürdige Grundlage von Kaufentscheidungen mit einem erheblichen akquisitorischen Potenzial.
4
Zusammenfassung
Auf Käufermärkten wie dem Versicherungsmarkt kommt der Orientierung an den Bedürfnissen und Erwartungen der Kunden eine fundamentale Bedeutung zu. Während Vertriebsorientierung zur zentralen Maxime nahezu sämtlicher Versicherer geworden ist, hat sich die noch wichtigere Kundenorientierung bislang nicht branchenweit etabliert. Einer theoretisch fundierten Basis des Versicherungsmarketing kommt demzufolge eine hohe Bedeutung zu. Die aus dem Charakter der Dienstleistung abgeleiteten Besonderheiten der Versicherung beeinflussen das Marketing strategisch und operativ. Einen geeigneten analytischen Rahmen bieten das Marketingkonzept und das Drei-Ebenen-Konzept. Beide betonen zu Recht, die Dienstleistungs- und Produktgestaltung vermehrt nach den beim Kunden zu erfüllenden Funktionen auszurichten. Das Versicherungsprodukt wird als interaktive Marktleistung zwischen Kunde und Versicherungsanbieter begriffen, eine Denkweise, die die Abkehr vom Produktdenken hin zur Funktionsorientierung widerspiegelt. Die Ansätze der Neuen Institutionenökonomie und der verhaltenswissenschaftlichen Marketingtheorie weisen unterschiedliche Erklärungspotenziale für das Versicherungsmarketing auf. Ihr Beitrag zur Erklärung von Konsequenzen, die sich aus dem Dienstleistungscharakter der Versicherung für das Marketing ergeben, ist in der folgenden Abbildung zusammengefasst (der Vollständigkeit halber ergänzt um weitere Theorien, die nicht unmittelbar Gegenstand dieses Beitrages sind; vgl. Abb. 5.7). Insgesamt wird deutlich, dass die hier vorgestellten Ansätze durchaus in der Lage sind, einen Beitrag zu zentralen Fragestellungen des Versicherungsmarketing zu leisten. Auch wenn sich die Aussagen häufig nur auf einzelne Besonderheiten des Dienstleistungsmarketing richten, führt die Kombination der Ansätze doch zu einer weitgehenden Erklärung vorhandener Phänomene innerhalb der Versicherungswirtschaft. Darüber hinaus geben sie eine Vielzahl von Hinweisen für eine erfolgreiche Ausgestaltung des Marketingmanagements von Dienstleistungs- und speziell Versicherungsunternehmen.
5 Theoretische Grundlagen des Versicherungsmarketing
Notwendigkeit der Leistungsfähigkeit
Theorie-Beiträge
Integration des externen Faktors
Immaterialität
Ansätze der Neuen Institutionsökonomie Informationsökonomik Transaktionskostentheorie Prinzipal-Agent-Theorie Verhaltenswissenschaftliche Ansätze Interaktions- und beziehungsorientierte Ansätze Involvement-Theorie Lern-/Risiko-/Dissonanz-Theorien Attributionstheorie Soziale Austausch-/Anreiz-Beitrags/Equity-Theorien Organisationstheoretische Ansätze Resource-Dependence-Theorie Resource-Based-View Gegenstand dieses Beitrags
Nicht Gegenstand dieses Beitrags
Quelle: In Anlehnung an Meffert/Bruhn 2009, S. 84.
Abb. 5.7: Theorie-Beiträge zur Erklärung der Dienstleistung Versicherung
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100
Tim Sutor
Literatur Bruhn, M.: Integrierte Kommunikation, in Schwarz, T./Braun, G.: Leitfaden Integrierte Kommunikation, 2. Aufl., Waghäusel 2006, S. 23-79. Bruhn, M.: Marketing – Grundlagen für Studium und Praxis, 9. Aufl., Wiesbaden 2008. Farny, D.: Versicherungsbetriebslehre, 4. Aufl., Karlsruhe 2006. Haller, M.: “Dienstleistungen“ im Produktkonzept für Financial Services – Konsequenzen für die Versicherung, in: Belz, D./Bieger, T. (Hrsg.): Dienstleistungskompetenz und innovative Geschäftsmodelle, St. Gallen 2000, S. 268-295. Haller, M/Maas, P./Ackermann, W.: Customer Value in Versicherungswirtschaft und Financial Services, in: Belz, D./Bieger, T. (Hrsg.): Customer Value: Kundenvorteile schaffen Unternehmensvorteile, Frankfurt a.M. 2004, S. 624-660. Kaas, K. P.: Kontrakte, Geschäftsbeziehungen, Netzwerke – Marketing und Neue Institutionenökonomik, Frankfurt a.M. 1995. Kanther, V.: Facetten hybriden Kaufverhaltens – Ein kausalanalytischer Erklärungsansatz auf Basis des Involvement-Konstrukts, Wiesbaden 2001. Köhne, T.: Marketing im strategischen Unternehmensnetzwerk – Erklärungsmodell und praktische Anwendung in der Versicherungswirtschaft, Wiesbaden 2006. Kotler, P./Bliemel, F.: Marketing-Management - Analyse, Planung und Verwirklichung, 10. Aufl., Stuttgart 2006. Kroeber-Riel, W./Weinberg, P./Gröppel-Klein, A.: Konsumentenverhalten, 9. Aufl., München 2009. Meffert, H./Bruhn, M.: Dienstleistungsmarketing – Grundlagen, Konzepte, Methoden, 6. Aufl., Wiesbaden 2009. Meffert, H./Burmann, C./Kirchgeorg, M.: Marketing – Grundlagen marktorientierter Unternehmensführung, 10. Aufl., Wiesbaden 2008 Picot, A./Reichwald, R./Wigand, R.T.: Die grenzenlose Unternehmung – Information, Organisation und Management, Lehrbuch zur Unternehmensführung im Informationszeitalter, Wiesbaden 2003. Rahlfs, C.: Redefinition der Wertschöpfungskette von Versicherungsunternehmen, Wiesbaden 2007. Trommsdorf, V.: Konsumentenverhalten, 4. Aufl., Stuttgart 2002 Weiber, R./Adler, J.: Der Einsatz von Unsicherheitsreduktionsstrategien im Kaufprozess - Eine informationsökonomische Analyse, in: Kaas, K.P. (Hrsg.): Kontrakte, Geschäftsbeziehungen, Netzwerke – Marketing und Neue Institutionenökonomik, Frankfurt a.M. 1995, S. 61-77.
Teil III Informationsgrundlagen des Versicherungsmarketing
Kapitel 6 Megatrends im Versicherungsmarkt Markus Rosenbaum
1
Megatrends und ihre Bedeutung für das Versicherungsmarketing
Versicherungsmarketing lässt sich als Ausdruck einer Einstellung im Versicherungsunternehmen interpretieren, einer Denkhaltung, nach der „alle Entscheidungen und wirtschaftlichen Aktivitäten auf den Absatzmarkt hin orientiert werden“ (Farny 2006, S. 662). Auf der Grundlage einer solcherart weit gefassten Definition verschmilzt das Versicherungsmarketing mit dem sachlich-inhaltlichen Aspekt der Führungsfunktion im Versicherungsunternehmen und wird zur Basis des strategischen Managements. Es umfasst die auf das Versicherungsunternehmen und seine Teilbereiche bezogene Festlegung von Zielen, die Auswahl von Mitteln und die Kontrolle der Zielerreichung, wobei die Ziel- und Mittelentscheidungen • •
konzeptionell angelegt, langfristig und zukunftsbezogen sind und insbesondere die künftigen Umweltbedingungen in betonter Weise berücksichtigen (vgl. Farny 2006, S. 493; Rosenbaum/Wagner 2006, S. 212).
Entscheidungen über Ziele und Mittel der Unternehmens- beziehungsweise Marketingpolitik können Versicherer als autonome Wirtschaftseinheiten grundsätzlich selbstbestimmt treffen. Aufgrund der Zukunftsbezogenheit und des Langfristcharakters ergeben sich jedoch besondere Anforderungen an Ziel- und Mittelentscheidungen: Versicherer sind als Elemente in einem komplexen und dynamischen System von Umwelten eingebunden und insofern nicht unabhängig von den gegenwärtigen und zukünftigen Rahmenbedingungen für Versicherungsgeschäfte sowie von Aktionen und Reaktionen der Marktparteien. Damit sind Szenarien angesprochen, das sind Modelle zur Vorhersage und Erklärung der mittel- bis langfristigen zukünftigen Zustände und Veränderungen der Versicherungswirtschaft. Szenarien und Strategien sind eng miteinander verbunden, denn Strategien werden aus Szenarien abgeleitet und aus den erwarteten Strategien der Marktparteien entstehen wiederum Szenarien (vgl. Farny 1998, S. 267).
M.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing, DOI 10.1007/978-3-642-10276-9_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
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Markus Rosenbaum
Nun sind solche zukünftigen Zustände und Veränderungen nicht gleichermaßen vorhersehbar und/oder relevant für die Ziel- und Mittelentscheidungen im Versicherungsunternehmen. Einer Unterteilung nach Kotler/Bliemel folgend, können die Szenarien in Moden, Trends und Megatrends unterteilt werden (vgl. Kotler/Bliemel 1995, S. 234): •
•
•
Eine Mode ist danach kaum vorhersehbar, kurzlebig und ohne besondere Langfristwirkung auf die sozialen oder wirtschaftlichen Gegebenheiten, mit denen der Versicherer umzugehen hat. Ein Versicherer, der an einer Mode verdienen möchte, muss schnell reagieren, damit er die sich daraus ergebenden Wünsche vor den anderen Wettbewerbern am besten bedient und Ressourcen rechtzeitig umverlagert, wenn die Mode abbricht oder ausläuft. Aufgrund der Langfristigkeit des Versicherungsgeschäftes und den „Nachlaufeffekten“ in der Produktion von Versicherungsschutz erscheint es ausgesprochen anspruchsvoll, durch das fallweise Bedienen von Modeerscheinungen dauerhaft erfolgreich zu sein. Ein Trend ist demgegenüber die Richtung oder Abfolge von Ereignissen, die sich durch eine gewisse Dauerhaftigkeit und Umgestaltungskraft auszeichnen. Trends sind beharrlicher als Moden und in den Auswirkungen meist besser abschätzbar. Jeder Trend, wenn eingehend analysiert, zeigt bereits ein Stück (dauerhafter) Zukunft. Megatrends schließlich sind dagegen breite soziale, wirtschaftliche, politische, technologische sowie gesetzgeberische und ökologische Veränderungen, die sich langsam bilden und die, wenn in Kraft, lange von Einfluss sind.
Der Begriff der „Megatrends“ geht auf den Futurologen John Naisbitt (* 15. Januar 1929 in Salt Lake City, Utah) und sein gleichnamiges Buch aus dem Jahre 1982 zurück. Das Werk wurde in 57 Ländern publiziert und dominierte monatelang die Bestsellerlisten. Das große Interesse lässt sich insofern leicht erklären, als dass die im oben genannten Sinn definierten Megatrends höchste Aufmerksamkeit von Unternehmen aller Branchen – und damit auch von Versicherern – verdienen: Neue Produkte, Marketingprogramme, insgesamt Verhaltensweisen von Unternehmen sind mit größerer Wahrscheinlichkeit erfolgreich, wenn sie auf der Linie starker (Mega-)Trends liegen, anstatt ihnen entgegenzulaufen (vgl. Naisbitt 1982). Mit der Trendforschung ist ein Teilbereich der Marktforschung angesprochen. Als Marktforschung wird die systematische Gewinnung und Auswertung von Informationen über Gegebenheiten und Beeinflussungsmöglichkeiten eines Marktes bezeichnet. Charakterisierende Merkmale eines Marktes sind dabei die tatsächlichen und potenziellen Beziehungen von Versicherern zu anderen Wirtschaftseinheiten, soweit sie den Austausch von Versicherungsschutz (und anderer vom Versicherer angebotener Produkte) beeinflussen können (vgl. Rosenbaum/Wagner 2006, S. 168). Tatsächlich werden für die Strategieentwicklung von Versicherern häufig Analysetools aus der Marktforschung verwendet, die sich einerseits einer breiten Beliebtheit erfreuen und die andererseits mit den Ergebnissen der (Mega-)Trendforschung zu speisen sind. Ein Beispiel dafür stellt die SWOT-Analyse dar, bei der
6 Megatrends im Vesicherungsmarkt
105
die individuellen Stärken (Strengths) und Schwächen (Weaknesses) eines Versicherers unternehmensexternen Einflussfaktoren, die besondere Chancen (Opportunities) und Risiken (Threats) – häufig beides zur gleichen Zeit – mit sich bringen, in einer einfachen 4-Felder-Matrix gegenübergestellt werden. Aufgrund der Zukunftsbezogenheit von strategischen Ziel- und Mittelentscheidungen müssen die unternehmensexternen Chancen und Risiken also ebenso zukunftsbezogen dargestellt werden; ansonsten besteht die Gefahr, dass Markterfordernisse und unternehmerisches Handeln im Zeitablauf nicht mehr in einem kongruenten Verhältnisse zueinander stehen (vgl. Abb. 6.1).
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 6.1: SWOT-Analyse als Bestandteil der strategischen Unternehmenspolitik
2
Methoden für die Erfassung und Auswertung von Megatrends im Versicherungsmarkt
Die speziellen Methoden für die Erfassung und Auswertung von Megatrends im Versicherungsmarkt lassen sich regelmäßig aus den bekannten Methoden der Marktforschung ableiten beziehungsweise sind als Teilbereiche entsprechend entwickelt worden. So probieren beispielsweise im Rahmen der Primärforschung – also der Erhebung, Aufbereitung und Auswertung von neuem Datenmaterial – Versicherer selbst beziehungsweise von ihnen beauftragte Markt- oder Trendforschungsinstitute, Megatrends durch Befragungen, Beobachtungen oder Experimente aufzuspüren. Eine in diesem Kontext häufig eingesetzte Methode ist die Delphi-Befragung von
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Experten, die sich grundlegend bewährt hat, aber aufgrund des Spezialistentums der Experten zu verzerrten Ergebnissen führen kann (vgl. Horx 2009). Die „TrendBank“ der Zukunftsforscherin Faith Popcorn basiert dagegen auf der Beobachtung des kulturellen Umfelds und auf Verbraucherinterviews (www.faithpopcorn.com 2009). Bei der Sekundärforschung – also der Beschaffung, Aufbereitung und Auswertung von bereits existierenden Daten – wird dagegen auf eine Reihe von Veröffentlichungen spezieller Trend- und Zukunftsforscher zurückgegriffen, deren Analysen ihrerseits mitunter ebenfalls auf der Sekundärforschung basieren. So setzen etwa Naisbitt und sein Team die Inhaltsanalyse ein, das heisst sie zählen die Häufigkeit, mit der bestimmte Themen in Form „gesicherter Fakten“ in den wichtigsten Zeitungen auftauchen (vgl. Naisbitt 2007, S. 12 ff.). Im Folgenden soll – stellvertretend für andere – die Methode der PEST- beziehungsweise (in der erweiterten Fassung, auf die hier referenziert wird) der PESTEL-Analyse detaillierter vorgestellt werden, die sich im Rahmen sowohl der strategischen Planung als auch der Trendforschung als leicht verständliches und flexibles Tool bewährt hat. Sie dient vielfach als sinnvoller Ausgangspunkt für eine möglichst vollständige Erfassung von Triebkräften im externen Unternehmensumfeld, aus denen dann in einem nachgelagerten Schritt diejenigen ausgewählt werden können, denen eine besondere Relevanz für den Versicherer innewohnt und die deshalb vertieft untersucht und ausgewertet werden sollten. PESTEL steht für politische (political), wirtschaftliche (economic), sozio-demographische (socio-demographic), technologische (technological), ökologische (ecological) und rechtliche (legal) Einflussfaktoren. Über die Einbeziehung ökologischer und rechtlicher Faktoren – also die Erweiterung von PEST zu PESTEL – finden sich in der Literatur unterschiedliche Auffassungen. Tatsächlich ist ihre Bedeutung von Branche zu Branche unterschiedlich. In der Assekuranz spielen allerdings sowohl Veränderungen in der ökologischen Umwelt (als Teil des versicherungstechnischen Risikoursachensystems) als auch gesetzlich-regulatorische Einflüsse (zum Beispiel im Kontext von Solvency II) eine überragende Rolle. Insofern sollen sie hier auch gesondert aufgeführt und betrachtet werden. Typische Inhalte einer PESTEL sind – angepasst für die Versicherungsbranche – in der folgenden Abbildung zusammengefasst. Die aufgeführten Beispiele sind dabei nicht umfassend, sondern beispielhaft zu verstehen. Darüber hinaus sollten die Analysebereiche mit Blick auf die jeweiligen spezifischen zu untersuchenden Situationen angepasst werden (vgl. Abb. 6.2).
6 Megatrends im Vesicherungsmarkt
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Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 6. 2: PESTEL-Analyse für die Versicherungswirtschaft (mit Beispielen)
In Abhängigkeit des Betrachtungsgegenstands lässt sich das PESTEL-Modell grundsätzlich zur Analyse von einzelnen Geschäftsfeldern, Branchen oder ganzen Nationen heranziehen. Bezogen auf die Assekuranz bildet eine vollständige vorgenommene PESTEL-Analyse eine Zusammenfassung der Triebkräfte und der Makroumgebung des Versicherungsmarkts. Sie soll aufzeigen, welche Einflussfaktoren von besonderer Bedeutung sind und in welchem Umfang sich diese künftig verändern werden. Darüber hinaus könnte sie auch für eine Vergangenheitsuntersuchung beziehungsweise für eine Ist-Beschreibung herangezogen werden; dieser Ansatz steht jedoch nicht im Fokus des vorliegenden Artikels. Um wirklich aussagekräftige Erkenntnisse zu gewinnen, genügt es freilich nicht, das PESTEL-Modell als bloße Auflistung von Einflussfaktoren heranzuziehen. Es ist vielmehr lediglich der Ausgangspunkt für weiterführende Analysen der externen Umgebung. Insbesondere lässt sich auf Basis des PESTEL-Modelles eine Klassifikation derart vornehmen, dass die verschiedenen identifizierten künftigen Triebkräfte und Einflussfaktoren einerseits nach ihrer Eintrittswahrscheinlichkeit (gering – mittel – hoch) und andererseits nach ihrer Relevanz für den gesamten Versicherer beziehungsweise einzelne Teilbereiche (gering – mittel – hoch) unterteilt werden. Werden dann in einem einfachen zweidimensionalen Koordinatensystem die einzelnen Einflussfaktoren eingetragen, so gilt vereinfachend die Empfehlung, in einem nachgelagerten Schritt diejenigen Einflussfaktoren näher zu analysieren, deren Koordinaten im Bereich „hohe Eintrittswahrscheinlichkeit – hohe Relevanz“ liegen.
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Markus Rosenbaum
3
Megatrends: Gliederung und Ansätze einer aktuellen Bestandsaufnahme
3.1
Vorbemerkungen
Das PESTEL-Modell, das im vorangegangenen Kapitel vorgestellt wurde, stellt im Grunde nichts anderes als einen Versuch zur Systematisierung von „Umwelten“ eines wirtschaftlichen Teilsystems dar. Dabei wird das Prinzip der Zerlegung und Strukturierung zur Reduzierung von Systemkomplexität unter Berücksichtigung konkreter Untersuchungsgegenstände angewendet. Im Folgenden wird pragmatisch und auf der Grundlage des PESTEL-Modells gefragt, welche Einflussfaktoren für das Versicherungsmanagement in Zukunft besonders auffällig in dem Sinne sind, dass Zusammenhänge zwischen Versicherer und Umweltentwicklungen erkennbar, vorhersehbar und von besonderer Relevanz sind. Die stichpunktartigen Darstellungen in den nachfolgenden Unterkapiteln stellen dabei zwangsläufig eine subjektive Auswahl dar:
3.2
Teilsystem Politik
Bei der (Mega-)Trendforschung bezieht sich das Teilsystem Politik auf ein Suchfeld, das den großen Rahmen für das Wirtschaften eines Versicherers innerhalb eines politischen Gefüges absteckt. In diesem Kontext sind Einschätzungen unter anderem für nachfolgende Fragen vorzunehmen, Eintrittswahrscheinlichkeiten abzuschätzen und die Auswirkungen für den jeweiligen Versicherer – im Falle eines Eintretens – zu bestimmen: •
•
•
Wie entwickeln sich in den nächsten zwei/fünf/zehn Jahren die innenpolitischen Konstellationen in den Volkswirtschaften, in denen der Versicherer aktiv ist? Welche Chancen und Risiken ergeben sich daraus, und zwar mit Blick sowohl auf die Absatzmärkte als auch auf die Beschaffungsmärkte (etwa für Rückversicherungsschutz oder für Dienst-/Werkleistungen im Kontext von Sourcing-Strategien)? Stehen kurz- oder mittelfristig Regierungswahlen an, die das politische Gefüge derart verändern können, dass in der Folge beispielsweise Sozialversicherungssysteme umgebaut werden? Ergeben sich daraus o spezielle Chancen (zum Beispiel Optionen für neuartige oder verstärkte Kooperationen; Möglichkeit für Leistungsangebote, die aus dem Katalog der Sozialversicherungsleistungen gestrichen werden) o oder spezielle Risiken (zum Beispiel in Deutschland: Aufgabe der substitutiven privaten Krankheitskostenversicherung)? Ist eine Erweiterung des EU-Binnenversicherungsmarkts abzusehen? Ergeben sich daraus neue Absatzchancen und/oder Gefahren durch den Eintritt neuer Konkurrenten?
6 Megatrends im Vesicherungsmarkt
3.3
109
Teilsystem Wirtschaft
Das Teilsystem Wirtschaft stellt in sich wiederum ein hochkomplexes Gebilde mit einer Vielzahl von gegenseitigen Abhängigkeiten dar. Es kommt nicht von ungefähr, dass sich speziell die größeren deutschen Versicherungskonzerne eigene volkswirtschaftliche Abteilungen „leisten“. Die auf Megatrends zu untersuchende Teilbereiche lassen sich entsprechend fein untergliedern, wie die nachfolgenden ausschnittsweisen Beispiele belegen: • Welche kurz-, mittel- und langfristigen Entwicklungen sind für die allgemeine Wirtschaftslage zu erwarten? Welche Auswirkungen haben abzuschätzende Veränderungen auf Kapital- oder Rohstoffmärkten für die Ziel- und Mittelentscheidungen des Versicherers? Welche Konsequenzen haben spezielle Inflations- oder Deflationserwartungen für die Lebensversicherung oder die Zweige der Schadenversicherung? • Welche Entwicklungen sind für den Erstversicherungsmarkt abzusehen? Werden neue Anbieter (aus anderen Ländern oder Branchen) in den Markt eintreten? Wie lauten konkrete Abschätzungen für künftige Marktkonzentrationen durch Fusionen oder Kooperationen? Welche spezifischen Angebotskonstellationen werden verstärkt nachgefragt, zum Beispiel im Hinblick auf neuartige Versicherungsschutzkonzepte sowie Angebot und Nachfrage (Akzeptanz) im Kontext von Assistance/Naturalersatz. • Welche Entwicklungen sind für den Rückversicherungsmarkt abzusehen? Wie verändert sich das Preisgefüge kurz- bis langfristig? Werden sich die Innovationen im Bereich des Alternativen Risikotransfers (ART) fortsetzen oder eher zurückgefahren? • Welche Entwicklungen sind für die Vermittlermärkte abzusehen? Welche Kanäle werden zukünftig welche Marktanteile auf sich vereinen können? Wird sich der Trend zu erweiterten Serviceangeboten für Versicherungsmakler fortsetzen? Wird sich der Trend zu verstärkten Funktionsausgliederungen an Ausschließlichkeitsvertreter künftig in sein Gegenteil verwandeln? • Welche der nachfolgenden allgemeinen Organisationsaspekte ist bloße Mode, welcher ist Trend und welcher gar Megatrend? o Prozess-/Qualitätsmanagement nach Six Sigma, EFQM, ISO 9000 ff. o „Industrialisierung“ der Versicherungsbranche mit den Teilaspekten Standardisierung und Prozessautomatisierung. o Dezentralisierung versus Zentralisierung von Elementen der Wertschöpfungskette. o Insourcing (Konzentration auf Kernkompetenzen) versus Outsourcing (Auslagerung von Nichtkernkompetenzen). • Welche Entwicklungen sind für die Personalmärkte zu erwarten? Besteht kurz- oder mittelfristig die Notwendigkeit eines „employee brandings“, also des Eintretens in den Wettbewerb um Mitarbeiter mit besonderen Fähigkeiten und Kompetenzen?
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Markus Rosenbaum
3.4
Teilsystem Soziodemographie
Das Teilsystem Soziodemographie lässt sich nach seinem Wortstamm in die Bereiche Demographie und Soziologie unterteilen. Dabei ist die Demographie in weiten Teilen gut vorhersehbar und stabil – ein klassischer Megatrend. Die soziologischen Aspekte sind dagegen häufig sehr schwierig im Voraus abschätzbar. So wurde beispielsweise Mitte der 1990er Jahre häufig ein „Wertewandel“ innerhalb der deutschen Bevölkerung ausgemacht, der dann – zumindest in der damals vorweggenommenen vermeintlichen Dramatik – nicht eingetreten ist. Auch wenn das künftige Kundenverhalten schwierig zu prognostizieren ist, so genügt es nicht, durch Kundenbefragungen oder -beobachtungen alleine die Gegenwart zu betrachten. Zwar ist damit eine gute Grundlage für Abschätzungen von Trends und Megatrends gelegt, aber solcherlei Abschätzungen sind dann tatsächlich auch vorzunehmen. Unter anderen lassen sich folgende Teilbereiche der Soziodemographie unterteilen, die es auf Trends und Megatrends zu analysieren gilt: •
•
•
3.5
Wie entwickeln sich Mengen und Strukturen der Bevölkerung nach Maßgabe der Kriterien Fruchtbarkeit, Morbidität und Mortalität? Welche Wanderungsbewegungen der Bevölkerung sind zu verzeichnen? Gibt es mittel- und langfristige Veränderungen bei den Aspekten Bildungsniveau, Erwerbs-/Nichterwerbstätigkeit, Arbeitszeit/Freizeit, Religion, Einkommensverteilungen etc.? Gibt es Trends oder Megatrends im Verhalten oder in den Erwartungen der Versicherungskunden, etwa in den Kontexten Risikoverhalten, Kommunikations- und Vertragsabschlussverhalten, Erwartungen an die Qualität von Versicherungsprodukt und Service, Kriminalität (einschließlich Versicherungsbetrug)?
Teilsystem Technologie
Technologische Veränderungen werden in der Praxis gerne und oft diskutiert. Das ist wenig verwunderlich, gehen mit vielen technologischen Innovationen doch neue Möglichkeiten bei den innerbetrieblichen Produktionsweisen und -verfahren einher, die zumindest auf den ersten Blick Senkungen von Betriebskosten und/oder Verbesserungen der betrieblichen Abläufe sowie des Kundenservice versprechen. Ob damit aber auch sogleich jeweils Trends oder gar Megatrends einhergehen, ist zunächst offen. Es ist also einerseits zu hinterfragen, ob sich mit neuen technologischen Errungenschaften Verfahren und Abläufe im Versicherungsunternehmen ändern, die sich nicht bloß als Modeerscheinungen entpuppen, sondern als echte Trends oder gar Megatrends. In diesem Zusammenhang ist beispielsweise abzuschätzen:
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• In welche Richtung entwickeln sich die Bestrebungen der Standardisierung im Zusammenhang von brancheninternem und -externem Datenaustausch (zum Beispiel durch GDV, BIPRO e.V.)? • Welche Rolle spielen künftig Prozessportale zur unternehmensübergreifenden automatisierten Kommunikation und Vorgangsbearbeitung? • Zeichnen sich (Mega-)Trends im Hinblick auf die Verfügbarkeit und den Einsatz von Standardsoftware-Lösungen ab? • Wird die Möglichkeit zur Entwicklung mandantenfähiger Software einen Trend zu verstärkten Kooperation von (eigentlich konkurrierenden) Versicherern auslösen oder ist es gerade umgekehrt? Oder ist die Option auf verstärkte Kooperationen beziehungsweise die Intensivierung von SourcingAktivitäten eine bloße Chimäre. Andererseits ist zu analysieren, ob sich mit neuen technologischen Errungenschaften auch die Risikoursachensysteme für die Versicherer verändern, so dass der angebotene Versicherungsschutz zu adjustieren ist beziehungsweise die Prämien entsprechend anzupassen sind. Beispiele: • Haben Änderungen in der Medizintechnik Auswirkungen auf die Lebens-, Unfall- oder Krankenversicherung sowie – mit Blick auf Personenschäden – auf die Haftpflichtversicherung? • Gehen mit Änderungen in der Verkehrstechnik besondere Chancen (zum Beispiel Integration mobiler Lösungen, Entwicklung neuartiger Reparaturverfahren) oder Risiken (zum Beispiel erhöhte Schadenaufwendungen durch höhere Preise bei der Neubeschaffung oder Reparatur von Fahrzeugen mit innovativer Technik) einher?
3.6
Teilsystem Ökologie
In vielen anderen Branchen spielt das Teilsystem Ökologie (so gut wie) keine Rolle. Für das Agieren auf dem Versicherungsmarkt ist dies jedoch gänzlich anders. Denn die ökologische Umwelt ist ein wesentlicher Teil des Risikoursachensystems, mit dem Versicherer umzugehen haben. Tatsächlich beschäftigen sich insbesondere die großen Rückversicherer intensiv mit Veränderungen in diesem Bereich und bestimmen Trends mittels mathematischer und statistischer Prognosemodelle auf der Grundlage naturwissenschaftlicher Beobachtungen. Entsprechend werden Vorhersagen über Eintrittswahrscheinlichkeiten und Schadenerwartungswerte von Naturkatastrophen generiert – mit großen Implikationen für das Angebot von Versicherungsschutz durch Erst- und Rückversicherer in allen Größenklassen. Die Analysebereiche für die Trendforschung im Bereich Ökologie lassen sich auf die natürlichen Elemente Luft, Erde und Wasser zurückführen (in Anlehnung an Farny 1992, S. 27 f.):
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• Luft: Untersuchungsbereiche sind Sturmereignisse, Klima, Temperatur, Niederschläge etc. • Erde: Untersuchungsbereiche sind Erdbeben, Erdverschiebungen, Erdrutsche, Erdsenkungen, Vulkanismus etc. • Wasser: Untersuchungsbereiche sind Überschwemmungen, Eisgang, Schneedruck etc.
3.7
Teilsystem Gesetzgebung
Schließlich ist das Teilsystem Gesetzgebung auf sich abzeichnende Trends und Megatrends zu analysieren. In der Realität gehen von der Gesetzgebung tatsächlich sehr große Einflüsse auf das Wirtschaften – und damit auf Ziel- und Mittelentscheidungen – im Versicherungsunternehmen aus, die häufig als „externe Schocks“ wahrgenommen werden. Die Tatsache, dass sich Gesetzgebungsverfahren in aller Regel als langfristige Prozesse darstellen, macht freilich deutlich, dass durch eine Erfassung, Auswertung und Antizipation entsprechender Trends innerhalb eines Gesetzesvorhabens eine frühzeitige Vorbereitung des Versicherers möglich ist. Die nachfolgenden Beispiele zeigen die große Vielfalt der Gesetzgebung mit Relevanz für Versicherungsunternehmen. Dabei wird deutlich, dass in einer digitalen Branche wie der Versicherungswirtschaft die primär angewandte Technik – die Versicherungstechnik – weniger von physisch-technologischen als vielmehr von Änderungen des rechtlichen Rahmens abhängig ist. • Aufsichtsrecht: Solvency II, Mindestanforderungen für das Risikomanagement von Versicherungsunternehmen (MaRisk VA), Gesetz zur Stärkung der Finanzmarkt- und Versicherungsaufsicht. • Versicherungsvertragsrecht: VVG-Reform und sich daraus ergebende veränderte Rechtsprechung, Principals of European Insurance Contract Law (PEICL, „Europa-Police“). • Rechtlicher Rahmen für die Rechnungslegung von Versicherern: Abmilderung des strengen Niederstwertprinzips im Rahmen der HGB-Rechnungslegung, Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz (BilMoG), Internationalisierung der Rechnungslegung nach IAS/IFRS. • Rechtlicher Rahmen für die fortschreitende Digitalisierung der Wirtschaft: Elektronischer Personalausweis (ePa), Digitale Signatur, DE-Mail. • Recht im Ausland, Harmonisierung von EU-Recht. • Weitere Rechtsbereiche: Datenschutz-, Steuer-, Haftpflicht-, Arbeits-, Vermittlerrecht, Änderungen im Pflichtversicherungsgesetz, Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) etc.
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Zusammenfassung und Ausblick
Mit den vorstehenden Ausführungen wurde deutlich, dass die systematische Erfassung und Auswertung von Trends und Megatrends als Aufgabe der Marktforschung, als Grundlage für die strategische Marketingpolitik sowie für das strategische Management insgesamt von überragender Bedeutung für Versicherer ist. Und so erstaunt es, dass die real betriebene Marktforschung von Versicherern bis heute eher einen Fokus auf der Sammlung von vergangenheits- beziehungsweise gegenwartsbezogenen Sachverhalten legt. Dieser Umstand mag den Nachwehen der „guten, alten“ regulierten Zeit geschuldet sein und kann womöglich damit erklärt werden, dass die Analyse der Zukunft (naturgemäß) schwieriger ist als die Betrachtung von Vergangenheit und Gegenwart; eine Entschuldigung oder gar eine „Weiter so!“-Parole kann damit freilich nicht ausgesprochen werden. Um eine Kongruenz von strategischen Ziel- und Mittelentscheidungen einerseits sowie zukünftigen Marktentwicklungen und Veränderungen der (sonstigen) Rahmenbedingungen andererseits zu erreichen, gilt es also, Trends und Megatrends zu erfassen und auszuwerten. Dies stellt sich freilich als wiederkehrende Aufgabe dar, so dass es sich für jeden Versicherer empfiehlt, systematisch eine Art „Megatrendmonitor“ oder „Megatrendradar“ aufzusetzen, der Dimensionen enthält, die permanent nach Veränderungen untersucht werden, so dass auch schwache Signale frühzeitig wahrgenommen werden können. Nur so kann es gelingen, die Gratwanderung des Unternehmertums in dem Sinne zu beherrschen, dass einerseits nicht jede Modeerscheinung mitgemacht oder bedient wird, sich andererseits der jeweilige Versicherer aber frühzeitig auf Megatrends – Veränderungen, die sich langsam bilden und die, wenn in Kraft, lange von Einfluss sind – vorbereiten kann.
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Literatur Farny, D.: Das System der Umwelten, die zukünftigen Veränderungen und die Beziehungen zu den Versicherungen, in: Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft, 82. Jg., H. 1/1992, S. 19-43. Farny, D.: Strategien von Versicherungsunternehmen nach Liberalisierung und Deregulierung im europäischen Binnenversicherungsmarkt, in: Der weltweite Versicherungsmarkt – Wandel und strategische Implikationen (Titel des Sammelwerks im Original in koreanischen Schriftzeichen), Seoul 1998, S. 259-322. Farny, D.: Versicherungsbetriebslehre, 4. Aufl., Karlsruhe 2006. Horx, M.: Ausführliche Einführung in die Trend- und Zukunftsforschung, http://www.horx.com/Einfuehrung.aspx, Abruf: 23.08.2009. Naisbitt, J.: Megatrends – Ten New Directions Transforming Our Lives, New York 1982. Naisbitt, J.: Mind Set! Wie wir die Zukunft entschlüsseln, München 2007. Popcorn, Faith: Faith Popcorn’s BrainReserve – What We Do, http://www.faithpopcorn.com/, Abruf: 23.08.2009. Rosenbaum, M./Wagner, F.: Versicherungsbetriebslehre – Grundlegende Qualifikationen, 3. Auf., Karlsruhe 2006.
Kapitel 7 Strategische Steuerung – von der Balanced Scorecard zu Strategy Maps Dr. Stephan Paprottka/Torsten Kresse
1
Status Quo der Unternehmenssteuerung in der deutschen Versicherungswirtschaft
Die deutsche Versicherungswirtschaft befindet sich auch 15 Jahre nach der Deregulierung von 1994 im steten Wandel. Die Entwicklungen des europäischen Versicherungsrechtes (VVG-Reform), die Ratifizierung des Alterseinkünftegesetzes zum 1. Januar 2005, neue bilanzielle Regelungen (IAS/IFRS und BilMoG) und MaRisk/Solvency II haben erneut Handlungszwang aber auch erhebliche Unsicherheit in der Umsetzung dieser gesetzlichen Rahmenbedingungen erzeugt. Die ökonomischen Auswirkungen und Mechanismen sind nur schwer abzuschätzen. Gleichzeitig verändert sich das Wettbewerbsumfeld nachhaltig durch sich ändernde Bedürfnisse und Verhaltensweise von Kunden, Konsolidierung der Vertriebswege sowie durch Verschärfung des Wettbewerbs durch kürzere Produktinnovationszyklen, Globalisierung, Effizienzentwicklungen und globale Markteffekte wie die Finanzmarktturbulenzen. Diese Zunahme von Veränderungsprozessen in Zahl und Intensität stellt die Versicherungswirtschaft vor enorme Herausforderungen. Um in diesem veränderten Marktumfeld auch weiterhin Risiken und Chancen frühzeitig erkennen zu können und profitabel zu wirtschaften, steigen die Anforderungen an die Unternehmenssteuerung und der hierfür eingesetzten Steuerungsinstrumente. Eine systematische Strategieumsetzung und das Performance Management werden immer wichtiger für Versicherungsunternehmen. Durch gesetzliche Regelungen, wie beispielsweise Solvency II, werden für alle Versicherungsunternehmen neue Steuerungsansätze in Richtung wertorientierter Steuerung unabdingbar (vgl. Abb. 7.1).
M.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing, DOI 10.1007/978-3-642-10276-9_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
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Dr. Stephan Paprottka/Torsten Kresse
Risikoerfassung externe und interne Risiken
Risikoidentifizierung
Risikobewertung
Risikovermeidung abgabe verringerung übernahme
Risikoüberwachung
Risikokapitalallokation
Risikoadjustierte • V-Produkte • V-Bestand • Kapitalan• lagen • Prozesse
Überprüfung Profitabilität
KonTraG
Solvency II
Wertorientierte Steuerung
Quelle: Heistermann 2004, S. 9
Abb. 7.1: Erweiterung des Risikomanagement-Prozesses durch Solvency II
Viele Unternehmen nutzen für die übergreifende Unternehmenssteuerung bisher nur auf Basis der Finanzbuchhaltung ermittelte klassische umsatz-, kosten- und volumenorientierten Kennzahlen und orientieren sich damit stark an der Bilanz, Gewinn- und Verlustrechnung sowie der Cash-Flow-Rechnung eines Unternehmens. Eine solche Betrachtung ist häufig zu kurz gegriffen, da insbesondere Wertbeiträge von Leistungen und zukünftige Wertentwicklungen mit der Unternehmenssteuerung mit diesen Kennzahlen nicht betrachtet werden können. Eine Weiterentwicklung der umsatzorientierten Steuerung stellt daher die ertragsorientierte Steuerung dar. Dabei werden vor allem Formen der Deckungsbeitragsrechnung und der Combined Ratio für die Sachversicherung aufgeführt. Sie liefern adäquate Kennzahlen für eine ertragsorientierte Steuerung, auch wenn in der Sachversicherung die Berücksichtigung von Großschäden in der Deckungsbeitragsrechnung je nach Betrachtungszeitraum oder bei einem Wechsel in der Schadenreservepolitik nicht ganz unproblematisch ist. In der Lebensversicherung ist die Deckungsbeitragsrechnung jedoch bei vielen Versicherern auf Basis der Ertragsbarwertrechnung erfolgreich im Einsatz. Schwierig ist hier, zukünftige Erträge eines Lebensversicherungsunternehmens aufgrund der Langfristigkeit von Verträgen, dem Risikotransfer und der garantierten Mindestverzinsung zu beurteilen und in einer Kennzahl abzubilden (vgl. Zielke 2005, S. 108; Rapp/Rederer 2005, S. 64ff.). Versicherungsunternehmen stehen im Wettbewerb um Eigenkapital am Kapitalmarkt und sind daher auch gezwungen, Transparenz und Entwicklung des Unternehmenswertes zu veröffentlichen. Für einen Shareholder Value Ansatz sind daher bestehende Steuerungssysteme durch zusätzlich wertorientierte Kennzahlen zu erweitern. Die Einführung wertorientierter Kennzahlen (Market Consistent Embedded Value, Neugeschäftsprofitabilität) und wertorientierter Unternehmensbewertung nach Discounted Cash-Flow-Methoden und dem Capital Asset Pricing Model wird damit unablässig (vgl. Abb. 7.2).
7 Strategische Steuerung – von der Balanced Scorecard zu Strategy Maps
117
Wertorientierte Steuerung
Entwicklungsstufen der Unternehmenssteuerung von Versicherungen Umsatzorientierte Steuerung
Ertragsorientierte Steuerung
Quelle: Zwiesler/Ahr 2006, S. 16
Abb. 7.2: Paradigmenwechsel in der Unternehmenssteuerung
Ein erfolgreiches Performance Management geht aber über eine reine Steuerung auf Basis von wertorientierten Finanzkennzahlen hinaus. Die zentrale Herausforderung besteht für die Versicherungsunternehmen darin, den am Anfang des Beitrages beschriebenen Herausforderungen mittels einer adäquaten Strategie zu begegnen sowie deren Umsetzung messbar zu machen und zu steuern. Die Strategie beschreibt die langfristige Ausrichtung und Steuerung des gesamten Unternehmens auf eine erfolgreiche Marktpositionierung. Hierbei ist nicht nur die wertorientierten finanziellen Ausrichtung notwendig, es muss auch mindestens eine entsprechend wertorientierte Auf- und Ablauforganisation, ein wertorientierter Vertrieb und ein wertorientiertes Kundenmanagement etabliert werden. Gleiches gilt für die Mitarbeitervergütung, da dieses die Ausgangsbasis zur Wertsteigerung im Unternehmen ist. Die auf klassischen Finanzkennzahlen basierenden Werttreiberbäume können dies aber nicht vollständig abbilden. Hier fehlt vor allem die Sicht auf sämtliche für den Erfolg notwendigen Stellhebel aller Unternehmensressourcen und deren Wirkung auf den Erfolg. Ein Steuerungsmodell, welches auch die nicht-monetären Zielgrößen umfasst, ist die von Kaplan und Norton entwickelte Balanced Scorecard (vgl. Kaplan/Norton 1992). Dabei ist eine Balanced Scorecard als Framework zu begreifen, das für jedes Unternehmen individuell angepasst werden muss. In der Literatur wurde die Implementierung und Ausgestaltung einer Balanced Scorecard für Versicherungsunternehmen bereits theoretisch beschrieben (vgl. zum Beispiel Gabriel 2004). Praxisbeispiele für die Implementierung einer Balanced Scorecard finden sich beispielsweise für die ERGO Versicherungsgruppe AG, Skandia Lebensversicherung AG, AXA Konzern AG, VPV-Versicherungsgruppe, CSS Versicherung AG, Deutscher Ring Gesellschaften und die Talanx Versicherungsgruppe.
118
Dr. Stephan Paprottka/Torsten Kresse
Die Balanced Scorecard nimmt aufgrund ihrer erweiterten Perspektive in der Diskussion für strategische Steuerungsinstrumente einen immer breiteren Raum ein und ist insbesondere geeignet für ein übergreifendes gesamthaftes Performance Management. Im Folgenden wird daher auf den allgemeinen Aufbau und die Ziele der Balanced Scorecard vertiefend eingegangen. Aufbauend auf der klassischen Balanced Scorecard als zusätzliches Performance Measurement Instrument, wird anschließend in der Weiterentwicklung der Balanced Scorecard der Fokus auf die Entwicklung und Ableitung von Strategy Maps als zusätzliches Instrument zur Steuerung eines Versicherungsunternehmens gelegt.
2
Balanced Scorecard
2.1
Grundkonzept und Kernelemente
Das Grundkonzept der Balanced Scorecard (BSC) wurde von Kaplan und Norton Anfang der 1990er Jahre im Harvard Business Review beschrieben (vgl. Kaplan/Norton 1992, S. 71-79). Dabei werden, basierend auf der Unternehmensstrategie, Key Performance Indicators (KPI) abgeleitet, die neben den finanziellen Kennzahlen auch nicht-finanzielle Kennzahlen berücksichtigen. Kaplan und Norton hatten in Untersuchungen festgestellt, dass mit rein finanziellen Kennzahlen bis zu 75 Prozent der Unternehmensressourcen nicht berücksichtigt bzw. deren Wirkungen nicht gemessen werden und damit eine Erweiterung um die sogenannte nicht finanzielle Kennzahlen für ein ausbalanciertes System erforderlich ist. Um ein balanciertes Kennzahlensystem abzubilden und die Abhängigkeiten der einzelnen Kennzahlen darzustellen, werden Ursache-Wirkungsketten über vier Perspektiven gebildet, die im Folgenden vorgestellt werden. Ursache-Wirkungsketten werden dabei als das innovative und zentrale Element der Balanced Scorecard beschrieben und stellen die kausalen Zusammenhänge zwischen strategischen Zielen dar. Dabei wird die Kausalität meist durch Annahmen des Managements und der bei der Entwicklung der Balanced Scorecard beteiligten Personen abgeleitet (vgl. Hügens, 2008, S. 115). Finanzperspektive Die finanzielle Perspektive basiert größtenteils auf wert-/ertragsorientierten Renditekennzahlen und Risikokennzahlen und bildet damit die langfristigen Unternehmensziele ab (vgl. Christians 2006, S. 113ff.). Die Grundlage dieser Kennzahlen wird aus Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung abgeleitet. Die Auswahl an möglichen Kennzahlen in dieser Perspektive ist in Versicherungsunternehmen meistens breit gefächert, da diese bereits die Leistungs- und Ertragsfähigkeit eines Unternehmens beschreiben. Außerdem kann anhand der Finanzkennzahlen die Erfolgswirksamkeit der gewählten Strategie direkt gemessen werden. Die Finanzkennzahlen in einer Balanced Scorecard stellen zudem den Bezugspunkt einer Ursache-Wirkungskette der drei restlichen Balanced Scorecard-Perspektiven dar.
7 Strategische Steuerung – von der Balanced Scorecard zu Strategy Maps
119
Kunden/Marktperspektive In der Kunden-/Marktperspektive werden die Ziele und Kennzahlen aus dem Kundensegment, der Marktanteilsentwicklung (Benchmarking) und den Vertriebsorganen abgeleitet, um die finanziellen Ziele zu erreichen. Die Kundenperspektive kann für die Versicherungswirtschaft zunächst nach Privat-, Gewerbe- und Industriekunden differenziert werden (vgl. Farny 2000, S. 391). Im Bereich der Privatkunden können dann beispielsweise auf Basis personenbezogener Merkmale Kundentypologien und Zielgruppen definiert werden. Die soziodemografischen Merkmale Geschlecht, Alter und Familienstand ermöglichen daraufhin, Zielgruppenprodukte zu konzipieren. In Verbindung mit dem Marktanteil kann dann eine Erfolgsmessung der definierten Key Performance Indicators (KPIs) stattfinden. Die Vertriebsstrategie als ein elementarer Erfolgsfaktor eines Versicherungsunternehmens wird durch die Vertriebsorgane und damit über die Vertriebswege umgesetzt. Dementsprechend ist neben der finanziellen Erfolgsmessung des Vertriebserfolges auch die Performance der einzelnen Vertriebswege zu berücksichtigen. Prozessperspektive In dieser Perspektive werden die internen, erfolgskritischen Geschäftsprozesse gemessen und optimiert, um Ziele aus der Finanz- und Kundenperspektive erfüllen zu können. Daher liegt der Schwerpunkt darauf, erfolgskritische Prozesse zu identifizieren und Strategien zur Erreichung einer operativen Exzellenz hinsichtlich Qualitäts-, Kosten- und Flexibilitätsaspekten (vgl. Christians 2006, S. 115) abzuleiten. Kaplan und Norton untergliedern diese Prozesse nach relevanten wertschöpfenden Prozessen (vgl. Kaplan/Norton 1996, S. 96): • Innovationsprozesse Hier werden vor allem die Antizipation von Kundenwünschen und das Time to Market von Produkten gemessen und optimiert, da sich in der Versicherungswirtschaft Produkte sehr schnell von der Konkurrenz kopieren lassen. • Betriebsprozesse Die Prozesse der betrieblichen Leistungserstellung vom Marketing, Kapitalanlagemanagement und Vertriebsprozessen stehen hier im Vordergrund. • Dienstleistungsprozesse In der Versicherungswirtschaft handelt es sich dabei insbesondere um Serviceprozesse. Da die Kundenkontaktrate in der Assekuranz im Vergleich zu anderen Branchen eher gering ist, sind hier vor allem die Antrags- und Leistungsregulierungsprozesse von Bedeutung, um die Kundenzufriedenheit zu steigern. Mitarbeiterperspektive Da in der Versicherungswirtschaft die Wertschöpfungstiefe im Vergleich zu anderen Branchen sehr hoch und der Automatisierungsgrad der Prozesse in vielen Bereichen zurzeit eher gering sind, kann den kritischen Prozessen und zukünftigen Herausforderungen im Prozessmanagement nur mit einer optimalen Steuerung der Lern- und Entwicklungsfähigkeit der Organisation begegnet werden. In der Balan-
120
Dr. Stephan Paprottka/Torsten Kresse
ced Scorecard werden durch die Mitarbeiterperspektive diese kritischen und zukunftsorientierten Erfolgsfaktoren beachtet und bilden die Basis der UrsacheWirkungs-Beziehungsanalyse. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Mitarbeiterentwicklung und der Bereitstellung der notwendigen Infrastruktur, um die unternehmensindividuellen Erfolgspotenziale ausschöpfen und die Erfüllung der Ziele der anderen drei Perspektiven erfüllen zu können. Das ursprüngliche, von Kaplan und Norton entwickelte Balanced Scorecard Modell sah vor, Kennzahlen für die vier Perspektiven abzuleiten und diese zuzuordnen. Dabei werden die Kennzahlen in jeder Perspektive nicht isoliert voneinander dargestellt, sondern in Form von Ursache-Wirkungsketten. Allerdings können Ursache-Wirkungsketten für Kennzahlen sehr komplex werden. Zudem sind die Abhängigkeiten zwischen den Perspektiven und damit zwischen den Kennzahlen nicht immer eindeutig beziehungsweise können nicht direkt abgeleitet werden. Da insbesondere bei Kennzahlen meist eine direkter mathematischer und damit ein direkter kausaler Zusammenhang vom Management erwartet wird, kann es hier leicht zu Missverständnissen führen. Mithilfe von Strategy Maps können die Ursache-Wirkungsketten vereinfacht und verständlicher erstellt werden.
2.2
Key Performance Indicators und Zielgrößen
Für die Ableitung von Key Performance Indicators (KPIs) aus einer Strategy Map beziehungsweise bei der Auswahl von Kennzahlen ist die Struktur der Balanced Scorecard hilfreich, um ein ausgewogenes Set an Kennzahlen zu generieren. Dabei ist der Informationsbedarf pro Dimension einer Balanced Scorecard in der folgenden Abbildung schematisch dargestellt (vgl. Abb.7.3). Bei der Auswahl von Kenzahlen sollten neben dem ausbalancierten Set an Kennzahlen folgende Kriterien ebenfalls erfüllt werden: • • • • •
Früh-/Spätindikatoren, Werttreiberkennzahlen, Berichtskennzahlen, Kernsteuerungsgrößen und Operative Steuerungsgrößen.
Erfahrungsgemäß werden von Versicherungsunternehmen für die Finanzperspektive Kennzahlen mit dem folgenden Informationsbedarf ausgewählt: • Rentabilität (Ertrag und Wertsteigerung und somit des Market Consistent Embedded Value (MCEV), Return on Capital Employed (ROCE), Risk Adjusted Return on Capital (RAROC), Return on Risk Adjusted Capital (RORAC), Dividende, Combined Ratio), • Sicherheit (Solvabilität, Value at Risk, Reichweite freie Rückstellung für Beitragsrückerstattung (RfB)) und • Wachstum (Annual Premium Equivalent (APE), Beitragssumme Neugeschäft, gebuchte/verdiente Bruttobeiträge).
7 Strategische Steuerung – von der Balanced Scorecard zu Strategy Maps
• • • • • •
• • • • • • •
Marktwachstum/-volumen Marktsegmente Marktanteile Wettbewerbsdynamik Produktlebenszyklen Chancen/Risiken Vermittler- und Kundenstrukturen und -profitabilität • Courtagehöhen • …
121
Erwartung der Gesellschafter/Konzern Ertragsstärke Sicherheit Kosten-/Erlösstrukturen Stärken/Schwächen …
Finanzen
Kunden
Strategie
Prozesse
• • • • • •
Geschäftsprozessanalysen Wertschöpfungstiefen Kernkompetenz Serviceangebote Stärken / Schwächen …
Mitarbeiter
• • • •
Mitarbeiterstrukturen Kompetenzprofile Stärken / Schwächen …
Quelle: In Anlehnung an Horvath und Partners 2007, S. 10
Abb. 7.3: Informationsanforderungen je BSC-Perspektive
Für die Perspektive Markt und Kunden liegt der Informationsbedarf der Versicherungsunternehmen bei Markt-/Wettbewerbskennzahlen und Produktkennzahlen. Dabei wird vor allem auf die Kennzahlen Rating (Unternehmen und Produkte), Marktanteile in Produktgruppen, Struktur und Durchdringung von Vertriebswegen und Zielgruppen, Courtagehöhe, Produktinnovationen oder auf Studienergebnisse aus Maklerbefragungen fokussiert. In der Perspektive Prozesse liegt der Schwerpunkt auf Servicekennzahlen oder Geschäftsprozesskennzahlen. Diese Kennzahlen können hier zum Beispiel durch die Six Sigma Methode generiert werden. Im Bereich der Mitarbeiterperspektive werden insbesondere die Mitarbeiterstruktur, Mitarbeiterbefragung und die Unternehmenskultur als Kennzahlen herangezogen.
2.3
Entwicklungsprozess
Um eine Balanced Scorecard konzipieren und den größten Nutzen daraus entfalten zu können, müssen zunächst verschiedene Rahmenbedingungen, wie die folgende Abbildung zeigt, vor, während und nach der der Konzeption einer Balanced Scorecard erfüllt werden (vgl. Abb. 7.4). Zunächst müssen Vision, Mission und Strategie eines Unternehmens definiert werden. Dazu gibt es in der Praxis und Literatur verschiedenste Methoden, Vorgehensweisen und Beispiele (etwa Gabriel 2004; Hahn/Taylor 2006). Im Rahmen
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Dr. Stephan Paprottka/Torsten Kresse
der Entwicklung einer Balanced Scorecard wird dieses gesteuert, indem explizit die einseitige Aufrichtigen der Vision oder Strategie auf eine Dimension hin zu einen ausbalancierten System gefördert wird. 1
2
3
4
5
6
7
8
Vision identifizieren
Zukunftsbild, Leuchtturm
Mission Leitbild
Zweck, Grundsätze, Werte
Strategie
Grundsätzliche Ausrichtung
Erfolgsfaktoren
Erfolgsfaktoren des Geschäftsmodell
Balanced Scorecard
Messung und Steuerung der wichtigsten Ziele
Der Strategieplan
Ziele – Maßnahmen – Messgrößen – Aktionen
Kontinuierliche Verbesserung
Die Schwerpunkte der laufenden Optimierung
Zielvereinbarungen
Persönliche Schwerpunkte
Quelle: In Anlehnung an Hügens 2008, S. 42ff.
Abb. 7.4: BSC als Managementinstrument
Die grundlegende Ausgangsbasis zur Herleitung einer Balanced Scorecard sind jedoch die Erfolgsfaktoren des Geschäftsmodelles inklusive aller darauf wirkenden exogenen Faktoren (Markt) und endogenen Rahmenbedingungen. Basierend auf den Erfolgsfaktoren, erfolgt eine Strategieentwicklung oder ein strategischer Review, um die strategischen Ziele des Unternehmens abzuleiten. Bei der Einführung einer Balanced Scorecard muss dieser Schritt nicht zwingend durchgeführt werden, eignet sich aber sehr wohl dazu, die strategische Ausrichtung der Unternehmen zu adjustieren. Bei der Ableitung einer Balanced Scorecard in einem Unternehmen sind die strategischen Implikation je Hierarchiestufe zu skizziert und in einem hierarchischen System einzuordnen. Die Ausgangsbasis zur Herleitung der Balanced Scorecard bilden die strategischen Ziele eines Unternehmens auf der höchsten Hierarchieebene und sind hier in der Abbildung 7.5 als Holdingebene beschrieben. Alle davon abgeleiteten strategischen Ziele auf Konzern- oder Segmentebene müssen kongruent zu denen der Holdingebene sein. Dieses Prinzip wird auch für die Zielund Messgrößen angewandt. Analog muss immer eine logische und kausale Verbindung zwischen den Hierarchiestufen im Unternehmen vorliegen und bei der Erstellung einer Balanced Scorecard überprüft werden. Für eine konzern- oder
7 Strategische Steuerung – von der Balanced Scorecard zu Strategy Maps
123
segmentspezifische Balanced Scorecard müssen dabei die systemimmanenten Besonderheiten der Hierarchiestufe mit berücksichtigt werden. In einem nächsten Schritt werden für die Kennzahlen und Zielgrößen abgeleitet, die sich an der Kurz- und Mittelfristergebnisplanung anlehnen. In einem letzten Schritt werden Maßnahmen abgeleitet, um die strategischen Ziele zu erreichen. Zur Erfolgskontrolle werden die Kennzahlen und die Maßnahmen kontinuierlich überprüft (vgl. Abb. 7.5). Konzern BSC (Mastercard) Ziele
Kennzahlen
Zielgrößen
Maßnahmen
…. …. ….
Abstimmung von Maßnahmen Segment BSC
Herunterbrechen der strategischen Ziele
Ziele
Kennzahlen
Zielgrößen
Maßnahmen
…. …. ….
Ressort/Initiativen BSC Ziele
Segment spezifische Besonderheiten Ressort spezifische Besonderheiten
Kennzahlen
Zielgrößen
Maßnahmen
…. …. ….
Quelle: In Anlehnung an Kaplan/Norton 2000, S.77
Abb. 7.5: Herleitung einer Balanced Scorecard
Die Balanced Scorecard hat das Ziel, ein ausgewogenes Managementinstrument zwischen finanziellen und nicht-finanziellen Kennzahlen, basierend auf der Unternehmensstrategie, abzuleiten und zusätzlich die Lücke zwischen der operativen und strategischen Steuerung eines Unternehmens zu schließen (vgl. Abb. 7.6).
124
Dr. Stephan Paprottka/Torsten Kresse
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 7.6: Rahmenbedingungen der BSC-Entwicklung
Die Aufgabe einer Balanced Scorecard ist es daher, dem Management alle notwendigen Informationen zur Steuerung eines Unternehmens zur Verfügung zu stellen. Dabei muss vom Management definiert werden, bis auf welche Aggregationsebenen der Unternehmensorganisation und mit wie vielen Kennzahlen ein Steuerungsinstrument den größten Nutzen entfaltet. Erfahrungsgemäß ist auch im Rahmen einer Multi- und Großprojektsteuerung Großprojektsteuerung der Einsatz einer Balanced Scorecard sinnvoll (vgl. Kunz 2007, S. 69ff.). Wie in Abbildung 7.6 dargestellt, muss zudem der Steuerungsbedarf nach den Wertschöpfungsstufen, Kostenstrukturen und Kernprozessen des Unternehmens definiert werden, um die Verbindung Verbindung zur operativen Steuerung jederzeit sicherstellen zu können. Nach der erstmaligen Konzeption und Umsetzung einer Balanced Scorecard im Rahmen eines Managementansatzes eines Unternehmens muss jedoch, neben der regelmäßigen Erfolgskontrolle und dem Review Review Prozesse der strategischen Maßnahmen und Messgrößen, auch eine kontinuierliche Prozessverbesserung auf der operativen Ebene angestoßen werden. In diesem Zusammenhang werden beispielsweise Methoden, wie kontinuierliche Verbesserungsprozess (KVP), Total Quality Management (TQM) oder Kaizen erprobt (vgl. Gabriel 2004, S. 273ff.). Um die angestrebten Ziele einer Balanced Scorecard auch im Unternehmen erfolgreich umzusetzen, müssen mit dem Top-Management und Führungskräften persönliche Zielvereinbarungen abgeschlossen und Mitarbeitergespräche durchgeführt werden. Dabei ist der Top Down Ansatz entsprechend der Unternehmensorganisation die präferierte Methode in der Unternehmenspraxis. Je weiter eine Balanced Scorecard konkretisiert und herunter gebrochen wird, wird, desto höher ist dabei die Akzeptanz der Mitarbeiter, da die persönlichen Ziele aus den Unternehmenszielen abgeleitet werden (vgl. Christians 2006, S. 172).
7 Strategische Steuerung – von der Balanced Scorecard zu Strategy Maps
3
125
Strategy Maps
Im Zuge der Entwicklung und Implementierung von Balanced Scorecards in der Praxis haben Kaplan/Norton die Aussage - you can’t manage what you can’t measure – geprägt. In der Praxis zeigte sich aber, dass gerade bei der dem Messen vorgelagerte Prozess der Beschreibung der Strategie und der Ableitung von Zielzusammenhängen ein entscheidender Erfolgsfaktor für das BSC-Steuerungssystem liegt. Gerade durch die Strategiebeschreibung und den Versuch der Formulierung von Zusammenhängen und Wirkungsketten wurde häufig ein Diskussionsprozess über die Sinnhaftigkeit von bestimmten strategischen Zielen und Ausrichtungen in Gang gesetzt, der nachhaltig und im positiven Sinne für das Unternehmen zu einer Veränderung der Stategieformulierung/-beschreibung führte. Dies veranlasste auch Kaplan/Norton zu der Erweiterung der obigen Aussage um den Zusatz, you cannot measure what you cannot describe. Der Strategiebeschreibungsprozess mit Hilfe sogenannter Strategy Maps ist Voraussetzung für den Erfolg des Steuerungssystems und wird von Kaplan und Norton als maßgebliche Erweiterung des Balanced Scorecard-Modells dargestellt. In einer Strategy Map werden die aus den Erfolgsfaktoren abgeleiteten vorhandenen strategischen Ziele eines Unternehmens entsprechend der vier Perspektiven einer Balanced Scorecard übersetzt und eingeordnet. Anschließend werden die Ursache-/Wirkungsbeziehungen der Ziele untereinander diskutiert und abgeleitet. Nun können Ziele und Geschehnisse im Unternehmen vernetzt mit ihren Interdependenzen betrachtet werden. Die vielfach praktizierte isolierte Betrachtung von Zielen zur Komplexitätsreduktion, spiegelt nur unzureichend die Realität wider. Um die Strategie und damit sämtliche Einflussfaktoren für den Unternehmenserfolg vollständig darstellen und erklären zu können, ist die häufig angeführte strenge Kausalität von Wirkungsbeziehungen strategischer Ziele aufgrund des Aufwandes und der Komplexität nur wenig praktikabel. Häufig lassen sich auch keine exakten mathematischen Zusammenhänge formulieren, die in diesem Falle auch nur Scheingenauigkeiten wiedegeben würden. Als Beispiel kann die Wirkung einer Verbesserung des Servicegrades durch höhere Erreichbarkeit der Servicemitarbeiter auf die Zufriedenheit von Kunden und damit letztlich auf den Erfolg des Unternehmens nicht exakt und schon gar nicht monetär bestimmt werden. Auch ist in den seltensten Fällen eine solche Beziehung linear. Vollständigkeit und Praktikabilität stehen bei der Formulierung des Beziehungsnetzwerkes von Zielen daher eher im Vordergrund. Durch eine solche vernetzte Visualisierung wird in der Praxis sehr schnell deutlich, dass innerhalb des Ziel-Beziehungsgeflechtes Redundanzen, Komplementaritäten, Konflikte und teilweise auch Unvereinbarkeiten auftauchen, die teilweise gewollt aber auch ungewollt auftreten. Nun findet in der Praxis häufig ein Adjustierungs- oder auch Bereinigungsprozess der Strategischen Ziele und damit ihrer Beziehungen untereinander statt, der zu einem klareren und widerspruchsfreieren Ziele-Set führt. Häufig wird auch von
126
Dr. Stephan Paprottka/Torsten Kresse
Fokussierung gesprochen, die in einer finale Strategie Map beschreiben wird (vgl. Abb. 7.7).
Analog zum klassischen Balanced Scorecard Modell müssen anschließend nun wieder die KPIs und die Zielwerte sowie strategischen Maßnahmen zur Zielerreichung definiert werden. Der Vorteil bei dem Einsatz von Strategy Maps gegenüber dem klassischen Balanced Scorecard-Modell liegt in der Schärfung der Strategischen Ziele sowie in der Visualisierung dass alle Abhängigkeiten zwischen den Zielen. Das Erhöht Klarheit und Verständlichkeit. Verständlichkeit. Damit erhält diese erweiterte Balanced Scorecard erfahrungsgemäß auch eine höhere Akzeptanz im Unternehmen.
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 7.7: Strategiebeschreibung mit Hilfe der Strategy Map
7 Strategische Steuerung – von der Balanced Scorecard zu Strategy Maps
127
Im Kern lassen sich die Vorteile von unternehmensspezifischen Strategie Maps in drei Punkten zusammenfassen. • • •
Klarheit und Kommunikationsfähigkeit zur eigenen Strategie Aufdeckung interner erfolgstreibender Schlüsselprozesse einer Strategie Wirkungsoptimale Ausrichtung von Investments in Unternehmensressourcen - Menschen, Technologie und Organisation
Mithilfe der Strategy Maps lassen sich deutlicher und anschaulicher viele Ursache-Wirkungsbeziehungen mithilfe von Abhängigkeitsbeziehungen darstellen, was wiederum die Ableitung der Kennzahlen erleichtert und die Akzeptanz der Balanced Scorecard im Unternehmen erhöht.
4
Einführung einer Balanced Scorecard am Beispiel einer deutschen Lebensversicherung
Die nachfolgende Beschreibung der Entwicklung einer Balanced Scorecard erfolgt am Beispiel einer deutschen Lebensversicherung. Das Vorgehen und die Ergebnisse werden hier auf Basis der Projekterfahrung von 67rockwell Consulting beschreiben. Die hier beschriebene Lebensversicherung ist ein Teilsegment einer Holdingstruktur, die neben der Lebensversicherung auch die Segmente Bausparkasse, Komposit und Kranken bedient. Das Versicherungsunternehmen ist vom Produktprogramm breit von klassischen bis zu fondgebundenen Produkten aufgestellt. Die hauptsächlichen Absatzorgane sind die eigene starke Ausschließlichkeitsorganisation und zu einem kleinen Teil auch der Vertriebsweg Makler. Die Lebensversicherung agiert auf dem deutschen und teilweise dem europäischen Versicherungsmarkt. Die Positionierung erfolgt hinsichtlich der Service- und Produktqualitätsführerschaft.
4.1
Vorgehensmodell
In einem ersten Schritt wurden die Ursache-Wirkungszusammenhänge ermittelt. Hierfür ist es notwendig, die Strategie und deren Ziele den BSC-Dimensionen zuzuordnen. Bei diesem Prozess wurde deutlich, dass es kein klares Ziele-Set im Unternehmen gibt, sondern eine Reihe von historisch im Zeitablauf entstandene mehr oder weniger dokumentierte Ziel bzw. Zielvorstellungen existieren, deren kontinuierliche Überprüfung nur unsystematisch stattgefunden hatte. Daher wurden nun zunächst die Erfolgsfaktoren und die strategischen Ziele des Lebensversicherungsunternehmens sortiert und vorgeschärft. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, die Erfolgsfaktoren und strategischen Ziele nicht nur auf Unternehmensebene festzulegen, sondern auch die Ziele auf Ressorts, Bereiche und Großprojekte zu betrachten um Vollständigkeit zu gewährleisten sowie die Abhängigkeiten und die Gewichtungen, also die Ursachen von strategischen Zielen, immer im Blick zu behalten.
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Dr. Stephan Paprottka/Torsten Kresse
Im nächsten Schritt werden die Ursache-Wirkungsbeziehungen diskutiert und gemeinsam mit den Zielen in der Strategie Map des Unternehmens implementiert. Da eine Strategie Map für das Gesamtunternehmen in der Herleitung relativ abstrakt sein kann, ist es im Vorgehen häufig hilfreich, zunächst eine Ebene tiefer die konkreteren Strategie Maps von Unternehmensbereiche zu entwickeln und anschießend auf Top-Ebene zu aggregieren. Beim Zusammenfügen der einzelnen Strategy Maps aller Unternehmenseinheiten muss gleichzeitig darauf geachtet werden, dass die gewonnene Transparenz einerseits nicht durch eine Komplexitätserhöhung zunichte gemacht wird und andererseits nicht unzulässig vereinfacht wird. In diesem Zusammenhang kann das Strategy Landscaping angewandt werden, das im weiteren Verlaufe dieses Beitrages noch näher dargestellt wird. Danach erfolgte die Ableitung der Kennzahlen, wie oben bereits ausführlich beschrieben. Das Set an Kennzahlen sollte dabei zum einen markttypische Kennzahlen beinhalten als auch unternehmenstypische, interne Kennzahlen. Damit wird zum einen die Vergleichbarkeit mit dem Markt gewährleistet. Zum anderen wurde bereits vorhandenes Wissen wiederverwendet und damit die Akzeptanz innerhalb des Unternehms erhöht. Im weiteren Verlaufe des Vorgehens wurden den Kennzahlen konkrete Zielgrößen zugeordnet, die einen kurz- und auch mittelfristigen Charakter haben. Ein wichtiger Aspekt bei der Festlegung von Kennzahlen ist die Wirtschaftlichkeit bei der Erhebung. Kennzahlen, die aktuell im Unternehmen nicht erhoben wurden, wurden bezüglich ihrer Erhebung einer Kosten-NutzenBetrachtung unterzogen, um den Aufwand zur regelmäßigen Herleitung der Kennzahl vorab zu klären. Mit der Definition von Maßnahmen für die nun vorhandenen Ziele und deren Zielgrößen wurde die BSC vollständig formuliert. Anschließend wurde der Prozess für ein systematisches und strukturiertes Erfolgscontrolling im Unternehmen aufgesetzt. Berichtsfrequenz und das Berichtsformat für die Kennzahlen als auch für die Berichtsempfänger wurden hierbei festgelegt (vgl. Abb. 7.8).
7 Strategische Steuerung – von der Balanced Scorecard zu Strategy Maps
1
Ursache-Wirkungsbeziehungen
2
• Erfolgsfaktoren und Strategische Ziele
Messgrößen
3
• Grundsätzlicher Informationsbedarf – Finanzen – Markt – Prozesse – Mitarbeiter
• Strategy Map Lebensversicherung AG • Strategy Map Ressorts/Initiativen/ Projekte
129
Zielgrößen • Allgemein Strategische Vorgaben • Initiativen
BALANCED SCORECARD
4
Berichtstypen • • • •
Monat Quartal Halbjahr Jahr
(12x knapp) (4x wenig) (2x ausführlich) (1x vollständig)
5
Berichtsempfänger • VV / Gesamtvorstand • Ressorts • Initiativen
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 7.8: Vorgehensmodell
Empfehlenswert sind hier Drill-down-Berichtsformate, in denen zunächst die Kernsteuerungsgrößen enthalten sind und der Bedarf verschiedener Berichtsdimensionen, wie beispielsweise Vertriebswege und Lines of Business, heruntergebrochen werden kann.
4.2
Beispielhafte Konzeption
In der nachfolgenden Abbildung wurden für die beschriebene Lebensversicherung die vorhandenen strategischen Ziele den Erfolgsfaktoren einer Lebensversicherung zugeordnet. Als Erfolgsfaktoren wurden die übergreifende Unternehmenspolitik, die Produkte, der Marktzugang, Services, Prozesse, Mitarbeiter und das Kapitalanlagemanagement identifiziert. Dieser Schritt muss auch für die Ressort- und Projekt-Scorecards erfolgen (vgl. Abb. 7.9).
130
Dr. Stephan Paprottka/Torsten Kresse
Erfolgsfaktoren
Strategische Ziele
Unternehmen
§ § § § §
Image/Markenbekanntheit verbessern Angemessene Sicherheit/Top Rating Nachhaltige Wertsteigerung Dividende erhöhen Rohüberschuss steigern
Produkte
§ § § §
Top Five fondsgebundene Produkte Produktposition verbessern Zielgruppenkonzepte Kundenbasis verbreitern
Marktzugang
Services
Prozesse
§ Vertriebsweg Makler ausbauen § Kundenbasis verbreitern § Profitables Wachstum erreichen § Services verbessern/erhöhen § Produktivität erhöhen § Prozessqualität verbessern § Organisationseffizienz verbessen
Kapitalanlagemanagement
§ Kapitalanlageperformance erhöhen § Nettoverzinsung Kapitalanlagen verbessern
Mitarbeiter
§ Mitarbeitermotivation erhöhen § Mitarbeiter Know-How verbessern
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 7.9: Erfolgsfaktoren und strategische Ziele
Die sinnvoll den Erfolgsfaktoren zugeordneten strategischen Ziele wurden in eine Strategy Map, bestehend aus den Dimensionen Finanzen, Kunden, Prozesse und Mitarbeiter, der Balanced Scorecard überführt. Anschließend wurden die Abhängigkeiten – also die Ursachen und Wirkungen – zwischen den strategischen Zielen eingefügt. Für jedes strategische Ziel konnten bereits zu diesem Zeitpunkt die verbindlichen Verantwortlichkeiten pro Vorstandsressort festgelegt werden. Dabei ist zu klären, ob beispielsweise ein Vorstandsressort die alleinige Verantwortung trägt oder zur Erreichung der Ziele beiträgt. Die so entwickelten strategischen Top-Ziele stellen somit auch die Ankerpunkte für die Ressort-Scorecards dar. In der nachfolgenden Grafik ist beispielhaft eine derartige Strategy Map dargestellt (vgl. Abb.7.10).
7 Strategische Steuerung – von der Balanced Scorecard zu Strategy Maps
131
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 7.10: Beispiel einer Strategy Map
In einem weiteren Schritt konnte dann eine Gewichtung der Abhängigkeiten zwischen den einzelnen strategischen Zielen vorgenommen werden, insofern es sich bei den Abhängigkeiten um eine 1:n-Beziehung handelt. Für diesen Schritt empfiehlt es sich, Workshops mit den vorher festgelegten Verantwortlichen der strategischen Ziele durchzuführen. Zudem kann hier bereits ein Vorgriff der Kennzahlenzuordnung auf die strategischen Ziele erfolgen und, insofern mathematisch sinnvoll, ein Modell entwickelt werden, bei dem durch die Veränderung eines strategisches Zieles beziehungsweise einer Kennzahl die Auswirkung auf alle Abhängigen der strategischen Ziele und Kennzahlen sichtbar wird. Wenn kein direkter mathematischer Zusammenhang zwischen den Kennzahlen und strategischen Zielen vorliegt, kann mit Hilfe von Sensitivitätsanalysen ein entsprechendes System modelliert werden. Die Strategy Map musste nun für den weiteren Verlauf bereinigt und verdichtet werden. Es zeigt sich, dass das Unternehmen mit der ersten Strategy Map eine Vielzahl von strategischen Zielen verfolgen wollte, ohne eine gewisse Schwerpunktsetzung. Eine klare Positionierung ist hiermit nicht erkennbar und die Verfolgung der Breite dieser Ziele kaum praktikabel und damit nicht glaubwürdig. Die Adjustierung und Verdichtung der Strategy Map kann dabei in zwei Varianten erfolgen. In der ersten Variante erfolgt die Verdichtung durch eine Fokussierung auf bestimmte „starke“ strategische Ziele mit großer Wirkung. Eine weitere Variante einer zulässigen Komplexitätsreduzierung kann für eng zusammenhängende Ziele und deren Ursache-Wirkungsbeziehungen durch sinnvolle Zusammenfassung und Schwerpunktsetzung durchgeführt werden, wie in der folgenden Abbildung dargestellt ist (vgl. Abb. 7.11).
132
Dr. Stephan Paprottka/Torsten Kresse
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 7.11: Verdichtete Strategy Map
In der nachfolgenden Abbildung wird nun beispielhaft die Ableitung von KPIs an den strategischen Zielen „nachhaltige Wertsteigerung“ für die Perspektive Finanzen und „Anbindung neuer A/B-Makler Markt“ für die Markt/Kundenperspektive gezeigt. Im Rahmen einer ausgewogenen Unternehmensteuerung eines wertorientierten Managementsystems wurde für das strategische Ziel „nachhaltige Wertsteigerung“ die übergreifende Anforderung „risikoadjustierte (Mindest-)Rendite“ für die abzuleitenden Kennzahlen durch die Unternehmensführung gesetzt. Aus diesem Grund wurden die Kennzahlen MCEV, RAROC und RORAC vorgeschlagen. Für das Ziel der „Anbindung neuer A/B-Makler Markt“ sind sowohl Markt- und Wettbewerbskennzahlen von Interesse als auch Kennzahlen zur Beschreibung des unternehmensinternen Erfolgs. Da der Schwerpunkt auf der Rekrutierung neuer Aund B-Makler liegt, werden in diesem Zusammenhang der Marktanteil sowie die Marktentwicklung des Maklermarkts als Kennzahl mit berücksichtigt. Des Weiteren wird die Leistungsfähigkeit jedes Maklers mit den Kennzahlen Bewertungssumme pro Makler gemessen. Die hier aufgezählten Kennzahlen bilden nur einen Ausschnitt der für die Lebensversicherungen entwickelten Kennzahlen. Analog der Herleitung der strategischen Ziele ist der Prozess der Ableitung der Kennzahlen in einem intensiven Dialog mit dem Management und den für die Kennzahl verantwortlichen Bereiche zu führen.
7 Strategische Steuerung – von der Balanced Scorecard zu Strategy Maps
Finanzperspektive
Markt/Kunden Perspektive
Strategisches Ziel
Messgröße
Strategisches Ziel
Market Consistent Embedded Value
Nachhaltige Wertsteigerung
…
Messgröße Anzahl neuer Makler
Risk Adjusted Return on Capital Return on Risk Adjusted Capital
Dividende steigern
133
Bewertungssumme/Makler
Anbindung neuer A/B-Makler Markt
Vermittlerzufriedenheit Courtagehöhe je Segment
…
Maklersegmentanteile (A/B/C/D)
…
Marktanteil Maklermarkt
Prozessperspektive Strategisches Ziel
Mitarbeiterperspektive Messgröße
Strategisches Ziel
Messgröße Vermittlerzufriedenheit
…
…
…
…
Courtagehöhe je Segment
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 7.12: Ableitung von Kennzahlen aus den Erfolgsfaktoren
Bei der Zuordnung der Kennzahlen auf die strategischen Ziele ist es in diesem Zusammenhang wichtig, dass eine einheitliche Definition und damit ein einheitliches Verständnis der Kennzahlen im gesamten Unternehmen erzeugt wird. Dazu hat sich erfahrungsgemäß ein Kennzahlenhandbuch etabliert. Im Folgenden wird die vorgenommen Beschreibung für das strategische Ziel „Dividende steigern“ exemplarisch vorgestellt wird. Als Kernsteuerungsgröße wird hier die Kennzahl Dividende sowie als operative Steuerungsgrößen der Rohüberschuss, das Kapitalanlageergebnis, Kostenergebnis, Stornoergebnis, Rückversicherungsergebnis und das sonstige Ergebnis verwendet. Für die Beschreibung der Kennzahl wird im Kennzahlenhandbuch dabei ein Steckbrief angelegt, der schematisch in der folgenden Abbildung dargestellt ist (vgl. Abb. 7.13).
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Dr. Stephan Paprottka/Torsten Kresse
Bezeichnung der Kennzahl: Dividende
Verantwortlich: CEO
DEFINITION
Lieferant: Unternehmenscontrolling BEWERTUNG 1
• Höhe wird im Zuge von Gewinnverwendungsentscheidungen festgelegt • Höhe der Dividende muss an den Erwartungen des zur Verfügung gestellten Eigenkapitals durch den Aktionär richten • Eng verbunden mit dem Ziel der Gewinnmaximierung
1
2
3
4
5
Beeinflussbarkeit durch Mgmt. sehr hoch
2
Verständlichkeit
3
Aufwand Ermittlung
4
Zyklische Verfügbarkeit
sehr hoch
autom.
täglich
hoch
hoch
mittel
niedrig
sehr niedrig
mittel
niedrig
sehr niedrig
hoch
sehr hoch
gering
mittel
wöchenl.
monatl.
quartalw.
jährlich
Verwendung ZIELVORGABEN ZUR KENNZAHL • Gesamtunternehmen: xx Mio. EURO (Plan) • Inland: xx Mio. EURO (Plan) • Ausland: xx Mio. EURO (Plan)
Vertriebswege
Lines of Business
Risikoträger
Steuerung
Bericht
Steuerung
Bericht
Steuerung
Bericht
Nein
Nein
Nein
Nein
Ja
Ja
Kategorie Balanced Scorecard Finanzen
Markt/Kunde
Prozesse
Mitarbeiter
x
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 7.13: Steckbrief
Für jede Kennzahl muss zuerst eine eindeutige Verantwortlichkeit zugeordnet werden, die möglichst nur eine Person innehat. Des Weiteren muss verbindlich der Datenlieferant bestimmt werden, der zu einem definierten Stichtag die Datenzulieferung sicherstellt. Im zweiten Abschnitt des Steckbriefes wird eine einheitliche Definition der Kennzahl gegeben, da zum Teil in Unternehmen für eine Kennzahl, die nicht durch Verordnungen oder Gesetzestexte definiert ist, verschiedene Definitionen verwendet werden können. Optional kann eine Begründung im Steckbrief zur Relevanz der Kennzahl für die Unternehmensteuerung erfolgen. Ebenfalls wird die Kennzahl hinsichtlich der Beeinflussbarkeit durch das Management, der Verständlichkeit der Kennzahl, des Aufwandes zur Ermittlung und der zyklischen Verfügbarkeit der Kennzahl bewertet. Im dritten Abschnitt werden die konkreten Zielvorgaben auf Gesamtunternehmensebene festgelegt, die regelmäßig angepasst werden müssen. In dem Beispiel Dividende werden die Zielgrößen für die Berichtsdimensionen Inland und Ausland sowie die Risikoträger beschrieben. Für die Kennzahl Annual Premium Equivalent (APE) wäre eine Zielgrößenzuordnung für die Berichtsdimension Vertriebswege, Lines of Business und Risikoträger zielführender. Diese Information sowie die Zuordnung der Kennzahl in der Perspektive der Balanced Scorecard werden in dem Steckbrief ebenfalls angegeben. In einem letzten Schritt erfolgt für die Kernsteuerungsgrößen durch das Management eine Zuordnung von konkreten Zielen, die dann auf die operativen Steuerungsgrößen heruntergebrochen werden müssen. Dieser Prozess zur Ableitung von Zielwerten für die operativen Steuerungsgrößen kann mit Hilfe eines Kreislauf-
7 Strategische Steuerung – von der Balanced Scorecard zu Strategy Maps
135
modelles unterstützt werden. Auf Basis der verdichteten Strategy Maps wurden bereits die Abhängigkeiten und Sensitivtäten zwischen den verschiedenen Ebenen, strategischen Zielen und Kennzahlen in der Balanced Scorecard sichtbar gemacht. Um nun, wie in der folgenden Abbildung dargestellt, die Kernsteuerungsgröße Dividende um einen absoluten Wert zu steigern, müssen hierzu strategische Aktionen für alle Ziele festgelegt werden (vgl. Abb. 7.14).
1
Zielvorgabe: z.B. Steigerung der Dividende um 20 Mio. € Strategische Kernsteuerungsgrössen
2 Zielwerte für die taktische Steuerung
Top down 5
z.B. durch 1. 2.
Reporting
3. • Reporting, ob sich operative "Stellhebel" positiv entwickeln • Forecast der Zielwerte aus taktischer Steuerung und Frühindikatoren
4. 5.
Reduktion der Frühstornoquote um zwei Prozentpunkt Erhöhung der Beitragssumme Neugeschäft um 5% Erhöhung New Business Margin um 3‰Punkte Reduktion der Gesamtkosten um 5% ….
Bottom Up 3
4
Operative Maßnahmen definieren
z.B. durch
Operative"Stellhebel" auf der unteren Ebene (Prozess/Inputfaktoren)
z.B. durch 4a) Reduktion Sachkosten 4b) Reduktion der Personalkosten 4c) Reduktion der Vertriebskosten 4d) Outsourcing/Kooperationsmodelle 4e) ….
4aa) Optimierung Forderungsmanagement um 10% 4ab) Erhöhung Effizienz/Effektivität/KVP Prozesse p.a. um 10% 4ac) Reduktion Portokosten um 8% 4ad) Optimierung CC-Struktur und CC-Anwendung
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 7.14: Steuerungskreislauf
Dabei werden der Kernsteuerungsgröße Dividende aus dem Beispiel von Abbildung 7.14 taktische Zielvorgaben und operative Kennzahlen auf Basis der Abhängigkeiten der Balanced Scorecard zugeordnet. Im Bereich der taktischen Steuerung kann diese durch eine Reduktion der Gesamtkosten erfolgen und feiner aufgegliedert eine Senkung der Sachkosten implizieren. Damit werden also in einem letzten Schritt konkrete operative Maßnahmen, Projekte oder Initiativen den strategischen Aktionen zugeordnet. Dabei ist es in diesem Zusammenhang wichtig, die Nutzen der einzelnen Maßnahmen in einem Controllingprozess nachzuhalten und, falls notwendig, neue Maßnahmen aufzuplanen und hinsichtlich ihres Gewinnpotenzials sowie Umsetzbarkeit einzuschätzen und zu priorisieren.
136
Dr. Stephan Paprottka/Torsten Kresse
5
Ausblick – Strategy Landscaping als Lösung für die zukünftige Unternehmenssteuerung
In dem bisher dargestellten Prozess wurde eine Balanced Scorecard auf Unternehmensebene beschrieben und die Anforderung postuliert, diese ebenfalls auf den Ebenen der Ressorts, Initiativen und Projekte zu erstellen. Da diese Scorecards nicht losgelöst nebeneinander stehen dürfen, empfiehlt es sich, diese im Rahmen eines Strategy Landscaping zusammenzufassen und zu verbinden, ohne dabei die Komplexität zu erhöhen. Ausgehend von der Scorecard auf der niedrigsten Aggregationsebene werden dabei die direkten Ursache-Wirkungs-beziehungen und die Gewichtungen der einzelnen Beziehungen der strategischen Ziele auf die hierarchisch horizontale und vertikal liegende Scorecard modelliert. Somit können die Auswirkungen und Implikationen von Top Down-Management-Entscheidungen für die Organisation transparenter gestaltet und frühzeitig Maßnahmen zur Steuerung ergriffen werden. Gleichzeitig können auch Auswirkungen von Bottom Up-Entscheidungen und damit die operativen Stellhebel modelliert werden. Zur Operationalisierung müssen in diesem Modell die Kernsteuerungsgrößen der Strategy Maps verwendet und deren Abhängigkeit von- und zueinander gewichtet werden. Damit können analog der Unternehmensplanung verschiedene Varianten von Unternehmensentscheidungen simuliert und unterstützt werden. Im Gegensatz zu klassischen Managementunterstützungssystemen, die als Kennzahlencockpit die finanziellen Spitzenkennzahlen beinhalten, werden durch die Methode des Strategy Landscaping alle vier Dimensionen einer Balanced Scorecard berücksichtigt. Zudem werden dabei keine deterministischen Modelle oder die Stochastik angewandt, sodass die Ergebnisse nachvollziehbarer für das Management und die Mitarbeiter sind und jederzeit zur Verfügung stehen. Ein weiterer Vorteil liegt darin, dass die aktuelle Unternehmensstrategie und das zugrundeliegende Geschäftsmodell jederzeit in einen solchem skizzierten Modell abbildbar sind.
7 Strategische Steuerung – von der Balanced Scorecard zu Strategy Maps
137
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Kapitel 8 Wertorientierte Produkt- und Vertriebswegesteuerung Adrian Wepner/Arne Soldat
1
Herausforderungen für Sachversicherungen im Produkt- und Kundenmanagement
Versicherer befinden sich derzeit in einem turbulenten Marktumfeld; erhöhte Produkt- und Preistransparenz, kürzere Produktlebenszyklen, verstärkte Konzentration von Wettbewerbern, gestiegene Kundenerwartungen, Veränderungen der demographischen Entwicklung sowie eine verschärfte Gesetzgebung stellen Versicherer vor immer neue Herausforderungen. In diesem Marktumfeld wird der effiziente Einsatz der knappen Ressource „Kapital“ zum kritischen Erfolgsfaktor (vgl. Nguyen 2008, S. 6). Zwar haben viele Versicherer bereits im Rahmen von Solvency II damit begonnen, wertorientierte Steuerungsgrößen in ihrer Unternehmenssteuerung zu berücksichtigen (vgl. Nguyen/Späth/Ahr/Hiendslmeier 2005, S. 1745), in den meisten Unternehmen sind Prozesse und intern definierte Key Performance Indicators (KPI) jedoch noch immer auf herkömmliche Steuerungsgrößen mit HGB-Fokus (zum Beispiel Return on Investment - RoI, Return on Equity - RoE) ausgerichtet. Um Kapital möglichst effizient beziehungsweise möglichst wertsteigernd einzusetzen, muss ein zukunftsfähiges Steuerungssystem eine Komponente berücksichtigen, die in der Vergangenheit oft vernachlässigt wurde: Risiko (vgl. Ernst& Young 2009, S. 5). Besonders die in 2008 begonnene Wirtschafts- und Finanzkrise führt die Folgen fehlender risikorelevanter Steuerungsgrößen deutlich vor Augen. Bei der Steuerung mit Hilfe klassischer Kennzahlen ist nicht berücksichtigt, welchem Risiko das eingesetzte Kapital ausgesetzt wurde. Die Berücksichtigung dieser wertbeeinflussenden Komponente ist die entscheidende Weiterentwicklung bei der wertorientierten Steuerung. Die zentrale Herausforderung ist dabei die Operationalisierung des Konzeptes mit dem Steuerungsinstrumentarium innerhalb eines konsistenten Steuerungsmodelles. Als maßgebliche Stellhebel für die Ausrichtung auf den Versicherungskunden, und damit auch auf die interne Ausrichtung, stehen Versicherungsunternehmen die Dimensionen „Vertriebswege“ und „Versicherungsprodukte“ zur Verfügung (vgl. Abb. 8.1). Weil Kunden, Vertriebswege und Produkte einen Verbund bilden, sollM.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing, DOI 10.1007/978-3-642-10276-9_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
140
Adrian Wepner/Arne Soldat
te eine effiziente Unternehmenssteuerung alle Dimensionen berücksichtigen; auch die wertorientierte Steuerung muss in diesem Kontext betrachtet werden (vgl. Wagner/Deppe 2004, S. 572).
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 8.1: Steuerungsdimensionen Vertriebsweg, Produkte, Kunde
2
Einflüsse der wertorientierten Steuerung auf die Produkt- und Vertriebswegesteuerung
2.1
Konzeptionelle Grundlagen
2.1.1 Wertorientierte Steuerung von Unternehmen Wenn es um die Beibehaltung beziehungsweise Verbesserung zukünftiger Wettbewerbsfähigkeit geht, sind Investitionen unverzichtbar. Das für Investitionen notwendige Kapital beschaffen Versicherer sich dabei auf Kapitalmärkten, in der Regel in Form von Aktien oder Anleihen. Anleihen. Da Kapital stark nachgefragt, aber nur begrenzt angeboten wird und aufgrund der hohen Informationstransparenz, stehen Unternehmen in einem starken Wettbewerb um Kapital. Die Kapitalgeber berücksichtigen bei ihrer Investitionsentscheidung, neben der nominellen Verzinsung, auch das mit dem Investment verbundene Risiko, zu dessen Einschätzung sie oft auf die Meinungen von Rating-Agenturen vertrauen. Wie hoch die Bedeutung guter Ratings für Versicherer ist, macht folgender Auszug aus dem Jahresabschlussbericht der Talanx AG, Deutschlands drittgrößtem Versicherungskonzern, deutlich: „[We] align our equity resources in a way such that they
8 Wertorienterte Produkt- und Vertriebswegesteuerung
141
at least meet the standards of Standard & Poor’s capital model for an ‘AA‘ rating.“ (Talanx AG 2008, S. 29). Risikoor Risikoorientierte ientierte Steuerung, und damit der Kern einer Wertorientierung, hat hohen Einfluss auf die Vergabe guter Ratings. In welchen Kategorien zum Beispiel bei Standard & Poor’s die wertorientierte Steuerung in die Bewertung eingeht, ist aus der folgenden Abbildung ersichtlich (vgl. Abb. 8.2).
Quelle: Eigene Darstellung, angelehnt an Standard & Poor’s 2009, S.10ff.
Abb. 8.2: Einfluss wertorientierter Führung auf das S&P-Rating
Anders als bei der klassischen Sicht, bei welcher der „Gewinn“ eines Versicherungsunternehmens durch einen positiven Jahresüberschuss definiert wird (vgl. Bergler/Wiegard 2008, S. 59ff.), folgt das Verständnis der wertorientierten Steuerung einem Shareholder Value Ansatz (konsequente (konsequente Ausrichtung der Unternehmensführung auf die Wertgenerierung für die Eigentümer). Hier wird der „Gewinn“ durch die Wertsteigerung des investierten Kapitals definiert. Das bedeutet, dass bei der wertorientierten Steuerung zusätzlich zu den herkömmlichen Ergebnisgrößen (verdiente Beiträge, Schadenaufwendungen, Verwaltungskosten) Verwaltungskosten) das für die Investition notwendige Risikokapital beziehungsweise die mit der Kapitalinanspruchnahme verbundenen Kosten berücksichtigt werden (vgl. Nguyen/ Späth/Ahr/Hiendslmeier 2005, S. 1745ff.). So werden zum Beispiel Investitionsalternativen, Investitionsalternativen, die zu positiven Bilanzkennzahlen führen, jedoch den Wert des investierten Kapitals nicht erhöhen, bei der wertorientierten Steuerung abgelehnt, sofern die Unternehmensstrategie diese Investition nicht explizit erfordert. Die wertorientierte Steuerung Steuerung hilft Unternehmen somit, ähnlich wie die Rechnungslegung nach IFRS, eine „true and fair view“ (Annahme eines realistischen und zeitgerechten Bewertungsverfahrens [vgl. Röhl
142
Adrian Wepner/Arne Soldat
2006, S. 362]) für die Bewertung der Ergebniskomponenten zu entwickeln. Dadurch kann das Risikoprofil der einzelnen Versicherungsprodukte genauer abgebildet und die Unternehmenssteuerung risikogerechter gestaltet werden. Traditionelle Steuerungsinstrumente sind hierzu nur begrenzt in der Lage (vgl. Oletzky 1998, S. 34). 2.1.2 Theorie der Wertorientierung Das theoretische Konzept der Wertorientierung ist weder schwer nachvollziehbar noch neu; es basiert auf den Annahmen des Capital Asset Pricing Models (kurz CAPM). Die Vorgehensweise bei der Ermittlung einer wertorientierten Kenngröße auf Basis des Jahresabschlusses ist wie folgt: 1. Zuerst wird der in der Gewinn- und Verlustrechnung ermittelte Jahresüberschuss um die nicht-zahlungswirksamen Ströme korrigiert. Die dadurch bestimmte Kennzahl ist, anders als der Jahresüberschuss, nicht durch Ansatzund Bewertungswahlrechte verzerrt (vgl. Nguyen 2008, S. 179). 2. Im Anschluss wird die ermittelte Kennzahl mit dem zur Fremd- und Eigenkapitalfinanzierung benötigten durchschnittlichen Kapitalkostensatz (WACC - Weighted Average Cost of Capital) abgezinst, so dass man den Net Present Value (NPV, deutsch: Barwert) erhält; hierdurch finden Risiko- und Kapitalbedarf ihre Berücksichtigung. Grundsätzlich gilt: Ist der NPV größer als Null, hat ein Wertzuwachs stattgefunden; ist der NPV kleiner als Null, eine Wertvernichtung. Wertorientierte Steuerungskennzahlen beziehungsweise -methoden, die Anwendung in der Versicherungspraxis finden, sind der Economic Value Added-Ansatz (EVA) für die Sachversicherung und der Embedded Value-Ansatz (EV) für die Lebensversicherung. Die Anwendung der wertorientierten Steuerung dient zum einen der übergreifenden Performancemessung auf Unternehmensebene, wie etwa der Festlegung einer am Wertzuwachs orientierten Managementvergütung oder der Festlegung von Zielrenditen für zukünftige Perioden (vgl. Vielhaber 2005, S 321). Zum anderen dient sie als Grundlage für Entscheidungen innerhalb des Unternehmens; so hilft wertorientierte Steuerung zum Beispiel beim Performancevergleich von Geschäftsbereichen oder bei strategischen Entscheidungen zum Auf-, Aus- oder Abbau von Geschäftsbereichen. Um die Frage zu beantworten, warum viele Versicherer trotz der hohen Bedeutung heute noch nicht konsequent wertorientiert steuern, muss auf die Komplexität der Implementierung zurückgeführt werden. Ein Versicherungsunternehmen, das wertorientiert steuern will, muss sowohl wertorientiert rechnen, wertorientiert handeln als auch wertorientiert führen (vgl. Wiegard 2008, S. 216ff.). Um eine solche Operationalität zu erzielen, müssen, ausgehend von strategischen Steuerungsgrößen, operative Steuerungsgrößen entwickelt werden. Hierfür setzen Versicherungsunternehmen in der Regel eigene Steuerungsmodelle auf. Dass es keine einheitlichen operationalisierten Steuerungsmodelle für Versicherungsunterneh-
8 Wertorienterte Produkt- und Vertriebswegesteuerung
143
men gibt, hat dabei verschiedene Gründe. Zum einen sind Steuerungsgrößen von der Rechtsform des Unternehmens abhängig, zum anderen müssen auch unternehmensspezifische Komponenten berücksichtigt werden (Unternehmenskultur, Zielgruppe etc.). Ein Steuerungsmodell ist daher in der Regel individuell auf ein Unternehmen abgestimmt (vgl. Farny 2006, S. 219). Unabhängig von der unterschiedlichen inhaltlichen Ausgestaltung ist wertorientierte Steuerung aber aufgrund des hohen Wettbewerbs- und Effizienzdruckes in der Branche für alle Arten von Versicherungsgesellschaften interessant, sowohl für Aktiengesellschaften und öffentlich-rechtliche Versicherer als auch für Versicherungsvereine auf Gegenseitigkeit (vgl. Wagner/Warmuth 2005, S. 1). Auf der Makroebene wird die Risiko-/Renditeposition des Gesamtunternehmens oder sogar des Gesamtkonzerns gesteuert. Auf tieferer Ebene geht es um die wertorientierte Gestaltung einzelner Unternehmensteilbereiche, zum Beispiel Sparten, bis hin zur kleinsten, zu steuernden Aggregationsstufe, wie etwa einzelne Geschäftsprozesse oder Einzelverträge (vgl. Wagner/Deppe 2004, S. 570). Um von der Gesamtkonzernsteuerung zu operativen Steuerungsgrößen zu kommen, werden in der Regel Werttreiberbäume erstellt. Mit Hilfe der Zerlegung der Wertschaffung in einzelne Werttreiber und der Darstellung ihres kausalen Zusammenhanges kann die wertorientierte Steuerung im Endeffekt deutlich machen, mit welchem Anteil geschäftspolitische Entscheidungen, zum Beispiel in der Produkt- und Preispolitik, der Vertriebs- und Geschäftsfeldstruktur oder der Rückversicherungs- und Kapitalanlagestrategie (um nur einige zu nennen) letztlich zu einer Veränderung des ökonomischen Gewinnes und/oder der Kapitalkosten beitragen. Um den Wertbeitrag eines Geschäftsbereiches, Produktes oder Kunden zu ermitteln, ist es vor allem auch notwendig, dessen tatsächliche Kosten der Ergebniserzielung, also beispielsweise Vertriebs- und Verwaltungskosten, zu betrachten. An dieser Stelle kommt in der Praxis der Vertriebswege- und Produktergebnisrechnung eine besondere Stellung zu. Aufgrund der hohen Komplexität von Werttreiberbäumen und der hohen Interdependenzen operativer Steuerungsgrößen ist die Operationalisierung sehr umfangreich. Das nachfolgende Beispiel illustriert die beschriebene Komplexität (vgl. Abb. 8.3).
144
Adrian Wepner/Arne Soldat
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 8.3: Beispielhafte Darstellung eines Werttreiberbaumes
2.2
Elemente der Vertriebswege- und Produktsteuerung
Bei Versicherern gibt es in der Regel Konzepte und Strategien für jede der drei Dimensionen „Kunde, „Produkte“ und „Vertriebswege“; eine exakte Abgrenzung fällt dabei aufgrund hoher Interdependenzen oftmals schwer (vgl. Wagner/Deppe 2004, S. 572). Auch der Grad der Einflussnahme auf diese Dimensionen ist für den Versicherer unterschiedlich: Während Produkte Produkte und Vertriebswege durch Allokation interner Ressourcen direkt beeinflusst werden können, ist für den Versicherer der Kunde nur indirekt zu steuern. Da der Grundgedanke der wertorientierten Steuerung die klassische Ressourcenallokation hinterfragt, fokussiert fokussiert sich dieser Beitrag hauptsächlich auf die beiden direkt beeinflussbaren Steuerungsgrößen Vertriebswege und Produkte.
2.2.1 Elemente der Vertriebswegesteuerung Die Vertriebswegesteuerung gibt den strategischen Rahmen für die operative Vertriebstätigkeit vor (vgl. Altmann/Hiendlmeier 2008, S. 287). Hierfür nutzen Versicherer ein System von Kennzahlen und Rechenlogiken, Analysemethoden, Prozessen, IT-Instrumenten und Managementvorgaben. Auf Holdingebene verwenden Versicherer heutzutage hauptsächlich volumenoder kostenorientierte Steuerungsgrößen; volumenorientierte Steuerungsgrößen sind beispielsweise Bewertungssumme oder Provision, eine kostenorientierte Steuerungsgröße ist beispielsweise die Abschlusskostenquote.
8 Wertorienterte Produkt- und Vertriebswegesteuerung
145
Bei wertorientierter Vertriebswegesteuerung muss der Versicherer den Vertriebswegemix identifizieren, mit dem der meiste Wertzuwachs generiert werden kann. Eine wertorientierte Vertriebswegesteuerung (vgl. Mercer Oliver Wyman, S. 5) • ermittelt das Leistungs- und Potenzialprofil einzelner Vertriebseinheiten (auch auf unterschiedlichen Hierarchie-Ebenen), • hilft bei der charakteristischen Abgrenzung und Gruppierung homogener Vermittlertypen, • unterstützt bei der optimalen Ausrichtung des Vertriebsmanagements (Führungs-, Steuerungs- und Vergütungssysteme, Vertriebsunterstützung und aktivierung, Vertriebsorganisation und -struktur) auf die definierten Vermittlertypen, • beinhaltet differenzierte Programme zur Vertriebsaktivierung und zur Prämiensteigerung und • steigert dadurch den zielgerichteten Ressourceneinsatz, die Effektivität im Vertrieb und letztendlich den Wert des Unternehmens. Gängige Controlling-Instrumente sind in ihrer Aussagekraft sehr unterschiedlich; manche messen zwar wichtige Einzelparameter, geben jedoch kein umfassendes Bild auf der Ebene einzelner Vertriebseinheiten. Für eine erfolgreiche wertorientierte Vertriebswegesteuerung müssen jedoch die Leistungen und Kosten verursachungsgerecht einzelnen Vertriebseinheiten zugeordnet werden. Um diese Kostenund Leistungszuordnung vorzunehmen, wird auf state-of-the-art-Konzepte wie die Prozesskostenrechnung, zurückgegriffen, die eine feinere und ursachengerechtere Verteilung der Kosten erlaubt; mit ihr lassen sich Kosten bis auf Einzelvertragsoder Tarifebene ermitteln und entsprechend zuordnen. 2.2.2 Elemente der Produktsteuerung Aufgrund der hohen Bedeutung von Produkten ist die Produktsteuerung ein wesentlicher Teil der Unternehmenssteuerung. Als Kernelement der Produktsteuerung hat sich bei Versicherern hauptsächlich die Deckungsbeitragsrechnung etabliert; dabei setzte sich in der Sachversicherung das in der folgenden Abbildung dargestellte Rechenschema durch. In einer Studie der Universität Ulm gaben 75% der Teilnehmer an, für die Produktergebnisrechnung ein generisches Rechenschema zu nutzen, das dem in dieser Abbildung ähnlich ist (vgl. Nguyen/Späth/Ahr/Hiendlmeier 2005, S. 1746; vgl. Abb. 8.4). Ausgehend von den produktimmanenten Umsätzen und Kosten (Deckungsbeitrag I) und den direkt zurechenbaren Vertriebskosten (Deckungsbeitrag II) werden Produkten in den nächsten Schritten indirekt zurechenbare Kosten zugeordnet; diese können einerseits auf Niederlassungsebene (Deckungsbeitrag III) oder in der Zentrale anfallen (Deckungsbeitrag IV). Kritisch für die richtige Entscheidungsfindung ist insbesondere die korrekte, verursachungsgerechte Zuordnung der indirekten Kosten. Manche Versicherungsunternehmen versuchen jedoch, die Berechnung zu vereinfachen und den Ergebnis- beziehungsweise Wertbeitrag praktikabler zu ermitteln. Die Zuteilung von Betriebskosten erfolgt bei ihnen sehr ver-
146
Adrian Wepner/Arne Soldat
einfachend (zum Beispiel nach einem intern festgelegten Schlüsselungsverfahren). Vor allem ein Großteil der nicht-wertorientiert geführten Unternehmen führt eine solche vereinfachende, nicht verursachungsgerechte innerbetriebliche Leistungsverrechnung durch (vgl. Nguyen/Späth/Ahr/Hiendlmeier 2005, S. 1746).
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 8.4: Wertorientierte Deckungsbeitragsrechnung
Bei der wertorientierten Produktergebnisrechnung wird die zuvor beschriebene beschriebene traditionelle Form der Produktergebnisrechnung um die Elemente der wertorientierten Jahresergebnis-Adjustments und der Kapitalkosten ergänzt. Durch diese Zuordnung ist die Gegenüberstellung der Rendite eines Produktes mit dem eingesetzten Kapital möglich (vgl. Röhl 2006, S. 363). Eine Steuerung nach Verträgen und Tarifen kann bei den meisten Versicherungsgesellschaften jedoch nur in vereinzelten Fällen mit Hilfe der Wertbeitragsrechnung dargestellt werden. Dieses liegt insbesondere daran, dass der Kapitalbedarf Kapitalbedarf und damit die Kapitalkosten nur mit erheblichem Aufwand bis auf dieser Ebene zu ermitteln sind (vgl. Nguyen/ Späth/Ahr/Hiendlmeier S. 1748). Auf diesem Gebiet ist im Kontext von Solvency II eine Detaillierung und Verfeinerung der internen Modelle zu erwarten.
8 Wertorienterte Produkt- und Vertriebswegesteuerung
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Die Umstellung auf eine wertorientierte Unternehmenssteuerung hat großen Einfluss auf unterschiedliche Parameter der Produktsteuerung (vgl. Wagner/Warmuth 2005, S. 6): • • • • • •
das Produktpricing, die Kundenwertanalyse (Customer Life Time Value), die Annahmepolitik (Bestandspolitik) und die Vermittlervergütung, die Schadenbearbeitung beziehungsweise das Schadenmanagement, das Kapitalanlagen- und das Asset/Liability-Management und die Rückversicherungsnahme.
Die wertorientierte Steuerung steht somit in besonderer Wechselwirkung mit der Bepreisung von Produkten und hat daher besonderen Einfluss auf diese. Wie keine andere Steuerungsgröße hat die Bepreisung wertschaffenden oder wertvernichtenden Charakter (vgl. Wagner/Deppe 2004, S. 570), zudem tangiert sie jeden anderen der oben aufgeführten Parameter (vgl. Wagner/Warmuth 2005, S. 6). Die Bestimmung wertorientierter Preise im gesamten Unternehmen, in den einzelnen Versicherungszweigen, in den Versicherungsteilbeständen bis hin zu den Einzelverträgen ist deshalb eine der zentralen Aufgaben bei der Ausrichtung des Unternehmens auf eine wertorientierte Steuerung. Zu Beginn müssen die Einflussgrößen auf den wertorientierten Versicherungspreis identifiziert werden (vgl. Wagner/Warmuth 2005, S. 14). Der wertorientierte Versicherungspreis muss alle Kosten im Versicherungsunternehmen decken können, die bei der Herstellung und Vermarktung der Produkte sowie für sämtliche Abwicklungsarbeiten anfallen; zudem sollte er eine attraktive Verzinsung des eingesetzten Kapitals berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund sind verschiedene Preisbestandteile zu kalkulieren, die jeweils bestimmte Kostenkomponenten decken müssen; diese Komponenten sind im Einzelnen (vgl. Wagner/Warmuth 2005, S. 15) • der Preis für den Risikoschutz, • der Preis für die Abwicklung des Risikoschutzes, • der Preis für die übliche Vorausfinanzierung der Prämie seitens der Versicherungsnehmer und die daraus resultierenden Anlagemöglichkeiten des Versicherungsunternehmens (Kapitalanlagegeschäft) sowie • der Preis für das Eigenkapital, das das Risikogeschäft aus Finanzierungs- und Sicherungsgründen unterlegt (Eigenfinanzierungsgeschäft, bei der Aktiengesellschaft im Sinne eines Beteiligungsfinanzierungsgeschäfts).
2.3
Produktergebnisrechnung im Steuerungsmodell eines Sachversicherers
Steuerungssysteme dienen der modellhaften Abbildung der Konsequenzen von Strategieänderungen oder Änderungen von Umweltzuständen, beispielsweise durch die Projektion der Auswirkungen geplanter strategischer Entscheidungen (vgl. Gleich/Michel 2007, S. 16). Um im Sinne der wertorientierten Steuerung
148
Adrian Wepner/Arne Soldat
hohe Aussagekraft zu besitzen, muss ein Steuerungssystem die drei relevanten Größen eines Investments, Risiko, Kapitaleinsatz und Rendite, optimieren. Eine integrierte Steuerung dieser drei Größen bedeutet dabei • die Bestimmung des „risikoorientierten“ (ökonomischen) Eigenkapitals auf Gesamtunternehmensebene unter Zugrundelegung spezifischer Risikomaße, zum Beispiel einer vorgegebenen Ruinwahrscheinlichkeit gemäß Value-atRisk (vgl. Schmeiser 2006, S. 10; siehe hierzu auch Abschnitt 3), • die risikogerechte „Verteilung“ des Eigenkapitals auf die einzelnen (risikotragenden) Geschäftsbereiche, • die Vorgabe einer mindestens zu erzielenden Rendite auf das eingesetzte (Risiko-)Kapital sowohl auf Gesamtunternehmensebene als auch auf Ebene der jeweiligen Geschäftsbereiche beziehungsweise der jeweiligen Vertriebswege, Versicherungszweige, Produkt- und Tarifgruppen etc. sowie • den Vergleich der mit der Eigenkapitalnutzung der Geschäftsbereiche verbundenen Kapitalkosten mit den dazugehörigen Ergebnisbeiträgen beziehungsweise Renditen der jeweiligen Geschäftsbereiche. Wenn das Konzept der wertorientierten Steuerung in die Praxis eines Versicherers überführt wird, ergeben sich für das Unternehmen einige Herausforderungen. Im Folgenden wird am Beispiel eines Sachversicherers dargestellt, welche Methodik bei der Einführung der wertorientierten Steuerung angewendet werden kann und wie Produkt- und die Vertriebswegesteuerung bei der Operationalisierung Berücksichtigung finden. Der beschriebene Sachversicherer ist in eine Konzernstruktur eingebunden. Die beiden wesentlichen Schritte der Strategieumsetzung von den Vorgaben des Mutterkonzerns bis zur Überführung in die Gesellschaft sind zum einen das Herunterbrechen der strategischen Ziele in Teilziele und zum anderen die nachfolgende Differenzierung dieser Teilziele in operative Ziele, die dann mit konkreten Maßnahmen unterlegt werden. Die vom Mutterkonzern definierten Konzernsteuerungsgrößen sind dabei so gewählt, dass sie sich für die unterschiedlichen Konzern-Gesellschaften operationalisieren lassen und gleichzeitig ein übergreifendes, konzernweites Controlling erlauben. Dem Konzernsteuerungsmodell und der darauf aufbauenden Gesellschaftssteuerung liegen folgende Grundprinzipien zugrunde: • Der Konzernvorstand gibt als Rahmen für die Planung und Ausrichtung der Geschäftsaktivitäten strategische Indikationen vor. Der Fokus liegt auf den Kernsteuerungsgrößen des Konzerns und auf konzernweiten strategischen Initiativen. Damit definieren die Zielindikationen der Holding den Anspruch des Konzerns an ökonomische Wertsteigerung, Rentabilität, Sicherheitsniveau und Wachstum. • Konzern und Sachgesellschaft nutzen zur Steuerung der Geschäfte eine konsistente Performancemessung. Sie basiert auf einem klassischen Balanced Scorecard-Konzept und umfasst relevante operative Steuerungsgrößen aus vier unterschiedlichen Perspektiven: Finanzen, Markt und Kunden, Prozesse
8 Wertorienterte Produkt- und Vertriebswegesteuerung
149
und Mitarbeiter. Die konzernweite Performancemessung hat das Ziel, die Umsetzung der Konzernstrategie in der Organisation der Tochterunternehmen zu operationalisieren und übergreifend messbar zu machen. • Auf Basis der Konzern-Performancemessung wird die Leistung in regelmäßigen Gesprächen zwischen Konzern- und Ressortvorständen diskutiert und beurteilt. Zur Umsetzung einer wertorientierten Steuerung in der beschriebenen Sachgesellschaft musste somit ein Modell konzeptioniert werden, das zum einen aus den strategischen Zielen der Gesellschaft abgeleitet wurde und zum anderen die Verknüpfung zum Steuerungsmodell des Mutterkonzerns herstellte. Ausgehend von der vorgegebenen Performancemessung mit strategischen Kernsteuerungsgrößen und Zielwerten fand ein Herunterbrechen auf operative Kennzahlen und „generische“ Werttreiber am Ort der Entscheidung (zum Beispiel innerhalb der Produktund Tarifierungspolitik) statt. Die operative Ausgestaltung strategischer Vorgaben innerhalb einer Gesellschaft ist generell mit großem Aufwand verbunden. Die Implementierung einer wertorientierten Steuerung ist nochmals komplexer, was insbesondere durch die zusätzliche Notwendigkeit einer richtigen, verursachungsgerechten Zuordnung von Risikokosten auf Kunden, Produkte und Vertriebswege zu erklären ist. Generell gilt, dass aufgrund der hohen Komplexität bei der Erstellung und Implementierung eines konzernweiten Steuerungssystems, insbesondere eines wertorientierten, eventuell mangelnde Akzeptanz durch Mitarbeiter die Folge sein kann (vgl. Weber 2009, S. 301). Nichtsdestoweniger ist die konsequente und übergreifende Operationalisierung aufgrund der hohen Bedeutung eines konzernweiten Ressourcen- und Risikomanagements gerechtfertigt. Neben der Entwicklung operativer Steuerungsgrößen musste das Steuerungsmodell der beschriebenen Sachversicherung auch der vorhandenen Aufbauorganisation Rechnung tragen. Da eine spezifische Aufbaustruktur von Standorten und Niederlassung je Wertschöpfungsstufe (Produktentwicklung, Vertrieb, Betrieb, Schaden) bestand, mussten innerhalb des Steuerungsmodelles die definierten Dimensionen (Kunde, Vertriebsweg, Produkte) auch je Wertschöpfungsstufe abgebildet werden können. Der Weg von der initialen Modellerstellung der wertorientierten Steuerung hin zur Operationalisierung und damit zur Kunden-, Vertriebswege- und Produktergebnissicht kann wie folgt dargestellt werden (vgl. Abb. 8.5):
150
Adrian Wepner/Arne Soldat
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 8.5: Vorgehen bei der initialen Modellentwicklung
Zur Definition der operativen Messgrößen näherte sich die beschriebene Sachgesellschaft durch die Bildung von Ursache-Wirkungsketten, die in Werttreiberbäumen dargestellt werden. Vor Aufstellung der Werttreiberbäume mussten zunächst Messgrößen/Kennzahlen unter Berücksichtigung folgender Kriterien beziehungsweise Fragestellungen beschrieben und ausgewählt werden: 1. Wie wird die Kennzahl aktuell gemessen? 2. Wie soll die Kennzahl zukünftig gemessen werden und welche Maßnahmen sind für die Veränderung notwendig? Hierauf aufbauend mussten folgende Punkte näher betrachtet werden: • Formalisierung - Entwicklung einer mathematischen Formel zur Berechnung der Kennzahl, wenn keine standardisierte Kennzahl vorliegt, - Beschreibung der Messgrößen, - Zuordnung der Ergebnisverantwortung durch den Vorstand. •
Verfügbarkeit Lieferung: Wer ist für die Erhebung der Kennzahl verantwortlich? Wie viele Arbeitstage nach Ultimo steht die Kennzahl zur Verfügung? Wer ist für die Plan- und Forecastdaten verantwortlich und liefert diese? - Datenquelle: Welche Datenquelle wird für ein zukünftiges Managementreporting verwendet? - IT System: Aus welchem IT System wird die Kennzahl generiert? - Wird die Kennzahl im heutigen Reporting bereits verwendet und wer ist Empfänger dieser Reports/Kennzahlen? - Berichtsturnus (täglich, monatlich, quartalweise, halbjährlich, jährlich) -
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•
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Sensitivität Short Term/ Long Term Kennzahl: kurzfristige kurzfristige (< 1 Jahr) oder langfristige Beeinflussbarkeit (> 1 Jahr). - Ist die Kennzahl durch die Zielverantwortlichen beeinflussbar? - Ursache-Wirkungsketten: Zur Identifikation geeigneter operativer Steuerungsgrößen werden Werttreiber und Zusammenhänge analysiert. - Korrelation zwischen den Kennzahlen.
-
Zur Vereinfachung des Rechenaufwandes wurde für das gewählte Steuerungsmodell eine eindeutige Beziehung zwischen Produkten und Kundensegment unterstellt; diese Annahme wurde über die Anzahl der Verträge und den Bestandsbeitrag plausibilisiert. Hierdurch ließen sich zum einen Kundensegmente eindeutig in die Matrixstruktur von Produkten und Vertriebswegen einordnen (vgl. Abb. 8.6), zum anderen konnte für die Produkte eine versicherungstechnische Ergebnissicht erstellt werden, die sich bis in die Überschussermittlung nach HGB und IFRS überleitet.
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 8.6: Vertriebswege- und Produktsicht im Steuerungsmodell
Zur Steuerung der verschiedenen Ebenen wurden neben der Produktrechnung weitere spezifische wertorientierte Steuerungsgrößen verwendet. Die gewählten Steuerungsgrößen sind die auf der jeweiligen Gesellschaftsebene beeinflussbaren Größen. In Abhängigkeit von der betrachteten Steuerungsgröße sind unterschiedlich differenzierte Aussagen Aussagen zum Ergebnisbeitrag möglich. So kann zum Beispiel aus der gesamtgesellschaftlichen Steuerungsgröße nicht auf die Performance einzelner Produkte oder Vertriebswege geschlossen werden. Entsprechend der Art der Kennzahl (strategisch/operativ) wurde auch die die Ergebnisverantwortlichkeit den unterschiedlichen Managementstufen zugeordnet. In der folgenden Abbildung
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Adrian Wepner/Arne Soldat
sind die differenzierte Aussagekraft der genutzten Kennzahlen sowie die jeweils zugeordnete Verantwortlichkeit dargestellt (vgl. Abb. 8.7).
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 8.7: Differenzierungsmöglichkeit Reportingsichten
Zur Operationalisierung der wertorientierten Steuerung wurden bisher eine Vielzahl von Projekten und Aufgaben erfolgreich umgesetzt. Ein Beispiel hierfür ist die Erarbeitung eines Controllingkalenders, in der die strategische Planung des Mutterkonzerns und die operative Planung der Gesellschaft zusammengeführt werden. Ein weiteres Beispiel ist die Erweiterung des bestehenden Reportings der Produkt- und Spartensichten um die aus der der Performancemessung abgeleiteten Kennzahlen. Darüber hinaus ist die Umstellung spezifischer Vertriebswege auf eine wertorientierte Vergütungsbasis nahezu vollzogen. Allerdings ist die Umstellung der zur wertorientierten Steuerung notwendigen Steuerungsinstrumentarien noch nicht vollständig abgeschlossen. Noch ausstehende Aufgaben sind zum Beispiel:
• der weitere Ausbau der Kostensichten als Basis für die Ermittlung des Deckungsbeitrages III, • die Integration weiterer Kostenträger oder • die weitere Anpassung der Berichtsformate.
8 Wertorienterte Produkt- und Vertriebswegesteuerung
3
153
Voraussetzungen, Rahmenbedingungen und Grenzen einer Implementierung
3.1 Voraussetzungen Wie zuvor beschrieben, hat eine konsequente wertorientierte Ausrichtung Auswirkungen auf das gesamte Unternehmen. Standard & Poor’s bewertet zum Beispiel, inwieweit Unternehmen eine in der Unternehmenskultur begründete Risikokultur besitzen. Aus diesem Grunde müssen einige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Umsetzung gegeben sein: • Einbindung des Top-Managements Aufgrund der hohen strategischen Bedeutung muss das Top-Management die Entscheidung zur wertorientierten Unternehmenssteuerung unterstützen und in den Transformationsprozess eingebunden werden. Da das Konzept der wertorientierten Steuerung Ausgangspunkt für wertorientierte Planung und Kontrolle ist, wird in der Regel das Controlling stark in die Umsetzung eingebunden (vgl. Wagner/Deppe 2004, S. 570). Von einer vollumfänglichen Verlagerung der Umsetzungsverantwortlichkeiten vom Top-Management in andere Unternehmenseinheiten, zum Beispiel das Controlling, ist jedoch abzuraten. Dieses würde dem notwendigen umfassenden Änderungsprozess nicht gerecht werden. • Konsequente Anwendung wertorientierter Steuerung Unternehmen, die die wertorientierte Steuerung ausschließlich für die Steuerung auf Gesellschaftsebene nutzen und nicht operationalisieren, erreichen keine zufriedenstellende Aussagekraft (vgl. Nguyen/Späth/Ahr/Hiendlmeier 2005, S. 1747). Aus diesem Grunde sollte Wertorientierung konsequent auch auf Ebene der operativen Steuerung Anwendung finden; das bedeutet auch die Anpassung der individuellen Zielsetzungen des Managements und der Mitarbeiter. Im Hinblick auf die adaptierten Ziele eines Versicherungsunternehmens bedeutet dieses eine Bindung des Managements an die im Voraus vereinbarten differenzierten Ziele eines effizienten Eigenkapitaleinsatzes (vgl. Koch 2006, S. 134). • Ausreichende Vorarbeit vor der Implementierung Die Implementierung wertorientierter Steuerung ist nur dann erfolgsversprechend, wenn im Vorfelde notwendige Vorarbeiten geleistet wurden. Zum Beispiel müssen sowohl die generelle Risikofreudigkeit bestimmt als auch die gewünschte Nicht-Ruinwahrscheinlichkeit und die Höhe des Eigen- beziehungsweise Sicherheitskapitals, in der Versicherung das „Risikobudget“, definiert werden. Diese Entscheidungen bilden die Rahmenparameter der anschließenden Implementierung und müssen daher mit der notwendigen Sorgfalt getroffen werden.
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3.2
Rahmenbedingungen
Neben den erwähnten Voraussetzungen gibt es weitere Rahmenbedingungen, die Einfluss auf den Erfolg der Implementierung wertorientierter Steuerung haben: • Reifegrad der Ablauforganisation im Unternehmen Entscheidend für den Erfolg wertorientierter Steuerung ist der Reifegrad der Prozesse eines Unternehmens. Wie oben beschrieben, sind mit einer wertorientierten Vertriebswege- und Produktsteuerung prozessuale Änderungen verbunden, die nur mit schlanken und bis auf Tätigkeitsebene definierten und dokumentierten Prozessen erreicht werden können. • Einheitliche Datenbasis Für eine erfolgreiche wertorientierte Steuerung ist eine einheitliche Datenbasis mit den zur Steuerung notwendigen Daten erforderlich. Um zum Beispiel eine Produkt-Deckungsbeitragsrechnung oder eine Kundenwertanalyse durchzuführen, müssen sehr spezifische und detaillierte Informationen vorliegen (zum Beispiel Prozesskosten). Zur Sicherstellung der Korrektheit der genutzten Daten, welche die Grundlage wertorientierter Entscheidungen bilden, sollten alle Systeme eines Unternehmens auf die gleiche Datenbasis zugreifen und Informationen an diese liefern. • Kommunikation während der Implementierung Wenn eine Umstellung der Unternehmenssteuerung erfolgt, bedeutet dieses Konsequenzen und Veränderungen für alle Teile des Unternehmens (von der Produktentwicklung bis hin zur wertorientierten Vergütung des Vertriebes). Da Veränderungen Unsicherheit bedeuten, sind hiermit in der Regel auch Ängste bei Stakeholdern verbunden. Um diese Ängste zu nehmen, ist es wichtig, Veränderungen transparent zu machen und offen zu kommunizieren. Nur wenn die von dem Veränderungsprozess betroffenen Stakeholder das Gefühl haben, umfänglich und unverzüglich informiert zu werden, kann mit ihrer Unterstützung gerechnet werden. • Change Management Bei der Implementierung wertorientierter Steuerungsmodelle kommt es darauf an, durch geeignete Maßnahmen den erforderlichen Wandel im Denkmuster des Managements und der Mitarbeiter zu initiieren und zu begleiten. Man kann daher die Einführung eines neuen Managementkonzeptes und Steuerungsinstrumentes auch als „Kulturveränderungs“-Projekt begreifen, zu dessen erfolgreicher Implementierung es einer umfassenden Information und Schulung des Managements und der Mitarbeiter bedarf. Obwohl der Aufwand einer Implementierung wertorientierter Unternehmenssteuerung bei Versicherern keineswegs gering ist (weder in fachlicher noch in kommunikativer Hinsicht), scheint sich dieser Aufwand jedoch langfristig auszuzahlen (vgl. Nguyen/Späth/Ahr/ Hiendlmeier S. 1747).
8 Wertorienterte Produkt- und Vertriebswegesteuerung
3.3
155
Grenzen
Um konsequent wertorientiert steuern zu können, müssen einem Unternehmen spezifische Informationen auf detaillierter Ebene zur Verfügung stehen. Eine verursachungsgerechte Zuteilung indirekter Kosten auf das Steuerungsinstrument „Produkt“ verlangt zum Beispiel nach Transparenz von Prozesskosten und deren Kapitalbedarf für einzelne Produkte beziehungsweise auf tiefster Ebene für Tarife und Verträge. Eine solche Steuerung nach Tarifen und Verträgen ist heute nur in vereinzelten Fällen mit Hilfe der Wertbeitragsrechnung möglich. Das liegt insbesondere daran, dass der Kapitalbedarf und darüber hinaus die risikoadjustierten Kapitalkosten nur mit erheblichem Aufwand bis auf diese Ebene zu ermitteln sind (vgl. Nguyen/Späth/Ahr/Hiendlmeier 2005, S. 1746). Zur Berechnung des eingesetzten Risikokapitals und dessen Allokation innerhalb des Unternehmens verwenden die Versicherungsunternehmen oftmals interne Risikomodelle, die (ähnlich wie bei Unternehmen anderer Industrien) zum größten Teil auf dem Value at Risk-Ansatz basieren. Das Risikomaß Value at Risk (VaR) wurde von J.P. Morgan entwickelt und gibt an, welchen Wert der Verlust einer bestimmten Risikoposition mit gegebener Wahrscheinlichkeit und innerhalb eines gegebenen Zeithorizonts nicht überschreitet. Diese Modelle setzen zwar auf höherer Aggregationsebene an, sind aber dennoch bis in die Ergebnisrechnung auf Produktebene verankert (vgl. Nguyen/Späth/ Ahr/Hiendlmeier 2005, S. 1746). Zudem helfen sie dabei, ein wichtiges Ziel der wertorientierten Steuerung zu erreichen: Durch Begrenzung des eigenen Risikoniveaus anhand des Value at Risk können Versicherungsunternehmen sicherstellen, dass ihre Überlebenswahrscheinlichkeit dem angestrebten Zielrating einer Ratingagentur entspricht.
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Zusammenfassung und Ausblick
Der wertorientierten Steuerung kommt durch die Entscheider der Versicherungsbranche mittlerweile besondere Aufmerksamkeit zu. Dabei ist das Thema unabhängig von der Rechtsform für alle Gesellschaften interessant. Allerdings unterscheiden sich Unternehmen stark bei der bisherigen Auseinandersetzung mit wertorientierter Steuerung: Zum einen gibt es Unterschiede beim Implementierungsgrad, zum anderen bei der Erfahrung mit dem neuen Steuerungskonzept. Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass wertorientierte Steuerung kein betriebswirtschaftliches Wundermittel ist; es generiert aufgrund seiner Komplexität in der fachlichen und technischen Umsetzung erhebliche Implementierungsherausforderungen. Die beschriebenen Herausforderungen in der Operationalisierung müssen konsequent angegangen werden. Dieses erfordert ein hohes Maß an methodischem Vorgehen in der Planung und Durchführung eines Gesamtprogrammes „Einführung der wertorientierten Steuerung in der Produkt- und Vertriebswege-
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steuerung“. Hier sind nicht nur fachliche Fähigkeiten und Kenntnisse der Unternehmenssteuerung und der Produkt- und Vertriebsgestaltung gefragt, sondern ebenso technische Kenntnisse über die spezifischen Datenzusammenhänge und Systeme im Unternehmen. Die Auswirkungen durch die Implementierung wertorientierter Steuerung (insbesondere durch die Produkt- und Vertriebswegesteuerung) führen nicht nur zu Änderungen im Betrieb eines Unternehmens, sondern auch zu Änderungen beim Außendienst beziehungsweise bei den Vermittlern, mit denen das Unternehmen zusammenarbeitet. Da es sich hierbei traditionell um sensible Bereiche handelt, müssen Änderungen behutsam und mit dem notwendigen Einfühlungsvermögen umgesetzt werden. Darüber hinaus ist ein professionelles Projekt- sowie Programmmanagement kritisch für die Bewältigung einer solchen Managementaufgabe. Die einzelnen Umsetzungsprojekte müssen geplant, fachliche und technische Wechselwirkungen erfasst und die Umsetzung der einzelnen Projekte innerhalb des Gesamtprogrammes gesteuert werden. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Veränderungen durch Umstellung auf eine wertorientierte Steuerung große Herausforderungen an die Organisation eines Versicherungsunternehmens stellen. Nach erfolgreicher Umsetzung steht dem Unternehmen jedoch ein Instrument zur Verfügung, das in einem umkämpften Markt mit stärker werdendem Wettbewerb zu einem kritischen Erfolgsfaktor avancieren kann.
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Literatur Altmann, P./Hiendlmeier, S.: Steuerung der Vertriebsprozesse, in: Hallmann, T./ Junglas, A./Kirchner, W./Wiegard, M. (Hrsg.): Steuerung von Versicherungsunternehmen; Grundlagen, Prozesse, Praxisbeispiele, Stuttgart 2008. Bergler, C./Wiegard, M.: Rechnungswesen, in: Hallmann, T./Junglas, A./Kirchner, W./Wiegard, M. (Hrsg.): Steuerung von Versicherungsunternehmen; Grundlagen, Prozesse, Praxisbeispiele, Stuttgart 2008. Brozy, L./Dülpers, A.: Wertorientierte Steuerung im Versicherungsvertrieb, in: Versicherungswirtschaft, 63. Jahrgang, 15. Januar 2008, Heft 2, Seite 130 – 132. Ernst & Young: Studie - A New Balanced Scorecard, Measuring Performance and Risk, 2009. Farny, D.: Versicherungsbetriebslehre, 4. Aufl., Karlsruhe 2006. Friederich-Schmidt, S.: Kundenwert aus Sicht von Versicherungsunternehmen, Wiesbaden 2006. Gleich, M./Michel, U.: Organisation des Controlling, Grundlagen, Praxisbeispiele und Perspektiven, Freiburg 2007. Koch, G.: Wertorientierte Steuerung von Versicherungsunternehmen im Lichte des normativen Managements, in: Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft, Band 95, Jahrgang 2006, S. 125 – 148. Mercer Oliver Wyman: Studie - Wertorientiertes Vertriebsmanagement, Hebel zur Wertsteigerung in Versicherungsunternehmen, München 2003 Nguyen, T.: Handbuch der wert- und risikoorientierten Steuerung von Versicherungsunternehmen, Karlsruhe 2008. Nguyen, T ./Späth. C./Ahr, H./Hiendlmeier, S.: Unternehmenssteuerung von Versicherungen in Zeiten von IFRS und Solvency II - Wertorientierte Steuerung auf dem Vormarsch, in: Versicherungswirtschaft, Heft 22, 15.11.2005, S. 1745ff. Oletzky, T.: Wertorientierte Steuerung von Versicherungsunternehmen, Karlsruhe 1998. Röhl, A.: Von IFRS über Solvency II zur wertorientierten Unternehmenssteuerung, in: Versicherungswirtschaft, 61. Jahrgang, 01. März 2006, Heft 5, Seite 362 – 364. Schmeiser, H.: Das Shareholder-Value-Prinzip im Spannungsfeld von Theorie und Praxis, working papers on risk management and insurance no. 31, St. Gallen 2006. Standard & Poor’s: Leitfaden für Finanzkraft-Ratings bei Versicherern - Europäische Lebens-, Schaden-/Unfall- und Rückversicherer, 2009 (www.europeinsurance.standardandpoors.com).
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Teil IV Strategisches Versicherungsmarketing
Kapitel 9 Multichannel-Management Ein strategisches Unternehmensführungskonzept Dr. Christin Emrich
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Einleitung
Die Versicherungswirtschaft befindet sich seit einer Reihe von Jahren in einem tiefgreifenden und raschen Wandel, der sich vor allem auf die strategische Unternehmensführung auswirkt. Ein wichtiges Moment ist dabei die Deregulierung, die mit der Liberalisierung im Jahre 1996 eingeleitet wurde. Durch sie verschärft sich der Wettbewerb und Versicherer werden sowohl zu Produkt- und Leistungsinnovationen als auch zu offensiverem Marketing gedrängt, wobei diese Entwicklung sich ständig beschleunigt. Im Informationszeitalter des 21. Jahrhunderts sind Unternehmen nicht mehr nach der Produktorientierung, sondern nach den Prinzipien der Kundenorientierung zu führen. Marketing erhält dabei einen ganz anderen strategischen Stellenwert. Nach Aussagen von Managern großer Globalplayer wird vor allem eine flexible Kommunikationspolitik zum ausschlaggebenden Wettbewerbsfaktor für Unternehmen. Sie muss den sich wandelnden Wünschen der Kunden entsprechen (nach Gilles Gaspernet von der Bank Credit Agricole (vgl. o.V. 1997); ähnlich äußerte sich auch der ehemalige Chef von NestléDeutschland) (vgl. Grimm/Röhricht 2003). Das Problem liegt jedoch darin, dass sich auch das Kundenverhalten fundamental verändert. Daher ist nur derjenige in Zukunft strategisch richtig positioniert, dem es gelingt, die richtigen Informationen zielgruppengerecht zur rechten Zeit in der richtigen Geschwindigkeit im richtigen Kanal zu präsentieren. Kommunikation ist dabei nicht der allein entscheidende Faktor für die Kommunikationspolitik, sondern vor allem die von den Kunden gewünschten Kommunikationskanäle begründen die Notwendigkeit zu einer Multichannel-Strategie. Die Initiative für den gewünschten Kommunikationskanal geht heute stets vom Kunden aus (Pull-Kommunikation). Kunden lassen sich in einer demokratisierten Kommunikationswelt nicht mehr vorschreiben, über welchen Kanal sie mit Unternehmen kommunizieren sollen. Sie sind selbstbewusste, gut informierte Teilnehmer am Kommunikationsgeschehen, die selbst bestimmen, mit wem sie wann und wie lange kommunizieren wollen. Kunden können heute über Formen der Social-, Media- und der Social-Web-Welt durchaus Medienmacht gegen Unternehmen/ Marken entfalten. M.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing, DOI 10.1007/978-3-642-10276-9_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
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Dr. Christin Emrich
Aber wie ist die Situation in der Versicherungswirtschaft? Die Branche arbeitet mit hochstandardisierten Produkten für einen Massenmarkt und einem Geschäftsmodell, das nahezu ausschließlich den indirekten Vertrieb vorsieht. Direkten Kundenkontakt haben Versicherungsunternehmen oft erst durch den Eintritt des „worst case“. Dieser besteht für Kunden darin, dass der Schadensfall eingetreten ist, und für Versicherungen darin, dass das Risiko eingetreten ist und die Leistung geprüft und möglichst niedrig gehalten werden muss. Kunden haben es dann plötzlich mit einem Vertragspartner zu tun, den sie bisher noch nicht kannten, da sie nur indirekt über einen Versicherungsvermittler die Leistung eingekauft haben. Versicherungsunternehmen treten mit Kunden oft nach Jahren das erste Mal in Kontakt und haben dabei vorrangig die Niedrighaltung des Leistungsfalles im Blick. Insofern haben Versicherungsunternehmen ein Imageproblem bei den Kunden, da sie von diesen oft erst im „worst case“-Fall und dann auch eher als „Gegner“ wahrgenommen werden. Multichannel-Marketing ist ein Unternehmensführungskonzept, dass Kundenorientierung in den Vordergrund stellt. Es ist zwar noch gekennzeichnet durch eine Vielfalt von Begriffen und Strategien, Unternehmen wenden MultichannelMarketing-Strategien mit Hilfe des Multichannel-Managements an, weil sie in der Praxis gezwungen sind auf Konsumentenverhaltensänderungen zu reagieren, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Eine Schwierigkeit bei MultichannelMarketing-Strategien liegt darin, dass sie nicht in ein bis zwei Wochen erlernbar sind. Durch die enorme Komplexität eines ganzheitlichen Konzeptes gehört Multichannel-Management zu den schwierigsten Management-Aufgaben überhaupt. Zum besseren Verständnis wird daher zunächst ein Überblick über das Geschäftsmodell und die fundamentalen Veränderungen in der strategischen Unternehmensführung von Versicherungsunternehmen dargelegt und darauf aufbauend eine Einführung in Multichannel-Marketing-Strategien, die für Versicherungen relevant sind, gegeben. Danach erfolgt die Analyse eines Kanalportfolios, das die hauptsächlich im Einsatz befindlichen Kommunikationskanäle von Versicherungen analysiert und bewertet. Daran schließt sich die Bewertung ausgewählter Risiken an, die sich aus dem Geschäftsmodell von Versicherungen ergeben, bevor ein Resümee den Artikel beendet.
2 Wandel in der Versicherungswirtschaft 2.1
Strategische Unternehmensführung vor und nach der Liberalisierung
Bis zur Deregulierung ca. 1997 basierte die strategische Unternehmensführung von Versicherungsunternehmen vornehmlich auf dem Massengeschäft von hochstandardisierten Produkten mit privaten Haushalten. Es bestand eine kartellartige Wettbewerbssituation, das Geschäftsmodell von Versicherungsunternehmen basierte auf weitgehend einheitlichen Produkten und Preisen, wobei die Produkte
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zuvor von den Verbänden der Versicherungswirtschaft entworfen und vom Aufsichtsamt genehmigt wurden. Versicherungsunternehmen operierten in einem sicheren Heimatmarkt, in dem es für ausländische Mitbewerber kaum Zutritt gab (vgl. Rosenbaum/Wagner 2006). Eine Art „Wettbewerb“ fand nur über ein umfangreiches Netz von indirekten Absatzmittlern in Form von Versicherungsvermittlern statt, die mit einem Vergütungssystem arbeiten, dass auf hohen Provisionen für den Abschluss von Neuverträgen ausgerichtet ist. Für den deutschen Versicherungsmarkt trifft diese Charakterisierung des Vergütungssystems und des vorwiegend indirekten Vertriebs auch nach der Liberalisierung noch zu. Nach der Liberalisierung hat ein starker Wettbewerb eingesetzt. Versicherungsunternehmen bringen nun in kurzen Abständen eigene Produkte auf den Markt, die vielgestaltig sind und denen eigene Risikoeinschätzungen zugrunde liegen. So variieren die Preise in Abhängigkeit von Umfang und Art des versicherten Risikos. Zur Absatzförderung der Produkte werden auf den ersten Blick unterschiedliche Kanäle und Medien eingesetzt. Es finden sich neben dem klassischen Außendienst auch Werbemaßnahmen in Presse und Fernsehen und sogar im Internet. Wettbewerb herrscht auch zwischen Versicherungsunternehmen und allen Anbietern von Finanzdienstleistungen (Banken, Bausparkassen etc.) bei Produkten mit in etwa gleichen Zwecken, wie zum Beispiel Baufinanzierung etc. Es gibt aber auch Bereiche, bei denen sich Kooperationen als sinnvoll erweisen (Verkauf von Versicherungsprodukten am Bankschalter, Lebensversicherung zur Sicherung von Baudarlehen etc.) (vgl. Rosenbaum/Wagner 2006). Aber hat sich die Wettbewerbssituation in der Versicherungsbranche wirklich grundlegend geändert? Das soll durch einen Blick auf das Geschäftsmodell und die strategische Unternehmensführung geprüft werden.
2.2 Von der Produkt- zur Kundenorientierung Zu Zeiten der Regulierung war die strategische Unternehmensführung produktorientiert ausgerichtet. Die Konzentration beim Geschäftsmodell von Versicherungsunternehmen lag auf der Konzipierung und Genehmigung von hochstandardisierten Produkten für den Massenmarkt. Interessant ist vor allem das Neukundengeschäft, wobei die Ziele eine möglichst große Anzahl von Akquisitionen vorsehen, was ausschließlich durch indirekte Absatzmittler erreicht werden soll. Die Daten der so erlangten Verträge lagern dann millionenfach als „KarteiLeichen“ in den Archiven. Nur die Daten eines kleinen Teiles der Kundenverträge sind für Versicherungsunternehmen später noch, durch ihre produktspezifischen Charakteristika, von Interesse, so zum Beispiel Stornoquoten bei Finanzdienstleistungen, Betrugsversuche oder Schadenseintritt und damit Risikoveränderungen. Der direkte Kundenkontakt mit der Ausrichtung an entsprechenden Charakteristika der Kunden spielte für Versicherungsunternehmen dabei jedoch kaum eine Rolle (vgl. Rosenbaum/Wagner 2006). Im Informationszeitalter nach der Liberalisierung sollte die strategische Unternehmensführung nicht mehr produkt-, sondern vor allem kundenorientiert ausge-
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richtet sein (vgl. Österle 2000). Das Ziel ist dabei, sich statt an den Produkt- an Kundencharakteristika auszurichten, Kundenprobleme zu erfassen und dem Kunden so viele zusammenhängende Teilprobleme wie möglich abzunehmen. Viele Rollen, die in der Geschäftsarchitektur des Informationszeitalters vorliegen, hat es im vorangegangenen Regulierungszeitalter mit seiner Produktorientierung nicht, oder nur in Ansätzen gegeben. Als Kernelemente sind vor allem Kundenprozesse, Kooperationsprozesse, Kundenprozessportale, Geschäftsnetzwerke und Webservices zu nennen. Beim Kundenprozess sind nicht mehr nur unternehmensinterne Geschäftsprozesse zu betrachten, sondern ebenso externe Prozesse, wobei Unternehmen in einer demokratisierten Kommunikationslandschaft ihren Kunden einen Mehrwert bieten müssen, wenn diese mittels Pull-Kommunikation veranlasst werden sollen, mit dem Unternehmen oder seine indirekten Absatzmittlern zu kommunizieren (vgl. Österle 2001; Emrich 2009). Aber wie sieht die Situation bei Versicherungsunternehmen nach der Liberalisierung aus? Wie hat sich das Geschäftsmodell verändert? Wird wirklich der Kundenprozess und der Kunde in den Mittelpunkt der unternehmerischen Tätigkeit gestellt? Ein großes Nutzenpotential liegt für Konsumenten vor allem in personalisierten und bedarfsgerechten Leistungen, die auf das Wissen über den Kunden und seine Aktivitäten ausgerichtet ist. Zur Erfüllung dieser Aufgaben sind permanente Kunden- und Marktanalysen notwendig, denn viele externe Einflüsse auf die Lebenswelt der Kunden haben sich in den letzten Jahren verändert, und der Zeitraum der Veränderungen hat sich dabei stetig beschleunigt (vgl. Kroeber-Riel et al 2004). Die Entwicklung lässt sich durchaus als dramatisch bezeichnen. So wird von Harrigan festgestellt, dass ca. 75% aller Branchen in Japan, Westeuropa und den USA von langsamem, stagnierendem oder negativem Wachstum betroffen sind (vgl. Ratcheva, o.J.). Hier lassen sich neue Marktpotentiale nur noch mittels eines Verdrängungswettbewerbes zu Lasten anderer Anbieter erringen. Das führte in der Vergangenheit zu einer immer härter werdenden Konkurrenzsituation mit einer Flut von Produkten. Marketing, das auf die Wünsche von Kunden ausgerichtet ist, spielt im Informationszeitalter eine sehr große Rolle (vgl. Emrich 2009). Viele deutsche Versicherungsunternehmen haben die Veränderungen durch die Liberalisierung zwar notgedrungen realisiert, die Folgen jedoch in letzter Konsequenz noch nicht akzeptiert. So mangelt es oft an einer Neuorientierung in der strategischen Unternehmensführung für bestimmte Bereiche, auch das Geschäftsmodell basiert oft noch auf der Produktions- statt auf der Kundenorientierung. Versicherungen setzen in bestimmten Geschäftsbereichen weiter auf hochstandardisierte Produkte für einen Massenmarkt (Pflichtversicherung etc.). Andere Bereiche (Finanzdienstleistungen etc.) werden nur marginal und nur im Hinblick auf die Produktcharakteristika differenziert angeboten (zum Beispiel Rabatte bei KfzVersicherungen im Falle einer Garage etc.). Selbst die Strategie unterschiedliche Kanäle und Medien für den Absatz einzusetzen, wird zu wenig genutzt und weiter vorwiegend auf indirekte Absatzmittler gesetzt. In einem gesättigten Markt kann diese Trägheit gefährliche Folgen für die Wettbewerbssituation mit sich bringen. Aber welche Möglichkeiten eröffnen sich für Versicherungsunternehmen? Kön-
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nen Multichannel-Marketing-Strategien neue Marktchancen eröffnen? Da die Produktbereiche in Versicherungsunternehmen stark voneinander abweichen und auch unterschiedliche Marktbedingungen für die Produkte vorherrschen, konzentrieren sich die folgenden Ausführungen auf den Bereich Finanzdienstleistungen.
3
Multichannel-Marketing-Strategien und Multichannel-Management
3.1
Multichannel-Marketing-Strategie als Unternehmensführungskonzept
Multichannel-Marketing ist ein marketingbasiertes Unternehmensführungs-Konzept, das Kundenorientierung in den Vordergrund stellt. Zum Begriff Multichannel-Marketing existiert in Literatur und Praxis keine einheitliche Definition. Der Begriff entwickelt sich zu einem Modewort und infolge der Bedeutung des Internets haben sich vielfältige und durch Überschneidungen auch verwirrende Multichannel-Strategien entwickelt (zum Beispiel Cross Media, Multichannel-Retailing, Multiple-Channel-Retailing, Integrierte Kommunikation etc.) (vgl. dazu Emrich 2008), die immer wieder mit Multichannel-Marketing in Verbindung gebracht werden. Das Multichannel-Marketing-Konzept wird von Emrich folgendermaßen definiert: „Multichannel-Marketing ist die Nutzung mehrerer multifunktional vernetzter Kanäle sowohl für Kommunikation als auch für Vertrieb von Produkten/Dienstleistungen eines Anbieters an organisationale Kunden beziehungsweise Endverbraucher; es enthält mindestens zwei eigenständige unterschiedliche Kanäle für markierte Leistungsbündel mit einem Sortimentszusammenhang, für die ein kanalspezifischer Marketing-Mix bestehen kann und die in ein ganzheitliches Channel-Konzept integriert beziehungsweise mit diesem kombiniert sind“ (Emrich 2005, 11). Multichannel-Marketing beinhaltet durch die Ausrichtung an Kundenwünschen ein enormes Erfolgspotential. Die Definition zeigt, dass das MultichannelManagement in zwei strategische Ausrichtungen münden kann, wobei beide ganzheitlich ausgerichtet sind. Zum einen in eine integrative Ausrichtung, zum anderen in eine funktionale Integration, die aber hinsichtlich der Channel kombiniert ausgerichtet ist. Beide Konzepte haben Auswirkungen auf mehrere Wissenschaftsdisziplinen und Betriebsbereiche (zum Beispiel Prozessmanagement, Informationsund Kommunikations(IuK)-Technik, Organisation, Personal, Führung etc.). Bei einem Management, das diesen Anforderungen nicht entspricht, ist mit suboptimalen Ergebnissen zu rechnen (vgl. Emrich 2008; Emrich 2009). MultichannelManagement ist zu verstehen „… als ganzheitliche und abgestimmte Entwicklung, Gestaltung und Steuerung von Produkt- und Wissensflüssen über verschiedene Medien und Kanäle mit dem Ziel, die Kundenbindung zu erhöhen sowie Vertriebs- und Servicekosten zu senken“(Gronover 2003, 19-20).
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Dr. Christin Emrich
3.2 Multiple-Channel-Retailing-Konzept Der Begriff Multiple-Channel-Retailing wird von Ahlert definiert, als „ …eine erste, einfachere Form eines Mehrkanalsystems aus direkten und indirekten Absatzkanälen unter einheitlicher Markierung …“ (Ahlert/Hesse 2003, 11). Im Unterschied zur ganzheitlichen Multichannel-Marketing-Strategie werden die Kanäle zwar parallel, aber unkoordiniert nebeneinander her eingesetzt. Die Etablierung dieses Konzepts wird immer wieder mit der Multichannel-Strategie in Verbindung gebracht, unterscheidet sich von dieser aber fundamental, da sie keine ganzheitlichen Veränderungen erfordert. Das Konzept ist i.A. gekennzeichnet durch: (1) eine uneinheitliche Produktpalette, (2) fehlendes Customer Relationship Management(CRM)-System und daher das Fehlen von kanalübergreifenden Kundeninformationen, (3) fehlende Integration mit dem ERP-System des Versicherers, daher fehlender Datenabgleich. Daraus ergeben sich gravierende und negative Folgen für die Kunden: • Durch die fehlende Integration zwischen den Kanälen müssen sich die Kunden jeweils eine neue Kundennummer in jedem der Kanäle für die Transaktionen merken. • Durch die fehlende Integration mit dem ERP-System können Leistungen für Verträge, die in einem Kanal abgeschlossen wurden, auch nur in diesem angefordert oder der Vertrag storniert werden. • Fehlende Kundeninformationen machen ein Eingehen auf Kunden unmöglich, die sich als „Channel-Hopper“ verstehen und ihr Konsumentenverhalten dementsprechend ausrichten. • Durch unterschiedliche Produktpaletten können Probleme mit Herstellern beziehungsweise indirekten Verkäufern auftreten. • Negative Erfahrungen eines Kunden in einem der Kanäle können leicht auf (alle) andere(n) Kanäle übertragen werden. Das Konzept „Multiple-Channel-Retailing“ ist lediglich geeignet, für Unternehmen, die kanalspezifische Produktpaletten anbieten wollen. In diesem Fall sollte das aber gegenüber dem Kunden nicht unter einer einheitlichen Markierung geschehen (vgl. Ahlert/Hesse 2003). Als Vorteil für ein derartiges Konzept wird die Flexibilität durch den raschen Auf- und Abbau neuer (getrennter) Kanäle propagiert. Dieser „Vorteil“ hat jedoch nur aus der Sichtweise des Jahres 2001, als die Strategie konzipiert wurde, Gültigkeit. Zu dieser Zeit gab es noch wenige Erkenntnisse zu Fragen der Zeit- und Kostenersparnisse durch Prozessintegration beziehungsweise zu Fragen der Kundenzufriedenheit durch die Vermeidung von Medienbrüchen. Auch waren die Möglichkeiten zur Datenintegration deutlich umständlicher als im Jahre 2009. In der heutigen „Internet-Zeit“ spielen Kosteneffekte durch schnelle, effektive und durchgängige Prozessketten eine herausragende Rolle für die Wirtschaftlichkeit auch bei Mittelständlern (vgl. o.V. 2003). Medienbrüche kosten nicht nur Zeit und Geld durch die Beschäftigung mehrerer Mitarbeiter, die allein mit der Übertragung von Listen/Verträgen etc. aus allen Kanälen in das eigene ERP-System beschäftigt sind, sie sind auch extrem fehler-
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anfällig durch die manuelle Mehrfacherfassung und Übertragung von Daten. Kundenspezifische, ökonomische und Zeitvorteile, die sich aus der in der heutigen Zeit problemlos möglichen Daten- und Prozessintegration ergeben, machen die im Jahre 2001 ermittelten Vorteile eines Multiple-Channel-Retailing-Ansatzes somit obsolet. In der Versicherungsbranche finden sich relativ viele Multiple-Channel-RetailingStrategien. Das könnte damit zusammenhängen, dass in den Jahren nach der Liberalisierung relativ schnell für ausgegliederter Bereiche viele Niederlassungen beziehungsweise Versicherungsagenturen geschaffen wurden, die vorwiegend auf den Vertrieb spezieller Produkte (zum Beispiel Kraftfahrzeugversicherungen etc.) spezialisiert sind (zum Beispiel Direktversicherungen etc.). Die Strategie könnte auch dadurch gefördert worden sein, dass kaum Änderungen im Unternehmen notwendig sind, da die Kanäle lediglich unverbunden und nebeneinander her angeboten werden. Während die nachfolgend aufgeführten Auslöser für alle Strategien gelten, gelten die Chancen und Risiken nur bedingt für eine MultipleChannel-Strategie, sie beziehen sich vor allem auf die ganzheitlich ausgerichtete Multichannel-Marketing-Strategie.
3.3
Auslöser und wesentliche Chancen
Branchenspezifische Gründe für eine Multichannel-Marketing-Strategie sind zahlreich vorhanden. Was aber sind die branchenübergreifenden Gründe, die die Anwendung einer Multichannel-Strategie zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit nötig machen? Einige ausgewählte Gründe, die auch gleichzeitig Chancen für ein Multichannel-Management darstellen, werden nachstehend vorgestellt (vgl. Emrich 2008; Emrich 2009): • Vor allem Veränderungen im Kundenverhalten können von den Unternehmen nicht länger ignoriert werden, denn in der Vergangenheit hat sich gezeigt, dass eine Vernachlässigung oder falsche Einschätzung dieser Veränderungen zum Verlust der Wettbewerbsfähigkeit führt. So kann Multichannel-Management auch beim Information Overload Abhilfe schaffen. Unter Information Overload wird allgemein der Effekt der Reizüberflutung durch Informationsüberlastung bei den Rezipienten verstanden. Dieser wird vor allem durch klassische Medien hervorgerufen (vgl. Scheier/Held 2007; Emrich 2008). Die Entwicklung wird auch durch die riesigen finanziellen Werbevolumen gefördert. So haben sich die Werbeinvestitionen seit Beginn 1980 verdreifacht und lagen 2006 bei knapp 20 Mrd. Euro (vgl. ZAW 2006). Über 50.000 Marken werden in Deutschland beworben und jedes Jahr kommen 26.000 neue Produkte hinzu (vgl. Scheier/Held 2007). Diese Entwicklung führt zu einem erheblichen werbebedingten Informationsüberschuss, der sich in über 3.000 Werbebotschaften pro Kopf und jährlich 3.500 Printanzeigen, 2 Mio. Werbespots, Plakate, Mailings, Online-Werbung und Events ausdrückt. Als Konsequenz haben Konsumenten mittlerweile Abwehrstrategien entwickelt und betrachten die Berieselung durch klassisches Marketing oft sogar als persönliche
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Belästigung. Durch Multichannel-Management kann gezielt auf die Kommunikations- und Kanalpräferenzen der Kunden eingegangen und der undifferenzierte Einsatz von Massenmarketing in Form von klassischer Werbung eingedämmt werden. • Durch Multichannel-Management kann auf Verhaltensveränderungen reagiert werden, denn auch für die nähere Zukunft wird durch die Delphi-Studie des BMBF ein ungebrochener Trend zur Individualisierung bestätigt (vgl. Wu/Keysar 2007). Individualisierung wird durch Anforderungen der Kunden in gesättigten Märkten gefördert, die immer spezifischer werden, weil immer weniger Kunden mit standardisierten Leistungen des Massenmarktes zufrieden sind. Diese Tatsache führt dazu, dass Medieninhalte noch selektiver, als bisher genutzt und irrelevante Inhalte konsequenter ignoriert werden. Dadurch wird die Verweigerungshaltung beim Medienkonsumverhalten verstärkt. • Beim Multichannel-Management sind auch übergreifende Verhaltensveränderungen einzubeziehen. Konsumentenemanzipation bezeichnet eine derartige übergreifende Verhaltensänderung. Sie hat sich bei den Kunden im Gegensatz zum Medienverweigerungsverhalten (Reaktanz) hinsichtlich klassischer Werbemedien herausgebildet (vgl. Emrich 2008). Während einerseits ein Trend besteht, noch selektiver als bisher irrelevante Inhalte konsequent zu ignorieren, eröffnen sich durch die neuen Medien Möglichkeiten, den Medienkonsum aktiver zu gestalten. Vor allem Web 2.0-Instrumente lassen sich unabhängig von Zeit und Raum und ohne kostspielige Technik von den Konsumenten nutzen. Auch hier können Multichannel-Strategien Nutzen stiften. • Der Trend zur Atomisierung der Medien verstärkt die Notwendigkeit für Unternehmen zu einer Multichannel-Strategie, denn durch die dynamische Entwicklung der Medienmärkte verschärfen sich die Wettbewerbsbedingungen stets. Als Indiz dafür kann die Entwicklung bundesweiter TV-Sender und Hörfunkprogramme dienen. Bei den Fernsehsendern hat sich eine Entwicklung von 11 Sendern im Jahr 1984 auf 73 bundesweite Fernsehprogramme, die durch Werbung finanziert werden, im Jahre 2005 ergeben (vgl. ZAW 2006). Auch ohne die Entwicklung von lokalen und regionalen TV-Sendern, die noch hinzuzurechnen wären, entspricht das einem Wachstum von ca. 560%. Entsprechend hat sich auch die Anzahl der Hörfunkprogramme entwickelt; diese ist im Jahr 2005 auf 327 Sender angestiegen, was einem Wachstum von 75% entspricht (vgl. ZAW 2006). Die Atomisierung der Medien fördert den Information Overload. Zu den branchenübergreifenden Gründen für ein Multichannel-Management, die für Unternehmen gleichermaßen Gültigkeit haben, fehlen bis heute wesentliche Kenntnisse. In der Praxis führt diese Lücke oft zur Fehleinschätzung in Bezug auf die Wettbewerbssituation. Auch falsche Vorstellungen über die Erfolgschancen bei einer Multiple-Channel-Retailing-Strategie, verbunden mit der Gefahr von Einbußen bei der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen, sind aus der Vergangenheit bekannt.
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3. 4 Ausgewählte Risiken Multi-Channel-Strategien haben aber nicht nur Vorteile, sondern beinhalten auch Risiken, von denen einige ausgewählte nachfolgend beschrieben werden. • Risiken steigen bei einer Neupositionierung mit dem Grad des nötigen Wandels. Radikale Transformationen sind mit der Notwendigkeit verbunden, rasch Marktanteile zu gewinnen und eine Marke zu entwickeln. • Risiken finden sich aber auch auf der Prozess- und IS-Ebene. So führen unausgereifte beziehungsweise unangepasste Prozesse zu langen Prozesslaufzeiten, die sich negativ auf die Kundenzufriedenheit auswirken. Durch Ineffizienzen und Inkompatibilitäten steigen die Kosten und Skaleneffekte lassen sich nicht realisieren. Durch instabile informationstechnische Lösungen werden diese Effekte noch verstärkt. • Multi-Channel-Einheitsstrategien existieren nicht; sie sind für jedes Unternehmen individuell zu gestalten und führen mittel- und langfristig zu erheblichen Veränderungen im Unternehmen. Ein ineffizientes Management beziehungsweise die Beachtung nur eines der Elemente Kunde, Kommunikation, Kommunikationskanäle müssen bei dieser ganzheitlich ausgerichteten Aufgabe zum Scheitern beziehungsweise zu ineffizienten Lösungen führen. • Es gibt viele Multichannel-Konzepte und einige Ansätze sind in Teilen auch nicht vollkommen neu. Nahezu jeder kennt heute Beispiele, bei denen sich Multichannel-Konzepte ohne Management, ohne durchdachte Planung oder ohne ausgereifte Konzeption herausgebildet haben (vgl. zum Beispiel Wirtz 2007). Bekannt sind auch Konzepte, bei denen die neu entstandenen Kanäle nicht mit bereits existierenden abgestimmt, distributive Aufgaben nicht entsprechend aufgeteilt und Konflikte nicht vorhergesehen wurden. MultichannelKonzepte wurden zudem in der Vergangenheit sehr oft auf Basis kurzfristiger Marktbewegungen beziehungsweise kurzlebiger Kundenbedürfnisse entwickelt. Auch wurde der strategische Transformationsprozess vom Monochannel- zum Multichannel-System sehr oft unterschätzt, ebenso wie die Notwendigkeit, den damit verbundenen umfangreichen Wandel durch die Führungsebene aktiv zu gestalten (vgl. Emrich, 2008; Emrich 2009).
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Multichannel-Strategien in der Versicherungsbranche
4.1 Kommunikationsportfolio Status quo Während die ganzheitlich ausgerichtete Multichannel-Marketing-Strategie in der Versicherungsbranche noch relativ selten zu finden ist, ist die Multiple-ChannelRetailing-Strategie relativ häufig vorhanden. Auch bei dieser Strategie setzt die effektive Kundenansprache voraus, nicht nur viele, sondern möglichst die richtigen Kanäle auszuwählen, mit denen die Kunden kommunizieren können. Durch
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Multichannel-Management werden die Kommunikationskanäle ermittelt, mit denen die Zielgruppen zu einem vertretbaren Anteil kostengünstig erreichbar sind. Das daraus resultierende Kanalportfolio ist bei der Multichannel-MarketingStrategie als ganzheitlich ausgerichtetes System zu verstehen, in dem Kanäle durch unterschiedliche Merkmale und Dimensionen gekennzeichnet sind. In der Versicherungsbranche kommt zumeist das folgende Kommunikationsportfolio im Rahmen einer Multiple-Channel-Retailing-Strategie zum Einsatz, das auf Basis des Klassifikationsschemas von Emrich dargestellt ist (vgl. Emrich 2008; Emrich 2009, vgl. Abb. 9.1). KOMMUNIKATIONSKANÄLE
Botschaftsinteraktiv
Online-Kanäle
Mobile Kanäle
Web 1.0
Web 2.0
Botschaftspassiv
Offline-Kanäle
Offline-Kanäle
Stationäre Kanäle
Mobile Kanäle
Stationäre Kanäle
POS (Agentur)
Außendienst, Brief, Telefon
Fernsehen, Print
Quelle: in Anlehnung an die Klassifikation von Emrich, 2008
Abb. 9.1: In der Versicherungsbranche eingesetzte Kommunikationskanäle
4.1.1 Botschaftsinteraktive offline-Kommunikationskanäle Merkmale der botschaftsinteraktiven offline-Kanäle sind nach Emrich, dass das Kriterium Interaktivität sich als Rückkanalfähigkeit über denselben Kanal ohne Medienbruch für den Kunden ergeben muss. Das Kriterium kann in stationärer und mobiler Form vorliegen und eine hohe, mittlere oder niedrige Ausprägung annehmen(vgl. Emrich 2008, Emrich 2009). Es wird zur objektiven Bewertung von Kanälen in einem Kanalportfolio eingesetzt. 4.1.1.1 Stationäre Kanäle POS (Agentur) Beim POS (Point of Sale) (eigene Filialen, Agenturen) handelt es sich um einen traditionellen Kommunikationskanal, der von den Kunden aufgesucht werden muss, um zu kommunizieren (persönliche Beratung, Vertragsabwicklung oder Serviceleistungen etc.). Bei Versicherungsunternehmen werden im Rahmen einer
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Agentur Versicherungsvermittler eingesetzt, die Kraft rechtsgeschäftlich begründeter Geschäftsbesorgungsvollmacht für andere Versicherungsverträge anbahnen und abschließen können. Versicherungen verfügen über ein enges Netz von Vermittlern. In Deutschland sind zurzeit ca. 80.000 hauptberufliche und 320.000 nebenberufliche Vermittler tätig. Die Zahl unabhängiger Versicherungsmakler liegt bei ca. 7.000 (vgl. Rosenbaum/Wagner 2006). Nach Art der Rechtsstellung wird dabei unterschieden in: • • • •
Versicherungsvertreter, Angestellte im Außendienst, Versicherungsmakler und Gelegenheitsvermittler.
Bei Versicherungsvertretern handelt es sich nach §§ 84, 82 HGB um einen selbständigen gewerbetreibenden, der als Handelsvertreter damit betraut ist, Versicherungsverträge zu vermitteln oder abzuschließen. Die Versicherungsagentur ist sein Gewerbe, das er anzumelden hat. Er besitzt die Kaufmannseigenschaft und falls er einen eingerichteten Geschäftsbetrieb (POS als Agentur) betreibt, ist er Vollkaufmann und ins Handelsregister einzutragen. Er ist selbständig, hat aber eine enge Bindung an das Versicherungsunternehmen, dessen Interessen er wahrzunehmen hat. Seine Aufgaben liegen in der direkten Vermittlungstätigkeit sowie der indirekten Werbe- und Beratungstätigkeit. Er arbeitet mit einem Anreizsystem auf Provisionsbasis (Anschluss-, Bestands- und Folgeprovisionen). Daneben werden auch Versicherungsmakler eingesetzt. Diese sind auch Handelsmakler, dennoch passen die §§ 93 ff. HGB nur teilweise, da sich auf der Grundlage von Handelsbräuchen ein spezielles Versicherungsmaklerrecht herausgebildet hat. Sie unterscheiden sich von Versicherungsvertretern dadurch, dass es ihnen an einem ständigen Betrauungsverhältnis fehlt. Betriebswirtschaftlich ist der Versicherungsmakler ein Beschaffungsorgan des Versicherungsnehmers. Er arbeitet nach internationalem Gewohnheitsrecht auf Basis einer Courtage (Provision für Vermittlungs- und Verwaltungstätigkeit), die allein gegen das Versicherungsunternehmen besteht. Eine Unterform besteht im Gelegenheitsvermittler, der nur gelegentlich Versicherungen vermittelt und daher nicht als Versicherungsvertreter, sondern als Zivilmakler angesehen wird. Er beschränkt sich auf den bloßen Nachweis von Abschlussmöglichkeiten und tritt gegenüber dem Kunden nicht in Erscheinung. Auch er arbeitet mit einem Provisionssystem auf Erfolgsbasis. 4.1.1.2 Mobile Kanäle Außendienst, Brief und Telefon Der Außendienst wird besonders häufig in der Versicherungsbranche eingesetzt. Er kann von den Kunden individuell angefordert werden. Es existieren verschiedene Organisationsformen. So existiert neben dem Versicherungsvertreter auch der Angestellte im Außendienst. Dieser ist nach §§ 59, 84, Abs. 2 HGB ein Handlungsgehilfe in einem abhängigen Arbeitsverhältnis zu einem Versicherungsunternehmen (vgl. Rosenbaum/Wagner 2006). Es ist damit unselbständiger Arbeitnehmer und an die Weisungen seines Versicherungsunternehmens gebunden. Im
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Gegensatz zum Versicherungsvertreter erhält er ein festes Gehalt, zu dem in der Regel erfolgsabhängige Provisionen sowie Spesen kommen. Zu den Aufgaben gehört es, Versicherungsvertreter zu gewinnen und zu betreuen, Angestellte im Außendienst werden aber auch direkt in Versicherungszweigen sowie für bestimmte Werbeaktionen eingesetzt. Auf weitere spezielle Formen des Außendienstes in der Versicherungsbranche, wie Vertriebsgesellschaften beziehungsweise Versicherungsnehmerverbundene Vermittler etc. wird in diesem Artikel nicht weiter eingegangen. Zur schriftlichen Kommunikation gehört u.a. der Kanal Brief. Er besitzt das Merkmal der Rechtssicherheit, das ihn für die Versicherungsbranche unverzichtbar macht. Briefe werden postalisch verschickt, die darin enthaltenen Daten sind singulär und können oft nur mittels eines Medienbruchs im Unternehmen weiterverarbeitet werden. Der Kanal wird in der Versicherungsbranche für Verträge und Bestätigungen aufgrund der Rechtssicherheit genutzt. Die Vorteile liegen in der hohen Akzeptanz und dem Vertrauen bei den Kunden sowie in der einfachen Handhabung und der Zustellungs- und Rechtssicherheit. Die Nachteile liegen im relativ langen Zeitbedarf für die Zustellung. Die Kommunikationskanäle der Telekommunikation können in verschiedenen Ausprägungen genutzt werden (Festnetzanschluss, Mobiltelefon etc.). Sie sind zeit- und ortsunabhängig nutzbar und besitzen allgemein das Merkmal der Botschaftsinteraktivität. Sie lassen sich in mehrere Subsysteme aufteilen, von denen an dieser Stelle nur das persönliche Telefonat behandelt wird (vgl. zu den anderen Formen Emrich 2008, Emrich 2009). Beim persönlichen Telefonat ruft der Kunde beim Unternehmen an und lässt sich mit einem Mitarbeiter verbinden. Er sucht, ähnlich wie in einem POS, vertrauensvolle Beratung und Betreuung durch den Mitarbeiter. Dieser hat in aller Regel technische Hilfsmittel zur Verfügung, die ihm die Möglichkeit eröffnen, trotz geographischer Ferne, sich der Anliegen und Probleme der Kunden in relevanter Weise anzunehmen. 4.1.2 Botschaftspassive offline-Kanäle Fernsehen und Print Erfüllt ein Kanal nicht die Kriterien der Botschaftsinteraktivität (Rückkanalfähigkeit über denselben Kanal), so ist nach Emrich automatisch das Kriterium der Botschaftspassivität erfüllt. Dieses kann in stationärer und mobiler Form vorliegen, sowie in totaler und automatischer Ausprägung (vgl. Emrich 2008). Bei botschaftspassiven Kanälen handelt es sich um Kanäle des klassischen Marketing. Diese Kanäle sind mit einer Besonderheit versehen, denn hier hat bei der Konsumenteneinstellung in der Vergangenheit ein zweifacher Paradigmenwechsel stattgefunden (vgl. Bruhn 1997). Der erste Paradigmenwechsel besteht in der Entwicklung zu einer stärker dialogischen, individualisierten Kommunikation und damit weg von der linearen, einseitigen Massenkommunikation mit klassischen Medien. Der zweite Paradigmenwechsel liegt in der Entwicklung zu einer PullKommunikation, die es den Rezipienten selbst überlässt, wo sie sich wann, wie lange und welcher Kommunikation aussetzen; damit weg von der einseitig unternehmensgesteuerten Push-Kommunikation nach dem „Gießkannenprinzip“ (vgl.
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Emrich 2008). Die Auswirkungen, die sich aus diesem zweifachen Paradigmenwechsel ergeben, sind für die Kanäle des klassischen Marketing dramatisch. Je nach Zielgruppen und Wettbewerbssituation verschieben sich die Gewichte und Budgets im Media-Mix für eine Marketingkampagne zu Ungunsten der klassischen Marketing-Kanäle (vgl. ACTA 2007). Viele Unternehmen messen jedoch diesen zwei Paradigmenwechsel nicht genug Bedeutung bei und ignorieren die Auswirkungen, da man meint, sich bei den Kanälen auszukennen. Das hat sich in der Vergangenheit jedoch oft als Fehler herausgestellt. Dieses führte nicht selten zu einer weiteren Steigerung der Reaktanzen bei den Rezipienten gegen Werbeformen des klassischen Marketing sowie zu einer Verstärkung des Information Overload mit allen damit verbundenen negativen Konsequenzen. Diese können zur Schädigung der Marke und zu einem Wettbewerbsnachteil führen, da sich die Zielgruppen von Werbemaßnahmen persönlich belästigt fühlen und diese Emotion auf die Marke übertragen. Dieser Entwicklung kann beim MultichannelManagement Rechnung getragen werden. Der Kanal Fernsehen und seine Subformen MobileTV und Teleshopping gilt allgemein als passiver Konsum von Filmen oder Bildern und gehört zu den Massenkommunikationskanälen. Fernseher sind zu 90% in deutschen Haushalten vorhanden und stellen damit den wichtigsten Informationskanal für Kunden dar, der Kanal wird daher von vielen favorisiert. Die Vorteile: hoher Verbreitungsgrad und einfache Nutzung. Die erprobte Beobachtungsmöglichkeit mittels GFKFernsehmonitoring ermöglicht eine relativ genaue Erkenntnis bezüglich der Sehgewohnheiten bestimmter Zielgruppen. Zielgruppensegmentierung und gezielte Ansprache von Zielgruppen ist so möglich. Die Nachteile: fehlende Interaktionsfähigkeit und daher Notwendigkeit mindestens eines weiteren Kanals zur Kontaktaufnahme mit dem Kunden. Trotz Segmentierungsmöglichkeiten bleibt der Kanal unpersönlich und auf anonyme Massenkommunikation ausgerichtet. Eine direkte, personalisierte Kommunikation über denselben Kanal mit dem Kunden ist nicht möglich. Print bezeichnet den Sammelbegriff für die Gestaltung von Anzeigen/ Inseraten in Druckerzeugnissen. Anzeigen/Inserate sind entgeltliche Einschaltungen in Informationsträgern. Printmedien sind den klassischen Medien zuzuordnen. Sie können farbig oder schwarz/weiß gestaltet werden; Ziel ist es, beim Betrachter einen Kaufwunsch auszulösen. Die Vorteile: der Kanal kann kreativ eingesetzt werden. Die Nachteile: Anzeigen/ Inserate erlauben nur eindimensionale Darstellungen, sie werden nur „nebenbei“ registriert, die Aktualität fällt je nach Erscheinungszeitraum unterschiedlich aus. 4.1.3 Botschaftsinteraktive online-Kanäle der Web 1.0-Welt Vertikale Internetportale sind an eine bestimmte Interessengruppe/ Themenschwerpunkte (Communities) und/oder an einem Marktsegment ausgerichtet ( vgl. von Boyen 2002). Sie bieten Usern einen genauen Fokus aktueller Informationen zu diesem Interessenschwerpunkt. Für Unternehmen wie User haben sich Portale als favorisierte Anlaufstellen herausgestellt. Sie beziehen sich auf einen Teil aus
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dem horizontalen Spektrum, um dann in diesem Bereich in die Tiefe zu gehen. Man könnte auch sagen, um ihn vertikal aufzubereiten. Beispiele hierfür sind Portale, die spezielle Themen aufgreifen oder sich direkt an einzelne Branchen richten. Vorteile vertikaler Portale liegen in der breiten Informationsmöglichkeit zu weitaus geringeren Kosten im Verhältnis zu postalischen Sendungen, im zeitlich unbegrenzten Zugriff auf das Portal sowie in der Visualisierbarkeit von Produkten. Auch lassen sich durch die automatisierte Abwicklung von Informationsprozessen persönliche Anrufe vermeiden und so Kostensenkungen in der Kundenkommunikation realisieren. Portale in der weiterentwickelten Web 1.5Version beinhalten Interaktionsmöglichkeiten in standardisierter Form. So bieten zum Beispiel viele Direkt-Versicherungen Internetportale für weitgehend automatisierte Vertragsabwicklungen an. Hervorzuheben ist auch die relativ schnelle Anpassungsfähigkeit. Angebote können innerhalb kurzer Zeit aktualisiert und angepasst werden. Dieses steht im Gegensatz zu den Möglichkeiten herkömmlicher traditioneller Kanäle (zum Beispiel Print). Vertikale Internetportale weisen fließende Übergänge zu technologisch weiterentwickelten Web 2.0-Instrumenten auf. Es besteht daher Uneinigkeit darüber, ob sie zu den Web 1.0 oder den Web 2.0-Instrumenten zu rechnen sind. HTMLSeiten basierte und dementsprechend eher auf eine Informationsfunktion ausgerichtete Internetportale, mit standardisierten Transaktionsmöglichkeiten, sind dabei eher den Web 1.0-Instrumenten zuzurechnen. 4.1.4 Bewertung des Kanalportfolios nach Emrich Werden die in der Versicherungswirtschaft eingesetzten Kommunikationskanäle zusammengefasst und in das Bewertungsraster von Emrich positioniert, ergibt sich folgendes Bild (vgl. Abb. 9.2): Kanäle mit hoher Botschaftsinteraktivität: (1) POS (Agentur) Die Botschaftsinteraktivität der drei Kanäle POS, Außendienst und Telefonat ist als hoch zu bewerten, da sie alle Möglichkeiten zur interaktiven Kommunikation zur persönlichen Ansprache und zur Rückkanalfähigkeit besitzen. POS Vorteile: die geographische Nähe zum Kunden zur Abwicklung von Verträgen und Serviceleistungen sowie Fragen des täglichen Bedarfes. Eine eingeschränkte Flexibilität durch festgelegte Öffnungszeiten etc. sowie die Anforderungen eines stationären Kundenkontaktpunktes, zu dem sich der Kunde bewegen muss. Wichtig ist gut ausgebildetes Personal. Nachteile: das Kriterium der Kosten, da hohe Kosten für Investition und laufenden Betrieb, für Infrastruktur und Personal erforderlich sind. Insofern ist der POS einer der kostenintensivsten Kanäle. Positiv fällt das Kriterium Kundenorientierung aus, da hier vor allem die Möglichkeit zur persönlichen Life-Kommunikation mit Betrauungs- und Beratungsfähigkeit hervorzuheben ist.
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Quelle: in Anlehnung an Emrich, 2008
Abb. 9.2: Bewertung botschaftsinteraktiver Kanäle in der Versicherungsbranche
(2) Außendienst Vorteile: Möglichkeit zur Life-Kommunikation und eine individuelle Betrauung/Beratung der Kunden. Nachteile: Die Integrationsfähigkeit des Kanals mit dem Mutterunternehmen ist als gering zu bewerten, verantwortlich hierfür ist die oft ungenügende Anbindung der Angestellten/Vertreter an das interne IuK-System des Unternehmens, so dass ein Datenabgleich und Informationsaustausch oft nicht direkt stattfindet. Der Kanal ist mit sehr hohen Kosten belastetet, vor allem auf Grund von Provisionen beziehungsweise Personalkosten, Firmenwagen, Ausstattung etc. Er eignet sich zwar für alle Phasen, ist aber branchengebunden. Er ist als alleiniger Kanal im Bereich von Versicherungsunternehmen geeignet. (3) persönliches Telefonat Vorteile: die direkte Ansprache des Kunden, Beratungsmöglichkeiten und die Chance, auch ungewöhnliche Fragen individuell und schnell zu klären. Hinsichtlich der Kriterien der Integrations- sowie Koordinations- beziehungsweise Kooperationsfähigkeit, liegt eine geringe Ausprägung vor. Dazu trägt die Notwendigkeit bei, dass der Mitarbeiter alle Informationen, die er vom Kunden erhält beziehungsweise alle Vereinbarungen, die er für den Prozess vornimmt, gesondert in ein weiteres System (zum Beispiel einen eCRM-System des Versicherers) manuell eingeben muss. Hierbei besteht, neben einer hohen Fehleranfälligkeit, auch ein großer Zeitbedarf für manuelle und redundante Übertragungstätigkeiten. Hinsichtlich der Kosten gehört das Telefonat zu den teuersten Kanälen, da es mit hohen
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Kosten für Personal und laufenden Betrieb verbunden ist. Die Kundenorientierung ist als mittelmäßig zu bewerten; dazu trägt vor allem die geringe Flexibilität bei, die darin besteht, dass telefonische Anfragen nur während der Geschäftszeiten möglich sind. Kanäle mit mittlerer Botschaftsinteraktivität: (4) Vertikales Internetportal Die Botschaftsinteraktivität richtet sich nach den Interaktionsmöglichkeiten. Internetportale können ihre Vorteile nur voll erreichen, wenn sie als umfassender integrierter Kommunikationskanal inklusive Vertragsabwicklung und auf den Kunden abgestimmte Informations- und Serviceangebote konzipiert sind. Oft werden vertikale Portale durch Chat oder Instant Messaging ergänzt, was ihre Interaktionsmöglichkeiten steigert. Beide Kommunikationsformen sind sehr beliebt, werden von Versicherungsunternehmen jedoch bisher kaum wahrgenommen. Portale benötigen allgemein zum Aufbau erhebliche Investitionen in die Technik und die Organisation, welche ungefähr vergleichbar sind mit denen eines Call-Centers. (5) Brief Die Botschaftsinteraktivität des Briefes ist als hoch zu bewerten, da er alle Möglichkeiten zur interaktiven Kommunikation, zur persönlichen Ansprache und zur Rückkanalfähigkeit besitzt. Der Kanal ist für jede Branche, aber nur bedingt als alleiniger Kommunikationskanal, geeignet. Die Integrationsfähigkeit von Briefen ist gering und macht manuelle, zeitaufwendige Übertragungen von Daten nötig. Desgleichen gilt auch für die Koordinations- und Kooperationsfähigkeit. Die Kosten fallen im Verhältnis relativ hoch aus; die Kundenorientierung ist durch Personalisierungsmöglichkeiten als hoch zu bezeichnen. Kanäle mit Botschaftspassivität: (6) Fernsehen Die Botschaftspassivität des Kommunikationskanals TV ist durch fehlende Botschaftsinaktivität als total einzustufen. Die Integrations-, Koordinations- und Kooperationsfähigkeit sind nur für die Informationsphase des Kommunikationsprozesses eingeschränkt möglich. Die Investitionskosten für TV-Spots sind im Vergleich hoch; auch die Kosten des laufenden Betriebes für Schaltzeiten in Fernsehsendungen sind hoch. Die Kundenorientierung ist als gering einzustufen, da es sich um anonyme Massenkommunikation handelt. Beim Multichannel-Management eignen sich die Kanäle nur für die Informationsphase und sind insofern um weitere zu ergänzen. Der Kanal Fernsehen und seine Subkanäle sind vom zweifachen Paradigmenwechsel in der Kundeneinstellung zu den Kanälen des klassischen Marketing betroffen; dieses ist beim Multichannel-Management zu berücksichtigen. (7) Print Auch Botschaftspassivität von Printmedien ist als total zu bewerten. Printkanäle haben generell fehlende Interaktions-, Integrations-, Koordinations- und Koopera-
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tionsfähigkeiten. Die Kosten fallen je nach Kanal unterschiedlich aus und müssen im Einzelnen geprüft werden. Die Kundenorientierung ist generell gering, da es sich um anonyme Massenkommunikation handelt. Alle Printkanäle sind vom zweifachen Paradigmenwechsel in der Kundeneinstellung zu den Kanälen des klassischen Marketing betroffen. Die daraus entstehenden Auswirkungen sind beim Multichannel-Management zu beachten. Insgesamt ist hinsichtlich der strategischen Ausrichtung des Kanalportfolios festzustellen, dass die Kanäle mit hoher Botschaftsinteraktivität auch gleichzeitig die teuersten Kanäle darstellen. Sie sollten daher nicht von allen Kundengruppen gleichermaßen genutzt werden. Kunden mit einem geringeren Kundenwert sollten mittels Marketing in günstigere Kanäle „umgeleitet“ werden. Von den Kanälen mit hoher Botschaftsinteraktivität und hohen Kosten ist nur der POS und der Außendienst für alle Kommunikationsphasen des Kundenkommunikationsprozesses (Akquisitions-, Transaktions- und Servicephase) geeignet. Die anderen Kanäle sind nur phasenspezifisch einsetzbar und müssen durch andere Kanäle ergänzt werden. Bei den Kanälen mit mittlerer Botschaftsinteraktivität werden die Möglichkeiten vertikaler Internetportale von Versicherungsunternehmen oft nicht voll ausgenutzt. Portale sind zwar mit hohen Investitionskosten belastet, haben aber geringere laufende Kosten und eignen sich daher für Kunden mit mittlerem und niedrigem Kundenwert. Sie bieten sich für standardisierte Produktangebote ohne persönliche Beratung an. Der Brief ist ein traditioneller Kommunikationskanal, er eignet sich zwar für alle Kommunikationsphasen und ist auch als alleiniger Kanal einsetzbar, ist aber sehr langsam und die Daten sind kaum integrierbar. Dieser Kanal sollte nur bei bestimmten Produkten und Kunden eingesetzt werden. Die Kanäle mit Botschaftspassivität eignen sich nur für die Akquisitionsphase, sie sind sehr kostenintensiv und nur zielgruppengenau und sehr selektiv einzusetzen, da sie vom zweifachen Paradigmenwechsel betroffen sind. Bei zu häufigem Einsatz besteht die Gefahr der Erhöhung von Reaktanz bei den Kunden. 4.1.5 Problembereiche beim Multichannel-Management in der Versicherungsbranche Einen wesentlichen Problembereich beim Multichannel-Management in der Versicherungsbranche ist die Beschränkung auf den fast ausschließlich indirekten Vertrieb standardisierter Produkte für einen Massenmarkt und der weitgehende Verzicht auf Direktmarketing durch die Mutterunternehmen (Ausnahme: Direktmarketing über Tochtergesellschaften). Die Individualisierung stellt jedoch einen wesentlichen Einflussfaktor auf das Kundenverhalten dar und immer mehr Kunden sind nicht mehr zufrieden mit hoch standardisierten Produkten, die für den Massenmarkt konzipiert sind. Sie suchen individuell gestaltbare Produkte, die auf ihre Bedürfnisse konfigurierbar sind. Die lediglich marginalen Möglichkeiten, die sich bei Versicherungsunternehmen für sie bieten, versprechen zu wenig Individualität bei der Produktgestaltung. Ein weiterer Problembereich stellt das Anreizsystem auf Basis von Provisionen dar, mit dem in verschiedenen Ausgestaltungen nahezu alle Mitarbeiter im Ver-
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trieb von Versicherungsunternehmen arbeiten. Die Neukundengewinnung wird durch ein unterschiedliches Provisionssystem gefördert, das Versicherungsagenturen von Außendienstmitarbeitern differenziert. Provisionszahlungen sind kanalbezogen, was zwangsläufig zu Konkurrenzen zwischen den offline-Kanälen und zum online-Kanal führt. Diskrepanzen und Probleme, die auf eine Abschottung des eigenen Kanals hinauslaufen, sind die Folge (vgl. Emrich 2008; Emrich 2009). Dabei wird mit großem Aktionismus versucht, in den Kanälen mit vielen speziellen Produkten/ Leistungen präsent zu sein. Das spezielle Provisionssystem wird pro Auftrag abgerechnet. Es führt zu Kanalproblemen und Konkurrenzdenken, zum Beispiel mit den angrenzenden Agenturen oder den Internetkanälen. Probleme entstehen auch durch die fehlende Integration von Außendienstmitarbeitern. Fehlt die Internetverbindung zum Hersteller oder zu den anderen Kanälen, fällt die Nutzbarkeit der Informationen von den Kunden weg. Die Integration von Außendienstmitarbeitern ist von ihnen selbst zumeist auch nicht gewollt, da sie die Informationen der Kunden als eigenes Betriebskapital betrachten. Die Isolierung führt auch zu Ineffizienzen bei der Weiterverarbeitung der Aufträge im Mutterunternehmen, die oft kostenintensiv manuell in das IuK-System des Herstellers eingepflegt und überprüft werden müssen. Die generelle Schwierigkeit beim Multichannel-Management in der Versicherungsbranche besteht darin, dass eine integrierte Multichannel-MarketingStrategie, verbunden mit einer IS-Architektur, die Echtzeit in der Integration zum Mutterunternehmen erlaubt, nicht vorliegt und die bisher vorherrschende Strategie in der Branche eine Integration auch nicht unbedingt vorsieht. Vertriebssteuerung und die Vertriebsziele sind vertikal innerhalb der Kanäle aufgestellt und das Augenmerk liegt auf der Ausweitung von Marktanteilen mit einem Verdrängungswettbewerb durch das Neukundengeschäft. Die Kanäle werden unverbunden nebeneinander her eingesetzt (Multiple-Channel-Retailing-Strategie), wobei jeder Kanal eigene Zielvorgaben hat und der Erfolg eines Kanals auch auf Kosten anderer Kanäle erfolgen kann. Die Vielfalt von Provisionssystemen in der Versicherungsbranche zementiert die Konkurrenzsituation im eigenen Unternehmen. Das führt fast zwangsläufig zu Kanal-Problemen und Kundenunzufriedenheiten. Ein ganzheitliches Multichannel-Management führt in der Versicherungsbranche zu einem Paradigmenwechsel. Dazu ist jedoch ein grundlegendes Umdenken in der Geschäftsführung, ebenso wie bei den Vertriebsverantwortlichen und den Mitarbeitern vonnöten. 4.1.6 Praxisbeispiel: Multiple-Channel-Retailing-Strategie Preisdifferenzierung im Multichannel-System bei HUK-COBURG (vgl. Emrich 2005). Das Unternehmen HUK-COBURG Versicherungsgruppe vertreibt ihr immaterielles Gut „Versicherungen“ in traditioneller Weise durch ein MultichannelSystem. Neben der Filiale wird über selbständige unternehmensgebundene Vertreter beziehungsweise Makler und T-Commerce (Call-Center) vertrieben. Für spezielle Dienste im Schadenfall existieren neben dem T-Commerce auch zusätzliche Schadenbüros. Durch die Deregulierung, die zunehmende Bedeutung des E-
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Commerce und die Möglichkeit für Kunden, unabhängig vom jeweiligen Berater zu agieren, ergaben sich erhebliche Auswirkungen auf das traditionelle Multichannel-System. Unter der Dachmarke des Stammhauses HUK-COBURG wurde eine Tochtergesellschaft mit der Marke HUK24 etabliert und damit parallel ein reiner InternetVersicherer platziert, der in Ansprache und Vertragsabschluss auf einen Kanal beschränkt ist. Für den Kunden ist ein Versicherungsabschluss oder -anpassung nur online möglich. Durch die Komplexitätsreduktion und Einschränkung auf weniger beratungsintensive Leistungen (zum Beispiel Kraftfahrzeug-, Rechtsschutzversicherung etc.) und den Verzicht auf persönliche Beratung erhält der Kunde einen Preisvorteil von ca. 20% gegenüber vergleichbaren Produkten des Konzerns, ohne auf die gewohnte Qualität eines HUK-COBURG Versicherungsschutzes verzichten zu müssen. Die Separierung des Kanals gilt nur für den Versicherungsabschluss, der Schadensfall wird integriert abgewickelt und dem Kunden stehen, nur wenn dieser Fall eintritt, alle Service-Kanäle des Konzerns zur Verfügung. Der Vorteil im Hinblick auf einen neuen Channel als Marke könnte bei einer derartigen Strategie in der Nutzung der Bekanntheit und Qualität der etablierten Marke zur Vertrauensgewinnung bei den Kunden liegen. Er könnte auch in der bewussten Differenzierung für eine Zielgruppe von Klienten liegen, die, wie im Beispiel gezeigt, mit dem Internet vertraut ist und das Preis/Leistungspotential ausreizen möchte. Den Unternehmen könnte sich somit die Möglichkeit einer eigenen, vom Kerngeschäft (teil)ausgelagerten Ressource bieten. Der wesentliche Nachteil könnte in einer ineffektiven Steuerung/ strategischen Ausrichtung sowie einer schlechten Konfiguration zu sehen sein. Diese würden bei der Etablierung einer neuen Marke schnell das Aus bedeuten. Auch mangelnde Kundenverhaltensorientierung würde sich nachteilig auswirken, da das Konzept an den Bedürfnissen der Kundengruppe ausgerichtet sein muss. Als weiterer Nachteil könnte sich auswirken, dass der Kunde eine Beschränkung des Angebotes auf einen Kanal wahrnimmt und sich eingeschränkt fühlt.
4.2
Resümee
Die Ausführungen haben gezeigt, dass die strategische Unternehmensführung bei Versicherungsunternehmen noch immer stark produktorientiert und weniger kundenorientiert ausgerichtet ist. Insofern ist sie noch nicht im Informationszeitalter des 21. Jahrhunderts angekommen. Chancen, die sich aus der Liberalisierung ergeben, werden bisher kaum genutzt. So werden nach wie vor hochstandardisierte Produkte für einen Massenmarkt konzipiert, wobei lediglich marginale Preisdifferenzierungen nach der Liberalisierung im Bereich Finanzdienstleistungen, vor allem produktzentriert, angeboten werden. Auch hier fehlt die Kundenorientierung weitgehend. Dazu trägt auch das bereits zu Regulierungszeiten etablierte Absatzund Provisionssystem bei, das weiter unverändert im Einsatz ist und das Denken,
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die Zielvereinbarungen sowie die Abläufe in Versicherungsunternehmen „zementiert“. Unternehmensstrategisch ist relativ häufig die Multiple-Channel-RetailingStrategie zu finden, die jedoch mit einer Vielzahl von Ineffizienzen verbunden ist, die Kanalprobleme geradezu fördern und zu Kundenunzufriedenheiten führen. Das analysierte Kanalportfolio, das in den meisten Versicherungsunternehmen etabliert ist, wirkt wenig innovativ und weist zahlreiche Schwächen und Ineffizienzen auf, da es oft auf der Multiple-Channel-Retailing-Strategie basiert. Es müsste dringend strategisch an Kundenanforderungen angepasst werden. Der Einsatz der ganzheitlichen Multichannel-Marketing-Strategie als Unternehmensführungskonzept würde in der Versicherungsbranche zu einem Paradigmenwechsel führen, da die Strategie mit zahlreichen Veränderungen und fundamentalem Anpassungsbedarf verbunden ist. Die Erfolgschancen sind allerdings ungleich höher, als das mit einer Multiple-Channel-Retailing-Strategie je erreichbar ist. Alles in Allem ist zu konstatieren, dass Beharrungskräfte, die sich in Zeiten der Regulierung über lange Zeit in den Köpfen der Mitarbeiter, der Unternehmensführung und der Organisation von Versicherungsunternehmen festgesetzt haben, oft viel stärker wirken, als es den Beteiligten selbst bewusst ist.
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Dr. Christin Emrich
Rosenbaum/ Wagner: Versicherungsbetriebslehre, 3. Aufl., Karlsruhe 2006. Scheier, C./Held, D.: Wie Werbung wirkt, Erkenntnisse des Neuromarketing, Planegg 2007. Wirtz, B.: Multi Channel-Marketing, Grundlagen, Instrumente Prozesse, Wiesbaden 2007 Wu, S./Keysar, B.: The Effect of Culture on Perspective Talking, in: Psychological Science, 18, 7, 2007, S. 600-606. ZAW Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft (Hrsg): Werbung in Deutschland, Bonn 2006.
Kapitel 10 Strategieentwicklung Dr. Michael Reich/Tim Braasch
1
Ausgangssituation
Die Strategiediskussion, insbesondere in den Versicherungsunternehmen, bekommt zusehends ein höheres Gewicht. Dieses ist aus heutiger Sicht verständlich, da gerade die Versicherer in der Vergangenheit vielfach das Kerngeschäft aus ihrem Fokus verloren hatten, um sich im Schwerpunkt auf die Kapitalanlagepolitik zu konzentrieren. Erst mit der Wirtschaftkrise im Rahmen des Einbruches der „New Economy“ haben die Versicherer wieder verstärkt auf den Ausbau ihres Kerngeschäfts konzentriert. Nachfolgend sollen auf Basis der Erkenntnisse anderer Branchen wesentliche Erfolgshebel im Rahmen der Strategiediskussion für Versicherer herauskristallisiert werden.
1.1
Strategien erfolgreicher Unternehmen – die Hidden Champions
Es gibt eine Reihe von Unternehmen, die in ihrem Markt weltweit führend sind: Die Firma Hauni zum Beispiel ist Weltmarktführer für Zigarrettenmaschinen und weltweit der einzige Lieferant kompletter Systeme zur Tabakverarbeitung. Der Weltmarktanteil beträgt ca. 90%. Die Firma Baader zum Beispiel hat einen Anteil von 90% am Weltmarkt für Fischverarbeitungsmaschinen. Herman Simon führte eine Studie durch, die die Erfolgsfaktoren der „heimlichen“ Weltmarktführer (Hidden Champions) untersuchte. Er analysierte dafür 500 Unternehmen weltweit und fand dabei eine Reihe von Gemeinsamkeiten, die als Ursache des Erfolges angesehen werden können: 1. Ziele und Visionen: Für die meisten Hidden Champions bildet das Ziel, Marktführer zu werden, idealerweise sogar Weltmarktführer, den Anfang und die Grundlage des Erfolges. Die Drägerwerke, weltweit führend auf dem Gebiet des Atemschutzes, formulieren aggressiv: „Wir wollen vorne bleiben! Wir haben stets Spitzenplätze angestrebt und besetzt“. 2. Klare Marktdefinition: Die Hidden Champions definieren ihre Märkte eng und bearbeiten diese Märkte mit hoher Fokussierung. Dabei werden sowohl Kundenbedürfnisse als auch Produkt- und Technologieaspekte berücksichM.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing, DOI 10.1007/978-3-642-10276-9_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
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3.
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5.
6.
7.
Dr. Michael Reich/Tim Braasch
tigt. Eine interessante Beobachtung bestand darin, dass Hidden Champions in ihrer Marktbearbeitung eher tief als breit sind. Globalisierung: Die enge Marktfokussierung beinhaltet die Gefahr, dass der betreffende Markt zu klein wird. Dieser „Nischengefahr“ wirken die Hidden Champions entgegen, indem sie den Markt in regionaler Hinsicht versuchen auszudehnen. Kundennähe: Die Beziehung der Hidden Champions zu ihren Kunden sind sehr eng, unabhängig davon, wo die Kunden regional oder auch überregional angesiedelt sind. Ein wichtiges Merkmal der Beziehung ist dabei die gegenseitige Abhängigkeit; häufig findet hier schon der Übergang in eine langjährige Partnerschaft statt. Innovation: Weltmarktführer wird und bleibt man nicht, indem man andere imitiert oder Me-too-Produkte liefert. Eines der Fundamente, auf dem die Weltmarktführerschaft der Hidden Champions begründet ist, ist eine extrem hohe Innovationskraft. Wettbewerbsvorteile: Die Wettbewerbsstrategie erfolgreicher Unternehmen zielt häufig eher auf Differenzierung als auf Kostenvorteile ab. Die Hidden Champions besitzen vielfach klare Wettbewerbsvorteile, vor allem in den Bereichen Produktqualität und Service. Mitarbeiter: Die Personalpolitik der Hidden Champions ist dadurch gekennzeichnet, dass deren Mitarbeiter schon zu Beginn eines Arbeitsverhältnisses scharf selektiert werden und entsprechend ihres Skillsets in den entsprechenden Aufgabenstellungen eingesetzt werden. Insbesondere etwa 67rockwell Consulting stellt hier in durchgeführten Projekten der Versicherungsbranche häufig Schwachstellen gerade in den tradierten Rekruitingprozessen fest.
Nachdem die wesentlichen Erfolgshebel im Rahmen von Strategieentwicklungen herausgearbeitet werden konnten, gilt es im Weiteren, die inhaltliche Auseinandersetzung mit der strategischen Planung in Versicherungsunternehmen zu verdichten.
1.2
Strategische Planungen in Versicherungen
Die strategische Planung als Management-Instrument rangiert bei Umfragen ganz weit vorn. Sieht man jedoch genauer hin, zeigt sich die „Strategische Planung in der Klemme“, wie Alexander Huber erkannte. Der Berliner Professor untersuchte in einer empirischen Studie über 100 deutsche Unternehmen zum Thema „Strategische Planung“. Das Ergebnis: „Betrachtet man … den konkreten Einsatz [der strategischen Planung; der Verf.] in der Praxis muss man einen deutlichen Widerspruch zwischen angeblicher Relevanz und tatsächlicher Reife konstatieren … Über 90 Prozent der befragten Manager wünschen sich eine Strategische Planung als das zentrale Element der Unternehmensführung. Gleichzeitig wird sie aber von nur etwas über der Hälfte tatsächlich eingesetzt und lediglich acht Prozent geben an, dass in ihrem Unternehmen eine eindeutige Strategie vorliegt. … Die meisten Unternehmen schätzen sich glücklich, wenn sie einen wirklich gelebten Ansatz verwirklichen konnten, der tatsächlich zur Umsetzung von Strategien führt, wie
10 Strategieentwicklung
185
pragmatisch er auch immer sein mag“ (Huber 2006. S. 6). Daneben zeigt eine weitere Studie (Basis: 2400 deutsche Unternehmen der verarbeitenden Industrie) über den möglichen Nutzen einer strategischen Planung folgende Ergebnisse: • Unternehmen mit strategischer Planung, konnten ihren Cash Flow um 44% steigern, Unternehmen ohne strategische Planung hingegen nur um 18%. • Die Steigerung der Umsatzrate lag bei Unternehmen mit strategischer Planung bei 62% und damit doppelt so hoch wie bei Unternehmen ohne strategische Planung, nämlich 29%. An dieser Stelle könnte natürlich das Versicherungsunternehmen die Sichtweise einnehmen, dass kurzfristige tiefgreifende Veränderungen im Versicherungsmarkt nicht möglich sind und deshalb der Nutzen derartiger Planungen in der Assekuranz anders zu bewerten ist. Einerseits schlagen sich die Bestandsstrukturen in der Assekuranz langfristiger um, als es beispielsweise in der verarbeitenden Industrie möglich ist. Andererseits lässt sich vermuten, dass die kontinuierlich anfallenden Kapitalerträge, schwache versicherungstechnische Ergebnisse kompensieren. Diese Sichtweise muss hier hinterfragt werden, da gerade der langfristige Charakter der Bestände in Sparten und Kapitalanlagen vor dem Hintergrund gravierender Einbrüche neu zu diskutieren ist. Die Qualität von Entscheidungen, die angesichts struktureller Veränderungen, wie zum Beispiel Einbruch im Wirtschaftswachstum, verstärkter Verdrängungswettbewerb, veränderte Vertriebsstrukturen etc., getroffen werden, lässt sich vielfach erst sehr viel später in seinen Wirkungen beurteilen. Daraus lässt sich ableiten, dass je längerfristig ein Unternehmen in seiner Geschäftstätigkeit orientiert ist, umso langfristiger muss es auch in seinen Marktoperationen und in seinem innerbetrieblichen Verhalten orientiert sein, da sich der Handlungsspielraum für ein kurzfristiges Gegensteuern verkürzt. Deshalb stellt sich die Forderung nach der Entwicklung langfristiger Strategien und damit verbundenen Planungssystemen für die Assekuranz besonders eindringlich.
2
Strategische Analysen
Nachdem im vorhergehenden Abschnitt die Notwendigkeit von Strategieentwicklungsprozessen im Zusammenhang mit strategischen Planungen für Versicherungen beleuchtet wurde, soll nun das methodische und inhaltliche Vorgehen in derartigen Strategienentwicklungsprozessen vorgestellt werden. Dabei wird im Wesentlichen auf Projekte referenziert, die 67rockwell Consulting in diesem Umfeld durchgeführt hat.
2.1
Ausgangssituation
Bei dem nachfolgend skizzierten Beispiel handelt es sich um einen Lebensversicherer, der sich auf Basis von Zielvorgaben der Konzernmutter strategisch neu
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Dr. Michael Reich/Tim Braasch
positionieren musste. Im Rahmen eines Strategieentwicklungsprozesses sollte ein strategisches Programm erarbeitet werden. Die Konzernmutter erwartete nach Integration eine signifikante Wertsteigerung des Unternehmens, was sich in den Kernsteuergrößen und den damit verbundenen indikativen Zielsetzungen zeigte. Die Kernsteuergrößen waren: 1. MCEV: Der MCEV ist eine Methode zur Unternehmensbewertung und entspricht dem Barwert der zukünftigen Erträge des Bestandes ohne Berücksichtigung von zukünftigem Neugeschäft. Die Entwicklung der Kapitalanlagen wird durch ein stochastisches Kapitalmarktmodell simuliert, und an Hand von hinterlegten Managementregeln wird im Modell die Steuerung des Unternehmens, insbesondere zum Beispiel von Kapitalanlage, Jahresüberschuss und Gewinnbeteiligung für den Kunden abgebildet. In Entsprechung zu diesen Handlungsmöglichkeiten des Managements werden auch solche der Versicherungsnehmer (geändertes Stornoverhalten) dynamisch modelliert. Die Berechnungen basieren auf arbitragefreien Kapitalmarktannahmen und berücksichtigen auch die Bewertung von Garantien und Optionen zugunsten der Versicherungsnehmer. Eine Vielzahl von Prämissen, die realistischen Annahmen (best estimate Ansatz) entsprechen, sind wesentliche Grundlage der Berechnungen (Kirchner 1984, S. 320ff.). 2. Risikobudget: Festlegung des zur Verfügung stehenden Risikokapitals. 3. Dividende: Messung des ausgeschütteten Gewinns. In einem ersten Schritt wurden die Zielindikatoren der Kernsteuergrößen auf die aktuelle Business Planung des Unternehmens angewandt. Dabei zeigte sich eine signifikante strategische Lücke sowohl beim MCEV als auch bei der Dividende. Die Gegenüberstellung von Risiken und vorhandenen Sicherheitsmitteln zeigte dagegen eine positive Entwicklung für den Lebensversicherer. Die Orientierung an den wertortienierten Kernsteuergrößen des Konzerns erfordert, dass sich die strategischen Analysen, anders als bei anderen strategischen Fragestellungen, auf die Bereiche Wachstum des Neugeschäftes, der operativen Excellence sowie der Kapitalanlageperformance fokussieren.
2.2
Wachstum des Neugeschäftes
In einem ersten Analyseschritt wurde der Gesamtmarkt für Lebensversicherungen in Deutschland analysiert und dabei unterschiedliche Szenarien durchgespielt. Ein optimistisches Szenario wurde gemäß einer Branchenanalyse des Gesamtverbands angelegt, welches auf Basis des bestehenden Altersvorsorgebedarfs in Deutschland von einem Wachstum von 6% p.a. ausgeht (vgl. Abb.10.1). Im pessimistischen Szeanrio wurde von einer verhaltenen Konjunkturentwicklung, einem zurückhaltenderen Vorsorgeverhalten der deutschen Bevölkerung sowie von Beeinträchtigungen der Vertriebstätigkeit durch EU-Vermittlerrichtlinie und Verbraucherschutz ausgegangen. Zu dem muss bei Prognosen zur Beitragsentwicklungen natürlich auch immer die individuelle Situation des jeweiligen Le-
10 Strategieentwicklung
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bensversicherers beachtet werden: laufen demnächst überproportional Bestände aus wachstumsstarken Jahrgängen ab, die durch Neugeschäft kompensiert werden müssen?
Quelle: GdV 2008
Abb. 10.1: Entwicklung Gesamtmarkt Lebensversicherung Deutschland
Einen weiteren Analyseschwerpunkt bildete der Vertriebswegemix. Die Ergebnisse zeigten, dass sich nach Jahren stärkerer Verschiebungen innerhalb des Prognosezeitraums mit hoher Wahrscheinlichkeit keine signifikanten Verschiebungen im Gesamtmarkt ergeben werden. Insofern konnten positive oder negative Effekte aus dem gegebenen Vertriebswegemix des Lebensversicherers ausgeschlossen werden (Status Quo). Im Rahmen der Strategiediskussion zum deutschen Markt waren daher zwei Stoßrichtungen zu bewerten: 1. Gewinnung von Marktanteilen in angestammten Vertriebswegen über Verdrängungswettbewerb 2. Aufbau von Vertriebsaktivitäten in bisher nicht aktiv bearbeiteten Vertriebswegen und Zielgruppen Vor dem Hintergrund des begrenzten Marktwachstums in Deutschland stellt sich die Frage nach Wachstumschancen im Ausland. Um ein möglichst vollständiges Bild zu erstellen, wurden Marktpotenziale und –durchdringung für Auslandsmärkte ermittelt. Dabei konnte festgestellt werden, dass insbesondere die Märkte in „New Europe“ hohe Wachstumspotenziale boten. Die nachfolgende Abbildung veranschaulicht mögliche Wachstumfelder in „New Europe“ (vgl. Abb. 10.2).
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Quelle: 67rockwell Consulting 2008, in Anlehnung: Dresdner Bank, Swiss Re Sigma, Deutsche Bank
Abb. 10.2: Marktkapazität und -durchdringung
Nach Abschluss der Analysen zu den Wachstumsmöglichkeiten im Rahmen des Neugeschäftes konnten Handlungsbedarfe identifiziert und somit erste strategische Stoßrichtungen formuliert werden:
1. Erhöhung der Marktdurchdringung in Deutschland durch Effizienzsteigerung im Vertrieb 2. Optimierung des Produktportfolios und des Produktentwicklungsprozesses 3. Überproportionales Wachstum im Ausland.
2.3
Operative Exzellenz
Bevor dem systematischen Vorgehen weiter folgend, die Bereiche im Umfeld des Konstruktes „Operative Exzellenz“ analysiert werden sollen, gilt es hinsichtlich der weitläufigen Begrifflichkeit, hier die Sichtweise weiter zu schärfen.
Operative Exzellenz ist für alle Unternehmen ein wichtiger Faktor: Sie ist der „heilige Gral“ der langfristigen Wertschöpfung und ermöglicht strategische Differenzierungsansätze sowie Antworten auf Fragen nach Effizienz, Kosten und Rentabilität. Unternehmen mit funktionalen Strategien und der Bereitschaft, Bereitschaft, auch schwierige Verbesserungen ihrer Geschäftsprozesse durchzusetzen, sind häufig die "Klassenbesten". Es gibt drei Ebenen operativer Exzellenz. Auf der ersten Ebene geht es um Strategie: Hier erfahren Unternehmen, wie sie ihren eigenen Weg zu Best Practices finden und welche Meilensteine sie mittel- und langfristig ansteuern sollten. Die zweite Ebene befasst sich mit Performance-Verbesserung. Hier gibt es
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189
Antworten auf folgende Fragen: Auf welchem Niveau müssen sich die Dienstleistungen meines Unternehmens bewegen, um Wettbewerbsfähigkeit und Marktführerschaft zu gewährleisten? Mit welchen Asset Productivity-Anforde-rungen muss mein Unternehmen rechnen und wo sollte die Obergrenze für unsere verschiedenen Kostenarten liegen? Die dritte Ebene betrifft die Enabler: die ideale Organisationsform, Best Processes, die geeignetsten Mitarbeiter und Key Performance Indicators sowie Infrastruktur-Exzellenz-Bereiche wie IT (vgl. Schmidt 1997, S. 564). Nachdem der Blick auf die Begrifflichkeit der „Operativen Exzellenz“ erweitert werden konnte, soll nun, dem Vorgehen weiter folgend, dargestellt werden, welche Hebel insbesondere für einen Lebensversicherer, wie oben beschrieben, zur Verbesserung der Operativen Exzellenz nutzbar sind. In der betrieblichen Praxis unterscheidet man in der Versicherung zwischen Verwaltungs- und Abschlusskosten. Zu den Verwaltungskosten gehören im Wesentlichen sämtliche Personal- und Sachkosten der laufenden Vertragsverwaltung (Verwaltungskosten im engeren Sinne) sowie anteilig zugerechnete Kosten der unterstützenden Funktionen und der IT, aber auch Bestandsprovisionen. Unter Abschlusskosten dagegen subsumiert man die Kosten, die anlässlich des Abschlusses neuer Versicherungsverträge entstehen. Dies sind in erster Linie Abschlussvergütungen für das produzierte Neugeschäft und die fixen Kosten der Vertriebsstruktur, aber auch Kosten der Produktentwicklung und der Antragsbearbeitung sowie anteilige Kosten der unterstützenden Funktionen und der IT. Der weiteren Analyse folgend, wurden bei dem oben skizzierten Lebensversicherer zunächst sowohl die Verwaltungs- als auch die Abschlusskosten mit denen der direkten Wettbewerber verglichen. Dabei zeigte sich, dass sich die Verwaltungskosten auf Marktniveau bewegten. Im Vergleich der Abschlusskosten mit dem Wettbewerb bewegten sich diese deutlich oberhalb des Wettbewerbes, entsprechend existierte hier ein akuter Handlungsbedarf. Um den Handlungsbedarf weiter zu konkretisieren, wurden die Abschlusskosten in die einzelnen Kostenblöcke zerlegt und mit ersten Indikationen für mögliche Einsparungen und Maßnahmen versehen. Ansatzpunkte waren: • • • •
Limitierung der Vergütungssätze der Vertriebspartner Stärkere Variabilisierung der Vergütung im angestellten Vertrieb Optimierungen im Produktenwicklungsprozess Effizienzsteigerung in der Antragsbearbeitung
Auch zu den Verwaltungskosten wurden Ansätze zur Effizienzsteigerung im Bereich Prozessoptimierung und IT-Kostenmanagement definiert. Alle Ansätze wurden zu strategischen Stoßrichtungen zusammengefasst: 4. Reduktion der Abschlusskosten 5. Reduktion der Verwaltungskosten 6. Reduktion der IT-Kosten
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Dr. Michael Reich/Tim Braasch
2.4
Kapitalanlage
Als drittes relevantes Analysefeld wurde die Kapitalanlage des Lebensversicherers identifiziert. Zum weiteren Verständnis des komplexen Themenbereiches der Kapitalanlagen, insbesondere bei Lebensversicherern, soll zunächst das Konstrukt des Asset-Managements weiter vertieft werden. Das Asset-Management ist verantwortlich für die professionelle, selbstständige, dauerhafte und zielorientierte Verwaltung definierter Finanzvermögen von Mandanten auf Grund eines Vollmachtvertrages. Die Wertschöpfungskette im AssetManagement umfasst die Analyse von Anlageobjekten, den Anlagenentscheid und folgend den eigentlichen Geschäftsabschluss mit der Gegenpartei (Frontoffice). Weiter gehören Funktionen des Middle Office (Risiko-Controlling, Performance Messung, Compliance) und des Wertschriften-Accounting dazu. Schließlich werden im Anlageprozess Aufgaben wie die Abwicklung und Verbuchung (Backoffice), das Settlement und die Verwahrung (Custody) wahrgenommen (vgl. Brück 2005, S.161). Die Krise an den Kapitalmärkten hat in der gesamten Versicherungsbranche zu (Buch)Verlusten geführt, verbunden mit einer entsprechenden Reduktion des Eigenkapitals, einer verminderten Solvabilität und einer geringen Überdeckung der Sondervermögen. Die Aufsichtsbehörden wahren die Interessen der Versicherten und überprüfen deren Schutz sowohl bei Abschluss und während der Laufzeit eines Vertrages (Missbrauch durch Versicherungsanbieter) als auch bei der Vertragserfüllung (Insolvenz von Versicherungsanbietern) (vgl. Brück 2005, S.162). Nachdem der Begriff des Asset Management im Grundverständnis geschärft werden konnte, soll im nächsten Schritt, die Analyse der Kapitalanlagen weiter vertieft werden. Dafür wurden Wettbewerbsvergleiche durchgeführt. Um die Kapitalanlageperformance zu messen, wurde die Nettorendite (2006) am Kapitalmarkt verglichen mit der Peer-Group, dem Marktanspruchsniveau sowie den Top 5 des Marktes. Die Peer-Group ist die direkte Vergleichsgruppe, während die Top 5 die Klassenbesten im strategischen Vergleich sind (vgl. Abb. 10.3). Im Vergleich zum Marktanspruchsniveau zeigte sich eine signifikante Differenz in der Nettorendite. Insbesondere verdeutlicht dieser strategische Benchmark, dass der Hebel in der Kapitalanlagepolitik eines Versicherers zu enormen zusätzlichen Einnahmen führen kann. Hier ergaben sich folgende Handlungsbedarfe, die entsprechend des bisherigen Vorgehens zu strategischen Stoßrichtungen formuliert wurden: 7. 8.
Optimierung der Kapitalanlageperformance und Reduktion der Verwaltungskosten für die Kapitalanlageperformance.
10 Strategieentwicklung
Nettomehrertrag aus Kapitalanlagen
Y X
NETTORENDITE 2006
191
Client
Peer-Group
Markt
Anspruch
TOP 5
4,4%
4,7%
4,8%
4,8%
5,7%
Quelle: 67rockwell Consulting 2008
Abb. 10.3: Beispieldarstellung Nettoertrag aus Kapitalanlagen
3
Ableitung eines strategischen Programmes
Grundsätzlich geht es bei der strategischen Programmplanung darum, die praktische Umsetzung der analytisch gewonnenen Handlungsorientierung planerisch vorzubereiten. Dabei geht es nicht um eine vollständige planerische Durchdringung des Aktionsfeldes, sondern darum Maßnahmen zu konkretisieren, die für die Umsetzung und den Erfolg der festgelegten Unternehmensstrategie erfolgskritisch erscheinen (vgl. Koschnik 2003, S. 597). Die Ergebnisse der oben ausführlich dargestellten strategischen Analysen in den Bereichen „Wachstum des Neugeschäftes“, „Operative Exzellenz“ sowie „Kapitalanlagenperformance“ sollen, dem systematischen Vorgehen weiter folgend, in einem Programm münden. In einem nächsten Schritt wurden die abgeleiteten strategischen Stoßrichtungen in konkrete und umsetzbare Initiativen formuliert: 1. Erhöhung der Marktdurchdringung in Deutschland durch Effizienzsteigerung im Vertrieb 2. Optimierung des Produktportfolios und des Produktentwicklungsprozesses. 3. Überproportionales Wachstum im Ausland. 4. Reduktion der Abschlusskosten. 5. Reduktion der Verwaltungskosten. 6. Reduktion der IT-Kosten. 7. Optimierung der Kapitalanlageperformance. 8. Reduktion der Verwaltungskosten für die Kapitalanlageperformance. Um eine Einschätzung zu erhalten, welches Potenzial aus den einzelnen Initiativen zu erwarten ist, wurden diese durch Experten hinsichtlich ihrer Auswirkung auf
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die strategischen Zielsetzungen und der Dauer bis zu ihrer Wirkung grob abgeschätzt und in einer Portfoliomatrix abgetragen. Hohe Potenzialerwartungen in Wirkung und Zeithorizont ergaben sich insbesondere bei der Initiative „Überproportionales Wachstum in ausgewählten internationalen Märkten“. Ausgehend von einem Internationalisierungskonzept, sollten hier mittelfristig die oben diskutierten Märkte „New Europe“ erschlossen werden. Desweiteren wurden mit einem mittleren Zeithorizont, aber einer hohen Wirkung die Initiative „Reduktion der Abschlusskosten“ eingeschätzt. Dabei handelt es sich zunächst um kurzfristig realisierbare Kostensenkungen in den Bereichen Antragsbearbeitung und Produktentwickllungsaufwände. Die nachfolgende Abbildung stellt beispielhaft den Zusammenhang zwischen Handlungsfeldern und Initiativen dar (vgl. Abb. 10.4).
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 10.4: Beispielhafte Darstellung des Zusammenhanges von Handlungsfeldern und Initiativen
4
Zusammenfassung
Im Rahmen dieses Beitrages wurde, ausgehend von der Diskussion, inwieweit strategisch orientierte Unternehmen erfolgreicher sind als andere und welches die Hebel sind, die Transformation auf die Versicherungsbranche hergestellt. Hier konnte nachvollziehbar herauskristallisiert werden, dass sowohl die Strategieentwicklung als auch die anschließende Strategische Planung fundamental für die Unternehmensführung von Versicherungsunternehmen ist. Anhand eines Praxisbeispieles konnte gezeigt werden, welches die wesentlichen Voraussetzungen der
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193
strategischen Programmplanung sind und wie sich über gezielte strategische Analysen ein strategisches Programm für einen Versicherer herleiten lässt. Der Schwerpunkt dieses Fachbeitrages fokussiert auf die Entwicklung eines Strategischen Programmes.
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Dr. Michael Reich/Tim Braasch
Literatur Ahlstrand B./Lampel J./Mintzberg, H.:„Strategy Safari. Eine Reise durch die Wildnis des strategischen Managements.“ Redline Wirtschaftsverlag, 2007. Brück, M.: Asset-Management und neue aufsichtsrechtliche Standards für die Lebensversicherung, in: Versicherungen im Umbruch, Heidelberg 2005. Huber, A.: Strategische Planung in deutschen Unternehmen. Empirische Untersuchung von über 100 Unternehmen, Berlin 2006. Kirchner, W.: Aufbau und Ablauf eines Systems der operativen Planungsrechnung in Versicherungsunternehmen, Heidelberg 1984. Koschnik, W.J.: Management, München 2003. Mintzberg, H.: „Strategische Planung“, Hanser Fachbuch, München 1995. http://www.presseportal.de/pm/32053/1243076/roland_berger_strategy_consultans
Kapitel 11 Strategische Umsetzungsprogramme von Wachstums- und Kosteninitiativen Dr. Michael Reich/Tim Braasch/Thorsten Schramm
1
Turbulenzen der Branche
„Eine ganze Branche ist in Aufruhr. Deutschlands Versicherungen … kämpfen mit unzufriedenen Kunden, ihre Sympathiewerte fallen in den Keller. Die Vertreter gehen auf die Barrikaden und fürchten um ihre Provisionen. Verbraucherschützer kritisieren viele Policen als „Abzockerei“, an der die Versicherung, aber nicht der Kunde verdient. Die Politik erhöht über neue Gesetze den Druck, die internationale Finanzkrise verhagelt den Versicherungen die Bilanz. Gleichzeitig müssen sie den Umbau ihrer über jahrzehntelang wie bei Behörden gewucherten Organisationen vorantreiben.“ So dramatisch sah das Wirtschaftsmagazin „Wirtschaftswoche“ im Sommer 2008 die Lage der Versicherungsbranche. Vielleicht mag diese Situationsbeschreibung etwas zugespitzt formuliert sein, sie trifft jedoch im Kern zu. Es ist eine unbestreitbare Tatsache, dass sich Versicherungen in einem Prozess befinden, in dem sie einem fundamentalen Umbruch nicht mehr aus dem Wege gehen können, wenn sie denn überleben wollen. Jedes Versicherungsunternehmen findet sich daher zum Ende des ersten Jahrzehntes des 21.Jahrhunderts strategisch gesehen in einer geradezu klassischen Situation, die sich nur ganzheitlich begreifen und bewältigen lässt. Diese Ausgangslage beschreibt der „St. Galler Strategie-Ansatz“ STEP (vgl. Abb.11.1). Dabei steht „S“ (sozio) für die gesellschaftliche Lage, „T“ für Technologische Trends, „E“ (economy) für die ökonomische Entwicklungen und schließlich „P“ für die poltischen Rahmenbedingungen. Innerhalb dieser vier großen Trends vollzieht sich der fundamentale Wandel, den jedes Unternehmen, besonders aber aktuell ein Versicherungsunternehmen, bewältigen muss. Um nur Stichworte zu nennen: Die Überalterung der Bevölkerung fordert neue Konzepte für Lebensversicherungen und Altersvorsorge. Auf der technischen Seite spielt der Ausbau der Informationstechnologie eine entscheidende Rolle, sowohl was die Kundenähe als auch was das Kostenmanagement angeht. Hier herrscht im Vergleich zu anderen Branchen noch ein großer Nachholbedarf bei den Versicherern. Die Politik ist, wie stets, ein unberechenbarer Faktor, der jedoch M.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing, DOI 10.1007/978-3-642-10276-9_11, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
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im Versicherungsgeschäft eine erhebliche Rolle spielt. Neue Gesetze und Verordnungen greifen in den Markt ein ein und müssen nachvollzogen werden. Deregulierungen veränderten die Märkte und neue Regulierungen als Reaktion der Politik auf die Finanzmarktkrise drohen.
Quelle: Eigene Darstellung, in Anlehnung an SGMI 2008
Abb. 11.1: Unternehmen im Mittelpunkt
Das ökonomische Umfeld erlebt ebenfalls einen radikalen Umbruch. Die Finanzmarktkrise und der darauf folgende konjunkturelle Einbruch verschärfen die Bedingungen auf Jahre hinaus. Und immer noch bestimmt die Globalisierung mit allen ihren Herausforderungen den unternehmerischen Handlungsspielraum, ganz abgesehen von den strukturellen Änderungen, die mit dem Internet und seinen Folgen für das Konsumentenverhalten einhergehen. Innerhalb dieser vier strategischen Trends vollzieht sich ein fundamentaler Wandel, der zunächst verstanden und auf die eigene Situation hin richtig interpretiert werden muss. Daraufhin gilt es, die Konsequenzen für die Unternehmensentwicklung zu ziehen. Die Führungskräfte müssen in die Lage versetzt werden, diesen Prozess verantwortlich zu gestalten. Analysen ohne die einseitige und verengende Brille desjenigen, der immer schon zum Unternehmen gehörte, ergänzen das Handwerkszeug des Spitzenmanagements. Bei der Gestaltung des Wandlungsprozesses darf es ein bequemes „weiter so“ und „wir haben das schon immer so gemacht“ nicht geben. „Eine sorgfältig abgeleitete Strategie und eine professionell durchgeführte strategiegerechte Ausrichtung der Organisation gewährleisten aber noch keinen Erfolg, wenn das laufende Management der Implementierung nicht nicht ausreichend Augenmerk bekommt. Viele aufwendige Strategiearbeiten sind schon im Sande verlau-
11 Strategische Umsetzungsprogramme von Wachstums- und Kosteninitiativen
197
fen, weil im Rahmen der Implementierung „die Luft ausging“. Professionelles Management der Implementierung umfasst insbesondere eine kontinuierliche Verfolgung und Abstimmung einzelner zentraler Vorhaben der Strategie im Sinne eines professionellen Multiprojektmanagements/Investitionscontrollings“ (Hal (Hallman u.a. 2008, S.183). Der für richtig erkannte Weg muss nun im Unternehmen sachlich und vor allem personell implementiert werden. Wie in dem St. Galler Strategie-Ansatz dargestellt, folgt der Vision und dem erstellten Leitbild die Strategie, die mittels eines strategischen Programmes umgesetzt werden will. Gegenseitige Interdependenzen begleiten den Umbau und machen machen diesen zu einem dynamischen Gesamtprozess (vgl. Abb. 11.2).
Quelle: Eigene Darstellung, in Anlehnung an SGMI 2008
Abb. 11.2: St. Galler Strategieansatz
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Dr. Michael Reich/Tim Braasch/Thorsten Schramm
2
Vorgehen bei der Operationalisierung von strategischen Programmen
2.1
„Steckbriefe“ für strategische Initiativen
Die erste Phase, die Strategie-Entwicklung, ist abgeschlossen. Die Ziele sind definiert, die Stoßrichtungen festgelegt, die strategischen Initiativen identifiziert. Ebenso bestehen dezidierte Vorstellungen über die erwarteten Wirkungen der strategischen Maßnahmen auf die finanzielle Zielsetzung und auf die operativen Steuerungsgrößen. Dieser Blick auf das Unternehmen bewegt sich jedoch noch auf einer beträchtlichen „Flughöhe“ und impliziert somit naturgemäß einige Ungenauigkeiten. Die zweite große Phase der strategischen Programmplanung wird die Umsetzung in Gang bringen. Dafür müssen Steuerungsinstrumente eingerichtet sowie der Bedarf an Ressourcen und Investitionen ermittelt werden. Außerdem wird eine Rangliste der Initiativen auf Basis des zu erwarteten Wertbeitrages für die strategische Zielsetzung erstellt. Nicht alles ist gleich wichtig. Ein verbindlicher Terminplan gehört ebenfalls hierher. Um die Aufgaben exakt zu definieren, bekommt jede strategische Initiative einen „Steckbrief“. In einer standardisierten Weise werden hier die Eckpunkte zur Identifizierung aufgeschrieben. Pflichtfelder benennen die „Klassifizierung“, das Handlungsfeld, dem die Initiative zugerechnet wird, und die Kategorie „Erwarteter Nutzen“. Zum Steckbrief gehören selbstverständlich auch die „Beschreibung der Initiative“ und die „Schnittstellen“ zu anderen Maßnahmen oder Initiativen. Das Einrichten der Initiativen mittels standardisierter „Steckbriefe“ stellt sich in einer gewachsenen und großen Organisation als keine geringe Aufgabe dar. Denn die Handlungsfelder und strategischen Initiativen entstehen nicht aus den schon vorhandenen Zuständigkeiten und Abteilungen, sondern werden durch Analysen von außen, vom Markt und den ökonomischen Gegebenheiten, definiert. Gerade durch diesen Blickwinkel, der die gewohnten Bahnen der Organisation eines Versicherers verlässt, rücken weitere Potenziale erst ins Blickfeld. In der Regel betrifft es die Wachstumsfelder im Markt im gleichen Maße wie Einsparmöglichkeiten in der Verwaltung. Und selbst bei der Performance am Kapitalmarkt bringt erst der Vergleich mit der Peergroup und danach mit dem gesamten Kapitalmarkt die drängende Notwendigkeit und auch die Chance einer strategischen Initiative an den Tag (vgl. Abb.11.3).
11 Strategische Umsetzungsprogramme von Wachstums- und Kosteninitiativen
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Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 11.3: Beispiel für einen Steckbrief einer strategischen Initiative
Grundsätzlich kommt es bei derartigen Vorgehensweisen häufig zu Bereichsüberschneidungen und damit zu mehrfachen Verantwortlichkeiten. Verantwortlichkeiten. Zur Bestimmung der Schnittstellen zwischen einzelnen Initiativen gilt es, wie in der folgenden Abbildung dargestellt, diese gegenseitig zu „matchen“ und die Schnittstellen als Vorbereitung nachfolgender Abstimmung transparent zu machen (vgl. Abb. 11.4).
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 11.4: Initiativenmatrix
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Um diesen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen oder sie zu beheben, steht daher die radikale Personalisierung der Initiativen im Vordergrund der Umsetzungsphase. Jeder strategischen Stoßrichtung werden in der Regel ein Verantwortlicher, nur in Ausnahmefällen zwei Verantwortliche zugeteilt. Ohne die klare Verantwortlichkeit von Vorständen oder Führungskräften des Hauses kann der Umsetzungsprozess im Unverbindlichen und im Kompetenzgerangel hängen bleiben. Auf dem „Steckbrief“ einer strategischen Initiative steht daher zuoberst immer ein Name, in der Regel der eines Vorstandes, der persönlich für die Maßnahme einsteht und sie voran treibt (siehe dazu als Beispiel Abb. 11.3).
2.2
Masterplanung
Mit Hilfe der standardisierten „Steckbriefe“ werden nun alle strategischen Initiativen durchdekliniert. Wesentlich dabei ist, dass sich die Initiativenverantwortlichen auf den erwarteten Nutzen „committen“ und so ihre Maßnahmen treiben. Deshalb ist es notwendig, mit den Vorständen und Führungskräften gemeinsam die strategischen Stoßrichtungen zu definieren, den erwarteten Nutzen abzuschätzen, die nötigen Maßnahmen zu beschreiben und möglichst die Schnittstellen zu anderen Projekten abzustimmen. Im Rahmen derartiger Prozesse ist es häufig notwendig, infolge der persönlichen Zuordnung für eine strategische Initiative diese neu zu schneiden oder zu erweitern. In diesem Prozess werden die Grundlagen für die erfolgreiche Planung gelegt. Fundiertes Wissen und klare Vorgaben führen zu der Genauigkeit des strategischen Vorhabens. Zu dem „Steckbrief“ kommt eine detailierte Planung, die die Projekte und den Stand ihrer Umsetzung genauestens auf der Zeitachse, abhängig von der Laufzeit des Programmes, festlegt. Die Wirkungen der Maßnahmen werden prognostiziert und so der Kontrolle zugänglich. Bei der Masterplanung ist es relevant zwischen Projekt- und Linientätigkeiten zu unterscheiden, da wie allseits bekannt, insbesondere die internen Ressourcen bei Versicherungen häufig mehrfach allokiert werden. Aus diesem Grund sollte frühzeitig eruiert werden, inwieweit projektrelevante Tätigkeiten der Masterplanung schon durch Linientätigkeiten abgedeckt sind. Die nachfolgende Abbildung (vgl. Abb. 11.5) zeigt beispielhaft den Auszug eines Masterplans mit folgenden Schwerpunkten: • • • •
Intensivierung der Bearbeitung bestehender Vermittlerverbindungen, Einführung neuer Produkte mit stärkerer Markendifferenzierung, Entwicklung neuer Zielgruppen- und Vertriebskonzepte sowie konsequente Ausrichtung der Vertriebsstrukturen und -kapazitäten mit ausreichend Potenzial für persönliche Betreuung.
11 Strategische Umsetzungsprogramme von Wachstums- und Kosteninitiativen
201
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 11.5: Beispiel für den Auszug eines Masterplans
2.3
Steuerung und Transparenz
Ein wesentlicher Bestandteil des strategischen Programmes ist die Einbettung der Gesamtsteuerung in die Steuerungsinstrumentarien des Versicherers. Dabei geht es darum, den gesamten strategischen Prozess im Blick zu behalten und sowohl die innere Kommunikation zu steuern als auch die Schnittstellen zu anderen Initiativen des Gesamtprogrammes sowie möglicherweise zu den übergeordneten Stellen des Konzerns zu besetzen. Dafür bietet sich in der Regel das Instrumentenset von „Strategy-Maps“ und „Balanced Scorecard“ an (vgl. Kaplan/Norton 2004). Eine Strategy-Map beschreibt den Wertsteigerungsprozess mit Hilfe von Ursache-Wirkungs-Beziehungen zwischen den Zielen der vier Perspektiven der Balanced Scorecard. Das übergeordnete Ziel einer Organisation besteht darin, langfristig für Shareholder (Privatwirtschaft) oder Anspruchsgruppen (öffentlicher Sektor) einen Nutzen zu schaffen. Dieser Nutzen entsteht, indem ein den Kunden gegebenes Leistungsversprechen eingelöst wird. Mithilfe interner Prozesse wird der Nutzen zur Zufriedenstellung der Kunden geschaffen; diese Prozesse helfen auch beim Erreichen der Produktivitätsziele der Finanzperspektive. Immaterielle Werte (Mitarbeiter, Technik und Kultur) beschleunigen die Verbesserung der wesentlichen Prozesse, die für Kunden und weitere Anspruchsgruppen einen Nutzen schaffen (vgl. Kaplan/Norton, 2009, S.123). Die Strategy Map hilft dem Management außerdem, die strategischen Ziele einfach darzustellen und damit auch die Strategie den Mitarbeitern zu vermitteln. So wird jedem Mitarbeiter klar, wie er in seiner Position und mit seinen Mitteln dazu beitragen kann, die Unternehmensstrategie voranzubringen. „Strategy-Maps und die Balanced Scorecard sind hervorragende Instrumente, um einer Unternehmenszentrale zu helfen, viele Organisationseinheiten an der Strate-
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gie auszurichten, um so eine hohe Wertschöpfung zu erzielen“ (Kaplan/Norton 2009, S. 83). In enger Zusammenarbeit mit dem Controlling muss die Programmleitung dafür sorgen, dass jeder Initiativenverantwortliche für seine Maßnahmen ein solches Ursache-Wirkungs-Schema in Form einer Strategy Map anlegt und „up-to-date“ hält. Zu den Inhalten dieser Maps gehören auch die Messgrößen und Zielwerte. Die Ergebnisse der Strategy Maps gehen als laufendes Reporting in die Balanced Scorecard des Versicherers ein. Die Balanced Scorecard funktioniert als Konzept zur Dokumentation der Ergebnisse aus den strategischen Initiativen im Hinblick auf die Vision und die damit verbundenen Strategien. Sie bietet den Führungskräften einen umfassenden Überblick auf die Leistungsfähigkeit und Effektivität der Organisation. Hier führen alle Ergebnisse zusammen und lassen auf einen Blick erkennen, auf welchem Stand sich der Umsetzungsprozess befindet. In die Balanced Scorecard gehen die Perspektiven verschiedener Gruppen ein, die am Unternehmensprozess beteiligt sind und verschiedene Interessen mitbringen. Sie dient damit auch als Instrument, die Vorgaben der Konzernzentrale in das Unternehmenskonzept der Tochtergesellschaft zu integrieren. In der nachfolgenden Abbildung, wird dass Zusammenspiel zwischen Top-Down und Bottom-up Vorgehen dargestellt. Auf Basis der Erfahrungen von 67rockwell Consulting erfolgen regelmäßig in Versicherungskonzernen durch die Holding Vorgaben, im Rahmen wertorientierter Steuergrößen, die sich häufig in einer sogenannten Performance-Metrik wiederfinden. Diese sind in den Balanced Scorcards der Konzerntöchter über Strategy-Maps zu verankern. Im Rahmen strategischer Programme, lassen sich hier die Zielwerte und Messgrößen implementieren und in das laufende Reporting des Vorstandes sowie der Holding einbetten (vgl. Abb. 11.6).
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 11.6: Zusammenwirken Balanced Scorecard und Strategy Maps
11 Strategische Umsetzungsprogramme von Wachstums- und Kosteninitiativen
3
Umsetzungsmanagement
3.1
Managementkreislauf
203
Die Entwicklung und vor allem die Umsetzung einer Unternehmensstrategie Unternehmensstrategie findet nicht im leeren Raum statt. Zwar wird mit der strategischen Planung immer ein Stück Zukunft in die Gegenwart des Unternehmens eingepflanzt, aber deshalb darf die Gegenwart noch lange nicht ausgespart werden. Die strategischen Initiativen müssen daher mit dem operativen Tagesgeschäft so verknüpft werden, dass sie sich im Managementkreislauf weder im Weg stehen, noch ausschließen. Im Gegenteil: Der Managementkreislauf verknüpft die strategischen Initiativen mit dem operativen Tagesgeschäft derart, dass das eine aus dem anderen hervorgeht. Das Tagesgeschäft folgt im optimalen Fall selbst im Mikrobereich, also bei scheinbaren Kleinigkeiten, den strategischen Vorgaben, und aus dem täglichen Geschäft stammen die Feedbacks, die zur ständigen Anpassung Anpassung und evolutionären Entwicklung der Unternehmensstrategie führen (vgl. Abb. 11.7).
Quelle: Eigene Darstellung, in Anlehnung an Kaplan/Norton
Abb. 11.7: Managementkreislauf
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Dieser Kreislauf lässt sich in sechs Phasen untergliedern. In der ersten Phase entwickelt das Management die Strategie, in der zweiten Phase vereinbaren die Beteiligten Initiativen, die in einer dritten Phase planerisch angegangen werden. Die vierte Phase setzt die Initiativen im Unternehmensalltag um. In der fünften Phase wird sich um die konkrete Sicherung der Umsetzung gekümmert. Hier werden kurzfristige Probleme gelöst und es wird an der ständigen Verbesserung gearbeitet. Diese Erfahrungen und Ergebnisse führen in der sechsten Phase zur Fortschreibung der Strategie. In der Praxis ist dieser Kreislauf ein Rad, das sich beständig dreht, alle Phasen gehen zwar auseinander hervor, existieren als Prozess jedoch immer auch gleichzeitig. Dieses Rad dreht sich um das strategische Programm mit seinen Steuerungsinstrumenten gleichermaßen wie um den Business-Plan mit seinen harten Eckwerten.
3.2
Managementsitzungen
Strategie ist zunächst eine immaterielle, um nicht zu sagen geistige Angelegenheit. Trotzdem – oder gerade deshalb – sollte die geistige Disziplin durch eine strenge formale Disziplin unterstützt werden. „Mit einem förmlichen System zur Strategieumsetzung ist die Erfolgswahrscheinlichkeit zwei- bis dreimal höher als ohne ein solches System“ (Kaplan/Norton 2009, S. 16). Einige Instrumente wie etwa „Steckbrief“ oder „Strategy Map“, die intellektuelle Arbeit in visuelle Anleitungen umsetzen, wurden schon angeführt. In den Bereich der formalen Disziplin gehören auch die regelmäßigen Managementsitzungen, die den Umsetzungsprozess begleiten, vorantreiben und gewährleisten. Bei der Umsetzung des strategischen Programms werden zwei laufende Sitzungstypen für notwendig erkannt, um den Management-Kreislauf umzusetzen und am Leben zu erhalten. Der erste Sitzungstyp ist der Lenkungsausschuss der jeweiligen strategischen Initiative. Nicht jede Initiative braucht einen solchen Ausschuss. Doch für viele Projekte ist er sehr hilfreich und tagt nicht turnusgemäß, sondern nach Bedarf. Bei der Sitzung treffen sich der verantwortliche Vorstand und andere mitwirkende Vorstandskollegen, der verantwortliche Projektleiter und die Experten für die Kennzahlen. In dem Meeting werden die Probleme, die bei der Umsetzung der strategischen Initiativen auftauchen, gelöst. Die Zielsetzung ist kurzfristig und orientiert sich an der ständigen Verbesserung der jeweiligen Maßnahmen. Wichtiger für die Umsetzung des strategischen Programms erweist sich der Strategieausschuss. Er trifft sich jeden Monat im Rahmen der Vorstandssitzung. Die Teilnehmer sind der gesamte Vorstand, die Verantwortlichen der strategischen Initiativen sowie die Experten für die Kennzahlen. Hier wird inhaltlich über die Umsetzung des strategischen Programmes diskutiert. Das Ziel ist klar: Es geht um die Feinabstimmung der Ergebnisse des strategischen Prozesses und um die per-
11 Strategische Umsetzungsprogramme von Wachstums- und Kosteninitiativen
205
manente Kontrolle der Umsetzung des Programms sowie eine eventuelle Anpassung an neue Gegebenheiten. Zusätzlich trifft sich der Strategieausschuss einmal jährlich, abhängig vom Planungszyklus, um über die Entwicklung der Strategie zu befinden. Inhaltlich geht es bei dieser Sitzung um die Fortschreibung des strategischen Programmes auf Basis der Jahres-Ergebnisse. In diesen Sitzungen werden die strategischen und operativen Pläne schrittweise weiterentwickelt, die strategischen Ziele adjustiert und die entsprechenden Investitionen für die Umsetzung der Projekte freigegeben.
4
Permanente Revolution?
Betrachten wir den Managementkreislauf und die in die Unternehmenskultur integrierten formalen Rituale, so könnte sich der Gedanke aufdrängen, ein einmal erfolgreich installiertes strategisches Programm hält „bis in alle Ewigkeit“. Dafür sprechen die dynamischen Elemente und selbstregulierenden Mechanismen, die in einen immerhin sehr lebendigen Prozess münden, der theoretisch nicht enden müsste. Denn selbst die strategischen Vorgaben, die aus den Visionen und Leitbildern stammen, könnten sich in einer Art permanenten Revolution ständig erneuern und so immer state-of-the-art bleiben. Theoretisch! Doch selbst die großen Strategie-Theoretiker glauben daran nicht. „Strategien sind üblicherweise drei bis fünf Jahre lang brauchbar“, schreibt der Harvard-Business-School-Professor Robert S. Kaplan.
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Literatur Herget, S./ Bergermann, M.: Versicherungbranche auf schwierigem Kurs. Wirtschaftswoche, Verlagsgruppe Handelsblatt, 19.8.2008. auf WiWo.de. Greiner, O./Lallinger, T.: Integrierter Strategieprozess. Die Strategie – vom Schlagwort zum Erfolgsfaktor. In: Hallmann, T./Junglas, A./Kirchner, W./Wiegard, M (Hrsg.): Steuerung von Versicherungsunternehmen – Grundlagen, Prozesse, Praxisbeispiele, Stuttgart 2008. Kaplan, R. S./Norton, D. P./Hórvath. P./Gaiser, B. (Übers.): Strategy Maps. Der Weg von immateriellen Werten zum materiellen Erfolg, Stuttgart 2004. Kaplan, R. S./Norton, D. P.: Der effektive Strategieprozess. Erfolgreich mit dem 6-Phasen-System. Campus Verlag, 2009. SGMI Management Institut St. Gallen: Strategisch navigieren. Der ganzheitlich St. Galler Management-Ansatz, St. Gallen 2008.
Kapitel 12 Six Sigma in Versicherungen Dr. Michael Reich/Marcus Laakmann
1
Kontinuierliche Verbesserungsprozesse
1.1
Entstehung und Entwicklung
1992 galten japanische Autos noch als qualitativ minderwertig. Die Ergebnisse einer MIT-Studie lösten damals hierzulande daher eine große Aufregung aus. In diesem Jahre erschien nämlich in Deutschland unter dem Titel „Die zweite Revolution in der Automobilindustrie“ die MIT-Studie von Wormack, Jones und Roos. Darin werden die Produktionssysteme der Automobilindustrie weltweit untersucht und es wurde überprüft, auf welche Weise Produktivität und Qualität der Produkte erreicht werden. Die japanische Automobilindustrie schien mit ihren „schlanken“, auf kontinuierliche Verbesserungen basierenden Produktionssystemen den europäischen und amerikanischen Autobauern überlegen zu sein. Die hohe Produktivität bei gleichzeitig hoher Qualität korrelierte mit einer bei 60% liegenden Teamarbeit. Darin wurden die Mitarbeiter in Problemlösungsprozesse, die ihren unmittelbaren Aufgabenbereich betrafen, integriert. Viele nachdenklich gewordene Manager machten sich auf den Weg nach Japan und schauten sich vor Ort in Unternehmen, wie zum Beispiel Toyota, deren Produktionsweisen an. KAIZEN, das Prinzip der „kontinuierlichen Verbesserung“ führte zu hoher Produktivität bei gleichzeitig hoher Qualität. Schon gleich nach dem Zweiten Weltkriege wendeten die Japaner dieses Prinzip an und entwickelten bereits Ende der 40er Jahre eine Initiative zur Verbesserung der Qualität. Seit 1951 leitete der in den USA damals weitgehend unbeachtete USamerikanische Professor William Edward Deming in Japan zahlreiche Kurse insbesondere für das Top-Management. Gleichzeitig fanden seine Ideen zu dem prozessorientierten unternehmensweiten Einsatz statistischer Verfahren zur Qualitätssicherung schnelle Anwendung in Japan. 1954 wurde der US-Amerikaner Juran für mehrere Vorträge nach Japan eingeladen. Dieser erweiterte die statistischen Kenntnisse Demings durch einen kundenorientierten Qualitätsbegriff. Um das Fehlerniveau zu senken, empfahl er, kleine ressortübergreifende Teams zur schrittweisen Qualitätsverbesserung einzusetzen. M.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing, DOI 10.1007/978-3-642-10276-9_12, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
208
Dr. Michael Reich/Marcus Laakmann
Die frühere schwierige wirtschaftliche Situation der Toyota Motor Company veranlasste insbesondere den Ingenieur Taichi Ohno zur Entwicklung eines konsequent schlanken Produktionssystems. Da keinerlei Ressourcen, zum Beispiel zur Neubeschaffung von Maschinen, vorhanden waren, konzentrierte man sich auf die kontinuierliche Verbesserung der Produktion im Kundenkontakt mit möglichst geringer Verschwendung von Ressourcen jeglicher Art im Produktionsprozess. Als Basis diente das heute wichtigste Steuerungsinstrument zur ständigen Verbesserung, der von Shewhart entwickelt und von Deming vorbereitete PDCAVerbesserungszyklus (PLAN-DO-CHECK-ACT). Erst Anfang der 90er Jahre, angeregt durch die MIT-Studie, fand das Konzept der ständigen Verbesserung in westlichen Organisationen Beachtung. Prominentestes Beispiel für den erfolgreichen und konsequenten Einsatz in Deutschland ist sicherlich Porsche (Kostka/Kostka 2006, S. 10 ff.). Das Toyota-Produktionssystem (TPS) wurde in einem Zeitraum von über 20 Jahren entwickelt und bis heute weiter verfeinert. Die darin enthaltenen Methoden wie Kanban, Just-in-Time etc. wurden aus der Notwendigkeit zur Verbesserung der Produktivität und Qualität entwickelt, eingesetzt und wiederum kontinuierlich verbessert. Die Notwendigkeit zum Einsatz dieser Methoden ergab sich aus entdeckten Verschwendungen in Prozessen. Als nicht wertschöpfend werden dabei alle Aktivitäten betrachtet, die keine Werte schaffen beziehungsweise das Schaffen von Werten be- oder verhindern. Dazu gehören Lagerbestände, Abfall, Unordnung und Intransparenz genauso wie unklare Absprachen und Ziele sowie Zuständigkeiten. Auch Funktionen des Produktes, die vom Kunden nicht genutzt werden, gelten als Verschwendung (vgl. Töpfer 2001, S. 1023 ff.). Alle natürlichen Systeme verändern sich kontinuierlich. Aber schrittweise Veränderung scheint offensichtlich noch kein fester Bestandteil der westlichen Lebensart zu sein. Vielmehr neigen die Westeuropäer stark dazu, Verbesserungen ausschließlich durch Innovationen bewirken zu wollen. Neben den Konzepten zur kontinuierlichen Verbesserung (KVP) und Lean Production rücken Konzepte des Qualitätsmanagements wie zum Beispiel Six Sigma in den Fokus der Unternehmen. Der Erfolg erklärt sich vielleicht dadurch, dass es eine Integration vieler bekannter Konzepte, wie Business Reengineering (BPR), Benchmarking, klassische Qualitätsmethoden und Change Management, erlaubt. Zudem treibt die Hoffnung, radikale Verbesserungen zu erreichen, statt nur in kleinen Schritten voranzukommen. Die nachfolgende Abbildung zeigt den Zusammenhang zwischen dem Ansatz der Kontinuierlichen Verbesserungsprozesse (KVP) und dem konventionellen Innovationsmanagement (vgl. Abb. 12.1).
12 Six Sigma in Versicherungen
209
Quelle: Kostka/Kostka 2006, S. 9ff.
Abb. 12.1: Zusammenhang zwischen Innovation und KVP
Motorola gilt als das Unternehmen, in dem die Six-Sigma-Methode erfunden wurde. Der Ingenieur Bill Smith entwickelte das System unter der Ägide von Robert Galvin. Beteiligt war die Beratung Six Sigma International Ltd. (SSI) aus Akron (USA). Motorola gewann später den bekannten Qualitätspreis „Malcom Baldrige Award“. Große Verbreitung fand der Begriff Six Sigma erst ab Mitte der 90er Jahre, als Jack Welch bei General Electric unter diesem Namen ein groß angelegtes Change-Programm initiierte, in dem es weniger um Statistik ging als darum, viele radikale Ideen zu identifizieren und umzusetzen. Es ging hier im Besonderen um einen Kulturwandel im Unternehmen.
1.2
Qualitätsorientierte Veränderungsprozesse in der deutschen Versicherungsbranche
Die Ertrags- und Strukturkrise im Finanzdienstleistungsbereiche, insbesondere bei Banken, ist deutlich kritischer als die Situation im Versicherungsbereich, obwohl dort die großen Schadenfälle, wie zum Beispiel im Zusammenhang mit dem 11. September 2001, und der Verfall der Aktienkurse in den letzten Jahren zu Ertragsund Ergebnisproblemen führte, da vor allem die Lebensversicherer hohe Anlagen in Wertpapieren getätigt haben. Es gibt eine Reihe von Haupteinflussfaktoren, die den Schritt hin zur Industrialisierung zu einer Notwendigkeit für das Geschäft der meisten europäischen Versi-
210
Dr. Michael Reich/Marcus Laakmann
cherer machen. Die nachfolgende Abbildung macht den Zusammenhang zwischen Einflussfaktoren und der Marktdynamik deutlich (vgl. Abb. 12.2).
Quelle: Eigene Darstellung.
Abb. 12.2: Einflussfaktoren und Marktdynamik
Margenerosion und -druck Neue Markteintritte und traditionelle Wettbewerber, die ihre Geschäftsmodelle und Prozesse der Leistungserstellung (Operating Models) verändern, um im Wettbewerb bestehen zu können. Dabei kristallisieren sich drei Optionen von Geschäftsmodellen heraus: Lean Operators, Marken-/Vertriebsführer und Produktexperten. Regulierung Sich verändernde Anforderungen gleichzeitig über verschiedene Einheiten hinweg harmonisieren. Wettbewerb Hohe Anpassungsnotwendigkeit durch neue Markteintritte und neue Formen des Wettbewerbes Globalisierung In Abhängigkeit zu den Geschäftsmodellen und der entsprechenden Prozesse adaptieren größere „europäische Versicherungsunternehmen „industrielle“ Operating Models als Hauptwerkzeug zur Erreichung von Kostensenkungen und Ver-
12 Six Sigma in Versicherungen
211
besserungen des Kundenservices. Auch Marktentwicklungen und Wettbewerbskräfte sind treibende Kräfte hinter diesen Veränderungen. Industrialisierung bezieht sich dabei auf eine Reihe von verschiedenen, aber wichtigen Entwicklungen. Für die meisten Versicherer bedeutet dieses (vgl. Deloitte 2007, S. 3 ff.): • Geschäftsprozesse sind grundsätzlich zu standardisieren und zu automatisieren, • Erfolgsmessung ist akzeptiert, wird verstanden und ist über alle operativen Geschäftseinheiten hinweg konsistent, • ähnliche Prozessaktivitäten sind weitestgehend konsolidiert, um mehr Kostensynergien zu erreichen, • IT-Systeme sind mehrheitlich in Komponenten zerlegt und verstärkt integriert und • Versicherer werden sich auf ihre Kernstärken oder -kompetenzen fokussieren und weniger wertschöpfende Aktivitäten outsourcen. Für die Prozess-Industrialisierung der Versicherer wird dabei folgendes berücksichtigt werden müssen: • Economies of scale, • Beherrschung (und Kontrolle) der Prozesse und des Prozessmanagements mit dem Ziel einer ganzheitlichen Lösung und • umfassende Verbesserungen der Servicequalität. Qualitätsorientierte Veränderungsprozesse im Rahmen von Six Sigma sind daher Ansatzpunkte der Prozess-Industrialisierung für die Versicherer. Six Sigma ist dabei ein professionelles Prozessmanagement und strebt eine Wertorientierung des Unternehmens durch schlanke Prozesse mit deutlich verbesserten Durchlaufzeiten, durch Null-Fehler-Qualität und eine dadurch bewirkte hohe Kundenzufriedenheit an. Im Fokus der Durchführung von Six Sigma-Projekten stehen dabei insbesondere die drei Umsetzungstreiber Kunde, Prozess und Qualität (vgl. Töpfer 2001, S. 3 ff.). Ziel ist es, auf neue Herausforderungen besser, schneller und schlanker zu reagieren als die Konkurrenz. Dieses gilt uneingeschränkt und branchenübergreifend aus folgenden Gründen: • Die Kunden fordern eine immer höhere Qualität bei den angebotenen Produkten und Dienstleistungen, zum Beispiel fehlerfreie Policierungen. • Die Wettbewerber verkürzen sukzessive ihre Entwicklungszeiten mit direkter Wirkung auf die Produktlebensdauer, zum Beispiel innovative Altersvorsorgemodelle von Finanzdienstleistern. • Das eigene Versicherungsunternehmen steht fortwährend vor dem Problem, Entwicklungs- und Herstellungskosten zu reduzieren. Six Sigma will also als projektorientiertes Managementkonzept die wesentlichen Kundenanforderungen über schlanke und effiziente Prozesse für das Unternehmen wirtschaftlich erfüllen. Gerade bei Versicherungsunternehmen soll die erreichbare Null-Fehler-Qualität nicht nur zu Kostensenkungen, sondern über gestiegene Kundenzufriedenheit auch zu Umsatzsteigerungen, zum Beispiel durch Ausschöpfung des dann aktivierbaren Cross-Selling-Potenziales führen. Auch wenn bei
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Dr. Michael Reich/Marcus Laakmann
Versicherern keine Produktionsstätten und Fertigungsabläufe im klassischen Sinne existieren, gibt es viele Tätigkeiten, die effizienter und effektiver gestaltet werden können. Im Dienstleistungsbereich sind die zusätzlich zu erreichenden Einsparungen durch verstärkte Prozessfokussierung sogar überdurchschnittlich hoch. Es erstaunt deshalb nicht, dass immer mehr Banken und Versicherer qualitäts- und kostenbewußter werden und dabei den „Six Sigma“ Weg gehen: Allerdings vorwiegend in den USA. In anderen Staaten, zum Beispiel in Deutschland steht die Anwendung insbesondere im Versicherungswesen erst am Anfang. Die Deutsche Bank hat beispielsweise seit 2002 eine erste Six Sigma Einführung begonnen (vgl. Lieber/Moormann 2004, S. 28). Im Vergleich hierzu haben zum Beispiel fast alle großen Banken beziehungsweise Finanzdienstleister, wie GE Capital (Beginn 1996), Citibank (Beginn 1997) als Tochtergesellschaft der Citigroup, American Express und J. P. Morgan Chase (Beginn 1999) einen deutlichen zeitlichen und inhaltlichen Vorsprung und damit bereits auch realisierte Ergebniswirkungen. In gleicher Weise sind die britische HSBC und auch die Bank of America inklusive Fleet Boston Financial gestartet. Zu weiteren erfolgreichen Anwendern bei den Finanzdienstleistern zählen unter anderem AIG Insurance, Credite Suisse etc. (vgl. Töpfer 2002, S. 7). Der Hauptgrund für die zeitlich späte Einführung des Six Sigma Konzeptes im deutschen Versicherungsmarkt liegt darin, dass lange Zeit davon ausgegangen wurde, dass Prozesse für Versicherungsdienstleistungen weitgehend anders sind als Prozesse in der industriellen Fertigung bei produzierenden Unternehmen. 67rockwell Consulting hat 2008 eine umfangreiche Untersuchung hinsichtlich des Durchdringungsgrades im deutschen Versicherungsmarkt zu diesem Thema durchgeführt. Dabei wurde im Rahmen von Befragungen festgestellt, inwieweit das oben diskutierte Konzept bereits pilotiert, ausgerollt oder in Versicherungsunternehmen verankert wurde. Die nachfolgende Darstellung zeigt den Implementierungsgrad im deutschen Markt (vgl. Abb. 12.3). Es zeigte sich, dass zum Zeitpunkt der Erhebung ein Teil der Versicherer sich in einer sogenannten Pilotierungsphase befand. In der Pilotierungsphase werden erste Erfahrungen hinsichtlich der Einführung dieses Ansatzes gewonnen. Insbesondere werden hier Prozesse ausgewählt, die hinsichtlich ihrer Komplexität beherrschbar sind und relativ schnell erste valide Ergebnisse bringen. In der sich anschließenden Phase des Ausrollens werden die aus der Pilotierungsphase gewonnenen Ergebnisse auf die Organisation angewandt. In dieser Phase befand sich zu diesem Zeitpunkt die Skandia. Diese hatte mit der Einführung des Konzeptes im Jahr 2004 begonnen und befand sich nach etwa vier Jahren im „Ausrollen des Konzeptes“. Die Weiterentwicklung war auf einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren angelegt. Wesentlich für diese Phase, war die Schulung der „Senior Manager“ zu Six Sigma Projektleitern, diese sollten als Multiplikatoren den Six-Sigma Gedanken im Unternehmen verbreiten. Innerhalb von 12 Monaten konnten erste messbare Ergebnisse realisiert werden.
12 Six Sigma in Versicherungen
213
Quelle: Eigene Darstellung.
Abb. 12.3: Implementierungsgrad von Six Sigma
Nach dem „Ausrollen“ des Konzeptes gilt es, dieses stabil in der Organisation zu verankern. Hier sind als Beispiele die Axa und Allianz hervorzuheben, die im Rahmen ihrer Programme entsprechende organisatorische Verankerung der SixSigma Ansätze herstellen konnten. Insbesondere die Allianz konnte scheinbar diese Ansätze derart gut implementieren, dass sie fester Bestandteil ihrer QMMethodik wurden. Das Allianz Programm OPEX (Operational Excellence) umumfasste schon 2008 ein Projektteam von ca. 70 Mitarbeitern, die eingesetzt sind zur Weiterbildung und Multiplikation des OPEX-Know-Hows im Konzern. Wesentliche Erfahrungen, die im Verlauf des Programmes gesammelt werden konnten, waren:
• • •
Langfristig ist es notwendig, mindestens 1% der Mitarbeiter zum Black Belt auszubilden. „Schadensprozesse“ eignen sich besonders zur Optimierung mit der Six Sigma Methodik. Es muss ein entsprechendes Veränderungsmanagement im Unternehmen institutionalisiert werden.
Insgesamt zeigt sich jedoch, dass bislang im deutschsprachigen (Versicherungs-) Raum die Ansätze qualitätsorientierter Veränderungsprozesse noch wenig ausgeprägt sind und es hier einen großen Nachholbedarf gibt. Dieses ist sicherlich darin begründet, dass heute der „Reifegrad“ der Versicherungen im Hinblick auf die Implementierung derartiger Konzepte noch nicht hoch genug ist. Grundlage für eine erfolgreiche Umsetzung in der Versicherung ist eine hohe Business Excellen-
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Dr. Michael Reich/Marcus Laakmann
ce im Versicherungsunternehmen, das heißt die Qualität von Managementkonzepten einerseits, aber auch der Führungskräfte anderseits muss den entsprechenden „Reifegrad“ aufweisen. Im folgenden Abschnitt wird zu diesem Zweck nochmals detailliert auf das Thema „Business Excellence“ eingegangen, um anschließend die methodischen Grundelemente derartiger Konzepte zu diskutieren.
2
Konzeptionelle Grundlage einer Einführung von Six Sigma bei einem Versicherer
2.1
Business Excellence als Grundlage qualitätsorientierter Veränderungsprozesse
Business Excellence beruht auf den drei wesentlichen Ideen: Leadership, Teamarbeit und kundenorientiertes Prozessmanagement. Mit diesen Ideen geht ein verändertes Qualitätsbewußtsein einher. Danach muss Qualität die Anforderungen und Erwartungen aller Stakeholder berücksichtigen. Aus diesem Qualitätsgedanken hat sich eine umfassende Führungsidee entwickelt, die neue Anforderungen an das Management stellt. Um diesen Aufgaben gerecht zu werden, sind umfangreiche Managementkonzeptionen notwendig. Eine Managementkonzeption umfasst grundsätzlich Systeme, wie das Planungsund Kontrollsystem, Zielsystem, Informations- und Kommunikationssystem und das Organisations- und Personalmanagementsystem. Damit eine Unternehmung funktionieren kann, müssen diese Systeme in ihrem Umfeld bestehen; zudem muss deren reibungslose Zusammenarbeit gewährleistet sein sowie eine informations- und kommunikationsbezogene Vernetzung derselben vorliegen (vgl. Reich 2003, S.76). Nachfolgend wird die Begrifflichkeit für die Systeme der Managementkonzeption geklärt, die für den weiteren Gang der Untersuchung besonders relevant sind: •
•
Planungs- und Kontrollsystem: Planungs- und Kontrollsysteme bezeichnen Systeme, die normative Vorgaben in strategische Zielvorstellungen übersetzen, den Bereichen Zielgrößen vorgeben und das Erreichen dieser Ziele überwachen. Diese Überprüfung erfolgt im Rahmen eines Soll-Ist Vergleiches. Der Begriff der Planung reicht sehr weit. Unter Planung kann die geistige Antizipation und Strukturierung zukünftigen Handelns verstanden werden. Die Planungs- und Kontrollsysteme unterstützen den Denk- und Entscheidungsprozess der Planung sowie deren Umsetzung. Ein entsprechend funktionierendes System ist von seinen Trägern in überzeugender Art und Weise zu implementieren und innerhalb der unternehmerischen Planungs- und Kontrolltätigkeiten aufrechtzuerhalten. Ein Zielsystem ist die nach Beziehungen geordnete und präferenzgerecht bewertete Gesamtheit aller situationsrelevanten Ziele. In einer solchen liegt
12 Six Sigma in Versicherungen
•
215
das Oberziel, wie beispielsweise Unternehmensziele, auf der höchsten Ebene; darunter schließen sich Zwischenziele, wie etwa Bereichsziele beziehungsweise Unterziele an, die ihrerseits zur Realisierung der jeweils übergeordneten Ziele beitragen. Die somit entstehende Zielhierarchie lässt sich mit Hilfe eines Zielbaumes zusammenfassen. Informations- und Kommunikationssystem: Diese Systeme beinhalten sämtliche in der Unternehmung zur Verfügung stehenden Daten und Informationen. Dabei kann es sich um externe (Kunden- und Wettbewerbsinformationen) und interne (Bestände, Personaldaten) Informationen handeln. Diese Systeme bestehen im Allgemeinen aus komplexen IT-Landschaften, die Unternehmensprozesse und organisatorische Strukturen unterstützen.
Insbesondere für den Bereich der Zielsysteme muss Business Excellence als „Philosophie“ im Versicherungsunternehmen verankert werden. Es ist dabei notwendig, dieses Managementkonzept auf allen Kompetenzstufen des Unternehmens zu verankern. Das Top-Management ist für die Formulierung der Excellence-Politik im Versicherungsunternehmen verantwortlich. Hier ist zunächst die Anspruchsklasse der zu erbringenden Leistung zu definieren, das heißt konkret die Erwartungshaltung an die Qualität der Leistungserstellung. Dabei gilt es, das entsprechende Messsystem im Vorwege zu implementieren und ein durchgängiges Commitment des TopManagements hierauf herzustellen. Desweiteren ist eine entsprechende Vorgehensweise zur Verfolgung der Excellence-Ziele durch das Top-Management vorzugeben. Dieses kann sich im Versicherungsunternehmen konkret in der stringenten Durchführung von Mitarbeiterbeurteilungsgesprächen innerhalb eines Jahres auf Basis der Zielerreichung manifestieren. Neben den oben beschriebenen Themen, sind für die Umsetzung die Rollen von excellenceverantwortlichen Mitarbeitern zu definieren, wie zum Beispiel Qualitätsmanagementverantwortliche im Versicherungsunternehmen. Auf der Ebene des mittleren Managements ist diese Managementphilosophie gleichzeitig zu verankern. Gerade in diesem Führungssegment entstehen häufig Strömungen gegen größere Veränderungsprozesse, bis hin zu regelrechten „Blockaden“. Da die Mitarbeiter häufig durch ihre Führungskräfte vom TopManagement abgeschirmt sind, können sie sich hier nur bedingt ein Bild der Lage machen und folgen in der Regel den Führungskräfte in die „Blockade“. Insbesondere auf dieser Ebene ist es deshalb notwendig, excellenceorientiert zu führen. Wesentliche Voraussetzung hierfür ist die Kenntnis, wie das unternehmensspezifische Excellence-System (integriertes Managementsystem) funktioniert. Daneben benötigen die Führungskräfte von Versicherungsunternehmen eine ausgeprägte Fähigkeit Aufgaben und Tätigkeiten an die Mitarbeiter einerseits zu delegieren, anderseits aber auch die Mitarbeiter zu „enablen“, damit diese befähigt werden, die Aufgaben eigenständig in der erwarteten Qualität auszuführen. Das erfordert eine moderierende Art, um zu den gewünschten Ergebnissen zu gelangen. Auch hier sollten am Jahresbeginn mit den Mitarbeitern Zielvereinbarungen in Anlehnung an das oben diskutierte Managementsystem vereinbart werden.
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Die Ebene der Mitarbeiter ist in das Managementsystem ebenso zu involvieren. Hier ist das Wissen um den eigenen Wert der Arbeit in Bezug zur Gesamtqualität eine notwendige Voraussetzung, um die Mitarbeiter entsprechend einzubinden. Die Mitarbeiter müssen dabei Verantwortung übernehmen und die Möglichkeit haben, auf Entscheidungen einzuwirken. Des Weiteren benötigen sie die Fähigkeit, übergeordnete Unternehmensziele zu abstrahieren und hinsichtlich ihrer technischen Machbarkeit zu würdigen. Zusammenfassend ist festzustellen, dass Business Excellence ein Managementkonzept ist, dass die notwendige Basis für qualitätsorientierte Veränderungsprozesse darstellt. Business Excellence ist somit die Grundvoraussetzung für die Einführung von Six-Sigma in Versicherungsunternehmen (vgl. Abb. 12.4).
Quelle: SGMI 2009
Abb. 12.4: Business Excellence
2.2
Kernelemente von Six Sigma
In zahlreichen Publikationen, Seminarbeiträgen und Praxisberichten über das Thema Six Sigma wird immer wieder dargestellt, welche Leistungen und Erfolge sowohl im produzierenden als auch im dienstleistenden Unternehmen mit diesem Konzept erreicht wurden. Ausgehend von den oben beschriebenen Grundsätzen, entwickelte sich Six Sigma als eigenständige Verbesserungsmethodik mit fünf Kernelementen. Die nachfolgende Abbildung illustriert den Zusammenhang dieser fünf Kernelemente (vgl. Abb. 12.5).
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Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 12.5: Kernelemente von Six Sigma
Null-Fehler Strategie Fehler und deren Reduktion oder Elimination sind fest in zahlreichen Managementansätzen verankert, so zum Beispiel die sieben Verschwendungsarten im Lean Management. Es erscheint logisch, dass jeder Fehler, egal wo er auftritt, grundsätzlich einen Verlust darstellt, wenngleich die Fehlerwirkung durchaus unterschiedlich ausfallen kann. Beispielsweise ist ein Fehler, der beim Versicherer zu Beginn der Wertschöpfungskette auftritt und zum Beispiel bis zur Versendung einer Police nicht behoben wird, durch die damit verbundenen hohen Herstellkosten (unterschiedliche Bearbeitungsstationen im Unternehmen) gravierender als jener, der erkannt und sofort beseitigt werden kann. Noch schmerzlicher sind Fehler, die im Unternehmen nicht erkannt werden und bis zum Kunden gelangen, wo sie möglicherweise nachhaltig die Kundenzufriedenheit und somit das gesamte Image der Organisation negativ beeinflussen (vgl. Gamweger/Jöbstl/Strohrmann/ Suchowerskyj 2009, S. 6 ff.). Six Sigma greift diesen Gedanken konsequent auf und stellt somit den Kunden und die damit verbundene Fehlerbeseitigung in den Mittelpunkt der unternehmensweiten Verbesserungsaktivitäten. Die Definition, was ein Fehler ist, erfolgt direkt anhand der Kundenanforderungen oder aber auch anhand interner Spezifikationen. Prozessorientierung und Messbarkeit Prozesse stellen den Ausgangspunkt der Six Sigma-Verbesserungen dar. Unter Prozess wird im Allgemeinen die Aufeinanderfolge von zusammenhängenden Arbeitsschritten mit definiertem Anfang und Ende verstanden, die wiederholt durchlaufen werden können. Es spielt dabei keine Rolle, ob es sich um Produkti-
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ons- oder Dienstleistungsprozesse handelt. Fehlerfreie Prozesse in der Versicherung wirken über eine hohe Servicequalität und die daraus resultierende Kundenzufriedenheit beziehungsweise die damit verbundenen Wettbewerbsvorteile und Umsatzsteigerungen schließlich auf den Unternehmensgewinn. Wesentlich einfacher zu quantifizieren sind Fehlerkostensenkungen durch fehlerfreie Prozesse (Ausschuss-, Nacharbeitskosten), welche direkt auf das Ergebnis wirken und daher zumeist auch als Messgröße für den Erfolg von Six Sigma-Projekten dienen. Eine konsequente Messung der Verbesserungen durch die Six Sigma-Aktivitäten kann nur dann erfolgen, wenn entsprechende Messsysteme auf finanzieller und nicht-finanzieller Basis zur Verfügung stehen. Anhand solcher Messsysteme ist es möglich, den Erfolg von Six Sigma auch für nicht direkt involvierte Stakeholder transparent zu machen. Dieses betrifft vor allem die oberen Führungskräfte des Unternehmens, welche die Projekte durch ihre persönliche Unterstützung und die Freigabe von Ressourcen fördern sollen. Erst wenn es gelingt, den Führungskräften ein realistisches Bild über die zu erwartenden Ergebnisse zu liefern, um diese dann in der Umsetzung zu erreichen beziehungsweise sogar übertreffen, kann Six Sigma ein erfolgversprechender Ansatz für das Versicherungsunternehmen werden. Es ist daher eine der wesentlichen Voraussetzungen, die konkreten Resultate jeglicher Maßnahmen im Hinblick auf Kostensenkung beziehungsweise Kundenzufriedenheit zu planen und zu bewerten (vgl. Gamweger/Jöbstl/Strohrmann/ Suchowerskyj 2009, S. 8ff.). Straffes Projektmanagement Verbesserungen finden in Six Sigma-Projekten über die Anwendung unterschiedlicher Methoden statt. Abhängig von der Komplexität unterscheidet man dabei die Methoden: • „Get Work Out“, • „Lean Action Workout“ und • „Lean DMAIC“. Die folgende Abbildung illustriert die einzelnen Methoden im Überblick (vgl. Abb. 12.6).
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Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 12.6: Methoden im Überblick
Insbesondere das „Get Work Out“ eignet sich für einfache, wenig komplexe Fragestellungen innerhalb von Bereichen. Hier sind unmittelbar Arbeitserleichterungen nach Anwendung dieser Methodik zu erreichen. Für Probleme mittlerer Komplexität, zum Beispiel einfache „Prozessärgernisse“ bietet sich die Anwendung von „Lean Action Workout“ an. Dabei wird versucht im Rahmen von zwei bis drei wöchigen Kurzanalysen, direkte Arbeitserleichterungen herzustellen. Bei komplexen, umfangreichen Prozessthemen bietet sich die „Lean DMAIC“ Methode an, die in der Regel zwischen drei bis sechs Monaten benötigt. DMAIC steht hierbei für die zu durchlaufenden Projektphasen: • Define: In der Definephase, wird zunächst das Problem beziehungsweise das (finanzielle) Verbesserungsziel konkretisiert und festgelegt. Das Projekt wird mit seinen Ressourcen und Meilensteinen geplant und vom jeweiligen Steering Committee freigegeben. • Measure: Die notwendigen Daten werden gesammelt; es werden die maßgeblichen Größen gemessen, um ein Bild über den Istzustand der Prozesse zu erhalten. • Analyse: In dieser Phase werden Ursachen und Wirkungen analysiert und anhand von statistischen Methoden abgesichert. • Improve: Nachdem in „Analyse“ die Haupteinflussfaktoren und Fehlerursachen für das festgelegte Projektziel identifiziert wurden, kann hier mit konkreten Prozessverbesserungsmaßnahmen begonnen werden.
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• Control: In dieser letzten Phase des Projektes wird überprüft, ob die angestrebten und in der Define-Phase festgelegten Ergebnisse tatsächlich erreicht wurden und für die weitere Zukunft abgesichert werden können. Statistische Methoden werden dabei eingesetzt, um neben dem Expertenwissen der Teammitglieder auch noch Zahlen und Fakten in die Verbesserungsarbeit einzubeziehen. Durch die Ergänzung des Erfahrungswissens der Mitarbeiter in Form von mathematischen und statistischen Techniken erhält Six Sigma-Ansatz erst seine besondere Wirkung. Besonderer Schwerpunkt kommt dabei der statistischen Untermauerung von Expertenmeinungen zu (vgl. Gamweger/Jöbstl/Strohrmann/ Suchowerskyj 2009, S. 9 ff.). Promotorenkonzept Im Six Sigma-Konzept finden besondere, zum Teil komplexe Methoden und Techniken (zum Beispiel Statistik) intensive Verwendung. Aus Überforderungsgründen kann ungeschulten Mitarbeitern dieses nicht, gering geschulten Mitarbeitern nur begrenzt „zugemutet“ werden. Six Sigma setzt daher auf den Einsatz speziell geschulter und trainierter Mitarbeiter, die idealerweise sogar vollzeitlich für Six Sigma-Projekte zur Verfügung gestellt werden sollten. Die meisten Six Sigma-Funktionen tragen aus dem Kampfsport entnommene Gürtelfarben und werden somit je nach Ausbildungsgrad als zum Beispiel „Green Belt“ oder „Black Belt“ bezeichnet. Diese Personen haben als Projektleiter operativ dafür zu sorgen, dass die Verbesserungsprojekte ordnungsgemäß abgewickelt werden. Bei größeren Projekten wird diese Funktion von Black Belts, bei kleineren Projekten von Green Belts ausgeübt. Unter Machtpromotoren sind in Six Sigma jene Führungskräfte zu verstehen, die sich für ein Vorankommen von Six Sigma-Vorhaben in oberen Managementebenen persönlich einsetzen. Der „Six Sigma-Champion“ oder auch „Projektsponsor“ wird in der Regel von Anfang der Projektdefinition an mit eingebunden und unterzeichnet auch die offizielle Verabschiedung der Projektcharta. In der Projektcharta werden alle wesentlichen projektrelevanten Bausteine definiert, wie zum Beispiel der Projektname des Vorhabens, die Ausgangssituation, die Problemstellung und Zielsetzung, der Projektumfang (in Scope/out of Scope), die Projektleitung/Team sowie die involvierten Bereiche. In der nachfolgenden Abbildung wird beispielhaft eine solche Projekt-Charta dargestellt (vgl. Abb. 12.7). In der Regel sind die Steering-Comittees mit Mitgliedern des Vorstandes des Versicherungsunternehmens besetzt. Es handelt sich dabei, anders als in herkömmlichen Lenkungsausschüssen, nicht um ein Gremium, das ausschließlich Ergebnisse abnimmt, sondern um ein mehr oder weniger stark ausgerichtetes Arbeitsgremium. Alleine die Zeitverteilung, ein Drittel Abnahme von Ergebnissen des Projektes und zwei Drittel Beurteilung des Vorgehens, zeigt, dass sich der Vorstand hier mit konkreten Fakten auf der Arbeitsebene auseinandersetzen muss. Erfahrungen mit Six Sigma-Projekten in Versicherungen zeigten, dass insbesondere der Vorstand mit einer derartigen operativen Auseinandersetzung einzelnen Themen der Projekte nicht vertraut war. Durch dieses Vorgehen wurde dem Vorstand ein
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221
tieferer Einblick in die strukturellen Probleme „seines Hauses“ ermöglicht. Des Weiteren führt diese direkte Auseinandersetzung zwischen Mitarbeiter und Vorstand auf der Arbeitsebene zu hohen Motivationseffekten bei den Mitarbeitern, da in der tradierten Aufbaustruktur der Versicherung dieser Weg üblicherweise ausschließlich über die Führungskräfte im mittleren Management läuft und so kein direkter Zugang der Mitarbeiter zum Vorstand möglich ist.
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 12.7: Beispiel Projekt-Charta
Bei Veränderungen der Rahmenbedingungen im Projekt oder beim Auftreten von Schwierigkeiten können die Vorstände und Führungskräfte auf direktem Wege, das heißt unabhängig vom „normalen“ Dienstweg, für Unterstützungsleistungen eingeschaltet werden.
2.3
Organisatorische Einbindung und Personalentwicklungskonzepte
Neben den methodischen Grundlagen bei qualitätsorientierten Verbesserungsprozessen und der organisatorischen Einbindung von Green- und Black-Belts im Versicherungsunternehmen kommt vor allen Dingen der Personalentwicklung eine besondere Bedeutung zu. In Bezug auf die organisatorische Einbettung im Versicherungsunternehmen existieren grundsätzlich vier Alternativen, die aktuell diskutiert werden:
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1. Es besteht die Möglichkeit, einen „Sub-Bereich“ zu organisieren, der eine Unterabteilung eines Vorstandsbereiches, zum Beispiel ein IT-Ressort bildet. Hier können die Black-Belts gebündelt werden. Da die Green-Belts erfahrungsgemäß für weniger komplexe Projekte eingesetzt werden, sind diese weiterhin in der Linie zu organisieren. Diese Organisationsform hat den Vorteil, dass sie eventuell in bestehende Strukturen des Hauses passt. Die Nachteile sind hier jedoch offenkundig: da die Six Sigma-Leitung nicht direkt in den Gesamtvorstand berichtet, besteht die Möglichkeit einer hohen Intransparenz und Unsicherheit im Unternehmen. Des Weiteren kann eine zu hohe Distanz zu anderen Fachbereichen entstehen. 2. Eine weitere Möglichkeit besteht in der Ausgestaltung eines CompetenceCenters in gleichartiger Form wie ein Vorstandsbereich. Auch hier würden, wie oben diskutiert, die Black-Belts in einer Organisationseinheit gebündelt werden. Die Green-Belts würden weiterhin in der Linie angesiedelt. Diese Organisationsform hätte den Vorteil, das, neben dem entsprechenden Stellenwert in der Gesamtorganisation der Versicherung, die Black-Belts fest im Zugriff des Veränderungsmanagers (KVP-/Six Sigma Leiters) sind. Gravierender Nachteil dieser Organisationsform ist, dass die Organisationseinheit zu klein ist, um einen Vorstandsbereich zu begründen. 3. Die Organisation als funktionaler Setup erfolgt ebenfalls auf der Ebene der Vorstandsbereiche. Dabei wären sowohl die Green- als auch die Black-Belts in der Linie angesiedelt. Die Nachteile sind hier: • Black-Belts sind nicht disziplinarisch an den Veränderungsmanager gebunden, • Black-Belts sind nur unter Schwierigkeiten in übergreifenden Projekten zu staffen und • durch die räumliche Trennung können sich die Black-Belts nur bedingt austauschen. 4. Neben den oben beschriebenen Organisationsformen, bietet sich noch die Möglichkeit der Organisation als Competence-Center in Form einer Stabsstelle an. Diese Stabsstelle würde im günstigsten Falle direkt dem CEO des Versicherungsunternehmens zugeordnet sein. Hier hat man notwendiger Weise alle Vorteile des oben detailliert beschriebenen Competence-Centers, ohne den schwerwiegenden Nachteil der kritischen Größe eines Vorstandsbereiches. Aus der Diskussion der unterschiedlichen Organisationsmodelle lässt sich die Komplexität der aufgeworfenen Fragestellung erkennen. Aus Projekterfahrungen von 67rockwell Consulting sollte diese Auseinandersetzung frühzeitig geführt werden, denn wenn die organisatorische Einbettung nicht geklärt ist, kann insbesondere die Rekrutierung ausgewählter Black-Belts erschwert werden. Neben der organisatorischen Ansiedlung der Einheit für „qualitätsorientiertes Veränderungsmanagement“, gilt es für den Personalbereich, frühzeitig Überlegungen hinsichtlich der Entwicklung eines innovativen Personalentwicklungskonzeptes für das Versicherungsunternehmen zu konzipieren.
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Grundsätzlich dient die Personalentwicklung dem Ausbau und dem Erhalt der Leistungsfähigkeit und der Flexibilität aller Mitarbeiter, vom Auszubildenden bis zum Management „rund um“ die Bereiche Wissen, Wissen, Können und Wollen, um den aktuellen und zukünftigen Anforderungen gerecht zu werden. Dabei ist eine zielorientierte Planung, Umsetzung und Ergebniskontrolle unbedingt erforderlich. Personalentwicklung beinhaltet alle Maßnahmen der Bildung (zum Beispiel Beispiel Berufsausbildung, Weiterbildung, Umschulung) und Förderung (zum Beispiel Karriereplanung, Mitarbeitergespräch, Coaching) aller Mitarbeiter. Sie umfasst die Konzeption und Implementierung von wichtigen Personalentwicklungs- und Führungsinstrumenten sowie einen Teilbereich der Organisationsentwicklung. Grundsätzlich lässt sich das Feld der Personalentwicklung in zwei Ebenen beschreiben:
• Die erste Ebene, dass gesamte Personalentwicklungskonzept des Versicherungsunternehmens, stellt den Rahmen für einzelne Personalentwicklung Personalentwicklungsmaßnahmen dar und umfasst Aussagen zu grundsätzlichen Haltungen und Vorgehensweisen. • Die zweite Ebene stellt die anschließende praktische Umsetzung dar, die sich aus einzelnen, oft recht unterschiedlichen Maßnahmen zusammensetzt. Dabei gilt es zu beachten, dass nicht jede Maßnahme für jeden Zweck geeignet ist. Deshalb ist es notwendig, für jede Anforderung immer den strategisch besten Instrumentenmix zu finden. Welche Ansätze erfolgreich sind, hängt von Faktoren der jeweils spezifischen Unternehmens- und Mitarbeitersituationen ab (vgl. Lorenz/ Rohrschneider 2007, S. 284 ff.; vgl. Abb. 12.8).
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 12.8: Übergreifendes Personalentwicklungskonzept
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Wie die vorstehende Abbildung zeigt, gilt es hier, möglicherweise neue Rollenmodelle, die abseits der Linienorganisation eines Versicherers sind, zu konzipieren und umzusetzen. Hier bietet sich insbesondere an, ein Karrieremodell zu entwickeln, welches Prozess-/Projektmanager beziehungsweise Projektleiter neben der Linienorganisation abbildet. Insbesondere vor dem Hintergrund der Rekrutierung von Black-Belts, sind die üblichen Fragestellungen: • Wie sind die Karriereperspektiven außerhalb der Linienorganisation? • Kann man beispielsweise über den Weg der Black-Belts Führungskraft in der Linie werden? • Sind die Entwicklungspfade genauso effizient wie in der Linie? • Gibt es gleichwertige Leitungsfunktionen in der Organisation? • Zeitpunkt der Überführung in die Linie? • etc. frühzeitig zu beantworten. Wie oben ausführlich diskutiert, lässt sich zusammenfassend feststellen, dass insbesondere mit dem Beginn von qualitätsorientierten Verbesserungsprozessen frühzeitig sowohl die organisatorische Einbettung der „neu“ entstehenden Organisationseinheit als auch innovative Personalentwicklungskonzepte zu konzipieren sind.
3
Inhaltliches und methodisches Vorgehen bei der Einführung von Six Sigma
Die Einführung derartiger qualitätsorientierter Veränderungsprozesse in Versicherungsunternehmen, mit Six Sigma, bedarf einer detaillierten Planung und Steuerung. Die Projekterfahrungen von 67rockwell Consulting zeigen, dass sich hier ein drei stufiges Vorgehen anbietet. Die nachfolgende Abbildung illustriert dieses Vorgehen (vgl. Abb. 12.9). In der Vorbereitungsphase sind zunächst die Rahmenbedingungen zur Etablierung des Lenkungsausschusses beziehungsweise Steering Committee herzustellen. Dazu gehört einerseits die Zusammensetzung mit relevanten Mitgliedern des Vorstandes als auch das Finden weiterer Sponsoren beziehungsweise Champions für einzelne Projektvorhaben. Insbesondere für das Steering Committee sind am Eingang die Aufgaben festzulegen und mit den Mitgliedern abzustimmen. In der Regel sind nachfolgende Aufgaben des Gremiums relevant: • • • • • •
Auswahl der Verbesserungsprojekte, Auswahl des Champion für jedes Projekt, Beurteilung und Abnahme der Projekt-Charter, Budgetfreigabe, Abnahme der einzelnen Projektergebnisse sowie Verankerung zur Unternehmensstrategie sicherstellen.
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225
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 12.9: Vorgehen zur Einführung
Nachdem das Lenkungsgremium (Steering Committee) etabliert ist, gilt es, die Projekte zu selektieren, die in der Kick-off Veranstaltung abzunehmen sind. Hier sollte systematisch vorgegangen werden, da sich nicht alle Vorhaben mit dem Six Sigma-Ansatz lösen lassen. Zu diesem Zwecke prüft man jedes Vorhaben entsprechend der nachfolgend dargestellten „Projektselektionsleiter“ (vgl. Abb. 12.10). Nach Auswahl der Projekte mit der entsprechenden Methode, sind die einzelnen Projekte zu priorisieren. Erfahrungsgemäß sind zu Beginn nicht genügend Ressourcen vorhanden, um alles in der gewünschten Qualität abzuarbeiten. Dazu bietet es sich an, die Projekte entsprechend unternehmensspezifischer Kriterien zu beurteilen und anschließend zu priorisieren. Dabei können Kriterien, wie zum Beispiel Kundenzufriedenheit, Machbarkeit der Projekte, Kosten-/Nutzenbetrachtung sowie Unterstützung der jeweiligen Unternehmensstrategie, als gewichtete Kriterien Berücksichtigung finden. Um ein hohes Commitment der Vorstandsmitglieder auf das Gesamtvorhaben zu erreichen, sollte ein „Awareness Training“ durchgeführt werden. Dabei wird weniger auf die Schulung statistischer Verfahren Wert gelegt, als vielmehr deren Anwendung in praktischen Beispielen. So wurden beispielsweise im Rahmen eines Projektes die Vorstände mit einer sogenannten Katapult-Übung im Schnellverfahren in die methodischen Ansätze von Six Sigma eingeführt. Im Weiteren gilt es in der Vorbereitungsphase, die notwendigen Richtlinien für Personal und Finanzen zu erstellen und mit den betroffenen Fachbereichen abzustimmen. Wesentlich ist es auch, sich frühzeitig mit
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der Ausarbeitung des Kommunikationskonzeptes zu befassen. Erfahrungsgemäß ist es zwingend notwendig, den Betriebsrat frühzeitig in das Gesamtvorhaben einzubinden, da ansonsten mit möglichen „Blockaden“ zu rechnen ist. In der Vorbereitungsphase werden sowohl die Black- als auch die Green-Belts für die späteren Projekte ausgewählt. Nachdem festgelegt wurde, aus welchen Ressorts die Green- und Black-Belts zu rekrutieren rekrutieren sind, wurden die Ressortvorstände aufgefordert Vorschläge an das Six Sigma-Team zu liefern. Diese Vorschläge zu den genannten Mitarbeitern wurden im Steering Committtee diskutiert und anschließend für die ausgewälten Black-Belts ein Assessment Center durchgeführt. Aufgrund des aufwändigen Auswahlverfahrens sollte das Personalentwicklungskonzept, wie oben ausführlich diskutiert, vorliegen.
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 12.10: Projektauswahlverfahren
Im Anschluss an die Vorbereitungsphase erfolgt in der Pilotphase die eigentliche Ausbildung der Green- und Black-Belts. Daneben ist es sinnvoll, die ersten Pilotprojekte zu starten, damit die methodische Grundausbildung direkt angewendet wird. Die Startprojekte sollten nicht zu komplex sein, um die in der der Ausbildung befindlichen Mitarbeiter nicht zu demotivieren. Nachdem erste Erfahrungen mit den Pilotprojekten vorliegen, sollte die Kommunikation ins Versicherungsunternehmen intensiviert werden. Möglichkeiten sind hier, eventuell über das Intranet, Ergebnisse zu einzelnen Projekten zu veröffentlichen.
In der Rollout-Phase beginnen alle weiteren Ausbildungswellen von Green- und Black-Belts sowie die Ausbildung von internen Trainern, die anschließend die
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227
Aufgabe der externen Ausbildung im Versicherungsunternehmen übernehmen. Desweiteren werden, entsprechend dem oben ausführlich beschriebenen Projektauswahlverfahren, weitere Projekte in die Umsetzung gebracht. Wesentlich in dieser Phase ist es, den gesamten Regelprozess der Prozessoptimierung und späteren Steuerung zu initiieren. Nachdem nun ausführlich das strukturierte Vorgehen für die Einführung von qualitätsorientierten Verbesserungsprozessen auf Basis von Six Sigma-Ansätzen diskutiert wurde, sollen im nachfolgenden Abschnitt die kritischen Erfolgsfaktoren derartiger Vorhaben diskutiert werden.
4
Kritische Erfolgsfaktoren bei qualitätsorientierten Verbesserungsprozessen in der Versicherung
Die erfolgreiche Umsetzung von qualitätsorientierten Verbesserungsprozessen richtet sich an acht kritischen Erfolgsfaktoren in vier Bereichen aus: Allgemein 1. Das Sponsoring durch das Top-Management ist ein entscheidender Erfolgsfaktor bei der Einführung des Six Sigma-Ansatzes. Organisation/Kommunikation 2. Mitarbeiterorientierte Kommunikation ist erfolgskritisch für die Einführung von Six Sigma orientierten Veränderungsprozessen im Unternehmen. 3. Die organisatorische Ansiedlung im Unternehmen ist frühzeitig zu klären, um dem Aspekt der Nachhaltigkeit Rechnung zu tragen. 4. Frühzeitige Einbindung in ein übergreifendes Personalentwicklungskonzept bietet engagierten Mitarbeitern Karrierechancen. Mitarbeiter 5. Der Know-How Transfer auf die Mitarbeiter muss unmittelbar nach Projektstart erfolgen und sukzessive ausgebaut werden. 6. Eine angemessene Anzahl von Black- und Green-Belts ist entscheidend für die erfolgreiche Etablierung. 7. Nachhaltiger Erfolg wird durch die Einbeziehung aller Mitarbeiter im Rahmen eines „Bottom-up-Ansatzes“ erreicht. Ansatz 8. Die Kombination aus „Top-down und Bottom-up“ Vorgehensweise führt zu optimalen Ergebnissen in der Umsetzung.
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Zusammenfassung und Ausblick
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass durch die Einführung von qualitätsorientierten Verbesserungsprozessen auf der Basis des Six Sigma-Ansatzes mehrere Benefits für das Unternehmen verbunden sind. Von Beginn der Initiative an werden messbare finanzielle Resultate erzielt und können in der Gesamtorganisation kommuniziert werden. Des Weiteren orientiert sich dieser Ansatz radikal am Kunden, sowohl intern als auch extern und verändert damit das Verhalten der Mitarbeiter. Schrittweise wird ein Business Process Management-System aufgebaut, das dem Top-Management die Steuerung des Unternehmens auf Basis von Zahlen, Daten und Fakten ermöglicht sowie klare Verantwortlichkeiten in der Organisation schafft. Daneben werden die Leistungen der Mitarbeiter messbar und objektivierbar. Ein weiterer wesentlicher Erfolg ist die Auflösung des in Versicherungsunternehmen typischen vertikalen (Silo-) Denkens durch prozessorientiertes Denken.
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Literatur Deloitte, C: Versicherungsunternehmen auf dem Weg zur Industriealisierung, in: Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung (ZfbF), 2007, S. 50ff. Gamweger, J./Jöbstl, O./Strohrmann, M./Suchowerskyj, W.: Design for Six Sigma. Kundenorientierte Produkte und Prozesse fehlerfrei entwickeln 2009. Harvard Business manager: Was ist…Six Sigma, 2005, S. 45ff. Hillenkötter, D.: Erfahrungen der Deutschen Automobilindustrie mit Just-InTime-, Toyota- und Lean-Production, Seminar: “Lohn und Leistung“, Ruhr-Universität Bochum, 2007. Kostka, K./Kostka, C.: Der kontinuierliche Verbesserungsprozess, Stuttgart 2006. Lieber, K./ Moormann, J.: Six Sigma: Neue Chancen zur Produktivitätssteigerung in: Die Bank 1, 2004, S. 28-33. Lieber, K.: Six Sigma in Banken, Frankfurt 2004. Lorenz M./ Rohrschneider, U.: Praxishandbuch für Personalreferenten 2007.
Campus
Reich, M.: Innovatives Kundenbindungs-Controlling, München 2003 Töpfer, A.: Six Sigma in Banken und Versicherungen, 3. Aufl., Berlin 2007. Uzzi, J., A./Attenello, D.: Six Sigma: Ein messbarer Ansatz zur Qualitäts-Services, in: Insurance Journal, 2004, S. 1-3.
Kapitel 13 Corporate Citizenship bei Versicherungen Dr. Nicole Fabisch
In den letzten Jahren lässt sich international und auch in Deutschland eine verstärkte Diskussion um die Rolle von Unternehmen in der Gesellschaft und die ethischen Grundlagen des Wirtschaftens verzeichnen. Der zunehmende Rückzug des Staates aus der sozialen Verantwortung sowie die aktuelle Finanzkrise verstärkten diese Tendenz in den Medien und im öffentlichen Diskurs. Dazu kommen „hausgemachte“ Skandale um die Höhe der Managergehälter, die Maßlosigkeit einzelner Wirtschaftsakteure oder unseriöse Geschäftspraktiken in verschiedensten Branchen, die der Diskussion um die Verantwortung der Wirtschaft neue Nahrung geben. Folglich sind die Themenfelder um gesellschaftliches oder „bürgerschaftliches“ Engagement, Corporate Social Responsibility (CSR) und Corporate Citizenship (CC) aktueller denn je und auch für die Versicherungsbranche sehr relevant.
1
Herausforderungen an das Versicherungsmarketing
Versicherungen stehen zwar nicht ganz so stark im Fokus der Öffentlichkeit wie die Banken, doch ist das Image der Versicherungsbranche auch nicht das Beste (vgl. Görgen 2008, S. 22). In den Medien liest man von beträchtlichen Vorstandsgehältern, während parallel die Leistungen reduziert und die Beitragssätze für die Versicherten erhöht werden sowie von erheblichen Provisionen für unerhebliche Versicherungsdienste. Parallel dazu veränderte sich in den letzten Jahren das wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Umfeld des deutschen Versicherungsmarktes. Die Deregulierung des Europäischen Binnenmarktes führte zunächst zu einer Marktsättigung und anschließend zu Konzentrationstendenzen. Diese wiederum bedingten aggressivere Marketingpraktiken und entsprechend neue Medienkritik am Vorgehen der Branche.
M.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing, DOI 10.1007/978-3-642-10276-9_13, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
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In diesem Spannungsfeld zwischen öffentlichem Rechtfertigungsdruck und neuen ökonomischen Herausforderungen an das Versicherungsmarketing gewinnt soziales Engagement an Bedeutung. Versicherungen müssen sich - wie Unternehmen in anderen Branchen auch - verstärkt um die Emotionalisierung der Kommunikation als Basis für Sympathie- und Vertrauensaufbau bemühen. Dies gilt für Versicherungsunternehmen umso mehr, als das Vertrauen in dieser Branche von noch elementarerer Bedeutung als in anderen Wirtschaftszweigen ist. Zur Sicherung des langfristigen Unternehmenserfolges kann es sich folglich als sehr sinnvoll erweisen, sich gerade auch in Krisenzeiten als aktiver, vertrauenswürdiger und verlässlicher „Corporate Citizen“ zu positionieren. So lassen sich in einem dynamischen Markt Vertrauen und ein positives Image auf bauen, die eine wesentliche Grundlage zur Sicherung langfristiger Unternehmensziele, wie beispielsweise der Kunden- und Mitarbeiterloyalität, bilden. Im Folgenden sollen nach einer kurzen theoretischen Fundierung die zentralen Nutzenaspekte sowie die relevante Rahmenbedingungen für die Implementierung erfolgreichen Corporate Citizenships dargestellt werden.
2
Begriffsklärung und theoretische Einbettung
2.1
Corporate Citizenship
Corporate Citizenship wird in Deutschland im Allgemeinen mit „bürgerschaftlichem“ oder sozialem Engagement übersetzt. Hierunter wird „das gesamte koordinierte, einer einheitlichen Strategie folgende und über die eigentliche Geschäftstätigkeit hinausgehende freiwillige soziale Engagement eines Unternehmens zur nachhaltigen Lösung gesellschaftlicher Probleme verstanden“ (vgl. Fabisch 2004, S. 37). Der Passus „über die eigentliche Geschäftstätigkeit hinausgehend“ setzt einer allzu breit angelegten Auslegung des Corporate Citizenship-Begriffes dahingehend Grenzen, dass er die Einhaltung legaler und ökonomischer Verantwortlichkeiten oder „Bürgerpflichten“ in Form von Gesetzen oder profitablem Wirtschaften für „ehrbare Kaufleute“ voraussetzt. Auch die korrekte Abfuhr von Steuern, ehrliche Buchführung oder die Unterlassung korrupter Praktiken werden nicht unter den Begriff des Corporate Citizenship gefasst. Die Übernahme grundlegender legaler und wirtschaftlicher Verantwortung bildet gewissermaßen das Fundament dafür, sich auf einer freiwilligen Ebene darüber hinaus sozial zu engagieren. Ohne die Akzeptanz dieses Fundaments wäre weiteren sozialen Aktivitäten jede Basis der Glaubwürdigkeit und des langfristigen Erfolges genommen. Die zentrale Überlegung, die Corporate Citizenship von Spendenwesen, Mäzenatentum und anderen gelegentlichen Wohltaten unterscheidet ist, dass Unternehmen sich pro-aktiv auch unter Einsatz nicht-monetärer Unternehmensressourcen, wie Mitarbeiterzeit oder Know-how, einbringen, ihren Einsatz strategisch ausrichten und diesen systematisch kommunizieren.
13 Corporate Citizenship
2.2
233
Corporate Social Responsibility
Im Unterschied zu Corporate Citizenship ist Corporate Social Responsibility (CSR) das breitere beziehungsweise weitergehende Konzept. CSR wird in der Unternehmenspraxis gemeinhin als freiwillige Verpflichtung verstanden, auf eine bessere Gesellschaft und eine saubere Umwelt hinzuwirken (vgl. Europäische Kommission 2002, S. 5). CSR kommt hierbei einem gängigen Verständnis von Nachhaltigkeit („sustainability“) sehr nahe, das den Unternehmen eine Rechenschaftslegung nach sozialen, ökologischen und ökonomischen Kriterien abverlangt. Während die Diskussion in Deutschland lange Zeit stark umweltpolitisch geprägt war, rücken auch hierzulande zusehends soziale Fragestellungen in den Mittelpunkt. Somit bildet CSR als „freiwillige Integration von Umwelt- und Sozialaspekten in Unternehmensabläufe, zusätzlich zu rechtlichen Anforderungen und vertraglichen Verpflichtungen“ (www.europarl.europa.eu) gewissermaßen das übergeordnete Gesamtkonzept, in das sich Corporate Citizenship auf der obersten Ebene der Verantwortungspyramide einordnen lässt (vgl. Abb. 13.1).
Quelle: Eigene Darstellung in Abwandlung von Carrol 2008, S. 66
Abb. 13.1: Verantwortungspyramide
234
Dr. Nicole Fabisch
2.3
Verantwortungspyramide als theoretische Basis des CC
Bereits 1979 entwickelte Archie Carroll eine Pyramide der Corporate Social Responsibility und definierte CSR wie folgt: “The social responsibility of business encompasses the economic, legal, ethical and discretionary expectations that society has of organizations at a given point in time”( Carroll 1979, S. 500). In Abwandlung von Carroll wird hier eine Verantwortungspyramide zugrunde gelegt, bei der nicht die wirtschaftliche Profitabilität, sondern die Einhaltung der gesetzlichen Rahmenbedingungen als Fundament verantwortungsbewussten Wirtschaftens festgelegt wird (Der folgende Text folgt in Auszügen Fabisch 2009). Inhaltlich fußt diese Überlegung darauf, dass eine zu starke Ausrichtung auf die Profitabilität im ökonomisch-legalen Konfliktfall eine ethisch nicht zu rechtfertigende Bevorzugung des wirtschaftlichen Vorteils bedingen könnte. Diese legale Verantwortungsbasis der CSR wird oftmals auch als Compliance (Einhaltung geltender Gesetze sowie unternehmensinterner Regelungen) bezeichnet. Darauf aufbauend folgt die wirtschaftliche Profitabilität einer Unternehmung ohne die alle weiteren freiwilligen Maßnahmen nicht möglich wären. Anders als bei Carroll wird hier eine Erzielung angemessener Gewinne zu Grunde gelegt und nicht die Maximierung der Renditeerwartungen der Shareholder. Die Maximierungsprämisse schließt beispielsweise die Berücksichtigung der Arbeitnehmerinteressen im Konfliktfall weitgehend aus und kann somit nicht als legitime Orientierungshilfe angesehen werden. Auf der nächsten Ebene der Pyramide wird die ethische Verantwortung verortet, die bedeutet, dass Unternehmen den jeder Gemeinschaft zugrunde liegenden gesellschaftlichen Grundkonsens akzeptieren und nicht gegen moralische Normen und Werte verstoßen. Auf der obersten Ebene der Verantwortungspyramide befinden sich die freiwilligen sozialen Maßnahmen. Diese lassen sich in interne Maßnahmen unterteilen, die den Mitarbeitern des Unternehmens zugute kommen und externe Aktivitäten, die ein Unternehmen durchführt, um beispielsweise soziale Projekte zu unterstützen. An dieser Stelle wird Corporate Citizenship verortet. Diese Form des Engagements gründet sich auf die Idee, dass Unternehmen ein Teil der Gesellschaft sind. Sie nutzen natürliche oder kulturelle Ressourcen, woraus ihnen eine Verpflichtung erwächst, der Gesellschaft ihrerseits etwas zurückzugeben. Ihr Engagement gilt es den interessierten Stakeholdern gegenüber transparent zu machen. Hierfür erhalten die Unternehmen ihre „Licence to operate“. Diese Lizenz bezeichnet eine Art gesellschaftliche Handlungsvollmacht, welche ein Unternehmen legitimiert, seine Geschäfte zu tätigen und am Wettbewerb teilzunehmen. Eine Möglichkeit das notwendige gesellschaftliche Vertrauen für die Erteilung dieses gesellschaftlichen Gewerbescheins zu erlangen, ist das freiwillige soziale Engagement. Hierbei erweist sich vor allem die nach außen getragene Komponente des „Corporate Citizenship“ als probates Mittel. Dass es sich hierbei nicht um mildtätige Gaben, sondern um ein nutzenorientiertes Konzept handelt, das für Begünstigte und Unternehmen Gewinn bringt, soll im Folgenden skizziert werden.
13 Corporate Citizenship
3
235
Strategisches Corporate Citizenship
Wenngleich Corporate Citizenship in der oben angeführten Definition per se als strategisch verstanden wird, sind in der Unternehmenspraxis diverse Aktivitäten anzutreffen, die „aus dem Bauch heraus“ und ohne jede strategische Überlegung durchgeführt werden. Dieses führt dazu, dass mögliche Synergieeffekte verschenkt werden und der Glaube an eine langfristig Nutzen bringende Investition zumeist eher schwach ausgeprägt ist. Aus diesem Grund sollen zunächst einige innovative Instrumente vorgestellt und anschließend unterstützende Argumente angeführt werden, inwieweit gerade Versicherungen aus gesellschaftlichem Engagement einen Nutzen ziehen können.
3.1
Instrumente des Corporate Citizenship-Mix
Gesellschaftliches Engagement wird von Versicherungen traditionell groß geschrieben und ist per se kein Novum. Unternehmensspenden (corporate giving), Unternehmensstiftungen (corporate foundations) oder Sozialsponsoring gehören meist seit Jahren zum Repertoire des sozialen Engagements der Branche. Neu hingegen ist die strategische Ausrichtung auf die Kernkompetenzen des Unternehmens sowie die Einbeziehung vielfältiger, nicht nur monetärer Ressourcen. Dieser Ansatz geht weit über das klassische und nicht strategische Spendenwesen und Mäzenatentum hinaus. Auch die Übernahme eines Sponsorships zum Beispiel durch die Ausrüstung einer Jugendfußballmannschaft mit Trikots, auf denen Logo und Name der Versicherung stehen, ist nicht dasselbe wie Corporate Citizenship und bestenfalls ein Teil davon. Innovative Maßnahmen im Sinne des CC-Verständnisses sollen nicht nur zur nachhaltigen Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen, sondern auch alle Arten von Ressourcen des Unternehmens unter besonderer Berücksichtigung seiner spezifischen Kompetenzen nutzen (vgl. Abb.13.2). Hierdurch entstehen die viel zitierten Win-Win-Situationen, bei denen der Nutzen sozialen Engagements sowohl für das Unternehmen als auch für die Begünstigten entsteht. Die als innovativ bezeichneten Instrumente, sollen im Folgenden erläutert werden: Unter Cause-Related Marketing (CRM) wird die Nutzung von Marketingbudgets, -techniken und -strategien zur Unterstützung einer „guten Sache“ unter gleichzeitiger Berücksichtigung der eigenen Geschäftsinteressen verstanden. Das bedeutet, dass beim Kauf eines Produkts oder einer Dienstleistung ein Teil der Erlöse einem sozialen Zweck zugute kommt. Darüber hinaus können Unternehmen auch Aufträge an soziale Organisationen (social commissioning) vergeben, um sie dadurch zu unterstützen oder gezielt nachhaltige Projekte in der Region fördern (venture philanthropy), indem die Risikokapital einsetzen.
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Dr. Nicole Fabisch
Unter einem Gemeinwesen Joint-Venture versteht man eine gemeinsame Unternehmung einer gemeinnützigen Organisation und einem Unternehmen, in die beide Partner Ressourcen und Know-how einbringen und die keiner allein durchführen könnte. Beim Sozialen Lobbying nutzen Unternehmensvertreter ihre guten Kontakte zur Politik, um sich für den Sozialpartner stark zu machen. Ein weiteres Instrument ist Corporate Volunteering (CV). Hierbei können Mitarbeiter der Versicherung aktiv in ein ehrenamtliches Unternehmensprojekt eingebunden werden und beispielsweise als Mentoren für Jugendliche fungieren. Alternativ können sie auch tageweise für unterschiedliche ehrenamtliche Aktivitäten freigestellt werden.
Abb. 13.2: Corporate Citizenship-Mix
Für Versicherungen lassen sich hier eine Reihe von von kreativen Ansätzen vorstellen, die mit dem Kerngeschäft zusammen hängen und somit nicht nur glaubwürdig, sondern auch ökonomisch sinnvoll erscheinen. Themen rund um Risikoprävention, Sicherheit und Erhalt einer lebenswerten, gesunden Umwelt erscheinen ebenso ebenso passend wie jede Form der Gesundheitsförderung. Zentral ist, sich zu überlegen, wo sich Kompetenzen und Ressourcen bündeln lassen, um gemeinsam mit den Sozialpartnern Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen zu finden.
13 Corporate Citizenship
3.2
237
Business Case für Corporate Citizenship
Mittlerweile sind die meisten Unternehmen davon überzeugt, dass gesellschaftliches Engagement zu gutem Wirtschaften gehört. So sehen fast siebzig Prozent der befragten Unternehmen „in CSR-Initiativen einen Renditefaktor, der in nachhaltigem Wachstum, Wettbewerbsvorteilen und höherer Reputation zum Ausdruck kommt“ (vgl. Pohle/Hittner 2008, 3). Wenngleich Corporate Citizenship das schmalere Konzept ist, das sich auf Aktivitäten beschränkt, die vor allem dem Gemeinwesen zugute kommen, so gibt es auch hierfür eine Reihe von guten Gründen (vgl. Abb. 13.3), die nicht nur aus ethischen, sondern auch aus betriebswirtschaftlichen Aspekten für einen strategischen Einsatz sozialer Maßnahmen sprechen.
Abb. 13.3: Nutzenfelder für Unternehmen
3.2.1 Personalentwicklung Im Dienstleistungssektor wie dem Versicherungswesen stellen qualifizierte und motivierte Mitarbeiter bei einem oftmals nahezu homogenen und abstrakten Produktangebot einen zentralen Vermögenswert dar. Ohne kompetente und motivierte Mitarbeiter lassen sich keine tragfähigen Kundenbeziehungen auf- und ausbauen, so dass kognitives und verhaltensorientiertes Know-how nicht nur den Imitationsschutz, sondern auch die Wettbewerbsposition verbessert. Nach einer GallupUmfrage aus dem Jahr 2004 sind gerade nach Fusionen aber nur noch 12 Prozent der deutschen Arbeitnehmer engagiert bei der Arbeit, während 70 Prozent „Dienst nach Vorschrift“ machen (vgl. www.presseportal.de, 18.10.2004).
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Dr. Nicole Fabisch
Darüber hinaus betragen die Fehlzeiten unmotivierter Arbeitgeber im Durchschnitt vier Tage mehr als bei zufriedenen Mitarbeitern. Diese Problematik geht weitgehend auf eine schlechte Führung und eine mangelnde emotionale Bindung der Mitarbeiter an den Arbeitgeber zurück. Hier lassen sich über soziale Maßnahmen Potenziale ausbauen. Gerade nach Fusionen kann soziales Engagement eine positive Wirkung entfalten, indem es die Herausbildung einer neuen gemeinsamen Unternehmenskultur fördert. Untersuchungen haben ergeben, dass beispielsweise Freiwilligenprogramme entscheidend dazu beitragen können, die Identifikation der Mitarbeiter mit dem neuen Arbeitgeber zu erhöhen. Indem sich die Mitarbeiter gemeinsam für außenstehende Dritte engagieren, erleben sie sich als Teampartner und nicht als Konkurrenten (vgl. Habisch 2003, S. 69). Somit können wichtige Schritte zur Schaffung von Gemeinsinn und einer neuen gemeinsamen Firmenkultur eingeleitet werden. Auch im Hinblick auf die Loyalität dem Arbeitgeber gegenüber haben sich CCMaßnahmen als erfolgreich erwiesen. So versicherten neun von zehn Arbeitern, stolz auf ihr Unternehmen zu sein, das soziale Maßnahmen durchführte, während die durchschnittlichen Werte bei nicht engagierten Firmen nur bei 56 Prozent lag. Führungskräfte bestätigen außerdem, dass die Einführung aktiver Freiwilligenprogramme zur Förderung sozialer Projekte sowohl die Produktivität als auch die Moral der Mitarbeiter gesteigert hätte. Burger King verzeichnete beispielsweise in den USA binnen eines halben Jahres nach Einführung eines strategischen Spendenprogramms eine Halbierung der Fluktuationsrate seiner Mitarbeiter. Sogar solche Maßnahmen des sozialen Marketing, die ihr eigentliches Absatzziel verfehlten, erwiesen sich unter Aspekten der Mitarbeitermotivation als hocheffektiv. Die Unterstützung nichtkommerzieller Projekte kann insgesamt dazu beitragen, die Arbeit als sinnvoller zu erleben, den Teamgeist zu fördern und die Arbeitszufriedenheit zu erhöhen. Auch im Hinblick auf die Gesunderhaltung der Arbeitskräfte kann das gemeinsame Engagement von Kollegen für eine als sinnvoll erlebte „gute Sache“ die psychische Stabilität verbessern und dem sogenannten BurnOut-Syndrom entgegenwirken. Darüber hinaus sind sozial engagierte Unternehmen als Arbeitgeber deutlich attraktiver als andere Firmen, wodurch sich auch im Recruiting Wettbewerbsvorteile generieren lassen (Eine ausführliche Dokumentation der Studienergebnisse zur Mitarbeitermotivation findet sich bei Fabisch 2004, S. 130 ff.). 3.2.2 Corporate Communication Der Aufbau eines guten Rufes, der Reputation, gilt als eines der zentralen strategischen Ziele des Managements. Die Bedeutung dieser positiven Außenwahrnehmung hat in den letzten Jahren in allen Branchen kontinuierlich zugenommen und stellt gerade im vertrauenssensiblen Versicherungssektor einen zentralen Vermögenswert dar. Auf Grund der Besonderheiten von Versicherungsprodukten sowie den daraus resultierenden Informationsasymmetrien zwischen Mitarbeitern und Kunden spielt der gute Ruf und das daraus resultierende Vertrauen eine besonders
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wichtige Rolle im Wettbewerb. Folglich muss die Herausbildung der Reputation als vertrauenswürdiger Versicherer und damit einhergehend der Aufbau einer positiv konnotierten Marke eines der wichtigsten strategischen Ziele des Versicherungsmarketing sein. Zur Verbesserung des bestehenden Rufes und zum Aufbau einer positiv besetzten Marke kann soziales Engagement eine erhebliche Unterstützungsfunktion entfalten, stößt doch die herkömmliche Werbung zunehmend an Akzeptanz- und Wirkungsgrenzen. Die Entstehung der Reputation hängt entscheidend davon ab, inwieweit es einem Unternehmen gelingt, erfolgreich die Erwartungen seiner Stakeholder zu befriedigen. Ein guter Ruf bildet sich nämlich längst nicht mehr nur aufgrund einer guten finanziellen Performance oder der Produkt- und Servicequalität eines Unternehmen, sondern umfasst weitere Facetten wie der emotionalen Anziehung, der Fähigkeiten zu Vision und Führung, der Qualität des Arbeitsplatzes und der gelebten sozialen Verantwortung (vgl. Fombrun 2001, S. 23 ff.). Interessant ist in diesem Zusammenhang nicht nur die positive Einflussnahme sozialer Maßnahmen auf die emotionale, soziale und arbeitsplatzbezogene Komponente der Reputation, sondern auch mögliche positive Effekte im Hinblick auf das Innovationspotenzial. Indem nämlich Sozial- und Umweltaspekte in den Fokus rücken, lassen sich neue, ethisch „angereicherte“ Allfinanzpakete vorstellen, die einen moralischen Zusatznutzen enthalten. Verantwortungsvolles Handeln hat auch Auswirkungen auf die finanzielle Performance (vgl. Boston College 2009, S. 7), bedingen doch Reputations- und Vertrauensverluste im Allgemeinen beträchtliche Umsatzeinbußen, mangelndes Interesse von Nachwuchskräften am Unternehmen oder einen Rückgang der Produktivität der beschäftigten Mitarbeiter. All dies ist der Gewinnerzielung nicht gerade zuträglich. Im Hinblick auf den guten Ruf und die entsprechende Markenbildung können Corporate Citizenship-Aktivitäten also eine entscheidende Rolle spielen und zu einer deutlichen und positiven Differenzierung im Wettbewerb beitragen. 3.2.3 Neukundengewinnung und Kundenbindung Für die Gewinnung von Neu- und die Bindung von Bestandskunden liegt im sozialen Engagement bislang noch wenig genutztes Marketingpotential. Dabei ist gerade beim Abschluss einer so langfristigen Verpflichtung wie eines Versicherungsvertrages der gute Ruf des Unternehmens entscheidend. Da sich viele Produkte im Hinblick auf Preis und Qualität kaum voneinander unterscheiden, kann die Übernahme sozialer Verantwortung und ihre aktive Einbindung in die Unternehmenskultur und -kommunikation eine erhebliche Hebelwirkung im Hinblick auf die Kundengewinnung und -bindung entfalten. Da sich die Preisspirale, auf die viele Anbieter setzen, nicht unbegrenzt nach unten schrauben lässt, ist eine Positionierung als integerer Partner im Gemeinwesen nicht nur aus ethischen Erwägungen zu empfehlen, sondern wird auch unter Marketinggesichts-punkten zunehmend attraktiver.
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Im Rahmen einer konsequenten Positionierung als Corporate Citizen lassen sich vielfältige Anpassungen an bestehende Strukturen und Angebote auch des Versicherungsmarketing vorstellen. Neben den notwendigen internen Strukturveränderungen ist gerade eine Anpassung des Marketing-Mix geeignet, eine modifizierte Geschäftspolitik nach außen zu dokumentieren (vgl. Abb. 13.4).
Abb. 13.4: Corporate Citizenship im Marketingmix
Ein verändertes Produktprogramm beispielsweise durch die Einführung nachhaltiger Lebensversicherungen, neue Wege der Kommunikation, die alle relevanten Stakeholder im Dialog berücksichtigen, veränderte Preisstrukturen mit Sozialbezug oder Vertriebsanreize zum Beispiel zur Förderung nachhaltiger Produkte wirken als aktiv dokumentierte und integrativ umgesetzte Indikatoren einer gesellschaftsorientierten Versicherungspolitik positiv auf die Beziehungen zu verschiedenen Stakeholdergruppen. Sie tragen dazu bei, Vertrauen zu schaffen und den guten Ruf der Versicherung als Partner des Kunden und fairer Arbeitgeber aufzubauen. Darüber hinaus ist es nicht nur im Interesse von Versicherungen, Neukunden zu gewinnen und Bestandskunden zu halten, sondern vor allem diejenige Klientel zu binden, die über attraktive Finanzvolumina verfügt. Im Hinblick auf die Unterstützungsfunktion sozialen Engagements kann in diesem Zusammenhang auf eine Metastudie zur angloamerikanischen Konsumentenforschung zurückgegriffen werden, die zu dem Schluss kommt, dass eine gut verdienende und gebildete Klientel „may tend to make personal efforts to support companies known to be proactive corporate citizen” (Maignan/Ferrell 2001, S. 469). Auch europäische Untersuchungen bestätigen einen Verbrauchertrend hin zum politischen beziehungsweise moralischen Kauf (vgl. www.ethicalbrandmonitor.de (Zugriff am 22.07.09))
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Ein Unternehmen, das sich gesellschaftlicher Probleme annimmt, wirkt auf einen Großteil der Verbraucher überzeugend. Die Positionierung als sozial verantwortliches Unternehmen und die Schaffung einer gemeinsamen Wertebasis können also zunehmend als zentrale Faktoren für das Marketing und das Kundenbindungsmanagement gelten. 3.2.4 Standortentwicklung Eine Aufrechterhaltung oder Verbesserung des sozialen und kulturellen Umfeldes des Hauptsitzes, der Niederlassungen sowie der Vertriebspartner, müssen aus naheliegenden Gründen im Interesse einer Versicherung liegen. Ein intaktes Gemeinwesen mit niedriger Kriminalitätsrate sowie einem attraktiven Angebot an kulturellen und sozialen Leistungen erhöht nicht nur die Mitarbeiterloyalität, sondern auch die Chancen, ausreichend qualifizierte Arbeitnehmer finden und an die Region binden zu können. Darüber hinaus steigen mit einer attraktiven Infrastruktur die Chancen, neue Kundenpotenziale zu erschließen. Gerade für Versicherungen ist die Schaffung und Erhaltung gesellschaftlicher Akzeptanz eine zentrale Aufgabe. Wir ihnen die oben beschriebene Licence to operate aberkannt, haben beispielsweise einflussreiche Interessensgruppen und kritische Aktionäre die Möglichkeit, mit einem Verkauf ihrer Aktienpakete zu reagieren oder durch gute Medienkontakte Druck auszuüben. Folglich sind gute Kontakte gerade auch zu lokalen Medienvertretern, kritischen Stakeholdern und Politikern ein relevantes Ziel, zu dessen Erreichen Corporate Citizenship-Maßnahmen maßgeblich beitragen können.
3.3
Implementierung des Corporate Citizenship
Für die Schaffung eines gemeinsamen Wertesystems, adäquater Entscheidungsgrundlagen und einer sozialen Verantwortungskultur ist es wichtig, dass Corporate Citizenship in die Gesamtstrategie eingebunden wird. 3.3.1 Soziales Commitment und strukturelle Anpassung Diese soziale Einbettung setzt soziales Commitment voraus. Dieses bedeutet beispielsweise, dass sich das Unternehmen bereits in seinem Leitbild, also auf der obersten Zielebene, verpflichtet, sich aktiv für Belange des Gemeinwesen einzusetzen und im Sinne des CC tätig zu werden. In einem nächsten Schritt gilt es, mögliche konkrete Themen- und Engagementfelder zu analysieren, die für ein Versicherungsunternehmen relevant und passend erscheinen. Anschließend muss eine Strategie formuliert und schriftlich fixiert werden, die sowohl interne Kompetenzen und Werte als auch externe Bedingungen berücksichtigt und dazu dient, abstrakte Ideen und Vorstellungen in konkrete Pläne umzusetzen. Um die mehrfach zitierten Kernkompetenzen und die Ressourcenvielfalt möglichst optimal verzahnen zu können, ist darüber hinaus ein abteilungsübergreifender Ansatz sinnvoll, der in regelmäßigen Abständen beispielsweise PR-, Personal-,
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Marketing- und Vertriebsverantwortliche zusammen mit der Geschäftsleitung an einen Tisch holt, um das gemeinsame Vorgehen abzustimmen. Diese strukturelle Anpassung ist deshalb vonnöten, um das Potenzial sozialen Engagement möglichst umfassend auszuschöpfen und Synergieeffekte zu nutzen. Es ist nicht sinnvoll, wenn jede Abteilung unabhängig voneinander gelegentlich in die Kaffeekasse greift, um Weihnachtsspenden zu verteilen oder in diesem Jahr das regionale Jugendblasorchester zu fördern und im nächsten den Schützenverein zu sponsern. Hier sollte eine langfristige Strategie abgestimmt werden, die klare Auswahlkriterien festlegt und passende Projekte unterstützt oder sogar pro-aktiv initiiert. Um die Glaubwürdigkeit nach außen und die Motivation nach innen zu fördern ist es außerdem sinnvoll, auch intern aktiv zu werden und den Mitarbeitern freiwillige Leistungen anzubieten, die über die tariflichen Sozialleistungen hinaus gehen. Mögliche Maßnahmen zur Unterstützung eines bekömmlichen Arbeitsumfeldes wären beispielsweise regelmäßige innovative Angebote zur Gesundheitsförderung und -erhaltung, wie innerbetriebliche Gesundheitschecks oder die Unterstützung der Teilnahme von Fitnesskursen, die aktive Aufforderungen für einen Großteil der Beschäftigten an Fort- und Weiterbildungsmaßnahmen teilzunehmen, Förderprogramme zur Erhöhung des Anteils weiblicher Führungskräfte, familienfreundliche, flexible Arbeitszeitmodelle, Programme zum Wiedereinstieg nach dem Erziehungsurlaub oder die Unterstützung von Mitarbeitern, die aus betrieblichen oder Altergründen ausscheiden. Eine aktive Förderung der internen Aktivitäten dient nicht nur der Binnenmotivation der Belegschaft, sondern wirkt sich über die enge Mitarbeiter-Kunden-Beziehung im Versicherungswesen direkt positiv auf markt- und kundenorientierte Zielsetzungen aus. Außerdem bedarf es eines strategischen Controlling-Ansatzes, der sich als funktionenübergreifendes Steuerungskonzept mit der Koordination von Planung, Kontrolle und Informationsversorgung befasst. Hierzu kann überlegt werden inwieweit sich die Themenfelder in bestehende Managementsysteme wie die (sustainable) Balance Scorecard oder andere Qualitätsmanagementansätze, wie SA 8000 oder ISO 26000 Guidance on Social Responsibility (ISO 26 000 ist ein nicht zertifizierbarer „guidance standard“, der voraussichtlich ab 2010 zur Verfügung steht) integrieren lassen. Zur Überprüfung eignen sich neben Selbstbewertungen und regelmäßiger Dokumentation unter anderem Methoden wie Sozial-Audits, Reporting oder Benchmarking mit anderen Unternehmen. In diesem Zusammenhang sind auch die „Sustainability Reporting Guidelines“ der Global Reporting Initiative hervorzuheben, deren Ziel es ist, die Standardisierung und Vergleichbarkeit der Nachhaltigkeitsberichte voranzutreiben und die eine Vielzahl möglicher Kennziffern im CC-Kontext bereitstellen (vgl. zum Corporate Citizenship-Controlling ausführlich Fabisch 2006). Gerade die aktive interne und externe Kommunikation ist eine entscheidende prozessbegleitende Komponente. So müssen nicht nur sämtliche Neuerungen inhaltlicher und organisatorischer Natur transparent und allen Mitarbeitern zu-
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gänglich gemacht, sondern auch externen Partnern plausibel und glaubwürdig nach dem Motto „Tue Gutes und rede darüber“ vermittelt werden. 3.3.2 CC-Prozess Nachdem die organisatorischen und strukturell notwendigen Schritte zu einer erfolgreichen Implementierung des CC dargestellt wurden, lässt sich aus diesen Erkenntnissen ein idealtypischer Ablaufprozess (vgl. Abb. 13.5) herleiten.
Abb. 13.5: CC-Prozess
Dieser CC-Prozess beginnt mit der Initiierung durch die Unternehmensleitung, indem zunächst durch eine entsprechende Informationspolitik eine Sensibilisierung der Mitarbeiter für die Thematik stattfindet. Nachfolgend bedarf es der Implementierung der oben skizzierten Strukturanpassungsmaßnahmen. Hierbei empfiehlt sich eine systematische strategische Herangehensweise, die zunächst als soziale SWOT-Analyse eine interne und externe Bestimmung möglicher CC-Themenfelder vornimmt. Anschließend gilt es eine Strategie zu formulieren und schriftlich zu fixieren, die sowohl interne Kompetenzen und Werte, als auch externe Bedingungen berücksichtigt und dazu dient, abstrakte Ideen und Vorstellungen in konkrete Pläne umzusetzen. Desweiteren ist gegebenenfalls eine Modifikation des bestehenden Leitbildes und der Indikatoren bestehender Managementsysteme vorzunehmen. Außerdem sind funktionenübergreifende Planungsteams zu bilden, die eine entsprechende Koor-
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dination der CC-Strategie gewährleisten können. Zu den Aufgaben der verantwortlichen Mitarbeiter gehört es hierbei neben der Umsetzung der operativen Maßnahmen, vor allem auch die Messung des Erfolges sozialen Engagements sicher zu stellen. Nur so ist es möglich, die Erreichung von Meilensteinen als Erfolge ausweisen oder nicht erfolgreiche Zielvereinbarungen anpassen zu können. Die Publikation der jeweiligen Zwischenziele im Rahmen von Nachhaltigkeitsoder Corporate Citizenship-Reports schließt diesen idealtypischen Prozessverlauf ab.
4 Fazit Die Übernahme sozialer Verantwortung wird von den Unternehmen zunehmend erwartet, muss jedoch keineswegs eine zusätzliche Last bedeuten. Sofern die notwendigen strategischen, strukturellen und kommunikativen Rahmenbedingungen geschaffen wurden, birgt gesellschaftliches Engagement im Sinne des Corporate Citizenship auch für Versicherungen in Deutschland ein erhebliches Potenzial. Die Unternehmen agieren in einem globalen Markt mit zunehmend homogenen Produkte und sind mit erheblichen Identitäts- und Positionierungsproblemen ihrer Marken konfrontiert. Darüber hinaus ist das Vertrauen der Bevölkerung in die Wirtschaft und deren Manager so gering, wie lange nicht mehr. Hier bietet das Corporate Citizenship-Konzept eine Chance zu einer positiven Differenzierung und somit zu einer Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit. Eine Versicherung, der es gelingt sich ganzheitlich und glaubwürdig als fördernder Arbeitgeber, fairer Geschäftspartner und verantwortungsbewusster (Standort-) Nachbar, kurz als guter Corporate Citizen, zu positionieren, wird das Vertrauen nicht nur ihrer Kunden, sondern der meisten Stakeholder gewinnen können. In Zeiten erodierter Werte in weiten Teilen der Wirtschaft stellt dies einen unschätzbaren emotionaler Zusatznutzen dar, der zu einer Generierung eines sozialökologisch angereicherten Markenwertes führen kann. Dieser wiederum hilft den langfristigen Erfolg des Unternehmens zu sichern und leistet einen nachhaltigen und Sinn-vollen Beitrag für die Zukunftsfähigkeit unseres Gemeinwesens.
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Literatur Bachhaus-Maul, H./Biedermann, C./Nährlich, S./Polterauer, J. (Hrsg.): Corporate Citizenship in Deutschland: Bilanz und Perspektiven, Berlin 2008. Boston College, Center for Corporate Citizenship: How Virtue Creates Value for Business and Society. Investigating the value of environmental, social and governance activities, Boston 2009. Carroll, A. B.: The Pyramid of Corporate Social Responsibility: Toward the Moral Management of Organisational Stakeholders. In: Crane/Matten/Spence (Hrsg.) 2008 S. 62-86. Crane, A./Matten, D./Spence, L. J. (Hrsg.): Corporate Social Responsibility. Readings and cases in a global context, London, New York 2008. Fabisch, N.: Compliance und Corporate Social Responsibility. In: Behringer, S. (Hrsg.): Handbuch Compliance Management kompakt, Berlin (im Erscheinen) 2009. Fabisch, N.: Corporate Citizenship-Controlling. In: Zerres, M.; Zerres C. (Hrsg.): Handbuch Marketing-Controlling, 3. vollständig überarbeitete Aufl., Berlin 2006, S. 75-90. Fabisch, N.: Soziales Engagement von Banken. Entwicklung eines adaptiven und innovativen Konzeptansatzes im Sinne des Corporate Citizenship von Banken, Diss., München, Mering 2001. Fombrun, Charles J.: Corporate Reputation – Its Measurement and Management. In: Thexis, 18. Jg., Nr. 4, 2001, S. 23-26 Görgen, Frank: Versicherungsmarketing: Strategien, Instrumente und Controlling, 2. Aktualisierte und überarbeitete Aufl., Stuttgart 2007. Maignan, I./Ferrell, O.C.: Corporate Citizenship as a Marketing Instrument. Concepts, evidence and research directions. In: European Journal of Marketing, Bd. 35, Nr. 3/4, 2001, S. 457-484. Pohle, G./Hittner, J.: Attaining sustainable growth through corporate social responsibility, IBM Global Business Services, Somers, N.Y. 2008. Zerres, M./ Zerres, C. (Hrsg.): Handbuch Marketing-Controlling, 3. vollständig überarbeitete Aufl., Berlin 2006.
Kapitel 14 Innovatives Kundenrückgewinnungskonzept Andreas Hülsing
1
Einleitung
Die Versicherungsbranche befindet sich in einem immerwährenden Wettlauf um die Gunst des Kunden. Insbesondere, wenn es um die Faktoren Qualität, Service und Konditionen geht, versuchen in einem immer transparenter werdenden Marktumfeld immer mehr Versicherungsunternehmen, den Kunden auf sich aufmerksam zu machen und ihn für sich zu gewinnen. Dabei verfolgen die Anbieter von Versicherungsprodukten nur ein Ziel: Den Kunden davon zu überzeugen, dass speziell ihre angebotene, virtuelle und nicht greifbare Dienstleistung besser ist als diejenige, die der Kunde bereits besitzt. Mittlerweile zieht sich das allgemeine „Buhlen“ um den Verbraucher durch sämtliche Medien - angefangen von Zeitschriften, über das Radio, das Fernsehen bis hin zum Internet, in dem sich Interessierte „rund um die Uhr“ Informationen abrufen und ihren Anbieter völlig anonym mit anderen Mitbewerbern am Markt messen können. Und so führt die zunehmende Vergleichbarkeit von Produkten, gepaart mit einer immer agiler werdenden Kundenklientel, insgesamt dazu, dass die Loyalität der Kunden gegenüber den eigentlichen „Haus-und-Hof“-Versicherern immer mehr abnimmt. Begünstigt durch das allgemeine Marktprinzip, möglichst immer den besten Anbieter mit dem günstigsten Preis-Leistungs-Verhältnis auszuwählen, zögern mittlerweile die Kunden nicht mehr, auch langjährige Geschäftsbeziehungen zu Versicherungsunternehmen zu beenden, sofern ihre Erwartungen nicht oder nur ansatzweise erfüllt werden (vgl. Büttgen 2003, S. 60). Diese zunehmend volatileren Kundenverbindungen stellen für die Versicherer eine neue Herausforderung dar. Denn heutzutage kann keine Gesellschaft mehr davon ausgehen, dass eine Kundenbeziehung „für die Ewigkeit“ besteht. Ziel von Seiten der Anbieter muss es daher sein, die Kundenbeziehung in einen möglichst langen und lukrativen Lebenszyklus bei der eigenen Gesellschaft einzubetten. Neben der Neuakquise und den klassischen Kundenbindungsmethoden während der Vertragslaufzeit, rückt heutzutage somit zwangsläufig auch immer mehr das Thema Rückgewinnung von abgewanderten Kunden in den Mittelpunkt des strategischen Unternehmensinteresses. Die Motivation der Gesellschaften wird umso M.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing, DOI 10.1007/978-3-642-10276-9_14, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
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Andreas Hülsing
verständlicher, vergleicht man die Höhe der monetären Aufwendungen für die Rückgewinnung eines abgewanderten Kunden mit den Initialkosten einer KundenNeuakquise. Hier ist festzustellen, dass die Ausgaben für eine erfolgreiche Kundenrückgewinnung lediglich einen kleinen Teil der durch Marketing-Spendings und Welcome-Angebote sehr hohen Neuakquisitionskostenquote einer Unternehmung ausmachen (vgl. Büttgen 2001, S. 397). Basierend auf diesen Erkenntnissen, ist ein in die Prozesslandschaft des Versicherers integriertes ganzheitliches Konzept einer Kundenrückgewinnung heutzutage mehr als nur eine Modeerscheinung; es ist für die Marktteilnehmer eine wirtschaftlich äußerst reizvolle Methode, den Kundenlebenszyklus zu verlängern und damit weiteres, zusätzliches Kapital aus der Geschäftsbeziehung zu generieren (vgl. Schöler 2003 S. 1). Doch wie kann ein idealtypisches Kundenrückgewinnungskonzept gestaltet beziehungsweise entwickelt werden? Welche Kriterien sind zu beachten, wenn es um die Rückgewinnung und die weitere Betreuung der Kunden geht? Welche Strategien gibt es, die Kunden (wieder) an das Unternehmen zu binden? Diese und weitere Gesichtspunkte sind der Untersuchungsschwerpunkt des vorliegenden Beitrages. Nachdem im Folgenden zunächst die vorliegenden Begrifflichkeiten erläutert und abgegrenzt werden, befasst sich Kapitel 3 mit dem prozessualen Aufbau eines ganzheitlichen Kundenrückgewinnungskonzeptes. Dabei werden die einzelnen Prozessschritte skizziert und durch Praxisbeispiele ergänzt. Darauf aufbauend, folgt die Bestimmung von weiteren Erfolgsfaktoren bei der späteren Operationalisierung des Konzeptes. Abgerundet wird diese mit einer Schlussbetrachtung.
2
Grundlagen einer Kundenrückgewinnung
2.1
Begriffsabgrenzungen
Die Kundenrückgewinnung gehört idealtypisch zum Gesamtkonzept eines Kundenlebenszyklusses bei einer Versicherungsgesellschaft. Neben dem Interessentenmanagement von potenziellen Neukunden und dem klassischen Kundenbindungsmanagement für Bestandskunden während der originären Vertragslaufzeit, stellt die Rückgewinnung von Versicherten den dritten Abschnitt in einer ganzheitlichen und vollumfänglichen Kundenbetreuung dar. Während die Versicherungsgesellschaft beim Interessentenmanagement versucht, durch fortwährend neue Marketing- und Dienstleistungsansätze neue Kunden zu gewinnen, beschäftigt sich das Kundenbindungsmanagement mit der Pflege und dem Ausbau der bestehenden Geschäftsbeziehungen. Hier geht es in erster Linie darum, ein Vertrauensverhältnis aufzubauen und den Kunden dadurch für weitere Produktkäufe zu begeistern. Das Vertrauen und das „gute Gefühl“, bei der „richti-
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gen“ Versicherungsgesellschaft zu sein, nimmt dabei einen großen Stellenwert ein. Zum einen festigt es die bestehenden Kundenbeziehungen und macht sie dadurch in Bezug auf Abwerbungsversuche anderer Gesellschaften unantastbar, zum anderen kann ein zufriedener Kunde durch positive Mund-zu-Mund-Propaganda auch zu einem Zuwachs von neuen Geschäftsbeziehungen beitragen, in dem er die Versicherungsgesellschaft anderen Personen oder Institutionen weiterempfiehlt. Doch nicht immer kann eine Kundenbeziehung „auf ewig“ aufrecht erhalten werden. Sei es aufgrund eines entstandenen Vertrauensverlustes, eines anderen - vermeintlich besseren - Angebotes oder durch den Wegfall des versicherten Interesses: Aus den unterschiedlichsten Gründen heraus werden Vertragsverhältnisse von Seiten der Versicherten gekündigt. An dieser Stelle setzt das Konzept der Kundenrückgewinnung an. Ziel dabei ist es, Kunden, die ihre Geschäftsbeziehung beendet haben, durch Wiederbelebung des Vertragsverhältnisses erneut an die Versicherungsgesellschaft zu binden. Dabei ist der finanzielle Mehrwert für die Versicherungsgesellschaft im Falle einer erfolgreichen Rückgewinnung von Kunden erheblich, vergleicht man auf der anderen Seite die Kosten für eine adäquate Neukundengewinnung, welche man zwangsläufig als Bestandsausgleich für die abgewanderten Versicherungsnehmer benötigen würde. Das idealtypische Gesamtkonzept eines Kundenlebenszyklus inklusive der drei Managementphasen und -ziele ist noch einmal in der nachfolgenden Grafik dargestellt. Gerade das Rückgewinnungsmanagement sorgt dabei durch die Re-Integration der zuvor abgewanderten Kunden für eine insgesamt positivere Bestandsund Versichertenstruktur bei der Versicherungsgesellschaft (vgl. Abb. 14.1). Vertragsbeginn Kundenstatus
Interessenten
Vertragsende
Versicherungsnehmer
Ehemalige Versicherte
Zeitverlauf der Kundenbeziehung innerhalb des Kundenlebenszyklus Managementansatz
Managementziele
Interessentenmanagement
Kundenbindungsmanagement
Neuakquisition von Kunden
Festigung sowie Cross- und Upsellingg der Geschäftsbeziehung mit dem Versicherungsnehmer
Integration in die Versichertengemeinschaft
Rückgewinnungsmanagement Wiederbelebung der Geschäftsbeziehung Re-Integration in die Versichertengemeinschaft
Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung Stauss 2000, S. 452
Abb. 14.1: Drei Phasen einer Kundenbeziehung
Analysiert man speziell den Begriff der Kundenrückgewinnung, findet man hierfür in der wissenschaftlichen Literatur unterschiedliche Verwendungen. So kann die Bezeichnung sowohl aus der Unternehmens- und auch aus der Kundensicht betrachtet werden.
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Andreas Hülsing
Während sich die Kundenperspektive vor allem mit den Hintergründen und der Entstehung der Kundenunzufriedenheit sowie der hieraus folgenden Kündigung der Vertragsbeziehung/en beschäftigt, konzentriert sich die Unternehmensperspektive auf die Reaktion der Unternehmung auf unzufriedene beziehungsweise abgewanderte Kunden. Mehrheitlich wird der Begriff heutzutage aus der Unternehmenssicht angewendet, wobei an dieser Stelle passive von aktiven Unternehmen unterschieden werden können. Während es bis dato immer noch passive Unternehmen am Markt gibt, welche nicht oder nur sporadisch auf abgewanderte Kunden reagieren, versuchen im direkten Gegensatz dazu die aktiven Marktteilnehmer, die Kundenabwanderung zu verstehen und angemessen auf sie zu reagieren. Diese Gesellschaften analysieren regelmäßig die Abwanderungsgründe ihrer Kunden, um aus ihnen zu lernen und so ein mögliches Fehlverhalten für die Zukunft zu vermeiden (vgl. Michalski 2002, S. 6 ff.). Auch bei der Frage, ab wann ein Kunde als „verlorener“ Kunde angesehen werden kann, existieren in der Literatur heute verschiedene Ansätze. Im Wesentlichen haben sich dabei zwei Begriffsinterpretationen durchgesetzt, die in der nachfolgenden Abbildung ersichtlich sind und erläutert werden sollen (vgl. Abb. 14.2):
Begriffsinterpretation 1 Rückgewinnung bezieht sich lediglich auf ehemalige Kunden
Begriffsinterpretation 2 Rückgewinnung bezieht sich auf ehemalige und bestehende Kunden
Potenzielle Kunden
Bestehende Kunden
Ehemalige Kunden
Potenzielle Kunden
Bestehende Kunden
Akquisition
Bindung
Rückgewinnung
Akquisition
Bindung
Ehemalige Kunden Rückgewinnung
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Michalski 2002, S. 9 Abb. 14.2: Begriffsinterpretation der Kundenrückgewinnung
In der ersten Variante der Begriffsinterpretation zielt die Rückgewinnung ausschließlich auf die Kundenklientel ab, die ihre Geschäftsverbindung zu einer Unternehmung vollständig beendet haben (vgl. Rutsatz 2004, S. 19). Diese Sichtweise ist geprägt von ihrer Klarheit und Eindeutigkeit in Bezug auf den jeweiligen Kundenstatus, welcher in potenzielle, bestehende und ehemalige Kundenverbindungen unterteilt wird (vgl. Homburg/Schäfer 1999, S. 1). Im Vergleich dazu berücksichtigt die zweite Variante der Begriffsinterpretation, neben den bereits abgewanderten Kunden, zu einem gewissen Anteil auch noch bestehende Kundenverbindungen. Hintergrund dieser Auslegung ist, dass in der Praxis nicht eindeutig festgestellt werden kann, ab wann ein Kunde tatsächlich als verloren gewertet werden kann. Denn vielfach vollzieht sich bereits vor der eigentlichen Beendigung der Kundenbeziehung erfahrungsgemäß ein langer Ent-
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251
scheidungsprozess, welcher auch als „innerliche Kündigung“ bezeichnet wird (vgl. Sieben 2002, S. 42). Die innerliche Kündigung zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass der Kunde seit längerer Zeit über Vorteile, Nachteile und die sich aus einer Kündigung ergebenden Konsequenzen nachdenkt und sich immer stärker von der Geschäftsbeziehung mit dem Unternehmen distanziert (vgl. Michalski 2002, S. 10). Bei dieser Auslegung des Begriffsverständnisses werden, neben der Rückgewinnung tatsächlich abgewanderter Kunden, auch Präventivmaßnahmen wie zum Beispiel Kündiger-Vorsorgeschreiben, regelmäßige Zufriedenheitsbefragungen im Kundenbestand oder Service-Calls („FeelGood-Telefonie) zum allgemeinen Aufgabenspektrum hinzugezählt. Ziel dabei ist es, eine mögliche Kundenunzufriedenheit frühzeitig zu erkennen, zu minimieren und dadurch eine bevorstehende Kündigung zu vermeiden. Der Dialog mit dem Kunden wird somit bereits vor der eigentlichen Kündigung gesucht. Eine klare Differenzierung der Kundenrückgewinnung von dem klassischen Kundenbindungsmanagement einer Unternehmung ist bei dieser Betrachtungsweise allerdings nicht mehr möglich, welches zu Abgrenzungsschwierigkeiten der Themenkomplexe innerhalb des Kundenlebenszyklusses führen kann. Vor dem Hintergrund der beschriebenen Begriffsinterpretationen empfiehlt es sich in der Praxis, ein für die eigene Gesellschaft klares Profil und Tätigkeitsumfeld des Themengebietes Kundenrückgewinnung abzustecken. Hierbei sollte es in erster Linie darum gehen, bei der späteren Operationalisierung nur eindeutig zuortbare Geschäftsvorfälle zu berücksichtigen, um die zuvor beschriebenen Schnittstellenprobleme zu anderen Themenkomplexen zu vermeiden. Durch die so erzielte Klarheit kann man den Begriff der klassischen Kundenrückgewinnung als „sämtliche Maßnahmen eines Versicherers, die zum Ziel haben, eine durch den Kunden beendete Vertragsbeziehung erneut wieder aufleben zu lassen“ definieren.
2.2
Zieldimensionen der Kundenrückgewinnung
Das zentrale Ziel einer Kundenrückgewinnung ist die Wiederaufnahme der Geschäftsbeziehung von bereits abgewanderter Kunden. Über dieses Primärziel hinaus können eine Vielzahl weiterer Bestrebungen seitens der Versicherungsgesellschaft existieren. Zur Vereinfachung werden im Folgenden die Belange der Versicherungsunternehmen in die drei zentralen Zieldimensionen kundenbezogen, prozessbezogen und profitabilitätsbezogen zusammengefasst, wie auch die nachfolgende Abbildung verdeutlicht (vgl. Abb. 14.3).
252
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Zieldimensionen der Kundenrückgewinnung
Konkretisierung
Kundenbezogene Zieldimension
Vermeidung negativer Multiplikatorwirkungen
Prozessbezogene Zieldimension
Daten-/Informationsgenerierung für interne Prozessgestaltung
Profitabilitätsbezogene Zieldimension
Monetärer Erhalt und Ausbau der Geschäftsbeziehung
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Sieben 2002, S. 46
Abb. 14.3: Zieldimensionen der Kundenrückgewinnung
Die erste Zieldimension der kundenbezogenen Ziele bezieht sich im Wesentlichen auf die Verringerung beziehungsweise idealtypischer Weise auf die gänzliche Vermeidung einer negativen Mund-zu-Mund-Propaganda durch unzufriedene und/oder bereits abgewanderte Kunden (vgl. Homburg et al. 2003, S. 59). Empirische Erhebungen haben ergeben, dass negative Erfahrungen an fast doppelt so viele Personen weitergegeben werden, wie positive Erlebnisse und Erinnerungen (vgl. Hart et al. 1991, S. 133). Ein unzufriedener Kunde beschäftigt sich somit wesentlich mehr mit der Thematik und gibt seinen Unmut - und infolgedessen auch das negative Bild der Gesellschaft - an eine deutlich größere Anzahl von Personen weiter. Die Abwendung einer negativen Mund-zu-Mund-Propaganda wirkt sich daher nicht nur auf den eigenen Kundenbestand aus. Vielmehr reduziert diese auch das Risiko einer negativen Darstellung bei potenziellen Neukunden, die über Marketingmaßnamen oder Empfehlungen auf die Versicherungsgesellschaft aufmerksam geworden sind. Neben kundenorientierten Belangen sprechen ebenso prozessbezogene Ziele des Versicherers für den Aufbau eines professionellen Kundenrückgewinnungskonzeptes. Bei den prozessbezogenen Zielen geht es in erster Linie um die Generierung und die Aggregation von Daten und Informationen zu dem Dienstleistungserstellungsprozess der eigenen Gesellschaft. Dabei sollen potenzielle Fehlerquellen identifiziert und eliminiert werden. Durch die direkte Informationsgewinnung beim Kunden soll insbesondere der Service des eigenen Versicherungsunternehmens verbessert werden, um darauf aufbauend den gesamten Prozess der Dienstleistungserbringung nachhaltig zu verbessern (vgl. Sauerbrey/Henning 2000, S. 7). Selbstverständlich stehen für die Versicherungsunternehmen neben den kundenund prozessbezogenen Zielen auch rein profitabilitätsbezogene Interessen im Fokus der Betrachtung (vgl. Michalski 2002, S. 186). Bei dieser Zieldimension geht es primär um die Generierung von (weiteren) Umsätzen und Erträgen, die durch die Wiederbelebung der Kundenbeziehung entstehen (vgl. Homburg et al. 2003, S. 59). Berücksichtigt man, dass die Kosten für einen zurück gewonnenen Kunden deutlich geringer sind als die Aufwendungen für eine erfolgreiche Neu-
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253
kundenakquise, trägt die Rückgewinnung darüber hinaus zu einer insgesamt positiveren Gesamtkostenstruktur der Unternehmung bei (vgl. Sieben 2002, S. 47). Neben den bislang betrachteten Zieldimensionen trägt jeder zurück gewonnene Kunde auch zur Sicherung von Marktanteilen und zu einer Verringerung der Gesamtstornoquote bei der Versicherungsgesellschaft bei. Gerade die zuletzt genannte Gesamtstornoquote wird in der Praxis häufig auch als Indiz für die generelle Kundenzufriedenheit eines Versicherungsunternehmens angesehen. Je weniger Kunden kündigen, desto höher wird auch die Kunden- und Serviceorientierung der Gesellschaft eingeschätzt. Ein wichtiger Grund mehr, sich dem Thema Kundenrückgewinnung nachhaltig anzunehmen.
3
Entwicklung eines Kundenrückgewinnungskonzeptes
Nachdem im Vorfelde auf die Begrifflichkeiten und die verschiedenen Interpretationsformen der Kundenrückgewinnung eingegangen wurde, wird nachfolgend ein idealtypisches Modell für die Umsetzung eines Kundenrückgewinnungskonzeptes definiert und erläutert. Dieses Modell besteht in der klassischen Form aus den Prozessabschnitten Identifikation verlorener Kunden, wertorientierte Segmentierung, Analyse der Abwanderungsgründe, Problembehebung, Rückgewinnung sowie Nachbetreuung von verlorenen beziehungsweise abgewanderten Kunden. Die einzelnen Prozessschritte greifen unmittelbar ineinander über und sorgen dadurch für eine ganzheitliche Betrachtung des Themenkomplexes bei der anstehenden Rückgewinnung der Kunden, wie auch die nachfolgende Abbildung noch einmal verdeutlicht (vgl. Abb. 14.4).
Prozessablauf der Kundenrückgewinnung Identifikation verlorener Kunden
Wertorientierte Segmentierung der Kunden
Analyse der Abwanderungsgründe
Problembehebung
Rückgewinnung abgewanderter Kunden
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Homburg/Krohmer 2006, S. 965
Abb. 14. 4: Prozessablauf eines Kundenrückgewinnungskonzeptes
Nachbetreuung zurückgewonnener Kunden
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Andreas Hülsing
3.1
Identifikation von abgewanderten Kunden
Der erste Prozessschritt in der Rückgewinnung abgewanderter Kunden ist zunächst die Identifikation von Personen, die das Unternehmen verlassen haben. Die Feststellung, dass ein Kunde verloren ist, manifestiert sich in der Regel durch den Eingang der Kündigung (vgl. Beutin 2003, S. 457), so dass an dieser Stelle ein eindeutiges Indiz für eine Abwanderung gegeben ist. In der wissenschaftlichen Literatur besteht allerdings wenig Einigkeit darüber, zu welcher Gruppe die Art von Kunden gehören, die lediglich einen Teil ihrer Verträge bei einer Versicherungsgesellschaft kündigen, jedoch nicht das gesamte Vertragsverhältnis beenden (vgl. Sauerbrey/Henning 2000, S. 21-22). Können diese Kunden ebenfalls als verloren angesehen werden? Oder kann die Kündigung einzelner Verträge als „normale“ Fluktuation und somit als unvermeidliches daily business betrachtet werden? In der täglichen Praxis sollte das Rückgewinnungskonzept als Chance verstanden werden, sich mit dem Kunden intensiv auseinander zu setzen und weitere Erträge aus der Geschäftsbeziehung zu generieren. Wie bereits in den Zieldimensionen benannt, existieren neben dem Profitabilitätsstreben eines Versicherers auch prozessbezogene Ziele. Insofern stellt der Eingang einer Kündigung für die Versicherungsgesellschaft die Möglichkeit dar, mit dem Kunden ins Gespräch zu kommen, um durch direkte Informationsgewinnung evtl. hausinterne Defizite zu lokalisieren und - soweit möglich - zu beseitigen. Somit kann bereits die Kündigung einzelner Verträge für den Versicherer sowohl als Warnsignal als auch als Zeichen verstanden werden, mit dem Kunden in Dialog zu treten, um nach den Beweggründen seines Handelns zu fragen. Möchte man den Wirkungskreis des Kundenrückgewinnungskonzeptes in der Praxis noch erweitern, können in den Themenkomplex ebenfalls die Kunden integriert werden, die ihren Vertrag beziehungsweise ihre Verträge nicht mehr mit Beiträgen bedienen, sondern einzelne oder alle Vertragsverhältnisse beitragsfrei gestellt haben. In diesen Fällen besteht zwar noch eine reelle Kunden- und somit Geschäftsbeziehung, jedoch bleiben für die Zukunft die Geschäftsumsätze aus, so dass der Versicherer keine Beitragseinnahmen mehr verzeichnen kann. Auch hier könnte man sich - nachdem der Antrag auf Beitragsfreistellung eingegangen ist nach den Beweggründen des Kunden erkundigen, um wertvolle Informationen für den Umgang mit anderen Versicherten zu sammeln und darüber hinaus gegebenenfalls das Beitragsverhältnis wieder aufleben zu lassen. Die im Vorfelde benannte Eindeutigkeit bei der Zuordnung der Geschäftsvorfälle zur gänzlichen Vermeidung etwaiger Schnittstellenprobleme bliebe durch den schriftlichen Eingang der Beitragsfreistellung ebenfalls zu jeder Zeit gewahrt.
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Wertorientierte Segmentierung abgewanderter Kunden
Nach der Identifikation der (teil-)abgewanderten Kunden ist zunächst die Frage zu stellen, welchen ökonomischen Stellenwert der Versicherte bei der Versicherungsgesellschaft eingenommen hat. Mit dieser Frage verbunden ist eine wertorientierte Bestimmung der Geschäftsbeziehung, welche anhand von Kundenbewertungsmodellen nachvollzogen werden kann. Beispielhaft sei an dieser Stelle die ABC-Analyse erwähnt, welche anhand des jährlichen Prämienaufkommens beziehungsweise des erwirtschafteten Deckungsbeitrages eine sehr einfache Möglichkeit darstellt, für das Unternehmen sehr wichtige (Schlüssel-)kunden (= „A“) von wichtigen Kunden (= „B“) und weniger wichtigen Kunden (= „C“) zu unterscheiden (vgl. Hofbauer/Hellwig 2005, S. 103). Die wertorientierte Segmentierung der abgewanderten Kunden konkretisiert insbesondere die spätere Vorgehensweise bei der Rückgewinnung der Versicherten. Da es sich betriebswirtschaftlich nicht lohnt, auf alle Kunden mit dem gleichen Mitteleinsatz zuzugehen, müssen die oben genannten „A“-Kunden zwangsläufig mit einem anderen Ressourceneinsatz und gegebenenfalls höheren Rückgewinnungsanreizen behandelt werden als beispielsweise die „C“-Kunden. Neben dem jährlichen Prämienaufkommen können eine Vielzahl weiterer Informationen aus der Kundenbeziehung wie zum Beispiel das Alter des Versicherten, die bisherige Schadenhäufigkeit, die Beschwerdehäufigkeit etc. in Betracht gezogen werden, um weiterführende Schlüsse in Bezug auf die Kundenwertigkeit und die anstehende Vorgehensweise bei der Rückgewinnung abzuleiten. Ein besonderes Augenmerk sollte dabei jedoch nicht nur auf den aktuellen Stand des Kundenstatuses, sondern insbesondere auf das zukünftig zu erwartende Potenzial aus der Geschäftsbeziehung gelegt werden. Bei einer in die Zukunft gerichteten Bewertung der Geschäftbeziehung bietet sich die individuelle Analyse des Customer Lifetime Value an (vgl. Schöler 2004, S. 524). Bei dieser Methode werden alle zukünftig zu erwartenden Prämienaufkommen mit einem internen Kalkulationszins auf den Gegenwartszeitpunkt diskontiert (vgl. Köhler 1998, S. 352). Mögliche Anhaltspunkte für die zukünftige (neue) Verweildauer des Versicherten können zum Beispiel die durchschnittliche Versicherungslaufzeit im Bestand der Gesellschaft oder das durchschnittliche Endalter der Versicherten bei Beendigung beziehungsweise Ablauf des Versicherungsvertrages darstellen. Liegt der individuelle Wert des abgewanderten Kunden bei der Kündigung unter den durchschnittlichen Bestandswerten, kann dieses als möglicher Anhaltspunkt bei der Bestimmung zukünftiger Prämieneinzahlungen dienen. Durch die Bewertung des IST-Standes der Kundenbeziehung sowie der individuelle Berechnung der möglichen Ertragspotenziale in der Zukunft erhält der Versicherer ein umfangreiches Analysenetzwerk für die wertorientierte Bestimmung des abgewanderten Kunden. Dementsprechend ist er in der Lage, kundenwertadäquate Ressourcen sowie zielgerichtete Maßnahmen und für eine Rückgewinnung des Versicherten einsetzen.
256
Andreas Hülsing
3.3
Analyse der Abwanderungsgründe
An die erfolgreiche Identifikation sowie die wertorientierte Segmentierung der abgewanderten Kunden sollte sich in einem nächsten Schritt die präzise und aussagekräftige Erfassung der Abwanderungsgründe anschließen (vgl. Büttgen 2001, S. 399; Schöler 2004, S. 525-527). Diese Vorgehensweise ist umso wichtiger, da eine strukturierte und präzise Analyse der Abwanderungsgründe sowohl wichtige Informationen zur erfolgreichen Rückgewinnung der abgewanderten Kunden generieren kann, als auch der stetigen Verbesserung interner Prozessabläufe dient (vgl. Schäfer et al. 2000, S. 62; Homburg/Krohmer 2006, S. 966). Im Folgenden sollen exemplarisch einzelne Abwanderungsgründe genannt und diskutiert werden. Ein erster Grund für die Abwanderung eines Kunden kann in dem Angebot von Serviceleistungen des Versicherungsunternehmens liegen. Insbesondere kann dieses der Fall sein, wenn die angebotenen Dienstleistungen nicht mehr den allgemeinen Verbraucher- und Wettbewerbskriterien entsprechen oder allgemeine Informationen zu dem Vertragsverhältnis nicht beziehungsweise nicht zeitnah an den Kunden weitergegeben werden (vgl. Schäfer et al. 2000, S. 62). Ebenso können nicht unmittelbar bearbeitete Beschwerden einen weiteren Grund für die Abwanderung der Kunden darstellen (vgl. Homburg/Schäfer 1999, S. 11). Darüber hinaus ist auch häufig ein gestörtes Beziehungsverhältnis zwischen Kundenbetreuer und dem Kunden ein Grund für die Abwanderung. Gerade Versicherungen sind in hohem Maße Vertrauensgüter und stellen damit besondere Anforderungen an die gemeinsame Zusammenarbeit zwischen der Versicherungsgesellschaft und dem Kunden. Ist die Beziehung zwischen einem Kundenbetreuer und dem Geschäftspartner erst einmal gestört, ist es fraglich, inwiefern der persönlich zur Verfügung gestellte Ansprechpartner an dieser Stelle die Lösung für ein lädiertes Vertrauensverhältnis sein kann (vgl. Schäfer et al. 2000, S. 64; Sauerbrey/Henning 2000, S. 35). Eine empirische Studie zur Erhebung von Abwanderungsursachen bei Versicherungen kam zu dem Ergebnis, dass die Beendigung einer Geschäftsbeziehung meist durch so genannte harte Faktoren wie zum Beispiel der Preisgestaltung des Institutes bedingt sind (vgl. Zwick 2009, S. 4). Andere Studien zeigen hingegen, dass neben der Preispolitik auch insbesondere die Ausgestaltung der Servicequalität ein ausschlaggebender Grund für die Beendigung der Geschäftsbeziehung ist (vgl. Heitmüller 1998, S. 604). Neben den bereits aufgeführten Aspekten existieren im „daily business“ einer Gesellschaft eine Vielzahl weiterer Gründe für die Abwanderung eines Kunden. Um die Transparenz diesbezüglich zu erhöhen und die sich daraus ergebenen Schlussfolgerungen besser ableiten zu können, bietet sich eine Kategorisierung der Abwanderungsgründe in bestimmte Themencluster an. Somit wird nicht nur die Analyse, sondern auch die Zuordnung der Abwanderungsursachen ermöglicht, welche schlussendlich die Übersichtlichkeit bezüglich der Vielzahl von Abwanderungsursachen erhöht. Die wissenschaftliche Literatur unterteilt die Abwande-
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257
rungsgründe meist in die Dimensionen kundenbezogen, wettbewerbsbezogen und unternehmensbezogen (vgl. Büttgen 2001, S. 399; Michalski 2002, S. 42-43; Schöler 2004, S. 525-526). Die folgende Abbildung beschreibt noch einmal die Kategorisierung der Abwanderungsursachen in Abhängigkeit der Rückgewinnungschancen (vgl. Abb. 14.5).
Klassifikation der Abwanderungsgründe
Unternehmensbezogene Abwanderungsgründe
z.B. Umzug, beruflicher Wechsel
Preis-Leistungs-Verhältnis
z.B. schlechte Versicherungsbedingungen, d bessere Angebote der Mitbewerber
Leistungsqualität
z.B. schlechte Produkte, zu lange Prozessd und/oder Antwort-/Reaktionszeiten
Servicequalität
z.B. Öffnungszeiten, unqualifizierte Mitarbeiter
Kommunikationskanäle
z.B. zu geringes Filialnetz, kein Internet, d Wechsel des persönl. Ansprechpartners
-
private Veränderungen
zunehmende Rückgewinnungschancen
Wettbewerbsbezogene Abwanderungsgründe
persönliche Gründe
+
Kundenbezogene Abwanderungsgründe
Konkretisierung z.B. Krankheit, altersbedingte Einstellung der d Geschäftsbeziehung
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Büttgen 2001, S. 399
Abb. 14. 5: Klassifizierung von Abwanderungsgründen
Kundenbezogene Abwanderungsgründe beziehen sich in erster Linie auf Veränderungen im privaten Umfeld des Kunden und werden weniger mit aktuellen Wettbewerbsentwicklungen in Verbindung gebracht (vgl. Michalski 2002, S. 43-44; Schöler 2004, S. 525-527). Auch eine berufliche Veränderung oder der Wegfall des Versicherungsbedarfs (zum Beispiel entfällt beim Autoverkauf ohne adäquate Neuanschaffung der Bedarf an einer Kfz-Versicherung) stellen kundenbezogene Kündigungsgründe dar. Ausgehend von den Rückgewinnungschancen bieten kundenbezogene Abwanderungsgründe in der Regel die geringsten Ansatzmöglichkeiten für eine Wiederbelebung des ursprünglichen Versicherungsvertrages. Einzig die Möglichkeit, ein neues, an die geänderten Lebensumstände abgepasstes Versicherungsinteresse bei dem ehemaligen Kunden zu wecken, sollte an dieser Stelle nicht unterschätzt werden und stellt für die Versicherungsgesellschaft die Chance dar, mit dem abgewanderten Versicherungsnehmer im Gespräch zu bleiben. Im Gegensatz zu den kundenbezogenen zielen die wettbewerbsbezogenen Abwanderungsgründe meist auf das Angebotsspektrum von Mitbewerbern ab, welches von dem Versicherten konditionell und/oder qualitativ als höherwertig eingestuft wird (vgl. Stauss/Friege 2003, S. 531). Dabei empfindet der Kunden den Unterschied zwischen seinem heutigen Versicherungsvertrag und dem aktuellen Angebot des Mitbewerbers für so lukrativ, dass er sich - auch vor dem Hintergrund des für ihn entstehenden Aufwandes - zunächst für einen Anbieterwechsel entschieden hat. Die Erfolgsaussichten für eine Rückgewinnung sind bei dieser Kategorie
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Andreas Hülsing
höher einzuschätzen als bei den kundenbezogenen Abwanderungsgründen, zumal an dieser Stelle für den bisherigen Versicherer ein direkter Ansatz zur Aufrechterhaltung der Geschäftsbeziehung gegeben ist. Die dritte betrachtete Kategorie bezieht sich auf die unternehmensbezogene Abwanderungsgründe, welche in der Regel auf nicht ausreichend ausgeprägte Qualitätsmerkmale des Versicherungsunternehmens zurückzuführen sind. Die unternehmensbezogenen Abwanderungsgründe umfassen oftmals auch Defizite bei der Produkt- oder der Unternehmensleistung sowie Serviceprobleme wie zum Beispiel lange Wartezeiten, unangemessene Reaktion auf Beschwerden oder mangelnde Kompetenz der Mitarbeiter (vgl. Homburg/Schäfer 1999, S. 12). Auch ein Wechsel des bisherigen Ansprechpartners kann zu einer Abwanderung des Kunden führen. Dieses ist insbesondere dann der Fall, wenn das Vertrauensverhältnis zwischen dem neuen Ansprechpartner und dem Kunden nicht einwandfrei hergestellt werden kann. Da bei der Angebotsbewertung seitens des Kunden in aller Regel sowohl der Preis, als auch die Qualität der (beiden) Anbieter begutachtet wird, sind sowohl die wettbewerbsbezogenen als auch die unternehmensbezogenen Kündigungsgründe sehr eng miteinander verbunden (vgl. Sauerbrey/Henning 2000, S. 23) und können praktisch nicht voneinander separiert werden. Je detaillierter die einzelnen Kategorien gestaltet werden, desto besser stellt sich die Möglichkeit für den Versicherer dar, gezielt auf die Abwanderungsgründe zu reagieren. Sofern sich sehr viele Kunden aus wettbewerbsbezogenen Gründen von der Gesellschaft abwenden, kann die Versicherungsgesellschaft daraus valide Aussagen über die Preispositionierung am Markt ableiten und diesbezüglich gezielt handeln. Mindestens genau so wichtig wie die vorgenannte Klassifizierung ist die systematische Analyse der Abwanderungsgründe, um in Zukunft ein mögliches Fehlverhalten besser aussteuern beziehungsweise minimieren zu können. Wie sich in der Praxis allerdings herausgestellt hat, kennen eine Vielzahl von Unternehmen die wahren Gründe einer Kundenabwanderung nicht oder zumindest nicht vollständig (vgl. Michalski 2002, S. 189-190). Doch wenn die Gründe nicht bekannt sind, ist es für die Unternehmung auch nicht möglich, Verbesserungen zu erkennen, geschweige denn umzusetzen. Der Aufnahme und der Analyse der Abwanderungsgründe muss daher ein hoher Stellenwert eingeräumt werden. Die Aufnahme der Abwanderungsursachen kann mittels unterschiedlicher Methodiken über alle Kommunikationselemente (schriftlich, telefonisch, persönlich) erfolgen. Ausschlaggebend - und zwar unabhängig vom gewählten Kommunikationskanal - ist der Einsatz eines strukturierten Fragebogens, welcher dem Kunden zur Verfügung gestellt beziehungsweise gemeinsam mit dem Kunden ausgefüllt wird. An dieser Stelle sei erwähnt, dass der telefonische beziehungsweise der persönliche Ansatz der Kundenbefragung sicherlich zu einer weitaus höheren Aufnahmequote der Abwanderungsgründe und zu einer insgesamt vollständigeren Beantwortung der Fragen beiträgt als eine schriftliche Kundenbefragung. Die postalische Versand des Fragebogens ohne eine weitere aktive Kontaktaufnahme
14 Innovatives Kundenrückgewinnungskonzept
259
seitens der Versicherung sollte daher nur bei den Kunden erfolgen, die für das Versicherungsunternehmen sowohl in der Vergangenheit als auch zukünftig eine geringere Wertigkeit darstellen (= „C“-Kunden) oder die dem Versicherer jegliche Form der telefonischen und/oder persönlichen Kontaktaufnahme untersagt haben. Um die Responsequoten zu erhöhen, empfiehlt sich, die Rücksendung des Fragebogens mit einem kleinen „Dankeschön“ für die Kunden in Form von zum Beispiel give away´s, firmeneigenen Werbemitteln, Gutscheinen etc. zu belohnen. Ansatzpunkte des Fragebogens können neben den konkreten Fragestellungen zum Abwanderungsgrund auch die persönlichen Eindrücke des Kunden zum Dienstleistungsprozess des Versicherers sein, um dadurch weitere wertvolle Informationen für die zukünftige Gestaltung der internen Prozesse zu erhalten. Darüber hinaus können als zusätzliches Element in der Befragung die gegebenenfalls geänderten persönlichen Präferenzen des Kunden sowie seine Erwartungen an die Versicherungsgesellschaft aufgeführt werden, um dadurch mögliche neue Vertriebsansätze für das Rückgewinnungskonzept in Erfahrung zu bringen. Dieses ist besonders für die Fälle wichtig, in denen der ursprüngliche Versicherungsbedarf nicht mehr gegeben ist, sich aber durch die geänderte persönliche Situation des Kunden möglicherweise weitere/neue Vertriebsansätze ergeben. Ein Beispiel für eine systematische Kundenbefragung anhand eines strukturierten Fragebogens ist nachfolgend aufgeführt. In der Praxis empfiehlt sich eine individuelle Anpassung des Fragebogens an die jeweilige Versicherungssparte (vgl. Abb. 14.6).
3.4
Problembehebung
Nachdem eine erfolgreiche Analyse der Abwanderungsgründe der Kunden stattgefunden hat, schließt sich die Phase der Problembehebung an. Hierbei ist zu überprüfen, ob die Abwanderungs- beziehungsweise Kündigungsgründe des Kunden durch die Gesellschaft beseitigt beziehungsweise revidiert werden können (vgl. Beutin 2003, S. 458). Dieses macht insbesondere bei den Themengebieten Sinn, die durch eine Vielzahl von Kunden als möglicher Kündigungsgrund angegeben wurden. Auch hier kann zwischen den gebildeten Kundensegmentierungen unterschieden werden, um tiefergehende Erkenntnisse über die einzelnen Kundengruppen und -segmente zu erhalten. Hilfestellung hierzu liefern die in der Analysephase direkt von den Kunden gesammelten Informationen. Bei einer Mehrzahl von wettbewerbsbezogenen Abwanderungsgründen ist zu überprüfen, welche Auswirkungen eine Verringerung des veranschlagten Preisniveaus des Versicherers hätte. Gegebenenfalls ist an dieser Stelle auch die Integration eines Treuebonus-Systems für (langjährige) Kunden oder die für den Kunden kostenfreie Erweiterung des Versicherungsschutzes anstrebsam. Sind die Servicequalitäten häufig genannte Kündigungsgründe, so ist zu überlegen, welche zusätzlichen Servicelevels oder Kundenbenefits seitens der Gesell-
260
Andreas Hülsing
schaft implementiert werden können, um den Kundenbedürfnissen insgesamt gerecht zu werden und dadurch die Geschäftsbeziehungen zu verlängern.
Sehr geehrter Herr Mustermann, mit Bedauern haben wir die Kündigung Ihres Versicherungsvertrages erhalten. Wir möchten Sie als langjährigen Kunden bei unserer Gesellschaft aber nicht verlieren! Daher interessiert es uns sehr, welche Gründe zu Ihrem Entschluss geführt haben. Ihre Kritik oder Anregungen sehen wir als Chance, die Zufriedenheit unserer Kunden ständig zu verbessern. Bitte helfen Sie uns dabei und senden Sie uns den beigefügten Fragebogen wieder zurück. Das Porto übernehmen selbstverständlich wir für Sie. Vielen Dank für Ihre Hilfe im Voraus.
Angaben zur Kündigung und zur Serviceorientierung 1.
Welches waren die Gründe für die Kündigung Ihres Versicherungsvertrages? Angaben zur Kündigung
2.
3.
bitte ankreuzen
Ich war mit dem Preis-Leistungs-Verhältnis meiner Versicherung nicht mehr einverstanden.
¡
Ich habe mich für ein günstigeres Angebot eines Mitbewerbers entschieden.
¡
Ich war mit dem allgemeinen Service der Versicherung nicht mehr einverstanden.
¡
Ich benötige den Versicherungsschutz des Vertrages nicht mehr.
¡
Sonstige Gründe: ___________________________________________________________
¡
Wie zufrieden sind Sie mit dem allgemeinen Service unserer Versicherungsgesellschaft? sehr zufrieden
zufrieden
weder zufrieden noch unzufrieden
unzufrieden
sehr unzufrieden
Erreichbarkeit
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Freundlichkeit
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Schnelligkeit
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Kompetenz
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Servicequalität
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Wo sehen Sie Verbesserungspotenziale bei unserer Versicherungsgesellschaft? Verbesserungspotenziale sehe ich in erster Linie bei.. 1) 2) 3)
4.
Für welche Versicherungsprodukte interessieren Sie derzeit am ehesten? Ich habe derzeit am ehesten Interesse an.. 1) 2) 3)
Allgemeine Angaben zur Ihrer Person Angaben zu meiner Person Berufstätigkeit:
Familienstand:
Telefon-Nr. (tagsüber):
Anzahl Kinder:
Raum für weitere Mitteilungen
Abb. 14. 6: Strukturierter Fragebogen zur Kündigungsgrundanalyse
14 Innovatives Kundenrückgewinnungskonzept
261
Ansatzpunkte für eine zielorientierte Vorgehensweise bei der Problembehebung sind noch einmal beispielhaft in der nachfolgenden Abbildung aufgeführt (vgl. Abb. 14.7).
Klassifikation der Abwanderungsgründe Kundenbezogene Abwanderungsgründe
Wettbewerbsbezogene Abwanderungsgründe
Unternehmensbezogene Abwanderungsgründe
Ursachen der Abwanderung
Anteil an gesamt
beispielhafte Reaktion seitens der Versicherungsgesellschaft
persönliche Gründe
2%
beobachten; individuell klären
private Veränderungen
5%
beobachten; individuell klären
Preis-Leistungs-Verhältnis
60%
Überprüfung des Preisniveaus unter Berücksichtigung von Kosten-NutzenEffekten; ggf. Einführung von Bonussystemen oder gesonderter Rabattstufen
Leistungsqualität
13%
Analyse/Anpassung der Prozessqualität; Aufnahme v. Benefits in Vers.bedingungen
Servicequalität
20%
Überprüfung der allgemeinen Servicelevels und ggf. Einführung separater Standards
Abb. 14.7: Ansatzpunkte für eine zielorientierte Problembehebung
Durch die Problembehebung widmet sich die Gesellschaft jedoch nicht nur dem Themenkomplex Kundenrückgewinnung, sondern nimmt sich vor allem auch aktiv dem Bereich Stornoprophylaxe an. Die aktive Herangehensweise an die Fragestellungen „Warum kündigen die Mehrzahl der Kunden ihre Verträge?“ und „Durch welche internen Maßnahmen können diese Kündigungsgründe beseitigt werden?“ führt - eine positive Anwendung durch die Versicherungsgesellschaft vorausgesetzt - zu einer Verlängerung einer Vielzahl noch existierender Kundenbeziehungen, Kundenbeziehungen also, die ohne die Beseitigung der häufig genannten Abwanderungsgründe zwangsläufig beendet worden wären. An dieser Stelle hat das Rückgewinnungskonzept einen direkten Einfluss auf das Kundenbindungsmanagement und unterstützt es in seinem Wirkungskreis. Gestützt durch die objektiven Erkenntnisse aus dem Rückgewinnungskonzept, kann der Versicherer bei einer Kostensenkung, beispielsweise einen Newsletter an den gesamten Versichertenbestand versenden, welches insgesamt zu einer positiven Wahrnehmung bei den Kunden und somit für einen höheren „Wohlfühlfaktor“ führt.
3.5
Maßnahmen zur Rückgewinnung abgewanderter Kunden
Die Problembehebung geht einher mit den konkreten Maßnahmen zur Rückgewinnung abgewanderter Kunden, welche sich im Rahmen eines ganzheitlichen Kundenrückgewinnungskonzeptes ergeben (vgl. Michalski 2002, S. 205-206). Unabhängig von der gewählten Rückgewinnungsmethodik ist eine passgenaue und vor allem zeitnahe Reaktion der Versicherungsgesellschaft auf die Kündigung des Kunden unabdingbar. Beide Positionen nehmen einen sehr hohen Stellenwert in Bezug auf die Erfolgsaussichtung der Wiederbelebung der Kundenbeziehung ein.
262
Andreas Hülsing
Je schneller die Gesellschaft dabei auf die Kündigung reagiert, desto höher können die Chancen für eine Rückgewinnung der Kunden eingeschätzt werden (vgl. Sauerbrey 2000, S. 15). In der wissenschaftlichen Literatur werden vier grundlegende Verfahren zur strategischen Rückgewinnung von Kunden unterschieden, welche sich in die Kategorien Anreiz-, Kompensations-, Dialog- sowie Überzeugungsstrategie aufteilen lassen (vgl. Meffert/Bruhn 2006, S. 249). Die jeweiligen Strategien sowie deren Definitionen und Ansatzpunkte sind in der nachfolgenden Übersicht zusammengestellt (vgl. Abb. 14.8).
Konkretisierung
Rückgewinnungsmethodik
Anreizstrategie
Kompensationsstrategie
Dialogstrategie
Überzeugungsstrategie
- Rabattvergabe/Tarifabsenkung - Geschenkvergabe/Gutscheinversand - Eingestehen von Fehlern/Widergutmachung - (ggf.) Entschädigungszahlung bei finanziellem Verlust - Individuelle Klärung der Kündigungsgründe und (ggf.) Verbeserung/ d Abstellen des Fehlverhaltens - Erläuterung der Vorteile bei Beibehaltung der Geschäftsbeziehung inkl. d Mitbewerbervergleich
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Bruhn 2001, S. 163-169
Abb. 14.8: Kundenrückgewinnungsstrategien
Das erste Verfahren der im Schaubild dargestellten Kundenrückgewinnungsmethodiken ist die Anreizstrategie. Diese zielt darauf ab, die Geschäftsbeziehung mit dem Kunden durch in der Regel finanzielle Impulse, wie zum Beispiel Preisnachlässe wiederzubeleben (vgl. Bruhn 2001, S. 167). Doch gerade durch diese Anreizwirkung wird die Kündigung - insbesondere, wenn es um hohe Impulszahlungen an den Kunden geht - zu einem lukrativen Unterfangen und bleibt auch für die Zukunft für ihn ein verlockendes Thema (vgl. Knauer 1999, S. 524). Der wertmäßige Anreiz zur Wiederaufnahme der Geschäftsbeziehung sollte sich daher an der im Vorfelde vorgenommenen Segmentierungsstruktur orientieren und nicht überproportional zu dem zukünftig zu erwartenden Beitragstragsaufkommen sein. Die Kompensationsstrategie setzt daher auch an einem anderen Punkt an. Bei dieser Methodik bescheinigt die Firma dem Kunden, dass ein individueller Fehler gemacht wurde, welcher jedoch als absolute Ausnahme angesehen werden kann (vgl. Bruhn 2004, S. 163). Auf diese Art und Weise geht das Versicherungsunternehmen bewusst in die Offensive und hofft - verbunden mit einer schriftlichen oder persönlichen Entschuldigung beim Kunden - auf eine „zweite Chance“. Sofern dem Kunden durch das Verschulden der Unternehmung ein finanzieller Verlust entstanden ist, ist mit der Entschuldigung in der Regel auch eine Kompensati-
14 Innovatives Kundenrückgewinnungskonzept
263
onszahlung seitens der Gesellschaft verbunden, um den Kunden im Nachhinein nicht schlechter zu stellen als vor Eintritt des Verlustes (vgl. Michalski 2002, S. 204). Sehr eng miteinander verbunden sind die beiden Positionen Dialog- und Überzeugungsstrategie. In beiden Fällen wird - wie der Name schon sagt - der direkte Kontakt mit dem Kunden gesucht, um ihn davon zu überzeugen, seine Entscheidung noch einmal zu überdenken beziehungsweise die Kündigung zurückzunehmen. Dieses geschieht insbesondere durch die Verdeutlichung von Argumenten, die für die Firma sprechen, und der Schaffung von Vorteilen/Mehrwerten gegebenenfalls im Vergleich zu den Mitbewerbern (vgl. Bruhn/Michalski 2003, S. 258). Neben dem Ziel der Wiederaufnahme der Geschäftsbeziehung verfolgt die Dialogstrategie aber noch eine weitere Intention: Sie soll durch die Kommunikation mit dem Kunden Anhaltspunkte sammeln, den allgemeinen Dienstleistungsprozess innerhalb der Unternehmung zu verbessern und dient somit ebenfalls dazu, mögliche Schwachstellen zu identifizieren. Darüber hinaus können die Informationen direkt genutzt werden, um die erfolgreiche Rückgewinnung des abgewanderten Kunden einzuläuten (vgl. Barth/Kaletsch 2001, S. 148). Die Kontaktaufnahme und die Intensität bei der Rückgewinnung sollten in Abhängigkeit der vorgenommenen Kundensegmentierung erfolgen. So ist zum Beispiel bei den sehr wichtigen („A“-)Kunden ein persönliches Kundengespräch unabdingbar. Bei den danach folgenden „B“-Kunden kann die Kontaktaufnahme sowohl in Form eines persönlichen als auch telefonischen Kundengespräches erfolgen. In den Gesprächen sollte sich intensiv dem Problemhintergrund des Kunden angenommen werden. Des Weiteren sollte dem Kunden deutlich gemacht werden, welche Vorteile eine Wiederbelegung der Kundenbeziehung (beziehungsweise die Nicht-Kündigung der Geschäftsbeziehung) hat. Bei idealtypischer - und somit erfolgreicher - Anwendung dieser Strategie wird eine ausgesprochene Kündigung zurückgenommen und die Kundenbeziehung reanimiert. Auch bei nicht eindeutiger Schuldfrage könnten, neben Kulanzregelungen, hier auch Preisrabatte zur Anwendung kommen, um dem abgewanderten Kunden zum einen die Bedeutung und die Wichtigkeit der Kundenbeziehung für das Unternehmen vor Augen zu führen und zum anderen eine Wiederaufnahme der Geschäftsbeziehung zu ermöglichen beziehungsweise zu beschleunigen (vgl. Sauerbrey/Henning 2000, S. 36). Die „C“-Kunden sollten in Abhängigkeit der freien Ressourcen entweder einen telefonischen, zumindest aber einen schriftlichen Kontakt seitens der Versicherungsgesellschaft inklusive des vorher beschriebenen Kundenfragebogens erhalten. Darüber hinaus kann es zwangsläufig Kunden geben, die eine Gesellschaft gar nicht zurückgewinnen möchte, wie zum Beispiel zahlungsunfähige Kunden. Diese Kunden sind von vornherein aus dem Maßnahmenpaket zur Rückgewinnung auszuschließen. Für diese Kundengruppe ist lediglich sicherzustellen, dass durch sie keine negative Mund-zu-Mund-Propaganda verbreitet wird. Dieser Effekt kann zum Beispiel über ein zielgerichtetes - freundliches formuliertes - Anschreiben des Versicherers erreicht werden.
264
Andreas Hülsing
3.6
Nachbetreuung erfolgreich zurückgewonnener Kunden
Die erfolgreiche Konzeption und Umsetzung eines Rückgewinnungskonzeptes sollte durch den Aufbau einer Nachbetreuungsphase für die zurück gewonnenen Kunden untermauert werden. Innerhalb dieses Prozessbausteines geht es in erster Linie um die Stabilisierung der vor kurzer Zeit frisch reaktivierten Geschäftsbeziehung (vgl. Homburg/Krohmer 2006, S. 967). Diese kann zum Beispiel innerhalb eines bestimmten Zeitintervalles durch eine regelmäßige Kontaktaufnahme mit dem Kunden auf telefonischem Wege oder in Form eines persönlichen Kundengespräches erfolgen. Ebenso denkbar ist eine schriftliche Kontaktaufnahme inklusive eines Feedback-Fragebogens, welcher dem Kunden noch einmal seine Wichtigkeit für das Unternehmen signalisiert und weitere Erkenntnisse über den Rückgewinnungsprozess sowie die Kundenzufriedenheit sammelt (vgl. Beutin 2003, S. 459). Unabhängig von dem gewählten Kontaktmedium sollte zwingend die Identifikation der Kundenzufriedenheit bei der gerade wieder aufgenommenen Geschäftsbeziehung im Vordergrund des Unternehmensinteresses stehen (vgl. Schöler 2004, S. 532). Dieser Ansatz erscheint umso sinnvoller, da der Kunde insbesondere in dieser Phase eine besondere Pflege der Kundenbeziehung erwartet. Entscheidend für den nachhaltigen Erfolg des Kundenrückgewinnungskonzeptes und den weiteren Verlauf der Kundenbeziehung ist, dass der Kunde zu seinem „normalen“ Geschäftsverhalten zurückkehrt und idealerweise die reaktivierte Geschäftsbeziehung erweitert beziehungsweise darüber hinaus die Bemühungen der Gesellschaft um seine Person als positives Beispiel für die Dienstleistungsund Servicequalität des Versicherers auch an Dritte weitergibt. Umgesetzt werden kann diese besondere Form der reaktivierten Kundenbeziehungspflege durch dem Einsatz von diversen Kundenbindungsinstrumenten, welche in den allgemeinen Serviceprozess der Gesellschaft einzubetten sind (vgl. Schäfer et al. 2000, S. 64). Beispiele hierfür sind u.a. die Aufnahme in so genannte Kundenclubs, welche den Clubmitgliedern zum Beispiel besondere Produktund/oder Serviceangebote oder auch Vergünstigungen und Rabatte einräumen (vgl. Berekoven 1995, S. 261-262). Bestenfalls kann der Kundenrückgewinnungsprozess somit dazu führen, dass ein zufriedener zurückgewonnener Kunde der Gesellschaft durch eine positive Mund-zu-Mund-Propaganda auch bei der Akquise neuer Kunden behilflich ist. Daher erscheint es an dieser Stelle sinnvoll, ein separates Controlling zu installieren, welches Auskunft über den Erfolg der Kundenrückgewinnung, mögliche Cross-Selling-Effekte, vor allem aber Aussagen über Kosten-/Nutzeneffekte der idealtypisch in den Prozessablauf der Firma integrierten Maßnahmen beinhaltet (vgl. Stauss 2000b, S. 582).
14 Innovatives Kundenrückgewinnungskonzept
4
265
Voraussetzungen für die erfolgreiche Operationalisierung des Rückgewinnungskonzeptes
Nachdem in den bisherigen Kapiteln insbesondere auf prozessuale Belange eingegangen wurde, beschäftigt sich dieser Abschnitt mit der operativen Umsetzung der strategischen Neuinstallation eines Kundenrückgewinnungskonzeptes. Soll die Operationalisierung des Konzeptes von Erfolg gekrönt sein, sind neben der prozessualen Aufbereitung und der frühzeitigen Kundenansprache weitere Faktoren erforderlich, die über Erfolg und Misserfolg der Maßnahme entscheiden. Diese sollen nachfolgend erläutert werden.
4.1
Integrative Organisationsstruktur
Neben der Implementierung der allgemeinen Prozessschritte in die Unternehmensstruktur ist vor allem die interne Klärung die jeweiligen Zuständigkeiten der an diesem Themenkomplex beteiligten Bereiche von entscheidender Bedeutung. Exemplarisch sei an dieser Stelle die Möglichkeit der Bearbeitung „aus einer Hand“ als auch der Aufbau eines speziell auf das Themengebiet geschulten Rückgewinnungsteams erwähnt. Während der erste Ansatz der „Nebenbei“Bearbeitung durch die (Bestands-)Sachbearbeiter der Gesellschaft sicherlich Kostenvorteile für den Versicherer darstellt, ist dem entgegenzusetzen, dass einem spezialisierten Team höhere Chancen bei der Kundenrückgewinnung eingeräumt werden können. Je professioneller eine Gesellschaft das Thema Kundenrückgewinnung letztendlich angeht, desto höher sind auch die Erfolgsaussichten einzuschätzen. Bei einer Wahlmöglichkeit zwischen der „Nebenbei“-Bearbeitung und einer Spezialisierung ist deshalb langfristig die Spezialisierungsvariante eindeutig vorzuziehen. Da es heutzutage verschiedenste Aufstellungen der Versicherungsgesellschaften am Markt gibt (Ausschließlichkeits-Organisation, Makler-Organisationen, Direktvertriebsgesellschaften etc.), muss die Aufstellung des Rückgewinnungsteams variabel gestaltbar sein und auf die verschiedenen Bedürfnisse der Gesellschaften eingehen. Um möglichst effizient zu agieren, ist der Aufbau eines zentralen Teams unter einer einheitlichen Leitung anzustreben. Die Anzahl der erforderlichen Teammitglieder ergibt sich durch das Gesamtaufkommen der eingehenden Kündigungen (und gegebenenfalls der Beitragsfreistellungen, sofern man den Themenkomplex, wie bereits beschrieben, erweitern möchte). Einen besonderen Stellenwert bei der Kundenrückgewinnung nimmt auch der Bereich Beschwerdemanagement ein (vgl. Büttgen 2003, S. 71). Als wichtiges Bindeglied zwischen Kunde und Unternehmen sollte das Beschwerdemanagement der Versicherungsgesellschaft einen sehr engen Kontakt zum Kundenrückgewinnungsteam pflegen, um einen bestmöglichen Austausch zwischen den Parteien zu gewährleisten und somit den langfristigen Erfolg des Modelles zu sichern.
266
Andreas Hülsing
Nachfolgendes Schaubild zeigt beispielhaft die Aufstellung eines speziellen Rückgewinnungsteams in der Versicherungswirtschaft in der direkten Abstimmung und Zusammenarbeit mit anderen hausinternen Versicherungsbereichen (vgl. Abb. 14.9). Gestaltung und Umsetzung von Maßnahmen zur internen Prozessverbesserung/Problembehebung
Bestands-/ Leistungsabteilung
direkter Kontakt zwecks Wiederbelebung
IT/EDV
Abstimmung und Bearbeitung der individuellen Kommunikation
Erarbeitung und Umsetzung von Segmentierungkriterien/CLV
KundenKundenrückgewinnungsrückgewinnung team
Weitergabe der Erkenntnisse aus der Kündigungsgrund-Analyse
Weitergabe von Produktstrategien und Marktdaten der Mitbewerber
Produktgestaltung
Konzernstrategie
Gestaltung von Maßnahmen zur Stornoprophylaxe
Weitergabe der Kündigung zur pers. Kontaktaufnahme mit dem Kunden
(ggf.) Außendienststellen/Makler
Kunde
Weitergabe der Kündigungen ohne Wiederbelebungschance
Beschwerdemanagement
Erhebung und Ausweis von Kosten-Nutzen-Effekten
Controlling
Aufbereitung des Datenmaterials zur Ableitung weiterer Maßnahmen
Abb. 14. 9: Integratives Modell einer ganzheitlichen Rückgewinnungsstruktur
Das Rückgewinnungsteam stellt in der Abbildung die zentrale Schnitt- und Verbindungsstelle zwischen den internen Versicherungsbereichen Bestandsbearbeitung und Beschwerdemanagement sowie der Produktgestaltung und der Konzernstrategie dar. Durch die Informationsweitergabe des Kundenrückgewinnungsteams können bei der Versicherungsgesellschaft sowohl interne Prozessabläufe verbessert als auch zukünftige Maßnahmen zur Stornoprohylaxe angestoßen werden. Die am Markt direkt von den Kunden gewonnenen Daten können darüber hinaus für eine Analyse der Produktstrategien der Mitbewerber genutzt werden. Abgerundet wird die Aufstellung des Rückgewinnungsteams durch die Zusammenarbeit mit der IT, welche für die Umsetzung der benötigten Prozessschritte sowie die systemgesteuerte Errechnung der Kundenwertigkeit zuständig ist, und des Controllingbereiches, welcher in regelmäßigen Zeitintervallen die Kosten-Nutzen-Effekte überprüft und damit der Konzernstrategie objektive Handlungsempfehlungen und Auskünfte über die Profitabilität der eingesetzten Maßnahmen geben kann.
14 Innovatives Kundenrückgewinnungskonzept
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Neben der Zusammenarbeit mit den internen Versicherungsbereichen arbeitet das Rückgewinnungsteam aber auch direkt mit den abgewanderten Kunden zusammen. Ziel hierbei ist es, auf direktem telefonischem Wege die Wiederbelebung der Geschäftsbeziehung zu erreichen und weitergehende Informationen von dem Kunden zu erhalten. Gehört der Versicherungsnehmer zu der „A“-Segmentierung und somit zu den ökonomisch wichtigsten Kunden für die Gesellschaft, ist eine persönliche Kontaktaufnahme unabdingbar. Diese kann durch die Zusammenarbeit des Rückgewinnungsteams mit den Außendienststellen gewährleistet werden, an die die Kündigungen inklusive der Vorarbeiten weitergeleitet werden. Wichtig ist an dieser Stelle die Nachhaltung der über die Außendienststellen gewonnenen Erkenntnisse, um eine ganzheitliche Betrachtung der Rückgewinnungsmaterie inklusive der Erfolgsquoten des jeweiligen Kommunikationskanales ausweisen zu können. Das Kundenrückgewinnungsteam organisiert damit den Gesamtprozess der eingehenden Kündigungen und analysiert, bearbeitet und verteilt die entsprechenden Aufgaben- und Informationspakete innerhalb der Versicherungsgesellschaft. Der Organisationsstruktur wird daher eine zentrale Rolle bei der Umsetzung des Konzeptes zugesprochen.
4.2
Leistungs- und kundenorientierte Mitarbeiter
Eine weitere wichtige Rolle bei operativen Umsetzung eines Rückgewinnungskonzeptes spielt neben der Organisationsstruktur auch der „Faktor Mensch“. Wie bereits erwähnt, ist der Aufbau eines speziellen Teams mit höheren Erfolgsaussichten verbunden als eine Bearbeitung neben dem anstehenden „daily business“. Die Mitarbeiter eines Rückgewinnungsteams zeichnen sich vor allem durch ihr serviceorientiertes Verhalten gegenüber den Kunden aus. Da im Vorwege der Kundenrückgewinnung oftmals negative Erlebnisse bei den Kunden vorausgegangen sind, sind neben einer umfangreichen fachlichen Qualifikation auch ein besonderes Einfühlungsvermögen und eine große Frustrationstoleranz bei den Mitarbeitern erforderlich (vgl. Büttgen 2003, S. 69). Schließlich sind sie es, die die telefonischen Gespräche mit den Kunden mit dem Ziel der Rückgewinnung führen und somit direkten Einfluss auf die Wiederbelebung der Geschäftsbeziehung haben. Neben einer ausgeprägten Dialogbereitschaft und Argumentationsstärke müssen die Teammitglieder auch genügend Entscheidungsspielräume besitzen, den Kunden mithilfe der Anreizstrategie entsprechende Vorschläge unterbreiten zu dürfen (vgl. Homburg/Schäfer 1999, S. 16). Damit die Entscheidungsspielräume nicht grenzenlos genutzt werden, empfiehlt sich die Gestaltung einer Limitvergabe je Kundensegmentierung. Weitere Vollmachten und Handlungsspielräume könnten in diesem Fall über die nächst höhere Vorgesetztenstufe geregelt werden. Die entsprechenden Qualifikationen eines „Rückgewinnungsmanagers“ inklusive einer praxisorientierten Bewertung der einzelnen Faktoren sind anhand des nachfolgend aufgeführten Skillprofils ersichtlich. Wie man erkennen kann, liegen alle
268
Andreas Hülsing
erforderlichen Faktoren zum Teil deutlich über dem jeweiligen Mittelwert der Kategorie (vgl. Abb. 14.10).
Kunden-/Serviceorientiertes Denken Akquisitorischer Biss Rhetorische Fähigkeiten Fachliche Kompetenz Selbstorganisation Frustrationstoleranz Einfühlungsvermögen Dialogbereitschaft Argumentationsstärke Relevanz auf Mitarbeiterebene
5 ++
4
+
3 o
2
-
--1
Abb. 14.10: Idealtypisches Skillprofil eines Rückgewinnungsmanagers
Möchte man das Rückgewinnungskonzept weiter forcieren und den Erfolg sicherstellen, ist eine zielgerichtete Incentivierung für die Mitarbeiter des Teams anzustreben. Für jede erfolgreiche Rückgewinnung eines Versicherten könnte dabei dem Mitarbeiter beziehungsweise dem Team ein bestimmter Anteil des wiedergewonnenen Jahresprämienaufkommens des Kunden gutgeschrieben werden. Ein teambezogenes Anreizsystem zur späteren Verteilung an alle Mitarbeiter ist insofern ratsam, da dadurch ein mögliches teaminternes Wetteifern um die besten Kunden vermieden wird. Durch interne Teamanreize kann darüber hinaus der best practice Aspekt besser gewürdigt werden, in dem die erfolgreichsten Mitarbeiter des Teams ihre Vorgehensweise an die anderen Mitglieder zum gemeinsamen Steigerung der Erfolgsquote und damit der Teamprämie weitergeben. Speziell geschulte Mitarbeiter können in einer weiteren Ausbaustufe den Rückgewinnungskontakt zum Vertragspartner auch als günstige Basis für die Generierung weiterer Vertriebsansätze nutzen. Durch den Aufbau eines speziellen Vertrauensverhältnisses zu dem eigentlich abwanderungswilligen Kunden („Endlich nimmt sich jemand gezielt meinen Problemen an.“) kann der Rückgewinnungsmanager durch gezielte Fragestellungen weitere Absatzchancen für andere Produktkategorien eruieren. So können aus einem abwanderungswilligen Versicherungsnehmer im Idealfall konkrete Ansätze für weitere Produktkäufe bei der Versicherungsgesellschaft entstehen.
14 Innovatives Kundenrückgewinnungskonzept
269
Schlussbetrachtung Ausgehend von dem immer intensiveren Wettstreit der Unternehmen in der Finanzdienstleistungsbranche um den Kunden und den immer fragiler werdenden Geschäftsbeziehungen ist deutlich geworden, dass das Heil der Gesellschaften nicht mehr nur in der Neuakquise und der Kundenbindung liegt, sondern insbesondere das Thema Kundenrückgewinnung an Bedeutung zunimmt. Basierend auf dieser Erkenntnis wurden in einem ersten Schritt die definitorischen Grundlagen der Kundenrückgewinnung erarbeitet und herausgestellt. Dabei wurden auch die verschiedenen Zieldimensionen eines Kundenrückgewinnungskonzeptes für ein Versicherungsunternehmen aufgezeigt. Aufbauend auf den theoretischen Grundlagen wurde ein prozessorientiertes Modell eines idealtypischen Kundenrückgewinnungskonzeptes erarbeitet, welches sich aus den einzelnen Prozessschritten Identifikation, Segmentierung, Analyse, Problembehebung, Rückgewinnung und Nachbetreuung abgewanderter Kunden zusammensetzt. Hierbei wurden insbesondere verschiedene Rückgewinnungsstrategien und Anreizsysteme aufgezeigt, welche es den Unternehmen erleichtern sollen, abgewanderte Kunden zurückzuerobern und damit mehr Deckungsbeiträge für die Gesellschaft zu erwirtschaften. Auch die betriebswirtschaftlich sinnvolle Mittel- und Ressourcenallokation werden dabei durch eine zuvor durchgeführte wertorientierte Segmentierung der abgewanderten Kunden sichergestellt. In Anschluss an die prozessorientierte Erstellung des Kundenrückgewinnungsmodelles wurden in diesem Beitrag die weiteren Erfolgsfaktoren für die nachfolgende Operationalisierung des Konzeptes erarbeitet. Hierzu wurde ein praxisorientiertes Modell einer ganzheitlichen Rückgewinnungsstruktur entwickelt und erläutert. Dabei wurde der Themenkomplex der Kundenrückgewinnung als zentrale Schnittund Verbindungsstelle innerhalb einer Versicherungsgesellschaft definiert. Neben der Organisationsstruktur wurde darüber hinaus auch die Qualifikation der Mitarbeiter als Erfolgsschlüssel identifiziert und um ein idealtypisches Skillprofil eines Rückgewinnungsmanagers verfeinert. Abschließend bleibt festzuhalten, dass das Kundenrückgewinnungskonzept viele Ansatzpunkte bietet, den durchschnittlichen Ertrag aus einer Kundenbeziehung auszubauen. Darüber hinaus liefert das System zahlreiche Informationen, die es den Unternehmen ermöglichen, interne Prozessabläufe zu verbessern und die Servicequalität nachhaltig zu steigern. Allein aus den vorgenannten Gründen sollte der Themenkomplex der Kundenrückgewinnung ein fester Bestandteil bei allen Versicherungsgesellschaften sein. Aufgrund der geringen Initialkosten ist das Rückgewinnungskonzept darüber hinaus weitaus lukrativer als viele Bereiche der Neukunden-Akquise, welches an dieser Stelle die These einer strategischen Einführung des Konzepts noch untermauert.
270
Andreas Hülsing
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14 Innovatives Kundenrückgewinnungskonzept
271
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Teil V Operatives Versicherungsmarketing
Kapitel 15 Post Merger Integration bei einem Versicherungsunternehmen Dr. Michael Reich/Tim Braasch/Thorsten Schramm
1
Konsolidierungswellen in Branchen
Fusionen, Akquisitionen und Übernahmen nehmen weltweit zu. Auch nach dem absehbaren Ende der Finanz- und Wirtschaftskrise wird die derzeitige Fusionsflaute wohl nur eine „Delle“ in einem langfristig steigenden Trend sein. Der Grund hierfür ist sehr einfach: Organisatorisches Wachstum allein kann das Überleben eines Unternehmens langfristig nicht absichern. Externes, „anorganisches“ Wachstum ist für Unternehmen die einzige Möglichkeit, stärker und schneller zu wachsen als ihre Wettbewerber. Eine optimale Unternehmensgröße, bei der ein Unternehmen bleiben und sich fortan nicht mehr weiterentwickeln sollte, gibt es nicht. Wer langfristig existieren will, muss wachsen, um auch die Möglichkeit von Karrieren im Unternehmen zuzulassen. Diese Erkenntnis ist in globalisierten Branchen mittlerweile unstrittig. Sie gilt für jede Branche, weltweit, denn früher oder später werden alle Branchen globalisiert. Wenn also der Weg des Wachsens durch Fusionen und Akquisitionen ohne Alternative ist, wenn die Antwort lautet: “Konsolidiere oder werde konsolidiert“, dann ist es vorteilhaft, zu wissen, welche strategischen Entscheidungen eines Unternehmens die eine oder die andere Variante begünstigen (vgl. Kröger 2004, S.170ff.). In einer Reihe von strategischen Ansätzen finden sich Fragestellungen: „Wie vergrößere ich meinen Marktanteil, wenn ich Marktanteile der anderen Spieler in einer Industrie kenne?“ oder „Wie führe ich eine Fusion erfolgreich durch?“. Solche Fragestellungen sind wichtig, aber sie tragen nur Mosaiksteine zu einer Endgames-Strategie zusammen, ohne das ganze Bild zu kennen. Erst mit der Entdeckung der Gesetzmässigkeit von Branchenkonsolidierungen erschließt sich das ganze Bild: • Alle Branchen sind oder werden global. • Konsolidierung ist unvermeidlich. Es gibt keine Marktnische, die nicht über kurz oder lang im Endgame ist. • Der wichtigste Imperativ für Unternehmen lautet: Wachse, und zwar früh und primär durch Fusion. M.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing, DOI 10.1007/978-3-642-10276-9_15, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
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Dr. Michael Reich/Tim Braasch/Thorsten Schramm
• Das Portfolio muss ständig der Endgames-Position entsprechend optimiert werden. • Die Gewinner des Endgames bewegen sich erfolgreich auf der EndgamesKurve (vgl. Kröger 2004, S.170). In einem langjährigen, weltweiten und industrieübergreifenden Vergleich hat die Unternehmensberatung A.T. Kearney bereits vor über zehn Jahren erstaunliche Ähnlichkeiten in der Konsolidierung von Branchen entdeckt. Die Ergebnisse der Studie geben Aufschluss über die Gesetzmässigkeit von Branchenkonsolidierungen, die Unternehmen für sich nutzbar machen können. Die von A.T. Kearney durchgeführte Studie, stützt sich auf eine Datenbasis von über 1.345 Akquisitionen und Übernahmen von 945 kaufenden Unternehmen. Bei der Auswahl der untersuchten Unternehmen wurde besonderer Wert darauf gelegt, dass die Unternehmen börsennotiert waren und das Transaktionsvolumen mehr als 500 Millionen Dollar betrug. Weitere Rahmenbedingung der Untersuchung war, dass das kaufende Unternehmen mehr als 51 % Anteile des gekauften Unternehmens hielt. Um Branchenkonsolidierungen im Zeitverlauf zu analysieren, wurden die Branchen nach ihrem Konzentrationsgrad anhand der Indizes CR 3 sowie HHI ausgewertet. Der Indikator CR 3 ist die Summe der Marktanteile der drei größten Unternehmen einer Branche und ein Indikator für die relative Größe der drei größten Unternehmen im Vergleich zur gesamten Branche. Der zweite Indikator, der Hirschmann-Herfindal-Index (HHI), ist die Summe der quadrierten Marktanteile der einzelnen Unternehmen einer Branche und berücksichtigt die relative Größe und Verteilung der Unternehmen. Zur Abgrenzung der Branchen wurde sich aus pragmatischen Gründen an den offiziellen Branchencodes SEC orientiert, die jedem Unternehmen gemäß seiner Aktivitäten in mehreren Märkten zugeteilt werden. Wie die Abb. 15.1 darstellt, wurde als Ergebnis das s-förmige Verlaufmuster der Endgames-Kurve deutlich, das für jede Branche gültig ist.
15 Post Merger Integration bei einem Versicherungsunternehmen
PHASE I Öffnung
CR31)
PHASE II Kumulation
PHASE III Fokus
PHASE IV Balance
277
HHI2)
100% Verteidigung
90%
-0,7
Tabakindustrie Automatisierungstechnik
80% Max. Spirituosen
70%
Schuhindustrie Limonaden Luft- und Raumfahrt Luft- und Raumfahrt-Zulieferer LKW-Hersteller Spielzeugproduzenten Gummi & Reifenhersteller
Schiffsbau
60% 50% Ø 45% 40%
Brauereien Papierindustrie Restaurant & Fast Food Automobilzulieferer
Eisenbahn
30%
Telekom
20%
Fluglinien
Min.
Chemie Pharma Allg.Handel
Versorger
10%
Stahl
-0,1
Automobilhersteller Nahrungsmittel
Banken
Versicherungen
-0,01
0% -5
0
5
10
15
20
JAHRE
1) CR3 = Marktanteil der drei größten Unternehmen einer Industrie mit der Value Building Growth (VBG) Datenbank (25.000 Unternehmen) 2) HHI = Hirschmann-Herfindahl-Index entspricht der Summe der quadrierten Marktanteile aller Unternehmen einer Industrie; Achse ist logarithmisch aufgetragen
Quelle: VBG-Datenbank; A.T.Kearney Analyse
Abb. 15.1: Endgames-Kurve
Wenn Branchen sich auf der Endgames-Kurve nach oben bewegen, nimmt die Konzentration zu, der Marktanteil der wichtigsten Spieler nähert sich einem theoretischen Maximum von 100%. Entsprechend verändert sich die Fusionsaktivität in einer Branche mit deren Position auf der Endgames-Kurve: Die Branchen am unteren Ende der Kurve fusionieren wesentlich stärker als diejenigen am oberen Ende. Die Profitabilität in den vier Phasen des Endgames dagegen korrelieren mit dem Grad der Konsolidierung in einer Branche - allerdings mit einer leichten Verzögerung. • In der Öffnungsphase ist die Profitabilität relativ hoch, weil die Branche schnell wächst. Zwar müssen zum Beispiel ehemalige staatlich Unternehmen nach der Liberalisierung oder Deregulierung schwerfällige Organisationsstrukturen voller Redundanzen finanzieren. Bis zur vollständigen Liberalisierung erzielen sie jedoch mit ihren monopolartigen Preisen so hohe Profite, dass sie die hohen Kosten leicht kompensieren können (vgl. Kröger 2004, S. 170). Neben den oben diskutierten Branchen befindet sich auch die Versicherungsbranche in der Öffnungsphase. Mit der stärkeren Fokussierung auf ihr Kerngeschäft und des damit verbundenen, notwendigen anorganischen Wachstums entsteht voraussichtlich auch hier eine Konsolidierungswelle. Denn je kleiner ein Versicherungsunternehmen ist, desto größer ist die Gefahr übernommen zu werden. • In der Kumulationsphase lässt stärkerer Wettbewerb die Profitabilität dramatisch sinken. Die Konsolidierung beschleunigt sich, das Preisniveau sinkt. Die Unternehmen versuchen daher, wenigstens der hohen internen Kosten Herr zu
278
Dr. Michael Reich/Tim Braasch/Thorsten Schramm
werden, um noch eine zufriedenstellende Marge zu erzielen. Damit laufen sie allerdings Gefahr, sich in einer Profitabilitätsfalle zu verfangen und mit immer neuen Kostensenkungsmaßnahmen die Fähigkeit des Unternehmens für zukünftiges Wachstum zu beschneiden. • In den letzten beiden Endgames-Phasen entsteht nahezu ein oligopolistisches Wettbewerbsmodell, das den überlebenden Spielern eine profitable Preispolitik ermöglicht. Die Unternehmen in der Balancephase erreichen die höchste Profitabilität, weil sie ihre Wettbewerber weitgehend aus dem Markt gedrängt haben. Der Zeitraum, den eine Branche benötigt, um den Konsolidierungsprozess von der Öffnungsphase über die Kumulations- und Fokusphase bis zur Balancephase zu durchlaufen, beträgt heute etwa 20 bis 25 Jahre. Dieser Zeitraum verkürzt sich stetig. Die heutige Geschwindigkeit der Industriekonsolidierung ist also das Ergebnis einer jüngeren Entwicklung. Seit dem Beginn des „Fusionsfiebers“ in den 1980er Jahren ist die Zahl der Fusionen jährlich um durchschnittlich fast 21% gestiegen und der Trend zu „Mega Deals“ nimmt ungebrochen zu. Die Richtung ist eindeutig: Je schneller sich Einflussfaktoren auf die Wirtschaft verändern, desto mehr steigt die Konsolidierungsgeschwindigkeit. Es ist abzusehen, dass sich der Zeitraum der Branchenkonsolidierung schließlich bis auf zehn bis fünfzehn Jahre verkürzen wird (vgl. Kröger 2004, S. 171).
2
Voraussetzungen für einen erfolgreichen Merger
Die für den gesamten M&A-Transaktionserfolg wichtigste Phase ist die Integrationsphase. In dieser Phase entscheidet sich, ob die M&A-Strategie erfolgreich ist und einen nachhaltigen Mehrwert stiftet. Es geht darum, die Synergien und strategischen Potenziale auch tatsächlich zu realisieren und die Unternehmen zusammenzuführen. Die Anforderungen an das Management sind in dieser Phase entsprechend komplex und erfordern ein hohes Maß an Integrations- und Managementkompetenz. Der strategische und wertorientierte Fokus darf über den gesamten M&A-Prozess nicht verloren gehen. Dies wird in der Praxis dadurch erschwert, dass in den einzelnen Phasen zum Teil wechselnde Management- und Beratergruppen agieren, deren inhaltliche Schwerpunkte und Zielsetzungen oft unterschiedlich sind: In der Strategieentwicklungsphase befindet sich die Unternehmensführung im „StrategieModus“, unterstützt vom Strategieberater. Häufig sind nur wenige Mitarbeiter eingebunden. In der Transaktionsphase bekommt zusätzlich das Finanzressort besondere Bedeutung, unterstützt von Investmentbankern, Steuerberatern/Wirtschaftsprüfern und Anwälten. Der Strategieberater/das Strategieteam tritt oft in den Hintergrund. In der Post-Merger-Phase ist das Unternehmen auf „IntegrationsModus“. Oft wird ein Integrationsteam eingesetzt, das in den vorangegangenen Phasen nicht oder nur teilweise eingebunden war. Die Erfahrung zeigt, dass sich das Top Management in dieser Phase (oftmals zu früh) wieder anderen Themen
15 Post Merger Integration bei einem Versicherungsunternehmen
279
zuwendet und die Integration dem mittleren Management überlässt. Für die Berater der Transaktion ist ihre Aufgabe mit dem Closing in aller Regel abgeschlossen. Für die involvierten Unternehmen und deren Integrationsmanagementteam hingegen beginnt genau hier erst die Reise: Der Integragtionsprozess muss allerdings häufig mit deutlich weniger internen als externen Ressourcen auskommen. Dabei ist das Team häufig mit geringer Integrationserfahrung ausgestattet. Die Post-Merger-Integrationsphase beginnt nach dem Vertragsabschluss und verfolgt das Ziel, zwei oder mehrere Unternehmen erfolgreich zu vereinigen und weiterzuentwickeln. Häufig erfolgt der Wechsel zu einer neuen Organisation mit einer einheitlichen Geschäftsleitung und einer gemeinsamen strategischen Ausrichtung. Dieser Prozess stellt die höchsten Anforderungen an das Management und ist nicht selten von vielfältigen Überraschungen und Unabwägbarkeiten begleitet. Die erfolgreiche Umsetzung in der PMI-Phase sollte sich daher an sieben Kernelementen orientieren. 1.
2.
3.
Klare Vision/Strategie: Unternehmen konzentrieren sich häufig nur auf die Realisierung von kurzfristigen Kostensynergien, diese können oft nur zum Teil umgesetzt werden. Häufig entstehen etwa 12 bis 18 Monate nach dem Start der Fusion elementare Fragstellungen, die sich normalerweise anhand einer vorher festgelegten Strategie/Vision beantworten ließen. Wurde diese weder in der Pre- noch in der Post-Merger Phase festgelegt, ist ein Scheitern solcher Vorhaben häufig unvermeidbar. Es deshalb notwendig eine klare Vision und Strategie zu Beginn der Post-Merger Phase festzulegen. Außerdem erfordern neue Unternehmensstrukturen zumeist eine Neuorientierung des Mitarbeiterverhaltens. Als zentraler Motivations- und Orientierungspunkt dient hier in der Regel eine passende Unternehmensvision. Die Bedeutung der Vision zeigt sich an der 33% höheren Aufmerksamkeit, die Top-Performer diesem Thema widmen (Gerds/Schewe 2006, S. 6ff). Eindeutige Führungsverantwortung von Anfang an festlegen: Zu viele fusionierende Unternehmen lassen mit der Ernennung neuer Führungskräfte Zeit, obwohl Schnelligkeit gefragt ist. Die Integration der Führungsmannschaft geht deutlich über das Benennen des neuen Managements hinaus. Denn neben der Festlegung neuer Rollen und Stelleninhaber muss der Integrationsfortschritt durch den Transfer ausgewählter Führungskräfte über die alten Unternehmens- und Abteilungsgrenzen hinweg flankiert werden. Gerade im Zusammenhang von Stellenbesetzungen und Entsendungspolitik belassen es die überdurchschnittlichen Unternehmen nicht bei „Lippenbekenntnissen“. Stattdessen setzen diese auf nachhaltige Bindung von Kernmitarbeitern vor allem durch immaterielle Anreize, wie mittelfristige Karriereperspektiven, und gewinnen so Leistungsträger langfristig für das neue Unternehmen (Gerds/ Schewe 2006, S. 6). Die Abweichungen vom Studiendurchschnitt betragen bei den Maßnahmen zur Mitarbeiterbindung plus 53%. Dabei sollte auch die Führungsorganisation verzahnt werden, dass heißt beispielsweise die Einführung von Regelterminen (Jour Fixes, Gremien etc.) für die Führungskräfte während der Integration. Den Schwerpunkt auf Wachstumssynergien legen: Wachstum ist in der Regel das zentrale Fusionsthema. Hier sollte auch der Schwerpunkt gelegt werden
280
4.
5.
6.
7.
Dr. Michael Reich/Tim Braasch/Thorsten Schramm
und nicht ausschließlich auf die Kostensynergien. Das Management muss sich hier nicht für eines der beiden Themen entscheiden, sondern entsprechende Prioritäten setzen. Bisher konzentrieren sich Unternehmen zu stark auf Kostensynergien und erreichen deshalb nur selten ihre Ziele, während sie Wachstumssynergien – die bei fast allen Fusionen reichlich vorhanden sind – entweder zu spät oder gar nicht nutzen (Gerds/Schewe 2006, S. 7ff.). Die Beteiligten durch kurzfristige Erfolge überzeugen: Nichts überzeugt die an einer Fusion Beteiligten mehr als kleine, aber bedeutende Erfolge, die den Stakeholdern signalisieren, dass die Fusion auf dem richtigen Weg ist. Unabhängig von Visionen, Zielen und Überzeugungen der Manager stehen Mitarbeiter beider Fusionspartner einer Fusion in der Regel zunächst skeptisch gegenüber. Doch Führungskräfte können diese abwartende Einstellung positiv verändern, wenn sie in kürzester Zeit herausragende greifbare Ergebnisse erzielen und kommunizieren und so von Sinn und Zweck der Fusion überzeugen. Kulturelle Hintergründe durchleuchten und Unterschiede bewältigen: Die Art und Weise wie fusionierende Unternehmen die Integration ihrer Unternehmenskulturen angehen, ist so unterschiedlich wie Kulturen selbst: Einige verfallen in Lethargie, andere versuchen, dem Fusionspartner die eigene Kultur aufzuzwingen, und wieder andere versuchen, eine neue Kultur aus den beiden ursprünglichen zu schaffen. Probleme ergeben sich hier nicht daraus, dass der eine oder andere Ansatz besser oder schlechter ist – jeder dieser drei Wege kann unter bestimmten Umständen der richtige sein. Zielgruppenorientiert kommunizieren: Für die hoch bezahlten „Kommunikationsmanager“ vieler Unternehmen ist Öffentlichkeitsarbeit kein Problem, doch mit den einzigartigen Fragestellungen im Rahmen einer Fusion – intern und extern – sind sie häufig überfordert. Die Unternehmensberatung A.T. Kearny hat im Rahmen einer Post-Merger Studie festgestellt, das 86% der befragten Unternehmen, die Begründung und die Auswirkung der Fusion nicht ausreichend kommuniziert haben. Rundschreiben an Mitarbeiter und Mailings an Kunden verfehlen ihre Wirkung, wenn es sich um Zustimmung, Orientierung und die Steuerung von Mitarbeitererwartungen geht – eine zielgruppenorientierte Ansprache und die individuelle Beantwortung von Fragen ist hier der Schlüssel zum Erfolg. Operative Geschäftsaktivitäten verzahnen und Risiken managen: Der Betrieb in Versicherungen muss während der Integration weitergehen und zusätzlich effizienter und effektiver werden. Diese Einsicht bewegt Spitzenunternehmen dazu, während der Integration, das operative Management kontinuierlich zu begleiten und zu unterstützen. In der Zusammenführung des optimierten Tagesschäfts auf Basis optimierter Geschäftsprozesse sowie dauerhafter Unterstützung durch das Integrationsmanagement liegt ein zentraler Schlüssel zur Verwirklichung von Synergien. Die operative Integration wird als klar definierter Prozess geleitet. Dies ermöglicht die strukturelle und systemseitige Verzahnung der Unternehmen im Tagesgeschäft (Gerds/Schewe 2006, S. 7 ff.). So setzen Top-Performer neben einer 42% höheren Intensität bei der strukturellen Integration der operativen Geschäftsprozesse auf eine schnelle und durchgängige Integration der unterstützenden IT-Systeme (34%).
15 Post Merger Integration bei einem Versicherungsunternehmen
281
Daneben gilt es in der Integrationsphase das Risiko in derartig komplexen Prozessen aktiv zu managen. Die Erfahrungen von 67rockwell Consulting in diesen Projekten zeigt, dass die Risiken systematisch identifiziert, kategorisiert und priorisiert werden müssen, bevor sie minimiert oder bewusst eingegangen werden.
3
Konzeptionelles Vorgehen bei der Integration am Beispiel zweier Versicherungsunternehmen
3.1
Integrationsansatz
Je höher der angestrebte Integrationsgrad ist, umso schwieriger gestaltet sich in der Regel auch die Phase der Integration. In der einschlägigen Fachliteratur wird der Grad der Ähnlichkeit/Verwandtschaft zwischen Unternehmen, die zusammengeführt werden sollen, regelmäßig als komplexitätsreduzierend erachtet. Wesentliche Dimensionen zur Beurteilung sind u.a.: • Unternehmensgröße, Eigentums-/Führungsverhältnisse, Unternehmenskultur, Strategie, Ergebnissituation. • Komplexität der Branche, Märkte, Geschäftsfelder etc.. • Entwicklungsstand und Professionalisierungsgrad der Unternehmen und • Kulturelle Identität etc. Obwohl die strategische Ähnlichkeit von Unternehmen die Integration in vielen Fällen erleichtert, ist der strategische „Fit“ zwischen Unternehmen mit zahlreichen „Unähnlichkeiten“ häufig größer. Die angestrebte Integrationstiefe hat wesentlichen Einfluß auf die Komplexität eines Integrationsprojektes. Je mehr Prozesse des Zielobjektes direkt mit jenen des übernehmenden Unternehmens verbunden werden sollen, desto größer ist die Integrationskomplexität. Der Integrationsgrad beeinflusst den gesamten Integrationsprozess maßgeblich und sollte möglichst frühzeitig – noch vor dem Vertragsabschluss – definiert werden. Auf der Basis der Erfahrungen und Erkenntnisse von 67rockwell Consulting aus Fusionsprojekten, ist der Zeitraum der operativen Integration so klein wie möglich zu halten. Dies bietet zum einen den Vorteil, dass insbesondere an der Kundenschnittstelle die „Irritationen“ so gering wie möglich ausfallen und anderseits die Sicherheit bei den Mitarbeitern schnellstmöglich wieder hergestellt werden kann. Im Rahmen des nachfolgend skizzierten Beispiels, wurde unter Berücksichtigung der oben diskutierten Punkte eine sogenannte „Frontend“-Integration durchgeführt. Das Integrationskonzept fokussierte dabei mit hoher Priorität zunächst auf die Sicherstellung des operativen Betriebes. Besonderes Augenmerk wurde dabei auf die Kompensation ungeplanter Mitarbeiterabgänge sowie die Umsetzung gesetzlicher Anforderungen gelegt. Die Top-Performer/Know-How-Träger sind in Integrationsprozessen besonders gefährdet, da diese bereits frühzeitig von den Wettbewerbern an- und abgeworben werden. Insbesondere die Umsetzung der
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gesetzlichen Anforderungen war unter der Berücksichtigung der Sicherstellung des operativen Betriebes im Rahmen des Integrationskonzeptes zu berücksichtigen. Entsprechend des „Frontend“-Ansatzes konzentrierten sich alle Integrationsaktivitäten im Wesentlichen auf die Bereiche an der Kundenschnittstelle sowie der personellen Integration. Die Migration der IT-Systeme, die erfahrungsgemäß in Versicherungskonzernen infolge des Innovationsmanagements permanent laufen, wurde auf den Zeitraum nach der „Frontend“-Integration terminiert. Die nachfolgende Abbildung veranschaulicht das oben beschriebene Integrationskonzept (vgl. 15.2).
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 15.2: Integrationskonzept
3.2
Integrationsstrategie und Grundsatzentscheidungen
In der Pre-Merger-Phase beschäftigt sich das Management in der Regel wenig mit dem Integrationsdesign und der Integrationsplanung, zumeist ist das TopManagement zu stark mit den Vertragsverhandlungen und dem „Closing“- der Beendigung der Vertragsverhandlungen beschäftigt, so dass die Vorbereitungen der Integrationsphase schlichtweg unterbleiben (Gerde/Schewe 2006, S. 26ff.). Obwohl europäische Manager unter „Lessons Learned“ als Gründe für gescheiterte Merger am häufigsten „keine adäquate Integrationsplanung“ anführen, werden daraus in der Praxis selten Konsequenzen gezogen: Lediglich etwa ein Viertel aller Firmenkäufer führen eine angemessene Integrationsplanung durch.
15 Post Merger Integration bei einem Versicherungsunternehmen
283
Grundlage der Integrationsplanung bildet die Integrationsstrategie mit klar definierten Integrationszielen sowie den Grundsatzentscheidungen der Integration. Insbesondere im Zuge der Integrationsstrategieentwicklung sind die strategischen Stoßrichtungen für das neue Unternehmen, der gewählte Integrationsansatz sowie herausfordernde, aber realistische strategische finanzielle Ziele festzulegen, wie zum Beispiel Synergiepotenzial der Fusion. Die Fusionszielsetzung wie beispielsweise der Marktanteilsgewinn im Bereich der Industrieversicherung, die Realisierung von Kostensynergien im Vergleich zur Stand-Alone-Betrachtung in den typischen „Querschnittsbereichen“ eines Versicherers sowie die Umsatzerhöhung durch mehr Kundenfläche, sind zu operationalisieren und in klare kurz- und mittelfristige Ziele zu formulieren und während des Prozesses permanent zu controllen. Im Zuge der Strategie- und Zielplanung ist unter Wertsteigerungsgesichtspunkten der Fokus in den einzelnen Bereichen klar herauszuarbeiten, um Wertsteigerungsmöglichkeiten identifizieren und priorisieren zu können. Die nachfolgende Abbildung stellt die typischen Integrationsziele beispielhaft dar (vgl. Abb. 15.3).
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 15.3: Beispiel von Integrationszielsetzungen
Weitere Grundlage der Integrationsplanung ist neben der Entwicklung der Integrationsstrategie die Abstimmung von wesentlichen Grundsatzentscheidungen. Diese Entscheidungen werden in der Regel wenigstens teilweise getroffen, bevor es eine formelle Projektorganisation gibt. Unabhängig davon haben sie aber einen ganz erheblichen Einfluss auf das Integrationsprojekt.
284
Dr. Michael Reich/Tim Braasch/Thorsten Schramm
Zur Festlegung des Integrationsvorgehens gilt es eine Reihe von Entscheidungen frühzeitig zu treffen. Insbesondere muss geklärt werden: • ob Marken zusammengelegt werden sollen, • ob Risikoträger fusioniert werden sollen, • in welchem Umfang und zu welchen Zeitpunkt DV-Systeme integriert werden sollen, • ob Alttarife bei der Integration beibehalten oder auf aktuelle Tarifegeneration umgestellt werden sollen, • ob das Neugeschäft vor oder gleichzeitig mit dem Bestandsgeschäft zusammengelegt werden soll und • wie die physische Datenübertragung erfolgen soll. Kriterien für die Auswahl des Integrationsvorgehens sind zum Beispiel der Integrationsaufwand, die Risiken des jeweiligen Vorgehens und seine grundsätzliche Machbarkeit, Auswirkungen auf das Zusammenwachsen der Organisationen und die Handlungsfähigkeit des Unternehmens und der Umfang in dem sich mit dem jeweiligen Vorgehen Kostensynergien realisieren lassen. Um die Risiken, die jedes Integrationsprojekt in sich birgt, gilt es im Vorgehen auch geeignete Fallback-Lösungen vorzusehen.
3.3
Masterplan und Prozesse im Programm-Management
Der Projektsteuerung und dem Projektcontrolling kommt in der Integrationsphase zentrale Bedeutung zu. Dies erfordert hohe Prozesssteuerungs- und Controllingkompetenz sowie ausreichende Ressourcen im Versicherungsunternehmen. Zur effizienten Integration gilt es zunächst die Projektorganisation festzulegen und den Masterplan zu entwickeln. Wesentlich für die Gestaltung der Projektorganisation ist eine klare Definition der Entscheidungsstrukturen. In der folgenden Abb. 15.4 ist, für den im Rahmen einer Integration zweier Versicherungsunternehmen, die Matrixorganisation des Integrationsprojektes beispielhaft dargestellt. Die Gesamtverantwortung für den Integrationsprozess wurde durch den Projektlenkungsausschuss unter der Leitung des Vorstandsvorsitzenden getragen. Damit sollten einerseits langwierige Abstimmungsprozesse im Gesamtvorstand vermieden werden und anderseits wollte man der Bedeutung des Gesamtvorhabens im Unternehmen gerecht werden.
15 Post Merger Integration bei einem Versicherungsunternehmen
285
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 15.4: Matrixprojektorganisation für Integrationsprojekt
Daneben wurden Arbeitsgruppen für die einzelnen Funktionen der beiden Versicherungsunternehmen gebildet, die zusammengeführt werden sollten. Die Arbeitsgruppen wurden geleitet von den F1-Führungskräften beider Häuser, die jeweils einen Vorstand als „Projektsponsor“ erhielten. Die Arbeitsgruppen waren dezentral dafür verantwortlich, im Rahmen der vorgegebenen Zeit, sowohl die organisatorische als auch die personelle Integration sicherzustellen. Zur operativen Steuerung des Integrationsprojektes wurde ein Integrationsoffice eingerichtet und mit folgenden Aufgaben ausgestattet: • Steuerung des gesamten Prozesses, • Masterplanung und Projektcontrolling, • Koordination der Arbeitsgruppen beider Unternehmen, Berichterstattung an den Lenkungsausschuß und Entscheidungsvorbereitung, • Unterstützung der einzelnen Arbeitsgruppen hinsichtlich konzeptioneller und operativer Fragestellungen sowie • Übernahme und Steuerung des gesamten Projektportfolios für die Dauer der Integration zur Sicherstellung der Ressourcenallokation. Grundsätzlich ist es in derart komplexen Prozessen notwendig einen ausreichenden Informationsfluss durch die unterschiedlichen Abstimmungsgremien sicherzustellen. Zu diesem Zweck wurde ein wöchentlicher Jour-Fixe mit den Mitarbeitern des Integrations-Office durchgeführt. In den einzelnen Arbeitsgruppen erfolgten, in der Startphase der Integration zunächst wöchentliche, anschließend
286
Dr. Michael Reich/Tim Braasch/Thorsten Schramm
zweiwöchentliche Abstimmungsrunden. Der Integrationslenkungsausschuß tagte vierwöchentlich. Nachdem die Projektorganisation festgelegt ist, gilt es unverzüglich den Masterplan für die Integration zu erarbeiten. Dieser ist zentraler Bestandteil der gesamten Integration und damit ein wesentlicher Erfolgsfaktor. Der Masterplan gibt die zeitliche Taktung aller Projektphasen vor und dient der effektiven Koordination aller Planungs- und Implementierungsaktivitäten. Im Rahmen des oben beschriebenen Integrationsprojektes wurde in einem ersten Schritt der Top-down-Masterplan definiert. Dabei wurden die wesentlichen Projektphasen festgelegt. Für die Meilensteinplanung wurden dabei die „harten Randbedingungen“ der Integration wie zum Beispiel. • • • • • •
Jahresabschlussarbeiten, Zwingende Projekte (Restaktivitäten etc.), rechtliche Fragen, feste Releasetermine, feste Testzyklen/Testverfahren und sonstiges,
berücksichtigt. Um eine hohe Validität in der Planung zu erreichen, wurden die einzelnen Arbeitsgruppen aufgefordert, detaillierte Bottom-up Planungen für ihre Bereiche zu erstellen. Diese wurden anschließend in den Top-down Masterplan konsolidiert. Zur effektiven Gesamtsteuerung, wurde der Masterplan ergebnis- und nicht aktivitätenorientiert konzipiert. Dies hatte einerseits den Vorteil, dass Arbeitspakete mit definierten Ergebnissen controllt werden konnten, anderseits konnte über die zusätzliche Bottom-up-Planung die Interdependenzen zwischen den einzelnen Arbeitspaketen transparent gemacht werden, was zu einer weiteren Absicherung der Steuerung beitrug. In der nachfolgenden Abbildung (vgl. Abb. 15.5), wird das Top-down und Bottom-up Vorgehen dargestellt. Nach der Fertigstellung, das heisst der Konsolidierung, war es notwendig einen entsprechenden Prozess für mögliche Masterplanänderungen im Rahmen des Projektes zu implementieren. Dafür wurde im Integrations-Office ein Team von Mitarbeitern den Arbeitsgruppenleitern als Ansprechpartner zur Verfügung gestellt, um sowohl den Status und die Risiken im zweiwöchentlichen Rhythmus abzufragen und außerdem mögliche Änderungen im Masterplan aufzunehmen. Da Änderungen am Masterplan der Ausnahmefall sein sollten, wurden besonders aufwändige Prozeduren für die Änderung eingeführt. Der Arbeitsgruppenleiter musste im Rahmen der Statusabfragen ein entsprechendes Formblatt für den zu verändernden Meilenstein einreichen. Das Integrations-Office prüfte, inwieweit es im gesamten Masterplan Implikationen hatte und ob diese Meilensteinverschiebung möglicherweise vermeidbar gewesen wäre. Wenn es unvermeidbar war, wurde diese
15 Post Merger Integration bei einem Versicherungsunternehmen
287
Veränderung als Beschlussvorlage für den Lenkungsausschuß aufbereitet und in der folgenden Sitzung beschieden.
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 15.5: Zusammenspiel Top-down und Bottom-up Masterplan
Aus der Sicht von 67rockwell Consulting ist der Masterplan für Integrationsprojekte erfolgskritisch, deshalb gilt es hier die wesentlichen fünf Erfolgsfaktoren zu beherrschen: 1.
2.
3.
4.
Intensive Abstimmungsgespräche zu Beginn führen • Frühzeitige Schaffung eines allgemeinen Konsens über die Integrationssituation und die Machbarkeit in Integrationsoffice und Arbeitsgruppen. • Gewinnung tiefgreifenden Verständnisses im Integrations-Office über die Problemlage aller Arbeitsgruppen. Zentrale Pflege des Masterplans installieren • Wegen der gegenseitigen Abhängigkeiten der Teilprojekte/Arbeitsgruppen ist ein zentraler Masterplan unerlässlich. • Einführung eines Prozesses zur Meilensteinveränderung. Abweichungungen verlangen intensiveres Controlling • Es ist ein gutes „Frühwarnsystem“ für Teilprojekte/Arbeitsgruppen auf dem kritischen Pfad erforderlich, um Engpässe rechtzeitig zu erkennen und zu beheben. Meilensteinverschiebungen nur als „letztes Mittel“ zulassen • Dem sorglosen Umgang mit Verschiebungen gilt es vorzubeugen. • Dabei sind Alternativlösungen wie zum Beispiel Zusatzkapazitäten oder die Streichung anderer Projekte zu favorisieren.
288
5.
3.4
Dr. Michael Reich/Tim Braasch/Thorsten Schramm
Kreative Lösungen sichern schnellen Integrationsverlauf • Abweichung von „Standardprozeduren“ ermöglicht – bei angemessener Risikoüberwachung – ein Einpassen auch zeitkritischer Teilprojekte ohne Verzögerung.
Organisatorische und personelle Integration
Nachdem in den vorherigen Abschnitten detailliert die Projektorganisation sowie die Erstellung und Pflege des zentralen Masterplanes diskutiert wurden, soll nun anschließend der Prozess der organisatorischen und personellen Integration dargestellt werden. Die Zielsetzung der Integration war die Bündelung der Geschäftsaktivitäten an einem Standort. Dazu war in einem ersten konzeptionellen Schritt die Entwicklung und Zieldimensionierung der neuen Aufbauorganisation notwendig. Dies erfolgte auf Basis einer Funktionsanalyse und unter Berücksichtigung der zu realisierenden Synergien in enger Zusammenarbeit mit den Arbeitsgruppen. Mit der Übertragung der aktuellen Mitarbeiterkapazitäten der jeweiligen Organisationseinheiten in die Zielstrukturen wurde die Basis für die Zuordnung der Mitarbeiter auf die Ziel-Kapazitäten geschaffen. Auf dieser Basis erfolgte in einem zweiten Schritt die personelle Integration. Die unten dargestellte Abbildung illustriert deren Ablauf (vgl. Abb. 15.6).
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 15.6: Vorgehen bei der personellen Integration
Aufgabe des Integrationsoffice, war es, die Steuerung und die operative Begleitung der Überführung der Mitarbeiter in die Zielstrukturen des zu integrierenden Unternehmens sicherzustellen. Dabei waren neben unternehmerischen auch ge-
15 Post Merger Integration bei einem Versicherungsunternehmen
289
setzliche und betriebsverfassungsrechtliche Vorgaben zu beachten. Der gesamte Prozess erfolgte daher in enger Abstimmung mit den Sozialpartnern (v.a. Konzernbetriebsrat). Die Zuordnung der Mitarbeiter auf die Zielstrukturen erfolgte im Rahmen der Stellenbesetzungskommissionen. Dieses Gremium setzte sich je Ressort aus den Ressortverantwortlichen (Vorstände, F1-Führungskräfte), Mitarbeitern der Personalabteilung, Mitgliedern der Sozialpartner und aus dem Integrationsoffice zusammen. Die Ergebnisse der Stellenbesetzungskommission waren sogenannte Mitarbeiterbewegungsbilanzen, die je Ressort detailliert die Aufbauorganisation bis auf Mitarbeiterebene mit der geplanten Überführung der Mitarbeiter dokumentierten und somit eine Basis des Interessenausgleichs zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer darstellten. Mit der Erstellung und Verabschiedung der Mitarbeiterbewegungsbilanzen und der entsprechenden Ziel-Organigramme war die Planungsphase beendet. Die operative Überführung der Mitarbeiter im Rahmen des Angebots- und Kündigungsprozesses sowie der Betriebsübergänge konnte beginnen. Die Bündelung der Geschäftsaktivitäten an einem Standort implizierte die Schließung der Betriebe an den anderen Standorten. Mit dem Ziel, möglichst viele Mitarbeiter im (neuen) Unternehmen zu halten, wurde jedem Mitarbeiter an den zu schließenden Standorten ein 1. freiwilliges Angebot übergeben. Nach Ablauf der Annahmefrist hatten wenige der Mitarbeiter ihr Angebot angenommen. Den verbleibenden Mitarbeitern musste gekündigt werden. Über die geplanten betriebsbedingten Kündigungen mussten sowohl die Sozialpartner als auch diverse Ämter (zum Beispiel Massenentlassungsanzeige für die Agentur für Arbeit) umfassend informiert werden. Mit den Kündigungen erhielten die Mitarbeiter ein 2. letztmaliges Angebot sowie die Möglichkeit einer nachträglichen Annahme des 1. Angebots („Probierangebot“). Damit konnte die Annahmequote enorm gesteigert werden, welche somit deutlich über den Erwartungen lag. Die Überführung der restlichen Mitarbeiter in die Zielgesellschaften erfolgte per Betriebsübergang gem. § 613a BGB. Widersprüche gegen den Betriebsübergang erfolgten nur vereinzelt. Damit war nach Abschluss des Angebots- und Kündigungsprozesses sowie der Betriebsübergänge nach ca. vier Monaten ein Großteil der Mitarbeiter vertragsrechtlich in den neuen Gesellschaften „angekommen“. Nach Abschluss des Angebots- und Kündigungsprozesses und der Betriebsübergänge wurden sämtliche Zielorganigramme bis auf Mitarbeiterebene aktualisiert, kommuniziert und in das Personalsystem übernommen. Auf Basis der definierten Ziel-Kapazitäten je Organisationseinheit konnte nun die jeweilige Über- beziehungsweise Unterdeckung in den Zielstrukturen identifiziert werden. Um den operativen Betrieb nach dem Austritt der gekündigten Mitarbeiter nahtlos sicherstellen zu können, musste das Stellenausschreibungsverfahren mit der Personalabteilung und den Ressortverantwortlichen abgestimmt und ohne Zeitverzug gestartet werden. Deshalb wurde ein separates Ausschreibungs- und Bewerbungsbüro eingerichtet, über das sämtliche Stellenausschreibungen und Bewerbungen liefen. Nach drei Monaten waren fast alle offenen Stellen ausgeschrieben und ein Großteil der Stellen bereits besetzt.
290
Dr. Michael Reich/Tim Braasch/Thorsten Schramm
Parallel zu den oben beschriebenen Aktivitäten war ein kontinuierliches Controlling notwendig, um jederzeit den aktuellen Stand des Angebots- und Kündigungsprozesses, der Betriebsübergänge sowie des Stellenausschreibungs- und Bewerbungsprozesses berichten zu können. Sämtliche relevanten Informationen aus den o.g. Prozessen wurden in Zusammenarbeit mit dem Personalcontrolling ausgewertet und sukzessiv in das Personalsystem integriert.
4
Integration der Systeme
Eine besondere Bedeutung in Fusionsprojekten hat die Integration der IT-Systeme. Entsprechend des oben ausführlich dargestellten Integrationskonzeptes, wurde der Fokus auf eine „Frontend“-Integration gelegt. Das hatte zur Folge, dass das Augenmerk der IT-Integration zunächst auf die Vertriebs-, Angebots- und Provisionssysteme gelegt wurde. Grundsätzlich bestehen vier Kernoptionen für die Auswahl der Zielsystemarchitektur: 1. 2. 3. 4.
Entwicklung eines komplett neuen Systems, Auswahl und Nutzung von besten „Systemwelten“, Integration in existierendes System und Ergänzung fehlender Systeme und Integration in existierende Systemarchitektur.
Um den Entscheidungsprozess herbeizuführen wurde schrittweise vorgegangen. Zunächst wurden im Rahmen der Bestandsaufnahme die Größenverhältnisse, der Marktfokus, die Geschäfts- und IT-Strategie, Systemarchitekturen beider Häuser sowie die IT-Kosten aufgenommen und bewertet. Anschließend wurden die Optionen anhand der nachfolgenden Kriterien eingeschränkt und bewertet: • Scalabilität: Plattform muss das heutige und das zukünftig erwartete Volumen beider Häuser verarbeiten können. Dafür wurde versucht die Anforderungen an das System zu prognostizieren sowie das Ausmaß möglicher Erweiterungen zu bewerten. Daneben wurde der Innovationsgrad der Technologie eingeschätzt. • Technische Zukunftsfähigkeit: Die gewählte Plattform bleibt muss für die nächsten Jahre (ca. drei bis acht Jahre) auch weiter eine brauchbare Option sein. Dafür wurde versucht das Alter der Technologie sowie die Dauer des Supports einzelner Anwendungen durch die entsprechenden SoftwareProvider einzuschätzen. Erfahrungsgemäß tritt häufig gerade bei kleineren Softwarehäusern Probleme in der Wettbewerbspositionierung auf, das dann häufig mit einer Liquidierung derartiger Unternehmen einhergeht. • Fachlicher Abdeckungsgrad: Entscheidende Produkte und Prozesse müssen problemlos abgedeckt und realisiert werden können. Um hier Abschätzungen zu erhalten, wurden aus der Bestandsaufnahme die kritischen Produkte/Prozesse nach der 80:20-Regel hinsichtlich des fachlichen Abdeckungsgrades bewertet.
15 Post Merger Integration bei einem Versicherungsunternehmen
291
• Verfügbarkeit der Ressourcen: Insbesondere für die Implementierung, Wartung und Entwicklung müssen die entscheidenden Ressourcen verfügbar sein. • Kosten für Parallelbetrieb: Es wurden Szenarien gerechnet, wieviel möglicherweise ein Parallelbetrieb der Kern- und Subsysteme im Vergleich zu der frühestmöglichen Abschaltung verursachen würden. Auf Basis der Ergebnisse der Bestandsaufnahme sowie der Auswahl der Zielsysteme, hier konnte infolge des beschriebenen Vorgehens, die Anwendungssysteme beider Häuser in der Zielbebauung signifikant reduziert werden. Die Steuerung der IT-Integration erfolgte über eine IT-Roadmap (vgl. Abb. 15.7). Aus der ITRoadmap wurden aktiv Projekte und Vorhaben zur Erreichung der Zielbebauung abgeleitet. Das Projektportfolio konnte auf Basis der IT-Roadmap optimiert, d.h. redundanzfrei, gemacht werden, so dass hier Synergiepotenziale realisiert werden konnten.
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 15.7: Beispiel einer IT-Roadmap
5
Erfahrungen aus dem Integrationsprozess
Nachdem das konzeptionelle Vorgehen im Rahmen des Integrationsprozesses detailliert beschrieben wurde, sollen im nächsten Schritt die Erfahrungen aus dem Vorgehen diskutiert werden. Wesentlich für den kurzen Integrationsprozess (ca. 2 Jahre), war die Fokussierung auf eine „Frontend“-Integration, wie in Abschnitt 3.1 ausführlich dargestellt. Vor diesem Hintergrund, wurde im Bereich des Projekt-Setups das Augenmerk auf die die Sicherstellung einer schlanken Projektorganisation gelegt. Insbesondere galt
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Dr. Michael Reich/Tim Braasch/Thorsten Schramm
es, dass Top-Management von den operativen Integrationsaufgaben organisatorisch zu befreien und Entscheidungen auf die Projektleitungsebene zu delegieren. Daneben wurde ein klares Commitment durch das Top-Management eingefordert, indem diese durch die Teilnahme an regelmäßigen Reviewsitzungen zu einer außerordentlichen Motivation der Mitarbeiter und Schaffung einer positiven Arbeitsatmosphäre beigetragen haben. Daneben konnte eine weitere Erfahrung gemacht werden, dass durch die Konzentration der Projektsteuerungsressourcen auf die Schnittstellen zwischen den Arbeitsgruppen, eine große Entlastung in der Linienorganisation durch die Minimierung der formalen Reportingaktivitäten entstand. Im Rahmen des Integrationsbüro, galt es, rechtzeitig und ausreichend Kapazitäten mit dem entsprechenden Skillset bereitzustellen. Für die Kommunikation war es notwendig, frühzeitig zu informieren und damit für eine hohe Sicherheit bei den Mitarbeitern zu sorgen. Relevant war hier, Transparenz über die Zielvorgaben durch das Top-Management zu kommunizieren. Daneben war es ebenso notwendig, im Rahmen einer Regelkommunikation permanent über die Entwicklungen im Integrationsprozess zu berichten. Zur Entwicklung der Zielstruktur, wurde ein pragmatischer Ansatz gewählt, um so die Komplexität zu reduzieren. Dafür wurden Expertengruppen, bestehend aus Mitgliedern beider Unternehmen, für die Entwicklung der Zielstruktur zusammengestellt. Auf der Basis der vorher mit dem Top-Management entwickelten Basisentscheidungen, konnten priorisierte Definitionen der wesentlichen Eckpfeiler (zum Beispiel Risikoträgerstruktur, Kundensegmente) – und damit ausreichend Freiräume für die Führungskräfte bei der Detailausgestaltung entwickelt werden. Es wurde ausserdem versucht, Änderungen zu vermeiden, wo diese nicht zwingend notwendig sind. Eine weitere Erkenntnis war, das Setzen von ambitionierten Zielen und die Vorgabe einer gewissen Geschwindigkeit für die Realisierung (zum Beispiel Ziel-Standorte, Ziel-Synergien) Insbesondere für die personelle Integration, war die Schnellstmögliche Festlegung der Führungskräfte (mind. 1. Ebene) ein wesentlicher Erfolgsfaktor. Daneben war es notwendig, daß jeder einzelne, von der Integration betroffene Mitarbeiter persönlich von seiner Führungskraft angesprochen wurde. Außerdem war das klare Commitment des Vorstandes und der Führungskräfte zu den bestehenden Mitarbeitern, im Sinne "Ihr alle seid uns wichtig", notwendig um Sicherheit im Prozess auszustrahlen. Desweiteren galt es eindeutige Aussagen/Zusagen (zum Beispiel Arbeitsplatzzusicherung, Kündigungsschutz) an die einzelnen Mitarbeiter abzugeben. Wesentlich war außerdem, die rasche Verabschiedung des Interessenausgleichs- und des Sozialplans im Zusammenhang mit den entsprechenden Kommunikationsaktivitäten an die Mitarbeiter. Damit wurde einerseits die Motivation der Mitarbeiter verbessert und anderseits konnte die Unsicherheit der Mitarbeiter im Prozess reduziert werden. Aufwändig waren in diesem Zusammenhang ebenfalls die rechtzeitige Bereitstellung und Aufbereitung von KBR-Unterlagen, die eine ausreichende Bereitstellung von Ressourcen erforderten.
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6
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Zusammenfassung und Ausblick
Merger & Akquisition – Aktivitäten zur Realisierung von Wachstumsstrategien werden auch zukünftig hohe Bedeutung für wachstums- und wertorientierte Unternehmen, wie zum Beispiel die Versicherungen, haben. Empirische Befunde und vielfältige Praxisbeispiele belegen, dass zwar die Misserfolgsquote bei Merger & Akquisitions-Transaktionen prinzipiell sehr hoch sind ist, aber auch durch gezielten Kompetenzaufbau wesentlich reduziert werden kann. Auch zeigt sich, das Unternehmen, die regelmässig und in großem Umfang Merger & Akquisition im Zusammenhang mit anschließenden Integrationen durchführen, schneller wachsen und vor allem deutlich höhere Wertsteigerungsraten erwirtschaften als rein organisatorisch wachsende oder restrukturierende Unternehmen (Unger 2007, S. 895ff.). Hier befindet sich insbesondere die Versicherungsbranche (siehe Abschnitt 1) im Vergleich zu den anderen Industrien in der Öffnungsphase und hat damit notwendigerweise einen hohen Nachholbedarf. Um die Merger & Akquisitionsrate zu erhöhen, sind ein durchgängiger und wertorientierter Strategiefokus sowie die entsprechende Kompetenz im Rahmen derartiger Prozesse notwendig. Eine fundierte Strategische Due Diligence, eine realistische Synergiepotenzialbewertung sowie eine frühzeitige Integrationsvorbereitung sind wichtige Voraussetzungen für eine erfolgreiche, wertsteigernde Projektumsetzung. Die oben diskutierten sieben Kernelemente für eine Post Merger Integration definieren die zentralen Herausforderung und stellen damit gleichzeitig eine Guideline für erfolgreiche Integrationsprojekte dar.
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Literatur A.T. Kearney, Global PMI Survey, 1998. Gerde, J./Schewe, G.: Post Merger Integration, 2002. Kröger, F.; Merger Endgames: Strategien für die Konsolidierungswelle – ein Ansatz von A.T. Kearney, 2004, in: Management Consulting, S. 169ff. Unger, M .: Post Merger Integration, 2007.
Kapitel 16 Innovatives Schadenmanagement in Versicherungen Tim Braasch/Michael Danisch
1
Einleitung
1.1
Optimierungsansätze in der Schadenfunktion
Die Deregulierung der Versicherungsmärkte hat die Kapitalgewinne der Assekuranz-Unternehmen deutlich geschmälert. Profitabilität kann nicht (mehr) ausschließlich über Volumen erzielt werden. Der Wettbewerb hat spürbar an Härte zugenommen. Die Herausforderung für die Versicherungsunternehmen besteht darin, sich vom Konkurrenzumfeld zu differenzieren und gleichzeitig Kostenbelastungen zu senken. Differenzierungen des Leistungsangebotes lassen sich angesichts des gesättigten Marktes aber nur sehr beschränkt über die Produktgestaltung realisieren. Zudem ist das Interesse des Kunden daran eher gering (vgl. Jara/El Hage 2003). Im Schadenfall hingegen besteht auf Kundenseite eine große Aufmerksamkeit für das Verhalten und die Leistungen der Anbieter. Das Schadenmanagement, sprich die Optimierung von Schadenbearbeitung, Schadenorganisation und Schadenleistung, nimmt somit eine entscheidende Rolle ein. Insbesondere ein exzellenter Service und eine ausgezeichnete Qualität schaffen ein positives Image und entscheiden über den Verbleib des Kunden im Unternehmen. Neben der Unterstützung der Neukundengewinnung kann durch Schadenmanagement aus Marketingsicht also vor allem die Kundenbindung unterstützt werden. In keiner anderen Phase des Dienstleistungsprozesses Versicherung können sich die Anbieter so nachhaltig als Partner und kompetente Problemlöser profilieren. Für den Kunden ist die Vertragstreue der zentrale Bestandteil der Geschäftsbeziehung. Er erwartet, dass die in den Policen dokumentierten Zusicherungen erfüllt werden. Im Schadenfall können das vom Kunden im Voraus geschenkte Vertrauen gerechtfertigt und dessen Erwartungen übertroffen werden: In Standardfällen lässt sich das beispielsweise durch erweiterte Serviceleistungen und unbürokratische Abläufe erzielen. Bei „tiefergehenden“ Schadenereignissen, M.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing DOI 10.1007/978-3-642-10276-9_16, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
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Tim Braasch/Michael Danisch
insbesondere im Bereich von Personenschäden, ist es möglich, durch individuelle Berater persönliche und berufliche Problemlösungen zu unterstützen. Die Innovationsfähigkeit hinsichtlich der Kundenorientierung wird also in der Versicherungswirtschaft ein wichtiges Differenzierungsmerkmal und künftig die entscheidende Erfolgsposition sein. Denn die konsequente Ausrichtung am Kunden im Schadenmanagement ist – wie im Folgenden ausgeführt werden soll – nicht nur ein vernachlässigtes Marketinginstrument, sondern auch ein wirkungsvoller Hebel zur Sicherung und Steigerung der Wirtschaftlichkeit des Versicherungsunternehmens (vgl. Abb. 16.1).
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 16.1: Kundenorientierung als zentraler Erfolgsfaktor
1.2
Von der institutionellen Sichtweise hin zur Kundenorientierung
Die deutsche Assekuranz hat die Marketingmöglichkeiten des Schadenmanagements im Zusammenhang mit Kundengewinnung und Kundenbindung zur Sicherstellung oder Erhöhung künftiger Unternehmensgewinne noch nicht verinnerlicht, teils noch nicht einmal erkannt. In den unternehmensinternen Projekten zum Schadenmanagement beherrschen die Kostensenkungsziele immer noch die Marketingziele der Kundengewinnung und Kundenbindung (vgl. Köhne 2003). Im Vordergrund steht nach wie vor die „institutionelle Denke“, die nach Synergien und Kosteneffekten interner Abläufe forscht, um dadurch Gewinn- und Wachstumsziele zu erreichen. Doch die Sichtweise alleine aus der Perspektive der Institution ist aufgrund des gesättigten Versicherungsmarktes überholt. Ein Paradigmenwechsel ist nötig: Um neue Impulse zu setzen, tritt die Perspektive des Kunden zunehmend in den Vor-
16 Innovatives Schadenmanagement in Versicherungen
297
dergrund, sprich die Orientierung an den Kundenbedürfnissen. Wesentliche Ansatzpunkte dafür sind: • Dem Wunsch des Kunden nach Lösungen aus einer Hand entsprechen. • Sich über das einzelne Produkt hinaus am Kundenwunsch orientieren und dadurch • eine hohe Kundenzufriedenheit und Abschlusswahrscheinlichkeit erzielen. Die Voraussetzungen dafür sind: • • • •
Kundenbedürfnisse verstehen, Bedarfssituationen „auf den Punkt bringen“, ein passgenaues Lösungsangebot anbieten ... ... und zwar aus klaren verständlichen Produktbausteinen.
Die Erfahrungen etwa der Unternehmensberatung 67rockwell haben gezeigt, dass diese Voraussetzungen keinesfalls Selbstverständlichkeiten sind, sondern oftmals erst durch einen Umwandlungsprozess erfüllt werden können, der Produkte, interne Abläufe und Services sowie Strukturen und Systeme umfasst. In der Regel geht dem eine Diskussion über mögliche Optimierungsansätze und -notwendigkeiten der Schadenfunktion auf Basis eines gemeinsamen Verständnisses der Kundenbedürfnisse voraus. Als Guideline dafür bietet sich eine Benchmark-Analyse an (vgl. Abb. 16.2).
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 16.2: Von der institutionellen Sichtweise hin zur Kundenorientierung
298
Tim Braasch/Michael Danisch
2
Schadenfunktion und Rentabilität
2.1
Schadenhäufigkeit und -höhe zeigen Einsparpotenziale auf
Aufgrund des hohen Umfanges der Schadenzahlungen in der Versicherungswirtschaft ergeben sich erhebliche marketinginduzierte Einsparpotenziale in diesem Bereich. Nach Angaben des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) gab es 2007 neun Millionen Schadenfälle in der Kfz-Haftpflicht-, Teilund Vollkaskoversicherung, die mit Auszahlungen in Höhe von 19,1 Milliarden Euro verbunden waren. Im Vergleich zu den Auszahlungen der Allgemeinen Haftpflichtversicherung (privat und gewerblich) mit 4,4 Milliarden (3,2 Millionen Fälle), Privaten Sachversicherung mit 5,9 Milliarden (5,5 Millionen Fälle) und der Nicht-Privaten Sachversicherung mit 5,5 Milliarden Euro (1,6 Millionen Fälle) ist die Kfz-Versicherung damit der bestimmende Faktor in der Kompositversicherung. Entsprechend lässt eine mögliche Optimierung der Schadenfunktion im Bereich der Kfz-Versicherung die relativ größten wirtschaftlichen Effekte erwarten. Stellvertretend für die weiteren Sparten der Sachversicherungen wird deshalb im Folgenden vor allem auf die Kfz-Versicherung Bezug genommen (vgl. Abb. 16.3).
Quelle: Eigene Darstellung auf Basis GdV
Abb. 16.3: Schadenhäufigkeit und -höhe im deutschen Versicherungsmarkt im Jahre 2007
16 Innovatives Schadenmanagement in Versicherungen
2.2
299
Stellhebel zur Optimierung der Schadenfunktion
Die Optimierung der Schadenfunktion setzt an drei zentralen Stellhebeln an (vgl. Abb. 16.4):
• Kostensteuerung, • Unterstützung durch die übriger Unternehmensbereiche und • Kundenorientierung.
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 16.4: Stellhebel zur Optimierung der Schadensfunktion
•
Kostensteuerung
Unter Kostensteuerung ist die Senkung des Schadenaufwandes und der Regulierungskosten zu verstehen. Den größten Zahlungsaufwand machen Schadenkosten aus – nur 20 bis 25 Prozent betreffen die Verwaltungskosten innerhalb der Schadenregulierung. Trotz des geringeren Anteiles an den Schadenkosten versuchen Versicherer vorrangig, die Verwaltungskosten zu senken. Dies ist eine einseitige Fokussierung und kann heute nicht mehr die erste Priorität sein. Dennoch darf dieser Punkt nicht außer Acht gelassen werden, da in diesem Bereich meist kurzfristig Kostensenkungs-Potenziale ausgeschöpft werden können. •
Unterstützung übriger Unternehmensbereiche
Schadenmanagement umfasst die Gestaltung, Lenkung und Entwicklung der Schadenleistung, Schadenorganisation und Schadenregulierung. Dazu gehört die Aufbereitung der Daten für andere Funktionsbereiche, die anhand dieser Daten Entscheidungen treffen beziehungsweise gesetzte Maßnahmen auf deren Wirkung überprüfen.
300
Tim Braasch/Michael Danisch
Zu unterscheiden sind dabei zwei Arten von Informationsbedarf: • Aktionsbezogener Informationsbedarf und • Aggregierter/statistischer Informationsbedarf. Aktionsbezogener Informationsbedarf ergibt sich einerseits aus der Bearbeitung eines Schadenfalles – beispielsweise Meldungen über bevorstehende Ablehnungen, Mitteilungen zu Deckungslücken, neuen Risiken und potenziellen Unterversicherungen. Andererseits ergibt sich ein Informationsbedarf für den Außendienst zu aktuellen und potenziellen Kunden, etwa Vertragsdaten und Kontakthistorien. Auch gilt es, den Außendienst in konkrete Sanierungsmaßnahmen einzubeziehen, wie Prämienerhöhungen, Deckungsausschlüsse usw. Der aggregierte/statistische Informationsbedarf bezieht sich auf die Auswertung einer Vielzahl von Schadenereignissen im Hinblick auf die Optimierung der Tarifierung (Preis-/ Risikostruktur, Ausdifferenzierung von Risikomerkmalen). •
Kundenorientierung als führendes Organisationsprinzip
Einfache Kostensenkungsprogramme sind sehr kurzfristig und können leicht von anderen Versicherungsunternehmen kopiert werden. Deshalb ist es wichtig, durch Zusatzservices den Kunden nachhaltig zu binden und zufrieden zu stellen. Die Ausrichtung der Schadenfunktion an den Bedürfnissen der Kunden hat einen nachhaltigen Nutzen für das Versicherungsunternehmen. Nach einem Schaden tritt der Versicherungsnehmer zum ersten Mal in Kontakt mit seinem Versicherer nach Vertragsabschluss und erlebt zum ersten Mal das Leistungsversprechen seiner Versicherung. Dieser „Moment of Truth“ bietet dem Versicherungsunternehmen die Chance, sich zu beweisen. Das Verhalten des Versicherungsunternehmens und die Qualität der Schadenregulierung prägen bei 95 Prozent aller Versicherten das Image des Versicherers (vgl. Küfner 2001). Gelingt es dem Versicherer, die Erwartungen des Kunden zu erfüllen oder empfindet der Versicherungsnehmer einen Mehrwert der Leistungen, so kann dadurch die Kundenzufriedenheit gesteigert und der Grundstein für eine verbesserte Kundenbindung beziehungsweise die Basis für Kundenwachstum gelegt werden. Die Kernfrage zur wettbewerbsfähigen Gestaltung der Schadenfunktion lautet daher entsprechend: Welche Leistungen beziehungsweise Funktionen der Schadenbearbeitung werden von den Kunden als Mehrwert wahrgenommen?
16 Innovatives Schadenmanagement in Versicherungen
3
Ausgangspunkt: Verständnis der Kundenbedürfnisse
3.1
Kundenanforderungen an die klassischen Kfz-Versicherungen
301
Ausgangspunkt für die Ausrichtung der Schadenfunktion ist das exakte Verständnis der Kundenbedürfnisse. Am Beispiel der klassischen Kfz-Versicherung lässt sich veranschaulichen, welche Anforderungs-Komponenten tatsächlich Einfluss auf die Kundenbindung haben und welche nicht. Ein gängiges Verfahren zur Messung von Kundenzufriedenheit ist das Instrument TRI:M des Institutes Infratest. Danach sind vier strategische Felder zu unterscheiden: • Motivatoren Sie sind den Kunden sowohl bewusst als auch wichtig. Hier muss die Versicherung punkten können. • Chancen Ihre Bedeutung ist den Kunden (noch) nicht bewusst. Die Dimensionen sind mithin strategisch wichtig. • Hygienefaktoren Sie werden vom Kunden als wichtig beurteilt, haben aber einen geringen Einfluss auf die Kundenbindung. Sie erbringen keinen Vorteil im Wettbewerbsumfeld, würden von den Kunden aber vermisst. • „Einsparpotenziale“ Sie sind weder im Bewusstsein der Kunden noch wirklich relevant. Folgende Befragungsdimensionen liegen dem TRI:M Grid zu Grunde: • Preis Preis-Leistungs-Verhältnis, preiswerter sein als andere und Tariftransparenz. • Leistung Unkomplizierte Schadenregulierung, großzügige Schadenregulierung und Einsatz für die Interessen des Kunden. • Service 24h-Service, kompetente Ansprechpartner, schnelle Erreichbarkeit, umfassende Beratung, Möglichkeit der Online-Abwicklung,
302
Tim Braasch/Michael Danisch
persönlicher Ansprechpartner und Unterstützung beim „Papierkrieg“. • Image Gute Testergebnisse, große, bekannte Gesellschaft und guter Ruf. Für die tatsächliche Bedeutung werden die einzelnen Dimensionen bewertet und mit der Gesamtzufriedenheit in Beziehung gesetzt.
3.2
Bewertung des Erfüllungsgrades der Kundenanforderungen im TRI:M Grid
Folgende Ergebnisse lassen sich bezüglich der Voraussetzung, der Chancen und der Differenzierung formulieren. Voraussetzungen Die Kunden erwarten von der klassischen Kfz-Versicherung: 1. Ein sehr gutes Preis-Leistungsverhältnis, 2. Transparenz bezüglich der angebotenen Tarife, 3. Kompetente Ansprechpartner, 4. Schnelle Erreichbarkeit, 5. Unkomplizierte Schadenregulierung, 6. Großzügige Schadenregulierung, 7. Einsatz für die Interessen des Geschädigten im Schadenfall und 8. Einen guten Ruf. Chancen Zusätzliche Chancen existieren aus Sicht der Kunden bei: 9. Umfassender Beratung und 10. Guten Testergebnissen. Differenzierung Eine positive Differenzierung gegenüber dem Wettbewerb und insbesondere den Direktversichern ist in der Hauptsache im Leistungsbereich (Schadenfall) möglich. Die folgende Abbildung zeigt die Ergebnisse (vgl. Abb. 16.5).
16 Innovatives Schadenmanagement in Versicherungen
303
Quelle: Eigene Darstellung, in Anlehnung an Infratest, TRI:M Grid
Abb. 16.5: Bewertung im TRI:M Grid für die klassischen Kfz-Versicherungen
4 Erwartete Optimierungsergebnisse Die maßgebliche Zielsetzung für die Optimierung der Schadenfunktion ist die Erhöhung der Kundenbindung. Welcher wirtschaftliche Nutzen damit verbunden ist, haben empirische Forschungen belegt. So gilt eine 10-jährige Kundenbeziehung im Kompositbereich 8-10 mal profitabler als eine 5-jährige. Eine 20-prozentige Verbesserung der Kundenbindungsrate von 90 auf 92 Prozent führt bei einer durchschnittlichen Kundenbindungsdauer von 10 Jahren zu einer Steigerung des Barwertes der Kundenbeziehung um 45 Prozent (vgl. Venohr 1996, S. 3666). Die Kundenbindungsrate errechnet sich dabei aus dem Quotient zwischen der Anzahl Kunden, die sowohl am Anfang als auch am Ende einer Periode Kunden sind, und der Anzahl Kunden am Anfang der Periode. Auch folgende Zusammenhänge machen deutlich, wie sich Investitionen in die Kundenbindung wirtschaftlich auszahlen: Bezugspunkt Einzelvertrag: • Treue Kunden sind weniger preissensitiv. • Die Schadenquote geht durchschnittlich mit der Kundenbindungsdauer zurück. • Die Produktivität des Außendienstes steigt mit zunehmender Kundenbindungsrate. • Die Gemeinkosten im Verwaltungsbereich sinken deutlich, wenn die Kundenbindungsrate zunimmt. • Ein Kunde wird nach vier Jahren im Bestand rentabel.
304
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Bezugspunkt Kunde: • Die Anzahl der Verträge steigt mit zunehmender Kundenbindungsdauer. • Die Schadenbelastungen sinken bei Kunden mit mehreren Verträgen. • Die Preissensitivität treuer Kunden sinkt, so dass zunehmend Produkte mit höheren Deckungsbeiträgen nachgefragt werden. • Die Akquisitionskosten nehmen mit jedem weiteren Vertrag ab, da sich mehr und mehr Möglichkeiten einer direkten Kundenansprache ergeben. Ein weiterer Aspekt ist geschäftlich relevant: Während ein zufriedener Kunde seine positiven Erfahrungen im Durchschnitt drei Personen mitteilt, beklagt sich ein unzufriedener Kunde im Durchschnitt bei elf Personen. Folglich reichen beispielsweise 75 Prozent zufriedener Kunden bei 20 Prozent unzufriedenen nicht mehr aus, um am Markt ein positives Image aufzubauen. Dieser Umstand wird dadurch verstärkt, dass überhaupt nur 5 Prozent der unzufriedenen Kunden dieses dem Unternehmen mitteilen. Kundenbindung ist also auch deshalb von zentraler Bedeutung, weil sie in einem engen Zusammenhang mit Kundenzufriedenheit, einem positiven Unternehmensimage und einer hohen Bekanntheit steht. Diese Aspekte wiederum fördern die Neukundenakquisition, wie folgende, empirisch belegte Zusammenhänge zeigen: • Neukunden durch Weiterempfehlungen sind treuer und insofern aufgrund zuvor genannter Zusammenhänge lukrativ. • Durch Empfehlungen gewonnene Kunden generieren in der Regel geringere Schadenbelastungen als anders gewonnene Kunden und sind weniger preissensitiv. • Weiterempfehlung führt dazu, dass Neukunden stärker bereit sind, mehrere Verträge bei einem Versicherungsunternehmen abzuschließen. • Neukundenakquistionen durch Empfehlung zufriedener Stammkunden sind aufgrund des nicht notwendigen Vertriebsaufwandes sowie ihrer Aufgeschlossenheit gegenüber dem Abschluss mehrerer Verträge mit niedrigen Akquisitionskosten verbunden.
5
Zusammenfassung
Die Erreichung von Wettbewerbsvorteilen eines Versicherers hängt davon ab, dass die Kundenorientierung und -bindung eine größere strategische Relevanz zukommt und in welcher Art und Weise dieser Stellhebel neben den beiden anderen – „Kostensteuerung“ und „Unterstützung übriger Unternehmensbereiche“ – organisatorisch im Versicherungsbetrieb implementiert ist. Eine Schlüsselrolle nimmt dabei das Schadenmanagement ein. Zum Abschluss sollen die Kernthesen noch einmal im Überblick dargestellt werden:
16 Innovatives Schadenmanagement in Versicherungen
305
1. Die Deregulierung und die ausbleibenden Kapitalgewinne führen zu einem immer härteren Wettbewerb auf den Versicherungsmärkten. 2. Die Herausforderung für die Versicherungsunternehmen ist dabei, sich mittelfristig von den Wettbewerbern zu differenzieren und gleichzeitig Kostenbelastungen zu senken. 3. Insbesondere ein exzellenter Service und eine ausgezeichnete Qualität im Schadenfall entscheiden über den Verbleib des Kunden im Unternehmen und schaffen ein positives Image. 4. Entsprechend nimmt das Schadenmanagement eine entscheidende Rolle im Dienstleistungsprozess „Versicherung“ ein. 5. Dabei ist die Kundenorientierung das maßgebliche Organisationsprinzip der Schadenfunktion (und nicht wie bisher die einseitige Kostensteuerung). 6. Die exakte Kenntnis der Kunden und ihrer Bedürfnisse ist maßgeblich für die Neuausrichtung der Schadenfunktion. Unterstützende Werkzeuge sind hier beispielsweise die Kundenbindungsanalyse von 67rockwell und die Net Promoter Score-Analyse. 7. Diejenigen Unternehmen die sich konsequent an den Kundenbedürfnissen ausrichten, werden signifikant bessere Ergebnisse erzielen als Ihre Wettbewerber. 8. Eine detaillierte Anforderungsanalyse der drei Stellhebel (1) Kundenorientierung, (2) Kostensteuerung und (3) Unterstützung übriger Unternehmensbereiche ist Voraussetzung für eine mögliche organisatorische Neuausrichtung der Schadenfunktion.
Heute ist das Schadenmanagement überwiegend der Betriebsorganisation oder den Spartenressorts zugeordnet. Die damit verbundene Innenorientierung erschwert jedoch Optimierungsprozesse hinsichtlich der Kundenorientierung. Eine Lösung wäre es, ein eigenes Vorstandsressort Schadenmanagement einzurichten, das so ausgerichtet ist, dass kunden- und kostenorientierte Ziele gleichgewichtig verfolgt werden.
306
Tim Braasch/Michael Danisch
Literatur GDV Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft: Jahrbuch 2008, Berlin 2008. Jara, M./El Hage, B.: „Schadenmanagement im veränderten Marktumfeld“, Institut für Versicherungswirtschaft der Universität St. Gallen 2003. Köhne, T.: Schadenmanagement als Marketinginstrument oder: Kundenorientierung im „Moment of Truth“, in: El Hage, B.; Jara, M. (Hrsg.): Schadenmanagement: Grundlagen, Methoden und Instrumente, praktische Erfahrungen, St. Gallen 2003. Küfner, R.: Warum verschenken Versicherer immer noch Geld beim Schadenmanagement?, in: Versicherungswirtschaft, 56. Jg., 2001, Nr. 22. Lehmann, A./Ruf, S.: Kundenpflege mit Strategie – Perspektiven des Kundenstamm-Marketing, St. Gallen 1992. Reichelt, F. F.: Treue Kunden müssen auch rentabel sein, in: Harvard Business manager 15/1993. Reichelt, F. F./Sasser, W. E.: Zero Defections, Quality Comes to Service, in: Harvard Business Review 9/10 1990. Salzgeber, F.: Kunden- und Prozessorientierung im Versicherungsunternehmen, Dissertation Zürich, Karlsruhe 1996. Venohr, B.: Kundenbindungsmanagement als Unternehmensziel, Leitmotiv für Versicherungsunternehmen, in: Versicherungswirtschaft 6/1996.
Kapitel 17 Mögliche Industrialisierungsansätze für Kundenservice-Center Marcus Laakmann/Oliver Pietzsch
1
Einleitung
Die deutsche Versicherungswirtschaft ist im Umbruch. Die Finanzkrise drückt auf die Gewinne, Auflagen des Gesetzgebers erschweren das Geschäft, in einigen Sparten toben erbitterte Preiskämpfe, die Erwartungen der Shareholder und Versicherungsvermittler steigen, die Kundenerwartungen und -bedürfnisse verändern sich. Hinzu kommt, dass trotz des geringen Vertrauens der Deutschen in ausländische Versicherer immer mehr ausländische Anbieter mit attraktiven Angeboten auf den deutschen Markt drängen. Die Versicherer müssen sich dementsprechend unterschiedlichen Anspruchsgruppen stellen. Neben den Endkunden sind insbesondere die Versicherungsvermittler von Bedeutung. Dieses breite Spektrum an marktseitigen Herausforderungen setzt die Unternehmen unter Druck. Um ihre Marktposition zu verbessern beziehungsweise zu halten, müssen sie ihre Effizienz steigern, Abläufe beschleunigen und gleichzeitig das Qualitätsniveau anheben. In diesem Bestreben stoßen Versicherer allerdings auf Zielkonflikte. Beispielsweise ist das Unternehmen auf der einen Seite an einer schnellen Schadenbearbeitung gelegen, auf der anderen Seite steigt mit zunehmender Geschwindigkeit in der Regel die Fehler-Quote, was wiederum die Qualität verringert und den Schadenaufwand erhöhen kann (vgl. Abb. 17.1). Eine mögliche Maßnahme, um auf diese veränderten Marktbedingungen zu reagieren und eine Lösung der Zielkonflikte herbeizuführen, ist erfahrungsgemäß die Erhöhung des Industrialisierungsgrades. Industrialisierte Versicherer haben die Möglichkeiten, eine bessere Performance zu erreichen als nicht industrialisierte Versicherer: Produktivitäts-, Qualitäts- und Kostenvorteile können in verschiedenen Unternehmensbereichen durch Standardisierung, Automatisierung und Arbeitsteilung erreicht werden. Ein Ansatz, der auf der Industrialisierung aufbaut, ist das Aufbrechen der Wertschöpfungskette. Hierbei kann auch das Outsourcing von Geschäftsprozessen eine wichtige Rolle spielen. Viele Versicherer sind hier noch zurückhaltend. Dieses könnte sich aber in Zukunft ändern. M.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing, DOI 10.1007/978-3-642-10276-9_17, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
308
Marcus Laakmann/Oliver Pietzsch
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 17. 1: Zieldimensionen und Zielkonflikte
2
Anforderungen an ein Kundenservice-Center in der Versicherungswirtschaft
Das Dienstleistungsspektrum der ursprünglichen Call Center hat sich in den vergangenen Jahren signifikant gewandelt und verschiedene Entwicklungsstufen durchlaufen (vgl. Warg/Fürst 2009, S. 32 ff.). Mit dem Zusammenschluss von Einzelspartenversicherern zu Versicherungsgruppen wurden Servicefunktionen geschäftsübergreifend gebündelt. Die Telefonie-Einheiten der Einzelgesellschaften wurden organisatorisch zusammengefasst, Infrastrukturen weiterentwickelt und Standards, wie zum Beispiel Erreichbarkeit, umgesetzt. Die Telefonisten entwickelten sich zu Servicemanagern weiter, die neben der Telefonie auch die Bearbeitung von E-Mail, Fax und die eingehende schriftliche Korrespondenz übernahmen. Ganzheitliche Kundensicht, Kundenkontakthistorien, signifikant verbesserte Auslastung und mitarbeiterüberreifende Laststeuerung durch die Zusammenführung unterschiedlicher Servicelevel entstanden. Es kann konstatiert werden, dass die Anforderungen des Marktes in den letzten Jahren stetig zugenommen haben. Diesen Trend beobachten Versicherer laut einer „CallCenterProfi-Umfrage“ im Rahmen des Trendscanners, der regelmäßig in Zusammenarbeit mit der D+S europe AG durchgeführt wird. Befragt wurden in
17 Anforderungen an Kundenservice-Center
309
2009 gut 50 Versicherungen zum Thema Kundenservice. Drei-Viertel der Befragten gaben an, einen Anstieg der Ansprüche von Privatkunden an die Beratungsqualität der Versicherer zu beobachten. Dabei gilt es zu verstehen, dass unterschiedlichen Kunden/Kundengruppen vielschichtige Anforderungen adressieren, die es gegebenenfalls individualisiert zu beantworten gilt. Entsprechend hängt der Erfolg eines Kundenservice-Centers maßgeblich davon ab, wie schnell und in welchem Umfange die Organisation die sich stetig ändernden Marktanforderungen umsetzten kann. Allgemein können die Anforderungen an ein Kundenservice-Center in fünf Bereichen beschrieben werden: Service, Qualität, Produktivität, Flexibilität und Kosteneffizienz. Die heterogenen Ausprägungen, die von den unterschiedlichen Kunden/Kundengruppen an diese Marktanforderungen gestellt werden, sind in der nachstehenden Abbildung dargestellt (vgl. Abb. 17.2).
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 17. 2: Ausprägungen von Marktanforderung
Nachfolgend werden beispielhaft die Anforderungen Service und Qualität erläutert. Service Der Endkunde geht davon aus, dass er bei einer Kontaktaufnahme mit dem Versicherer jemanden erreicht. Dabei rechnet er mit ausgedehnten Servicezeiten und erwartet eine sympathische und kompetente Beratung, die in der Lage ist, seine Anfrage fallabschließend zu bearbeiten.
310
Marcus Laakmann/Oliver Pietzsch
Für den Versicherungsvermittler ist es ebenfalls wichtig, den passenden kompetenten Ansprechpartner im Unternehmen stets erreichen zu können. Weiterhin wird eine hohe Transparenz hinsichtlich des Bearbeitungsstandes gefordert, der nach Möglichkeit jederzeit (online) abrufbar sein sollte. Diese Markterfordernisse wirken sich direkt auf die Organisation der Versicherungsgesellschaft aus: Sie setzen entsprechende Steuerungselemente voraus, die der Führungsebene zur Verfügung stehen sollten. Die Struktur ist so anzupassen, dass es nur wenige und eindeutig definierte Schnittstellen gibt und ein Single Point of Contact angeboten werden kann. Die Technik/IT muss reibungslos funktionieren und von optimal ausgestalteten Prozessen flankiert werden, so dass ein durchgängiger Workflow ermöglicht werden kann. Qualität Hinsichtlich der Qualität muss der Versicherer den Erwartungen von Endkunden und Versicherungsvermittlern genügen sowie gesetzliche Vorgaben erfüllen; Endkunde und Versicherungsvermittler setzen beispielsweise eine fehlerfreie Bearbeitung voraus. Um die Qualitätsanforderungen zu erfüllen, stehen den Versicherern beispielsweise folgende Handlungsalternativen zur Verfügung: • • • • •
Regelreporting auf Führungsebene, eindeutig definierte Zuständigkeiten, Einrichtung einer Beschwerdestelle, Reduktion der Fehleranfälligkeit von Technik und Prozessen sowie Verankerung des Qualitätsgedankens bei den Mitarbeitern (inkl. Anpassung vorhandener Anreiz- und Motivationssysteme).
Um sich als Organisation auf die Marktveränderungen einzustellen, gilt es, die wesentlichen internen Parameter eines Kundeservice-Centers zu identifizieren und optimal auszugestalten. Dabei sollte die Kultur der Organisation im Mittelpunkt der Überlegung stehen, die durch das Zusammenspiel der Einflussgrößen Führung/Steuerung, Struktur, Technik/IT, Prozesse, Mitarbeiter beschrieben werden kann (vgl. Abb.17.3). Die Anforderungen an Kundenservice-Center zeigen, dass die beschriebenen Marktanforderungen, direkte Implikationen auf die internen Parameter haben. Da diese insbesondere unter Kosteneffizienzgesichtspunkten optimal ausgestaltet werden sollten, sind hier die Gestaltungsprinzipien der Industrialisierung zu berücksichtigen.
17 Anforderungen an Kundenservice-Center
311
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 17. 3: Ausgestaltungsmöglichkeiten interner Parameter
3
Gestaltung des modernen Kundenservice-Centers
3.1
Industrialisierung in der Assekurranz
In den vergangenen Jahren waren Industrialisierung und Outsourcing typische Schlagworte, die bei der Steigerung der operativen Exzellenz der einzelnen Versicherungsgesellschaften im Mittelpunkt standen. In dieser ersten Welle der Industrialisierung lag der Schwerpunkt auf der Konzentration bzw. der Zentralisierung von Prozessen, d.h. Effizienzsteigerungen durch konzernweite „Factories“ im Rahmen eines Shared-Services-Ansatzes bzw. Outsourcings, jedoch hauptsächlich von Bereichen die nicht Teil der Kernwertschöpfung, wie z.B. Fuhrpark, Training, Kantine oder Druckerei. Insgesamt führten diese Maßnahmen zur spürbaren Senkung der Eigenfertigungstiefe in den angestammten Geschäftsfeldern der Versicherer wie „Schaden“ oder „Antrag“ auf heute etwa 80 Prozent. Vergleicht man diese Ergebnisse jedoch mit anderen Branchen, so relativiert sich dieser Erfolg. Die Banken sind mit einer Eigenfertigungstiefe von derzeit knapp 70 Prozent in ihren Industrialierungsbestrebungen der Assekurranz bereits einen Schritt voraus (vgl. Focke/Tiele/Engler/Grüneberg 2009, S. 1). Die Automobilindustrie – als nicht nur zeitlicher Primus mit Vorbildcharakter für Instustrialisierungsbewegung – fokussiert sich konsequent auf identitäts- und positionsbestimmende Ausschnitte der Wertschöpfung. Sie arbeitet mit einer Viel-
312
Marcus Laakmann/Oliver Pietzsch
zahl von Zulieferern – sognannten Systemzulieferern – und geht Entwicklungskooperationen ein. Als Folge liegt die Eigenfertigungstiefe in der Automobilindustrie im Schnitt bei lediglich einem Viertel des Nivaus der Versicherungswirtschaft (vgl. Focke/Tiele/Engler/Grüneberg 2009, S. 2ff).
3.2
Gestaltungsprinzipien der Industralisierung
Vor dem Hintergrund der Erlangung von Kostenvorteilen in KundenserviceCentern, liegt der Schwerpunkt dieses Beitrages, wie schon häufiger angeklungen, in der Darstellung möglicher Industrialierungsansätze im Hinblick auf die Ausgestaltung von Kundenservice-Centern. Auf Basis von Erfahrungen ist es zweckmäßig bei der strategischen und organisatorischen Neuausrichtung von Kundenservice-Centern die möglichen Industrialisierungshebel zu berücksichtigen. Dabei gilt es zunächst eine übergreifende Sichtweise einzunehmen und alle betriebsorientierten Funktionen des Versicherers in die Analyse mit einzubeziehen. Grundsätzlich sind bei der Neugestaltung sechs mögliche Industrialisierungshebel zu berücksichtigen: Standardisierung Im Rahmen der Standardisierung steht die Vermeidung redundanter und unötiger Prozesse, wie z.B. Bestätigung einer Vertragsstornierung im Mittelpunkt. Daneben gilt es in der Untersuchung mögliche Harmonisierungen von Prozessen sowie die Verringerung der Prozesskomplexität zu berücksichtigen. Automatisierung Zu betrachtende Industrialisierungshebel sind hier im wesentlichen die Anwendung elektronischer Prozessunterstützung wie z.B. Scannen. Desweiteren sind die Möglichkeiten der automatischen Transaktionsführung wie die Dunkelverarbeitung von Anträgen etc. in der Neuausrichtung zu berücksichtigen. Integration der Wertschöpfungskette Beispielsweise durch die Einführung von Self-Service-Portalen für Kunden und Vertrieb können Kostensenkungspotenziale identifiziert werden. Außerdem sind mit der Delegation von Aufgaben an den Vertrieb oder auch andere Organisationseinheiten des Unternehmens Einsparmöglichkeiten durch Effizienzsteigerung umzusetzen. Prozessmanagement Insbesondere die Messung und Überwachung wesentlicher Prozessindikatoren in Bezug auf Effizienz, Qualität und Zufriedenheit der Kunden (interne/externe), bietet die Möglichkeiten Potenziale im Rahmen der Neusaurichtung des Kundenservice-Centers permanent auszunutzen.
17 Anforderungen an Kundenservice-Center
313
Last- und Kapazitätsmanagement Das Last- und Kapazitätsmanagement ist heute häufig in Versicherungen nur rudimentär ausgeprägt. Insbesondere die Berücksichtigung im „Outbound“ für allgemeine Verkaufs- und Marketingaktivitäten in Zeiträumen, in denen das Kundenservice-Center eine geringere Auslastung hat, kann zu Effizienzpotenzialen führen. Ausgeprägte Kosteneinsparungen sind durch geschickte Lastausgleichsmechanismen in der Umschichtung von Arbeitsgut zwischen Organisationseinheiten und Standorten des Versicherers zu erwarten. Mitarbeiter Insbesondere die Mitarbeiterzufriedenheit im Kundenservice sollte in Abständen geprüft und mit entsprechenden Personalentwicklungsmaßnahmen hinterlegt werden, da hier der Hebel zur Erhöhung des Mitarbeiterengagements liegt. Auch die Einführung ein an die Industrialisierung angepasstes Mitarbeiterbeurteilungssystem und Zielvereinbarungssystem ist ein Ansatzpunkt zur Unterstützung der Industrialisierung. Die nachfolgende Grafik stellt den Zusammenhang zwischen den GestaltungsPrinzipien und typischen Industrialisierungshebeln dar (vgl. Abb. 17.4).
GESTALTUNGSPRINZIPIEN
TYPISCHE INDUSTRIALISIERUNGSHEBEL FÜR KDC • Vermeidung redundanter und unnötiger Prozesse
1
Standardisierung
2
Automatisierung
3
Integration der Wertschöpfungskette
• Einführung von Self-Service-Portalen für Kunden und Vertrieb
4
ProzessManagement
• Messung und Überwachung wesentlicher operativer Prozess-Indikatoren in Bezug auf Effizienz, Qualität und Zufriedenheit von Kunden
5
Last- und Kapazitätsmanagement
• Integration des Last- und Kapazitätsmanagements in die Ressourcenplanung
6
Mitarbeiter
• Permanente Überprüfung der Mitarbeiterzufriedenheit
• … • Elektronische Prozessunterstützung • … • …
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 17.4: Zusammenhang zwischen Gestaltungsprinzipien und Industrialisierungshebeln bei Kundenservice-Centern
314
Marcus Laakmann/Oliver Pietzsch
3.3
Strategische und organisatorische Neuausrichtung eines Kundenservice-Centers
Grundsätzlich ist bei einer strategisch/organisatorischen Neuausrichtung des Kundenservice-Centers im Versicherungsunternehmen „Top-down“ vorzugehen. Dabei werden, ausgehend von der Geschäftsstrategie des Versicherungsunternehmens, erste Anhaltspunkte für die Zielorganisation und -strukturen abgeleitet. In der Geschäftsstrategie sind erfahrungsgemäss die strategischen Leitplanken, wie z.B. die Ausrichtung auf einen besonderen Service für die unabhängigen Vermittler, Erweiterung des Produkt- und Geschäftsfeldportfolios oder Kosteneinsparungen in „harten“ Zielgrößen festgehalten. Auf Basis dieser strategischen Zielsetzungen lassen sich Zielstrukturen und -organisation designen. Ausgehend von einer übergreifenden Sichtweise werden, wie oben beschrieben, zunächst alle Funktionen, die den Kundenservice betreffen, analysiert und hinsichtlich ihrer Ansiedlung in einem Kundenservice-Center bewertet. Anschließend gilt es insbesondere vor dem Hintergrund der möglichen strategischen Zielsetzung, Kostensenkungen umzusetzen, die oben beschriebenen Gestaltungsprinzipien auf das neu zu organisierende Kundenservice-Center anzuwenden. Dabei sind die einzelnen Industrialisierungshebel detailliert zu beschreiben, um zu einem späteren Zeitpunkt eine entsprechende Kosten-/Nutzenbewertung für die Ausrichtung durchführen zu können. Nachdem die Gestaltungsprinzipien für das Kundenservice-Center entwickelt wurden, gilt es, das Konzept weiter zu operationalisieren und die operativen Prozesse auszuwählen, die im Kundenservice-Center zukünftig zu bearbeiten sind. Im Kundenservice ist es wesentlich, eine hohe Fallabschlußrate beim ersten Kontakt des Kunden mit dem Versicherer zu erreichen. Erfahrungsgemäß sind Fallabschlussraten von > 80 % im First Level durchaus erreichbar. Zu diesem Zweck werden alle industrialisierbaren Geschäftsvorfälle unter anderem nach dem Kriterium der Fallabschlußrate für die zukünftige Bearbeitung im KundenserviceCenter ausgewählt. Je mehr Geschäftsvorfälle im First Level standardisiert und automatisiert abgearbeitet werden können, desto größer wird der Kostensenkungseffekt. Die Geschäftsvorfälle im Kundenservice-Center sind optimal IT-technisch zu unterstützen, um die oben erwähnte Fallaschlussrate zu erreichen. Hier ergeben sich insbesondere bei Systemen wie Workflowmanagement, CRM-Systeme etc. besondere Anforderungen an die IT, die dann im Projektportfolio des Unternehmens wiederfinden. Hier entstehen regelmäßig hohe Investitionsbudgets, die vor dem Hintergrund des Kostenmanagements in rekursiven Prozessen in regelmäßigen Abständen an die Geschäftsstrategie anzupassen sind. Die nachfolgende Abbildung stellt das oben beschriebene Vorgehen dar (vgl. Abb. 17.5).
17 Anforderungen an Kundenservice-Center
315
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 17. 5: Neuausrichtung Kundenservice-Center
4
Nutzen
Durch die Berücksichtigung der Gestaltungsprinzipien der Industrialisierung bei der Ausgestaltung von Kundenservice-Centern können erhebliche Effizienzsteigerungen und somit Kostenvorteile realisiert werden. Erfahrungsgemäß können häufig Produktivitätsvorteile, insbesondere in Betrieb und Schaden, von bis zu 20% erreicht werden. Eine konsequente Prozessoptimierung, durch die Verringerung der Prozesskomplexität, die Harmonisierung sämtlicher Prozesse und die Eliminierung nicht notwendiger Prozesse und Prozessteile (Standardisierung), lassen sich Effizienzvorteile von etwa 3% erreichen. So können z.B. durch ein standardisiertes aktives Schadenmanagement sowie die weitere Standardisierung der Schadenrisikoselektion die Schadenkosten und die Kosten des Schadenprozesses verringert werden. Die Kontrolle von Prozesszeiten und Fehlerquoten in Verbindung mit der Umsetzung von Verbesserungsmaßnahmen (Prozessmanagement) kann die Produktivität um weitere ~3% steigern. Automatisierung und der Integration Wertschöpfungskette sind häufig eng miteinander verknüpft und können in Summe bis zu ~10% an Effizienzvorteilen bewirken. Die elektronische Prozessunterstützung und die Dunkelverarbeitung stehen dabei z.B. in engem Zusammenhang mit Selbstverwaltungsaktivitäten von Kunden
316
Marcus Laakmann/Oliver Pietzsch
und Vermittlern und der Übertragung von Aufgaben an den Vertrieb, wie etwa die Abwicklung von Einfachschäden durch den Vertrieb. Durch die Entwicklung und Nutzung von Lastausgleichsmechanismen, mittels Umschichtung von Aufgaben und Ressourcen entlang des zeitlichen Bedarfs (Last- und Kapazitätsmanagement) können Effizienzvorteile von ~3% erreicht werden. Insbesondere die Nutzung von Inbound-Kapazitäten, in Zeiten mit geringem Inboundaufkommen, für Outboundaktivitäten verspricht Produktivitätsvorteile. Zudem kann durch gezielte Personalentwicklung und ein anforderungsgerechtes Zielsystem, die Motivation, Qualifikation und Kapazitätsallokation im Sinne des Versicherungsunternehmens gesteigert werden. Hierdurch kann die Effizienz um weitere ~1% gesteigert werden. Die folgende Abbildung veranschaulicht schematisch die Effizienzsteigerungspotentiale bei Anwendung der Gestaltungsprinzipien der Industrialisierung (vgl. Abb. 17.6).
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 17. 6: Effizienzsteigerungspotenziale
Neben diesen Kostenvorteilen können jedoch Verbesserungen der Servicequalität für Kunden und Versicherungsvermittler erreicht und damit die Kundenbindung verbessert werden (erhöhte Erreichbarkeit, beschleunigte Bearbeitungsprozesse, verbesserte Betreuung usw.).
17 Anforderungen an Kundenservice-Center
5
317
Zusammenfassung
Angesichts vielfältiger Herausforderungen des Versicherungsmarktes ist das Anheben des Industrialisierungsgrades eine erfolgsversprechende Maßnahme, sich den vielfältigen Anforderungen der unterschiedlichen Anspruchsgruppen zu stellen. Dadurch kann die eigene Wertschöpfung effizienter, schneller und qualitativ besser gemacht werden. Bei der strategischen und organisatorischen Neuausrichtung von KundenserviceCentern ist es zweckmäßig, die Industrialisierungshebel zu berücksichtigen und somit die Neuausrichtung entlang der Gestaltungsprizipien der Industralisierung vorzunehmen. Dabei sollte die Geschäftsstrategie Basis der Neuausrichtung sein. Durch die konsequente Berücksichtigung der Gestaltungsprinzipien der Industrialisierung können erhebliche Kostenvorteile erreicht werden. Häufig lassen sich Produktivitätsvorteile von bis zu 20% realisieren. Gelingt die strategische und organisatorische Neuausrichtung des KundenserviceCenters, unter gleichzeitiger Steigerung des Industrialisierungsgrades, erhöht dieses die Schlagkraft und damit die Wettbewerbsfähigkeit des Versicherers nachhaltig. Dieses kann zu einem kritischen Erfolgsfaktor unter sich verändernden Marktbedingungen werden.
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Marcus Laakmann/Oliver Pietzsch
Literatur Dr. Focke,H./Tiele, J./Dr. Engler, K./Dr. Grüneberg, M.: Geschäftsmodell Versicherung – was kommt nach der Industrialisierung, in: www.atkearney.de/content/...detail.../bankenvers, 2009 Bullinger, H.-J./Scheer, A.-W.: Survive Engineering, Entwicklung und Gestaltung individueller Dienstleistungen, Heidelberg 2005. Call-Center-Jahrbuch; Deutscher Direktmarketing-Verband, DDV Ulrich, D./Brockbank, W.: HR The Value Proposition, in: Harvard Business School Press, 2005. Warg, M./Fürst, B.: Service auf höchstem Niveau, in: CallCenter for Finance, 2009.
Kapitel 18 Innovative Vertriebskonzepte Jörg Hodann/Alexander Wulf
1
Einleitung
In den letzen zwei Jahrzehnten kann eine zunehmende Wettbewerbsintensität auf dem deutschen Versicherungsmarkt beobachtet werden. In einem solchen Umfeld bedeutet Stillstand Rückschritt. Der Wettbewerb schläft nicht. Innovationen sind allenthalben zu beobachten. Einige Ideen werden erfolgreich umgesetzt, andere werden durch den Markt falsifiziert (vgl. Abb. 18.1).
INNOVATION
Bestehende Vertriebsorganisation
Neuer Auftritt am PoS
Optimierung der Vertriebsstruktur
Außerhalb bestehender Vertriebsorganisation
• Aufbau Großagenturen oder Versicherungshäuser
• Einführung Key-AccountKonzept
Neue Vertrags- bzw. Vergütungskonzepte
• Umstellung angestellte Vertriebsmitarbeiter auf Selbständige • Wertorientiere variable Vergütung
Neue Vertriebssteuerungskonzepte
• Selbstoptimierendes Benchmarking
Aufbau neue Zielgruppenorganisation
• Zielgruppenvertrieb Best-Ager
Erschließung neuer Vertriebsweg
• Gewinnung branchenfremder Kooperationspartner für Produktbundling
Aufbau Vertriebsorga mit neuer Vertriebsmethodik
• Financial Planning • Online- bzw. Direktvertrieb
Quelle: 67rockwell Consulting
Abb. 18.1: Innovationsansätze im Versicherungsvertrieb
Ein Grundsatz gilt jedoch fast immer: Die bestehende Vertriebsorganisation zugunsten von neuen Vertriebsideen zu vernachlässigen, gefährdet die Grundlage der bisher erreichten Wettbewerbsposition, denn investive Vertriebskonzepte M.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing, DOI 10.1007/978-3-642-10276-9_18, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
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Jörg Hodann/Alexander Wulf
liefern meist erst nach erheblicher Anlaufzeit signifikante Produktionsbeiträge. Gleichzeitig liegt der größte Wachstumshebel in der Regel in der Optimierung der bestehenden Vertriebsorganisation. Die Frage ist also, wie eine Vertriebsorganisation quasi aus sich selbst heraus auf wertorientiertes Wachstum geeicht werden kann? Im Folgenden wird hierzu ein Fallbeispiel für einen Leben-Maklervertrieb dargestellt, der durch ein innovatives, benchmark-orientiertes Konzept zur Vertriebssteuerung optimiert wurde. Vorangestellt wird ein kurzer Abriss der wesentlichen Steuerungskonzepte.
2
Steuerungskonzepte
Folgende Steuerungskonzepte sind im Versicherungsvertrieb verbreitet zu finden: • Management by Objectives, • Balanced Scorecards und • Benchmarking.
2.1
Management by Objectives
In den letzen Jahren sind eine Reihe unterschiedlicher Führungsprinzipien in der Betriebswirtschaftslehre entwickelt worden, die meistens unter der Bezeichnung „Management by“ beschrieben sind und inzwischen als Klassiker der Managementtechnik gelten. Ziele der Führungsprinzipien sind in der Regel organisatorische Probleme und ihre Lösung im Rahmen der Führungsaufgabe. Mit dem Einsatz von Führungsprinzipien in Unternehmen sollen folgende Ziele erreicht werden (vgl. Wöhe 2000, S. 130): • Über Kompetenzregelungen sollen die Handlungsspielräume der Mitarbeiter bei der Bearbeitung von Aufgaben festgelegt werden. Voraussetzung hierfür ist, dass der Erfolg der Arbeit messbar ist. Die Führungskräfte werden von Routinetätigkeiten entlastet und können sich auf Führungsaufgaben konzentrieren. • Führungsprinzipien sollen den Mitarbeitern mehr Selbständigkeit und Freiheiten in der täglichen Arbeitsbewältigung geben, wodurch die Eigenverantwortlichkeit und Kreativität und somit insgesamt die Motivation steigt. • Aktivieren der optimalen Ausnutzung der Leistungserstellung und Anpassungsfähigkeit an sich ständig verändernde Umweltbedingungen dienen der Sicherstellung der langfristigen Unternehmensexistenz und des Unternehmenserfolges. Im Management by Objectives erhalten die Mitarbeiter durch die gemeinsame Abstimmung von übergeordneten Zielen mehr Verantwortung und Handlungsspielraum in ihrer täglichen Arbeit. Der Aufgabenbereich des Mitarbeiters richtet sich am vorab definierten Ziel aus. Die individuell vereinbarten Mitarbeiterziele
18 Innovative Vertriebskonzepte
321
werden eigenverantwortlich durch den Mitarbeiter umgesetzt. Die vereinbarten Mitarbeiterziele werden in qualitative und quantitative Ziele unterschieden. Quantitative Ziele sind mengenmäßig und operational messbar und können als Kennzahlen zusammengefasst werden. Qualitative Ziele beziehen sich auf Grundsätze und Verhaltensnormen und sind eher ungeeignete Zielgrößen, da diese sind in der Regel nicht immer eindeutig messbar sind (vgl. Simon 2002, S. 549). Die Leistungsbewertung erfolgt am Grad der Zielerfüllung. Voraussetzung zur Umsetzung des Führungsprinzipes ist dabei die detaillierte Planung der Teilziele sowie die Möglichkeit eines umfassenden Erfolgscontrollings. Des Weiteren ist eine vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen Führungskräften und Mitarbeitern unabdingbar. Vorteil für das Unternehmen sind die erhöhte Motivation sowie Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter, woraus ein größerer Nutzen für das Unternehmen resultiert. Allerdings sollte darauf geachtet werden, dass die Ziele für den einzelnen Mitarbeiter realisierbar sind, da dieses ansonsten zu einem erhöhten Leistungsdruck und sich damit demotivierend auswirken kann (vgl. Simon 2002, S. 555; vgl. Abb. 18.2).
Vor- und Nachteile bei Management by Objectives
+ •
•
•
Steigerung der Mitarbeitermotivation, Leistungsbereitschaft sowie der Kreativität Konzentration der Führungskräfte auf Führungsaufgaben durch Entlastung bei Routineaufgaben Einfache Umsetzung im Unternehmen
•
• •
•
•
Planung und Abstimmung der jeweiligen Teilziele auf das Gesamtziel (Zielkonflikte) Leistungsdruck und Demotivation bei unrealistischer Zielsetzung Qualitative Ziele sind eher ungeeignet, da eine Erfolgsmessung nicht eindeutig möglich ist Politische Zielsetzungsprozesse führen teilweise zu suboptimalen Anspruchsniveaus Keine dynamischen Anpassungsprozesse bei Änderung von Umfeldbedingungen
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 18.2: Vor- und Nachteile bei Management by Objectives
2.2
Balanced Scorecard
Mit der Balanced Scorecard schufen Robert S. Kaplan und David P. Norton Anfang der 1990er Jahre einen Steuerungsansatz, der sich ausdrücklich um Ausgewogenheit (englisch: Balance) der Betrachtungsweisen bemüht. Die bis dahin
322
Jörg Hodann/Alexander Wulf
üblichen, finanzlastigen Kennzahlensysteme führten im Ergebnis zu Problemen, da andere erfolgsrelevante Faktoren wie zum Beispiel Kundenzufriedenheit und Mitarbeitermotivation außer Acht blieben (vgl. Kaplan/Norton 1992, S. 71-79). Die Balanced Scorecard ist ein übersichtliches Managementinstrument, das eine Unternehmensbetrachtung aus den für das Standardmodell typischen Perspektiven „Finanzen“, „Kundensicht“, „interne Prozesse“ und „Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten aus Mitarbeitersicht“ möglich macht. Damit werden interne und externe Unternehmenssichten verbunden und die Zusammenhänge und Abhängigkeiten in einem Ursache-Wirkungs-Modell sichtbar. Es können auch abhängig von Branche und Geschäftsbereich andere Perspektiven definiert und ergänzt werden (vgl. Abb. 18.3).
Quelle: In Anlehnung an Kaplan/ Norton, 1997, S. 9
Abb. 18.3: Perspektiven der Balanced Scorecard
Zunächst werden strategische Ziele innerhalb der bereits genannten Perspektiven festgelegt. Vision und strategische Ausrichtung werden dann in jeder der festgelegten Perspektiven in spezifische Zielgrößen beziehungsweise Kennzahlen übersetzt und Maßnahmen zur Zielerreichung definiert: 1. Finanzperspektive: Die Finanzperspektive besitzt innerhalb der Balanced Scorecard eine Doppelfunktion: Zum einen werden hier die finanziellen Zielgrößen des Unternehmens festgelegt und nachgehalten, andererseits laufen an dieser Stelle die Erfolge der anderen Perspektiven in Form von Fi-
18 Innovative Vertriebskonzepte
323
nanzkennzahlen zusammen. Wichtige Kennzahlen der Finanzperspektive sind z. B. Unternehmenswert, ROI, Aktienkurs, Cash-flow usw. 2. Kundenperspektive: In der Kundenperspektive werden die Kunden- und Marktsegmente identifiziert, in dem das Unternehmen tätig ist. Eine Grundlage für den Unternehmenserfolg ist die Kundenzufriedenheit sowohl der Endkunden als auch interner Abnehmer. Typische Kennzahlen der Kundenperspektive sind Marktanteil, Beschwerden, Kundenrentabilität und Kundenzufriedenheit. 3. Lern- und Entwicklungsperspektive: Diese Perspektive bezieht sich auf die im Unternehmen zur Verfügung stehenden Mitarbeiterressourcen und deren Erhalt sowie der Bereitschaft zur Weiterentwicklung von Fähigkeiten und Potenzialen für eine langfristige Unternehmenssicherung. Als Kennzahlen für diese Perspektive kann die Mitarbeiterzufriedenheit, Mitarbeiterfluktuation oder Mitarbeiterproduktivität genannt werden. 4. Prozessperspektive: Diese Perspektive konzentriert sich auf die internen Unternehmensabläufe entlang der Wertschöpfungskette. Es gilt, die Prozesse im Unternehmen zu identifizieren, die einen Einfluss auf die Kunden- und Finanzperspektive haben, um diese anschließend zu verbessern. Typische Kennzahlen sind beispielsweise Materialverbrauch und -ausschuss sowie Reklamationen. Die Balanced Scorecard dient als Kontroll- und Steuerungsinstrument zur Umsetzung von Strategien in operatives Handeln unter Einbeziehung sämtlicher monetärer und nicht monetärer Faktoren, kurzfristigen sowie langfristigen Zielen sowie Früh- und Spätindikatoren. Anhand der Kennzahlen wird laufend die Annäherung an die festgelegten strategischen Ziele gemessen. Durch die mehrdimensionalen Zielvorgaben wird der Komplexität des Umfeldes und des Unternehmens Rechnung getragen. Zielkonflikte sind dabei nicht selten zu beobachten und stellen neben der Datenbeschaffung und Aufbereitung die größte Herausforderung bei der erfolgreichen Einführung der Balanced Scorecard dar. Aus der Diskussion der Ursache- und Wirkungsbeziehungen kann eine einheitliche, ausgewogene Abstimmung der Ziele und Maßnahmen resultieren, was wiederum eine Voraussetzung für die Umsetzung einer Unternehmensstrategie darstellt (vgl. Abb. 18.4).
324
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Vor- und Nachteile der Balanced Scorecard
+ •
•
Ganzheitliche Steuerungsinstrument unter Einbeziehung unterschiedlicher Unternehmensperspektiven. Transparente Unternehmensvision und -strategie
• •
•
•
Aufwändige und komplexe Planung und Erstellung. Konsolidierung einer Vielzahl von Balanced Scorecards für jeden Verantwortungsbereich beziehungsweise jede Verantwortungsebene notwendig. Auswahl der richtigen Kennzahlen ist durch die Methodik nicht sichergestellt. Quantitatives Austarieren von Zielkonflikten ist durch Methodik nicht sichergestellt.
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 18.4: Vor- und Nachteile der Balanced Scorecard
2.3
Benchmarking
Mit dem Managementinstrument Benchmarking kann unter anderem die Marktposition eines Unternehmens gegenüber dem Wettbewerb festgestellt werden. Es wurde im Jahr 1979 vom Kopiergerätehersteller Xerox entwickelt. Benchmarking beschreibt einen kontinuierlichen und strukturierten Prozess zum Vergleich eigener Unternehmenskennzahlen und -aktivitäten mit denen eigener Unternehmensteile oder eines „Best-Practise-Unternehmens“ (vgl. Schneider 2008, S. 200). Hierbei können unterschiedliche Betrachtungsobjekte miteinander verglichen werden: • • • •
Produkte, Methoden, Prozesse und Funktionen.
Die Vergleichs- beziehungsweise Zielgröße des Benchmarking kann in folgende Bereiche unterschieden werden: • • • •
Kosten, Qualität, Kundenzufriedenheit und Zeit.
Die Benchmarking-Vergleichspartner sind als direkte Wettbewerber meist Unternehmen der eigenen Branche. Insbesondere bei Funktions- oder Prozess-Benchmarking haben branchenfremde Vergleichspartner hohen Erkenntniswert. Diese Vergleichsprozesse werden als externes Benchmarking bezeichnet.
18 Innovative Vertriebskonzepte
325
Als Vergleichspartner können aber auch eigene Unternehmens- und Konzernbereiche herangezogen werden, sofern diese hinsichtlich des Benchmarkingobjektes führend sind (internes Benchmarking). Die folgende Abbildung fasst die unterschiedlichen Benchmarkingtechniken zusammen (vgl. Abb. 18.5). Benchmarkingtechniken
Internes Benchmarking
unternehmensbezogen
konzernbezogen
Externes Benchmarking
marktbezogen
branchenunabhängig
branchenbezogen
Quelle: In Anlehnung an Kuhlmann 2001, S. 347
Abb. 18.5: Benchmarkingtechniken
Es gibt eine Reihe von unterschiedlichen Phasenkonzepten zum Vorgehen im Benchmarking-Prozess. Das hier dargestellte Phasenkonzept teilt sich in vier Phasen auf und soll nachstehend vorgestellt werden (vgl. Kerth/Asum 2008, S. 163 ff.): Planung und Auswahl Im ersten Schritt wird die Zielsetzung sowie das Objekt des durchzuführenden Benchmarking durch das Management definiert. Für die Festlegung der Benchmarking-Kennzahlen ist es notwendig, das Benchmarking-Objekt genauer zu analysieren. Beispiele für Kennzahlen eines Benchmarkings können für Prozessanalysen Durchlaufzeiten, Fehlerquoten oder Energieverbrauch etc. sein. Des Weiteren muss zu Beginn des Benchmarking-Prozesses der geeignete Benchmarking-Partner definiert werden. Abhängig von der Projektzielsetzung und Problemstellung kann der Benchmarking-Partner intern oder extern identifiziert werden. Entscheidend hierbei ist, dass es sich beim Partner um den „Bestperformer“ in Bezug auf das zu untersuchende Objekt handelt. Datengewinnung In der zweiten Phase werden die definierten Kennzahlen für die BenchmarkingPartner ermittelt. Problematisch kann hierbei die Datengewinnung bei externen Partnern sein, wenn diese nicht an eine Zusammenarbeit interessiert sind (Vergleich nur möglich anhand öffentlich verfügbarer Daten - unkooperatives Benchmarking).
326
Jörg Hodann/Alexander Wulf
Datenanalyse In der Datenanalyse werden die zur Verfügung stehenden Daten miteinander verglichen und ausgewertet. Mit dem Vergleich von Ist- und Idealwerten können sogenannte Kosten- beziehungsweise Leistungslücken identifiziert werden. Ziel ist es, die wesentlichen Erfolgsfaktoren des Benchmarkingpartners zu identifizieren. Im Anschluss werden die Ergebnisse mit der eigenen Situation verglichen und mögliche Verbesserungsansätze analysiert. Umsetzung Die Umsetzung besteht aus der Festlegung von realistischen Zielwerten und Aktivitäten zur Realisierung der Verbesserungspotenziale. Die folgende Abbildung verdeutlicht den Prozess noch einmal im Überblick (vgl. Abb. 18.6)
Kerninhalte
Phasen
Benchmarking Planung und Auswahl
Datengewinnung
Datenanalyse
• BenchmarkingObjekt festlegen
• Festlegung der Datengewinnung
• Festlegung der Datenanalyse
• BenchmarkingZielgröße definieren
• Analyse des Objekts im eigenen Unternehmen
• Identifizierung von Leistungsund Kostenlücken
• Geeignete Benchmarking Form und Partner auswählen • Aufsetzen einer Projektstruktur und -planung
• Erhebung von internen und externen Partnerdaten
Quelle: In Anlehnung an Kerth/Asum 2008, S. 163 ff.
Abb. 18.6: Benchmarking-Prozess
• Ermittlung von Erfolgsfaktoren des Partners • Vergleich der Ergebnisse mit dem eigenen Unternehmen
Umsetzung
• Bestimmung eines realistischen Zielwerts • Festlegung von Maßnahmen • Realisierung der Umsetzungsschritte
18 Innovative Vertriebskonzepte
327
Die folgende Abbildung zeigt die Vor- und Nachteile auf (vgl. Abb. 18.7)
Vor- und Nachteile Benchmarking
+ • • •
Strukturierte Vorgehensweise des Wettbewerbsvergleichs Funktionales Benchmarking bietet hohes Innovationspotenzial Aus fortlaufendem BenchmarkingProzessen resultieren dynamische, kontinuierliche Verbesserungsprozesse
• •
•
Umfangreiche und zeitaufwändige Datenerhebung und –auswertung Identifikation geeigneter externer Benchmarking-Partner anspruchsvoll Übertragbarkeit der Erfolgsfaktoren nicht immer gegeben
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 18.7: Vor- und Nachteile von Benschmarking
2.5
Fazit für die Steuerung des Versicherungsvertriebes
Management by Objectives ist der im Versicherungsvertrieb meist verbreitete Ansatz. Dieser zeigt jedoch insbesondere bei Trendbrüchen besondere Schwächen. Ändert sich das Umfeld signifikant, werden die Vertriebszielsetzungen als Überoder Unterforderung schnell obsolet und verlieren Motivations- und Steuerungsfunktion; zu nennen sind hier beispielsweise Steueränderungen, Konjunktureinbrüche beziehungsweise interne Qualitätsprobleme bei Produkten oder Prozessen. Unterjährige Korrekturen nach unten werden als fair gefordert, Anpassungen nach oben wirken als ungerechte Maßnahme demotivierend. Der Grundannahme von Management by Objectives, eine quantifizierte Zielsetzung würde optimales Handeln erzeugen, liegt zugrunde, dass jede untergeordnete Führungskraft und jeder Mitarbeiter die Ursache-Wirkungszusammenhänge umfassend für sich selbst erkannt hätte. Dass diese Grundannahme gewährleistet ist, kann vor dem Hintergrund des komplexen Marktumfeldes und der Unterschiedlichkeit der handelnden Personen eher verneint werden. Die Balanced Scorecard greift diesen letzten Aspekt auf und stellt den finanziellen Größen vorgelagerte Zielsetzungen in den Vordergrund. Dadurch können Ursache-Wirkungsbeziehungen transparent gemacht werden. Insbesondere in Prozessen der Strategiekommuniation und -umsetzung hat die Balanced Scorecard ihre Vorteile. Mit der Einführung sind jedoch hohe konzeptionelle und administrative Aufwände verbunden. Die Probleme von Management by Objectives bei Trendbrüchen oder Situationen, in denen andere Unternehmensbereiche ihre Scorecards nicht realisieren, bleiben jedoch bestehen. Das Benchmarking hat üblicher Weise einen entscheidenden Nachteil: der führende Wettbewerber hat einen Vorsprung, der bestenfalls eingeholt werden kann.
328
Jörg Hodann/Alexander Wulf
Lernen vom Wettbewerber ist wichtig, zeigt jedoch selten, wie ein Überholprozess gelingen kann. Zudem sind kooperative unternehmensübergreifende Benchmarking aufgrund des Aufwandes eher einmalige als laufende Maßnahmen und sind damit für dynamische Verbesserungsprozesse über längere Zeiträume eher ungeeignet. Zu beachten sind insbesondere auch wettbewerbsrechtliche Probleme. Ein laufendes, internes Benchmarking vermeidet diese Nachteile beziehungsweise Probleme. Wenn es gelingt, für gleichartige Vertriebseinheiten ein faires Benchmarking aufzusetzen, welches sich nicht nur in einer Produktionsgröße beschränkt, wird ein wettbewerbsorientiertes Klima im Versicherungsvertrieb entstehen. Einzelne Akteure werden mit neuen Ansätzen die Benchmark nach oben treiben, andere werden sich an der Benchmark orientieren oder aus dem Wettbewerb ausscheiden. Trendbrüche können Benchmarking als Vertriebssteuerungskonzept nichts anhaben, da diese auf alle Vertriebseinheiten so gut wie gleichartig wirken. Im folgenden Abschnitt wird im Rahmen einer Fallstudie beschrieben, wie ein internes Benchmarking als Kernelement eines umfassenden Vertriebssteuerungskonzeptes aufgebaut wurde.
3
Fallstudie: Innovatives Steuerungskonzept für den Leben-Maklervertrieb
3.1
Ausgangssituation
Die Versicherungsgruppe vermarktet Leben- und Sachprodukte im Schwerpunkt über eine Maklervertriebsorganisation. Während einer mehrjährigen Periode starken Wachstums hat der Vertrieb auch Geschäft mit problematischem Ertragsbzw. Risikoprofil geschrieben. Signifikante Änderungen im Marktumfeld und Anforderungen des Shareholders machen eine grundsätzliche Neuausrichtung des Versicherungsvertriebes erforderlich.
3.2
Analyse
Die Bestandsaufnahme ergibt eine im Wesentlichen auf Neugeschäftsproduktion ausgerichtete Vertriebssteuerung: • Vergütung der Maklerbetreuer werden weit überwiegend variabel auf Basis der jährlichen Produktionsergebnisse. • Incentivierung auf Basis von Rennlisten ausschließlich nach laufender Jahresproduktion.
18 Innovative Vertriebskonzepte
329
• Kurzfristige Produktionsorientierung (keine Zeitreihenbetrachtung, Produktionsstorno berücksichtigt ausschließlich Nichteinlösungen und Erst-Jahresstornos). • Auswertungen nur über Expertensystem im Controlling; kein direkter Zugriff der Vertriebsführungskräfte beziehungsweise -mitarbeiter auf „ihre“ Vertriebsergebnisse. • Produktionsvolumen als einziger Erfolgsindikator im Vertriebscontrolling. • Keine Transparenz bei vorlaufenden Erfolgsindikatoren, wie zum Beispiel Makler-Neuanbahnungen. • Keine Berücksichtigung von ertragsorientierten Größen, wie zum Beispiel Saldenvolumina oder Vergütungssätzen. • Keine Analysemöglichkeiten für brachliegende Wachstumspotenziale bei bestehenden Vertriebspartnern.
3.3
Konzeption
Die Konzeption setzt an mehreren Hebeln an: 1. Identifikation der wesentlichen KPI‘s (Key Performance Indicator) und zwar aus Unternehmens-Gesamtsicht zu wertorientiertem Wachstum. 2. Veränderung des Vergütungssystems: variable Vergütung ausgerichtet an wertorientierten KPI’s. 3. Aufbau eines einfachst zu bedienenden und aussagekräftigen VertriebsInformationssystems zur Identifikation von Wachstumspotenzialen und Risiken durch den Vertrieb selbst. 4. Laufendes Benchmarking im Vertrieb zur kontinuierlichen Verbesserung und Ausrichtung an den Besten.
3.4
Umsetzung
(1) Identifikation der wesentlichen KPI’s Die wesentlichen Key Performance Indicators lassen sich anhand eines einfachen Treibermodelles für den Versicherungsvertrieb definieren (vgl. Abb. 18.8). Ausgangspunkt ist eine wertorientierte Größe, der Vertriebsdeckungsbeitrag. Die Ansatzpunkte zur Optimierung des Vertriebsdeckungsbeitrages lassen sich schnell erkennen: - auf der Wachstumsseite: a) Produktivitätssteigerung der Maklerbetreuer aus einer höheren Durchschnittsproduktion je Vertriebspartner und/oder aufgrund einer Steigerung der Anzahl der betreuten Vertriebspartner. b) Anbau neuer Maklerbetreuer zur Gewinnung und Betreuung neuer Vertriebspartner (VP).
330
Jörg Hodann/Alexander Wulf
- auf der Ertragsseite: c) Steigerung der Ertragsbarwertsätze; diese sind abhängig von der Geschäftsqualität (zum Beispiel attraktive Kundengruppen, niedriges Bestandsstorno). d) Ertragsorientierte Vergütungssätze der Vertriebspartner. e) Ertragsorientierte variable Vergütungssätze für den Außendienst. f) Konsequentes Management der Strukturkosten (Fixe Vergütungsbestandteile, Sachkosten, insbes. IT-Kosten). g) Abschreibung von Forderungen gegenüber VP.
Quelle: 67rockwell Consulting
Abb. 18.8: Treibermodell für den Vertriebsdeckungsbeitrag
Ein Nutzen des Treibermodelles besteht im Übrigen darin, Zielkonflikte zwischen verschiedenen Maßnahmen zu entdecken und zu beurteilen. Zwei Beispiele: • Eine optimierte technische Vertriebsunterstützung wird sich positiv auf die Produktivität der Maklerbetreuer und damit auf die Wachstumsseite auswirken; jedoch muss dieser Effekt die Steigerung der IT-Kosten überkompensieren. • Zahlreiche Neueinstellungen erhöhen zwar grundsätzlich die Vertriebskapazität, jedoch wird in der Regel kurz-/mittelfristig die Durchschnittsproduktivität sinken, während die Personalkosten durch fixe und Garantievergütungen steigen werden.
18 Innovative Vertriebskonzepte
331
Mit Hilfe des Treibermodelles lassen sich Strategieprogramme oder einzelne Maßnahmen durchrechnen und quantitativ beurteilen. Ausfluss des Treibermodelles sind zusätzlich zu Kennziffern der Produktionsentwicklung beziehungsweise -qualität abgeleitete Ziel- und Steuerungsgrößen für den Versicherungsvertrieb zu: • Bestandsentwicklung der Versicherungsverträge, • Bestandsstorno, • Vermittlerbestandsentwicklung mit Kennziffern für Vermittlergewinnung und Produktivsetzung, • Saldenentwicklung sowie • Kostenentwicklung. (2) Veränderung des Vergütungssystems Das zu Zweidritteln auf variable Bestandteile ausgerichtete Vergütungssystem wird an den Key Performance Indicators ausgerichtet: • Auf jeder Ebene der Vertriebshierarchie werden die beeinflussbaren Kostenkomponenten einbezogen (Vergütungsquoten, Gesamtkostenquoten einer Vertriebseinheit). • Die Geschäftsqualität wird zu einem wichtigen Korrektiv der produktionsbasierten Vergütung (Stornoquoten, Saldenentwicklung). • Der Geschäftsmix wird über jährliche Geschäftsplanvergütung gesteuert. (3) Aufbau eines Vertriebs-Informationssystems Im Rahmen eines anderthalb Jahre laufenden Projektes wird die Versorgung des Vertriebes mit Geschäftsinformationen des jeweiligen Verantwortungsbereiches über mehrere Einführungsstufen sichergestellt. Von vornherein wird über die Oberflächen- und Bedienkonzeption für hervorragende „Usability“ gesorgt. Wer sich im Internet problemlos bewegt, kann mit dem System ohne Schulung umgehen. Sinnvolle Analysepfade (drilldowns und slices) werden vorkonfektioniert. Die erfolgreiche Einführung wird abgesichert durch Online-Hilfe und Kennzahlendokumentation. Die Einführungsschritte lassen sich grob clustern in: 1.) Berichte zur Informationsbereitstellung mit Analysemöglichkeit. 2.) Potenzial-Berichte mit eingebauter Intelligenz (zum Beispiel Produktion nach Vermittlerklassifizierung, Cross-SellingBerichte). 3.) Verdichtete Management-Berichte und Benchmarking.
332
Jörg Hodann/Alexander Wulf
Der Einstieg in das Vertriebsinformationssystem erfolgt dabei über ein Portal (vgl. Abb. 18.9).
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 18.9: Portal des Vertriebsinformationssystems
Alle Berichte bilden jede Führungsebene beziehungsweise jeden Verantwortungsbereich ab und werden den jeweiligen Verantwortlichen mit den Daten ihres Verantwortungsbereiches regelmäßig aktualisiert zur Verfügung gestellt. Über einfache Auswahllisten können Analysen durch die Vertriebsverantwortlichen selbst ohne größeren Zeitaufwand erstellt werden. So können zum Beispiel Sichten auf einzelnen Sparten, Produktgruppen, Produkteigenschaften oder Vermittlereigenschaften erzeugt werden. Über vorkonfektionierte Drilldowns gelangt der User je nach Berechtigung von der Unternehmensebene über die Führungsebenen bis hinunter zur Sicht des einzelnen Vermittlers (vgl. Abb.18.10).
18 Innovative Vertriebskonzepte
333
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 18.10: Informationsbereitstellung mit Analysefunktionen
Spezielle Berichte geben Aufschluss über nicht genutzte Potenziale. Ein CrossSelling-Bericht zeigt den Zusammenhang zwischen des Produktionsvolumens eines Vertriebspartners (A1 bis D) und der Anzahl der vermittelten Produktgruppen (vgl. Abb. 18.11).
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 18.11: Cross-Selling als Beispiel für Potenzialberichte
334
Jörg Hodann/Alexander Wulf
Für jeden Verantwortungsbereich steht jederzeit eine Auswertungsmöglichkeit zur Verfügung, welcher Vermittler welche Produktgruppen vermittelt beziehungsweise noch nicht vermittelt (vgl. Abb. 18.12). Auf dieser Basis sind jederzeit ohne größere Analysen individuelle Verkaufsaktionen möglich.
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 18.12: Cross-Selling-Quoten der Vermittler
(4) Laufendes Benchmarking im Vertrieb Mit der letzten Einführungsstufe wurde unter anderem ein Benchmarkbericht mit Ampelsystematik für die Führungsstufen und die Maklerbetreuer eingeführt. Grundlage der Ampelsetzung ist eine Clusterung der Vertriebseinheiten, hier Maklerbetreuer, nach ihren Geschäftsergebnissen zu jeder Kennzahl in ein „Bestes“ beziehungsweise „Durchschnittliches“ beziehungsweise „Schwächstes“ Drittel. Alle Ergebnisse besser als Durchschnitt führen zu einer grünen Ampel. Ergebnisse unterhalb des Durchschnitts des schwächsten Drittes werden mit roter Ampel gekennzeichnet. Ergebnisse dazwischen erhalten eine gelbe Ampel. Um eine faire Beurteilung sicherzustellen, werden nur Ergebnisse der Führungskräfte und Mitarbeiter in die Clusterung einbezogen, die mindestens zwölf Monate in Verantwortung für diesen Bereich standen. Gleichzeitig wird nicht nur die 12-Monats-
18 Innovative Vertriebskonzepte
335
sicht ermittelt, sondern auch ein Durchschnitt von zwei beziehungsweise drei Jahren, um längerfristige Tendenzen berücksichtigen zu können. Die Wirkungszusammenhänge der Key Performance Indikators sind die Grundlage für die Auswahl der gebenchmarkten Kennzahlen. Natürlich ist die Produktionsentwicklung die wichtigste Kennzahl im Vertrieb. Produktion schafft jedoch nur dann Wert, wenn dadurch auch die Vertragsbestände wachsen und sich dadurch keine überdurchschnittlichen uneinbringlichen Forderungen gegenüber Vermittlern aufbauen. Ein wichtiger Aspekt für wertorientiertes Wachstum stellt der Orgaausbau dar: Produktionswachstum wird insbesondere durch eine erweiterte Marktfläche erreicht, also durch die Gewinnung und Produktivsetzung neuer Vertriebspartner (vgl. Abb. 18.13).
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 18.13: Benchmarkbericht für Maklerbetreuer
3.5
Wirkung
In der Kenntnis der Ursache-Wirkungszusammenhänge liegt die Voraussetzung für wertorientiertes Wachstum. Zielsetzungen und Vergütung für Führungskräfte und Mitarbeiter müssen sich daran orientieren. Insgesamt bedarf es eines wettbewerbsorientierten Klimas und einer Transparenz beziehungsweise Verfügbarkeit
336
Jörg Hodann/Alexander Wulf
der verantworteten Geschäftsergebnisse, um kontinuierliche Verbesserungsprozesse sicherzustellen. Im Rahmen des Benchmarking ist dabei insbesondere die Vertriebsführung gefordert, bei anhaltend roter Ampelbewertung auch Konsequenzen zu ziehen und Stellen gegebenenfalls mit erfolgversprechenden Kandidaten neu zu besetzen.
18 Innovative Vertriebskonzepte
337
Literatur Kaplan R./ Norton D. P.: Balanced Scorecard. Strategien erfolgreich umsetzen, Stuttgart 1997. Kaplan, R./Norton, D.: The Balanced Scorecard - Measures that Drive Performance. In: Harvard Business Review. Vol. 70 (1992), Nr. 1, pp. 71-79. Kerth, K./ Asum H.: Die besten Strategietools in der Praxis, 3. Aufl., München 2008. Kuhlmann, E.: Industrielles Vertriebsmanagement, München 2001. Schneider, D.: Unternehmensführung- Instrumente für das Management in der Postmoderne, Norderstedt 2007. Simon, W.: Moderne Managementkonzepte von A-Z, Offenbach 2002. Wöhe, G.: Einführung in die allgemeine Betriebswirtschaftslehre, 20. Aufl., München 2000.
Kapitel 19 Erfolgsfaktoren einer Auslagerung von IT-Infrastrukturservices Tim Braasch
1
Einleitung
1.1
IT-Outsourcing als Teil der Management-Strategie
Outsourcing, sprich die Auslagerung von Unternehmensaufgaben und -strukturen, ist seit langem in die Management-Strategie vieler Konzerne eingegangen. Der Begriff wurde zunächst auf IT-Infrastruktur oder auf IT-intensive Prozesse angewendet und in den 80er Jahren im Zusammenhang mit großen EDV-Outsourcingverträgen von General Motors und Eastman Kodak bekannt. Längst werden aber nicht nur die IT-Infrastruktur, sondern auch ganze Geschäftsprozesse ausgelagert. Dabei sind zwei Formen zu unterscheiden (vgl. Abb. 19.1):
Quelle: Roland Berger Strategy Consultants
Abb. 19.1: Outsouring-Typen
M.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing, DOI 10.1007/978-3-642-10276-9_19, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
340
Tim Braasch
Beim unternehmensinternen Outsourcing findet eine Verlagerung der Leistungserbringung innerhalb eines Konzerns von einem auf einen anderen Betrieb statt. Es kann auch zur Ausgründung in ein eigenes Tochterunternehmen kommen. Beim unternehmensexternen Outsourcing erfolgt eine Auftragsvergabe an Fremdfirmen – regional, bundesweit oder auch international (Near- und OffshoreOutsourcing). Der unternehmensexterne IT-Outsourcing-Markt hatte 2008 in Deutschland ein Volumen von ca. 10 Milliarden Euro. Das durchschnittliche jährliche Marktwachstum betrug zwischen 2002 und 2008 rund 10 Prozent. Und diese Entwicklung wird sich Studien zufolge fortsetzen (vgl. Abb. 19.2).
Quelle: Roland Berger Strategy Consultants, DB Research, Meta Group
Abb. 19.2: IT-Outsourcing-Markt Deutschland (Mrd. EUR)
1.2
Kriterien für eine Outsourcing-Entscheidung
Derzeit prägen Versicherungen und Banken die Outsourcing-Szenerie, insbesondere durch die Fremdvergabe von IT-Services. Ihre hohe Fertigungstiefe, das informationsintensive Geschäft mit einem hohen Standardisierungsgrad bei einem erheblichen Teil der IT sowie der intensive Kosten- und Konsolidierungsdruck der Branche sind dabei die treibenden Kräfte. Die Unternehmen lagern dabei ihre ITInfrastrukturen primär aus, um Kosten zu senken (Hebel sind dabei zum Beispiel die Desktop-Standardisierung oder die Rechenzentrum-Konsolidierung). Neben den reduzierten Personalkosten erscheint speziell die Kostenverringerung durch die Größenvorteile beim Insourcer attraktiv. Vorteilhaft ist, dass fixe Kosten in variable umgewandelt und unmittelbare Upgrade-Kosten für Hardware vermieden werden. Gerade im Versicherungsgewerbe wurden in den späten 1990er Jahren speziell im IT-Bereich zahlreiche Projekte initiiert und damit Kostenblöcke aufgebaut, die aus heutiger Sicht kritisch zu bewerten sind.
19 Erfolgsfaktoren einer Auslagerung von IT-Infrastrukturservices
341
Aber auch strategische Gründe, die unabhängig vom Kostendruck sind, sprechen für das Auslagern bestimmter Aufgaben. Mit dem Outsourcing von Bereichen, die nicht zum Kerngeschäft zählen, soll das strukturelle Wachstumspotenzial auch auf der Ertragsseite erhöht und dynamisiert werden. Eine schlankere Organisation, die sich auf ihre Kerngeschäftsfelder konzentriert, gewinnt an Schlagkraft. Auf der anderen Seite stehen die Risiken, die mit dem Outsourcing verbunden sind. Ein entscheidender Punkt ist die Qualität der ausgelagerten Prozesse, die nur indirekt beeinflusst werden kann. Durch das Outsourcing vor allem bei Schlüsselprozessen kommt es zu einer risikobehafteten Abhängigkeit von Drittunternehmen. Weiterhin ist der Schutz des Know-Hows bei der Vergabe von Leistungen an Dritte oft nicht sichergestellt. Auch informelle Kontakte zum Beispiel zwischen Fertigung und Konstruktion, aus denen neue Ideen für Verbesserungen entstehen, werden beim Outsourcing einzelner Prozesse oft unterbunden. Schließlich wird es schwer, sich beim Rückgriff auf externe Dienstleister, die prinzipiell auch den Konkurrenten zur Verfügung stehen, vom Wettbewerb zu differenzieren. Weil Outsourcing-Verträge in der Regel langfristig, also auf 5-10 Jahre ausgerichtet sind, hat die Entscheidung, Infrastrukturen oder Prozesse auszulagern, eine gewisse Endgültigkeit. Umso wichtiger ist eine gründliche Prüfung im Vorfeld. Dazu ist technische und organisatorische Kompetenz im Unternehmen erforderlich, die auch nach vollzogener Auslagerung nicht fremdvergeben werden kann. Neben der Anbieterauswahl, der Definition von Service Level Agreements usw. ist es wichtig, dass die eigenen Prozesse im Vorfeld standardisiert und Schnittstellen zu den Prozessen der Dienstleister klar definiert werden. Der Versuch, ungelöste Probleme unreflektiert durch Fremdvergabe loszuwerden, ist dagegen von vornherein zum Scheitern verurteilt. So mussten viele Unternehmen in der Anfangsphase der Outsourcing-Entwicklung schmerzhafte Erfahrungen machen. Kriselnde Projekte, ungeplante Mehrkosten, mangelnde Flexibilität der Anbieter und Frustration durch unklare Leistungsbeschreibungen sorgten für Ernüchterung. Hinzu kam, dass unzufriedene Kunden aufgrund der Abhängigkeit von ihrem Provider nicht ohne Weiteres aus den Verträgen herauskamen beziehungsweise nicht mehr das qualifizierte Personal hatten, um die Auslagerung rückgängig zu machen, weil der Provider im Rahmen des Outsourcing-Prozesses die interne Abteilung mit übernommen hatte. Heute tritt deshalb das sogenannte Second Generation Outsourcing in den Vordergrund. Drei Prinzipien bilden hier die Basis: • Die Kombination von Beratungs- und IT-Dienstleistungen: Die Partnerschaft zwischen Anbieter und Kunde wird dabei vertrauensvoller, weil der Anbieter den gesamten Entscheidungs- und Durchführungsprozess des Outsourcing-Projektes begleitet.
342
Tim Braasch
• Die Schaffung eines geschäftlichen Mehrwerts für den Kunden: Die Verbesserung der Geschäftsprozesse sowie die Einführung neuer IT müssen ihren Erfolg an einer sichtbaren Verbesserung der Geschäftszahlen messen lassen. • Der Aufbau einer langfristigen vertrauensvollen
Partnerschaft: Kommunikationswege sollten vereinbart und beide Seiten auf kulturelle Unterschiede sensibilisiert werden. Nach einer Due-Diligence-Prüfung sollte die Partnerschaft mit kleinen Projekten starten, die mit der Zeit wachsen können.
2
Marktentwicklung und Trends
2.1
Anbieter IT-Outsourcing
Die Auswahl des richtigen Anbieters ist aufgrund der hohen Abhängigkeit von entscheidender Bedeutung, und das umso mehr, je umfassender und unternehmenskritischer die auszulagernden Leistungen sind. Auf eine sorgfältige Prüfung und Bewertung der in Frage kommenden Firmen und ihrer Angebote sollte daher keinesfalls verzichtet werden, auch wenn dieser Auswahlprozess einige Monate dauert. Als Geburtsstunde der IT-Outsourcing-Industrie in Deutschland wird meist das Jahr 1990 angesetzt. Vor allem mit der Aufnahme der Geschäftstätigkeit durch die Debis ist dieser Wirtschaftszweig hierzulande angestoßen worden. Zu dieser Zeit gab es 13 Unternehmen, die ein komplettes IT-Outsourcing anboten (Deutsche Bank Research). Ihre Zahl stieg bis 2000 stetig auf 60 an. Bis Ende 2005 fiel die Zahl dann wieder auf 42 und stabilisierte sich im Folgejahr. Der Höhepunkt der Firmenzahl war nach zehn Jahren damit in relativ kurzer Zeit erreicht. Gleichzeitig wuchs die Nachfrage durchgängig. Die in Deutschland tätigen IT-Outsourcing-Anbieter lassen sich in drei Gruppen einteilen: • Internationale Anbieter, die schon auf einem anderen Markt IT-Outsourcing angeboten haben, bevor sie damit in Deutschland tätig wurden. • Die sogenannten nationalen IT-Diversifizierer sind Firmen aus Deutschland, die hier schon im Hard- und Software- oder Projektgeschäft tätig waren, bevor sie sich als Outsourcing-Anbieter aufgestellt haben. • Dritte Gruppe sind die Captive IT-Outsourcing-Anbieter, ausgegründete ITAbteilungen großer Konzerne Laut einer Studie der Deutsche Bank Research haben internationale Anbieter die größte Überlebenswahrscheinlichkeit auf dem Markt. Im Vergleich der anderen beiden Gruppen untereinander haben die Captives gegenüber den Diversifizierern in der Frühphase eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit. Dieses kehrt sich allerdings nach etwa zehn Jahren um. Sowohl internationale Anbieter als auch
19 Erfolgsfaktoren einer Auslagerung von IT-Infrastrukturservices
343
Diversifizierer erreichen nach sieben bis acht Jahren eine gewisse Stabilität, die Captives nicht. Ihre Überlebenswahrscheinlichkeit sinkt immer weiter und liegt nach etwa zwölf Jahren deutlich unter 25 Prozent – der Tod eines solchen Unternehmens ist also eher die Regel als die Ausnahme. Setzt sich dieser Trend fort, werden die Captives in einiger Zeit fast vollständig vom Markt für IT-Outsourcing verschwunden sein. Der Markt für das Komplett-Outsourcing großer Konzerne wird also von einigen großen Anbietern beherrscht. Im Bereich des selektiven Outsourcing findet sich dagegen eine große Zahl von spezialisierten Anbietern, die sich beispielsweise auf den Betrieb von Rechenzentren oder das Hosting spezieller Anwendungen konzentrieren. Auch die Ausgestaltung der jeweiligen Angebote kann ganz unterschiedlich ausfallen. Hierzu ein Überblick. • Eine Reihe großer Unternehmensberatungen bietet weltweites KomplettOutsourcing an (Accenture, Cap Gemini Ernst & Young etc.). • Große IT-Outsourcer. wie EDS. haben bereits langjährige Erfahrungen in diesem Bereich. • Auch eine Reihe von Softwareherstellern bieten Outsourcing-Leistungen an, meist spezialisiert auf den Betrieb und das Management der Anwendungen aus dem eigenen Hause (SAP, Oracle usw.). • Technologiefirmen, deren Kerngeschäft ursprünglich die Herstellung von Hardware war, konzentrieren sich als Outsourcer entweder auf die Bereitstellung und den Betrieb dieser Hardware (Hewlett Packard) oder bieten umfassende IT- und Outsourcing-Services an (IBM). • Große Telekommunikationsanbieter sind ebenfalls sehr stark am Outsourcing-Geschäft interessiert (Deutsche Telekom mit ihrer Service-Tochter TSystems). • IT Service-Anbieter kommen aus unterschiedlichen Bereichen, zum Beispiel Anwendungsentwicklung, Systemintegration oder IT-Beratung (Siemens Business Services).
2.2
Selektives Outsourcing
Falls sich einzelne Teil-Leistungen aus dem outsourcenden Gesamtpaket herauslösen lassen, kann es sinnvoll sein, zunächst mit einem kleinen Outsourcing-Projekt zu starten. Dadurch kann man den Dienstleister besser kennen lernen, bevor man einen umfangreicheren Vertrag abschließt. Nach den Analysen der Unternehmensberatung 67rockwell haben sich die Mega-Deals in der Vergangenheit ohnehin kaum rentiert. IT ist ein kritischer Erfolgsfaktor, deshalb ist von einer vollständigen Übergabe an einen Dienstleister (dazu gehören der Betrieb von Infrastruktur und Anwendungen, wie auch das Infrastruktur-Management und Anwendungsmanagement, zum Beispiel die Entwicklung neuer Anwendungen) eher abzuraten. Es gilt zu differenzieren, welche Teile der IT-Infrastruktur standardi-
344
Tim Braasch
siert werden können, und welche individueller Teil des Kerngeschäftes bleiben müssen. Werden nur ausgewählte IT-bezogene Aufgaben ausgelagert, so spricht man auch vom „selektiven Outsourcing“ oder „Outtasking“. Outtasking-Services gehen von der Konzipierung über den Betrieb bis zur Wartung der IT Systeme. Dabei wird operative IT-Verantwortung übernommen, jedoch bleibt die Kontrolle beim Kunden. Es wird nicht die komplette IT ausgelagert, sondern nur Teilbereiche, bei denen am dringendsten Entlastung benötigt wird. Beim Outsourcing von Anwendungen unterscheidet man als „Hosting“ bezeichnete Szenarien, bei denen diese jeweils exklusiv für den Kunden auf dedizierter Hardware bereitgestellt und betrieben werden. Ferner gibt es „Application Service Providing" (ASP)-Szenarien, bei denen der Kunde die entsprechenden Anwendungen einfach, zum Beispiel über eine VPN-Anbindung (Virtual Private Network), nutzt und der Provider beispielsweise selbstständig entscheiden kann, auf welcher Hardware er diese betreibt, um die vereinbarten Service Levels einzuhalten.
3
Chancen und Risiken
3.1
Vorteile des selektiven IT-Outsourcing
Das Auslagern ausgewählter IT-Prozesse kann Kosten reduzieren und die strategische Wettbewerbsposition verbessern. Die moderne IT erlaubt informationsintensiven Dienstleistern mit einer hohen Fertigungstiefe, speziell Kreditinstituten und Versicherern, schlanker zu werden, um sich auf ihre Kernkompetenzen zu konzentrieren. Insofern ist das „Fitnessprogramm Outsourcing“ strategisch durchaus erfolgversprechend. Folgende lassen sich konstatieren (vgl. Deutsche Bank Research): • Einsparpotenziale Durch die Spezialisierung auf bestimmte Aufgaben sowie Skaleneffekte, wie sie beispielsweise beim gemeinsamen Nutzen eines Rechenzentrums durch viele Kunden auftreten, können Leistungen von einem Dienstleister oftmals zu geringeren Kosten erbracht werden als dieses dem Unternehmen selbst möglich wäre. Hinzu kommt, dass das Unternehmen selbst keine hohen Investitionskosten für den Aufbau einer Infrastruktur tragen muss, sondern lediglich laufende Kosten in Form von Gebühren des Dienstleisters anfallen. Durch Outsourcing werden fixe Kosten variabilisiert. Dies ist gerade bei ITInfrastruktur-Outsourcing ein entscheidender Treiber (Utility Pricing Model).
19 Erfolgsfaktoren einer Auslagerung von IT-Infrastrukturservices
345
• Flexibilität Die bezogenen Leistungen können flexibel an den anfallenden Bedarf angepasst werden. Das Unternehmen muss somit keine überdimensionierten ITRessourcen vorhalten, um Bedarfsspitzen abdecken zu können. • Transparenz Während im eigenen Unternehmen die Ermittlung der tatsächlichen Kosten einer Leistung sehr schwierig sein kann, gehen diese im Outsourcing-Fall klar aus dem Vertrag und aus den Abrechnungen hervor. • Konzentration Wenn standardisierbare Aufgaben nach außen gegeben werden, wird das Management entlastet. Es kann sich somit stärker auf seine Kernkompetenzen konzentrieren, mit denen es sich vom Wettbewerb abhebt. • Know-how Für selbst durchgeführte Tätigkeiten muss im Unternehmen das erforderliche Know-how vorhanden sein und ständig weiter entwickelt werden. Häufig fällt es gerade kleineren Unternehmen schwer, genügend entsprechend spezialisierte Mitarbeiter zu beschäftigen, oder es entsteht eine hohe Abhängigkeit von Einzelpersonen. Wird die Aufgabe einem Dienstleister übertragen, muss dieser über das notwendige Know-how verfügen. Einem solchen Dienstleister fällt es auch leichter, die rasante technische Entwicklung im Auge zu behalten, neue Technologien und Software Releases einzuführen. Dieses gilt vor allem für häufig eingesetzte Standard-Anwendungen. • Sicherheit Auch wenn die Tätigkeiten, die sich auslagern lassen, im Normalfall nicht wettbewerbsentscheidend sind, können entstehende Probleme dennoch zu einer ernsten Gefahr für das Unternehmen werden. So summieren sich die Schäden beim längeren Ausfall eines Rechenzentrums leicht auf Millionenbeträge. Mit dem Outsourcing des Rechenzentrumsbetriebs und ähnlicher Aufgaben wird das Unternehmen selbst von diesem Risiko entlastet, da nun der Outsourcing-Dienstleister für die vereinbarten Leistungen zuständig ist und hierfür auch haftet. • Qualität Um eine Aufgabe outsourcen zu können, muss eine standardisierte Leistung mit einem definierten Service Level vereinbart werden, das heisst mit garantierten Verfügbarkeiten, Reaktionszeiten und Qualitätsniveaus. Innerhalb des eigenen Unternehmens ist es aufgrund gewachsener Strukturen dagegen oft sehr schwer, entsprechende Leistungsdefinitionen und Service LevelVereinbarungen einzuführen und durchzusetzen. Outsourcing bietet somit die Chance, die jeweiligen Leistungen in stets gleichbleibend hoher Qualität, Zuverlässigkeit und Sicherheit zu erhalten. Das wirkt sich letztlich auch positiv auf die Qualität der Kernprozesse aus.
346
Tim Braasch
3.2
Outsourcing-Risiken
Bei der Fremdvergabe gibt der Outsourcer „das Heft aus der Hand“. Ob und inwieweit die Angaben in einem Angebot wirklich zutreffen oder wie verlässlich die Reputation eines Anbieters sind, ist letztlich für den Auftraggeber schwer einzuschätzen. Für eine gewisse Sicherheit sorgen in der Regel detaillierte Verträge inklusive Service Level Agreements. Es besteht jedoch die Gefahr, dass die erforderlichen Kontrollkosten die erwartete Kostensenkung durch das Outsourcing neutralisieren. Insofern ist auch hier eine genaue Prüfung erforderlich. Folgende Nachteile lassen sich nennen (vgl. Deutsche Bank Research): • Abhängigkeit Das outsourcende Unternehmen begibt sich in eine hohe Abhängigkeit von seinem Dienstleister. Outsourcing-Verträge laufen meist mehrere Jahre, und die Übergabe von IT-Ressourcen an den Dienstleister erfordert einigen Aufwand für beide Partner. Deshalb kommen ein Wechsel des OutsourcingProviders beziehungsweise ein Inhousing - also die Rückführung der ausgelagerten Aktivitäten ins eigene Unternehmen - meist nur als ultima ratio in Betracht. Stellt sich erst im Laufe der Zeit heraus, dass der Dienstleister nicht den Anforderungen entspricht, hat der Kunde nur begrenzte Möglichkeiten, die Situation zu verbessern. Ein schlechter Dienstleister kann somit zu einer echten Gefahr für das Unternehmen werden. Da zumeist sensible Daten und unternehmenskritische Prozesse und Anwendungen nach außen gegeben werden, besteht prinzipiell die Gefahr eines Missbrauches oder eines HackerAngriffes, falls beim Provider Sicherheitslecks auftreten. Auch eine Insolvenz des Dienstleisters kann den Kunden in ernsthafte Schwierigkeiten bringen. • Herrschaftswissen Die Abhängigkeit von einem Provider wird dadurch verstärkt, dass für ausgelagerte Tätigkeiten das entsprechende Know-how nicht mehr im Unternehmen selbst vorhanden ist. Somit ist das Unternehmen auch nicht mehr in der Lage, diese Aktivitäten im Notfall wieder selbst durchzuführen. Während dieses für Standard-Prozesse und Tätigkeiten nicht allzu kritisch ist, kann es bei stark unternehmensindividuell angepassten Leistungen im Ernstfall zu einem großen Problem werden. • Leistungsstarre Auch die Kontrolle des Unternehmens darüber, wie die entsprechenden Tätigkeiten durchgeführt werden, geht – je nach Art des Outsourcing-Vertrages – weitgehend verloren. Hierfür ist der Dienstleister verantwortlich, und lediglich die zu erbringenden Leistungen werden spezifiziert. Wurden diese zuvor nicht ausreichend genau und vollständig beschrieben, führt dieses häufig zu Konflikten, weil der Dienstleister zum vereinbarten Preis in der Regel nur bereit ist, die tatsächlich schriftlich fixierten Leistungen zu erbringen. Erforderliche Änderungen kann sich der Dienstleister teuer bezahlen lassen, da
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sich der Kunde aufgrund seiner Abhängigkeit in der schlechteren Verhandlungsposition befindet. • Kontrollkosten Den niedrigeren Produktionskosten stehen erhöhte Kontrollkosten gegenüber. • Qualitätsmängel Die Qualitätsmessung der bezogenen Leistungen ist schwierig, da der Kunde meist selbst nicht über das geeignete Instrumentarium verfügt, um zum Beispiel die tatsächlich erreichte Verfügbarkeit einer Anwendungs-Software zu prüfen. • Schnittstellen Durch das Outsourcen entstehen neue organisatorische und technische Schnittstellen. Insbesondere organisatorische Schnittstellen, zum Beispiel das Zusammenspiel von Anwendern, internen Applikations-Experten und externem Support generieren zusätzlichen Aufwand und stellen eine mögliche Ursache von Problemen dar. Die erforderliche Koordination mit dem Provider erzeugt zusätzlichen Aufwand, der die Kostenvorteile unter Umständen deutlich reduziert. Verzichtet man andererseits auf ein sorgfältiges Management der Outsourcing-Beziehung, steigt das Risiko des Scheiterns des Projektes beziehungsweise des Nichteintretens der erhofften Vorteile. • Personal Die mit einem Outsourcing-Projekt einhergehenden Veränderungen im Unternehmen wecken naturgemäß Ängste und Widerstände bei den betroffenen Mitarbeitern. Hier kommt einem funktionierenden Change Managements eine große Bedeutung zu. • Problemverlagerung In manchen Fällen wird die Entscheidung für ein IT-Outsourcing aufgrund gravierender Probleme innerhalb des eigenen IT-Bereiches getroffen. Dabei spielt die Hoffnung eine Rolle, durch die Übergabe dieser Aufgaben an einen externen Dienstleister könne man sich dieser Probleme relativ einfach entledigen. Dieses ist höchst problematisch, da die Voraussetzung für ein erfolgreiches Outsourcing gerade die Schaffung funktionierender, standardisierter Prozesse und Anwendungen ist. Somit ist die Lösung der existierenden Probleme vor der Auslagerung von IT-Aufgaben erforderlich; ansonsten ist ein Fehlschlag wahrscheinlich.
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Tim Braasch
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Erfolgsfaktoren für die IT-Auslagerung
4.1
Projektorganisation
Die gründliche Vorbereitung ist maßgeblich für den gewünschten Auslagerungserfolg. Dazu gehört nicht zuletzt eine eigene Projektorganisation, um zu gewährleisten, dass • • • •
die Komplexität strukturiert und damit vermindert wird, der Umfang gegliedert und damit übersehbar und handhabbar wird, die unterschiedlichen Fachgebiete wohl abgestimmt tätig werden und die zeitliche Endlichkeit auch erreicht wird (vgl. Pitter 2000, S. 25ff.).
Es hat sich bewährt, eine Projektorganisation grob in drei Aufgaben- und Verantwortungsbereiche zu untergliedern. Dieses ist die Projektleitung, die für das gesamte operative Management des Projektes zuständig ist, das Projektteam, das die eigentliche Projektarbeit übernimmt, und der Lenkungsausschuss, der als höchstes Gremium letztgültige Entscheidungen trifft, beispielsweise den Projekterfolg feststellen oder das Projekt abbrechen kann (vgl. Abb. 19.3).
Quelle: 67rockwell Consulting
Abb. 19.3 : Projektorganisation
4.2
Zehn Erfolgsfaktoren für das IT-Outsourcing
Die richtige Zusammensetzung des Teams ist wichtig für den Erfolg des Projektes. Projektmitglieder werden mit unterschiedlichen Aufgaben- und Verantwortungs-
19 Erfolgsfaktoren einer Auslagerung von IT-Infrastrukturservices
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bereichen in einer partnerschaftlichen Atmosphäre für ein zielgerichtetes Arbeiten verbunden. Unterschiedlichen Fachkompetenzen der Mitglieder sind zu berücksichtigen. Grundlage für die Projektarbeit „IT-Outsourcing“ ist eine Übereinstimmung darüber, welche Faktoren den Erfolg der selektiven Auslagerung von Dienstleistungen ausmachen. Nach der Erfahrung von 67rockwell Consulting kommt es im Wesentlichen auf folgende zehn Punkte an: 1. Klares Verständnis über die strategischen Zielsetzungen, die mit der Auslagerung der IT-Funktionen verfolgt werden, inklusive Aussagen zum präferierten Auslagerungs-Modell (Single- vs. Multisourcing). 2. Genaue Analyse der Gesamtkosten für IT-Infrastrukturservices/Total-CostOf-Ownership, inklusive zugehöriger Mengen, Service-Qualitäten und deren Entwicklung (beispielsweise Anschaffungskosten für Hard- und Software, Kosten für Personal, Ausstattung und Sicherheit ...). 3. Entwicklung eines geeigneten IT-Service-Modelles, welches die zukünftige IT-Organisation und -Prozesse sowie den notwendigen Veränderungsbedarf beschreibt und insbesondere Aussagen zur IT-Governance und Retained Organisation (zentrale Schnittstelle zu den IT-Serviceprovidern/dem IT-Serviceprovider) macht. 4. Detaillierte Beschreibung der auszulagernden Leistungen (Ausschreibungsumfang) durch den Servicenehmer unter Berücksichtigung des präferierten Auslagerungs-Modelles und eventueller Abhängigkeiten der Leistungen untereinander (inklusive Sicherstellung eines gemeinsamen Verständnisses bei allen Beteiligten über die Inhalte). 5. Absicherung der Leistungsvereinbarungen mit Hilfe geeigneter ServiceLevel-Agreements, inklusive Bonus-/Malusregelungen auf Basis definierter Reportingprozesse. 6. Erstellung eines übergreifenden Business Cases unter Berücksichtigung von Total-Cost-Of-Ownership, internen Optimierungsansätzen, Transitions- und Transformationskosten, eventuellen Exit-Kosten sowie erwarteten Mehrwerten der Service-Provider/des Service-Providers. 7. Schaffung eines grundlegenden gemeinsamen Verständnisses zwischen Servicenehmer und Servicegeber über die Notwendigkeiten und Vorgehensweisen in der Transition und Transformation (insbesondere beiderseitiges aktives Management einhergehender Risiken auf Seiten des Servicenehmers). 8. Festlegung einer geeigneten Verhandlungsstrategie und vertragliche Ausgestaltung unter besonderer Berücksichtigung steuerlicher, regulatorischer und arbeitsrechtlicher Aspekte. 9. Gezieltes Management der Personalfragestellungen (Mitarbeitertransfer/-entwicklung, Vertragsgestaltung, ....) unter besonderer Berücksichtigung kultureller und sozialer Veränderungsbedarfe. 10. Unterstützung des gesamten Auslagerungsprozesses durch Experten mit nachgewiesenen Kenntnissen in oben angegebene Fragestellung.
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Die folgende Abbildung zeigt ein beispielhaftes Vorgehensmodell zur Auslagerung von IT-Prozessen (vgl. Abb. 19.4):
Quelle: 67rockwell Consulting
Abb. 19.4: Roadmap - beispielhaftes Vorgehensmodell zur Auslagerung von IT-Services
5 Zusammenfassung Das Outsourcing im IT-Bereich ist mittlerweile ein bewährtes Werkzeug des Unternehmensmanagements. In vielen Bereichen ist die Vergabe von IT-Aufgaben nach außen eine vielversprechende Alternative zur Eigenerbringung dieser Leistungen. Wer Outsourcing hier nicht zumindest als Option in Betracht zieht, vergibt große Chancen.
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Auf der anderen Seite ist IT-Outsourcing mit Risiken behaftet, die es zu beachten gilt. Firmen, die das Thema mit der gebotenen Sorgfalt angehen und dort Outsourcing-Entscheidungen treffen, wo sich konkret nachweisbare Vorteile ergeben, werden dennoch stark vom IT-Outsourcing profitieren. Durch reine Kostenargumente lassen sich Outsourcing-Projekte vor allem bei selektivem Outsourcing von sehr begrenzten, klar überblickbaren Aufgaben begründen. Wichtig: Outsourcing-Entscheidungen sind stets individuelle Entscheidungen, die die Besonderheiten des jeweiligen Unternehmens berücksichtigen müssen. IT-Outsourcing ist deshalb kein reines IT-, sondern ein Thema auf Führungsebene. Voraussetzung für erfolgreiche Outsourcing-Strategien ist insbesondere eine klare Entscheidung, welche Prozesse zu den Kernaufgaben des Unternehmens gehören. Und: Outsourcing-Entscheidungen müssen eingebettet sein in eine stimmige Gesamtarchitektur der Unternehmensprozesse, innerhalb derer dann entschieden werden kann, welche Aufgaben intern und welche extern durchzuführen sind. Keinesfalls sollte versucht werden, bestehende Probleme unreflektiert durch Vergabe des betreffenden Aufgabengebietes an einen Outsourcer loszuwerden. Outsourcing-Projekte müssen sorgfältig vorbereitet werden. Neben der Anbieterauswahl, der Definition von Service Level Agreements usw. gehören dazu insbesondere die Standardisierung der eigenen Prozesse und die Schaffung definierter Prozess-Schnittstellen zu den Prozessen der Dienstleister. Eine bestehende Outsourcing-Beziehung bedarf der ständigen Steuerung und Weiterentwicklung von Seiten des Kunden. Der Fokus der Outsourcing-Aktivitäten bewegt sich derzeit von der InfrastrukturEbene über die Anwendungs-Ebene hin zur Geschäftsprozess-Ebene. Es ist zu erwarten, dass dieser Trend anhalten wird. „Zukunftsmusik“ sind momentan auch weitere heiß diskutierte Themen, wie „IT Utility“ oder Computing „On Demand“, das heißt, der beliebige Bezug von Rechenleistung nach Bedarf. Dies wird für viele Unternehmen eine realistische Option, sobald sich das Thema Grid-Computing etabliert hat (ermöglicht eine bedarfsorientierte Nutzung von Rechnerkapazitäten quasi aus der Steckdose) und die nötigen Kapazitäten zur Verfügung stehen. Für die meisten Unternehmen insbesondere im Versicherungssektor ist heute eine Konzentration auf das selektive IT-Outsourcing empfehlenswert.
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Tim Braasch
Literatur Aubert, B.A./Rivard, S./Patry, M.: A Transaction Cost Approach to Outsourcing Behaviour: Some Empirical Evidence, in: Information & Management, Nr. 30, 1996. Deutsche Bank Research: IT-Outsourcing: Zwischen Hungerkur und Nouvelle Cuisine, e-conomics Nr. 43, 6. April 2004. Deutsche Bank Research: The Captives' End – Lebenszyklusmuster in der Entwicklung der deutschen IT-Otusourcing-Industrie, Studie 2009. Henkel, J./Kaiser, U.: Fremdvergabe von IT-Dienstleistungen aus personalwirtschaftlicher Sicht, ZEW Discussion Paper No. 02-11 2003. Lacity, M. C./Hirschheim, R.: Information Systems Outsourcing. Myths, Metaphors and Realities, New York u.a., 1993. Nam, K./Rajagopalan, S./Rao, H.R./Chaudhury, A.: Dimensions of Outsourcing: A Transaction Cost Framework, in: Mehdi Khosrowpour (Hrsg.), Managing Information Technology Investments With Outsourcing, Harrisburg u.a. 1995. Picot, A./Maier, M.: Analyse- und Gestaltungskonzepte für das Outsourcing, in: Information Management, Heft 4, 1992. Pitter A. Steinbuch: Projektorganisation und Projektmanagement, 2000. Wassermann, J. : Business Process Outsourcing – Strategische Handlungsoptionen vor dem Hintergrund der Industrialisierung im Bank- und Versicherungsgewerbe, VDM Verlag, 2008. Williamson, O. E.: Markets and Hierarchies: Analysis and Antitrust Implications, New York 1975.
Kapitel 20 Effektive Personalauswahl Dr. Michael Reich/Oliver Pietzsch
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Einführung
Vor dem derzeitigen Hintergrund eines global um sich greifenden Wirtschaftsabschwunges und sich gleichzeitig verändernder rechtlicher Rahmenbedingungen sind erfolgreiche und zukunftssichernde Aktivitäten innerhalb der Versicherungsbranche nur mit den richtigen Entscheidungen zu realisieren. Für die erfolgreiche Umsetzung strategisch wichtiger Weichenstellungen bedarf es einer starken Belegschaft mit hoch motivierten und hoch qualifizierten Mitarbeitern. Deshalb ist eine zentrale Voraussetzung des erfolgreichen Versicherungsmanagements eine effektive Personalauswahl. Dabei ist es entscheidend entsprechend der Aufgabenspezifika relevante Bewerber auf das eigene Unternehmen aufmerksam zu machen und letztendlich die richtigen Bewerber aus der Gesamtheit aller Bewerber auszuwählen. Zu diesem Zwecke ist stets eine Zusammenarbeit der Personalabteilung mit den Fachbereichen notwendig. Um das Ziel der effizienten Personalauswahl zu erreichen, sind im Personalauswahlprozess unter anderem Entscheidungen hinsichtlich des Personalmarketings und der zu verwendenden Auswahlverfahren zu treffen. Das Personalauswahlverfahren sollte so gestaltet sein, dass es im Wesentlichen drei Gütekriterien erfüllt: Zum Ersten sollte es objektiv sein, das heisst, die Messwerte sollten weitestgehend unabhängig vom Auswählenden sein. Weiterhin sollte das Auswahlverfahren eine Reliabilität aufweisen, das heisst, die Ergebnisse der Auswahlmethode sollten nicht vom Zeitpunkt abhängen und bei Wiederholung die gleichen Messwerte aufweisen. Abschließend sollte das verwendete Verfahren eine prognostische Validität aufzeigen. Dieses bedeutet, dass die Interviewergebnisse in einem möglichst engen Zusammenhang mit dem späteren Berufserfolg stehen. Dieses schließt mit ein, dass ein Auswahlverfahren nach eignungsdiagnostischen Standards konstruiert und konzipiert werden sollte. Das verwendete Auswahlverfahren sollte die genannten Kriterien umfassend erfüllen (vgl. Jetter 2008, S. 73 f.). Unter dem Aspekt der prognostischen Validität kann aus empirischen Gesichtspunkten belegt werden, dass die Verwendung eines strukturierten AuswahlM.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing, DOI 10.1007/978-3-642-10276-9_20, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
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prozesses, begleitet durch ein strukturiertes Interview, die Wahrscheinlichkeit, den richtigen Mitarbeiter zu identifizieren und für sein Unternehmen zu gewinnen, deutlich erhöht wird (vgl. Huffcutt/Arthur 1994, S. 184 f.; Campion/Palmer 1997, S. 655 f.). In Erweiterung zu den empirischen Studien über den Erfolg systematisierter Personalauswahlprozesse mit Hilfe strukturierter Einstellinterviews soll der vorliegende Beitrag den Nutzengewinn anhand eines erfolgreich realisierten Projektes aus der deutschen Versicherungslandschaft verdeutlichen. Dabei lässt sich vorwegnehmen, dass die Personalauswahlergebnisse mit strukturierten Interviews in Kombination mit einer im Vorfelde klar definierten Vorstellung der mitarbeiterspezifischen Erfolgsfaktoren deutlich verbessert werden konnten. Eine solche Definition von Erfolgsfaktoren wurde durch die Formulierung von präzisen Anforderungsprofilen vorgenommen. Unter der konzeptionellen Begleitung der Bewerbersuche und -auswahl innerhalb des Rekrutierungsprozesses durch die auf die Versicherungswirtschaft spezialisierte Unternehmensberatung 67rockwell gelang es zudem, nicht nur die richtigen Mitarbeiter zu identifizieren, sondern es konnten gleichzeitig Kosten- und Zeitvorteile realisiert werden. Nach einer Beschreibung der vorausgegangen strategischen Entscheidung des Aufbaus einer neuen Unternehmenseinheit, werden die spezifischen Anforderungen an die damit verbundene Personalauswahl skizziert. Anschließend erfolgt die Beschreibung der erfolgreich verlaufenden Zusammenarbeit des Fach- und Personalbereiches im Rahmen des vorgestellten Personalauswahlprojektes. Dabei werden die wesentlichen Erfolgstreiber hervorgehoben. Abschließend werden die Erfahrungen und Ergebnisse zusammengefasst.
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Innovatives Konzept zur effizienten Durchführung von Großprojekten zwischen Fachbereichen und der IT
Der betrachtete Versicherer ist Teil einer Versicherungsholding und bietet Privatkunden und Firmenkunden umfassenden Versicherungsschutz. Die Fachbereiche des Versicherers koordinieren neben ihrem Kerngeschäft ebenfalls die anfallenden IT-Themen. Dieses beinhaltet auch die Steuerung zentraler Aufgaben und Prozesse mit Bezug zur zentralen IT in der Holdinggesellschaft. Jedoch konnten die Schnittstellenfunktionen zwischen den Fachbereichen und der IT nicht systematisch wahrgenommen werden. Dieses führte grundsätzlich zu Problemen: •
Aufgrund fehlender Verantwortlichkeiten durch die nicht vorhandene Organisationseinheit gab es keine zentrale Anlaufstelle für die IT in den Fachbereichen des Versicherers.
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• •
• •
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Für die Zusammenarbeit der Fachbereiche mit der IT fehlten eindeutige Prozesse. Die Vielzahl an Schnittstellen zwischen dem Fachbereich und dem ITBereich führte zu extrem hohen Kosten durch Reibungsverluste an diesen Schnittstellen. Die Fachbereiche konnten eigene Themenstellungen nur eingeschränkt bearbeiten. Themen mit IT-Bezug wurden nicht unter Berücksichtigung des gesamten Unternehmens konzipiert und entwickelt, sondern berücksichtigten häufig nur die Interessen einzelner Fachbereiche.
Zur Entlastung der Fachbereiche in IT-spezifischen Fragestellungen ist eine zentrale IT-Koordinationseinheit eingerichtet worden. Diese hat die übergreifenden IT-spezifischen Themen übernommen und somit die Fachbereiche entlastet. Neue Kernthemen der zentralen IT-Koordinationseinheit sind sämtliche Themen mit ITBezug, insbesondere die Gestaltung der IT-Strategie aus fachlicher Sicht und die Weiterentwicklung der IT-gestützten Geschäftsprozesse.
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Anforderungen an das Personalauswahlverfahren
In der Dimensionierung wurde der neu konzipierte Bereich mit 12 neuen Mitarbeitern besetzt. Die offenen Stellen wurden dabei sowohl durch interne als auch durch externe Mitarbeiter vom Markt besetzt. Diese Rahmenbedingungen stellten sowohl den Fach- als auch den Personalbereich vor besondere Herausforderungen. Die Aufgaben innerhalb der IT-Koordinationseinheit erfordern überwiegend ITund Business-Consulting-Fähigkeiten mit Projektmanagement- und Versicherungserfahrung. Aufgrund der strategisch wichtigen Rolle der IT-Koordinationseinheit ist der qualitative Anspruch an die dort tätigen Mitarbeiter und somit auch an die Personalauswahl hoch. Dieses führte unter anderem dazu, dass sich die Auswahl der künftigen Mitarbeiter an deren ganzheitlichem Persönlichkeitsprofil orientierte. Dabei musste sichergestellt werden, dass ein in Frage kommender zukünftiger Mitarbeiter sowohl die persönliche, fachliche als auch soziale Kompetenz mitbringt, die die erfolgreiche Bewältigung der Aufgaben erfordert. Durch den etablierten Personalauswahlprozess war eine solche Zielvorstellung nicht vollumfänglich realisierbar. Vielmehr musste sich der gesamte Personalauswahlprozess am übergeordneten strategischen Leitbild orientieren. Für den nachhaltigen Erfolg der strategischen Entscheidung des Aufbaus einer für die fachliche IT-Strategie zuständigen Organisationseinheit sind die richtigen, hoch qualifizierten Mitarbeiter entscheidend. Weiterer Voraussetzung bei der Gestaltung einer effektiven Personalauswahl ist die wirtschaftliche Tragfähigkeit. Den gestiegenen Anforderungen an den Perso-
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nalauswahlprozess ist mit kosten- und zeitspezifisch vertretbaren Konzepten zu begegnen (vgl. Abb. 20.1).
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Jetter 2008, S. 20
Abb. 20.1: 6 Säulen des Rekrutierungsprozesses
Nachhaltige Erfolge sind nur dann erreichbar, wenn es einem Unternehmen gelingt, die richtigen Mitarbeiter zu interessieren, auszuwählen und an das Unternehmen zu binden. Aus diesem Grunde ist es ein zentraler Bestandteil der effektiven Personalauswahl, auf dem Arbeitsmarkt präsent und für die anvisierte Zielgruppe attraktiv zu sein. Sollte bereits in der extern wahrnehmbaren Attraktivität ein Defizit bestehen, ist dieses auch durch sehr gute Auswahlmethoden nicht wettzumachen. Demnach ist es bereits notwendig, nach der strategischen Personalplanung auf der zweiten Stufe des ganzheitlichen Rekrutierungsprozesses die Weichen für eine erfolgreiche Bewerbersuche mit anschließender Auswahl zu stellen. Eine zentrale Zielsetzung in einem angespannten Arbeitsmarktumfeld ist die Generierung einer ausreichenden Anzahl qualifizierter eingehender Bewerbungen. Voraussetzung ist, neben systematischer Personalplanung und Imagewerbung, die planvolle Bewerbersuche (Scouting). Dabei ist es nicht aufwandsgerecht, eine maximale Anzahl an Inseraten über eine Vielzahl von Kontaktwegen zu erstellen; vielmehr sollte eine Auswahl an Möglichkeiten der Bewerberansprache entsprechend der erarbeiteten Anforderungsprofile getroffen werden. Zudem sollte bei der Formulierung der Stellenanzeigen berücksichtigt werden, dass Interesse bei passenden Bewerbern erzeugt wird. Die Anforderungen an die Mitarbeiter der IT-Koordinationseinheit führen zudem zu einer Einschränkung in den möglichen Auswahlmethoden. Bestimmten noch in der letzten Dekade regelmäßig verwendete Methoden, wie psychologische Tests oder Intelligenztests, den Auswahlprozess, so werden diese den hohen Anforderungen der modernen Personalauswahl nicht mehr gerecht. Insbesondere deren soziale Validität entspricht nicht den Anforderungen an ein zeitgemäßes Aus-
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wahlverfahren (vgl. Jetter 2008, S. 79). Eine Durchführung von reinen Assessment Centern kam im Hinblick auf deren Ausrichtung auf eine unmittelbare Konkurrenzsituation und den mit dieser Auswahlmethode verbundenem zeitlichen Aufwand, insbesondere für die Fachbereichsverantwortlichen, nicht in Frage. Die Personalauswahlmethode, die sämtlichen Anforderungen des Bereichsaufbaus gerecht wird, ist das strukturierte Interview. Dieses kann wie folgt definiert werden. „Ein Einstellinterview ist ein zweiseitiger Austausch von arbeitsrelevanten Informationen zwischen Repräsentanten des Unternehmens und Bewerbern mit dem der Interviewer a) mit der Arbeit verbundenes Wissen, Fähigkeiten und Begabungen, b) die Motivation, c) die Wertvorstellungen und d) die Verlässlichkeit des Bewerbers erfragt mit dem Leitziel, hoch qualifizierte Arbeitskräfte für das Unternehmen zu interessieren, zu selektieren und einzustellen“ (Eder/Harris 1999, S. 20). Um anhand des Einstellinterviews eine, die drei Gütekriterien erfüllende Personalauswahl zu treffen, ist es allerdings in den meisten Fällen nicht ausreichend, dieses in einer herkömmlichen unstrukturierten Form durchzuführen. Eine Befragung unter Rekrutierungsverantwortlichen hat ergeben, dass die Hauptprobleme bei der Personalauswahl im Erkennen der benötigten Informationen, des Stellens der richtigen Fragen, des Erkennens vorbereiteter Antworten und des richtigen Bewertens der Aussagen des Bewerbers bestehen. Zudem existieren Probleme in der anschließenden Entscheidungsfindung. Die genannten Probleme können jedoch durch eine klare Strukturierung gemindert beziehungsweise vollständig umgangen werden (vgl. Goodale 1989, S. 308ff.). Im Rahmen der Herausforderung des Auf- und Ausbaus eines neuen strategisch relevanten Bereiches ist das strukturierte Interview der herkömmlichen Form des Einstellungsgespräches überlegen. Dabei haben sich in wissenschaftlichen Studien drei Strukturierungselemente als erfolgsentscheidend herausgestellt. Diesbezüglich werden Elemente, die sich auf den Inhalt des Interviews, den Interviewer und auf die Auswertung des Interviews beziehen, unterschieden. Zur Unterstützung des Bereichsaufbaus und der damit einhergehenden Personalauswahl unter Verwendung der vorgenannten Elemente wurde auf externe Unterstützung zurückgegriffen. Die Unternehmensberatung 67rockwell hat gemeinsam mit dem Personalbereich den gesamten Auswahlprozess geplant, strukturiert und durchgeführt.
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Zusammenarbeit zwischen Personalbereich und Fachabteilungen
Unter Berücksichtigung der zuvor beschriebenen wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Personalauswahl wurde sich für die Auswahlmethode des strukturierten Einstellinterviews entschieden. Unter Beachtung der einzelnen Strukturierungselemente wurden in einem ersten Schritt Anforderungsprofile für die zu besetzen-
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den Stellen entwickelt. Im Rahmen eines systematischen, bereichsübergreifenden Vorgehens erfolgte die Erstellung der Anforderungsprofile in enger Zusammenarbeit zwischen der Personalabteilung und dem Fachbereich. Zur Formulierung eines Anforderungsprofiles kommen verschiedene Methoden in Frage: Entsprechend der Herausforderung des Aufbaus eines vollständig neuen Bereiches wurde die „critical incidents Methode“ angewendet. Diese Methode verfolgt die Zielsetzung, notwendige Informationen über besonders effektives Arbeitsverhalten in erfolgskritischen Situationen zu gewinnen. Als erfolgskritische Situationen werden stellenspezifisch solche Situationen verstanden in denen erfolgreiche Mitarbeiter bestimmte, sich bietende Gelegenheiten beziehungsweise Chancen nutzen. Der wesentliche Nutzen dieser Methode ist die Gewinnung verhaltensorientierter Informationen. Diese werden als Grundlage für nachvollziehbare und beobachtbare Anforderungsprofile verwendet. Damit wird sowohl eine sehr gute Basis für die Informationssammlung beziehungsweise für die spätere Beurteilung geschaffen als auch die Erfüllung des Gütekriteriums Objektivität sichergestellt. Diese Methode liefert eine gute Datenbasis für strukturierte Interviews. Ein Nachteil besteht darin, dass dieses Verfahren ohne entsprechende Erfahrung in der Einführungsphase relativ aufwendig und komplex ist und daher von einem Experten begleitet werden sollte. Diese Aufgabe hat im vorliegenden Personalauswahlprozess 67rockwell übernommen (vgl. Abb. 20.2).
Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Jetter 2008, S.118
Abb. 20.2: Anforderungsprofil CI-Methode
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Das Ergebnis der Anforderungsanalyse führte zu einem präzisen Anforderungsprofil, das die erfolgskritischen Verhaltensweisen einer Position und deren relativer Gewichtungen untereinander aufzeigt. Bei der Erstellung dieses Anforderungsprofils wurden Informationen über relevante Aspekte der Position gesammelt und in Anforderungskriterien übersetzt. Unterschiedliche Funktionen stellen unterschiedliche Anforderungen an die potentiellen Bewerber. Während beispielsweise bei einem Marketing-Spezialisten die „Kreativität“ erfolgsbestimmend ist, ist bei einem Buchhalter eher die „Sorgfalt“ von großer Bedeutung. Im Konkreten wurde zur Ermittlung der notwendigen Anforderungskriterien ein Workshop unter Mitwirkung des Fachbereiches, der Personalabteilung und der Unternehmensberatung durchgeführt. Dabei wurde wie folgt vorgegangen: 1. Identifikation erfolgskritischer Aufgabenfelder der Funktionen des neuen Bereiches – critical incidents. 2. Auswahl erfolgsrelevanter Anforderungskriterien. 3. Operationale Definition der Anforderungskriterien mit erfolgskritischen Verhaltensweisen. 4. Gewichtung der Anforderungskriterien. Das Ergebnis wird anhand eines konkreten Anforderungsprofils in der folgenden Abbildung verdeutlicht (vgl. Abb. 20.3).
Quelle:Eigene Darstellung
Abb. 20.3: Beispiel Anforderungsprofil Business Consultant
Darauf aufbauend, wurde auf Basis der Anforderungsprofile und Aufgabenfelder die Stellenausschreibung entwickelt. Dabei wurde darauf geachtet, dass die For-
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mulierungen zu einer präzisen und konkreten Beschreibung der Aufgaben und Profilanforderungen führten. Die Zielgruppe sollte sich vom Inhalt, Aufbau und Layout angesprochen fühlen. Dabei erfolgte in der genauen Gestaltung und Formulierung der Stellenausschreibung eine explizite Berücksichtigung der Corporate Identity des Versicherers. Parallel ist gemeinsam mit dem Personalbereich das sogenannte Scouting (Bewerbersuche) vorbereitet worden. Alle relevanten Internet-, Print- und Anzeigenkanäle wurden identifiziert und systematisch bewertet. Dabei wurde der Fokus unter Berücksichtigung der zu rekrutierenden Personengruppe auf Online-Job-Börsen und Printmedien gelegt. Zusätzlich sind ausgewählte Personalberater mit der Direktsuche beauftragt worden. Unter Effizienz- und Kostenaspekten sind die Aufgaben im Rahmen des gesamten Recruitingprozesses zwischen dem externen Berater und dem zentralen Personalbereich aufgeteilt worden. Insbesondere die Aufgabe, die internen Netzwerke für die Zusammenstellung der Reviewteams zu nutzen, wurde vom Personalbereich wahrgenommen. Um sowohl die Organisation des Versicherers soweit wie möglich zu entlasten als auch die Kosten für das Personalauswahlverfahren so gering wie möglich zu halten, erfolgte eine systematische Vorfilterung der eingehenden Bewerbungsunterlagen. Dabei wurde auf Basis des Anforderungsprofiles ein Scoringmodell entwickelt, das anhand ausgewählter Kriterien eine systematische Bewertung der Bewerbungsunterlagen ermöglichte. Die Basis der Bewertung bildeten das Bewerbungsanschreiben, der Lebenslauf und die Zeugnisse sowie der Gesamteindruck der Bewerbungsunterlage. Dabei wurden die einzelnen Kriterien (Ausbildung, relevante Berufserfahrung, Spezialkenntnisse usw.) anhand einer Punkteskala bewertet und ein Score errechnet. Sofern dieser einen gewissen Mindestwert nicht erreicht hat, wurde von einer Einladung des Bewerbers abgesehen. Mit Hilfe dieser systematischen Bewertung der Bewerbungsunterlagen konnte die Grundgesamtheit an Bewerbern halbiert werden. Da die Punktevergabe anhand definierter Kriterienausprägungen ausgerichtet wurde, konnte sichergestellt werden, dass bei Wiederholung keine unterschiedlichen Ergebnisse aufgetreten wären. Somit erfüllt dieses Vorgehen das Gütekriterium der Reliabilität im Auswahlprozess. Das Bewerbungsanschreiben, in dem der Bewerber explizit seinen Wunsch zum Ausdruck bringt, mit dem Unternehmen in näheren Kontakt treten zu wollen, gibt in der Regel konkrete Hinweise auf folgende Aspekte: • • • • •
Motive für die Bewerbung, Begründung, warum er/sie glaubt, für diese Stelle geeignet zu sein, besondere Stärken, Gehaltsvorstellungen und Eintrittstermin.
Neben diesen inhaltlichen Aspekten können aufgrund der Form der Unterlagen weitere nützliche Informationen gewonnen und ausgewertet werden:
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• Sorgfalt und Arbeitsorganisation (Unterlagen sind sauber und übersichtlich). • schriftlicher Ausdruck (der Schreibstil ist klar, verständlich, strukturiert und flüssig). • Zielorientierung, Offenheit, Problemanalyse. • stellenbezogene Motivation, fachliche Qualifikation und Überzeugungskraft. Die Lebensläufe der Bewerber wurden anhand des zuvor beschriebenen Scoringmodelles analysiert. Der Lebenslauf ist zweifellos der aussagekräftigste Teil der Bewerbungsunterlagen. Dieser enthält „harte“ Fakten, die im Hinblick auf die Einzelassessments jederzeit überprüfbar und belegfähig sind. Gerade aufgrund dieser Tatsache ist die Analyse des Lebenslaufes weniger Interpretation als vielmehr SOLL-/IST-Abgleich von geforderten und vorhandenen Grundanforderungen. Insgesamt wurde aufgrund der systematischen Vorfilterung anhand der eingegangenen Bewerbungsunterlagen der Aufwand für die nachfolgenden Assessments signifikant reduziert. Nach der Bewertung der Bewerbungsunterlagen folgte das Erstinterview. Der Teilnehmerkreis des Erstinterviews setzte sich aus Mitarbeitern des Personalbereiches sowie Mitarbeitern des externen Beratungsunternehmens zusammen. Dieses führte zu einer deutlichen Aufwandsreduzierung im Fachbereich. Die Vorteile waren dabei vorrangig zeitlicher Art, so dass erhebliche Opportunitätskostensenkung erzielt werden konnten. Dennoch konnten sich die verantwortlichen Führungskräfte des Fachbereiches anhand der Bewerberbewertung nach dem Erstgespräch in Vorbereitung auf das Zweitgespräch ein Bild von dem Bewerber machen und ebenfalls auf die Entscheidung, ob eine Einladung zu einem Zweitgespräch erfolgt, Einfluss nehmen. Wie bereits anfangs erwähnt stehen innerhalb des Personalauswahlprozesses unterschiedliche Auswahlverfahren zur Verfügung. Trotz der wissenschaftlich fundierten Schwäche von wenig beziehungsweise unstrukturierten Interviews ist dieses die weiterhin von den meisten Unternehmen eingesetzte Auswahlmethode. Empirische Erkenntnisse zur Aussagekraft des Interviewurteiles nach unstrukturierten Interviews rechtfertigen den Einsatz dieser Interviewform bei der Personalauswahl jedoch nicht. Diese Untersuchungen zeigen, dass der Zusammenhang zwischen Interviewurteil und dem späteren Berufserfolg durch eine Erhöhung des Strukturierungsgrads des Einstellinterviews deutlich erhöht werden kann (vgl. Macan 2009, S. 203ff.). Die Aussagekraft des Einzelinterviews kann bei Verwendung und Implementierung einer klaren, zielgerichteten Strukturierung um das Drei- bis Vierfache erhöht werden (vgl. Huffcutt/Arthur, 1994, S. 184ff.). Die Tatsache, dass dennoch sowohl von Seiten der Personalabteilung als auch aus Perspektive der Fachbereichsverantwortlichen nur eine geringe Strukturierung gewählt wird, ist mit dem befürchteten erhöhten Arbeitsaufwand zu erklären. Aufgrund der Formulierung von klaren Anforderungsprofilen im hier beschriebe-
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nen Personalauswahlprozess konnte diese Befürchtung jedoch umgangen werden. Aus den einzelnen Anforderungskriterien des Anforderungsprofiles und der im Vorfelde definierten erfolgskritischen Situationen konnte Fragenkatalog und Interviewleitfaden abgeleitet werden. Zusätzlich wurde zur Erhöhung der Erfolgswahrscheinlichkeit der Personalauswahl ein hybrides Auswahlverfahren gewählt. Dieses hybride Vorgehen bestand sowohl aus strukturierten Interviews mit Fragestellungen entsprechend des Anforderungsprofiles als auch aus EinzelAssessments, die sich ebenfalls an dem Anforderungsprofil der zu besetzenden Stelle orientierten (vgl. Abb. 20.4).
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 20.4: Interviewprozess
Es wurde im Rahmen des Erstinterviews zunächst der Lebenslauf sowie die Persönlichkeit gezielt analysiert und bewertet. Offene Fragestellungen motivieren den Bewerber zur Mitarbeit und ermöglichen ein hohes Antwortspektrum. Zudem ermöglichen weiterführende Fragestellungen, den Bewerber in Situationen zu versetzen, die im Rahmen seiner zukünftigen Position relevant sind. Es wurde neben offenen und situativen Fragestellungen ebenfalls eine Fallstudie mit dem Bewerber durchgeführt. Diese wurde so konzipiert, dass diese eine Situation seiner zukünftigen Tätigkeit enthält. Dabei erfolgte die Situationsschilderung nicht in einem starren Gerüst, sondern konnte entsprechend der im Interview gewonnenen Informationen dynamisch verändert werden. Der Bewerber wurde bei der Lösungserarbeitung der Fallstudie durch die Interviewer beobachtet. Neben Bewertungskriterien im Rahmen des Anforderungsprofils konnte dadurch das Verhalten in Drucksituationen beobachtet werden. Nach Beendigung des Erstinterviews erfolgte eine systematische Bewertung anhand der Kriterien des Anforderungspro-
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files. Es wurden ca. 20% der Bewerber der Erstinterviews ausgewählt, die zu einem Zweitinterview empfohlen wurden. Die endgültige Auswahl der Bewerber hat der Fachbereichsverantwortliche anhand des Bewertungsprofiles getroffen (vgl. Abb. 20.5).
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 20.5: Bewerberbewertung
Für das Zweitgespräch ist der Teilnehmerkreis um die Führungskraft des Fachbereiches ergänzt worden. Im Zweitgespräch wurden noch offen gebliebene Fragestellungen zum Lebenslauf diskutiert. Anschließend erhielt der Bewerber eine Fallstudie, die eine wesentliche Arbeitsaufgabe des neuen Bereiches widerspiegelt. Der Bewerber hatte ca. 30 Minuten Zeit, um eine etwa 15 Minuten dauernde Präsentation der Lösung vorzubereiten. Während der Präsentation konnten durch das Reviewteam sowohl Verständnisfragen als auch vertiefende fachliche Fragen gestellt werden. Diese Fragekonstellationen wurden durch jedes Teammitglied beobachtet und protokolliert. Abschließend wurde dem Bewerber ein kurzes Feedback gegeben. Das Reviewteam trug im Anschluss die Einzelergebnisse zusammen und gab eine Gesamtbewertung ab. Im Ergebnis kam es etwa bei 2 bis 3 % der Bewerber zu Vertragsverhandlungen. Die erreichten Effekte der systematischen Personalauswahl beschränkten sich nicht nur auf die Intensivierung der Bewerber-Auslese. Durch die planmäßige Auswahl der Rekrutierungskanäle entlang der Anforderungsprofile wurde sowohl die Anzahl als auch die Qualität der eingegangenen Bewerbungsunterlagen signi-
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fikant erhöht. Die strukturierte Interviewführung ermöglichte eine Erhöhung der Ausleseintensität und eine Verbesserung der Vergleichbarkeit der Bewerber. Der systematisierte Personalauswahlprozess führte zu deutlichen Zeitersparnissen der Führungskraft. Letztendlich kam es ebenfalls zu einer Erhöhung der Abschlusswahrscheinlichkeit durch gezielte Information der Bewerber über Entwicklungsperspektiven und Leistungen des einstellenden Versicherers aufgrund der verbesserten Unternehmens-Selbstdarstellung im Rahmen der Einstellinterviews. Das Zusammenspiel der genannten Effekte führte insgesamt zu einer Verbesserung der Schlagkraft des Versicherers im Wettbewerb um hochqualifizierte Mitarbeiter. Effektive Personalauswahl ermöglicht die Sicherung einer leistungsstarken Belegschaft, mit der zukunftsweisende Entscheidungen umgesetzt werden können. Dieses ist notwendige Voraussetzung, um nachhaltigen Geschäftserfolg in einer sich verändernden deutschen und internationalen Versicherungslandschaft zu erreichen.
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Zusammenfassung
In den letzten zehn Jahren haben sich die Rahmenbedingungen im internationalen Wirtschaftsgeschehen und speziell in der Versicherungswirtschaft deutlich verändert. Im täglichen Geschäft sehen sich die Mitarbeiter von Versicherungsunternehmen mit neuartigen Aufgaben konfrontiert. Die erfolgreiche Umsetzung von Aufgaben bedarf dahingehend eines veränderten Fähigkeitsprofiles. Da bestimmte Fähigkeiten und Begabungen das reine Fachwissen als wesentliche Anforderung an derzeitige und zukünftige Mitarbeiter ablösen, bedarf es ebenfalls veränderter Auswahlverfahren, um eine erfolgreiche Personalauswahl effektiv zu gestalten. Aus theoretischer und empirischer Sichtweise hat sich dabei die Form der strukturierten Interviews unter anderem in Form eines Interviewleitfadens, als erfolgsversprechend herauskristallisiert. Wie in diesem Beitrag anhand eines real durchgeführten Personalauswahlprojektes beschrieben wurde, sind die Vorteile der strukturierten Interviewführung auch in der Praxis zu bestätigen. Dabei bezieht sich das Merkmal der Strukturierung hierbei allerdings nicht ausschließlich auf einen, im Vorfelde ausgefertigten Fragenkatalog. Vielmehr muss anhand systematisierter Vorüberlegungen ein Anforderungsprofil der zu besetzenden Stellen erstellt werden. Aus diesem leiten sich dann sowohl die Auswahl der Rekrutierungskanäle, die Interviewführung, inklusive Fragen und Einzel-Assessments, sowie das Bewerber-Bewertungsschema ab. Es wurden durch den strukturierten Personalauswahlprozess wesentliche Erfolge erreicht. Konkret führte die systematische und detaillierte Bestimmung der Anforderungsprofile und die Umsetzung in verschiedene Stellenausschreibungen, neben der Erhöhung eingehender Bewerbungen um ca. 100% auf Wochenbasis, auch zu einer Steigerung der Qualität der eingehenden Bewerbungen. Die Bewerber hatten bereits bei Bewerbungseingang eine höhere Passgenauigkeit. Dieses ist als Folge der fokussierten Bewerberansprache aufgrund des dezidierten Anforderungsprofils
20 Effektive Personalauswahl
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zu erklären. Es kam zu einer Verringerung der Absagequote nach Bewerbungseingang um ca. 30%. Zusätzlich konnte durch den strukturierten Personalauswahlprozess die Erfolgswahrscheinlichkeit, das heisst den Anforderungen entsprechend, die richtigen Mitarbeiter zu finden, durch systematisches Vorgehen und den Einsatz von Fallstudien erheblich erhöht werden. Die zeitliche Belastung von Führungskräften konnte im gesamten Personalauswahlprozess um ca. 75% verringert werden. Deren aktive Mitwirkung war lediglich im Rahmen der abschließenden Interviews mit finaler Entscheidungsfindung notwendig. Dennoch ermöglichte die objektivierte Bewerberbewertung anhand eines systematisierten Bewertungsschemas die Mitbestimmung der Führungskraft hinsichtlich der Bewerberauswahl zum Zweitgespräch. Letztendlich konnte die Abschlusswahrscheinlichkeit durch systematische und zielgerichtete Information der Bewerber über Entwicklungsperspektiven, Aufgabenbereiche und Leistungen der Gesellschaft im Rahmen des Personalauswahlprozesses deutlich verbessert werden. Die systematische und effektive Personalauswahl hat die Position des Versicherers im Wettbewerb um hochqualifizierte Mitarbeiter im inländischen Arbeitsmarkt deutlich gestärkt und wird wesentlich zur Sicherstellung des nachhaltigen Geschäftserfolges beitragen.
366
Dr. Michael Reich/Oliver Pietzsch
Literatur Campion, M.A./Palmer, D.K./Campion, J.E.: A review of structure in the selection interview. In: Personnel Psychology, Jg. 50, 1997, S. 655-701. Eder, R.W./Harris, M.M. (Eds.): The employment interview handbook. Sage Publications 1999. Goodale, J.G.: Effective employment interviewing. In: RW Eder & GR Ferris (Eds.), The employment interview: Theory, research, and practice 1989, S. 307323. Huffcutt, A.I./Arthur, W.: Hunter und Hunter (1984) revisited: Interview validity for entry-levels jobs. In: Journal of Applied Psychology, Bd. 79, Nr. 2, 1994, S. 184-190. Jetter, W.: Effiziente Personalauswahl, 3. Aufl., Stuttgart 2008. Macan, T.: The employment interview: A review of current studies and directions for future research. In: Human Resource Management Review, Vol. 19, 2009, S. 203-218.
Kapitel 21 Erfolgsfaktoren im Rahmen von großen IT-Veränderungsprozessen Dirk Weske/Torsten Hübenthal
1
Neue Rahmenbedingungen
1.1
Stagnierende Märkte und Verdrängungswettbewerb
Die Zeiten, in der ein Versicherungsunternehmen nur den Marktführer nachahmen musste, um erfolgreich zu sein, sind seit der Jahrtausendwende endgültig vorbei. Auch die bloße Kostenorientierung, die zu Beginn dieses Jahrzehnts die Diskussionen von Versicherern prägte, ist kaum noch anzutreffen. Echte Vorteile beim Kampf um Neugeschäft und Marktanteile sind nur noch mit originären Unternehmensstrategien und dem entsprechendem Agieren auf den Märkten zu erreichen. Dazu kommt, dass die gesamte Branche, neben dem aktuellen und primär finanzmarktkrisenbedingten Ertragsproblem, ein grundlegendes Problem in Hinblick auf das Wachstum hat. Seit Jahren krankt das Neugeschäft, und die Prognosen für die nächsten Jahre fallen nicht optimistischer aus. Und selbst da, wo noch Wachstum zu erwarten wäre, zum Beispiel in der Altersversorgung, steigt die Wettbewerbsintensität enorm. Das Geschäft verliert seit Jahren an Dynamik, weil der Bedarf der Deutschen an Versicherungspolicen weitgehend gesättigt ist. Die alten Erfolgsfaktoren haben daher ausgedient. Wirkliches Wachstum findet heute nur noch in den aufstrebenden Volkswirtschaften, wie Brasilien, Russland, Indien und China statt. Auf dem Heimatmarkt aber müssen die Versicherungsunternehmer mit dem Wandel zurechtkommen. Und dieser Wandel heißt Verdrängungswettbewerb. Wer wachsen will, muss die Kunden von der Konkurrenz abwerben.
1.2
Neue Anforderungen
In diesem stagnierenden Markt mit hohem Verdrängungswettbewerb sind für den Vertrieb von Versicherungen daher zwei Aspekte von wesentlicher Bedeutung:
M.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing, DOI 10.1007/978-3-642-10276-9_21, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
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Dirk Weske/Torsten Hübenthal
1. Die Bindung und der Ausbau existierender Kundenbeziehungen beziehungsweise das Verhindern des Abwanderns von Bestandskunden. 2. Die Gewinnung neuer Kunden über Verdrängungswettbewerb und damit die Steigerung des Marktanteiles. Diese beiden Aufgaben fallen scheinbar genuin dem Marketing und Vertrieb zu, die Beteiligung der Informationstechnologie scheint eher peripher. Doch das Gegenteil ist richtig: In diesen neuen und harten Wettbewerbsbedingungen spielt gerade die Leistungsfähigkeit der IT eine Schlüsselrolle. Denn neben dem PreisLeistungs-Verhältnis der Versicherungsprodukte im engeren Sinne, zum Beispiel also ein umfangreicher oder genau auf die jeweiligen individuellen Bedürfnisse zugeschnittener Deckungsumfang zu einem günstigen Preis, spielt für den Kunden das Thema „Service“ eine wichtige Rolle. Der Kunde erwartet zum Beispiel von seiner Versicherung eine schnelle und sehr gute Abwicklung im Schadenfall, oder er möchte ohne Komplikationen seine Adresse geändert sehen oder seine Bankdaten erneuern. Für den Versicherten oder das versicherte Unternehmen soll alles bequem und ohne Reibungen ablaufen; ohnehin sucht der Kunde den Kontakt zu „seiner“ Versicherung auf das Nötigste zu beschränken, denn das Einschalten der Versicherung heißt ja in den meisten Fällen, dass etwas Unangenehmes passiert sein muss. Dieser reibungslose Kontakt zwischen Kunde und Versicherung, der nur augenscheinlich wird, wenn er Probleme aufwirft, ist ohne den Einsatz moderner Informationstechnologie nicht mehr denkbar. Die elektronische Datenverarbeitung spielte zwar auch früher schon eine wichtige Rolle beim Betrieb einer Versicherung, doch erst in neuerer Zeit werden Konzepte nötig und daher auch nachgefragt, die die Informationstechnologie in die Geschäftsstrategie so integrieren, dass sie mehr leisten kann, als nur eine elektronische Verwaltung der Kunden- und Schadendaten zu gewährleisten. Im Folgenden soll gezeigt werden, wo einige der derzeitigen Probleme der Informationstechnologie im Versicherungswesen liegen, und wie einige davon durch eine veränderte strategische Positionierung in geeigneter Form adressiert werden können.
2
Zielkonflikt zwischen Vertrieb und Informationstechnologie
2.1
Bedingungen des Vertriebes
Ein Versicherungsunternehmen kann unter den Rahmenbedingungen der geänderten Wettbewerbsbedingungen nur bestehen, wenn es ihm gelingt, die elektronische Datenverarbeitung ganzheitlich in den gesamten Wertschöpfungsprozess zu integrieren. Der Unternehmensspitze muss in aller Konsequenz klar sein, dass künfti-
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ge Erfolge nur im Gleichklang und Brückenschlag zwischen IT-Strategie und Geschäftsstrategie möglich sind. Während der ganzheitliche Ansatz in Bezug auf die Informationstechnologie auch nach Jahren immer noch betont werden muss, ist diese (Eigen-)Sicht der Dinge im Vertrieb die bare Selbstverständlichkeit. Selbstverständlichkeit. Keiner muss es extra betonen, dass in einem aufwändigen und teuren Verdrängungswettbewerb derjenige im Vorteil ist, der über einen schlagkräftigen Vertrieb verfügt. Daher sieht sich der Vertriebsverantwortliche – im Wortsinn – als der eigentliche Versicherungsagent, der agiert und den Erfolg des Geschäftes scheinbar ganz alleine bestimmt. Doch auch im Vertrieb beginnen sich die Verhältnisse und Rahmenbedingungen zu verändern, etablierte Selbstverständnisse weichen auf. Zwar verfügen die klassischen, zentral gesteuerten Ausschließlichkeits-Organisationen (AO) nach wie vor über einen nicht unbeträchtlichen Anteil des (Bestands-)Geschäftes und haben gerade mit Blick auf die „Defensivrolle“ der Bestandssicherung und dem Ausbau des Bestandsgeschäftes weiterhin einen hohen Stellenwert. In der „Offensivrolle“ der Neugeschäftsgewinnung rücken aber unter den Rahmenbedingungen des Verdrängungswettbewerbes die unabhängigen Makler und Finanzdienstleister weiter in den Vordergrund. In Zukunft werden zudem Kooperationspartner Kooperationspartner (etwa die Auto-Hersteller) oder Strukturvertriebe in den Verdrängungsprozessen einen wichtigen Platz einnehmen (vgl. Abb. 21.1).
Quelle: Tillinghast, Vertriebswege-Survey 2007
Abb. 21.1: Hauptsächliche Vertriebswege
Aus diesem Zusammenhang lassen sich erste Anforderungen an die ServiceQualität respektive deren Unterstützung durch Informationstechnologie herleiten:
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Dirk Weske/Torsten Hübenthal
Der Außendienstler im AO-Vertrieb muss ein Produkt verkaufen, selbst wenn er nicht von der Qualität überzeugt wäre. Mit dieser Art des Vertriebes lassen sich strategische Lücken und Übergangszeiten in der Qualitätsproduktion eine Zeitlang überbrücken. Doch in nahezu drei Viertel der Vertriebswelt ist der Endkunde im „Besitz“ des freien Maklers oder eines anderen vom Versicherer Versicherer unabhängigen Vermittlers. Diese Vertriebswege sind generell sehr anspruchsvoll gegenüber dem Dienstleister Versicherungsunternehmen, und beispielweise der freie Makler ist schnell dabei – auch zur Optimierung seines eigenen Geschäftes – bei eventuellen Servicelücken umzudenken. Entsprechend spielt die Service-Qualität im Wettbewerb um die besten Vertriebspartner eine entscheidende Rolle.
2.2
Vernetzung von Vertrieb und IT
Wer die Bedürfnisse und Ansprüche der vom Versicherer unabhängigen Vertriebswege ernst nimmt, kann die essentielle Rolle, die die Informationstechnologie in deren Vertriebsprozessen spielt nicht übersehen. Wie stark Produkt und Informationstechnologie in einander verflochten sind, zeigt Abb. 21.2. Hier wird paradigmatisch für einen Lebensversicherer Lebensversicherer dargestellt, welche Präferenzen der freie Vermittler an ein Versicherungsprodukt heranträgt. Die Courtage rangiert dabei wohlgemerkt nur auf Rang fünf. Das eigentliche Produkt resp. die Prämie steht verständlicherweise an erster Stelle. Doch Doch gleich danach rangieren „Policierung und Bestandsbearbeitung“ und „Leistungsabwicklung“ – dies sind genuine Felder der Informations-Technologie. Wer hier patzt, verliert Chancen (vgl. Abb. 21.2).
Quelle: 67rockwell Consulting auf Basis CHARTA Qualitätsbarometer 2007
Abb.21.2: Erwartungen an ein Versicherungsprodukt
Diese dichte Verzahnung zwischen Vertrieb und Informations-Technologie zeigt, wie abhängig voneinander die beiden Disziplinen eigentlich sind. Daher erstaunt
21 Erfolgsfaktoren im Rahmen von großen IT-Veränderungsprozessen
371
es, dass wir immer wieder beobachten, dass sich die beiden Fachbereiche eher aus dem Weg gehen – um es vorsichtig auszudrücken.
2.3
Mentales Problem
Der Grund, dass sich die zwei Disziplinen Vertrieb und IT häufig wie „feindliche Brüder“ verhalten, liegt in einem Zielkonflikt, den Vertrieb und IT gemeinsam bewältigen müssen. Der IT mangelt es häufig an einer systematischen und methodischen Orientierung am Kunden. Die Prioritäten werden daher meist anders gesetzt, denn zu den Aufgaben der Informationstechnologie gehört ja noch viel mehr, als den Vertrieb zu unterstützen – so zumindest denkt in der Regel der klassische Mitarbeiter der IT. Etwa die Bewältigung der zyklisch auftretenden technischen Erneuerungsbedarfe oder die Rationalisierung interner Abläufe unter dem konstanten Druck der Kostenoptimierung. Gerade letztgenannte Aufgaben sind Bereiche, die traditionell zum besonderen Fokus der Informationstechnologie gehören und aus denen die dort beschäftigten Mitarbeiter über Jahre ihr Selbstbewusstsein gezogen haben. Hier liegt ein mentales Problem, das in einem dedizierten Change-ManagementProzess erkannt und überwunden werden muss. Denn auch auf der Seite des Vertriebes herrscht meist wenig Verständnis für die Probleme der IT-Umsetzung respektive des IT-Betriebes. Notorisch gerne verlangt etwa der klassische Außendienstler die berühmten „goldene Wasserhähne“ vom Informationstechniker ohne selbst die Bereitschaft zu zeigen, den Anforderungen der Machbarkeit Vorrang einzuräumen. Von „überdrehten Spinnern“ reden daher gerne die IT-Mitarbeiter, und von „ebenso phantasielosen wie unfähigen Technikern, die nicht mal wissen, was ein Kunde ist“ die Vertriebs-Spezialisten. Auf operativer Ebene wäre es ein Fehler, dieses menschliche Problem zu ignorieren. Denn unsere Beobachtungen zeigen, dass sich die Persönlichkeitsprofile der beiden Fachrichtungen in aller Regel sehr unterscheiden und die Zusammenarbeit daher, selbst bei theoretischer Übereinstimmung, unter sehr schwierigen Bedingungen erfolgt. Der vorherrschende Charakter in den Vertriebsmannschaften ist der offene, zupackende, extrovertierte, vorwärts drängende, auf andere zugehende Typ, auf Seiten der IT findet sich der bedächtige, introvertierte, eventuell zögernde und wissenschaftliche Typus. Diese Gemengelage ergibt sich nahezu von selbst aus den jeweiligen Aufgabenbereichen. Es kann daher leicht passieren, dass der Vertrieb berechtigte Forderungen einklagt, sie jedoch so vorbringt, dass sie auf Seiten der IT als aggressiv und überzogen empfunden werden. Die Reaktion der IT wird wiederum – auch dieses lange eingeübt - ausweichend erfolgen: Nicht vollständig präzise und widerspruchsfreie Anforderungen des Vertriebs führen entweder zu aufwändigen Rückkopplungsprozessen oder zu überdimensionierten IT-Lösungsansätzen mit letztlich häufig dem gleichen Ergebnis: Das begrenzte Budget für Informationstechnologieprojek-
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Dirk Weske/Torsten Hübenthal
te fließt dann eben zugunsten anderer, „pflegeleichterer“ Stakeholder – und der Vertrieb muss warten. Aus der Sicht des Unternehmens versteht es sich von selbst, dass solche Konfliktherde den nötigen Wandlungsprozess nicht stören oder gar aufhalten dürfen. Zwar sind beide Haltungen psychologisch verständlich und traditionell gewachsen, in bestimmter Weise und prozesslogisch sogar legitim, dennoch müssen sich die beiden Parteien „zusammen raufen“. Die Beratungserfahrung zeigt an dieser Stelle deutlich, dass sich diese Konfliktlinie nicht durch die Parteinahme für die eine oder andere Seite operativ managen lässt. Statt dessen ist an dieser Stelle von strategischer Seite ein konsequenter und professioneller Change-Management-Prozess aufzusetzen, der die beteiligten Parteien zunächst über die mühsamen Schritte „Verstehen“ und „Verständnis aufbringen“ schrittweise aufeinander zubewegt, um dann im Transferschritt zu einer gemeinsamen ganzheitlichen Sichtweise zu gelangen, an deren Ende gemeinsam erarbeitete und getragene Lösungen im Sinne eines kundenorientierten Unternehmens stehen.
3
Neue Rolle der Informationstechnologie für Versicherungen
3.1
IT und Versicherungen
Eine Versicherung ist als immaterielles Gut wie geschaffen für die Verarbeitung durch die Informationstechnologie. Das gilt sowohl für die Kreation und Produktion eines neuen Produktes, wie für den Vertrieb und die Verwaltung. Damit erfüllt die IT alle Voraussetzung, um zu einem der zentralen Treiber des Geschäftes zu werden. Wie die einleitenden Ausführungen zeigten, sind die Bedingungen der allermeisten Unternehmen der Versicherungsbranche jedoch noch nicht soweit, dass diese Sicht der Dinge schon weitgehend in die Praxis umgesetzt worden wäre. Noch leidet die Branche an den überkommenen IT-Systemen, die sich über Jahre aufgebaut haben. Diese angestammte alte Architektur an Datenverarbeitung muss Stück für Stück in ein neues Kleid übergeführt werden. Dieses bedingt auch eine neue Sicht auf den Beitrag, den die Informationstechnologie im Versicherungsunternehmen insgesamt zu leisten hat. Um die künftigen Herausforderungen, die sich der Versicherungs-Branche stellen werden, erfolgreich zu bestehen, muss die Informationstechnologie zu einem der zentralen Handlungsfelder im strategischen Unternehmenskonzept werden. Sie darf nicht weiter als „Anhängsel“ der Verwaltung gesehen werden und nur als – möglichst zu reduzierender – Kostenblock. Diese, bisher nur vorläufigen Überlegungen zeigen deutlich, dass bei der Ausgestaltung des Geschäfts- und Betriebsmodelles einer Versicherung der Architektur
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der Informationstechnologie große Bedeutung zukommt. IT-Fähigkeiten – und dort nicht nur rein technische Kompetenz und Errungenschaften, sondern der intelligente Einsatz der Technologie – werden in der Assekuranz immer wichtiger. Viele Beispiele erfolgreicher Unternehmen der Branche belegen den Zusammenhang von Geschäftsmodell und integrierter IT. In einer ganzheitlichen Betrachtung liegt die Zukunft.
3.2
Aktuelle Defizite
Werfen wir jedoch einen Blick auf die aktuelle Situation in der Versicherungsbranche, so stellen wir fest, dass die IT-Fähigkeiten nicht oft in dem geforderten Maße anzutreffen sind. Häufig erweist sich die aktuelle Ausgestaltung der Informations-Technologie in den Unternehmen als Korsett und wirkt daher faktisch sogar als Wettbewerbsnachteil. Diese Fehlentwicklung hat neben anderen Ursachen vor allem historische Gründe. Seit ihrer Einführung wurde der IT eine vornehmlich ausführende Rolle zugeschrieben, das Budget folgte in der Regel keiner strategischen Ausrichtung. Da darüber hinaus die Assekuranz jahrzehntelang nur in Sparten dachte, ist es nicht überraschend, dass die IT dieses Denken in der eigenen Struktur abbildet. Eine weitgehende Sparten-Orientierung mit Systembündeln, die siloartig angeordnet sind, ist daher die Folge. Gleichzeitig werden die Anforderungen und daher auch die Systeme immer komplexer. Die hohe technische und fachliche Komplexität erweist sich jedoch als strategische Innovationsfalle: Dermaßen umfassende und komplizierte Systeme sind zäh und lassen sich nur mühsam ändern. Die Architektur der Informations-Technologie von heute entspringt daher der Unternehmensphilosophie von gestern und verhindert so oft genug die nötige Flexibilität für morgen. Daraus ergeben sich mangelnde Anpassungsfähigkeit an die Anforderungen von Kunden und Vertriebspartnern, sowie das Ausbleiben eines aktiven Anforderungsmanagements. In vielen Unternehmen der Versicherungsbranche sehen die Mitarbeiter, und hier, wie schon erwähnt, vor allem die Mitarbeiter des Vertriebs, die Informations-Technologie nicht als Partner des Geschäfts. In den Augen des Vertriebs sind die „Leute von der EDV“ nur umsetzende Dienstleiter und dazu noch meist mit schlechtem Image. Wenn die Informations-Technologie in ihre neue Rolle schlüpfen, das heißt ein wesentlicher Bestandteil der „operativen Exzellenz“ einer Versicherung werden soll, ist das nicht allein die Aufgabe technologischer Entwicklung. Wer die IT als „Ermöglicher“ und Treiber von Veränderungsprozessen zum Nutzen der Geschäftsentwicklung etablieren will, muss auch die Einstellung der Mitarbeiter ändern, das Bewusstsein der Informationstechniker im gleichen Maße wie das der übrigen Mitarbeiter.
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Dirk Weske/Torsten Hübenthal
4
Koordinaten der strategischen Integration
4.1
Transparenz und Zuordnung der Kosten
Traditionell galt die Informationstechnologie als Verwaltungseinheit mit einem zugewiesenen - und im täglichen Diskussionsprozess meist als zu hoch erachteten - Budget. Damit konnte der Beitrag der IT zur Wertschöpfung nicht oder nur unzureichend gemessen werden. Im Gegenteil, in der Gewinn- und Verlustrechnung erschien die Informationstechnologie immer nur auf der Verlustseite.
Die neue Rolle der Informationstechnologie als strategische Größe zur Optimierung des Geschäftsnutzens verlangt daher eine verursachungsgerechte Zuordnung der Kosten. Die Wirtschaftlichkeit der IT kann anhand von klaren Kennzahlen gemessen werden. Man bewertet diese Kennzahlen Kennzahlen entweder intern über die Beobachtung des zeitlichen Verlaufs, oder extern über die Beobachtung des Marktes und aktives Benchmarking (vgl. Abb. 21.3).
Quelle: Erfahrungswerte 67rockwell Consulting
Abb. 21.3: Ausgewählte Wirtschaftlichkeitskennzahlen
Auf diese Weise ergeben sich deutliche Zuordnungen. So kann die Kostenquote zum Beispiel im Verhältnis zum Bruttobeitrag gemessen werden. Auch die Kosten der Informationstechnologie pro Vertrag können bei detaillierter Spartenzuordnung zu erhöhter Transparenz beitragen. Mit diesen Kennzahlen bekommt das Management ein Instrumentarium an die Hand, so dass es – je nach den Ergebnissen – zu sinnvollen Maßnahmen greifen kann. Die früher oft auf Zufällen basierende Budgetierung findet damit nicht mehr im luftleeren Raum statt. Eingebettet in diesen Zusammenhang entstehen
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Bezüge zu der Beitragsentwicklung und der Entwicklung der IT-Kosten. Entwickeln sie sich parallel oder bildet sich eine Schere? Je nachdem, wie sich die Entwicklung zeigt, ergeben sich strategische Schlüsse. Wachsen beispielsweise die IT-Kosten langsamer als die Beiträge, kann das daran liegen, dass das Versicherungsunternehmen gut auf sinkende Beiträge reagiert. Es wäre allerdings auch möglich, dass das Unternehmen nur nicht investiert. investiert. Fließen allerdings Investitionen, dann werden die IT-Kosten in der Regel schneller steigen als die Beiträge. Der gleiche Befund könnte jedoch auch darauf hinweisen, dass der Versicherer aufgrund höherer Wartungskosten nicht flexibel auf eine Beitragsveränderung reagieren kann.
4.2
Effizienz und Effektivität
Die strategisch implementierte und neu verortete Informationstechnologie wird direkt und indirekt zu einer wesentlichen Größe des Unternehmenserfolges. Wir unterscheiden dabei zwischen dem Hebel zur Effizienzsteigerung („do things right“) und dem Hebel zur Effektivitätssteigerung („do the right things“).
Steigerung der IT-Effizienz bedeutet die direkte Unterstützung des Unternehmenserfolgs. Solche Maßnahmen der Informationstechnologie sind zum Beispiel: Beispiel: Die Vereinheitlichung des Software- und Vertragsmanagements und die Anpassung der Lizenzverträge. Darunter fällt auch die gezielte Anpassung des Projektportfolios oder das Out-Sourcing bestimmter Leistungen (vgl. Abb. 21.4). Diese oder ähnliche Maßnahmen, seien sie nun kurz-, mittel- oder langfristig, beeinflussen sehr konkret die Umsatzrendite des Unternehmens, in dem sie die IT-Kosten deutlich reduzieren.
Quelle: 67rockwell Consulting
Abb. 21.4: Maßnahmen der Informationstechnologie zur Effizienzsteigerung.
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Entlang der Wertschöpfungskette eines Versicherungsunternehmens gibt es eine Reihe von Möglichkeiten, die Prozessleistung mit Hilfe der Informationstechnologie deutlich zu erhöhen. Die Produktentwicklung wird schneller und flexibler, der Vertrieb kann durch digitale Beratungsleistung unterstützt werden, bei der Policierung, Vertragsverwaltung und Schadensregulierung, um nur einige Beispiele zu nennen, wird IT zum Hebel für die Effektivitätssteigerung (vgl. Abb. 21.5). Dieses führt zu einer indirekten Unterstützung des Unternehmenserfolges.
Quelle: 67rockwell Consulting
Abb. 21.5: Entlang der Wertschöpfungskette erhöht effektive Informationstechnologie die Prozessleistung des Versicherungsunternehmens.
4.3
Agilität
Die Restrukturierung der Informationstechnologie eines Unternehmens muss schließlich auch in einer Transformation der Informationstechnologie selbst enden beziehungsweise sollte dieser Prozess parallel stattfinden. Ziel ist es, die – häufig pauschal - in Wartung und Betrieb gebundenen IT-Aufwendungen soweit durch Effizienzsteigerungsmaßnahmen zu reduzieren, dass Optionen zum erhöhten Einsatz wahlfreier Aufwendungen entstehen. Das wiederum bietet die Chance, dass die Informationstechnologie einen höheren Wertbeitrag für das Versicherungsu Versicherungsunternehmen liefern kann (vgl. Abb. 21.6).
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Quelle: 67rockwell Consulting
Abb. 21.6: Effizienzsteigerungen in der IT schaffen die Möglichkeit zum erhöhten Einsatz wahlfreier Anwendungen.
Ein altes Problem der Versicherungsbranche besteht darin, dass die Architektur der IT lange gewachsen und mit der Zeit durch immer neue Anwendungen ohne die alten abzulösen zu einem äußerst komplexen Gebilde angewachsen ist. Änderungen in einem solchen System sind nicht nur schwierig, sondern auch riskant. Denn eine kleine Korrektur hier, führt zu Störungen dort, wo man es nicht erwartet hätte. Kurzum: Die schwergewichtig gewachsenen Software-Architekturen, die für die meisten Versicherer heute noch typisch sind, erfüllen nicht die grundsätzlich der Informationstechnologie zugedachte Rolle des Treibers und Innovators für das Geschäft. Der Prozess der Umstrukturierung muss daher durch die Reduktion der Komplexität wieder Kapazitäten „freischaufeln“, so dass neben der Erhaltung des laufenden Betriebes neue Aufgaben flexibel und agil angegangen werden können. Nur so kann die Informationstechnologie ihren strategischen Beitrag für das Unternehmen leisten.
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5
Case Study – Kundenorientierte Weiterentwicklung der IT in einer Post-Merger-Situation
5.1
Kundenorientierung in der Koexistenz
Die Ausgangslage des Unternehmens, das dieser Case-Study zum Vorbild dient, ergab sich zwangsweise als Folge von Mergers und Akquisitionen, und ist damit nicht untypisch für die Branche. Ein Versicherungskonzern kauft einen anderen Versicherungskonzern und die vorhandenen Tochtergesellschaften sollen miteinander verschmelzen. Da es sich bei den jeweiligen Tochtergesellschaften um unterschiedlich geschnittene Vollsortimenter handelt, ergab sich zudem die Notwendigkeit, zur Erreichung der strategischen Geschäftsziele des Merger-BusinessCase einen neuen gemeinsamen Zuschnitt der Töchter vorzunehmen. Anders ausgedrückt: Zwei natürlich gewachsene, nicht eben kleine Unternehmen, die unter den oben beschrieben erschwerten Marktbedingungen tätig sind, sollen mit beherrschbaren Friktionen und ohne dass es zu signifikanten Komplikationen mit Kunden und Vertriebspartnern kommt, zu einem gemeinsamen, jedoch strategisch neu zugeschnittenen Unternehmen werden. Dieser Prozess impliziert viele Konsequenzen. Juristisch müssen neue Gesellschaften gegründet, vertriebspolitisch und markentechnisch müssen neue Wege beschritten werden. Einer der kompliziertesten Prozesse ist jedoch der, der nach außen möglichst nicht bemerkt werden soll: Aus zwei gewachsenen ITLandschaften muss eine gemeinsame neue IT-Landschaft werden. Dass dies nicht von heute auf morgen geschehen kann, liegt auf der Hand. Der Gesamtprozess zieht sich über Jahre hin und erfordert einen Umbau in mehreren Phasen (vgl. Abb. 21.7).
Quelle: Projekterfahrungen 67rockwell Consulting
Abb. 21.7: Aufgabenstellung Phase 1
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In Phase 1 stand in unserem Fall zunächst einmal die Gewährleistung des gemeinsamen Geschäftsbetriebs, die sogenannte Koexistenz, unter den oben genannten Rahmenbedingungen im Fokus. Bei den hierfür notwendigen Investitionen wurden nicht nur Aspekte der gemeinsamen Unternehmenssteuerung, zum Beispiel übergreifendes Reporting oder gemeinsame Abschlüsse, berücksichtigt, sondern insbesondere auch dem Umstand Rechnung getragen, dass man es vom Tag der offiziellen Fusion an mit gemeinsamen Kunden und Vertriebspartner zu tun hatte. Denn diese nahmen das neu geschnittene Unternehmen vom ersten Tag an sehr viel homogener „von außen“ wahr, als es „von innen“ zunächst organisatorischprozessual tatsächlich zu leisten im Stande war. Exemplarisch für die operativen Fragestellungen der ersten Stunde seien an dieser Stelle die Bereitstellung einer sogenannten Kundengesamtsicht für die operative Sachbearbeitung, die Herstellung einer einheitlichen Sicht auf die Vertriebspartner und die jeweils geltenden Konditionen, sowie die prozessuale Bewältigung elementarer Kundenprozesse, wie zum Beispiel der gesellschaftsübergreifende Zahlungseingang, genannt. Es liegt auf der Hand, dass die IT-Lösungsansätze in der Phase der Koexistenz auf eine schnellstmögliche Erfüllung der oben genannten Anforderungen ausgerichtet waren. Damit aber waren längerfristig wirksame Lösungsansätze zunächst ausgeschlossen, es galt sich des Instrumentariums der bestehenden beiden Systemlandschaften der Fusionspartner zu bedienen. Die letztlich implementierten ITLösungen waren entsprechend „minimal invasiv“ ausgerichtet, dass heißt sie suchten den Veränderungsaufwand an den bestehenden IT-Landschaften durch die Schaffung von Datensynchronisationsverfahren und zusätzlichen Belieferungsschnittstellen zu minimieren. Der Preis aber für die kundenorientierten Lösungen der Koexistenzphase war hoch: An allen Stellen, wo nicht auf in beiden Ausgangsunternehmungen etablierte Standards zurückgegriffen werden konnte, wo also gewachsene Besonderheiten der jeweiligen Ausgangswelten zu berücksichtigen waren, wuchsen Komplexität und Kosten der Koexistenzlösungen sprunghaft an. Als ein wesentliches Problem und Veränderungshindernis bildeten sich in diesem Zusammenhang die gewachsenen und strukturell inkompatiblen Ordnungsbegriffssystematiken zum jeweiligen Umgang mit den Kerngeschäftsobjekten der Versicherungstechnik (zum Beispiel Partner, Vertrag, Vermittler, Schaden) heraus. Auch auf organisatorisch-prozessualer Ebene galt es sich neuen Herausforderungen zu stellen. So mussten nicht nur teilweise zusätzliche manuelle Prozesse zur Bewältigung von IT-Koexistenzproblemen, zum Beispiel der oben erwähnten Ordnungsbegriffsproblematik, etabliert werden, viel schwerer noch wog der Umstand, dass die Beschränkungen der bestehenden IT-Anwendungslandschaften eine konsequente Ausrichtung der Organisation auf den neuen Zuschnitt der Töchter und damit den Markt wesentlich erschwerte. Als Fazit der Phase 1 bleibt festzustellen, dass mit der mühsam errungenen Koexistenz der beiden Informationstechnologie-Landschaften die eigentliche Aufgabe
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keineswegs erfüllt war. So wurde zwar eine elementare Kundenorientierung umgesetzt, der weiter oben formulierte Anspruch an reduzierte Komplexität, deutlich verbesserter Funktionalität, sowie an eine flexible und agile Reaktionsfähigkeit auf zukünftige Veränderungsprozesse blieb aber noch einzulösen.
5.2
Kundenorientierte Weiterentwicklung
Fokussierte die oben beschriebene Phase 1 auf der kurzfristigen Gewährleistung eines gemeinsamen Geschäftsbetriebs in der Post-Merger-Situation, so waren die Maßnahmen der Phase 2 zur kundenorientierten Weiterentwicklung der IT eher mittel- bis langfristig angelegt. Sie umfassten ein sehr umfangreiches Maßnahmenpaket entlang der Effizienzhebel „Konsolidierung“ und „Architekturmanagement“ mit dem Ziel, nicht nur die verbleibenden Probleme der Post-MergerSituation abschließend zu bereinigen, sondern gleichzeitig das Versprechen auf eine „neue“ IT mit entsprechender Wirkung auf den Unternehmenserfolg einzulösen. Beim Aufsetzen des Maßnahmenpakets zur Weiterentwicklung der IT, unter anderem der Aufbau einer neuen gemeinsamen Ziel-Anwendungslandschaft, standen neben den operativen Prozessen von Systemauswahl und Anforderungsanalyse erneut die Belange von Kunden und Vertriebspartnern im Mittelpunkt. Dazu wurden zunächst eine Reihe von strategischen Rahmenparametern für alle Einzelmaßnahmen definiert, von denen vier besonders relevante an dieser Stelle genannt sein mögen: • Eine „Big-Bang“-Migration in die Ziel-Anwendungslandschaft ist aufgrund der Größe und Vielzahl der betroffenen Organisationseinheiten, Prozesse, und Systeme nicht möglich. Entsprechend hat die Beendigung der Koexistenz und der Aufbau der gemeinsamen Ziel-Anwendungslandschaft in mehreren Schritten beziehungsweise technischen Releases parallel zu den bestehenden Anwendungslandschaften zu erfolgen. Die Schritte/Releases sind so zu wählen, dass die reibungslose und risikoarme Fortführung des Geschäftsbetriebes unter allen Umständen gewährleistet ist. • Veränderungen an der Schnittstelle zu Kunden und Vertriebspartnern sind grundsätzlich erlaubt. Voraussetzung ist allerdings, dass für Kunden und Vertriebspartner keine prozessuale oder inhaltliche Verschlechterung eintritt. Stattdessen ist mit Veränderung ein Mehrwert für Kunden oder Vertriebspartner anzustreben. • Die bestehenden Ordnungsbegriffs- und Geschäftsobjektsystematiken sind für das gemeinsame neue Unternehmen nicht geeignet. Entsprechend ist zur Weiterentwicklung des gemeinsamen Unternehmens eine neue, gemeinsame Ordnungsbegriffs- und Geschäftsobjektsystematik zu erarbeiten und unter den oben genannten Rahmenparametern sicher und ohne negative Auswirkungen auf Kunden und Vertriebspartner einzuführen.
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• Maßstab für den Erfolg des Maßnahmenpakets mit Blick auf die IT ist eine reduzierte Komplexität, ein deutlich verbesserter Funktionsumfang, sowie eine flexible und agile Reaktionsfähigkeit auf zukünftige Veränderungsprozesse. Die sich aus den strategischen Rahmenparametern ergebenden Folgeanforderungen an die umsetzenden Mitarbeiter aus Fachbereichen und IT waren äußerst anspruchsvoll. Exemplarisch sei an dieser Stelle genannt, dass zunächst ein komplett neuer Denkansatz erarbeitet werden musste, der die oben genannten Anforderungen an Risikominimierung, Kunden- und Vertriebspartnerorientierung, Unternehmensentwicklung, evolutionärer Einführungsstrategie und IT-Zielen in Einklang zu bringen hatte (vgl. Abb. 21.8).
Quelle: 67rockwell Consulting
Abb. 21.8: Aufgabenstellung Phase 2
Bereits während der Erarbeitung von Einzelmaßnahmen und des Koexistenzmodells konnten erste Erfolge verzeichnet werden. Die harten Rahmenparameter und die anspruchsvolle Aufgabenstellung schweißten Fachbereiche und IT zusammen, die entstandenen Lösungskonzepte sind gemeinsames „Kulturgut“ geworden und die IT wird in deutlich verbessertem Maße als „Enabler“ des Prozesses zur Entwicklung eines gemeinsamen Unternehmens wahrgenommen.
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Wer nur etwas von IT versteht, hat nichts verstanden!
Unabhängig davon, ob der Auslöser des Wandels in strategischen Denkprozessen des Unternehmens selbst oder, wie in der Case Study exemplarisch beschrieben, in einer Post Merger-Situation begründet liegt: Im Umbauprozess vollzieht sich der Wandel stets evolutionär und sollte im Idealfall von außen, das heißt von den Kunden und Vertriebspartnern nicht negativ bemerkt werden. Das heißt jedoch nicht, dass sich für den Kunden oder die Partner der Versicherung nichts ändern würde. Zu dem Zeitpunkt, an dem der Umbau- und Wandlungsprozess der IT beginnt, besteht die Landschaft der allermeisten Versicherungsunternehmen aus einem Konglomerat verschiedener Anwendungen, hochkomplexer Systeme und heterogener Software verschiedener Generationen. Außerdem ist die Informationstechnologie in der Regel noch nicht in der Lage, sich als aktiver Treiber des Business zu präsentieren. Im Gegenteil: IT agiert oft als Bremser („Das geht technisch nicht!“) und präsentiert sich in der Gewinn- und Verlustrechnung als großer Kostenblock, der irgendwie seine Berechtigung zu haben scheint, grundsätzlich zu teuer ist und dessen entsprechend einzige Perspektive darin besteht, schnellstmöglich auf ein Mindestmaß reduziert zu werden. Am Ende des Umbauprozesses hat sich die Rolle der Informationstechnologie fundamental geändert. Sie ist nicht mehr bloß ein Teil des betrieblichen Ablaufs, sondern eine wichtige strategische Komponente der zum Unternehmensziel erklärten operativen Exzellenz. Wenn der Umbauprozess abgeschlossen ist, das heißt die letzten Reste der alten IT-Welten verschwunden sein werden, wird sich die Informationstechnologie in diesem Unternehmen mit reduzierter Komplexität, deutlich verbesserter Funktionalität, sowie einer flexiblen und agilen Reaktionsfähigkeit auf zukünftige Veränderungsprozesse präsentieren. Dieser Wandel ist aber nur scheinbar ein rein technischer Fortschritt. Er betrifft vor allem die Köpfe. Denn der Funktionswandel der Informationstechnologie bewirkt, dass auch für die Mitarbeiter der IT künftig die Bedürfnisse der Kunden und die Belange des Unternehmens und nicht die des Betriebs von Anwendungen auf Computern im Vordergrund stehen. Wer in diesem Prozess nur noch etwas von IT versteht, versteht auch davon nichts mehr. Gleiches gilt übrigens auch für den Vertrieb. Ein Versicherungsunternehmen mit flexibel und schnell reagierender IT stellt auch deutlich erhöhte Ansprüche an die primären Anforderer von Kundenbedürfnissen. Sie sind gefordert, die neu geschaffenen Möglichkeiten auch effektiv und effizient zum Vorteil von Kunden und Vertriebspartnern zu nutzen.
Kapitel 22 Versicherung 2.0 – Marketing und Kommunikation im Social Media-Zeitalter Uwe Schumacher
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Einleitung
Was damals in den USA als ein Netzwerk für den Ausfall von militärischen Sicherheitsinstitutionen, als Arpanet (Advanced Research Projects Agency Network) gestartet ist, hat sich im Anfang der neunziger Jahre zum World Wide Web weiterentwickelt. Seitdem ist es möglich, auch multimediale Inhalte, Grafiken, Texte und Bilder im Internet darzustellen. Vermehrt wird das Internet auch in Feldern unserer Gesellschaft genutzt, bei denen man früher überhaupt nicht an die Möglichkeit eines Einsatzes dieses Mediums gedacht hätte – einige Phänomene der letzen Zeit sind zum Beispiel das Bekanntwerden der Wahlergebnisse zur Bundespräsidentenwahl über das Social Media Netzwerk Twitter - bevor ein Printmedium diese veröffentlicht hatte. Auch Bilder von der Notwasserung eines Flugzeuges im Hudson River vor New York City verbreiten sich als erstes über Twitter und nicht mehr über klassische Nachrichtenagenturen. In Südkorea wird ein Protest gegen den Import von amerikanischem Schweinefleisch durch Einträge auf einer Fan-Forum-Seite einer südkoreanischen Boygroup, die in erster Linie eigentlich junge Mädchen (im Alter von 14 Jahren) anspricht, ausgelöst; über 1.000 Mitglieder des deutschen Social Networks StudiVZ schaffen es durch ihren Zusammenschluss, die Firma Langnese dazu zu bringen, ihre Eissorte „Nogger-Choc“ wieder auf den Markt zurückzubringen. Man kann große Unternehmen wie den Mobilfunkanbieter Vodafone beobachten, die massiv im Social Web aktiv werden, um hier neue Zielgruppen zu erreichen und um Kunden, die zur Konkurrenz abgewandert sind, wieder zurück zu gewinnen. Aktuell findet in unserer Gesellschaft ein Paradigmenwechsel statt, der in seiner Auswirkung noch gar nicht komplett abgeschätzt werden kann. Dementsprechend ist es besonders für Unternehmen wichtig, sich in diesem Bereich so frühzeitig wie möglich optimal aufzustellen – mit den richtigen Instrumenten und den richtigen Maßnahmen in Kommunikation und Marketing. M.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing, DOI 10.1007/978-3-642-10276-9_22, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
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Spätestens 2009 kann zu Recht gesagt werden, dass das Internet ein echtes Massenmedium geworden ist - über eine Milliarde Menschen sind heute weltweit im Netz online. Aktuell sind davon schon über 743 Millionen Menschen Mitglieder in Social Netzworks wie StudiVZ, Facebook, Twitter, YouTube und Co. Die Mediennutzung hat sich in den letzten Jahren dramatisch verändert, das Internet ist zu einem festen Bestandteil im Leben vieler Menschen geworden. Für europäische Konsumenten zählt es zu den einflussreichsten Medien und ist damit in seiner Bedeutung fast ebenbürtig mit TV, Radio oder Tageszeitungen (McRoberts/Terhanian, 2008). Die Ansprüche der erfahrenen Nutzer an eine Mediumgerechte Darstellung von Web-Inhalten – egal, ob es sich um Unternehmenspräsentationen, journalistische Artikel oder Werbung handelt – sind gestiegen und müssen daher bei der Produktion von redaktionellem und werblichem Content berücksichtigt werden. Insbesondere im Hinblick auf die derzeitige Krise im Jahr 2009 zeigt sich, dass die Nutzung von Printmedien zurückgeht und dass immer mehr klassische Medien eingestellt werden – die Nutzung des Internets steigt jedoch weiter. Speziell in der Zielgruppe der 14 – 49-jährigen steht das Internet in der Mediennutzungsdauer bereits an dritter Stelle direkt hinter TV und Radio (McRoberts/Terhanian, 2008). Das Internet hat also im Jahr 2009 eine Reichweite, die der der klassischen Medien durchaus ebenbürtig ist – beziehungsweise diese in bestimmten Zielgruppen sogar übertrifft. Über 80% der Konsumenten nutzen das Internet zum Finden und Vergleichen von Produkten oder Dienstleistungen. Direkter und schnellster Zugangsweg ist hier nach wie vor die Suchmaschine – die in Deutschland wichtigste ist weiterhin Google, mit über 90% hat sie den größten Marktanteil (vgl. AGOF e.V., 2009). Für Unternehmen hat dies folglich schwerwiegende Auswirkungen – einerseits ist der nächste Anbieter für den Kunden immer nur einen Klick entfernt, andererseits sind die Möglichkeiten für Vergleichbarkeit und Transparenz wesentlich höher, als es im klassischen Printzeitalter gegeben war. Hier hatte man als Kunde nur die Möglichkeit, sich z. B. vor Ort in Vertreterbüros zu informieren oder sich gedruckte Broschüren zuschicken zu lassen, die man dann zuhause am Schreibtisch vergleichen musste. Durch das Internet hat sich dies gewandelt und das Angebot für den Kunden ist vielfältiger geworden. Wegen der großen Konkurrenz und den Veränderungen in der Mediennutzung muss man daher heute als Dienstleistungsunternehmen auch verstärkt darauf achten, wie im Web über das eigene Unternehmen gesprochen wird. Hier spielt der Bereich der Online Reputation eine große Rolle: wer spricht über mein Unternehmen, meine Produkte, wo wird über mich gesprochen, wie häufig, positiv, negativ u.v.m. Auf der anderen Seite spielt der Bereich der Online Medien eine wichtige Rolle: In der klassischen Unternehmenskommunikation gewinnen diese immer mehr an Bedeutung, da Nachrichten in Online Medien wesentlich nachhaltiger sind und im Gegensatz zu gedruckten Zeitungsartikeln, die in der Regel nach wenigen Tagen vom Konsumenten wieder vergessen werden, langfristig in Suchmaschinen wie Google indexiert werden. Da das Web nichts vergisst, ist es hier wichtig, alle Aktivitäten im Bereich des Mar-
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ketings und der Unternehmenskommunikation daraufhin zu überprüfen, ob man in diesen Bereichen rundherum optimal aufgestellt ist (vgl. Abb. 22.1).
Quelle: ACTA 2008
Abb. 22.1: Imagewandel der Medien. Informationsquellen der 20- bis 39-Jährigen mit Fach- beziehungsweise Hochschulreife
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Kommunikation 2.0 und Marketing 2.0 für Unternehmen
Zunächst soll es hier um die Grundlagen, Instrumente und Einsatzmöglichkeiten gehen, die für die moderne Unternehmenskommunikation und das zeitgemäße Marketing unverzichtbar sind.
2.1
Grundlagen, Instrumente und Einsatzmöglichkeiten
Eine Strategie in den Bereichen Online Marketing, Suchmaschinenoptimierung, Suchmaschinenmarketing, Online Reputationsmanagement, Social Media und Online PR zeichnet innovative Unternehmen heute aus. Für das große Ganze sind letztendlich diese Felder genau diejenigen, diejenigen, welche zu Ergebnissen über das Unternehmen im Google-Index führen. Im Folgenden wird kurz erläutert, wie die einzelnen Maßnahmen in den verschiedenen Bereichen aussehen und angewendet werden.
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2.2
Online Marketing (SEO, SEM) bei der Direct Line
Erfolgreiches Online Marketing sollte auf eine breite Basis gestellt werden, denn durch vielfältige Maßnahmen wird eine möglichst hohe Reichweite erzielt. Doch bevor man einzelne Maßnahmen ergreift, muss man sich über die Zielsetzung im Klaren sein: Will man mehr Besucher auf die Website locken, mehr Kontakte generieren oder Verkäufe erzielen – oder alles zusammen? Um zu sehen, was überhaupt möglich ist, werden im Folgenden zwei der wichtigsten Kanäle des Online Marketings vorgestellt. Suchmaschinen-Optimierung (SEO) • Über 40 Millionen Deutsche und fast alle Unternehmen haben InternetZugang. • 94 % der Internet-User nutzen das Internet für den Kaufentscheidungsprozess. • 63 % der User nutzen das Internet zum Konsum von aktuellen Nachrichten zum Weltgeschehen. Suchmaschinen sind der zentrale Anlaufpunkt: • 75 % der User sehen Suchmaschinen als wichtigsten Anlaufpunkt für die Suche nach Informationen, Produkten & Dienstleistungen im Internet. • 50 % der Suchanfragen haben einen kommerziellen Hintergrund. • 45 % aller Online-Käufe beginnen mit einer Suchanfrage (vgl. AGOF e.V. 2009). Ein wichtiges Instrument des Online Marketings ist die SuchmaschinenOptimierung. Dabei werden auf einer Website technische und inhaltliche Voraussetzungen dafür geschaffen, dass Suchmaschinen den Internetauftritt optimal lesen und für zutreffende Suchanfragen listen können. Weiterhin wird die Linkpopularität (Steigerung der Links auf die eigene Webseite durch Einträge in Webkataloge, Social Media-Dienste, thematisch passende Blogs oder andere Portale) ausgebaut, um die Relevanz der Website zu erhöhen und auch damit die Rankings zu einzelnen Suchbegriffen wie zum Beispiel „Autoversicherung“, „Direct Line“ oder „Zweitwagentarif“ zu verbessern. Unternehmen, die bei entsprechenden Suchanfragen hoch positioniert sind, erhalten in der Regel mehr Besucher auf ihrer Website und damit mehr potenzielle Kunden und Umsätze. Mit Controlling-Tools kann die Entwicklung von Besucherzahlen und Anfragen genau nachvollzogen werden. Ziel der SuchmaschinenOptimierung ist es, die Positionen einer Website zu den für ein Unternehmen wichtigen Keywords langfristig zu verbessern und damit ihre Sichtbarkeit im Web nachhaltig zu erhöhen. Dies wiederum führt zu steigenden Besucherzahlen. Die laufende Optimierung einer Website ist die Basis für erfolgreiches Online Marketing.
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Suchmaschinen-Marketing (SEM) Um schnell Reichweite aufzubauen, können zusätzlich bezahlte Anzeigen geschaltet werden, die oberhalb und seitlich der normalen Suchergebnisse angezeigt werden. Bei AdWords, dem Werbesystem von Google, können zum Beispiel Anzeigen zu vorher definierten Suchbegriffen gebucht werden. Es fallen nur Kosten an, wenn die Anzeigen auch tatsächlich angeklickt werden. Über das frei wählbare Tagesbudget lassen sich so stets die Gesamtausgaben kontrollieren. Je spezifischer die Keywords ausgewählt und die Anzeigentexte formuliert werden, desto größer ist der Erfolg dieser Kampagnen. Vorteil der sogenannten „Sponsored Links“: Sie können kurzfristig geschaltet werden und somit einzelne Angebote zeitnah bewerben. Dies ist besonders bei zeitlich begrenzten Werbeaktionen sehr nützlich. Durch das Local Targeting kann zudem festgelegt werden, in welchen Ländern oder Regionen die Anzeigen geschaltet werden sollen – es kann also sehr zielgruppengenau geworben werden. Schließlich kann man durch das sogenannte Conversion Tracking den Erfolg der Kampagnen messen und einzelne Werbeaktionen sehr genau budgetieren und controllen - der Return on Investment (ROI) kann also direkt eingesehen und der Erfolg beurteilt werden. Eine weitere Methode zur Optimierung von SEM Kampagnen, also bezahlten Anzeigen bei Suchwortvermarktern wie Google oder Yahoo, ist der Einsatz von Bid Management Systemen. Ein Unternehmen mit mehreren tausend, zehntausend oder sogar hunderttausenden von Suchbegriffen kann die Steuerung nicht mehr manuell vornehmen, sondern setzt dafür neben Excel Sheets meist Bid Management Systeme sein, die genau diese Steuerung auf Basis von Zielen und Vorgaben durchführen. Ziel ist hier, den Erfolg von SEM durch die automatische Steuerung von Geboten für einzelne Suchbegriffe, Anzeigengruppen, Kampagnen oder auf Account-Ebene zu steigern. Auch kann der Erfolg durch den Return on Investment (ROI) gemessen werden: Return on Investment (ROI)-Online Marketing/ Suchmaschinenmarketing • Return on Investment Allgemein = Erzielter Gewinn/Kosten einer Marketing Kampagne. • Return on Investment II = Erzielter Gewinn pro Suchbegriff/Kosten pro Suchbegriff. • Return on Investment III = Erzielter Gewinn pro Anzeigengruppe/Kosten pro Anzeigengruppe. • Return on Investment IV = Erzielter Gewinn pro Kampagne/Kosten der Kampagne. Return on Advertising Spent (ROAS)-Online Marketing/Suchmaschinenmarketing • Return on Advertising Spent = Erzielter Umsatz/zurechenbare Werbekosten. Ein weiteres wichtiges Instrument des Online Marketings ist auch die Bannerwerbung (Display), die in anderen Onlinemedien und auf Webseiten eingebunden wird und verschiedene Produkte der Direct Line bewirbt. Um hier eine optimale
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Konversionsrate (CTR) zu erreichen, werden verschiedene Werbemittel vorab getestet. Um nach dem Klick auf das Banner eine möglichst lange Verweildauer und Transaktionen zu gewährleisten, spielt die hinter dem Banner liegende - die sogenannte Landing Page - eine große Rolle. Landing Pages Im Internet kommt nach dem Klick auf das Werbemittel die sogenannte Landing Page, eine speziell eingerichtete Webseite, die auf das Werbemittel und dessen Zielgruppe optimiert ist. Im Fall der Direct Line ist diese Seite gleichzeitig die Startseite des Tarifrechners, mit dem der Kunde individuelle Versicherungsangebote für seinen PKW oder Motorrad erstellen kann. Hier steht der Beginn der Tarifberechnung im Mittelpunkt, welcher frei von Ablenkung vorgestellt wird. Ein wesentliches Element ist hier die Integration der Buttons zur Auswahl des Szenarios „mit/ohne Kfz-Schein“, dass die einfache Interaktion mit dem Kunden sicherstellt. Daher sollte eine Landing Page stets sowohl dem Werbekontext entsprechen (also zum Beispiel den Inhalt des Werbemittels widerspiegeln), als auch Vertrauen schaffen, denn zur Entscheidungsfindung bleiben nur fünf bis zehn Sekunden, um dem Kunden die Herausstellungsmerkmale des Angebots zu kommunizieren. Insofern wird bei Direct Line prominent auf den Zweck der Seite („Angebot berechnen“) hingewiesen. Zusätzlich werden vorher verschiedene Varianten einer Landing Page getestet, um hier voll und ganz auf den Kunden und seine Bedürfnisse eingehen zu können. Dazu wird ein zeitgleicher Test mehrerer Varianten durchgeführt, um mehrere Änderungen an einer Landing Page zugleich auf ihre Effekte zu überprüfen. Ein oder mehrere Teilbereiche der Landing Page werden dafür definiert und für jeden Teilbereich eine Anzahl von Varianten festgelegt. Eine Software sorgt dann für die Auslieferung der entsprechenden Varianten in einer zufälligen Gleichverteilung. Danach wird ermittelt, welche Variante welchen Anteil an einer Veränderung der Ergebnisse hatte - und welche Kombination die besten Ergebnisse erwarten lässt. Weniger effiziente Varianten werden mit der Zeit eliminiert, es bleiben nur Varianten mit höchster Effizienz - in der Endbetrachtung steigert das die Wirtschaftlichkeit der Werbemaßnahmen. Bei Direct Line entscheiden also die Kunden, wie die optimale Landing Page für das jeweilige Werbemittel aussieht. Zusammenfassend lässt sich sagen: Wichtig bei der Suchmaschinenoptimierung (SEO) ist eine langfristige Optimierungsstrategie, da sich die Ranking-Kriterien der Suchmaschinen laufend ändern oder neue Keywords zur Optimierung hinzukommen. SEO wirkt sehr nachhaltig und bringt eine hohe Qualität an Besuchern auf die eigene Website, wenn die zu optimierenden Begriffe gut bei Google gerankt sind. Mit dem Suchmaschinenmarketing (SEM) ist man durch den gezielten Einsatz eines Budgets in der Lage, Maßnahmen und Aktionen zeitnah zu promoten und auch nochmal kurzfristig auf diese aufmerksam zu machen.
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SEM und SEO, zu dem auch der Bereich Linkpopularität gehört, zählen somit zu den wichtigsten Instrumenten des Online Marketings (vgl. Abb. 22.2).
Abb. 22.2: Relevanz der beiden Werbekanäle TV & Print, Vorteil von SEM:
2.3
Online Reputationsmanagement bei der Direct Line
Jedes Unternehmen mit seinen Produkten, Dienstleistungen und handelnden Personen hat einen Ruf zu verlieren. Speziell im Internet verbreiten verbreiten sich Meinungen sehr schnell und ein gutes Image kann innerhalb kurzer Zeit beschädigt werden und Umsätze gefährden. Es gibt immer mehr Portale im Internet, auf denen Nutzer Ihre Meinungen über Produkte oder Dienstleistungen mitteilen können. Durch Durch den weiter anhaltenden Trend des „Mitmach-Internets“ Web2.0, entstehen jeden Tag tausende von Kommentaren und Gesprächen - oft auch zu Erfahrungen mit dem Abschluss einer Versicherung. Das aktive Erstellen von Inhalten ist bei den Nutzern beliebter denn je. Das Bild eines Unternehmens in der Öffentlichkeit wird so maßgeblich von den Meinungen im Internet beeinflusst. Die Gefahr ist groß, dass kritische Äußerungen das Image eines Unternehmens negativ beeinträchtigen. Besonders problematisch kann es werden, wenn solche Debatten auf den ersten Ergebnisseiten bei Suchmaschinen wie Google & Co. erscheinen. Wenn sich zu Marken- oder Produktnamen negative Veröffentlichungen direkt in den Top20Suchergebnissen wiederfinden, kann dies sogar zu Umsatzverlusten des Unte Unternehmens führen. Die Folge: der Suchende wird verunsichert oder abgeschreckt und sucht in der Regel alternative Angebote. Da über 80 % der Internetnutzer
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Suchmaschinen verwenden, um sich über Produkte, Dienstleistungen und Unternehmen zu informieren, kann kann schon die Meinung eines Einzelnen in den TopErgebnissen bei Google entgangene Umsätze und dauerhaften Reputationsschaden bedeuten. So etwas musste der Klingeltonanbieter Jamba erfahren: Ein Blogger äußerte frei seinen Unmut über die Geschäftsgebaren des Unternehmens und löste damit eine negative PR-Welle aus. Es hieß die Jamba-Werbung erwecke den Eindruck, man könne einen Klingelton kaufen. Tatsächlich werden aber Abonnements angeboten. Viele Leser kommentierten den Beitrag mit eigenen Erfahrungen oder oder veröffentlichten ähnliche Berichte im Internet. Der Imageverlust des Unternehmens war immens, da der entsprechende Blogbeitrag bei der Suche nach „Jamba“ noch vor der Unternehmenswebseite selbst bei Google zu finden war. Um den guten Ruf eines Unternehmens Unternehmens zu bewahren und zu verbessern, ist es wichtig, unternehmensrelevante Themen und Diskussionen im Internet rechtzeitig zu erkennen, zu beobachten und bei Bedarf angemessen darauf zu reagieren. Viele Unternehmen verfügen jedoch nicht über das Know-how oder die Ressourcen, um stets aktuell informiert zu bleiben und sich, wo es notwendig ist, richtig zu verhalten. Denn es gibt unterschiedlichste Möglichkeiten mit Kritik und negativen Meinungen umzugehen. Mit Online Reputationsmanagement (ORM) lassen sich diese diese Gefahren erkennen: Durch kontinuierliches Monitoring wird der Ruf des Unternehmens im Internet überwacht. Potenzielle Gefahren für das Unternehmen können so frühzeitig erkannt und individuelle Handlungsempfehlungen abgeleitet werden, um negativen Äußerungen entgegenzuwirken oder positive Resonanzen gezielt noch stärker für sich zu nutzen (vgl. Abb. 22.3).
Abb. 22.3: Online Reputationsmanagement
Direct Line hat im Zuge des ORM zunächst evaluiert:
• Was findet man überhaupt an Informationen und Gesprächen über das Unternehmen Direct Line und seiner Produkte im Internet? • Wo gibt es negative oder positive Fundstellen, wo wird zu Direct Line besonders häufig kommentiert?
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Wichtig sind vor allem Bewertungen in Foren, Blogs, Verbraucherportalen etc. wie zum Beispiel „Wie findet Ihr den Tarif ABC?“ und „Warum ist Tarif A besser oder schlechter als Tarif B?“. Besonders Dienstleistungen und ihre Anbieter, wie u.a. Autoversicherungen, erzielen viele Ergebnisse zu diesen Suchanfragen. Dieses Verhalten im Web ist jedoch nicht isoliert zu betrachten - viele Menschen tauschen sich selbstverständlich auch nach wie vor offline mit Freunden, Bekannten, Familie und Kollegen über diese Themen aus. „Persönliche Empfehlungen und im Web veröffentlichte Kundenbewertungen sind weltweit die vertrauenswürdigsten Werbeformen (…). Neun von zehn Internetkunden vertrauen den Empfehlungen ihrer Bekannten, während sieben von zehn auf die Meinung von anderen Verbrauchern hören, die diese im Web veröffentlichen“ (Schutzmann, 2009, S.6). Doch auch diejenigen, die sich offline über bestimmte Themen, Produkte und Dienstleistungen austauschen, werden oft schon durch kurze Recherchen im Web beeinflusst. Dies wirkt sich folglich auf die Bereitschaft aus, online Geschäfte mit einem bestimmten Unternehmen abzuschließen oder nicht. Sobald sich ein Unternehmen den Überblick darüber verschafft hat, was, wo und wie im Internet über es gesagt wird, kann es daran arbeiten, mit den Ergebnissen konstruktiv umzugehen. Bestimmte positive Beiträge gilt es zu verstärken, damit diese in Suchmaschinen besser gerankt werden. Zudem sollte man offen sein, den Dialog anzubieten,, eventuelle Missverständnisse zu bearbeiten und Unklarheiten aus dem Weg zu räumen, aber auch positive Dinge zu verstärken. Dieses direkte Zugehen auf den Verbraucher sollte immer äußerst transparent geschehen. Denn leider gibt es auch viele Negativ-Beispiele, in denen versucht wurde, Kundenmeinungen zu manipulieren oder durch verdeckte Strategien/Aktionen zu unterwandern. Durch die Weböffentlichkeit werden diese Fälle meist jedoch schnell bekannt und hinterlassen bei den Verbrauchern ein ungutes Gefühl. Um die notwendigen Folge-Handlungen mit Fingerspitzengefühl und entsprechender Expertise durchzuführen, sollte man in Betracht ziehen, sich professionelle Hilfe zu holen. Die Handlungsmöglichkeiten im ORM reichen dann von der Aufnahme des Dialogs/Kontaktes mit den Autoren, Kontakt zum Portalbetreiber bis hin zum Einschalten eines Fachanwaltes. ORM-Maßnahmen sind jedoch stark vom Einzelfall des Beitrages im Web abhängig und müssen meist individuell behandelt werden. Ein konkreter Fall, bei dem eine Reaktion durch Direct Line angemessen war, ereignete sich beispielsweise jüngst auf der Verbraucher-Plattform Dooyoo: Eine Anspruchstellerin von Direct Line fühlte sich im Rahmen einer Schadenabwicklung missverstanden und äußerte Ihren Unmut hierüber online. Direct Line hat sich daraufhin der Kritik angenommen und den Kontakt zur Kundin gesucht, um ihr die Sachlage aus Sicht der Versicherung darzustellen. Die Schadensabwicklung wurde letztendlich im beiderseitigen Einverständnis geklärt, und die Kundin hat daraufhin Ihre zunächst negative Kritik auf Dooyoo von sich aus revidiert.
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Social Media-Strategie und (Online-) PR
Eine der wichtigsten Maßnahmen für die Social Media-Strategie eines Unternehmens, die auch eng mit der Online-PR zusammenhängt, ist der Aufbau von eigenen Kanälen im Social Web. Diese Kanäle können zum Beispiel ein Corporate Blog sein, ein Account beim Microblogging-Dienst Twitter, bei der Freundeplattform Facebook, dem Bookmarking-Portal Mister Wong, dem Videoportal YouTube oder Corporate Accounts bei Verbraucherportalen wie Ciao oder Dooyoo je nachdem, in welchem Feld das Unternehmen zuhause ist und wo sich die relevanten Zielgruppen aufhalten. Der Kernaspekt hinter einer Social Media-Strategie ergibt sich aus der Entwicklung, das sich immer mehr Nutzer weiter von klassischen Web-Angeboten (wie zum Beispiel Mailaccounts, Informationssuche, Kommunikation und E-Commerce) entfernen und stattdessen zuerst auf Social Media Plattformen wie Facebook oder meinVZ zugreifen. Daher macht es Sinn, als Unternehmen überall dort präsent und zum Dialog bereit zu sein. Die Direct Line wird in den nächsten Monaten ihre Präsenz in diesen Kanälen ausbauen. Empfehlungen für eine Social Media Strategie (vgl. Reuter 2009): • Wichtig ist die Qualität, nicht Quantität: Social Media Engagement besteht nicht nur aus zahlreichen eröffneten Profilen, sondern setzt die intensive Nutzung der darin enthaltenen Instrumente (Kommentare, Status Updates etc.) voraus. • Social Media ist jedermanns Aufgabe: Jeder Mitarbeiter kann und soll seinen Anteil beitragen. Nur so ist Skalierbarkeit gewährleistet. • Social Media Engagement bedeutet, konsistent, dauerhaft und authentisch zu kommunizieren.
3.1
Beispiele Web2.0-Instrumente (Corporate Blog, Social Media-Kanäle) bei Direct Line
Direct Line führt bereits seit 2008 als eine der ersten Versicherungen in Deutschland einen Corporate Blog. Bisher schreiben hier noch virtuelle Charaktere, da der Blog in erster Linie zur Erreichung von Besuchern durch spezifische Keywords fungiert hat. Dieses Blogkonzept soll jedoch im Zuge der Social Media-Strategie demnächst in ein echtes Mitarbeiter-Blog umgewandelt werden. Weitere Instrumente der Social Media Strategie wird die Bespielung verschiedener Social Media Kanäle wie zum Beispiel die Foto-Community Flickr (einstellen von Pressebildern), die Videoplattform YouTube (zeigen von Clips von Veranstaltungen, Werbespots, Produkten) oder auch der Microblogging-Dienst Twitter sein. Bereits jetzt werden alle Veröffentlichungen in einem Mister-Wong-Pressespiegel zusammengefasst. Die Verknüpfung der Inhalte der unterschiedlichen Social Media Accounts - Bildmaterial, Videos, Blogbeiträge, Kurznachrichten und Statusmeldungen – schaffen für Direct Line eine höhere Sichtbarkeit in Suchmaschinen (vgl. Abb. 22.4 und Abb. 22.5).
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Abb. 22.4: Direct Line Versicherungs AG, Corporate Blog
Abb. 22.5: Communities und Foren
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3.2 Verzahnung von Online-PR und Web2.0-Instrumenten Die Distributions- und Kommunikationswege ändern sich im Social MediaZeitalter sehr schnell, daher sollten sich auch Unternehmen diesen Gegebenheiten anpassen. So ist es im Bereich Kommunikation heutzutage zum Beispiel nicht mehr so, dass eine Pressemitteilung darin endet, dass sie per Mail oder über einen Nachrichtenverteilerdienst versendet wurde, sondern es ist effizienter, danach zusätzlich die Links zur Pressemitteilung auch in die Social Media Accounts einzustellen, also zum Beispiel die Nachricht zu twittern, sie in die Statusmeldung bei Xing zu nehmen, sie zusätzlich im Online-Pressespiegel bei Mister Wong zu hinterlegen oder sie auch an thematisch passende Blogs zu schicken. Direct Line nutzt diese Möglichkeiten der Verzahnung von Online-PR und Web2.0-Diensten aktiv seit diesem Jahr. Neueste Innovation von Direct Line ist ab September 2009 der eigene Social Media Newsroom. Hier werden in einem modernen Pressebereich 2.0 alle schon erwähnten Drittdienste, die man für die Unternehmenskommunikation und das Marketing nutzt, übersichtlich zusammengefasst: Man findet dort die neuesten Pressemitteilungen, die letzten Veröffentlichungen, Unternehmensfotos von Flickr, Videos, die das Unternehmen bei Youtube eingestellt hat u.v.m. Über Share-Funktionalitäten können diese Informationen auch wieder in andere Dienste eingespeist werden. So hat man hier eine übersichtliche Oberfläche, die sowohl für Journalisten, als auch für Multiplikatoren oder andere am Unternehmen Interessierte einen einfachen Überblick über aktuelle Nachrichten und Neuigkeiten aus dem Unternehmen ermöglichen. Für das Unternehmen eröffnet sich damit ein neuer, direkter Kommunikationsweg mit Kunden, Journalisten und Geschäftspartnern.
4
Fazit
Für Direct Line ist der Absatzkanal Internet mit etwa 50% der Policen-Abschlüsse einer der wichtigsten Vertriebskanäle. Neben den Grundlagen des Online Marketings kommen seit 2008 auch Mittel wie das Blog und seit 2009 verschiedene Socia Media Maßnahmen zum Einsatz. Im Sinne der 360°-OnlineKommunikation zielen alle Aktivitäten auf höhere Sichtbarkeit und Verbesserung der Online Reputation ab. Durch die intensive Zusammenarbeit mit spezialisierten Agenturen in den Bereichen SEO, SEM, Social Media, Media und PR sind die Erfolgsfaktoren für die nachhaltige Reputationspflege und somit den wirtschaftlichen Erfolg im Web gelegt.
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Literatur AGOF e.V.: Internet Facts, Berichtsband 2009-I, verfügbar: http://www.agof.de/studie.583.html [03. August 2009]. McRoberts, B./Terhanian, G. H.: Digital Influence Index Study - Welche Rolle spielt das Internet im Leben der Konsumenten in Deutschland, Großbritannien und Frankreich? 2008 Verfügbar: http://www.harrisinteractive.de/pubs/Digital_ Influence_Index_Whitepaper_DE.pdf, [30. Juli 2009]. Reuter, M.: Markenunternehmen steigern Umsatz und Gewinn durch Social Media Engagement, verfügbar: http://www.yigg.de/toolbar/presse-und-medien/markensteigern-umsatz-und-gewinn-durch-social-media-engagement, [04. August 2009]. Schutzmann, I.: Mundpropaganda zieht, Internet World Business, Ausgabe 16/09, S.6. SevenOne Media GmbH (Hrsg.) (2005): Time Budget 12, verfügbar: http://www.prosiebensat1.com/imperia/md/content/home/TimeBudget12.pdf [30. Juli 2009].
Kapitel 23 Kommunikationspolitik im Versicherungssektor Dr. Ute Rohbock/Martha Jagoda
Die Versicherungswirtschaft stellt eine Branche dar, die lange Zeit gänzlich auf Marketingansätze verzichtet hat. Nicht nur Marktforschung und Benchmarking, sondern auch das Umsetzen moderner Marketinganwendungen ist nach Aussagen von Experten verbesserungsbedürftig (vgl. Beenken 2008, S. 710). Generell setzt sich die Branche wenig mit dem Thema Marketing auseinander. Der Schwerpunkt liegt im Vertrieb, der einen großen Stellenwert im Gesamtunternehmen einnimmt. Bis dato konnten mit dieser Methode kontinuierlich Zuwachsraten erzielt werden und somit schien es nicht notwendig Marketingthemen verstärkt umzusetzen (vgl. Görgen 2002, S. 11). Da dieser Trend jedoch deutlich abnimmt und das Bewusstsein für die Wirksamkeit von Marketing geschaffen wurde, ist auch die Auseinandersetzung mit Kommunikationspolitik im Versicherungswesen heute wichtiger als jemals zuvor. Neben einer gravierenden Wettbewerbsverstärkung (vgl. Burman/Scheuser/Weers 2005, S. 426) stellt das Imageproblem der Versicherungsbranche einen zentralen Grund dafür dar, dass Marketing stärker in den Fokus gerückt werden sollte. Neben einem gewissen Eigenanteil der Versicherungsbranche selbst trugen die Inflation, die Währungsreform und zahlreiche andere Ursachen ihren Anteil zum negativen Image bei (vgl. Görgen 2002, S. 17). Ein solches Image wieder in den Griff zu bekommen, stellt einen langen Prozess dar, der nicht ohne Hindernisse und Durchhaltevermögen umzusetzen ist. Eine bewährte Möglichkeit zur Neupositionierung ist, fundierte, zeitgemäße und kontinuierliche Unternehmens- und Marketingkommunikation zu betreiben. Die Dienstleistungsbranche stellt das Marketing jedoch vor besondere Herausforderungen. Nicht nur die generelle Immaterialität des Produktes, sondern auch das veränderte Kaufverhalten der Kunden, das sich in diesem Bereich ganz besonders durchgesetzt hat, stellt eine Hürde dar. Der Konsument ist preissensibler geworden und durch den wachsenden Wettbewerb auch mehr darauf bedacht, einzelne Angebote zu vergleichen (vgl. Schumacher 2006, S. 68). In der Versicherungsbranche gilt es gleich mehrere Aspekte zu beachten. Trends aufzugreifen und trotzdem klassisch zu kommunizieren, stellt eine Herausforde-
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Dr. Ute Rohbock/Martha Jogada
rung dar, die es für die Versicherer zu meistern gilt, um auf dem Markt bestehen zu können und einen Wettbewerbsvorsprung zu generieren.
1
Besonderheiten im Dienstleistungssektor
Die Besonderheiten von Dienstleistungen ergeben sich aus deren Hauptmerkmalen von Dienstleistungen: • Immaterialität, • Nichtlagerfähigkeit und • Kundenbeteiligung bei der Erstellung. So ist es eine Herausforderung für die Kommunikationspolitik, die Dienstleistung zu bewerben, ohne diese an sich darzustellen (vgl. o.V. 2009a). Die Tatsache, dass der Konsum zeitgleich zur Erstellung des Dienstleistungsangebotes erfolgt, stellt zudem eine besondere Situation für die Kommunikationsexperten dar. Die größte Hürde stellt jedoch die Kundenintegration dar. Es gilt nicht ein materielles Produkt zu bewerben, sondern eine individuelle Dienstleistung, die je nach Konsument unterschiedlich aussehen kann (vgl. Meffert/Bruhn 2009, S. 280). Im Vergleich zum klassischen Marketing zeigt sich im Dienstleistungsmarketing die größte Besonderheit im Zusammenhang Zusammenhang mit den 4 P’s. Neben Product, Place, Price und Promotion, kommen im Dienstleistungsmarketing drei zusätzliche P’s zum Einsatz. People, Processes und Physical Facilities sind Faktoren, die innerhalb der Dienstleistungskommunikation zu berücksichtigt sind (vgl. Abb. 23.1).
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 23.1: Vom 4-P-Modell zum 7-P-Modell
Neben der angemessenen Prozessgestaltung und dem Ausstattungsumfeld spielt die Personalpolitik eine entscheidende Rolle als Ergänzung zu den 4 P’s des klassischen Marketing. Zufriedene, qualifizierte Mitarbeiter können ein authentisches
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Kommunikationspolitik im Versicherungssektor
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Bild vom Unternehmen an den Kunden vermitteln und auf diese Weise kann erreicht werden, dass das Gesamterlebnis „Versicherung“ positiv gestaltet wird. Die Mitarbeiter eines Unternehmens sind neben der Dienstleistung das wichtigste Gut im Dienstleistungssektor (vgl. Salzmann 2007, S. 2). Das Versicherungserlebnis vorteilhaft gestalten zu können, setzt eine hohe Markenverbundenheit des Mitarbeiters voraus. Brand Commitment ist ein Aspekt, der bereits bei der Personalauswahl einen zentralen Aspekt darstellen sollte (vgl. Burman/Scheuser/Weers 2005, S. 421). Um dem Marketing einen ausreichenden Stellenwert im Unternehmen zukommen zu lassen, sollten die Marketingziele mit den Unternehmenszielen korrespondieren. Neben den ökonomischen Zielen eines Unternehmens sollten vor allem die psychografischen Ziele geklärt sein. Nicht nur das Image der Versicherungsgesellschaft, sondern auch die generelle Kundenzufriedenheit stellen wichtige Einflussgrößen zur Kundenbindung dar (vgl. Görgen 2002, S. 29; Fechner 2009, S. 14). Vor allem bei immateriellen Gütern ist diese Herausforderung immens. Im Versicherungswesen herrscht traditionell eine starke Kundenorientierung, was aus einer starken Vertriebsorientierung resultiert. Deshalb sollte sich dieses auch in der Kommunikation widerspiegeln. Von der Neukundengewinnung, über die Kundenbindung bis hin zur Kundenrückgewinnung, sollte der Kommunikation eine große Beachtung geschenkt werden. Im Rahmen der Neukundengewinnung ist es wichtig, das Image zu kommunizieren. Selbst in der Kundenrückgewinnungsphase des Kundenlebenszyklusses gilt es, negative Mundpropaganda zu vermeiden. Während des gesamten Kundenkontaktes muss sinnvoll mit Kommunikationsinstrumenten umgegangen werden, um einen positiven Kundenkontakt zu gestalten (vgl. Fechner 2009, S. 14). Persönliche Kommunikation zwischen dem Vertrieb und der Kundenseite spielt eine bedeutsame Rolle in der Kommunikationspolitik von Versicherungsunternehmen.
2 Kommunikationsempfehlung Im Folgenden werden Kommunikationsempfehlungen für die Versicherungsbranche aufgezeigt, die nicht als Einzelmaßnahmen, sondern in einem ausgewogenen Mix einsetzbar sind.
2.1
Klassische Kommunikation
Veränderte Kundenbedürfnisse erzwingen eine neue Kommunikation (vgl. Beenken 2009, S. 1) und es reicht nicht aus, einen guten Direktvertrieb von Versicherungen zu haben. Um am Markt bestehen zu können, sollten aufgrund der Wettbewerbssituation alternative Methoden der Marketingkommunikation herangezogen werden.
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Werbung beeinflusst sich gegenseitig, und wenn Werbeformen positiv aufeinander abgestimmt werden, können positive Synergien und Kostensenkungen entstehen. Das „aufeinander Abstimmen“ und „sich Ergänzen“ von Werbung bedeutet Integrierte Kommunikation (vgl. Schwarz/Braun 2006, S. 8). Diese Art zu werben ist notwendig, um beim Kunden ein positives Erlebnis zu generieren. Verschiedene Wege zur Ansprache, die durchweg die gleiche Botschaft senden, werden vom Kunden angenommen. Integrierte Kommunikation funktioniert nur, wenn alle Mitarbeiter des Unternehmens kooperativ zusammenarbeiten und „an einem Strang ziehen“. Dabei ist es unerlässlich, dass die Grundaussage der Werbebotschaft durch alle Kommunikationsmittel konsistent bleibt. Diese Forderung nach Integrierter Kommunikation ist weder neu noch originell, jedoch zeigen Studien, dass Werbung oftmals nur schwach beziehungsweise gar nicht formal integriert ist (vgl. Munzinger/Munziol 2008, S. 149). Demnach muss diese Forderung erneut bekräftigt werden. Im Folgenden werden unterschiedliche Wege der Kommunikation aufgezeigt. Die einzelnen Möglichkeiten sollten unter dem Aspekt der Integrierten Kommunikation verstanden werden. Vor diesem Hintergrund können die einzelnen Kommunikationsinstrumente ihre volle Wirkung entfalten. Klassische Werbung Die klassische Werbung bietet nach wie vor eine große Zuverlässigkeit in Bezug auf die Werbewirkung. Gemeint ist hier die klassische Mediawerbung. Nach Bruhn ist die Mediawerbung „der Transport und die Verbreitung werblicher Informationen über die Belegung von Werbeträgern mit Werbemitteln im Umfeld öffentlicher Kommunikation gegen ein leistungsbezogenes Entgelt, um eine Realisierung unternehmens- und marketingspezifischer Kommunikationsziele zu erreichen.“ (Meffert/Bruhn 2009, S. 292). Die Herausforderung für die Werbefachleute ist nun, die Aussage des immateriellen Gutes auf das Medium zu übertragen, um die Werbebotschaft beim Kunden zu platzieren. Neben der generellen Darstellung der Medien sind hierbei zwei entscheidende Faktoren problematisch, die generelle Informationsüberlastung des Empfängers und die eingeschränkte Glaubwürdigkeit der heutigen Werbung (vgl. Fuchs/Unger 2007, S. 164). Wenn jedoch diese Hürden überwunden werden, kann klassische Mediawerbung die Basis für eine Werbekampagne sein und maßgeblich dazu beitragen, dass eine Abgrenzung von den Wettbewerbern stattfindet. Sponsoring Die nachlassende Wirkung von klassischer Werbung ist die wesentliche Ursache für den Anstieg der Werbeausgaben im Bereich Sponsoring, um hier Unterstützungsarbeit zu leisten (vgl. Burman/Scheuser/Weers 2005, S. 388). Das Sponsoring ist im Vergleich zur klassischen Mediawerbung eine noch recht junge Disziplin im Media-Mix. Gerade dieser Umstand macht das Instrument jedoch attraktiv (vgl. Burman/Scheuser/Weers 2005, S. 304). Sponsoring zielt darauf ab, Sympathie und Interesse bei der Zielgruppe zu wecken. Dabei ist Sponsoring oft ein
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ergänzendes Kommunikationsinstrument im Rahmen der Integrierten Kommunikation (vgl. Görgen 2002, S. 180). Durch die Verknüpfung des positiven Freizeiterlebnisses mit der Versicherungsdienstleistung kann die Immaterialität dieser Dienstleistung zum Teil visualisiert werden (vgl. Meffert/Bruhn 2009, S. 291). Sponsoring gibt es in den verschiedensten Bereichen: Von Kunst- über Kultur- bis hin zu Ökosponsoring sind die Möglichkeiten vielfältig. Im Versicherungswesen scheint das Sportsponsoring eine sinnvolle Möglichkeit der Dienstleistungskommunikation darzustellen. Da Sportsponsoring jedoch mittlerweile von vielen Werbetreibenden eingesetzt wird, ist es schwierig, sich damit von Mitbewerbern abzuheben und eine positive Wirkung beim Kunden zu erzielen. Wesentlich Erfolg versprechender ist es, sich mit einer kreativen Werbebotschaft Alleinstellungsmerkmale zu schaffen und sich dadurch vom Wettbewerb zu distanzieren. Außerdem ist eine Kombination mit Programmsponsoring von Sportevents denkbar, da diesem Instrument immer mehr Bedeutung zukommt und Sport und TV auf diese Art und Weise zusätzlich verknüpft werden können(vgl. Fuchs/Unger 2007, S. 309). Verkaufsförderung „Verkaufsförderung bedeutet die Analyse, Planung, Durchführung und Kontrolle meist zeitlich befristeter Maßnahmen mit Aktionscharakter, die das Ziel verfolgen, auf nachgelagerten Vertriebsstufen durch zusätzliche Anreize Kommunikationsund Vertriebsziele eines Unternehmens zu erreichen“ (Bruhn 2009, S. 227). Ähnlich wie beim Sponsoring lässt sich auch hier in den letzten Jahren ein deutlicher Anstieg der Ausgaben feststellen. Ein Grund für diesen Anstieg ist die gewachsene Erwartungshaltung des Kunden (vgl. Fuchs/Unger 2007, S. 214 ff.). Auch hier kann ein positives Erlebnis erzeugt werden, um die Versicherung zu veranschaulichen und ein gutes Image zu kreieren. Neben Wettbewerben können auch Schulungen zusätzliche Reize schaffen, eine Versicherung in Anspruch zu nehmen (vgl. Görgen 2002, S. 181). Da Verkaufsförderung eher zu den kurzfristig wirkenden Instrumenten im Mediamix zählt (vgl. Bruhn 2009, S. 229), ist auch hier auf die Integration in die Gesamtkommunikation hinzuweisen. Öffentlichkeitsarbeit Im Gegensatz zur klassischen Mediawerbung hat Öffentlichkeitsarbeit nicht primär zum Ziel, die Unternehmensleistung zu bewerben, sondern Verständnis für das Unternehmen an sich aufzubauen(vgl. Bruhn 2009, S. 233). Da Versicherungen Vertrauensgüter sind, sollte Public Relations (PR), das synonym zu Öffentlichkeitsarbeit verwendet wird, als eine der wichtigsten Aufgaben der Kommunikation betrachtet werden. Dieses Kommunikationsinstrument trägt wesentlich dazu bei, Vertrauen zu dem Kunden aufzubauen und das Unternehmensimage, was nur durch die Publikation von positiven Tatsachen und Fakten über das Unternehmen möglich ist, zu verbessern (vgl. Görgen 2002, S. 182).
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Es existieren vielfältige Möglichkeiten Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben und die wichtigsten Unterscheidungen sind in der nachfolgenden Tabelle (vgl. Abb. 23.2) aufgelistet. Öffentlichkeitsarbeit gehört eher zu den langfristig wirkenden Kommunikationsinstrumenten und ein kurzfristiger Verkaufserfolg lässt sich damit nicht erzielen (vgl. Bruhn 2009, S. 235).
Quelle: In Anlehnung an Fuchs 2007, S.246
Abb. 23.2: Überblick über ausgewählte Ausprägungen von PR
Direktmarketing Ein elementares Kommunikationsinstrument bei Vertrauensgütern wie einer Versicherung stellt die persönliche Kundenansprache dar. Direktmarketing wird demzufolge als ein zentrales Instrument für die Versicherungsbranche bezeichnet. Der persönliche Kontakt führt zu hoher Glaubwürdigkeit im Kommunikationsbereich und schafft großes Vertrauen. Im Gegensatz zu Massenkommunikation setzt das Direktmarketing also auf unmittelbare und individuelle Kundenansprache (vgl. Metz 2006, S. 1) und kann somit als Marketingführung verstanden werden, die auf den Einzelkunden ausgerichtet ist (vgl. Link/Seidl 2006, S. 126). In der heutigen Werbelandschaft wird der Kunde von allen Seiten mit unkoordinierten Werbebotschaften konfrontiert, die
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hohe Streuverluste generieren. Je zielgerichteter jedoch die Kundenansprache ist, desto besser wird diese auch wahrgenommen. Empirischen Untersuchungen zufolge ist die Akzeptanz von nicht persönlich adressierten Postwurfsendungen in den letzten Jahren drastisch von 58 Prozent auf 38 Prozent gesunken (vgl. Metz 2006, S. 1). Dagegen kann die Versicherungsbranche wirken und sich, falls dies nicht schon praktiziert wird, auf eine individuelle Kundenbetreuung fokussieren. Im Gegensatz zur klassischen Mediawerbung findet beim Direktmarketing eine Rückkopplung statt (vgl. Görgen 2002, S. 179). Der Kunde fühlt sich individuell angesprochen und muss das passende Angebot nicht erst aus der Vielzahl der nicht zielgerichteten Werbebotschaften herausfiltern. Eine gute Ergänzung zum Direktmarketing stellt das Customer-RelationshipManagement (CRM) dar. Die im Rahmen des CRM eingesetzten Maßnahmen tragen dazu bei, eine verbesserte Kundenbeziehung beziehungsweise und ein besseres Verständnis für den Kunden zu schaffen. Hierzu wird eine Vielzahl von Software angeboten, die es den Unternehmen erleichtert, Kundenbeziehungen zu pflegen (vgl. o.V. 2009b).
2.2
Interne Kommunikation
Im Dienstleistungsbereich birgt die interne Kommunikation ein großes Potenzial. Neben der Dienstleistung an sich sind die Mitarbeiter das größte Kapital jedes Dienstleisters (vgl. Brebach 2008, 1120). Besonders in der vertriebsorientierten Versicherungsbranche stellen die Mitarbeiter ein nicht zu unterschätzendes Gut dar. Es gilt in erster Linie, die eigenen Mitarbeiter von der Dienstleistung zu überzeugen, denn je überzeugter der Vertreter vor Ort ist, desto glaubwürdiger wird er beim Kunden auftreten. Zwar ist die direkte Mediakommunikation durch das Unternehmen nicht zu unterschätzen, jedoch ist es der Mitarbeiter, der den direkten Kundenkontakt pflegt und somit die Glaubwürdigkeit jeder Werbekampagne bestätigen oder diese infrage stellen kann. Schon bei der Personalauswahl ist darauf zu achten, dass eine hohe Übereinstimmung zwischen der Unternehmensidentität und der Identität des neuen Mitarbeiters besteht. Nur wenn ein absolutes Commitment zum Unternehmen und dessen Werten und Zielen existiert, kann sich der Mitarbeiter positiv auf die Unternehmenskommunikation auswirken (vgl. Burman/Scheuser/Weers 2005, S. 421).
2.3
Interne Krisenkommunikation
Die aktuelle Wirtschaftslage macht es notwendig auch die interne Krisenkommunikation zu beleuchten. Wenn Personalveränderungen anstehen, sollten die Mitarbeiter möglichst frühzeitig über die gegebene Situation informiert werden. Im Rahmen der internen
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Kommunikation zeigt es sich schnell, ob das Unternehmen dazu in der Lage ist, eine Gesamtstrategie der Dienstleistungskommunikation umzusetzen (vgl. Garth 2008, S. 32). Vor allem bei emotionalen Themen, wie Mitarbeiterentlassungen, zählt interne Kommunikation in einem Unternehmen zu den bedeutendsten Instrumenten während der Krise. „Häufig scheitert die Bewältigung einer Krisensituation am Unvermögen, die Mitarbeiter auf ‘unpopuläre’ und ‘schmerzliche’ Maßnahmen einzustimmen“ (Richter 2007, S. 4). Hieran ist außerdem erkennbar, wie bedeutend die Rolle der Kommunikation generell im Unternehmen ist. Unternehmen, deren Kommunikation auch während der „normalen“ Konjunktur funktioniert, werden es leichter haben, in Krisenzeiten zu kommunizieren. Erst Maßnahmen zu ergreifen, wenn die Krise bereits eingetreten ist, wird nicht funktionieren. Unternehmen sollten ständig darauf vorbereitet sein, von einer Krise erfasst zu werden; Krisenprävention sollte als ein ständiger Begleiter im Alltag von Führungskräften betrachtet werden. Prävention im Rahmen eines internen Krisenmanagements heißt auch, eine starke Marke im Unternehmen zu pflegen. Dies schafft intern Identifikation für die Mitarbeiter und extern Vertrauen auf Kundenseite. Es sind die starken Marken, die in der Lage sind, Krisen zu überstehen. „Je stärker das Image, desto leichter die Krisenbewältigung“ (o.V. 2008, S. 1). Kommunikation und Markenführung gehen dabei Hand in Hand und Markenwerte verlangen es, ständig kommuniziert zu werden. Insbesondere, wenn es dem Unternehmen gut geht, sollte in proaktive Unternehmensführung und damit in Markenbildung und Markenentwicklung investiert werden. Markenkommunikation sollte demzufolge hoch priorisiert werden (vgl. Garth 2008, S. 175). Generell kann interne Kommunikation als Erfolgsfaktor zur Krisenbewältigung im Versicherungsgeschäft gezählt werden.
2.4
Virales Marketing
Neben den klassischen Kommunikationsformen haben sich in den letzten Jahren die Schlagworte ‘Web 2.0’ und ‘Virales Marketing’ etabliert. Diese Marketingtrends an sich vorbeiziehen zu lassen, ist vor allem in Branchen üblich, die dem Marketing bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben und bei denen Unternehmenskommunikation bislang keinen großen Stellenwert einnimmt. Im Rahmen einer Integrierten Kommunikation ist es jedoch erforderlich, neue Methoden und Tendenzen aufzugreifen und gegebenenfalls einzusetzen. Dem Word-of-Mouth wird schon seit Längerem eine große Bedeutung im Marketing zugesprochen. Durch klassische Mundpropaganda lassen sich Informationen exponentiell verbreiten und dies meist kostenfrei (vgl. Schulz/Mau/Löffler 2008, S. 250).
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Eine Studie des Brand Science Institutes hat ergeben, dass Mundpropaganda gerade im Versicherungsbereich eine herausragende Rolle spielt. 77 Prozent der Befragten treffen ihre Entscheidung über die Versicherung aufgrund einer Empfehlung aus dem Freundes- oder Bekanntenkreis. Die klassische Mediawerbung liegt mit sieben Prozent weit dahinter. Jüngere Befragte lassen sich zu 64 Prozent von Meinungsportalen im Internet beeinflussen. Hier kann Virales Marketing gezielt eingreifen (vgl. o.V. 2009c). Im Viralen Marketing ist man weniger auf direkte Kundenempfehlungen aus, sondern auf Gelegenheitsempfehlungen. Situative Empfehlungen oder auch Gerüchte oder Geschichten sind es, die das Virale Marketing auszeichnen. Virales Marketing lässt sich dadurch viel mehr als gezieltes und steuerbares Auslösen von Mundpropaganda bezeichnen (vgl. Langner 2008, S. 218) und sollte demzufolge in der Versicherungsbranche Beachtung finden. Die Ziele des Viralen Marketing sind Markenbekanntheit zu steigern, Kundeninformationen zu gewinnen und den Produkt- beziehungsweise Dienstleistungsverkauf zu steigern. Das Tauschen von lustigen Werbespots, eCards, oder anderen Gimmicks sollen den Kunden indirekt mit dem Unternehmen in Verbindung bringen und dieses auf unterhaltsame und unkomplizierte Weise. Über freiwilliges Anmelden bei kostenfreien Download-Seiten können Versicherungsunternehmen Kundendaten sammeln und darüber hinaus sogar die Absatzchancen der Dienstleistung erhöhen (vgl. Langner 2008, S. 220). Vor allem im Internet ist das Virale Marketing heute ein mächtiges Instrument, um die Kommunikationsziele zu erreichen. Mit dem Beginn der Web 2.0-Ära wurde das Internet zum bevorzugten Medium. Die Versicherungswirtschaft sollte diesen Trend aufgreifen und verstärkt in ihre Kommunikationsmaßnahmen integrieren.
2.5
Kommunikation im Web 2.0
Es gibt nach wie vor Marketingverantwortliche, die der Ansicht sind, Marketing sei ausschließlich Werbung und damit dem Verbreiten von Informationen dienlich. Doch die Kunden fordern mehr und aus den Konsumenten werden aktive Teilnehmer, die den Dialog fordern und diesen im Internet auch erfahren können (vgl. Oetting 2008, S. 174). Das Web 2.0 ist dabei mehr als eine technologische Neuerung im Internet. Es beschreibt ein verändertes Kundenverhalten, dem sich jedes Unternehmen stellen sollte. Der Wunsch, Meinungen von Gleichgesinnten zu erfahren und die eigene Meinung kundzutun, dominieren im Bereich des Web 2.0 (vgl. Bender 2008, S. 176). Vor allem die jüngere Generation, die sogenannten Digital Natives, sind am besten über diese online-gestützte Kommunikation zu erreichen. Gerade sie sind es, welche die Anwendungen des Web 2.0 nutzen und schätzen. Virales Marketing hat mit dem Aufkommen des Web 2.0 eine ideale Plattform gefunden. Die Krankenkasse City BKK versucht beispielsweise aktuell, über eine
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neue Webseite, die in das Web 2.0-Schema eingebettet ist, eine junge und moderne Zielgruppe anzusprechen. „KrankeKasse“ wird das Portal genannt und bietet dem User neben dem Abschluss einer Krankenversicherung die Gestaltung einer außergewöhnlichen Mitgliedskarte, direkte Verbindungen zu Flickr, Twitter und Facebook und außerdem lustige Gimmicks, wie einem Mitleids-Tool (vgl. o.V. 2009d). Insgesamt kann festgestellt werden, dass das Virale Marketing der City BKK hervorragend funktioniert, das Portal bei jungen Leuten sehr beliebt ist und kommuniziert wird. Ein weiteres Beispiel für die Integration des Web 2.0 bietet die HamburgMannheimer Versicherung. So wurde die TV-Kampagne mit Herrn Kaiser in Web-Anwendungen eingebettet und wird nun, neben den klassischen Broschüren und Flyern, auch als Microsite und Video-Interface verfügbar sein. Wenngleich das Web 2.0 Erfolg nicht garantieren kann, so sollte jedes Versicherungsunternehmen individuell betrachtet werden und darüber entschieden, welche Web 2.0-Anwendungen geeignet sind und zum Einsatz kommen können (vgl. Brebach 2008, 1121).
3
Fazit und Ausblick
Der Kommunikationspolitik im Rahmen des Marketing wird in der Versicherungsbranche zukünftig mehr Beachtung geschenkt werden müssen. Es genügt nicht, einen guten Vertrieb aufzubauen – parallel dazu sollte die Integrierte Kommunikation im Unternehmen gefördert und realisiert werden. Nachhaltigkeit wird eines der neuen Themen im Marketing darstellen. Es geht nicht nur darum, kurzfristige Erfolge für einen gewissen Abverkauf zu erzielen, sondern eine langfristige, Integrierte Kommunikation aufzubauen. Swiss Re, ein Schweizer Rückversicherungsunternehmen, hat beispielsweise schon jetzt feste Nachhaltigkeitsziele im Rahmen seiner Kommunikationsziele definiert (Vgl. Beenken 2009, S. 1). Ein weiteres Thema wird die zielgruppengerechte Kundenansprache in den nächsten Jahren darstellen. Beispielsweise wurde die Zielgruppe „Frauen“ bis dato fast völlig außer Acht gelassen. Eine empirische Untersuchung zeigt, dass der Trend „Frau als eigene Zielgruppe“ nicht nur bei der Vereinbarung von Terminen bisher unbeachtet blieb, sondern bei der gesamten Gestaltung und Ausarbeitung von Informationsmaterialien (vgl. Brebach 2008, 1120). Um den Erfordernissen des Marktes gerecht zu werden, sollte dieser weitere Marketingtrend aufgegriffen werden. Ein Schwerpunkt innerhalb der Unternehmenskommunikation sollte auf die Bereiche Direktmarketing und Multimediakommunikation gesetzt werden. Diese Instrumente erfüllen nicht nur eine kommunikative Aufgabe, sondern haben auch vertriebliche Funktionen. Hierdurch lassen sich nicht nur Synergieeffekte nutzen,
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sondern auch die zukünftigen Trends in die Integrierte Kommunikation mit einbinden (vgl. Bruhn 2009, S. 204). In diesem Zusammenhang sollte künftig ein noch stärkerer Fokus auf die Kundenbeziehungen gelegt werden, denn eine intensivere und individuellere Kundenansprache ist in einer Informationsgesellschaft unerlässlich. Eine Umkehr im Denken sollte nicht nur ansatzweise stattfinden, sondern auch vollzogen werden, indem der Kunde als Mittelpunkt betrachtet wird und für diesen das adäquate Angebot entwickelt wird (vgl. Meffert/Burman/Kirchgeorg 2008, S. 860). Ergänzend sollte die Versicherungsbranche ein weiteres Gewicht auf die interne Kommunikation legen, um die Kommunikation konsequent und auf allen Dimensionen zu transportieren. Zufriedene und überzeugte Mitarbeiter sind das beste Verkaufsargument und Kunden des 21. Jahrhunderts können auf diese Art und Weise am besten von dem Dienstleistungsangebot oder dem Produkt überzeugen (vgl. Burman/Scheuser/Weers 2005, S. 430). Abschließend lässt sich feststellen, dass der Kunde immer mehr selbst entscheiden wird, wann er mit welcher Marke in Kontakt tritt. Durch das werbliche Überangebot, das in Zukunft noch wachsen wird, ist es die Qualität der Inhalte, die authentisch, interessant und relevant für den Kunden sein muss (vgl. Munzinger/Musiol 2008, S. 224).
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Kapitel 24 Unternehmenskommunikation in der Krise Dr. Nicole Plankert
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Einführung
Marketing steht bei vielen Versicherungen, nicht zuletzt aufgrund der vermeintlichen strukturellen Sicherheit der Branche, kaum im Fokus. Dieses gilt insbesondere auch für die Kommunikationspolitik. Unternehmenskommunikation erfolgt häufig eher reaktiv als proaktiv. Versicherungen verzichten damit auf ein wertvolles Instrument der gestaltenden Kommunikation, obwohl Kommunikation für sie zunehmend wichtiger wird: kritisches Konsumentenverhalten bei gleichzeitig hoher Nachfrage nach Versicherungsleistungen, beträchtliche Imageprobleme der Branche, hohe Wettbewerbsdynamik sowie veränderte politische Rahmenbedingungen. Die Diskrepanz zwischen notwendiger und tatsächlicher Ausgestaltung der Unternehmenskommunikation erscheint umso unverständlicher, als Versicherungen, ebenso wie Banken, von der gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzkrise besonders stark betroffen sind. Im Folgenden werden daher, nach einem Überblick über die Herausforderungen an Versicherungsunternehmen, die Bedeutung sowie die Strategien und Akteure der Krisenkommunikation dargestellt, bevor Erfolgsfaktoren für die Krisenkommunikation von Versicherungsunternehmen identifiziert werden.
2
Herausforderungen an Versicherungsunternehmen
In Krisenzeiten ist das Vertrauen der Konsumenten – nicht nur in die Börsen- und Finanzmärkte – gering. Für Versicherungsunternehmen ist Vertrauen aber die Basis ihrer Geschäftstätigkeit: Kunden vertrauen nicht selten ihr persönliches Schicksal einer Versicherung an. Das Produkt "Versicherung" ist durch spezifische Eigenschaften charakterisiert. Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Dienstleistungen steht dem Produkt zunächst kein sichtbarer Gegenwert gegenüber. "Erlebniswerte" oder "Prestigewerte" fehlen ganz. Das Leistungsversprechen ist abstrakt, unsichtbar. Es herrscht Ungewissheit in Bezug auf Eintritt und Umfang des zu versichernden Ereignisses. Das Produkt spricht nicht für sich selbst; Versicherungen sind in hohem Maße erklärungsbedürftige Produkte. Die komplexen M.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing, DOI 10.1007/978-3-642-10276-9_24, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
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Versicherungsbedingungen bleiben für zahlreiche Kunden unklar. Die Vergleichbarkeit der unterschiedlichen Angebote ist erschwert, so dass häufig eine Orientierung an Marken erfolgt (vgl. Gollnick/Bauer 2007, S. 50). Versicherungsunternehmen wird nicht selten mit Misstrauen begegnet. Sie sehen sich dem Vorwurf ausgesetzt, "viel zu versprechen und wenig zu halten" (Krohn 2009, S. 21). Versicherungen weisen überwiegend Erfahrungs- und Vertrauenseigenschaften auf. Die Beurteilung der Leistungsbereitschaft und -fähigkeit des Versicherungsunternehmens ist für den Kunden erst im Versicherungsfall, und damit gegebenenfalls überhaupt nicht, möglich. Hilfsweise greifen Konsumenten daher vor Vertragsabschluss auf Vergleichstests in den Medien, auf Ratings, aber auch auf Empfehlungen von Verwandten und Bekannten zurück. Image und Reputation von Versicherungen werden ebenfalls zur Beurteilung herangezogen. Imagewerbung zielt darauf ab, den Bekanntheitsgrad des Unternehmens zu erhöhen und sein Erscheinungsbild sowie die Assoziationen, die der Konsument mit dem Unternehmen verbindet, zu verbessern (vgl. Kühlmann et al. 2002, S 365). Die Bekanntheitswerte von Versicherungen sind in der Regel durchaus zufrieden stellend; Bekanntheitsgrade sind aber kein Selbstzweck: "Die wenigsten Versicherungsunternehmen schaffen es, ihren Bekanntheitsgrad in hohe Sympathiewerte umzuwandeln. Dagegen gelingt es wiederum den meisten Versicherungsunternehmen, bei vorhandener Sympathie eine hohe Abschlussbereitschaft zu realisieren." (Görgen 2002, S. 243). Die Branche leidet unter Imageproblemen. Hier muss allerdings differenziert werden: Während der einzelne Versicherungsnehmer häufig ein durchaus positives Bild von "seiner" Versicherung hat, ist das Gesamtbild der Öffentlichkeit eher von Misstrauen geprägt. "Je besser die Kenntnisse über Versicherungsprodukte sind, um so besser fällt die Beurteilung der Anbieter in der Regel aus" (Görgen 2002, S. 242). Für den Konsumenten besteht der Nutzen von Versicherungsleistungen in erster Linie in der Befriedigung seines Sicherheitsbedürfnisses. Die Gefahrtragung ist die Kernleistung. Voraussetzung für die Befriedigung des Sicherheitsbedürfnisses ist Vertrauen – und damit genau das, woran es in Krisenzeiten fehlt.
3
Krisenkommunikation
3.1
Begriff und Bedeutung
Krisen sind ungeplante und ungewollte Prozesse von begrenzter Dauer und Beeinflussbarkeit sowie mit ambivalentem Ausgang, die den Fortbestand von Unternehmen gefährden oder sogar unmöglich machen können (vgl. Krystek 1987, S. 6). Sie sind durch eine zumeist einseitig negative Wahrnehmung der Situation sowie ein starkes Informationsinteresse von Medien, Akteuren und Öffentlichkeit, eine hohe Komplexität sowie einen unmittelbaren, starken Entscheidungs- und Handlungsdruck bei gleichzeitig geringem Handlungsspielraum gekennzeichnet (vgl. Baumgärtner 2005, S. 20). Krisen lassen sich als "logisches Gegenstück zum
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Normalfall" (Scharr 2006: 5) definieren. Sie sind ein "Regelfall für potenziell jedes Unternehmen in der Mediengesellschaft" (Mast 2008, S. 379) und treffen alle Unternehmen: "Es ist nicht die Frage, ob eine Krise eintritt, sondern nur wann und welche" (Mast 2008, S. 373). Wenn Krisen auch nicht "außergewöhnlich" sind, so ist ihnen doch nicht mit Routinekommunikation zu begegnen. Daher kann statt von Krisenkommunikation auch von "Kommunikation abseits der Routinekommunikation" gesprochen werden – zumal diese Charakterisierung die Chance der Krise verdeutlicht: "Der Vorteil der Krise liegt im Durchbrechen der Unternehmensroutine" (Mast 2008, S. 375). In der Praxis sind Routine- und Krisenkommunikation nicht leicht zu trennen, jedenfalls muss aber die Routinekommunikation Rahmenbedingungen und Kontinuität für die Krisenkommunikation schaffen: "Nur wer den Normalfall beherrscht, kann in der Krisensituation erfolgreich sein" (Scherler 1996, S. 112). Krisenkommunikation ist von Issues Management abzugrenzen. Issues Management setzt weit vor der Krisenkommunikation ein. Definieren lässt es sich als "systematisches Verfahren, das durch koordiniertes Zusammenwirken von strategischen Planungs- und Kommunikationsfunktionen interne und externe Sachverhalte, die eine Begrenzung strategischer Handlungsspielräume erwarten lassen oder ein Reputationsrisiko darstellen, frühzeitig lokalisiert, analysiert, priorisiert und aktiv durch Maßnahmen zu beeinflussen versucht sowie diese hinsichtlich ihrer Wirksamkeit evaluiert" (Ingenhoff/Röttger 2006, S. 323). Issues Management ist als aktiver Gestaltungsprozess des Unternehmens zu verstehen, als "Gegenpol … zum Agenda Setting seitens der Medien" (Baumgärtner 2005, S. 113). Kommunikation wird als konstitutiv für die Bewertung und Aushandlung von krisenhaften Situationen verstanden (vgl. Köhler 2006, S. 22). Die Bedeutung der Krisenkommunikation zeigt sich daran, dass die mangelhafte Krisenkommunikation eines Unternehmens häufig zu mehr Empörung in der Öffentlichkeit führt als die eigentlichen Krisenauslöser.
3.2
Strategien und Akteure
Für Krisenkommunikation gilt in besonderem Maße Watzlawicks Axiom, demzufolge man nicht nicht kommunizieren kann (vgl. Watzlawick et al. 2007, S. 53). Auch durch Schweigen wird kommuniziert. Die Möglichkeit, aber auch die Notwendigkeit der Interpretation liegt dann beim Rezipienten: "Im Rahmen einer strategischen Kommunikation ist das die schlechteste aller Voraussetzungen" (Klauke 2006, S. 168). In der Krise kann ein Unternehmen offensiv oder defensiv kommunizieren. Die offensive Kommunikationsstrategie ist dadurch gekennzeichnet, dass das Unternehmen möglichst rückhaltlos über die Krise, ihre Ursachen und Folgen sowie (geplante) Maßnahmen informiert. Eine offensive Informationspolitik ist unabdingbar, wenn gesetzliche Regeln Informationen erfordern (vgl. Branahl 2008, S. 552). Ein offensiver Umgang mit der Krise kann dazu beitragen, Gerüchten ihre Grundlage zu entziehen. Eine frühzeitige "Definition der Situation" (Merten 2006, S. 20) ist hier entscheidend, beispielsweise durch den Hinweis, dass sich anfängliche Vermutungen zur Fehlerursache (bislang) nicht bestätigt haben. Darüber hinaus muss die Bereitschaft zur lückenlosen Aufdeckung betont
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werden. "Offensives Handling einer Krise geht von der Grundentscheidung aus, dass auch eine höchst unangenehme Situation emotional akzeptiert wird und die beteiligten Akteure Verantwortung für diesen Prozess übernehmen" (Mast 2008, S. 376). Im Rahmen einer defensiven Kommunikationsstrategie erfolgt dagegen nur eine stückweise Informationsweitergabe; im Extremfall werden Sachverhalte verschwiegen oder sogar abgestritten. Eine solche Strategie ist mit hohen Risiken verbunden: Es drohen tatsächliche oder vermeintliche "Enthüllungen", und das Unternehmen riskiert, Themen nicht mehr selbst zu besetzen sowie an Glaubwürdigkeit einzubüßen. Damit gehen insbesondere Versicherungen, für die Glaubwürdigkeit und Vertrauen erfolgskritisch sind, hohe Risiken ein. Eine defensive Kommunikationsstrategie kann verfolgt werden, wenn die Vorwürfe nicht erklärt oder beseitigt werden können, oder das Unternehmen sicher sein kann, "dass das Thema in den Medien keine Karriere machen wird" (Mast 2008, S. 377) – eine absolute Sicherheit dürfte es hier allerdings kaum geben. Der defensiven Kommunikationsstrategie wird von Unternehmen häufig zunächst Vorrang eingeräumt, nach einer Periode des Schweigens beziehungsweise des Zögerns wird dann vielfach eine offensivere Politik verfolgt. Krisenkommunikation ist allerdings – wie jede Unternehmenskommunikation – immer auch mit selektiver Informationsweitergabe verbunden. Unternehmen fördern die Emotionalisierung in der Krise, wenn sie schlecht vorbereitet sind und unprofessionell agieren: "Krisenkommunikation ist immer auch ein Lackmus-Test für die Kompetenz der Akteure und ihr Selbstverständnis im Umgang mit Stakeholdern und Themen" (Mast 2008, S. 385). Während Unternehmenskommunikation auch in der Versicherungsbranche häufig reaktiv sowie defensiv angelegt ist und die aktive Information der Presse insbesondere über Pressemitteilungen erfolgt (vgl. Klauke 2006, S. 162), muss in der Krise proaktiv agiert werden. Ein systematisches Issues- und Anspruchsgruppenmanagement, das eine Stakeholder-Analyse voraussetzt (vgl. Baumgärtner 2005, S. 191), das heisst Erkennen relevanter Anspruchsgruppen, Ermittlung ihrer Erwartungen und Bedürfnisse sowie Kategorisierung nach ihrer Bedeutung für das Unternehmen, ist daher auch im Hinblick auf Krisenprävention unerlässlich. Zu den Anspruchsgruppen von Versicherungen gehören zunächst Kunden, Mitarbeiter, Wettbewerber und Kapitalgeber. Versicherungsunternehmen stehen zunehmend im Fokus von Investoren, da der Marktanteil von multinationalen Unternehmen steigt. Besondere Anspruchsgruppen sind Versicherungsvermittler, Verbände und Vereine sowie öffentliche Institutionen und (Aufsichts-)Behörden. Darüber hinaus ist die Öffentlichkeit auch für Versicherungsunternehmen von entscheidender Bedeutung: "Was wirklich eine Krise ist, definiert die Öffentlichkeit und definieren die Medien" (Ditges et al. 2008, S. 235). Insbesondere große Wirtschaftsunternehmen haben nur begrenzten Einfluss darauf, ob sie Gegenstand einer öffentlichen Debatte werden. "Sie haben jedoch die Wahl, ob sie in dieser bloßes Objekt oder Akteur sein wollen" (Baumgärtner 2005, S. 398). Die Öffentlichkeit steht auch der Geschäftstätigkeit von Versicherungen immer kritischer gegenüber; insbesondere die
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sozialen Anforderungen an Unternehmen steigen. Die Sicherung der öffentlichen Akzeptanz erfordert daher "gesellschaftliche Transparenz" (Schubert 2000, S 55), die insbesondere dadurch erzielt wird, dass das Unternehmen mit seinen Anspruchsgruppen in einen Dialog tritt. Dies gilt in besonderem Maße für die erklärungsbedürftige und immaterielle Vertrauensleistung von Versicherungen. Die Medien spielen in Krisenzeiten für Versicherungen eine besondere Rolle. Die Zeit der Krise ist die Zeit der Massenmedien: Fakten treten gegenüber psychologischen Elementen in den Hintergrund. So wird beispielsweise einer kleinen Gruppe oder einer Einzelperson, die sich mit einem Versicherungskonzern anlegt, im Kampf "David gegen Goliath" häufig ein Sympathiebonus "zugeschrieben". Über emotionale Berichterstattung sind die Adressaten besser ansprechbar; den Medienberichten wird höhere Aufmerksamkeit geschenkt. Journalisten und Verantwortliche im Bereich Unternehmenskommunikation verfolgen unterschiedliche Interessen: "Die unbedingte Perspektive der Unternehmenskommunikation ist es, den Nutzen des Unternehmens zu mehren und Schaden von ihm abzuwenden. Die journalistische Perspektive fordert Klarheit und Wahrheit, aber sie zögert im Zweifelsfall nicht, kommunizierte Klarheit und Wahrheit als Eingeständnis für Schuld zu werten oder als Einfallstor für weitere unangenehme Berichterstattung zu nutzen" (Merten 2006: 20). Darüber hinaus befinden sich auch die Medien selbst in einer Krise, die für Versicherungsunternehmen dazu führt, dass "in manchen Qualitätsredaktionen die Kompetenz zum Marktgeschehen der Versicherungswirtschaft… nicht mehr vorhanden ist" und eine "Verflachung und […] Serviceorientierung des Wirtschaftsjournalismus" (Wolff 2009, S. 578) zu beobachten ist.
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Erfolgsfaktoren in der Krisenkommunikation
Mit Krisenkommunikation sollen insbesondere Vertrauen und Glaubwürdigkeit bei den Anspruchsgruppen (wieder) aufgebaut und das Image des Unternehmens verbessert werden. Jede Krise verläuft anders und erfordert situations- und unternehmensspezifische Maßnahmen. Es gibt weder "Standardkrisen" noch "Standardkrisenkommunikation". "Vieles was Krisenkommunikation ausmacht, ist Intuition, Bauchgefühl, Empathie" (Ditges et al. 2008, S. 85). Dennoch lassen sich entscheidende Erfolgsfaktoren für die Krisenkommunikation von Versicherungsunternehmen identifizieren. • Vertrauen Eine hohe Sachkompetenz des Unternehmens führt keineswegs automatisch zu hohen Vertrauenswerten: Kompetenz- und Vertrauenszuschreibung an Unternehmen sind nicht positiv korreliert (vgl. Baumgärtner 2005, S. 386). Vertrauen verringert Komplexität, indem die Anzahl zukünftiger Alternativen verringert wird. Vertrauen reduziert darüber hinaus Unsicherheit; diese Verringerung von Unsicherheit ist die Aufgabe von Versicherungsunternehmen, die komplexe und gleichzeitig risikobehaftete Dienstleistungen anbieten. Vertrauen wirkt sich auch auf die Qualität von Kommunikationsprozessen aus: In von Vertrauen geprägten
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Beziehungen wird offener und intensiver kommuniziert, und die Beteiligten sind mit der Kommunikation sowie den interpersonalen Beziehungen zufriedener (vgl. Schweer/Thies 2003, S. 77). Vertrauenswürdigkeit ist an strukturelle Bedingungen geknüpft (vgl. Baumgärtner 2005, S. 378 ff.): Sanktionierbarkeit, Freiwilligkeit (Vertrauen kann beispielsweise nicht durch einseitige Vorleistungen eingefordert werden, Erlernbarkeit (Vertrauen lässt sich nicht durch Sozialtechniken oder PRKampagnen herstellen), Kontrollierbarkeit und Adressierbarkeit (je größer und anonymer die Organisation ist, desto schwieriger ist das Zuweisen von Vertrauen). Daraus ergibt sich für Versicherungsunternehmen die Notwendigkeit, die individuelle, persönliche Kommunikation, die vertrauensbildend wirkt, in den Vordergrund zu rücken. Der Aufbau von Vertrauen kann allerdings nur langfristig erfolgen; es wird mühsam verdient und erfordert die Gelegenheit zur Bewährung. Kommunikationsmaßnahmen in Krisensituationen werden daher nur dann zum Erfolg führen, wenn das Unternehmen bereits im Vorfeld das Vertrauen der Anspruchsgruppen genießt (vgl. Köhler 2006, S. 119). • Glaubwürdigkeit Glaubwürdigkeit ist eine Voraussetzung für Vertrauen und lässt sich als mehrdimensionales Konstrukt kennzeichnen. Sowohl Vertrauen als auch Glaubwürdigkeit umfassen Momente der Unsicherheit, die allerdings unterschiedlichen Ursprung haben: "Unsicherheit entsteht bei der Glaubwürdigkeit durch die gegenwärtig fehlende Möglichkeit der Überprüfung eines Sachverhalts, beim Vertrauen durch das fehlende Wissen über zukünftig erwartete Verhaltensweisen einer Person, über Ereignisse oder Objekteigenschaften beziehungsweise den Mangel an Möglichkeiten, diese zu beeinflussen" (Eisend 2003, S. 47). Glaubwürdigkeit basiert auf subjektiver Wahrnehmung. Mehrere Unterscheidungskriterien grenzen Glaubwürdigkeit und Vertrauen voneinander ab: Glaubwürdigkeit ist gegenwartsbezogen, Vertrauen dagegen zukunftsbezogen. Glaubwürdigkeit bezieht sich insbesondere auf spezifische Kommunikationsquellen: das Unternehmen, Personen in der Werbung, das Kundenkontaktpersonal (vgl. Eisend 2003, S. 65). Glaubwürdigkeit ist daher eng mit Kommunikation verbunden. Das Bezugsobjekt von Vertrauen ist dagegen breiter gefasst (vgl. Eisend 2003, S. 47). Glaubwürdigkeit setzt sich zusammen aus der attribuierten Vertrauenswürdigkeit des Unternehmens sowie der ihm zugeschriebenen Kompetenz (vgl. Eisend 2003, S. 47). Sie kann erreicht werden, wenn Denken, Sprechen und Handeln übereinstimmen. Gerade im Krisenfall muss sehr schnell gehandelt und auch kommuniziert werden, so dass diese Kongruenz sowohl inhaltlich als auch zeitlich hier besonders wichtig ist. Erleichtert wird sie, wenn das Unternehmen freiwillig und proaktiv agiert. Glaubwürdigkeit ist allerdings von fragiler Natur: "Da Glaubwürdigkeit sich erst im zeitlichen Verlauf einstellt und durch jede neue Aussage wiederum Bestätigung finden muss, ist diese Eigenschaft durch die Wahrnehmung von einer oder mehreren Nichtübereinstimmungen relativ schnell verspielt" (Bentele 1988, S. 408). Häufig wird neben Vertrauenswürdigkeit und Kompetenz auch Sympathie zu den Komponenten der Glaubwürdigkeit gezählt (vgl. Fichtner 2006, S. 242). Vertrau-
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en in Zweck-Beziehungen, wie sie zwischen Versicherungsunternehmen und ihren Kunden bestehen, setzen allerdings keine Sympathie voraus (vgl. Pelzmann 2005, S. 214). Dennoch ist anzunehmen, dass sich die wahrgenommene Sympathie einer Versicherung insbesondere aufgrund der Vertrauenseigenschaften ihrer Leistungen positiv auf die Vertrauenswürdigkeit und damit auf die Glaubwürdigkeit auswirkt. Konsumenten bringen Versicherungsunternehmen allerdings sowohl Glaubwürdigkeit als auch Sympathie häufig nur eingeschränkt entgegen. Glaubwürdigkeit von Unternehmen beurteilen Konsumenten insbesondere auf der Grundlage ihres Vorwissens, wozu hier in erster Linie Informationen, Erfahrungen und Präferenzen gezählt werden. Gerade in Krisenzeiten, in denen eher Misstrauen als Vertrauen herrscht, und aufgrund der Vertrauenseigenschaften von Versicherungsleistungen, greifen Konsumenten vor Abschluss von Versicherungsverträgen besonders auf Empfehlungen von Freunden und Verwandten zurück, denen kein kommerzielles Interesse unterstellt wird. Mund-zu-Mund-Werbung gilt als besonders glaubwürdig (vgl. Meyer/Brudler 2009. S. 1124). Positive Erfahrungen werden bevorzugt weitergegeben, wenn sie auf emotionalen Faktoren wie Sicherheit oder Vertrauen basieren (vgl. Fichtner 2006, S. 256), was die Bedeutung von Vertrauen erneut unterstreicht. Hier darf allerdings nicht übersehen werden, dass Konsumenten dazu neigen, eher über negative als über positive Erfahrungen mit Versicherungsunternehmen zu berichten (vgl. Görgen 2002, S. 242). Das Vorwissen der Konsumenten prägt ihre Einstellungen gegenüber dem Unternehmen und seinen Werbebotschaften. Die Glaubwürdigkeit der Werbebotschaft erhöht die Wahrscheinlichkeit einer positiveren Einstellung der Konsumenten gegenüber der Werbung und dem Unternehmen (vgl. Cotte et al. 2005, S. 366). Für Versicherungsunternehmen bedeutet dies, dass ihre Werbung glaubwürdig gestaltet sein muss und keinesfalls unerfüllbare Erwartungen wecken darf. Übertreibungen, die suggerieren, alles sei abgesichert, dürften sich gerade in Krisenzeiten schnell als kontraproduktiv erweisen (vgl. Görgen 2002, S. 34). Die Attributionstheorie geht davon aus, dass Konsumenten eigenes oder fremdes Verhalten bestimmten Ursachen zuschreiben. Ziel ist es, die Wahrnehmung zu strukturieren und sich in der komplexen Wirklichkeit zurechtzufinden (vgl. Trommsdorff 2004, S. 284). Verhaltensweisen werden in Abhängigkeit von der Ursache, der ein bestimmtes Verhalten zugerechnet wird, bewertet. Damit beeinflusst die Einschätzung der Konsumenten, aus welchen Gründen ein Versicherungsunternehmen bestimmte Informationen übermittelt, die Akzeptanz und Glaubwürdigkeit dieser Botschaft: "If a consumer thinks that the motivation to present more facts is for a purpose other than for his or her own benefit, then counterarguing or discounting of claims should be expected" (Gorn/Weinberg 1984, S. 719). Bei Versicherungsunternehmen erweist sich hier das häufig weniger positive Image als Problem. Die Unternehmen müssen daher jede Möglichkeit nutzen, ihre Glaubwürdigkeit zu erhöhen. Dies kann zum Beispiel durch zweiseitige Argumentation in den Botschaften erfolgen. Diese Art der Argumentation ist besonders dann erfolgreich, wenn die Einstellung der Konsumenten zuvor neutral oder negativ war (vgl. Esch/Hartmann 2009, S. 550). Die Informationsübermitt-
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lung löst geringeren Widerstand aus; die Beeinflussungsabsicht wird weniger deutlich. Insbesondere in der Krisenkommunikation ermöglicht es zweiseitige Argumentation, zunächst Ängste und Befürchtungen der Kunden aufzugreifen und dann positiv aufzulösen. Die Anforderungen an entsprechende Botschaften sind allerdings hoch: Es besteht das Risiko, dass nur der erste, negative Teil der Aussage bei den Adressaten ankommt. Eine weitere Möglichkeit zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit ist der Einsatz von Testergebnissen: Unabhängigen Testinstituten werden keine eigennützigen Motive unterstellt. Ihre Aussagen wirken daher glaubwürdiger als unternehmenseigene Quellen. Darüber hinaus können sich die Unternehmen in ihren Botschaften gegebenenfalls auf das Urteil einer 'Mehrheit' berufen und damit "unter bestimmten Umständen die Produktbeurteilung einer Person sogar dann positiv beeinflussen oder zum Guten wenden, wenn diese bereits unangenehme Erfahrungen mit dem Produkt gemacht hat" (KroeberRiel/Weinberg 2003, S. 300 f.). Die Glaubwürdigkeit der Kommunikation kann insbesondere in Krisenzeiten durch die Unterstützung Dritter verstärkt werden: Die positive Stellungnahme eines unabhängigen Experten wirkt glaubwürdig, da er keine eigenen (wirtschaftlichen) Interessen mit seinen Aussagen verfolgt. Die Stellungnahme muss allerdings mögliche Risiken deutlich benennen und tatsächlich objektiv sein, damit sie Akzeptanz findet. Alleine der Verdacht, es könne sich um eine "bestellte" Einflussnahme in einer Krisensituation handeln, würde nicht nur die Glaubwürdigkeit der Botschaft, sondern des Unternehmens sowie auch des Experten beeinträchtigen. Glaubwürdigkeit wird häufig mit einem (positiven) Image assoziiert, ist aber ein dem Image untergeordnetes Konzept: Das Image kann ein Produkt oder eine Marke betreffen, während Glaubwürdigkeit auf eine Kommunikationsquelle bezogen ist (vgl. Eisend 2003, S. 64 f.). • Image Images, definiert als "Struktur kognitiver und emotionaler Vorstellungen, die die Wahrnehmung eines Objektes … beim jeweiligen Subjekt auslöst" (Merten 1992, S. 122), bilden die Basis für die subjektive Unterscheidung und Bildung von Präferenzen bei verschiedenen Marken (vgl. Trommsdorff 2004, S. 168). Die Orientierung an Marken dient gerade in der Krise der Risikoreduktion und der Verringerung der Gefahr von Fehlentscheidungen. Das Image prägt darüber hinaus Einstellungen: "Ein positives Image schafft einen Vertrauenshintergrund und führt zu einer günstigen Einstellung gegenüber dem Meinungsgegenstand" (Müller 1989, S. 126). Die zentrale Funktion von Images besteht aus Unternehmensperspektive in der Beeinflussung der Wahrnehmung und des Verhaltens. Versicherungsunternehmen wollen durch die Gewinnung beziehungsweise Aufrechterhaltung eines positiven Images Anonymität beseitigen und Vertrauen gewinnen. Images bilden sich allerdings ebenso wie Einstellungen über einen längeren Zeitraum hinweg, so dass kurzfristige Änderungen kaum möglich sind. Für Versicherungsunternehmen bedeutet dies, dass sie sich ständig um ein positives Image bemühen müssen; das
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Image steht für sie allerdings häufig weniger im Fokus: "Der Imagewert [erweckt] immer nur im Krisenfalle Aufmerksamkeit … Im Verlust bemerkt man den Wert. Imageverlust ist Gesichtsverlust, Vertrauensverlust, Verlust an Bindung und Wertschätzung, Verlust an Nachfrage und im Grenzfall Beschädigung der Existenz" (Buß/Piwinger 1998, S. 85). Aus Sicht des Konsumenten dienen Images der Risikoverringerung (vgl. Meyer/Brudler 2009, S. 1123). Darüber hinaus fungieren sie als Ersatz von Wissen und tragen zur Reduktion von Komplexität bei (vgl. Schubert 2000, S. 91). Da Versicherungsleistungen äußerst komplex sind und in hohem Maße Vertrauenseigenschaften aufweisen, ist das Image für Versicherungsunternehmen eine erfolgskritische Größe. Das gilt insbesondere in der Krise, die durch Vertrauensverlust gekennzeichnet ist. Imagewerbung ist damit unverzichtbar. Ihre Notwendigkeit wird verstärkt durch die begrenzte werbliche Ansprechbarkeit bestimmter Versicherungsprodukte. • Offensive Kommunikationsstrategie, Transparenz Eine offensive Kommunikationsstrategie ist geeignet, Themen zu besetzen und Rechtfertigungszwang zu vermeiden, während eine defensive Strategie Ängste sowie Misstrauen fördert und die Meinungsführerschaft anderen überlässt. Wichtig sind in diesem Zusammenhang nicht nur Informationen über eingeleitete Krisenbewältigungsmaßnahmen, sondern auch Informationen, die sich direkt an die Betroffenen beziehungsweise die Öffentlichkeit richten und Auskunft über zusätzliche Informationsmöglichkeiten und Ansprechpartner geben. Den Anspruchsgruppen muss signalisiert werden, dass ihre Anliegen ernst genommen werden. Argumente wie "Die Aufsichtsbehörden haben dieses Verfahren gebilligt", "Das wurde immer so gemacht" oder "Die geforderten Maßnahmen würden Arbeitsplätze gefährden" (Scherler 1996, S. 213) sind nicht geeignet, Vertrauen und Glaubwürdigkeit zu erzeugen. Schuldzuweisungen an Externe wirken nicht überzeugend; das Unternehmen muss vielmehr die Übernahme der Verantwortung signalisieren. Auch die Maßnahmen, die das Unternehmen treffen will, um künftige Krisen zu vermeiden, müssen deutlich werden. Die Öffentlichkeit fordert Transparenz in Bezug auf die Ursache, den Schaden und die Geschädigten einer Krise. Unternehmen verpflichten sich häufig zu dieser Transparenz; allerdings müssen den Worten auch Taten folgen (können). Bloße Ankündigungen reichen nicht aus. Da Unternehmen ungeklärte Sachverhalte oder Betriebsinterna nicht an die Öffentlichkeit kommunizieren werden, ist ein Abwägen in jedem Fall erforderlich: "Der Grat zwischen größtmöglicher Transparenz und verantwortungsvollem, kommunikativem Handeln ist manchmal äußerst schmal. Aber es wird keinem Unternehmen, das in eine Krise gerät, erspart bleiben, auf diesem Grat zu gehen" (Hansen 2006, S. 57). Transparenz und eine offensive Kommunikationsstrategie sind für Versicherungen, deren Geschäftsgrundlage Vertrauen ist, nicht erst in der Krise unerlässlich, da sich Versicherungsunternehmen regelmäßig dem Vorwurf mangelnder Transparenz ausgesetzt sehen: Vielfalt und Komplexität der Leistungsangebote, die nicht zuletzt gezielt zur Verringerung des Preiswettbewerbs eingesetzt werden, erschweren die Vergleichbarkeit der Produkte für den Konsumenten.
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Systematisches Anspruchsgruppenmanagement, kontinuierliche und dialogorientierte Kommunikation
Bereits im Vorfeld einer Krise ist ein systematisches Anspruchsgruppenmanagement von hoher Bedeutung, wobei die Kommunikation auf die spezifischen Informationsbedürfnisse der Anspruchsgruppen zugeschnitten sein muss. Der sensible Umgang mit diesen Anspruchsgruppen ist auch an ethischen und moralischen Grundsätzen zu orientieren (vgl. Scherler 1996, S. 353). Kontinuierliche Kommunikation ist unabdingbar: Wer erst in der Krise Kontakt zu den Anspruchsgruppen aufnimmt, wirkt leicht opportunistisch. Auf bewährte Beziehungen kann im Krisenfall dagegen aufgebaut werden. Gerade hier hat die Versicherungsbranche Nachholbedarf: Der persönliche Kontakt zwischen Pressesprechern und Journalisten ist gering. Das zeigt eine Umfrage der Zeitschrift "Versicherungswirtschaft": Beinahe jedes der befragten Unternehmen erklärte, dass der Kontakt zu den Journalisten in weniger als 20 Prozent der Fälle persönlich erfolgt (vgl. Germann 2008, S. 1983). Wichtige Aktivitäten der Versicherungen, wie beispielsweise in der Unfallforschung, stellen die Unternehmen kaum der Öffentlichkeit vor. Sie werden vielmehr in Fachzeitschriften veröffentlicht und damit lediglich einem kleinen und ohnehin gut informierten Publikum zugänglich gemacht (vgl. Görgen 2002, S. 183). Ein echter Dialog mit der Öffentlichkeit findet nicht statt. Eine solche dialogorientierte Kommunikation könnte aber dazu beitragen, dass das Versicherungsunternehmen erkennt, welche Informationen und Signale Öffentlichkeit und Medien benötigen, während diese ihrerseits die Bedürfnisse des Unternehmens verstehen. Insbesondere in einer Krise ist häufig eine Asymmetrie zwischen den übermittelten Botschaften des Unternehmens und den wahrgenommenen Informationen in der Öffentlichkeit und den Medien zu verzeichnen, die durch einen Dialog identifiziert werden kann (vgl. Töpfer 1999, S. 49). Ein nicht umgesetztes Dialog-Versprechen wird allerdings von den Anspruchsgruppen negativ bewertet, insbesondere dann, wenn es sich um direkt von der Krise Betroffene handelt. Das Dialog-Versprechen sollte daher nicht breit gestreut, sondern gezielt eingesetzt werden (vgl. Baumgärtner 2005, S. 315) und darf nicht den Eindruck von Manipulation oder reinen Worthülsen erwecken. Konsumenten versuchen, ihre Einstellungssysteme konsistent zu halten und kognitive Dissonanzen zu vermeiden. Solche Dissonanzen treten insbesondere dann auf, wenn Informationen aufgenommen werden, die den bisherigen Erfahrungen oder vorhandenen Informationen widersprechen. Insbesondere nach Abschluss von Versicherungsverträgen ist mit kognitiven Dissonanzen zu rechnen, die zu Unzufriedenheit führen können. Daher ist eine kontinuierliche Kommunikation mit dem Kunden wichtig: Der Dialog darf nicht erst im Schadensfall oder bei Kündigung der Versicherung einsetzen (vgl. Görgen 2002, S. 35). • Input-Output-Ausgewogenheit Kunden vergleichen erhaltene Erträge (Outcome) aus der Versicherung und erbrachte Aufwendungen (Input) für die Versicherung und streben nach Gerechtigkeit, die dann als gegeben erachtet wird, wenn das Verhältnis zwischen Erträgen
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und Aufwendungen der Austauschpartner übereinstimmt. Aus dieser EquityTheorie ergibt sich für Versicherungen die Notwendigkeit, ihre Leistung so zu kommunizieren, dass die Versicherungsnehmer ihren "personal benefit" als hoch empfinden. Gerade in Krisenzeiten beurteilen Versicherungsnehmer das Versicherungsprodukt kritisch. Bei Schadensfreiheit wird häufig davon ausgegangen, das Versicherungsprodukt sei "nutzlos" gewesen und den Zahlungen habe kein entsprechender Gegenwert gegenübergestanden. Die Kommunikationspolitik der Versicherungsunternehmen muss daher darauf ausgerichtet sein, die faire Gegenleistung (insbesondere der Prämienzahlungen) zu verdeutlichen. Dies gilt für die Kommunikation in der Krise, in der eher Misstrauen als Vertrauen herrscht, in besonderem Maße. • Organisatorische und inhaltliche Vorbereitung Versicherungen können sich zu keinem Zeitpunkt ein "Vertrauensvakuum" leisten und müssen sich auf Krisen daher organisatorisch und inhaltlich sorgfältig vorbereiten: In einem Krisenplan, in dem mögliche Krisenbereiche und Krisenursachen abgegrenzt und analysiert werden, sind auch die organisatorischen und inhaltlichen Verfahrensweisen für den Fall einer Krise festzulegen. Dieser Krisenplan muss einerseits die für eine schnelle Krisenreaktion und -beseitigung erforderliche Flexibilität ermöglichen, andererseits müssen schnell verfügbare Inhalte ausformuliert werden, die Handlungssicherheit bieten. Zu diesem Zweck sind Entwürfe für Standardschreiben mit Textbausteinen zu verfassen, die im Krisenfall situationsspezifisch angepasst werden können. Darüber hinaus lassen sich für verschiedene Krisenszenarien Internetseiten als Schattenseiten (Darksites) vorbereiten, die bei Bedarf sofort freigeschaltet werden und die Öffentlichkeit schnell mit Informationen versorgen: Wie kann mit dem Versicherungsunternehmen Kontakt aufgenommen werden? Welche Hintergrundinformationen stehen zur Verfügung? Welche Maßnahmen wurden bereits ergriffen? Fragen und Antworten (Q&A) können hier ebenso vorbereitet werden wie Pressemitteilungen. Als weitere organisatorische Vorbereitungsmaßnahmen sind die Bildung eines Krisenteams sowie die Festlegung von Ansprechpartnern und Verantwortlichkeiten zu nennen. Wichtig sind hier insbesondere die Entscheidung und Kommunikation, wer die Informationsgeber im Krisenfall sind; aber auch für Nicht-Sprecher müssen Sprachregelungen entwickelt werden. Für eine schnelle und wirksame Kommunikation im Krisenfalle sind Abläufe festzulegen und Checklisten sowie Telefonlisten zu erstellen. Kontakte zu Journalisten, Multiplikatoren und Meinungsbildnern müssen im Hinblick auf eine mögliche Krisenkommunikation analysiert und ergänzt werden. • Schnelligkeit Eine gute organisatorische und inhaltliche Vorbereitung gewährleistet, dass in der Krise sofort reagiert werden kann. Schnelligkeit ist ein entscheidender Erfolgsfaktor in der Krisenkommunikation. Hier ist allerdings eine Gratwanderung erforderlich: Wird in der Krise sofort kommuniziert, besteht die Gefahr, dass noch keine gesicherten Erkenntnisse und abgestimmten Aussagen vorliegen. Darüber hinaus können schnelle Reaktionen "im Gewitter allgemeiner Kommunikation unterge-
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hen" (Esch 2008, S. 20). Zögern birgt wiederum die Gefahr, dass Gerüchte entstehen und sich verbreiten. Je länger das Versicherungsunternehmen abwartet, bevor es handelt und kommuniziert, desto größer wird zwar sein Wissen über das Krisenereignis, desto geringer wird allerdings seine Handlungsfähigkeit, und desto größer ist die Gefahr, dass externe Anspruchsgruppen Forderungen erheben und das Unternehmen in die Defensive drängen. Ohne zunächst Details nennen zu können und zu wollen, muss das Unternehmen daher umgehend Kompetenz und Handlungswillen in seinen Botschaften vermitteln ("Wir haben die nötigen Schritte eingeleitet"). Insbesondere bei plötzlichen Krisen ist Transparenz über die Krisenursache nicht sofort zu erreichen. Da aber die Öffentlichkeit genau dieses fordert, ist der Wille zur raschen Aufklärung deutlich zu machen. Schnelligkeit ist für Versicherungsunternehmen in der Krisenkommunikation besonders wichtig: Sie sorgt dafür, dass es nicht zu einem Vertrauensverlust kommt und Glaubwürdigkeit sowie das Unternehmensimage nicht beschädigt werden. •
Informative und gleichzeitig ansprechende Kommunikation – mündlich und schriftlich
Die Bekanntheitsgrade von Versicherungen sind hoch, das Markenprofil bleibt hingegen häufig unscharf (vgl. Gollnick/Bauer 2007, S. 49). Das Interesse der Öffentlichkeit an Vorsorge und Sicherheit ist aber beträchtlich (vgl. Kühlmann et al. 2002, S. 197) und steigt in Krisenzeiten eher noch an. Das bedeutet, dass das Involvement der Konsumenten, definiert als "der Aktivierungsgrad beziehungsweise die Motivstärke zur objektgerichteten Informationssuche, -aufnahme, -verarbeitung und -speicherung" (Trommsdorff 2004, S. 56) in Bezug auf Versicherungsleistungen hoch ist. Die Auswirkungen von hohem Involvement auf die Informationsaufnahme und -speicherung sind aktive Informationssuche, Auseinandersetzung mit der Werbebotschaft, hohe Verarbeitungstiefe ("elaboration") und intensive Einstellung. Hohes Involvement und tiefe Informationsverarbeitung bedeuten aber auch, dass mit einer kritischen Prüfung der Werbeaussagen zu rechnen ist, und die Gefahr von Counterarguing steigt: Konsumenten suchen nach Gegenargumenten. Die Kommunikation der Versicherungsunternehmen muss daher überzeugen, und auch sachlich und informativ gestaltet sein. Printmedien dürften hier besonders gut geeignet sein: Ihnen wird von Konsumenten eine hohe Glaubwürdigkeit zugeschrieben: Je aktiver sich ein Konsument einer Informationsquelle zuwendet, desto glaubwürdiger schätzt er diese tendenziell ein (vgl. Götsch 1994, S. 32). Komplexe Informationen lassen sich über Printmedien besser darstellen als beispielsweise über den Rundfunk: Hier ist der Zeitpunkt der Informationsaufnahme identisch mit dem Zeitpunkt der Informationsübermittlung, und die Dauer der Informationsaufnahme ist auf die Dauer der Informationsübermittlung begrenzt. Kommunikation von Versicherungen ist in hohem Maße sachliche Kommunikation, die allerdings häufig die emotionalen Produkteigenschaften nicht anspricht und insbesondere in Krisenzeiten alleine nicht ausreicht. "Die Forderung nach Sachlichkeit hat … ihre Grenzen, wenn sie beginnt, kalt, emotionslos, technokratisch oder fachlich abstrakt zu wirken… es ist essentielle Aufgabe der Kommuni-
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kation, Fachchinesisch in vertrauensbildende Botschaften zu verwandeln" (Höbel 2006, S. 177). Die Verwendung einer wissenschaftlich abstrakten Fachsprache kann gerade bei Versicherungsunternehmen dazu führen, dass das Unternehmen als unnahbar wahrgenommen wird oder die Annahme entsteht, es solle etwas verschleiert werden. Zudem haben Versicherungsunternehmen den Ruf, besonders bürokratisch zu sein (vgl. Krohn 2009, S. 21), und ihre Produkte werden häufig als langweilig empfunden (vgl. Gollnick/Bauer 2007, S. 48). Die Kommunikation sollte daher auch unterhaltsame Elemente enthalten: Humor ist geeignet, Sympathie-, Image- und Aufmerksamkeitswerte des Versicherungsunternehmens zu steigern. Abnutzungsgefahr, Fehlassoziationen und verminderte Glaubwürdigkeit sind hier aber als Risiken zu nennen (vgl. Görgen 2002, S. 168 f.; Eisend/Kuss 2009, S. 635). Mit Emotionen kann darüber hinaus eine positive Wahrnehmungsatmosphäre geschaffen werden. Emotionale Eigenschaften ("sympathisch" "modern", "innovativ", "vertrauenswürdig") sind für die Kommunikation immaterieller Leistungen wichtig – in der Krise, in der Kunden eher über Emotionen als über Fakten erreicht werden können, sind sie von besonderer Bedeutung. Leistungen wie beispielsweise Sicherheit und Altersvorsorge lassen sich emotional darstellen; mangelnde Kreativität birgt hier allerdings die Gefahr, austauschbare Botschaften und Bildmotive zu verwenden. Gerade in Krisenzeiten sollte die Kommunikation in Form einer Kombination aus schriftlichen und mündlichen Botschaften erfolgen: Wer nur schriftliche Stellungnahmen abgibt, vergibt die Chance, "Gesicht zu zeigen". Schriftliche Kommunikation sorgt für Sicherheit; mündliche Kommunikation schafft Vertrauen (vgl. Knobel 2006, S. 227). Da Konsumenten in der Krise besonders nach Risikoreduktion streben, muss der Fokus der Kommunikation auf Einfachheit und geringer Komplexität der Leistungen liegen. Klare und einfache Aussagen sowie der Verzicht auf "Fußnotenorgien" erhöhen Vertrauen und Glaubwürdigkeit. "Das schlechte Image einer Versicherungsgesellschaft ist kein Naturgesetz, sondern häufig auf ein Versäumnis zurückzuführen, Produktleistungen verständlich und ansprechend gegenüber der Bevölkerung zu beschreiben" (Görgen 2002, S. 242). Diese Aussage und die daraus resultierende Notwendigkeit, die Kommunikation gleichermaßen interessant, informativ und verständlich zu gestalten, gelten insbesondere für die Krisenkommunikation. • Persönliche Kommunikation Versicherungsleistungen bedürfen bei der Erstellung der Mitwirkung des Kunden; das Informationsverhalten der Kunden ist hier dadurch gekennzeichnet, dass der Informationsbeschaffungsprozess vergleichsweise ausführlich durchgeführt wird (vgl. Meyer/Brudler 2009, S. 1123). Das gilt in besonderem Maße in Krisenzeiten, so dass Versicherungsunternehmen auch hier die Möglichkeiten nutzen müssen, in direkten Kontakt zum Kunden zu treten. Nicht zuletzt aufgrund der Vertrauenseigenschaften von Versicherungsleistungen ist individuelle, persönliche Kommunikation für Versicherungen besonders wichtig: Sie bietet die Chance, Vertrauen zu schaffen. Dies gilt für die Kommunikation mit Kunden wie auch mit kleinen Gruppen von Meinungsbildnern, die als Multiplikatoren fungieren. Gerade in Krisenzeiten wird Vertrauensbildung dadurch unterstützt, dass das Unternehmen ein
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Gesicht erhält: Nur eine Person, nicht das Unternehmen, kann in einer Krise Betroffenheit zeigen. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Vertrauensbildung umso stärker wirkt, je weiter "oben" dieses Gesicht in der Unternehmenshierarchie angesiedelt ist. "Die Kommunikation über Pressesprecher wird oftmals als Vorschieben von Opferlämmern wahrgenommen" (Esch 2008, S. 20). Das darf allerdings nicht dazu führen, dass der Vorstandsvorsitzende in jedem Falle sofort vor die Kameras tritt. Zum einen würde er dann mit der Krise und nicht mit der Lösung in Verbindung gebracht, zum anderen verlöre er bei einer geänderten Sachlage, die möglicherweise eine Richtigstellung erfordert, seine Glaubwürdigkeit. Die Unternehmensleitung sollte daher zeitlich und inhaltlich so auftreten, dass sie mit einer Vorwärtsstrategie assoziiert wird. In bestimmen Fällen ist allerdings der Auftritt der "Nummer eins" erforderlich, auch wenn der Sachverhalt noch nicht geklärt ist. Träte sie in diesen Fällen nicht in Erscheinung, entstünde der Eindruck, dass das Unternehmen die Bedeutung der Situation herunterspielen will oder sie nicht erkennt.
• Verknüpfung der externen und der internen Kommunikation Die interne Kommunikation, die in der häufig sehr nach innen gewandten Versicherungsbranche oftmals stärker im Fokus steht als die externe Kommunikation (vgl. Wolff 2009, S. 577), erfolgt in den Unternehmen in hohem Maße über das Intranet. Sie zielt darauf ab, die Integration und Identifikation der Mitarbeiter mit dem Versicherungsunternehmen zu fördern, um ihre Motivation und Leistungsbereitschaft zu erhöhen, und unterstützt "die Ausrichtung der organisationsinternen Handlungen und Interaktionen auf den Organisationszweck und die Organisationsziele" (Röttger 2008, S. 506). Die interne Kommunikation bildet das "Rückgrat der Unternehmenskommunikation" (Schick 2007, S. 2), indem sie die Mitarbeiter in die Lage versetzt, "die Versprechen und Botschaften des Unternehmens durch ihre Arbeit und ihre Kommunikation einzulösen." (Schick 2007, S. 2). Im Krisenfall sind die Mitarbeiter daher zum einen als Anspruchsgruppe, zum anderen aber auch als Unterstützer und Multiplikatoren anzusehen. Sie müssen kontinuierlich und zeitgleich mit den übrigen Anspruchsgruppen über sämtliche Erkenntnisse und Maßnahmen informiert und mit Argumenten versorgt werden. Damit wird ihren Bedenken und Befürchtungen Rechnung getragen und zugleich sichergestellt, dass sie auf Kundenanfragen kompetent reagieren können. Eine negative Berichterstattung oder eine mangelhafte Außendarstellung sind geeignet, die Beschäftigten zu verunsichern. Hier zeigt sich die "Binnenwirkung der Außenwirkung" (Baumgärtner 2005, S. 131). Die Kommunikation muss offen und ehrlich erfolgen, um das Vertrauensverhältnis zu den Mitarbeitern nicht zu zerstören und etwaigen Gerüchten, die verunsichernd und krisenfördernd wirken können, die Grundlage zu entziehen (vgl. Germann 2006, S. 1066 ff.). Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die externe Kommunikation auch und gerade in Krisenzeiten eng mit der internen Kommunikation zu verzahnen. Die verschiedenen Kommunikationsmittel sind in inhaltlicher, formaler und zeitlicher Hinsicht aufeinander abzustimmen (vgl. Köhler 2006, S. 127 f.). Die Krisenkommunikation muss daher im Sinne einer integrierten Kommunikation erfolgen, das heißt als "Prozess der Ana-
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lyse, Planung, Organisation, Durchführung und Kontrolle, der darauf ausgerichtet ist, aus den differenzierten Quellen der internen und externen Kommunikation von Unternehmen eine Einheit herzustellen, um ein für die Zielgruppen der Kommunikation konsistentes Erscheinungsbild über das Unternehmen beziehungsweise ein Bezugsobjekt des Unternehmens zu vermitteln" (Bruhn 2003, S. 17). • Unternehmenskultur Die Unternehmenskultur und insbesondere die Einstellung der Unternehmensführung, aber auch aller in die Krise involvierten Beschäftigten, sind als wichtiger Erfolgsfaktor für die Krisenkommunikation anzusehen: Nur wenn die Krise im Unternehmen als Chance zu Verbesserungen begriffen wird, kann sie auch überzeugend als solche kommuniziert und genutzt werden. Für die Unternehmenskultur von Versicherungen bedeutet dies zum einen, dass ein Klima des Vertrauens im Unternehmen hergestellt beziehungsweise gefördert werden muss, damit Informationen nicht zurückgehalten werden und die Veränderungsbereitschaft der Mitarbeiter erhöht wird; die Fehlerkultur sowie die Innovationskultur sind hier ebenfalls von großer Bedeutung. Die Versicherungsbranche ist allerdings in hohem Maße geprägt durch "Sicherheitsdenken, Kontinuität, Hierarchievertrauen und eine geringe Außenkommunikation" (Görgen 2003, S. 231). In der Krise müssen Service- und Kundenorientierung im Fokus stehen. Auch hier sind in der Versicherungsbranche Defizite auszumachen: Traditionell geführte Versicherungsunternehmen sind nicht nur "weit von einer kundenorientierten Kultur entfernt" (Görgen 2002, S. 230), sondern auch stark hierarchisch ausgerichtet. Die Kommunikation erfolgt daher häufig Top-down, was der in Krisenzeiten unerlässlichen Flexibilität und Reaktionsschnelligkeit entgegensteht. Informelle Kommunikation zwischen den Beschäftigten ist nicht zuletzt aus diesem Grund zu fördern, wenn auch die Krisenkommunikation von der Unternehmensleitung ausgehen muss, damit Gerüchten die Grundlage entzogen und den Mitarbeitern eine entsprechende Wertschätzung entgegengebracht wird. Information und Motivation der Mitarbeiter als Botschafter des Unternehmens sind in der Krise für Versicherungsunternehmen besonders wichtig: "In unserer Branche, wo Patente nicht das Entscheidende sind und wo Produkte kopiert werden können, liegt der einzige Unterschied darin, wie gut die Mitarbeiter sind." (Krohn 2009, S. 21). In den "Augenblicken der Wahrheit" sind die vom Kunden wahrgenommenen Anstrengungen und Fähigkeiten der Mitarbeiter entscheidend (vgl. Meyer/Brudler 2009, S. 1127). Einfühlungsvermögen und Empathie der Mitarbeiter bestimmen die wahrgenommene Qualität der Dienstleistung (vgl. Meffert/Bruhn 2002, S. 12). Die Beschäftigten, die in der Versicherungsbranche in hohem Maße den Wettbewerbsvorteil ausmachen, müssen daher insbesondere in der Krise "engagiert, professionell und nah am Kunden" sein" (Krohn 2009, S. 21) und zögerliche Abwicklungen sowie die Behandlung von Kunden als Bittsteller vermeiden (vgl. Kühlmann et al. 2002, S. 32).
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• Markenstärke In der Krise wird der Wert von Marken besonders deutlich. Markenstärke setzt allerdings Investitionen voraus: Klare Markenbilder müssen aufgebaut und emotionale Bindungen zur Marke geschaffen werden. Versicherungsmarken zeichnen sich besonders durch emotionale Eigenschaftsdimensionen aus. In der Krise werden Marken, denen sich der Kunde emotional verbunden fühlt, Fehler eher verziehen: "Starke Marken sind die besten Schutzschirme" (Esch 2008, S. 20). Darüber hinaus haben solche Marken in der Krise besondere Möglichkeiten: "Während andere ihre Kommunikationsmaßnahmen meist drastisch reduzieren, kann man als starke Marke wie in rezessiven Zeiten durch antizyklisches Handeln von der Sendepause anderer profitieren" (Esch 2008, S. 20). Für Versicherungsunternehmen ist Markenstärke nicht erst in der Krise ein entscheidender Erfolgsfaktor, da die Kunden hier häufig auf einfache Entscheidungsheuristiken zurückgreifen und sich in hohem Maße an Marken orientieren. Versicherungsunternehmen nutzen allerdings noch zu wenig die Chance, vor der Krise beispielsweise durch Produktinnovationen die Marke zu stärken und zu differenzieren: "Viele Kunden kennen zwar die Marken, wissen aber nicht, wofür sie stehen" (Gollnick/Bauer 2007, S. 49).
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Fazit
Versicherungsunternehmen sehen sich in der gegenwärtigen Wirtschafts- und Finanzkrise ähnlichen Vorwürfen wie Banken ausgesetzt: nicht eingelöste Leistungsversprechen, mangelnde Transparenz, undurchschaubare Produkte, ungenügende Kundeninformationen (vgl. Krohn 2009, S. 21). Das Image der Unternehmen ist nach wie vor eher schlecht. Die Krisenkommunikation muss daher insbesondere darauf abzielen, Vertrauen, Glaubwürdigkeit und Transparenz zu erhöhen. Diese Faktoren lassen sich allerdings nur langfristig verändern, so dass die Unternehmenskommunikation bereits vor der Krise entsprechend auszurichten ist. Krisenkommunikation muss zwar inhaltlich und organisatorisch sorgfältig vorbereitet werden, sie erfordert aber keine neuen Instrumente; vorhandene Instrumente sind allerdings bereits vor der Krise und damit vor dem besonderen Zeit- und Handlungsdruck, der Krisen auszeichnet, systematisch und konsequent einzusetzen: Hierzu gehören insbesondere eine kontinuierliche und dialogorientierte Kommunikation mit den Anspruchsgruppen sowie eine gleichermaßen interessante, informative und verständliche Gestaltung der Botschaften von Versicherungsunternehmen. Service- und Kundenorientierung der Beschäftigten müssen bereits vor der Krise im Fokus stehen, da die abstrakte Leistung der Versicherungen insbesondere durch direkte, persönliche Kontakte zwischen Kunden und Mitarbeitern erlebbar wird, und auf vertrauensvollen Beziehungen in Krisenzeiten aufgebaut werden kann. Die Kennzeichnung von Krise als "Störung der Gewohnheit" (Thomas 1965, S. 27) zeigt, dass ihr auch Chancen innewohnen: Es geht nicht (nur) um eine Bedro-
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hung, um Gewinnen oder Verlieren. Krisen können Anstoß zur Neuorientierung sein: "Aus dem Vorhandensein der Bedrohung und ihrer Bewältigung lassen sich die Kraft und Dynamik zu durchgreifenden Veränderungen in Struktur und Organisation mobilisieren, die ohne die krisenhafte Zuspitzung, ohne die vorangegangene tiefe Gefährdung des Unternehmens so radikal vielleicht nicht möglich gewesen wären" (Scharr 2006, S. 95). Krisen ist ein hoher Druck immanent. "Er garantiert, dass das Aufräumen zügig, gründlich und ernsthaft betrieben wird, dass Fehler und Versäumnisse entdeckt, benannt und diskutiert werden, dass also ein Lernen am Objekt einsetzt. Dies ist eine Funktion, die in der Radikalität ihres Zugriffs nur der Krise zu eigen ist" (Merten 2006, S. 27). Für Versicherungsunternehmen bietet die Kommunikation in der Krise große Chancen: Konzentration der Kommunikation auf das Markenprofil (wofür steht die Marke?), auf die Stärkung der entscheidenden Differenzierungsfaktoren im Wettbewerb sowie die grundsätzlichen Erfolgsfaktoren der Branche: Transparenz, Glaubwürdigkeit, Vertrauen. Trotz aller Schwierigkeiten (vgl. Mast 2008, S. 172; Porák et al. 2007, S. 538) muss auch der Erfolg der Krisenkommunikation gemessen werden. Diese Erfolgskontrolle kann beispielsweise durch die Auswertung von Einzelgesprächen, Imageanalysen oder Medienresonanzanalysen erfolgen. Die Krisenkommunikation kann so den Nachweis erbringen, dass sie ihren Beitrag zur Wertschöpfung leistet. Ausgaben für präventive Krisenkommunikation unterliegen einem erhöhten Rechtfertigungsdruck (Höbel 2006, S. 179). Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund der beträchtlichen Kostensenkungsanstrengungen der Versicherungsbranche (vgl. Gollnick/Bauer 2002, S. 48). Die Erfolgskontrolle ist allerdings unerlässlich, da ein Lernen aus der Krise eine Bewertung der Qualität der getroffenen Maßnahmen voraussetzt.
428
Dr. Nicole Plankert
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24 Unternehmenskommunikation in der Krise
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Teil VI Versicherungsmarketing-Implementierung, -Controlling und -Techniken
Kapitel 25 Ausrichtung des Produktmarketing in der Assekuranz Dr. Stephan Paprottka
1
Entwicklung des Produktmarketing
1.1
Produktmarketing als Erfolgsfaktor im Unternehmen
Bis Anfang der 70er Jahre hatten etwa bei Mercedes Benz noch die Ingenieure der F&E Abteilungen über Ausrichtung und Entwicklung neuer Modelle entschieden und den Prozess vorangetrieben. Die Modelllebens- und Innovationszyklen waren noch relativ lang. Auf den damaligen nationalen Wachstumsmärkten gehörten Wartezeiten beim Kauf von PKWs häufig zum Alltag. Preise von Modellen und deren Varianten wurden durch die Entwicklungs- und Produktionskosten sowie einer kalkulatorischen Gewinnmarge determiniert (Zuschlagskalkulation). Zu Beginn der 70er Jahre erhöhte sich vor allem durch die Expansion der japanischen Automobilindustrie auf den Weltmärkten der Wettbewerbsdruck für die heimische Industrie. Toyota war der erste Hersteller, der konsequent die Marktorientierung in seine strategische Produktpolitik integrierte. Kundenbedürfnisse und die Wettbewerbssituation in den Märkten determinierte die Produktentwicklung. Dabei wurden erstmals nicht nur produktspezifische Merkmale sondern auch Marktpreise abgeleitet, die als Orientierungsgröße für die weitere Produktentwicklung dienten. Bei der Anwendung des sogenannten Target Costing wird also umgekehrt vorgegangen und gefragt, mit welchem Preis das Produkt am Markt abgesetzt werden kann. Anschließend wird erst geplant, welche Kosten in der Produktentwicklung und späteren -fertigung entstehen dürfen. Die konsequente Ausrichtung der Unternehmensstrategie an den Bedingungen des Marktes förderte die Bedeutung eines ganzheitlichen Marketing in den Unternehmen. Sukzessive übernahmen die Marketingabteilungen den Lead in der Steuerung des Produktentstehungsprozesses. Die Folge ist eine an den Kundenbedürfnissen ausgerichtete, erhebliche Zunahme von wohl aufeinander abgestimmten Modelllinien, mit erheblichen Differenzierungsmerkmalen bei gleichzeitiger Kostensenkung der Produktion. Die Einführung des Baukastenprinzips in der M.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing, DOI 10.1007/978-3-642-10276-9_25, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
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Dr. Stephan Paprottka
Produktion ermöglichte die kostenoptimierte Differenzierung von Produkten, die zu attraktiven Preisniveaus in allen Segmenten führte. Es stand nun nicht mehr die Sicht des technisch Machbaren, sondern des technisch Gewünschten im Mittelpunkt. Toyota ist heute eine Benchmark in der Automobilindustrie. Welche Bedeutung der Wandel in der Produktentwicklung durch systematisches Produktmarketing in Märkten mit hohem Konkurrenzdruck und Marktsättigung heute auch in der deutschen Automobilindustrie hat, zeigt das Beispiel Porsche. Im Gegensatz zu den 70er und 80er Jahren wurden nun neue Modellentwicklungen sehr stark durch die Marketingabteilung beeinflusst, welche sogar klare Vorgaben nicht nur für Preisniveaus, sondern auch für Modellabgrenzungen durch technische Leistungsdifferenzierungen mitgestaltet. Jedes Modell hat eine klare, an Kundenbedürfnissen ausgerichtete Marktpositionierung hinsichtlich Preis, Leistungs-, Komfort- und Designmerkmalen, mit einer ausgefeilten differenzierten Kommunikationsstrategie am Markt und muss außerdem dem Image der Marke Porsche entsprechen.
1.2
Herausforderungen in der Versicherungsbranche
In den Zeiten regulierter Versicherungsmärkte gab es in der Branche nur sehr eingeschränkten Wettbewerb beim Preis und der Gestaltung von Produkten. Die allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) und Prämiengestaltungen mussten ex ante dem Bundesaufsichtsamt des Versicherungswesens (BAV) zur Genehmigung vorgelegt werden. Dieses führte für alle Versicherer, die in den gleichen Zweigen tätig waren, zu weitgehender Einheitlichkeit der AVB, vor allem im Massengeschäft (vgl. Wein 2001, S. 87 f.). Der so eingeschränkte Wettbewerb war, ähnlich wie in der Automobilindustrie in den 70er Jahren, sehr produktgetrieben. Mathematiker, Juristen und Kapitalanlageprofis waren die Treiber der Entwicklung. In der Lebensversicherung beispielsweise kamen Mitte der 80er Jahre die fondgebundenen Lebensversicherungen, unterschiedliche Berufsunfähigkeitsversicherungen und Risikoversicherungen mit Nettobeiträgen auf. In der Kapitallebensversicherung fand der Wettbewerb über die Überschüsse statt. In den Preisen herrschte aber nicht viel Unterschied. Produktmarketing hatte weitgehend die Aufgabe bei der Produktaufbereitung und Vermarktung zu unterstützen. Hierbei waren die Lebensversicherer aufgrund ihrer noch stärkeren Verkaufsorientierung im Vergleich zu den Kompositversicherern einen Schritt voraus. Verstärkter Wettbewerb fand aber zum großen Teil lediglich über die Differenzierung der Dienstleistung im Vertrieb statt. Erst mit der weitgehenden Deregulierung des deutschen Versicherungsmarktes 1994 bekam die Assekuranz deutlich mehr Spielraum in der Produktentwicklung. Durch den Wegfall der ex ante Genehmigungspflicht der AVB, den Wegfall der Pflicht zur Vorlage und Genehmigung der Tarife beziehungsweise zur Verwendung bestimmter Kalkulationsschemata in einzelnen Versicherungszweigen sowie
25 Ausrichtung des Produktmarketing in der Assekuranz
435
dem Wegfall der beschränkten Dienstleistungsfreiheit entstand zunehmender Wettbewerb. Nun standen den Versicherern auch die Möglichkeiten der Planung und Gestaltung aller produktpolitischen Maßnahmen zur Verfügung. In den späten 90er Jahren begann die Branche immer neue Tarifvariationen auf den Markt zu bringen und damit zunehmende Differenzierung von der Konkurrenz im Produkt zu erreichen. Zwar nahm jetzt auch die Kundenorientierung Einzug in die Überlegungen von Versicherungsunternehmen (von der Spartenorientierung hin zur spartenübergreifenden Ausrichtung an Kundengruppen; Privat-, Firmen-/Gewerbe- und Industriekunden), wurde aber bei weitem nicht so konsequent umgesetzt wie in anderen Industrien. Die Produktentwicklung wurde nach wie vor von Aktuaren getrieben, die in Absprache mit dem Vertrieb nun versuchten, absatzfähige „neue“ Produkte zu entwickeln. Nach wie vor stand die Transaktion vom Anbieter zum Kunden im Mittelpunkt der Überlegungen. Nach dem Abflauen des Verkaufsbooms durch die Öffnung des Ostblocks und die Wiedervereinigung Deutschlands in den 90er Jahren wurden der steigende Konkurrenzdruck und die Marktsättigung auch in der Versicherungsbranche spürbar. Gleichzeitig nahm die Tarifvielfalt in den Sparten deutlich zu, induziert durch die Vorstellung, durch Differenzierungen in den AVB Kundenbedürfnissen besser zu entsprechen. Die Produkte wurden immer intransparenter und sowohl für den Vermittler als auch den Kunden schwerer verständlich. Nur wenige Produktvariationen/-entwicklungen sind wirklich auf die Lösung von Kundenproblemen ausgerichtet. Wer aber bei Marktsättigung dennoch Marktwachstum erzielen möchte, muss vom Kunden ausgehen. Dabei reicht es nicht, den Kunden nach seinen Wünschen zu fragen – von denen er häufig nur ein diffuses Bild hat –, sondern auch danach, was er morgen wollen könnte. In der richtigen Problemerkennung liegt der Schlüssel zum Erfolg (vgl. Koppelmann 2001, S. 1 f.). Eine Verschärfung dieses Veränderungsdruckes findet durch die neuen gesetzlichen Rahmenbedingungen statt. Mit dem Inkrafttreten der EU-Vermittlerrichtlinie und zuletzt der VVG-Reform Anfang 2008 hat der Gesetzgeber die Veränderung weg vom einfachen Produktverkauf, hin zur qualifizierten Beratung mit dem Ziel einer Ermittlung und Deckung von Kundenbedarfen, eingeleitet. Die in Versicherungsunternehmen für die Produktentwicklung und Vermarktung bis heute häufig dominierenden Funktionsbereiche (Aktuariat, Recht und Vertrieb) sind aufgrund ihrer Spezialisierung oder Marktferne nicht in der Lage, hier eine übergreifende strategische Sichtweise zu entwickeln. Organisatorische Verankerungen von Marketingfunktionen sind in der Assekuranz traditionell dem Vertrieb untergeordnet und handeln daher weitgehend im Interesse des Vertriebes. Steuerungsgemäß dominieren hier operative absatzfördernde Aufgaben wie die Kommunikationsunterstützung durch Werbung und Verkaufsförderung im Marketing. Zentral angebundene Marketingfunktionen haben häufig keine Einflußmöglichkeit aufgrund einer fehlenden strategischen und marketing-
436
Dr. Stephan Paprottka
prozessualen Verantwortung. Um den Herausforderungen auf den heutigen Märkten aber gewachsen zu sein, müssen tradierte Herangehensweisen und Organisationsformen bei vielen Versicherern überdacht und neu ausgerichtet werden.
2
Produktmarketingkonzept in der Assekuranz
2.1
Marketing und Produktmarketing
In der neueren Literatur wird Marketing als zentrale betriebswirtschaftliche Funktion in einem marktorientierten Unternehmen verstanden. „Marketing ist die konzeptionelle, bewusst marktorientierte Unternehmensführung, die sämtliche Unternehmensaktivitäten an den Bedürfnissen gegenwärtiger und potenzieller Kunden ausrichtet, um die Unternehmensziele zu erreichen“ (Runia/Wahl/Geyer/Thewißen 2005, S. 4). In einer erweiterten Form der Betrachtung der Marketingziele werden nicht nur die Interessen des Unternehmens, sondern auch die Interessen sämtlicher Stakeholder mit einbezogen. “Marketing is an organizational function and a set of processes for creating, communicating, and delivering value to consumers and for managing customer relationships in ways that benefit the organization and its stakeholders” (American Marketing Association, 2003). Damit wir explizit die übergreifende ertrags- und wertsteigernde Komponente des Marketing in den Vordergrund gerückt. Anhand dieser Definitionen lassen sich die Kernaufgaben nach unterschiedlichen Orientierungsrichtungen ableiten (vgl. Abb. 25.1):
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 25.1: Ausrichtung des Marketing
25 Ausrichtung des Produktmarketing in der Assekuranz
437
Ausgehend von den Bedürfnissen und Erwartungen der Kunden ist der Ressourceneinsatz so zu steuern, dass bestehende Marktpotenziale erschlossen und weiter ausgeschöpft werden können. Aus funktionaler Perspektive ist Marketing der Unternehmensbereich, welcher sich mit der Herbeiführung und Gestaltung von Austauschprozessen beschäftigt, mit dem Ziel, durch die Befriedigung der Bedürfnisse und Wünsche des Kunden Gewinne zu erwirtschaften. Erreicht wird dieses durch die Platzierung der richtigen Güter, zum richtigen Preis, auf dem richtigen Markt, mit den richtigen Absatzförderungsmaßnahmen. Hieraus abgeleitet ergeben sich die 4 P‘s des Marketing-Mix: "Product, Price, Place, Promotion" (im deutschen Sprachraum mit Produktpolitik, Preispolitik, Kommunikationspolitik und Distributionspolitik beschrieben), denen funktional sämtliche Marketingkernmaßnahmen zugeordnet werden können. Markt- und Meinungsforschung sowie die Analyse der rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen bilden den Rahmen der 4 P’s. Der Begriff des Produktmarketing, mit dem sich dieser Beitrag im Kern beschäftigt, entstammt als eine spezielle Form des Absatzmarketing der Konsumgüterindustrie. Der Fokus des Marketing wird auf den Markt gerichtet, auf die von den Kundenbedürfnissen abgeleitete Leistungserstellung zur Erreichung der ökonomischen Ziele des Unternehmens und deren Gesellschafter/Aktionäre. Das Produktmarketing beschäftigt sich im speziellen also mit Prognose- und Lösungsaufgaben von Kundenbedürfnissen (vgl. Kappelmann 2001, S. 2 f.). Nicht Gegenstand der Betrachtung sind demnach die weiteren Ausprägungen des Marketing wie etwa das Beschaffungs- oder Innenmarketing. Unter Verwendung der Produktdefinition von Gutenberg als Faktorkombination (vgl. Gutenberg 1983, S. 299) und der Berücksichtigung des immateriellen Charakters von Versicherungsprodukten wäre für die Assekuranz begrifflich die Verwendung „Dienstleistungsmarketing“ oder noch spezieller „Versicherungsmarketing“ treffender (vgl. Kappelmann 2001, S. 2 f.). Mit dem Begriff des Produktmarketing aus der Konsumgüterindustrie werden allerdings seit langem eingesetzte und bewährte Funktionen, Prozesse und Instrumente assoziiert, deren Adaption in der Versicherungsbranche, aufgrund eines nur rudimentär vorhandenen „echten“ Marketing, erst seit einigen Jahren begonnen hat. Aufgrund dieser historischen Positionierung des Produktmarketing und der damit verbundenen relativ klaren Vorstellung von Marketing, soll im Folgenden auf eine begriffliche Differenzierung hinsichtlich des Produkttyps verzichtet und bewusst der Produktmarketingbegriff verwendet werden. Diese Vorgehensweise schafft Orientierungspunkte, mit deren Hilfe ein mögliches Zielbild des Versicherungsmarketing für die Konzeption leichter zu formulieren ist.
438
Dr. Stephan Paprottka
2.2
Rahmenbedingungen und Erfolgsfaktoren auf dem Markt für Versicherungen
In den heutigen Versicherungsmarktsituationen führender Industrienationen Europas mit hohem Wettbewerbsdruck und stagnierendem Wachstum, ist eine konsequente Ausrichtung an den Markt-/Kundenbedürfnissen für die Versicherungsunternehmen unumgänglich, wollen sie im Wettbewerb bestehen. Nur solche Maßnahmen sind dabei auch sinnvoll, die einen erkennbaren oder fühlbaren Nutzen für die Kunden liefern. Aufgrund der Besonderheit der Versicherungsbranche ist jedoch der Kundenbegriff noch zu präzisieren. Eine Versicherung ist im Gegensatz zu anderen Produkten nicht ein Produkt, welches aktiv und „leidenschaftlich“ gekauft wird. Bei Versicherungsnehmern besteht ex ante nur geringe Klarheit über Art, Höhe und Eintrittswahrscheinlichkeit abzusichernder Risiken und damit über den Nutzwert einer Absicherung. Auch ist die Leistung der Absicherung, welche häufig nur im Schaden- beziehungsweise Leistungsfall oder nach dem Ablauf einer langen Wartezeit (Altersvorsorge) bewusst wahrgenommen wird, eher eine abstrakte Größe, die im Denken und Handeln von Kunden emotional nicht so im Vordergrund steht, im Gegensatz etwa zu einem neuen schicken Auto. Versicherungen sind demnach stark erklärungsbedürftige Produkte, die aktiv verkauft werden müssen (Push Prinzip). Dieses zeigt sich auch an der hohen Vertriebskostenquote der Versicherungsunternehmen. Versicherungen werden auf den Märkten kaum von disziplinarisch steuerbaren Vermittlern vertrieben, sondern hauptsächlich von (unternehmens-)gebundenen oder unabhängigen „Unternehmern“, deren wirtschaftliche Existenz stark von den neu verkauften Versicherungen abhängt. Zumeist besteht eine „Beziehung“ zwischen Kunde und Vermittler, in die der Versicherer nur schwer oder gar nicht eindringen kann/darf. Dieses gilt vor allem für die freien Vertriebe, aber auch eingeschränkt für die Ausschließlichkeitsorganisationen, die zwar an die Produkte ihres Unternehmens gebunden sind, aber zumeist mit ihren „§84er HGB Vermittlern“ nur indirekt steuerbar ist (vgl. Abb. 25.2). Die Absatzleistung eines Versicherers ist demnach stark von dem aktiven Verkauf der eigenen Produkte durch deren Vertriebspartner abhängig. In dieser Dreiecksbeziehung haben die Vermittler neben ihrer Rolle, den Kunden zu beraten und ihm ein entsprechend seiner Situation möglichst passendes Produkt anzubieten, auch immer ein vom Kunden unabhängigen Zusatznutzen von bestimmten Leistungsangeboten von Versicherern. Es reicht für einen Versicherer also nicht, nur den (End)-Kundennutzen im Blickfeld zu haben, sondern auch den Zusatznutzen der beim Vertriebspartner generiert wird. Anders herum wäre es fahrlässig und unter den heutigen gesetzlichen Rahmenbedingungen auch nicht mehr angebracht, nur die Bedürfnisse des Vertriebspartners in die Erwägungen der Kundenausrichtung einzubeziehen, ohne die Einwirkung des (End)-Kunden auf einen Vertragsabschluß genauer zu untersuchen. De facto kann hier von einer zweigleisigen Kundenbeziehung mit gegenseitiger Wechselwirkung gesprochen werden.
25 Ausrichtung des Produktmarketing in der Assekuranz
439
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 25.2: Kundenbeziehungen in der Assekuranz
Kernerfolgsfaktoren auf den Markt sind demnach sowohl aus Kunden- als auch aus Vertriebspartnersichtweise abzuleiten. Diese werden im Wesentlichen vom Image eines Unternehmens, seinen Produkten, den Services und der Prozessqualität sowie der Vergütung für den Vertriebspartner determiniert (vgl. Abb. 25.3).
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 25.3: Erfolgsfaktoren am Markt
440
Dr. Stephan Paprottka
Für das Produktmarketing von Versicherern ist aus ökonomischer Sicht demnach eine Fokussierung sämtlicher Marketingüberlegungen und -maßnahmen auf diese Kernerfolgsfaktoren erforderlich. Dabei ist nach den Bedürfnissen jedes Vertriebsweges und jeder Kundengruppe zu differenzieren.
2.3
Ausrichtung der Produktmarketinginstrumente
Wie bereits oben beschrieben, wird das Handeln im Produktmarketing im Kern von vier Instrumenten, den 4 P’s, bestimmt (vgl. zur Vertiefung versicherungsspezifischer Ausprägungen der 4 P’s Kühlmann/Käßer-Pawelka/Wengert/Kurtenbach 2002, S. 324 ff.). Dabei hat das Marketing sowohl eine strategisch konzeptionelle als auch operative, mehr prozessuale Komponente. Die Erfolgsfaktoren in der Versicherungsbranche bilden den Rahmen für die Ausgestaltung der Instrumente und Aufgaben im Produktmarketing (vgl. Abb. 25.4). Der Marketing-Mix hat in der Summe entscheidenden Einfluss auf die Ausgestaltung der Erfolgsfaktoren. Die grobe Ausrichtung der 4 P’s spielt bereits bei der Ableitung der Marketingstrategie eine entscheidende Rolle für ein Versicherungsunternehmen. Nur mit einer klaren Value Proposition im Markt sind Wettbewerbsvorteile zu erreichen. Die unterschiedliche Ausgestaltung des Unternehmens entsprechend der Erfolgsfaktoren bestimmt die Positionierung.
Quelle: In Anlehnung an Meffert
Abb. 25.4: Marketingprozess
25 Ausrichtung des Produktmarketing in der Assekuranz
441
Welche Marke zielt auf welchen Vertriebsweg ab und welche dazu passenden Produkte werden mit welchen Services und mit welchen Anreizen abgesetzt. Dieses hat weitreichende Folgen für die Aufstellung des Unternehmens. Schon bei der Ableitung der Strategie werden demnach Leitplanken für den Marketing-Mix definiert. In der Praxis ist festzustellen, dass der Einsatz der Marketinginstrumente in vielen Punkten von der Ausprägung und Intensität noch weit von der Kundenorientierung eines modernen Marketingverständnisses entfernt sind. Zur Vereinfachung werden in der weiteren Darlegung die Produktpolitik und Preispolitik aufgrund ihrer Nähe zusammengefügt und als ein Instrument betrachtet (vgl. Abb. 25.5).
Quelle: 67rockwell Consulting, eigene Darstellung
Abb. 25.5: Marketinginstrumenteneinsatze in der Praxis
Insbesondere in der Produkt- und Preispolitik ist immer noch eine stark von den Aktuaren und Juristen getriebene Produktentwicklung zu finden. Eine wesentlich stärkere Kundenorientierung findet bereits in der Distributionspolitik statt – hier zeigt sich die Branchenbesonderheit der historisch bedingten Dominanz des Vertriebes beziehungsweise der Vertriebspartner. Die Schwächen wirken sich unmittelbar auf die Erfolgsfaktoren am Markt aus (vgl. Abb. 25.6). Folgt man der Beurteilung, dass die Produkt-/Preispolitik die größte Auswirkung auf die Markt-Erfolgsfaktoren hat, jedoch noch am wenigsten kundenorientiert ausgeprägt ist, dann werden die heutigen konzeptionellen und prozessualen Herausforderungen vieler Versicherungsunternehmen im Produktmarketing erkennbar. Neben der unzureichenden Analyse des Marktes ist häufig kein systematischer Produktentwicklungsprozess institutionalisiert, auf den aufgrund seiner
442
Dr. Stephan Paprottka
Bedeutung für den Erfolg eines Versicherers, im Folgenden vertiefend eingegangen wird.
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 25.6: Einfluß der Marketinginstrumente auf Erfolgsfaktoren
2.4
Produktentwicklungsprozess
Inhaltlicher Ausgangspunkt dieses Prozesses ist immer die Analyse des Marktumfeldes (Kunden-, Vertriebspartnerbedürfnisse und Wettbewerb), auf der eine Problemlösung konzeptionell erarbeitet werden sollte. Neben rein sachlichrationalen Leistungsbestandteilen beziehungsweise technisch-ökonomischen Komponenten sind auch psychisch-soziale Dimensionen als Bestandteile der Kundeninteraktion und Kundenbeziehung zu berücksichtigen. Erst im Anschluß werden die verfügbaren Ressourcen optimal auf die Erstellung und Verwaltung der Produkte ausgerichtet (vgl. Abb. 25.7).
Quelle: In Anlehnung an Haller 2000, S, 274
Abb. 25.7: Ausgangspunkt im Produktentwicklungsprozess
25 Ausrichtung des Produktmarketing in der Assekuranz
443
Zwar arbeiten in vielen Versicherungsunternehmen eine Reihe von Abteilungen mit an diesem Prozess, strategische Orientierung und Systematik ist aber nur selten erkennbar. Dieses führt bereits im Ansatz zu einer unkoordinierten breiten Ideensammlung und einem in der Folge inneffizienten Prozess mit vielen Schleifen. Insgesamt wird der Innovationsgrad in der Branche von vielen Entscheidungsträgern als eher gering eingeschätzt. Prozessual bilden die Unternehmensstrategie und die Marktforschung die Grundlage für die Produktstrategie. Hieraus lassen sich alle weiteren Maßnahmen der Produktpolitik ableiten. Nach der Aufstellung der Produktplanung, welche die Aus- und Weiterentwicklung des Produktportfolios konkretisiert, startet der operative Produktmanagementprozess, der eine Begleitung von der Ideengenerierung bis zur Vermarktung beinhaltet. Der Produktentwicklungsprozess wird durch die Aufnahme und Verarbeitung der Marktfeedbacks für die weitere Produktplanung und Marktforschung als Kreislauf geschlossen. Eine deutliche Schwäche zeigt sich in der Praxis bei den Feedbackprozessen und vor allem der Marktforschung. In vielen Fällen liegt eine nur wenig differenzierte Sicht auf die Kunden und Vertriebspartner der Versicherungsunternehmen vor. Häufig ist dann die Ableitung einer Produktstrategie und -planung auf Basis unzureichender Informationen eher vom Zufall getrieben, als systematisch abgeleitet (vgl. Abb. 25.8).
Quelle: In Anlehnung an Betschart/Haas 2008, S. 277
Abb. 25.8: Produktentwicklungs- mit Produktmanagementprozess
444
Dr. Stephan Paprottka
Wie erfolgreich dieser Prozess im Unternehmen letztlich abläuft, ist von der Organisation dieser Aufgabenverteilung und -wahrnehmung abhängig. Es ist nicht verwunderlich, dass die Schwächen in der Wahrnehmung der Produktmarketingaufgaben zum großen Teil in der derzeitigen Organisation des Marketing in Versicherungsunternehmen begründet sind.
3
Organisation des Produktmarketing
3.1
Gestaltungsprinzipien
Anhand der derzeitigen Situation des Produktmarketing in der Assekuranz lassen sich vier wesentliche Kernherausforderungen für die organisatorische Ausgestaltung der Marketingfunktionen erkennen: 1. Einführung einer ganzheitlichen Kundenorientierung im Unternehmen 2. Übergreifende Prozesssteuerung des Produktmarketing insbesondere des Produktentwicklungsprozesses 3. Professionalisierung durch Stärkung der analytischen und konzeptionellen Arbeitsfelder im Marketing 4. Effiziente Koordination aller Marketingaktivitäten Um hierfür in die Diskussion über eine organisatorische Neuausrichtung des Produktmarketing einzusteigen, hat sich im Vorgehen die Überprüfung der derzeitigen Organisation anhand der folgenden Kernthesen für eine Neuausrichtung des Produktmarketing bewährt. • Oberstes Primat des Marketing ist die Kunden- und Serviceorientierung und damit ein unternehmensübergreifend zu behandelndes Thema. • Marketing ist organisatorisch prominent aufzuhängen, um bestehenden Ressortdominanzen entgegenwirken zu können. • Marketing ist nicht teilbar (Strategisches Marketing/Werbung/Vertriebsunterstützung etc. vs. Produktmanagement), sondern integriert zu betrachten (Zusammenführung strategischer und operativer Kernaufgaben). • Institutionalisierung der Koordination und Steuerung des Produktmarketingprozesses mit Verantwortlichkeit für den Markterfolg von Produktlinie/Produkte je Marke. • Gleichartige Marketingfunktionen innerhalb verschiedener Einheiten sind zu bündeln (Spezialisierung). • Eine „atmende“ Fertigungstiefe in der Werbung erhöht die Kostenflexibilität und Qualität (Make or Buy). • Fokussierung auf analytisch konzeptionelle Aufgaben im Produktmanagement. • Standardisierung und Bündelung von operativen Abwicklungsprozessen (zum Beispiel Werbung/Druckstückerstellung).
25 Ausrichtung des Produktmarketing in der Assekuranz
445
• Die Vertriebsorganisationen sind für den Verkauf verantwortlich; Vertriebsunterstützung sollte diesen Prozess optimal fördern. • Spezial Produkt-Know-how (zum Beispiel bAV-Know-how) ist an einer Stelle zu bündeln. um Qualität und Effizienz zu erhöhen. • Flache Hierarchien im Marketing bieten Flexibilität und beschleunigen Entscheidungen. Anhand des Erfüllungsgrades und unter Berücksichtigung unternehmens unternehmensspezi spezifischer Besonderheiten kann strukturiert an der Entwicklung eines neuen Organ Organisationsmodelles gearbeitet werden.
3.2
Funktionen und Organisationsmodell
In der Regel lassen sich in der Praxis in Versicherungsunternehmen acht Kernfunktionen im Produktmarketing identifizieren (vgl. Abb. 25.9).
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 25.9: Marketingfunktionen in Versicherungsunternehmen
Strategie/Steuerung betrifft die Produktmarketingstrategie und übergreifende Führung sowie Steuerung aller Marketingfunktionen. Public Relations erarbeitet, koordiniert und steuert die Kommunikationspolitik Kommunikationspolitik im Unternehmen. In der Marktforschung werden systematisch Markt- und Wettbewerbsdaten erhoben, analysiert und anderen Unternehmenseinheiten zur Verfügung gestellt. Das Produktmanagement ist die Institutionalisierung eines fachlich Verantwortlichen für eine Marke und Produktlinie, der prozessual und inhaltlich alle am Produktentwicklungsprozess beteiligten Funktionen integriert und koordiniert. Die Werbung erarbeitet die Konzeption der Werbemittel nach Vorgaben der Produktmanager Produktmanager und koordiniert eigene Grafiker aber vor allem externe Agenturen im Kreativ- und Werbemittelerstellungsprozess. Die Verkaufsförderung organisiert vor allem übergreifende Veranstaltungen für das Unternehmen und insbesondere für den Vertrieb. Häufig werden kleinere Veranstaltungen in der Region zusätzlich von
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dezentralen Verkaufsförderern in Abstimmung durchgeführt. Die Vertriebsunterstützung bildet die Schnittstelle und den „verlängerten Arm“ der Produkt manager in die Vertriebsorganisation. Sie sind für Spezial-Schulungen und für den Know-how Transfer mit verantwortlich, nehmen aber auch strukturiert Feedbacks aus dem Markt über die Vertriebsorganisation auf. Der Vertriebsservice ist eine speziell für den Vertriebspartner ausgerichtete Funktion, um spezielle Zusatzservices bestimmten Vermittlersegmenten bedarfsgerecht zur Verfügung zu stellen. Der Verkauf oder Vertrieb ist, anders als in vielen anderen Branchen, nicht dem Marketing untergeordnet, sondern bildet aufgrund der oben erwähnten Besonderheiten der Branche ein eigenes Ressort. Ein Organisationsmodell sollte neben den oben genannten Gestaltungsprinzipien auch bestimmten Unternehmensbesonderheiten entsprechen. So sind Differenzierungskriterien nach Märkten (Vertriebswege, Kundengruppen, Regionen/Ländern), Marken und auch nach Sparten denkbar und als Parameter in die Gestaltung einzubeziehen. Jedes zu diskutierende Organisationsmodell muss aber die vier Kernanforderungen (s.o.) einer Neuausrichtung des Produktmarketing in Versicherungsunternehmen erfüllen. Als besonders zielführend hat sich dabei die Matrixorganisation für ein modernes Produktmarketing herausgestellt, da sie die wichtige Anforderung nach einem integrierten Marketing in einem Versicherungsunternehmen am besten erfüllen kann. Sowohl die effiziente Organisation aller Marketingaktivitäten durch die funktionale Bündelung von gleichartigen Produktmarketingaufgaben, als auch die dringend notwendige unternehmensweite übergreifende Abstimmung mit allen anderen Unternehmenseinheiten durch die fachlich prozessuale Verantwortung des Produktmanagements, wird durch die Matrix unterstützt (vgl. hierzu auch Görgen 2007, S. 227). Die Institutionalisierung des ständigen Konfliktes zwischen den Produktmanagern und den Funktionsmanagern fördert gleichzeitig die dringend benötigte Kreativität und Innovationsbereitschaft der Organisation (vgl. Abb. 25.10). Die Produktmanager fungieren als Integrationsmanager und koordinieren den gesamten operativen Produktmarketingprozess. Mit ihnen kann die Organisation nach wichtigen strategischen Leitplanken im Unternehmen (zum Beispiel Marke oder Produktlinie) bewusst differenziert werden, um entsprechend für die Kunden sichtbare eigenständige Marketingausrichtungen zu generieren. Die übrigen Marketingfunktionen werden von den Produktmanagern gesteuert und sollten zur Erhöhung der Qualität und Effizienz gebündelt und spezialisiert aufgestellt werden. Übergreifend und als Querschnittfunktionen sollten Strategie/Planung, PR, Marktforschung aufgehängt werden.
25 Ausrichtung des Produktmarketing in der Assekuranz
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Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 25.10: Produktmarketing-Organisationsmodell
3.3
Strukturierungsrahmenbedingungen
Historisch ist das Produktmarketing in der Branche aus der Notwendigkeit gewachsen, die Vertriebsorganisationen optimal in ihren Aufgaben zu unterstützen. Dabei bilden immer noch die Funktionen Werbung, Verkaufsförderung und Vertriebsunterstützung den Schwerpunkt der Marketingtätigkeit. Oftmals sind diese Funktionen auch im Vertriebsressort auf zweiter oder dritter Ebene, zentral oder dezentral, zu finden. Bündelungstendenzen sind vor allem bei der Werbung mit einem Teil der Verkaufsförderung zu finden, um Größeneffekte und eine übergreifende Koordination der Maßnahmen zur Corporate-Identity und -Design zu erzielen. Alle übrigen Funktionen sind in vielen Unternehmen mehr oder weniger verstreut in der Organisation, teilweise auch redundant, zu finden und werden nicht mit der aus heutiger Sicht notwendigen Intensität und Einfluss betrieben (vgl. Abb. 25.11). Zur Implementierung eines neuen Organisationsmodells für das Produktmarketing gilt es nun die Funktionen zu bündeln und so aufzuhängen, dass das Produktmarketing seiner übergreifenden Rolle gerecht werden kann. Vor allem die Strategie/Steuerung, PR, Marktforschung und Produktmanagement sind noch deutlich unterentwickelt in der Branche. Vertriebsservices werden derzeit sukzessive im Markt aufgebaut, müssen aber von ihrer Ausgestaltung und Intensität wertorientiert an Vertriebspartnersegmente ausgerichtet werden.
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Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 25.11: Historisch geläufiges Strukturmodell in der Assekuranz
Betrachtet man die einzelnen Kernprozesse eines Versicherers, so wird man feststellen, dass Marketingaktivitäten oder -auswirkungen im Sinne einer Kundenorientierung in jedem Prozessschritt eine Rolle spielen (vgl. Abb. 25.12).
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 25.12: Übergreifende Marketingaufgaben der Versicherer
Von der Produktentwicklung über den Vertrieb bis hin zum Schaden-/Leistungsmanagement, jeder Kernprozess erbringt Teilaufgaben des Marketing die vom Produktmarketing übergreifend koordiniert werden müssen.
25 Ausrichtung des Produktmarketing in der Assekuranz
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Die Frage nach der Zuordnung der Marketingfunktionen zu einem Ressort lässt sich demnach nicht eindeutig beantworten. Vor allem zwei Aspekte sind jedoch bei der Strukturierung zu beachten und gegeneinander abzuwägen. Neben der bereits erwähnten übergreifenden Aufgabe des Marketing sowohl strategisch als auch operativ, ist die Koordination von weiteren Funktionen innerhalb der unterschiedlichen Ressorts notwendig. Für eine erfolgreiche Umsetzung ist hierfür die Verankerung einer übergreifenden Verantwortung, die zu den Kernaufgaben und damit den persönlichen Zielvereinbarungen des Ressortverantwortlichen passt und auch die nötige Durchsetzungskraft gegen tradierte Vorgehensweisen hat, notwendig. Als übergreifend anzusehen sind insbesondere die Strategie/Steuerung, Public Relation, Marktforschung und das Produktmanagement. Die Werbung hat aufgrund ihrer Querschnittfunktion als Dienstleister für die Produktmanager der einzelnen Produktlinien/Marken/Sparten zur Koordination des Werbeprozesses ebenfalls übergreifenden Charakter, während Verkaufsförderung, Vertriebsunterstützung und Vertriebsservice als Dienstleiter eine klare Nähe zur Vertriebsorganisation haben. Hier macht es Sinn, sowohl nach dem zu unterstützenden Vertriebsweg als auch den Versicherungsarten (Komposit, Leben, Kranken) aufgrund unterschiedlicher Unterstützungsbedürfnisse, Prozesse und des bereitzustellenden Know-hows zu differenzieren. Diese Überlegungen legen es nahe, die Verkaufsförderung, Vertriebsunterstützung und Vertriebsservice in die Verantwortung des Vertriebsvorstandes zu geben. Während alle anderen Funktionen zur Sicherstellung der übergreifenden Koordination, vor allem in großen Organisationen (Vielspartenanbieter mit vielen Vertriebswegen), prominent aufzuhängen sind. Dieses ist zumeist dann nur beim Vorstandsvorsitzenden gegeben, bei dem auch die Unternehmensentwicklung angesiedelt ist. Dadurch werden allerdings die Marketingfunktionen disziplinarisch auseinandergerissen und so schwieriger steuerbar.
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Neuausrichung des Produktmarketing – ein Praxisbeispiel
Wie oben schon beschrieben, ist eine der großen Herausforderungen von Versicherungsunternehmen ein wirklich schlagkräftiges kundenorientiertes Produktmarketing zu implementieren. In dem nun zu beschreibenden Fall „fristete“ das Marketing im Vertriebsressort, wie in vielen anderen Fällen auch, ein stark von den operativen Vertriebsbedürfnissen abhängiges Dasein. Im Vordergrund stand die Unterstützung bei Veranstaltungen, der Prospekterstellung zu Produkten, Entwicklung von Verkaufsstories für den Vertrieb sowie die Unterstützung des Vertriebes „vor Ort“ mit speziellem Produkt-Know-how. Die Steuerung erfolgte direkt durch den Vertrieb. Zwar wurde bereits ein Produktmanagement eingerichtet, dieses war aber ebenfalls im Vertrieb hauptsächlich mit der Koordination des Werbe- und Druckstückprozesses beschäftigt. Die Folge war eine sehr stark aktio-
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nistische, ineffiziente Arbeitsweise des Produktmarketing. Gleichzeitig gelang es der Mathematik als Leadmanager der Produktentwicklung nicht, für den Markt wirklich geeignete Produkte zu entwickeln. Blickte man auf die Entstehungsgeschichte erfolgreicher Produkte im Hause zurück, so ließ sich feststellen, dass eine Mischung aus Zufall und Nachahmung ihre Haupttreiber waren. Andere Produkte wurden einfach nur noch variantenreicher und damit komplexer gestaltet und werbetechnisch neu aufgearbeitet, ohne den Nutzwert für den Kunden wirklich zu hinterfragen. Die Sichtweise und die Ausrichtung von Services im Unternehmen für Vermittler und Kunden waren in jedem Ressort unterschiedlich und wurden teils isoliert voneinander, teilweise auch redundant, ausgebaut. Ein entscheidender Grund für diesen Missstand war vor allem das Fehlen einer übergreifenden marktorientierten Strategiefunktion und einer integrierenden Koordinationsfunktion des Produktmarketing. Ein so aufgestelltes Produktmarketing konnte für diese Herausforderungen keine Unterstützung liefern. Im ersten Schritt wurden daher alle Produktmarketingtätigkeiten im Unternehmen nach ihrer Funktion gebündelt, spezialisiert und mit klarer Verantwortung aufgestellt. Die Strategie, Steuerung und nicht markenrelevanten Querschnittfunktionen wurden zentral gestärkt. Die Aufgaben der Produktmanager wurden stärker auf konzeptionelle und prozessuale Aufgaben im Produktentwicklungsprozess markenspezifisch ausgerichtet. Mit diesen kurzfristigen Maßnahmen wurden die Produktmarketingfunktionen deutlich professionalisiert und eine erste Änderung in Richtung ressortübergreifender Ausrichtung durchgeführt (vgl. Abb. 25.13).
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 25.13: Alternativen von Strukturmodellen
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Das Produktmarketing wurde überführt in ein strukturiertes planerisches Vorgehen, weg vom aktionistischen, weitgehend fremdgesteuerten Vorgehen. Erstmals wurde der Markt mit seinen Teilnehmern sowie das eigene Leistungsangebot systematisch analysiert und auf Passgenauigkeit und Zusammensetzung überprüft. Hieraus entwickelte sich eine Produktportfolioplanung und Ansatzpunkte für die weitere Produktenwicklung für jede Marke. Ähnlich wurde auch in der Kommunikations- und Distributionspolitik vorgegangen. Auf Basis von mit der Produktentwicklung abgestimmten Kommunikationsplänen wurden konkrete Maßnahmen geplant und abgeleitet. Im Detail konnten nun Werbung, Verkaufsförderung und Vertriebsservices systematisch und zielorientiert Maßnahmenpläne für das kommende Jahr aufstellen. Die Bündelung hatte noch einen weiteren positiven Effekt auf die interne Kommunikation im Unternehmen. Durch nun klar definierte Verantwortlichkeiten und die Einführung der Eigensteuerung der Marketing-Aufgaben konnte die Effizienz im Produktmarketingprozess deutlich gesteigert werden. Außerdem konnte durch die Spezialisierung mit der gleichzeitigen Einführung von Standards in der Bearbeitung die Output-Qualität gesteigert werden. Im Zielmodell wurde dann mittelfristig die vollständige Aufwertung des Produktmarketing in Richtung integriertes Marketing angestrebt. Mit diesem Schritt ist die vollständige Übernahme der Strategiefunktion sowie des Produktmanagements beim Vorstandsvorsitzenden verbunden. Um hier die Führungsspanne gering zu halten, wurde eine mit neuen Aufgaben definierte Bereichsleitung für alle zentralen Produktmarketingfunktionen eingerichtet. Vor allem die Aufwertung der Produktmanager durch die zentrale Anbindung erleichterte die Umsetzung ihrer übergreifend koordinierenden Aufgaben deutlich. Vertriebsnahe Produktmarketingfunktionen verblieben im Vertrieb. Hiermit wurde die Akzeptanz des wichtigen Vertriebes durch die direkte Unterstützung nachgelagerter Produktmarketingfunktionen für die Veränderung des Produktmarketing insgesamt deutlich erhöht. Gleichzeitig wird das Produktmarketing mit der Vertriebsorganisation und dem Markt prozessual verknüpft, wodurch das wichtige Marktfeedback nun deutlich systematischer aufgenommen und weitergegeben werden kann. Der Produktentwickungsprozess wurde neu ausgerichtet. Das Produktmarketing übernahm den Lead in der Formulierung einer Produktstrategie und in der Koordination des Entwicklungsprozesses je Marke. Bei der Ausgestaltung der Ideengenerierung von Produkten werden interdisziplinäre Projekte aufgesetzt und vom Produktmanagement vorangetrieben. Die Projekte werden von Mitarbeitern aus Produktmarketing, Vertrieb, Aktuariat, Technik und Recht gebildet. Sind dann Produkte marktreif entwickelt, führen die betreffenden Produktmanager den Prozess der weiteren Produktvermarktung verantwortlich weiter. Hierbei bedienen sie sich der quer durch das Unternehmen vorhandenen und benötigten Funktionen.
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Diese Strukturanpassung beseitigte den bisher größten Nachholbedarf im Produktmarketing in der Versicherungsbranche. Erreicht wurde die Auflösung von „Ressortegoismen“ und die Bündelung der Überlegungen in einer gemeinsamen Produktmarketingstrategie sowie einer übergreifenden zielorientierten Koordination und Steuerung des Produktentwicklungsprozesses. Kundenorientierung wurde nun übergreifend im ganzen Unternehmen eingeführt und mit der gleichen Zielrichtung ausgerichtet. Für viele Versicherer ist eine solche Veränderung ein großer Schritt. Durch die Professionalisierung und Fokussierung auf die eigentlichen Kernaufgaben des Produktmarketing werden gesteigerte Anforderungen an die Kompetenz vor allem derjenigen Mitarbeiter gestellt, welche im Produktmanagement und in der übergreifenden Produktmarketing-Führung tätig sein sollen. Zusätzlich werden tradierte Vorgehensweise und Dominanzen von Ressorts und Bereichen aufgebrochen. Irritationen und Unverständnisse in der Mathematik und auch im Vertrieb können die Folge sein, die bis zu Wiederständen führen können. Dieses erhöht den Druck auf die Marketingmitarbeiter, deren Kompetenzen erweitert wurden. Bei der Umsetzung eines solchen Zielmodelles ist darauf zu achten, dass die Mitarbeiter eine deutliche Qualifizierung erfahren und/oder durch möglichst branchenfremde Marketing-Profis, die in solchen Strukturen bereits erfolgreich tätig gewesen sind, ergänzt werden. Vor allem im Bereich der systematischen Analyse, den dafür einzusetzenden Instrumenten, den konzeptionellen Arbeiten sowie der Überführung in Produktmarketing-Planungen besteht hier Nachholbedarf. Gleichzeitig ist im Unternehmen Akzeptanz für die Kompetenzveränderung zu schaffen, durch ein begleitendes Change Management aller Beteiligten. Letztlich sind aber auch die prominente Aufhängung und das entsprechende Backing im Unternehmen entscheidend für den Umsetzungserfolg.
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Kapitel 26 Kundenorientierte Frühwarnsysteme in Versicherungen Dr. Michael Reich/Tobias Blodau
1
Herausforderungen durch die Finanzkrise
Wie viele andere Branchen, so sieht sich auch die deutsche Versicherungswirtschaft durch die aktuelle Finanzkrise vor neue, schwerwiegende Herausforderungen gestellt. In Zeiten dieser Unsicherheit und des schnellen Wandels wird dabei Früherkennung immer mehr zum „Königsweg“, um als Grundlage für zukunftsorientierte Entscheidungen Zeit gewinnen zu können. Gerade die aktuelle Krise auf den weltweiten Kapitalmärkten hat die Notwendigkeit von effizienten Frühwarnsystemen deutlich werden lassen. Gefahren werden aufgespürt, bevor sie für das Unternehmen bedrohliche Auswirkungen zeigen, und Gelegenheiten können erfasst werden, bevor sie verloren gehen. Die Ursachen ungünstiger Entwicklungen können gerade im Marktbereich lange zurückliegen, ehe sie in der Unternehmensrechnung zum Ausdruck kommen. Die Schlussfolgerung hieraus lautet, dass eigentlich jedes Unternehmen ein „radarähnliches“ System bräuchte, welches die Störgrößen frühzeitig signalisiert, damit Gegenmaßnahmen eingeleitet werden können. Je weniger Zeit einer Unternehmung verbleibt, desto stärker werden ihre Handlungsspielräume eingeschränkt. Daraus folgt, dass Zeitgewinn ein Erfolgsfaktor ist, der immer mehr an Bedeutung gewinnt, denn für jedes Unternehmen ist es von Vorteil, den zu erwartenden Wandel proaktiv anzugehen, anstatt unter Druck externer Gegebenheiten auf Ereignisse nur noch kurzfristig reagieren zu können. Zeitablauf hingegen vernichtet Handlungsmöglichkeiten durch die Einschränkung an sich möglicher Spielräume. Während ergebnisorientierte Systeme mögliche Abweichungen immer erst am Ende einer Periode aufdecken und dann im ”feedback”-Modus zu Korrekturmaßnahmen kommen, können in einem Frühwarnsystem auch zeitlich vorwärts gerichtete Kontrollen im ”feed-forward”-Modus notwendige Zeitspielräume eröffnen, um innerhalb der Periode noch wirksam reagieren zu können. Neben der Finanzkrise führen der aktuelle Wettbewerbs- und Kostendruck, der auf vielen Unternehmungen lastet, und die Erkenntnis, dass jahrzehntelang erfolgreiM.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing, DOI 10.1007/978-3-642-10276-9_26, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
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che Strategien den Anforderungen des Wettbewerbs nicht mehr entsprechen, darüber hinaus dazu, dass der Kunde wieder in den Vordergrund der Betrachtung gerückt wird. Vielfach werden stagnierende Märkte, so rechnet die Versicherungsbranche auch weiterhin mit Stagnation, und der damit einhergehende Verdrängungswettbewerb, der zunehmend die Akquisition von Kunden erschwert, als Gründe für diese Entwicklung angeführt. Aspekte der Kundenbindung als Erfolgsfaktor im Wettbewerb gewinnen daher heute - auch vor dem Hintergrund der zunehmenden Austauschbarkeit von Produkten und Leistungen - in vielen Unternehmen an Bedeutung. Immer mehr Unternehmen wird bewusst, dass der Schaden, der durch den Verlust eines Kunden entsteht, je nach Branche bis zu siebenmal so hoch werden kann wie der Nutzen eines Neukunden unter Berücksichtigung der Akquisitionskosten und dass der Gewinn pro Kunde mit zunehmender Zeitdauer der Kundenbeziehung in der Regel anwächst. Gerade im Hinblick auf die Kundenbeziehung und dem damit verbundenen Kundenverhalten kommt einem Frühwarnsystem eine besondere Bedeutung zu, denn wenn das Marketing-Controlling sein Instrumentarium bestmöglich auf die Zielbereiche des Unternehmens hin ausgebaut hat, liegt dort eine elementare Quelle für ein erfolgreiches Kundenbindungsmanagement. Einige dieser Instrumente sind ohnehin für die gesamte Unternehmenspolitik wichtig, so dass sie sich für eine Integration in ein Frühwarnsystem anbieten. Zu ihnen gehören beispielsweise die Stärken-/Schwächen-, die Erfolgs- und Misserfolgs-, die Chancen-, die Konkurrenz- und die Marktbedarfsanalyse, deren Informationen in einer für die Frühwarnung geeigneten Systematik kombiniert werden müssen. Der Nachteil dieser Instrumente liegt allerdings darin, dass ihre Aktualisierung sehr aufwändig ist und daher nur in größeren Zeitabständen vorgenommen wird. Das Marketing-Controlling hat deswegen heute und in Zukunft vermehrt andere Frühwarnindikatoren zur Verfügung zu stellen, die automatisch und regelmäßig anfallen. Die generelle Zielsetzung des vorliegenden Beitrages ist die Entwicklung eines integrativen Konzeptansatzes zur Frühwarnung im Kundenbindungsmanagement von Versicherungsunternehmen. Als innovative Basis eines Konzeptansatzes bietet sich dabei vor dem Hintergrund der Bedeutung eines Kundenbindungsmanagements der Kundenwert als zentraler Frühwarnindikator an. Betrachtungsobjekte sind im Rahmen der Untersuchung dabei mittlere bis große deutsche Versicherungsunternehmen. Ausgeschlossen sind alle kleineren Assekuranzen und Versicherungsunternehmen, die zwar in Deutschland agieren, deren Konzernzentralen beziehungsweise deren Sitze sich jedoch im Ausland befinden. Die großen deutschen Versicherungen bieten sich für eine derartige Betrachtung besonders gut an, da sie durch die Liberalisierung des Versicherungsmarktes zu größter Flexibilität und Kundenorientierung gezwungen worden sind. Dabei wird das Augenmerk auf Grund des hybriden Konsumverhaltens insbesondere auf das Privatkundensegment der Versicherungsunternehmen gelenkt.
26 Kundenorientierte Frühwarnsysteme in Versicherungen
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Notwendigkeit neuer Frühwarnsysteme
In diesem Abschnitt wird die Notwendigkeit innovativer Frühwarnsysteme für Versicherungsunternehmen aufgezeigt. Zu diesem Zweck werden zuerst die zentralen Herausforderungen herauskristallisiert, die sich vor allem durch die Liberalisierung im Zuge der europäischen Integration für deutsche Versicherungsunternehmen ergeben. Anschließend wird verdeutlicht, wie die Versicherungsunternehmen auf diese Herausforderungen durch ein Kundenbindungsmanagement reagieren und welche Implikationen sich daraus für innovative Frühwarnsysteme ergeben können.
2.1
Zentrale Herausforderungen für Versicherungsunternehmen
Die Ausführungen werden begonnen mit einem Überblick der Rahmenbedingungen des Versicherungsmarktes, setzen sich fort in einer Analyse der Wettbewerbsstruktur, vertiefen dabei Aspekte wie Angebot und Nachfrage und gipfeln in einer Zusammenfassung möglicher Implikationen für die Organisationsstruktur von Versicherungsunternehmen. Die folgende Darstellung illustriert die verschiedenen Untersuchungsebenen (vgl. Abb. 26. 1).
Quelle: Eigene Darstellung
Abb. 26. 1: Vorgehen bei der Bestimmung zentraler Herausforderungen
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Die Bestimmung zentraler Herausforderungen für deutsche Versicherungsunternehmen erfordert zunächst Vorhersagen über die zukünftige gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Im Zusammenhang mit gesellschaftsstrukturellen Veränderungen können sich maßgebliche Einflüsse auf die private Vorsorge und damit auf die Kunden ergeben. Im Rahmen eines Überblicks sollen diese gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge aufgezeigt und hinsichtlich ihrer relevanten Wirkungszusammenhänge weiter vertieft werden. Die Europäische Union trieb mit der Inkraftsetzung der dritten Versicherungsrichtlinien vom 1. Juli 1994 die Liberalisierung der Versicherungsmärkte weiter voran. Danach müssen Versicherungsunternehmen unter anderem vor allem ihre Produkte und Tarife der Versicherungsaufsicht nicht mehr zur Genehmigung vorlegen; die Aufsicht prüft diese nur noch im Nachhinein auf grobe Verstöße. Damit wird den Unternehmen die freiere Gestaltung zentraler Wettbewerbsparameter der Produkt- und Preispolitik - ermöglicht. Diese Liberalisierung der Versicherungsmärkte führte konsequenterweise zu einem größeren Wettbewerb, der sich zuerst insbesondere in der Kraftfahrzeugsparte heimischer Versicherungsunternehmen besonders bemerkbar machte. So standen die Versicherungsunternehmen im Hinblick auf die Sparte Kraftfahrzeug erstmals bei steigenden Zulassungszahlen in Zusammenhang mit einem vergrößertem Schadenaufwand sinkenden Bruttobeitragseinnahmen gegenüber. In Deutschland brechen zudem Banken und Fondgesellschaften in das Kerngeschäft von Versicherungsunternehmen ein, indem sie Finanzdienstleistungen anbieten, die die Versicherungsdienstleistungen zu substituieren vermögen (vgl. Focke/Tiele/Engler/Grüneberg 2009, S. 22 ff.). Die derzeit zu beobachtende Krise auf den Finanzmärkten führt zu nicht nur unvorhergesehenen Kursveränderungen, die sich auf die Ergebnisse der Versicherungsunternehmen auswirken, sondern auch zu einem damit verbundenen Zusammenschmelzen der Reserven und einem Vortragen von zukünftigen Abschreibungen; dies kann insbesondere bei Shareholder Value geführten Gesellschaften, welche ihre Eigenmittel sehr effizient einsetzen müssen, zu einer deutlich gesteigerten Risikosituation beziehungsweise geringerem Risikoappetit führen. Die sich abzeichnende Niedrigzinsphase vermindert zudem zukünftige Gewinnmargen aus der Kapitalanlage und kann in Extremfällen von hohen Garantiezusagen, wie beispielsweise in der Lebensversicherung, zu einer ungeahnten Verlustquelle anwachsen. Aber auch in den langlaufenden Kompositsparten wie der industriellen Haftpflichtversicherung, in denen Zinserträge zwischen Beitragszahlung und erwartetem Schadeneintritt in die Prämie eingepreist sind, gerät die Profitabilität deutlich unter Druck. Verstärkt wird diese Entwicklung noch durch den Umstand, dass nur wenige Unternehmen bisher konsequent einem Ansatz des Asset Liability Managements folgen, in dem sie sich bei den Anlageinstrumenten nach ihren Verpflichtungen richten, da sie aus dem Missmatch zusätzliche Gewinne generieren. Nur wenige Unternehmen folgen bisher dem Ansatz des Asset Liability Managements, indem sie sich bei den Anlageinstrumenten nach ihren Verpflichtungen richten.
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Die Reform des Rentenversicherungssystems beeinflusst daneben den Versicherungsmarkt maßgeblich. Das umlagefinanzierte System der gesetzlichen Rentenversicherung wird dem Druck des sogenannten Generationenmodells in den nächsten Jahren nach Expertenmeinung nicht mehr standhalten können. Die Finanzierungslücke, die sich auf Grund der demografischen Entwicklung - einer steigenden Zahl von Rentenempfängern steht eine sinkende Zahl von Beitragszahlern gegenüber - immer weiter verstärken wird, zwingt zu einer weiteren Reformierung des Systems. Folgt man dem aktuellen Kurs der Rentenkommission, die nach wie vor an der Umlagefinanzierung festhält, so kann eine Rentenreform als Extreme die Beitragssätze nur weiter erhöhen oder das Leistungsniveau bei gleichzeitiger Anhebung der durchschnittlichen Lebensarbeitszeit reduzieren. Denkbar ist hier zum Beispiel die schrittweise Angleichung des deutschen an das angelsächsische System, das über das so genannte Contracting Out eine private und betriebliche Vorsorgekomponente staatlicherseits nicht nur fördert, sondern auch fordert. Angesichts der Marktauswirkungen dieser Rahmenbedingungen ist für den deutschen Markt zu vermuten, dass sich insbesondere für Lebensversicherungen in jedem Fall eine Wachstumschance eröffnet, denn das Wissen um die Unzulänglichkeit der staatlichen Vorsorge sowie die anhaltende Diskussion der Reform der Rentenversicherung veranlassen die Bürger schon heute oftmals dazu, verstärkt in die private oder betriebliche Eigenversorgung zu gehen. Über Richtung und Struktur der Bevölkerungsentwicklung und damit über Nachfragefaktoren für Versicherungsprodukte der nächsten Jahre herrscht unter den Experten weitestgehend Einigkeit. Das stagnierende Bevölkerungswachstum und die sich verändernde Bevölkerungsstruktur üben in Verbindung mit dem sich fortsetzenden Trend zu Single-Haushalten einen starken Einfluss auf die Beschaffenheit des Versicherungsmarktes aus. Dies zeigt sich insbesondere in den Nachfragemotiven. Während die Hinterbliebenenvorsorge an Bedeutung verliert, gewinnen die private Altersvorsorge und die Kapitalanlage an Relevanz. Die Tendenz zum Alleinleben führt dazu, dass die Zahl der Haushalte und damit auch das potenzielle Nachfragevolumen steigen. Nach den Erfahrungen etwa von 67rockwell Consulting wird die Vorhersage der Nachfrageseite in Folge instabiler hybrider Konsumstrukturen zunehmend schwieriger und damit die Nachfrage für die Versicherungsunternehmen kaum planbar. Um diesen Entwicklungen begegnen zu können, kann unternehmensseitig versucht werden, durch eine lebenzyklusbasierte und an Wirtschaftlichkeitspotenzialen orientierte Individualisierung des Angebotes einer zunehmend komplexen Nachfrage entsprechend zu begegnen. In diesem Zusammenhang können auch Maßnahmen der Kundenbindung Verwendung finden, mittels derer, die für eine Individualisierung der Kundenbedürfnisse benötigte Informationen unternehmensseitig besser eruiert und damit Kunden effizienter betreut werden können. Dies führt auch zu Implikationen im Hinblick auf die Angebotsstruktur von Versicherungsunternehmen, die nachfolgend Gegenstand der Untersuchung sein wird. Ein
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verändertes Kaufverhalten der Kunden führt - wie bereits erwähnt - bei den Versicherungsunternehmen zu zentralen Herausforderungen im Hinblick auf die Angebotsstruktur. Aktuelle Studien zeigen, dass Versicherungsunternehmen gerade in der Produktentwicklung einen relevanten Schwerpunkt setzen wollen. Die zukünftige Produktentwicklung wird in enger Zusammenarbeit mit betroffenen Kunden und Vertrieben in immer kürzeren Zeitzyklen zu realisieren sein. Die folgende Abbildung illustriert die Vision eines optimierten Produktentwicklungsprozesses Produktentwicklungsprozesses (vgl. Abb. 26.2). Fortschritte in der Professionalisierung dieses Prozesses werden insbesondere dort realisiert werden, wo es zur Wahrnehmung der Produktentwicklung als Konzernfunktion kommt oder eine Kooperation mit einem Rückversicherer ausgeübt wird. Effiziente Produktentwicklungsprozesse werden allerdings auch zukünftig mehr unter Kosten- und Qualitätsaspekten zu bewerten sein und weniger unter „Time to market“- Gesichtspunkten.
Quelle:
Eigene Darstellung in Anlehnung an Ernst & Young Unternehmensberatung GmbH
Abb. 26.2: Beispiel Produktentwicklungsprozess
Da, wie oben diskutiert, die die zukünftige Produktentwicklung in enger Zusammenarbeit mit betroffenen Kunden und in immer kürzeren Zeitzyklen zu realisieren sein wird. In diesem Zusammenhang Zusammenhang erwächst die fundamentale Herausforderung, den zeitnahen und vollständigen Zugang der betroffenen Vertriebskanäle auf die Kundendaten sicherzustellen sowie bestehende Nutzungspotenziale optimal zu realisieren. Neben einer Transformation der Haushaltsstruktur Haushaltsstruktur ändert sich auch die zukünftige Verteilung der Einkommens- und Vermögenssituation. Aus Unternehmenssicht müssen die Versicherer auf zukünftige Nachfrage und Wettbewerbssituationen durch eine Modifikation von Angebot und Absatzstrategien proaktiv reagieren. Insgesamt werden die Anbieter sich stärker um das Segment der Wohlhabenden bemühen und den Trend in das gehobene Privatkundensegment konsequent weiter fortsetzen müssen.
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Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Rahmenbedingungen des Versicherungsmarktes einer kontinuierlichen Veränderung mit primärer Stoßrichtung im Hinblick auf zunehmende Deregulierung unterworfen sind. Diese Entwicklungen induzieren fundamentale Veränderungen in der Wettbewerbsstruktur, auf die weiter einzugehen sein wird. Neben der Veränderung der Wettbewerbsstruktur sind auch wesentliche Transformationserscheinungen im Hinblick auf die Haushaltsstrukturen sowie die in der Bevölkerung vorliegende Kapitalakkumulation und Einkommensverteilung festzustellen, die die Versicherungsunternehmen für die zukünftige Produkt- und Servicegestaltung im Rahmen einer kundenorientierten Unternehmensstrategie zu berücksichtigen haben. In diesem Zusammenhang rückt zwangsläufig auch ein unterstützendes Frühwarnsystem, das den Indikator Kundenwert internalisiert, konsequent in den Vordergrund der Betrachtungen.
2.2
Kundenbindungsmanagement als Reaktion auf die Herausforderungen
Durch ein Kundenbindungsmanagement soll versucht werden, zentrale Determinanten der Kundenbindung zu stimulieren, damit Kundenloyalität und die sich bildende Kundenbindung zu erhöhen, um die Kundenprofitabilität langfristig zu sichern. Die dabei im Rahmen effizienter Kundenbindungsprogramme generierte Information kann genutzt werden, um die Bearbeitung des Kundenstammes zu intensivieren. Damit können insbesondere Cross-Selling-Potenziale gehoben werden, Akquisitionskosten verringert werden und eine Optimierung der Kundenbetreuung realisiert werden. Effektives Kundenbindungsmanagement baut sinnvollerweise auf Kundensegmentierung und Wertorientierung auf. Zur Erhöhung der Kundenbindung sind vor allem mehrere Instrumente denkbar: • • • • •
die Preispositionierung und das Rabattsystem, die Exklusivität des Produktes, die Qualität der Leistung, der Markenauftritt und das Image und die individuelle Betreuung.
Der intensive Wettbewerb als auch die Virtualisierung der Versicherungsunternehmen werden in Zukunft auch dem Controlling eine völlig neue Bedeutung in der Versicherungswirtschaft geben. Die Aufgabe des Controlling wird in zunehmendem Maße darin bestehen, Unternehmensschwachpunkte aufzudecken, Kernkompetenzen zu entwickeln beziehungsweise zu stärken. Die zukünftigen Aufgaben des Controlling werden über Planung und Kontrolle hinausgehen und sich stärker auf die Koordination strategischer Überlegungen der Unternehmensführung, der Markt- und Konkurrenzanalyse und der Unterstützung der Vertriebsaktivitäten verlagern. Gerade die bereits aufgezeigte Ausrichtung auf die Kundenwünsche und die Segmentierung von Produkten und Vertriebswegen nach Kundengruppen erfordern es, von einem sparten- auf ein kundenorientiertes Controlling überzugehen. Dabei steht auch die Kundenbeziehung beziehungsweise die Kun-
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denbindung im Fokus. Im Rahmen einer effektiven Kundenbindung, das heißt Konzentration auf bedeutende Kunden, ist es notwendig, ein Kundenbindungscontrolling durchzuführen. In regelmäßigen Abständen müssen Kosten und Nutzen der Kundenbindung gegenüber gestellt werden, um die Investition in die Beziehung wertgerecht zu kalibrieren. Die vielfach etwa von 67rockwell Consulting in ähnlichen Projektzusammenhängen festgestellten Schwachstellen bestehender Kundenbindungskonzepte und in diesem Zusammenhang die oftmals angemerkte unzureichende Effizienz entsprechender Vorhaben, basiert zum einen auf der bisher mangelnden Berücksichtigung der Zweidimensionalität der Zielsetzung von Kundenorientierung - Bindung und Profitabilität gleichermaßen -, was sich neben konzeptionellen Defiziten plausiblerweise auch direkt in Insuffizienzen bezüglich bestehender Controllinginstrumente manifestiert, zum anderen dementsprechend auch in grundlegenden Defiziten bei bestehenden Frühwarnsystemen, insbesondere im Hinblick auf eine ausreichende Berücksichtigung des Kundenwertes. Zukünftig ist die Beziehung mit bedeutenden Kunden regelmäßig anhand kundenorientierter Indikatoren im Sinne einer effizienten Frühwarnung zu überwachen und sind entsprechende Kundenbindungsmaßnahmen bei Überschreiten festgelegter Toleranzgrenzen einzuleiten. In der Konsequenz wird es zu einem stärkeren Verbund von Produkt- und Vertriebscontrolling sowie einem Controlling der Kundenbeziehung im Sinne eines ganzheitlichen Marketing-Controlling kommen. Dazu gilt es, den Erkenntnissen folgend, ein solches Konzept zu entwickeln.
2.3
Implikationen für innovative Frühwarnsysteme im Kundenbindungsmanagement von Versicherungen
Die Komplexität bestehender Anwendungsfälle in der betrieblichen Praxis macht evident, dass es ein idealtypisches Frühwarnsystem, das für alle Unternehmen und Anwendungsbereiche gleichermaßen gut geeignet ist, per se nicht existieren kann. Abgesehen von dieser Erkenntnis sind der Frühwarnung grundsätzlich Grenzen gesetzt. Diese manifestieren sich nach Schmitz unter anderem in den nachfolgend zusammengefassten Punkten: • Strategische Informationen sind in der Regel unscharf. Ihre Bewertung ist subjektiv und dadurch mit gewisser Unsicherheit behaftet. • Die sofortige Umsetzung in Strategien kann zu Fehlentscheidungen führen; bei Nicht-Reaktion beziehungsweise zu später Reaktion können Chancen für das Unternehmen verwirken. • Insbesondere in mittelständischen Unternehmen ist das für die Frühwarnung erforderliche „strategische Denken“ oftmals unterentwickelt. • Der Aufwand für den Aufbau und den Erhalt eines Frühwarnsystems kann sich sehr hoch gestalten, Kosten-Nutzenschätzungen sind insgesamt nur schwer realisierbar.
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Neben den bereits aufgezeigten konzeptionellen Schwächen im Zusammenhang mit den Frühwarnindikatoren als elementarem Systembestandteil muss der Blickwinkel erweitert werden auf die Eignung und Beitragsmöglichkeiten der jeweils zu Grunde gelegten Beobachtungsbereiche eines traditionellen Frühwarnsystems. Damit wird ein weiterer elementarer Systembestandteil auf Defizite in Bezug auf die Anwendbarkeit im Rahmen des Kundenbindungsmanagements untersucht (vgl. Schmitz 2000, S. 56 ff.). Zusammenfassend kann für den weiteren Verlauf der Ausführungen festgehalten werden, dass - und das ist angesichts der aktuellen Debatte zur Kundenorientierung und insbesondere zu CRM nicht besonders verwunderlich - die zur Zeit eingesetzten traditionellen Frühwarnsysteme nur eine geringe kundenbezogene Ausrichtung haben. Wie die Analyse hinsichtlich der Frühwarnindikatoren ergeben hat, verfügen die derzeit eingesetzten traditionellen Frühwarnsysteme außerdem über Frühwarnindikatoren, deren Frühwarneigenschaften selbst nur mäßig ausgeprägt sind. Innerhalb des Beobachtungsbereiches Kunden des Unternehmens ist die Abdeckung mit entsprechenden Frühwarnindikatoren nur rudimentär.
3
Kundenwert als Frühwarnindikator
3.1
Ausgangslage
Die bisher gewonnenen Erkenntnisse lassen deutlich werden, dass im Kontext der vorliegenden Problemstellung eine konzeptionelle Erweiterung bestehender traditioneller Frühwarnsysteme erforderlich werden kann, um heutige Anforderungen im Hinblick auf eine effiziente Frühwarnung besser abzudecken. Besonderes Augenmerk im Hinblick auf Kundenbeziehungen wird neben der Diskussion zur Frühwarnung auch in der zunehmenden Debatte der Kundenorientierung und in diesem Zusammenhang auch dem Kundenbindungsmanagement, auf das Konstrukt des Kundenwertes gelenkt. Die Bewertung von Kundenbeziehungen wird dabei als eine der wichtigsten Herausforderungen der Marketing-Wissenschaft identifiziert. Vielfach wird die Kundenbeziehung als Investitionsobjekt verstanden. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie Kundenbeziehungen wertmäßig bestimmt und verbessert werden können. Generell steht die Erfolgsmessung im Marketing im Fokus aktueller Forschungsbemühungen, wodurch die eher effektivitätsorientierten Ansätze des Kundenmanagement durch effizienzorientierte Ansätze ergänzt werden. Der Kundenwert wird hierbei in einem direkten Zusammenhang mit dem Aspekt der Effizienz gebracht. Im Folgenden gilt es, das Konstrukt des Kundenwertes inhaltlich weiter zu durchdringen, dabei in seine konzeptionellen Bausteine zu differenzieren und in der Form einer explorativen Analyse hinsichtlich seiner möglichen Eignung, vorzubereiten, bevor er in das Konzept eines adaptiven, integrierten Früh-
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warnsystems im Kundenbindungsmanagement, im Privatkundensegment von Versicherungsunternehmen aufgenommen werden kann. In der Literatur lassen sich unterschiedliche Verständnissichten zum Kundenwert feststellen. Die enge Sichtweise stellt primär auf das Konstrukt im Rahmen einer statischen Betrachtung hin ab, ist dabei allerdings - wie bereits angeklungen entsprechender Kritik ausgesetzt. Der Beitrag des Kunden zum Unternehmenserfolg gestaltet sich komplexer, als die bisherigen Ansätze abzubilden vermögen. Neben dem Kundenwert im engeren Sinne, also dem ökonomischen Kundenwert, kommen weitere mögliche Wertbeiträge und entsprechende Werttreiber hinzu, die sich wie folgt konkretisieren lassen:
• • • • • •
Empfehlungswert, Ausstrahlungswert eines Vorzeigekundens, Informationswert eines Kunden, Engagementwert eines Kunden, psychisch basierte und interaktionsbezogene Wertkomponenten sowie Werte durch Induktion Dritter (vgl. Reich 2003, S. 112 ff.).
Die folgende Abbildung illustriert vorab die nachstehend erfolgenden Betrachtungen zentraler Komponenten des Kundenwertes (vgl. Abb. 26.3). Die dabei nachfolgend eingenommene Perspektive gebietet eine Betrachtung vom Groben zum Detail, um inhaltlich das Konzept stufenweise weiter zu durchdringen.
Quelle:
Eigene Darstellung
Abb. 26. 3: Konzeptionelle Bausteine des Kundenwertes
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass der empirisch ermittelte Kundenwert als Frühwarnindikator im Rahmen der Frühwarnung im Kundenbindungsmanagement von Versicherungsunternehmen geeignet erscheint, da seine Zukunfts-
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465
orientierung insbesondere antizipierte Entwicklungen und Veränderungen bewertet. Auf Basis der generierten Ergebnisse soll nun nachfolgend ein adaptiver und integrativer Konzeptansatz für die kundenwertbasierte Frühwarnung im Kundenbindungsmanagement von deutschen Versicherungsunternehmen entwickelt werden.
3.2
Konzeptansatz für Frühwarnsysteme
Die bisher gewonnenen Erkenntnisse lassen deutlich werden, dass im Kontext der vorliegenden Problemstellung der Kundenwert in seiner kondensierten Form für Versicherungsunternehmen als Frühwarnindikator im Kundenbindungsmanagement geeignet erscheint. In dem zu gestaltenden Konzept eines adaptiven, integrativen kundenwertbasierten Frühwarnsystems für den deutschen Versicherungsmarkt, dessen Darstellung sich anschließt, werden sämtliche bereits gewonnenen Ergebnisse und Erkenntnisströme konsolidiert. Die Ableitung eines integrativen Konzeptansatzes setzt zunächst voraus, dass die spezifischen Bausteine des Kundenwertes bestimmt worden sind, um anschliessend Implementierungsmöglichkeiten ableiten zu können. Anschließend sind diese nun einer finalen Plausibilitätsprüfung zu unterziehen und konkrete Möglichkeiten einer Implementierung des Kundenwertes als Frühwarnindikator im Kundenbindungsmanagement von Versicherungsunternehmen final zu erörtern. Die Bestimmung der spezifischen Bausteine basiert auf den vorhergehenden Ausführungen. Ausgehend vom Berechnungsverfahren des Kundenwertes sind alle weiteren konzeptionellen Bausteine, darzustellen und hinsichtlich ihrer Aus- und Wirkungszusammenhänge zu beschreiben. Für die Bestimmung des Kundenwertes als Frühwarnindikator im Kundenbindungsmanagement sollte insbesondere von Versicherungsunternehmen ein dynamisches Investitionsrechnungsverfahren Anwendung finden. Es handelt sich dabei speziell um den Ansatz einer Kunden-Lebenzyklusrechnung ohne Verzinsung, wie es der folgenden Abbildung zu entnehmen ist (vgl. Abb. 26. 4). Analog zur Investitionsrechnung von Anlagen müssen Anfangsinvestitionen in die Kundenbeziehung, hier etwa die Kundengewinnungskosten (I0) - wie auch in der empirischen Hauptuntersuchung festgestellt werden konnte - sowie die Kosten während der Dienstleistungserstellung des Kunden im Laufe der Kundenbeziehung durch zukünftige Zahlungsströme, nämlich die Umsatzerlöse sowie die Gewinne aus der Weiterempfehlung des Kunden während der Beziehung gegenübergestellt werden. Die Berechnung des Kundenwertes basiert somit primär auf den Erlösen und Kosten in der Vergangenheit sowie den zu erwartenden Erlösen und Kosten und der prognostizierten Länge einer Kundenbeziehung ohne Berücksichtigung der Verzinsung.
466
Quelle:
Dr. Michael Reich/Tobias Blodau
Eigene Darstellung, in Anlehnung an Wöhe 2004
Abb. 26.4: Kunden-Lebenszyklusrechnung ohne Verzinsung als Berechnungsverfahren
Die Dauer der prognostizierten Kundenbeziehung hat einen starken Einfluss auf den Kundenlebenszeitwert und bedarf damit einer sorgfältigen Betrachtung. Für die prognostizierte Dauer der Kundenbeziehung als eine der wesentlichen Einflussgrößen in der Berechnung des Kundenlebenszeitwertes können etwa herkömmliche Prognoseverfahren Anwendung finden. Dabei unterscheidet man in der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur und der betrieblichen Praxis zwischen qualitativen und quantitativen Verfahren zur Berechnung. Qualitative Verfahren dienen der Erstellung heuristischer Prognosen für sehr langfristige Entwicklungen oder für Prognoseprobleme ohne Informationen aus der Vergangenheit. Da diese Verfahren ausschließlich auf die Bewertung von neuen Kunden abzielt und nicht - beziehungsweise nur schwierig - auf bestehende Kundenbeziehungen anzuwenden ist, werden die qualitativen Verfahren im Kontext der hier vorliegenden Problemstellung, nämlich die Anwendung einer effizienten Frühwarnung im Kundenbindungsmanagement von Versicherungsunternehmen nicht weiter verfolgt. In der wissenschaftlichen Literatur werden unter die quantitativen Verfahren die Indikatorenmodelle und Trendverfahren subsumiert. Indikatormodelle ermitteln statistisch gesicherte Zusammenhänge zwischen der Prognosevariablen und einem oder mehrerer Einflussfaktoren (Indikatoren). Diese Einflussfaktoren haben oftmals nur einen geringfügigen Einfluss auf das Unternehmen, bestimmen jedoch maßgeblich die Entwicklung der Kundenbeziehungsdauer. Zur Anwendung von Indikatorprognosen sind zwei Voraussetzungen notwendig: 1. Eine hohe Korrelation zwischen der Entwicklung der Indikatoren und der zu prognostizierenden Variablen und 2. eine leichte und sichere Vorausschätzung der Indikatoren.
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467
Als weiteres in der einschlägigen Literatur und betrieblichen Praxis diskutiertes quantitatives Verfahren, ist die Methode der Trendextrapolation zu nennen. Der Grundgedanke aller Trendverfahren ist die Verknüpfung der Beobachtungswerte mit der Zeit. Zwar unterliegt die Entwicklung einer Zeitreihe der Wirkung einer Vielzahl von Ursachen, jedoch wird bewusst auf die Analyse der einzelnen Komponenten verzichtet, worin auch ein nach Nachteil dieses Verfahrens entsteht. Sie werden als ein Ursachenkomplex aufgefasst, bei dem die in der Vergangenheit festgestellte Wirkung (Gesetzmäßigkeit) auch für die Zukunft unterstellt wird. Die Wirkung dieses Ursachenkomplexes soll als Trend erkannt und prognostiziert werden (Trendextrapolation). Unter den oben festgestellten Bedingungen hat die Indikatorprognose gegenüber der Trendextrapolation den methodischen Vorteil, dass die bisherige Entwicklungsrichtung nicht automatisch beibehalten werden muss und dadurch keine Fortschreibung des aus der Vergangenheit vorliegenden Trends zu erfolgen hat. Die vorliegenden Erkenntnisse zu den Prognoseverfahren lassen deutlich werden, dass für eine quantitative Prognose über die Dauer einer Kundenbeziehung insbesondere in einem im Wandel befindlichen Umfeld ausschließlich die Verfahren der Indikatorprognose Anwendung finden sollten. Nachdem sowohl das Berechnungsverfahren - wie bereits dargestellt, die KundenLebenzyklusrechnung ohne Verzinsung (Kundenlebenszeitwert) - als auch die Auswirkungen der monetären Determinanten sowie die Bestimmung der Dauer der Kundenbeziehung einer konzeptionellen Lösung zugeführt werden konnten, gilt es nun, die Wirkungszusammenhänge zwischen den monetären und nichtmonetären Determinanten im Gesamtzusammenhang zu beschreiben und deren Durchgriffswirkung auf die Berechnung des Kundenwertes anhand der oben abgeleiteten Formel näher aufzuzeigen. Dabei kommt den im Folgenden dargestellten nicht-monetären Determinanten - Meinungsführerschaft, Preissensibilität, Qualitätsbewusstsein und Abwanderungsgefährdung - im Rahmen der Kundenwertbestimmung und damit im Kontext der vorliegenden Problemstellung eine besondere Bedeutung zu. Die nachfolgende Abbildung illustriert die im Rahmen dieser Untersuchung herauskristallisierten Wirkungszusammenhänge zwischen den einzelnen Gruppen und lassen damit Zusammenhänge deutlich werden, die unter Einnahme einer mikroskopischen Betrachtungsweise die gegenseitigen Verflechtungen erkennen lassen (vgl. Abb. 26.5).
468
Quelle:
Dr. Michael Reich/Tobias Blodau
Eigene Darstellung
Abb. 26.5: Mikroskopische Betrachtung der Determinanten
Wie im Rahmen dieses Abschnittes final bestätigt wurde, konnten die elementaren Bausteine des Kundenwertes für eine Anwendung als Frühwarnindikator im Kundenbindungsmanagement von Versicherungsunternehmen determiniert werden. Für eine Integration des Konzeptansatzes in den Kontext der Unternehmung ergeben sich die folgenden elementaren Fragestellungen, die einer abschliessenden Klärung bedürfen: 1. Welche Wirkung hat der Konzeptansatz auf die Dimensionen Strategie, Prozesse, Organisation und Informationstechnologie? 2. Welche Möglichkeiten bestehen bezüglich der Implementierung in das Versicherungsunternehmen und wie sind diese in Bezug auf Machbarkeit und Wirtschaftlichkeit zu bewerten? 3. Welche Rahmenbedingungen sind bei einer Integration des Konzeptansatzes in die Prozesse eines Versicherungsunternehmens zu berücksichtigen? 4. Wie ist die Kundenwertbestimmungsfunktion im Versicherungsunternehmen zu integrieren und welche Auswirkungen auf die Ressourcen ergeben sich? Im Rahmen eines Experten-Workshops die vier Kernfragestellungen zur Plausibilisierung und Implementierung des Konzeptansatzes herangezogen. Zu diesem Zweck wurden diese weiter operationalisiert und mit den teilnehmenden Experten verprobt. In Bezug auf die Kernfragestellung... „Welche Wirkung hat der Konzeptansatz auf die Dimensionen Strategie, Prozesse, Organisation und Informationstechnologie?“... wurden die einzelnen Dimensionen hinsichtlich ihrer Art weiter differenziert und in einer Matrix auf einer Skala von eins bis fünf einer Bewertung unter-
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469
zogen. Dabei kamen die Experten zu dem Ergebnis, dass in der der Dimension Strategie der Konzeptansatz eine größere bereichsstrategische Bedeutung (Wert 5) hat, da insbesondere die Berechnung des Kundenwertes in dem zuständigen Bereich stattfinden muss. Dennoch wurde auch eine weniger stark ausgeprägte Bedeutung (Wert 3) dieses Konzeptansatzes auf unternehmensstrategischer Ebene gesehen. In der Dimension Prozesse kamen die Experten zu dem Ergebnis, dass die Bedeutung sowohl für die Kernprozesse als auch für die Supportprozesse als gleich hoch ausgeprägt zu bewerten sei. sei. Unterschiede sind hier lediglich vor dem Hintergrund der Umsetzung zu sehen. Bei der Implementierung in Versicherungsunternehmen haben die Experten den Supportprozessen eine höhere Relevanz als den Kernprozessen zugewiesen. In Bezug auf die Dimension Organisation, Organisation, die insbesondere in die Arten Ressourcen, Pflegeaufwand und Datenvoraussetzungen untergliedert wurde, zeigte sich deutlich, dass man die Implementierungsphase und die des anschließenden Betriebes unterscheiden muss. Während der Implementierung ist demnach mit einem hohen Aufwand für die Herstellung der Datenvoraussetzungen zu rechnen; dies führte aus der Sicht der Experten zu einer hohen Bedeutung (Wert 5) dieser Variablen (vgl. Abb. 26.6).
Da dieses in der Regel direkte Auswirkungen auf die Bereitstellung von Ressourcen im Unternehmen hat, wurde hier ebenso eine hohe Ausprägung gesehen, jedoch mit der Einschränkung, dass im laufenden Betrieb der Pflegeaufwand des Systems sukzessive abnimmt. Hinsichtlich der Dimension Informationstechnologie zeigte sich, dass die Implementierung eines derartigen System hoch komplex ist, insbesondere vor dem Hintergrund heterogener InformationstechnologieSysteme, wie sie heute oftmals in Versicherungsunternehmen anzutreffen sind. Dies führt dann möglicherweise zu einer einer Vielzahl von Schnittstellen, die es bei einer Implementierung zu berücksichtigen gilt.
Quelle:
Eigene Darstellung
Abb. 26.6: Wirkungen des Konzeptansatzes
470
Dr. Michael Reich/Tobias Blodau
Nachdem wie oben dargestellt die Wirkungen des Konzeptansatzes im Hinblick auf die Implementierung erarbeitet werden konnten, gilt es im Weiteren, die Möglichkeiten der Einbettung eines derartigen Systems in ein Versicherungsunternehmen aufzuzeigen. Das Reporting von Standardberichten wäre so zu implementieren, dass diese automatisch in regelmäßigen Abständen generiert werden können. Zusätzlich muss das System die Möglichkeit bieten, sporadische Abfragen durchzuführen, um neu oder unregelmäßig auftretende Fragestellungen im Zusammenhang mit Kundenwertentwicklungen zu beantworten. Zur weiteren Durchdringung hinsichtlich der Implementierungsmöglichkeiten eines derartigen Systems in ein Versicherungsunternehmen wurden im Rahmen des Experten-Workshops die grundsätzlichen Implementierungsmöglichkeiten in den Bereichen der konzeptionellen Umsetzung, der technischen Datenbefüllung sowie prozessualen Umsetzung erarbeitet und in Bezug auf deren Wirtschaftlichkeit bewertet. Die Experten hielten die Implementierung des Indikators Kundenwert in einer Balanced Scorecard des Versicherungsunternehmens als eine geeignete Möglichkeit, die jedoch unter Umständen zu hohen Aufwänden in der Implementierung führen kann (Wert 5). Da die Funktion eines derartigen Systems von der Akzeptanz der involvierten Mitarbeiter im Unternehmen abhängt, kamen die Experten zu der Erkenntnis, die Anreizsysteme des Versicherungsunternehmens in der Form auszubauen, dass dieser Indikator als Bestandteil der Zielvereinbarungen aufzunehmen ist. Diese Möglichkeiten der Implementierung wurden jedoch als sehr aufwändig eingestuft (Wert 5). Nachdem die konzeptionellen Möglichkeiten einer Implementierung aufgezeigt werden konnten, gilt es im Weiteren, den Bereich der technischen Datenbefüllung hinsichtlich geeigneter Möglichkeiten zu überprüfen. Die Berechnung von exakten Kundenwerten kann nur dann hinreichende Aussagekraft besitzen, wenn die oben abgeleiteten Determinanten hinreichend mit den notwendigen Daten befüllt werden können. Im Optimalfall sind die benötigten Daten in einem Data-Warehouse des Versicherungsunternehmens bereits vorhanden und können von dort bezogen werden (Wert 3). Werden diese Daten nicht entsprechend vorgehalten, muss auf die operativen Systeme zurückgegriffen werden, wie zum Beispiel auf ein Bestandsführungssystem, Marketing oder Customer Relationship Management-Datenbanken. Diese Möglichkeit wurde von den Experten als verhältnismäßig unwirtschaftliche Möglichkeit im Hinblick auf die Implementierung bewertet (Wert 5). Neben den bereits dargestellten Möglichkeiten bestand aus der Sicht der Befragten noch die Möglichkeit, die technische Datenbefüllung über externe Daten sicherzustellen. Dabei gilt es jedoch für die betriebliche Praxis, die unterschiedlichen Anbindungsmöglichkeiten an das System differenziert zu betrachten und auch zu bewerten. Hinsichtlich der Schnittstelle zu den externen Daten sind in diesem Zusammenhang folgende Möglichkeiten denkbar: • Die Daten werden von einem externen Dienstleister bezogen und in Form von Tabellen abgelegt, auf die die Kundenwertberechnung referenzieren kann.
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471
• Die Daten werden über eine Schnittstelle bei dem jeweiligen Dienstleister abgerufen. Hierdurch kann möglicherweise eine hohe Datenaktualität sichergestellt werden. Dabei gilt es aber zu berücksichtigen, dass die Antwortzeiten in der Regel höher sind und die Gefahr eines Systemausfalles gegeben sein kann. Neben der technischen Datenbefüllung des Systems ist für eine Implementierung in einem Versicherungsunternehmen die Kenntnis in Bezug auf die betroffenen Prozesse des Unternehmens relevant. Aus diesem Grund erfolgte im Rahmen des Workshops eine fachliche Diskussion der betroffenen Prozesse des Versicherungsunternehmens. Wie sich zeigte, sind vor dem Hintergrund der Problemstellung die Prozesse Controlling, Tele-Marketing, Vertrieb sowie die umfassenden Qualitätssicherungsprozesse im Rahmen der Implementierung betroffen. Dabei wurde deutlich, dass insbesondere in Bezug auf die Wirtschaftlichkeit ein hoher Aufwand bei den Prozessen Tele-Marketing und Vertrieb vermutet wurde. Die Integration in die Qualitätssicherungssysteme des Unternehmens wurde unter der Voraussetzung, dass diese mehr oder weniger stark im Unternehmen ausgeprägt sind, als weniger aufwändig betrachtet. Das Design und die Funktionsweise der Kundenbewertung erfordert die regelmässige interne Pflege. Nur hierdurch kann die Validität und die Aktualität der Kundenwertbestimmung zu jedem Zeitpunkt sichergestellt werden. Zu den administrativen Aufgaben involvierter Mitarbeiter gehören, wie im Workshop festgestellt wurde, unter anderem: • Überwachung/Überprüfung der gelieferten Ergebnisse durch regelmäßiges Monitoring des Systems, • Durchführung von Datenauswertungen, • Analyse des verfügbaren Kundendatenbestandes, • Pflege und Ergänzung der externen Datenbasis, • Ableitung von Handlungsoptionen und Umsetzung in Maßnahmen, • Controlling der umgesetzten Maßnahmen sowie • Beschwerdemanagement beziehungsweise Reklamationsmanagement. Die Wahrnehmung der oben abgeleiteten Aufgaben bedarf eines besonderen SkillSets der involvierten Mitarbeiter. Nach Meinung der Experten sind hier Kenntnisse der Mitarbeiter in den folgenden Bereichen notwendig: • Analytisch ausgeprägte Kenntnisse, • Versicherungs-Know-How, • Grundlagenkenntnisse hinsichtlich statistischer Analysen und Verfahren sowie • Marketing- und Vertriebs-Know-How in Bezug auf die Auswirkungsbewertungen. Die Wahrnehmung der oben genannten Aufgaben erfordert auch die Bereitstellung entsprechender Ressourcen im Versicherungsunternehmen. Aus Sicht der Experten ist hier eher mit einem geringeren Ressourcenbedarf zu rechnen.
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4
Implikationen für das Management
Die Integration des Kundenwertes als Frühwarnindikator in ein Frühwarnsystem für ein Kundenbindungsmanagement in Versicherungsunternehmen bestimmt maßgeblich dessen Effizienz im Hinblick auf seine Frühwarnfunktion. Aus diesem Grund sollten bei einer Implementierung folgende Rahmenbedingungen in Bezug auf die Projektierung berücksichtigt werden, wobei sich organisatorische sowie technische Rahmenbedingungen unterscheiden lassen. Hinsichtlich der organisatorischen Rahmenbedingungen wurde deutlich, dass bei derartigen Vorhaben zwingend die Geschäftsführung der betroffenen Versicherungsunternehmen eingebunden werden muss und die Verantwortung für derartige Vorhaben im Sinne einer Prozess-Ownerschaft übernehmen sollte. Da es sich wie oben dargestellt um Teile der strategischen Programme des Unternehmens handelt, liegt hier auch die Treiberfunktion für die Implementierung. In Versicherungsunternehmen besitzt die gesamte Außendienstorganisation in der Regel den häufigsten Kundenkontakt; deshalb gilt es hier, eine hohe Akzeptanz für die Implementierung eines derartigen Systems zu schaffen. Dies lässt sich, wie die Ergebnisse des Experten-Workshops zeigten, möglicherweise durch eine aktive Beteiligung der Mitarbeiter im Außendienst herstellen. Dabei ist für den gesamten Prozess eine ständige Unterstützung der betroffenen Mitarbeiter (Außen- und Innendienst) notwendig. Neben diesen organisatorischen Rahmenbedingungen sollte wie oben dargestellt eine Integration in ein entsprechendes Anreizsystem für die betroffenen Mitarbeiter erfolgen. Der Erfolg solcher Projektierungen hängt maßgeblich von einem ausreichenden Budget sowie der Zeit, die die Projektmitarbeiter zur Verfügung haben ab. Aus diesem Grund wurde aus der Sicht der Experten, die über einen entsprechenden Erfahrungsschatz im Umgang solcher Vorhaben verfügen, der Zeit- und Budgetrahmen als ein wesentlicher Erfolgsfaktor eingeschätzt. Als weitere Rahmenbedingung der Projektierung ist die interne und externe Kommunikation sicherzustellen. Da das Frühwarnsystem in das operative Umfeld des Versicherungsunternehmens zu integrieren ist, sollte die technische Integration so gestaltet werden, dass das Einspielen von Änderungen im Berechnungsmodell idealerweise einfach und nahezu ohne Beteiligung des Bereiches Informationstechnik möglich wäre. Dies erfordert die Einhaltung notwendiger technischer Rahmenbedingungen, wie beispielsweise eine zeitnahe Datenverfügbarkeit. Dafür gilt es, wie aus den Ergebnissen des Experten-Workshop ersichtlich, die Definition der Datenqualität festzulegen und diese Daten anschließend zu erheben. Danach sind diese zu konsolidieren und die einzelnen Determinanten des Kundenwertes zu befüllen. Dabei ist zwingend erforderlich, dass sowohl für die Erhebung als auch Auswertung die rechtlichen Restriktionen in Bezug auf den Datenschutz eingehalten werden. Ein permanentes und präzises Controlling im Hinblick auf die Datenqualität sowie des gesamten Implementierungsprozesses in Bezug auf Zeit und Budget gilt es ebenso, in Projektierungen dieser Art zu berücksichtigen.
26 Kundenorientierte Frühwarnsysteme in Versicherungen
473
Literatur Focke, H./Tiele, J./Engler, K./Grünberg, M.: Geschäftsmodell Versicherung - was kommt nach der Industrialisierung, in: www.atkearney.de/content...detail.../bankenvers, 2009. Meffert, H.: Marketing, Wiesbaden 2000. Mummert + Partner Unternehmensberatung AG: Erfolgsfaktoren von CRMProjekten, Vortrag CRM-Symposium, 2001. Mummert + Partner Unternehmensberatung AG: Manager Magazin: Branchenkompass Versicherungen, 2002. Reich, M.: Innovatives Kundenbindungs-Controlling, München 2003. Schmitz, W.: Konzeption und Einführung eines Betriebswirtschaftlich-technischen Frühwarnsystems, Berlin 2000. Wöhe, G.: Einführung in die allgemeine Betriebswirtschaftslehre, München 1996.
Kapitel 27 Weiterbildung im Versicherungsmarketing Matthias Heußner
1
Weiterbildung im Versicherungsmarketing
„Eine Investition in Wissen bringt immer noch die besten Zinsen“, Benjamin Franklin. Es ist weithin bekannt, dass die Weiterentwicklung des Personals, vor allem in den dienstleistungsorientierten Unternehmen und Gesellschaften, einen sehr hohen Stellenwert erhalten hat. Für das Gebiet des Versicherungsmarketing gibt es jedoch nur ein sehr knappes Angebot an Weiterbildungsmöglichkeiten. Im Gegensatz dazu steht die zunehmende Bedeutung von gezielten und effizienten Marketingmaßnahmen in der Versicherungsbranche. Das Ziel dieses Beitrages ist es, ein innovatives Konzept für eine qualitativ hochwertige und nachhaltige Weiterbildung im Versicherungsmarketing aufzuzeigen.
2
Ist-Analyse des Weiterbildungsangebotes für Mitarbeiter im Versicherungsmarketing
Für die Kategorisierung des Angebotes ist eine Unterscheidung in Einzelseminare, systematische Seminarreihen auf Akademieebene und zielgerichtete Studiengänge auf Hochschulebene sinnvoll. Besonders große Seminarvielfalt ist im Bereich der Einzelseminare vorzufinden. Hier stehen sich eine große Zahl an freiberuflichen Trainern und Dozenten, auf die Versicherungsbranche spezialisierte Akademien und unternehmensinterne Einrichtungen der Versicherungen im Wettbewerb gegenüber. Der Fokus liegt bei den Einzelseminaren meist auf der Entwicklung vertrieblicher Fähigkeiten. Unterrepräsentiert sind jedoch Maßnahmen, die direkt das Gebiet des Versicherungsmarketing thematisieren. Das Angebot für in sich schlüssige Seminarreihen auf Akademieebene ist wesentlich geringer als das Angebot der Einzelseminare. Ziel ist es bei dieser Form der Weiterbildung, eine Spezialisierung durch aufeinander aufbauende Seminarthemen zu erlangen. Zu nennen ist hier die Deutsche Versicherungsakademie (DVA) in Hamburg. Mit einer Vielzahl an Kursen für die Versicherungswirtschaft agiert die DVA deutschlandweit. Als Abschlussurkunde erhalten die Teilnehmer DVAM.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing, DOI 10.1007/978-3-642-10276-9_27, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
476
Matthias Heußner
Zertifizierungen für die belegte Seminarreihe. Auch unternehmensinterne Weiterbildungseinrichtung, wie die Allianz Außendienst Akademie in Hamburg, bieten systematische Seminarreihen an. Im Bereich der Bachelor- und Masterstudiengänge mit dem Schwerpunkt „Versicherung“ sind zum Beispiel die Hochschulen FHDW Hannover oder FHW Berlin eine interessante Alternative. Nachteilig an dem Angebot der Hochschulen ist die Tatsache, dass der Bereich Versicherungsmarketing lediglich einen kleineren Bestandteil des Gesamtstudiums einnimmt. Weiterhin sind die Vollzeitstudiengänge weniger geeignet für Lernwillige, die den Praxisbezug während des Studiums nicht vernachlässigen möchten. Ein duales Studium bietet sich jedoch für diese Zielgruppe durchaus an. Insgesamt bleibt bei den vorgestellten Möglichkeiten die Frage nach der Zielgerichtetheit für das Marketing im Versicherungswesen noch offen. Besonders gering ist das Angebot für einen qualitativ hochwertigen Studiengang im direkten Fachgebiet des Versicherungsmarketing und für die Weiterentwicklung des Marketing-Knowhows für mittlere Führungskräfte. Es ist zu schlussfolgern, dass ein wesentlicher Bedarf nach einer Weiterbildungsakademie vorhanden ist, die genau die aufgezeigte Lücke schließen soll. In dem nachfolgenden Beitrag wird ein mögliches Konzept für eine „Marketingschmieder der Assekuranz“ vorgestellt.
3
Konzept einer innovativen Weiterbildungsakademie als Ansatz für das Versicherungsmarketing
Das Konzept der Weiterbildungsakademie beschreibt eine zu gründende private Hochschule, deren Fokus auf der Vermittlung wissensintensiver Marketinginhalte in der Versicherungsbranche liegt. Die Hochschule befindet sich an einem der angesehensten und neuesten Standorte Hamburgs: Der HafenCity. Die Hochschulräume befinden sich im Vespucci Haus. Das moderne Bürogebäude mit einer Fläche von 570 m² liegt in dem neuen Hamburger Stadtteil und verfügt über einen einmaligen Blick auf die Speicherstadt und den Hafen. Die Infrastruktur des Standortes ist hervorragend. Neben einem akademischen Dienstleistungsangebot mit den zwei akkreditierten Studiengängen Bachelor of Arts (Insurance) und Master of Arts (Versicherungsmanagement) bietet die Hochschule mit den nach ISO 9001 zertifizierten Associate-, Professional- und Masterprogramm ein exklusives Weiterbildungsangebot.
3.1
Akademisches Dienstleistungsangebot – Bachelor of Arts (Insurance)
Mit dem Bachelor of Arts (Insurance) bietet die Hochschule deutschlandweit den ersten akkreditierten Studiengang für Versicherungsmarketing an und genießt damit sowohl im Inland als auch international hohe Anerkennung. Der Studien-
27 Weiterbildung im Versicherungsmarketing
477
gang wird berufsbegleitend angeboten und mit einem sehr hohen Praxisanteil durchgeführt. Die Studierenden arbeiten in einem Team von 40 Personen, sodass ein effizientes Lernen, Rückhalt und gegenseitige moralische Unterstützung durch das Zusammenwachsen gewährleistet wird. Die klassischen Präsenzveranstaltungen werden mit den innovativen Methoden des Lernens, wie das E-Learning und das Virtual Live Classroom Training, kombiniert. Beim E-Learning werden von den Dozenten ergänzende Übungen zur Lehrveranstaltung online gestellt. Die Studierenden haben dann die Möglichkeit, zeit- und ortsunabhängig zu lernen. Beim Virtual Classroom Training handelt es sich um die visuelle Aufzeichnung und Archivierung aller Lehrveranstaltungen. Dieses bietet den Studenten die Möglichkeit, an einer realen Präsenzvorlesung oder einer Live-Übertragung mit Hilfe des Internets teilzunehmen. Des Weiteren haben die Studenten die Möglichkeit, die Veranstaltung jederzeit über das World Wide Web im Archiv aufzurufen. Die Zielgruppe sind primär junge „High Potentials“ der Versicherungsbranche mit Fach- oder Hochschulreife, einer abgeschlossenen Ausbildung zum Versicherungskaufmann (IHK) und einer Berufserfahrung von mindestens zwei Jahren. Die Dozentenschaft setzt sich aus renommierten Professoren, namhaften Experten der Versicherungswirtschaft und -wissenschaft sowie Vertretern aus der Praxis zusammen. Um den Bezug zur Praxis während des Studiums aufrechtzuerhalten und eine interessante Lösung für die Arbeitgeber der Studierenden zu bieten, wird das Angebot im Rahmen eines dualen Studiums konzipiert. Damit die Anforderungen zur Akkreditierung eingehalten werden und gleichzeitig die Möglichkeit besteht, das Studium in drei Jahre erfolgreich abzuschließen, ist ein straffer Studienplan erforderlich. Daher finden zwölf Vorlesungsstunden pro Woche, welche sich auf fünf Monate verteilen, statt. Ein mögliches Beispiel für den Lehrinhalt im ersten Studienjahr stellt die nachfolgende Tabelle dar. Für jedes Model erhält der Student 6 Kreditpunkte (ECTS) 1. Versicherungsmarketing I – Seminar zur Aktuellen Themen 2. Wirtschaftswissenschaftliche Grundfächer 3. Versicherungswirtschaft 4. Grundkenntnisse der Versicherungsmärkte 5. Marketing: Produkt-, Preis-, Kommunikations- und Vertriebspolitik 6. Grundlagen des strategischen Marketings 7. Marketing- und Vertrieb 8. Kommunikation- und Vertriebsmanagement 9. Grundlagen der Marktforschung 10. Organisation in Versicherungsgesellschaften Die Studiengebühren für solch ein Angebot sollten unseren Berechnungen zwischen 3.500 € und 5.000 € liegen. In dieser, für Privathochschulen üblichen Gebührenklasse ist es dem Anbieter möglich, eine nachhaltige Qualität des Studiums aufrechtzuerhalten.
478
Matthias Heußner
Nach erfolgreichem Studium erreichen die Studierenden den Abschluss Bachelor of Arts (Insurance) und legen damit die Grundlage für den Besuch des Aufbaustudienganges Master of Arts (Insurance) oder anderer wirtschaftlich orientierter Masterstudiengänge. Der Abschluss eröffnet darüber hinaus eine breite Palette an Berufsfeldern. Die Absolventen sind Experten auf dem Gebiet des Versicherungsmarketing. Sie sind in der Lage, sowohl im Vertrieb als auch in den zentralen Abteilungen von Versicherungsunternehmen Führungsaufgaben zu übernehmen. Sie können ebenfalls bei Versicherungsmaklern und in den Versicherungsabteilungen von Handels- und Industrieunternehmen arbeiten. Die Entwicklungsmöglichkeiten erstrecken sich beispielsweise auf die Leitung des Außendienstes oder die Leitung einer Sachbearbeitungsabteilung. Aufgrund des vermittelten Fachwissens werden den Absolventen optimale Aufstiegschancen eröffnet.
3.2
Akademisches Dienstleistungsangebot – Master of Arts (Insurance)
Der Masterstudiengang sollte so organisiert sein, dass das Studium ebenfalls parallel zur Berufstätigkeit absolviert werden kann. Im Zentrum der Lernmethoden stehen Praxisbezug und Interaktivität, also die Vereinigung von Theorie und Praxis. Sämtliche Veranstaltungen sind auf Diskussionen, Meinungsaustausch sowie Fallstudien und Projektarbeiten ausgerichtet. Der Studiengang Master of Arts (Insurance) ist ein akkreditierter Studiengang und genießt aufgrund des Alleinstellungsmerkmales weltweite Anerkennung in der Wirtschaft und der Versicherungsbranche. Die klassischen Präsenzveranstaltungen werden wie beim BachelorStudiengang mit den innovativen Methoden des Lernens, wie E-Learning und Virtual Live Classroom Training kombiniert. Als Zielgruppe gelten Beschäftigte aus allen Bereichen der Versicherungswirtschaft sowie Absolventen von Hochschulen, die ihr Wissen über die Versicherungsbranche vertiefen und ihre methodische und soziale Kompetenz, einschließlich ihrer Führungsfähigkeit verbessern möchten. Die zukünftigen Studenten des Masterstudienganges sind überdurchschnittlich motiviert und zeigen eine hohe Leistungsbereitschaft. Der Studiengang Master of Arts (Insurance) ist auf 20 Teilnehmer pro Studiengang begrenzt. Die Zulassung zum weiterbildenden Masterstudiengang Versicherungsmarketing setzt einen ersten berufsqualifizierenden Hochschulabschluss (Bachelor, Diplom) und eine mindestens zweijährige Berufserfahrung voraus. Außerdem ist ein Auswahlgespräch Gegenstand des Zulassungsverfahrens. Die Bewerber benötigen im Abschlusszeugnis einen Notendurchschnitt von mindestens 2,5 beziehungsweise einen überdurchschnittlichen Leistungsnachweis. Wie bei dem Bachelor Studiengang werden zwölf Vorlesungsstunden pro Woche über einen Zeitraum von fünf Monaten pro Semester angeboten. Die Regel-
27 Weiterbildung im Versicherungsmarketing
479
studienzeit beträt vier Semester. Nachfolgend werden mögliche Studieninhalte, welche in Form von Modulen konzipiert sind, aufgezeigt. 1. 2. 3. 4. 6. 7. 8. 9.
Persönlichkeitsentwicklung Internationales Marketingmanagement Marktforschung Zeit- und Projektmanagement Management und Führung in der Versicherungsbranche Vertrieb und Key-Account-Management Organisation und Prozessgestaltung Führung im globalen Versicherungskonzern
Die Studiengebühren für den Master of Arts (Insurance) liegen zwischen 7.000 € bis 9.000 € pro Semester. Im Gegenzug erstreckt sich das zukünftige Berufsfeld des Absolventen auf das obere und mittlere Management in der internationalen Versicherungsbranche. Die Absolventen sind in der Lage, komplexe Geschäftsprozesse auf analytischer Ebene zu verstehen, Mitarbeiter kompetent zu führen und Unternehmenseinheiten der Versicherungsbranche erfolgreich zu steuern.
3.3
Weiterbildungsangebot für Führungskräfte
Neben den eben vorgestellten akkreditierten Studiengängen sollte aus Markt- und Auslastungsgründen der Akademie eine weitere exklusive Dienstleistung für die Weiterbildung im Bereich Versicherungsmarketing in das Portfolio aufgenommen werden. Das Weiterbildungsangebot richtet sich an Versicherungsfachwirte, Versicherungsbetriebswirte, Bankfachwirte, Bankbetriebswirte sowie an national und international tätige Versicherungsmakler. Sinnvoll wäre ein dreistufiges Weiterbildungssystem, welches sich in die Stufen Associate, Professional und Master gliedert. Die internen und externen Experten vermitteln fundiertes, vernetztes und umfassendes Wissen im internationalen Versicherungsmarketing. Nach erfolgreichem Abschluss des gestuften Lehrganges erhält jeder Teilnehmer ein weltweit anerkanntes Zertifikat mit der Qualifikation: International Marketing Manager Insurance. Jedes Modul (Associate, Professional, Master) des Weiterbildungslehrganges zur Qualifikation International Marketing Manager (Insurance) umfasst 15 Wochenendtermine. Die Vorlesungen finden sowohl samstags als auch sonntags von 8.00 bis 18:00 Uhr statt. Den Teilnehmern wird dabei vorgegeben, dass sie rund 70% des Seminars (11 Termine) vor Ort besuchen sollten. Für die verbleibenden Termine ist es den Teilnehmern freigestellt, ob sie das Seminar online über einen Live-Stream während der offiziellen Seminarzeiten verfolgen oder ob sie sich die Vorlesungen als Videostream herunterladen. Das Videomaterial steht den Teilnehmern dann jeweils am darauf folgenden Montag exklusiv zum Download zur Verfügung. Die Teilnahmegebühren liegen nach Analyse der dafür entstehenden Kosten zwischen 5.000 € bis 10.000 € je Modul. Nachfolgend werden die einzelnen Module beschrieben:
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Associate: Eine Ausbildung oder eine Berufstätigkeit in der Versicherungs- oder Bankenbranche wird für die Teilnahme an dieser Weiterbildung vorausgesetzt. Bei dieser Qualifikationsstufe wird dem Teilnehmer bestätigt, über das erforderliche Grundwissen im Versicherungsmarketing zu verfügen. Dieser Zertifizierungsgrad ist integraler Bestandteil der Grundausbildung zum International Marketing Manager (Insurance) und prüft das Wissen, welches in der Akademie für Versicherungsmarketing vermittelt wurde. Die Teilnehmerzahl pro Seminar ist auf 20 Personen begrenzt. Der erzielte Abschluss ist der „Certified Associate“ Professional: Eine Ausbildung oder eine Berufstätigkeit in der Versicherungsoder Bankenbranche wird für das Professional-Programm vorausgesetzt. Außerdem muss das Modul „Associate“ erfolgreich abgeschlossen worden sein. Alternativ besteht die Möglichkeit zu einem Einstufungstest. Dieser Test muss mit mindestens 70% bestanden werden. Die Inhalte der Qualifikationsstufe „Professional“ gehen über die Grundlagen des Versicherungsmarketing hinaus und setzen bei dem Wissen aus den Bereichen des internationalen Versicherungsmarketing an. Inhalte wie „Konsumentenverhalten“, „Lifecycle-Marketing“ oder „Führungsgrundlagen“ werden angeboten. Master: Um diese Qualifikationsstufe zu erreichen, sind sowohl langjährige praktische Erfahrungen in der internationalen Marketingkonzeption als auch tiefgreifendes organisatorisches Wissen erforderlich. Weiterhin zeichnet sich der Master durch ein hohes Analyse-, Planungs-, Steuerungs- und Optimierungswissen aus, um ergebnis- und zielorientiert strategische und operative Maßnahmen durchführen zu können. Innovationsfähigkeit und die Kompetenz, Strukturen auch im internationalen Fokus nachhaltig zu verbessern, sind weiterhin integraler Bestandteil. Die Entwicklung neuer Führungsfähigkeiten rundet die Qualifikationsstufe des Masters ab. Die Teilnehmerzahl pro Seminar ist für eine hohe Lerneffizienz auf zehn begrenzt Berufsperspektiven: Die Fortbildung zum internationalen Marketing Manager (Insurance) qualifiziert Nachwuchskräfte für die wachsenden Anforderungen globalisierter Versicherungsmärkte. Teilnehmer erwerben neben ökonomischen Kernkompetenzen die Fähigkeit, in interdisziplinären und internationalen Teams zu kooperieren. Sie entwickeln ein vertieftes Verständnis integrierter Unternehmensführung und werden dazu befähigt, im weltweiten Wettbewerb kompetent und professionell internationale Geschäftsprozesse zu steuern.
4
Akkreditierung und Qualitätsmanagement
Mit der Einführung eines gestuften Studiensystems in Bachelor- und Masterstudiengänge ist zugleich eine stärkere Autonomie der Hochschulen bei der Einrichtung von Studiengängen verbunden. Deshalb haben die Kultusministerkonferenz (KMK) und die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) die Einführung eines Qualitätssicherungsverfahrens für Studiengänge, die Akkreditierung, beschlossen.
27 Weiterbildung im Versicherungsmarketing
481
„Akkreditierung" bedeutet das Durchlaufen eines Gutachterverfahrens. Im Auftrag der Hochschulen prüfen dazu berechtigte Akkreditierungsagenturen, ob ein Studiengang fachlich-inhaltlich und hinsichtlich seiner Berufsrelevanz bestimmten Mindestanforderungen genügt. Entscheidend ist dabei die Mitwirkung externer Gutachter sowohl aus der Fachwissenschaft als auch der Berufspraxis. Das Instrument der Akkreditierung soll dabei nicht zur Vereinheitlichung der Studienangebote führen, sondern Transparenz und Qualität der Leistungen und Angebote sicherstellen. Mit der Einführung von Akkreditierungsverfahren sind verschiedene Absichten verbunden: 1. Qualitätssicherung bei der Einführung neuer Studiengänge und der Überprüfung bereits bestehender Studiengänge. 2. Verbesserung von Vergleichbarkeit und Transparenz von Studienangeboten im europäischen beziehungsweise internationalen Kontext. 3. Gewährleistung der nationalen und internationalen Anerkennung von Studienabschlüssen. Da die Maßnahme der Akkreditierung zur Erlangung der notwendigen Reputation des vorgestellten Weiterbildungskonzeptes zwingend erforderlich ist, bedarf es einer Beachtung und Einhaltung dieser Anforderungen. Um die Akkreditierungsrichtlinien auch langfristig zu erfüllen, bietet sich bereits frühzeitig die Implementierung eines umfassenden Qualitätsmanagements zur Qualitätssicherung an. Auf Basis einer kontinuierlichen Evaluation der Studiendaten können die gewonnen Informationen zügig in die Studienplanentwicklung, in die Personalauswahl und in die Erstellung der Zulassungsmodalitäten integriert werden. Als Evaluationsbasis eignen sich unter anderem Studentenbefragungen, Mitarbeiterzufriedenheitsanalysen, Absolventenanalysen und die Ergebnisse aus den erbrachten Prüfungsleistungen. Als weitere Möglichkeit der Qualitätssicherung in Forschung und Lehre dient ein innovatives Berufungsverfahren. Hierzu sollte sich die Hochschule eines zügigen und transparenten Verfahrens bedienen, um die „besten Köpfe“ der Wirtschaft und Wissenschaft zu gewinnen. Darüber hinaus ist neben der fachlichen Qualifikation, eine hohe Qualifikation in der Lehre und auf einer langjährigen Erfahrung in der Wirtschaft zu achten. Die Zahl an Forschungspublikationen als Wettbewerbsvorteil tritt dabei eher in den Hintergrund.
5
Zusammenfassung
Das vorgestellte Konzept „Marketingschmiede der Assekuranz“ auf Basis der zwei genannten Leistungsspektren kann als eine innovative und qualitativ hochwertige Institution die Weiterbildungslandschaft im Versicherungsmarketing stark voranbringen. Es werden erstens junge Talente durch ein zielgerichtetes Studium entwickelt und auf eine Führungslaufbahn im internationalen Versicherungswesen vorbereitet. Zweitens erhalten Führungskräfte der mittleren Ebene eine interessan-
482
Matthias Heußner
te Alternative sich für neue Aufgaben im Versicherungskonzern vorzubereiten, indem Sie die zertifizierten Weiterbildungskurse „Professional“ oder „Master“ erfolgreich absolvieren. Als Fernziel wäre die dritte Wirkungsebene, die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses, um die Versicherungswirtschaft als Wissenschaft voranzubringen, eine durchaus nachhaltige Option. Gestützt wird das Hochschulsystem durch ein fundiertes Qualitätsmanagement auf der Basis von formativen und summativen Evaluationstools.
Kapitel 28 Business Intelligence als strategische Grundlage der Unternehmenssteuerung Torsten Schwarz
1
Business Intelligence
1.1
Ausgangslage
Lange wurden Messgrößen und Kennzahlen zur Steuerung von Unternehmen dezentral und nicht integriert als strategisches Verfahren zur Leistungssteigerung in Unternehmen eingesetzt. Nun wendet sich das Blatt zusehends: Corporate Performance Management (CPM) gewinnt zunehmend an Bedeutung. Der von der Gartner Group geprägte Begriff steht für die Zusammenführung und Integration aller Kennzahlen, Prozesse, Methoden und analytischer Anwendungen zur Unternehmenssteuerung. Hierbei ergänzt das Corporate Performance Management bestehende Business Intelligence Ansätze um zukunftsbezogene Prozesse für Planung, Budgetierung und Forecast. Damit rückt das Thema Business Intelligence (BI) erneut in den Fokus: BI-Tools ordnen nicht mehr nur das historische und gegenwärtige Berichtswesen. Sie helfen auch, in die Zukunft gerichtete Entscheidungsprozesse des Managements ganzheitlich zu unterstützen. Grundlage des Corporate Performance Managements ist weiterhin die Kombination aus Data Warehouse und BI-Software – einschließlich einer soliden und performanten Infrastruktur für die Datenbewirtschaftung – die den schnellen Zugriff auf alle relevanten dispositiven Informationen ermöglicht und tiefe und vor allem abteilungsübergreifende Einblicke in die Geschäftslage und -entwicklung erlaubt. Versicherungsunternehmen verfügen über außerordentlich große und komplexe Datenbestände. Zudem hat die durch die Konsolidierung des Marktes bedingte Vielzahl von Unternehmenszusammenschlüssen den Grad an dezentralisierten Kennzahlen und Messgrößen in den heute bestehenden Unternehmen ansteigen lassen. Die Etablierung eines andauernden CPM-Prozesses in die Unternehmensstrategie ist somit für viele Unternehmen vorteilhaft, muss jedoch gleichermaßen als herausfordernder und andauernder Prozess verstanden werden. M.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing, DOI 10.1007/978-3-642-10276-9_28, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
484
Torsten Schwarz
1.2
Begriffsabgrenzungen
In der Literatur und im Internet finden sich unterschiedliche Erklärungen für Business Intelligence. Das Business Application Research Center (BARC) definiert BI „als die entscheidungsorientierte Sammlung und Aufbereitung von Daten zur Darstellung geschäftsrelevanter Information“ (vgl. Bange 2003). Laut NetLexikon „umfasst der Begriff die analytischen Prozesse und Werkzeuge, um Unternehmens- und Wettbewerbsdaten in handlungsgerichtetes Wissen zu transformieren. Es werden unternehmensinterne und -externe Daten als Quellen herangezogen.“ Die Gartner Group, welche den Begriff 1989 prägte, definiert: „ BI umfasst Anwendungen und Technologien, für Beschaffung, Sammlung, Analyse und Zugriff auf Daten zur optimierten Entscheidungsfindung im Unternehmen. BI Anwendungen beinhalten Aktivitäten von Decision Support Systemen, Queries und Reporting, OLAP, statistische Analysen, Forecasting und Data Mining.“ (Dresner 2002) Eine weitgehend anerkannte und oft zitierte Definition stammt von Grothe/Gentsch: „Business Intelligence bezeichnet den analytischen Prozess, der – fragmentierte – Unternehmens- und Wettbewerbsdaten in handlungsgerichtetes Wissen über die Fähigkeiten, Positionen und Ziele der betrachteten internen oder externen Handlungsfelder (Akteure und Prozesse) transformiert“ (Grothe/ Gentsch 2000).
1.3
Komponenten
Im Wesentlichen umfasst BI die drei Komponenten Sammlung, Auswertung und Darstellung. Unter Sammlung (auch Data Warehousing, DWH, genannt) ist der Prozess der Datenintegration aus unterschiedlichen Quellsystemen zu verstehen. Dadurch sind eine globale Sicht auf Quelldaten im Data Warehouse und übergreifende Auswertungen möglich. Im Rahmen der Auswertung werden durch analytische Prozesse Informationen aus den Quelldaten generiert, die strategische Unternehmensentscheidungen unterstützen können. Es lassen sich Muster und Diskontinuitäten erkennen, die mit etwaigen zuvor aufgestellten Hypothesen verglichen werden können, zum Beispiel in Form von multidimensionalen Analysen oder Data-Mining. Die Erkenntnisse werden dann in Entscheidungsvorlagen eingebunden und dienen somit als Grundlagen für nachfolgende Maßnahmen und Aktionen. Für die Darstellung der Daten stehen Formate, wie Cockpit, Portal, Dash Board, Scorecard etc., zur Verfügung. Diese Formate haben eine zentrale Bedeutung für die Akzeptanz der Ergebnisse aus den Komponenten Sammlung und Auswertung. Sie bilden die Schnittstelle zu den verschiedenen Ebenen der Entscheidungsträger und sind entsprechend der individuellen Erwartungshaltung zu gestalten.
28 Business Intelligence als strategische Grundlage der Unternehmenssteuerung
1.4
485
Anbieter
Der Softwaremarkt für Business Intelligence in Deutschland wuchs von 2007 auf 2008 um 6,2 Prozent und bringt es nach einer BARC-Studie auf ein Gesamtvolumen von 754 Millionen Euro (vgl. Business Application Research Center 2008), wobei die vier marktführenden Anbieter etwa die Hälfte des Gesamtumsatzes erwirtschafteten. Die bei Gartner im Januar 2009 geführten 13 internationalen Software-Anbieter für Business-Intelligence-Lösungen sind: Actuate, arcplan, Board IBM (inklusive Cognos), Information Builders, Microsoft, MicroStrategy, Oracle (inklusive Hyperion), Panorama, QlikTech, SAP (inklusive Business Objects), SAS und Spotfire (Tibco) (Gartner 2009).
2
Business Intelligence in Versicherungsunternehmen
2.1
Problemhintergrund
Speziell für Versicherungsgesellschaften eignet sich die Einführung von Business Intelligence und der Realisierung eines darauf basierenden Corporate Performance Managements. Die heutigen Konzerne sind vielfach aus dem Zusammenschluss von Unternehmen hervorgegangen, in denen es unterschiedliche Kulturen in der Sammlung und Nutzung geschäftsrelevanter Informationen gab. Hinzu kommt, dass innerhalb einzelner Geschäftsbereiche (Vertrieb, Betrieb, Controlling, Finanzen etc.) historisch gewachsene, lokale Systeme bestehen, die nur schwer zu integrieren sind oder deren Substitution durch ein zentrales System aus Gründen der Risikominimierung anzustreben ist. Diese Heterogenität der Systeme hat ihre Ursache auch in den zu unterstützenden Prozessen, beispielsweise des Berichtswesens für Vertriebs- und Vertriebswegecontrolling. Bestanden hier bisher keine klaren inhaltlichen und organisatorischen Abgrenzungen, hat sich die Entwicklung der IT-Systeme diesen prozessualen Schwachstellen angepasst und zu Insellösungen geführt. Darüber hinaus gibt es oft eine Fülle von geschäftsrelevanten Kennzahlen, die in den Geschäftsbereichen unterschiedlich definiert und interpretiert werden. Identisch benannte und in mehreren Geschäftsbereichen individuell verwandte Kennzahlen sind inhaltlich nicht vergleichbar und somit als Grundlage von Entscheidungsprozessen ungeeignet. Speziell im Kontext mathematisch komplexer Produkte zur Altersvorsorge können kleine Abweichungen in der Definition und Interpretation große Auswirkungen in der Analyse und Weiterverwendung hervorbringen. Dispositive Daten werden vielfach sehr aufwändig und manuell in Kalkulationsund Reportingprogramme wie Microsoft Excel oder Lotus 1-2-3 eingepflegt. Mitarbeiter sind nicht selten länger mit dem Sammeln und Zusammenstellen von Daten beschäftigt als mit der Interpretation derselben. Ursache für diesen nicht
486
Torsten Schwarz
zielgerichteten Ressourceneinsatz sind beispielsweise fehlende Standardisierungen in den Quellsystemen. Die notwendige Standardisierung und Zusammenführung wurden dann manuell und nicht systemunterstützt, nachvollziehbar und revisionssicher nachgeholt. Zudem steht in vielen Gesellschaften die legale Berichterstattung im Fokus. Eine Berichterstattung, die primär der Steuerung des Unternehmens dient und Risikomanagement und Performance Management verzahnt, fehlt. Anders ausgedrückt: Eine institutionalisierte Unternehmensentwicklung im Sinne eines strategischen Controllings wird kaum betrieben. Es erfolgt lediglich eine ex post Betrachtung auf die Ergebnisse. Speziell die legale Berichterstattung und Bilanzierung erfolgen vielfach mit einem unverhältnismäßig hohen Maß an manueller Datensammlung und -zusammenführung. Zudem erfolgen die legale Berichterstattung und die unternehmensinterne Ergebnisplanung unabhängig voneinander, sodass keine direkten Zusammenhänge zwischen Plan- und Ist-Zahlen genutzt werden können. Deshalb weisen vor allem Versicherungen im modernen Datenmanagement einen gewissen Nachholbedarf auf. Es bestehen unternehmensindividuell Potenziale zur Kostensenkung und zur effizienteren Unternehmenssteuerung, die sich mit Hilfe von BI und einem darauf basierenden Corporate Performance Management realisieren ließen.
2.2
Wirkungshebel
Betrachtet man die beschriebene Heterogenität von Kennzahlen, Prozessen und IT-Systemen, so lassen sich auf dem Weg zu einem CPM-Prozess grundlegende Wirkungshebel der zu Grunde liegenden Business Intelligence-Lösung stichpunktartig beschreiben: Über ein Data Warehouse erfolgt die Zentralisierung der dispositiven Daten in genau einem zentralen Datenpool mit einer globalen Sicht auf alle relevanten Daten. Die physische Realisierung kann hier durchaus auf mehr als einem Data Warehouse basieren. In der Praxis bestehen föderierte Architekturen, die unter einer logischen Schicht eine Mehrzahl physischer Datenpools zusammenführen. Die Systemanbieter haben hier die notwendigen technischen Voraussetzungen geschaffen, um bestehende Lösungen zu integrieren. Die bestehende „Business Intelligence“ wird risikominimierend in der zentralen BI-Lösung abgebildet und nachhaltig dokumentiert. Hierzu gehört die Reduzierung der „Kopfmonopole“ („Herrschaftswissen“ einzelner Mitarbeiter oder Abteilungen) sowie der Transfer der in dezentral abgelegten Abteilungssystemen bestehenden Intelligenz. Nur so kann wesentliches Wissen über die in diesem Kontext bestehenden Abläufe und Zusammenhänge im Unternehmen wiederverwendbar abgebildet werden. Die zentrale BI-Lösung stellt Mechanismen zur Verfügung, die den Umgang mit den dispositiven Daten transparent und nachvollziehbar machen. Änderungen werden historisiert, dokumentiert und können jederzeit nachverfolgt werden. Die Sicherheit und Qualität der Daten ist gewährleistet. Gesetzli-
28 Business Intelligence als strategische Grundlage der Unternehmenssteuerung
487
chen Vorgaben kann somit gleichermaßen entsprochen werden, wie der Forderung des Managements nach belastbaren Steuerungsgrößen. Betrieb und Weiterentwicklung der BI-Lösung erfolgen analog der Anforderungen zentral durch die IT. Eine dezentrale Pflege, Wartung und Erweiterung der lokalen Lösungen ist nach der Substitution nicht länger notwendig. Die Fachbereiche werden entlastet und das Management der dispositiven Systeme erfolgt analog der operativen Systeme durch die IT. Das Nutzenpotential lässt sich sowohl qualitativ als auch quantitativ für jedes Unternehmen individuell bestimmen. Der Wirkungsgrad von Business Intelligence und Corporate Performance Management hängt dabei davon ab, wie konsequent die Aspekte umgesetzt werden und wie stark diese in der Kultur des Unternehmens und den Prozessen der Unternehmenssteuerung berücksichtigt werden.
2.3
Erfahrungen
Aus der Projekterfahrung etwa der Unternehmensberatung 67rockwell lassen sich wesentliche Punkte bei der Umsetzung einer BI-Initiative als ersten Schritt auf dem Wege zu einem CPM-Prozess noch etwas deutlicher zu machen. Nicht selten werden im Rahmen einer Bestandsaufnahme unscharfe Abgrenzungen hinsichtlich bestehender Prozesse identifiziert. Diese Unschärfen führen im operativen Tagesgeschäft zu Prozessineffizienzen, unklaren Verantwortlichkeiten und einer überproportional hohen Anzahl fachlicher und technischer Schnittstellen. Darüber hinaus kann beobachtet werden, dass sich oftmals kleinteilige und fragmentierte Prozesse ohne eine einheitliche IT-Systemunterstützung entwickelt haben. In diesem Zusammenhang ist eine vollständige Prozessanalyse und -optimierung unter Berücksichtigung der zukünftigen Möglichkeiten einer BI-Lösung notwendig. Ein Verzicht auf diese grundlegenden Betrachtungen und möglicherweise damit einhergehende organisatorische und prozessuale Veränderungen führen zu einer deutlichen Verschlechterung in der Realisierung der Nutzenpotentiale. Dieser Aspekt macht deutlich, dass die Umsetzung einer BI-Initiative aus den Geschäftsbereichen heraus gefördert werden muss. Eine BI-Initiative hat durch die Einführung oder Erweiterung der notwendigen IT-Systeme zwar eine starke und zwingend notwendige IT-Komponente, ist jedoch originär als Geschäftsbereichsinitiative zu sehen und verantwortlich durch die Geschäftsbereiche umzusetzen. Aufgrund der Vielzahl an betroffenen Prozessen, Kennzahlen und Organisationseinheiten ist über die Umsetzung der BI-Initiative hinausgehend eine fachliche Governance zu definieren und zu etablieren. Ziel ist im ersten Schritt die Vereinheitlichung und Abstimmung eines unternehmensweiten Kennzahlenkataloges, der in allen Geschäftsbereichen akzeptiert wird. Darüber hinaus ist zu definieren, wie zukünftig aus dem operativen Geschäft und konkreten Projektaufträgen Veränderungen am Kennzahlenkatalog im Unternehmen durchzuführen und nachträglich technisch umzusetzen sind. Um diesen Aspekt hinreichend zu berücksichtigen,
488
Torsten Schwarz
gründen Unternehmen aus BI-Initiativen heraus virtuelle Organisationseinheiten mit Vertretern aus allen beteiligten Geschäftsbereichen. Häufig werden diese Einheiten unter dem Begriff BI-Foundation geführt. In der Regel verfügen Unternehmen bereits heute über komplexe IT-Systemlandschaften, die sich vielfach über Jahrzehnte entwickelt haben und einer ständigen Veränderung unterliegen. In dieses Umfeld hat sich eine BI-Lösung möglichst nahtlos zu integrieren. Vielfach bestehen bereits Data Warehouses oder gar erste BI-Lösungen, die aus Gründen des Investitionsschutzes in eine integrierte Gesamtlösung eingepasst werden müssen. Andererseits werden BI-Initiativen auch zur Konsolidierung und Bereinigung der IT-Systemlandschaft benutzt. Für die ITUnterstützung der betrachteten Prozesse ist von entscheidender Bedeutung, dass neben der BI-Lösung keine parallelen Systemwelten bestehen und somit alle individuellen und dezentralen IT-Systeme zu substituieren sind. Business Intelligence und ein darüber zu erreichender CPM-Prozess verfolgen einen integrativen Ansatz und sind geschäftsbereichsübergreifend zu konzeptionieren. Hieraus entsteht in vielen Unternehmen ein nicht zu unterschätzendes Konfliktpotenzial. Die Weiterentwicklung und der Ausbau der Lösungen erfolgt auf Basis der fachlichen Vorgaben durch die IT. Somit sind im Rahmen einer technischen Governance Mechanismen zu schaffen, die eine transparente Priorisierung und Umsetzung der fachlichen Anforderungen ermöglichen. In der IT wird zu diesem Zweck oftmals eine zentrale Organisationseinheit geschaffen, die alle dispositiven Systeme verantwortet und für die Geschäftsbereiche deren Ausbau und Weiterentwicklung betreibt. In diesem Zusammenhang wird häufig der Begriff BI Competence Center (BICC) verwandt.
2.4
Potenziale
Das in diesem Kontext angesprochene Ziel ist die Verankerung eines auf Business Intelligence basierenden CPM-Prozesses. Dieses Ziel ist jedoch nicht statisch und kann nicht über eine einmalige Initiative oder ein Projekt erreicht werden. Aufgrund der sich häufig ändernden Anforderungen des Marktes erfordert speziell die Steuerung eines Unternehmens eine ständige Anpassungsfähigkeit. Der CPMProzess muss die Flexibilität besitzen, dieser Dynamik gerecht zu werden und das Management ständig mit den notwendigen Entscheidungsgrundlagen zu versorgen. Da die erfolgreiche Steuerung eines Unternehmens jedoch nicht ausschließlich von messbaren Kennzahlen, Prognosen, Marktdaten und deren mechanischer Analyse abhängen, ist der Unternehmenserfolg nicht direkt mit Business Intelligence und dem CPM-Prozess in Beziehung zu setzen. Dennoch bestehen Nutzenpotenziale, die direkt aus den Anstrengungen zur Etablierung eines CPMProzesses realisiert werden können: In den Geschäftsbereichen, speziell Finanzen und Controlling, kann eine Konzentration auf die Analyse und die Auswertung dispositiver Daten erfolgen. Durch den Wegfall von oftmals hohen Aufwänden zur Datenbeschaffung, -aufbereitung
28 Business Intelligence als strategische Grundlage der Unternehmenssteuerung
489
und -plausibilisierung können die Mitarbeiter ihr Wissen gezielter und umfänglicher für die wesentlichen Aufgaben einsetzen. Somit können speziell die Finanzkennzahlen der Unternehmen der Unternehmensführung und anderen Geschäftsbereichen schneller und nutzenorientierter zur Verfügung gestellt werden. Darüber hinaus können über die vorausgehende Prozessoptimierung oftmals brachliegende Potenziale hinsichtlich Aufbau- und Ablauforganisation erkannt und realisiert werden. Die Zentralsierung des Datenpools und die Substitution der dezentralen Systeme durch eine zentrale, integrierte Lösung entbinden die Geschäftsbereiche von der Aufgabe der Systembetreuung und -wartung. Die hierdurch freiwerdenden Kapazitäten können effektiver und effizienter eingesetzt werden. Seitens der IT können Einsparpotentiale erreicht werden, die vom Grad der Konsolidierung und Substitution von Altsystemen abhängen. Die eigentlichen Potenziale liegen jedoch im Zugewinn an Qualität und Sicherheit. Im Rahmen einer langfristigen Strategie nimmt die Qualität der als Entscheidungsgrundlage notwendigen Kennzahlen zu und schafft somit ein sicheres Fundament für die notwendigen Richtungsentscheidungen.
3
Zusammenfassung
Über kurz oder lang werden Versicherungen nicht um die Installation oder Erweiterung von BI-Lösungen und die Etablierung eines CPM-Prozesses herum kommen. Im Rahmen einer Erhebung von Gartner unter 16 Unternehmen, die bereits BI eingeführt haben, ergab sich, dass die Befragten über etwaige Kostensenkungen hinausgehend andere Vorteile, die mit der Einführung von BI verbunden sind als wichtig betrachten: die Verbesserung der CPM-Prozesse, die höhere Zuverlässigkeit der Prognosen und in dessen Folge trefflichere Entscheidungen als zuvor. Alles in allem ist BI als zentraler, belastbarer und nachvollziehbarer Aspekt der Unternehmenssteuerung zu sehen, der mehr Transparenz möglich macht. BIAnwendungen lassen sich nicht nur vom Top-Management als wertvolles Lenkungs-Instrument nutzen, sondern auch von Kernbereichen des Unternehmens. Sie erlauben „auf Knopfdruck“ beispielsweise eine aktuelle Sicht der relevanten Kennzahlen und deren Wirkung auf Geschäftsplan oder Jahresprognose, woraus sich unmittelbar ein eventueller Handlungsbedarf ablesen lässt. Insbesondere für Versicherungsunternehmen, die durch ihre gewachsene heterogene Struktur, ihrem riesigen Fundus an Daten und oftmals ganz unterschiedlichen Erfassungs- und Reportingprogrammen derzeit wertvolle Potenziale verschenken, bedeutet der Schritt zu BI und CPM eine Chance für neue Wachstumsimpulse.
490
Torsten Schwarz
Literatur Bange, T: Business Intelligence: Systeme und Anwendungen, 2003. Business Application Research Center: BARC-Marktstudie „BI-Softwaremarkt Deutschland 2007/2008“, Würzburg. Business Application Research Center (BARC), Bange, T.: Business Intelligence: Systeme und Anwendungen, 2003. Bauer, A./Günzel, H.: Data-Warehouse-Systeme – Architektur, Entwicklung, Anwendung, dpunkt 2008. Dresner, H.: Business Intelligence in 2002: A Coming of Age, Gartner Group 2001. Gartner RAS Core Research Note G00163529, Richardson, J./Schlegel, K./Sallam, R. L./Hostmann, B.: Magic Quadrant for Business Intelligence Platforms 2009. Grothe, M./Gentsch, P.: Business Intelligence – Aus Informationen Wettbewerbsvorteile gewinnen, München, Addison-Wesley, München 2000. H. Heben, H./Kottbauer, M.: Business Intelligence für Controller, Freiburg 2008. A. Seufert, A./Lehmann, P.: Business Intelligence – Status Quo und zukünftige Entwicklungen. In: HMD-Handbuch der modernen Datenverarbeitung, Schwerpunktheft Business & Competitive Intelligence 247/2006.
Teil VII Internationales Versicherungsmarketing und Entwicklungstendenzen
Kapitel 29 Internationale Markteintrittsstrategie für deutsche Lebensversicherer Tim Braasch/Marcus Laakmann
1
Investitionen im Ausland
Zur Jahresmitte 2009 sind insgesamt 629 Versicherungsunternehmen bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht BaFin registriert: Sach- und Schadenversicherer, Rückversicherer, Pensions- und Sterbekassen sowie Pensionsfonds und 94 Lebensversicherer. Den deutschen Lebensversicherungsmarkt mit einem Jahresbeitragsvolumen von knapp 80 Mrd. Euro teilen sich privatwirtschaftliche und öffentlich-rechtliche Versicherer, ebenso Genossenschaftsversicherer und Versicherungsvereine. Häufig sind Lebensversicherer in deutsche oder internationale Versicherungskonzerne/-gruppen eingebunden, wo sie – meist als größter Versicherungszweig – neben den anderen Sparten betrieben werden. Knapp ein Viertel des deutschen Lebensversicherungsmarktes wird, nach Recherchen des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft GDV, von ausländischen Anbietern beherrscht. Deutsche Versicherer begannen in den frühen 70er Jahren Niederlassungen und Tochtergesellschaften im Ausland aufzubauen – zunächst im EU-Ausland. Das weltweit Volumen des Lebensversicherungsgeschäftes beziffert Swiss Re für 2008 auf umgerechnet 3 Mrd. Euro Jahresbeitragsvolumen (vgl. Swiss Re, Sigma Nr.3/2009 S. 16). Davon entfallen nur 12% oder 360 Mio. Euro auf Nicht-Industrieländer. Während den Industrieländern – unabhängig von aktuellen Schwierigkeiten in Wirtschaft und Finanzen – durch negative Demographie-Effekte sowie durch ausgeprägte Sättigungstendenzen nur noch geringe Wachstums-Potenziale oder gar negative Dynamik prognostiziert wird, zeichnet sich die Situation in NichtIndustrieländern durch positive Dynamik und sehr schwach ausgeprägte Vorsorgeniveaus aus. Wichtig wird es sein, Strategien für die innere Entwicklung der Gesellschaftsstrukturen in den unterversorgten Ländern zu erkennen – als wesentliche Voraussetzungen für die Fähigkeit, Bedürfnissen nach Vorsorge nachkommen zu können. Ob Versicherer die aktuellen wirtschaftlichen Probleme in vielen M.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing, DOI 10.1007/978-3-642-10276-9_29, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
494
Tim Braasch/Marcus Laakmann
Schwellenländern als Chance für ein forciertes Engagement auf ausländischen Märkten ansehen oder als Bremse für Internationalisierungsstrategien, das wird sich im Einzelfall noch zeigen. Das generell immer noch hohe Ansehen, das der Begriff „Made in Germany“ genießt, gilt auch für deutsche Versicherer. Sie werden allgemein als sicher und leistungsstark angesehen und rangieren insoweit über manchen örtlichen Anbietern. Den guten Ruf deutscher (Versicherungs)-Wertarbeit gilt es, zu verteidigen und weiter zu untermauern. Neues Wachstum ist dafür ein wichtiger Faktor. Die Chancen, dieses Ziel zu erreichen, sind – zumal unter den gegebenen Umständen am Ende des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrtausend – für deutsche Lebensversicherer vielleicht in besonderer Weise gegeben.
2
Gründe für die Internationalisierungsstrategie
Der Investitionsbestand deutscher Versicherer im Ausland verharrt seit Beginn des Jahrzehntes bei 30 Mrd. Euro. Gemessen am gewachsenen Geschäftsvolumen der Versicherer hat das Auslandsengagement folglich in den vergangenen Jahren abgenommen. In den 90er Jahren hatte der Bestand der im Ausland investierten Summen von 5 auf 25 Mrd. Euro zugenommen (vgl. Deutsche Bundesbank, Direktinvestitionen deutscher Versicherungsunternehmen im Ausland). Gute Geschäftsergebnisse mögen in jener Phase den Ausschlag für diese Expansion geliefert haben. Die nächste Dekade könnte von weniger guten Geschäftsergebnissen geprägt sein. Gerade diese Ergebnisse liefern nun Gründe für eine neuerliche Internationalisierungsstrategie.
2.1
Volkswirtschaftliche Entwicklungen
Das deutsche Lebensversicherungsgeschäft ist seit Jahren durch nachlassende Wachstumsraten gekennzeichnet. Für 2009 rechnet selbst der GDV mit einem Rückgang der Beiträge um 2 bis 3% auf dann branchenweit 77 Mrd. Euro. Jenseits der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise führe die anhaltend hohe Anzahl regulärer Vertragsabläufe zu entsprechend hohen Einbußen der Beitragseinnahmen, teilte der GDV im März 2009 mit. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Rückgang der Beiträge wegen der Wirtschafts- und Finanzkrise 2009 über die vertragsbedingten Auswirkungen hinaus noch größere Ausprägung erfahren wird (vgl. Abb. 29.1). Die negative Beitragsentwicklung ist keine singuläre Entwicklung des deutschen Lebensversicherungsgeschäftes. Bereits 2008 sind die Lebensversicherungs-Prämien in den Industrieländern um 5,3% gesunken. Hauptgrund für den starken Rückgang war ein massiver Einbruch im Geschäft mit fondsgebundenen Versicherungen gegen Einmalprämie (vgl. Swiss Re, Sigma). Insoweit stellt sich der deutsche Markt noch vergleichsweise positiv dar.
29 Internationale Markteintrittsstrategien für deutsche Lebensversicherer
Jahr
Beitragseinnahmen*
495
Vertragsauszahlungen
Mrd. Euro
Prozent
Mrd. Euro
2000
61,3
+ 0,5
49
2001
62,4
+ 1,8
52
2002
65,1
+ 4,3
56
2003
68,4
+ 5,1
65
2004
70,0
+ 2,3
64
2005
75,0
+ 7,1
64
2006
78,5
+ 4,7
66
2007
79,0
+ 0,6
66
2008
79,6
+ 0,8
72
2009**
76 – 77
-3 – -5
74
2010**
75 – 76
-3 – -4
75
* einschl. Pensionskassen und -fonds. ** geschätzt Quelle: GDV, eigene Berechnungen
Abb. 29.1: Beitragseinnahmen und Vertragsauszahlungen
Die Stabilität – gerade – des deutschen Lebensversicherungsmarktes findet ihre Ursache in staatlichen Zuschüssen zu Riester-Produkten sowie in Garantien für fondsgebundene Produktvarianten. Stabilisierend für das Marktvolumen wirkt sich auch der zunehmende Übertrag betrieblicher Altersvorsorgerisiken aus den zusagenden Unternehmen auf Versicherungen aus. Grundsätzlich ist auch in Deutschland eine Verringerung des staatlichen Absicherungsniveaus zu erkennen, was grundsätzlich in eine Erhöhung der privaten Vorsorgeaktivitäten münden sollte, soweit die Bereitschaft und Fähigkeit dazu in der Bevölkerung vorhanden sind. Die aktuelle Schrumpfung der deutschen Beitragseinnahmen bei gleichzeitig weiterer Zunahme der Auszahlungen lässt den Zeitpunkt näher rücken, an dem die deutschen Beitragseinnahmen der Versicherer alleine nicht mehr ausreichen, um die Auszahlungen ablaufender Verträge zu finanzieren und weitere Kapitalanlagen zur Deckung künftiger Verpflichtungen aufzubauen. Gleichzeitig sank die Umlaufrendite festverzinslicher deutscher Wertpapiere seit 1998 für zunehmend längere Phasen unter 4%, kurzzeitig sogar mehrmals unter 3%. Seit der Phase rekordhoher Zinsen im Anschluss an die deutsche Wiedervereinigung bilden sich die Zinsen tendenziell zurück. Szenarien zunehmend deflationärer Tendenzen und japanisch niedriger Zinsen von kaum mehr als 1% sind
496
Tim Braasch/Marcus Laakmann
vorstellbar; neben klassisch inflationären Tendenzen. Verschiedene Lebensversicherer haben 2008 erstmals negative Kapitalanlageüberschüsse hinnehmen müssen. Im Jahr 2009 gibt jeder Bundesbürger wahrscheinlich knapp 2.000 Euro für Beiträge zu Versicherungen aller Art (Kranken, Sach und Leben) aus; etwas weniger als im Jahre 2008. Unter den gegebenen Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt scheint eine weitere Steigerung der pro-Kopf-Ausgaben für Versicherungen über den im vergangenen Jahr erreichten Spitzenwert von 2.006 Euro hinaus schwer vorstellbar. Das verfügbare Einkommen der Bundesbürger lag im 1. Quartal 2009 um 7% unter dem Stand des 1. Quartals 2008 (vgl. Destatis, volkswirtschaftliche Gesamtrechnung). Der Rückgang um 37 Mrd. Euro führte das Einkommensniveau zurück in die Größenordnung des Jahres 2006. Der rückläufige Trend wird sich in naher Zukunft kaum umkehren lassen. Zum Ausgleich kann die hohe Spartätigkeit verringert werden. Denkbar ist es ebenso, Versicherungsverträge auf ihre dringende und akute Notwendigkeit hin zu überprüfen. Im Ergebnis könnten Spareinzahlungen in Lebensversicherungen gekürzt oder gar ganz eingestellt werden. Zunächst darf unterstellt werden, dass die Verbraucher auch unter zunehmend schwierigeren Bedingungen des Arbeitsmarktes bemüht sein werden, die Ausgaben für Versicherungen durchzuhalten. Die deutsche Vorsorgequote (Versicherungsbeiträge bezogen auf das verfügbare Einkommen der Haushalte) hält sich seit 1997 relativ knapp unter oder über 10%. Bei anhaltend negativer Entwicklung der verfügbaren Haushaltseinkommen würde eine entsprechend negative Beitragsentwicklung der Versicherer nicht überraschen. Die Rahmenbedingungen für das Lebensversicherungsgeschäft in den Industrieländern dürften zunächst schwierig bleiben. Erst mit einer Stabilisierung der Wirtschafts- und Finanzbedingungen könnte wieder der frühere Zustand erreicht werden – mit Wachstumsraten, die über dem Wirtschaftswachstum liegen (vgl. Abb. 29.2). Im internationalen Vergleich zählt Deutschland zu den Industrieländern mit unterdurchschnittlicher Versicherungsdichte. In Großbritannien, den Niederlanden, in der Schweiz, Dänemark, Belgien, Frankreich und den USA wird mehr, teilweise weit mehr als das Doppelte für Versicherungen ausgegeben. Das traditionell mit dem Versprechen einer starken Staatsversorgung ausgestattete Deutschland führt die Liste der unterdurchschnittlichen Versicherungssparer an; vor Österreich, Italien, Spanien und Griechenland. In Griechenland wird (nach Markt-Analysen der Swiss Re) nicht mal die Hälfte des deutschen Absicherungs- und Vorsorgeaufwandes betrieben. Der griechische Markt ist jedoch – noch mehr als andere Auslandsmärkte – nicht nur durch Sprachhürden, sondern zusätzlich durch Schriftdifferenzierung abgegrenzt; genauso wie beispielsweise die grundsätzlich in Internationalisierungsüberlegungen einzubeziehenden Länder Serbien und Bulgarien.
29 Internationale Markteintrittsstrategien für deutsche Lebensversicherer
Versicherungsdichte*
Vorsorgequote**
Euro pro Kopf
in % des verfügbaren Einkommens
2000
1.597
9,93
2001
1.637
9,82
2002
1.705
10,16
2003
1.790
10,45
2004
1.844
10,56
2005
1.916
10,78
2006
1.967
10,84
2007
1.981
10,73
2008
2.006
10,50
2009***
1.988
10,75
2010***
1.950
10,00
Jahr
497
* Versicherungsbeiträge (für alle Sparten) pro Kopf der Bevölkerung ** Versicherungsbeiträge (für alle Sparten) in Prozent des verfügbaren Haushaltseinkommens *** geschätzt Quelle: GDV, eigene Berechnungen
Abb. 29.2: Marktdurchdringungs-Quoten
In den Ländern Zentral- und Osteuropas erreicht die Versicherungsdichte in Ukraine, Rumänien und Bulgarien bei weitem keine 100 Euro pro Kopf der Bevölkerung. Die Bürger in den Schwellenländern gaben 2008 im Durchschnitt umgerechnet 65 Euro pro Jahr für Versicherungen aus; immerhin aber 20% mehr als ein Jahr zuvor (vgl. Sigma). Mit einer Vorsorgequote von 10% liegen deutsche Verbraucher über dem Durchschnittsniveau in den Industrieländern. Die entsprechenden Quoten in den Emerging Marktes erreichen dagegen (nach Beobachtungen des GDV) in der Regel keine 3%. Der größte Teil der Ausgaben für Versicherungen entfällt in den Industrieländern auf Lebens-Policen. In den Emerging Markets überragt weithin noch das NichtLebengeschäft. Hier wird es darauf ankommen, mit dem allgemeinen Rückgang staatlicher Versorgungsversprechen die Bereitschaft und die Fähigkeit der Verbraucher zu stärken, neuartige, familienunabhängige Altersvorsorgeanstrengungen zu unternehmen.
498
Tim Braasch/Marcus Laakmann
Die Strukturen auf den neuen Märkten der Nicht-Industrieländer sind nicht durch Sättigungs-, sondern durch Unterversorgungstendenzen gekennzeichnet. Länder mit zunehmenden binnenwirtschaftlichen und weniger von Exportmärkten abhängigen Wachstumsimpulsen eignen sich vielleicht am ehesten für eine Internationalisierungsstrategie. Für ausgewählte Märkte wie Polen, Türkei oder Südafrika ermittelt der GDV schon seit Jahren (2002 bis 2007) Zuwachsraten von 10 bis 20% – ausgehend von niedrigen Basiswerten. Die aussichtsreichen Wachstumsmärkte in Mittel- und Osteuropa bedeuten in ihren sehr unterschiedlichen Strukturen jedoch besondere Herausforderungen auf dem Weg deutscher Lebensversicherer in die Internationalisierung. Die groß strukturierten Wachstumsmärkte, wie etwa Indien und andere asiatische oder südamerikanische Märkte, könnten dagegen die Kapazitäten vieler deutscher Lebensversicherer überstrapazieren. Schon jetzt, wenige Jahre nach dem Start der Allianz in Indien, ist in internen Kreisen klar: Das ursprüngliche Ziel, die Gewinnschwelle nach elf Jahren zu erreichen, kann nicht eingehalten werden. Nun kalkuliert man für 18 bis 20 Jahre mit hohen Markterschließungsaufwendungen.
2.2
Wettbewerbsverschärfung
Das regulatorische Umfeld gestaltet sich im Hinblick auf kommende Solvabilitätsvorschriften schwierig. Die aufsichtsrechtlichen Ansprüche an die Eigenkapitalausstattungen der Versicherer dürften im Nachgang zur jüngsten Finanzkrise eher steigen. Dieses gilt umso mehr, sofern die Kapitalmarktbedingungen tatsächlich von nachhaltig niedrigen Zinsen bestimmt bleiben und das Garantievolumen der Versicherer steigt. Die Eigenkapitalbasis deutscher Lebensversicherer hat sich 2008 nach Beobachtung von Swiss Re um etwa 30% verringert. Selbst in der EU wurde bislang noch kein einheitlicher Aufsichtsrahmen für Versicherer geschaffen. Erst recht unterscheiden sich die Regeln im Nicht-EU-Raum. In der Praxis können damit erhebliche Zusatzaufwendungen sowie nicht zu vernachlässigende Änderungsrisiken verbunden sein. Der innere Wachstumsdruck bestehender Organisationen bedeutet gerade für Unternehmen auf gesättigten Märkten wachsende Beanspruchungen. Der Grenznutzen weiterer Kostensenkungsmaßnahmen nimmt nach Jahren bereits realisierter derartiger Maßnahmen überproportional ab – im Vergleich zum dafür notwendigen weiteren Rationalisierungsaufwand. Kein Versicherer will sich ohne Not jenen internen und externen Diskussionen aussetzen, die gewöhnlich mit Einstellungsstopps oder gar Entlassungen verbunden sind. Für Versicherer gilt dieses besonders. Sie müssen der Öffentlichkeit vermitteln, sicher und auch in Zukunft leistungsfähig zu sein. Eine wohlüberlegte Expansion in Auslandsmärkte kann deshalb das betriebswirtschaftliche Gebot dieser Situation sein. Die großen deutschen Lebensversicherer sind – zumal als Ableger global aufgestellter Konzerne – in ihren externen Wachstumsmöglichkeiten auf dem Heimatmarkt limitiert. Weitere Übernahmen dürften wegen bereits bestehender hoher
29 Internationale Markteintrittsstrategien für deutsche Lebensversicherer
499
Marktanteile zunehmende Bedenken der deutschen Kartellbehörde auslösen. Die zehn größten deutschen Lebensversicherer konzentrieren 65% des deutschen Marktes auf sich. Für diese Adressen führt der Weg geradezu zwangsläufig auf ausländische Märkte. Mittlere und kleinere Lebensversicherer müssen andere Wege finden, um mit den Volumina ausländischer Wachstumsmärkte etwaige Defizite des Inlandsmarktes auszugleichen und Auslastung für bestehende Kapazitäten zu importieren. Zusammenschlüsse oder Kooperationen auf dem Heimatmarkt können sich für kleinere und mittlere Versicherer als zielführende Voraussetzungen für den Start einer Internationalisierungsstrategie erweisen. Die mit einer solchen Strategie verbundenen Investitionen und Folgekosten müssen in einem definierten Verhältnis zu den bestehenden Strukturen bleiben – und zwar einschließlich jener Belastungen oder so genannten Überraschungsaufwendungen, die wegen unvermeidlicher Unsicherheiten der vielfältigen künftigen Entwicklungen gerade auf fremden Märkten schwerlich zu kalkulieren sind. Versicherer wollen/müssen ihren Kunden in die Globalisierung folgen. Das betrifft auch das Lebensversicherungsgeschäft. Ins Ausland entsandte Mitarbeiter wollen/sollen dort die gleichen Absicherungsmöglichkeiten vorfinden, wie in der Heimat. Örtlich gewonnene Führungskräfte mit ihrem lokalen Knowhow können mit versicherungsspezifischen Absicherungen möglicherweise an ihre Arbeitgeber gebunden werden. Örtliche Vorschriften verlangen für solche Angebote vielfach die Präsenz örtlicher Gesellschaften mit all ihren Gründungs- und Betriebskosten sowie den besonderen Konsequenzen unterschiedlichster Aufsichtsregeln. Denkbar ist es zudem, dass früher oder später verschärfte Verbraucheransprüche an Social Governance Herstellern zusätzliche Versicherungsverpflichtungen auferlegt, die im Ausland zu erfüllen sein werden. Regionen mit erkennbaren Wachstumstendenzen zeichnen sich vielfach durch nicht christliche Glaubensprägungen aus. Versicherungslösungen für den islamischen Glaubensraum müssen dem Takaful-Konzept entsprechen. Es basiert auf den Regeln für das islam-gerechte Bankgeschäft. In Indien gewinnen Mikroversicherungen an Bedeutung, die in Zusammenarbeit mit Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO) angeboten werden und Nachahmung in anderen Regionen finden dürften. Mit Rechtsschutz oder landwirtschaftlichen Versicherungslösungen ist es mittelständischen deutschen Versicherern bereits gelungen, im Ausland Fuß zu fassen. Solche Absicherungen waren bis dahin dort unbekannt. Ähnliche Erfolge sind für Lebensversicherer mit innovativen Angeboten denkbar. Umgekehrt zeigen neuartige Produkte, die beispielsweise von Tochtergesellschaften in Luxemburg oder Irland entwickelt und zugelassen sind, wie neue Ideen aus dem Ausland nach Deutschland hineingetragen werden können. Solche Reimporte sind natürlich auch – beispielsweise aus Warschau oder Budapest – möglich, wenn dort günstigere regulative Rahmenbedingungen vorzufinden sind.
500
Tim Braasch/Marcus Laakmann
Versicherer sehen sich – genauso wie die Industrie – dem zunehmenden Druck ausgesetzt, die Kosten durch Verlagerung von Aufgaben ins Ausland zu senken. Bislang haben Finanzdienstleister erst 5% ihrer Arbeitsplätze an ausländische Standorte verlagert (GDV). Die vergleichsweise geringe Ausprägung dieses Offshoring mag ihre Ursache darin haben, dass IT-Dienste und sonstige, grundsätzlich verlagerungsfähige Nebenleistungen keine größeren Volumina aufweisen. Ferner hat der Installations- und Betreuungsaufwand in der Praxis gelegentlich die Planungen übertroffen. Die erhofften Einsparungseffekte haben nach Beobachtungen in Beraterkreisen selten die kalkulierten Umfänge erreicht. Die Liste der denkbaren Internationalisierungsmotive für deutsche Lebensversicherer ist sicherlich nicht abschließend aufgestellt. Schrumpfende Umfänge des deutschen Marktes setzen gegebenenfalls Kapital und Kapazitäten frei. Sie können mit neu gewonnenen Auslandsvolumina genutzt werden, um hohe Effektivitätsraten zu sichern und – durch niedrige Kostenbelastungen – attraktive Kapitalanlageergebnisse als Wettbewerbsfaktor einsetzen zu können. Durch Auslandskunden verjüngte Bestände wirken positiv auf die Liquiditätsstruktur zwischen Kapitalanlagen und Versicherungsleistungen. Demografisch und regional veränderte Bestandsstrukturen stellen ein diversifiziertes Risiko dar. Sie liefern einen positiven Faktor für jegliche Art von Rating und verbessern die Möglichkeiten für Verbriefungen von Risiken und die damit verbundene Steuerung der Kapitalstrukturen. Wachsende Erfahrungen mit den Risiken aus Internationalisierungen deutscher Versicherer verringern die Unsicherheiten, die mit der Durchführung solcher Strategien immer verbunden bleiben; sei es auf dem Gebiet regulatorischer Vorschriften oder politischer Umstände, sei es bei der Suche geeigneter anlernungsfähiger Mitarbeiter oder in der Übertragung bestehender IT-Systeme auf sprachliche und orthografische Umstände in neu erschlossenen Absatzmärkten. Die Aufbruchphase auf den Versicherungsmärkten einiger mittel- und osteuropäischer Beitrittsländer der EU ist bereits fortgeschritten. Nun gilt es, die Chancen in weiteren Ländern zu erschließen und gegebenfalls systematisch wahrzunehmen.
3
Leitprinzipien der Internationalisierung
In einer ersten Welle der Internationalisierung sind die Märkte Polen, Tschechien und Ungarn bereits von westlichen Anbietern besetzt. Dennoch ist die Versicherungsdichte mit Beiträgen von etwa 200 Euro pro Bürger in Polen oder 250 Euro in Ungarn noch weit vom Potenzial entfernt, das sicher nicht in der westeuropäischen Größenordnung von 2.000 Euro liegen wird. Doch selbst bis 1.000 Euro Jahresbeitragsvolumen pro Kopf (Kopfbeitrag) bieten auch diese Märkte noch erhebliche Wachstumsspielräume für schon im Ausland etablierte und möglicherweise noch hinzu kommende Anbieter. Dieses gilt zumal für Lebensversicherer, deren Produkte nach den zwingenden Sach-, Schaden- und Krankenversicherun-
29 Internationale Markteintrittsstrategien für deutsche Lebensversicherer
501
gen in der Regel erst an zweiter Stelle der Prioritätenliste der Verbraucher stehen. Die Lebensparten werden deshalb möglicherweise in den nächsten Jahren in diesen Ländern höhere Zuwachsraten aufweisen als Sach- und Krankenversicherungen. Fünf bis sieben Jahre Wachstum mit mehr als 20% liegen zwischen 200 bis 250 Euro Versicherungsdichte und einem Potenzial von 1.000 Euro. Grundsätzlich wird man ausländische Zielmärkte nach folgenden Kriterien auswählen:
3.1
Marktgröße
Märkte mit weniger als 500 Mio. Euro Beitragsvolumen pro Jahr (Sach und Leben) dürften noch nicht reif für die Aufnahme von internationalisierenden Anbietern sein. Kann ein Internationalisierer auf solchen Märkten einen Anteil von 5% erreichen, so wären das nur 25 Mio. Euro; wahrscheinlich zu wenig, um den Erschließungsaufwand für einen neuen Markt zu rechtfertigen. Die folgende Abbildung zeigt die Größenstrukturen in Europa (vgl. Abb.29.3).
Land
Versicherunsbeiträge 2008 in Mio. Euro
Versicherungsdichte Euro/Kopf
Sach + Leben
Leben
Sach + Leben
Leben
Russland
21.000
500
190
4
Türkei
5.750
800
81
10
Tschechien
4.580
2.300
560
230
Griechenland
4.200
2.400
416
215
Ungarn
3.500
1.850
350
186
Ukraine
2.500
130
65
3
Rumänien
2.000
490
115
23
Slowenien
1.800
660
1.040
330
Slowakei
1.600
960
385
180
Kroatien
1.200
360
300
80
Bulgarien
750
130
125
17
Serbien
500
80
88
10
Lettland
420
30
215
12
Estland
350
85
272
63
Quelle: Sigma, ausgewählte Länder, eigene Berechnungen
Abb. 29.3: Versicherungsbeiträge und -dichte in Europa
502
Tim Braasch/Marcus Laakmann
Das schwach ausgeprägte Leben-Geschäft in der Türkei mag mit der Herausforderung zusammenhängen, die Policen islam-gerecht konstruieren zu müssen. Möglicherweise eröffnet der große Anteil türkischer Mitbürger in Deutschland ein Knowhow-Potenzial, um diesen Takaful-Ansprüchen mit neuen Policen-Konzepten gerecht werden zu können. Aufbauend auf solchen Erfahrungen, könnte die Internationalisierung im islamisch geprägten Raum fortgesetzt werden, sofern dort in den einzelnen Ländern überhaupt schon die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind, um Lebensversicherungspolicen ausländischer Garanten anbieten zu können. Die Türkei weist allerdings für 2008 ein inflationsbereinigtes Minus-Wachstum des Lebensgeschäftes auf. Der nominelle Zuwachs von 10% – gerechnet in Türkischer Lira – verwandelt sich nach Abzug der Inflationsrate in ein Minus von 0,3%. Auch Griechenland, Tschechien und Ungarn weisen inflationsbereinigt teilweise deutliche Minus-Raten auf, während die Slowakei nach Einführung des Euro für das Jahr 2008 ein Real-Wachstum von 10,9% erreichte. Der slowenische Markt ist dagegen schon umfangreicher versorgt. Er verharrrt 2008 real und in Landeswährung Euro in Stagnation. Serbien meldet – anders als Kroatien oder Bulgarien – in Nicht-Euro-Landeswährung real mehr als 20% Zuwachs. Die großen Märkte Südafrika und Israel sind schon vergleichsweise gut versorgt. Dennoch wuchs das Prämienaufkommen in Südafrika 2008 in Landeswährung Rand nominal um 17%, real um 5%. Indonesien ist – wie fast alle anderen Länder dieser Liste – islamisch orientiert. Die fernöstlichen Märkte liegen – unabhängig von der religiösen Prägung – zunächst eher im Einflussbereich japanischer Versicherer. Die nordafrikanischen Märkte sind (noch) nicht für ausländische Anbieter geöffnet. Der indische Markt stagnierte 2008. Ein besonderer Markt scheint sich in Indien für Mikroversicherungen zu entwickeln, die in Zusammenarbeit mit NGO angeboten werden und dem Prinzip der Grameen Bank von Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus nachempfunden sind. Möglicherweise eignet sich auch das genossenschaftliche oder das Vereins-Prinzip in besonderer Weise für neue Märkte. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (V.A.E.) verzeichneten 2008 im Leben-Geschäft Zuwächse von real 65 beziehungsweise 17%. Dabei bewegt sich Saudi-Arabien jedoch noch auf einem sehr niedrigen Niveau. Der wachsende Bedarf an Takaful-Policen findet offenbar bereits Anbieter, die ihn decken können. Der chinesische Leben-Markt wuchs 2008 um real 41%. China Life-Insurance zählt mit einem Börsenwert von umgerechnet mehr als 20 Mrd. Euro heute bereits zu den Anbietern, die im Weltmaßstab operieren. Und das ist nicht der einzige Großversicherer, der den gesellschaftlich und sprachlich streng abgeschotteten Mega-Markt bedient. In Russland sowie im benachbarten Ölland Kasachstan haben sinkende Ölpreise die Neigung und Fähigkeit Altersvorsorgeverträge abzuschließen zunächst mal erheblich schrumpfen lassen. Der russische Leben-Markt erreicht im Vergleich zu China nicht mal ein Hunderstel des dortigen Umfanges (vgl. Abb. 29.4).
29 Internationale Markteintrittsstrategien für deutsche Lebensversicherer
Land
Versicherungsbeiträge 2008 in Mio. Euro
503
Versicherungsdichte Euro/Kopf
Sach + Leben
Leben
Sach + Leben
Leben
VR China
98.000
67.000
75
50
Südkorea
68.000
46.500
1.400
950
Indien
39.000
34.000
33
29
Südafrika
30.000
24.000
610
500
Israel
7.500
3.800
1.100
550
Indonesien
4.830
3.300
21
14
V.A.E.
3.500
650
800
150
Iran
2.900
200
40
3
Saudi-Arabien
2.200
110
85
4
Marokko
1.800
600
60
19
Ägypten
970
450
13
6
Pakistan
800
330
5
2
Kasachstan
800
35
50
2
Algerien
750
60
21
2
Kuwait
650
150
220
50
Libanon
600
200
150
50
Tunesien
500
62
50
6
Jordanien
300
36
50
6
Quelle: Sigma, ausgewählte Länder, eigene Berechnungen
Abb. 29.4: Versicherungsbeiträge und -dichte außerhalb Europas
In Südamerika weisen die großen Märkte, mit Ausnahme von Argentinien, auch real Wachstumsraten auf. Die Versicherungsdichte ist in Venezuela mit umgerechnet 250 Euro pro Kopf für das Gesamtgeschäft und 150 Euro in Leben am ausgeprägtesten. Die übrigen Länder – einschließlich Brasilien und Mexiko – liegen meist deutlich unter diesen Werten.
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Tim Braasch/Marcus Laakmann
3.2
Marktumfeld
Dank der Einbindung in die EU sind die zentral- und osteuropäischen Märkte für deutsche Lebensversicherer heute vergleichsweise gut erreichbar. Die EU zeichnet sich allerdings auch auf dem Gebiet der Versicherungen eher durch Wettbewerb unterschiedlicher Systeme aus als durch Vereinheitlichung nationaler Vorschriften. Möglicherweise bleiben Regelungen auch deshalb bestehen, um kleine lokale Anbieter im Wettbewerb mit kapitalkräftigen westeuropäischen Finanzkonzernen zu schützen. Schwierig zu erfassende und zu bewertende Unterschiede der Mentalitäten und Kulturen sind mit zunehmender Distanz zu den Märkten zu berücksichtigen. Hier kommt es besonders darauf an, mit örtlichen Denkweisen umzugehen, anstatt deutsche Denkweisen durchsetzen zu wollen. Auf diese Weise kann es gelingen, den Image-Vorteil, den deutsche Produkte und Dienstleistungen allgemein immer noch genießen, in konkrete Geschäftsabschlüsse umzumünzen. Mehr als vielleicht in produzierenden Unternehmen kommt es für Versicherer darauf an, in ausreichendem Umfange fähige Mitarbeiter zu finden, die nach Ausbildung und Erscheinungsbild in der Lage sind oder sein werden, um als Vertrauen erweckende Vertreter der Anbieter bei Kunden vorzusprechen. Versicherungen sind und bleiben – gerade auf wenig erschlossenen Märkten – beratungsintensive, individuelle Geschäfte. Die Standardisierungsansprüche des Vertriebsweges Internet sind mit diesen Bedingungen schwerlich in Einklang zu bringen. Umso mehr kommt es darauf an, genügend anlernfähige und ausbildungswillige Mitarbeiter vor Ort einstellen zu können, die bereit sind, Engagement zu investieren, um später auf Erfolgsbasis entlohnt zu werden. Zuverlässige Vorprüfungen dieser Umstände und hochsensibler Umgang mit speziellen Bedingungen vor Ort sind ganz wesentliche Voraussetzungen für Umsetzung und Erfolg der Internationalisierungsstrategie. Es ist auch vorstellbar, Märkte anzusteuern, die heute noch nicht 500 Mio. Euro Jahresbeitragseinnahmen aufweisen. Dieses gilt vielleicht dann, wenn aktuell verabschiedete neue gesetzliche Regelungen künftig eine besonders dynamische Entwicklung erwarten lassen oder wenn gerade eine besonders attraktive Möglichkeit besteht, vielleicht durch eine Übernahme in einen Markt hineinzukommen. In jedem Fall müssen Versicherer sich laufend und zuverlässig über die Entwicklungen und Möglichkeiten auf den internationalen Märkten informieren (lassen). Wo positive Regeländerungen denkbar und wünschenswert sind, dürfen jedoch auch die Unsicherheiten möglicher negativer Regel- und Gesetzesänderungen grundsätzlich nicht negiert werden. Sie bleiben letztlich eine nicht zu vermeidende Risiko-Komponente. Auch diese Komponente hat maßgebliche Auswirkungen auf die Art und Weise, wie nach Ende des Auswahlprozesses die Internationalisierung verwirklicht wird.
29 Internationale Markteintrittsstrategien für deutsche Lebensversicherer
4
505
Durchführungswege der Internationalisierung
Die Planung der Internationalisierung erfolgt in verschiedenen Dimensionen sowie jeweils unter günstigen und ungünstigen Umständen: • Welche Investitionen kann der Internationalisierer für welche Zeit stemmen, ohne seine Leistungskennziffern und sein Rating zu gefährden? • Welche Investitionen und Folgeaufwendungen erfordert der Eintritt in einen neuen Markt? • Wie wird die künftige Geschäfteinheit gesteuert? Für die Durchführung der Planungen könnte es zielführend sein, neben internen lnstanzen auch externe Stellen zu betrauen, die diesen vielschichtigen Prozess mit völlig neutraler Sichtweise angehen. Dabei geht es nicht nur darum, die nachhaltige Investitionsfähigkeit eines Internationalisierers zu ermitteln und die Entwicklung des Zielmarktes zu erfassen. Es muss auch darum gehen, etwaige Gegenmaßnahmen von Mitbewerbern – vielleicht mit den Verfahren der Spieltheorie – abzuschätzen.
4.1
Fähigkeit zur Internationalisierung
Die Ermittlung der Investitionsfähigkeit soll hier nicht weiter vertieft werden. Entscheidend wird es darauf ankommen, die Innenfinanzierungskraft zu ermitteln und gegebenenfalls zu verbessern sowie Möglichkeiten externer Kapitalzuführungen abzuschätzen. Mitzuberücksichtigen ist die Perspektive, dass die jüngste Finanzmarktkrise zu einer Erhöhung der kommenden Solvabilitätsanforderungen führen dürfte. Der theoretische Vorteil börsennotierter Gesellschaften kann sich in Zeiten schlechter Anlagestimmung durchaus ins Gegenteil verkehren. Hohe laufende Kosten der Kapitalmarktbetreuung (Investor Relations) werden im schlimmsten Fall sogar noch durch negative Image-Wirkungen schlechter Kurse getoppt. Nur ausreichend hohe Kurse und die nachhaltige Fähigkeit, unter Umständen auch ein erhöhtes Kapital mit guter Dividende bedienen zu können, erschließen börsennotierten Gesellschaften die elegante Lösung, Investitionen mit Papiergeld, sprich mit Aktien, bezahlen zu können. Grundsätzlich denkbar ist es sogar, in schlechten Börsenzeiten eigene Aktien zu niedrigen Kursen an der Börse zurückzukaufen, um sie später zu besseren Kursen als Investitions- oder Internationalisierungswährung einzusetzen. Das spart Kapital und Dividendenvolumen. Eine solche Strategie erfordert jedoch nicht nur eine ausgeprägte Portion Optimismus für den Verlauf des Kapitalmarktes, sondern auch die hohe Gewissheit, dass die gewünschten verbesserten Aktienkurse auch mit guten Zahlen, ansprechenden Perspektiven und durchschlagkräftiger Strategie für das Finanzmarketing verbunden sein werden.
506
Tim Braasch/Marcus Laakmann
4.2
Wege der Internationalisierung
Das Spektrum der Möglichkeiten reicht grundsätzlich von Greenfield-Operations über Kooperationen und Fusionen bis zur Übernahme eines lokalen Anbieters. Im Detail kommt es auf die örtlichen Gegebenheiten an. Alle Aktionen stehen unter der Maxime: „All business is lokal“. Diese Maxime findet ihre Grenzen an der Stelle, wo unterstützende Vertriebsmaßnahmen und/oder abrechnungsspezifische Prozesse in bestehende IT-Systeme eingebunden – und gegebenfalls angepasst werden müssen. Hier gilt das Primat des bestehenden Systems. 4.2.1 Greenfield-Operations Ein Start auf der „grünen Wiese“ verliert seine größten Mühen, wenn die Produkte des Internationalisierers in eine bereits bestehende Vertriebsorganisation eingebracht werden können, sei es in ein bestehendes Banknetz oder in eine unabhängige Vertretergruppe. Für Schulungen und als Leistungsanreiz bieten sich Reisen nach Deutschland an. Der Vorteil von Greenfield-Operations liegt darin, dass – abgesehen vom Marktforschungs- und Schulungsaufwand – keine Investitionen notwendig sind. Die Vertriebsorganisation wird nach Erfolg bezahlt; vielleicht sogar mit – in gewissem Umfang – steigenden Sätzen für steigende Umsätze. Greenfield-Operations eigenen sich auch für weniger große Lebensversicherer. Als Nachteil können sich fehlende Exklusivität des Produktes in der Vertriebsorganisation erweisen sowie unzureichende Einflussmöglichkeiten auf die Verkaufsanstrengungen der Vertriebseinheit. Dieser Durchführungsweg erweist sich in der Praxis oft als langwierig mit entsprechend geringen DynamisierungsEffekten für den deutschen Lebensversicherer. Erfolgreiche Greenfield-Operations können ihre Fortsetzung in der Gründung von Niederlassungen und Tochtergesellschaften finden. 4.2.2 Kooperationen/Fusionen Die Zusammenarbeit in derartigen Joint-Ventures-Strukturen kann ein wenig konfliktreicher Weg für den Eintritt in neue Märkte sein. Voraussetzung ist, die Partner passen zusammen und die Zusammenschlüsse scheitern nicht womöglich daran, dass beispielsweise ein als Verein strukturierter Teil des Gemeinschaftsunternehmens die besonderen Kapitalmarktzwänge des börsennotierten anderen Teils nicht mittragen will. Lasten und Erfolge sollten am besten gleichverteilt sein und auch nach Jahren noch in gleicher Weise „gelebt“ werden. In dieser Bedingung liegt eine natürliche Schwierigkeit – und zwar in der Form, wie sich Kooperationspartner intern weiterentwickeln. Mit der Befristung von Kooperationen lassen sich die Folgen derartiger Komplikationen begrenzen. 4.2.3 Übernahmen Für Versicherungsunternehmen ist Human-Capital ein besonders wertvoller Faktor. Bei vollständigen oder mehrheitlichen Übernahmen von Finanz-Kapital (Grund- oder Stammkapital) wird der Know-How-Faktor der Mitarbeiter (Hu-
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507
man-Capital) in der Regel mit hohen Goodwills bezahlt sowie mit der Übernahme von zwei Risiken: Human-Capital ist hoch-flüchtig, sofern nicht Modelle umgesetzt werden, wie die Know-How-Träger an das aus der Übernahme entstehende, planmäßig leistungs- und aussichtsstärkere Unternehmen gebunden werden können. Das zweite Risiko besteht – neben der Kapitalbindung aus der Übernahme – im grundsätzlich abschreibungspflichtigen Goodwill. Außer dem Übernahme- und Expansionsfolgeaufwand des entstehenden Unternehmens belasten die GoodwillKosten zusätzlich. Sofern dieses nicht in der Planung und Preisfindung der Übernahme berücksichtigt werden konnte, führt dieser Aufwand fast zwangsläufig zu ungünstigeren Ergebnisentwicklungen und zu Abschreibungen auf den Goodwill. Der Erfolg der Internationalisierung wird ganz entscheidend von einer gründlichen Vorbereitung sowie von einer motivierenden Durchführung abhängen. Vorbereitende und begleitende, wohl abgestimmte PR- und Werbemaßnahmen sind unerlässlich. Ganz wichtig wird es sein, den richtigen (Firmen)-Namen für die Auslandsaktivität zu finden. Ziel muss es ein, lokale Marken mit dem Imagegewinn des „Made in Germany“ aufzuladen In Abhängigkeit vom Dynamisierungsbedarf im Heimatmarkt ist ein Durchführungsweg zu wählen, der spürbare Effekte verspricht. 50:50 Joint-Ventures oder Minderheitsbeteiligungen lassen diese Effekte vermissen. Ihnen fehlt die bilanzielle Konsolidierungsmöglichkeit für die Auslandsaktivitäten. Nicht-Mehrheitsbeteiligungen gehen nur indirekt (at equity) in die Berichterstattung ein, wo sie lediglich in nicht konsolidierten Gruppenzahlen dargestellt werden können.
4.3
Steuerung der internationalen Expansion
Führung und Controlling der internationalen Aktivitäten folgen im Grundsatz ebenfalls dem Prinzip „all business is lokal“. So weit wie möglich wird die Verantwortung für Auslandsmärkte im Ausland liegen; aufbauend auf dem tiefgehenden Corporate-Governance-Verständnis der Muttergesellschaft und versehen mit wohl verstandenen Zielvorgaben für die Auslandsaktivitäten. So wenig wie möglich wird sich die Muttergesellschaft – abgesehen von der Formulierung der Unternehmensstrategie – in Entscheidungen vor Ort einschalten. Die Verantwortung für das ausländische Vertriebsgeschäft und möglicherweise auch für diese gesamte Auslandsaktivität wird dementsprechend in der Hand eines lokalen Erfahrungsträgers liegen. Er berichtet an den Vertriebschef der Muttergesellschaft, der seinerseits dem allgemeinen Controlling des Lebensversicherers unterliegt. Schadenmanagement und Kapitalanlage eignen sich für zentrale Abwicklungsverfahren und damit für die Realisierung von Skaleneffekten. Dass für lokale Versicherungsverpflichtungen auch lokale Kapitalanlagen vorzuhalten sind, steht einer Zentralsteuerung nicht entgegen. Dieses gilt insbesondere für Fremdwährungsverpflichtungen. Unter Gesichtspunkten der Risikodiversifikation könnte es unter
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Umständen sogar geboten sein, die Verpflichtungen in einem Land von den Deckungsanlagen für diese Verpflichtungen zu trennen. Grundsätzlich muss die Führung eines Auslandsengagements den Strategievorgaben des internationaliserenden deutschen Lebensversicherers – nicht zuletzt in punkto Kapitalrendite – ebenso entsprechen wie den speziellen Ansprüchen des Human-Capitals vor Ort. Gelingt es, diese zunächst möglicherweise gegenläufigen Punkte durch geschickte Einbindung der Parteien in Ziele und Incentives in Gleichlauf zu lenken, dürften wichtige, steuerbare Elemente der Internationalisierung bereits gelungen sein.
5
Schlussbemerkung
Die Globalisierung führt nicht nur zu einer Internationalisierung der Märkte. Sie führt auch zu einer Globalisierung von Krisen und Konjunkturschwankungen. Die jüngsten Negativwirkungen zu weit gehender Liberalisierungen der Märkte könnten zunächst eine Zunahme von Vorschriften und Kontrollen auslösen, die in ihrer regionalen Unterschiedlichkeit durchaus geeignet sind, wie Handelsschranken zu wirken. Letztlich wird die Globalisierung jedoch zu (weiteren) Wohlstandsmehrungen in den vielfach noch von traditionellen Lebensstilen geprägten Wachstumsregionen führen (müssen). Damit wächst dort nicht nur der Bedarf, erworbene Vermögenswerte gegen Zufälle des Lebens abzusichern. Es wächst auch das Bedürfnis, einen erreichten Lebensstandard über die aktive Zeit hinaus und unabhängig von moralischen Verpflichtungen der Familien zu sichern. Die deutsche Lebensversicherung hat sich als Erfolgsmodell bewährt. Konsequent fördert sie das Image deutscher Gründlichkeit und Zuverlässigkeit. Das Modell eignet sich uneingeschränkt für die Verbreitung in den aufstrebenden Regionen. Es eignet sich umso mehr, als es gelingt, das Modell an regionale Spezialitäten beispielsweise des besonders dynamischen islamischen Raumes anzupassen. Gerade die weithin durchaus gelungene Integration türkisch-stämmiger, islamgläubiger deutscher Mitbürger kann sich als wichtiger Kompetenzfaktor für internationalisierungswillige deutsche Lebensversicherer erweisen; wohlwissend, dass die bereits weiter fortgeschrittene Integration arabisch-stämmiger Franzosen dortigen Versicherern eine ähnliche Basis für deren Expansion in den einheitlichen Sprach- und Kulturraum bietet, der aus der Region Mittel-Ost bis nach WestAfrika reicht.
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Literatur Deutsche Bundesbank, Direktinvestitionen deutscher Versicherungsunternehmen im Ausland, Frankfurt, 2009. Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), Berlin, 2009. Schweizerische Rückversicherung-Gesellschaft AG (Swiss Re), Economic Research & Consulting, Assekuranz Global 2008, Sigma Nr.3/2009, Zürich, 2009, S. 16. Statistisches Bundesamt Deutschland (Destatis), Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung, Private Konsumausgaben und Verfügbares Einkommen, 1. Quartal 2009, Beiheft zur Fachserie 18, Wiesbaden, 2009.
Autorenverzeichnis
Blodau, Tobias Tobias Blodau studierte Wirtschaftsmathematik mit Schwerpunkt Versicherungen an der Universität Hamburg. Er war im Controlling großer und mittelständischer Versicherungsunternehmen tätig, seit 2000 in leitender Funktion. Er setzt dabei insbesondere Schwerpunkte im Kostenmanagement, der wertorientierten Steuerung und dem Risikomanagement von Versicherungsunternehmen. Heute ist er Leiter der Unternehmensplanung der HanseMerkur Versicherungsgruppe in Hamburg. Braasch, Tim Tim Braasch studierte Wirtschaftsinformatik an der Fachhochschule Wedel. Er ist Geschäftsführender Gesellschafter der 67rockwell Consulting GmbH und verantwortet dort die Bereiche Unternehmensstrategie, Marketing und Vertrieb. Seit 1993 berät er führende nationale und internationale Versicherungen und Banken in Deutschland und Europa in Fragestellungen der Strategie- und IT-Strategieentwicklung, operativer Effizienzsteigerung, Sanierungen und Restrukturierungen sowie Post-Merger-Integration. Brajak, Robert Robert Brajak studiert, nach seiner Ausbildung zum Versicherungskaufmann, Betriebswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt Marketing an der Universität Hamburg. Danisch, Michael Michael Danisch war bis 1995 viele Jahre in Fach- und Führungspositionen in den USA, Portugal, Ungarn, Slowenien, Österreich und Deutschland tätig. Anschließend war er sechs Jahre Seniorberater bei Roland Berger Strategy Consulting. Seit 1995 ist er als Unternehmensberater mit dem Branchenschwerpunkt Versicherungswirtschaft selbstständig und seit 2009 für die 67rockwell Consulting GmbH tätig. Seine Beratungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Unternehmensanalyse, Geschäftsprozessgestaltung/und -optimierung, Integrationsmanagement sowie der strategischen Organisationsentwicklung. De Marco, Nicolai Nicolai R. De Marco studiert, nach seiner Ausbildung zum Versicherungskaufmann, Betriebswirtschaftslehre mit dem Schwerpunkt Marketing an der Universität Hamburg.
M.P. Zerres, M. Reich (eds.), Handbuch Versicherungsmarketing, DOI 10.1007/978-3-642-10276-9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2010
512
Autorenverzeichnis
Dorka, Michael Michael Dorka arbeitet, nach seinem Masterstudium Human Resource Management an der Universität Hamburg, im Management eines großen Versicherungsunternehmens. Emrich, Christin Dr. Christin Emrich lehrt und forscht seit Jahren zu interkulturellen Aspekten des Marketing und zum Multichannel-Management. Als Dozentin an den Universitäten Hamburg, Köln und Berlin ist Sie verantwortlich für die Ausbildung von Studierenden im Bereich Marketing, Management sowie Methodenlehre. Sie ist Autorin zahlreicher Fachpublikationen. Außerdem ist sie Gründerin und Geschäftsführerin eines Beratungsunternehmens. Fabisch, Nicole Prof. Dr. Nicole Fabisch lehrt und forscht seit Jahren über Ethik im Marketing, Corporate Social Responsibility (CSR) und Verantwortung im Management. Sie promovierte an der Universität Hamburg über „Soziales Engagement von Banken“. Sie ist Professorin für Marketing und Internationales Management an der privaten Fachhochschule Euro Business College Hamburg. Gal, Jens Dr. Jens Gal lehrt und forscht am Institut für Versicherungsrecht der Goethe Universität Frankfurt. Heußner, Matthias Matthias Heußner nimmt, nach einer Ausbildung zum Bankkaufmann und einem Studium der Wirtschaftspsychologie an der Universität Lüneburg (Bsc), zur Zeit am Masterstudiengang Entrepreneurship der Universität Hamburg teil. Hodann, Jörg Jörg Hodann studierte, nach einer Ausbildung zum Versicherungskaufmann, Betriebswirtschaft an der Universität Passau. Nach einigen Jahren in der Unternehmensentwicklung eines führenden Lebensversicherers wechselte er zur Mummert & Partner Unternehmensberatung. Seit 2008 leitet er als Senior Manager Projekte mit den Schwerpunktthemen Post Merger Integration, Vertriebsmanagement, Wachstum, Unternehmenssteuerung sowie bAV für 67rockwell Consulting GmbH. Hübenthal, Torsten Torsten Hübenthal studierte Wirtschaftinformatik an der Fachhochschule Nordostniedersachen und der University of Wolverhampton. Er ist seit 1997 als Berater in der Versicherungsbranche tätig und arbeitet seit 2008 als Senior Manager bei der 67rockwell Consulting GmbH. Er besitzt langjährige Erfahrungen in Projekt- und Anforderungsmanagement in großen IT-Projekten. Sein Beratungsfokus liegt im Sachversicherungsbereich mit dem Schwerpunkt Produkt- und Bestandsmanagement.
Autorenverzeichnis
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Hülsing, Andreas Andreas Hülsing arbeitet im Management eines großen Versicherungsunternehmens. Seine akademische Ausbildung schloss er mit einem Diplom der Universität Hamburg in Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Marketing ab. Jagoda, Martha Martha Jagoda arbeitet, nach ihrem Studium “Medien und Informationswesen“, an der Hochschule Offenburg als Wissenschaftliche Mitarbeiterin. Sie promoviert am Institute of Media Business, Stuttgart, zum Thema Markenpolitik im Mittelstand. Kresse, Torsten Torsten Kresse, Dipl.-Wirtsch.-Inf., studierte Wirtschaftsinformatik an der Universität Leipzig mit den Schwerpunkten Versicherungsbetriebslehre und Versicherungsinformatik. Er ist Consultant bei der 67rockwell Consulting GmbH mit den Schwerpunkten Corporate-Performance-Management, Post-Merger-Integration, Effizienzsteigerung sowie Business-Process-Reengineering. Laakmann, Marcus Marcus Laakmann, Dipl.-Kfm., studierte Betriebswirtschaftlehre an der Universität Hamburg. Er ist Manager bei der 67rockwell Consulting GmbH und dort spezialisiert auf Unternehmensstrategie, Organisationsentwicklung und Effizienzsteigerung in den Branchen Versicherungen und Logistik. Paprottka, Stephan Dr. Stephan Paprottka, Dr. rer. pol. und Dipl.-Kfm., studierte Betriebswirtschaftslehre an der Universität Hamburg und der University of California. Er promovierte während seiner Tätigkeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Prof. Dr. Dr. hc. mult. H. Jacob. Dr. Paprottka ist Gründer und Geschäftsführender Gesellschafter der 67rockwell Consulting GmbH. Neben der Unternehmensstrategie und der kaufmännischen Leitung ist er auch für das operative Consulting bei der 67rockwell Consulting GmbH verantwortlich. Seit 1990 berät er schwerpunktmäßig in den Branchen Versicherungen, Medien/Verlage und Telekommunikation. Pietzsch, Oliver Oliver Pietzsch, Dipl.-Kfm. und Dipl.-Umweltwiss., studierte Betriebswirtschaftslehre und Umweltwissenschaften an der Universität Lüneburg. Er ist Senior Consultant bei der 67rockwell Consulting GmbH. Seine Beratungsschwerpunkte sind Unternehmensstrategie, Vertriebsmanagement, Effizienzsteigerung und Personalmanagement in den Branchen Versicherungen, Banken und Energiewirtschaft. Plankert, Nicole Dr. Nicole Plankert hat an der FernUniversität Hagen sowie der RWTH Aachen Wirtschaftswissenschaften mit den Schwerpunkten Marketing und Unternehmensrecht studiert und an der Universität Hamburg im Bereich Marketing promoviert. Sie ist Senior Referentin bei der Deutschen Telekom AG in Bonn.
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Reich, Michael, Dr. Michael Reich, Dr. rer pol. und Dipl.-Wi.-Ing., studierte Wirtschaftsingenieurswesen an der Universität Hamburg und TU Harburg. Er ist Gründer und Geschäftsführender Gesellschafter der 67rockwell Consulting GmbH und zuständig für die Unternehmensstrategie und Human Resources. Zuvor war er bei Roland Berger Strategy Consultants, KPMG Consulting und Steria Mummert Consulting tätig. Er verfügt über langjährige Erfahrungen als Strategieberater mit den Schwerpunktthemen Post-Merger-Integration, Effizienzsteigerung und Restrukturierung sowie Personalauswahlprozesse. Daneben nimmt Dr. Reich Dozententätigkeiten an verschiedenen Hochschulen (HAW Hamburg, Northern Business School Hamburg, Universität Hamburg) wahr. Rohbock, Ute Prof. Dr. Ute G. Rohbock ist Hochschullehrerin für Medienmarketing an der Fakultät Medien und Informationswesen der Hochschule Offenburg. Vor ihrer Berufung war sie viele Jahre in führenden Positionen im internationalen Kommunikations- und Medienmanagement tätig; darüber hinaus lehrte sie in den Fachgebieten Kommunikations- und Wirtschaftswissenschaften an verschiedenen Hochschulen und Universitäten. Sie promovierte an der Universität Hamburg über Marketingmanagement in kleinen und mittleren Werbeagenturen. Rosenbaum, Markus Markus Rosenbaum, Dipl.-Kfm., ist Gründer und Geschäftsführender Gesellschafter der Versicherungsforen Leipzig - Gesellschaft für angewandte Versicherungswissenschaft mbH, einem Unternehmen, das seit vielen Jahren als „Brückenbauer“ zwischen Wissenschaft und Versicherungspraxis agiert. Schramm, Thorsten Thorsten Schramm, Dipl.-Wi.-Ing., studierte Wirtschaftsingenieurwesen an der Universität Hamburg und der TU Harburg. Er ist Senior Manager bei der 67rockwell Consulting GmbH. Seine Beratungsschwerpunkte sind Post Merger Integration, Change Management, Effizienzsteigerung sowie Strategieentwicklung und -operationalisierung in den Branchen Versicherungen und Telekommunikation. Schumacher, Uwe Uwe Schumacher studierte Informatik, Physik und Wissenschaftspublizistik in Hamburg. Bis 1996 arbeitete der Diplominformatiker als Unternehmensberater in zahlreichen Projekten für namhafte Versicherungsunternehmen. Sein Schwerpunkt lag bei der Einführung neuer Versicherungsprodukte und Arbeitsprozesse sowie entsprechender EDV-Lösungen. 1996 folgte der Wechsel zur Direct Line Versicherungs AG. 2000 wurde er zum Vorstand berufen und ist seit 2008 Vorstandsvorsitzender des Unternehmens. Schwarz, Torsten Torsten Schwarz, Dipl.-Inf., studierte Informatik an der Fachhochschule Hamburg und der University of Hertfordshire. Er ist Senior Manager bei der 67rockwell Consulting GmbH. Seine Beratungsschwerpunkte sind Post Merger
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Integration, Management- und Strategieberatung in der IT, Projektmanagement sowie Machbarkeits- und Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen von IT-Projekten in den Branchen Versicherungen, Telekommunikation und Energiewirtschaft. Soldat, Arne Matthias Arne Matthias Soldat, Dipl.-Kfm., studierte Betriebswirtschaftlehre an der FHDW Paderborn. Er ist Consultant bei der 67rockwell Consulting GmbH. Seine Beratungsschwerpunkte sind Vertriebsmanagement und Effizienzsteigerung in der Versicherungsbranche. Sutor, Tim Tim Sutor, Dipl.-Kfm., studierte Betriebswirtschaftlehre an der Universität Hamburg. Er ist Senior Consultant bei der 67rockwell Consulting GmbH. Seine Schwerpunkte sind Unternehmensstrategie, Marketing und Organisationsentwicklung in der Versicherungsbranche. Weihs, Andreas Andreas Weihs studierte Sozialökonomie an der Universität Hamburg und der Northumbria University mit den Schwerpunkten Marketing, Betriebswirtschaftslehre und Human Resource Management. In 2010 wird er zudem den MiBA an der Northumbria University mit dem Schwerpunktthema Strategische Unternehmensführung abschließen. Wepner, Adrian Adrian Wepner, Dipl.-Wi.-Ing., studierte Wirtschaftsingenieurswesen an der Universität Hamburg und der TU Harburg. Er ist Manager bei 67rockwell Consulting GmbH mit den Schwerpunkten Post Merger Integration, Effizienzsteigerung sowie Organisationsaufbau. Weske, Dirk Dirk Weske, Dipl.-Inf., studierte Informatik und Betriebswirtschaftslehre in Hamburg. Er ist Geschäftsführender Gesellschafter der 67rockwell Consulting GmbH. Seine Schwerpunktthemen sind IT-Strategie, IT-Großprojektmanagement für Versicherungen sowie die operative Gestaltung von Prozessen an der Schnittstelle zwischen Fachbereichen und IT. Zerres, Michael Prof. Dr. Michael Zerres ist Hochschullehrer für Betriebswirtschaftslehre, speziell Marketing, an der Universität Hamburg. Er hat sich in Wissenschaft und Praxis auf strategische Unternehmensführung spezialisiert.
Hinweis: Ein Kontakt zu den einzelnen Autorinnen und Autoren findet über die Herausgeber statt: 67rockwell Consulting GmbH, Große Elbstraße 45, 22767 Hamburg
[email protected] www.67rockwell.de