Fritz Böhle G. Günter Voß Günther Wachtler (Hrsg.) Handbuch Arbeitssoziologie
Fritz Böhle · G. Günter Voß Günther Wachtler (Hrsg.) Unter Mitarbeit von Anna Hoffmann
Handbuch Arbeitssoziologie
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1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15432-9
Inhaltsverzeichnis
Vorwort Einführung Fritz Böhle, G. Günter Voß, Günther Wachtler
9 11
Teil A: Arbeit Kapitel I: Arbeit als Grundlage menschlicher Existenz Was ist Arbeit? Zum Problem eines allgemeinen Arbeitsbegriffs G. Günter Voß
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Zur historischen Entwicklung des Verständnisses von Arbeit Georg Jochum
81
Arbeit und Gesellschaft Gert Schmidt
127
Kapitel II: Arbeit als menschliche Tätigkeit Arbeit als Handeln Fritz Böhle
151
Arbeit als Interaktion Wolfgang Dunkel, Margit Weihrich
177
Kapitel III: Strukturwandel von Arbeit Strukturwandel der Arbeit im Tertiarisierungsprozess Heike Jacobsen
203
Teil B: Gestaltung und Entwicklung des Arbeitsprozesses Kapitel IV: Rationalisierung von Arbeit Technisierung von Arbeit Sabine Pfeiffer
231
6
Inhaltsverzeichnis
Organisierung und Organisation von Arbeit Manfred Moldaschl
263
Rationalisierung und der Wandel von Erwerbsarbeit aus der Genderperspektive Brigitte Aulenbacher
301
Kapitel V: Kontrolle von Arbeit Herrschaft und Kontrolle in der Arbeit Kira Marrs
331
Kapitel VI: Gratifizierung von Arbeit Lohn und Leistung Klaus Schmierl
359
Kapitel VII: Gestaltung von Beschäftigungsverhältnissen Betriebliche Beschäftigungspolitik Christoph Köhler, Alexandra Krause
387
Teil C: Gesellschaftliche Akteure und Institutionen von Arbeit Kapitel VIII: Subjekt und Arbeitskraft Arbeit und Subjekt Frank Kleemann, G. Günter Voß
415
Arbeit und Belastung Fritz Böhle
451
Arbeit und Leben Kerstin Jürgens
483
Kapitel IX: Betriebliche und überbetriebliche Organisation Betriebliche Organisation und Organisationsgesellschaft Maria Funder
513
Vermarktlichung und Vernetzung der Unternehmens- und Betriebsorganisation Dieter Sauer
545
Netzwerke und Arbeit Arnold Windeler, Carsten Wirth
569
Inhaltsverzeichnis
7
Multinationale Unternehmen Hartmut Hirsch-Kreinsen
597
Finanzmärkte und Finanzialisierung Jürgen Kädtler
619
Kapitel X: Arbeitsmarkt und Beschäftigung Strukturen und Dynamik von Arbeitsmärkten Gerhard Bosch
643
Arbeit, Beschäftigung und Arbeitsmarkt aus der Genderperspektive Karin Gottschall
671
Arbeit und Beschäftigung in der Kultur- und Kreativwirtschaft Alexandra Manske, Christiane Schnell
699
Internationalisierung von Arbeitsmobilität durch Arbeitsmigration Ludger Pries
729
Kapitel XI: Beruf und Bildung Beruf und Profession Alma Demszky von der Hagen, G. Günter Voß
751
Berufliche Bildung Michael Brater
805
Kapitel XII: Politische Regulierung von Arbeit und Arbeitsbeziehungen Betriebliche Regulierung von Arbeitsbeziehungen Rainer Trinczek
841
Überbetriebliche Regulierung von Arbeitsbeziehungen Klaus Dörre
873
Staatliche Regulierung von Arbeit Berthold Vogel
913
Kapitel XIII: Haushalt und informeller Sektor Haushaltsarbeit und Haushaltsdienstleistungen Birgit Geissler
931
Arbeit im gemeinnützigen und informellen Sektor Ingo Bode
963
8
Inhaltsverzeichnis
Arbeit in der bildenden Kunst Bilder als arbeitssoziologische Quellen Klaus Türk Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
983
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Vorwort
Dieses Handbuch hat eine lange Vorgeschichte. Erste Ideen dazu entstanden schon 2004 bei einem Treffen der Herausgeber in geselliger Runde anlässlich des Soziologiekongresses in München. Wir waren uns damals schnell einig, dass es sich lohnen könnte, ein Überblickswerk zur Soziologie der Arbeit zu erstellen. Zuerst dachten wir eher an ein einführendes Lehrbuch, stellten aber schnell fest, dass es daran inzwischen nicht mehr mangelte. Was jedoch fehlte, war ein fundiertes Kompendium für den fortgeschrittenen Informationsbedarf. Da Günther Wachtler einer der Herausgeber der 1983 erschienen und inzwischen vergriffenen „Einführung in die Arbeits- und Industriesoziologie“ war, stand die Idee im Raum, etwas ,ähnliches‘ anzugehen. Wir gelangten rasch zu der Überzeugung, dass nach wie vor eine Herausgeberlösung der inzwischen noch weiter fortgeschrittenen Arbeitsteilung und dem gewachsenen Wissenspotenzial im Fach am besten gerecht werden würde. Uns war zudem bewusst, dass ein solches Werk ein strengeres inhaltliches und editorisches Profil erfordert, um auf dem heutigen Markt für wissenschaftliche Literatur bestehen zu können. Und schließlich war uns auch klar, dass sich ein Handbuch zur Arbeits- und Industriesoziologie offensiv dem Strukturwandel der Arbeitswelt in den letzten Jahren stellen musste. Hinzu kam, dass alle drei Herausgeber noch intensiv die traditionelle „Industriesoziologie“ (mit all ihren persönlichen und politischen Idiosynkrasien) erlebt und zugleich einen großen Teil ihres professionellen Lebens den Veränderungen des Fachs im Übergang zur postfordistischen Arbeitswelt gewidmet haben. Daher lag es nahe, mit dem Band nicht nur die eindrucksvolle Tradition, sondern vor allem auch die in den letzen Jahren vollzogene inhaltliche und personelle Verjüngung der Arbeits- und Industriesoziologie zu dokumentieren. Nicht zuletzt verbindet die Herausgeber eine lange gemeinsame Geschichte im Umfeld der verschiedenen Münchener ‚Soziologien‘, vor allem in den fruchtbaren Forschungszusammenhängen der Sonderforschungsbereiche „Theoretische Grundlagen der Arbeits- und Berufssoziologie“ und „Entwicklungsperspektiven von Arbeit“. Daraus war nicht nur ein persönliches Vertrauensverhältnis, sondern auch eine durchaus ähnliche Perspektive auf das Fach hervorgegangen, die dem geplanten Vorhaben zusätzlich eine Richtung geben konnte. Wir hatten uns von Anfang an darauf eingestellt, dass ein solches Projekt viel Arbeit und Zeit erfordern würde. Gleichzeitig waren wir entschlossen, uns nicht unter Druck setzen zu lassen, sondern mit langem Atem und ruhiger Sorgfalt das Buch zusammenzustellen. Wir ahnten auch, dass der Band am Ende wohl nicht zu den dünneren Handbüchern gehören würde. Wie lange es dann letztlich doch gedauert hat und wie dick die Angelegenheit schließlich geworden ist – damit hatten wir nicht gerechnet. Aber im Nachhinein ist auch das in Ordnung. Wir bitten deshalb die Leserinnen und Leser um Verständnis, dass sie einen gehörigen Packen Papier in die Hände nehmen müssen, wenn sie den einen oder anderen Beitrag (vielleicht ja auch alles) lesen wollen. Und wir bitten die Autorinnen und Autoren um Nachsicht, die sich an unsere ursprünglichen Zeitvorgaben gehalten und pünktlich perfekte Beitrage geliefert haben – und dann noch so lange warten mussten. Es gab jedoch viele
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Vorwort
Gründe, warum sich am Ende eine größere Verzögerung ergab, als wir vorhatten und ursprünglich glaubten verantworten zu können, z.B. entschuldbare Ausfälle bei Autoren oder erst im Verlauf des Vorhabens entstandene Ideen für Beiträge, die dann den Zeitrahmen dehnten. Dass auch der eine oder andere Beitrag etwas länger in der Warteschleife verharrte als geplant, wollen wir nicht leugnen. Zudem hatten wir uns vorgenommen, den Band intensiv editorisch zu betreuen – wie viel Zeit und Aufwand das erfordert, wissen wir jetzt. Nun liegt also ein dicker Band vor, von dem wir hoffen, dass er als Überblick zur Arbeits- und Industriesoziologie hilfreich sein wird. Ob das Werk gelungen ist, müssen andere entscheiden – dass es viel Arbeit gemacht hat, sieht man ihm wahrscheinlich an. Wir haben vielen Menschen zu danken. Vor allem bedanken wir uns aufrichtig bei den Autorinnen und Autoren, die sich durchwegs unglaubliche Mühe gemacht haben und alles andere als Pflichttexte beigesteuert haben, sondern wundervolle Beiträge verfassten, von denen einige das Zeug dazu haben, echte ‚Renner‘ zu werden. Ein mindestens ebenso intensiver Dank gilt auch unserer Redakteurin Anna Hoffmann. Sie hat das Projekt von Anfang an mit Elan, Geduld, zähem Ringen um editorische Professionalität und vor allem mit unglaublichem Arbeitsaufwand begleitet. Ohne sie wäre das Buch nicht zustande gekommen, schon gar nicht in der jetzigen Qualität. Herzlichen Dank, Anna! Geholfen haben uns auch noch viele andere Kolleginnen und Kollegen, so vor allem Jana Bettzüge, Christoph Handrich und Jacqueline Tuchel in Chemnitz sowie Kristina Lanfer in Wuppertal. Einen herzlichen Dank auch an sie. Bedanken wollen wir uns nicht zuletzt beim VS-Verlag und dort besonders bei Herrn Engelhardt und Frau Mackrodt, dass sie das Projekt verlegerisch möglich gemacht haben. Wir glauben nicht, unseren Band der vielzitierten „nagenden Kritik der Mäuse“ überlassen zu müssen (Karl Marx, Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie“, 1859, MEW, Bd. 13). Vielmehr wünschen wir uns und den Autorinnen und Autoren viele interessierte und gern auch kritische Leser. In Erwartung möglicher Resonanzen wollen wir gleichwohl dem gerade zitierten und in unserem Band häufiger zu Wort kommenden Autor bei der weniger beachteten Schlusspassage seines berühmten Vorworts folgen. So sei schon einmal vorsorglich betont, dass unsere herausgeberischen Bemühungen, „wie man sie immer beurteilen mag und wie wenig sie mit den interessierten Vorurteilen der herrschenden Klassen übereinstimmen, das Ergebnis gewissenhafter und langjähriger Forschung sind. Bei dem Eingang in die Wissenschaft aber, wie beim Eingang in die Hölle, muss die Forderung gestellt werden: Qui si convien lasciare ogni sospetto. Ogni viltà convien che qui sia morta. Hier musst du allen Zweifelmut ertöten, Hier ziemt sich keine Zagheit fürderhin. (Dante, Göttliche Komödie)
München, im Herbst 2009 Fritz Böhle, G. Günter Voß, Günther Wachtler
Einführung
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Einführung Fritz Böhle, G. Günter Voß, Günther Wachtler
Die These einer „Krise“ oder sogar eines „Endes“ der Arbeitsgesellschaft (vgl. u.a. die Beiträge in Matthes 1983) hat sich als überaus voreilige Vermutung und letztlich als krasse Fehlinterpretation des etwa Mitte der 1980er Jahre beginnenden tiefgreifenden Wandels moderner Gesellschaften erwiesen. Es scheint ganz im Gegenteil eher so zu sein, dass sich seither ein Typus von Gesellschaft durchsetzt, der mehr denn je in fast allen Bereichen und Aspekten tiefgehend von ‚Arbeit‘ in unterschiedlichsten Formen gekennzeichnet wird – mit schwerwiegenden und oft hoch ambivalenten Konsequenzen. Nach wie vor haben dabei Formen von Arbeit mit Erwerbscharakter einen besonderen Stellenwert, und die Strukturen, in denen diese ausgeübt werden, sind mehr denn je privatwirtschaftlich geprägt oder – sagen wir es ruhig mit dem altehrwürdigen und inzwischen politisch fast nicht mehr brisanten Ausdruck – es sind wie ehedem kapitalistische Strukturen in einer durch und durch kapitalistisch geprägten Gesellschaft. Diese seit dem letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts nun weitgehend ‚modernisierte‘ kapitalistische Arbeitsgesellschaft ist aber auch in dem Sinne definitiv eine ArbeitsGesellschaft, dass in ihr eben nicht nur die für sie charakteristische Form von Arbeit ausgeübt wird. Arbeit war schon immer und ist auch im derzeit sich entfaltenden ‚Neuen‘ Kapitalismus wesentlich mehr als nur Erwerbsarbeit oder gar abhängige Lohnarbeit – auch wenn dieser nach wie vor eine herausragende Bedeutung zukommt. Der vorliegende Band verfolgt in diesem zugleich weiten wie engen Sinne das Ziel, einen Überblick zu bieten über die soziologische Beschäftigung mit Arbeit – was nicht nur aufgrund der potenziell grenzenlosen sachlichen Aspekte, sondern auch in systematischer und disziplinärer Hinsicht eine überaus komplexe Angelegenheit ist. Eine Soziologie der Arbeit bewegt sich auf allen Ebenen soziologischer Analyse. Sie fragt nach gesamtgesellschaftlichen Momenten, nach organisatorischen sowie institutionellen Bedingungen, nach unmittelbaren sozialen Zusammenhängen kooperativen Handelns und nicht zuletzt nach den konkreten Personen und ihren Lebensbedingungen. Arbeitssoziologie ist damit immer auch Soziologie der Arbeitsgesellschaft, der Betriebe und der betrieblichen Arbeitsorganisation, des konkreten Arbeitsprozesses, der praktischen Arbeitstätigkeiten und Arbeitskooperationen sowie eben auch Soziologie der Arbeitskraft und der individuellen Arbeitspersonen einschließlich ihrer Einbindungen in den Zusammenhang von ‚Arbeit und Leben‘. Mit ‚Arbeit‘ in diesem weiten Sinne beschäftigen sich verschiedenste wissenschaftliche Disziplinen. Das Spektrum reicht innerhalb der Soziologie von der Wirtschaftssoziologie, der Organisationssoziologie, der Soziologie der Berufe und Professionen und der Techniksoziologie bis hin zu den sogenannten Workplace-Studies und den soziologisch orientierten Cultural Studies von Arbeit.1 Mit Arbeit beschäftigen sich aber auch Teile der 1 Es ist hier nicht möglich, ausführlicher auf die Literatur zu all diesen Gebieten zu verweisen. Für Leser die sich über diese Felder informieren möchten, soll gleichwohl eine kleine Zahl neuerer Überblickspublikationen als
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Politik-, Geschichts- und Rechtswissenschaft, der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre und sogar die Haushaltswissenschaft oder Ökotrophologie – und natürlich die Arbeitswissenschaft, die Arbeits- und Organisationspsychologie, Arbeitsmedizin, die Arbeits- bzw. Berufspädagogik sowie nicht zuletzt die Philosophie, die Theologie sowie die Kulturanthropologie und Ethnologie (u.a. in jüngster Zeit auf spannende Weise die europäische Ethnologie bzw. Volkskunde). Das Wissen um die soziologisch systematische wie auch um die disziplinäre Komplexität veranlasste die Herausgeber, ihre Perspektive zu fokussieren. Der Band konzentriert sich deshalb in der Themen- und Autorenauswahl einerseits auf die traditionsreiche Disziplin der Arbeits- und Industriesoziologie (früher auch Industrieund Betriebssoziologie oder kurz „Industriesoziologie“ genannt). Andererseits werden jedoch gezielt die traditionellen Grenzen dieses Fachs überschritten und Themen aufgenommen, die auch Gegenstände anderer Forschungsfelder sind. Dieser Öffnung liegen folgende Überlegungen zugrunde: Es wird zum einen davon ausgegangen, dass eine Soziologie der Arbeit ins Zentrum ihrer Betrachtungen die Arbeit als Tätigkeit von handelnden Menschen stellt. Dabei berücksichtigt sie systematisch ihre vielfältigen historisch-gesellschaftlichen Erscheinungen und die für die Tätigkeiten prägenden strukturellen Rahmenbedingungen. Der Band trägt daher ganz bewusst den Titel Handbuch der Arbeits-Soziologie. Zum anderen wird davon ausgegangen, dass sich die Soziologie der Arbeit in einer Umbruchsituation befindet, weil sich ihr Gegenstand in einem Umbruch befindet. Die Arbeit in der Gesellschaft und die Arbeitsgesellschaft insgesamt erleben spätestens seit dem Übergang in das 21. Jahrhundert einen intensiven Strukturwandel. Diese Veränderungsdynamik lässt das Fach nicht unberührt und erfordert an vielen Stellen thematische Erweiterungen und disziplinäre Grenzüberschreitungen. Die Arbeits- und Industriesoziologie erlebt im Zuge dessen einen inhaltlichen und personellen Modernisierungs- und Verjüngungsprozess, den der Band nicht nur berücksichtigen, sondern ins Zentrum der Aufmerksamkeit stellen will. Das Handbuch möchte dabei die für die Soziologie der Arbeit bis heute wichtige disziplinäre Tradition (und Traditionsverbundenheit) dokumentieren und betonen.2 Zugleich und mit besonderer Gewichtung soll aber die tiefgreifende Selbsttransformation des Fachs beschrieben und hervorgehoben werden. Der disziplinäre Wandel der letzten Jahre und die damit einhergehende deutliche Spannung zwischen Tradition und Aktualität, zwischen der weithin geschätzten Generation der Pioniere aus den 1950er bis 1970er Jahren und einer höchst lebendigen jüngeren Generation von Forscherinnen und Forschern, zwischen traditionellen (und traditionsreichen) Themen und Konzepten und vielen neuen Fragen und Ansätzen, hatte kurzzeitig Stimmen auf den Plan gerufen, die eine „Krise der Industriesoziologie“ zu erkennen glaubten. Die Beteiligten der inzwischen gut dokumentierten Diskussion dazu (Huchler 2008) kommen allerdings meist zu dem Schluss, dass die Krisendiagnose bestenfalls ein Missverständnis Einstiegsmöglichkeit erwähnt werden: Baecker 2006, Beck/Brater/Daheim 1980, Deger 2009, Harper/Lawson 2003, Knoblauch 1999, Kurtz 2001, Luff/Hidmarch/Haeth 2000, Maurer 2008, Mieg/Pfadenhauer 2008, MüllerJentsch 2003, Preisendörfer 2005, Rammert 1993, 2000, Weyer 2008. 2 Siehe zur Geschichte des Fachs (in Deutschland) bis in die 1980er Jahre u.a. Schmidt 1980, in Teilen auch Kern 1998, sowie die meisten der o.a. Einführungen; siehe für den State-of-the-art speziell der 1980er und dann der 1990er Jahre auch die breit rezipierten Bände von Schmidt/Braczyk/v.d. Kneesebeck 1982 und dann Beckenbach/v. Treek 1994. Einen guten Überblick zum Stand der Arbeitssoziologie der 1970er bis 1980er Jahre vermitteln auch Bolte 1988 und Lutz 2001.
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war. Die Arbeits- und Industriesoziologie erlebt zwar tatsächlich eine Veränderung, die mit vielfältigen Neuorientierungen einhergeht und gelegentlich auch Irritationen auslöst. Diese sind aber vorwiegend als höchst fruchtbare Verunsicherungen zu bewerten, die nach Einschätzung der meisten Beobachter wichtige Wegbereiter für eine nachhaltige Erneuerung der soziologischen Beschäftigung mit Arbeit darstellen. Das Handbuch stellt sich diesen Veränderungen des Fachs mit vielen Strukturentscheidungen, so etwa durch die explizite Öffnung für Arbeitsformen außerhalb des traditionellen industriellen Sektors bis hin zur Haus- und Familienarbeit. Dass dabei die Genderfrage ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt, ist genauso selbstverständlich wie die Berücksichtigung einer verstärkten Thematisierung der Subjektivität von Arbeitenden, von (alten und neuen) Berufs- und Beschäftigtengruppen neben den traditionell besonders beachteten „Arbeitern“, des Wandels der arbeitsbezogenen Technologien hin zur Digitalisierung und damit zur Informatisierung der Arbeit u.v.a.m. Daran wird erkennbar, dass das Fach sowohl eine quantitative Vervielfältigung der Themen und Konzepte als auch eine massive Steigerung der internen Arbeitsteilung erlebt, so dass es immer mehr eigenständige Subdisziplinen gibt (Soziologie der industriellen Beziehungen, sozialwissenschaftliche Arbeitsmarktforschung, Managementsoziologie, feministische Arbeitssoziologie usw.). Auch die Abgrenzung zu anderen Fächern innerhalb und außerhalb der Soziologie wird diffus und die multidisziplinäre Zusammenarbeit nimmt zu. Dieser Strukturwandel wirft die Frage auf, wie sich die spezifische disziplinäre Identität des Fachs definieren lässt, ja ob es überhaupt noch eine solche gibt oder geben sollte. Die Herausgeber sind hier sehr entschieden und wollen ihre Haltung mit dem Band klar demonstrieren: Richtig ist, dass sich die Soziologie der Arbeit in einem Wandel befindet der vieles verändert. Es gibt aber nach wie vor einen an die Fachtradition anknüpfenden starken Kern des Selbstverständnisses, der thematisch wie sozial integrativ wirkt und der vor allem aus verschiedensten (auch i.w.S. politischen) Gründen mehr denn je nicht nur verteidigt, sondern, wie die Herausgeber meinen, sogar ausgebaut werden muss. Die Arbeits- und Industriesoziologie öffnet sich dafür in Richtung vieler Fachgebiete, aber sie ist nach wie vor nicht Organisationssoziologie, nicht Soziologie der Wirtschaft, nicht Berufssoziologie, nicht Techniksoziologie und natürlich ist sie nicht Betriebswirtschaftslehre, Arbeitswissenschaft, Arbeitspsychologie usw., obwohl es viele Überschneidungen, spannende wechselseitige Befruchtungen und notwendige Kooperationen gibt. Einige Stichworte sollen genügen, um anzudeuten, was mit dieser Fachidentität gemeint ist. Den Kern des Selbstverständnisses der Arbeits- und Industriesoziologie bilden seit jeher folgende historisch weit zurückreichende und sich nun auf spannende Weise erneuernde Merkmale:
Der Blick auf die konkrete Arbeit als tätiges Handeln von Menschen und auf die Arbeitenden selbst als lebendige Personen mit vielfältigen Interessen und Bedürfnissen – und nicht als nur betrieblich funktionale Arbeitskräfte oder „Human Ressources“, oder gar als rein ökonomisch relevantes „Human Capital“. Die gleichzeitige systematische Berücksichtigung der gesellschaftlichen Einbindung und damit Prägung der arbeitenden Menschen und ihrer Arbeitstätigkeit auf allen Ebenen, global, gesamtgesellschaftlich, institutionell bzw. organisatorisch oder betrieb-
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Fritz Böhle, G. Günter Voß, Günther Wachtler lich, situativ in der konkreten Kooperation und nicht zuletzt im Zusammenwirkung von ‚Arbeit und Leben‘. Die profunde empirische und theoretische Analyse der gesellschaftlichen bzw. sozialstrukturellen sowie der individuellen Folgen veränderter Arbeitsformen und Beschäftigungsverhältnisse. Die intensive Beachtung des kurz- und langzeitigen Wandels von Arbeit und ihrer gesellschaftlichen Strukturierung, kurz (mit anderer Betonung): ein historischer und vielleicht sogar ein geschichtsphilosophischer Blick. Die große Bedeutung intensiver empirischer Forschung, vor allem in ihren gegenstandsnahen multimethodischen-fallstudienartigen Methoden, in pragmatischer Verwendung aller geeigneten Verfahren jenseits methodologischer Glaubenskämpfe. Die Verbindung der empirischen Sachorientierung mit einem dezidierten soziologischen Theorieinteresse und letztlich fast immer auch mit einem ausgeprägten gesellschaftstheoretischen Anspruch, und damit eine erklärte empirische ‚Erdung‘ der zu generierenden Konzepte und Begriffe. Die bewusste Übernahme einer gesellschaftsdiagnostischen Funktion, die sich nicht auf eine vermeintlich neutral beobachtende Wertfreiheit zurückzieht, sondern die Verhältnisse beurteilt und dabei auch Missstände aufzeigt (oder positive Gestaltungmöglichkeiten benennt und ihre Umsetzung einfordert), bis hin zur klaren politischen Positionierung, wenn es sein muss. Oder auch hier kurz gesagt: Der kritische Anspruch des Fach. Die sich damit fast immer verbindende mehr oder minder ‚heimliche Sympathie‘ für die eher weniger Privilegierten unter den Arbeitenden. Eine direkt oder indirekt, vielleicht auch nur latent normative Orientierung, die bei vielen Vertreterinnen und Vertretern des Fachs die gesamte wissenschaftliche Haltung prägt.
Aus Sicht der Herausgeber sind das disziplinäre ‚Charaktereigenschaften‘ des Fachs, die von vielen seiner Vertreterinnen und Vertreter geteilt werden. Zu deren Tradierung und Weiterentwicklung will das Handbuch einen Beitrag leisten. Und dieses Fach hat Zukunft. Ja, es braucht Zukunft, weil der spezifische Blick und die eigenständige Wissenschaftsweise der Arbeits- und Industriesoziologie mehr denn je erforderlich ist, um die gesellschaftlichen Arbeits- und damit auch Lebensverhältnisse erkennbar und verständlich zu machen. Erst dadurch können sie zukunftsfähig gestaltet und gegebenenfalls auch verändert werden.
Das editorische Konzept des Bandes Didaktische Leitlinie Der Band ist ein wissenschaftliches Handbuch, das breit und mit möglichst vielfältigen Materialien und Verweisen über das Fachgebiet Arbeits- und Industriesoziologie informiert. Insoweit will und kann der Text kein Lehr- oder Einführungsbuch sein. Einführende Publikationen liegen inzwischen mehrere in hoher Qualität vor, so dass die Herausgeber leichten Herzens diese Funktion nicht zu übernehmen brauchten. An dieser Stelle sind besonders die aktuellen Einführungen für Zwecke einer Erstinformation und/ oder für die basale Lehre zu empfehlen (vgl. aus dem deutschsprachigen Raum vor allem
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Deutschmann 2001, Hirsch-Kreinsen 2009, Minssen 2006, Mikl-Horke 2007, evtl. auch Kühl 2004). Auch manche der älteren Einführungen können nach wie vor hilfreich sein, vor allem, wenn man sich für die Entstehungsgeschichte und die längerfristige Entwicklung der Themen und Konzepte interessiert (vgl. z.B. Beckenbach 1991, Herkommer/Bierbaum 1979, Littek/Rammert/Wachtler 1983, Lutz/Schmidt 1977, Schumm-Garling 1982, auch Daheim/Schönbauer 1993). Und nicht zuletzt gibt es informative nicht-deutschsprachige Überblickswerke zur Arbeitssoziologie, bei denen aber die jeweilige nationalspezifische Ausrichtung beachtet werden sollte (vgl. dazu exemplarisch aus dem englischsprachigen Raum: Auster 1996, Brown 1992, Edgell 2005, Grint 1991, Hall 1994, Noon/Blyton 2006, Volti 2007, Watson 2008). Zugleich versteht sich der Band jedoch keineswegs nur als Kompendium, in dem sich spezialisierte Experten an ihre Kolleginnen und Kollegen wenden. Sowohl die Autoren als auch die Herausgebergruppe (und vor allem die Redakteurin Anna Hoffmann) haben sich große Mühe gegeben, das Buch trotz seines Anspruchs und Umfangs auch für Nichtspezialisten lesbar und informierend zu machen. Der Band hat zwar in erster Linie mit der Arbeits- und Industriesoziologie befasste Leserinnen und Leser im Auge, er möchte aber auf alle Fälle auch fortgeschrittene Studierende, interessierte Praktiker und nicht zuletzt auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus anderen Disziplinen ansprechen, die sich generell mit Arbeit oder mit einzelnen Themen des Bandes beschäftigen. Es bleibt aber ein Handbuch, das nicht schrittweise in die Grundlagen des Faches einführt, sondern in seinen Beiträgen mit meist großer thematischer Dichte den Stand des arbeits- und industriesoziologischen Wissens und dessen Veränderungen dokumentieren will. Aus diesem Grund wurden die Seitenvorgaben für die Beiträge fallweise großzügig ausgelegt und den Autorinnen und Autoren wurden keine Grenzen für die zu erwähnende Literatur gesetzt. Im Gegenteil, sie wurden ermuntert, nicht mit Quellen zu sparen. Themenspektrum Das Handbuch versucht möglichst viele Themen der Arbeits- und Industriesoziologie im Sinne der oben angeführten ‚Charaktereigenschaften‘ mit ihren inhaltlichen und historischen Fokussierungen abzudecken. Dabei mussten naturgemäß oft Entscheidungen gegen spannende Themenfelder getroffen oder thematische Kompromisse gefunden werden (wir hätten leicht mehrere Bände füllen können!). Beiträge zu speziellen Beschäftigten- oder Berufskategorien wurden beispielsweise nicht aufgenommen, auch wenn diese im Fach ein häufiges Thema sind, z.B. Facharbeiter, Meister, Angestellte, Ingenieure, Manager oder auch Selbstständige, Unternehmer usw. Für fast alle dann schließlich ins Auge gefassten Themen ist es gelungen, namhafte Experten des Fachs zu gewinnen. Trotzdem gibt es Lücken, die die Herausgeber zum Teil sehr bedauern – es fehlt zum Beispiel ein Beitrag zum Thema Arbeitslosigkeit. Grund für einige Leerstellen ist auch (was wir nicht verschweigen wollen), dass es uns der eine oder andere Autor nicht leicht gemacht hat. Kurzfristige Absagen bzw. selbst nach mehrfacher Terminverschiebung nicht fertig gestellte Manuskripte konnten am Ende nicht mehr kompensiert werden.
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Fritz Böhle, G. Günter Voß, Günther Wachtler
Aufbau des Bandes Für die Anordnung der Themen wurde ein inhaltlicher Bogen gespannt, der den Fokus einer Soziologie der Arbeit widerspiegeln soll:
Am Anfang (in Teil A) stehen Beiträge zum allgemeinen Verständnis von „Arbeit“ als vielgestaltiger menschlicher Tätigkeit sowie als Grundlage von Gesellschaften, schon hierbei unter Einbezug von Tätigkeiten und gesellschaftlichen Tätigkeitsbereichen auch jenseits erwerbsbezogener Formen abhängiger Arbeit im engeren ‚industriellen‘ Bereich. Es folgt (in Teil B) eine breite Palette von im Fach traditionell bearbeiteten Fragestellungen rund um die Gestaltung des (im weitesten Sinne ‚betrieblichen‘) „Arbeitsprozesses“. Weitere Beiträge wenden sich (in Teil C) wichtigen gesellschaftlichen „Akteuren“ oder „Institutionen“ von Arbeit in der modernen Gesellschaft zu, von den „Subjekten“ und dem „Betrieb“ bis zu „Arbeitsmarkt“ und „Beschäftigungssystem“, „Beruf“ und „Bildung“ sowie zur im weitesten Sinne „politischen“ Regulierung von Arbeit und zu den Institutionen „Haushalt“ und „informeller Sektor“. Am Schluss steht ein Beitrag, der in seiner Besonderheit noch einmal den ‚offenen Blick‘ des Bandes betonen soll: Es geht um „Arbeit“ in der bildenden Kunst als aufschlussreicher Spiegel der realen gesellschaftlichen Verfasstheit von Arbeit in verschiedenen Epochen.
Inhaltliche Ausrichtung der Beiträge Die Fokussierung des Bandes auf die Neuorientierung der Arbeits- und Industriesoziologie bei gleichzeitiger Vergewisserung der langen Fachtradition und Fachidentität führte die Herausgeber zu der Entscheidung, die bisherigen Erkenntnisse und Wissensbestände keinesfalls vorschnell über Bord zu werfen. Auch wenn sich diese zu großen Teilen auf empirische und damit zeitgebundene Phänomene beziehen, liefern die aus den spezifischen historischen Kontexten entstandenen Forschungen doch allgemeine konzeptionelle Grundlagen des Fachs, die auch für die Bearbeitung aktueller Fragen eine unverzichtbare Ressource und ein fruchtbares Entwicklungspotenzial darstellen. Es erschien daher notwendig, dass sich die Autorinnen und Autoren vor allem auf die zeitübergreifenden Analyseansätze und weniger auf die in der Forschung jeweils aufgedeckten empirisch-historischen Erscheinungen konzentrieren Die Beiträge haben dementsprechend nicht den (kaum einlösbaren) Anspruch, den gesamten ‚Stand des Wissens‘ synoptisch vorzustellen. Ihre Zielrichtung ist vielmehr, jeweils die wichtigsten Thematisierungslinien und dazu zentrale Theorien, Konzepte, Begriffe usw. in ihrer historischen Entwicklung im Zuge des geschilderten historischen Übergangs des Gegenstandes der Arbeits- und Industriesoziologie und, vor diesem Hintergrund, des aktuellen Wandels des Fachs darzustellen. Empirische Befunde zu den Problemfeldern werden nur exemplarisch und in der Regel den konzeptionellen Hinweisen nachgeordnet präsentiert. Wer sich genauer für die empirischen Wissensbestände interessiert, sei auf die jeweilige Übersichtsliteratur verweisen, die in den Beiträgen erwähnt wird.
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Struktur der Beiträge Trotz aller (gewollten) Unterschiedlichkeit orientieren sich alle Beiträge (mit Ausnahme des abschließenden Textes von Klaus Türk) in diesem Sinne an einem einheitlichen Schema, das den Leserinnen und Lesern die Orientierung erleichtern und die inhaltlichen Leitlinien des Bandes unterstützen soll:
Unter der Überschrift „Gegenstand und Problemstellung“ beginnen die Texte mit einer Einleitung, die das Thema und seine Bedeutung sowie den Argumentationsgang und damit den Aufbau der Darstellung skizziert. Der folgende Teil („Entwicklungslinien und Wissensbestände“) versteht sich als erster Kernbereich, in dem, vor dem Hintergrund der historischen Leitlinie des Bandes, „klassische“ arbeits- bzw. industriesoziologische Konzepte, Begriffe und Diskussionen bis ca. Mitte der 1980er Jahre vorgestellt werden. Je nach Thema fällt dieser Teil unterschiedlich umfangreich aus; eher kurz bei ganz aktuellen Themen, ausführlicher bei traditionsreichen Problembereichen oder mit fast ausschließlicher Konzentration auf eine Rückschau bei dem historisch weit zurückreichenden Beitrag von Georg Jochum. Ein zweiter Kernbereich („Neue Entwicklungslinien und Konzepte“) präsentiert danach die Veränderungen der arbeitssoziologischen Themen und Thematisierungen im Übergang zum 21. Jahrhundert. Alle Beiträge schließen mit einem Ausblick („Herausforderungen und Perspektiven“), in dem die Autorinnen und Autoren nach möglichen oder notwendigen zukünftigen Thematisierungen für ihren Gegenstand fragen. Hier ist zugleich der Ort, an dem sie ihre jeweilige Sicht der Dinge, ihre eigenen Begriffe, Konzepte, Thesen usw. explizit vorstellen, Die Herausgeber haben die Autorinnen und Autoren ermuntert, an dieser Stelle dem Beitrag ohne Zurückhaltung eine persönliche Handschrift zu geben, was unterschiedlich genutzt wurde. Angefügt sind jeweils Literaturempfehlungen zur möglichen „Vertiefung“ der Themen, bevor dann die Liste der im Text erwähnten Literatur folgt.
Zusatzinformationen Ergänzende Informationsmaterialien zum Handbuch sind im Webportal des Verlages zu finden unter www.vs-verlag.de. Dort gibt es auf einer gesonderten Seite zum „Handbuch Arbeitssoziologie“ ein Schlagwortverzeichnis, Links zu wichtigen Zeitschriften sowie Informationsseiten, die sich mit Arbeits- und Industriesoziologie beschäftigen, Rezessionen u.a.m. Literatur Beckenbach, Niels/Treek, Werner van (Hrsg.) (1994). Umbrüche gesellschaftlicher Arbeit (Soziale Welt, Sonderband 9). Göttingen: Schwartz. Bolte, Karl Martin (Hrsg.). Mensch, Arbeit und Betrieb. Beiträge zur Berufs- und Arbeitskräfteforschung. Weinheim: VCH-Verlag. Huchler, Norbert (2008). Ein Fach wird vermessen. Positionen zur Zukunft der Disziplin Arbeits- und Industriesoziologie. Berlin: Edition sigma.
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Fritz Böhle, G. Günter Voß, Günther Wachtler
Kern, Horst (1998). Proletarisierung, Polarisierung oder Aufwertung der Erwerbsarbeit? Der Blick der deutschen Industriesoziologie seit 1970 auf den Wandel der Arbeitsstrukturen. In: J. Friedrichs/M. R. Lepsius/K. U. Mayer (Hrsg.), Die Diagnosefähigkeit der Soziologie (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 38) (S. 113-129). Opladen: Westdeutscher Verlag. Lutz, Burkart (Hg.) (2001). Entwicklungsperspektiven von Arbeit. Berlin: Akademie Verlag. Matthes, Joachim (Hrsg.) (1983). Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. deutschen Soziologentages im Bamberg 1982. Frankfurt a.M., New York. Campus. Schmidt, Gerd (1980). Zur Geschichte der Industriesoziologie in Deutschland. Soziale Welt, 32 (2), 257-278. Schmidt, Gerd/Braczyk, Hans-Joachim/Kneesebeck, Jost von dem (Hrsg.) (1982). Materialien zur Industriesoziologie (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 24). Opladen: Westdeutscher Verlag.
Neuere deutschsprachige Einführungen Deutschmann, Christoph (2001). Postindustrielle Industriesoziologie. München, Weinheim: Juventa. Hirsch-Kreinsen, Hartmut (2009). Wirtschafts- und Industriesoziologie. Grundlagen, Fragestellung, Themenbereiche. München, Weinheim: Juventa (2. Auflage, zuerst 2005). Kühl, Stephan (2004). Arbeits- und Industriesoziologie. Bielefeld: transcript. Mikl-Horke, Gertraude (2007). Arbeits- und Industriesoziologie. München: Oldenbourg (6. Auflage) Minssen, Heiner (2006). Arbeits- und Industriesoziologie. Eine Einführung. Frankfurt a.M., New York: Campus.
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Einführung
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Einführung
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Teil A Arbeit
Kapitel I Arbeit als Grundlage menschlicher Existenz
Was ist Arbeit? Zum Problem eines allgemeinen Arbeitsbegriffs
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Was ist Arbeit? Zum Problem eines allgemeinen Arbeitsbegriffs1 G. Günter Voß
1
Gegenstand und Problemstellung: Die notorische Unbestimmtheit des Grundbegriffs der Arbeitssoziologie und sein Wandel
„Was ist Arbeit?“ (z.B. Elster 1919: 609) ist eine alte und ehrwürdige Frage, die aber wie jede derart grundlegende Frage nicht einfach zu beantworten ist. In einem neueren Lehrbuch beschreibt ein amerikanischer Arbeitssoziologe das Thema treffend als „slippery“ und kommt dann kurzerhand zu der Feststellung: „For sociologists (…) general definitions [von Arbeit, G.G.V.] are worthless.“ (Hall 1994: 3).2 Damit könnte man es auch hier bewenden lassen. Aber ganz so einfach wollen wir es uns dann doch nicht machen. Gegenstand der in diesem Band vorgestellten Spezialsoziologie ist Arbeit in ihren verschiedenen gesellschaftlichen Ausformungen. Obwohl dabei meist aktuelle Erscheinungen im Vordergrund der Betrachtung stehen werden, also die Arten und Weisen, wie sich Arbeit unter den Bedingungen fortgeschrittener industriell-kapitalistischer Gesellschaften vorwiegend darstellt und verändert, kann das Problem, was unter diesem Gegenstand „allgemein“ (Marcuse 1970: u.a. 7ff.) zu verstehen sei, nicht ausgeklammert werden. Es ist bedauerlich, dass die Frage nach „einer grundsätzlichen Bestimmung des Begriffs der Arbeit“ (Marcuse 1970: 7ff.) im Kern der Arbeitssoziologie gleichwohl selten ernsthaft gestellt und schon gar nicht intensiver behandelt wird. Auch gut informierte Vertreterinnen und Vertreter des Fachs übersehen gerne, dass es sich hier um ein geistesgeschichtliches Thema von großer theoretischer und nicht zuletzt auch praktischer Tragweite handelt. Selbst der vermeintlich auf einen engen Arbeitsbegriff (abhängige industrielle Lohnarbeit) festgelegte Karl Marx befasste sich nicht nur in seinen frühen philosophischen Schriften, sondern gerade auch im ‚reifen‘ ökonomischen Spätwerk intensiv mit der Frage, was Arbeit „zunächst“, also „unabhängig von jeder bestimmten gesellschaftlichen Form“ (Marx 1969a: 192) ist, bevor es ihm dann darum ging, wie sich Arbeit in kapitalistischen Gesellschaften und in den Augen und unter der Kontrolle „unseres Kapitalisten“ (Marx 1969a: div. z.B. 199) darstellt. Während fast alle weiteren Beiträge zu diesem Handbuch das zweite Problemfeld beleuchten,3 möchten sich die folgenden Ausführungen mit jener allgemeinen und damit letztlich anthropologisch-philosophischen Fragestellung beschäftigen, auch wenn es nicht ohne 1 Der Autor dankt Eva Scheder-Voß für ihre wertvollen redaktionellen Hilfen und Georg Jochum für seine ausführlichen inhaltlichen Vorschläge sowie Fritz Böhle, Elmar Koenen, Margit Weihrich und Günther Wachtler für hilfreiche Hinweise. 2 Mike Noon und Paul Blyton sehen es ähnlich: das Problem der Definition von Arbeit sei „complex, contradictory and sometimes frustrating” (Noon/Blyton 2006: 3). 3 Siehe hierzu den Beitrag von Georg Jochum „Zur historischen Entwicklung des Verständnisses von Arbeit“ in diesem Band.
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G. Günter Voß
Risiko ist, sich an eine solche Fundamentalkategorie zu wagen. Der Versuch soll trotzdem unternommen werden, da das Thema bei allen Beschäftigungen mit spezifischen Erscheinungen gesellschaftlicher Arbeit unterschwellig mitschwingt. Außerdem stellt sich die Frage nach einem allgemeinen Arbeitsbegriff angesichts der in diesem Band thematisierten Umbrüche der Arbeitsverhältnisse noch einmal völlig neu. Mehr denn je ist gegenwärtig wieder offen, was „Arbeit“ jenseits dessen noch ist (oder sein sollte), was man gesellschaftlich immer noch mehrheitlich mit diesem Wort verbindet (formelle Erwerbsarbeit). Es handelt sich deshalb nicht um ein nur philosophisches, sondern auch um ein wichtiges politisches Thema. Ein allgemeiner Arbeitsbegriff ist nämlich nicht zuletzt Referenzgröße für die in der Arbeitssoziologie immer wieder neu zu stellende Frage, was Arbeit unter den beforschten gesellschaftlichen Bedingungen nicht ist oder nicht sein sollte. Er ist ein zentraler, wenn nicht gar der entscheidende, Bezugspunkt für den kritischen Anspruch des Fachs. 1.1
Disparate Annäherungen an das Wort „Arbeit“
Die Suche nach einem grundlegenden Verständnis von Arbeit hat immer wieder Theoretiker aller Art beschäftigt und zugleich, wie eingangs schon angedeutet, auch immer wieder zu dem Eingeständnis geführt, dass eine klare Antwort entweder nicht einfach oder nicht sinnvoll, vielleicht sogar unmöglich ist.4 Zwei frühe Aussagen von weltanschaulich kontrastierenden Autoren können dies veranschaulichen: Der Frühsozialist Pierre-Joseph Proudhon äußert 1846 in der „Philosophie des Elends“ mit großer Bestimmtheit: „Was also ist Arbeit? Noch niemand hat sie definiert.“ (Proudhon 2003: 538). Und Wilhelm Heinrich Riehl bemerkt 1861 in seinem Buch über die „Deutsche Arbeit“: „Allein dieses nackte Wort deckt nachgerade einen wahren Abgrund von Begriffen; es ist ein überdefiniertes Wort, in welches man so vielerlei Sinn hineingeschoben, dass es schier gar keinen besonderen Sinn mehr hat. Der Volkswirt, der Moralphilosoph, der Sozialist, jeder denkt sich etwas anderes unter diesem Wort, und wenn alle drei ein Buch über die Arbeit schreiben, so würden sie nicht etwa denselben Gegenstand aus drei verschiedenen Gesichtspunkten, sondern drei verschiedene Gegenstände behandeln. Gerade die gangbarsten und ältesten Wörter sind oft die vieldeutigsten.“ (Riehl 1883: 2-3) Nun sollen sich die folgenden Überlegungen aber nicht von einem utopischen Sozialisten oder einem konservativen Volkskundler des 19. Jahrhunderts zu begrifflicher Resignation verleiten lassen. Es gibt immerhin zahlreiche Definitionsversuche und spannende Kriterien, und sowohl die Kulturgeschichte des Arbeitsverständnisses5 als auch die Geschichte der Arbeit6 selbst sind passabel aufgearbeitet. Außerdem hat die Frage nach einem Arbeitsbegriff und nach dem jeweiligen historischen Arbeitsverständnis neben der Soziologie auch 4 Siehe beispielsweise die differenzierten Überlegungen von Remy C. Kwant aus dem Jahr 1960 (hier 1968: zum Definitionsproblem v.a. 15ff.), die in Vielem der Argumentation dieses Beitrages nahe kommen. 5 Siehe zur Geschichte des Arbeitsverständnisses bzw. (was nicht dasselbe ist) zur Begriffsgeschichte der Kategorie Arbeit aus der neueren Literatur u.a. kurz Frambach 2002, Hund 1990a, Krueger 1929, Walther 1990, auch Graach 1963, Nipperdey 1986: 31-43; ausführlich sind Antoni 1982, Aßländer 2005, Conze 1975, Frambach 1999, auch Ehmer/Sauer 2005, Hund 1990b, Kocka/Offe 2000, Kruse 2002, Schmieder 1959; siehe spez. zum Mittelalter Postel 2006 und darin v.a. den hilfreichen Überblick von Goetz 2006. Siehe hierzu ausführlicher den Beitrag von Georg Jochum „Zur historischen Entwicklung des Verständnisses von Arbeit“ in diesem Band. 6 Siehe zur Geschichte der Arbeit als hilfreiche Überblicke u.a. Eggebrecht u.a 1980, Tenfelde 1986, Tilgher 1930, Ven 1972, auch hier spez. zum Mittelalter u.a. Postel 2006, darin v.a. Goetz 2006; siehe auch Kocka/Offe 2000, Kruse 2002.
Was ist Arbeit? Zum Problem eines allgemeinen Arbeitsbegriffs
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andere Wissenschaften,7 vor allem die Philosophie,8 immer wieder beschäftigt. In all diesen Feldern kann man sich umschauen und anregen lassen. Wir wollen an dieser Stelle folgende vier Zugänge für eine erste Annäherung wählen: Eine Sonderstellung nimmt zunächst der physikalische Arbeitsbegriff ein (zumindest der der klassischen Physik):9 ;Arbeit = Kraft x Weg‘ (W = F x s). Auch aus nichtphysikalischer Sicht ist das weniger trivial, als es auf den ersten Blick (und in Erinnerung an langweilige Schulstunden) erscheinen mag, und kann durchaus aufschlussreiche Hinweise für unseren Umgang mit dem Thema liefern. Arbeit bedeutet hier den Prozess, in dem ein auf Kraft beruhendes Vermögen (das „Vermögen zu arbeiten“ = Energie)10 auf ein aufgrund äußerer wie innerer Kräfte11 widerständiges Objekt einwirkt, das dadurch in seinem Ort (genauer: in seinem Impuls, d.h. der Verbindung von Richtung und Kraft einer Bewegung) und/oder in seiner Form verändert wird. Aufschlussreich sind auch sprachgeschichtliche Befunde.12 Das deutsche Wort „Arbeit“ ist ein „uraltes, viel merkwürdige seiten darbietendes wort“ (Grimm/Grimm 1991: 53) mit indogermanischen Wurzeln, die auf „schwere körperliche Anstrengung, Mühsal, Plage“ und daraus abgeleitet auf eine „unwürdige mühselige Tätigkeit“ (Duden 2007: 43) verweisen. Besonders interessant ist die frühe Bedeutung „verwaist sein, ein zu schwerer körperlicher 7
Vgl. z.B. die Literaturwissenschaft u.a. Wiedemann 1979, auch Hermand/Grimm 1983; die (allgemeine) Psychologie u.a. Volmerg 1988; die Kulturanthropologie bzw. Ethnologie v.a. Spittler 1991, 1998, 2001, 2002, aktuell 2008, Beck/Spittler 1996, siehe auch Long 1984, Wallmann 1979; und natürlich die Ökonomie vgl. u.a. Antoni 1982, Höfener 1977, Kutschmann 1990 (auch zur Physik). 8 Vgl. z.B. die Übersichten oder Sammelbände bei Barzel 1973, Chenu/Krüger 1971, Damerow/Furth/Lefèvre 1983, Hund 1990a,b, Krämer-Badoni 1978, Krueger 1929, Meyer 1931, Moser 1964, Riedel 1973, kurz auch in Frambach 1999. Siehe spez. zu Georg Wilhelm Friedrich Hegel (v.a. zu den Überlegungen in der Phänomenologie 1970) u.a. Lim 1966, Furth 1980, Riedel 1976: insb. 62ff./III.3, Rüddenklau 1982, Schmidt am Busch 2001, auch Löwith 1986. Siehe spez. zu Karl Marx (v.a. zu 1985, 1983, 1969a: dort insb. 1992ff.) bzw. zur marxistischen Diskussion u.a. Arnason 1980, Barzel 1973: 24ff., Berki 1979, Bidet 1983, Bischoff 1973, Bischoff u.a. 1970, Bruns-Weingartz 1981, Fräntzki 1978: insbes. Kap. 5-7, Guggenberger 1977, Haug 1994, Heller 1985, Heyden/Klaus 1972, Honneth 1980, Klages 1964, Kofler 1958, Lange 1980, Lotter 1984, Marcuse 1970, Márkus 1981: insb. 19ff., Negt 2001: spez. 425ff., Rüddenklau 1982, Thier 1957, Wunsch 1957, auch Löwith 1986. Siehe spez. zu Jürgen Habermas (zur Unterscheidung von Arbeit und Interaktion, 1973, später indirekt auch in 1981) u.a. Arnason 1980, Ganßmann 1990, Giddens 1982, Honneth 1980, Rüddenklau 1982). Siehe spez. zu Hannah Arendt (v.a. 1989) u.a. Barley 1990, Barzel 1973: 161ff., Soellner 1990. Für die Soziologie weitere wichtige Vertreter einer Philosophie der Arbeit i.w.S. sind Gorz (v.a. 1983, 1989, 2000), Heller 1985, Lukács in 1984 – als auszugsweise Vorveröffentlichung 1973 (dazu u.a. Warnke/Ruben 1979), Krebs 2002, Marcuse 1970, Müller 1992, 1994, Negt, 1985, 2001, Negt/Kluge 1981, Scheler v.a. 1977, indirekt auch 1975 (dazu u.a. Verducci 2003, auch Böhr 2007, Fellmann 2007), Sohn-Rethel v.a. 1970. Hervorzuheben ist nicht zuletzt der wenig beachtete Text des Phänomenologen Remy C. Kwant 1968. Siehe auch Arvon 1961, Battaglia 1951, Gehlen, v.a. 1972 (dazu u.a. Kofler 1958), Jonas 1974, Kambartel 1993, Liessmann 2000, Nell-Breuning 1954, 1975, 1983, 1987a,b, Todoli 1954. Von Fritz Giese gibt es eine „Philosophie der Arbeit“, die aber eine Grundlegung seiner Arbeitswissenschaft ist (Giese 1932). 9 Vgl. Müller 2007; siehe auch Kutschmann 1990 und die oft erwähnte frühe Studie von Mach/Thiele 1969. 10 Physikalische Definitionen von Arbeit sprechen tatsächlich von Energie als dem „Vermögen zu arbeiten“ (vgl. Müller 2007); vgl. auch den, wie so oft, auf Aristoteles zurückgehenden Begriff der „Energie“ („energia“), siehe z.B. Jammer 1998. 11 Relevant sind hier drei der vier von der Physik unterschiedenen „Wechselwirkungen“ (= Kräfte): die auf ein Objekt einwirkende Schwerkraft oder Gravitation, durch die z.B. eine Lage (genauer: Bewegungsrichtung bzw. – impuls) im Raum definiert ist, sowie die „schwache“ und die „starke“ Wechselwirkung – als die molekularatomaren ‚inneren‘ Bindekräfte, durch die z.B. die Formstabilität eines Objekts entsteht. Hinzu kommt in der Physik die elektromagnetische Kraft. 12 Vgl. u.a. Duden 2007: 46, Kluge 1975: 28-29, Grimm/Grimm 1991/1: 538ff., spez. zum Mittelalter Goetz 2006: 27-28, Haubrichs 2006.
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G. Günter Voß
Arbeit verdingtes Kind sein“ (Duden 1989: 43), aus der man Vieles ableiten könnte – aber mit der Interpretation von Etymologien muss man vorsichtig sein. Das mittelhochdeutsche Nibelungenlied beginnt mit: „Uns ist in alten maeren/wunders vil geseit/von helden lobebaeren/von grozer arebeit“, womit auf das „Leiden“ und die „Heldenplackerei“ der kriegerischen Protagonisten verwiesen wird, über die der Text berichten will (Goetz 2006: 28). Regelmäßig wird auch auf die Nähe zum slavischen „Robot“ (Knecht, Sklave) bzw. „Robota“ (Fronarbeit)13 und zum lateinischen „laborare“ (mühsam arbeiten, plagen) hingewiesen, das sich dann im englischen „labour“ wiederfindet.14 Man muss dabei im Auge behalten, dass diesen oft dominierenden negativ besetzen Ausdrücken in vielen Sprachen Begriffe mit positiver Bedeutung (Werk, Schaffen, Produktivität, ehrenvolle Tätigkeit usw.) gegenüberstehen, mit denen ebenfalls arbeitsförmige Tätigkeiten benannt werden. Das gilt schon für das lateinische „opus“ und auch für das englische „work“, das im Deutschen eine Parallele im frühen Ausdruck „werc“ und später dann im „Werk“ bzw. „Werken“ hat.15 Nicht zuletzt ist es trotz wissenschaftsbegrifflicher oder semantischer Unsicherheit keinesfalls so, dass man in der gesellschaftlichen Praxis überhaupt nicht wüsste, was man mit Arbeit verbindet. Intuitiv herrscht durchaus ein mehr oder weniger klares Verständnis davon, was damit gemeint sein soll. Das betrifft sowohl Theoretiker als auch besonders die arbeitenden Menschen in ihrem alltäglichen Leben (was der Leser an sich selbst überprüfen kann: Was assoziiert er ad hoc mit dem Wort Arbeit?). Wilhelm Heinrich Riehl entschied sich deshalb dafür, sich dem „Volksmund“ resp. dem „Feld-Wald und Wiesenphilosophen“ anzuschließen, dem zufolge Arbeit zumindest weder „Spiel“ noch „Stehlen und Betrügen“ sei und ein „sittliches“ Moment beinhalte (Riehl 1883: 2ff.). Die Fachsoziologie hat erstaunlicherweise bis heute selten untersucht, welchen alltagspraktischen Arbeitsbegriff Menschen haben oder wie sie das Wort Arbeit im Alltag verwenden. Es gibt jedoch zwei informative Studien aus den USA (Weiss/Kahn 1960) und aus Großbritannien (Thorns 1971), in denen sich für die alltägliche Definition von „work“ folgende Kriterien herausstellten (nach Thorns 1971: 543ff., übersetzt): Arbeit ist eine Aktivität, die (1) „notwendig ist, aber keinen Spaß macht“, (2) „Anstrengung erfordert“, (3) „produktiv“ ist und (4) „von anderen organisiert wird.“ Dabei betonten die befragten Arbeiter aus Chicago bevorzugt die „Notwendigkeit“, während ihre Kollegen aus Bristol und Nottingham einige Jahre später eher die „Produktivität“ und (in einer offenen Frage) zudem deutlich die „Bezahlung“ hervorheben. Deutlich amüsanter ist eine literarische Annäherung, die hier allein schon wegen ihrer Berühmtheit erwähnt werden soll. Bei Mark Twain findet sich die Geschichte zweier Buben, die einen Zaun anstreichen sollen, wobei der eine – Tom Sawyer – durch geschickte rhetorische Manipulation aus einer für ihn lästigen Arbeit ein attraktives Spiel macht, das sein Freund dann mit großer Bereitwilligkeit übernimmt – woraufhin der Erzähler ein wenig philosophisch wird: „Tom sagte sich, die Welt sei doch nicht so hohl und leer, er hatte, ohne es zu wissen, ein wichtiges Gesetz entdeckt, welches das menschliche Handeln bestimmt: dass nämlich, um das Begehren eines Mannes oder eines Jungen nach etwas zu wecken, weiter nichts nötig ist, als die Sache schwer erreichbar zu machen. Wäre er ein 13 Daraus leitet sich der „Roboter“ ab, der erstmals in den 1920er Jahren in der Science-Fiction-Literatur der tschechischen Autoren Josef und Karel ýapek erwähnt wird. 14 Es sei daran erinnert, dass „labour“ auch für die Geburt, genauer: für die Geburtswehen, verwendet wird (vgl. auch Graach 1963). Im Deutschen gibt es den manchmal noch benutzten Ausdruck des „Laborierens“, etwa bei einer schwierigen Aufgabe oder bei einer Erkrankung. 15 Siehe auch „Werk-Zeug“, „Hand-Werker“ oder „Werker“ (eine Bezeichnung in modernen Industriebetrieben, die oft ungern von „Arbeitern“ sprechen); vgl. zum Handwerker aktuell Sennett 2008.
Was ist Arbeit? Zum Problem eines allgemeinen Arbeitsbegriffs
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großer Philosoph gewesen wie der Schreiber dieses Buches, dann hätte er jetzt verstanden, dass Arbeit in dem besteht, was man zu tun verpflichtet ist. Das hätte ihm begreifbar gemacht, weshalb es Arbeit ist, künstliche Blumen herzustellen oder in einer Tretmühle tätig zu sein, während es ein Vergnügen ist, Kegel zu schieben oder auf den Montblanc zu klettern. Es gibt in England reiche Herren, die im Sommer täglich verkehrende vierspännige Reisekutschen zwanzig oder dreißig Meilen weit lenken, weil dieses Vorrecht sie ziemlich viel Geld kostet; böte man ihnen aber Lohn für diesen Dienst, so würde er zur Arbeit, und dann gäben sie ihn auf.“ (Twain 1976: 22-23). Auffallend ist, dass fast alle Vorstellungen von Arbeit durch Ambivalenzen gekennzeichnet sind: Arbeit belastet das menschliche Leben und bereichert es zugleich, ja sie wird oft als Grundlage für eine erhoffte Befreiung aus Mühsal und Elend, wenn nicht gar als Feld der schöpferischen Selbstentfaltung des Menschen gesehen. Die meisten Definitionsversuche sind sich darin einig, dass es bei Arbeit um eine
Aktivität geht (aber auch das sehen manche Autoren differenzierter).
Alle weiteren oft verwendeten Kriterien dagegen sind umstritten und werden heftig diskutiert: 1.2
spezifisch menschliche Eigenschaft oder Tätigkeit; Bewusstheit, Zweckgerichtetheit, Planmäßigkeit; Werkzeuggebrauch; Kraftanwendung, Anstrengung, Mühe, Last, Elend; Nützlichkeit/Gebrauchswertbildung, Produktivität, Werkhaftigkeit, Schöpfung, ökonomische Wertbildung; vom Prozess ablösbares überdauerndes Ergebnis, sozialer Austausch der Ergebnisse; Kooperation, gesellschaftliche Einbindung und Anerkennung der Aktivität; Gratifizierung, insbesondere Bezahlung. Ziel, Vorgehen und Aufbau des Beitrages
Vor diesem Hintergrund hat der folgende Beitrag ein doppeltes Ziel: Zunächst möchte er im Sinne des Handbuchs einen Überblick geben, wie die Frage nach dem allgemeinen Arbeitsbegriff in der Arbeitssoziologie bis etwa in die 1980er Jahre behandelt wurde, um dann zu zeigen, dass wie bei fast allen Themen des Bandes danach ein Wandel stattfindet. Es wird sich erweisen, dass im Kern der Arbeitssoziologie bis zu dieser Wende das Thema selten explizit behandelt wurde, so dass man kaum von einem berichtenswerten Theoriebestand im Fach sprechen kann, während zugleich unterschwellig ein vergleichsweise spezifischer und ,enger‘ Arbeitsbegriff die Forschungspraxis dominierte. Mit dem ausgehenden 20. Jahrhundert verstärkte sich nicht nur theoretisch, sondern auch politisch ein Unbehagen an dieser Engführung des faktischen Arbeitsbegriffs im Fach und in der Gesellschaft, das aber eher von außerhalb oder von den Rändern der Arbeitssoziologie her (z.B. durch die Frauenforschung) formuliert wurde. Dieses Unbehagen führte gleichwohl nicht zu einer systematischen arbeitssoziologischen Theorieentwicklung, sondern eher zu einer vielschichtigen Kritik an der bisherigen Verengung, die aspekthaft nachgezeichnet werden soll.
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G. Günter Voß
Jenseits dieses Überblicks möchte der Beitrag außerdem ein Angebot formulieren, die Kategorie Arbeit in einer erweiterten Weise neu zu sehen, die den Anforderungen einer sich transformierenden Arbeitsgesellschaft genügen kann, ohne wieder vorschnell falsche Eindeutigkeiten herzustellen. Es soll den vielfältigen Unklarheiten, Fallstricken, Antinomien, Dialektiken usw. dieser Fundamentalkategorie nachgespürt werden, um Ansatzpunkte für einen weiten und historisch flexiblen Umgang mit der Frage nach dem allgemeinen Verständnis von Arbeit zu schaffen. Im folgenden Abschnitt 2 wird in diesem Sinne also zuerst Rückblick gehalten, wie die Arbeits- und Industriesoziologie über einen großen Zeitraum hinweg faktisch mit der Frage nach dem allgemeinen Arbeitsbegriffs umgegangen ist. Das Fazit ist ernüchternd, da es kaum eine substantielle Debatte im engeren Bereich des Fachs gibt. Wenn sich ein Konsens zum Arbeitsbegriff findet, dann kreist dieser um ein mehr oder weniger tiefgehend aus dem Werk von Karl Marx abgeleitetes Verständnis, das sich aber so gut wie ausschließlich auf dessen Analyse entfremdeter Lohnarbeit im Kapitalismus bezieht. Dem liegt jedoch bei Karl Marx, wie gezeigt werden soll, ein differenzierter philosophisch-anthropologischer Arbeitsbegriff zugrunde, der aber erstaunlicherweise kaum systematisch rezipiert (vielleicht durchaus gelesen und privat diskutiert, manchmal auch ausschnitthaft zitiert) wurde und schon gar nicht sichtbar in die arbeitssoziologische Forschung eingegangen ist. Zugleich soll gezeigt werden, dass sich auch beim allgemeinen Arbeitsverständnis von Karl Marx implizite Engführungen finden, die nicht übersehen werden dürfen. Abschnitt 3 wird sich mit der Frage beschäftigen, warum in den 1980er Jahren eine Diskussion zum allgemeinen Begriff der Arbeit einsetzte und worum es dabei ging, wobei einige zentrale Beiträge beispielhaft hervorgehoben werden. Vor allem aber wird er Anlass sein, ausführlich eine Serie von Fragen aufzuwerfen, die sowohl im Anschluss als auch in Kritik an Karl Marx heute an ein allgemeines Arbeitsverständnisses zu stellen sind – um damit auszuloten, wo die systematischen Fallstricke, Widersprüche und systematischen Uneindeutigkeiten dieser Kategorie vor dem Hintergrund des Umbruchs einer Gesellschaft, die nach wie vor eine Arbeits-Gesellschaft ist, liegen. In Abschnitt 4 werden daraus Thesen abgeleitet, wie angesichts des allgemeinen Wandels von Arbeit und Gesellschaft aus Sicht des Autors mit der Frage „Was ist Arbeit?“ umgegangen werden sollte.
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Entwicklungslinien und Wissensbestände: Engführung des Arbeitsverständnisses auf Lohnarbeit und ein wenig beachteter allgemeiner Arbeitsbegriff
Natürlich wird das Problem einer allgemeinen Begriffsbestimmung von Arbeit in der Literatur der Arbeitssoziologie bis etwa Mitte der 1980er Jahre nicht völlig ignoriert. Eine Durchsicht wichtiger Einführungen zeigt jedoch, dass das Thema dort (mit wenigen Ausnahmen) entweder tatsächlich gar nicht oder nur mit minimalem Aufwand behandelt wird.16 16 Ausführlicher wird das Thema einer allgemeinen Definition von Arbeit in (deutschen) Lehrbüchern dieser Zeit lediglich behandelt bei Littek/Rammer/Wachtler 1985 und (mit historischen Blick) bei Mikl-Horke 2007. Kurz berührt wird es immerhin in dem DDR-Lehrbuch von Stollberg 1988 sowie bei Daheim/Schönbauer 1993, Vilmar/Kißler 1982. Etwas ausführlichere Thematisierungen finden sich in einigen englisch-amerikanischen Lehrbüchern (u.a. bei Anderson 1964 oder Gross 1958). Zum Teil ist die Frage nach der Definition von Arbeit auch kurz
Was ist Arbeit? Zum Problem eines allgemeinen Arbeitsbegriffs
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Die Vermutung (die später zum Vorwurf wird), die Soziologie der Arbeit reduziere ihren Gegenstand auf erwerbsförmige Arbeit oder sogar auf abhängige Beschäftigung im industriellen Betrieb, bestätigt sich für diese Zeit nachdrücklich. Ein Beispiel: Sebastian Herkommer und Heinz Bierbaum (1979: 29ff.) gehen in ihrer Einführung zur „Industriesoziologie“ durchaus in Ansätzen auf den Begriff Arbeit ein, überspringen aber völlig, was grundlegend damit gemeint sein kann. Stattdessen nehmen sie die „gesellschaftliche Form“ der Arbeit (1979: 29) in den Blick, welche in der „bürgerlichen Gesellschaft“ nur „durch Analyse des Arbeitsprodukts, der Ware“ zu „entschlüsseln“ (1979: 29) sei, was sie ohne Umschweife zur Bestimmung der „Lohnarbeit“ führt, mit der sie sich anschließend ausführlich beschäftigen. Eine derartige Reduktion des Gegenstandes erfolgt auch in einem – bezüglich marxistischer Einseitigkeiten völlig unverdächtigen – Handbuch der Ökonomie, das hier zitiert werden soll, weil dort in besonders krasser Weise deutlich wird, welche Engführungen des Arbeitsbegriffs gelegentlich völlig ungebrochen vorgenommen werden:17 „Arbeit ist (…) jede körperliche und geistige Tätigkeit des Menschen zur Herstellung von Gütern, soweit diese von den Haushalten angeboten (...) und von den Unternehmen (Betrieb) nachgefragt (…) wird. Ihr Preis auf dem Arbeitsmarkt ist der Lohn (…). Die Tätigkeit der Hausfrau od. die Pflege eines kranken Verwandten ist in o.g. Sinn nicht Arbeit, da sie nicht über den Arbeitsmarkt angeboten bzw. nachgefragt wird.“ (Woll 1988: 32). Das Urteil bestätigt sich auch dann noch, wenn in dem einen oder anderen auch philosophisch interessierten einführenden Werk etwas intensivere Bemühungen um die allgemeine Bedeutung oder das Problem der generellen ,Definition‘ von Arbeit zu finden sind. Nach einleitenden allgemeinen Andeutungen wenden sich auch solche Texte meist in jeder Hinsicht umstandslos ausschließlich jenem engen Gegenstandfeld zu. Die begrifflichen Reflexionen bleiben so gut wie folgenlos und lesen sich vor diesem Hintergrund dann wie leere philosophierende Legimitationsformeln. Hierzu ein Beispiel aus einem im Ansatz durchaus reflektierten Lehrbuch: „Wir müssen vorab zwei (…) verschiedene Begriffe von Arbeit unterscheiden: – Arbeit als weitgehend selbstbestimmte kreative Tätigkeit (…) – Arbeit als gesellschaftliche organisierte, je schon durch Herrschaftsstrukturen vorgeprägte, d.h. meist fremdbestimmte Tätigkeit (…). In diesem Grundriss beschränken wir uns auf den zweiten Begriff (…), da unser Thema nicht die Anthropologie oder (Lebens-)Philosophie der Arbeit ist, sondern eben Soziologie der Arbeit: Arbeit als gesellschaftliches Phänomen. Thema in etlichen allgemeinen soziologischen Handbüchern oder Lexika, z.B. bei Carell 1956, Fetscher 1970, Moser 1964, Müller u.a. 1985, auch Schwertfeger 1966, aktueller Jaeggi/v. Treek 1985, Zimmermann 2001, Voß 2006; siehe auch Hirsch-Kreinsen im „Handbuch Soziologie“, der dort ohne Zögern erklärt, der Gegenstand der Arbeitssoziologie sei allein „Erwerbsarbeit“ (Hirsch-Kreinsen 2008). In allen anderen durchgesehenen arbeits- und industriesoziologischen Werken (möglicherweise wurde das eine oder andere übersehen) wird die Frage schlicht ignoriert oder mit einigen vagen Sätzen (z.B. zum Unterschied von Gebrauchs- und Tauschwert) abgetan, vor allem immer dann, wenn sich die Bücher als Einführungen in die Industrie-, Betriebs- und/oder Wirtschaftssoziologie verstehen (so etwa bei Beckenbach 1991, Burghardt 1974, Burisch (zuerst Dahrendorf) 1973, Herkommer/Bierbaum 1979, Schumm-Garling 1982) oder bei Pfeiffer/Dörrie/Stoll, die trotz ihrer betriebswirtschaftlichen Perspektive immerhin im Titel auf „Menschliche Arbeit“ verweisen, Arbeit dann aber definieren als „Tätigkeit von Menschen zum Zweck der Schaffung betrieblicher Problemlösungen“ (Pfeiffer/Dörrie/Stoll 1977: 13 ). Dies ist auch in den neuen Einführungswerken nicht anders: Arbeit allgemein ist kein Thema, so bei Deutschmann 2001, Hirsch-Kreinsen 2005 und sogar bei Kühl 2004 oder Minssen 2006, die im Titel explizit auf Arbeit Bezug nehmen. In zwei neueren englisch-amerikanischen Lehrbüchern (Hall 1994, Noon/Blyton 2006) finden sich dagegen recht differenzierte Überlegungen. 17 Eine Definition, die so in jedem arbeitssoziologischen Lehrbuch auch hätte stehen können, obwohl man sich dort vielleicht nicht getraut hätte, sich so offen festzulegen.
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Soziologisch lässt sich Arbeit bestimmen als zweckmäßige, bewusste, stets gesellschaftlich vermittelte (…) Tätigkeit von Menschen zur Bewältigung ihrer Existenzprobleme“. Wonach dann auch hier zügig auf industriell-kapitalistische, technisch geprägte und vor allem betrieblich organisierte Arbeit als eigentlichem Gegenstand übergeleitet wird: „Arbeit wird betrieblich organisiert.“ (Vilmar/Kißler 1982: 18ff.). Auch in der differenziert argumentierenden Einleitung von Günther Wachtler (1985) zu der zusammen mit Wolfgang Littek und Werner Rammert herausgegebenen Einführung wird zwar mit kurzen Definitionselementen („Aneignung der Natur“, „bewußte, planvolle und zielgerichtete Tätigkeit“) und einem längeren Zitat auf das allgemeine Verständnis von Arbeit bei Karl Marx verwiesen, dann aber in schnellen Schritten das übliche Repertoire der Formanalyse von Arbeit im Kapitalismus durchdekliniert. Im gesamten Band geht es dann (fast) nur noch18 um Lohnarbeit im kapitalistischen Betrieb. Man kann also durchaus davon sprechen, dass für den Kern der Arbeits- und Industriesoziologie zu dieser Zeit die Frage nach dem allgemeinen Wesen von Arbeit kein ernsthaft verfolgtes Thema ist – es aber einen unausgesprochenen Konsens gibt, dass es beim Thema Arbeit um die formelle erwerbsförmige Tätigkeit lohnabhängiger Arbeitskräfte in betrieblichen Zusammenhängen geht (oft zudem mit besonderem Fokus auf die meist von Männern besetzte mittlere Qualifikationsebene im gewerblich-technischen Bereich industrieller Großunternehmen). Das ist der nicht explizite, aber faktische Arbeitsbegriff des Fachs bis weit in die 1980er Jahre hinein – und er ist höchst folgenreich. Neben den punktuellen Verweisen in Lehrbüchern finden sich einige Ausnahmen zum Beispiel im Grenzgebiet der Arbeitssoziologie zur Philosophie,19 mit der das Fach jedoch eine unselige Funktionsteilung praktiziert: Nur dort ist man für das Allgemeine der Arbeit zuständig. Im Kern der Arbeitssoziologie geht es um das Besondere, d.h. um die dominante Erscheinung von Arbeit unter spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen. Das hat zur Folge, dass man sich nicht weiter um philosophische Spekulationen schert, auch wenn es um den eigenen Grundbegriff geht. Es gibt auch einen ‚unscharfen‘ Randbereich im Fach selbst, der gelegentlich die Grenzen des engen faktischen Arbeitsbegriffs ahnen lässt, wenn es etwa um die geistige Arbeit von Angestellten, technischen Experten und Führungskräften geht, oder (selten genug) um Industriearbeiterinnen, manchmal sogar um das außerbetriebliche Leben von Berufstätigen. Aber auch das bleibt erst einmal ohne Konsequenzen. Dieser eingeschränkte Umgang mit dem zentralen Gegenstand der Arbeitssoziologie (bzw. mit dessen Begriff) sollte aus heutiger Sicht jedoch nicht zu einer vorschnellen Verurteilung verleiten: Der faktisch dominierende Arbeitsbegriff der Arbeitssoziologie spiegelt in jener historischen Phase das herrschende Verständnis von Arbeit in der Gesellschaft; er hat insoweit eine hohe praktische Bedeutung und eine tiefsitzende kulturelle Legitimation. Dass dieser spezifische Fokus auf einen bestimmten Typus von Arbeit und Arbeitenden auch heute noch seine Berechtigung hat (weil dieser Art und Weise, Arbeit zu verrichten, nach wie vor gesellschaftlich eine große Bedeutung zukommt), soll hier gar nicht in Frage gestellt werden – die unausgesprochene Selbstverständlichkeit und ignorante Dominanz eines solchen engen Arbeitsbegriffs in der Arbeitssoziologie (und in der Gesellschaft) aber sehr wohl. 18
Einzige Ausnahme ist ein Beitrag zur „Arbeit der Frau in Betrieb und Familie“ (Diezinger u.a. 1985). Vgl. etwa Bischoff 1973, Bischoff u.a. 1970, 1973, Bruns-Weingart 1981, Guggenberger 1977, Krämer-Badoni 1978, Lange, 1980, Rüddenklau 1982, Sohn-Rethel 1970 und natürlich Habermas 1973 und Marcuse 1970 (siehe Abschnitt 2.1).
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Was ist Arbeit? Zum Problem eines allgemeinen Arbeitsbegriffs 2.1
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Ein traditionsreicher allgemeiner Arbeitsbegriff … mit ambivalenten Offenheiten und impliziten Engführungen
Das zumindest aus heutiger Sicht, erstaunlich enge Verständnis der Arbeitssoziologie von ihrem Grundbegriff bis in die späten 1980er Jahre steht in Kontrast zu den differenzierten Überlegungen jenes Theoretikers, auf den sich das Fach in dieser Phase vorwiegend bezieht. Merkwürdig ist zum einen, dass diese Fundgrube faktisch kaum zur Kenntnis genommen wird und als potentielle Basis eines allgemeinen Arbeitsbegriffs für die Praxis der Arbeitssoziologie nahezu folgenlos ist – als wolle man sich im faszinierten Blick auf den enggeführten Gegenstand nicht durch eine philosophisch weite und überhistorische Perspektive irritieren lassen. Zum anderen wird erstaunlicherweise nicht berücksichtigt, dass dieser allgemeine Arbeitsbegriff bei Karl Marx keine leere Reminiszenz an forschungspraktisch irrelevante philosophische Spekulationen (oder vernachlässigenswerte Ausflüge im jugendlichen Frühwerk eines großen Geistes) ist, sondern eine zentrale Funktion auch für die Analyse der von der Arbeitssoziologie zurecht bevorzugt untersuchten Formbestimmtheit von Arbeit in der real vorgefundenen Gesellschaft erfüllt: als Kontrastfolie für die Logik und die spezifischen ‚Pathologien‘ (z.B. Entfremdungserscheinungen) von Arbeit speziell im kapitalistischen Betrieb, auf die das Fach so großen Wert legt. Diese allgemeine Definition von Arbeit, wie sie „zunächst“, also „unabhängig von jeder bestimmten gesellschaftlichen Form“ (Marx 1969a: 192) gilt und „allen seinen [des menschlichen Lebens, G.G.V.] Gesellschaftsformen gleich gemeinsam ist“ (1969a: 198), schließt nicht nur direkt an die frühen philosophischen Schriften von Karl Marx an. Sie steht auch in der Tradition der deutschen idealistischen Philosophie und reicht so in fast allen Aspekten über die Aufklärung bis in den antiken Humanismus zurück, wodurch diese Begriffsbestimmung eine überaus ‚tiefgründige‘ kulturhistorische Fundierung erhält (vgl. ausführlich Müller 1992, 1994). Bemerkenswert ist, dass dieser Arbeitsbegriff nicht in den für manche Leser möglicherweise sperrigen (und erst spät zugänglichen) Fragmenten der Frühschriften versteckt ist, sondern sich in komprimierter und sehr systematischer Form mitten im arbeitssoziologisch intensiv ausgelegten Band 1 des „Kapital“ findet (Marx 1969a: 192-193). Er bildet dort eine Summa der marxschen Anthropologie und des marxschen Humanismus20 (der ohne Zweifel am markantesten in den Frühschriften aufscheint)21 – weswegen es umso überraschender ist, wie selten (jenseits der gelegentlich weitergereichten Zitatfragmente) er im Kern der Arbeits- und Industriesoziologie ernsthaft rezipiert wurde.22 Fast noch wichtiger ist jedoch, dass dieser philosophische Arbeitsbegriff nicht nur ausgesprochen vielschichtig und geistesgeschichtlich fundiert, sondern auch bemerkenswert unökonomistisch (und damit erfreulich interpretationsoffen) ist sowie regelrecht irritierende moderne Anklänge hat, etwa wenn dort ein dezidiert naturgeschichtlicher Bezug hergestellt 20 Siehe zum marxschen Menschenbild (wie es vor allem in den Frühschriften deutlich wird, Marx 1985) als nach wie vor hervorragende Quellen Fromm 1988, Lukács 1965, Popitz 1967, Thier 1957; speziell zur ethnologischanthropologischen Perspektive von Karl Marx u.a. Arnason 1976, 1980, Márkus 1981, Krader 1976, Schmidt 1971. 21 Marx 1985, dort für das Thema Arbeit vor allem die Passagen 510ff. und 574ff. 22 Sogar in manchen Einführungen zum Marschen Werk tauchen die Überlegungen von Karl Marx zu einem allgemeinen Arbeitsbegriff nur am Rande oder gar nicht auf, so etwa in der (ansonsten sehr anregenden und detaillierten) Einführung in das Kapital Bd. 1 von Altvater u.a. (1999) oder in der Einführung von Berger (2003). Relativ differenziert ist Bernd Termes; aber auch dort wird der Arbeitsbegriff im Kapital nicht erwähnt (2008: 91ff.).
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wird. Offenheit und Naturbezug sind Momente, die für ein Verständnis von Arbeit im 21. Jahrhundert essentiell sind. Aus diesem Grund soll dieser vernachlässigte allgemeine Arbeitsbegriff, der gerade in der hier thematisierten historischen Phase der Arbeitssoziologie für jedermann ‚vor der Haustüre‘ liegt, ausführlich präsentiert werden.
Ein traditionsreicher allgemeiner Arbeitsbegriff … Bevor wir zum Arbeitsbegriff bei Karl Marx selbst kommen, ist ein Hinweis auf dessen oft zitiertes Lob für Georg Wilhelm Friedrich Hegel hilfreich für das Verständnis seines Denkens und der daraus entstehenden Sicht auf Arbeit: „Hegel steht auf dem Boden der modernen Nationalökonomie. Er fasst die Arbeit (...) als das sich bewährende Wesen des Menschen.“ „Das Große an der Hegelschen ist also einmal, dass Hegel (...) die Selbsterzeugung des Menschen als einen Prozess fasst (…), dass er also das Wesen der A r b e i t fasst und den gegenständlichen (…) wahren, wirklichen Menschen als das Resultat seiner e i g n e n A r b e i t begreift.“. Anders als Georg Wilhelm Friedrich Hegel will Karl Marx diese Arbeit aber nicht allein „abstrakt geistig“ sehen, sondern als „das wirkliche, tätige Verhalten des Menschen.“ (Marx 1985: 574, Hervorh. i.O.). Trotz dieser Kritik am Hegelschen Idealismus wird deutlich, wie sehr sich Karl Marx gerade in Bezug auf das Thema Arbeit an sein philosophisches Vorbild anlehnt. Von diesem übernimmt er zentrale Elemente der idealistischen Subjektphilosophie, wonach der Mensch ein sich in einem dialektisch komplexen Prozess der handelnden Auseinandersetzung mit der ihm gegebenen Welt selbst formendes, dabei seine Potenziale entfaltendes und dadurch entwickelndes (sich „bewährendes“) und praktisch entäußerndes lebendiges Wesen ist. Während dieser Prozess bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel primär geistvermittelt ist, werden von Karl Marx deutlicher das sich „gegenständlich“ entäußernde Naturwesen Mensch sowie dessen „materieller“ Naturbezug und nicht zuletzt die technische Vermittlung (Werkzeuge) betont. Dies kulminiert bei ihm in der Vorstellung, dass dieser dialektische Prozess der (individuellen wie evolutionären oder historischen) Selbstformung des Menschen gegenständliche Arbeit ist, und dass der Mensch von daher (was bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel ganz sicher komplizierter ist) im Kern ein arbeitendes Wesen ist.23 Doch damit zu den Momenten eines allgemeinen Arbeitsbegriffs bei Karl Marx im Einzelnen: So wenig es hier möglich ist, den überaus verdichteten Text einer umfassenden Diskussion zu unterziehen, so sehr soll der Versuchung widerstanden werden, den kurzen Text (wie so oft) in beliebigen Auszügen dem Leser schlicht vorzulegen. Ziel ist vielmehr, die im marxschen Text angelegten ‚Eckpunkte‘ eines allgemeinen Arbeitsbegriffs schrittweise und nah am Text weitgehend vollständig zu extrahieren, begrifflich zu komprimieren und mit dem Wortlaut zu illustrieren. Auf die Frage „Was ist Arbeit“? wird hier also mit Karl Marx eine in Aspekte zerlegte allgemeine Antwort gegeben. Vorab gleichwohl die entscheidende Passage im gesamten Wortlaut zur Orientierung: „Die Arbeit ist zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur, ein Prozess, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und 23
Dass diese Sichtweise bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel und dann bei Karl Marx systematisch in eine dialektische Gesellschafts- und schließlich Geschichtsperspektive mit teleologischer oder sogar eschatologischer Ausrichtung eingebettet ist, kann man hier bestenfalls erahnen und wird auch im Arbeitsbegriff des „Kapital“ überraschenderweise nicht direkt ausgesprochen.
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kontrolliert. Er tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form anzueignen. Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert, verändert er zugleich seine eigne Natur. Er entwickelt die in ihr schlummernden Potenzen und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte seiner eigenen Botmäßigkeit. Wir haben es hier nicht mit den ersten tierartig instinktmäßigen Formen von Arbeit zu tun. Dem Zustand, worin der Arbeiter als Verkäufer seiner eigenen Arbeitskraft auf dem Warenmarkt auftritt, ist in urzeitlichem Hintergrund der Zustand entrückt, worin die menschliche Arbeit ihre erste instinktartige Form noch nicht abgestreift hatte. Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister. Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht dass er nur eine Formänderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muss. Und diese Unterordnung ist kein vereinzelter Akt. Außer der Anstrengung der Organe, die arbeiten, ist der zweckmäßige Wille, der sich als Aufmerksamkeit äußert, für die ganze Dauer der Arbeit erheischt, und um so mehr, je weniger sie durch den eignen Inhalt und die Art und Weise ihrer Ausführung den Arbeiter mit sich fortreißt, je weniger er sie daher als Spiel seiner eignen körperlichen und geistigen Kräfte genießt.“ (Marx 1969a: 192-193) Was ist Arbeit bei Karl Marx? Eine Annäherung in Schritten Arbeit ist …
... das dynamische Wesen des Menschen Die zentrale und für das Folgende grundlegende anthropologische Annahme von Karl Marx, dass der Mensch im Kern ein Arbeitswesen ist, lässt sich mit der hier betrachteten Passage nicht explizit belegen. Daher soll zu allererst mit Bezug auf Aussagen der Frühschriften hervorgehoben werden, dass für Karl Marx das entscheidende Wesensmerkmal des Menschen die Arbeit ist – aber nicht als statische Eigenschaft, sondern als dynamische Potenz und als Prozess der selbstbezüglichen Entfaltung von Möglichkeiten: Arbeit ist „das sich bewährende Wesen des Menschen“, die „Selbsterzeugung des Menschen als (...) Prozess.“ (Marx 1985: 574) … Naturprozess Der oft zitierte (und oft verkürzt verstandene) Einleitungssatz der Definition im „Kapital“ kann als eine Rahmung des ganzen Arbeitsbegriffs begriffen werden. Arbeit, gerade auch die menschliche Arbeit, wird mit Entschiedenheit als Teil der Natur, genauer als ein Natur-Prozess verstanden. Einwände, es handle sich dabei um eine bestenfalls frühindustrielle Vorstellung, da nur damals Arbeit primär auf Natur (etwa in der Landwirtschaft oder im Bergbau) bezogen gewesen sei, sind kurzschlüssig. Zum einen ist die Wortwahl metaphorisch zu verstehen (z.B. beim biologisch wie philosophisch
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G. Günter Voß zu sehenden und ganz sicher auch so doppelsinnig verstandenen „Stoffwechsel“); zum anderen ist sie sehr wohl im engeren Sinne biologisch gemeint.24 Der Mensch wird mit seiner Arbeit dezidiert als Teil der Biosphäre und als biologisches „Gattungswesen“ (Marx 1985: 514ff.) mit besonderen Eigenschaften definiert: „Die Arbeit ist zunächst ein Prozess zwischen Mensch und Natur (…) Stoffwechsel mit der Natur (…).“ (Marx 1969a: 192) … Naturprozess – in den der Mensch aktiv vermittelnd eingreift Dieser Naturprozess der Arbeit ist für Karl Marx keine biologische ‚Automatik‘, sondern ein Vorgang, in dem der Mensch als ein dann doch besonderes Wesen tätig ist, den er aktiv „regelt“ und in den er „kontrollierend“ eingreift und dabei ‚vermittelnde‘ Momente (z.B. Werkzeuge) einsetzt. Arbeit ist sein (!) Prozess in Auseinandersetzung mit der Natur, aber als Teil der Natur: „(…) ein Prozess, worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigne Tat vermittelt, regelt und kontrolliert (…)“ (Marx 1969a: 192). … Tätigkeit des Menschen – als leibliche Bewegung auf Basis natürlicher Potenziale Genau genommen müsste die Definition bei Karl Marx so anfangen: Arbeit ist eine aktive Tätigkeit des Menschen, „seine eigne Tat“ (Marx 1969a: 192). Der marxsche Aufschlag über den Naturbezug ist aber wichtig, da dessen zentrale Aussage ist, dass diese „Tat“ im Kern natürlich und Arbeit Teil des lebendigen Naturprozesses ist. Arbeit ist, gerade auch als menschliche, körperlich (was den ,Kopf‘ einschließt) und beruht auf machtvollen natürlichen Ressourcen des Menschen. Sie ist „Lebenstätigkeit“ (Marx 1985: 516) und dabei aktive „Bewegung“: „Er [der Mensch, G.G.V.] tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung (...).“ (Marx 1969a: 192) … Aneignung der Natur Die lebendige Bewegung des Menschen, mit der er seinen Stoffwechsel mit der Natur regelt, hat eine zentrale Funktion: sie dient der Ergreifung, Inbesitznahme, Unterwerfung und Verfügbarmachung der dem Menschen äußeren Lebensbedingungen (der „Natur“), wofür Karl Marx den berühmten subjekt- wie zugleich rechtsphilosophischen Hegelschen Begriff der „Aneignung“ verwendet: „(…) um sich den Naturstoff (…) anzueignen“ (Marx 1969a: 192). … lebensdienliche Formveränderung Diese als Aneignung bezeichnete Funktion der menschlichen Tat wird durch eine spezifische Leistung erfüllt. Sie ist Veränderung der „Form“ 25 des Vorgefundenen und
Generell verwendet Karl Marx erstaunlich viele biologische Bilder und Metaphern. Die Dialektik von „Form“ (und Formveränderung) und einer durch die Arbeit ‚geformten‘ „Substanz“ (oft, wie hier, auch „Stoff“, siehe den „Naturstoff“, den „Stoffwechsel mit der Natur“ oder, an anderen Stellen, die „Stofflichkeit“ von Arbeit) geht, wie Vieles bei Karl Marx, auf eine Grundfigur des Denkens von Aristoteles zurück. Dieser unterscheidet auf allen Ebenen seiner Philosophie (v.a. aber in der „Metaphysik“) „Form“ (gr. „morphe“, lat. „forma“, oft auch mit „energia“ gleichgesetzt) und „Stoff“ (gr. „hyle“, lat. „materia“) oder „Substanz“ und führt diese in einer komplexen Dialektik zusammen, die in idealistischer Weise der „Form“ (und den formenden Kräften) ontologisch eine Vorrangstellung einräumt – was bis heute folgenreich nicht nur für Jahrhunderte philosophischen Denkens im Westen, sondern für die gesamte durch die Antike geprägte jüdisch-christliche Welt ist, einschließlich ihrer Wirtschaftsformen. Daher auch die durchgehend bei Karl Marx zu findende Verwendung des Formbegriffs, etwa bei der Unterscheidung historischer Gesellschafts-“Formationen“ oder im industriesoziologischen so oft bemühten Theorem der „Transformation“ (Umwandlung von Arbeitskraft in Arbeit; Siehe hierzu den Beitrag von Kira Marrs „Herrschaft und Kontrolle in der Arbeit“ in diesem Band). Beide Begriffe („Form“ und 25
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Ergriffenen (des „Stoffs“) und seine Umwandlung („Stoff-Wechsel“, siehe weiter oben in diesem Abschnitt) in eine für das Leben „brauchbare“ neue Form, in „Gebrauchswerte“ (Marx 1969a: 198), und damit in „Lebensmittel“ (Marx 1985: 513): Der Prozess hat die Funktion, sich den Naturstoff „in einer für sein eignes Leben brauchbaren Form“ (Marx 1969a: 192) anzueignen; er ist „Formveränderung des Natürlichen (…)“ (1969a: 193). … Veränderung der äußeren Natur Die Veränderung bleibt nicht auf den aus der (Um-)Welt angeeigneten und dann formveränderten Gegenstand beschränkt, sondern wirkt auf die Natur zurück. Durch Arbeit steht der Mensch in systematischer Wechsel-Wirkung („Stoffwechsel“) mit der Natur – ein entscheidender Gedanke angesichts des Themas Ökologie. Arbeit verändert durch die intendierten Eingriffe (und die nicht intendierten Nebenfolgen) die Natur, auf die sie sich bezieht. Dass diese Veränderung eine „Entäußerung“ und damit eine „Vergegenständlichung“ des Resultats der Arbeit in die Welt bedeutet, ist eine bei Karl Marx leitende Vorstellung, obwohl die beiden von Georg Wilhelm Friedrich Hegel entlehnten Begriffe – und damit erst einmal auch der Gedanke – hier überraschenderweise nicht verwendet werden: „Indem er durch diese Bewegung auf die Natur außer ihm wirkt und sie verändert (…).“ (Marx 1969a: 192) … Selbstveränderung des Menschen Arbeit ist in ihrem Wechselwirkungsprozess nicht nur nach außen wirksam, sondern beeinflusst und verändert nach Karl Marx auch den Menschen – jeden Einzelnen, vor allem aber auch das „Gattungswesen“, also evolutionär (Marx 1985: 514ff.): „(…) verändert er zugleich seine eigne Natur.“ (Marx 1969a: 192) … Entfaltung der Potenzen der menschlichen Natur Diese Selbstveränderung durch Arbeit ist im Kern letztendlich Selbstentfaltung, ja sogar „Selbsterzeugung“ (Marx 1985: 574) des Menschen. Als Einzelner und als Gattungswesen entdeckt, ergreift und entfaltet er durch Arbeit seine latenten Möglichkeiten und entwickelt sich dadurch weiter, was sowohl natur- als auch zivilisationsgeschichtlich (historisch) verstanden werden kann: „Er entwickelt die in ihr [der menschlichen Natur, G.G.V.] schlummernden Potenzen (…).“ (Marx 1969a: 192) … Beherrschung der menschlichen Natur durch den Menschen Arbeit als aktive Selbstveränderung und Selbsterzeugung des Menschen durch den Menschen bedeutet, dass der Mensch, onto- und phylogenetisch, nicht nur die mit der Natur gegebenen äußeren Möglichkeiten aktiv kontrollierend ergreift, sich aneignet und verfügbar macht, sondern auch seine eigenen „Potenzen“. Arbeit ist in diesem Sinne auf sich selbst bezogene Steuerung und Beherrschung der eigenen natürlichen Möglichkeiten: „ (…) und unterwirft das Spiel ihrer Kräfte [der menschlichen Natur, G.G.V.] seiner eignen Botmäßigkeit.“ (Marx 1969a: 192) … rudimentär auch bei Tieren zu finden
„Stoff“) sollten auf keinen Fall voreilig konkret verstanden werden. Es sind abstrakte philosophische Begriffe mit komplexer Vieldeutigkeit, wie auch der Begriff der „Natur“, der ebenfalls nicht auf die ‚gegenständliche‘ äußere Natur der Pflanzen, Tiere und was immer man damit verbinden mag verkürzt werden darf. Siehe auch das weiter oben in diesem Abschnitt dargestellte physikalische Verständnis von Arbeit als Prozess der auf Energie (=Arbeitsvermögen) beruhenden Krafteinwirkung, die eine Veränderung an einem Objekt gegen Widerstand bewirkt. Man kann vermuten, dass Karl Marx sich damit auskannte und es bei seinen Überlegungen zumindest indirekt wirksam wurde.
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G. Günter Voß Karl Marx fügt hier die – selbst aus heutiger Sicht für manche Leser möglicherweise erstaunliche – Feststellung an, dass sich Arbeit nicht nur bei Menschen, sondern auch bei Tieren findet.26 Diese Überlegung ist indirekt in der Aussage enthalten, dass genuin menschliche Arbeit sich von der „tierhaften“ weil „instinktmäßigen“ Form von Arbeit systematisch unterscheidet: „Wir haben es hier nicht mit den ersten tierhaft instinktmäßigen Formen der Arbeit zu tun.“ (Marx 1969a: 192) Obwohl evolutionär frühe Formen menschlicher Arbeit durchaus (noch) diese animalischen Relikte enthalten,27 wird für den Menschen eine andere Qualität von Arbeit reserviert, die dem Menschen „ausschließlich angehört“ (Marx 1969a: 192), was mit dem berühmten Spinne/Biene-Baumeister-Bild veranschaulicht wird. Gegenüber der modernen Form von Arbeit (der „Zustand, worin der Arbeiter als Verkäufer seiner Arbeitskraft auf dem Warenmarkt auftritt“ (1969a: 192) „(…) ist in urzeitlichen Hintergrund der Zustand entrückt, worin die menschliche Arbeit ihre erste instinktartige Form noch nicht abgestreift hatte. Wir unterstellen die Arbeit in einer Form, worin sie dem Menschen ausschließlich angehört. Eine Spinne verrichtet Operationen, die denen des Webers ähneln, und eine Biene beschämt durch den Bau ihrer Wachszellen manchen menschlichen Baumeister.“ (Marx 1969a: 192-193) … beim entwickelten Menschen bewusste und imaginierte Ziele anstrebende, sich selbst-beherrschende Tätigkeit Diese nur für den Menschen reservierte Qualität arbeitender Tätigkeit wird schließlich über das Merkmal Bewusstsein bestimmt.28 Im Detail verbirgt sich dahinter ein komplexes (sehr hegelianisches) Set von Aspekten. Genuin menschliche Arbeit ist für Karl Marx bewusst in dem Sinne, dass sie ideell „vorgestellte“ Ziele anstrebt: „Was aber von vornherein den schlechtesten Baumeister vor der besten Biene auszeichnet, ist, dass er die Zelle in seinem Kopf gebaut hat, bevor er sie in Wachs baut. Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war.“ (Marx 1969a: 193)
26 Friedrich Engels verschärft diesen Gedanken, indem er der Arbeit die Funktion zuweist, dass sie evolutionär „den Menschen selbst geschaffen“ (Engels 1972: 444) habe: Durch den Übergang zum aufrechten Gang wurde die Hand zur Nutzung frei, was eine erweiterte produktive Verwendung erlaubte, die dann nach Friedrich Engels die physische Spezialisierung beförderte: „So ist die Hand nicht nur das Organ der Arbeit, >“ (Engels 1972: 445; Hervh. i.O.) 27 Hier wird deutlich, wie intensiv sich Karl Marx auf die revolutionären Einsichten von Charles Darwin bezieht und das Gattungswesen Menschen in die Evolutionslinie der Säugetiere einordnet. Es ist bemerkenswert, wie hellsichtig (und weit vorausschauend) er manchen Tierarten dezidiert Arbeit zuschreibt; eine Erkenntnis, die in der philosophischen Anthropologie erst mit Max Schelers Einordnung des Menschen als den Tieren verwandtes kreatürliches Wesen (Scheler 1975) breiter akzeptiert wurde und die sich in neuester Zeit erst langsam in der Verhaltensforschung durchsetzt; siehe ausführlich u.a. Lawrence Krader (1976). 28 Das sieht in dieser Zeit nicht nur Karl Marx so, sondern z.B. auch Pierre Joseph Proudhon, der aber in Bezug auf die für ihn allein Eigentum schaffende Arbeit wesentlich rigider formuliert: „ (…) der Mensch allein arbeitet, weil allein er seine Arbeit begreift und mit Hilfe seines Bewusstseins seine Vernunft bildet. Die Tiere, die wir bildlich Arbeitende nennen, sind nur Maschinen unter der Hand eines der beiden gegensätzlichen Schöpfer, Gottes und des Menschen. Sie begreifen nichts, folglich produzieren sie nichts“ (Proudhon 2003: 428; Hervh. i.O.), „Arbeit ist Verausgabung des Geistes“ (Proudhon 2003: 428). Dazu ist anzumerken, dass Pierre Joseph Proudhon genau genommen nur dem Mann Arbeit zuspricht (Frauen sind für den Haushalt und damit für den Konsum zuständig (Proudhon 2003: z.B. 425ff.)). – Siehe auch Friedrich Engels, mit einer anderen Akzentuierung: „Aber alle planmäßige Aktion aller Tiere hat es nicht fertig gebracht, der Erde den Stempel ihres Willens aufzudrücken. Dazu gehörte der Mensch“ (Engels 1972: 538). Was ihn dann zu der auf Nebenfolgen verweisenden Feststellung führt: „Schmeicheln wir uns aber indes nicht zu sehr mit unseren menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns“ (Engels 1972: 538).
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Außerdem ist menschliche Arbeit bewusst in dem (weitergehenden) Verständnis, dass sie einem „Zweck“ folgt, der den Prozess „als Gesetz“ kontrolliert und dem „Willen“ unterwirft. Das ist die anspruchsvollste Aussage der gesamten Definition, denn hier wird Arbeit als Vorgang bestimmt, der im Kern Herrschaft über den Prozess bedeutet, auch als Selbst-Beherrschung des Arbeitenden. Mehr noch: „Zweck“ betrifft hier, wenn man die vieldeutige Aussage weit auslegt, nicht allein den je konkreten Zweck einer Arbeitstätigkeit, sondern auch „seinen Zweck“ als allgemeines menschliches Wesen: „Nicht dass er [der Mensch, G.G.V.] nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck, den er weiß, der die Art und Weise seines Tuns als Gesetz bestimmt und dem er seinen Willen unterordnen muss.“ (Marx 1969a: 193) Beides zusammen ist in der marxschen Konzeption eine strategische Figur, so lapidar die Sätze erscheinen mögen. Der „Zweck“ (oder Plan),29 der den Verlauf der Arbeit bestimmt und damit beides trennt (das eine steuert das andere), ist für Karl Marx das Einfallstor dafür, dies auch gesellschaftlich trennen und beherrschen zu können: Das Doppelgesicht menschlicher Arbeit ermöglicht es, sie aufzuteilen in Planung und Umsetzung und beides verschiedenen Gruppen zuzuweisen. Das ist die Grundlogik herrschaftlicher Steuerung menschlicher Arbeit durch Arbeitsteilung z.B. im Betrieb (Trennung von „Kopf-“ und „Handarbeit“), besonders zugespitzt und explizit im Taylorismus.30 Philosophisch (mit Karl Marx) betrachtet geschieht dabei nichts anders, als dass menschliche Arbeit gespalten wird in ihren genuin humanen Anteil (die geistige Planung) und den auch in der Arbeit von Menschen immer vorhandenen animalischen Teil (die ‚vorstellungslose‘ und damit rein körperliche Ausführung). Hoch entfremdete Arbeit (wie und wo auch immer) reduziert nach Karl Marx den Arbeitenden in diesem Sinne sozusagen auf sein ‚tierisches‘ Wesen – und ist damit für ihn (so gesehen) wesensfremd. … zweckgerichtete und kontinuierlich willentlich kontrollierte und dabei Aufmerksamkeit erfordernde Tätigkeit Im Hinweis, dass diese Selbst-Beherrschung kontinuierlich im Prozess der Arbeit erforderlich sei, steckt ein wesentlicher Aspekt, der gesondert hervorzuheben ist: Arbeit erfordert nicht nur eine einmalige zweck-mäßige Zielsetzung, sondern die andauernde („Aufmerksamkeit erfordernde“) zielgerichtete Steuerungsbemühung. Arbeit ist insoweit nicht mühelos und schon gar nicht selbstläufig, vor allem, weil die Anstrengung des Körpers (der „Organe“, zu denen wir getrost auch im Sinne von Karl Marx das denkende Gehirn zählen dürfen) bei der Arbeit hinzukommt: „Und diese Unterordnung ist kein vereinzelter Akt. Außer der Anstrengung der Organe, die arbeiten, ist der zweckmäßige Wille, der sich als Aufmerksamkeit äußert, für die ganze Dauer der Arbeit erheischt (…).“ (Marx 1969a: 193) … keine Tätigkeit als sich selbst genügendes genießendes Spiel der Kräfte Diese Abschlussbemerkung führt schließlich zu einer aufschlussreichen negativen Bestimmung, also dazu, was Arbeit nicht (!) ist. Arbeit ist Tätigkeit – aber keine Tätig-
Dieser Gedanke wird gelegentlich so verstanden, dass menschliche Arbeit sich dadurch auszeichnet, dass sie „planvoll“ ist, d.h. einem vorher festgelegten „Plan“ folgt. Dies ist zumindest genauer zu durchdenken (wenn nicht gar in Zweifel zu ziehen): einen Zweck zu haben bedeutet nicht, einem festen „Plan“ zu folgen – was ganz offensichtlich nur selten bei menschlicher Arbeit die Realität ist, aber immer wieder als Fiktion vertreten wird. 30 Vgl. exemplarisch Harry Bravermann (1977), der dies anschaulich, auch im Rückgriff auf den Arbeitsbegriff von Karl Marx, nachzeichnet und damit den Taylorismus wie auch die Entstehung von Management erklärt.
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G. Günter Voß keit, die in sich ruht, ihren Zweck in sich selbst hat, den Tätigen mitreißt und/oder ihm Genuss beim Erleben des „Spiels“ seiner Möglichkeiten bereitet. Der erstaunliche Kontrast von Arbeit zu diesen Aspekten verweist (positiv gesehen) auf etwas Entscheidendes: Arbeit hat für Karl Marx einen Zweck, der außerhalb des Prozesses selbst liegt,31 und sie erfordert die oben genannten (selbst-)herrschaftlichen Bemühungen. Ob damit dann indirekt eine Bestimmung von „Spiel“ gegeben wird, soll hier nicht verfolgt werden. Wichtig ist aber, dass die Formulierung (als einzige in der Passage) relational ist: Eine Tätigkeit ist „um so mehr“ Arbeit (die Willensanstrengung erfordert), „je weniger“ sie die hier genannten Merkmale erfüllt. Sie ist nicht eindeutig entweder Arbeit oder nicht Arbeit, sondern ihr Charakter als Arbeit hängt davon ab, wie stark die Merkmale gegeben sind – sie kann also ‚mehr oder weniger‘ Arbeit sein: „(…) je weniger sie durch den eigenen Inhalt und die Art und Weise ihrer Ausführung den Arbeiter mit sich fortreißt, je weniger er sie daher als Spiel seiner eigenen körperlichen und geistigen Kräfte genießt.“ (Marx 1969a: 193) … Gebrauch von Arbeits-Mitteln Die komprimierte philosophisch-allgemeine Definition endet in gewisser Weise mit dieser ‚genussfeindlichen‘ Abgrenzung von anderen Tätigkeiten. Es folgt (in auffällig anderem Stil) jedoch noch zumindest ein Aspekt, der hier nicht unterschlagen werden darf. In einer anschaulichen Analytik werden die „einfachen Momente“ des Arbeitsprozesses unterschieden: „die zweckmäßige Tätigkeit“ („oder die Arbeit selbst“), „ihr Gegenstand“ und dann vor allem „ihr Mittel“ (Marx 1969a: 194). Dieses letzte Moment erfordert eine besondere Aufmerksamkeit: Es ist das „Arbeits-Mittel“ oder – technisch gesehen – „das Werkzeug“. Die technische Zuspitzung verschleiert aber den eigentlich wichtigen (erneut hegelianischen) Gedanken. Es geht um ein Moment („ein Ding, oder ein Komplex von Dingen“, Marx 1969a: 194), das ganz allgemein zwischen Arbeit resp. Arbeitendem und dem Objekt der Arbeit „vermittelt“ – das kann unter Umständen auch eine Organisations- oder Verfahrensweise sein, auch wenn es hier „Ding“ heißt.32 Die Art und Weise dieser „Vermittlung“ beeinflusst tiefgreifend den Prozess der Arbeit, darüber den Arbeitenden und schließlich die allgemeinen Bedingungen unter denen er tätig ist. Es geht um einen „(...) Komplex von Dingen, die der Arbeiter zwischen sich und den Arbeitsgegenstand schiebt und die ihm als Leiter seiner Tätigkeit auf diesen Gegenstand dienen“ (Marx 1969a: 194). Hervorzuheben ist dabei zunächst, dass gerade auch bei diesem Thema noch einmal die Parallele zum Tier hergestellt wird: „Der Gebrauch und die Schöpfung von Arbeitsmitteln, obgleich im Keim schon gewissen Tierarten eigen, charakterisieren den spezifisch menschlichen Arbeitsprozess (…).“ (Marx 1969a: 194) Die Art der Mittel ist historisch außerdem (mit-) entscheidend für die Ausprägung der jeweiligen
31 Dass ein wichtiges Moment von Arbeit darin besteht, dass sie nicht nur einen Zweck verfolgt (das kann bewusste Muße auch), sondern dass dieser nicht mit der Tätigkeit selbst zusammenfällt oder „über sich hinausführt“ (was immer das meint), ist einer der Kernpunkte eines allgemeinen Arbeitsbegriffs, der häufiger von nicht ökonomistisch verengten Theoretikern betont wird (vgl. z.B. Walraff u.a. 1957: 396). Pointiert erklärt auch schon Karl Bücher bei der Untersuchung des Zusammenhang von Musik resp. Tanz und Arbeit bei „Naturvölkern“ (Bücher 1924): „Arbeit soll nur die auf die Erzielung eines außer ihr gelegenen Erfolgs gerichtete Bewegung sein; alle Bewegungen dagegen, deren Zweck in ihnen selbst liegt, sollen nicht Arbeit sein“, um dann nachzuschieben „Ob die Grenze hier für das Dasein der Kulturmenschen richtig gezogen ist, kann dahingestellt bleiben“ (Bücher 1924: 1). 32 Letztlich sind auch Gesellschaft (resp. sozialorganisatorische Formen) und ihre Erscheinungsweisen als historisch spezifische „gesellschaftliche Verhältnisse“ ein solches Moment, mit dem der Mensch die arbeitende Auseinandersetzung mit der Natur „vermittelt“.
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gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen gearbeitet wird: „Nicht was gemacht wird, sondern wie, mit welchen Arbeitsmitteln gemacht wird, unterscheidet die ökonomischen Epochen. Die Arbeitsmittel sind nicht nur der Gradmesser der Entwicklung der menschlichen Arbeitskraft, sondern auch Anzeiger der gesellschaftlichen Verhältnisse, worin gearbeitet wird.“ (1969a: 194-195) Mit diesem Aspekt haben wir aber das Feld des allgemeinen Arbeitsbegriffs verlassen, denn die Arbeitsmittel und ihre Entwicklung verweisen auf die historische Entwicklung und Konkretion von Arbeit.
… mit ambivalenter Offenheit und impliziten Engführungen Die allgemeine Bestimmung von Arbeit über die extrahierten Teilmomente ist trotz ihrer Kompaktheit erstaunlich komplex und dialektisch tiefgründig. Nicht nur zur Erleichterung für den Leser soll trotzdem eine weitere Komprimierung riskiert werden. Der allgemeine Arbeitsbegriff von Karl Marx Arbeit lässt sich unter Rückgriff auf Karl Marx allgemein wie folgt bestimmen:
Arbeit ist im weitesten Sinne Naturprozess und dabei entscheidende Eigenschaft des Naturwesens Mensch. Arbeit ist lebendige, körperlich basierte (aber dabei immer auch geistige) Tätigkeit. Arbeit ist ein Prozess der Aneignung von Momenten der (natürlichen) Welt durch und für den Menschen. Arbeit ist lebensdienliche Formung, genauer: Umformung des Vorgefundenen. Arbeit ist aktive Selbstbeherrschung und dadurch Selbstveränderung des Arbeitenden wie auch Beherrschung und (sich vergegenständlichende) Veränderung der (natürlichen) Welt. Arbeit ist auch bei Tieren zu finden, wird aber in ihrer voll entfalteten Form beim Menschen zur bewussten und zweckgerichteten sowie willentlich beherrschten und zumindest kontrollierende Anstrengung erfordernden Tätigkeit, die (meist technisch oder medial i.w.S.) vermittelt wird.
Dieses Kondensat eines allgemeinen Arbeitsbegriffs darf jedoch nicht einfach so stehen bleiben, ohne Karl Marx selbst mit einer oft zitierten ‚Zusammenfassung‘ zu Wort kommen zu lassen, worauf man dann beides vergleichen kann: Arbeit in ihren „einfachen und abstrakten Momenten (…) ist zweckmäßige Tätigkeit zur Herstellung von Gebrauchswerten, Aneignung des Natürlichen für menschliche Bedürfnisse, allgemeine Bedingung des Stoffwechsels zwischen Mensch und Natur, ewige Naturbedingung des menschlichen Lebens und daher unabhängig von jeder Form dieses Lebens, vielmehr allen seinen Gesellschaftsformen gemeinsam.“ (Marx 1969a: 198) Aufschlussreich ist zudem eine Anmerkung an anderer Stelle, die man dieser ‚Kurzfassung‘ seines Arbeitsverständnisses zur Seite stellen kann: „Man kann die Menschen durch das Bewusstsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, so-
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G. Günter Voß bald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren, ein Schritt, der durch ihre körperliche Organisation bedingt ist. Indem die Menschen Ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie indirekt ihr materielles Leben.“ (Marx/Engels 1978: 21)
Bleibt dem noch etwas anzufügen? Hier ist, wie gesagt, nicht der Platz, um eine umfassende Interpretation zu entwickeln. Gleichwohl sollen einige Aspekte hervorgehoben werden, die deutlich machen, warum auch aus heutiger Sicht der skizzierte allgemeine Arbeitsbegriff Besonderheiten aufweist, die ihn zum bislang theoriegeschichtlich anspruchsvollsten Fundament für eine grundlegende Beschäftigung mit dem Gegenstand machen. Dies gilt auch, wenn, wie sich zeigen wird, bei genauem Hinsehen dann doch implizite Engführungen erkennbar werden, die dezidiertes Nachfragen nötig machen. Besonderheiten des Begriffs (1) Die erste Besonderheit des allgemeinen Arbeitsbegriffs von Karl Marx ist, dass es ihn überhaupt gibt. Entgegen manchen Vorurteilen reduziert Karl Marx Arbeit gerade nicht auf Lohnarbeit, sondern legt seiner Theorie einen höchst komplexen philosophischanthropologischen Arbeitsbegriff größter Allgemeinheit zugrunde. Dieser ist Basis dafür, dass er dann im Schwerpunkt seiner Analysen mit historischem Blick zeigt, wie sich in verschiedenen Epochen und vor allem dann in der kapitalistische Gesellschaft Arbeit konkret zeigt, d.h. wie sie durch gesellschaftliche Mechanismen und Verhältnisse ‚geformt‘ wird und vielfältige Folgen, z.B. Entfremdungsmomente, zeitigt. Das zu verstehen ist jedoch nur möglich vor dem Hintergrund eines allgemeinen Verständnisses von Arbeit, und fast ist man geneigt, von einer Art ‚Abstandsmessverfahren‘ zu sprechen, nicht unähnlich dem Vorgehen, das Max Weber mit dem Konzept des „Idealtypus“ im Auge hatte.33 (2) Die zweite Besonderheit ist, dass das marxsche Arbeitsverständnis weder ökonomistisch noch technizistisch verengt ist, wie Karl Marx manchmal unterstellt wird. Ganz im Gegenteil! Man könnte in Anlehnung an sein Lob für Georg Wilhelm Friedrich Hegel sagen: Das „Große an (…)“ seinem Blick auf Arbeit ist, dass er voll und ganz „auf dem Boden (…)“ der gesamten westlich-humanistischen Geistesgeschichte steht; ja, dass er nachgerade eine (zumindest im ersten Schritt) hochgradig idealistische Vorstellung von Arbeit vorlegt. Fast könnte man erschrocken sein darüber, dass im Kern des angeblich so materialistischen marxschen Verständnisses von menschlicher Arbeit eine dezidierte Vorstellung von bewusster Steuerung und Planung, also von „Geist“ und „Bewusstsein“ zu finden ist. Dass Karl Marx zugleich (aber anders, als er es Georg Wilhelm Friedrich Hegel zugute hält) bei seiner Analyse konkreter Arbeit im Kapitalismus „auf dem Boden der modernen Nationalökonomie“ (Marx 1985: 574) steht, tut dieser Feststellung keinen Abbruch. (3) Der Verweis auf den „Stoffwechsel mit der Natur“ wird Karl Marx hin und wieder als verengte Sicht auf rein naturbezogene Primärarbeit vorgeworfen (was in jeder Hinsicht verfehlt ist). Eher selten findet man den Hinweis darauf, dass Karl Marx hier kein rückwärtsgewandtes vulgärmaterialistisches Menschenbild pflegt, sondern den Menschen und seine Aktivität in einen ökologischen Kontext und damit in die Naturgeschichte einordnet. In einer eigenartigen realdialektischen Volte hat Karl Marx damit viele seiner naiven Kritiker sozusagen überholt und ist in der Welt der postindustriellen Gesellschaft (und ihrer ökologischen Probleme und evolutionstheoretischen Weltsichten) gelandet. Was daraus 33
„(…) wie nahe oder fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht (…).“ (Weber 1988: 191; s.a. 1968).
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politisch folgen könnte, ist noch kaum diskutiert, und das theoretische Potenzial ist noch kaum ausgeschöpft. Dass Karl Marx die werkzeugvermittelte Tätigkeit der Menschen mit der der Tiere vergleicht, ist beindruckend, denn diese Stufe ethologischer Erkenntnis wurde allgemein erst in jüngster Zeit erreicht. Karl Marx bei seinem Arbeitsverständnis hinsichtlich der Naturfrage Blindheit vorzuwerfen, ist vor diesem Hintergrund bestenfalls kurzschlüssig. (4) Es ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass die von Georg Wilhelm Friedrich Hegel geprägte fein verästelte Dialektik des Arbeitsbegriffs bei Karl Marx jede SchlichtInterpretation verbietet. Arbeit ist bei Karl Marx, auch wenn das in seinen verdichteten Sätzen nur anklingt, ein höchst komplexer Wechselprozess von menschlichen Aneignungen und Entäußerungen, die den Menschen wie auch die Welt im weitesten Sinne verändern – was onto- wie phylogenetisch und natürlich historisch verstanden werden muss. Wenn es einen Vorwurf geben kann, dann betrifft er zum einen eine ‚Schlagseite‘ der Dialektik, die der Entäußerung und Vergegenständlichung durch Arbeit offensichtlich Vorrang gibt vor möglichen Rückwirkungen und Eigenlogiken des „Natürlichen“. Zum anderen ist es die (nicht immer nur latente) idealistische Teleologie mit einer von Georg Wilhelm Friedrich Hegel geerbten eschatologischen Fortschritts- und manchmal absolut anmutenden Endzeitoder gar Heilsvision, die nicht kritiklos akzeptiert werden kann. (5) Erstaunlich ist auch die auf bewusst zielorientiertes Handeln ausgerichtete Zuspitzung der für den Menschen reservierten Form von Arbeit. Diese Arbeit ist bei Marx zwar auch natürlicher und damit körperlicher Prozess, aber sie ist dezidiert durch eine geistige Tätigkeit angeleitet; ja sie ist rational geleitete Selbststeuerung und Selbstkontrolle zur Erreichung definierter Zwecke (das Resultat, das „vorher im Kopf schon vorhanden“ ist). (6) Schließlich soll noch einmal auf die oben kurz erwähnte begriffsstrategische Besonderheit aufmerksam gemacht werden: Arbeit wird zwar (in großer Allgemeinheit) quasi ‚definiert‘, aber diese Definition enthält, zumindest in ihrer sprachlichen Form, an zumindest einer Stelle eine bedeutsame Unschärfe. Eine Tätigkeit ist danach für Marx anscheinend mehr oder weniger Arbeit, je nachdem wie stark sie sich selbst genügt bzw. durch den planenden und steuernden menschlichen Willen beherrscht wird. Man kann das so auslegen, dass die Begriffsbestimmung von Arbeit nicht auf eine Ja- oder Nein- (oder SchwarzWeiß-) Definition hinauslaufen muss, sondern potenziell dynamisch oder relational angelegt ist, was theoriestrategisch von großem Vorteil ist. Eine Tätigkeit kann in dieser Perspektive nicht nur mehr oder weniger Arbeit sein, sie kann auch Arbeit hinsichtlich des einen definitorischen Aspekts sein, aber nicht hinsichtlich eines anderen. Und man kann dadurch schließlich Arbeit im engeren und vollständigen menschlichen Sinne vielfältigen anderen Erscheinungsformen von Arbeiten oder arbeits-ähnlichen Aktivitäten gegenüberstellen. Genau genommen folgt Marx in seinen historischen Analysen exakt diesem Muster: Er fasst begrifflich eine historische Erscheinungsvariante von Arbeit (entfremdete Lohnarbeit), die er als systematischen Ausdruck und Basis spezifischer gesellschaftlicher Verhältnisse bestimmt. Diese Erscheinungsweise ist gegenüber der ‚reinen‘ Bestimmung für ihn nur eine reduzierte (um nicht zu sagen ‚degenerierte) Variante oder eine Art ‚pathologisches‘ Derivat des gattungsmäßig möglichen Originals.
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Implizite Engführungen Die Ausführungen zum Arbeitsbegriff bei Karl Marx sollten durchaus zeigen, dass mit ihm auf hohem philosophischem Niveau und mit bemerkenswerter Offenheit begrifflich gefasst wird, was allgemein ,Arbeit ist‘. Das soll aber nicht heißen, dass man nun leichten Herzens zur arbeitssoziologischen Routine übergehen kann, weil ja nun Gewissheit über den Arbeitsbegriff herrscht. Nach wie vor ist das Gegenteil der Fall. Es sind gerade die aufschlussreichen philosophischen Nuancen, Mehrebigkeiten und dialektischen Spannungen (vielleicht sogar Widersprüchlichkeiten) dieses ‚tiefgründigen‘ Arbeitsbegriffs in seinem materialistisch gewendeten Anschluss an Georg Wilhelm Friedrich Hegel, die vor dem Hintergrund des aktuellen Wandels besonders der entwickelten Gesellschaften mehr denn je offen lassen, was diese wichtige Form von Aktivität ist, sein kann und sein soll. Außerdem enthält das marxsche Konzept bei näherem Hinsehen im Kern zugleich markante Begrenzungen, die einen auffälligen Kontrapunkt zu den bisher herausgestellten Momenten bilden und sein auf den ersten Blick so humanistisches Menschenbild und seine emphatische Vorstellung von Natur in einem anderen Licht erscheinen lassen: (1) Trotz seiner erfrischenden Offenheit bleibt das marxsche Grundverständnis von Arbeit in seinem Kern dezidiert herrschaftlich und zwar gleich in einem doppelten Sinne: Zum einen impliziert es eine unhinterfragte Unterwerfung und selbstgerechte Aneignung des Vorgefundenen, also der „Welt“ oder der „Natur“ bzw. des „Stoffs“ im marxschen Wortgebrauch. Diese „Welt“ steht nach Marx der Arbeit und dem Arbeitenden objektivistisch zur freien Verfügung und mit ihr kann letztlich beliebig verfahren werden. Dass es nicht nur im naturwissenschaftlich-technischen Sinne „stoffliche“, sondern auch in der äußeren Sache liegende eigenwertliche Grenzen oder gar eine zu berücksichtigende Dignität des angeeigneten „Naturstoffs“ geben könnte, ist bei ihm kein Thema. Nur der Arbeitende ist Subjekt – das Gegenüber bleibt allein instrumentell verfügbares und im Zweifel ungefragt, wenn nicht gar rücksichtslos umformbares Objekt. Auch die völlig ungebrochene Vorstellung von einem Recht des Menschen, in der Welt Produkte zu hinterlassen, ja sogar Arbeit markant auf diesen einseitigen Akt des Entäußerns und produktiven Vergegenständlichens zuzuspitzen, basiert auf herrschaftlichem Denken. – Zum anderen impliziert Arbeit hier immer nicht nur die Unterwerfung der äußeren, sondern auch der inneren Natur, also des Menschen selbst. Sie ist menschliche Selbst-Beherrschung und darf, als Arbeit, nicht zum freien „Spiel der Kräfte“ (Karl Marx) werden. Das bedeutet, dass sich der Mensch in der instrumentellen Unterwerfung des Objekts selbst zum Objekt macht. Beide Implikationen bedeuten angesichts aktueller Erkenntnisse über die Grenzen der Naturvernutzung und -verschmutzung wie zugleich der Vernutzung und Verobjektivierung des Menschen in und mittels Arbeit mehr als eine nur skeptisch zu bewertende Engführung. (2) So naturbezogen und naturgeschichtlich die ausgeführte Vorstellung von Arbeit bei Karl Marx auch ist, sobald es um wirklich ‚menschliche‘ Arbeit geht, kippt sie fast umstandslos in einen ausgeprägten Idealismus um. Arbeit in ihrer reinen Form ist dann eben doch alteuropäisch-hegelscher ‚Geist‘. Damit wird genau genommen nicht nur ein allgemeines ideelles Moment besonders hervorgehoben, sondern Arbeit der Tendenz nach auf eine zweck-rationale oder eng instrumentelle Variante des Geistigen reduziert. Der ohnehin schon überraschende Idealismus des marxschen Arbeitsbegriffs bekommt damit zusätzlich eine Schieflage in Richtung eines anthropozentrischen Rationalismus. Und die hier fast bis ins Detail gehenden Parallelen zu Max Weber (zum Idealtypus der Zweckratio-
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nalität) ist bemerkenswert. Arbeit darf so gesehen für Marx anscheinend keine primär sinnliche Tätigkeit und schon gar nicht sich selbst überlassene Entfaltung der Körperlichkeit sein, weder im Umgang mit dem Objekt der Arbeit noch im Umgang des Arbeitenden mit sich selbst – diese Qualitäten werden für animalische oder quasi-animalisch entfremdete Arbeit von geknechteten Menschen reserviert und insofern abgewertet. Die Tiefenbedeutung des allgemeinen marxschen Arbeitsbegriffs Beide Engführungen lassen erkennen, dass die allgemeine marxsche Vorstellung von Arbeit stärker als zunächst vermutet den rationalistischen, objektivistischen und produktivistischen Geist der klassischen (wenn nicht gar der industriellen) Moderne widerspiegelt. In dem vorgestellten allgemeinen Verständnis von Arbeit steckt trotz wichtiger positiver Offenheiten letztendlich doch eine sehr spezifische Aktivitätsform. Arbeit erweist sich dann als …
die bewusst zweckrational gesteuerte planmäßige Tätigkeit des sich selbstbeherrschenden Menschen (Rationalismus), in einseitiger Bezugnahme auf einen dem Menschen unhinterfragt zur Verfügung stehenden und instrumentell zu beherrschenden Gegenstand ohne eigene Dignität in einer als solcher nicht thematisierten (Um-)Welt („Stoff“, „Natur“) (Objektivismus), mit dem Ziel und dem Recht der ebenso selbstverständlichen Entäußerung und Vergegenständlichung eines Produkts, dessen Nebenfolgen für diese Welt nicht problematisiert werden (Produktivismus).34
Diese Tiefenbedeutung des allgemeinen Arbeitsbegriffs von Karl Marx verbirgt sich hinter seinem auf den ersten Blick so philosophisch weiten Konzept. Man kann von einem impliziten zweiten marxschen Arbeitsbegriff (neben einem dritten: dem der kapitalistischen Lohnarbeit) sprechen, der den ersten überraschend undialektisch ‚entfremdet‘. 2.2
Nuancierung des allgemeinen marxschen Arbeitsbegriffs
Exemplarisch für außerhalb der engeren Arbeitssoziologie oder in deren Randbereichen vorgelegte Beiträge zu einem allgemeinen Verständnis von Arbeit sollen hier zwei philosophische Argumentationen aus der zweiten Generation der kritischen Theorie vorgestellt werden, die sich direkt auf das marxsche Konzept beziehen. Diese haben vermutlich durchaus bei dem einen oder anderen Fachvertreter ihre Spuren hinterlassen, von einer systematischen Rezeption kann aber nicht gesprochen werden. Im Alltag der arbeitssoziologischen Forschung zeigte man sich davon weitgehend unberührt.
34
Mit Agnes Heller kann man darin ein ‚Umkippen‘ des anfänglich noch philosophisch offenen „paradigm of work“ in ein „paradigm of production“ (Heller 1985) sehen, das in der hier vorgenommen Interpretation schon im allgemeinen Arbeitsbegriff von Karl Marx angelegt ist. Siehe auch Bernd Termes (2008: 91ff.), mit einer ähnlichen, die hegelianische Basis von Karl Marx` Menschenbild hervorhebenden Interpretation.
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Herbert Marcuse: Arbeit als Entfaltung der existenziellen Möglichkeiten des Menschen In einer schon 1933 erschienenen Abhandlung (die aber erst mit ihrer Wiederveröffentlichung 1970 breitere Beachtung findet) bezieht Herbert Marcuse vor dem Hintergrund einer Debatte der 1920er Jahre zum Arbeitsbegriff35 dezidiert Stellung gegen eine wirtschaftlich verengte Vorstellung von Arbeit. Noch stark durch eine existenzialistisch gewendete Phänomenologie geprägt, bemüht er sich um eine explizit „allgemeine“ Bestimmung von Arbeit in Absetzung vom „Spiel“ als dem für ihn letztlich ebenso bedeutsamen anderen Tätigkeitsfeld des Menschen. Die Arbeit vom Spiel unterscheidenden Merkmale sind bei Marcuse (1970: 17-18): (1) „Dauer“: Arbeit besteht nicht, wie das Spiel, aus einzelnen Aufgaben, sondern ist eine kontinuierliche existenzielle Aufgabe, so dass man „(…) vom ‚Leben als Arbeit‘ sprechen [könne, G.G.V.], aber nicht vom ‚Leben als Spiel‘“; (2) „Ständigkeit“: Bei Arbeit soll im Unterschied zum Spiel etwas „herauskommen“, sie zielt auf eine „Vergegenständlichung“; (3) „Lastcharakter“: Arbeit stellt das menschliche Tun „unter ein fremdes, auferlegtes Gesetz (…) unter das Gesetz der ‚Sache‘ „, woraus eine notwendige Anstrengung, aber nicht unbedingt ein „Unlustgefühl“ im Arbeitsprozess folgt. Zentrale Funktion von Arbeit in diesem existenziell allgemeinen Sinne ist für Herbert Marcuse das als „Praxis“ vollzogene „zweckmässige“ „Hervorbringen und Weiterbringen des Daseins und seiner Welt“ (Marcuse 1970: 20), was aber nicht ökonomistisch verengt verstanden werden dürfe. Wirtschaftliche Arbeit sei in diesem allgemeinen Sinne „keine Arbeit mehr“ (Marcuse 1970: 47). Arbeit verweise vielmehr auf den grundlegenden „Überschuß des Seins über das Dasein“ (Marcuse 1970: 27). Damit meint Herbert Marcuse (so will er Karl Marx verstehen) die durch Arbeit zu erschließende grundlegende „Geschichtlichkeit“ des Menschen, d.h. der existenziell und dann vor allem auch gesellschaftlich immer gegebenen „Möglichkeiten“ des Menschen gegenüber den je historisch vorgefundenen begrenzten Lebensbedingungen. Es geht ihm um die fundamentale Fähigkeit und Notwendigkeit des Menschen, „das Sein des Daseins selbst zu ‚erarbeiten‘“ (Marcuse 1970: 25), d.h. der Mensch kann die Bedingungen seines Lebens durch Arbeit verändern. Für Herbert Marcuse bedeutet das jedoch keineswegs (wie er mit Bezug auf Karl Marx, v.a. 1969b: 828, betont), dass „jedes menschliches Tun Arbeit“ (Marcuse 1970: 37) ist, denn erst jenseits der Arbeit könne der Mensch seine „Freiheit“ erfahren und „zu sich selbst“ kommen, was ihm in der Arbeit „versagt“ (1970: 15-16) sei. Aber auch in einem potenziellen „Reich der Freiheit“ gebe es unvermeidlich immer noch eine zu leistende „Praxis“, die arbeitsförmig sein werde: „Auch jenseits der Notwendigkeiten bleibt das Geschehen des Daseins Praxis; auch hier ist ‚Arbeit‘ zu tun, aber ihr Charakter hat sich verändert“; dort gebe es „die eigentliche Praxis (…), die freie Entfaltung des Daseins in seinen wahren Möglichkeiten“ (1970: 39).
35
Vgl. Fußnote 40.
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Jürgen Habermas: Instrumentelle Arbeit und kommunikative Interaktion In seinem Aufsatz „Arbeit und Interaktion“ aus dem Jahre 1967 (Habermas 1973)36 greift Jürgen Habermas eine frühe Hegelsche Unterscheidung auf: „Sprache“ („namengebendes Bewusstsein“), „Werkzeug“ („listiges Bewusstsein“) und „Familie“ („anerkanntes Bewusstsein“) als die drei zentralen Momente für die Bildung des Geistes. Jürgen Habermas übersetzt sie in die Momente „symbolische Darstellung“ (Sprache), „Arbeitsprozess“ und „Interaktion auf der Grundlage der Reziprozität“, die für ihn erst „zusammengenommen“ dialektisch „Subjekt und Objekt vermitteln“ und damit den „Geist“ (hier: das menschliche Subjekt) sowie schließlich Gesellschaft bilden können. (1973: 10-11) Alle drei stellen für Jürgen Habermas gleichberechtigte, aber jeweils anders wirkende „Medien“ (1973: 23) der Subjektwerdung und Gesellschaftsbildung dar: (1) „Sprache“ ist Basis der Kommunikation und damit der sozialen Integration des Menschen, (2) „Arbeit“ ist Instrument der zweckrational werkzeugvermittelten Triebbefriedigung in Prozessen der Auseinandersetzung mit Natur und (3) verständigungsorientierte „Interaktion“ ist Grundlage des „Kampfs um Anerkennung“ als notwendige Basis der Bildung von Subjektivität (und Sozialität) im engeren Sinne. Diese Unterscheidung wendet er dezidiert gegen alle Versuche, das eine auf das andere zu reduzieren, insbesondere gegen eine „Zurückführung der Interaktion auf Arbeit“, die genauso wenig „möglich“ sei, wie „eine Ableitung der Arbeit aus Interaktion“ (Habermas 1973: 33). „Im anerkannten Produkt der Arbeit sind mithin instrumentales Handeln und Interaktion verknüpft.“ (1973: 34) Nicht zuletzt Karl Marx wirft er vor, zwar mit der „Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen jenen Zusammenhang von Arbeit und Interaktion wiederendeckt“ (1973: 44) zu haben, dies dann aber einseitig auszudeuten: „Allein die genauere Analyse des ersten Teils der Deutschen Ideologie zeigt, dass Marx nicht eigentlich den Zusammenhang von Interaktion und Arbeit expliziert, sondern unter dem unspezifischen Titel der gesellschaftlichen Praxis das eine auf das andere reduziert, nämlich kommunikatives Handeln auf instrumentales zurückführt“ (1973: 45). Es komme jedoch mehr denn je darauf an, „beide Momente strenger auseinanderzuhalten“ (1973: 46). Genau das wird zum Programm seiner nach langen Vorarbeiten dann wesentlich später ausgearbeiteten „Theorie kommunikativen Handelns“ (Habermas 1981), in der jedoch, zumindest unterschwellig, die Interaktion (resp. die „Lebenswelt“ als Ort und Hort des „kommunikativen Handelns“) zum basalen sozialen Medium wird. Gegenüber dieser erklärt er die Arbeit (neben den administrativ-politischen Aktionsfeldern als zentralen Orten der „systemischen“ Logik des „instrumentellen Handelns“) mit einem sehr engen Verständnis (Arbeit als instrumentell-technische Aneignung und Veränderung der Natur) zu einem Handeln mit sozial beschränkter Funktionalität, das, so kann es scheinen, der Interaktion dezidiert nachgeordnet wird.
36 Siehe ausführlicher zur Unterscheidung von Arbeit und Interaktion bei Jürgen Habermas u.a. Ganßmann 1990, Giddens 1982, Honneth 1980, Rüddenklau 1982, auch Knobloch 1996. Siehe hierzu auch den Beitrag von Wolfgang Dunkel und Margit Weihrich „Arbeit als Interaktion“ in diesem Band.
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Neue Entwicklungen und Konzepte: Der Grundbegriff der Arbeitssoziologie gerät in die Diskussion
Spätestens mit den gesellschaftlichen Strukturveränderungen der 1980er Jahre gerät die bisherige Selbstverständlichkeit im Umgang mit dem allgemeinen Arbeitsbegriff auch in der Arbeitssoziologie in Bewegung. Indiz dafür ist die intensive Debatte nicht nur über die „Krise“ oder sogar das „Ende“ der Arbeitsgesellschaft, sondern mehr oder minder explizit auch über den Arbeitsbegriff auf dem 21. Soziologentag 1982 in Bamberg.37 3.1
Die Diskussion über eine Ausweitung des Arbeitsbegriffs ab den 1980er Jahren
Zur Einstimmung in die Themen dieser Debatte soll an den feinsinnigen Beitrag von Hans Paul Bahrdt auf dem Bamberger Soziologentag erinnert werden. In ihm wird zuerst das vorherrschende Arbeitsverständnis (in einer dezidiert auch durch den philosophischen Karl Marx inspirierten Weise) skizziert, wobei man Hans Paul Bahrdt vor dem Hintergrund der hier bisher angestellten Überlegungen weit folgen kann: „Arbeit ist gekonntes, kontinuierliches, geordnetes, anstrengendes nützliches Handeln, das auf ein Ziel gerichtet ist, welches jenseits des Vollzuges der Arbeitshandlung liegt.“ (Bahrdt 1983: 124) Dann erlaubt sich Hans Paul Bahrdt eine Weiterung, die für einen Arbeitssoziologen zu dieser Zeit ungewöhnlich ist und die bisher bei der Beschäftigung mit Arbeit im Fach selten gewagt worden war: Er gibt leichtherzig zu Protokoll, dass es für ihn nicht so einfach ist mit dem Arbeitsbegriff, ja dass überhaupt die „(…) Arbeitswirklichkeit sich von der vorherrschenden Auffassung von Arbeit unterscheidet.“ (1983: 132). Die Realität der Arbeit in der Gesellschaft sei eine spannungsreiche Mischung vielfältiger und sich sogar wiedersprechender Momente, mit der man aber in der „(…) Wirklichkeit zu einem Arrangement gekommen (…)“ sei, „(…) dem man eine gewisse Humanität nicht absprechen kann.“ (1983: 132) Was er damit meint, erläutert er mit einem lebendigen Bild: Er beschreibt einen „Kleinsiedler, der seinen Garten mit der Gießkanne gießt. Er gießt das Gemüse, die Zwiebeln, den Salat. All diese Pflanzen bedeuten ein Naturaleinkommen, das nicht unwichtig ist, da der Kleinsiedler noch sein Haus abzahlen muss. Also ist diese regelmäßige, z.T. anstrengende Tätigkeit doch wohl Arbeit. Jetzt schwenkt er die Kanne und gießt die Rosen, wenige Sekunden später schwenkt er zurück und begießt wieder anderes Gemüse. Kann man sagen: Jedesmal, wenn er die Rosen, die zweifellos unter Hobby zu subsumieren sind, begießt, hört die Arbeit auf? Jetzt herrscht für 5 Sekunden Freizeit. Wenn er wieder zurückschwenkt, ist es wieder Arbeit. D.h. gibt es innerhalb derselben Verrichtung, ja genau genommen innerhalb ein und derselben Körperbewegung, die ihren Schwung und Rhythmus hat, innerhalb weniger Sekunden zweimal eine wichtige Zäsur, die den Übergang von der Arbeit zur Nichtarbeit, bzw. von der Freizeit zur Arbeit markiert? Das darf doch nicht wahr sein.“ (1983: 133) Vorbereitet wird die Diskussion um die nun immer heftiger beklagte ideologische Verengung der gesellschaftlichen und insbesondere auch der arbeitssoziologischen Vorstellung von Arbeit vor allem durch die sich zunehmend scharf artikulierenden feministischen 37 Vgl. v.a. Bahrdt 1983, Clausen 1983, Dahrendorf 1983, Joerges 1983, Offe 1983, Ostner/Willms 1983; direkt darauf Bezug nehmend Kambartel 1993.
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Stimmen. Sie fordern die Anerkennung der weiblichen Reproduktions- (Haushalts-, Familien- usw.) Tätigkeit als substantielle Arbeit in der Gesellschaft38 – mit der paradoxen Folge, dass ein Tätigkeitsfeld, das der Sprachgebrauch schon lange als ,Arbeit‘ beurteilt (Hausarbeit), nun explizit auch als solche anerkannt, vielleicht sogar (von feministischer Seite kontrovers diskutiert) gesellschaftlich gratifiziert (Hausfrauenlohn) werden soll. Zum Teil wird auch die biologisch produktive und sorgende Form der Tätigkeit von Frauen (der weibliche Körper als „Produktionsmittel“, Mies 1988: 166) in dezidierter Kritik an Karl Marx der männlich konnotierten, sich allein instrumentell auf die äußere Natur beziehenden Arbeit als systematisch andersartig gegenübergestellt und deren eigenständiger Arbeitscharakter betont: „Darum ist die Aktivität der Frauen beim Gebären und Nähren von Kindern als A r b e i t zu interpretieren“ (Bahrdt 1983: 170, Hervorh. i.O.). In dieselbe Richtung zielt die Debatte über Arbeitsfelder , die bis dahin eher im „Schatten“ (z.B. Niessen/Ollmann 1987; Schäfer 1984) von Wirtschaft und Gesellschaft standen („schwarze“, „informelle“, „alternative“, „destruktive“ und „Konsum“-Arbeit), die dann nahtlos in die spätere Auseinandersetzung um „Eigenarbeit“ und „Tätigkeitsgesellschaft“ mündet.39 Man kann diese Mitte der 1980er Jahre in Deutschland einsetzende (und erstmalig intensivere)40 Debatte um den Arbeitsbegriff u.a. in der Soziologie als Markierung für einen Phasenübergang in der Entwicklung der modernen Arbeitswelt, ja der Arbeits- und Industriegesellschaft überhaupt beurteilen. Viele Beobachter konstatieren in diesem Zeitraum einen grundlegenden gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel,41 auf den sich auch alle anderen Beiträge in diesem Handbuch konzentrieren. Dieser zum Teil als regelrechter Strukturbruch empfundene Übergang äußert sich nicht zuletzt darin, dass die bis dahin völlig selbstverständlich als zentrale gesellschaftliche Betätigungsform geltende und mit der hoch bewerteten Kategorie „Arbeit“ geadelte formell erwerbsförmige Aktivität zum Thema wird – in ihrer praktischen gesellschaftlichen Relevanz wie auch in ihrer semantischen Bedeutung. Die Debatte um den Arbeitsbegriff mit der zentralen Forderung, den Begriff ,auszuweiten‘ (also mehr Tätigkeitsformen als bisher einzubeziehen), und die bis heute anhaltende Unsicherheit im Umgang mit dieser gesellschaftlichen wie wissenschaftlichen Grundkategorie ist insoweit ein aufschlussreicher Spiegel des realen sozialen Wandels, in dem bisherige Selbstverständlichkeiten ins Wanken geraten.
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Vgl. aus der großen Zahl von Arbeiten z.B. Beck-Gernsheim 1980, Jurczyk 1978, Jurczyk/Ostner 1981, Meillassoux 1976, Neusüß 1985, Ostner 1978, Ostner/Pieper 1980, Prokop 1976, Pross 1975, Tornieporth 1988, Werlhoff 1978, 1988; Werlhoff/Mies/Bennhold-Thomsen 1988; Wilms-Hergert 1985. Siehe hierzu auch den Beitrag von Brigitte Aulenbacher „Rationalisierung und der Wandel von Erwerbsarbeit aus der Genderperspektive“ in diesem Band. 39 Vgl. aus der großen Zahl von Texten exemplarisch Benseler/Heinze/Klönne 1982; Clausen 1983, 1988; Evers 1987; Gijsel/Seifert-Vogt 1984; Graß 1984; Gretschmann 1983; Gretschmann/Heinze/Mettelsiefen 1983; Gross/Friedrich 1988; Heinze/Offe 1989, 1990; Heinze/Hombach/Mosdorf 1984; Heinze/Olk 1982; Huber 1979, 1980, 1984; Jessen/Siebel/Siebel-Rebell 1988; Joerges 1981, 1983; Niessen/Ollmann 1987; Schäfer 1984; Teichert 1988, 1993. Siehe hierzu auch den Beitrag von Ingo Bode „Arbeit im gemeinnützigen und informellen Sektor“ in diesem Band. 40 Die Sozialwissenschaften (i.w.S.) haben sich natürlich auch früher gelegentlich die Frage gestellt „Was ist Arbeit?“ (Elster 1919), und sie hatten durchwegs auch damals schon ihre Probleme damit, vgl. z.B. Becker 1925; Elster 1919; Gottl-Ottlilienfeld 1923; Harms 1909; Lufft 1925; Herkner 1923; Nowak 1929; auch Bücher 1924 oder etwas später Carell 1956; Walraff u.a. 1957. 41 Z.B. den Übergang zu einem post-fordistischen Akkumulations- und Regulationsregime, vgl. kurz Brand/Raza 2003; Hirsch/Roth 1986; siehe auch Aglietta 2000; Altvater 2005; Boyer 1990; Hübner 1990; Liepitz 1998, 2000.
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Die kulturelle Veränderung eines derartig zentralen Begriffs bereitet nicht nur semantische, sondern auch reale Probleme: theoretisch (in den betroffenen Wissenschaften) wie potentiell auch praktisch (z.B. arbeits- und sozialversicherungsrechtlich). Man ist also fast automatisch gezwungen, die Kategorie noch einmal grundlegend zu beleuchten, um sich (auch politisch)42 neu über sie verständigen zu können. 3.2
Explizite philosophische Öffnungen des Arbeitsbegriffs
Obwohl auch in der Diskussion seit den 1980er Jahren im Kern des Fachs eine systematische Theorieentwicklung zum allgemeinen Verständnis von Arbeit nicht stattfindet, kann doch festgehalten werden, dass die Selbstverständlichkeit der bisherigen Engführung aufbricht und konzeptionelle Debattenbeiträge zum Arbeitsbegriff als relevant akzeptiert werden. Nach und nach leuchtet es auch männlichen Vertretern der Arbeits- und Industriesoziologie ein, dass es sinnvoll sein kann, nicht schlicht von ,Arbeit‘ zu sprechen, sondern von ,Erwerbs-Arbeit‘, wenn diese (wie meist) gemeint ist. Die wichtigsten Beiträge zur Diskussion kommen auch jetzt eher aus Randbereichen der Arbeits- und Industriesoziologie, vor allem aber von Autoren und insbesondere Autorinnen jenseits des Fachs, vorwiegend wiederum aus der Philosophie. Besondere Aufmerksamkeit verdienen zwei Philosophinnen, die in ähnlicher Weise dezidiert eine Erweiterung der Vorstellungen von menschlicher Tätigkeit und dabei insbesondere von Arbeit fordern.
Hannah Arendt: Arbeiten, Herstellen, Handeln Hannah Arendt begründet in ihrer erstmalig 1958 veröffentlichten „Vita Activa oder Vom tätigen Leben“ eine auf die grundlegenden menschlichen Aktivitäten bezogene philosophische Anthropologie (Arendt 1989). In Absetzung von ihrem Lehrer Martin Heidegger sieht sie nicht den Tod, sondern die Geburt des Menschen und die sich daraus ergebende Aufgabe des Menschen, zusammen mit anderen die Welt zu gestalten und das eigene wie gemeinsame Leben kontinuierlich zu ‚besorgen‘, als zentralen Bezugspunkt. Zurückgehend auf die aristotelische Unterscheidung zweier grundlegender menschlicher Handlungsformen, „Poiesis“ (Herstellen) und „Praxis“ (Tätigsein), entfaltet sie drei menschliche Grundtätigkeiten und deren Zusammenhang: Arbeiten, Herstellen und Handeln. Damit nimmt sie eine entscheidende und (nicht zuletzt mit Blick auf Karl Marx) kritische Differenzierung der Tätigkeitsform ,Arbeit‘ vor, die in der Moderne praktisch wie normativ an erster Stelle stehend gesehen wird. (1) „Arbeit“ ist für Hannah Arendt (1989: 76ff.) diejenige Tätigkeitsform, die dem Fortbestand des Einzelnen und der Gattung dient. Sie ist unverzichtbarer und immer wieder erforderlicher Teil des menschlichen Lebens, aber auch des Daseins anderer Lebewesen. Arbeit ist nicht die Freiheit zur Gestaltung des Lebens, sondern Ausdruck des unaufhebbaren Zwangs zur Erhaltung des Lebens, dem der Mensch von Geburt an unterliegt, als kontinuierliche existenzielle Notwendigkeit. (2) Demgegenüber ist „Herstellen“ (1989: 124ff.) Produktion i.e.S. Es hat die Funktion, für das Leben durch Veränderung von Vorgefundenem dauerhafte Dinge zu erstellen 42
Vgl. Lafontaine 1988.
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und in der Welt als quasi ‚künstliche‘ Welt zu hinterlassen, auf die sich der Mensch (als schöpferischer Homo Faber) dann als je eigenes beziehen kann. (3) „Handeln“ (1989: 164ff.) schließlich hat für Hannah Arendt, weitgehend analog zum Begriff der „Praxis“ bei Aristoteles (und ähnlich wie später „Interaktion“ und „kommunikatives Handeln“ bei Jürgen Habermas), die Funktion der Gründung und Erhaltung des Sozialen oder im engeren Sinne der Sicherung des politischen Gemeinwesens im öffentlichen Raum durch soziale Verständigung. Es schafft die Voraussetzungen für eine Kontinuität der Gesellschaft und damit für Geschichte. Handeln ist immer intersubjektiv, also sozial, und verweist genau dabei immer auch auf die jeweilige Individualität und Verschiedenheit der Menschen. Der einzelne Mensch kann, so Hannah Arendt, überleben, ohne jemals selbst zu „arbeiten“ oder selbst etwas „herzustellen“, aber er ist existenziell auf gesellschaftliches (und in diesem Sinne auch politisches) „Handeln“ angewiesen.
Angelika Krebs: Arbeit als anerkannte Tätigkeit im Rahmen des gesellschaftlichen Leistungsaustauschs 45 Jahre nach Hannah Arendt veröffentlicht Angelika Krebs mit „Arbeit und Liebe“ (2002) eine viel beachtete gerechtigkeitsphilosophische Studie zur Sorgetätigkeit in der Gesellschaft, welche nach wie vor für Angelika Krebs in hohem Maße geschlechtsspezifisch konnotiert und gesellschaftlich unterbewertet ist. Angelika Krebs beginnt mit einem Zitat von Friedrich List, das als Programm für sie gelten kann: „Wer Schweine erzieht ist ein produktives, wer Menschen erzieht ein unproduktives Mitglied der Gesellschaft.“ (2002: 11) Thema ist die mangelnde gesellschaftliche Anerkennung jener (mehrheitlich von Frauen wahrgenommenen) Tätigkeitsfelder, die zwar manchmal Arbeit genannt werden, denen aber der öffentliche Status als gesellschaftlich unverzichtbare Arbeit nicht gewährt wird. Für die hier interessierende Fragestellung ist bedeutsam, dass Angelika Krebs ihre Studie mit einer ausführlichen Bearbeitung des Definitionsproblems von Arbeit beginnt und im kritischen Durchgang durch immer wieder herangezogene Merkmale (Zweckrationalität, Mühe, Entlohnung, Produktivität, Ablösbarkeit eines Ergebnisses/Drittpersonenkriterium, Tätigkeit für andere, Teil des Leistungsaustausches) eine Klärung versucht (2002: 23ff.). Das für sie entscheidende und einzig tragfähige Merkmal, die Eingebundenheit einer Tätigkeit in den gesellschaftlichen Leistungsaustausch, baut sie dann als Grundelement eines von ihr propagierten „institutionellen Arbeitsbegriffs“ aus (2002: 35ff.) und fordert in diesem Sinne, Sorge- oder Familienarbeit explizit als substantiellen gesellschaftlichen Funktionsbeitrag öffentlich anzuerkennen und „gerecht“ zu bewerten. Daraus leitet sie schließlich die Forderung nach einer systematischen und vor allem auch materiellen Anerkennung der gesellschaftlichen Leistung von Familienarbeit ab, etwa in Form eines staatlich gewährleisteten Erziehungsgeldes. Da sie dabei aber grundlegende Probleme der Mittelverteilung und damit der Verteilungsgerechtigkeit sieht, kommt sie zu dem Schluss, dass es nicht um eine irgendwie „gerechte“ Zuweisung von Mitteln gehen kann, sondern um die öffentliche Gewährleistung eines „würdigen Lebens“ für alle Betroffenen, etwa im Sinne eines unbedingten Grundeinkommens als Gegenleistung für erbrachte und gesellschaftlich unverzichtbare Familienarbeit. In Anlehnung an eine Forderung von Philippe van Parijs „surfers should be fed“ (Arbeitslose sollen eine Prämie dafür erhalten,
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dass sie auf einen raren Arbeitsplatz verzichten) fordert sie „mothers should be fed“ (2002: 230) (Mütter sollen öffentlich versorgt werden). 3.3
Fragen an einen allgemeinen Arbeitsbegriff
Obwohl also seit den späten 1980er Jahren eine Debatte um das allgemeine Verständnis von Arbeit nun auch in der Arbeits- und Industriesoziologie in die Gänge gekommen ist, kann man weder von einer systematischen Theoriediskussion noch von auch nur annähernd substantiellen Klärungen berichten. Festzuhalten bleibt allein das schon angedeutete Resümee, dass die bisherige verengte Sicht zwar spät, aber dann doch aufgebrochen ist, und dass nun vielgestaltige Diskussionen zum Grundverständnis des Gegenstandes der Arbeits- und Industriesoziologie und damit letztlich zur Identität des Fachs möglich sind. Bei diesem Ergebnis möchte der Beitrag jedoch nicht stehen bleiben. Vielmehr soll der oben mit der Diskussion des allgemeinen Arbeitsverständnisses von Karl Marx erreichte Erkenntnisstand wieder aufgegriffen und vor dem Hintergrund der in der Debatte zum Arbeitsbegriff aufkeimenden kritischen Anmerkungen und Forderungen mit einigen Fragen vertieft werden. Ziel ist dabei nicht, den Begriff Arbeit zu schließen und etwa eine eigene Festlegung anzubieten. Ganz im Gegenteil soll die mit dem Extrakt der marxschen Gedanken erreichte Bündelung (in vollem Respekt vor der Leistung desjenigen, auf dessen „Schultern“ (Merton 2004) die Theoriebildung steht) gezielt ‚ausgefranst‘ werden, damit man (oder frau) daran weiterstricken kann.43 Leitende These ist dabei, dass der Gegenstand selbst (und damit jeder Versuch einer Begriffsbildung) in sich von grundlegenden Dialektiken geprägt ist, die die Begriffsbildung kompliziert machen. Das war schon immer so. Aber spätestens mit dem Übergang zur Arbeitsgesellschaft des 21. Jahrhunderts ist es unabdingbar, das nicht nur anzuerkennen, sondern die in der Realität der Arbeit angelegten Spannungen als dynamische Potenziale für den theoretischen Zugang zu nutzen, um den Begriff der „Arbeit“ (und die Soziologie der Arbeit) zukunftsfähig zu halten.
Menschliche Arbeit oder die Arbeit verschiedenartiger Akteure? Arbeit aus humanistischer Sicht als Privileg des Menschen zu formulieren, macht zivilisatorisch und geistesgeschichtlich Sinn. Aber schon Karl Marx hat das deutlich und mit erstaunlichem Weitblick relativiert. Spätestens mit neuesten ethologischen und vor allem auch aktuellen ökologisch-naturgeschichtlichen Einsichten ist ein Exklusivrecht des Menschen auf Arbeit (und auch auf Kultur und Bewusstsein, zumindest i.w.S.) endgültig nicht mehr haltbar.44 Auch Tiere ‚arbeiten‘ (und werden spätestens seit dem Neolithikum gezielt in die Arbeit der Menschen einbezogen), wenn auch in anderer Weise. Diese Erkenntnis 43 Man könnte auch von einer Dekonstruktion des allgemeinen marxschen Arbeitsbegriffs in Frageform sprechen. Den Ansprüchen an ein derartiges Verfahren kann hier aber nur bedingt entsprochen werden. Vgl. zum Begriff der „Dekonstruktion“ u.a. Peter Zima 1994, Jonathan Culler 1999 oder aktuell Georg W. Bertram 2002. Siehe auch Wilke Thomssen 1990, der seine Anmerkungen u.a. zum Arbeitsbegriff „Dekonstruktion“ nennt. 44 Vgl. aus der neueren ethologischen Literatur als Beispiel den Primatenforscher Frans de Waal, der in seinen Büchern die erstaunlichen Kulturleistungen von Tieren beschreibt und damit die vermeintliche Exklusivstellung des Menschen erheblich relativiert (z.B. Waal 2002, aktuell 2008). Siehe auch Brock 2006: v.a. 97ff.
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beschränkt sich bei genauerem Hinsehen nicht auf einige wenige Primatenlinien. Tiere verwenden und produzieren sogar explizit Hilfsmittel, also Werkzeuge (nicht einmal dieses Merkmal bleibt dem Menschen exklusiv), was erst recht brisant wird, wenn auch die Gesellungsformen (die sozialen Verhältnisse) als Mittel der Reproduktion und damit der Produktion gesehen werden, denn auch diese werden von vielen Tierpopulationen höchst geschickt für ihre kooperative ‚Arbeit‘ gehandhabt. In der neueren Biologie werden zudem erklärtermaßen Pflanzen als die primären „Produzenten“ in der Natur betrachtet45 – als Produzenten ihrer selbst wie aber auch von Effekten, die dann für die ökologischen Kreisläufe von größter Bedeutung sind. Man kann also durchaus die Frage stellen (falls man sich vor einer radikalen These nicht scheut), ob nicht auch Pflanzen eine Art ‚Arbeit‘ verrichten.46 Heute ist darüber hinaus zumindest die Frage nicht mehr ausgeschlossen, wie man es mit den Maschinen halten will, die spätestens in ihren fortgeschrittenen Formen (und v.a. in ihren ‚intelligenten‘ Ablegern, etwa als „Künstliche Intelligenz“) als „Aktanten“ mit QuasiSubjektivität der lebendigen Arbeit von Mensch (und Tier) Konkurrenz machen.47 Spekuliert man zudem auf neueste Formen des gezielten Einsatzes von genuin ‚lebendigen‘ Formen maschinenähnlicher Aktionseinheiten (etwa bakteriologischer Art), wird auch diese letzte Grenze völlig unscharf. Gleichzeitig wird die Frage immer drängender, wie arbeitende Menschen mit anderen ‚arbeitenden‘ Akteuren (mit Tieren und heute mit intelligenten Maschinen) kooperieren48 – auch mit ‚Maschinen‘ einer ganz neuen Art (z.B. sog. Software-Agenten),49 die immer häufiger ihrerseits selbstgesteuert zusammenarbeiten. Es gerät also bei nur geringem Nachdenken auch die soziale Kooperation und dann die gesellschaftliche Organisation als vermeintliches Privileg menschlicher Arbeit unter Druck. Die marxsche Unterscheidung von „lebendiger“ (gemeint ist menschliche lebendige) Arbeit und der in den Maschinen und Dingen vergegenständlichten „toten“ Arbeit muss damit schließlich völlig neu gedacht werden – wodurch das Problem keineswegs obsolet wird, sondern höchstens komplizierter.
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Vgl. z.B. Daumer/Schuster 1998. Wer sich dabei an die auch in der Soziologie bemerkte biologisch-neurophysiologische Idee der „Autopoiese“ (der „Selbst-Produktion“ unter Nutzung vorhandener energetischer Ressourcen einer „Umwelt“) als Kern einer basalen Definition von „Leben“ erinnert, sollte bei diesem Gedanken alles andere als erstaunt sein. Vgl. allem voran die Arbeiten von Humberto Maturana, insbes. 1982, 1993; Maturana/Pörksen 2008; Maturana/Varela 1987; siehe für die soziologische Wendung dessen Luhmann, insbes. 1984, u.a. auch 1985, 1988; Luhmann/Maturana/ Namiki 1990, vgl. auch Lipp 1987. Vielleicht stellt man sich dann sogar der Frage, ob das „Leben“ auf unserem Planeten insgesamt nicht so etwas wie Arbeit ist. Vgl. etwa Margulis/Sagan 1997: „Anders als beispielsweise James Watts Dampfmaschine baut der lebendige Organismus Ordnung auf. Er repariert sich ständig selbst. Dieser ständige chemische Austausch, Stoffwechsel genannt, ist ein sicheres Anzeichen für Leben. Die Maschine muss ununterbrochen mit chemischer Energie und Material (Nahrung) gefüttert werden. Viren leben nach unserer Sichtweise nicht. Sie sind nicht autopoetisch. Sie haben keinen eigenen Stoffwechsel (...) Viren tun nichts, solange sie nicht in ein autopoetisches Gebilde gelangen: in eine Bakterienzelle, die Zelle eines Tieres oder eines anderen Lebewesens.“ (Margulis/Sagan 1997: 23). – Karl Marx lässt übrigens nicht nur die Tiere und den Menschen als ganzen arbeiten, sondern auch die menschlichen Körperteile, zumindest kann man den Hinweis auf die „Organe, die arbeiten“ so lesen, wenn man mag (Marx 1969a: 193). 47 Vgl. schon früh Latour z.B. 1987, allgemein auch 2007; aktuell in Deutschland v.a. Rammert z.B. 2003; Rammert/Schulz-Schaeffer 2002; mit allgemeinsoziologischen Überlegungen Schulz-Schaeffer 2007. 48 Siehe Fußnote 47. 49 Vgl. z.B. Cagkayan/Harrison 2001; Hayzelden/Bigham 2001. 46
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Nicht zuletzt sollte gerade die Soziologie die Frage ohne Zögern akzeptieren, wie sie es mit der ‚Arbeit‘ kollektiver Akteure halten will.50 Gruppen, Organisationen, Netzwerke von Organisationen, vielleicht sogar Gesellschaften (was immer man damit meinen mag) können als Einheiten gesehen werden, die auf Basis der Arbeit der beteiligten Individuen emergente Ergebnisse hervorbringen, die als Produkte ihrer arbeitenden Kooperation und darüber ihrer kooperativen Arbeit zu sehen sind. In einem Automobilwerk arbeiten Menschen, aber es ist nicht der Einzelne, der ein Automobil als Ganzes (schon gar nicht die Masse der hergestellten Fahrzeuge) produziert. Es ist ein kollektives Arbeitssubjekt, das diese überindividuelle Arbeit verrichtet. Oder mit einem anderen Begriff formuliert: Systeme produzieren nicht nur sich selbst (und leisten damit eine Art selbstbezogene Arbeit), sondern sie leisten, indem sie ihre Funktion erfüllen (was immer das ist), eine für sie jeweils charakteristische Form von Arbeit.
Arbeit als die wesentliche Eigenschaft des Menschen oder als eine Eigenschaft des Menschen unter anderen? Selbst wenn man akzeptiert, dass Arbeit (oder auch nur eine spezifische Variante) dem Menschen nicht „ausschließlich angehört“ (Marx 1969a: 192), bleibt immer noch die Frage, ob diese eigentümliche Aktivitätsform dasjenige Merkmal des Menschen ist, das im Kern sein Wesen ausmacht und damit die berühmte Differentia Specifica gegenüber anderen Akteuren auf diesem Globus bildet. Karl Marx hatte ja, mehr oder minder polemisch, angedeutet, was da noch alles in Frage käme: „Religion“, „Bewusstsein“ usw. (Marx/Engels 1978: 21). Bedeutet das, dass der Mensch bei Karl Marx nicht nur auch (!) ein Arbeitswesen ist, sondern durch und durch in seinem Wesen durch diese Tatsache bestimmt ist? Und was ist dann mit den anderen Kandidaten für entscheidende Eigenschaften des Menschen? Karl Marx selbst hat sich in einen Widerspruch verwickelt, als er leichthändig das „Bewusstsein“ zur Seite schob, aber im Kern seines Begriffs der genuin „menschlichen“ Arbeit dann doch dem planvollen Bewusstsein den entscheidenden Status einräumte (und dadurch indirekt der Biene und der Spinne zu geistesgeschichtlichem Weltruhm verhalf). Er hat damit vieles von dem, worauf die Menschheitsgeschichte stolz ist und was auch dem Einzelnen überaus lieb und wertvoll sein mag, sozusagen als dem Menschen nicht würdig abqualifiziert, zumindest aber den Eindruck erzeugt, wir seien erst wirklich bei uns, wenn wir arbeiten. Wer das Werk von Karl Marx (und nicht zuletzt auch sein Leben)51 kennt, kann nicht akzeptieren, dass dies so gemeint sein soll, aber wie dann? Was ist mit all den anderen Aktivitäten vom Spiel bis zur Kunst, von der Liebe bis zum Kampf, vom stillen Genuss bis zum Müßiggang und zur offensiven Faulheit?52 Oder um die Frage noch zugespitzter zu stellen: Ist der Mensch nur insoweit Person und Subjekt als er Arbeitswesen oder gar Arbeitskraft ist? Ist sein Vermögen zu arbeiten sein eigentliches oder einzig wesentliches ‚Vermögen‘? Kaum jemand wird dieser Sichtweise heute zustimmen, gerade auch angesichts der immer komplexeren Qualitäten modernen Arbeitens, bei dem tief liegende allgemeine Eigenschaften des Menschen 50
Vgl. u.a. Schimank 2002; allgemein v.a. auch Coleman 1995; speziell zu Netzwerken Teubner 1992. Siehe zu Netzwerken auch den Beitrag von Arnold Windeler und Carsten Wirth „Netzwerke und Arbeit“ in diesem Band. Vgl. etwa die sehr lebensnahe und erfreulich unheroische Biographie von Francis Wheen 2002. 52 Mit deren Rehabilitierung sich bekannter Weise Marxens kubanischer Schwiegersohn (nicht ohne gewissen Erfolg) gegenüber seinem Schwiegervater zu profilieren versucht hat (Lafargue 1998). 51
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(Gefühle, Phantasie, Kreativität, Selbstbestimmung usw.) zu entscheidenden Arbeitseigenschaften werden – wodurch die Grenzen zwischen „Arbeitskraft“ und arbeitender „Person“ (und ihrer „Lebenskraft“) wie auch von „Arbeit“ und „Leben“ verschwimmen. Und das wiederum macht genau diese Grenzen und die Fähigkeit von Menschen, solche Grenzen aktiv zu setzen, um noch Mensch zu bleiben, zu einem wichtigen aktuellen Thema.53 Nicht zuletzt Karl Marx selbst deutet in einer berühmten Passage in eine solche Richtung. Wenn er vom „Reich der Freiheit“ spricht, erklärt er mehr als deutlich, dass der Mensch als freies Wesen erst zu sich kommen könne, „wo das Arbeiten (…) aufhört“ (Marx 1969b: 828), das durch „Not und äußere Zweckmäßigkeit bestimmt ist“, und dieses Reich liege „der Natur der Sache nach jenseits der Sphäre der eigentlichen materiellen Produktion“ (1969b: 828), was immer Karl Marx damit gemeint haben will.
Arbeit als Aneignung, Umformung und Entäußerung oder auch als Sorge und Dienst? Den zentralen hegel-marxschen ‚Dreisatz‘ von „Aneignung“, „Umformung“ und dann „Entäußerung“, wie er im Kern auch den umrissenen marxschen Arbeitsbegriff kennzeichnet, kann man, wie oben gezeigt, auch als eine erschreckend schlichte Produktionslogik verstehen: Der Mensch macht sich mittels seiner Arbeit die vorgefundene „Welt“ zu eigen, ja sogar mit alttestamentarischer Legitimation „untertan“ (Mose 1, 28). Das betrifft nicht nur das mit einem solchen Arbeitsverständnis unterstellte Recht auf einseitige Unterwerfung und Veränderung der Welt, sondern mehr noch den Anspruch des Menschen, als folgenblinder Homo Faber seiner Umgebung ‚herstellend‘ Vergegenständlichungen zweifelhaften Nutzens hinzuzufügen. Mit einer weniger linear gefärbten Denkweise kann man die Aneignungs-Umformungs-Entäußerungs-Figur aber auch anders lesen und so leicht an ihre Grenzen bringen. Um es als Frage zu formulieren: Was ist mit derjenigen Arbeit von Menschen, die nicht ihr Gegenüber (die Natur, die Welt …) unterwerfen oder, zumindest nicht primär, instrumentell für die Zwecke des Arbeitenden nach eigenem Gusto umformen will und deren vorrangiges Ziel auch nicht ist, vom Prozess der Arbeit ablösbare Produkte hervorzubringen, um sie einseitig zu konsumieren oder sich in die Welt mit diskutierbaren Anreicherungen zu entäußern? Die Frage zielt auf eine ganz alte und zugleich überraschend aktuelle Form von Tätigkeit, die sich dem Gegenüber anschmiegt, wenn nicht sogar bewusst unterwirft, und damit den ‚Gegenstand‘ der Arbeit (die Natur, die Welt …) mit seinen je eigenen Qualitäten und Notwendigkeiten nicht nur anerkennt, sondern ihren Zweck geradezu darin sieht, diesem zu ‚dienen‘. Diese Arbeit behandelt den Gegenstand nicht primär als Objekt, sondern als eine Entität eigener Würde und Wertigkeit. Die Ethnologie findet diese Qualität in der schützenden und versorgenden Arbeit der Hirten.54 Der Feminismus hat diese Art von Arbeit schon früh und mit lauter Stimme als die in der Gesellschaft systematisch ausgeblendete reproduktive Tätigkeit der Frauen (und vor allem der Mütter) im Haushalt und in der Familie in die Debatte eingebracht.55 Und in letzter Zeit wird diese Qualität von Arbeit 53
Vgl. etwa Pfeiffer 2004 und Jürgens 2006. Siehe hierzu auch den Beitrag von Frank Kleemann und G. Günter Voß „Arbeit und Subjekt“ in diesem Band, v.a. zur aktuellen Diskussion um eine „Subjektivierung von Arbeit“. 54 Vgl. für solche Gedanken aus Sicht der Ethnologie Spittler 1991, 1998, 2001, 2002. 55 Vgl. schon früh und sehr dezidiert als wichtige Beispiele Ostner 1978; Pross 1975; Werlhof v./Miess/BennholdThomsen 1988, Werlhoff v. 1978, 1988; aktuell z.B. Jürgens 2006; allgemein auch Krebs 2002. Siehe hierzu ausführlicher den Beitrag von Birgit Geissler „Haushaltsarbeit und Haushaltsdienstleistungen“ in diesem Band.
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zu einem viel beachteten Thema, wenn nach der allgemeinen Logik von Pflege- und Sorgearbeit in der Gesellschaft56 gefragt wird oder nach der Eigenart von personenbezogenen interaktiven Dienstleistungen.57 Letztlich kann man die gesamte Debatte um ökologische und soziale Nachhaltigkeit und deren Verhältnis zur Arbeit in der Gesellschaft so interpretieren: Es geht um eine Arbeit, die sich von der linearen Aneignungs-UmformungsProduktions-Logik abzuheben versucht, indem sie Unterstützung, Hilfe, Begleitung, Fürsorge usw. für Anderes und Andere (vielleicht mit dem Ziel eines dann doch langfristig produktiven Nutzens der Beziehung) als ihren Kern ansieht. Indem diese Arbeit dadurch dem ‚Objekt‘ mehr oder weniger weitgehend den Charakter von ‚Subjektivität‘ zugesteht, ist sie nicht mehr nur einseitig „instrumentelle“ Tätigkeit (z.B. Böhle 1999), sondern wird, ganz im Sinne von Jürgen Habermas, „Interaktion“ (mit wem oder was auch immer).58 Auch die Tätigkeiten, die Arbeitende an und für sich selbst vollziehen, erscheinen mit der Frage nach der sorgenden Qualität von Arbeit in neuem Licht: Lernen, Gesunderhaltung, körperlich-geistige Selbstentfaltung usw. beruhen (was mit dem gängigen Arbeitsbegriff nur mühsam fassbar ist) auf einer Form von Arbeit, deren Besonderheit ein systematischer interaktiver Selbstbezug (die Arbeit an der ‚inneren‘ Natur) und dabei eine Selbst-Sorge59 ist – auch wenn nicht ausgeschlossen werden kann, dass selbst dieses wieder selbstunterwerfend und linear produktivistisch (also genau nicht nachhaltig sorgend) praktiziert wird.
Arbeit nur als rationale und selbstbeherrscht planvolle Tätigkeit oder auch als selbstvergessene und unmittelbar köperlich-sinnliche Aktivität? Dass Arbeit, zumindest in ihrer genuin menschlichen Form, eine besondere Qualität darin besitzt, bewusst und dabei vor allem auch ziel- oder zweckgerichtet, wenn nicht gar planvoll zu sein, findet sich außer bei Karl Marx auch in fast allen anderen Definitionsversuchen. Durch dieses Kriterium soll sie sich von Aktivitäten abheben, die ihr Ziel in sich tragen und selbstgenügsam freier Ablauf menschlichen Tuns sind – allem voran vom Spiel. Gerade auch bei Karl Marx enthält dieses planvolle Tun, wie gezeigt, ein Moment der Herrschaft des Menschen über sich selbst, eine „Unterordnung“ unter den „Willen“, die mit „Anstrengung“ (Karl Marx) verbunden ist oder zumindest einen „Impuls“ (Bahrdt 1983) benötigt.60 Was aber ist mit all den arbeitsförmigen Tätigkeiten, die weit von diesem Ideal entfernt sind? Auf der einen Seite etwa die qualitäts- und kunstvolle Aktivität eines Künstlers, Sportlers, Chirurgen oder auch Handwerkers, die oft (zumindest wenn man genau hinschaut) keinen festen Plan abarbeiten, sondern situativ höchst kreativ davon abweichen, und die nur deswegen erfolgreich sind, weil sie auf einer Stufe verringerten (oder sehr speziel-
56 Vgl. u.a. Eckart 1998; Senghaas-Knobloch 2005; Tronto 1996; Waerness 2000. Siehe hierzu auch den Beitrag von Birgit Geissler „Haushaltsarbeit und Haushaltsdienstleistungen“ in diesem Band. 57 Siehe hierzu den Beitrag von Wolfgang Dunkel und Margit Weihrich „Arbeit als Interaktion“ in diesem Band. 58 Siehe ausführlich Böhle 1999, Böhle/Schulze 1997, auch Dunkel/Weihrich 2006, Knoblauch 1996. Siehe hierzu auch die Beiträge von Fritz Böhle „Arbeit als Handeln“, Wolfgang Dunkel und Margit Weihrich „Arbeit als Interaktion“ und mit an dieser Stelle weitgehend parallelen Gedanken Georg Jochum „Zur historischen Entwicklung des Verständnisses von Arbeit“ in diesem Band. 59 Vgl. z.B. Wessel u.a. 2007; aktuell Lantermann u.a. 2009; allg. auch Foucault 2004. 60 Vgl. prominent dazu auch den Versuch zum Arbeitsbegriff bei Herbert Marcuse (siehe Abschnitt 2.2).
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len, nicht selten auch bewusst „intuitiven“)61 Bewusstseins operieren und auf sinnlichkörperliche (statt nur kognitive) Ressourcen zurückgreifen.62 Auf der anderen Seite die dahingleitenden Routinetätigkeiten eines Arbeiters am Band oder eines einfachen Angestellten im Büro, die oft nur dadurch auf Dauer ausführbar (und erträglich) werden, dass sie nicht ununterbrochen die Herrschaft des Willens und des planenden Bewusstsein erfordern. Wenn man reale menschliche Arbeit, gleich welcher Art, genau betrachtet, wird man feststellen, dass die Idee des Plans, der Willensherrschaft, des kontinuierlichen Bewussteins usw. pure Fiktion ist – bestenfalls ist sie Merkmal der ,reinen‘ Definition. Faktisch ist jede empirische Arbeit von Menschen immer auch durch genau dieses per Definition ausgeschlossene Gegenteil geprägt. Ohne zumindest partielle Anteile dieses Anderen – das Karl Marx in seinem idealistischen Bild nur den Tieren zuschreibt (denen die moderne Ethologie jetzt wiederum Momente von Bewusstsein zubilligt) – würde sie selten wirklich funktionieren und wäre meistens suboptimal in Verlauf und Ergebnis. Genau dieses Andere verweist darauf, dass menschliche Arbeit offensichtlich immer auch ‚tierische‘ Arbeit ist. Wenn wir diese Qualität der menschlichen Arbeit nicht als schändliches evolutionäres Relikt, sondern als konstitutives Moment unserer eigenen Existenzweise anerkennen, ist ein solcher Ansatz potenziell von großer Tragweite.63
Arbeit als spezifische Tätigkeit oder als vielfältiges Tun in verschiedenen Bereichen von Gesellschaft und Lebensführung? Untersucht eine Wissenschaft die historische Realität des Arbeitens von Menschen, ist sie zwangsläufig mit der Frage konfrontiert, ob sie ein ,enges‘ oder ,weites‘ Verständnis von ihrem Gegenstand hat – eine Frage mit nicht nur begrifflichen, sondern auch handfesten forschungsstrategischen und letztlich politischen Konsequenzen, geht es doch darum, ob und mit welchen Begründungen eine spezifische Variante von Arbeit eine bevorzugte Behandlung (und damit Wertschätzung) bekommen soll. Konkret geht es darum, inwieweit der Erwerbstätigkeit (die in industriell-kapitalistischen Gesellschaften mehr denn je eine zentrale, wenn nicht gar die wichtigste Betätigungsweise für die Mehrheit der als ,erwerbsfähig‘ geltenden Menschen darstellt) eine derart herausragende Bedeutung zukommt, dass die Bezeichnung und Wertung als ,Arbeit‘ mit Recht exklusiv für sie zu reservieren wäre. Wie gezeigt waren es dann vor allem die Debatten der 1980er Jahre und dabei insbesondere im weiteren Sinne feministische Beiträge, die schrittweise auch andere gesellschaftliche Tätigkeiten als ,Arbeit‘ einklagten. Nicht selten irritierte Reaktionen auslösend ging es darum, die Tätigkeit im Haushalt offensiv mit der gesellschaftlich mehrheitlich als
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Vgl. etwa Gigerenzer 2008. Siehe dazu die Idee des „Flow“ als Merkmal gerade auch hochwertiger Arbeitstätigkeiten (vgl. Csikszentmihalyi 1985) und die Konzeption des „Erfahrungswissens“ bzw. des „Subjektivierenden Arbeitshandelns“ von Böhle, vgl. u.a. 1989, 1999; Böhle/Milkau 1988; Böhle/Schulze 1997. Siehe hierzu auch den Beitrag von Fritz Böhle „Arbeit als Handeln“ in diesem Band. 63 Negativ ist dies schon lange ein Thema, etwa wenn Karl Marx seine Vorstellung von hoch entfremdeter Arbeit über die Abwesenheit des für ihn konstitutiven Merkmals menschlicher Arbeit, also der bewussten Planung und Steuerung, anlegt. Aber selbst dabei soll für ihn diese Arbeit sicherlich immer noch die Arbeit von Menschen sein, wenn auch nicht eine genuin menschliche, sondern eine Art ‚tierische‘ Arbeit der ausgebeuteten menschlichen Kreatur. 62
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,Arbeit‘ anerkannten und dadurch hoch bewerteten Tätigkeit zu vergleichen und deren Gleichwertigkeit einzufordern. Das führte schließlich zu der wesentlich allgemeineren Frage, wie sich die zumindest wirtschaftlich dominante Erwerbsarbeit generell zu all jenen anderen Tätigkeiten in der Gesellschaft verhält, die auch Merkmale von Arbeit aufweisen, und wie es die Soziologie und speziell die Soziologie der Arbeit mit dieser realen Vielfalt halten will. Oskar Negt bemerkte dazu völlig zu recht, dass diese Entwicklung auf einen gesellschaftlichen „Kampf um die Vervielfältigung und Erweiterung gesellschaftlich anerkannter Formen von Arbeit“ (Negt 2001: 429) hinausläuft, was auch die Arbeits- und Industriesoziologie nicht unberührt lassen kann. Dieser Blick auf und der Kampf um die gesellschaftlichen Varieties of Work führt nämlich schnell zu der beunruhigenden Erkenntnis, dass sich hier, zumindest für den Begriffsrealisten, eine wahre Büchse der Pandora auftut. Dem ethnographischen Forscher und dem Nominalisten dagegen öffnet sich eine spannende Wundertüte: Allein im Erwerbsbereich kann er bei genauerem Hinsehen außer der formellen Lohnarbeit die selbstständige (auch die schein-selbstständige) und natürlich die unternehmerische Arbeit entdecken; er stößt auf Schwarzarbeit und die diversen Grauzonen des Arbeitsmarkts bis hin zur illegalen und kriminellen Arbeit. Auch in der – lange Zeit von der Arbeits- und Industriesoziologie als „Nicht-Arbeit“64 bewerteten (und diskriminierten) – Sphäre der Gesellschaft und der alltäglichen Lebensführung von Menschen quillt der Forscherin und dem Forscher ein buntes Spektrum von Haushalts-, Familien-, Erziehungs- und Sorge-Arbeit, Eigen-, Bürger- und Ehrenamtsarbeit, mandatärer und auch zwangsweiser (Strafgefangene, Sklaven, Leibeigene usw.) Arbeit u.v.a.m. entgegen.65 Und sucht man nur ein wenig weiter, dann stößt man noch auf die Traumarbeit, die Trauer- und Beziehungsarbeit, die Arbeit der Beziehungspflege („Networking“), die Erinnerungsarbeit des Patienten beim Therapeuten (der seinerseits Überzeugungsarbeit leisten muss) oder das Work-Out des Kraftsportlers. Wen wundert es dann noch, dass sogar das Leben von Menschen insgesamt angesichts der komplexen Bedingungen der modernen Welt als Arbeit erscheint („sogar wenn man schläft“, Warhol 1975),66 zumindest jedoch die „Arbeit des Alltags“ zur Grundlage moderner Lebensführung erklärt wird.67 Man versteht dann auch die Ängste vor einer vermeintlichen „Inflation des Arbeitsbegriffs“ (etwa bei Hund 1990b: Kap. 9.2), der man männlich entschlossen entgegentreten müsse – was leider wenig hilfreich ist. Es handelt sich dabei eher um einen Reflex, der sich aus einer Abwehr der historisch anstehenden Erkenntnis speist, dass man über die immer deutlicher werdende Vielfalt der Realität von Arbeit und den Wandel der Erscheinungen von Arbeit in der Gesellschaft nicht mehr hinwegsehen kann, aber begrifflich nicht darauf vorbereitet ist. Man hatte zwar auch bisher schon eine gewisse Varianz des Begriffs im eher marxistisch geprägten und auf erwerbliche Arbeit zielenden Instrumentenkoffer (körperliche vs. geistige Arbeit, produktive vs. unproduktive Arbeit, dispositive vs. ausführende Arbeit, gebrauchs- vs. tauschwertschaffende Arbeit, konkrete vs. abstrakte Arbeit, lebendige vs. tote Arbeit), aber das schützte nicht davor, faktisch mit einem reichlich schlichten Verständnis zu operieren. 64
Vgl. etwa die Texte des Projekts Klassenanalyse, z.B. Bischoff 1973; Herkommer 1982; Herkommer/Bischoff/ Lohauß 1979; Herkommer/Bischoff/Maldaner 1984. 65 Vgl. Krebs 2002: 23ff.; auch Negt/Kluge 1981: z.B. Kap. 11. 66 „I suppose I have a really loose interpretation of ‚work‘, because I think that just being alive is so much work at something you don’t always want to do. Being born is like being kidnapped. And then sold into slavery. People are working every minute. The machinery is always going. Even when you sleep.” (Warhol 1975: 96). 67 Jurczyk/Rerrich 1993; Voß 1991.
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Die Forderung nach einer leichthändigen Ausweitung des Arbeitsbegriffs mit dem Ziel, die empirische Vielfalt zu erfassen, ist aber leider schneller gestellt als umgesetzt, denn der Teufel steckt auch hier im Detail. Man denke nur an die nun schon sehr lange währenden Versuche, die Besonderheiten von Dienstleistungs-Arbeit zu fassen: Es geht dabei meistens um formelle erwerbsförmige Arbeit (obwohl zunehmend auch nach z.B. illegal bezahlten oder oft auch gepressten Formen gefragt wird), aber was hier eigentlich den Arbeitscharakter ausmacht, ist nach wie vor eine spannende und genau genommen unbeantwortete Frage. Die Unterscheidung von Prozess und ablösbarem (d.h. auch gesondert vernutztem bzw. konsumiertem) Ergebnis und die Trennung von Arbeitendem und Arbeitsobjekt68 macht hier nämlich nur mühsam Sinn. Das Dilemma hat zu dem vielversprechenden Versuch geführt, die entscheidende Qualität dieser Form von Arbeit in ihrer systematischen „Interaktivität“ zwischen den Beteiligten und in den dabei erforderlichen beidseitigen Arbeitsanteilen zu sehen, bei der etwa „Sinnlichkeit“, „Subjektivität“ und eben „Interaktivität“ eine herausragende Bedeutung haben.69 Das wiederum hat dazu geführt, dem Umgang mit Emotionen inzwischen fast unwidersprochen zumindest potenziell Arbeitscharakter sogar im engeren Erwerbskontext zuzusprechen („emotionwork“),70 auch wenn nach wie vor unklar ist, was daraus folgt. Die große Frage bleibt aber: Wie wollen wir es mit dieser Variabilität von Arbeit halten? Oder anders formuliert: Was ist vor diesem Hintergrund das Allgemeine der Vielfalt? Und vor allem: Was ist nicht Arbeit, wenn fast jede Tätigkeit irgendwie und irgendwo zur Arbeit werden kann – sogar der Umgang mit Gefühlen? Die folgenden Aspekte sollen darauf keine Antwort geben, sondern möchten im Gegenteil die mögliche Irritation mit weiteren Fragen vertiefen: (1) Die Frage nach dem ‚Anderen‘ der Arbeit (also dem, was in der Gesellschaft nicht Arbeit ist oder sein soll) ist unausweichlich eine Frage nach der Genderdimension von Arbeit, auch wenn die feministische Debatte immer wieder darum kreiste, die Tätigkeit der Frau in der Gesellschaft aus der Bewertung als Nicht-Arbeit zu befreien. Sie zielt nicht nur darauf, Sphären und Tätigkeiten zu unterscheiden, die gesellschaftlich primär dem einen oder anderen Geschlecht zugewiesen werden (was soziologisch Thema sein muss und, je nach gusto, politisch zu debattieren ist), sondern führt zu der wesentlich fundamentaleren und bekannterweise heiklen Frage, ob es einen genuinen Unterschied zwischen der Arbeit des einen und des anderen Geschlechts gibt – eine Frage, die angesichts aktueller genderbezogener neuropsychologischer Einsichten nicht mehr pauschal tabuisiert werden kann.71 Arbeiten Frauen anders als Männer – und wenn ja, wie und warum und was folgt daraus?72 (2) Genauso grundlegend ist die Frage (die erstaunlicherweise selten gestellt wurde; eine Ausnahme sind auch hier Oskar Negt und Alexander Kluge, 1981: 102ff.), wie sich die Arbeit des Einzelnen zur Arbeit in der Kooperation verhält. Die soziologische These von 68
Das sog. „Drittpersonen-Kriterium“ bzw. die Feststellung, Arbeit dürfe ihren Zweck nicht in sich selbst haben. Dass damit die Habermassche Kontrastierung von „Arbeit“ und „Interaktion“ (Habermas 1973) in einem ganz anderen Licht erscheint, liegt auf der Hand. Vgl. auch Dunkel/Voß 2003; Dunkel/Weihrich 2006; Weihrich/Dunkel 2003; auch Böhle 1989, 1999; Böhle/Schulze 1997; Knoblauch 1996. Vgl. auch die ethnologischen Untersuchungen von Gerd Spittler zur Arbeit von Hirten, v.a. 1998, 2001, 2002. Siehe hierzu auch den Beitrag von Wolfgang Dunkel und Margit Weihrich „Arbeit als Interaktion“ in diesem Band. 70 Vgl. klassisch Hochschild 1990, siehe auch Brucks 1999, Dunkel 1988, Hesse 2003, James 1989, Rastetter 1999, 2008. 71 Vgl. z.B. Bischof-Köhler 2006, Brizendine 2008, Lauterbach/Güntürkün/Hausmann 2007. 72 Die in eine solche Richtung weisende These eines „weiblichen Arbeitsvermögens“ (z.B. Ostner 1978, 1979), hat bekanntlich heftige Diskussionen ausgelöst. 69
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der systematischen ,Gesellschaftlichkeit‘ von Arbeit ist so richtig und wichtig, wie sie zugleich falsch ist! Natürlich ist jede Arbeit in irgendwie geartete Kooperationszusammenhänge eingebunden, und letztlich ist jede Arbeit eines Individuums damit Teil des arbeitsteiligen Gesamtprozesses gesellschaftlicher Arbeit. Aber genauso ‚natürlich‘ ist jede noch so kooperative und sozial eingebundene Tätigkeit erst einmal von einem Individuum ganz persönlich und damit sehr alleine nur von diesem zu leisten … und immer häufiger haben wir es mit wirklich isolierter Arbeit zu tun (zumindest auf einer ersten Ebene), die dann bestenfalls noch technisch mit Anderen abstrakt vermittelt wird (sei es durch konventionelle Techniken, wie das Fließband, oder durch moderne Informationstechnik). Das eine geht nicht ohne weiteres im anderen auf. (3) Ganz ähnlich steht es schließlich mit der angesichts aktuellster Entwicklungen neu zu hinterfragenden Unterscheidung von Prozess und Produkt. Ist Arbeit das, was Menschen tun, oder (auch) das, was dabei heraus kommt? Meist zielt der Begriff erst einmal auf die Tätigkeit. Aber schon mit Blick auf die Wortgeschichte (vgl. im Englischen labour vs. work) wird schnell deutlich, dass das eine vom anderen nicht zu trennen ist.73 Das wird spätestens dann zum wichtigen Thema, wenn, wie derzeit, die Regulierung betrieblicher Arbeit tendenziell von Tätigkeitskontrolle auf eine Kontrolle über die Ergebnisse umgestellt wird (durch Zielvereinbarungen bzw. andere Formen indirekter Kontrolle). Nicht die Anstrengung, die investierte Zeit oder die eingebrachte Qualifikation zählt dann als Arbeit (und wird bezahlt), sondern der Erfolg, wie auch immer er entstanden ist. Dann kann Geschick oder gar Glück wichtiger sein, als das so oft angeführte zweckmäßige Bemühen – womit die Logik des Spiels (wenn nicht gar die des mehr oder minder betrügerischen Zockens im Glücks-Spiel, siehe aktuell im Finanzsektor) die klassische Logik der ‚ehrenwerten‘ Arbeit überlagert, wenn nicht gar ersetzt. Das verändert nachhaltig das gesellschaftliche (und individuelle) Verständnis davon, was als wertvolle ,Arbeit‘ angesehen wird.74
Ist Arbeit gut oder schlecht? Neben einem deskriptiv-analytischen Blick auf Arbeit und ihre Vielfalt kann man soziologisch auch eine normative Perspektive einnehmen – mit vielleicht überraschenden Folgen für den Arbeitsbegriff. Meist wird Arbeit mit Produktivität und Zweckmäßigkeit verbunden und dazu das hohe Lied der Nützlichkeit angestimmt. Nur wenige Einzelstimmen widersetzen sich diesem fast schon erschreckenden Unisono.75 Erst in neuester Zeit und parallel zur Debatte um den Arbeitsbegriff in den 1980er Jahren wird thematisierbar, dass Arbeit auch destruktiv sein kann – die Beiträge von Lars Clausen zu diesem Thema sind damit nicht hoch genug zu 73
Siehe ähnlich schon Max Scheler (1971), der für sein Verständnis von Arbeit zwischen der Tätigkeit, dem Produkt und einer gestellten Aufgabe unterscheidet. 74 Siehe unter dem Stichwort „indirekte Steuerung“ den Beitrag von Dieter Sauer „Vermarktlichung und Vernetzung der Unternehmens- und Betriebsorganisation“ in diesem Band sowie aus gesellschaftstheoretischer bzw. -historischer Sicht aktuell Sighard Neckel 2008. 75 Bringt man Arbeit mit Technik in Verbindung findet man jedoch eine breite Thematisierung von potenziell negativen Folgen im Rahmen der verschiedenen Varianten einer fast die gesamte Geistesgeschichte durchziehenden Technikkritik (vgl. etwa für die frühe zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts Anders 1956; Gehlen 1957; Schelsky 1965) oder die sozialwisssenschaftliche Thematisierung von sog. „Technikfolgen“ (vgl. Bullinger 1994). Siehe u.a. den Überblick zu den Themen Technikkritik, Technikfolgenabschätzung, Technikrisiken usw. bei Johannes Weyer 2008 (auch 1994).
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würdigen (vgl. v.a. Clausen 1983, 1988). Trotzdem ist es beispielweise immer noch fast ein Anathema, dass auch der Kampf des Soldaten im Krieg Arbeit ist – ja, dass die Arbeit des professionellen Soldaten qualifizierte berufliche Erwerbsarbeit darstellt, die gerade auch in zivilisierten modernen Gesellschaften selbstverständlicher Teil des Berufssystems ist. Oskar Negt und Alexander Kluge gehören auch hier zu den wenigen, die dezidiert „Krieg als Arbeit“ beschreiben (Negt/Kluge 1981: Kap. 10).76 Und nicht unterschlagen werden darf bei diesem Thema das unauslöschlich grauenhafte Element der deutschen Geschichte, dass in der Nazidiktatur in größtem Ausmaß ein auf Zwangsarbeit beruhendes systematisches Tötungsprogramm („Vernichtung durch Arbeit“) in speziell dafür eingerichteten Lagern betrieben wurde, an deren Toren „Arbeit macht frei“ stand.77 Ohne Mühe lässt sich eine Liste von Berufen aufstellen, die in wichtigen Anteilen auf Zerstörung und Gewaltanwendung ausgerichtet sind. Man denke (außer an Soldat und Söldner) an den Schlächter, den Baumfäller oder den Sprengmeister, vom berufsmäßigen Henker und Folterer gar nicht zu reden – und auch Polizisten oder Wach- und Sicherungspersonen müssen zur Ausübung ihrer Arbeit darauf eingestellt sein, bei anderen Menschen gegebenenfalls massiven Schaden anzurichten. Und nicht zuletzt der Chirurg muss qua beruflicher Aufgabe mit zum Teil drastischen ‚Operationen‘ zerstörend in die Körper von Menschen eingreifen …, um damit eine Heilung zu erreichen. Die Einschätzungen dessen und damit die Folgen für den Arbeitsbegriff sind äußerst kompliziert: Es handelt sich um Tätigkeiten, die im Kern (also nicht als Nebenwirkungen) Zerstörungen oder Schädigungen zur Folge haben und genau damit ‚Nützliches‘ bewirken sollen. Die Frage bleibt bestehen, wo hier das oft herangezogene Nützlichkeitspostulat für eine Definition von Arbeit bleibt. Die Lösung, alle gewaltförmigen Tätigkeiten aus dem Arbeitsbegriff auszuschließen, wie gelegentlich vorgeschlagen, ist nicht nur albern, sondern führt auch keinen Schritt weiter. Denn schnell kann man sich (etwa mit der Dialektik von Form und Formwandel im Prozess der Arbeit) noch einmal klar machen: Jede Arbeit ist immer auf irgendeine Weise auch ‚zerstörerisch‘, indem sie eine neue Form schafft und dazu eine alte aufhebt – Zerstörung und Gewaltanwendung sind möglicherweise sogar konstitutive Merkmale von Arbeit überhaupt.78 Alexander Kluge und Oskar Negt erklären dazu explizit, dass jegliche Arbeit „auf der Anwendung unmittelbarer Gewalt“ beruht, sogar die Arbeit der Hebamme (Kluge/Negt 1981: 20, 25). Kann es also sein, dass keine nützliche Arbeit ohne Schadensfolgen ist? Was Nutzen und was Schaden bei der Arbeit ist, kann vermutlich nie eindeutig bestimmt werden, sondern ist untrennbar miteinander verwoben und hängt nicht zuletzt von der sozialen Kontextuierung ab. Das wird schnell deutlich, wenn man den Kontext von Arbeit weiter fasst und Langfrist- oder Nebenfolgen einbezieht, ob als unintendierte oder bewusst in Kauf genommene ‚Kollateralschäden‘ bis hin zu den durch Arbeitsfolgen ausgelösten kleinen und großen Katastrophen.79 Man kann hier 76 Siehe auch das in Abschnitt 1.1 zitierte Nibelungenlied, wo die Tätigkeit der kriegerischen Helden „harte arebeit“ ist. 77 Siehe als eine wichtige aktuelle Quelle aus der Soziologie Wolfgang Sofsky 2002; zum Lagersystem allgemein (KZ und Gulag) siehe auch Gerhard Armanski 1993. 78 Jean Jaques Rousseau (v.a. im Emile, 1998) könnte etwa mit kritischem Blick dem Gedanken zustimmen, dass der Pädagoge die unbefangene Natürlichkeit des Zöglings zerstört, um ihn nach seinen Zielen zuzurichten. Das ist zumindest bei einer gewalttätigen „schwarzen Pädagogik“ und ihrer langen Geschichte (Rutschky 1988; s.a. Maus 1980) völlig offensichtlich und ist auch neuesten Versionen autoritärer Erziehung deutlich anzumerken (etwa bei Bueb 2008). 79 Das ist vor allem Thema in der Ökologie, aber auch bei der Technikfolgenabschätzung (vgl. u.a. Bullinger 1994; Weyer 1994) und der Katastrophenforschung, die es auch in der Soziologie gibt (vgl. z.B. Perrow 1989; aktuell
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gerne noch einmal an die schon erwähnte Warnung von Friedrich Engels denken, dass sich die Menschheit ihrer durch Arbeit erreichten „Siege über die Natur“ nicht zu sicher sein sollte: „Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andere unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben.“ (Engels 1972: 452). Die Frage nach der normativen Verortung von Arbeit kann schließlich auch noch einmal in einem prinzipiellen Sinne gestellt werden: Ist Arbeit generell gut oder schlecht? So schlicht die Frage erscheinen mag (und so gestellt, auch ist), so durchzieht ihre Thematisierung doch in krasser Ambivalenz und Widersprüchlichkeit das gesamte (zumindest westliche) Denken und damit unsere Geistesgeschichte – was sich, wie eingangs gezeigt, markant in der Wortgeschichte widerspiegelt:80 Auf der einen Seite wird Arbeit durchgehend mit Last, Mühe, Plackerei und sogar Elend verbunden, etwa als trauriges Schicksal des verwaisten Kindes, das zur Zwangsarbeit genötigt wird, als Strafe Gottes für den Sündenfall oder als beklagenswertes Los des geschundenen Sklaven und seines Bruders, des Lohnsklaven. So gesehen gehört Arbeit ins ewige Reich der „Notwendigkeit“ (Karl Marx), in dem man sich den Zwängen der zu bearbeitenden Sache, den Zwängen sozialer Ordnungen und den Befehlen einer (wie auch immer legitimierten) strukturellen oder personalisierten Leitung unterwerfen muss. Auf der anderen Seite wird Arbeit, oft sogar von denselben Autoren, immer wieder regelrecht euphorisch als Grundlage für die Menschwerdung des Affen, die Selbstfindung des Subjekts, die allseitige Entfaltung der schöpferischen Möglichkeiten des Menschen, die Entwicklung der Zivilisation und ihrer Werke, ja der gesamten menschlichen Geschichte und ihres Fortschritts u.v.a.m. regelrecht geheiligt. Auch in historischen Zukunftsvisionen wird sie meist als Beginn, wenn nicht gar als ewige Grundlage eines anzustrebenden „Reichs der Freiheit“ gepriesen – denn auch dieses wird nach fast einhelliger Meinung (Marx‘ Schwiegersohn Paul Lafargue oder die anarchistische Pogopartei vielleicht ausgenommen)81 nicht das rundum arbeitsfreie Schlaraffenland sein, sondern eine Sphäre allseitiger Arbeit, die nun aber endlich selbstbestimmt ist und eine erfreulich vielfältige Auswahl von Tätigkeiten bietet: „… heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe“ (Marx/Engels 1978: 33). Aber auch dieser amüsante Marx-Engelsche Supermarkt von Tätigkeiten hat keine konsumistischen Freizeitaktivitäten im Regal, sondern zweckmäßige kommunistische Arbeit, wenn auch mit erweitertem Angebot und gewissen Wahlmöglichkeiten. Viele aktuelle Modelle eines selbstbestimmten individuellen Lebens verbinden ihre meist eher kurzfristigen Visionen mit einem positiven Bild von Arbeit: das Konzept der „Neuen Arbeit“ des Amerikaners Fritjoff Bergmann (2004), die „Wege ins Paradies“ als philosophische „Utopie“ der Arbeit von André Gorz (1983, 1989, 2000), die politische Forderung nach einer „Bürgerarbeit“ in der „Tätigkeitsgesellschaft“ bei Ulrich Beck (1999, Voss 2006). Einen expliziten grundlagentheoretischen Zusammenhang zum Thema Arbeit stellen etwa Theodor M. Bardmann („Wenn aus Arbeit Abfall wird“, 1990, 1994) oder Hans J. Rieseberg („Naturzerstörung durch Arbeit“, 1992) her; siehe aus der Soziologie auch Ulrich Becks These der Risikogesellschaft (1986, aktuell 2007); vgl. auch v. Greiff 1990. 80 Hans-Werner Goetz (2006) zeigt, dass insbesondere das Mittelalter aufgrund seiner kulturellen Zwischenlage zwischen frühchristlicher Prägung, Residuen der Antike und beginnender Moderne hochgradig von einer derartigen „Ambivalenz“ der Einschätzung von Arbeit geprägt wurde. 81 Das Motto der Pogopartei: „Arbeit ist Scheiße”.
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2000) bis hin zu den urbanen Freiheitsideen von einer neuen selbstständigen Arbeit der Berliner Holm Friebe und Sascha Lobo zur „Digitalen Bohème“ (2008). Man sieht, dass Arbeit seit langem und bis heute für widersprüchliche Projektionen herhalten muss: sie ist negativer Bezugspunkt für Gesellschaftskritik oder Entfremdungsund Ausbeutungsklagen und zugleich Kern positiver Utopien und Hoffnungen. Selbst beim von manchen erhofften Reich Gottes kann man sich (zumindest in der christlichen Variante) nicht sicher sein, ob einen dann nicht doch Arbeit zur Ehre des Allerhöchsten erwartet (der bekannterweise selbst als arbeitender „Schöpfer“ beschrieben wird). Man muss kein Benediktiner sein, um sich lebhaft vorstellen zu können, dass auch da das obligatorische „ora“ schnell zur lästigen „labora“ werden kann.
Gesellschaftliche Einzigartigkeit der Arbeit oder das ‚Andere der Arbeit‘ in der Gesellschaft … und wie hängt beides zusammen? Die eben erwähnten positiven Visionen von Arbeit weisen deutlich in eine noch einmal ganz andere Richtung: über Arbeit hinaus. Die Frage nach dem Wesen der Arbeit ist untrennbar verbunden mit der Frage, was denn nun nicht Arbeit sei (oder sein solle), oder, für diejenigen, die vom Blick auf Arbeit nicht lassen können, mit der Frage nach der NichtArbeit oder dem ,Anderen der Arbeit‘. Auf einer ersten Ebene ist das eine allgemeine begriffliche Frage, die mehr oder weniger explizit alles bisher Angesprochene durchzieht: Wie grenzt man Arbeit ab von all dem anderen, was Menschen sonst noch tun (wenn sie nicht arbeiten), und wie soll man es begreifen und benennen: Tätigkeit,82 Praxis,83 Spiel,84 Kunst,85 Konsum,86 Muße,87 Müßiggang,88 Faulheit,89 Langeweile90 bis hin zu Leben (oder Lebenskunst)91 und gerne auch Liebe,92 die dann Sexualität93 einschließen sollte. Besondere Aufmerksamkeit sollte man aus arbeitssoziologischer Sicht dabei vielleicht der sogenannten Freizeit schenken. Diese Gegensphäre zur Arbeit ist am deutlichsten eine gesellschaftliche, ja sogar gesellschaftspolitische und sozialrechtliche ‚Erfindung‘, die in dezidierter Abgrenzung von einem spezifischen Typus von Arbeit und Arbeitskraft (formelle abhängige Erwerbsarbeit und die dazu passenden abhängig Erwerbstätigen) in einer historisch gesehen sehr kurzen Periode (dem Fordismus) in einem engen geographischen Raum (in den mehr oder weniger entwickelten Gesellschaften) entstand und nur dort Gül82
Vgl. z.B. Leontjew 1982, 1984; Raithel 1983. Vgl. z.B. Opitz 1967; Raithel 1983. Vgl. z.B. Eichler 1979; Fetcher 1983, Maturana/Verden-Zöller 2005; Pias 2002; Runkel 2003 und natürlich Huizinga 2004. 85 Vgl. z.B. Röbke 2002; mit speziellem Blick auch Lütteken 2006. Zu ‚Kunst als Arbeit‘. Siehe hierzu ausführlicher den Beitrag von Alexandra Manske und Christiane Schnell „Arbeit und Beschäftigung in der Kultur- und Kreativwirtschaft“ in diesem Band. Siehe auch Karl Valentin: „Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.“ 86 Vgl. Jäckel 2006. 87 Vgl. Pieper 1965, Schürmann 2003; mit einer sehr spez. Perspektive Welskopf-Hernich/Welskopf 1962. 88 Vgl. Helmstetter 2002; Hodqkinson, 2007; Russel 2002. 89 Vgl. Lafargue 1998; aktuell auch Braig/Renz 2003; Helmstetter 2002. 90 Vgl. Kast 2003; Svendsen 2002. 91 Vgl. umfassend Schmid 2007. 92 Vgl. z.B. Krebs 2002, Maturana/Verden-Zöller 2005. 93 Vgl. auch hier nur als Beispiel aus der Soziologie die Arbeiten von Volkmar Sigusch, etwa aktuell 2005, 2008. 83 84
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tigkeit hat. Freizeit (zumindest im engeren Sinne) findet sich nicht oder nur sehr eingeschränkt in traditionalen Gesellschaften, nicht außerhalb der klassischen abhängigen Erwerbsarbeit (hat der Selbstständige oder der Arbeitslose eine formelle Freizeit?), nicht als Gegenstück zu anderen Arbeitstätigkeiten in der Gesellschaft (Hat die Hausfrau und Mutter im engeren Sinne Freizeit? Vielleicht am Muttertag!), nicht in den kaum regulierten, vorwiegend auf sogenannten informellen Arbeitstätigkeiten beruhenden Ökonomien der Dritten Welt usw. Es mag dort das Wort „Freizeit“ geben (etwa vor dem Hintergrund einer weltweit verbreiteten Freizeit-Ideologie und eines auf Freizeit bezogenen Konsumismus), aber nicht Freizeit als rechtlich oder tarifvertraglich garantierter Anspruch auf eine von formeller Erwerbsarbeit ‚befreite‘ zeitliche Sphäre für die, die diesen Regulierungen unterliegen. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich eine Soziologie der Arbeit, die sich mit dieser gesonderten Sphäre beschäftigen will, von Beginn an überaus schwer tat, die Logik der Freizeit aus sich heraus zu verstehen, ja überhaupt zum Thema zu machen.94 Alle begrifflichen Bemühungen waren fast immer mehr oder weniger hilflose negative oder in direkter Relation zur Arbeit (als Erwerbsarbeit) entwickelte Definitionsversuche, in denen Freizeit genau genommen nichts anderes als der Schatten der Arbeit war.95 Die Parallelen zu den Definitionsproblemen bei Arbeit sind mehr als augenfällig. Die für jede Beschäftigung mit (und jede Definition von) Arbeit grundlegende Frage ist also: Wie hältst Du es mit dem ‚Anderen der Arbeit‘? Ist es nur das ‚Andere‘, das bestenfalls aus der Arbeit heraus bestimmt wird, oder hat es auch für eine Soziologie der Arbeit eine eigene Logik, einen Eigen-Sinn und vor allem eine eigene Relevanz und Signifikanz? Es hat sich immer wieder gezeigt, dass Arbeit (etwa als Erwerbsarbeit) nicht angemessen verstanden werden kann, wenn man sie nicht in ihrer realen Verschränkung mit und in ihrer funktionalen Abhängigkeit von jenem so vielfältigen ‚Anderen‘ im Leben der Menschen und in der Gesellschaft betrachtet. Spätestens mit den berechtigten Forderungen der Frauenforschung nach Einbezug der Haushalts- und Familiensphäre und damit der Reproduktionsleistungen in die Arbeitssoziologie muss dies auch dem letzten Zweifler deutlich geworden sein.96 Die Frage nach dem ‚Anderen‘ hat auch noch eine höchst aktuelle Ebene: Der in der Arbeitssoziologie intensiv thematisierte aktuelle Wandel von erwerbsförmiger Arbeit und Betrieben (etwa unter den Stichworten „Entgrenzung“)97 zeigt an vielen Stellen, dass Trennungslinien zwischen dem, was konventionell Arbeit ist, und dem, was gegenübersteht, zunehmend unscharf werden – so dass es erstaunliche neuartige und höchst folgenreiche Vermischungen oder Entdifferenzierung gibt. In der einen Richtung bedeutet das, dass immer häufiger die Privat- und Freizeitsphäre zum Feld von Aus- und Weiterbildung, von Vor- und Nacharbeiten zur betrieblichen Tätigkeit, ja zum expliziten Arbeitsbereich, z.B. bei sog. Teleheimarbeit oder neuer Heimarbeit (im Home Office) wird. Dass Sport in vielen 94
Siehe als Ausnahmen Osterland/Deppe/Gerlach 1973; Wald 1966. Siehe aus der großen Zahl von Texten zum Zusammenhang von Arbeit und Freizeit u.a. den nach wie vor anregenden frühen Aufsatz von Jürgen Habermas 1958; vgl. u.a. auch Anderson 1961; Eichler; 1979, Gershuny 2000; Hoff 1986; Kabanoff 1980; Küng 1971; Meissner 1971, Parker 1983; Scheuch 1977; Staines 1980; Wilensky 1962. 96 Vgl. Jürgens 2006. Siehe hierzu auch die Beiträge von Karin Gottschall „Arbeit, Beschäftigung und Arbeitsmarkt aus der Genderperspektive“ und Brigitte Aulenbacher „Rationalisierung und der Wandel von Erwerbsarbeit aus der Genderperspektive“ in diesem Band. 97 Vgl. etwa Voß 1998; Kratzer 2003. Siehe hierzu auch den Beitrag von Dieter Sauer „Vermarktlichung und Vernetzung der Unternehmens- und Betriebsorganisation“ in diesem Band. 95
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Bereichen eine dezidierte Arbeitssphäre ist, wird seit langem thematisiert (Rigauer 1969). Das gilt nicht nur für den immer professionelleren und zunehmend durchökonomisierten Profisport, sondern für viele Zwischensphären, in denen die sportliche Betätigung deutlich Merkmale des Arbeitens aufweist (regelmäßige ,Trainingsarbeit‘ im Sportverein, semiprofessionelle Formen von Wettbewerbssport). Das gilt auch für die Bereiche Kunst und Kultur, die beide zu einem regelrecht boomenden Marktsegment und damit zu einem Arbeitsmarkt geworden sind. Dass Einkauf und sogar der Urlaub für viele ‚echt Arbeit‘ bedeuten (zumindest ihre Vor- und Nachbereitung) ist nicht nur ein Kalauer. Und selbst das Dasein als Kunde und Konsument wird im Zuge aktuellster Entwicklungen immer häufiger zu einer Sphäre von Arbeit (z.B. Joerges 1981, 1983; Voß/Rieder 2006). Der Wandel von (erwerbsförmiger) Arbeit bewirkt zugleich eine gegenläufige Entwicklung. Die Erwerbssphäre wird zunehmend von Merkmalen aus den aufgezählten anderen Sphären durchdrungen. Hintergrund dessen sind zum einen die durchaus legitimen Wünsche vieler Beschäftigter, bei der beruflichen Arbeit ,Spaß‘ zu haben, etwas zu erleben, sich zu entfalten, schöpferisch zu sein usw., also Aspekte in ihre Berufstätigkeit zu integrieren, die man eher mit (erwerbs-)arbeitsfernen Bereichen verbindet (vgl. u.a. Pongratz/Voß 2003a, b). Auslöser sind nicht zuletzt veränderte Wertorientierungen, die etwa zu einer „normativen Subjektivierung“ von Arbeit führen (vgl. z.B. Baethge 1991) und Grenzen zu anderen Lebenstätigkeiten unscharf werden lassen. Eine Zeit lang galt die expandierende IT-Industrie als Bereich, in dem diese Änderung in markanter Form möglich wurde.98 Hintergrund sind aber mehr noch neue betriebliche Strategien einer „Subjektivierung von Arbeit“,99 mit denen bei der Nutzung von Arbeitskraft systematischer als früher auch auf tiefliegende Persönlichkeitseigenschaften zugegriffen wird (Kreativität, Innovativität, Fähigkeit zur ultimativen Leistung, Selbststeuerung, Emotionen usw.). Man schafft dazu in den Betrieben gezielt Bereiche, die arbeits-unähnlich oder genau nicht Arbeit sein sollen, und die Aspekte der ‚anderen‘ Welt aufweisen (oder auch nur simulieren): Kultur, Erlebnis, Selbstentfaltung, Entspannung, Muße, sogar Sorge (etwa bei Betriebskindergärten) und Freizeit (gemeinsame Essen, Ausflüge, Sportaktivitäten usw.).100 Teilweise läuft das unter populären Schlagworten wie „Work-Life-Balance“, „Unternehmenskultur“ oder „Corporate Social Responsibility“. Die Nutzung von Nicht-Arbeit und ihrer Handlungslogik wird auf diese Weise eine wichtige strategische Option für die Optimierung betrieblicher Arbeit. Festgehalten werden kann hier, dass das ‚Andere der Arbeit‘ immer mehr zur Arbeit wird und Arbeit immer häufiger Merkmale des ‚Anderen der Arbeit‘ enthält. Die beiden Bereiche waren nie völlig getrennt101 und sie existierten nie in der reinen Form, wie es die Definitionsversuche vorgaben. Aber die Vermischungen, Unschärfen und daraus entstehenden Hybriden (nicht-arbeitsförmige Arbeit und arbeitsförmige Nichtarbeit) nehmen zu. 98 Vgl. auch hier Friebe/Lobo 2008 oder den Roman über die „Microsklaven“ bei Microsoft (engl. „Microserfs“) von Douglas Coupland 1996; kritisch dazu aus Sicht der Arbeitssoziologie u.a. Boes/Baukrowitz 2002; Manske 2007. 99 Vgl. u.a. Moldaschl/Voß 2003; Lohr/Nickel 2005. Siehe hierzu auch den Beitrag von Frank Kleemann und G. Günter Voß „Arbeit und Subjekt“ in diesem Band. 100 Vgl. u.a. Manthey 2003. 101 „The boundary between work and non-work activity is hazy“ (Noon/Blyton 2006: 3). Und Karl Bücher hatte schon 1904 Zweifel an einer rigiden Trennung der Sphären: „Aber es scheint noch kaum einmal die Frage aufgeworfen zu sein, ob denn auf allen Stufen menschlicher Entwicklung eine solche Grenze zwischen Arbeit und andersartiger Tätigkeit zu ziehen ist und ob nicht vielleicht auch ihr Wesen im Lauf der Zeit Wandlungen unterworfen gewesen ist.“ (Bücher 1924: 1-2).
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Herausforderungen und Perspektiven: Thesen zum Umgang mit dem Begriff „Arbeit“
Es sollte gezeigt werden, dass der Umgang mit dem Arbeitsbegriff nicht einfach ist, auch wenn es vielfältige, spannende und soziologisch oft noch nicht voll ausgeschöpfte Angebote gibt. Wahrscheinlich werden die Komplikationen sogar zunehmen. Die alte Frage „Was ist Arbeit?“ ist also spannender denn je. Deutlich ist auf jeden Fall, dass es um eine „historisch überfällige“ (Negt 2001: 461) Neuthematisierung und vermutlich – gegenüber ökonomistisch verkürzten Vorstellungen – „Erweiterung“ (2001) des Arbeitsbegriffs geht. Ganz unentschieden soll aber nach so viel gedanklicher Arbeit nicht geendet werden. Einige Thesen lassen sich festhalten, die sowohl weitere Bemühungen um den Arbeitsbegriff begleiten als auch Merkpunkte bei der Lektüre dieses Bandes sein können: These 1: Der gemeinte Gegenstand war, ist und bleibt auch in Zukunft wesentlich unbestimmt, auch wenn es vielfältige Angebote gibt, mit denen man begrifflich operieren kann, sollte es nötig sein. Diese tragen zwar eher nicht dazu bei, den Begriff Arbeit ein für allemal zu fassen, aber hilfreiche Annäherungen und Eingrenzungen sind sehr wohl möglich. These 2: Ein entscheidender Grund für diese Unbestimmtheit des Gemeinten (nennen wir es ruhig weiterhin unbefangen Arbeit) ist, dass Arbeit grundlegend vielgestaltig, historisch variabel und nicht zuletzt gerade derzeit in einer Entwicklung begriffen ist. Jede Gesellschaft und jedes individuelle Leben kennt Tätigkeitssphären, die mehr oder weniger arbeitsförmig sind und sich in dieser Hinsicht kontinuierlich verändern … und darüber hinaus findet sich ein spannendes und spannungsreiches Spektrum weiterer Aktivitäten, die dazu in Beziehung stehen und oft genug nicht klar davon abzugrenzen sind. These 3: Ein zweiter wesentlicher Grund für die notorische Unbestimmtheit von Arbeit ist, dass sie grundlegend dialektisch, oft sogar widersprüchlich (z.B. nicht eindeutig gut oder schlecht) ist – und genau deswegen sind Realität und Begriff ‚offen‘ für vielfältige in der Geschichte entstehende und sich laufend verändernde Erscheinungen, Bezeichnungen, Bedeutungen und Wertungen. These 4: Wenn man sich (hier und heute) um den Begriff Arbeit bemüht, dann geschieht das unausweichlich mit dem phänomenologischen und begrifflichen Material, das aus den aktuell dominierenden Erscheinungen des gemeinten Gegenstands entsteht. Das ist ein Problem, aber es ist auch gut so, denn die begrifflichen Bemühungen beziehen sich auf unseren Erlebensraum …und nicht zuletzt gibt es keine akzeptable Alternative. Wenn also wir über Arbeit reden, dann schwingt in unserem kulturellen Kontext fast immer die nach wie vor dominierende Form der formellen Erwerbsarbeit gedanklich mit – auch wenn sich gerade in Bezug auf diesen Gegenstand einiges bewegt und dadurch auch der Begriff in Bewegung gerät. These 5: Dass sich der Begriff der Arbeit verändert, man aber nicht wissen kann wohin, ist weniger bedrohlich als man meinen könnte. Vielleicht ist es sogar ein Vorteil, denn damit entsteht die Möglichkeit, die Veränderungen von Arbeit kategorial unbelastet zu beobachten und die begrifflichen Bemühungen offen zu halten – ob nur vorübergehend (bis man einen neuen festen Begriff der Arbeit bilden kann) oder angesichts der Erfahrungen dauerhaft, so dass man lernt, mit einem offenen Begriff zu operieren, ist unklar. These 6: Genau wegen dieser Unbestimmtheit (aber nicht nur deswegen) waren und sind Arbeit und ihre Begriffsbestimmung ein politisches Thema. Die Definition eines ge-
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sellschaftlichen Zentralbegriffs wie dem der Arbeit ist nicht nur eine wissenschaftliche Frage, sondern eine machtvolle Interessen berührende kulturelle und sogar politischpraktische Problematik. Dass eine solche Kategorie folglich ideologisch und damit normativ befrachtet ist, darf nicht verwundern. Auch das ist kein großer Schaden, solange man darum weiß und es beachtet, aber es macht den Umgang mit dem Thema nicht leichter. Der Glaube, man wisse was Arbeit ist, wird nur noch Wenigen vergönnt sein, und vor denen sollte man sich hüten. These 7: Sich wegen der Unbestimmtheiten oder gesellschaftspolitischen Implikationen um das Thema zu drücken, kann gleichwohl nicht akzeptiert werden – schon gar nicht von einem Fach, das Arbeit zu seinem Gegenstand macht. Das Thema als „worthless“ (Hall 1994: 3) beiseite zu schieben, sich mit funktionslosen marginalen Verweisen auf die Klassiker aus der Affäre zu ziehen oder die Begriffsprobleme einer anderen Disziplin (der Philosophie) zuzuschieben, ist nicht nur ignorant, sondern höchst problematisch. Genau das kann nämlich dazu führen, dass ein Fach historisch spezifischen Erscheinungen und Bewertungen seines Gegenstandes aufsitzt und die kritische Distanz zum Feld wie zu sich selbst verliert – so wie es der Arbeits- und Industriesoziologie über einen großen Zeitraum widerfahren ist, bis es nahezu identitätsbedrohend wurde. These 8: Aus all dem kann der Schluss gezogen werden, dass man sich im Umgang mit dem Problem eines allgemeinen Arbeitsbegriffs von der Suche nach einer endgültigen kategorialen Festlegung und Abgrenzung verabschieden sollte. Vielleicht bekommt dadurch erst jetzt die Forderung von Remigius C. Kwant aus dem Jahr 1960 Sinn: „Wir müssen drauf verzichten, das menschliche Tun in zwei Teile zu zerlegen, als trüge der eine Arbeitscharakter, der andere aber nicht.“ (Kwant 1968: 16) Wesentlich sinnvoller erscheint es, einen Apparat von Aspekten zu entwickeln, die man relational aus philosophischen oder historischen Gründen mit Arbeit verbinden möchte. Diese können analytisch flexibel vor dem Hintergrund der jeweiligen gesellschaftlichen Konstellationen Aktivitäten zugeordnet werden, um diese zu beurteilen. Dann geht es nicht mehr um die auf eine Definition abzielende Frage „Was ist Arbeit?“ (und was nicht), sondern darum, in welchem Ausmaß und hinsichtlich welcher Aspekte unterschiedlichste Aktivitäten verschiedenartiger Akteure in der Gesellschaft ,Arbeits-Charakter‘ haben, warum das so ist, wie es sich ändert und was daraus folgt, etwa für eine Diagnose über den Zustand der Gesellschaft.102 Zur Vertiefung Aßländer, Michael S. (2005). Von der vita activa zur industriellen Wertschöpfung. Eine Sozial- und Wirtschaftsgeschichte menschlicher Arbeit. Marburg: Metropolis. Böhle, Fritz (1999). Arbeit. Subjektivität und Sinnlichkeit. Paradoxien des modernen Arbeitsbegriffs. In: G. Schmidt (Hrsg.), Kein Ende der Arbeitsgesellschaft (S. 89-109). Berlin: Edition sigma. Conze, Werner (1975). Arbeit. In: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe (S. 154-215). Stuttgart: Enke. Frambach, Hans (1999). Arbeit im ökonomischen Denken. Zum Wandel des Arbeitsverständnisses von der Antike bis zur Gegenwart. Marburg: Metropolis. 102
Vgl. für den Versuch eines in dieser Weise flexibel „ironischen“ (Rorty 1989) Umgangs mit dem Begriff im Rahmen einer Theorie Alltäglicher Lebensführung G. Günter Voß 1991: 229ff. Siehe aktuell ähnlich auch Noon/Blyton (2006: z.B. 3ff.).
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Zur historischen Entwicklung des Verständnisses von Arbeit
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Zur historischen Entwicklung des Verständnisses von Arbeit Georg Jochum
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Gegenstand und Problemstellung: Metamorphosen des Arbeitsverständnisses
Gegenstand des folgenden Beitrages ist der kulturhistorische Wandel des gesellschaftlichen Verständnisses von Arbeit. Die Geschichte der historischen Vorstellungen und Konzeptionen von Arbeit wird von der neolithischen Zeit bis in die frühe Moderne nachgezeichnet. Hierbei werden die zentralen Spannungsfelder und wesentlichen Metamorphosen des Arbeitsverständnisses aufgezeigt. Für die gesamte Menschheitsgeschichte kennzeichnend ist ein grundlegend ambivalentes Verhältnis des Menschen zur Arbeit, das sich auch in der Etymologie widerspiegelt. Zu dem deutschen Wort Arbeit mit seiner ursprünglich negativ konnotierten Bedeutung „ein zu schwerer körperlicher Tätigkeit verdingtes Kind sein“ (Dudenredaktion 2001: 46) gibt es in den meisten Sprachen äquivalente abwertende Bezeichnungen.1 Zugleich werden jedoch Termini verwendet, die eine gänzlich andere Grundbedeutung aufweisen, aber ebenfalls Arbeitstätigkeiten benennen. Insbesondere in dem griechischen Begriff >>ergon>opus>Werk>ponos>tripalare>trabajo>travailler>labor>laborMechaniken< welche die Seele, die sie hervorbringt, verfremdet und zur Materie hinziehen“ (Albertus Magnus 2006: 4). Demgegenüber sind jene Künste, welche „Schönheit und Freiheit
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Georg Jochum
der Seele einprägen“, und deshalb „freigebige und freie Künste“ heißen, weil „wir sie um ihretwillen wollen“, eindeutig höherwertig (Albertus Magnus 2006: 39-40). Thomas von Aquin (ca. 1225-1274), ein Schüler von Albertus Magnus, übersetzt schließlich die aristotelische Differenzierung zwischen bios politikos und bios theoretikos in den Gegensatz von vita activa und vita contemplativa. In der „Summa Theologica“ heißt es: „Das beschauliche Leben [vita contemplativa, G.J.] ist schlechthin besser als das wirkige [vita activa, G.J.] – und was immer die Verdienste des tätigen Lebens sein mögen, die der Kontemplation sind wirksamer und mächtiger“ (Aquin 1952: 182). Insgesamt erfolgt in der scholastischen Philosophie durch die Rückbesinnung auf Aristoteles eine Abwertung der mechanischen Künste und des aktiven Lebens, welche der bei Hugo von St. Viktor u.a. erkennbaren Aufwertung entgegensteht.27 Arbeit kann zwar ein Mittel sein, um die außerweltliche Erlösung zu erlangen, ist aber letztlich durch andere Heilswege substituierbar (vgl. Aquin 1952: 161ff.). In der daran anschließenden historischen Phase kommt es jedoch zu einer grundlegenden Neubewertung der Arbeiten der mechanischen Künste und der Technik, wie sich etwa an den Maschinenbüchern28 der frühen Neuzeit aufzeigen lässt (vgl. Hilz 2008: 7ff.). Arbeit wird nun zum Weg, durch den sich der Mensch von der Welt des Leidens und der Not zu erlösen sucht. Sie wird zum Mittel, um in das Paradies zurückzukehren, anstatt nur die Folge der Vertreibung aus dem Garten Eden zu sein: „Die mechanischen Künste helfen dem Menschen nicht nur äußerlich, sondern durch ihre Ausübung aktiviert der Mensch Fähigkeiten, die ihm bei seinem Fall weithin verlorengingen, und gewinnt vieles von seiner paradiesischen Würde zurück“ (Stöcklein 1969: 42).29 Hintergrund dieser Neuinterpretation von Arbeit, die den impliziten eschatologischen Kern des Projekts der Moderne ausmacht, ist eine Neupositionierung des Menschen in der Welt: Der praktisch und zugleich kulturell geschlossene mittelalterliche Raum wird für die humane Selbstbehauptung und Weltgestaltung geöffnet.30
27 Auch die aristotelische Unterscheidung zwischen Arbeiten und Handeln wird von Thomas von Aquin auf die Künste bezogen: „Denn unterschiedlich sind Handeln [agere] und Schaffen [facere] (...) Die Wissenschaften des Handelns [scientia activae] werden moralische Wissenschaften [scientia morales] genannt. (...) Die schaffenden Wissensgebiete [scientiae factivae] werden auch artes mechanicae genannt.“ (Th. v. Aquin; zit. nach Sternnagel 1966: 107 [Übersetzung G.J.]) An anderer Stelle werden von Thomas von Aquin in eindeutig abwertender Weise, bei der Darstellung der Beziehung zwischen Herr und Leibeigenen, den „artes liberales“ die „mechanicae, sive serviles [dienenden, G.J.]“ Künste gegenübergestellt (Aquin I Met. 3ad; vgl. Sternagel 1966: 110). 28 Ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts verbreitet sich mit den „Maschinenbüchern“ eine neue Gattung der technischen Literatur, in der sowohl realisierte wie auch imaginäre Maschinen dargestellt werden, und die auch als „Theatrum machinarum“ bzw. als „Maschinentheater“ bezeichnet werden (vgl. Hilz 2008: 11). 29 Der Begriff des ‚Mechanischen‘ wird dabei zunehmend nicht mehr auf die humane Tätigkeit, sondern auf die Funktionsweise der mechanischen Artefakte bezogen. Da Produktion und Anwendung jedoch mit der humanen Arbeit untrennbar verbunden sind, betrifft die Aufwertung der mechanischen Künste sowohl die handwerkliche Arbeit wie auch die verobjektivierte Technik. 30 Inwiefern zwischen Mittelalter und Neuzeit eine signifikante Epochenschwelle überschritten wird, die mit einem grundlegenden Wandel des Weltbildes einhergeht, oder eher von einem allmählichen Wandel auszugehen ist und eher Kontinuitäten festzustellen sind, ist umstritten. Dies gilt auch hinsichtlich des Wandels des Arbeitsverständnisses. Für einige Autoren ist die Aufwertung der Arbeit bereits im christlich geprägten Spätmittelalter weitgehend abgeschlossen und damit sei die Bedeutung der frühneuzeitlichen Geistesbewegungen zumindest zu relativieren (vgl. u.a Oexle 2000: 77ff.; LeGoff 1984). Dahingegen wird in anderen Darstellungen der durch Renaissancehumanismus und durch die Reformation vollzogene Bruch stärker betont. Auch hier wird von einem grundlegenden Wandel des Weltbildes in der frühen Neuzeit ausgegangen, der auch die Herausbildung des neuzeitlichen Arbeitsverständnisses wesentlich beeinflusst hat. Dieser Wandel wird im Folgenden näher ausgeführt.
Zur historischen Entwicklung des Verständnisses von Arbeit 2.4
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Der Wandel des Arbeitsverständnisses im Kontext der neuzeitlichen Raumrevolutionen
In der frühen Neuzeit erfolgt mit der Entgrenzung der ozeanischen Sphäre und der Entdeckung Amerikas 1492 durch Christoph Kolumbus eine paradigmatische „Raumrevolution“ (Schmitt 1942: 44), infolge derer sich ein völlig neues, planetarisches Weltbild herausbildet. Die weiteren – insbesondere astronomischen – wissenschaftlichen Entdeckungen führen zu einer „Allraumrevolution“ (Miliopoulos 2007: 165). Mit der Öffnung des globalen und kosmischen Raums einher geht bei den Renaissancehumanisten ein erweitertes Bewusstsein für die Potentiale der humanen Subjektivität. Jakob Burckhardt brachte diesen Wandel mit der Formel der „Entdeckung der Welt und des Menschen“ (Burckhardt 1922: 207-208) auf den Punkt. Man kann auch – wie hier vorgeschlagen wird – allgemeiner von einer dreifachen „Sphärenrevolution“ sprechen, mit der sich eine multiple Entgrenzung der räumlichen Dimensionen und damit zugleich die Entfesselung des humanen Subjekts und seiner Arbeit(skraft) vollziehen: Die Entgrenzung des humanen Lebensraums durch die Eröffnung der Ozeanospähre, die Entbergung der metallenen Schätze der Sphären der Erdtiefe, sowie die Verweltlichung der im Mittelalter in die himmlischen Sphären projizierten Heilserwartungen, die nun näher dargestellt werden.
Die Erschließung der Hydrosphäre und die Erweckung der atlantischen Phantasie Nach der Vorstellung der mittelalterlichen Kosmologen liegt die Erde im Zentrum des kugelförmigen Universums und von dieser Erdkugel erhebt sich nur ein kleiner, trockener Teil aus der sie umschließenden Wassersphäre (vgl. Vogel 1995). Dies ist der klar limitierte Lebensraum des Menschen, die „Ökumene“ (gr.: die bewohnte Erde; vgl. Dudenredaktion 2001: 571). Seit der Antike war insbesondere die Straße von Gibraltar Symbol für diese Begrenztheit der menschlichen Welt. An diesem Übergang zwischen Mittelmeer und dem bedrohlichen atlantischen Ozean errichtete in der Vorstellung der alten Griechen der mythische Held Herakles die nach ihm benannten Säulen des Herakles und „setzte der Erde die Grenze“ (Pindar 1923: 144). Noch Dante Alighieri (1265-1321) lässt in seiner „Göttlichen Komödie“ den von Abendteuerlust getriebenen Odysseus über diese Schwelle, „wo Herkules seine Zielsäulen bezeichnet hatte, dass der Mensch sich nicht weiter hinaus [più oltre non, G.J.] begebe“ (Dante 1997: Inf. 26 Vers 108), hindurch fahren – und als Strafe für die hybride Neugier an der Küste des „neuen Landes“ (1997: Inf. 26 Vers 108) untergehen. Mit den Entdeckungsreisen der Portugiesen, insbesondere aber durch die Fahrt des Kolumbus über den Atlantik, wird diese mythische Begrenzung durchbrochen. Kaiser Karl V. kehrt schließlich die alte, resignative Symbolik der Säulen des Herakles als Mahnmahl eines „più oltre non“ (Dante 2003: 448) (‚Nicht mehr weiter‘ oder ‚Non plus ultra‘, wie es später hieß) in ihr Gegenteil um und erwählt „Plus oultre“ (‚Noch weiter‘ bzw. ‚Plus ultra‘) zur hoffnungsvollen Leitdevise seines (angestrebten) globalen Imperiums und gewinnt damit „aus einem Symbol der Begrenzung ein Symbol der Öffnung und der Entgrenzung“ (Walter 1999: 128). Dieses Motto wird zugleich in der frühen Neuzeit zur allgemeinen Metapher für Fortschritt und für die Legitimität der humanen Selbstbehauptung: „Das Selbstbewusstsein der Neuzeit fand im Bild der Säulen des Herkules und ihrer Weisung >Nec plus ultra
Beruf => Profession, wobei diese jeweils eine bestimmte Etappe bilden. Auf dem Weg von Arbeit über Beruf zur Profession werde die Wissensbasis systematischer, begleitet von einer sozialen Orientierung, die zu-
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Alma Demszky von der Hagen, G. Günter Voß
nehmend in Richtung der Gesamtgesellschaft zeigt und vom Eigeninteresse mehr und mehr absieht. Wohlbemerkt ist für Heinz Hartmann die Entwicklung nicht eingleisig, denn Gegentendenzen, nämlich Berufsauflösung und Deprofessionalisierung, werden ebenfalls (schon) thematisiert. Subjektorientierte Berufssoziologie Das von Karl Martin Bolte, Ulrich Beck und Michael Brater entwickelte „subjektorientierte“ Konzept von Beruf 5 greift Hans A. Hesses These der gesellschaftlichen Konstruktion der Berufe (Hesse 1972) auf und definiert Beruf, im erklärten Gegensatz zum StrukturFunktionalismus, nicht rein gesellschafts-strukturell, sondern als Erscheinung auf Ebene der Individuen. Berufe werden als an Personen gebundene Fähigkeiten (und nicht als ausgeübte Tätigkeiten) gesehen: als verschiedenartige und standardisiert vermittelte überpersonale „Muster der Zusammensetzung und Abgrenzung spezialisierter Arbeitsfähigkeiten“ (Brater/Beck 1983: 209). Die historischen Entstehungsbedingungen dieser gesellschaftlichen „Schablonen“ für Fähigkeitskombinationen geraten dabei verstärkt ins Blickfeld, darunter vor allem Machtprozesse (z.B. zwischen Berufsgruppen) und nationalspezifische staatliche Steuerungseingriffe (z.B. Bildungssysteme, Berufszulassungen usw.). Auch wenn die subjektorientierte Berufssoziologie ihren Gegenstand mit Blick auf Individuen thematisiert, wird durchgehend hervorgehoben, dass Berufe gesellschaftliche Formen sind, die die soziale Statuszuweisung und Identitätsbildung von Personen bestimmen und eine Reproduktion sozialer Ungleichheit bewirken. Berufe bestimmten die Ausstattung von Personen mit Kompetenzen, legten aber auch fest, was Individuen nicht können und dürfen. Berufe steuerten zudem, wie Institutionen auf Individuen zugreifen und Privilegien oder Nachteile zuweisen. Nicht zuletzt die persönlichkeitsstrukturierende Wirkung der Berufe führt zu einer dezidierten Berufskritik: Berufe erleichterten zwar den Austausch zwischen Struktur und Subjekt, bedeuteten aber auch Restriktionen für beide Seiten. Gesellschaftlich führen sie etwa zu Hemmnissen bei einer Flexibilisierung des Arbeitsmarkts (u.a. Beck/Brater 1978b, c; Beck/Bolte/Brater 1976). Auf subjektiver Seite gilt die Kritik der mit dem Wertewandel-6 und dem Individualisierungsschub der 1970er Jahre zunehmend als Beengung empfundenen Kanalisierungswirkung von Berufen für die Entfaltung von Personen. 2.3
Berufs- und Berufsgruppenanalysen
Das Thema Beruf ist in vielen sozialwissenschaftlichen Disziplinen auch außerhalb der engeren Berufssoziologie ein Thema. Meist sind dies empirisch-pragmatische Beiträge, in denen konkrete Berufsfragen oder Probleme von Berufsgruppen näher betrachtet werden.
5
Vgl. v.a. Beck/Brater 1977, 1978a; Beck/Brater/Tramsen 1976; Beck/Brater/Daheim 1980; auch Bolte 1988; eine knappe Darstellung des Konzepts bieten Michael Brater/Ulrich Beck 1982 und Karl Martin Bolte/Michael Brater/ Ulrich Beck 1988. Siehe zu den frühen Arbeiten von Karl Martin Bolte zur Berufsstruktur moderner Gesellschaften z.B. Karl Martin Bolte u.a. 1970 und allg. zur „Subjektorientierten Soziologie“ in dieser Zeit Karl Martin Bolte/Erhard Treutner 1983. 6 Vgl. dazu aus Sicht der subjektorientierten Soziologie Karl Martin Bolte/G. Günter Voß 1988 und 1990.
Beruf und Profession
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Die Welt der Berufe: Berufsfeldübersichten, Berufsanalysen Nur angedeutet werden kann ein vielgestaltiges Feld von Übersichten zum Gesamtsystem der Berufe oder von Studien zu spezifischen Berufsgruppen. Berufskundliche Übersichten Ein Spezialbereich sind alle Arten von berufskundlichen Übersichtsdarstellungen, wie sie heute vor allem für die schulische Berufsorientierung, die Berufsberatung und die Berufsaus- und Weiterbildung verwendet werden.7 Derartige Darstellungen haben eine lange Geschichte und können bis in das Zeitalter der Zünfte zurück verfolgt werden. Berühmt ist in Deutschland das Werk „Etwas für Alle – Eine kurtze Beschreibung allerley Stands-, Ambts- und Gewerbs-Persohnen“ von Abraham A Santa Clara (1699, kurz auch: 1960). Interessante Darstellungen beruflicher Tätigkeiten enthält auch die legendäre „Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers“ von Jean Baptist D’Alembert und Denis Diderot (1986). Ein anderes Anliegen verfolgt demgegenüber eine Übersicht „untergegangener“ Berufe, in der man den „Abtrittanbieter“ genauso findet wie den „Laternenträger“ oder den „Zokelmacher“ (ein Hersteller sockenähnlicher Fußbedeckungen) (Palla 1994).8 Berufsklassifikationen Ein besonderes Feld bilden berufliche Ordnungssysteme – oft als Grundlage für statistische Verfahren und Datenbestände. Regelrecht ‚amtlich‘ ist die Berufsklassifikation der Bundesagentur (früher Bundesanstalt für Arbeit) und der Statistischen Ämter. Die derzeit noch geltende Klassifikation (aus dem Jahr 1970, überarbeitet 1988 und 1992) ordnet die Berufswelt strikt hierarchisch nach Berufsbereichen (von „Pflanzenbauer, Tierzüchter, Fischereiberufe“ bis hin zu „Allgemeine Dienstleistungsberufe“ und „Sonstige Arbeitskräfte“) sowie anschließend abgestuft nach Berufsabschnitten, Berufsgruppen, Berufsordnungen und Berufsklassen. Darunter sind mehrheitlich allseits bekannte Berufe, aber etwa auch „Pflanzenschützer“, „Waldwegewarte“, „Rohgummiaufbereiter“ oder „Kerammassemacher“. Die Übersicht weist auf der untersten Ebene ca. 29500 Berufsbezeichnungen auf.9, 10 Ein spezifisches Feld sind die nach den Vorgaben des Berufsbildungsgesetzes fest definierten und staatlich regulierten „Anerkannten Ausbildungsberufe“, mit derzeit 350 Berufen, von „Änderungsschneider/in“ bis „Zweiradmechaniker/in“ (vgl. BiBB 2007).11
7 Aktuell ist dies oft schon internetbasiert, z.B. in www.berufenet.de) und wird sogar für Kinder (z.B. Hillmann/Hoffmann 2004) und Soziologen (z.B. Breger/Böhmer 2007) angeboten. 8 Siehe auch die Fotodokumentation über „Die verschwundene Arbeit“ von Sarah Jost und Gabriele Wachter 2008; spannend ist auch die historische Übersicht ,verfemter‘ (also unehrenhaften) Berufe (Danckert 1963). Eine beeindruckende Sammlung mittelalterlicher Abbildungen von damaligen Berufen (v.a. von „Handwerken“), der verwendeten Werkzeuge, der Produkte usw. findet sich auf www.nuernberger-hausbuecher.de). 9 Vgl. Frieling 1982, auch http://infobub.arbeitsagentur.de/berufe/index.jsp; siehe auch Biersack u.a. 2001 10 International wird meist die „International Standard Classification of Occupations“ verwendet, mit 10 Berufshauptgruppen, 28 Berufsgruppen, 116 Berufsuntergruppen und 390 Berufsgattungen (http://de.wikipedia.org/wiki/ ISCO_88). Interessant auch das „Alphabetische Verzeichnis der Berufs- und Standesbezeichnungen vom ausgehenden Mittelalter bis zur neueren Zeit“ (Haemmerle 1998). 11 Sie auch die Auflistung mit Beschreibungen unter http://www2.bibb.de/tools/aab/aabberufeliste.php.
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Berufsfeldstudien Empirische Darstellungen einzelner Berufsgruppen oder -felder gibt es in großer Zahl und Vielfalt. Oft sind dies Einzelleistungen von Forschern, Sachbuchautoren oder engagierten Berufspraktikern, zum Teil auch von Berufs- und Wirtschaftsverbänden, Ministerien und Behörden oder der Bundesagentur für Arbeit. So punktuell und gelegentlich eher konzeptionslos manche Studien auch angelegt sind, so liefern sie oft doch interessante Einsichten nicht nur in die organisatorisch-technischen Arbeitsbedingungen, sondern auch in Fragen der Ausbildung, der Berufswahl, des Berufsverlaufs, des Verhältnisses zu konkurrierenden Berufen, der Bedeutung des Berufs für die Personen usw.12 Die neuere Literaturlage dazu ist kaum zu überblicken. Schwerpunkte finden sich jedoch bei Gesundheitsberufen, Ingenieuren, Wirtschaftseliten, Angestellten aller Art und bei Lehrern.13 Daneben gibt es kaum ein Berufsfeld, das nicht berührt wird: Es geht um Politologen, Politiker, Priester, Piloten, Putzkräfte, Polizisten und Prostituierte, genauso wie um Anwälte und Animierdamen, oder um Müllmänner, Fernfahrer und Kapitäne.14
Berufliche Funktionsgruppen im Betrieb In der engeren Arbeitssoziologie ist Beruf und Beruflichkeit ein zwar regelmäßig auftauchender Aspekt, eine systematisch Berufsfragen nachgehende Forschung findet man aber nur mit Mühe. Einer der Gründe für die Zurückhaltung gegenüber dem Berufsthema ist die lange Zeit vorherrschende Perspektive auf die ,berufslosen‘ Arbeiter und eine distanzierte Haltung gegenüber privilegierten Berufsgruppen. Wenn Berufsfragen ein Thema sind, dann in Verbindungen mit sich ändernden betrieblichen Qualifikationsanforderungen oder bei 12 Allgemeinsoziologisch berühmt geworden sind etliche frühe Studien aus dem weiteren Umfeld der ChicagoSchule etwa über Mediziner (Hughes 1958) und Tanzmusiker (Becker 1981) bis hin zum „Professional Thief“ (Sutherland 1937). Einen kleinen Einblick in die frühe Soziologie zur „Welt der Berufe“ findet sich in Thomas Luckmanns und Werner Sprondels Band zur Berufssoziologie (1972a) mit beispielhaften Studien zu Krankenschwestern, Polizisten, Drogisten, Photografen und Museumskonservatoren. 13 Siehe zu diesen Berufsfeldern beispielhaft: Gesundheitsberufe insgesamt: Bollinger/Gerlach/Pfadenhauer 2005; Ärzte: Bollinger u.a. 1981; Bollinger/Hohl 1981a,b; Freidson/Rhode/Faulhaber 1975; Freidson 1979; Zettel 1983 (siehe auch Abschnitt 2.4 zu Professionen); Pflegekräfte: Ostner/Beck-Gernsheim 1979; Ostner/Kruttwa-Schott 1981; aktuell Rieder 1999; Schroeter 2005; Apotheker: Schubert 1995; Braun/Baier/Wiehn 2002; Ingenieure (siehe auch weiter unten in diesem Abschnitt): Schimank 1961; Scholl 1978; Hutton/Lawrence 1981; Lundgreen/ Grelon 1994; Kogon 1976; Neef 1982; Bodenhöfer 1986; Fragnière/Sellin 1974; Landsberg 1981; speziell Ingenieurinnen: Janshen/Rudolph 1987; speziell Bauingenieure: Ekardt/Löffler/Hengstenberg 1992; Manager: Hartmann 1959; Hartmann/Bock-Rosenthal/Helmer 1973; Pross 1965, 1966; Pross/Boetticher 1971; Redlich 1959, 1964; Scheuch/Scheuch 1995; Unternehmer: Sombart 1909; Schumpeter 1928, 1929, 2005; Hartmann 1968 a, b; Weber 1973; siehe auch die hist. Übersicht bei Jaeger 1992; Angestellte: schon früh Lederer 1912; Dreyfuss 1933; Kracauer 1971; nach dem Krieg u.a. Mills 1955; Croner 1954, 1962; Müller 1957; Lockwood 1958; Linke 1962; Braun/Fuhrmann 1970, Kudera/Ruff/Wentzke 1979; mit historischer Perspektive Kocka 1972, 1975, 1981; Mangold 1981; Schulz 2000; speziell Bankangestellte: Janberg 1958; Lehrer: Schach 1987; Kurtz 1997. Siehe auch. Abschnitt 3.2. 14 Siehe zu diesen Berufen beispielhaft: Politologen: Hartung/Nuthmann/Winterhager 1970; Politiker: Hohm 1987; Priester: aktuell Lenz 2008; Piloten: Bachmann 2002; Schwahn 2001; speziell Pilotinnen: Eccard 2004; Flugbegleiter: Bentner 1992; Weckesser 2007; Putzkräfte: Gather u.a. 2006; Mayer-Ahuja 2003; Rerrich 2006; Polizisten: Behr 2008; Endruweit 1979; Girtler 1980; Reichertz 1991; Reichertz/Schröer 1992; Prostituierte: Girtler 1984, 2004; Anwälte: Wernet 1997; Bardamen: Spradley/Mann 1975; Architekten: Wolfenschläger 1993; Müllwerker: Billerbeck 1998; Fernfahrer: Florian 1994; Kapitäne: Welke 1997.
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der Frage nach der Rolle beruflicher Gruppen im betrieblichen Funktionszusammenhang. Dabei geht es meist um folgende Gruppen: Angestellte Eine soziologische Angestelltenforschung hat eine lange Tradition, die stark – auch in einer sozialstrukturanalytischen Perspektive – auf die gesellschaftliche Sonderstellung dieser erst mit der fortgeschrittenen Industrialisierung entstehenden Gruppe wurzelt.15 Thema ist immer wieder der spezielle Status der Angestellten in der betrieblichen (und gesellschaftlichen) Mittellage zwischen ausführenden Gruppen und leitendem Management bzw. Unternehmern.16 Ein spezieller Aspekt ist das daraus resultierende spezifische gesellschaftliche Bewusstsein der Angestellten, dass sich, wie oft gezeigt, markant etwa vom dichotomen Gesellschaftsbild der Arbeiter abhebt.17 Ingenieure Ähnliche Fragen wie bei den Angestellten werden auch bei der sog. „Technischen Intelligenz“ in Betrieb und Gesellschaft untersucht. Im Vordergrund stehen dabei direkt produktionsfunktionale Tätigkeiten (gegenüber der administrativen, ökonomischen und/oder herrschaftlichen Funktion der Angestellten i.e.S) und die innovative Funktion der Ingenieure als Entwickler, die diese nicht selten in Konflikt zum Management wie zu den administrativen Angestellten geraten lassen.18 Meister Eine ebenfalls in ihrer betrieblichen Lage widersprüchliche Funktionsgruppe sind die Meister (i.d.R. die Industriemeister, also keine Handwerksmeister). Zum einen aufgrund ihrer spezifischen Stellung im unteren Führungsbereich, wie zugleich ihrer engen sozialstrukturellen (meist auch biografischen) Verbundenheit mit der Arbeiterschaft. Zum anderen aufgrund ihrer Leitungsfunktionen (ähnlich den Angestellten), die aber eng mit technischen Aufgaben (ähnlich den Ingenieuren) verbunden ist: Beides üben sie aber auf ausführungspraktischer Ebene aus, so dass sie sowohl zu den einen wie zu den anderen in Konkurrenz stehen und ähnlich den Arbeitern oft direkt Rationalisierungserfahrungen machen, weswegen immer wieder eine „Krise“ der Meister konstatiert wird.19 15 Siehe als Überblicke u.a. Mangold 1981; Seltz 1983; Fehrmann/Metzner 1977; Beckenbach 1991 sowie den informativen Ausstellungsband von Lauterbach 1995. Siehe auch Fußnote 13. 16 Siehe u.a. Bahrdt 1972; Berger/Offe 1981; Braun 1964; Braverman 1977: Kap. 15; Croner 1954, 1962; Crozier 1971; Hartfiel 1961 und Hartfiel u.a. 1964; Hörning/Bücker-Gärtner 1982; Neuloh 1966; Oppenheimer 1985; Janberg 1958; Jaeggi/Wiedemann 1963; Kadritzke 1975; Seidel 1972; Schumm-Garling 1991. Für die aktuellere Literatur siehe Abschnitt 3.2. 17 Vgl. u.a. Lockwood 1958; Braun/Fuhrmann 1970; Kudera/Ruff/Wentzke 1979. Für die aktuellere Literatur siehe Abschnitt 3.2. 18 Vgl. u.a. Lange 1972; Hortleder 1970, 1973; Neef 1982; Autorenkollektiv 1973; Beckenbach/Braczyk/Herkommer 1973, Beckenbach u.a. 1975; Engelhardt/Hoffmann 1974; Fricke/Fricke 1976; Kossbiel/Bammé/Martens 1987; Laatz 1979; Lutz/Kammerer 1975; Kammerer/Lutz/Nuber 1973; Hermanns/Tkocz/Winkler 1984; Müller 1993; Thiel 1977; Senghaas-Knobloch/Volmerg 1990. Siehe auch FN 11. 19 Vgl. schon früh Lepsius 1954; später u.a. Durand/Touraine 1979, Freimuth 1988, Wiedemann 1974. Für die aktuellere Literatur siehe Abschnitt 3.2.
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Facharbeiter Die bis in die 1980er Jahre besondere Beachtung von gering qualifizierten Gruppen (Arbeiter) führt, wie gezeigt, zu einer Marginalisierung von Berufsfragen. Das Thema taucht aber indirekt auch bei der Arbeiterforschung auf, nämlich immer dann, wenn es um beruflich qualifizierte Arbeiter (Facharbeiter) geht. Diese haben gegenüber den auf Jedermannsqualifikationen verwiesenen ‚einfachen‘ Arbeitskräften eine Bindung an ihre Fachlichkeit im Sinne von Beruf und sie sind nicht selten betrieblich hoch geschätzte Fachkräfte. Auch wenn es der berufsbasierte ‚deutsche Facharbeiter‘ ist, auf dem nach allseitigem Bekunden der Erfolg der deutschen Industrie beruht, findet diese Funktionsgruppe doch nur gelegentlich explizit Aufmerksamkeit hinsichtlich seiner spezifischen Beruflichkeit.20 Oft war der Typus des Facharbeiters Kontrastfolie für die bevorzugt betriebene Auseinandersetzung mit hoch entfremdeter tayloristischer Industriearbeit und damit den klassischen Arbeitern. 2.4
Profession als Sonderform von Beruf
Die Untersuchung von Berufsgruppen mit herausgehobener gesellschaftlicher Bedeutung hat eine lange Tradition. Thema sind dabei vor allem die Gründe ihrer besonderen Stellung und der damit verbundenen Privilegien. Als Professionen gelten Berufe, die sich durch besondere Erwerbs-, Qualifikations- und Kontrollchancen auszeichnen und deshalb oft ein ausgeprägtes Sozialprestige genießen. Markante und oft untersuchte Beispiele sind die sog. „alten“ Professionen der Ärzte, Juristen und Theologen.21 Meist werden jedoch auch andere Berufsgruppen in das Feld einbezogen, etwa die sog. „Freien Berufe“ (vgl. Kairat 1969; Sahner u.a. 1989; Siegrist 1988), Akademische Berufe, hochqualifizierte Experten aller Art und gelegentlich (v.a. in den USA) generell Berufe mit qualifizierter Ausbildung. Sowohl über die Merkmale von Professionen, als auch über die Erklärungen für ihre Privilegien bestehen bis heute hoch kontroverse Meinungen. Häufig hervorgehoben werden jedoch lange (akademische) Ausbildungszeiten und eine sogenannte ‚Gemeinwohlorientierung‘. Die Professionenforschung hat (nach Vorläufern in England, v.a. Carr-Saunders/Wilson 1935, 1964) nicht zufällig in den USA eine besondere Bedeutung. Dort stellte sich mit dem expandierenden Hochkapitalismus die Frage, wie es zu Berufen kommt, die nicht nur auf Gewinn, sondern auch (zumindest dem Anschein nach) auf das Gemeinwohl und auf fachlich hochwertige Arbeit ausgerichtet sind und deshalb Ansehen und Autonomie genießen. Dies führte zu umfangreichen empirischen und theoretischen Bemühungen, wobei sich, ähnlich wie in der Berufstheorie, zwei konzeptionelle Richtungen unterscheiden lassen: Einerseits der Struktur-Funktionalismus, dem auf der anderen Seite schon früh machtkritische Modelle gegenübergestellt wurden. Als wichtigste Einsicht der Professionenforschung kann, jenseits aller Kontroversen, die Bedeutung beruflicher Machtmechanismen für die Akkumulation von Berufschancen gelten. Der Professionen-Begriff erweist sich dabei immer dann als besonders überzeugend, wenn die historische Herausbildung (Profes-
20
Vgl. jedoch explizit in diesem Sinne Hoffmann 1980; siehe zum Thema allgemein in dieser Zeit u.a. Lutz 1969; Asendorf-Krings 1979; Mickler 1981; Drexel 1993; Hoff/Lempert/Lappe 1991; Lutz/Voß 1992; Wilensky 1972; Weltz/Schmidt/Sass 1974. 21 Vgl. auch Mok 1969.
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sionalisierung) bzw. der gelegentliche Verlust von Merkmalen (Deprofessionalisierung) einflussreicher Berufe herausgearbeitet wird.
Professionentheorie Professionentheorien beschäftigen sich mit den Besonderheiten herausgehobener Berufe und deren Erklärung respektive deren historischer Entstehung. Themen und Theorien der Berufs- und Professionensoziologie liegen eng beieinander; es gibt aber nur partielle Überschneidungen. Folgende Positionen einer engeren Professionentheorie werden meist unterschieden: Merkmalskonzepte Mit der Absicht einer Abgrenzung zu normativen und/oder struktur-funktionalistischen Ansätzen in der Professionsforschung entstand eine empirische Forschungsrichtung, die Professionen allein anhand empirischer Merkmale zu begreifen versucht. In diesem Sinn hat etwa Hesse (1972; ähnlich auch Cullen 1983; Hanlon 1998; Abbott 1988 u.v.a.m.) folgende häufig genannte Charakteristika herausgearbeitet: überwiegend theoretisch ausgerichtete Tätigkeit mit einer lang dauernden, wissenschaftlich fundierten Spezialausbildung; ethische Verhaltenscodices; Altruismus; Organisation im Berufsverband; hohes Ansehen, Prestige und Selbstbewusstsein; monopolisierte Arbeitsbereiche mit kontrollierten Berufszugängen. Interaktionistische Konzepte Eine interaktionistische Annäherung an Professionen orientierte sich an der Chicago School und geht auf Everett C. Hughes zurück (Hughes 1958, 1963). Wichtigstes Charakteristikum von Professionen ist bei ihm die Arbeit an Personen (Kranke, Arme, Kinder oder Rat Suchende) statt an Gegenständen (vgl. auch Bucher/Strauss 1972). In diesem Sinn geht dieser Ansatz nicht von ‚der‘ Profession aus, sondern interessiert sich für die empirische Vielfalt von Professionen. Andrew Abbott entwickelt Everett C. Hughes Konzepte weiter (vgl. Abbott 1988) und erweitert das Blickfeld auf das Umfeld der Tätigkeiten (Öffentlichkeit, rechtliche Regulierungen). Er interessiert sich dafür, wie Professionen ihre privilegierte Position erlangen und beibehalten können. Deutschsprachige Konzepte nehmen den zu bearbeitenden ‚Fall‘ als Ausgangsposition der Analyse, womit nicht der einzelne Klient oder sein Problem gemeint ist (vgl. Schütze 1992, 1994, 1996; Gildemeister 1996). Was jeweils „der Fall“ sei, kristallisiere sich erst nach und nach in der Interaktion zwischen Experten und Klienten heraus, wobei zwei Welten aufeinander prallen: Expertenwelt und Laienwelt. Fritz Schütze erklärt die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Sinnwelten sogar zum basalen Definitionsmerkmal von Professionen und betont, dass Experten einem von der alltäglichen Laienwelt abgegrenztem Handlungsbereich zuzuordnen sind (vgl. Schütze 1992: 135). Professionelles Handeln sei gleichzeitig hoch fehleranfällig (u.a. durch die berufsimmanenten Paradoxien, wie Nähe vs. Distanz, oder wissenschaftliche Lösungsmethoden vs. konkrete Lebenswelten) weswegen es im besonderen Maße auf Supervision angewiesen sei.
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Struktur-Funktionalistischer Ansatz Talcott Parsons schreibt Professionen im Prozess der Modernisierung und damit der Differenzierung von Gesellschaft eine hervorgehobene Rolle zu (Parsons 1958, 1964, 1968). Professionen sind für ihn in diesem Prozess die entscheidenden Träger und Vermittler rationaler Werte und neuen technologischen Wissens. Das Berufshandeln von Professionen sei in der Folge durch affektive Neutralität, Universalismus (z.B. Gleichheit vor dem Recht), Kollektivorientierung (Gemeinwohl statt Eigenwohl), Leistungsorientierung und eine spezifische Definition der Situation geleitet, in der nur bestimmte Eigenschaften des Gegenübers relevant sind, z.B. als Kranker (vgl. Brante 1988). Die Entstehung von Professionen sieht Talcott Parsons als funktionale Notwendigkeit der Modernisierung und rekurriert dabei auf eine säkularisierte Variante des Berufungs-Konzepts. Die deutsche strukturfunktionalistische Professionsforschung ist durch eine starke Betonung der Wertorientierung professionellen Handelns gekennzeichnet. Nach Hansjürgen Daheim konzentriert(e) sich in der Bundesrepublik ein Großteil der „zentralwertbezogenen“ Professionen im öffentlichen Dienst, was wesentlich zu dessen Modernisierung und Rationalisierung beitrug (Daheim 1967: 234). Michael Hartmann sieht in der Professionalisierung eine „verstärkte Ausrichtung auf die Gesellschaft“ bei modernen Berufen (Hartmann 1972: 41), die jedoch nicht nur zur Ausbildung einer sozialen Dienstgesinnung führt, sondern verstärkt auch zu „taktischorganisatorischer Einflussnahme auf die Öffentlichkeit“ (Hartmann 1972: 41), womit machttheoretische Überlegungen angedeutet werden.22 Macht-Konzepte Der „Power Approach“ betont, dass Professionen ihre privilegierte Stellung nicht ihren besonderen Fähigkeiten oder Funktionen verdanken, sondern einer erfolgreichen Durchsetzung von Eigeninteressen.23 Der Prozess der Professionalisierung wird dabei als Konglomerat verschiedenster Strategien gesehen, die von einer Berufsgruppe angewendet werden, um die Konditionen des Verkaufs und der Anwendung der eigenen Arbeitskraft und des beruflichen Wissens selbst bestimmen zu können. Die eigenen beruflichen Leistungen, ja sogar die gesamte Lebensführung werden mit Attributen wie Wissenschaftlichkeit, Uneigennützigkeit, Objektivität und Autonomie versehen. „Unverzichtbarkeitsstrategien“ erwecken Bedürfnisse von Klienten, die im Sinne der „Unersetzbarkeitsstrategien“ nur durch Professionelle befriedigt werden können. Strategien der Konkurrenzreduzierung vertreiben unerwünschte Anwärter und verstärken die Abgrenzung zu verwandten Berufen. Der Power Approach geht nicht von einem ahistorischen Bedarf der Gesellschaft aus, sondern von historischen Strategien sozialer Schließung im Weberschen Sinne.24
22
Siehe als aktuelle Überblicke u.a. Evetts 2003; Pfadenhauer 2003a, 2005. Vgl. Larson 1977; Johnson 1972; Rüschemeyer 1980; Macdonald 1995; Freidson/Rhode/Faulhaber 1975; Freidson 1979, 1984, 1986, aktuell 2001; siehe auch Beck/Brater 1977, 1978a; Daheim 1992; Larkin 1983. 24 Häufiges Gegenstandsfeld ist der Gesundheitsbereich, vgl. dazu aus subjektorientierter Sicht u.a. Zettel 1983; Bollinger u.a. 1981; Bollinger/Hohl 1981a, b; siehe ähnlich auch Huerkamp 1980; Huerkamp/Spree 1982. 23
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Funktionalistische Systemtheorie Ausgangspunkt für eine funktional-strukturelle Verortung von Professionen ist die funktionale Differenzierung von Gesellschaft. Im Gegensatz zum Strukturfunktionalismus, der die Einheit eines Systems der Professionen betont (u.a. Parsons 1964), bilden sich nach Niklas Luhmann Professionen v.a. in denjenigen Teilsystemen aus, deren Funktion die Bearbeitung der „personalen Umwelt“ sozialer Systeme ist (vgl. Luhmann 1981, 1984, 1996). Erst durch Professionen wird Kommunikation in nicht-technisierbaren Teilsystemen möglich, etwa im Gesundheits-, Erziehungs-, Religions- und Rechtssystem. Funktion der Professionen ist dabei eine Veränderung der Menschen in Richtung der erwünschten Hauptunterscheidung des Teilsystems (gesund statt krank, gerecht statt ungerecht). Da der Erfolg dieser Operation nicht nur von den Fähigkeiten des Professionellen abhängt, sondern auch von dem der Klienten wie auch von externen Faktoren, ist das Risiko des Misslingens bei professioneller Arbeit hoch – und diese Risikobelastung räumt Professionen ihr Sozialprestige ein. 2.5
Beruf als Thema in Grenzgebieten zur sozialwissenschaftlichen Berufsforschung
Das Thema Beruf findet sich in vielen weiteren sozialwissenschaftlichen Forschungsbereichen, wobei zwei Felder eine besondere Bedeutung haben.
Beruf als Gegenstand der Sozialstrukturanalyse Die Erfassung der Berufe der Mitglieder einer Gesellschaft (Berufszählung) war schon frühes Anliegen der sich im 19. Jahrhundert etablierenden Sozialstatistik.25 Basis sind verschiedenste Indikatoren aus Volkszählungen und Mikrozensus. Die große Zahl verschiedener Berufsbezeichnungen wird zu einer aufwendigen „Klassifikation der Berufe“ geordnet (s. Abschnitt 2.3). Die Zuordnung von Erwerbstätigen zu „Wirtschaftsbereichen“ und damit indirekt über Berufsmerkmale26 führte u.a. zur These einer sich ausbildenden „Dienstleistungsgesellschaft“.27 Parallel zeigt sich ein kontinuierlicher Rückgang des Anteils der beruflichen Funktionsgruppen („Stellung im Beruf“) der „Arbeiter“ zugunsten der „Angestellten“, die mit den „Beamten“ nun die Mehrheit der Erwerbstätigen bilden. Auch die Sozialstrukturanalyse beschäftigt sich mit berufsbezogenen Momenten, wobei das Interesse an vertikalen Aspekten überwiegt.28 Die Stellung im Erwerbssystem ist dabei traditionell ein zentrales Analysemoment, da mit jedem Beruf systematische Ungleichheiten verbunden sind.29 Auch schichtspezifische Auf- oder Abstiege resultieren oft 25
Vgl. z.B. Biersack/Parmentier/Schreyer 2001; siehe als Überblick auch Voß/Dombrowski 2001. Basierend auf der „Drei-Sektoren-Hypothese“ (zuerst Fisher 1939; Clark 1940; später v.a. Fourastié 1954). Siehe u.a. Häußermann/Siebel 1995 und den Beitrag von Heike Jacobsen „Strukturwandel der Arbeit im Tertiarisierungsprozess“ in diesem Band. 28 Vgl. exemplarisch die Überblickswerke von Hradil 1987, 2004, 2005; Geißler 2006; Berger/Kornietzka 2001; Kreckel 2004. Siehe mit eher arbeits- bzw. berufssoziologischem Blick v.a. auch Fürstenberg, z.B. 2000. 29 Vgl. z.B. die klassischen Arbeiten von Sorokin 1959 und dann Lipset/Bendix 1959; Bolte 1969; Klages 1959; Slocum 1966; Strauss 1971; Wilensky 1960; auch Schelsky 1972; siehe auch die Überblicke bei Herz/Wieken26 27
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aus einer beruflichen Mobilität, für die lange Zeit der Begriff „Karriere“ verwendet wurde,30 der zunehmend aber durch die neutraleren Begriffe „Berufsverlauf“31 und „Berufsbiografie“32 ersetzt wird.33
Beruf als Thema personenbezogener Forschung: Berufswahl und berufliche Identität Die z.B. für die Berufsberatung wichtige Berufswahlforschung beschäftigt sich mit der Möglichkeit einer zwar freien ‚Wahl‘ des Berufes aber deren gleichzeitiger Determination durch vielfältige strukturelle Faktoren.34 Ansätze zur Erklärung von Berufswahlentscheidungen heben verschiedenste Konstellationen hervor. Unterschieden werden können (nach Bußhoff 1989) Ansätze, die auf eine starke gesellschaftliche „Zuweisung“ von Berufen (vgl. z.B. Daheim 1967), auf individuell-biografische „Lern- und Entwicklungsprozesse“, auf Kombinationen sozialer „Einflüsse“ und eigener „Präferenzen“ (vgl. z.B. Ginzberg u.a. 1966; Super/Crites 1965; Seifert 1977), auf komplexe „Matchingprozesse“ individueller Passung von Dispositionen und Arbeitsmarkterfordernissen (z.B. Holland 1966) oder auf die „Unvollständigkeit von Informationen“ bei Berufssuchenden (vgl. z.B. Ries 1970; Jaide 1961, 1977) verweisen. Im Grenzgebiet zwischen Sozialpsychologie und Soziologie sind die Bedingungen, Formen und Folgen der beruflichen Sozialisation und vor diesem Hintergrund der beruflichen Hintergründe von Identität ein traditionsreiches Thema.35 Dabei geht es nicht nur darum, wie die betriebliche Arbeit Personen prägt, sondern auch um die sozialisatorische Bedeutung des von einer Person erlernten und längerfristig ausgeübten Typus von Tätigkeit, also des Berufs. Traditionell unterschieden wird die Bildung arbeitsrelevanter Persönlichkeitsmerkmale in Elternhaus und Schule (Sozialisation ,für den Beruf‘) von der Formung der Person in Berufsausbildung und Berufsausübung (Sozialisation ,im Beruf‘).
Mayser 1979; Herz 1983; Recker 1974; aktuell z.B. Mayer/Wiehn 1975; Groß 2008; siehe auch die kurzen Überblicke bei Hradil 2005: Kap. 6 und Geißler 2006; siehe speziell zu Familie und beruflicher Mobilität Schneider/Limmer/Ruckdechsel 2002 a,b. 30 Vergleiche etwa die Verwendung des Begriffs in den berühmten Studien des Vereins für Socialpolitik (s. u.a. M. Weber 1988a, A. Weber 1912) oder auch noch bei Klages 1959. 31 Vgl. z.B. Mayer 1990; Blossfeld 1990; Mayer/Wiehn 1975; Pfau-Effinger 1990. 32 Vgl. z.B. Brose 1983, 1986, 1990; Baumeister u.a. 1991; Bolder/Witzel 2003; Giegel/Frank/Billerbeck 1988; Hoff/Lempert/Lappe 1991; Kohli 1994; Lappe 1993; auch Heinz 1995; aus berufspädagogischer Sicht kurz auch mit einer neueren Übersicht Tippelt 2006 (siehe auch Abschnitt 3.2). 33 Eine spezielle Variante ist die Berufsverbleibforschung, die danach fragt, welche erwerbs- und qualifikationsbezogene Entwicklung Vertreter von Berufen vor dem Hintergrund ihrer beruflichen Erstausbildung und des Berufseinstiegs nehmen (vgl. z.B. Kaiser/Nuthmann/Stegmann 1985). 34 Vgl. als Überblicke Bußhoff 1989, 1995; Seifert 1977; Heuwinkel 1979; Siehe auch Küng 1971; Lange/Büschges 1975; Lange 1978; Muller 1961; Klages 1959; Steffens 1975; Jaeger 1982; Beck/Brater/Wegener 1979; aktuell Ernst 1997; Beinke 1999, 2006; Dimbath 2003; Herzog/Neuenschwander/Wannack 2006; Schneider/Traut 1992. 35 Klassisch v.a. Kohn 1981; siehe aus dem deutschen Raum z.B. Lüscher 1985; Hoff/Lempert/Lappe 1991; Hurrelmann 1986; Keupp u.a. 2002; Keupp/Höfer 1997; Lempert 1998; Windolf 1981. Vgl. als neuere Überblicke bzw. Einführungen Bammé/Holling/Lempert 1983; Heinz 1995; Wahler 1996.
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Neue Entwicklungen und Konzepte: Beruf im Übergang zum Postfordismus
Seit den 1980er Jahren vollzieht sich nun im Zuge einer dritten Industrialisierung und einer post-fordistischen Restrukturierung von Wirtschaft und Gesellschaft ein fundamentaler Strukturwandel der Organisation von Betrieben und erwerbsbezogener Arbeit.36 Ein gemeinsames Moment ist, dass die bislang weithin leitende tayloristische Logik betrieblicher Organisation und Rationalisierung an strukturelle Grenzen stößt. In immer mehr Bereichen wird versucht, bisherige Strukturen und Organisationsprinzipien von Arbeit zeitlich, räumlich, fachlich und sozial aufzubrechen („Flexibilisierung“, „Entgrenzung“).37 Die Arbeitsund Betriebsverhältnisse geraten dabei auf vielen Ebenen (Arbeitsprozess, Betriebsorganisation, Interessenvertretung, Ausbildung, soziale Sicherung usw.) zunehmend in Konflikt mit dem über Jahrzehnte hinweg leitenden Modell von Beruf. Dabei geht es nicht um das historisch bekannte Phänomen, dass Berufe veralten (Hofbauer/Kraft 1974) oder sogar aussterben (Palla 1994), sondern um ein möglicherweise grundlegendes Funktionalitätsproblem der bisherigen Form von Beruflichkeit als solcher.38 Diese gelegentlich als „Krise“ des Berufs gesehene Entwicklung hat mehrere Aspekte: Die steigende ,Halbwertszeit des Wissens‘ führt zu einem immer schnelleren Veralten fachlicher Kenntnisse und Fähigkeiten, zur wachsenden Bedeutung fachunspezifischer Fähigkeiten, zur Umkehrung der Tendenz immer weiter fortschreitender Spezialisierung mit nun einer Entwicklung wieder breiter angelegter fachlicher Strukturen und schließlich zu einer verringerten biografischen Dauerhaftigkeit von Berufen. Zudem zeigt sich eine verringerte Bedeutung traditionaler Beruflichkeit für die sozio-ökonomische Sicherung von Menschen, die eine starre biografische Bindung an einen Lebensberuf zum existenziellen Risiko macht. Und nicht zuletzt verringert sich sozialstrukturell die Bedeutung von Berufen i.e.S. für Lebensstile, Freizeitformen, Konsumpraktiken oder Werthaltungen und Identitäten. 3.1
Frühe Anzeichen eines Wandels der Berufsform
Schon in den 1970er Jahren gab es Vorläufer der dann später verstärkt einsetzenden Diskussion um den Wandel der Arbeitswelt und dessen Folgen für die Beruflichkeit. (1) So formulierte die subjektorientierte Berufssoziologie (siehe Abschnitt 2.1) eine dezidierte „Kritik des Berufs“ (z.B. Beck/Brater 1978 b, c; Brater/Beck 1983). Gemeint war, dass die starren beruflichen „Schablonen“ angesichts des Strukturwandels von Gesellschaft für jene zunehmend problematische Restriktionen bedeuten. In Einklang mit dem diagnostizierten „Wertewandel“39 entstehen steigende berufliche Flexibilitätsbedürfnisse 36
Siehe hierzu die Beiträge von Dieter Sauer „Vermarktlichung und Vernetzung der Unternehmens- und Betriebsorganisation“, von Manfred Moldaschl „Organisierung und Organisation von Arbeit“ und von Frank Kleemann und G. Günter Voß „Arbeit und Subjekt“ in diesem Band. 37 Vgl. speziell zur Diskussion um die Entgrenzung von Arbeit Döhl u.a. 2001; Voß 1998; Kratzer 2003; Kratzer/ Sauer 2005; Sauer 2005. 38 Vgl. zur allgemeinen Debatte um den Wandel von Beruflichkeit und eine mögliche Krise des Berufs u.a. Kern/ Sabel 1994; Kutscha 1992; Dostal/Stooß/Troll 1998; Geißler 1994, 1998; Geißler/Orthey 1998; Kaiser/Görlitz 1992; Stooß 1985; auch Voß 2001a, 2002; allgemein auch Franke/Buttler 1991; Fürstenberg 2000; Willke 1999. 39 Vgl. u.a. die zentralen Texte etwa von Inglehart 1977, 1989; Kmieciak 1976; Klages/Kmieciak 1979; siehe als Überblick Bolte/Voß 1988.
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sowie Bedürfnisse nach „Selbstentfaltung“ und „Selbstverwirklichung“, für die enge Berufsdefinitionen eine handfeste Behinderung seien – Thesen, die in Forderungen zu einer Bildungs- und Berufsreform (Beck/Bolte/Brater 1976) und in die Individualisierungsthese40 mündeten. (2) Zeitgleich konstatierten Betriebspraktiker wie auch Arbeitsmarkt- und Bildungsforscher zunehmend Anzeichen betrieblicher Probleme bei der Besetzung von Arbeitsplätzen mit geeignetem Personal. Es waren v.a. Forscher des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesanstalt für Arbeit (IAB), die diese Probleme auf eine mangelnde Anpassungsfähigkeit von Berufs- und Bildungssystem zurückführten und nach Lösungen suchten (Flexibilitätsforschung).41 Deutlich wurde dabei insbesondere die Funktion basaler Berufskompetenzen, für die der Begriff der „Schlüsselqualifikation“ eingeführt wurde, der dann breite Beachtung fand.42 (3) Von ganz anderer Seite her geriet in dieser Zeit auch das Feld der privilegierten Berufe unter Druck. Erstmals tauchte dabei breiter die Vorstellung auf, dass Professionen nicht nur Macht, Autonomie, Staus, Einkommensprivilegien akkumulieren, sondern auch wieder verlieren können. Als Gründe für eine derartige „De-Professionalisierung“ wurden meist Veränderungen im betrieblichen Einsatz von Professionellen oder scheiternde Berufspolitiken bzw. erfolgreiche Strategien konkurrierender Berufsgruppen gesehen.43 – Eine ganz andere potentielle Beschränkung professioneller Privilegien entstand aus der zeitgleich beginnenden Diskussion zur Macht von Experten. Diese „Kritik der Expertenherrschaft“ (z.B. Illich 1981; Illich u.a. 1979) hat ihre Basis nicht in Veränderungen des Beschäftigungssystems, sondern im gestärkten Selbstbewusstsein der Klienten und einem steigenden Bedürfnis, bestimmte Tätigkeiten und Kompetenzen wieder selbst in die Hand zu nehmen (z.B. Gartner/Riessman 1978; Gross 1985). (4) Ein langfristig höchst bedeutsames Feld früher Kritiken am etablierten System der Berufe und von bezahlter Arbeit entstand durch die erstarkende Frauenbewegung. Die feministische Kritik an patriachalen Strukturen und an der daraus entstehenden vieldimensionalen gesellschaftlichen Benachteiligung von Frauen war von Anfang an immer auch eine Berufs-Kritik (explizit Beck-Gernsheim/Ostner 1978). Dies meint zum einen die notorische geschlechtsspezifische Segmentierung des Berufssystems und des Arbeitsmarktes und die hochgradig ungleiche Verteilung von Berufs- bzw. Erwerbschancen (vgl. Beck-Gernsheim 1976). Dies meint aber auch die tiefgehende gesellschaftliche Rollenverteilung der Geschlechter, bei der etwa die Berufstätigkeit eines Großteils der Männer darauf beruht, dass im Hintergrund eine Frau zuarbeitet und damit die Berufstätigkeit erst möglich gemacht wird („Eineinhalb-Personen Beruf“, Beck-Gernsheim 1980).44
40
Vgl. schon früh Beck 1983 und dann v.a. Beck 1986; später auch Beck/Beck-Gernsheim 1994. Vgl. u.a. Mertens/Kaiser 1981; Kaiser/Nuthmann/Stegmann 1985. 42 Vgl. insbes. Mertens 1974 nicht in Lit.liste. Siehe zum großen Themenfeld der überfachlichen oder extrafunktionalen Qualifikationen schon früh u.a. Dahrendorf 1956 und Kern/Schumann 1977; später dann zuerst v.a. Mertens 1974 und anschließend u.a. Beck 1993; Blaschke 1986, 1987; Clement/Edding 1979; Kaiser 1992; SpreterMüller 1988; aktuell u.a. Bader/Keiser/Unger 2007; Bolder/Dobischat 2009; Kraus 2006. 43 Siehe schon früh Haug 1977, 1973; Toren 1975; später auch Bollinger/Hohl 1981a; Hartmann/Hartmann 1982; Hartmann 1992; Novak/Zipp 1981; Rothmann 1984; siehe auch Hesse 1998. 44 Siehe hierzu auch Beck-Gernsheim 1980; Ostner 1978; Jurczyk 1978 und die Beiträge von Karin Gottschall „Arbeit, Beschäftigung und Arbeitsmarkt aus der Genderperspektive“ und von Brigitte Aulenbacher „Rationalisierung und der Wandel von Erwerbsarbeit aus der Genderperspektive“ in diesem Band. 41
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Wandel des Berufs – nur indirekt Thema der Arbeitssoziologie Spätestens ab Ende der 1980er – Anfang der 1990er Jahre wird der sich, wie gezeigt, schon vorher in Einzelaspekten andeutende Strukturwandel von Beruf dann zu einem manifesten Thema. Einen besonderen Schwerpunkt hat diese Diskussion in der Berufsbildungsforschung.45 Zum Teil sind es aber auch Arbeiten der gesellschaftsdiagnostischen Soziologie (v.a. Beck 1986) und von Sachbuchautoren (z.B. Naisbitt/Aburdene 1986; Saiger 1998; auch Willke 1999). Und nicht zuletzt sind es politisch-öffentliche Stellungnahmen (z.B. Kommission 1996/97; Kuratorium 1996), in denen nun das „Lebenslange Lernen“, das „Ende des Lebensberufs“ und die „berufliche Flexibilität“ und „Mobilität“ der Berufstätigen debattiert werden.46 Die Arbeitssoziologie nimmt sich diesen Themen dagegen nur zögerlich an; drei Felder in denen dies gleichwohl, mehr oder weniger explizit, Thema ist sind jedoch hervorzuheben:
Berufliche Funktionsgruppen im Betrieb geraten neu in den Blick Ein erstes Feld, in dem Veränderungen des Themas Beruf arbeitssoziologisch diskutiert werden ist die Beschäftigung mit berufsbasierten betrieblichen Funktionsgruppen. Manager Ein Vortrag von Rainer Trinczek auf dem Soziologentag 1992 in Düsseldorf (Trinczek 1993) kann als Startschuss für eine verstärkte arbeits- und industriesoziologische Beschäftigung mit der Gruppe der Manger angesehen werden. Struktureller Hintergrund ist zum einen der zunehmend unbefangenere Blick auf die Vertreter des Kapitals im Betrieb, vor allem mit der Einsicht, dass sich Betriebe und ihr Wandel nicht mehr ausreichend verstehen lassen, wenn man, neben den Arbeitern und klassischen Angestellten, nicht auch das Handeln und die Interessen von Führungskräften systematisch beachtet. Ein Faktor, der diese differenziertere Sicht mit auslöst, ist die Debatte um die sog. betriebliche „Arbeitspolitik“ und vor allem um die Komplexität von betrieblichen Mikropolitiken und Machtkonstellationen.47 Eine wichtige Rolle spielt auch die These der „Neuen Produktionskonzepte“ (Kern/Schumann 1984), mit der die wichtige Rolle sog. „Neuer Managementkonzepte“ und einer neuen Managergeneration unwiderruflich deutlich wird. Ein zweites strukturelles Moment, das die Aufmerksamkeit auf das Management lenkt, ist der nachhaltige Wandel der Funktionen und v.a. auch des Status der Führungskräfte im Betrieb. Das Management differenziert sich stark aus und gerät nicht selten in die Mühlen der von ihm selbst betriebenen Rationalisierung sowie der dadurch ausgelösten Flexibilisierung und Deregulierung, so dass Berufs- bzw. Arbeitsmarktprobleme und unerwartete neue Anforderungen (etwa zum innerbetrieblichen „Unternehmer“ werden zu müssen) nun auch für diese Gruppe immer drängender werden. 45
Vgl. z.B. Achtenhagen/Lempert 2000; Arnold 1997, 2002; Baethge/Solga/Wieck 2007; Geißler 1991, 1994; Kutcha 1992; Rauner 2001; Wittwer 1996. Siehe hierzu den Beitrag von Michael Brater „Berufliche Bildung“ in diesem Band. 47 Vgl. zur Arbeitspolitik Jürgens/Naschold 1984; Naschold 1985; zur Mikropolitik z.B. Burawoy 1979; Crozier/Friedberg 1993; Küpper/Ortmann 1992; als Überblick Neuberger 1995. 46
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In Folge solcher Veränderungen wird das Management (seine betriebliche Funktion, das strategische Verhalten, veränderte Anforderungen usw.) zu einem immer wichtigeren Thema, und die Managementsoziologie wird zu einer anerkannten Teildisziplin im Kern des Fachs, die sich zunehmend dann auch mit viel beachteten empirischen Studien zu Wort meldet.48 Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass diese allgemeine Beschäftigung mit dem Management nur bedingt die Berufsgruppe und ihre Vertreter im Auge hat, sondern eher das Funktionsfeld Management.49 Es ist daher hilfreich die Beschäftigung mit dem Management von einer Soziologie der Manager (ihre Berufssituation, ihr Verhalten, ihre Interessen und Orientierungen, ihre Lebenssituation usw.) zu unterscheiden.50 Nicht uninteressant ist schließlich, dass nun verstärkt (wenn nicht gar erstmals) auch hier das Genderthema auftaucht und dezidiert nach weiblichen Führungskräften gefragt wird, auch wenn Arbeiten dazu eher außerhalb der engeren Arbeits- und Industriesoziologie zu finden sind.51 Angestellte, Ingenieure, Meister Ähnlich wie bei der Gruppe der Manager findet auch die arbeits- und industriesoziologische Beschäftigung mit einigen der oben schon angesprochenen beruflichen Funktionsgruppen im Betrieb durch den Strukturwandel von Arbeit, Beschäftigung und Betriebsorganisation ein neues Interesse. Der Hintergrund ist hier ähnlich: die posttayloristische/postfordistische Entgrenzung von Arbeit, Betrieb, Beschäftigung und schließlich auch von sozialer Sicherung bringt (oft in Verbindung mit neuen IuK-Technologien) diese Gruppen in grundlegend neue Situationen. Für die Angestellten werden mehr denn je der Verlust ihrer ehemals eher privilegierten kapitalnahen Situation und die Gefahr einer massiven Rationalisierung (wenn nicht einer Taylorisierung) ihrer Arbeit beschrieben; und mit der Ausweitung von Dienstleistungsfunktionen zeigt sich, dass Angestelltenfunktionen keineswegs durchgehend privilegiert sind, ja sogar einen großen (und zunehmenden) Teil der prekären Arbeits- und Beschäftigungsformen bilden.52 Dass damit teilweise die alte Diskussion um die generelle gesellschaftliche (Sonder-) Situation der Angestellten neu auflebt liegt nahe.53 Dies gilt gerade auch für die technischen Angestellten, also die Ingenieure, die nicht nur im engeren Sinne Rationalisierungsagenten sind (und dies immer öfter direkt auf sie zurückfällt), sondern in bisher unbekannterweise nun in ihrer Arbeit informa48
Vgl. allgemein u.a. Ganter/Schienstock 1993; Schienstock 1991; Reed 1989; Boltanksi 1990; Zündorf 1987; aktuell mit einer stark wirtschaftssoziologischen Ausrichtung auch Buß 2008. Gerade dabei zeigen sich Interessenüberschneidungen mit einer empirischen Managementforschung der BWL (z.B. die „Aktivitätsforschung“, vgl. z.B. Mintzberg 1973, 2005; als Überblick Schirmer 1992), in Deutschland v.a. bei Staehle 1991 und seiner Schule (s. u.a. die Buchreihe „Managementforschung“, z.B. Staehle/Conrad 1997; Staehle/Sydow 1993; Schreyögg/Conrad 1994, 1996; Schreyögg/Sydow 1995, 1997, 2001; Bischoff 1999). Nicht unwichtig ist zudem die (z. T. eher sachbuchmäßige) allgemeine Literatur zu Managern, z.B. Bischoff 1999; Scheuch/Scheuch 1995; Huang 1994; Streich 1994; Detmers 1992; Hartmann 2007; auch Ogger 1992, 2001. 50 Vgl. eher in diesem Sinne z.B. Baethge/Denkinger/Kadritzke 1995; Behr u.a. 1991; Eberwein/Tholen 1990; Buß 2007; Faust u.a. 1995; Faust/Jauch/Notz 2000; Ellguth/Liebold/Trinczek 1998; Hartmann 1995, 1996, 2002; Heine/Mautz/Rosenbaum 1995; Kotthoff 1997; Kotthoff/Wagner 2008; Liebold 2001; Schülein/Brunner/Reiger 1994; Steinmetz 1998. 51 Vgl. u.a. Cordes 2001; Deibl 1993; Macha 2000; Meyer 1997; Goos/Hansen 1999; Sordon 1995; Greed 1990; Fischer, U. 1993; Nerge 1993; Zauner 1990; Tanton 1994; Autenrieth/Chemnitzer/Domsch 1993; White 1994; speziell zu Unternehmerinnen: Godfrey 1993. 52 Vgl. z.B. Baethge/Oberbeck 1985, 1986; Dörre u.a. 1994; Hanewinkel/Viefhues 1993; Holtgrewe 1997; Karrer 2000; Trautwein-Kalms 1995; siehe auch Heisig/Littek 1992, 1995; Litttek/Heisig/Gondek 1991, 1992. 53 Vgl. den Ausstellungsband von Lauterbach 1995; auch Peissl 1994; Schulz 2000; Siemons 1997. 49
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tionstechnisch überwacht und arbeitsorganisatorisch unter Druck gesetzt werden können.54 Ja sogar die zwar nie besonders intensiv beforschten, aber doch kontinuierlich beachteten Industriemeister erleben eine neue Konjunktur in der Arbeits- und Industriesoziologie. Joachim Fischer spricht von einer erneuten „Meisterkrise“ infolge des Strukturwandels (Fischer 1993b) und Michael Faust, Peter Jauch und Christoph Deutschmann sehen sie als potenzielles „Opfer der ‚schlanken‘ Produktion“ (Faust/Jauch/Deutschmann 1994).55 Facharbeiter Mit dem Wandel der Arbeits- und Produktionstechnik, wie vor allem aber auch mit den allgemeinen posttayloristischen Veränderungen betrieblicher Strategien („Neue Produktionskonzepte“, Kern/Schumann 1984) geraten nicht zuletzt auch die Facharbeiter neu in den Blick. Eine breite Forschung fragt nach der betrieblichen Bedeutung, der qualifikatorischen Ausstattung sowie den Einsatzbedingungen von neuartigen hochqualifizierten „Hybridfacharbeitern“ oder „Systemregulierern“ – oft vor dem Hintergrund der Umstellung konventionell maschinengestützter qualifizierter Produktionsarbeit (v. a in der Automobilindustrie und im Maschinenbau) auf CNC-Technologien und flexible Fertigungssysteme bis hin zu voll computerisierten Produktionsanlagen (CIM).56 Burkart Lutz trägt die These bei, dass aufgrund des sozialstrukturellen Abschmelzens traditionaler Gesellschaftsbereiche (z.B. im ländlichen Raum) zugleich die sozialisatorische Basis für den deutschen Facharbeiter und seine Berufstugenden verschwindet und dies langfristig zu einem Fachkräftemangel führen könne.57
Berufsbiografische Unsicherheit Ein zweites Feld in dem der Wandel der Berufsverhältnisse im engeren Sinne arbeitssoziologisch aufscheint ist das Thema Berufs- bzw. Erwerbs-Biografie. Wie oben (vgl. Abschnitt 2.4) schon angedeutet, hatte sich ab etwa Mitte der 1970er Jahre die Sozialstrukturanalyse um das Thema Lebensverlauf erweitert, bei dem es immer auch um die objektiven Entwicklungen („Berufsverläufe“) und subjektiven Sichten („Berufsbiografien“) der Berufstätigkeiten in diachroner Perspektive ging. Hintergrund war auch damals schon eine sich in dieser Zeit etablierende allgemeine Biografieforschung in der Soziologie,58 die auch in der Arbeitssoziologie einen nachhaltigen Niederschlag fand.59 Ab etwa Mitte der 1980er Jahre häufen sich in diesem Bereich Diagnosen, die tiefgreifende Veränderungen registrieren. Dabei geht es nicht nur um die punktuellen Auswirkungen der angespannten Arbeitsmarktsituation für die Berufswege einzelner Gruppen, son54 Vgl. z.B. Hengstenberg 1994; Wolf/Mickler/Manske 1992; speziell für die IT-Industrie z.B. Baukrowitz/Boes 2002; Boes/Trinks 2005; für die Kulturindustrie u.a. Marrs 2007. 55 Vgl. zur aktuellen Meisterforschung u.a. Dombrowski 2002; Faust/Jauch/Deutschmann 1994, 1998; Faust u.a. 1995; Faust/Jauch/Notz 2000; Fischer 1993a, b; Jaeger 1995; Jauch 1997; Springer 1984; Tullius 2004. 56 Vgl. u.a. Baethge/Baethge-Kinsky/Kupka 2000; Böhle/Milkau 1988; Hildebrandt/Seltz 1989; Hirsch-Kreinsen u.a. 1990; Hirsch-Kreinsen/Schultz-Wild 1986; Lutz/Moldaschl 1989; Schumann u.a. 1994. 57 Vgl. Lutz 1984, 1986; Lutz/Voß 1992. 58 Vgl. z.B. Alheit/Fischer-Rosenthal/Hoerning 1990; Alheit/Hoerning 1989; Berger/Sopp 1995; Kohli 1978; aktuell Kohli 2003; Mayer 1990. 59 Vgl. z.B. Osterland 1973, 1978; Brock/Vetter 1982; Deppe 1982; Brose 1983. Siehe hierzu auch den Beitrag von Frank Kleemann und G. Günter Voß „Arbeit und Subjekt“ in diesem Band.
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dern es wird zunehmend registriert, dass sich das mit der fordistischen Gesellschaft etablierte ,Regime‘ der stark berufsbasierten „Normalbiografie“ (Kohli 1988) aufzulösen beginnt. Die Rede ist immer häufiger von beruflichen „Bruchbiografien“, „krisenhaften beruflichen Statusübergängen“, zunehmenden „Bastelbiografien“ oder kurz: von „Berufsbiografien im Umbruch“ (Brose 1990) und „biografischer Unsicherheit“ (Wohlrab-Sahr 1993). Das zum Teil als positiver bildungspolitischer Wandel beim Übergang in die „Weiterbildungsgesellschaft“ (aktuell Arnold/Gieseke 2002; Schiersmann 2007) gesehene „Ende des Lebensberufs“ erweist sich dabei arbeitssoziologisch primär als nachhaltiges berufliches Risiko für immer mehr und immer größere Erwerbstätigengruppen.60
Grenzen der Funktionalität konventioneller Beruflichkeit im Betrieb Am deutlichsten erscheint der Strukturwandel von Beruf und Beruflichkeit in einer Diskussion zu den bildungspolitischen Folgen der postayloristisch/postfordistischen Veränderungen von Betrieben. Es ist insbesondere die an Horst Kern und Charles Sabel (1994) anknüpfende Diagnose von Martin Baethge und Volker Baethge-Kinsky (1998), dass sich immer häufiger ein betrieblicher Strategiewandel weg von einer „funktions- und berufsorientierten Organisation“ und hin zu einer dynamisch „prozessorientierten“ Strategie beobachten lässt. Folge seien eine verringerte Bedeutung von über spezialisierte Berufe definierten Einsatzfeldern, ein zunehmend flexiblerer Umgang mit beruflichen Profilen, diffusere und situativere Anforderungen und eine verstärkte Bedeutung berufsübergreifender Qualifikationen oder allgemeiner „Kompetenzen“.61 Die bisher eng berufsdefinierte Ausbildung gerate damit an Grenzen. Martin Baethge sieht die Neuordnung einiger Berufsfelder in Richtung „Schlüsselqualifikationen“ als Indiz dieser Entwicklung und fragt, ob dies nicht eine schleichende „Entberuflichung“ (Baethge 1996: 118) von Ausbildung und Betriebsorganisation bedeutet.62 Diese betriebsbezogene Diagnose zum Funktionsverlust traditioneller Beruflichkeit findet eine Parallele in der These des „Arbeitskraftunternehmers“ (v.a. Voß/Pongratz 1998; Pongratz/Voß 2003a), die einen historischen Wandel der Grundform von Arbeitskraft infolge veränderter Betriebsstrategien erwartet. Der bisher dominierende „Verberuflichte Arbeitnehmer“ werde zunehmend durch einen „Verbetrieblichten Arbeitskraftunternehmer“ ersetzt, dessen zentrale Merkmale die Fähigkeit zur „Selbst-Kontrolle“ im Arbeitsprozess, zur „Selbst-Ökonomisierung“ (Entwicklung und Vermarktung) der eigenen ‚Ware Arbeitskraft‘ sowie zur darauf bezogenen „Selbst-Rationalisierung“ des alltäglichen und biografischen Lebenszusammenhangs seien (siehe auch Abschnitt 4).
60
Vgl. u.a. Behringer u.a. 2004; Brose 1986, 1990; Brose/Schulze-Böing/Wohlrab-Sahr 1987; Brose/WohlrabSahr/Corsten 1993; Mutz u.a. 1995; Buchholz 2008; Baumeister u.a. 1991; Pfau-Effinger 1990; Bolder/Witzel 2003; Kohli 1994; speziell für Frauen Lauterbach 1994; Geissler/Oechsle 1996; Wohlrab-Sahr 1993; für Bildungsverläufe Blossfeld/Bos/Lenzen 2008. 61 Vgl. allgemein zur Diskussion um den Kompetenzbegriff Haeske 2008; auch Sevsay-Tegethoff 2007. 62 Vgl. insgesamt dazu aus der weiteren Arbeitssoziologie Baethge 1996, 2001, Baethge/Baethge-Kinsky 1998, Baethge/Baethge-Kinsky/Kupka 2000, Baethge/Solga/Wieck 2007, Dostal/Stooß/Troll 1998, Drexel 1995, Heidenreich 1998, Kern/Sabel 1994, auch Voß 2001a, 2002.
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Wandel des Berufs – Stagnierende Berufssoziologie, neue Professionentheorie Noch in den 1970er Jahren wurden Professionen als Motor der Modernisierung dargestellt: „Man kann die Geschichte der modernen Gesellschaft unter anderem auch schreiben als Geschichte der Ablösung von Laienlösungen durch Formen rationalisierter Expertenlösungen von Problemen.“ (Luckmann/Sprondel 1972b: 15) Nicht selten schwingt ein idealisierender Unterton mit, der suggeriert, dass soziale Probleme durch rationale Expertenlösungen ‚besser‘ gelöst werden können. Eine auf wissenschaftlicher Expertise beruhende Politik erscheint etwa als objektiv ‚bessere‘ Politik und professionelle ‚Evidence Based Medicine‘ als zuverlässigere Medizin (z.B. Vogd 2008). Der Strukturwandel von Arbeit und Gesellschaft hat aber auch die reale Lage wie dann nicht zuletzt die Theorie der Professionen nicht unberührt gelassen. Auch wenn der Glaube an die Problemlösungskapazitäten von Professionen nicht gänzlich gebrochen ist, wird die frühere Experteneuphorie von vielseitiger Kritik abgelöst. Statt der rationalen Objektivität wird immer mehr die Fehleranfälligkeit professioneller Leistung betont, vor unkontrollierter Expertenherrschaft gewarnt oder in professioneller Performanz lediglich eine „Kompetenzdarstellungskompetenz“ (Pfadenhauer 2003a) gesehen. Der „Akzeptanzverlust des Expertentums“ (Meuser 2005) wird von manchen sogar als „Aufstand des Publikums“ (Gerhards 2001) gedeutet. Hinzu kommt, dass das Wissen des Professionellen, dem dieser die Autorität und Autonomie zu verdanken hat, immer leichter zugänglich wird (etwa durch das WWW oder Selbsthilfegruppen) und büßt daher den Legitimationsstatus für Privilegien ein, was zu einer „Proletarisierung“ mancher Experten führen könne (Freidson 2001). Doch auch die sich mit solchen Themen beschäftigende und darüber neu formierende Professionenforschung ist sich über die Folgen der Veränderungen nicht einig. Während die Berufssoziologie vor diesem Hintergrund eher stagniert, erweist sich die engere Professionensoziologie als ausgesprochen lebendig. Hier lassen sich vier verschiedene Positionen unterscheiden.63
Funktionalistische Systemtheorie In Fortsetzung der Theorietradition von Niklas Luhmann konzipiert Rudolf Stichweh die Arbeit des Professionellen als Ausübung einer Leistungsrolle mit einer entsprechenden Komplementärrolle: Professionen bearbeiten Probleme ihrer Klienten (Leistungsrolle), die diese selbst zu lösen nicht in der Lage sind (Komplementärrolle als Kranker oder Klient) (Stichweh 1994, 1996, 2000, 2005, 2008). In der Medizin und im Rechtssystem bilden sich dabei Leitprofessionen aus, die als Spitze der Berufshierarchie privilegierte Positionen innehaben. Im Wirtschaftssystem konnte sich nach Rudolf Stichweh dagegen keine Leitprofession für das ganze Feld durchsetzen – für Rudolf Stichweh ein Beleg dafür, dass und wie Professionen in modernen Bereichen generell immer mehr an Bedeutung verlieren. Für ihn spielen Professionen in erster Linie beim historischen Übergang einer stratifizierten Gesellschaft in eine funktional differenzierte Gesellschaft eine wichtige Rolle und haben damit ihren Zenit bereits überschritten. Thomas Kurtz konzipiert Professionen als Berufsgruppen, die alltägliche Probleme von Personen innerhalb der Funktionssysteme des Gesundheits-, Recht-, Religions- und Erziehungssystems „stellvertretend deuten, verwalten 63
Vgl. u.a. Collins 1990; Mieg/Pfadenhauer 2003; Kurtz 2001a. Siehe zum Wandel der Professionenforschung u.a. auch Daheim 1992; Crompton 1990; siehe auch Klatezki/Tacke 2005.
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und bearbeiten“ (Kurtz 2003: 101; sowie 2000, 2001 c, d, 2005). Thomas Kurtz schließt sich der Diagnose des aktuellen Schwindens der ehemals herausgehobenen Bedeutung von Professionen i.e.S. an und betont dazu die Unterscheidung von Professionen im Sinne von Leitprofessionen eines Funktionssystems und professionellem Handeln, dass sich in vielen Feldern findet. Während Erstere der Vergangenheit angehörten würden Letztere immer bedeutender (ähnlich: Evetts 2003; Torstendahl 2005).
Theorie professionalisierten Handelns Ulrich Oevermann analysiert vor dem Hintergrund der von ihm propagierten objektiven Hermeneutik nicht die Profession an sich, sondern explizit das professionelle Handeln, das für ihn strukturell Praxis und Theorie verbindet, da lebenspraktische Probleme von Klienten auf wissenschaftlicher Basis einer Lösung zugeführt werden (Oevermann 1996). Die aktive Gestaltung einer spezifischen Interaktion (Arzt-Patient, Anwalt-Mandant) hebe Professionen von anderen Berufsgruppen ab. In dieser stellvertretenden Krisenbewältigung wird für Ulrich Oevermann die „psycho-somatisch-soziale Integrität“ von Personen (wieder)hergestellt und es wird nach Möglichkeiten für Gerechtigkeit und Anerkennung gesucht. Ziel der professionellen (oft therapeutischen) Praxis sei dabei im Kern die Stärkung der Autonomiepotenziale von Personen.
Interaktionismus und Wissenssoziologie Fritz Schütze unternimmt den Versuch, den Blick auf Professionen von einem idealisierenden Schleier zu befreien und eine spezifische Fehleranfälligkeit professionellen Handelns empirisch zu erforschen (Schütze 1992, 1994, 1996). Diese führt Fritz Schütze auf grundlegende Paradoxien der Professionen zurück: auf die Notwendigkeit, Prognosen geben zu müssen; auf den Gegensatz zwischen dem allgemeinen Wissen und der Unkenntnis des konkreten Falles; sowie auf die Schwierigkeit, den richtigen Zeitpunkt für Interventionen zu finden. Diese Handlungsprobleme professionellen Handelns seien allgemeinen Interaktionsparadoxien sehr ähnlich und grundsätzlich nicht aufhebbar. Parallel zu Fritz Schütze hat sich unter Bezug auf den Interaktionismus ein neuartiger inszenierungstheoretischer Ansatz entwickelt, der sich in Vielem an Erving Goffman (1969) anlehnt. Michaela Pfadenhauer ist es vor allem, die die Darstellung der eigenen Leistung als das wichtigste Moment professioneller Tätigkeit beschreibt und eine darauf bezogene „Kompetenzdarstellungskompetenz“ hervorhebt (Pfadenhauer 2003 a, b). Während sich die Inszenierungstheorie für das Darstellungswissen interessiert, analysieren andere, stärker wissenssoziologische Ansätze das jeweilige Spezialwissen, mit dem erst Spezialisten zu „Experten“ würden.64 Dieses „Spezialwissen“ in den Händen von Experten identifizieren manche Theorien sogar als wesentlichen Faktor postmoderner Gesellschaft, in der das „Expertenwissen“ zu einer eigenständigen Logik neben Markt und Bürokratie würde (insbesondere Freidson 2001; auch Heisig 2005; Stehr 2003). Die Verbreitung ziehe jedoch zugleich eine Inflation und Unschärfe der Begriffe ‚Wissensarbeit‘, ‚Spezialist‘, 64
Vgl. Hitzler 1994; Hitzler/Honer/Maeder 1994; Meuser/Nagel 1991; siehe auch Freidson 2001; Goettle/Kmölniger 2003; Hesse 1998; Klatetzki 1993.
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‚Professionalität‘ usw. nach sich, so dass sich Professionelle nicht mehr uneingeschränkt auf die Legitimation ihrer Praxis durch die Exklusivität und Unkontrollierbarkeit ihre Fähigkeiten verlassen könnten. In dieser „Vertrauenskrise“ des Expertentums erlebten moderne Wissensgesellschaften vielfältige Transformationen ihrer Wissensstruktur.65 Der erhöhte Legitimationsdruck gegenüber Professionellen (Kraemer/Bittlingmayer 2001) führe mitunter zu sinkenden Bildungsrenditen (Handl 1996) und nachhaltigem Statusverlust (Neckel/Dröge/Somm 2004).
Feministische Professionentheorie Feministische Professionentheorien gehen davon aus, dass die historische Etablierung von Professionen (durch Kodifizierung von Wissen, Beschränkung von Zugangsberechtigungen, Herausbildung eines Berufsethos, Verfestigung von Marktchancen) nicht unabhängig von bestehenden patriarchalen Machtstrukturen und damit nicht ‚geschlechtsneutral‘ stattgefunden hat (Kuhlmann 1999; Wetterer 1995; Witz 2005). Geschlechterdifferenzen und -hierarchien seien sogar regelrecht konstitutiv für die Etablierung von Professionen. Doch auch die feministische Professionentheorie nimmt (wie die Frauenforschung allgemein) von einer Defizitorientierung immer mehr Abstand und entdeckt Differenzen: Ausgehend von den unterschiedlichen Lebenswelten von Frauen und Männern werden die Leistungen der Frauen im reproduktiven Bereich als Professionalisierung ihrer Aufgabenerfüllung beschrieben (Pasquale 1998; Rabe-Kleberg 2002). Manche Autorinnen gehen sogar so weit, aus der vermuteten Differenz zwischen der ‚Kultur‘ von Männern und Frauen zwei getrennte berufliche „Welten“ zu konzipieren (Interdisziplinäre Forschungsgruppe 1992) und davon abgeleitet diejenigen Leistungen zu betonen, die Frauen beim Eintritt in die von Männern dominierten Berufsfelder zu leisten haben (Wetterer 2000). In der Weiterentwicklung werden anstelle polarisierter Unterschiede vielfältige Differenzierungen entdeckt, die sich aus den oft widersprüchlichen Erfordernissen und Wünschen von Männern und Frauen ergeben (Knapp 1989). Die feststehenden Geschlechtsverhältnisse lassen Selbstverständlichkeiten entstehen, die die soziale Konstruiertheit eines angeblich natürlichen Passungsverhältnisses zwischen Beruf und Geschlecht (wie etwa beim meist männlichen Arzt und der weiblichen Arzthelferin) im Nachhinein verdecken (Douglas 1991).
4
Herausforderungen und Perspektiven: Auf dem Weg zum Individualberuf?
Die zunehmende Dysfunktionalität der gewohnten Beruflichkeit ist Berechtigung genug, ihre Zukunft als grundlegende Kulturform von Arbeitskraft und Arbeit skeptisch zu sehen. Die These des „Arbeitskraftunternehmers“66 fasst diese Entwicklung pointiert zusammen. Sie bedeutet jedoch nicht, dass Beruflichkeit als solche ‚am Ende‘ wäre. Erwartet wird vielmehr ein Wandel der allgemeinen Form von Beruf. Kurz: der Arbeitskraftunternehmer hat durchaus einen Beruf, aber einen Beruf ‚neuer Art‘. 65 66
Vgl. Beck/Bonß/Lau 2001; Dröge 2003; Kraemer/Bittlingmayer 2001; Stehr 1994, 2001; Willke z. B: 2001. Siehe v.a. Voß/Pongratz 1998, Pongratz/Voß 2003a.
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Die Merkmale des Arbeitskraftunternehmers beziehen sich auf drei Grundfunktionen von Arbeitskraft, in denen jeweils eine neue Qualität mit gemeinsamer Richtung entsteht. Mehr als bisher müssen Arbeitspersonen (1) die konkrete Anwendung ihrer Fähigkeiten im Arbeitsvollzug (Tätigkeitsfunktion), (2) deren Herstellung und Vermarktung (ökonomische Funktion) und schließlich auch (3) die alltägliche und biografische Einbindung ihrer Tätigkeiten und Potentiale (lebenspraktische oder existenzielle Funktion) aktiv selbst bewältigen. Der Arbeitskraftunternehmer ist, so gesehen, eine sich mit der Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit, Beschäftigung und Betrieb (und letztlich der Arbeitsgesellschaft insgesamt) verstärkt ausbildende ‚reflexive‘ Form von Arbeitskraft. Eine Arbeitskraft, die alles, was sie betrifft, verstärkt selbst übernehmen muss und damit in neuer Weise auf sich selbst zurückgeworfen ist. Wichtige Folge ist, dass sich damit auch die Qualität und die Funktion der Berufsform tiefgreifend ändern. Der bisherige Beruf als standardisierte „Fähigkeitsschablone“ (z.B. Brater/Beck 1982) wird zunehmend zum Problem (oder zum „Bremsklotz“, Baethge 1996). Was Arbeitskraftunternehmer brauchen, sind keine Einheitsmuster fachlich eng spezialisierter Qualifikationen. Sie benötigen vielmehr möglichst individuelle, entwicklungsoffene und vielfältig einsetzbare Qualifikationspotenziale, bei denen zudem fachübergreifende Kompetenzen immer bedeutsamer werden. Gleichwohl ist nicht zu erwarten, dass Arbeitspersonen zukünftig individuell völlig beliebige und ständig wechselnde Fähigkeiten mit nur noch begrenzter Fachlichkeit vermarkten werden – oder Betriebe dies akzeptieren könnten. Dies meint auch nicht die These einer Ablösung des „Verberuflichten Arbeitnehmers“. Vermutung ist vielmehr, dass der neue Typus von Arbeitskraft nur dann für Subjekte und Betriebe funktional und stabil sein wird, wenn er nach wie vor von einem Konzept von Beruflichkeit als einer soziokulturellen Formierung von Kompetenzen begleitet wird – aber von einem Beruf neuer Art: einem „Individualberuf“ (vgl. auch Voß 2001a, b, 2002, 2007). Zwei Momente könnten diesen auszeichnen:
Reflexive Gestaltung – die individuelle berufliche Formung von Arbeitskraft Auch wenn jetzt verstärkt eine individuelle Entwicklung, Vermarktung und Anwendung von Arbeitskraft notwendig wird, ist (wie gesagt) nicht vorstellbar, dass dies zu völlig freien Kombinationen, vollständiger Offenheit und ständigem Wandel von Fähigkeiten führen wird. Auch Arbeitskraftunternehmer werden erwerbsrelevante Fähigkeiten meist in institutionalisierten Bildungseinrichtungen erwerben, werden sich unter Konkurrenzbedingungen auf strukturierten Arbeitsmärkten mit erkennbaren Fähigkeitsprofilen anbieten; und sie müssen Fähigkeiten haben, die in arbeitsteiligen Betriebskontexten zuverlässig anwendbar sind usw. Eine verstärkte Individualität von Arbeitskraft kann also nicht Beliebigkeit, Formlosigkeit und Instabilität bedeuten, sondern sie wird etwas anderes sein. Was jetzt möglicherweise als neue Beruflichkeit entsteht, ist die aktive, sich dabei aber nach wie vor auf soziale Rahmenbedingungen beziehende individuelle Gestaltung von Fähigkeitskombinationen und deren betrieblicher Anwendungsmöglichkeiten. Den Kompetenzen ist je individuell eine konsistente innere und äußere ‚Gestalt‘ zu geben, also eine gezielte Kultivierung dessen, was man als Arbeitsperson ist, kann und tun und werden möchte – für sich selbst, für Betriebe und für den Arbeitsmarkt. Dies kann auf vorgegebenen Kernberufen (oder Elementen davon) beruhen – es wird dann aber mehr als bisher persönlich konturiert
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und kontinuierlich ausgebaut werden. Das, was Personen als Arbeitsfähigkeiten erwerben, anbieten und anwenden, wird also weiterhin eine Form haben. Eine Form, die (wie der bisherige Beruf) die persönliche Entwicklung konturiert, Identität und Biografie ermöglicht, auf Arbeitsmärkten als Ausweis dient, betriebliche Orientierung bietet usw. Aber es ist nicht mehr eine kollektive ‚Standardform‘, sondern eine berufliche Form der einzelnen Person. Dies wird sich vor allem auf soziale Bedingungen und Möglichkeiten beziehen müssen und wird dadurch nach wie vor soziale Ähnlichkeiten aufweisen. Aber es ist trotzdem ein Beruf neuer Art.67
Relativierte Fachlichkeit – das veränderte Funktionsgefüge von Arbeitskraft Für alle drei Funktionen von Arbeitskraft (praktische Anwendung, Herstellung/Vermarktung, existenzielle Einbindung) hat der bisherige Beruf eine Kulturform gebildet, die nun eine veränderte Qualität erhält – und alle drei werden auch schon intensiv diskutiert: (1) Auch der Beruf des Arbeitskraftunternehmers beruht auf fachlichen Fähigkeiten. Ohne hoch entwickelte Qualifikationen hat mehr denn je niemand eine Chance. Aber gerade auch die fachliche Seite wird wesentlich stärker persönlich ausgestaltet und auf Veränderung hin angelegt sein. Das ist nicht neu, aber es wird sich verschärfen: Ein Arbeitskraftunternehmer ‚hat‘ keinen Beruf mehr – und schon gar nicht mit einer starren fachlichen Ausrichtung. Sein Fachprofil ist vielmehr ein hoch individuelles Produkt. Ein Produkt, das er für sein persönliches Marketing kontinuierlich ‚macht‘, und zwar als offenes Projekt. Hinzu kommt die massiv zunehmende Bedeutung überfachlicher Fähigkeiten aller Art.68 Die engeren Fachanteile von Arbeitskraft werden dadurch auf keinen Fall entwertet, aber im Vergleich relativiert. Beides zusammen bedeutet, dass die ursprünglich erworbene Fachausrichtung zunehmend weniger festlegt, was eine Person faktisch kann, womit sie sich auf dem Markt anbietet, und was sie dann im Betrieb konkret tun wird. Der neue Beruf ist damit weniger denn je ein enger Fachberuf. Was (wie gesagt) nicht ausschließt, dass dies auf traditionellen Fachberufen als Kompetenzkern und als biografischer Ausgangspunkt beruht.69 (2) Der neue Beruf wird wesentlich ausgeprägter im engeren Sinne wirtschaftliche Funktionen erfüllen. Gemeint sind damit an dieser Stelle nicht ökonomische Funktionen für den Betrieb (die gleichfalls als Anforderung immer wichtiger werden), sondern ökonomische Funktionen für die Vermarktung der eigenen Arbeitskraft. Arbeitskraftunternehmer sind Arbeitskräfte, die mehr als bisherige Formen auf eine kontinuierliche marktförmige Verwertung ausgerichtet sein müssen. Entsprechend werden sie wesentlich gezielter und von jeglicher fachlicher Berufsromantik unbehindert eine aktiv tauschwertorientierte Produktion und Vermarktung ihrer selbst vornehmen. Auf einem festen Fachprofil und engen fachlichen Standards zu beharren, wird zunehmend Schwierigkeiten bereiten. Dass dies 67 Aktuelle Berufsratgeber reagieren auf die beruflichen Individualisierungsanforderungen, und dies ist nicht nur hohles Gerede, der Bedarf ist unübersehbar und die Ratschläge finden Gehör; vgl. Bolles 1999; Glaubitz 2003. 68 Dafür finden sich vielfältige Begriffe: von den sozialen, kommunikativen, extrafunktionalen, unternehmerischen usw. Fähigkeiten bis zur Stressresistenz und zur sog. Employability, oft unter Verweis auf den Begriff „Schlüsselqualifikation“ und neuerdings „Kompetenz“; (siehe auch Abschnitt 3.1); vgl. aktuell u.a. Arnold 2002; Bader/Keiser/Unger 2007; Bolder/Dobischat 2009; Kraus 2006, 2007; auch Pongratz/Voß 2003b; Elster 2007. 69 Dies wird je nach Berufsfeld unterschiedlich sein. Martin Baethge (1996) vermutet, dass solche Entwicklungen v.a. im Dienstleistungssektor und in stark internationalisierten Bereichen zu finden sein werden.
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nicht unproblematisch ist, soll nicht geleugnet werden. Der Individualberuf ist damit die Kulturform für eine neue Qualität ökonomischer Gestaltung, Vermarktung und Verwertung der Ware Arbeitskraft. Und nicht selten werden dabei eng ökonomische ArbeitskraftStrategien wichtiger sein, als die Vermarktung der fachlichen Fähigkeiten. Wie allgemein in der Wirtschaft müssen jetzt auch bei der Vermarktung von Arbeitskraft produktbasierte (hier: fachliche) Strategien hinter einer abstrakten Marktorientierung zurücktreten.70 (3) Die existenzielle Funktion von Arbeitskraft schließlich tritt jetzt möglicherweise historisch erstmals umfassender in Erscheinung. Schon das bisherige Modell von Beruf hatte durch den Bezug auf Eignung und Neigung, auf Identität und Biografie usw. einen ausgeprägten Subjektbezug. Aber dies erhält jetzt eine neue Relevanz: Arbeitskraftunternehmer sind Arbeitskräfte, die, wie keine Variante vorher, als aktive Entwickler und Vermarkter ‚ihrer selbst‘ in einem umfassenden Sinne agieren müssen. Sie kommen dabei nicht umhin anzuerkennen, dass sich die Ausrichtung ihrer Fähigkeiten einerseits zwar auf den ökonomischen Erwerb und dazu auf konkrete fachliche Tätigkeiten beziehen muss. Sie werden aber andererseits möglicherweise mehr denn je erkennen, dass es dabei immer um die Ausrichtung ihrer gesamten Person und um die Gestaltung ihres gesamten persönlichen Lebens geht. Genau dann also, wenn Arbeitskraft in neuer Weise zur abstrakten „Ware“ wird, genau dann stellt sich (paradoxer Weise) die berühmte Frage ganz neu, ob man ‚lebt um zu arbeiten‘ oder ‚arbeitet um zu leben‘ – und wie dieses Leben überhaupt aussehen soll und kann. Der ‚lebendige‘ Hintergrund von Beruf wird damit, so kann vermutet werden, zunehmend zum drängenden Thema – individuell wie gesellschaftlich. Zur Vertiefung Beck, Ulrich/Brater, Michael/Daheim, Hans Jürgen (1980). Soziologie der Arbeit und der Berufe. Grundlagen, Problemfelder, Forschungsergebnisse. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Conze, Werner (1972). Beruf. In: O. Brunner/W. Conze/R. Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe (Bd. 1) (S. 490-507). Stuttgart: Enke. Daheim, Hansjürgen (1977). Berufssoziologie. In: R. König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung (Bd. 8) (S. 1-100). Stuttgart: Enke (2. Auflage, zuerst 1969). Hörning, Karl Heinz/Knicker, Theodor (1981). Soziologie des Berufs. Eine Einführung. Hamburg: Hoffmann und Campe. Kurtz, Thomas (Hrsg.) (2001). Aspekte des Berufs in der Moderne. Opladen: Leske+Budrich. Kurtz, Thomas (2001). Berufssoziologie. Bielefeld: transcript. Luckmann, Thomas/Sprondel, Werner M. (Hrsg.) (1972). Berufssoziologie. Köln: PRV-Pahl- Rugenstein Verlag. Pfadenhauer, Michaela (Hrsg.) (2005). Professionelles Handeln. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften. Volti, Rudi (2007). An introduction to the sociology of work and occupation: Continuity and change in the 21st century. Thousands Oaks: Sage – Pine Forge Press.
70
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Berufliche Bildung
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Berufliche Bildung Michael Brater
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Gegenstand und Problemstellung: Die Berufsform der beruflichen Bildung
Damit Menschen arbeiten können, brauchen sie die Fähigkeiten dazu, und wenn es sich nicht um sehr einfache Arbeiten handelt, brauchen sie ein spezielles Wissen und Können, das nicht jedermann mitbringt. Dieses Wissen und Können ist inhaltlich differenziert, spezialisiert und bestimmt. Es steht nicht einfach zur Verfügung, sondern es muss von den arbeitenden Menschen erst einmal ausgebildet, d.h. durch Lernen entwickelt werden, und zwar in jeder Generation immer wieder neu, und möglichst in genau der Art und Zusammensetzung, wie es gesellschaftlich benötigt wird. Dafür gibt es kein genetisches Programm, sondern dieser Prozess der Herstellung des (benötigten, gewünschten) Arbeitsvermögens muss sozial immer wieder neu organisiert und sichergestellt werden, damit die Arbeitssysteme so, wie sie sind oder werden sollen, aufrechterhalten und weiterentwickelt werden und die Arbeitsund Wirtschaftsziele erreicht werden können. Dieser Prozess, den man die „Produktion und Reproduktion des Arbeitsvermögens“ nennen kann, ist ein Schlüsselprozess der Arbeitsgesellschaft. Von ihm und seinem Wandel handelt der vorliegende Beitrag. Grundsätzlich besteht ein inhaltliches Abstimmungsproblem zwischen dem, was für eine bestimmte Arbeit an konkreten Fähigkeiten nötig ist, und dem, was die Arbeitenden an spezifischem Wissen und Können einbringen können. Dieses quantitative und qualitative Abstimmungsproblem stellt sich für jedes konkrete Arbeitsfeld. Wie wird erreicht, dass Arbeitsfähigkeiten in genau der richtigen, d.h. im Beschäftigungssystem benötigten Art, Qualität, Menge, Zusammensetzung und Abgrenzung vorliegen? Wie weiß das Beschäftigungssystem, welches Wissen und Können in welcher Form bei wem verfügbar und nutzbar ist? Wie wird sichergestellt, dass die Angehörigen jeder neuen Generation jenes Wissen und Können lernen? Dieses Abstimmungsproblem wird insbesondere in der deutschen Gesellschaft traditionell durch ein besonderes soziales Gebilde, nämlich den Beruf 1 gelöst. Berufe sind in soziologischer Sicht institutionalisierte Strukturen, die das Gesamtarbeitsvermögen inhaltlich bestimmen, differenzieren und gliedern. Berufe sind „Arbeitskräftemuster“, d.h. latente gesellschaftlich festgeschriebene, normierte Bündelungen von Wissen und Können, die eine Mittlerrolle zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem spielen (Beck/Brater/Daheim 1980). Für die Ausbildungsberufe geht das so weit, dass für jeden anerkannten Beruf ein klar beschriebenes schriftliches Berufsbild mit zahlreichen Berufsbildpositionen und einer detaillierten Prüfungsordnung vorliegt, das aus einem komplexen geregelten Verfahren hervorgeht und den Rechtsstatus einer Verordnung hat: Jemand, der diese Berufsbezeichnung führen darf, kann damit mindestens das, was im Berufsbild steht. Dem Bildungssys1 Siehe hierzu den Beitrag von Alma Demszky von der Hagen und G. Günter Voß „Beruf und Profession“ in diesem Band.
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tem geben die Berufe so eine Art Lernzielkatalog vor, welches Wissen und Können in welchem Zusammensetzung ausgebildet werden soll, und dem Beschäftigungssystem geben sie vor, welches Wissen und Können abgerufen und eingesetzt werden kann. Berufe orientieren also sowohl den Ausbildungs- wie den Verwertungsprozess des konkret-inhaltlichen Arbeitsvermögens und beziehen beide aufeinander. Die Besonderheit der Berufe: Sie konstituieren eine eigene, überbetriebliche Ebene zwischen Bildung und Beschäftigung mit eigenen Entstehungsgesetzen und Profilen, die weder ein komplettes Fachgebiet noch die Anforderungsstrukturen des Beschäftigungssystems einfach abbilden, sondern sich zwar daran orientieren, aber zugleich auch relativ unabhängig davon zustande kommen. Jeder Mechaniker z.B. kann mehr, als an irgendeinem Einzelarbeitsplatz verlangt wird, und zugleich wesentlich weniger, als das gesamte Fachgebiet Metallbearbeitung umfasst. Im Hinblick auf die Einsetzbarkeit und Verwertbarkeit des in ihnen festgeschriebenen Arbeitsvermögens sind Berufe damit eigentümlich ambivalent: Sie eröffnen Verwertungschancen, indem sie das Beschäftigungssystem darauf hinweisen, was der Inhaber dieses Berufs alles kann – sie begrenzen aber auch prinzipiell die Nutzung und Verwertung des in ihnen festgeschriebenen konkreten Arbeitsvermögens (einem Bäcker kann man nicht ohne Weiteres die Reparatur der Backöfen übertragen, weil er das nicht gelernt hat). Beim Zustandekommen eines neuen Berufs müssen deshalb immer zwei gegensätzliche Interessen abgewogen werden. Denn je enger die Übereinstimmung von Berufsund bestehender betrieblicher Anforderungsstruktur, desto weniger betriebliche Anlern- und Einarbeitungszeit muss aufgebracht werden, desto unmittelbarer kann dieses Arbeitsvermögen verwertet werden – desto starrer gekoppelt sind aber dann auch die Systeme und desto weniger Spielräume bleiben für eine Veränderung der betrieblichen Anforderungen. Hier muss also bei der Konstruktion von Berufen immer eine Balance gefunden werden. Die relative Weite oder Enge von Berufen ist auch aus der Sicht der Inhaber dieser Berufe, für die arbeitenden Menschen von großer Bedeutung: Wenn Arbeitsfähigkeiten in Berufen so beschrieben und gebündelt werden, dass sie nicht ein nur arbeitsplatzgebundenes Wissen und Können enthalten, sondern zur Lösung von Arbeitsaufgaben an vielen verschiedenen Arbeitsplätzen (in u.U. verschiedenen Betrieben) eingesetzt werden können, sichert der Beruf seinem Inhaber Beschäftigungschancen, die vom Einzelbetrieb relativ unabhängig sind. Die beruflich bereitgestellten Fachqualifikationen als ‚Besitz‘ der Arbeitenden begründen damit zum einen eine gewisse Flexibilität des Einsatzes dieser Arbeitsfähigkeiten, und zum anderen Unabhängigkeit ihres Inhabers gegenüber ihrer unmittelbaren industriellen Verwertung – gerade weil diese Qualifikationen eben nicht deckungsgleich mit dem sind, was an einem industriellen Arbeitsplatz gefordert ist, sondern darüber hinausreichen. Dieser Aspekt der strukturellen Flexibilität von Berufen bestimmte und bestimmt die wissenschaftliche wie politische Diskussion um den Beruf. Wir werden im vorliegenden Beitrag immer wieder darauf stoßen. Die Flexibilität und Transferierbarkeit ihres beruflich geformten Arbeitsvermögens haben wichtige Folgen für die arbeitenden Personen: Sie begründen in Grenzen ihre berufliche Autonomie, damit ein selbstbewusstes Auftreten am Arbeitsmarkt, eine gewisse Verhandlungsmacht und sie sind Grundlage für einen Berufsstolz. Diese Stellung wird über allerhand Professionalisierungsstrategien (vgl. z.B. Daheim 1973) abzusichern versucht. Aus der Sicht des Einzelnen sind Berufe, wie sich hier zeigt, nicht nur für ihn neutrale soziale Gebilde, sondern sie sind für sein persönliches Leben überaus folgenreich und bedeutsam. Sie sind für ihn gleichsam Tore, durch die hindurch seine persönlichen Arbeits- und Wirkungsmöglich-
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keiten eröffnet und zugleich begrenzt werden. Polizisten etwa müssen kraft ihres Berufsbildes kriminelle Handlungen als Gesetzesverstöße behandeln (und ahnden) und z.B. nicht als Ausdruck eines sozialen Labelingprozesses oder einer seelischen Verirrung. Berufsbilder definieren mit den arbeitsrelevanten Fähigkeiten, die ein Mensch erlernen kann, zugleich seine Möglichkeiten, seine persönlichen Impulse und Intentionen zu verwirklichen und in der Welt praktisch wirksam zu werden. In diesem Sinne filtern sie seine Möglichkeiten politisch-gesellschaftlicher Praxis und damit der Gestaltung und Partizipation. Mit der ‚Schneidung‘, d.h. mit der Zusammensetzung und Abgrenzung von Fähigkeitsbündeln konstituieren Berufe ferner immer zugleich auch bestimmte soziale Verhältnisse und Beziehungen ihres Inhabers zu den anderen Berufstätigen: Wenn in einem Berufsbild keine kaufmännischen Qualifikationselemente enthalten, sondern diese in anderen Berufsbildern monopolisiert sind, sind seine Inhaber stets bei der Bewältigung der kaufmännischen Aspekte ihrer Arbeit von anderen Fachleuten und ihren Entscheidungen abhängig. In diesem Sinne konstitutieren Berufe und die in ihnen festgeschriebene Arbeitsbzw. Fähigkeitenteilung indirekt z.B. Macht- und Herrschaftsverhältnisse, aber auch Kooperations- und Kommunikationsbeziehungen unter den Arbeitenden (Beck/Brater 1978). Als Lern- und Entwicklungsvorgaben für die berufliche Bildung, in der menschliches Arbeitsvermögen individuell ausgebildet wird, wirken Berufe auch weit in die innere Konstitution derer hinein, die einen Beruf lernen: Da das Arbeitsvermögen als subjektives Vermögen nicht von den konkreten Menschen abgelöst werden kann, die es innehaben, sind Berufe nämlich zugleich Entwicklungsschablonen für konkrete Menschen. Was das heißt, wird oft erst dann deutlich, wenn man sich klar macht, was in diesen Bildungsprozessen an latenten Entwicklungschancen alles nicht aufgegriffen, sondern liegengelassen wird. Insofern prägen Berufe mit den persönlichen Fähigkeitsprofilen zugleich Grundhaltungen, Weltsichten, Denkweisen, Möglichkeiten der kulturellen Partizipation und der eigenen Lebensbewältigung. In diesem Sinne ist z.B. die verbreitete geringe Fähigkeit und Bereitschaft vieler Angehöriger praktischer oder naturwissenschaftlich-technischer Berufe, über ihre eigenen Gefühle zu reden, oder einen Zugang zur modernen Kunst zu finden, auch eine berufliche Prägung. Die Berufe präformieren also nicht nur die Arbeitsmöglichkeiten und -chancen ihrer Inhaber, sondern weit darüber hinaus auch ihre Lebenschancen, ihre gesellschaftliche Integration und Partizipation sowie ihre sozialen Kompetenzen bis hin zu den Möglichkeiten der individuellen Lebensführung – zumindest so lange, wie sie real mit ihrem Beruf identifiziert sind und sich nicht persönlich von ihm und seiner Kultur durch Bildungsbemühungen distanzieren, die die Fesseln des Berufs sprengen. Die Schneidung von Berufen und ihre Konstitution ist also letztlich kein für den Einzelnen mehr oder weniger gleichgültiger technischer Akt, sondern ein sozialer Prozess, der für sein individuelles Leben hoch folgenreich ist. Im Folgenden wird die berufliche Bildung zunächst aus kritischen und wertschätzenden Perspektiven in den Blick genommen (Abschnitt 2). In Abschnitt 3 können dann Probleme der Berufsförmigkeit der beruflichen Bildung sowie Möglichkeiten ihrer Flexibilisierung dargestellt werden. Der Beitrag endet mit Überlegungen zu europäischen Einflüssen auf die berufliche Bildung (Abschnitt 4).
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2 2.1
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Entwicklungslinien und Wissensbestände: Ausbildungsberufe und Flexibilität – Kritik und Wertschätzung beruflicher Bildung Ausbildungsberufe und das Flexibilitätsproblem
Das Berufsprinzip, das in Deutschland hoch gehalten wird, ist ein Relikt aus dem Mittelalter. Die Berufslehre selbst ist eine Erfindung der mittelalterlichen Zünfte, ebenso die Hierarchie von Meister, Geselle und Lehrling. Die Berufe haben viele Funktionen und Strukturmerkmale der Zünfte übernommen und bis heute beibehalten, wie etwa die festgeschriebenen Grenzen zwischen benachbarten Berufen (z.B. Bäcker/Konditor), oder der mit der Berufsförmigkeit verbundene Konkurrenzschutz (im Tätigkeitsfeld des Berufs darf nur arbeiten, wer über ein entsprechendes Zertifikat verfügt, und das Zertifikat bekommt nur, wer die ordnungsgemäße Ausbildung nachweisen kann). Weitere Traditionselemente sind die geregelte Abschlussprüfung am Ende der Ausbildung vor den Meistern, also den Könnern in diesem Beruf, als Aufnahmeritual in den Beruf. Erbe der Zünfte ist zweifellos auch das klassische biografische Muster des ‚Lebensberufs‘: Ausbildung am Beginn des Arbeitslebens, bis man ausgelernt hat, dann tendenziell lebenslanges Arbeiten in diesem gelernten Beruf, bis man sich wohlverdient zur Ruhe setzt. Das alles macht ebenfalls deutlich: Der Beruf als soziale Form ist nicht gerade eine Institution der Dynamik und Innovation, sondern eher eine, die der sozialen Stabilität, dem Ordnen und Festschreiben verpflichtet ist und sich als gegen Veränderungen bemerkenswert resistent erweist. Das Überleben der in den Zünften ausgebildeten Berufsform hat damit zu tun, dass die Industrie lange Zeit auf die Handwerkslehre bzw. die in den handwerklichen Berufen Ausgebildeten zurückgriff, um ihren Fachkräftebedarf zu decken. Der neue industrielle Typ des Industriearbeiters war ein un-, später allenfalls ein kurzzeitig angelernter Arbeiter, d.h. typische Industriearbeit war zunächst einmal mit Qualifikationen zu bewältigen, die ,Jedermann‘ mitbrachte, über dessen Ausbildung man sich also keine Gedanken machen musste: Der Bedarf der Industrie an Fachkräften mit besonderen Qualifikationen war gering und konnte ohne Weiteres aus dem Handwerk gedeckt werden (wenn hier auch zweifellos oft eine ‚Umerziehung‘ nötig gewesen sein dürfte). Die Industrie ist mit der handwerklichen Grundlage ihrer Fachkräfte und deren Berufen ganz gut gefahren. Die Handwerker brachten auch viele willkommene Arbeitstugenden mit und ein Bewusstsein, mit dem sie sich von den ungelernten ‚Proletariern‘ deutlich abgrenzten. Die Beruflichkeit ihres Arbeitsvermögens bildete eine Art Schutz-, Abgrenzungs- und Verteidigungslinie gegen ihre Proletarisierung und war Quelle eines spezifischen Facharbeiterbewusstseins, das von den Angehörigen der späteren Industrieberufe übernommen wurde.2 Bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es keine eigenständigen industriellen Berufe und auch keine eigene industrielle Berufsausbildung. Erst in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts begannen einige Industriebetriebe, industrielle Lehrwerkstätten einzurichten (in denen zunächst nach handwerklichem Vorbild ausgebildet wurde). Der Prozess, in dem eigene industrielle Ausbildungsberufe entstanden, zog sich bis in die späten 30er Jahre des 20. Jahrhunderts hin. Dabei wurden wesentliche Grundstrukturen der alten Handwerksausbildung übernommen, unter anderem auch die primäre Zuständigkeit des Betriebs für die 2 Die Besonderheit und Eigenständigkeit der fachlichen Qualifikation, die als berufliche mehr dem Subjekt angehörte als dem Unternehmen, dürfte auch zu den wesentlichen Voraussetzungen für das Entstehen der Arbeiterbewegung gehören, die zunächst vor allem eine Facharbeiterbewegung war.
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Durchführung der Ausbildung. Hinzu kam – eher aufgrund der Kontroll- und Ordnungswünsche der Politik als aufgrund eines Bedarfs der Wirtschaft3 – ein schulischer Ausbildungsteil. Damit entstand das duale System der Berufsausbildung, bei dem an zwei Lernorten – dem Betrieb mit Verantwortung für die fachpraktische und der Berufsschule mit Verantwortung für die fachtheoretische Ausbildung – ausgebildet wird.4 Duale Ausbildungen unterscheiden sich von Ausbildungen, die ausschließlich in (Fach-)Schulen stattfinden ebenso wie von Ausbildungen, die nur betrieblich organisiert sind (Anlernausbildungen). Welche Seite im dualen System die Gesamtverantwortung trägt (wer also den Ausbildungsvertrag abschließt), ist offen: in aller Regel und der Tradition entsprechend sind das die Betriebe, die damit über das Zustandekommen von Ausbildungsverhältnissen wesentlich entscheiden; subsidiär können aber auch schulische Berufsbildungsstätten oder überbetriebliche Bildungszentren Träger sein, die den betrieblichen Teil dann über Praktika bzw. Kooperationsverträge mit Betrieben abdecken. Zum dualen System gehört strukturell die Ordnungsgewalt und Aufsichtspflicht des Staates.
Das Verfahren der Ordnung und Neuordnung von Ausbildungsberufen Zur Ordnung und Neuordnung von (Ausbildungs-)Berufen wurde eigens ein kompliziertes staatlich geregeltes und überwachtes Verfahren geschaffen, mit dessen Durchführung unter Beteiligung der Sozialpartner seit 1969 eine dafür ins Leben gerufene Bundesbehörde (das Bundesinstitut für Berufsbildung BIBB) betraut wurde.5 Eine Ausbildungsordnung umfasst immer
das Ausbildungsprofil (eine Art Berufsbeschreibung im Sinne einer Kurzzusammenfassung des ganzen Berufsbilds) die Festlegung der Berufsbildpositionen (Lernziele) die zeitliche Gliederung die Prüfungsordnung (Prüfungsbereiche einschließlich -inhalte und -formen).
Grundsätzlich ist zu beachten, dass es sich bei der Erarbeitung einer Ausbildungsordnung um ein Konsensverfahren handelt, an dem Arbeitgeber, Arbeitnehmer und Politik (das Arbeits- bzw. Wirtschafts- und das Bildungsministerium, Letzteres vertreten durch das BIBB) beteiligt sind.6 3 Erst Georg Kerschensteiner und andere versuchten in den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts, für die beruflichen Schulen eigene konsequente berufsbildende Konzepte zu entwickeln. (vgl. Kerschensteiner 1926) 4 Dabei ist die Abgrenzung von Fachpraxis und -theorie immer schon problematisch, und die Zusammenarbeit der beiden Lernorte ist eine bis heute ungeklärte und offene Frage. 5 Siehe das Berufsbildungsgesetz (BBiG) in der Fassung von 2006. 6 Das Verfahren beginnt mit einem offiziellen Antragsgespräch der drei ‚Bänke‘ mit den zuständigen Fachministerien und dem BMBF. Bei diesem Gespräch werden die Eckwerte für die Neuordnung festgelegt. An dem Gespräch sind auch das BIBB und die Kultusministerkonferenz (KMK) beteiligt. Danach stellen das zuständige Fachministerium und das Bundes-Bildungsministerium (BMBF) einen offiziellen Projektantrag an den Bund-Länder-Koordinierungsausschuss – genannt ‚Ausbildungsordnungen/Rahmenlehrpläne‘. Nur wenn hier Einvernehmen erzielt wird, kann neu geordnet (und später die neue Berufsordnung auch offiziell erlassen) werden. Das Neuordnungsverfahren selbst wird vom BIBB durchgeführt und moderiert, das dazu Sachverständige hinzuziehen kann. Wenn es sich als notwendig herausstellt, kann das BIBB zur Unterstützung der Neuordnung gezielte Forschungsarbeiten durchführen (lassen). Parallel zu diesem Verfahren erarbeitet ein von der KMK benannter Sachverständigenkreis
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Auf diesem beschriebenen Weg werden neue Berufe bewusst und gezielt konzipiert und konstruiert (Rauner 2006; Hesse 1972). Derzeit gibt es ca. 360 solche Ausbildungsberufe. Sie entstehen und vergehen damit nicht naturwüchsig, sondern sind Thema bewusster politischer Gestaltung. In die Konstruktion und Schneidung von Berufsbildern fließen traditionell vor allem Gesichtspunkte des Qualifikationsbedarfs der Wirtschaft ein, während Gesichtspunkte der persönlichen Entwicklung, der gesellschaftlichen Teilhabe usw. nicht explizit berücksichtigt werden – und dies, obwohl die Ausbildung in einem solchen Beruf für 60-70% aller 16-18jährigen die letzte formale Bildungsinstanz ist und sie in einem Lebensalter stehen, in dem sie durchaus noch Bedarf an persönlicher Bildung und Erziehung haben. Die objektiv Personen bildende und sozialisierende Funktion der Berufe wird in dem beschriebenen Prozess kaum bewusst berücksichtigt, sondern ergibt sich i.d.R. als ungeplante Nebenfolge. Ein solches Verfahren der staatlichen Ordnung und Neuordnung von Berufen auf einer überbetrieblichen Ebene ist in den meisten anderen europäischen Ländern unbekannt. In Deutschland sieht man darin jedoch viele Vorteile; vor allem, weil es einen Schutz gegen betriebliche Einzelinteressen in der Berufsbildung darstellt, damit insgesamt ein für die Wirtschaft wichtiges Qualitätsniveau der Qualifikationen ebenso wie die Vergleichbarkeit der Abschlüsse bzw. des Gelernten und damit die Mobilität und Unabhängigkeit der Absolventen sichert. Außerdem glaubt man, mit der Ordnungsprozedur einen Weg gefunden zu haben, wie das Entstehen und Vergehen von Berufen (die Struktur des Berufssystems) nah am Bedarf der Unternehmen marktwirtschaftlich und nah an der Dynamik der Wirtschaft geregelt werden kann.
Probleme der Berufsform und die Flexibilitätsforschung Dieses deutsche System von Beruf und Berufsausbildung funktionierte jedoch in der Vergangenheit keineswegs problemlos. Mit fortschreitender Spezialisierung der industriellen Tätigkeiten wurde vor allem in den 1960er und 1970er Jahren ein Dilemma der Berufsförmigkeit deutlich: Die relativ breiten, von der Handwerkstradition geprägten Berufsbilder waren oft zu allgemein, um den sehr speziellen Anforderungen der Betriebe zu genügen. Längere (und teure) betriebliche Einarbeitungszeiten wurden nötig. Außerdem fragten die Arbeitgeber zunehmend, wieso sie ein ganzes komplexes Qualifikationsbündel bezahlen sollen, von dem sie nur einen sehr schmalen Ausschnitt benötigten. Damit ging von der Industrie ein Druck aus auf immer spezialisiertere, engere Berufe. Die Zahl der Ausbildungsberufe wuchs ständig (bis auf knapp 500) um zunehmend unanschauliche Spezialund Splitterberufe für relativ wenige Abnehmer. Diese Zersplitterung der Berufe rief dann den Rahmenlehrplan für die Berufsschulen. Beide Gremien müssen sich abstimmen und können dazu auch gemeinsam tagen. Aus den Arbeiten an der Neuordnung geht ein Verordnungsentwurf hervor, der zusammen mit dem Entwurf für den Rahmenlehrplan zur Stellungnahme an die Vertreter der Arbeitgeber und Arbeitnehmer geht. Beide Gruppen können Veränderungsvorschläge einbringen. Danach lädt das BMBF das zuständige Fachministerium, das BIBB, die Spitzenorganisationen von Arbeitgebern, Arbeitnehmern und die Sachverständigen zur abschließenden so genannten Gemeinsamen Sitzung ein, die auch die Abstimmung mit dem Rahmenlehrplan vornimmt. Hier wird die neue Ausbildungsordnung – also der neue Beruf – abschließend beraten. Dabei wird Konsens angestrebt. Hat man sich geeinigt, wird der Verordnungsentwurf dem Ständigen Ausschuss des Hauptausschusses des BIBB zugeleitet, in dem wieder alle ‚Bänke‘ vertreten sind. Stimmt dieser Ausschuss dem Entwurf der Ausbildungsordnung zu, wird er nach einer endgültigen Abstimmung mit dem Rahmenlehrplan im BundLänder-Ausschuss vom zuständigen Bundesministerium als Rechtsverordnung erlassen.
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aber wieder eine Gegentendenz wach: Sie beschränkte auch aus der Sicht der Unternehmen die Einsatzmöglichkeiten dieser hoch spezialisierten Fachkräfte und erschwerte die quantitative Abstimmung zwischen Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt. Man wurde sich wieder der Tatsache bewusst, dass gerade die mit der Beruflichkeit gegebene Möglichkeit einer nicht ganz engen Bindung der fachlichen Qualifizierung an bestimmte betriebliche Arbeitsplätze eine gewisse Flexibilität und Handlungsfähigkeit der Arbeitenden garantiert und die Voraussetzung der so genannten Facharbeiterqualifikation ist.7 Trotz der tayloristischen Zerlegung und Vereinfachung der unmittelbaren industriellen Produktionsarbeit wurden vor allem für Instandhaltung, Störungsbeseitigung, Arbeitsvorbereitung und Organisation ebenso wie in der Verwaltung immer mehr qualifizierte Fachkräfte benötigt, die gerade nicht eng an einen bestimmten (anzulernenden) Arbeitsablauf gebunden sind. Vielmehr mussten sie genügend fachliche Fähigkeit und Distanz haben, um aus dem Überblick heraus Störungen der Routine zu erkennen und zu beseitigen bzw. selbst Veränderungen von Arbeitsabläufen zu initiieren. Dementsprechend war die Berufspolitik jener Jahre gekennzeichnet durch das ständige Bemühen um eher breite Berufsbilder und den Abbau der Splitterberufe: Berufe wurden auch wieder zusammengelegt oder einfach gestrichen. Die Berufsform selbst blieb jedoch unangetastet. Die Notwendigkeit, Überbetrieblichkeit des Berufs und unmittelbares Verwertungsinteresse des Betriebs auszubalancieren, prägte (und prägt bis heute) die Aufgabe der Politik bei der Berufskonstruktion.8 In den 1970er Jahren trat am Arbeitsmarkt das Phänomen der strukturellen Arbeitslosigkeit auf, d.h. ein Nebeneinander von offenen Stellen und arbeitslosen Fachkräften, die mangels geeigneter Qualifizierung diese Stellen nicht einnehmen konnten. Bald erkannte man die strukturellen Hintergründe dieser Inflexibilität: Die mit der Berufsform verbundene Definition von Fähigkeitsgrenzen erwies sich als Hindernis für den reibungslosen Vollzug des „Wandels der Berufsstruktur“ (Altman/Kammerer 1970) – womit der Wandel der Arbeitsplatzanforderungen und der Beschäftigungsstruktur gemeint ist. Die Passung zwischen dem in Berufen gefassten, in der beruflichen Bildung entwickelten Arbeitsvermögen auf der einen und den Fähigkeiten, die an den Arbeitsplätzen benötigt wird, auf der anderen Seite war erheblich gestört. Die Anforderungen des Beschäftigungssystems hatten sich offenbar von den in den Berufen festgeschriebenen Qualifikationsstrukturen wegentwickelt. Auf der anderen Seite zeigten jedoch auch viele Statistiken, dass faktisch sehr viele z.T. erstaunliche Berufswechsel erfolgreich ohne nennenswerte zusätzliche Qualifizierung stattfanden (z.B. Hofbauer/König 1973). Hier setzte seit Ende der 1960er Jahre die neu entstandene „Flexibilitätsforschung“9 ein. Sie erklärte diese widersprüchlichen Befunde damit, dass die beruflich gefassten Qualifikationen die Arbeitenden doch nicht immer so starr nur auf bestimmte Einsatzfelder festlegen, sondern – von Beruf zu Beruf verschieden – offenbar zahlreiche Verwandtschaften und „Polyvalenzen“ mit Qualifikationen aus anderen Berufen aufweisen, die einen Berufswechsel erleichtern. Diese in den Berufsbildern enthaltenen Flexibilitäts- und Substitutions7
Ein Facharbeiter ist jemand, der seine Arbeit selbstständig planen, ausführen und kontrollieren kann. Zur Lösung dieses Dilemmas gab und gibt es zahlreiche Experimente. Erwähnt seien die so genannten Stufenausbildungen in den 1970er und 1980er Jahren, bei denen schon ein erster, eher enger betrieblich nutzbarer Abschluss nach einer zweijährigen Ausbildung erreicht werden konnte, verbunden mit dem Anspruch, die zweite Stufe bis zum Vollberuf später anschließen zu können. In der Praxis wurde es faktisch immer schwieriger, die zweite Stufe zu erlernen. Weil damit die Gefahr der Entstehung von ,Facharbeitern zweiter Klasse‘ bestand, wurde dieser Weg als ungeeignet zur Lösung des Berufsdilemmas wieder aufgegeben. 9 Insbesondere durch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg (vgl. Mertens 1968). 8
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spielräume sollten, so die politische Empfehlung, stärker genutzt und vor allem bei der Ordnung von Berufen systematisch berücksichtigt werden, so dass Mono- und Sackgassenberufe möglichst vermieden werden (Mertens 1973).
Ausbildungsverständnis und Ausbildungsmethodik Bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein genügte der Wirtschaft eine Fachlichkeit, die im Wesentlichen auf handwerklichem Geschick (z.B. auch im Umgang mit komplexen Werkzeugmaschinen) und einem Verständnis für die bestehenden Abläufe beruhte. Ziel der Berufsbildung war dementsprechend die Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten je nach Berufsbild. Das heißt, die Berufsbildung war darauf bezogen, ein fachliches Wissen und Können einzuüben, das sich auf die regelgerechte – d.h. ‚richtige‘ – Ausführung relativ komplexer, fachlich anspruchsvoller, keineswegs von jedem zu Arbeitshandlungen bezog, die keineswegs von jedem beherrscht werden (etwa: Fräsen nach Maß). Die dem entsprechende berufspädagogische Methodik war die so genannte VierStufen-Methode, d.h. eine Ausbildung in den Schritten Erklären (durch den Meister) – Vormachen (durch den Meister) – Nachmachen (durch den Lehrling) – Üben (durch den Lehrling). Diese Lehrmethode der Instruktion bzw. Unterweisung beherrschte die Berufsbildung umfassend und besteht in manchen Ausbildungen noch heute. Lernen ist hier implizit ein Nachvollziehen von etwas Vorgegebenem, das der Lehrende perfekt beherrscht und das er aus seinem reichen Schatz an Wissen und Können auf den unwissenden Lernenden überträgt. Theorie steht vor der praktischen Erfahrung, d.h. Letztere bildet kein eigenes Erkenntnisfeld, sondern wird durch Theorie strukturiert und gebunden. Lernen ist mehr oder weniger passives Aufnehmen von Dingen, die so und nicht anders richtig sind. Der Duktus des Ausbildens ist somit dogmatisch, und lässt dem Lernenden keinen Freiraum. Die Vier-Stufen-Methode will auch nicht selbstständiges Denken oder Kreativität wecken, sondern ist daran orientiert, Bekanntes und Bestehendes möglichst unverändert zu tradieren, d.h. an die nächste Facharbeitergeneration weiterzugeben, um die fachliche Qualität der Arbeit zu erhalten. Es wird vielleicht deutlich, dass nicht nur die Berufsbilder, sondern auch die ihnen folgende Berufsbildung bis in die Lehrmethode hinein Abhängigkeit und Fixiertheit der Arbeitenden begründen. 2.2
Zwischen Kritik und Wertschätzung – Berufliche Bildung in der arbeitssoziologischen Forschung10
In den 1960er Jahren artikulierte sich in der Bundesrepublik Deutschland eine Kritik an der Entwicklung des Bildungssystems. Es wurde der „Bildungsnotstand“ ausgerufen und eine drohende heraufziehende „Bildungskatastrophe“ wurde prophezeit (Picht 1965). Dabei wurde zum einen ein Nachhinken des Bildungssystems hinter dem Wandel im Beschäftigungssystem und dem Bedarf der Wirtschaft diagnostiziert; zum anderen sah man erhebliche Diskrepanzen zwischen gesellschaftspolitischen Zielen, wie insbesondere der Überwindung sozialer Ungleichheit, und den Wirkungen des Bildungssystems („Bildung als Bürgerrecht“; Dahrendorf 1965). Vor diesem Hintergrund wurde auch – etwas später einsetzend – die 10
Dieser Abschnitt wurde in Kooperation mit Fritz Böhle verfasst.
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berufliche Bildung zum Gegenstand gesellschaftspolitischer Diskussion, die schließlich auch zur Reform der rechtlichen Regulierung der Berufsausbildung (Berufsbildungsgesetz) führte. In diesem Zusammenhang wurde die berufliche Bildung in der arbeits- und industriesoziologischen Forschung zu einem Gegenstand der Forschung. Charakteristisch ist dabei sowohl eine kritische Perspektive, wie aber auch der Blick auf grundlegende Potentiale beruflicher Bildung und deren (Weiter-)Entwicklung.
Zur Kritik der beruflichen Bildung Am Beginn der arbeits- und industriesoziologischen Auseinandersetzungen mit der beruflichen Bildung stehen Untersuchungen, die – inspiriert durch die allgemeine Bildungsdiskussion (siehe Abschnitt 2.1) – Mängel der beruflichen Bildung gegenüber dem schulischen Bildungssystem betonen. Kritisiert werden in dieser Perspektive die einseitige Ausrichtung der beruflichen Bildung auf technisch-instrumentelle Qualifikationen und ein damit verbundenes Demokratiedefizit. Die berufliche Bildung zielt demnach auf Ein- und Unterordnung und vernachlässigt die Erziehung zu politisch-demokratischem Bewusstsein und Handeln (Baethge 1970). Methodisch wird dies jedoch weniger an der Praxis der Berufsbildung untersucht, sondern vor allem auf der Grundlage von Selbstdarstellungen und Programmatiken aus Unternehmersicht (Verbände). Stärker empirisch orientiert erfolgen in dieser Perspektive Untersuchungen im Grenzbereich von Arbeitssoziologie und Berufspädagogik (Lempert 1971, 1974; Lempert/Thomson 1974) sowie arbeitssoziologische Untersuchungen zur Analyse der Entwicklungen von Qualifikationsanforderungen industrieller Arbeit (Fricke 1975).11 Ein Defizit der beruflichen Bildung wird dabei darin gesehen, dass sie sich ausschließlich auf die Bewältigung fachlicher Anforderungen bezieht und autonomieorientierte Qualifikationen, die sich auf die Veränderung und die Gestaltung der Arbeitsorganisation beziehen, vernachlässigt (Fricke/Fricke 1976). Eine andere Stoßrichtung der Kritik richtet sich stärker auf die fachliche Qualifizierung. Kritisiert werden die Heterogenität der Qualität der Ausbildung – von der bloßen Mitarbeit bis hin zu eigenständigen Lehrwerkstätten – ebenso wie Unterschiede in der Zukunftsorientierung von Ausbildungsberufen und die eingeschränkte Möglichkeit der Berufs- und Ausbildungswahl für Jugendliche (Lutz/Winterhager 1970; Lutz/Bauer/Kornatzki 1965). Hieran anknüpfend richten sich Untersuchungen auf Zusammenhänge zwischen der beruflichen Bildung einerseits und dem (späteren Einsatz) von Arbeitskräften im Betrieb andererseits. Deutlich wird hier u.a. dass nach der Ausbildung nicht nur eine spätere Beschäftigung teils unsicher ist, sondern auch, dass erhebliche Diskrepanzen zwischen Ausbildung und späterem Einsatz bestehen: Ausgebildete Facharbeiter werden vielfach für Tätigkeiten mit – im Vergleich zur Ausbildung – weit geringeren Anforderungen an die Qualifikation eingesetzt (Fricke/Fricke 1976). Die kritische Auseinandersetzung mit der beruflichen Bildung bezog sich vor allem auch darauf, dass die Reform der rechtlichen Regulierung Ende der 1960er Jahre an der Dominanz der privatwirtschaftlichen Steuerung beruflicher Bildung – vom Angebot an Ausbildungsplätzen und der Rekrutierung von Auszubildenden bis hin zur inhaltlichen Ausgestaltung – nichts grundlegend änderte. Arbeits- und industriesoziologische Untersuchungen zeigten hier zudem auf, dass die Betriebe in unterschiedlicher Weise auf die rechtliche Regu11
Siehe hierzu auch nochmals Abschnitt 2.4.
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lierung reagieren können und dass dementsprechend trotz Reform der rechtlichen Regulierung eine sehr breite Varianz in der inhaltlichen Ausgestaltung beruflicher Bildung besteht (Binkelmann/Schneller 1975). Des Weiteren wurde in Untersuchungen zur Praxis beruflicher Bildung, die in der bildungspolitischen Diskussion vertretene Auffassung, dass das Bildungssystem den Anforderungen des Beschäftigungssystems nachhinke, modifiziert: Die ,Widerständigkeit‘ der beruflichen Bildung gegenüber ihrer Angleichung an allgemeine bildungspolitische Ziele und Programmatiken wurde auf spezifische betriebliche Interessen am Einsatz und an der Nutzung von Facharbeitern in der industriellen Produktion zurückgeführt (Binkelmann/Böhle/Schneller 1975). Dabei wurde aufgezeigt, dass auch bei der vergleichsweise qualitativ weit entwickelten Ausbildung in betrieblichen und überbetrieblichen Lehrwerkstätten Instabilitäten im quantitativen Angebot und eine Orientierung an kurz- und mittelfristigen bestehender Qualifikationsanforderungen gegenüber langfristigen Entwicklungen im Beschäftigungssystem und der Gesellschaft insgesamt vorherrschen. Als ein grundlegender inhaltlicher Mangel der beruflichen Bildung wurde festgestellt, dass diese zu sehr auf die Einübung nützlicher Fertigkeiten und zu wenig auf die Vermittlung grundlegender Einsichten und die Entwicklung generalisierbarer und transferierbarer Lern- und Problemlösungsfähigkeiten ausgerichtet ist. Das wesentliche Problem der Praxis der beruflichen Bildung war in dieser Perspektive ihre Ausrichtung auf (noch) stark handwerklich geprägte Arbeitsformen in der industriellen Produktion, welche jedoch angesichts weiterer technischer Entwicklungen als wenig zukunftsweisend erschienen. Probleme und Defizite der rechtlichen Regulierung beruflicher Bildung wurden dabei sowohl beim Zugang zur beruflichen Bildung (Angebot, Rekrutierung und Selektion von Auszubildenden), beim Ausbildungsprozess und bei der Prüfung aufgezeigt. Empirisch wurde diese Kritik an der beruflichen Bildung auf der Grundlage eines mehrdimensionalen analytischen Instrumentariums begründet (Binkelmann/Böhle/Schneller 1975: 124ff.). Die fachliche berufliche Qualifikation wurde sowohl hinsichtlich der Bewältigung von Arbeitsanforderungen untersucht als auch hinsichtlich der Möglichkeiten, sie auf dem Arbeitsmarkt anzubieten und an Veränderungen im Arbeitsbereich anzupassen und weiterzuentwickeln. Des Weiteren analysierte man die Methode der Ausbildung im Hinblick auf die Heranbildung fachlicher Qualifikationen und bezüglich der Entwicklung des Lernverhaltens im Sinne eines ,Lernen des Lernens‘. Und schließlich wurden auch die in der Ausbildung vermittelten Arbeitstugenden und Kriterien für ,richtige‘ Arbeit einbezogen. Erst auf dieser Grundlage wurde deutlich, dass die genannten Kritikpunkte an der beruflichen Bildung nicht – wie oft unterstellt – auf einer unzureichenden betrieblichen Systematisierung und Organisierung der Ausbildung beruhen, sondern umgekehrt, dass sich in der Systematisierung wie sie prototypisch in industriellen Lehrwerkstätten erfolgt(e), diese Schwächen besonders zeigen.
Berufliche Bildung im Kontrast zur tayloristischen Rationalisierung und Anlernung Im Unterschied zur Kritik an der beruflichen Bildung (siehe weiter oben in diesem Abschnitt) finden sich im weiteren Verlauf auch eine Reihe arbeits- und industriesoziologischer Untersuchungen, bei denen industrielle Facharbeit und Sachbearbeitertätigkeiten in der Verwaltung – und die hierauf ausgerichtete berufliche Bildung – primär im Kontrast zu un- und angelernten Tätigkeiten gesehen und beurteilt werden. Die berufliche Bildung erscheint hier als eine wichtige Bastion gegenüber der Dequalifizierung industrieller Arbeit
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im Zuge tayloristischer Rationalisierung, als auch gegenüber der in der Prozessindustrie (Chemie, Stahl, Ernährung usw.) vorherrschenden Qualifizierung durch Anlernung in der Praxis. Im Unterschied zum Mainstream industriesoziologischer Untersuchungen zur Entwicklung von Qualifikationsanforderungen12 wurden dabei aus der Perspektive beruflicher Bildung bereits in den 1970er Jahren in der Prozessindustrie Diskrepanzen zwischen der vorherrschenden Anlernung in der Praxis und den steigenden Anforderungen an die Qualifikation der Arbeitskräfte aufgezeigt. An die Stelle der Kritik der beruflichen Bildung rückte damit die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten, sie in Arbeitsbereiche auszuweiten, die bisher hiervon ausgespart waren (Drexel/Nuber 1979; Drexel/Nuber/Behr 1976; Drexel 1982). Diese Untersuchungen standen ebenfalls im engen Zusammenhang mit den Entwicklungen auf politischer Ebene, die schließlich zur Einführung neuer Ausbildungsberufe in der Prozessindustrie geführt haben. Vor diesem Hintergrund entstanden weitergehende theoretisch und historisch orientierte Untersuchungen zu den betrieblichen und gesellschaftlichen Bedingungen für die Entstehung einer eigenständigen, betrieblich organisierten beruflichen Bildung im Unterschied sowohl zur bloßen Anlernung in der Praxis, als auch zur schulischen Ausbildung (Drexel 1980; Asendorf-Krings u.a. 1976a). Dabei wurde unter anderem aufgedeckt, dass eine „Besonderung“ der Ausbildung aus der unmittelbaren Produktionsarbeit nicht nur – wie in der Prozessindustrie festgestellt – aus einem Defizit der alleinigen Qualifizierung in der Praxis (Anlernung) resultiert. Als ein wesentlicher Grund für die Entstehung eigenständiger industrieller Lehrwerkstätten in der Metallindustrie erwies sich vielmehr in der historischen Entwicklung der Rückgang der durch das Handwerk qualifizierten und auf dem Arbeitsmarkt verfügbaren Fachkräfte (Behr 1981).
Einfluss beruflicher Bildung auf Arbeitsorganisation und Beschäftigung Eine weitere in den 1970er und 1960er Jahren entwickelte arbeits- und industriesoziologische Forschungsperspektive zur beruflichen Bildung richtet sich auf Zusammenhänge zwischen Bildungssystem und Beschäftigungssystem. Dabei wurde die Auffassung, dass das Bildungssystem vom Beschäftigungssystem unabhängig sei ebenso zurückgewiesen, wie die Auffassung einer einseitigen Abhängigkeit des Bildungssystems vom Beschäftigungssystem. Demgegenüber wurden die Inderdependenz zwischen Bildung und Beschäftigung und damit verbunden auch der Einfluss des Bildungssystems auf das Beschäftigungssystem in den Blick gerückt. Anhand eines deutsch-französischen Vergleichs wurde gezeigt, in welcher Weise bei gleicher Technik in den Unternehmen unterschiedliche Formen der Arbeitsorganisation bestehen und diese wiederum mit nationalspezifischen Strukturen beruflicher Ausbildung korrespondieren (Lutz 1976a). Das System der beruflichen Bildung in der BRD erwies sich in dieser vergleichenden Perspektive als ein Bollwerk gegenüber der flächendeckenden Dequalifizierung industrieller Produktionsarbeit. Zugleich wurden in dieser Perspektive aber auch weithin unbedachte und ungeplante Auswirkungen der Bildungsexpansion auf das Beschäftigungssystem aufgezeigt: die Verschärfung der Arbeitsteilung zwischen überwiegend körperlich ausführenden und überwiegend geistig planenden und dispositiven Tätigkei-
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Siehe hierzu die Beiträge von Sabine Pfeiffer „Technisierung von Arbeit“ und von Manfred Moldaschl „Organisierung und Organisation von Arbeit“ in diesem Band.
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ten sowie die Erschwerung vertikaler Mobilität (Aufstieg) innerhalb des betrieblichen Beschäftigungssystems (Lutz 1976b; Lutz/Kammerer 1975; Kammerer/Lutz/Nuber 1973). Weitere Forschungen lenken in dieser Perspektive die Aufmerksamkeit auf den Einfluss von neu entstandenen Ausbildungswegen (zwischen qualifizierter Facharbeit und Ingenieur) auf das betriebliche Beschäftigungssystem und auf die Veränderung traditioneller Formen des beruflichen Aufstiegs (Drexel 1993, 1999; Fischer 1993). Die empirischen Untersuchungen hierzu standen im Zusammenhang mit der theoretisch-konzeptuellen Überlegung, dass durch betriebliche Arbeitsorganisation und durch berufsbezogene Ausbildungswege jeweils bestimmte Arbeitskräftekategorien wie bspw. der Facharbeiter konstituiert werden. Diese zeichnen sich nicht nur durch gleichartige Tätigkeit und Ausbildung aus, sondern auch durch hiermit verbundene typische Formen beruflicher Mobilität (Berufsbiografien) bis hin zur Entstehung und Verfestigung spezifischer ,Sozialcharaktere‘ und sozialer Identität. Die durch bestimmte Ausbildungswege geformten Arbeitskräftekategorien haben demnach im Sinne von Berufsgruppen eine über das Beschäftigungssystem hinausweisende gesellschaftliche Bedeutung. In dieser Perspektive stellen neue Ausbildungswege nicht nur neue Qualifikationstypen für das Beschäftigungssystem zur Verfügung, sondern können auch zu nachhaltigen Umstrukturierungen der Sozialstruktur des Beschäftigungssystems wie auch der Gesellschaft insgesamt führen (Soziale Stellung, Mobilität bis hin zur Entstehung und Veränderung bestimmter Sozialmilieus und Lebensstile). Damit wird auch teils explizit gegen die Diagnose einer fortschreitenden „Individualisierung“ (Beck 1983) argumentiert (Drexel 1994).
Arbeitsanforderungen und Qualifikation Die Auseinandersetzung mit der Entwicklung von Qualifikationsanforderungen ist ein zentraler Fokus bei der arbeits- und industriesoziologischen Analyse der Technisierung und Organisierung von Arbeit (Baethge/Baethge-Kinsky 2006). Hierin zeigt sich u.a. der besondere Blick dieser Disziplin auf Arbeit als Grundlage der Erhaltung und Entwicklung menschlicher Fähigkeiten.13 In Untersuchungen zur beruflichen Bildung und zum Lernen in der Arbeit wurden mehrere Ansätze zu einer Bestimmung beruflicher Qualifikationen entwickelt. Sie blieben in der Auseinandersetzung mit den Entwicklungen von Arbeit jedoch weitgehend folgenlos. Die Untersuchungen seien im Folgenden aber dennoch kurz skizziert, da sie gerade für die aktuelle Diskussion beruflicher Bildung bedeutsam erscheinen und hieran teils neuere Diskussionen anknüpfen. Bereits relativ früh machte Burkart Lutz darauf aufmerksam, dass Qualifikationsanforderungen nicht unmittelbar aus der technischen Struktur von Produktionsprozessen abgeleitet werden können. Aus der technischen Struktur ergeben sich lediglich Anforderungen an menschliche Arbeit. Wie diese jeweils jedoch konkret zu Arbeitsaufgaben und Arbeitstätigkeiten gebündelt werden, ist eine Frage der betrieblichen Organisation (Lutz 1969). Damit war bereits im Ansatz der in den arbeits- und industriesoziologischen Untersuchungen zur Entwicklung von Arbeit vorherrschende Technik-Determinismus aufgebrochen.14 Im Rahmen von bildungs- und lernorientierten Fragestellungen knüpfte dann das Konzept der innovatorischen Qualifikation an (vgl. Fricke 1975; Fricke/Fricke 1974; Fricke u.a. 1981; 13 14
Siehe hierzu den Beitrag von Fritz Böhle „Arbeit als Handeln“ und „Arbeit und Belastung“ in diesem Band. Siehe hierzu ausführlicher den Beitrag von Sabine Pfeiffer „Technisierung von Arbeit“ in diesem Band.
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Fricke 2009a; Fricke 2009b). Ausgangspunkt hierfür war die Überlegung, dass die Arbeitsorganisation als betriebliches Gestaltungsfeld (vgl. Burkart Lutz, auch in Abschnitt 2.2) umgekehrt auch aus der Perspektive der Arbeitskräfte als ein Einfluss- und Gestaltungsfeld wahrgenommen wird bzw. werden kann. Arbeitsaufgaben werden demnach nicht einfach erfüllt, sondern in aktiver Auseinandersetzung in immer wieder neuer Weise von den Arbeitenden umgestaltet. In dieser Perspektive ergeben sich aus der Arbeitsorganisation einerseits Anforderungen an die Qualifikation, andererseits erscheint aber auch die Arbeitsorganisation durch die Qualifikation der Arbeitenden beeinflussbar und veränderbar.15 Des Weiteren erweist sich aus diesem Blickwinkel als ein wesentliches Kriterium für eine humane Arbeitsorganisation vor allem auch die Möglichkeit, erworbene Qualifikationen zu erhalten und im Prozess der Arbeit weiter zu entwickeln. Eine andere Erweiterung des Verständnisses von Qualifikation – über die unmittelbare Bewältigung von Arbeitsanforderungen hinaus – erfolgte mit dem Konzept des Reproduktionsvermögens (Asendorf-Krings/Drexel/Nuber 1976b). Auch hierfür kam der wesentliche Anstoß durch die Frage nach Ansatzpunkten und Potenzialen der beruflichen Bildung, neben der fachlichen Qualifikation auch „Selbstbewusstsein, Kritikfähigkeit, ja emanzipatorisches Denken und Verhalten“ heranzubilden (1976b: 209). Die Aufmerksamkeit richtete sich hier auf Fähigkeiten, das eigene Arbeitsvermögen zu erzeugen, zu erhalten und auf dem Markt anzubieten, es aber auch gegenüber Gefährdungen zu schützen und hierauf bezogen die eigenen Interessen zur Geltung zu bringen.16 Systematisch unterschieden wurde dabei zwischen einem Reproduktionsvermögen „für“ das Kapital und einem dagegen. Mit einer solchen Erweiterung des Blicks auf Qualifikation ließ sich auch das Defizit einer bloßen Anlernung in der Praxis gegenüber einer institutionell geregelten Bildung präziser bestimmen: Auch wenn auf dem Weg des Lernens in der Praxis ein erhebliches Maß an fachlicher Qualifikation erworben wird, ist zugleich die Möglichkeit beschränkt, diese Qualifikation überbetrieblich auf dem Arbeitsmarkt anzubieten. Sie ist nicht nur inhaltlich auf betriebsspezifische Gegebenheiten ausgerichtet, sondern kann sich auch – wenn überhaupt – nur begrenzt auf allgemein definierte Qualifikationsmerkmale beziehen (Böhle/Altmann 1972; Altmann/Böhle 1976). Ebenfalls mit dem Blick auf berufliche Autonomie und Selbstbestimmung, aber stärker auf die funktionale Qualifikation gerichtet, versteht sich das im Rahmen von Forschungen zur beruflichen Bildung entwickelte Konzept des „Arbeitsprozesswissens“ (Kruse 1985, 1986, 2002). In der neueren berufspädagogischen Diskussion spielt der Begriff des Arbeitsprozesswissens eine wichtige Rolle. Hiermit wird im Unterschied zum wissenschaftlich fundierten Fachwissen und Arbeitsprozesswissen ein Wissen um die Elemente des betrieblichen Arbeitsprozesses und deren Zusammenwirken bezeichnet (Fischer 2000). Arbeitsprozesswissen bezieht sich in diesem Verständnis somit vor allem darauf, eine Verbindung zwischen ingenieurmäßig konstruierten Artefakten und ihren tatsächlichen Eigenschaften im Produktionsprozess herzustellen.17 In seiner ursprünglichen Fassung bei Wilfried Kruse ist das Konzept des Arbeitsprozesswissens jedoch breiter angelegt. Es bezieht sich hier auf das Verständnis des Gesamtarbeitsprozesses, an dem die jeweilige Person beteiligt ist – in seinen produktbezogenen, technischen, arbeitsorganisatorischen, sozialen und systembezogenen Dimensionen – und zum anderen wird ein solches Arbeitsprozesswissen als Grundlage für 15
Siehe die in dieser Perspektive auch die in Abschnitt 3.3 genannten Forschungsansätze und Untersuchungen. Siehe hierzu den Beitrag von Kerstin Jürgens „Arbeit und Leben“ in diesem Band. 17 Siehe hierzu auch die Ausführungen zu Erfahrungswissen in Abschnitt 3. 16
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eine selbstbewusste Orientierung im Arbeitsprozess begriffen. Das Arbeitsprozesswissen ist in dieser Sicht nicht nur eine Grundlage für die funktionale Bewältigung von Arbeitsanforderungen, sondern enthält auch Potenziale für autonomes berufliches Handeln und die Möglichkeit zur Einflussnahme auf die Gestaltung der Arbeitsorganisation. Mit Blick auf die Entwicklung industrieller Arbeit ist schließlich auch auf die Unterscheidung von „funktionalen“ und „extrafunktionalen“ Qualifikationen (Offe 1970) sowie von „prozessgebundenen“ und „prozessungebundenen“ Qualifikationen (Kern/Schumann 1985) zu verweisen. Während mit extrafunktionalen Qualifikationen insbesondere soziale Verhaltensweisen im Sinne von Arbeitstugenden wie Fleiß, Pünktlichkeit gemeint sind, beziehen sich prozessungebundene Qualifikationen vor allem auf Veränderungen bei fortschreitender Technisierung von Arbeit. Damit verbindet sich die Annahme, dass sich bei fortschreitender Technisierung die Anforderungen an Arbeit verschieben – von den jeweils konkreten Inhalten von Produktionsprozessen (i.w.S.) zu allgemeinen Anforderungen wie technische Intelligenz, Flexibilität, abstraktes Denken u.a. In dieser Perspektive erscheint als ein wesentlicher Mangel der beruflichen Bildung, wie auch der Konstitution von Berufen insgesamt, ihre Ausrichtung auf unterschiedliche Gegenstände und Inhalte von Produktionsprozessen.
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Neue Entwicklungen und Konzepte: Probleme der Berufsförmigkeit beruflicher Bildung und Ansätze zu ihrer Flexibilisierung
Seit den 1980er Jahren hat sich mit der zunehmenden Herausbildung von Käufermärkten, der fortschreitenden Globalisierung der Wirtschaft, der immer ungezügelteren Ausbreitung der freien Marktwirtschaft, der Entwicklung einer wissensbasierten Gesellschaft, der Ausbreitung der IuK-Technologien und in deren Folge mit der Realisierung neuer betrieblicher Organisations- und Führungsmodelle die Arbeitswelt nachhaltig verändert. Da es keine Veränderung in der Arbeitswelt gibt, die nicht Veränderungen des Arbeitsvermögen der beteiligten und betroffenen Menschen sowohl voraussetzt wie auch bewirkt, gehen wir nun diesem Zusammenhang nach. Dabei müssen wir uns auf einige wichtige Grundzüge dieses überaus komplexen, dynamischen Geschehens beschränken. 3.1
Stetiger Wandel in der Arbeitswelt und die Kritik an der Berufsbindung der Ausbildung
In den 1970er Jahren hielt man in der allgemeinen Diskussion den Wandel in der Arbeitswelt aufgrund vor allem neuer Produktionsstrukturen noch für einen Modernisierungsschub, der zwar tief reichte, aber nach erfolgreich vollzogenem Umbau wieder zu einigermaßen stabilen Verhältnissen übergehen würde. In den 1980er Jahren wurde allmählich klar, dass dem nicht so sein würde, sondern dass die Wandlungsschübe ineinander übergehen und dass Wandel eine permanente Erscheinung geworden ist. Ein Schlüssel zum Verständnis dieses Geschehens liegt in der Tatsache, dass zunehmende Marktwirtschaft – zumal globalisierte, entgrenzte Marktwirtschaft – sich auf die Akteure vor allem in Form von drastisch steigender Konkurrenz auswirkt, und dass vermehrte Konkurrenz es für sie not-
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wendig macht, ständig Neues zu schaffen oder auf Neues zu reagieren. Die Folge: Phasen der Stabilität gibt es nicht mehr, der Wandel wird stetig. Für die Beobachtung von Beruf und Berufsbildung ergibt sich so eine Bühne für ein überaus spannendes Drama: Wie wird es unter den Bedingungen erhöhter Konkurrenz und stetigen Wandels wohl einer gesellschaftlichen Struktur und einem Ausbildungssystem gehen, die immer schon der Konkurrenzvermeidung, dem Tradieren von Inhalten, der Festschreibung von Ordnungen dienen? Es stellte sich schnell heraus, dass die in den beruflichen Strukturen enthaltenen Flexibilitätsspielräume nicht ausreichen, um diesen stetigen Wandel ohne ständige Brüche zu bewältigen (Baethge/Baethge-Kinsky 1998). Das Verfahren der Berufsordnung wurde von der einschlägigen Forschung mehr und mehr in Frage gestellt (Baethge 1996; Euler/Sloane 1997). Die staatliche Ordnungsarbeit an den Berufsbildern und Rahmenplänen ist, da komplex und außerdem an die Beteiligung der Sozialpartner gebunden, schwerfällig und langwierig: Ordnungsverfahren dauerten damals nicht selten fünf Jahre und länger. Bei beschleunigtem bzw. stetigem Wandel in der Arbeitswelt brachte dies die Gefahr mit sich, dass die Berufsbilder hoffnungslos veralten – manchmal schon, bevor sie in Kraft sind. Damit geht ein wesentlicher Vorteil der betrieblichen Ausbildung verloren, der darin besteht, ganz eng am Puls der Zeit zu sein. In vielen Fällen wird es für Betriebe schwierig, überhaupt noch auszubilden, weil es das, was an Lerninhalten vorgeschrieben ist, u.U. im Betrieb gar nicht (mehr) gibt. Solche schwerwiegende Diskrepanzen zwischen Ausbildungsrahmenplänen und betrieblicher Wirklichkeit wurden von den Betrieben mehr und mehr als Hemmschuh und Ballast empfunden (Geißler 1991). Die Kritik ging und geht aber noch weiter und betrifft die Möglichkeiten einer Berufsförmigkeit von Qualifikationen unter den Bedingungen des stetigen Wandels überhaupt: Die Innovationszyklen von Produkten und Leistungen werden ständig verkürzt, womit spezielle fachliche Kenntnisse und Fertigkeiten immer kurzlebiger werden. Es wird nun modern, von der immer kürzeren Halbwertszeit des Wissens zu sprechen, nach der die einmal gelernten Inhalte immer schneller veralten. Was macht es da noch für einen Sinn, einen ganzen Beruf am Anfang des Berufslebens erlernen zu wollen? Vielmehr sind ständige Weiterbildungen, Umschulungen und mehrfache Berufswechsel im Lauf des Lebens an der Tagesordnung. Damit ist endgültig die Axt an den Mythos vom Lebensberuf gelegt, d.h. eines Berufs, den man am Ende seiner Jugend lernt und den man dann, wenn man ,ausgelernt‘ hat, für den Rest seines Lebens ausführen kann. Der gelernte Beruf entpuppt sich nun lediglich als eine Ausgangsbasis für einen offenen biografischen Prozess mit vielen möglichen Wechselfällen, der subjektiv die ständige Bereitschaft zu Veränderungen fordert. Diese Erkenntnis wertet das Prinzip der beruflichen Erstausbildung und ihrer Funktion in der Berufsbiografie ab und stellt es in Frage. Stattdessen wird ein verändertes Verhältnis der Anteile von Aus- und Weiterbildung gefordert; der Ruf nach einem lebenslangen Lernen wird nun erstmals laut. Schließlich weisen Kritiker der Berufsförmigkeit darauf hin, dass Fachlichkeit immer mehr lediglich exemplarischen Charakter hat, und dass es in Zukunft immer weniger darauf ankommen wird, was jemand gelernt hat, als darauf, dass man überhaupt selbstständig lernen kann. Die fachberuflich orientierte Ausbildung am Anfang des Berufslebens erschwert es dagegen, den permanenten Wandel in der Arbeitswelt zu verarbeiten. Denn dieser bedeutet berufsbiografische Unvorhersehbarkeit, mehrfachen Berufswechsel sowie den möglichen mehrfachen Wechsel zwischen Phasen abhängiger und selbstständiger Arbeit, Phasen des Lernens, Phasen der Arbeitslosigkeit usw. Der stetige Wandel verlangt daher von den Ausgebildeten vor allem die Fähigkeit, ihr Berufsle-
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ben unter Marktbedingungen selbst zu organisieren. Alles dies spiegelt sich nicht in den Berufsbildern und scheint auch mit dem tradierten Berufsprinzip nicht vereinbar zu sein (Liesering/Schober/Tessaring 1994). Es zeigten sich noch weitere Probleme der berufsgesteuerten Ausbildung im dualen System: Die Bindung der quantitativen Entwicklung der Berufsbildung an den Bedarf bzw. die Kosten-Nutzen-Erwägungen der Unternehmen führt in wirtschaftlich schwierigeren Zeiten (oder bei sehr starken Jahrgängen) regelmäßig dazu, dass viel weniger Lehrstellen angeboten werden, als Bewerber da sind, womit ein großer Teil der betroffenen Jugendlichengeneration ohne Ausbildung zu bleiben droht (Walden/Beicht/Herget 2002). Die Dynamik und die Rahmenbedingungen der Ordnungsarbeit an den Rahmenplänen bringen es mit sich, dass das Anforderungsniveau der Ausbildungsordnungen tendenziell eher zu hoch ausfällt; dies führt mitunter zu hochkomplizierten Lernschritten, die in der Praxis nicht oder nur sehr selten gebraucht werden und keineswegs von jedem Lehrling gelernt werden müssten. Dies wiederum hemmt die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe und überfordert leistungsschwächere Jugendliche, für die es relativ wenige geeignete Berufsbilder gibt. Die Folge: 15% eines jeden Jahrgangs kommen erst gar nicht ins Berufssystem hinein, sondern bleiben ohne berufliche Ausbildung (Greinert 1997). Manche Kritiker des Berufssystems sind der Meinung, dass die Ebene der Ausbildungsberufe auf Dauer ohnehin verschwinden wird. Denn, so wird argumentiert, die Ausbildungsberufe seien nicht in der Lage, die in der Wissensgesellschaft stark gestiegenen fachtheoretischen Anforderungen zu erfüllen (wozu Hochschulausbildungen nötig seien), und auf der anderen Seite würden sie ein Anspruchsniveau definieren, das für diejenigen, die in Zukunft nur noch einfache Hilfstätigkeiten ausführen werden, immer unrealistischer wird und den sozialen Abstieg bereits einprogrammiert enthält (Georg 2001). Auch die Berufsschule wird oft als Schwachpunkt der dualen Ausbildung kritisiert (Kutscha 1992). Die Kritiker des Berufsprinzips nehmen all diese Schwachpunkte zum Anlass, überhaupt ein ganz anderes, vor allem ein hochflexibles, vollkommen offenes Ausbildungssystem ohne Bindung an irgendwelche Berufe, also die Abschaffung der Berufsform zu fordern. Die Befürworter des dualen Systems leugnen heute die aufgezählten Kritikpunkte nicht, interpretieren sie jedoch anders: Für sie sind diese Schwächen nicht Beweise für die Untauglichkeit des Berufssystems, sondern Hinweise auf Herausforderungen, die durch eine Weiterentwicklung des Berufs und der beruflich organisierten Ausbildung zu meistern sind, deren Innovationskraft noch keineswegs erschöpft sei. Was kann man tun, um die Berufe beweglicher zu machen, um ihre strukturelle Flexibilität zu erhöhen? Das ist das zentrale Thema der Berufspolitik seit den 1980er und 1990er Jahre (Dybowski u.a. 1994). 3.2
Die Flexibilisierung der Berufsform
Tatsächlich ist es bemerkenswert, wie innovativ das Berufssystem seit den 1990er Jahren modernisiert und flexibilisiert worden ist. Es setzte ein Politikwandel ein hin zu einer eher breiten beruflichen Grundbildung, die auch nach der Ausbildung noch relativ kurzfristig neue Spezialisierungen und schnelles Umlernen ermöglichen soll. Das begann mit der Neuordnung der Metall- und Elektroberufe im Jahr 1984. Hier wurde nicht nur ein neues System der schrittweisen Spezialisierung auf der Basis einer gemeinsamen berufsfeldbreiten Grundbildung eingeführt, sondern hier wurden die Inhalte des Berufs, das konkrete Ar-
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beitsvermögen, neu gefasst. Wurden in der Berufsausbildung bisher (siehe Abschnitt 3.1) Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt, so taucht nun der Begriff der Qualifikation auf: Während eine Fertigkeit z.B. darin bestand, mit einer Werkzeugmaschine eines bestimmten Typs einen bestimmten Bearbeitungsschritt zu vollziehen (und diese Fertigkeit veraltete, wenn dieser Maschinentyp durch einen anderen oder gar durch eine neue Technologie ersetzt wurde), bedeutet Qualifikation die Fähigkeit, bestimmte berufliche Aufgaben zu lösen, unabhängig von der Art der Werkzeuge, Maschinen und Hilfsmittel. Eine Qualifikation in diesem Sinne ist also allgemeiner, unabhängiger von einem bestimmten Technikstand und offener gegenüber betrieblichen Unterschieden, und sie wird nicht dadurch entwertet, dass technische Veränderungen eintreten – jedenfalls solange die auf verschiedenen möglichen Wegen zu erfüllende Aufgabe überhaupt noch von Menschen erledigt wird. Die Neuordnungstätigkeit wurde in diesen Jahren stark ausgebaut und durch verschiedene Entbürokratisierungsmaßnahmen erheblich verkürzt (eine Neuordnung kann seither bereits in 1-2 Jahren abgeschlossen sein); seit dem Jahr 2000 wurden rund 76 modernisierte und 26 neue Berufe in Kraft gesetzt. Allein im Jahr 2004 waren es über 30, im Jahr 2005 waren es 21. Dies ist der größte Modernisierungsschub seit 1969, als das Berufsbildungsgesetz in Kraft trat, denn nun werden deutlich mehr als die Hälfte neuer Ausbildungsverträge in neu geordneten Berufen abgeschlossen. Ein wichtiges Instrument zur Individualisierung der Ausbildung bzw. zu ihrer flexiblen Anpassung an spezielle Bedarfe der einzelnen Unternehmen ist der Ansatz der so genannten „Zusatzqualifikationen“ (Berger 2000). Ausbildungsbetriebe können demnach im Rahmen der dualen Ausbildung zusätzliche Lerninhalte anbieten, die auch offiziell anerkannt und im Abschlusszeugnis zertifiziert werden. Diese Zusatzangebote dienen den Ausbildungsbetrieben als flexibles Instrument, sich auf einen veränderten Bedarf an Qualifikationen und Nachwuchskräften einzustellen. Das Instrument der Zusatzqualifikationen hat sich auch als Ansatz zur Begabten- bzw. Eliteförderung in der Berufsbildung erwiesen. Es flexibilisiert die Ausbildungsrahmenpläne erheblich und schafft Freiräume für vom Betrieb zu definierende Ausbildungsinhalte. Seit der Neuentwicklung der IT-Ausbildungsberufe 1997 ist der Durchbruch zu gestaltungsoffeneren Ausbildungsberufsbildern gelungen, d.h. zu Berufsbildern, die von vorneherein auf Regulierungen in bestimmten definierten Bereichen verzichten, sondern deren Ausgestaltung den ausbildenden Betrieben überlassen. Bisheriger Höhepunkt dieser Entwicklung ist die Neuordnung der Metall- und Elektroberufe 2002, vor allem im Hinblick auf zwei geradezu revolutionäre Elemente: Das letzte Halbjahr der Ausbildung wird inhaltlich bewusst offen gelassen und kann vom Betrieb mit seinen dann aktuellen Inhalten gefüllt werden, und ein wesentlicher Teil der Abschlussprüfung besteht in einem „betrieblichen Auftrag“.18 Das heißt, hier werden keine Prüfungsaufgaben von außen gestellt, sondern der Betrieb bescheinigt, dass der Kandidat eine vorher mit dem Prüfungsausschuss abgestimmte reale betriebliche Aufgabe erfolgreich erledigt hat, die er auch nur mit den betriebsüblichen Mitteln dokumentieren muss. Der Prüfungskommission bleibt nur noch ein offenes Fachgespräch darüber. Abschlussprüfungen können heute teilweise handlungsorientiert gestaltet
18 Siehe auf der Homepage des Bundesinstituts für Berufsbildung zu den neuen industriellen Elektroberufen: www.bibb.de, Abrufdatum: 8.5.2009.
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werden, um den Anforderungen an die Ausbildung von Handlungskompetenzen Nachdruck zu verleihen.19 Zu den Flexibilisierungsbemühungen der 1980er Jahre gehören ferner neben verschiedenen Gabelungsmöglichkeiten in der Berufsausbildung auf einer relativ breiten gemeinsamen Grundlage verschiedene Formen der Verzahnung und Überlappung von Aus- und Weiterbildung. Die Abhängigkeit der Ausbildung im dualen System von der Wirtschaftslage versucht man schon immer durch subsidiäre Strukturen auszugleichen: Bildet die Wirtschaft zu wenig aus, wird die Ausbildungskapazität der vorhandenen außerbetrieblichen Ausbildungen erhöht; die Diskussion um die Finanzierung (Ausbildungsabgabe) ist bekannt. Berufsförderungsmaßnahmen für nicht ausbildungsreife Jugendliche sowie ein System ausbildungsbegleitender Hilfen (ABH) sollen die mitunter auftretende Kluft zwischen individueller Leistungsfähigkeit der Jugendlichen und den hohen Anforderungen der Ausbildung überbrücken helfen. In den Berufsschulen wird (seit ca. 1998) das „Lernfeldkonzept“ eingeführt (Zedler 2000): Lernfelder beschreiben für den berufsbezogenen Unterricht komplexe, inhaltlich zusammengehörende thematische Einheiten, denen berufliche Handlungsfelder zugrunde liegen. Sie begünstigen einen handlungsorientierten Unterricht und fördern die Berufskompetenz (lösen allerdings auch einen Grundsatzstreit über die Vor- und Nachteile von Handlungs- oder Fachsystematik aus). Es gibt sehr viele (allerdings bisher meist nur modellhafte) Ansätze, um die Kooperation zwischen Betrieb und Berufsschule zu verbessern. Die Aktivitäten betreffen gemeinsame Projekte, Abstimmungsverfahren und Zusammenarbeit bei Prüfungen. Es wurden u.a. so genannte Kooperationsstellen eingeführt. In diesen Kooperationsstellen treffen sich Ausbilder, Lehrer und andere an der Berufsausbildung beteiligte Akteure in regelmäßigen Abständen, um den Ausbildungsprozess gemeinsam zu gestalten. Das alles heißt: Die Berufsform wird zunehmend geöffnet, individualisiert und zur äußeren Hülle, in der ganz unterschiedliche, in der jeweiligen Situation aktuelle Inhalte enthalten sein können. Die Berufsordnungsverfahren unterliegen einer zunehmenden Deregulierung hinsichtlich der Festlegung von Qualifikationsinhalten, während die Form des Berufs als beschreibbarer und prinzipiell vergleichbarer Kanon von beruflichen Qualifikationen, die systematisch ausgebildet und durch eine Abschlussprüfung bestätigt werden, jedoch (noch) gewahrt bleibt. In der KMK gibt es ferner seit 2002 Überlegungen zur Einführung von Basisberufen. Basisberufe werden verstanden als Ausbildungsberufe, die durch Vermittlung eines breiten beruflichen Orientierungswissens gekennzeichnet sind, an das sich ergänzendes Vertiefungswissen anschließen kann. Fundamentale Qualifikationsziele können nach den Grundfunktionen der Berufe (z.B. Produzieren, Dienstleisten, Gestalten) gruppiert werden. Die Bezugspunkte der Basisberufe sind Arbeitszusammenhänge und -prozesse und nicht mehr ausschließlich spezifische berufliche Tätigkeiten – die in Form der exemplarischen Fachbildung aber weiterhin in der Ausbildung enthalten sind. Die Ausbildung in Basisberufen bildet die Grundlage für ein Berufskonzept, das die Notwendigkeit lebenslangen Lernens einschließt. Die Verknüpfung der Ausbildung mit der Weiterbildung ist hier deshalb gegeben, weil die erforderliche betriebsspezifische Spezialisierung nur noch begrenzt innerhalb der beruflichen Erstausbildung stattfindet. 19
In den letzten Jahren wurden vielfältige neue Prüfungsformen entwickelt, erprobt und zugelassen; u.a. wurde auch ausprobiert, wie im Rahmen der so genannten gestreckten Prüfungen Vorleistungen aus der Ausbildung in die Abschlusszeugnisse einbezogen werden können.
Berufliche Bildung 3.3
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Schlüsselqualifikationen und die kompetenzorientierte Wende in der Berufspädagogik
Alle diese Bemühungen um flexiblere Strukturen der Berufsform kommen aber an eine logische Grenze: Wenn man irgendetwas Bestimmtes gelernt hat, hat man ganz viel Anderes eben nicht gelernt, und damit erweist sich die Fachlichkeit von Qualifikationen als solche als das eigentliche Flexibilitätshindernis im permanenten Wandel. Hier setzt nun der nächste Akt im Drama der Relativierung der Berufsform an. Es begann mit einem eher als Gedankenexperiment gemeinten Aufsatz von Dieter Mertens aus dem Jahr 1974, in dem er den Begriff der „Schlüsselqualifikationen“ (Mertens 1974) kreierte. Dieter Mertens hatte beobachtet, dass Reichweite und Anwendbarkeit beruflicher Qualifikationen sehr unterschiedlich sind. So gibt es manche Qualifikationen, wie etwa das Hohlglasblasen, die auf ein einziges Anwendungsfeld beschränkt sind, und andere, wie etwa technisches Verständnis, logisches Denken, Teamfähigkeit, die sich in sehr vielen bzw. fast allen Berufstätigkeiten finden. Die letzteren nannte er Schlüsselqualifikationen, d.h. Qualifikationen, die von speziellen beruflichen Einsatzbedingungen weitgehend unabhängig und ziemlich universell einsetzbar sind und somit einen Schlüssel zu einer Vielzahl von beruflichen Betätigungen eröffnen. Man entdeckte, dass Berufstätigkeit generell keineswegs nur auf fachlichen Qualifikationen beruht, sondern dass diese überhaupt erst zum Tragen kommen können, wenn sie sich mit bestimmten Anwendungsqualifikationen verbinden, die wiederum berufsübergreifend sind. Dazu gehört z.B. die Fähigkeit, mit anderen zusammen im Team zu arbeiten – mit allen weiteren sozialen Anforderungen, die damit verbunden sind. In jedem Beruf muss man sich konzentrieren können, man sollte kostenbewusst sein und zuverlässig u.v.a.m. Lange Kataloge von solchen Schlüsselqualifikationen entstanden, alle mit offenem Ende. Besonders interessierten dabei jene, die unmittelbar etwas mit der Bewältigung des Wandels zu tun haben: Flexibilität wurde selbst als persönliche (Grund-) Fähigkeit bzw. innere Haltung aufgefasst, eben als eine Schlüsselqualifikation. Lernbereitschaft bzw. Lernfähigkeit waren und sind weitere persönliche Voraussetzungen, um den Wandel zu meistern, die nun plötzlich im Zentrum der Berufsbildung standen. Schlüsselqualifikationen wurden als die Lösung des beruflichen Flexibilitätsproblems gewissermaßen ex ovo betrachtet: Menschen mit so vielen Schlüsselqualifikationen und mit den allgemeinen Grundlagen für ein breites Fachgebiet auszustatten, die auf keinen bestimmten Zustand der Arbeitswelt festlegen, sondern allgemeine berufliche Handlungsfähigkeit (einschließlich der Fähigkeit, sich relativ kurzfristig in eine spezielle Aufgabe einzuarbeiten) begründen und damit ihren Inhaber in die Lage versetzen, auch jede neue Situation zu bewältigen. Die Grenzen des Berufs weiten sich aus zu einem sehr weiten Fachbereichs, für den die qualifikatorischen Grundlagen und die Voraussetzungen für ständiges flexibles Lernen geschaffen werden und innerhalb dessen die Arbeitenden sich relativ frei bewegen können. Dieses Konzept findet sich in der Konzeption der Beschäftigungsfähigkeit wieder, die in der EU den Beruf als Leitziel der beruflichen Bildung ersetzen soll. Das bedeutet im Grunde das Ende des Berufsprinzips in der in Deutschland bekannten Form. Der Schlüsselqualifikationsgedanke wurde in den 1980er Jahren in der Berufsbildung begierig aufgegriffen und immer weiter verfolgt. Zwar nicht in der radikalen Form einer Auflösung des Berufs, aber doch etwa mit folgender Überlegung: Wenn es gelänge, in die einzelnen Berufe möglichst viele solcher quasi-universellen Schlüsselqualifikationen ‚einzubauen‘ und diese auszubilden, dann könnte man den Arbeitenden entscheidend helfen,
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mit dem stetigen Wandel zurechtzukommen und sich problemlos auf immer wieder neue Verhältnisse und Anforderungen einzustellen, so lange diese sich im jeweiligen Fachgebiet abspielten. Kern eines Berufsbilds bleiben aber nach wie vor fachliche Qualifikationen, wenn auch deutlich relativiert. Jeder, der mit Beruf und Berufsbildung zu tun hat, weiß, dass eine hohe Fachlichkeit alleine nicht ausreicht, um einen Beruf erfolgreich auszuüben, sondern dass eine ganze Reihe von fachübergreifenden Qualifikationen dazu kommen muss, deren Profil von Beruf zu Beruf unterschiedliche Schwerpunkte haben kann. Die Neuordnung 1984 erweitert den Qualifikationsbegriff um diesen Aspekt: Eine Qualifikation ist ein Bündel subjektgebundenen Wissens und Könnens, das zur Ausführung bestimmter Aufgaben befähigt. Was an Schlüsselqualifikationen dazugehört, bleibt unbenannt und implizit, soll aber ausgebildet werden. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts tritt die Diskussion um die Schlüsselqualifikationen in eine neue Phase ein: Zum einen erweisen sich die immer neuen immer endloseren Kataloge solcher Schlüsselqualifikationen als nicht weiterführend. Zum anderen wird deutlich, dass sich der Wandel im Beruf nicht organisatorisch und nicht durch einzelne besondere Qualifikationen bewältigen lässt, sondern dass letztlich die Arbeitenden selbst den Weg finden müssen, wie sie das, was sie können, auf neue Situationen übertragen, bzw. wie sie mit dem, was sie können, selbst zu initiativen und innovativen Akteuren des Wandels werden können. In der Arbeitswelt selbst tritt nun ein neuer Aspekt des Wandels verstärkt in den Vordergrund, nämlich seine Unvorhersehbarkeit und Offenheit. Der Charakter der (menschlichen) Arbeit selbst hat sich auf vielen Gebieten verändert: weg von einer regelhaften Anwendung richtiger Mittel zum Erreichen vorgegebener Ziele – hin zum Bewältigen offener, unbestimmter Situationen. Arbeit beginnt damit, gegebene Situationen erst einmal zu erkunden, um herauszufinden, worum es geht und was erreicht werden soll, und um die dazu geeigneten Mittel auszuwählen und einzusetzen. Beispielhaft wird das deutlich am kundenorientierten Vorgehen, bei dem der Arbeitende sich erst einmal auf den Kunden einlassen und aus dieser Orientierung alles Weitere entwickeln muss. Diese neue Arbeitsqualität wird universell im Zusammenhang mit der Verbreitung der IT-Techniken und der Automatisierung von Arbeitsabläufen: Computergesteuerte Maschinen übernehmen sämtliche normalen, regelhaft ablaufenden Arbeiten. Alle nicht nach der Regel verlaufenden, nicht normalen, überraschenden, unvorhersehbaren und nicht planbaren Arbeiten bzw. Aufgaben, die erst im Arbeitsvollzug selbst auftauchen, bleiben den Menschen überlassen. Das heißt zugleich: unplanbare Tätigkeiten nehmen in der menschlichen Arbeit zu. Dabei handelt es sich z.B. um Tätigkeiten der Störungsbeseitigung, um Reparaturen, um Beratungen und Betreuungen, überhaupt um alle interaktiven Tätigkeiten, bei denen die Reaktionen des Gegenübers und damit der ganze Prozess nicht standardisiert werden können, und um alles, was neu ist oder neu erforscht oder ausprobiert werden muss. Ähnliches gilt für die Entwicklungstendenzen auf dem Gebiet der Arbeitsorganisation: Schon in den 1990er Jahren wurde hier zunehmend entformalisiert, d.h. die genauen Vorgaben an der Basis wurden zurückgenommen und den Arbeitenden bzw. den Arbeitsgruppen zur eigenen Ausgestaltung überlassen. Die Organisationsphilosophie des „Lean Management“ (Womack/Jones 1997) zeigte außerdem, dass dies der wesentlich wirtschaftlichere Weg ist, ganz abgesehen davon, dass die Unternehmen mit solchen offenen Strukturen am Besten für den weiter zunehmenden Wandel gerüstet sind. Dieser Aspekt des Wandels hat erhebliche Konsequenzen für die Anforderungen an die Arbeitenden: Diese müssen in der Lage sein, sich auf offene Prozesse, d.h. auf eine
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unbestimmte Arbeitssituation einzulassen, in der es kaum Normen und Regeln gibt und in der man auch nicht von klaren Zielvorstellungen ausgehen kann. Vielmehr muss man sich wahrnehmungsgeleitet vorantastet und schließlich zu einem sachgemäßen Ergebnis kommen, das sich aber erst aus dem Prozess ergibt. Auch die neuen Organisationsformen können nur funktionieren, wenn die Arbeitenden in der Lage sind, selbstständig zu entscheiden und zu gestalten, sich abzusprechen und dabei den Gesamtzusammenhang im zu Auge behalten, und wenn sie mit ihrem fachlichen Wissen und Können entsprechend souverän umgehen können. Seit Ende der 1990er Jahre wird auf diesem Feld viel geforscht, um die Besonderheiten des Arbeitshandelns in solchen Situationen beschreiben zu können, die sich mit dem klassischen zielbezogenen Arbeitsbegriff nicht mehr fassen lassen. Von „subjektivierendem Arbeitshandeln“ (Böhle/Pfeiffer/Sevsay-Tegethoff 2004) bzw. von „erfahrungsgeleitetem Handeln“ (Bauer u.a. 2006) oder auch „künstlerischem Handeln“ (Brater u.a. 2002) ist hier nun die Rede.20 Diese Forschungen gehen über die Schlüsselqualifikationsdiskussion hinaus und heben sie auf eine neue qualitative Ebene. Nun tritt nämlich die Selbstverfügung der Arbeitenden über die Anwendung ihres fachlichen Wissens und Könnens in einer von ihnen selbst zu konkretisierenden Situation in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Diese neue Qualität drückt sich in der zunehmenden Ablösung des Schlüsselqualifikationsbegriffs aus, der ersetzt wird durch den – nun neu definierten, präzise bestimmten – Begriff der Kompetenz. Kompetenzen sind etwa für John Erpenbeck „Dispositionen für selbstorganisiertes Handeln“ (Erpenbeck/Heyse 1999): Dispositionen – das heißt nicht spezifische Qualifikationen, sondern eine allgemeine personale Haltung, eine Art Hintergrundbereitschaft; selbstorganisiertes Handeln – das heißt selbstbestimmtes, eigeninitiiertes Handeln, kein Handeln nach Vorgabe, sondern nach den Erfordernissen der Situation und den eigenen Intentionen. Kompetenz ist damit eigentlich keine Fähigkeit, und Kompetenz kommt nicht zu den fachlichen Qualifikationen hinzu, sondern bezeichnet eine Art Beherrschungs- und Verfügungsgrad über diese (fachlichen) Qualifikationen. Zugleich bleibt Kompetenz aber ein Merkmal der Person, das sich auf unterschiedliche fachliche Inhalte bezieht. Kompetenzen sind „Befähigungen, mit neuen Situationen und bisher unbekannten Handlungsanforderungen erfolgreich umgehen zu können“ (Erpenbeck/Rosenstiel 2003). Berufe als Kompetenzbündelungen zu betrachten, anstatt als Kombinationen von inhaltlich bestimmen Qualifikationen, ist viel mehr als ein Wechsel der Wortwahl. Es bedeutet nämlich: Die Berufsausbildung soll nicht nur bestimmte Inhalte vermitteln, sondern anwendungsoffene Werkzeuge, über deren Verwendung und Einsatz die Arbeitenden in der jeweiligen Situation selbstständig entscheiden können (und müssen). Berufe sind gewissermaßen Werkzeugkästen geworden, die ein breites, von konkreten betrieblichen Arbeitssituationen abgelöstes, gleichwohl auf sie beziehbares Qualifikationsinstrumentarium enthalten. Die Stufe der Kompetenz setzt die Berufstätigen in die Lage, mit diesem Instrumentarium vielfältige unvorhersehbare und nicht planbare Situationen, die Wechselfälle des Wandels, zu bewältigen. Damit ist eine neue Qualität der Berufsform erreicht: Der Bezug des Berufs zu bestimmten betrieblichen Einsatzsituationen ist vollständig gelöst, es geht nur noch um die souveräne, selbstgesteuerte Verfügung des Arbeitenden über sein berufliches Wissen und Können zur Bewältigung von im Voraus nicht näher festlegbaren, unbestimmten Aufgaben. Der Arbeitende mit abgeschlossener Ausbildung soll fähig sein, solche Aufgaben – wie immer sie aussehen – mit Hilfe seines Werkzeugkastens selbstständig und 20
Siehe zu erfahrungsgeleitetem Handeln auch den Beitrag von Fritz Böhle „Arbeit als Handeln“ in diesem Band.
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originell zu lösen. Damit verliert der Beruf den direkten Arbeitsplatzbezug seiner früheren Formen und wird zur sozialen Form der Ausstattung der berufstätigen Person für selbstständiges berufliches Handeln in unvorhersehbaren Situationen ihres Fachgebiets. In der Neuordnung der industriellen Elektroberufe 2003 sind diese neuen Prinzipien der Berufsgestaltung bisher am weitesten realisiert: Für die insgesamt 7 Elektroberufe gibt es eine gestufte gemeinsame Grundbildung und gemeinsame Kernqualifikationen (z.B. Planen und Organisieren der Arbeit, Bewerten der Arbeitsergebnisse), die mit den jeweiligen Fachqualifikationen der Einzelberufe integriert vermittelt werden sollen.21 3.4
Flexibilisierung der Berufsbildung und ihre Bedeutung für die Berufsbiografie
Die Realität am Arbeitsmarkt, so wird deutlich, hat die Vorstellungen vom Beruf längst überholt. Das hat enorme Folgen für die Berufstätigen: Sie müssen sich nun immer mehr auf ein Berufsleben voller möglicher Wechselfälle einstellen, vor denen ihr Beruf sie nicht mehr zu schützen vermag, die dieser aber auch nur schwer mit vollziehen kann. Die Flexibilitätsgrenzen der bestehenden beruflichen Strukturen müssen kompensiert werden durch Flexibilität und Wechselbereitschaft als subjektive Tugenden, denen alte Tugenden wie die Berufsverbundenheit und Betriebstreue entgegenstehen. Eine Art Wertewandel setzt ein, in dem Kritiker wie Richard Sennet (Sennet 1998) die Bedrohung langfristiger Perspektiven erkennen, die durch die Orientierung am ,Flüchtigen‘ abgelöst werden. Das Problem reicht tiefer. Im Unterschied zum alten Muster geordneten beruflichbiografischen Wandels, der Karriere, kommen die Wendungen und Brüche in der Berufsbiografie nun allesamt von außen, und zwar ungeplant und unberechenbar. Das ist ein Charakteristikum des Wandels, dem wir später noch mehrfach begegnen werden. Wenn berufliche Qualifikationen ,veralten‘, dann hat das nichts mit dem Berufstätigen zu tun, der irgendetwas falsch macht, sondern mit einem Wandel der Arbeitstechniken und -abläufe, die wie eine Art Schicksal über ihn kommen und für ihn persönlich Berufsverlust und die Notwendigkeit einer Neuorientierung bedeuten. Seine Biografie droht, zum Spielball anonymer, für ihn kaum durchschaubarer Mächte zu werden. Kontinuität, so etwas wie ein ‚roter Faden‘ in der Berufsbiografie – der bisher vom Lebensberuf garantiert wurde – gibt es unter diesen Bedingungen für den Einzelnen kaum mehr; es wird schwer, Identität als biografisch bewährte Einheit der Person, soweit sie an den Beruf gebunden ist, aufzubauen und zu wahren. „Wie kann ein Mensch in einer Gesellschaft, die aus Episoden und Fragmenten besteht, seine Identität und Lebensgeschichte zu einer Erzählung bündeln?“ fragt Richard Sennett (Sennett 1998: 31). Wo der Lebensberuf zerfällt, drohen die Berufstätigen zu ‚Kartoffeln‘ zu werden, deren ‚Koch‘ anonym und unerkennbar im Hintergrund bleibt. Der Beruf als ,Arbeitskräftemuster‘ wird also, biografisch gesehen, lediglich zu einer Art Startaufstellung für einen ansonsten offenen, unbestimmten und unvorhersehbaren Prozess namens Berufsbiografie. Da liegt es nahe, sich zu fragen, wie er denn beschaffen sein müsste, damit er seinem Inhaber möglichst gute Voraussetzungen bietet, um die kommenden Abenteuer zu bestehen. Eine wichtige Anwendung des Denkens in Kompetenzen statt Qualifikationen findet sich im Zusammenhang mit den Problemen, die sich aus dem stetigen Wandel für die Be21 Siehe auf der Homepage des Bundesinstituts für Berufsbildung zu den neuen industriellen Elektroberufen: www.bibb.de, Abrufdatum: 8.5.2009.
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rufsbiografien ergeben. Die Gefahr, zum Spielball fremder Mächte zu werden und Kontinuität und Zusammenhang in der eigenen Biografie zu verlieren, kann mit dem Kompetenzbegriff zumindest gedanklich gebannt werden: Claudia Munz hat gezeigt, wie „berufsbiografische Gestaltungsfähigkeit“ (Munz 2005), als Kompetenz verstanden, den Einzelnen aus seiner passiven Rolle erlöst und trotz aller Fremdbestimmung den Anspruch der aktiven Gestaltung seines Berufslebenslaufs – den Anspruch, ,Koch‘ zu sein – enthält. So betonen John Erpenbeck und Volker Heyse unter Rekurs auf Werner Sarges und Reiner Fricke, „daß Kompetenzen als Dispositionen beschrieben werden, die dazu dienen, eine ,offene‘ Zukunft produktiv und kreativ zu bewältigen“ (1999: 163, Hervorh. i.O.). Hier zeigt sich, wie auch in der Forschung allmählich der stetige Wandel nicht nur als Bedrohung und Belastung interpretiert wird, sondern wie in ihm auch neue Chancen für die betroffenen Menschen erkennbar werden, ihr Leben immer mehr selbst in die Hand zu nehmen und ihre eigenen Formen und Antworten zu finden. Interpretiert man den Wandel der Arbeitswelt im Allgemeinen und das Schicksal der Berufsform im Besonderen als Teil des globalen Individualisierungsprozesses (Beck 1986), wird deutlich, wie der individuellen Verarbeitung dieses Individualisierungsprozesses ein Dreischritt zugrunde liegt: Am Anfang steht der Verlust von Sicherheit und Schutz im Vordergrund, dann werden die darin enthaltenen Chancen für Selbstbestimmung und Selbstgestaltung bewusst, und dann läuft alles auf die Frage zu, welche Kräfte und Fähigkeiten der Einzelne braucht, um diese Chancen zu ergreifen, und wie er sie erwerben kann. 3.5
Berufsbildung wird Persönlichkeitsbildung
Die Debatte um die Schlüsselqualifikationen hat das Flexibilitätsproblem von der Strukturebene auf die Ebene des persönlichen Verhaltens und der persönlichen Fähigkeiten der Berufstätigen verlagert. Wandlungen in der Arbeitswelt können aufgefangen und umgesetzt werden, wenn sich die Berufstätigen flexibel verhalten und in der Lage sind, sie in gewandeltem Verhalten zu verarbeiten. Die dafür notwendigen persönlichen Voraussetzungen sollten sie (spätestens) in der Berufsbildung vermittelt bekommen. Hier müssen ihnen Kompetenzen vermittelt werden, bzw. hier müssen ihre Qualifikationen auf die Stufe der Kompetenz gehoben werden. Die kompetenzorientierte Wende ist eine Frage nicht der Berufsstruktur und -konstruktion, sondern der beruflichen Bildung (Zedler 2004). Die Berufsbildung, die bis dahin ausschließlich dem fachlichen Eintrainieren diente, soll seit den 1980er Jahren Schlüsselqualifikationen wie Lernbereitschaft, Teamfähigkeit und Flexibilität, nach der kompetenzorientierten Wende auch Dispositionen zu selbstorganisiertem Handeln fördern – Fähigkeiten, die offenbar der Person nicht äußerlich bleiben, sondern etwas mit ihrer inneren Ausstattung, mit ihrem ‚Charakter‘, mit ihrer ‚Persönlichkeit‘ zu tun haben. Berufsbildung bekommt damit „Persönlichkeit bildende“ Aufgaben (Brater u.a. 1988) oder, anders gesagt, sie muss Erziehungsaufgaben übernehmen. Hier wird deutlich, wie wenig der Beruf abgelöst werden kann von der Person des Berufstätigen: Wie gut jemand im Beruf zurecht kommt, hängt nicht nur davon ab, was er fachlich kann und welchen Umfang sein Sachkönnen hat, sondern offenbar auch davon, was für ein Mensch er ist. Und von der Berufsbildung wird nun erwartet, sich um diese persönliche Entwicklung zu kümmern.
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Es lohnt sich, hier kurz innezuhalten und diesen wichtigen Entwicklungssprung zu bedenken. Berufsbildung, die in der neuhumanistischen Tradition gar keinen Bildungswert hat, soll und muss nun plötzlich tief in persönliche Bereitschaften, Haltungen und Dispositionen hinein bildend wirken. Das revolutioniert das bisherige Bildungsverständnis und hebt den in unserer Gesellschaft tief verwurzelten Gegensatz von beruflicher und allgemeiner Bildung auf. Interessanterweise wehrten sich auch zunächst gerade viele Berufsausbilder gegen diese Erziehungsforderung: Schließlich kommen sie aus der Tradition der Beschränkung auf das rein Fachliche, und man hat ihnen ja auch niemals die nötigen pädagogischen Instrumente an die Hand gegeben, um den neuen Erwartungen gerecht zu werden. Und schließlich wurde die Schlüsselqualifikationsdebatte zum Anlass und zur Gelegenheit, Berufsbildung konsequent unter dem Bildungsgesichtspunkt zu durchleuchten und weiterzuentwickeln: Mit dem Ansatz der Schlüsselqualifikationen im Rücken konnte man Berufsbildung konsequent als das durchdenken, was sie im Grunde immer schon war, nämlich als eine – meist die letzte – Station der formellen Bildung junger Menschen. Nun wurde es dank der Schlüsselqualifikationen legitim, ja notwendig, sich diesem Persönlichkeit bildenden Aspekt der Berufe und der Berufsbildung bewusst zuzuwenden. Hatte sich die Berufspädagogik in der Vergangenheit hauptsächlich mit fachdidaktischen Fragen beschäftigt, traten nun die dahinter liegenden Bildungsfragen ins Bewusstsein. Die entscheidende Frage war zunächst: Wie kann man Schlüsselqualifikationen gezielt und bewusst vermitteln? Das ist die berufspädagogische Kernfrage der 1980er und 1990er Jahre. Schnell wird klar, dass man sie überhaupt nicht ‚lehren‘ kann wie fachliches Wissen oder fachliches Können: Ein Vortrag über die Wichtigkeit von Flexibilität macht noch lange nicht flexibel, wie es auch kaum einen ‚Kurs für Flexibilität‘ gibt, und auch die VierStufen-Methode (vgl. Abschnitt 2.1) versagt. Vielmehr wurde bewusst, dass die Lernenden Schlüsselqualifikationen bzw. Handlungskompetenzen dann ausbilden, wenn sie in Handlungssituationen kommen, in denen genau diese Schlüsselqualifikationen gebraucht werden. Damit wurde die Berufsbildung offen für das Handlungslernen. In den 1980er und 1990er Jahren wurde es daher modern, im Rahmen der betrieblichen Berufsausbildung verschiedene Aktivseminare einzubauen: Soziales (gruppendynamisches) Training, erlebnispädagogische Touren (Bauer 1995), künstlerische Übungen (vgl. Brater 1981; Brater/Büchele/Reuter 1985; Brater/Reuter-Herzer 1986; Brater/Reuter-Herzer 1991; Brater/Büchele/Gleide 2002) sind bis heute wichtige schlüsselqualifizierende Bereicherungen der betrieblichen Ausbildung. Allmählich wurde aber auch klar, dass die Berufsausbildung in ihrem fachlichen Kern immer schon Handlungslernen ist (denn Bohren lernt man letztlich nur, indem man bohrt). Das reformpädagogische Thema des „Bildungswerts der Arbeit“ (Stratmann/Bartel 1975) wurde in gewandelter Form wiederaufgegriffen (z.B. bei Erhard Fucke 1980), denn es war klar, dass sich die Bildung von Schlüsselqualifikationen nicht im luftleeren Raum vollziehen kann, sondern das Erlernen der Fachqualifikationen als Basis und ‚Träger‘ benötigt. Die Frage, was man eigentlich lernt, wenn man Hobeln lernt, wurde wieder aktuell. Gegenüber den früheren arbeitspädagogischen Ansätzen kam man nun jedoch eine entscheidende Stufe weiter, indem man erkannte: Ob der persönliche Fähigkeiten bildende Gehalt konkreter Arbeiten pädagogisch zum Tragen kommt oder nicht, ist eine Frage der Lernmethode. Die kam nun auf den Prüfstand, und schnell wurde klar, welche Schlüsselqualifikationen die Vier-Stufen-Methode eigentlich bildet: Genaues Nachvollziehen von Vorgaben, Bindung an den ‚einzig richtigen‘ Weg, handeln aus Routine und Gewohnheit, Fragmentierung
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beruflicher Aufgaben in Teiltätigkeiten, wie es der tayloristischen Phase der Arbeitsorganisation entsprochen hat, heute aber kontraproduktiv geworden ist. Die Vier-Stufen-Methode verhindert also geradezu die Ausbildung solcher Schlüsselqualifikationen, wie sie im modernen Arbeitsleben benötigt werden. Diese Erkenntnis führte zur Suche nach alternativen schlüsselqualifizierenden Methoden für die berufliche Fachausbildung. Fündig wurde man wiederum bei reformpädagogischen und handlungsorientierten Konzepten: So hielt die Projektmethode zunehmend Einzug in die industriellen Lehrwerkstätten; Gruppenarbeit wurde auch in der Ausbildung modern, um soziale Kompetenzen (mit) zu schulen; ebenso kamen, je nach Fachgebiet, Methoden wie Fallstudien, Erkundungen, Lern- und Planspiele (Brater/Landig 1996) usw. zum Einsatz. Mit der kompetenzorientierten Wende stellte sich diese Bildungsfrage noch radikaler: Es sollte nicht mehr nur Handlungsfähigkeit, sondern selbstständige Handlungsfähigkeit, die freie Verfügung des Arbeitenden über sein Wissen und Können erreicht werden. Wie lernt man so etwas? Die Grundlagen des Handlungslernens blieben erhalten, aber nun wurde es auch immer unabwendbarer, das Grundparadigma des Lehrens und Lernens, das bis dahin galt, in Frage zu stellen: Wenn man Selbständigkeit nicht von einem dozierenden Ausbilder lernen kann, sondern wenn sie nur in Situationen handelnd gelernt werden kann, in denen sie tatsächlich gefordert wird, dann müssen solche Situationen im Mittelpunkt der Ausbildung stehen. Damit greift die Berufliche Bildung heute zunehmend auf selbstständigkeitsförderliche methodische Ansätze wie das selbstgesteuerte Lernen und das entdeckende Lernen zurück, bei denen nicht mehr das Lehren, sondern das Lernen im Mittelpunkt steht: Niemand sagt hier mehr, wie es richtig geht, sondern es werden reale Aufgaben gestellt, an denen die Lernenden (mit abwartender Unterstützung durch die Ausbilder) selbst herausfinden müssen, wie sie zu lösen sind. Mit dieser radikalen Abkehr von der Vier-Stufen-Methode verändert sich auch die Rolle des Ausbilders fundamental: Vom „Unterweiser“ wird er zum „Lernbegleiter“ (Bauer u.a. 2007). Damit ist eine vollständige pädagogische Wende vollzogen: Das Erlernen der Fachinhalte ist nun zum Anlass und Mittel geworden, um an ihnen und in eins mit ihnen Schlüsselqualifikationen und Handlungskompetenzen zu erwerben. Die Fachinhalte sind ein Bildungsmittel geworden (z.B. Fucke 1980). Verblüffend jedoch ist, wie langsam sich diese Wende auch in der Praxis herumspricht: Immer noch gilt hier vielen im 21. Jahrhundert die Vier-Stufen-Methode als die ‚eigentliche‘ Methode der Berufsausbildung, und nur relativ wenige Ausbilder verstehen sich schon als Lernbegleiter. Auf dem eingeschlagenen Weg vollzieht die Berufsbildung derzeit noch einen weiteren, vor dem Hintergrund der Kompetenzdebatte, folgerichtigen Schritt: Lernen, wie man mit unvorhersehbaren Problemen fertig wird und sich dabei selbstorganisiert aus seinem ‚Werkzeugkasten‘ bedient, kann man grundsätzlich in veranstalteten, formalen Lernsituationen nur sehr begrenzt, wenn überhaupt. Am besten lernt man es vielmehr dort, wo es tatsächlich stattfindet und gebraucht wird – und das ist der reale Arbeits- bzw. Geschäftsprozess selbst. Unplanbare Arbeitssituationen kann man schlecht planvoll veranstalten, und die Lernerträge von Spielsituationen müssen erst einmal in die Arbeitsrealität transferiert werden (woran viele scheitern). Abgesehen davon gebietet es der Gedanke der pädagogischen Ökonomie, dass es sich bei den fachlichen Situationen, in denen Kompetenzen gebildet werden sollen, um aktuelle und realitätsnahe Situationen handelt – veranstaltete Lerninstitutionen wie die Lehrwerkstatt, die Schule, auch Seminare haben aber das Problem, immer hinter den Veränderungen der Realität her zu hinken.
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Alle diese Erkenntnisse führten dazu, dass man heute dabei ist, die Ausbildung immer mehr dorthin zu verlagern, wo der Beruf tatsächlich ausgeübt wird: in den Betrieb, in den realen Arbeitsprozess (Brater/Büchele 2001). Das „Lernen in der Arbeit“ (Bauer u.a. 2004) oder geschäftsprozessorientierte Lernen breitet sich immer mehr aus, die Bedeutung der ,gesonderten‘ Berufsbildungsorte – Lehrwerkstatt, Schule, Übungsfirma u.ä. – nimmt insgesamt ab bzw. übernimmt Vorbereitungs- oder Ergänzungsaufgaben für das Lernen in der Arbeit. Dieses Lernen in der Arbeit ist zum Herzstück der Berufsbildung geworden. Auch in der beruflichen Weiterbildung greift man mit Ansätzen wie Action Learning (Donnenberg 1999), Praxisforschung (Altrichter/Posch 2007), projektförmigem Lernen oder „Lernen am eigenen Problem“ (Brater/Dahlem/Maurus 2004) immer mehr auf Formen zurück, die das Lernen mit den Forderungen der realen Arbeit möglichst unmittelbar verbinden. Eine besondere Herausforderung besteht bei diesem (‚informellen‘) arbeitsintegrierten Lernen darin, die Grundsätze des selbstgesteuerten und entdeckenden Lernens auch am Lernort ‚betriebliche Arbeitsrealität‘ beizubehalten und dort nicht wieder in die überholten Formen der so genannten Beistelllehre zurückzufallen.
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Herausforderungen und Perspektiven: Die europäische Dimension der Berufsbildung
Die zuletzt geschilderten Entwicklungen von Beruf und Berufsbildung beschreiben die Fortschrittsspitze dieser Bewegung, die im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts allenfalls in einer Reihe von Pionierbetrieben und -ausbildungsstätten realisiert ist. Die nachfolgenden Jahre dürften daher vor allem die Aufgabe haben, diese Entwicklungen zu verbreiten, zu generalisieren und auf immer mehr Berufsfelder und Ausbildungsträger zu übertragen. Angesichts der beeindruckenden Ungleichzeitigkeit der Verhältnisse und Entwicklungen in der beruflichen Bildung ist das eine gewaltige Aufgabe. Dazu gehört immer auch die Abstimmung mit den Berufsschulen, die mit dem Konzept der Lernfelder nachgezogen haben und damit ein schulisches Pendant zur Geschäftsprozessorientierung schufen – gegen z.T. heftigen Widerstand mancher Lehrer. Überhaupt droht all diesen modernen Entwicklungen auf dem Weg der Verbreitung auch immer die Verwässerung, indem bestehende Formen beibehalten und einfach umetikettiert werden. Wichtige und nachhaltige Entwicklungsimpulse für Beruf und Berufsbildung sind in naher Zukunft vor allem von der Berufsbildungspolitik der Europäischen Union zu erwarten, die seit Anfang des 21. Jahrhunderts durch den „Brügge-Prozess“ und die „Erklärung von Kopenhagen“ – beide aus dem Jahr 2002 – erheblich an Profil gewonnen hat.22 Im Rahmen der Europäisierung der Berufsausbildung wird derzeit vor allem die Erweiterung der Berufsausbildung durch Fremdsprachenkenntnisse, internationale Fachkenntnisse, interkulturelle Kenntnisse und interkulturelle Dispositionen diskutiert. Besonders aber wird auf dieser Ebene an gemeinsamen europäischen Abschlüssen, Bezeichnungen (internationale Bildungs-/Kompetenz-Standard-Klassifikation) sowie an Anerkennungs- und Transparenzverfahren gearbeitet. Auf europäischer Ebene wird auch die Diskussion um die Berufsform weitergeführt werden, denn die Berufsförmigkeit in der uns bekannten Form ist, wie gesagt, ein Unikum 22
Leider kann dies aus Platzgründen hier nicht mit der gebührenden Ausführlichkeit dargestellt werden.
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der deutschsprachigen Länder Europas. Im Hinblick auf eine der Hauptaufgaben der europäischen Berufsbildungspolitik – Transparenz und Vergleichbarkeit der beruflichen Qualifikationen und Abschlüsse in Europa herzustellen – wirft das erhebliche Probleme auf. Außerdem hat die EU den Zusammenhang ihres ehrgeizigen wirtschaftspolitischen Ziels, bis 2010 die „dynamischste Volkswirtschaft“ dieser Erde zu werden, mit der Berufsbildung erkannt und 2002 ein entsprechendes „Aktionsprogramm“ (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften 2002) verabschiedet, damit die europäische Berufsbildung eine „weltweite Qualitätsreferenz“ wird. In Europa wird die Berufsförmigkeit wohl weithin eher als Fortschrittsbremse und als Hindernis zur Bewältigung des Wandels gesehen. Sie gilt als zu starr und zu konservativ, die geschilderten Bemühungen um die Flexibilisierung des Berufs werden im Allgemeinen nicht zur Kenntnis genommen, und es ist fraglich, ob hier die kompetenzorientierte Wende und ihr Niederschlag in der Neuordnung 2002 bereits rezipiert wurden. Stattdessen gibt es eine Reihe von Strukturkonzepten, die das Berufsprinzip ersetzen oder stark aufweichen würden, sollten sie Realität werden. Seit 2006 gilt das „Lebenslange Lernen“ in der EU als Leitkategorie für alle Berufsbildungssysteme.23 Praktisch bedeutet dies, dass der Gedanke einer umfassenden Ausbildung am Beginn des Berufslebens grundsätzlich fallen gelassen wird zugunsten von Systemen des lebensbegleitenden Lernens, für das die Erstausbildung allenfalls die Grundlagen zu legen hätte. Hier besteht also grundsätzliche Übereinstimmung mit der deutschen Sicht, jedoch wird von Seiten Europas kritisiert, dass sich in Deutschland zu den Worten keine Taten gesellt haben und weder die Erstausbildungen konsequent das lebenslange Lernen vorbereiten noch in der Fort- und Weiterbildung geeignete Systeme für ein lebensbegleitendes Weiterlernen realisiert sind. In der europäischen Berufsbildungspolitik werden dagegen Formen einer radikalen biografiebezogenen Modularisierung der Berufsbildung diskutiert in Verbindung mit der so genannten „Alternanz“ (Rothe 2004), d.h. dem lebenslangen Wechsel von Zeiten des Lernens und Zeiten des Arbeitens. Mit diesem Konzept würden die beruflichen Qualifikationsbündel in relativ kleine, für sich jeweils selbstständige Teile aufgesplittert, die in offener Folge über die Berufsbiografie verteilt dann gelernt werden können, wenn sich dies betrieblich oder berufsbiografisch als sinnvoll herausstellt. Das würde zwar schnelle Beschäftigungsfähigkeit herstellen und entspräche dem Konzept des lebenslangen Lernens. In Deutschland wird jedoch gern darauf hingewiesen, dass mit dieser Auflösung des Berufsprinzips eine Reihe von schwierigen Problemen verbunden wäre: So etwas wie ein berufliches Zusammenhangsverständnis ginge dabei möglicherweise verloren, selbstständige Handlungsfähigkeit wäre auf diese Weise zumindest am Anfang des Prozesses nur schwer zu erreichen.24 Schließlich weisen insbesondere die Arbeitnehmervertreter darauf hin, dass mit dieser Art der Modularisierung die Gefahr verbunden sei, bei den Anfangsmodulen und ihren relativ einfachen, engen Qualifikationsinhalten stehen zu bleiben, so dass hier wieder Facharbeiter zweiter Klasse mit deutlich schlechterer Bezahlung entstehen, die aufgrund ihrer engen Qualifizierung gerade nicht in der Lage sind, den Wandel zu verarbeiten (vgl. Rothe 2008).
23 Beschluss des europäischen Parlamentes und des Rates über ein Aktionsprogramm im Bereich des lebenslangen Lernens, 15.11.2006. 24 Dabei geht man in der EU wohl davon aus, dass dies ohnehin eher die Aufgabe der Systeme der allgemeinen Bildung sei.
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Den wichtigsten europäischen ‚Angriff auf die Berufsform‘ erkennen Kritiker allerdings in einem anderen, inzwischen sehr viel konkreteren Instrument der EU-Berufsbildungspolitik, nämlich im Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR). Der EQR ging aus dem Bemühen um Transparenz und Vergleichbarkeit von Qualifikationen hervor und stellt den Versuch dar, ein deskriptives Raster (in acht Stufen) zu entwickeln, nach dem für jeden Fachbereich sämtliche Qualifikationen (einschließlich der informell erworbenen) von der Vorschule bis zur Universität klassifiziert werden können. Damit könnte auch jeder berufliche Abschluss, der in Deutschland erworben wird, nach diesem Kodierungssystem verschlüsselt und in einem anderen Land entsprechend den dortigen Qualifikationsbezeichnungen entschlüsselt werden. In diesem Sinne will der EQR nicht mehr sein als eine ,Übersetzungshilfe‘. Seine Kritiker vor allem in Deutschland (insbesondere Felix Rauner) befürchten aber, dass dieses System in Zukunft die Berufsbildung völlig verändern und entgrenzen könnte: Ausbildungen würden sich dann nicht mehr an sorgfältig konstruierten Berufsbildern orientieren, sondern jeder Auszubildende könnte sich gewissermaßen ‚à la carte‘ aus dem Qualifikationsrahmen diejenigen Qualifikationen zusammenstellen, die er jetzt gerade braucht, die ihm interessant erscheinen oder die zur Besetzung einer bestimmten Stelle nötig sind. Das wäre in der Tat das endgültige Aus für die Berufsförmigkeit im Sinne von präformierten Qualifikationsbündeln. Sie würde ersetzt durch ein vollkommen offenes, hoch variables und individualisiertes System, das maximale Flexibilität ermöglicht. So etwas wie die Ordnungsarbeit (siehe Abschnitt 3.1) wäre in diesem Fall überflüssig und könnte entfallen. Diese Entwicklung ist, wie gesagt, keine realistische Option. Sollte sie es jemals werden, wäre dies in der geschilderten Reihe der vielen Schritte hin zur Relativierung und Flexibilisierung der Berufsform zweifellos der ultimative. Angesichts der oben erwähnten vielfältigen Orientierungs- und Schutzfunktionen, die der Beruf für alle Beteiligten hat, wäre es jedoch eine Aufgabe für die Politik, dafür neue funktionale Äquivalente zu finden (Brater 1982). Diese zeichnen sich zur Zeit jedoch in keiner Weise ab. Ob die Befürchtungen, die manche an den EQR anknüpfen, realistisch sind, steht in den Sternen. Die Berufsform und das sich an sie anschließende System der beruflichen Bildung bleiben jedoch, so viel ist sicher, weiterhin stark unter Druck. Ob die Ausprägung, die die Berufsform in den vergangenen Jahren gefunden hat, in der Lage sein wird, diesem Druck Stand zu halten, muss sich zeigen. Aktuelle europäische Herausforderungen an Beruf und Berufsbildung liegen u.a. in der Einführung eines Kreditpunktesystems auch in der beruflichen Bildung (ECVET), oder in einer Umorientierung weg von der bestehenden Abschluss- und Berechtigungsorientierung zu dem, was man in der EU „OutcomeOrientierung“ nennt, also die Orientierung an dem, was ein Absolvent wirklich kann bzw. gelernt hat. Dazu wird man dann auch auf Verfahren der Kompetenzfeststellung (vgl. Langv. Wins/Triebel 2006) zurückgreifen müssen, die es in Europa bereits zahlreich gibt und die die bisherigen Prüfungssysteme revolutionieren können. Die berufsbildungspolitische Position der deutschen Regierung ist jedenfalls eindeutig: Sie orientiert sich an der Beibehaltung und Weiterentwicklung des Berufsprinzips und fühlt sich durch die Erfahrungen bestätigt, die gezeigt haben, dass es durchaus möglich ist, die Vorteile des Berufs als Orientierungshilfe und Vermittler zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem zu verbinden mit den modernen Forderungen nach seiner Individualisierung und Flexibilisierung, um seine Fähigkeit zu verbessern, den stetigen Wandel in der Arbeitswelt zu verarbeiten.
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Betriebliche Regulierung von Arbeitsbeziehungen
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Betriebliche Regulierung von Arbeitsbeziehungen1 Rainer Trinczek
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Gegenstand und Problemstellung: Der Betrieb als zentraler Ort von Arbeitsbeziehungen
Betriebe sind die gesellschaftliche Sphäre, in der sich die konkrete Nutzung von Arbeitskraft vollzieht. Damit sind Betriebe diejenigen gesellschaftlichen Orte, an denen tagtäglich die Interessen von Arbeit und Kapital, um hier die klassische Terminologie zu wählen, aufeinanderprallen (selten!) und (in aller Regel erfolgreich!) miteinander abgeglichen und austariert werden. Obwohl die Arbeitsbeziehungen in Deutschland durch ein komplexes Geflecht von gesetzlichen und tariflichen Normierungen geprägt sind, die wesentlich auch in anderen Arenen als dem Betrieb ausgehandelt werden, und die der betrieblichen Regulierung von Arbeit gleichsam vorgegeben sind, können alle diese Normierungen in der betrieblichen Alltagspraxis der Arbeitsbeziehungen modifiziert und mitunter auch gänzlich negiert werden. Jeder Betriebspraktiker weiß: Keine arbeitsrechtliche Normierung, keine einschlägige Verwaltungsbestimmung und keine tarifvertragliche Regelung, welche nicht schon einmal ‚übersehen‘, umgangen oder bewusst verletzt worden wäre – unilateral durch das Management oder auch im Konsens mit den Beschäftigten und/oder deren Repräsentanten. Damit ist klar: Unter welchen konkreten Bedingungen Beschäftigte arbeiten, wird letztlich erst im Betrieb bestimmt: Wie man tariflich eingruppiert wird (ob eher großzügig oder eigentlich unter Wert), welche Arbeitsinhalte jemandem zugewiesen werden (ob eher langweilig-monotone oder interessant-kreativitätsförderliche), an welchem Arbeitsplatz man arbeitet (ob in einem muffigen, lauten und dunklen Raum im Souterrain oder in einem klimatisierten, ruhigen und lichtdurchströmten Büro), ob man mit einer im- oder gar expliziten Erwartungshaltung überlanger Arbeitszeiten oder mit einer Kultur der klaren Begrenzung betrieblicher Anwesenheitszeiten konfrontiert ist, ob man den Zumutungen eines autoritär-hierarchischen Führungsstils ausgesetzt ist oder unter Bedingungen eines teamförmig-partizipativen Mitgestaltungsmanagements arbeitet – all das, was das konkrete Arbeiten ausmacht, ist Gegenstand betrieblicher Entscheidungen. Daher kann der Betrieb auch als der zentrale Ort der Regulierung der konkreten Arbeitsbedingungen bezeichnet werden. Betriebliche Arbeitsbeziehungen sind in ihrem Kern gekennzeichnet durch machtgestützte, kooperativ-konfliktorische – oder wie Walther Müller-Jentsch (1991) dies nennt: „konflikt-partnerschaftliche“ – Aushandlungsprozesse von Interessen zwischen Management und Beschäftigten und/oder deren Repräsentanten. Dabei finden diese Prozesse in einem – wie der internationale Vergleich unschwer zeigt – kontingenten, historisch verankerten institutionellen Setting statt.2 Ohne dass es bislang eine ausgearbeitete Theorie betrieblicher Regulierung von Arbeit gibt, hat es sich in der Vergangenheit doch als fruchtbar erwiesen, bei der Analyse innerbetrieblicher Austauschbeziehungen mit fünf theoretischen 1 2
Für hilfreiche Kommentare möchte ich Ingrid Artus und Rudi Schmidt danken. Siehe hierzu für die deutsche Betriebsverfassung Schmidt/Trinczek 1999a.
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Rainer Trinczek
Kategorien zu operieren – Interessen, Macht, Interaktion, Kultur und rechtlichinstitutioneller Rahmen – die im Folgenden kurz skizziert werden sollen: (1) Interessen: Es ist eine an und für sich banale, trotzdem aber mitunter nicht hinreichend beachtete Tatsache, dass es bei der betrieblichen Regulierung von Arbeit wesentlich um Interessen geht. Im Mittelpunkt stehen hier die Interessen von Beschäftigten und Unternehmen – auch wenn es in den Betrieben regelmäßig auch noch andere interessenbezogenen Konfliktlinien gibt: die zwischen Arbeitern und Angestellten, zwischen Kaufleuten und Technikern, zwischen Männern und Frauen, zwischen Alten und Jungen etc. Zentraler Befund der einschlägigen Debatten ist, dass die betriebliche Interessenkonstellation nicht sinnvoll als ‚nur‘ antagonistischer Interessenkonflikt von Kapital und Arbeit analysiert werden kann; eine solche Analyse von ökonomischen Interessenkonstellationen in privatwirtschaftlich-kapitalistischen Gesellschaften wäre unterkomplex und defizitär. Vielmehr gilt es, von einer inneren Widersprüchlichkeit der jeweiligen Interessenlagen von Beschäftigten und Unternehmern sowie von der Gleichzeitigkeit konfligierender und gemeinsamer Interessen zwischen den Betriebsparteien im funktionierenden Konkurrenzkapitalismus – Karl Marx würde sagen: an der „Oberfläche“ des Kapitals (Marx 1964: 822ff.)3 – auszugehen.4 Die handlungsrelevante Definition der je eigenen Interessen ist damit stets ein zwar sozial spezifisch kontextuierter, nichtsdestoweniger aber interpretativer und sozialkonstruktiver Akt und ist gerade nicht ‚objektiv‘ aus der Strukturlogik eines Wirtschaftssystems ableitbar. Dies bedeutet, dass Beschäftigte, Betriebsräte und Manager beständig Interpretationsleistungen dieser komplexen Interessenkonstellation erbringen müssen, und eine eigene Perspektive auf die betrieblichen Interessenlagen konstruieren müssen – wobei sie sich freilich gesellschaftlich präsenter kollektiver Orientierungsmuster bedienen. (2) Macht: Der betriebliche Aushandlungsprozess ist ein machtgestützter Prozess, wobei grundsätzlich von einem strukturell bedingten Machtübergewicht des Managements auszugehen ist. Dies impliziert aber weder, dass die Arbeitnehmerseite über keine Machtressourcen verfügt, noch dass sich die betriebliche Machtkonstellation im betrieblichen Alltag stets asymmetrisch zu Ungunsten der Beschäftigten ausnimmt. Zur Analyse der Machtressourcen von Beschäftigten und ihren Interessenvertretern ist nach wie vor die von Ulrich Jürgens vorgeschlagene Differenzierung zwischen „Primär- und Sekundärmacht“ (Jürgens 1984) hilfreich. Unter Primärmacht versteht Ulrich Jürgens „die originär aus der Art der Abhängigkeitsbeziehungen zwischen den sozialen Parteien im Betrieb erwachsenen Machtpositionen für einzelne Beschäftigte bzw. Beschäftigtengruppen“ (Jürgens 1984: 61), womit auf das manageriale Problem der Transformation von Arbeitsvermögen in konkrete Arbeitsleistung verwiesen wird. Sekundärmacht ist hingegen „solche, die auf bereits kollektiv erkämpften bzw. staatlich gesetzten Regelungen und Institutionen beruhen“ (Jürgens 1984: 61) und verweist damit auf existierende individuelle Arbeits(schutz)rechte, staatlich garantierte Einflusschancen von kollektiven Interessenvertretern via Betriebsverfassungsgesetz sowie auf gesetzlich geschützte Tarifbestimmungen; diese stellen – mit Verweis auf eine mögliche Klage vor der Arbeitsgerichtsbarkeit im Falle eines Verstoßes durch den 3 Karl Marx nutzt den Begriff der Oberfläche bekanntlich immer dann, wenn er sich nicht mehr analytisch mit der Tiefenstruktur oder Logik des kapitalistischen Verwertungsprozesses beschäftigt, sondern mit den im realen gesellschaftlichen Leben erscheinenden Phänomenen, was sich etwa am Verhältnis von Mehrwert und Profit zeigen lässt: „Und in der Tat ist die Profitrate das, wovon historisch ausgegangen wird. Mehrwert und Rate des Mehrwerts sind, relativ, das Unsichtbare und das zu erforschende Wesentliche, während Profitrate und daher die Form des Mehrwerts als Profit sich auf der Oberfläche der Erscheinungen zeigen“ (Marx 1964: 53). 4 Hierzu näher Schmidt/Trinczek 1999b.
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Arbeitgeber – Machtressourcen von Beschäftigten und ihren Interessenvertretern dar, die im Fall innerbetrieblicher Auseinandersetzungen weitgehend problemlos mobilisiert werden können. Die realen betriebspolitischen Machtverhältnisse in einem Betrieb werden dabei von einer Vielzahl von Parametern beeinflusst, deren Relevanz jeweils von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich groß sein kann: die Lage auf dem (regionalen und/oder fachspezifischen) Arbeitsmarkt, die ökonomische Lage des Betriebes, die Belegschaftsstruktur, der gewerkschaftliche Organisationsgrad und die Mobilisierungsfähigkeit der Belegschaft – um nur einige zu nennen. (3) Interaktion: Schon die Kategorie der Macht (als relationale Kategorie) verweist auf die Tatsache, dass die konkrete Gestalt betrieblicher Arbeitsbeziehungen ein interaktiver Aushandlungsprozess ist. Unter Rückgriff auf Anselm Strauss lässt sich festhalten: „Social orders are, in some sense, always negotiated orders“ (Strauss 1979: 235). Dies bedeutet zum einen, dass die je konkrete Gestalt der Betriebsverfassung als ein von beiden Parteien getragenes (oder – je nach Machtkonstellation – zumindest geduldetes oder ertragenes) Arrangement betrachtet werden muss, zum anderen, dass sich das betriebspolitische Handeln eines Akteurs nur vor dem Hintergrund des betriebspolitischen Handelns seines Gegenübers plausibel verstehen lässt. Beide Parteien richten ihr Handeln jeweils an der Interpretation des Handelns der Gegenseite aus: Ist Alter kompromissbereit, wird Ego auch von seinen Anfangspositionen Abstand nehmen; bleibt Alter stur oder schraubt das Konfliktniveau nach oben, wird sich Ego gezwungen sehen, diesen Stil mitzugehen. Das betriebspolitische Arrangement ist damit – und zwar völlig unabhängig von seiner je konkreten Ausgestaltung – stets ein interaktiv von den Betriebsparteien hergestelltes. (4) Kultur: Regelmäßige Interaktionen zwischen sozialen Akteuren führen – so wissen wir aus der allgemeinen soziologischen Theoriedebatte – regelmäßig zur Herausbildung und Verfestigung von Regelmäßigkeiten im Interaktionsgeschehen (Habitualisierungen, Routinebildung, Institutionalisierungen).5 Dies ist in den Beziehungen von Management und Beschäftigten bzw. Betriebsrat nicht anders: Auch hier institutionalisiert sich üblicherweise im Verlauf der Betriebsgeschichte eine innerbetrieblich akzeptierte Definition von normalen Beziehungen, eine betriebsspezifische Kultur der Austauschbeziehungen zwischen Kapital und Arbeit, die sich in einem Set gültiger Handlungs- und Interaktionsnormen verfestigt. Dies schafft für beide Seiten Berechenbarkeit und reduziert auf diese Weise die Komplexität der Handlungssituation. Entsprechend sensibel wird registriert, wenn vom normalen Procedere abgewichen wird, wenn also etwa der Betriebsrat plötzlich Überstunden verweigert, die er ansonsten quasi automatisch durchgewunken hatte. Ein solcher bewusster Verstoß gegen das eingeübte Regelwerk erlaubt gleichzeitig die (eskalatorisch abgestufte) Indikation von Dissens über die schlichte verbale Mitteilung hinaus – und ist ein beliebtes Mittel mikropolitischer Auseinandersetzungen. Nur: Das ganz überwiegende Gros der Alltagspraxis innerbetrieblicher Regulierung von Arbeit spielt sich im Rahmen der etablierten Normen der je betriebsspezifischen Kultur der Austauschbeziehungen ab – und sogar für die Eskalation von Konflikten gibt es üblicherweise eingeübte (und damit für die Gegenseite nachvollziehbare und verstehbare) Abläufe. Die mitunter recht ideosynkratischen Regeln des wechselseitigen Mit- und Gegeneinanders lassen sich üblicherweise angemessen nur betriebshistorisch rekonstruieren. (5) Rechtlich-institutioneller Rahmen: Die betrieblichen Austauschbeziehungen sind eingebettet in einen nationalen (und zunehmend auch supra-nationalen) Rahmen historisch 5
Siehe hierzu nach wie vor insbesondere die klassische Arbeit von Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1970).
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gewachsener und mitunter rechtlich-formaler Regulierung. Für das deutsche System industrieller Beziehungen zentral ist dabei etwa die rechtlich abgesicherte Konstruktion eines dualen Systems der Interessenvertretung, die Dominanz flächentariflicher Regelungen, die spezifische Struktur des deutschen Gewerkschaftssystems mit seinen nach dem Industrieverbandsprinzip organisierten Einheitsgewerkschaften – mit diversen Ausfransungen in der jüngeren Vergangenheit (siehe etwa Keller 2008a, Hoffmann/Schmidt 2008 sowie das Schwerpunktheft 4/2008 der Zeitschrift „Industrielle Beziehungen“),6 gleichfalls wird – insbesondere im internationalen Vergleich – immer wieder auf den hohen Verrechtlichungsgrad der Regulierung von Arbeit in Deutschland verwiesen.7 Damit ergibt sich eine konzeptuelle Perspektive, die die betriebliche Regulierung von Arbeit wahrnimmt als einen machtgestützten Prozess der interaktiven Aushandlung von Interessen, der in einen rechtlich-institutionellen Rahmen eingebettet ist, und der in seiner konkreten Gestalt wesentlich von der historisch gewachsenen, sich je betriebsspezifisch institutionalisierten Kultur der Austauschbeziehungen strukturiert wird. Eine Durchsicht der einschlägigen Literatur belegt unschwer, dass sich ein erheblicher Wandel in der wissenschaftlichen Bearbeitung des Themas „Betriebliche Regulierung von Arbeit“ in den vergangenen Dekaden feststellen lässt; dies soll im weiteren Verlauf des Beitrags näher ausgeführt werden. Dabei werde ich zunächst auf die ‚alte‘ Thematisierung eingehen, die sich durch eine Fixierung auf die Institution des Betriebsrats bei gleichzeitig genereller Unterbelichtung der betrieblichen Regulierungsebene auszeichnet (Abschnitt 2). Ab Mitte der 1980er Jahre und dann insbesondere ab den 1990er Jahren zeichnen sich jedoch aus verschiedenen Gründen Perspektivverschiebungen und -erweiterungen bei der Analyse der betrieblichen Austauschbeziehungen an, auf die in Abschnitt 3 näher eingegangen wird. Abschließend wird dann kurz auf zukünftige Perspektiven betrieblicher Regulierung von Arbeit sowie auf deren sozialwissenschaftliche Analyse verwiesen (Abschnitt 4).
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Entwicklungslinien und Wissensbestände: Der Betriebsrat als Akteur innerbetrieblicher Arbeitsbeziehungen
Bis in die 1980er Jahre wurde betriebliche Regulierung von Arbeit als synonym behandelt mit: der Betriebsrat. Hierzu dürfte zum einen sicherlich die bekannte Konzentration arbeitsund industriesoziologischer Empirie auf den industriellen Großbetrieb beigetragen haben, in dem der Betriebsrat in der Tat nicht nur eine selbstverständlich vorhandene Institution war, sondern gleichzeitig auch der entscheidende Machtfaktor auf Arbeitnehmerseite; durch die selektive Empiriebrille wurde daher (rechtssoziologisch vergleichsweise naiv) die Wirksamkeit des Betriebsverfassungsgesetzes als normativ-rechtliche Vorgabe regelmäßig reifiziert. Darüber hinaus trug auch die traditionelle Ausblendung der Tatsache, dass Managementvertreter nicht nur ‚Charaktermasken des Kapitals‘ sind, sondern vielmehr als soziale Akteure sui generis zu analysieren sind, zur Fixierung auf den Betriebsrat als vermeintlich zentralen Akteur innerbetrieblicher Arbeitsbeziehungen bei. Die aus der Nähe zur marxschen Theorie (in welcher Lesart auch immer) resultierende klare normative Verortung der meisten ForscherInnen stützte zusätzlich die absolute Dominanz einer nahezu 6
Siehe hierzu den Beitrag von Berthold Vogel „Staatliche Regulierung von Arbeit“ in diesem Band. Zum weiteren Kontext industrieller Beziehungen in Deutschland informiert man sich am Besten in den Lehrbüchern von Walther Müller-Jentsch (1997, 2007) und Berndt Keller (2008b). 7
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ausschließlich auf die abhängig Beschäftigten und deren Interessenvertreter fixierten Forschungsperspektive. Nicht zuletzt dürfte auch die Besonderheit der Institution Betriebsrat im internationalen Vergleich zur Verfestigung der (falschen) Gleichung beigetragen haben: Betriebliche Regulierung von Arbeit = Betriebsrat. Auffällig ist dabei jedoch Folgendes: Obwohl der Betriebsrat – gerade in einer an Karl Marx orientierten kritischen Perspektive – doch gerade direkt am Ort der konkreten (Ver-) Nutzung von Arbeitskraft agiert und damit eigentlich erhebliche Aufmerksamkeit einer einschlägig auch an Politisierungspotentialen interessierten Forschung hätte auf sich ziehen sollen, ist genau dies nicht geschehen. In der Soziologie industrieller Beziehungen stand stets die auf die überbetrieblich-sektorale Interessenvertretung konzentrierte Gewerkschaftssoziologie im Mittelpunkt (pars pro toto die klassische Studie von Bergmann/Jacobi/ Müller-Jentsch 1975). Als symptomatisch kann hier etwa die Gliederung des klassischen Einführungsbuches von Walther Müller-Jentsch (1986) gelten, in dem drei Kapitel mit insgesamt rund 160 Seiten der Tarifebene, aber nur ein Kapitel mit knapp 60 Seiten den betrieblichen Arbeitsbeziehungen gewidmet ist. Nicht weiter verwunderlich wurde in den frühen 1980er Jahren denn auch der Mangel an empirischen Arbeiten kritisiert, in deren Zentrum der Betriebsrat in seiner Auseinandersetzung mit dem Management steht (etwa Kotthoff 1981; Eberwein/Tholen 1982). Dagegen gibt es mehrere Arbeiten, die sich überwiegend bzw. ausschließlich theoretisch mit innerbetrieblicher Interessenvertretung auseinander setzen; dabei ist es bei der Dominanz marxistisch inspirierter Ansätze in den 1970er Jahren erstaunlich, dass der Betriebsrat – ganz im Gegensatz zu den Gewerkschaften – im Grunde nie ernsthaft Adressat einer kritischen und auf potentielle Systemveränderung abhebenden theoretischen Analyse wurde, die ihm eine entscheidende Rolle bei der Politisierung der abhängig Beschäftigten zugesprochen hätte. Sogar in der Hochphase der Marx-Rezeption in den frühen 1970er Jahren wurde dem Betriebsrat eine solche revolutionäre Rolle nie zugeschrieben, sondern er wurde im Grunde stets als gesetzlich pazifizierte Institution der systemkonformen Wahrnehmung von konkreten Arbeitnehmerinteressen innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftssystems analysiert (z.B. Erd 1978). Als nicht ganz untypisch mag hier eine in den „Kritischen Gewerkschaftsjahrbüchern“ veröffentlichte Analyse des damals gerade verabschiedeten Betriebsverfassungsgesetzes (BetrVG) aus dem Jahr 1972 zitiert werden: „Dass Rechtsnormen gesellschaftliche Machtverhältnisse widerspiegeln, zeigt sich nirgends so deutlich wie an der Regelung der Betriebsverfassung. In einer Gesellschaft, in der die entscheidenden, auch die Ausübung der Staatsgewalt bestimmenden, sozialen Machtpositionen in der Hand derjenigen sind, die aufgrund privatem Eigentum über die Produktionsmittel verfügen, kann ein BetrVG natürlich nicht in die zentralen Positionen unternehmerischer Verfügungsgewalt eingreifen. (…) Zwar bringt das neue BetrVG einige Verbesserungen, etwa in der Absicherung des Betriebsrates und der Erweiterung der Beteiligungsrechte. Die Kehrseite dieser Verbesserungen ist jedoch die Verfeinerung der integrierenden Mechanismen. Da der Betriebsrat durch die erweiterten Beteiligungsrechte in immer mehr der Randbereiche unternehmerischer Entscheidungstätigkeit hineingezogen wird, ohne dass er als von der Belegschaft entfremdetes Organ einer effektiven Kontrolle durch diese unterliegt, ist die Gefahr groß, dass die ‚vertrauensvolle Zusammenarbeit‘ auf die Dauer auch zu einer Identifikation mit ‚unternehmerischem Denken‘ führt“ (Keßler 1972: 115ff.).
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Diese vergleichsweise geringe politische Überfrachtung des Betriebsrates eröffnete gleichzeitig die Chance, an ältere theoretisch-konzeptuelle Überlegungen zur Betriebverfassung aus der – wie man damals sagte – bürgerlich-systemkonformen Soziologie anzuknüpfen; dies betrifft insbesondere die bis heute einflussreiche Analyse von Friedrich Fürstenberg aus dem Jahre 1958, in der er den Betriebsrat als eine „Grenzinstitution“ beschreibt, die eben nicht nur den Interessen der Belegschaft verpflichtet ist, sondern gleichzeitig auch die Interessen von Gewerkschaft und Management mit denen der Beschäftigten auszubalancieren habe; der Betriebsrat befinde sich so in einer schwierigen „Pufferstellung (…) im Spannungsfeld sehr realer Interessengegensätze“ (Fürstenberg 1958: 426). Eine solche Perspektive eröffnet das Feld für konkrete empirische Studien über Fragen, wie denn nun der Betriebsrat konkret in diesem Spannungsfeld agiert. Und in der Tat gibt es insbesondere seit den 1970er Jahren im Kontext der sich ausbreitenden sozialwissenschaftlichen Technik- und Rationalisierungsforschung in zahlreichen Untersuchungen immer wieder Abschnitte über die Rolle und das Handeln von Betriebsräten in diesem betriebspolitischen Feld (etwa Altmann u.a. 1982, Bergmann u.a. 1986, aber auch nahezu alle arbeits- und industriesoziologischen Studien, die im Kontext des ehemaligen Forschungsprogramms der Bundesregierung zur „Humanisierung des Arbeitslebens (HdA)“8 entstanden sind). Im Rahmen dieser zunehmenden empirischen Beschäftigung mit der Realität der Betriebsverfassung öffnet sich dann in den frühen 1980er Jahren – zunächst jedoch eher programmatisch – zunehmend auch der Blick für das „‚Reich‘ der informellen Beziehungen“ (Schmidt 1986: 58) in den betrieblichen Industrial Relations. Der vergleichsweise hohe Grad der Verrechtlichung des Systems industrieller Beziehungen in Deutschland hatte die Aufmerksamkeit der Forschung lange Zeit selektiv auf die staatlicherseits institutionalisierte und garantierte formale Strukturebene gelenkt; dagegen zeigt jedoch die qualitativ angelegte betriebliche Empirie vieler Studien in den 1970er Jahren, dass „die gegensätzlichen Interessen von Kapital und Arbeit (…) durch differenzierte und durchaus nicht widerspruchsfreie Gefüge von formellen und informellen Normen geregelt“ (Dombois 1980: 380) werden. Ganz ähnlich argumentiert auch Wolf Rosenbaum mit Blick auf die Betriebsverfassung, wenn er schreibt, „daß die Wirksamkeit und die Wirkung des Arbeitsrechts (…) im Betrieb nur dann zureichend erfasst werden kann, wenn man den komplizierten Zusammenhang und das Wechselspiel sowie die Überschneidungen zwischen formellem Arbeitsrecht und informellen betrieblichen Normen berücksichtigt“ (Rosenbaum 1982: 406). ‚Große‘ empirische Untersuchungen zur Betriebsverfassung sind hingegen dünn gesät. Sieht man von der Studie von Kurt Brigl-Matthiaß über „Das Betriebsräteproblem“ aus dem Jahre 1926 ab, dessen Ziel es war „die praktische Wirksamkeit des BRG [Betriebsrätegesetz von 1920, R.T.] zu untersuchen und die Entwicklungstendenzen des Betriebsrätewesens aufzuzeigen“ (Brigl-Matthiaß 1926: 16), handelt es sich in der Nachkriegszeit zunächst vor allem um die beiden Arbeiten von Otto Blume (1964) und Hermann Kotthoff (1981).9 Der zentrale Befund von Otto Blumes Arbeit „Normen und Wirklichkeit der Betriebsverfassung“, die von der Hans-Böckler-Stiftung zum 10-jährigen Jubiläum des Betriebsver8 Zur kritischen Reflexion dieses Forschungsprogramms siehe die Arbeit von Willi Pöhler und Gerd Peter (1982) sowie den von Sabine Gensior, Frieder Naschold und Frieder Otto Wolf herausgegebenen Sammelband (1982). 9 Daneben gab es freilich früh wichtige Untersuchungen zur betrieblichen Realität in montan-mitbestimmten Betrieben, in denen auch die Rolle und Funktion des Betriebsrats thematisiert wurde (etwa Pirker u.a. 1955; Institut für Sozialforschung 1955; Neuloh 1960).
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fassungsgesetzes von 1952 in Auftrag gegeben worden war, ist, dass in der betrieblichen Mitbestimmungsrealität eine „Spanne zwischen dem, was der Gesetzgeber gewollt hat, und dem, was davon realisiert worden ist“ (Blume 1964: 109) festzuhalten ist. Auffällig war für Otto Blume insbesondere, dass sich die Betriebsgröße als ein ganz entscheidender Einflussfaktor auf die Ausgestaltung der betrieblichen Arbeitsbeziehungen herausgestellt hatte. Otto Blumes zusammenfassender These, dass die „krassesten Mißstände in den kleinen Betrieben anzutreffen“ (Blume 1964: 209) seien, dürften bis heute wenige empirische SozialforscherInnen widersprechen. Die zentrale Veröffentlichung für die Analyse betrieblicher Arbeitsbeziehungen in dieser ersten Phase der Beschäftigung mit betrieblicher Interessenregulierung stellt jedoch ohne Zweifel die bahnbrechende Studie von Hermann Kotthoff über „Betriebräte und betriebliche Herrschaft“ (1981) dar. Gleichzeitig markiert diese Arbeit bereits den Übergang zu einer veränderten wissenschaftlichen Perspektive auf die Betriebsverfassung, da sie die für diese Phase typische Fixierung der Forschung auf die Figur des Betriebsrats ansatzweise überwindet. Der Verdienst von Hermann Kotthoffs Ansatz liegt insbesondere in der Betonung des interaktiven Moments der betrieblichen Interessenregulierung: „Betriebsrat und Geschäftsleitung sind in eine andauernde und enge Beziehung eingebunden. Es ist für beide unmöglich, nicht zu kommunizieren“ (Kotthoff 1981: 29); „da Partizipation ein kommunikativer Prozess ist, muss der Schwerpunkt der Untersuchung auf der Beschreibung und Analyse der Kommunikation zwischen den Partizipationsakteuren liegen“ (Kotthoff 1981: 35). Obwohl die Studie die Zentrierung auf den Betriebsrat letztlich nicht gänzlich abschüttelt, erzwingt der Partizipationsansatz doch die Öffnung der Forschungsperspektive in Richtung auf die Geschäftsleitung als dem Gegenspieler der betrieblichen Interessenvertretung. Dies erlaubt es, die unterschiedlichen Partizipationsmuster als Resultat eines Aushandlungsprozesses zwischen den Betriebsparteien zu fassen, der sich unter den spezifischen Rahmenbedingungen kapitalistischen Wirtschaftens in Deutschland vollzieht und der von unterschiedlichen Variablen beeinflusst wird bzw. werden kann (wie etwa den Selbstund Fremddefinitionen von Betriebsrat und Management). Das Kompetenzniveau und das gesellschaftliche und politische Bewusstsein von Betriebsräten, denen in einer eigenartigen subjektivistischen Verkürzung der Perspektive in früheren (vor allem polit-theoretischen) Schriften zur Betriebsverfassung zentrale Bedeutung beigemessen wurde (u.a. Mückenberger 1975), erscheint nun nur noch als Teilaspekt eines übergeordneten betrieblichen Interaktionsgefüges, das von Management und Betriebsrat gemeinsam produziert und reproduziert wird. Aus seinem Material arbeitet Hermann Kotthoff sechs, in der Literatur breit rezipierte, typische Partizipationsmuster heraus, die er auf der Grundlage von Literaturrecherchen um ein in seinem Sample nicht vertretenes siebtes Muster, den „klassenkämpferischen Betriebsrat“, ergänzt. Für die 63 Untersuchungsbetriebe ergibt sich folgende Verteilung:
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Abbildung:
Kotthoff (1981) in der übersichtlicheren Darstellung von Müller-Jentsch (1986: 226).
Typus
Betriebe Anzahl
I
Ignorierter Betriebsrat
5
II
Isolierter Betriebsrat
14
III
Betriebsrat als Organ der Geschäftsleitung
17
IV
Respektierter zwiespältiger Betriebsrat
11
V
Respektierter standfester Betriebsrat
7
VI
Betriebsrat als kooperative Gegenmacht
1
VII
Klassenkämpferischer Betriebsrat
–
nicht typologisiert
8
%
} }
65
35
Die Partizipationsmuster lassen sich zu zwei Typengruppen zusammenfassen – Typ I bis III und Typ IV bis VI – zwischen denen „ein breiter Graben hinsichtlich der betrieblichen Autoritätsstrukturen besteht“ (Kotthoff 1981: 249). Während in der ersten Gruppe sehr restriktive Bedingungen vorherrschen, die eine Entfaltung vertretungswirksamer Partizipationsmuster verhinderten, seien in der zweiten Gruppe „die Autoritätsmuster günstiger für die Einrichtung symmetrischer Partizipationsmuster“ (Kotthoff 1981: 249). Ganz ähnlich wie Otto Blume macht auch Hermann Kotthoff die Betriebsgröße als relevanten Einflussfaktor aus. Vermittelt werde – so die Befunde von Hermann Kotthoff – der auffällige Zusammenhang zwischen Betriebsgröße und Partizipationsmuster in aller Regel über das Besitzverhältnis, dem ein Betrieb unterliegt. Da kleine Unternehmen häufiger eigentümergeführt sind, und es einen Zusammenhang zwischen persönlichem Einfluss des Eigentümers auf das betriebliche Geschehen und dem (dann eher restriktiven) Autoritätsmuster gebe, sei die Wahrscheinlichkeit höher, dass in kleinen Betrieben eher asymmetrische Partizipationsmuster dominieren würden. Mit seiner Typologie relativiert Hermann Kotthoff das in der Öffentlichkeit, aber auch in Teilen der Wissenschaft dominierende Bild, dass für Betriebe in Deutschland eine kooperative innerbetriebliche Konfliktverarbeitung typisch sei (wie sie von Friedrich Weltz (1977) in einer empirisch gesättigten Skizze hervorragend als Idealtyp dargestellt wurde). Auch im Modell Deutschland gibt es – so Hermann Kotthoff – weite Bereiche repressiver und restriktiver betrieblicher Mitbestimmungspraxis, was der damals üblichen arbeits- und industriesoziologischen, auf den industriellen Großbetrieb und mitbestimmungsstarke Branchen (z.B. Automobilindustrie, Maschinenbau) konzentrierten Forschungspraxis allerdings allzu oft aus dem Visier geriet. Zusammenfassend kann für diese erste Phase der Auseinandersetzung mit betrieblicher Mitbestimmung festgehalten werden:
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3
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Die Betriebsverfassung steht als empirischer Gegenstand im Schatten der auf Gewerkschafts- und Tariffragen konzentrierten Forschung; Forschen über die betriebliche Regulierung von Interessen beschränkt sich weitgehend auf Forschung über den Betriebsrat; mit zunehmender empirischer Beschäftigung mit Fragen betrieblicher Mitbestimmung öffnet sich die wissenschaftliche Perspektive vorsichtig für die vielfältige Alltagspraxis der Mitbestimmung, und das Management erfährt wachsende Beachtung als relevanter Akteur betrieblicher Interessenregulierung; auffällig sind die Empiriearmut theoretischer Arbeiten sowie die Theoriearmut der empirischen Studien zur Betriebsverfassung sowie die Tatsache, dass die Empirie von qualitativen Fallstudien auf der Grundlage von leitfadengestützen Experteninterviews dominiert wird.
Neue Entwicklungen und Konzepte: Perspektiverweiterungen und -verschiebungen bei der Analyse betrieblicher Regulierung von Arbeit
Seit den 1980er Jahren verändert sich der sozialwissenschaftliche Zugriff auf das Thema Betriebliche Arbeitsbeziehungen spürbar. Zunächst ist es vor allem die breite Öffnung für handlungs- und akteursorientierte Analysekonzepte, die den Blick auf den Betrieb als sozialen Ort der konkreten Interessenauseinandersetzung verändert, obwohl nach wie vor die Fixierung auf die Institutionen der Betriebsverfassung erhalten bleibt (Abschnitt 3.1). Erst seit den 1990er Jahren weitet sich der Blick – sowohl in neue Branchen hinein wie auch in Bereiche ‚jenseits der Betriebsverfassung‘; gleichzeitig stehen erstmals umfangreichere Datensätze zur Verfügung, die es erlauben, betriebliche Arbeitsbeziehungen auch zum Gegenstand quantitativer Analysen zu machen (Abschnitt 3.2). 3.1
Arbeitspolitik und die Entdeckung des Managements sowie der innerbetrieblichen Sozialbeziehungen, oder: Anfänge einer Re-Soziologisierung der Analyse betrieblicher Arbeitsbeziehungen
Seit Mitte der 1980er Jahre lässt sich eine gewisse Wende in der Aufmerksamkeitsstruktur der Scientific Community hinsichtlich der verschiedenen Regulierungsebenen des deutschen Systems industrieller Beziehungen insofern feststellen, als die Betriebsebene ein erhöhtes Maß an Interesse auf sich zieht. Es ist bestimmt kein Zufall, dass dies zeitlich mit einer realen Verschiebung der Gewichte zwischen der tariflichen und der betrieblichen Regulierungsarena zusammenfällt. Bekanntlich hat sich in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre der Wettbewerbsdruck auf den Weltmärkten für deutsche Unternehmen erheblich verschärft. Dies war nicht nur Folge der „Neuen internationalen Arbeitsteilung“ (Fröbel/Heinrichs/Kreye 1977), sondern ebenso indirekte Folge des auslaufenden fordistischen Produktionszyklus: Ausgereifte Produkte und erprobte Produktionsverfahren boten industriellen Späteinsteigern die Chance, erfolgreich mit den Etablierten auf den Märkten konkurrieren zu können. Dies führte dazu, dass neue und in aller Regel auch billigere Konkurrenz (etwa aus den so genannten Tigerstaaten)
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auf den Märkten auftauchte – und dies auch in Marktsegmenten, die bislang nahezu vollständig von etablierten Industrienationen beherrscht wurden. Gleichzeitig hat sich in der Folge des Zusammenbruchs des Nachkriegsfinanzsystems von Bretton Woods und der damit verbundenen Anfängen einer Deregulierung der Finanzmärkte seit Mitte der 1970er Jahre die relative Wettbewerbssituation deutscher Unternehmen auf dem Weltmarkt ebenfalls beachtlich verschlechtert. Ursächlich hierfür war vor allem die Verschiebung der Währungsrelationen nach Beginn des freien ‚Floatens‘ der Wechselkurse zuungunsten der deutschen Exportindustrie. Diese Veränderungen haben (auch) darin resultiert, dass die Arbeitgeberverbände in Deutschland seit den frühen 1980er Jahren ein verstärktes Interesse an flexibleren Tariflösungen formulierten, als dies bislang im dominierenden Flächentarifsystem möglich war. Flexibilisierung wurde rasch zum wichtigsten tarifpolitischen Kampfbegriff der Arbeitgeberverbände. Ziel war insbesondere, die so genannten Rasenmäher-Vereinbarungen, die in einer Branche flächendeckend für alle Unternehmen und unabhängig von deren möglicherweise ganz unterschiedlichen Rahmenbedingungen die gleiche Tarifregelung festschrieben, aufzuweichen und für betriebsspezifisch angepasste Regelungen zu öffnen (vgl. etwa Bahnmüller/Bispinck 1995). Solche Regelungen konnten aber zwangsläufig nur auf betrieblicher Ebene zwischen den Betriebsparteien final ausgehandelt werden – und damit gewann die betriebliche Regulierungsebene notwendigerweise auch an Bedeutung im System industrieller Beziehungen. Eine solche Verbetrieblichung von Tarifvereinbarungen wurde – nach dem singulär gebliebenen Fall des Lohnrahmentarifvertrags II in Nordwürttemberg/Nordbaden aus dem Jahr 1973 (Schauer u.a. 1984) erstmals wieder im Rahmen der Tarifrunde 1984 in der Metall- und Elektroindustrie vereinbart (Schmidt/Trinczek 1988). Damals hatte die IG Metall versucht, die 35-Stunden-Woche durchzusetzen, worauf die Arbeitgeber mit Flexibilisierungsforderungen antworteten; Folge war der bis dato größte Streik in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Zentraler Bestandteil der dann von beiden Seiten akzeptierten Schlichtungsvereinbarung war eine Verknüpfung der jeweiligen Forderungen beider Lager, also die Vereinbarung von einer auf 38,5-Stunden verkürzten Wochenarbeitszeit mit Möglichkeiten einer regulierten Flexibilisierung des betrieblichen Arbeitszeitregimes. Diese Öffnung der Tarifverträge für die Vereinbarung flexibler Arbeitszeiten erzwang die Delegation von Regulierungskompetenzen von der tariflichen auf die betriebliche Ebene (vgl. hierzu auch Bosch u.a. 1988). Gleichzeitig wurde in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre (und dann natürlich verstärkt in den 1990er Jahren) immer deutlicher, dass das Flächentarifsystem einer beachtlichen inneren und äußeren Erosion unterliegt, was wiederum automatisch bedeutete, dass am Tarif vorbei oder ganz ohne Tarifbindung auf betrieblicher Ebene Arbeits- und Entlohnungsbedingungen ausgehandelt wurden – und damit auch in diesen Fällen die betriebliche Regulierungsebene an Gewicht gewann. Und indem die Tarifparteien versuchten, diesen Prozess der Erosion des Flächentarifvertrags durch die Vereinbarung von Öffnungs- und Härtefallklauseln sowie sonstiger ‚legaler‘ Modi der Tarifabweichungen zu stoppen oder zumindest zu mildern (hierzu etwa Bispinck 2004, 2005), wurde die Bedeutung der Betriebsebene nochmals zusätzlich aufgewertet, denn es waren wiederum regelmäßig die Betriebsparteien, die sich zunächst auf eine abweichende betriebliche Regelung einigen mussten.10 10
Dies ist freilich nicht nur mit einer Ausweitung der Kompetenzen der Betriebsparteien verbunden, sondern auch mit vermehrte Arbeitsbelastungen; hinzu kommt, dass durch die Verbetrieblichung zusätzlicher potentieller Kon-
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Unabhängig von diesen Veränderungen im System industrieller Beziehungen, die zu einer insgesamt gesteigerten Aufmerksamkeit für die betriebliche Regulierungsebene führten, lassen sich in den 1980er Jahren Veränderungen in der wissenschaftlichen Perspektive ad Betrieb beobachten, die sich auch auf die Analyse innerbetrieblicher Austauschbeziehungen niederschlug. Hierbei sind vor allem drei Punkte zu nennen. (1) Entwicklung und Verbreitung des Arbeitspolitik-Ansatzes: Zunächst ist dabei auf den Arbeitspolitik-Ansatz zu verweisen, wie er insbesondere am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) von der ForscherInnen-Gruppe um Frieder Naschold – wesentlich auch unter Bezug auf die in den angelsächsischen Ländern etablierte „labour process debate“ – entwickelt wurde (Jürgens/Naschold 1984; Naschold 1985); für die Arbeits- und Industriesoziologie war dabei zentral, dass hier der Betrieb als politische Arena gefasst wurde, in dem die verschiedensten Akteure mit ihren ganz unterschiedlichen Machtressourcen (mehr oder weniger) strategisch agieren. Infragegestellt wurde so die Vorstellung vom omnipotenten Management oder von Rationalisierung als zweckrationalem Prozess: Die betriebliche Praxis wurde vielmehr als das Ergebnis eines vielfältigen arbeitspolitischen Bargaining-Prozesses verstanden. Der Mikropolitik-Ansatz, der in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre aufkam (Küpper/Ortmann 1988), verstärkte diese Perspektive und betonte zusätzlich, dass Aushandlungsprozesse nicht nur zwischen den Betriebsparteien stattfinden, sondern betrieblich gleichsam omnipräsent seien: Auch der Versuch der Festlegung einer bestimmten Managementstrategie ist durch mikropolitische Machtspiele zwischen verschiedenen Managementfraktionen gekennzeichnet – und ähnliches lässt sich auch auf Arbeitnehmerseite finden. Deutlich wurde so zum einen, dass es einen gewissen Optionsraum betrieblichen Handelns gibt, der unterschiedlich genutzt werden kann, und zum anderen, dass man den analytischen Blick schärfen muss für die unterschiedlichen Akteure in der betriebspolitischen Arena. Damit gerät aber auch die betriebliche Industrial RelationsForschung mit ihrer traditionellen Fixierung auf den Betriebsrat (und unter weitgehender Vernachlässigung des Managements) unter gewissen Zugzwang. (2) Aufkommen einer empirisch ausgerichteten Management-Soziologie: In dieselbe Richtung verweist die nahezu zeitgleich anhebende empirische Management-Soziologie in Deutschland. Dabei war das Desiderat einer „entfaltete(n) Management-Soziologie“ (Kern/ Schumann 1984: 26) vorrangig in der sozialwissenschaftlichen Rationalisierungs- und Technikforschung, dem damaligen Kernbereich der deutschen Arbeits- und Industriesoziologie, festgestellt worden. Nachdem in den späten 1970er Jahren das bislang dominierende „deterministische Paradigma“11 zunehmend problematisiert wurde (und damit die unter Punkt 1) angesprochene arbeitspolitische Wende in der Rationalisierungs- und Technikforschung eingeläutet war), rückten zwangsläufig die Akteure verstärkt in das Blickfeld der ForscherInnen (hierzu z.B. Lutz 1987). Das Management – ohne Zweifel ein prominenter fliktstoff in die Beziehungen zwischen Management und Betriebsräte getragen wird, der zuvor externalisiert worden war. Darüber waren insbesondere die Betriebsräte nicht begeistert, was jüngst wieder von Werner Nienhüser und Heiko Hoßfeld (2008) bestätigt wird. 11 Deterministische Ansätze fanden sich in der sozialwissenschaftlichen Technik- und Rationalisierungsforschung in drei Varianten: (1) technologischer Determinismus: Verlauf und Richtung des technischen Wandels folgen – gleichsam vorsozial – einer eigengesetzlichen Entwicklungslogik; (2) ökonomischer Determinismus: die Prämisse optimaler Kapitalverwertung begrenzt den Handlungsspielraum von Betrieben und erzwingt die Implementation des ‚one best way‘ der Gestaltung sozio-technischer Systeme, und (3) Technikdeterminismus: der technische Produktionsapparat erfordert eine spezifische Gestaltung der Arbeitsorganisation, und damit auch der fachlichen Arbeitsteilung sowie der Qualifikationsanforderungen.
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betrieblicher Entscheidungsträger – stellte jedoch insbesondere hinsichtlich seiner konkreten Rolle im betrieblichen Arbeitsprozess weitgehend ‚Terra incognita‘ auf der industriesoziologischen Landkarte dar (Schienstock 1991). Während es früher gleichsam ‚entsubjektivierte‘ Analysen des Managements kapitalistischer Betriebe in strukturtheoretischer Absicht gegeben hatte (etwa den „Strategie-Ansatz“ des Münchner Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung (ISF), Altmann/Bechtle 1971), wurden nun handlungs- bzw. akteursbezogene Analysen des betrieblichen Management-Prozesses forciert – auch in Bezug auf Fragen der innerbetrieblichen Regulierung von Arbeit. (3) Die ‚Entdeckung‘ der innerbetrieblichen Sozialbeziehungen: Im Zuge der soeben angedeuteten Reorientierung der Arbeits- und Industriesoziologie wurde generell ein verstärktes Interesse an Struktur und Prozess innerbetrieblicher Sozialbeziehungen virulent. Hintergrund war zum einen das empirische Wissen, dass das betriebliche Sozialsystem ganz offensichtlich den Handlungsraum der Akteure in je spezifischer Weise konfiguriert und damit scheinbar Kontingentes in typische betriebliche Entscheidungen transformiert. Damit schien gleichsam eine analytische Meso-Ebene ausgemacht, die es einem erlaubt, die theoretischen Sackgassen sowohl strukturtheoretisch-deterministischer wie handlungstheoretisch-voluntaristischer Erklärungsansätze zu umgehen. Dass die jeweilige Struktur innerbetrieblicher Austauschbeziehungen dabei ein wesentliches Element der betrieblichen Sozialbeziehungen darstellt, versteht sich quasi von selbst. Aus ganz unterschiedlich gelagerten Forschungszusammenhängen wurden Konzepte (mit teilweise voneinander abweichenden Erklärungsansprüchen und Akzentuierungen) vorgelegt, deren konvergentes Ziel es war, sich der vielfältigen innerbetrieblichen Beziehungsstruktur analytisch und begrifflich zu nähern. Es waren dies im Wesentlichen folgende Ansätze:
Das Konzept der „innerbetrieblichen Handlungskonstellation“ (Weltz/Lullies 1984): Friedrich Weltz und Veronika Lullies betonen bei der Analyse von Prozessen der Bürorationalisierung die zentrale Bedeutung von Akteursbeziehungen und spezifisch strukturierten arbeitspolitischen Arenen, die sich zu je unterschiedlichen innerbetrieblichen Handlungskonstellationen verdichten. Die „innerbetrieblich verfestigte Organisations- und Verhandlungskultur“ (Bechtle/Heine/Schmidt 1985): In ihrer deutsch-italienischen Vergleichsstudie arbeiten die Autoren heraus, wie sich je unterschiedliche Erwartungshaltungen und subjektive Deutungsmuster in Kombination mit unterschiedlichen institutionellen Kontexten zu innerbetrieblichen Organisations- und Verhandlungskulturen verfestigen. Die „betriebliche Sozialverfasssung“ (Dabrowski u.a. 1986): Im Rahmen des HdAProjektes in Klein- und Mittelbetrieben wird der Versuch unternommen, ein „Gesamtkonzept der betrieblichen Sozialordnung“ zu entwickeln, in dem der Betrieb „als Ganzes“, als „ganzheitliches soziales Gebilde“ (Dabrowski u.a. 1986: 32) thematisiert wird. Dabei werden drei Analyseebenen unterschieden: Unternehmenspolitische Konzepte und Leitungsstrukturen, Arbeitsbedingungen und Beschäftigte, Ausgestaltung der betrieblichen Interessenwahrnehmung. Die „politische Kultur der innerbetrieblichen Austauschbeziehungen“ (Schmidt/Trinczek 1986): Dieses Konzept wurde aus Projekten zur betrieblichen Umsetzung von Arbeitszeitverkürzung und -flexibilisierung heraus entwickelt. Im Rahmen dieser Forschungsvorhaben wurde deutlich, dass sich üblicherweise in Betrieben gewisse Stan-
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dards einer ‚normalen‘ Beziehung zwischen Management und Betriebsrat mit je eigenen ex- wie impliziten Regeln, Routinen und Ritualen herauskristallisieren, denen erhebliche normative Wirkkraft zukommt. Diese Muster der Problemwahrnehmung und -verarbeitung, die als Sediment der asymmetrischen innerbetrieblichen Machtauseinandersetzung zu verstehen sind, können als „politische Kultur“ der innerbetrieblichen Austauschbeziehungen beschrieben werden. Die „betriebliche Sozialverfassung“ von Eckart Hildebrandt und Rüdiger Seltz (Hildebrandt/Seltz 1989; Hildebrandt 1991), die früher noch mit dem Begriff „betriebliches Sozialmodell“ gearbeitet hatten (Seltz/Hildebrandt 1985): Im Rahmen einer Studie zur Einführung computergestützter PPS-Systeme12 im Maschinenbau wird deutlich, dass spezifische Weisen des Technikeinsatzes und Arten von Kontrollformen nur in Kenntnis der betrieblichen Sozialverfassung zu verstehen sind. Darunter wird „das Gesamtensemble der wichtigsten betrieblich gestalteten oder im Betrieb wirksamen Normen und Regeln, die die Arbeitseinstellung und das Arbeitshandeln der Beschäftigten beeinflussen“, verstanden (Hildebrandt 1991: 102). Als Bausteine der betrieblichen Sozialverfassung werden folgende Faktoren benannt: Betriebsgröße und Betriebsstatus; das Verhältnis von Planung und Ausführung; die Selbstständigkeit der Betriebsbereiche; die Normalität paralleler Strukturen und widersprüchlicher Prinzipien; die Stellung des Betriebsrats im betrieblichen Interessengefüge; und die lokale Einbindung des Betriebs bzw. regionale Besonderheiten. Die „betriebliche Sozialordnung“ von Hermann Kotthoff (Kotthoff/Reindl 1990, 1991; Kotthoff 1994): Im Mittelpunkt des Kotthoff’schen Konzeptes stehen Fragen nach der „Handlungskoordination und der sozialen Integration“ (Kotthoff/Reindl 1990: 9). Bei der operativen Umsetzung des Konzeptes wird mit drei Analyseebenen gearbeitet: die Arbeitspraxis (Beziehungen von Kollegen und Vorgesetzten auf Arbeitsgruppenebene), die Integrationspraxis (Beziehungen zum Betrieb als Gesamtkollektiv bzw. Management) sowie die interessenpolitische Praxis (die allerdings nicht auf die institutionalisierte Interessenvertretung beschränkt ist).
Auslöser für die genannten konzeptionellen Überlegungen war in der Hauptsache das in ganz unterschiedlichen Untersuchungskontexten beobachtete Phänomen, dass gleiche Themen in Betrieben mit vergleichbaren Strukturmerkmalen in ganz unterschiedlicher Manier bearbeitet wurden, und diese betriebsspezifischen Bearbeitungsmodi regelmäßig von den Betriebsparteien gemeinsam getragen wurden. Zudem waren sie üblicherweise tief in der Firmengeschichte verankert und zeichneten sich durch ein hohes Maß an Strukturkonservatismus aus. Durch solche empirischen Beobachtungen wurde zwangsläufig das Interesse an den Feinstrukturen innerbetrieblicher Austauschbeziehungen geweckt, die bislang regelmäßig als zu vernachlässigende Größe betrachtet wurden, denn sie schienen nur unnötigerweise den Blick auf das Wesentliche – den Gegensatz von Kapital und Arbeit – zu verstellen.13
12 PPS steht für (EDV-gestützte) Produktionsplanungs- und Steuerungssysteme, mit deren Einführung eine Optimierung der Produktionsabläufe (etwa hinsichtlich der Termineinhaltung, Ausnutzung der Betriebsmittel etc.) angestrebt wurde. PPS war integraler Baustein der CIM-Philosophie (computer-integrated manufacturing), also der Vision einer vollständigen informationstechnischen Durchdringung und Steuerung der Betriebsabläufe. 13 In diesem Kontext wurden dann auch vermehrt empirische Studien zu verschiedenen Teilaspekten betrieblicher Interessenvertretung durchgeführt, wie etwa die nach wie vor interessante Arbeit von Fritz Böhle (1986) zu betrieblicher Informationspolitik und Interessenvertretung.
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Für die Analyse der betrieblichen Regulierung der Arbeit resultieren diese perspektivischen Verschiebungen sicherlich in einer (Re-)Soziologisierung der Analysen. Nicht weiter verwunderlich führt das Nachspüren der Feinstrukturen betrieblicher Austauschbeziehungen zu einer Verfestigung der ohnehin schon dominierenden qualitativen Orientierung im empirisch-methodischen Vorgehen. Es wird in den Analysen verstärkt mit interaktionistischen Ansätzen operiert (etwa bei Bosch 1997; Bosch u.a. 1999); typisch sind die stärkere Beachtung des Managements (z.B. Trinczek 1993) sowie die Betonung des betriebshistorischen Kontextes und der Einbettung in eine betriebliche Sozialordnung. Gleichzeitig wird in den empirischen Studien die Bedeutung des Informellen und der alltäglichen Routinen betont, die sich eben zu den je besonderen betrieblichen Sozialordnungen verdichten würden (siehe insbesondere Kotthoff/Reindl 1990). Es sind denn auch weniger ‚überraschend neue‘ materiale Ergebnisse, die die Studien zur betrieblichen Regulierung von Arbeit in den 1980er Jahren hervorgebracht haben, als vielmehr der spürbar veränderte analytische Zugriff auf einen Gegenstandsbereich, dessen wachsende Relevanz im Zuge der Verbetrieblichungstendenzen im System industrieller Beziehungen offensichtlich geworden war. Nach wie vor stand empirisch jedoch – trotz aller Verschiebungen der Gewichte zwischen den Wirtschaftssektoren in Richtung auf eine Dienstleistungsgesellschaft – der Industriebetrieb im Mittelpunkt der empirischen Forschung; und nach wie vor dominierte in den Studien auch die Fixierung auf das staatlicherseits etablierte System industrieller Beziehungen mit seinen Säulen Betriebsverfassung und Tarifautonomie. Wenn von betrieblicher Interessenvertretung gesprochen wurde, war automatisch der Betriebsrat gemeint, dessen Existenz in den Betrieben stillschweigend unterstellt wurde. Neu war lediglich, dass dieser Betriebsrat nun eingebettet wurde in ein realistischeres, komplexeres betriebliches Setting, das etwa auch ein real fungierendes Management beinhaltete. Auf der Theorieebene war dies begleitet durch eine sukzessive Relativierung strukturtheoretischer Positionen marxistischer Provenienz und durch den stärkeren Bezug auf handlungs- und interaktionstheoretische, mitunter auch (in Anlehnung an Anthony Giddens 1988) strukturationstheoretische Konzepte (etwa bei Ortmann/Windeler 1989). 3.2
Verbreiterung des forschenden Zugriffs auf die betrieblichen Arbeitsbeziehungen seit den 1990er Jahren
Ab den 1990er Jahren lassen sich nun verschiedene, teils grundlegende Veränderungen in der Analyse betrieblicher Regulierung von Arbeit ausmachen, die man in vier Abschnitten zusammenfassen kann:
Das Entdecken von so genannten Vertretungslücken; verstärkte quantitative Analysen betrieblicher Regulierung von Arbeit; Ausweitung empirischer Analysen auf neue Felder; inhaltliche Schwerpunktsetzung auf die Frage der Anpassung betrieblicher Interessenpolitik an veränderte Kontextbedingungen.
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Das Entdecken von so genannten Vertretungslücken Eines der zentralen Ergebnisse der Debatte seit den 1990er Jahren ist zweifellos, dass in der Zwischenzeit breit anerkannt wird, dass es in Deutschland nicht nur das eine ‚offizielle‘ System industrieller Beziehungen mit seinen beiden Säulen Betriebsverfassung und Flächentarifvertag gibt, wie es üblicherweise in einschlägigen Lehrbüchern dargestellt wurde (etwa bei Müller-Jentsch 1997), sondern dass sich daneben offensichtlich andere Modi der Regulierung von Arbeit etabliert haben. Es war neben dem nur begrenzt erfolgreichen Transfer der in Westdeutschland etablierten Institutionen der Mitbestimmung in die neuen Bundesländer (siehe hierzu Bergmann/Schmidt 1996; Kädtler/Kottwitz/Weinert 1997; Schmidt 1998) insbesondere der Bericht der Kommission ‚Mitbestimmung‘ – die von Wolfgang Streeck geleitet und der Bertelsmann- sowie der Hans-Böckler-Stiftung finanziert wurde – durch den der Blick auf die wachsenden „mitbestimmungsfreien Zonen“ gelenkt wurde (Bertelsmann Stiftung/ Hans-Böckler-Stiftung 1998). Auf einer – wie wir heute wissen – eher problematischen Datengrundlage wurde auf den wichtigen und richtigen Befund verwiesen, dass es in Deutschland einen großen und tendenziell eher wachsenden Teil der Wirtschaft gebe, der sich zumindest partiell jenseits des etablierten ‚offiziellen‘ Systems industrieller Beziehungen bewege, also nicht tarifgebunden sei und/oder keinen Betriebsrat aufweisen könne. Bestätigt wurde dieser Befund durch die repräsentativen Zahlen des Betriebspanels des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit (IAB). Danach weisen in der Privatwirtschaft seit Mitte der 1990er Jahre nun schon nur 10-11% der betriebsratsfähigen Betriebe (mit mehr als 5 Beschäftigten) tatsächlich einen Betriebsrat auf. Obwohl sich in größeren Betrieben erwartungsgemäß signifikant häufiger Betriebsräte finden als in Klein- und Mittelbetrieben, wird gegenwärtig nicht einmal die Hälfte der Beschäftigten in der Privatwirtschaft von einem Betriebsrat vertreten. Dabei gibt es zum einen eine leichte Tendenz zur Zunahme der betriebsratsfreien Zonen, zum anderen eine erhebliche Lücke zwischen West- und Ostdeutschland: Während 1988 51% der west- und 61% der ostdeutschen Beschäftigten ‚vertretungsfrei‘ waren, stieg diese Zahl bis 2007 auf 55% in Westdeutschland an, während sie in Ostdeutschland auf dem niedrigeren Niveau stabil blieb (Ellguth/Kohaut 2008). Mit dieser Vertretungslücke wurde gleichzeitig ein weißer Fleck auf der Forschungslandkarte deutlich, denn mit der Frage, wie denn Arbeit in Betrieben ohne betriebliche Interessenvertretung nach dem Betriebsverfassungsgesetz reguliert wird, hatte sich bislang die Scientific Community noch nicht beschäftigt – allenfalls im Rahmen der (industriesoziologisch ebenfalls eher vernachlässigten Kleinbetriebsforschung (z.B. Kotthoff/Reindl 1990; Wassermann 1992; Syben 1997; Hilbert/Sperling/Fretschner 1999) ließen sich einige Hinweise finden. Verstärktes Interesse fanden Betriebe ohne Betriebsräte insbesondere aus dem Zusammenspiel zweier Entwicklungen: Zum einen wurde deutlich, dass der wirtschaftsstrukturelle Wandel hin zu einer Dienstleistungs- und Wissensökonomie (Tertiarisierung) sowie die beobachtbare relative Zunahme von Kleinst- und Kleinbetrieben im Betriebsgrößenspektrum der deutschen Wirtschaft genau die Bereiche wachsen lässt, die klassischerweise durch eine unterdurchschnittliche Verbreitung von Betriebsräten gekennzeichnet ist; daher konnte von einer zukünftig zunehmenden quantitativen Verbreitung betriebsratsloser Betriebe ausgegangen werden. Zum anderen hat – wie in Abschnitt 3.1 bereits erwähnt – in
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den vergangenen Jahren aufgrund von Verbetrieblichungstendenzen im System industrieller Beziehungen sowie der inneren und äußeren Erosion des Flächentarifvertrags die betriebliche Regulierungsebene eine erhebliche Aufwertung erfahren. Während also betriebliche Interessenvertretungsstrukturen an Relevanz gewannen, nahm gleichzeitig ihre quantitative Verbreitung ab – dies musste die Forschung herausfordern. Entsprechend sind in den frühen 2000er Jahren Forschungsprojekte in diesem Bereich angestoßen worden, von denen in der Zwischenzeit erste Ergebnisse vorliegen (etwa Artus u.a. 2006; Lücking 2009; Artus u.a. 2009; Hauser-Ditz/Hertwig/Pries 2008, 2009).
Vermehrt quantitative Analysen betrieblicher Regulierung von Arbeit Empirische Studien zu betrieblichen Arbeitsbeziehungen waren bis in die 1990er Jahre hinein methodisch regelmäßig als qualitative Fallstudienanalysen angelegt. In den 1990er Jahren setzte dann eine gewisse Welle quantitativ orientierter Analysen ein; ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier die für die Soziologie der betrieblichen Arbeitsbeziehungen wesentlichen Datensätze bzw. Untersuchungen genannt:
Seit 1993 in West- und seit 1996 in Gesamtdeutschland wird vom IAB in seiner jährlichen repräsentativen Betriebspanelerhebung (Bellmann 2002) unter anderem auch erhoben, ob der jeweilige Untersuchungsbetrieb tarifgebunden ist und ob er einen Betriebsrat hat; seit 2003 wird auch danach gefragt, ob der Betrieb eine sonstige betriebsspezifische Form der Mitarbeiterbeteiligung aufweist. Das IAB-Betriebspanel stellt die bislang beste Datenquelle in Deutschland zur Verbreitung von betrieblichen Formen der Interessenvertretung dar; entsprechend sind auf der Grundlage dieses Datensatzes zahlreiche Untersuchungen mit Relevanz für die Analyse betrieblicher Arbeitsbeziehungen entstanden (etwa Addison u.a. 2003; Ellguth/Promberger 2004; Ellguth 2005; Ellguth/Kohaut 2008). Das 1994 gestartete (später dann aber im IAB-Betriebspanel aufgegangene) Hannoveraner Firmenpanel (Gerlach/Hübler/Meyer 2003) gestattete es, Fragen nach dem Zusammenhang zwischen der (Nicht-)Existenz von Betriebsräten und betrieblichen Politiken in verschiedenen mitbestimmungssensiblen Bereichen (etwa Fluktuation, Lohnhöhe, Produktivität, Arbeitszeitflexibilisierung etc.) zu beantworten, sowie dem Einfluss des Betriebsrats auf die Gesamtperformanz von Betrieben nachzuspüren (z.B. Addison/Schnabel/Wagner 1999; Schnabel/Wagner 2001; Hübler/Jirjahn 2003).14 Seit 1997/98 führt das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut in der HansBöckler-Stiftung in rund 2-jährigem Abstand seine WSI-Befragung von Betriebs- und Personalräten durch, die nicht als Panel, sondern als Wiederholungsbefragung angelegt ist. Das WSI-Vorhaben stellt eine jeweils bundesweite repräsentative Befragung von Betriebs- und Personalräten in Betrieben mit 20 und mehr Beschäftigten dar, und erhebt
14 Innerhalb der Arbeits- und Industriesoziologie wurde die anwachsende Anzahl ökonomisch orientierter Analysen der Betriebsverfassung mit ihrem Fokus auf die Folgen der Betriebsverfassung für die Wirtschaftlichkeit von Unternehmen (neben den bereits erwähnten u.a. auch die einschlägigen Arbeiten von Bernd Frick (Frick 1997; Frick/Sadowski 1995; zusammenfassend Dilger 2002) nur randständig rezipiert. Dies hatte in gewisser Hinsicht auch gute Gründe, war doch die Betriebsverfassung historisch nie als ein Projekt zur Steigerung betrieblicher Effizienz gedacht gewesen; es ist daher extrem fraglich, ob ökonomische Effizienz überhaupt als adäquater Maßstab zur Bewertung betriebsverfassungsrechtlicher Regelungen dienen kann.
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detailliert Informationen zu Arbeit und Alltag der betrieblichen Interessenvertretung, deren Selbstverständnis und Handeln in unterschiedlichen arbeitspolitischen Feldern. Wesentliche Ergebnisse werden regelmäßig in Schwerpunktheften der WSI-Mitteilungen veröffentlich, aus der 2007er-Befragung etwa in Heft 6 des Jahrgangs 2008. Seit 1998 führt das Kasseler Büro für Sozialforschung für den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) unter dem Titel „Trendreport Betriebsrätewahlen“ jeweils zeitnahe Auswertungen der Ergebnisse der Betriebsratswahlen durch, zunächst nur für den Organisationsbereich der IG Metall, 2006 zusätzlich auch für Ver.di, IG BAU und IG BCE. Die Daten erlauben differenzierte Analysen zu Struktur und Veränderung von Betriebsratsgremien und Belegschaften in den abgedeckten Bereichen (etwa für die Betriebsratswahl 2006: Rudolph/Wassermann 2007).15 Das zwischen 1991 (1993 in den neuen Bundesländern) und 1998 jährlich als Vollerhebung im deutschen Maschinenbau erhobene Bochumer Panel über „Neue Informationssysteme und flexible Arbeitssysteme – NIFA“ (Schmidt/Widmaier 1992) sah in der 1994er und 1996er Welle eine Frage zur Existenz eines Betriebsrats vor. In der 1996er Befragung wurde zusätzlich eine Frage gestellt, aus der man – mit etwas gutem Willen – eine Typisierung unterschiedlicher Betriebsräte aus der Perspektive des befragten Managements vornehmen konnte; damit konnte man erstmals auch die unterschiedlichen Orientierungen von Betriebsräten in ökonometrischen Analysen berücksichtigen (siehe hierzu insbesondere Dilger 2002). 1996 wurde von einer Bochumer Arbeitsgruppe um Walther Müller-Jentsch gleichzeitig eine ergänzende Betriebsräte-Befragung im Maschinenbau durchgeführt (Müller-Jentsch/Seitz 1998). Das Institut der deutschen Wirtschaft hat im Frühjahr 2007 in der vierten Welle seines IW-Zukunftspanel (Lichtblau/Neligan 2009) Unternehmen aus der Industrie, Bauindustrie, dem Logistikbereich sowie den unternehmensnahen Dienstleistungen dazu befragt, welche Form der Beteiligung der Belegschaften es in ihren Unternehmen gibt, also ob es einen Betriebsrat gibt, ein von Management und Beschäftigten bzw. deren Vertreter gemeinsam besetztes Gremium oder eine andere alternative Vertretungsinstitution (zu ersten Ergebnissen siehe Stettes 2008). Im Rahmen des Projektes „Betriebliche Interessenregulierung in Deutschland – Survey und Strukturanalyse (BISS)“ wurde von einer Projektgruppe um Ludger Pries ein umfassender und für die privatwirtschaftlichen Betriebe mit mindestens 10 Beschäftigten repräsentativer Datensatz erhoben, in dem nicht nur unterschiedliche Vertretungsmodi (Betriebsrat oder ‚Andere Vertretungsorgane‘) erfasst wurden, sondern auch der so genannte Regulierungsoutput betrieblicher Arbeitsbeziehungen. Eine Besonderheit der auf CATI-Interviews16 basierten BISS-Erhebung ist, dass es hier gelang, in gut 1.400 der knapp 3.300 Untersuchungsbetriebe sowohl den personalverantwortlichen Vertre-
Für die Arbeitgeberseite unternimmt das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) seit den 1970er Jahren regelmäßige Analysen der Betriebsratswahlen (zusammenfassend Niedenhoff 2006); allerdings ist die methodische Grundlage der IW-Analysen wiederholt kritisiert worden. 16 CATI steht für ‚computer-assisted telephone interviewing‘; Kern dieses Verfahrens ist, dass die Ablauflogik des Fragebogens vom Computerprogramm vorgegeben wird und die Dateneingabe direkt in das Computersystem erfolgt; auf diese Weise können etwa frühzeitig Schieflagen in der Befragtenstruktur erkannt (und dann noch behoben) werden. CATI-Interviews sind in der Zwischenzeit im Kanon der Interviewverfahren fest etabliert – wohl nicht zuletzt aufgrund der Möglichkeit, relativ kostengünstig in einem kurzen Zeitraum eine vergleichweise große Zahl an Personen mündlich befragen zu können.
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Rainer Trinczek ter der Geschäftsleitung wie auch einen Arbeitnehmervertreter zu befragen (zusammenfassend zu BISS siehe Hauser-Ditz/Hertwig/Pries 2008).
Insgesamt haben die verschiedenen quantitativ ausgerichteten Analysen zur Betriebsverfassung das Bild der Arbeitsbeziehungen in Deutschland in sinnvoller Weise ergänzt und komplettiert und auf eine solide repräsentative Basis gestellt. Die Forschung bewegt sich damit heute auf gesicherterem Terrain als noch in den 1980er Jahren – ohne dass dies freilich die Ergebnisse der früheren qualitativen Analysen gänzlich in Frage gestellt hätte. Relativiert wurden jedoch ohne Zweifel manche fraglose Hintergrundannahmen zu Verbreitung und Wirksamkeit betrieblicher Interessenvertretung in Deutschland: Durch die Konzentration der empirischen Forschung auf mittlere und größere Industriebetriebe hatte sich – wie oben bereits angedeutet – implizit die Vorstellung der selbstverständlichen Existenz eines durchschnittlich eher vertretungsstarken und in stabile kooperative Arrangements eingebundenen Betriebsrats festgesetzt, die in dieser Form heute sicherlich nicht mehr zu halten ist.
Ausweitung empirischer Analysen auf neue Felder Es waren allerdings nicht nur die aufkommenden quantitativen Analysen, die den forscherischen Blick auf die große Bandbreite betrieblicher Arbeitsbeziehungen jenseits des für das Modell Deutschland vermeintlich so typischen Modus kooperativer Konfliktverarbeitung lenkten. Mit einer gewissen strukturkonservativen Trägheit ist auch die arbeits- und industriesoziologische Forschung in Teilen dem wirtschaftsstrukturellen Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft gefolgt17 und hat sich neue Forschungsfelder erschlossen, in denen dann auch systematisch abweichende Modi betrieblicher Austauschbeziehungen aufzufinden waren. Im Folgenden können die ‚neuen‘ Ergebnisse nur exemplarisch anhand zweier maximal kontrastierender Bereiche kurz angedeutet werden. Manageriale Partizipationsangebote im Hochqualifikationsbereich Seit den 1980er Jahren lässt sich in Teilbereichen der Wirtschaft das verstärkte Aufkommen eines modernen, partizipativ orientierten „Human-Resource-Managements (HRM)“ beobachten, das dann im Zuge der kurzen Blüte der New Economy um die Jahrtausendwende in nahezu idealtypischer Reinform empirisch zu studieren war. Integraler Bestandteile von HRM war die Orientierung am Leitbild einer betrieblichen Leistungsgemeinschaft (mit entsprechenden Exklusionsstrategien gegenüber so genannten Leistungsschwächeren), eine hohe arbeitsbezogene Subjektivierungserwartung an die Beschäftigten, das Schaffen einer eher lustbezogenen, gemeinschaftlich orientierten Arbeitsatmosphäre, die Existenz flacher Hierarchien, teamförmige Arbeitszusammenhänge und diverse direkte Partizipationsangebote an die Beschäftigten (Dörre 1996a). In einem solchen Betriebsmodell ist kaum Platz für die Institution eines Betriebsrats, der gleichsam stellvertretend die Interessen der
17 Auch der Trend zu einer relativ wachsenden Bedeutung von Klein- und Mittelbetrieben wird langsam aufgenommen; für das uns hier interessierende Thema betrieblicher Arbeitsbeziehungen siehe etwa die Studie von Nadine Schlömer, Rosemarie Kay, Uschi Backes-Gellner, Wolfgang Rudolph und Wolfram Wassermann (2007).
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MitarbeiterInnen gegenüber dem Management vertritt;18 diese Form kollektiver Mitbestimmung wird als ein Auslaufmodell wahrgenommen, als Relikt aus einer früheren Phase des Kapitalismus, als die Beschäftigten noch mit Ausbeutungsverhältnissen konfrontiert waren, gegen die sie sich individuell nicht wehren konnten. Heute – so die These der HRMVertreter – sei die Arbeitswelt jedoch völlig anders: Das Management wisse, dass die Human-Ressourcen das wichtigste Kapital eines Betriebes seien, mit dem pfleglich umgegangen werden müsse; die Beschäftigten wären darüber hinaus nun auch in der Lage, ihre Interessen eigenständig zu vertreten, und der Betrieb mache ihnen sogar systematisch Angebote (etwa ‚runde Tische‘, KVP-Zirkel19 etc.), wie sie sich, ihr Wissen und ihre Interessen systematisch produktiv und direkt in den Betrieb einbringen könnten. Ein Betriebsrat wirkt hier eher als Fremdkörper. Im Kontext dieser, hier idealtypisch zugespitzten HRM-Strategie entstand erstmals ein Alternativmodell innerbetrieblicher Arbeitsbeziehungen, das durchaus anschlussfähig an die Interessen eines bestimmten (typischerweise hochqualifizierten und angestellten) Beschäftigtentypus20 mit seinen eher individuell ausgerichteten Strategien der (Eigen)-Interessenvertretung zu sein schien, und dabei den Beschäftigten offensichtlich durchaus Chancen zur eigenständigen Mitsprache über betriebliche Angelegenheiten bot. Unklar und umstritten ist in der Literatur die Frage, ob es im Gefolge der Krise der New Economy nicht auch zu einer Normalisierung der Arbeitsbeziehungen in den Betrieben der betroffenen Branchen (etwa Medien oder IT-Industrie) gekommen ist: Während hier manche im Prozess der durchschnittlichen Deprivilegierung der Beschäftigungsverhältnisse seit einigen Jahren eine Annäherung an die traditionellen Formen betriebsverfassungsrechtlicher Interessenvertretung wahrnehmen (vor allem die ISF-Arbeitsgruppe um Andreas Boes; etwa Boes/Trinks 2006), betonen andere die nach wie vor in diesen Bereichen dominierende erhebliche Distanz gegenüber kollektiven Modi der Mitbestimmung, und zwar sowohl beim Management wie bei den tragenden Gruppen der Beschäftigten (etwa Abel/Ittermann/Pries 2005; Ittermann 2009). Repression im Bereich prekärer Dienstleistungsarbeit Der wirtschaftsstrukturelle Wandel ist nun jedoch nicht nur mit einer Zunahme hochqualifizierter Angestelltentätigkeit verbunden, vielmehr gehören zu den in Deutschland besonders stark expandierenden Branchen auch diverse Dienstleistungsbereiche, in denen das geleistet wird, was man als „prekäre Dienstleistungsarbeit“ bezeichnet21: Schlecht bezahlte Arbeit in häufig unsicheren Beschäftigungsverhältnissen am unteren Ende des Qualifikationsspektrums. Konzentriert finden sich solche Arbeitsverhältnisse in Branchen wie (System-)Gastronomie, Sicherheits- und Reinigungsgewerbe, Teilbereichen des Einzelhandels (z.B. Dis18
Bereits in den späten 1980er Jahren wird von Klaus Düll und Günter Bechtle diskutiert, inwieweit – neben neuen Rationalisierungsstrategien und Verbetrieblichungstendenzen – auch solche managerialen Partizipationsangebote an die Beschäftigten zu einer „Krise des normierten Verhandlungssystems“ führen (Düll/Bechtle 1988). 19 KVP steht für Kontinuierlicher Verbesserungsprozess. Mit der Einführung von KVP-Zirkeln zielt das Management auf die stete inkrementelle Verbesserung von Betriebsabläufen durch die Beschäftigten als Experten ihres eigenen Arbeitsplatzes. Im Rahmen der Lean-Production-Debatte wurden solche Verfahren auch unter dem japanischen Begriff Kaizen bekannt. 20 G. Günter Voß und Hans J. Pongratz haben solche Beschäftigte idealtypisierend als „Arbeitskraftunternehmer“ beschrieben (Voß/Pongratz 1998; Pongratz/Voß 2003). 21 Siehe hierzu den Beitrag von Heike Jacobsen „Strukturwandel der Arbeit im Tertiarisierungsprozess“ in diesem Band.
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count-Ketten), Teilen des Logistiksektors (etwa Paketdienste) etc. Ohne Zweifel handelt es sich bei den betroffenen Beschäftigten um eine Klientel, die des Schutzes durch die gesetzlich garantierten Organe der kollektiven Interessenvertretung dringend bedürften, der ihnen jedoch überproportional häufig vom Management systematisch verwehrt wird. Die Repressionsstrategien bekannter Discounterketten gegenüber ihren Beschäftigten und insbesondere gegenüber potentiellen BetriebsratsgründerInnen sind in der Zwischenzeit ja hinreichend öffentlich bekannt geworden; weniger bekannt ist, dass vergleichbare Verhältnisse auch in anderen Teilbereichen des expandierenden Niedrig-Lohn-/Niedrig-Qualifikationssektors flächendeckende Realität in Deutschland sind. Die Industrial Relations-Forschung hat sich im Zuge der zunehmenden Thematisierung der Existenz von Prekarität und Arbeitsarmut (Working Poor) seit der Jahrtausendwende auch vorsichtig diesem Bereich geöffnet (etwa Bormann 2007; Artus 2008; Böhm 2008). Anknüpfend an die Ausweitung der Forschung auf neue Wirtschaftsbereiche,22 welche den Blick für die Differenziertheit betrieblicher Arbeitsbeziehungen jenseits der betriebsverfassungsrechtlichen Norm erheblich geschärft hat, lässt sich in den letzten Jahren aber auch eine gewisse thematische Erweiterung des forscherischen Zugriffs feststellen. Besonders interessant scheint zu sein, dass Betriebsräte nun auch als Subjekte stärker Beachtung zu finden; dabei wird etwa thematisiert, wie die Interessenvertreter mit den häufig schwierigen und (auch psychisch belastenden) Entscheidungssituationen umgehen (vgl. Tietel 2006); oder es wird diskutiert, inwiefern sich die subjektiven Interessen von Beschäftigten am Amt des Betriebsrats im Zuge des verstärkten Einrückens eines neuen Beschäftigtentypus in die Betriebsratgremien gewandelt hätten (z.B. Kotthoff 2004). Daneben werden aber auch betriebsratsinterne Arbeitsprozesse analysiert (etwa Behrens 2005; Minssen/Riese 2007); gleichzeitig sind Ausweitungen der Fragestellung zu betrieblicher Mitbestimmung in Richtung auf Gerechtigkeitsfragen zu beobachten (vgl. Lengfeld 2003; Kotthoff 2003). Ohne Zweifel hat sich durch die zahlreichen Studien seit der Jahrtausendwende, die an dieser Stelle freilich nicht alle angeführt werden können, der Wissensstand zu betrieblichen Arbeitsbeziehungen insgesamt erheblich ausgeweitet und ausdifferenziert – ohne dass man jedoch schon davon sprechen müsste, dass er unübersichtlich geworden wäre. Nach wie vor sind Betriebliche Austauschbeziehungen kaum als Modethema arbeits- und industriesoziologischer Forschung zu bezeichnen; die Literatur bleibt halbwegs überschaubar.
Inhaltlicher Fokus: Anpassung betrieblicher Interessenpolitik an veränderte Kontextbedingungen Inhaltlich wird die Debatte über betriebliche Arbeitsbeziehungen seit den 1990er Jahren wesentlich von der Frage dominiert, inwieweit sich die erheblich veränderten Rahmenbedingungen – als Stichworte mögen hier Globalisierung, Shareholder Value, Arbeitsmarktkrise, Ende des fordistischen Arrangements hinreichen – auf die Arbeit betrieblicher Interessenvertretungen ausgewirkt haben (vgl. z.B. die Studie von Jürgen Kädtler 2006). In den frühen 1990er Jahren wurden dabei noch verschiedentlich empirische Befunde veröffentlicht, die eine stabile und gesicherte Verankerung von Betriebsräten in der innerbetriebli22
Diese Erweiterung des Blicks geht freilich über die hier nur exemplarisch aufgeführten Bereiche der New Economy und der prekären Dienstleistungsbereiche weit hinaus; siehe etwa die interessante Studie von Tobias Jakobi zur Mitbestimmungspolitik kirchlicher Sozialverbände (Jakobi 2007).
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chen Sozialverfassung konstatierten; so kam beispielsweise Herrmann Kotthoff in seiner 1994 veröffentlichen Studie „Betriebsräte und Bürgerstatus“ zu dem Ergebnis, dass es – mit Blick auf die Vertretungswirksamkeit von Betriebsräten – „eine unerwartet starke Aufwärtsentwicklung der betrieblichen Interessenvertretung“ (Kotthoff 1994: 39) in der Zeit zwischen 1975 und 1990 gegeben habe. Auch Walther Müller-Jentsch schreibt 1995: „Today, the position of the works councils is much stronger than it was in the 1950s and 1960s.” (Müller-Jentsch 1995: 74); gleichzeitig sieht er eine gewisse Tendenz, dass „works councils will increasingly move into the role of co-manager“ (Müller-Jentsch 1995: 75). Mit dem Begriff des Co-Managements wird ab diesem Zeitpunkt gleichzeitig das eine Ende des Spektrums neuer Betriebsratsrollen im ökonomischen Strukturwandel beschrieben: Zwar ist richtig, dass „der Begriff des ‚Co-Managements‘ (…) einen schillernden Bedeutungsgehalt“ (Minssen/Riese 2005: 373) hat; trotzdem scheint Konsens darüber zu bestehen, dass es sich bei einem Co-Manager um einen Betriebsrat handelt, der über die Normen des Betriebsverfassungsgesetzes hinaus sich an strategischen Management-Diskussionen über die Zukunft des Betriebes aktiv beteiligt und in diesem Kontext dann auch dazu bereit ist, Verantwortung für bestimmte gemeinsam getroffene Entscheidungen gegenüber der Belegschaft zu übernehmen. Das Annehmen einer solchen Rolle erfordert sicherlich eine professionelle Organisation der Betriebsratsarbeit sowie den Erwerb von Kompetenzen und Wissen durch die Interessenvertreter weit über das in deutschen Durchschnittsbetrieben erwartbare Normalmaß hinaus.23 Freilich setzt funktionierendes Co-Management auch voraus, dass das betriebliche Management die Angebote des Betriebsrats überhaupt auch wahrzunehmen bereit ist, was ohne Zweifel nicht allerorten gegeben ist. Mitunter wird auch der Abschluss von betrieblichen „Bündnissen für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit“ (einführend Seifert 2002; Massa-Wirth/Seifert 2004) mit der informellen Ausweitung betrieblicher Mitbestimmung in Verbindung gebracht (etwa bei Rehder 2003), was für co-manageriale Vertretungsstrukturen als typisch gilt. Solche Bündnisse haben in den 1990er Jahren – nicht zuletzt im Kontext einer wachsenden Zahl tariflicher Öffnungsklauseln – sprunghafte Verbreitung in Deutschland gefunden und laufen letztlich darauf hinaus, dass Beschäftigte – vertreten durch ihre Betriebsräte – auf gewisse Rechte verzichten (etwa hinsichtlich Entlohnung oder Länge der Arbeitszeit) und dafür Gegenleistungen des Arbeitgebers erhalten, etwa in Form einer befristeten Arbeitsplatzgarantie oder neue Mitspracherechte des Betriebsrats jenseits der rechtlichen Bestimmungen. Auf jeden Fall scheinen betriebliche Bündnisse Betriebsräte nicht zu schwächen, sondern tendenziell sogar eher institutionell zu stärken. Gleichzeitig mehrten sich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre vor dem Hintergrund der sich abermals verschärfenden Arbeitsmarktkrise jedoch auch skeptischere Stimmen zur Situation von betrieblichen Interessenvertretungen: So merkt damals beispielsweise Hermann Kotthoff an, dass es nun nicht mehr „um einen Zugewinn an Mitbestimmung, um Offerten des Managements (geht), sondern um Abbau, Verarmung und Restriktion“ (Kotthoff 1998: 77).24 Auch die beobachtbaren dominanten Reorganisationsmodi von Unternehmen (etwa strategische Dezentralisierung, Aufbau von Unternehmensnetzwerken etc.) wurden in ihren Wirkungen auf betriebliche Arbeitsbeziehungen und die Vertretungsstärke von
23 Zum Themenkomplex „Expertenwissen und Interessenvertretung“ siehe Manfred Deiß und Eckhard Heidling (Deiß/Heidling 2001). 24 Ähnlich argumentieren u.a. Klaus Dörre (1996b), Reinhard Bahnmüller (1996) und Rainer Trinczek (2000).
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Betriebsräten wesentlich als insgesamt eher problematisch eingeschätzt (etwa zu Netzwerken die Beiträge in Sydow/Wirth 1999, oder zu neuen Wertschöpfungsketten Deiß 2000).25 Im Kontext dieser Debatten dominiert in den letzten Jahren insgesamt eher eine pessimistische Einschätzung der Handlungsbedingungen von Betriebsräten: Das Erpressungspotential durch das Management habe ebenso zugenommen wie der Druck auf die Interessenvertreter angesichts von Verbetrieblichung und tariflichen Öffnungsklauseln; Betriebsräte müssten betriebspolitisch erheblich höheren Aufwand betreiben, um trotzdem immer weniger für die Beschäftigten ‚rauszuholen‘. Hinzu kommt, dass sich Betriebsräte nun häufig auch bei neuen und komplexen Regelungsfragen engagierten, was die (Arbeits-) Belastung zusätzlich steigere; Betriebsräte – zumal die aktiveren unter ihnen – würden daher oft (qualitativ und quantitativ) am Rande ihrer Belastungsfähigkeit operieren. Und trotzdem – so der weitgehende Konsens unter den ForscherInnen – war das Ergebnis betrieblicher Interessenvertretungspolitik seit Mitte der 1990er Jahre allzu häufig ‚nur‘ das Absichern eines status quo minus. Gleichzeitig bleibt jedoch festzuhalten, dass die veränderten Rahmenbedingungen nur selten zu einer Erosion der betriebspolitischen Arrangements zwischen Management und Betriebsrat geführt haben. Vielmehr schienen nun regelmäßig nur andere Inhalte in gewohnten betriebspolitischen Bahnen abgearbeitet zu werden: Waren es früher übertarifliche Leistungen, auf die man sich innerbetrieblich verständigte, sind es nun Personalabbau und Lohnkürzungen. Hermann Kotthoff fasst diese Situation des Prozessierens veränderter Politiken in den gewohnten institutionellen Bahnen völlig richtig folgendermaßen zusammen: „Für den Betriebsrat ist dies nicht die Zeit großer Vertretungserfolge, sondern großer interessenpolitischer Zugeständnisse. Gemessen an den interessenpolitischen Wachstumsraten der Vergangenheit ist seine Vertretungswirksamkeit geringer geworden. Damit ist aber bislang keine Erosion seiner institutionellen Grundlagen verbunden. Das Modell der kooperativen Konfliktverarbeitung durch die Mitbestimmung des repräsentativen ‚Zentralorgans‘ Betriebsrat erfreut sich einer bemerkenswerten Stabilität und Kontinuität angesichts der gravierenden Einschränkung von Handlungsmöglichkeiten auf vielen interessenpolitischen Feldern. Ein Hauptgrund dafür, daß die ,Realpolitik‘, die streckenweise eine ‚Verzichtpolitik‘ ist, nicht die institutionelle Bedeutung der Betriebsräte verändert hat, liegt darin, daß sie mit ihrer kooperativkritischen Haltung des Mittragens und Mitverantwortens bisher tatsächlich die Haltung der Belegschaftsmehrheiten repräsentiert haben und diese immer wieder davon zu überzeugen in der Lage waren.“ (Kotthoff 1998: 96)
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Herausforderungen und Perspektiven: Pluralisierung und Segmentierung der Arbeitsbeziehungen, Internationalisierung und Theoriearbeit
Insgesamt lassen sich die oben skizzierten Forschungsergebnisse nur zu dem Befund zusammenfassen, dass es die eine dominante Form der Strukturierung betrieblicher Arbeits25
Auch hinsichtlich der Nachhaltigkeit von betrieblichen Bündnissen angesichts der regelmäßig wiederkehrenden Verhandlungen über die Verlängerung der Bündnisse, in deren Rahmen den Beschäftigten immer wieder neue Konzessionen für den Fortbestand der Beschäftigungsgarantie abverlangt wird, mehren sich skeptische Stimmen (etwa Rehder 2006).
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beziehungen in Deutschland nicht gibt.26 Zwar war die Annahme, dass das Modell Deutschland geprägt sei von einem Modell kooperativer Konfliktverarbeitung im Rahmen beständiger Versuche, betriebliche Win-Win-Situationen zu kreieren, höchstwahrscheinlich schon immer falsch bzw. eine gewisse einseitige Überspitzung betrieblicher Realität. Trotzdem konnte man bis in die späten 1970er Jahre hinein argumentieren, dieser Politikstil stelle gewissermaßen das gesellschaftlich akzeptierte und in der Praxis erfolgreiche Leitbild betrieblicher Austauschbeziehungen dar, auf das – etwas krude modernisierungstheoretisch argumentierend – abweichende Modi betrieblicher Interessenregulierung auf lange Sicht möglicherweise hin konvergieren würden. In dieser Weise lässt sich mittlerweile nicht mehr argumentieren: Weder kann heute gesellschaftlich von der Existenz eines stillschweigenden (sozialdemokratischen) Konsenses über „industrielle Bürgerrechte“ (Marshall 1950) ausgegangen werden, noch sind staatlich garantierte Mitbestimmungsrechte von gewählten Interessenrepräsentanten der Belegschaft flächendeckend in deutschen Betrieben akzeptiert. Zumindest scheinen die öffentlichen Diskussionen in den letzten Jahren darauf hin zu deuten, dass Betriebsratslosigkeit oder sogar auch das aktive Verhindern der Einrichtung eines Betriebsrates Unternehmen kaum (mehr?) mit einem Makel belasten; im Fall von notorisch mitbestimmungsfeindlichen Discounterketten kreiste die öffentliche Debatte denn auch mehr um die Verletzung individueller Rechte von Beschäftigten qua systematischer Überwachung durch das Management, denn um das Thema, dass in diesen Unternehmen systematisch alle Versuche der Einrichtung von Betriebsräten behindert und hintertrieben werden, die genau solche Missachtungen individueller Rechte verhindern sollten. Die Verletzung individueller Rechte scheint daher heute skandalisierungsfähiger zu sein als das Verletzen kollektiver Rechte. Gleichzeitig gibt es mit den ‚freiwilligen‘ Partizipationsangeboten des modernen Human-Resource-Managements auch eine Form unmittelbarer betrieblicher Beteiligung von Beschäftigten jenseits kollektiver Formen betriebsverfassungsrechtlich abgesicherter Interessenvertretung, die manchen Beschäftigten mit einer starken Arbeitsmarkposition und dem Anspruch auf Eigeninteressenvertretung durchaus attraktiv zu sein scheint. Damit konnte sich gleichsam ein Alternativ-Modell betrieblicher Arbeitsbeziehungen jenseits der Betriebsverfassung gesellschaftlich etablieren, das manchem als eine Art modernisiertes ‚funktionales Äquivalent‘ zur kollektiven Mitbestimmung qua BetrVG gilt und dessen defizitärer (da grundsätzlich freiwilliger und im Konfliktfall kaum justiziabler) Charakter in der normalen Alltagspraxis zunächst einmal auch nicht unmittelbar deutlich werden muss. Ohne Zweifel gibt die Betriebsverfassung (als theoretisch rechtlich erzwingbarer Rahmen) nach wie vor eine gewisse Orientierung für die Gestaltung betrieblicher Arbeitsbeziehungen vor. Trotzdem muss – im Vergleich zu ihrer früheren Quasi-Monopolstellung als gesellschaftlich akzeptiertem Rahmen betrieblicher Regulierung von Arbeit – ihre heutige gesellschaftliche Wirksamkeit mit Blick auf ihre faktische Verbreitung und die unterschiedlichen Modi ihrer praktischen Umsetzung quantitativ wie qualitativ als nur mehr eingeschränkt bezeichnet werden. Die in diesem Beitrag skizzierten Befunde zur Ausgestaltung betrieblicher Arbeitsbeziehungen lassen sich nur mit einer These über Pluralisierung und Segmentierung betrieblicher Arbeitsbeziehungen angemessen in Einklang bringen. Das in der (gerade auch international vergleichenden) Literatur so häufig beschriebene Modell der aufgeklärten Konflikt26 Siehe hierzu auch die Thesen aus dem ISF München zu ‚Entgrenzung‘ bzw. Hybridisierung industrieller Beziehungen (etwa Schmierl 2001, Deiß/Schmierl 2005).
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partnerschaft zwischen Betriebsrat und Management findet sich sicherlich nach wie vor in den (schrumpfenden!) Kernbereichen des verarbeitenden Gewerbes – aber es hat nachhaltig an stilbildender Kraft für die Arbeitsbeziehungen in Deutschland insgesamt eingebüßt. Nicht nur, dass man nun auch um ganz unterschiedliche – und mitunter recht defizitäre – Modi der Umsetzung betriebsverfassungsrechtlicher Normen weiß: Es gibt eben durchaus gewählte Betriebsräte, die nicht wirklich als wirksame InteressenvertreterInnen agieren (können). Gleichzeitig ist seit den 1990er Jahren auch eine ‚neue‘ Welt jenseits der betriebsverfassungsrechtlichen Normen sukzessiv entdeckt worden, die in sich wiederum erheblich differenziert ist: Das Spektrum reicht dabei von ‚neuen‘ Sweatshops27 bis hin zu modernen Wissensarbeitsplätzen mit modernen HRM-Politiken. Insgesamt ist davon auszugehen, dass die Segmentierung betrieblicher Arbeitsbeziehungen eher zunehmen wird; darauf scheint sich die Forschung auch bereitwillig einzulassen, wenn man betrachtet, wie in den letzten Jahren verstärkt den unterschiedlichen Facetten betrieblicher Arbeitsbeziehungen nachgespürt wurde und dabei bislang vorhandene Wissenslücken empirisch geschlossen wurden. Nach der ‚Entdeckung‘ der betriebsratsfreien Zonen scheint sich dabei das forscherische Interesse nun verstärkt den Bereichen zuzuwenden, die nicht durch die etablierten Formen betriebsverfassungsrechtlich geschützter Interessenvertretung abgedeckt sind – sei es moderne hochqualifizierte, sei es niedrig qualifizierte Dienstleistungsarbeit. Gleichzeitig dürfte in Zukunft die Tatsache der zunehmenden internationalen Kontextualisierung von Arbeitsbeziehungen verstärkt Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Dass betriebliche Arbeitsbeziehungen zunehmend durch global orientierte Managemententscheidungen tangiert sind, ist hinreichend bekannt. Aber gleichzeitig sind die betrieblichen Arbeitsbeziehungen schon heute in ein Mehrebenen-System der Interessenvertretung eingebunden, das mitunter über den Gesamt- und Konzernbetriebsrat bis hin zu europäischen Betriebsräten (und in wenigen Betrieben: den Welt-Betriebsrat) reicht. Über die Praxis überbetrieblicher Interessenvertretung in Gesamt- und Konzernbetriebsräten wird aber kaum geforscht,28 und die europäische Ebene wird weitgehend nur von einer überschaubaren Gruppe einschlägig befasster Spezialisten bearbeitet (in Deutschland etwa Lecher u.a. 2001; Keller 2001; Kotthoff 2006; Whittall/Lücking/Trinczek 2008). Die beachtliche Anzahl an deutschen Unternehmen, die sich zu einer Europäischen Aktiengesellschaft (SE) umgewandelt haben, mit teilweise beachtlichen Folgen für die Interessenvertretungsstrukturen (Keller/Werner 2008), verweist zusätzlich darauf, dass sich Analysen betrieblicher Arbeitsbeziehungen heute nur noch eingeschränkt auf die lokalen Kontexte beschränken können. Bei all dem Wandel bei der Erforschung betrieblicher Arbeitsbeziehungen, der in diesem Beitrag für die Zeit seit Mitte des 20. Jahrhunderts skizziert wurde, gibt es jedoch auch ein auffälliges Kontinuitätsmoment, und zwar die praktisch durchgängige Theoriearmut der einschlägigen Analysen. Die Regel sind interessante, häufig auch sehr detaillierte empirisch-deskriptive Darstellungen der Befunde, mitunter mit einem typisierenden Zugriff auf das Material, aber durchgängig erfolgt die Präsentation der Ergebnisse sehr gegenstandsnah und ohne systematische Auslotung des (gesellschafts-)theoretischen Potentials der Befunde. 27
Unter Sweatshops werden – in Anlehnung an das ‚sweating system‘ in der angelsächsischen Textilindustrie des 19. Jahrhunderts – Betriebe verstanden, in denen (in aller Regel unqualifizierte) Beschäftigte zu außerordentlich schlechten Arbeits- und Entlohnungsbedingungen und ohne jede Form der kollektiven Interessenvertretung arbeiten. Sweatshop wird im Deutschen auch mit ‚Ausbeutungsbetrieb‘ übersetzt. 28 Zwei der wenigen Ausnahmen stellen Martin Behrens (2005) sowie der neuere Beitrag von Martin Behrens und Jürgen Kädtler (2008) dar.
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Es stünde der Disziplin gut an, mit dieser Traditionslinie der arbeits- und industriesoziologischen Erforschung betrieblicher Arbeitsbeziehungen nachhaltig zu brechen. Zur Vertiefung Artus, Ingrid/Böhm, Sabine/Lücking, Stefan/Trinczek, Rainer (Hrsg.) (2006). Betriebe ohne Betriebsrat. Informelle Interessenvertretung in Unternehmen. Frankfurt a.M., New York: Campus. Hauser-Ditz, Axel/Hertwig, Markus/Pries, Ludger (2008). Betriebliche Interessenregulierung in Deutschland. Arbeitnehmervertretung zwischen demokratischer Teilhabe und ökonomischer Effizienz. Frankfurt a.M., New York: Campus. Kotthoff, Hermann (1981). Betriebsräte und betriebliche Herrschaft. Frankfurt a.M., New York: Campus.
Literatur Abel, Jörg/Ittermann, Peter/Pries, Ludger (2005). Erwerbsregulierung in hochqualifizierter Wissensarbeit. Individuell und kollektiv, diskursiv und partizipativ. Industrielle Beziehungen, 12 (1), 28-50. Addison, John T./Bellmann, Lutz/Schnabel, Claus/Wagner, Joachim (2003). German works councils old and new. Incidence, coverage and determinants. Schmollers Jahrbuch, 123 (3), 339-358. Addison, John T./Schnabel, Claus/Wagner, Joachim (1999). Verbreitung, Bestimmungsgründe und Auswirkungen von Betriebsräten. Empirische Befunde aus dem Hannoveraner Firmenpanel. In: B. Frick/N. Kluge/W. Streeck (Hrsg.), Die wirtschaftlichen Folgen der Mitbestimmung (S. 223252). Frankfurt a.M., New York: Campus. Altmann, Norbert/Bechtle, Günter (1971). Betriebliche Herrschaftsstruktur und industrielle Gesellschaft. München: Hanser. Altmann, Norbert/Binkelmann, Peter/Düll, Klaus/Stück, Heiner (1982). Grenzen neuer Arbeitsformen. Betriebliche Arbeitsstrukturierung, Einschätzung durch Industriearbeiter, Beteiligung der Betriebsräte. Frankfurt a.M., New York: Campus. Artus, Ingrid (2008). Interessenhandeln jenseits der Norm. Mittelständische Betriebe und prekäre Dienstleistungsarbeit in Deutschland und Frankreich. Frankfurt a.M., New York: Campus. Artus, Ingrid/Böhm, Sabine/Lücking, Stefan/Trinczek, Rainer (Hrsg.) (2006). Betriebe ohne Betriebsrat. Informelle Interessenvertretung in Unternehmen. Frankfurt a.M., New York: Campus. Artus, Ingrid/Böhm, Sabine/Lücking, Stefan/Trinczek, Rainer (2009). Jenseits der Mitbestimmung. Interessenhandeln in Betrieben ohne Betriebsrat. Frankfurt a.M., New York: Campus. Bahnmüller, Reinhard (1996). Konsens perdu? Gruppenarbeit zwischen Euphorie und Ernüchterung. In: R. Bahnmüller/R. Salm (Hrsg.), Intelligenter, nicht härter arbeiten? Gruppenarbeit und betriebliche Gestaltungspolitik (S. 9-30). Hamburg: VSA-Verlag für das Studium der Arbeiterbewegung. Bahnmüller, Reinhard/Bispinck, Reinhard (Hrsg.) (1995). Tarifpolitik der Zukunft. Was wird aus dem Flächentarifvertrag? Hamburg: VSA-Verlag für das Studium der Arbeiterbewegung. Bechtle, Günter/Heine, Hartmut/Schmidt, Gerd (1985). Ökonomische Krisentendenzen, betriebliche Rationalisierungspolitik und Entwicklung industrieller Beziehungen. Veränderungsimpulse in Italien und in der Bundesrepublik Deutschland. Eine explorative Problemstudie (Forschungsschwerpunkt „Zukunft der Arbeit“, Arbeitsberichte und Forschungsmaterialien Nr.11, unveröffentlichtes Manuskript)). Bielefeld: Universität Bielefeld. Behrens, Martin (2005). Arbeit des Betriebsrats in komplexen Gremienstrukturen. WSI-Mitteilungen, 58 (11), 638-645.
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Überbetriebliche Regulierung von Arbeitsbeziehungen Klaus Dörre
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Gegenstand und Problemstellung: Organisierte Arbeitsbeziehungen – ein Auslaufmodell?
Das „kurze 20. Jahrhundert“ war nicht nur ein „Zeitalter der Extreme“ (Hobsbawm 1994: 20), im Rückblick können die Jahre zwischen 1914 und 1991 auch als eine Epoche der Organisierung und Institutionalisierung von Arbeitsinteressen bezeichnet werden. Die systemischen Ausprägungen der „organisierten Moderne“ (Wagner 1995), wohlfahrtsstaatlicher Kapitalismus und staatsbürokratischer Sozialismus, entstanden aus Versuchen, den für industriekapitalistische Gesellschaften zentralen Kapital-Arbeit-Gegensatz zu zähmen oder gar zu überwinden. Die Bezeichnung „kurzes 20. Jahrhundert“ impliziert freilich, dass die Gegenwart sich von dem unterscheidet, was zu Ende gegangen ist. Und in der Tat: blickt man heute auf die Organisation und Repräsentation von Arbeitsinteressen, so sieht man sich mit Krisenszenarien konfrontiert. Arbeiterparteien haben an Einfluss verloren, wohlfahrtsstaatliche Arrangements geraten unter Druck und auch die Kraft der Gewerkschaften scheint erschöpft. Allein zwischen 1993 und 2003 haben kontinentaleuropäische Gewerkschaftsbünde im Durchschnitt 15% ihrer Mitglieder eingebüßt. Zahlreiche Organisationen leben von „geborgter Zeit” (Waddington 2005: 3), weil ihre Mitgliedschaft überaltert ist und sich vorwiegend in schrumpfenden Wirtschaftszweigen befindet.1 Die Folgen der gewerkschaftlichen Repräsentationskrise schlagen sich auch in soziologischen Reflexionen nieder. Galt die in Deutschland praktizierte „Konfliktpartnerschaft“ (Müller-Jentsch 1999) zeitweilig als Vorzeigemodell (Turner 1992: 217-246; Crouch/ Traxler 1995; Schröder/Wessels 2003), wird inzwischen auch hierzulande über einen „Kapitalismus ohne Gewerkschaften“ (Müller-Jentsch 2007: 169-180) debattiert. Angesichts des anhaltenden Organisationsdefizits im Dienstleistungssektor, bei neuen und kleinen Unternehmen sowie Jugendlichen und Frauen schließt Wolfgang Streeck (2001: 308) nicht mehr aus, „dass die Präsenz der Gewerkschaften unaufholbar unter jene kritische Masse gesunken“ sei, „die erforderlich wäre, damit ein selbsttragender Organisierungsprozess auch nur eine Chance hätte, wieder in Gang zu kommen“. Nun vermag selbst der beste Sozialwissenschaftler den Schwellenwert für einen unumkehrbaren Verlust an organisatorischer Bindekraft nicht exakt zu bestimmen, zumal Organisationsgrade allein noch wenig über den realen gesellschaftlichen Einfluss von Gewerkschaften aussagen.2 Ungeachtet notwendiger Differenzierungen offenbaren Niedergangsszenarien aber ein grundlegendes Problem: In1 Noch in den 1970er Jahren stieg in den meisten entwickelten Industrienationen der gewerkschaftliche Organisationsgrad an. Diese Entwicklung hat sich mittlerweile umgekehrt. Zwischen 1970 und 2003 fiel der gewerkschaftliche Organisationsgrad in zwölf untersuchten EU-Staaten trotz der Mitgliederzuwächse in einzelnen Ländern um 11,5%. Norwegen und die Schweiz eingerechnet, ergibt sich ein Durchschnitt von 17,2% an Mitgliedern, die bereits verrentet sind (Chang/Sorrentino 1991; Visser 2006). 2 Neben Mitgliederdaten sind Variablen wie die Verhandlungsreichweite, die Beziehungen zur Politik oder Wahrnehmung von Gewerkschaften in der Öffentlichkeit von Bedeutung (Visser 2006).
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zwischen ist unklar, ob – einst vermeintlich gesichertes industriesoziologisches Wissen – die Beschäftigung mit organisierten Arbeitsinteressen oberhalb des Betriebs überhaupt noch ins Zentrum der Regulationssysteme entwickelter Gesellschaften führt. Stand der Aufstieg von Arbeiterparteien und Gewerkschaften zu Massenorganisationen am Beginn von gesellschaftlichen Entwicklungen, die schließlich in eine umfassende wohlfahrtsstaatliche Einbettung von Arbeitsbeziehungen mündeten, so deutet die schwindende gewerkschaftliche Repräsentationsfähigkeit nun möglicherweise den Übergang zu Gesellschaftsformen an, in denen der Gegensatz von Kapital- und Arbeitsinteressen zwar nicht vollständig verschwunden, aber doch nicht mehr zentral ist. Was in zahlreichen Analysen zur Institutionalisierung und Entdramatisierung des industriellen Klassenkonflikts bereits angedeutet wurde, hat die Gesellschafts- und Sozialtheorie nach ihrer antiproduktivistischen Wende bereits vielfach als Gewissheit formuliert. Gerade weil die fortgeschrittenen Kapitalismen ihre Regulierungskapazität erfolgreich auf die Einhegung des Kapital-ArbeitGegensatzes konzentrierten, seien mit der „Kolonialisierung der Lebenswelt“ (Habermas 1987: 489-547) Konfliktlinien jenseits der industriellen Klassenspaltung entstanden. Da die „förmliche Erwerbsarbeit die subjektive Qualität“ verloren habe, „organisierendes Zentrum der Lebenstätigkeit, der sozialen Fremd- und Selbsteinschätzung und der moralischen Orientierungen zu sein“, könne der Kapital-Arbeit-Konflikt auch nicht mehr das Zentrum der Herrschaftsbeziehungen entwickelter Gesellschaften bilden (Offe 1984: 7, 37). Selbst Analysen, die – statt von einer „Krise der Arbeitsgesellschaft“ (Offe 1984: 7) auszugehen – an der „Revolutionierung“ technisch-organisatorischer Produktivkräfte ansetzen (Castells 1996, 1997, 1998), verorten die Kollektividentitäten sozialer Bewegungen häufig nicht mehr im industriellen Klassenkonflikt. Der globalisierten Macht des Finanzkapitals stehe „desaggregierte Arbeit“ gegenüber, die „in ihrer Ausführung weiter in ihre Bestandteile zerlegt, in ihrer Organisation fragmentiert, in ihrer Existenz diversifiziert [und, K.D.] in ihrer kollektiven Aktion gespalten“ sei, weshalb sie „ihre kollektive Identität“ einbüße (Castells 2001: 533). Widerstand gegen „the New Global Order“ (Castells 1998: 68ff.) erfolge eher durch klassenunspezifische soziale Bewegungen. Muss also von einer irreversiblen gesellschaftlichen Transformation ausgegangen werden, in deren Verlauf die Arbeitsund Industriesoziologie trotz einer Reaktualisierung der „sozialen Frage“ (Kronauer 2006: 29; Castel/Dörre 2009: 11-20) mit den kollektiven Arbeitsinteressen zugleich einen ihrer ursprünglich für zentral erachteten Gegenstände verliert? Sind organisierte Arbeitsbeziehungen oberhalb der Unternehmensebene ein Auslaufmodell? Und – sofern das zutrifft, was wird an ihre Stelle treten? Nachfolgend werden im Anschluss an eine machttheoretische Konzeptualisierung und eine Diskussion klassischer (Abschnitt 2) wie auch zeitgenössischer Wissensbestände (Abschnitt 3) Forschungsperspektiven sondiert (Abschnitt 4).
2
Entwicklungslinien und Wissensbestände: Von struktureller zu institutioneller Macht
Wie sich zeigen wird, müssen seriöse wissenschaftliche Antwortversuche vorsichtiger und möglicherweise anders ausfallen, als es manche alltägliche Betrachtung zuweilen nahe legt. Für die hier präsentierten Überlegungen ist der Gedanke zentral, dass Quellen von „Arbeitermacht“ (Silver 2005: 30-44), besser: die Machtressourcen von Lohnabhängigen, Ausgangspunkt für eine Inspektion arbeits- und industriesoziologischer Wissensbestände zur
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gesellschaftlichen Regulation von Arbeitsbeziehungen sein können. Das aus einem doppelten Grund. Zum einen liefert erst die Herausbildung von Lohnabhängigenmacht Anreize für die Organisierung von Kapitalinteressen, aber auch für verschiedene Formen der Staatsintervention, die sich schließlich im modernen Wohlfahrtsstaat verdichtet haben. Zum anderen sind Arbeiterbewegungen und Gewerkschaften seit jeher wichtiger Bezugspunkt eines Typs sozialwissenschaftlicher Reflexion, den Luc Boltanski und Eve Chiapello als „Sozialkritik“ bezeichnen.3 In der Schwäche der Gewerkschaften offenbart sich demnach auch eine Krise wissenschaftlicher Sozialkritik (Boltanski/Chiapello 2003: 309f.). Ohne eine alternative, in Daten dokumentierte „Darstellung aus Arbeitnehmersicht“, wie sie betriebsübergreifende Gewerkschaftsbewegungen ermöglichen, lässt sich „nur schwer ein Gegengewicht zu den unternehmerischen, inhaltlich von Profitinteressen geleiteten Geschäftsanalysen“ bilden (2003: 310). Sozialkritik hängt dann ,in der Luft‘, die Arbeitswelt erscheint als Ansammlung von Sachzwängen, aus denen es für Lohnabhängige kaum ein Entrinnen gibt. 2.1
Soziale Macht, Lohnarbeitermacht
Um solch hermetische Deutungen zu vermeiden, sei der Bilanz arbeits- und industriesoziologischer Wissensbestände die knappe Skizze eines soziologischen Konzepts von Arbeitermacht voran gestellt. Nach Max Weber (1980: 28) bezeichnet der Begriff Macht „jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung, den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen“. Im Anschluss daran unterscheidet Michael Mann idealtypisch vier grundlegende Formen von Macht (1994: 46-56): die ökonomische, die politische, die ideologische und die militärische (1994: 50f.). Diese vier Grundformen werden in modernen Gesellschaften auf je besondere Weise miteinander kombiniert. So lässt sich die autoritative, hierarchische Macht von Unternehmensbürokratien und Staaten nutzen, um die diffuse, anonym wirkende Macht des Marktes einzuschränken. Umgekehrt ist es auch möglich, Marktmechanismen zu stärken, um autoritative Macht zu begrenzen. Das Wechselspiel von De- und Rekommodifizierung, wie es sich in langen Perioden kapitalistischer Entwicklung vollzieht (Yergin/Stanislaw 1999; Dörre 2009a), hängt wesentlich von einer Machtkonfiguration ab, die bei Michael Mann zwar auftaucht, in ihrer Eigenart begrifflich aber unzureichend bestimmt wird. Gemeint ist oppositionelle, konterhegemoniale, heterodoxe Macht. Arbeitermacht ist ihrem Ursprung nach eine solche Form heterodoxer Macht, die sich quer zu den Grundtypen sozialer Macht als ökonomische, politische oder ideologische entfaltet. Die Kategorie wird hier analytisch im Sinne von Lohnabhängigenmacht genutzt und entsprechend weit gefasst (Silver 2005: 38; im englischen Original: 2003). Sie unterstellt ein Interesse mehr oder minder heterogener Arbeiter- und Angestelltengruppen, Asymmetrien in den Austauschbeziehungen von Kapital und Arbeit durch kollektive Mobilisierungen besonderer Machtressourcen zu korrigieren. Entsprechende Versuche sind bis in die Gegenwart hinein Entstehungsursache von Arbeiterbewegungen, deren soziale Basis, Organisationsformen und Zielsetzungen sich erheblich voneinander unterscheiden. Sie können systemtranszendierende Ziele verfolgen oder bloßen Schutz vor marktvermittelter 3 Sozialkritik stellt auf klassenspezifische Verteilungskonflikte ab und orientiert sich an der Arbeitskraftperspektive. „Künstlerkritik“ richtet sich gegen die ,Verdinglichung‘ sozialer Beziehungen und betrachtet Autonomiegewinn in und außerhalb des Arbeitsprozesses als Grundvoraussetzung menschlicher Emanzipation (Boltanski/Chiapello 2003: 68 ff.).
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Konkurrenz einfordern. Sie können reaktiv-nationalistische oder, wie im Falle faschistischer Mobilisierungen, geradezu terroristische Züge annehmen. Im Unterschied zu den Implikationen des marxschen Klassenuniversalismus, der unterstellt, dass die „Exploitation des Weltmarktes die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet“ (Marx/Engels 1977: 466), muss Arbeitermacht daher im Plural buchstabiert werden. Denn „nivellierende“ Marktmacht bestärkt eine „endemische Tendenz“ unter den Arbeitern, „klassenunspezifische Grenzen abzustecken, auf deren Basis sie beanspruchen können, vor dem Mahlstrom geschützt zu werden“ (Silver 2005: 41; vgl. auch Wright 2000: 957-1002). Auch aus diesem Grund ist es sinnvoll, nicht von nur einer Bewegung, sondern von einer Pluralität an Arbeiterbewegungen auszugehen, die sich fallweise auf unterschiedliche Quellen und Kombinationen sozialer Macht gründen. Prinzipiell kann zwischen struktureller und Organisationsmacht von Lohnabhängigen differenziert werden (Silver 2005: 30-44). Strukturelle Macht (structural power) erwächst aus der Stellung von Lohnabhängigengruppen im ökonomischen System. Sie kann sich in primärer Verhandlungsmacht, die aus einer angespannten Arbeitsmarktsituation entspringt, ebenso ausprägen wie in Produktionsmacht, die sich über eine besondere strategische Stellung von Arbeitergruppen in Produktionsprozessen konstituiert. Davon zu unterscheiden ist Organisationsmacht (associational power), die aus dem Zusammenschluss zu kollektiven politischen oder gewerkschaftlichen Arbeiterorganisationen entsteht. Organisationsmacht kann strukturelle Verhandlungs- und Produktionsmacht teilweise substituieren, ohne sie jedoch vollständig zu ersetzen. Strukturelle Macht wird häufig spontan ausgeübt, sie tritt in Gestalt von „labour unrest“ in plötzlichen Unruhen und situativer Empörung ebenso auf wie als ,Sabotage‘ oder Absentismus in Produktionsprozessen (2005: 11, 44ff.). Organisationsmacht ist demgegenüber auf handlungsfähige Gewerkschaften, Parteien oder ähnliche kollektive Akteure angewiesen. Zusätzlich lässt sich eine dritte Quelle von Arbeitermacht benennen, die institutionelle Macht. Sie entsteht als Resultat von Aushandlungen und Konflikten, die auch über strukturelle oder organisatorische Machtressourcen ausgetragen werden. Ihre Besonderheit wurzelt in dem Faktum, dass Institutionen soziale Basiskompromisse über ökonomische Konjunkturen und kurzzeitige Veränderungen gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse hinweg festschreiben und teilweise gesetzlich fixieren. Institutionelle Macht präformiert Aushandlungsprozeduren und Handlungsstrategien von kollektiven Akteuren, Betriebsräten, Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden, die auch dann noch als wahrscheinlich, nahe liegend und verbindlich gelten können, wenn sich gesellschaftliche Kräfteverhältnisse gravierend verändert haben. Gewerkschaften können institutionalisierte Ressourcen selbst in Zeiten rückläufiger Organisationsmacht nutzen. Dies setzt freilich voraus, dass die Lohnabhängigenorganisationen – trotz nachlassender Bindefähigkeit bei Arbeitern und Angestellten – seitens der Kapitalverbände und Regierungen weiterhin als authentische Repräsentanten von Arbeitsinteressen akzeptiert werden (Brinkmann u.a. 2008: 24-26). Strukturelle, Organisations- und institutionelle Macht von Lohnabhängigen entwickeln sich in Phasen. Die eine Machtform geht aus der anderen hervor. Das jedoch nicht im Sinne strikter Linearität und permanenter Steigerung. Über lange Zeiträume und in Abhängigkeit von sozioökonomischen wie politischen Einflüssen existieren die Quellen von Lohnarbeitermacht in unterschiedlichen Kombinationen und Organisationsformen mit-, neben- und teilweise auch in Konkurrenz zueinander. Arbeits- und industriesoziologische Konzeptionen der Organisierung und Durchsetzung kollektiver Arbeitsinteressen reflektieren solche Kombinationen. Sie sind jedoch mehr als bloße Bestandsaufnahmen. Häufig antizipieren
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sie Entwicklungen, die zum Zeitpunkt ihrer wissenschaftlichen Entdeckung allenfalls im Larvenstadium zu erkennen sind. 2.2
Frühe Konzeptionen von Arbeitermacht und Arbeitsinteressen
Klassische Theorien kollektiver Arbeitsinteressen befassen sich mit der Transformation von struktureller Organisationsmacht, gehen in ihren je besonderen Emanzipationsprojekten jedoch über diesen Prozess hinaus. Ihren sozioökonomischen Kontext bildeten industrielle Revolution, Fabriksystem, bürgerliche Eigentumsverhältnisse und die Herausbildung doppelt freier, weder an Scholle noch Lehen gebundener Lohnarbeiter. Unterschiede und Ungleichzeitigkeiten beim Übergang zum Industriekapitalismus ließen disparate Formen der Regulierung von Kapital-Arbeit-Beziehungen entstehen, deren Tradierung bis heute in den nationalen Systemen organisierter Arbeitsbeziehungen fortwirkt (Crouch 1996: 67-124; Visser 1996: 1-41). In Britannien setzte die Industrialisierung früh ein und zog sich über einen längeren Zeitraum hin, so dass sich handwerkliche Traditionen bei der Repräsentation von Arbeitsinteressen länger hielten (Thompson 1987). Die Organisierung von Arbeitsinteressen verblieb überwiegend innerhalb der liberal-kapitalistischen Ordnung und vollzog sich in relativer Autonomie gegenüber dem bürgerlichen Staat. Die kontinentaleuropäischen Kernländer (Deutschland, Frankreich) traten demgegenüber mit Zeitverzug in das Industriezeitalter ein. Dafür erfolgten Industrialisierungsprozess und Herausbildung des Fabriksystems umso rascher und unter massiver Beteiligung des Staates (Wood 1999; Braudel 1985, 1986; Mann 1994: 319-424; Greenfeld 2001). Für die neu entstehenden Arbeiterbewegungen war die Kontrolle der Arbeitsmärkte zugleich der Schlüssel für eine Durchsetzung kollektiver Interessen. Dabei wurden, den jeweiligen historischen Ausgangsbedingungen geschuldet, Machtressourcen auf unterschiedliche Weise kombiniert. Im britischen Empire spielte strukturelle Arbeitermacht, die aus einer beruflich-handwerklichen Sonderstellung resultierte und durch Kontrolle der Zugangsbedingungen zur Profession bewahrt werden sollte, bei der Konstitution gewerkschaftlicher Organisationen eine prägende Rolle. Folgerichtig bildete sich eine Tradition der detaillierten Kontrolle und Regulierung von Arbeitsbedingungen heraus, die, mit der Repräsentation vorwiegend ökonomischer Interessen kombiniert, erst zeitverzögert und aus der organisierten Gewerkschaftsbewegung heraus zu einem eigenständigen politischen Ausdruck der Arbeiterschaft (Labour Party) gelangte (Edwards u.a.: 1998: 1-54; Sisson 1995: 33-58). Demgegenüber ließ der rasche Industrialisierungsprozess auf dem Kontinent handwerklichen Traditionen und darauf basierender struktureller Macht wenig Raum, wenngleich in Deutschland noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine buntscheckige Organisationslandschaft mit einer Koexistenz von Industriegewerkschaften und berufsbezogenen Fachverbänden existierte (Schönhoven 2003: 47). Im Kontrast zur angelsächsischvoluntaristischen Tradition spielten jedoch – im deutschen Fall gelernte – Industriearbeiter zunächst in kleineren, später vor allem in Großbetrieben eine prägende Rolle bei der Artikulation von Kollektivinteressen. Von Beginn an durch repressive (Sozialistengesetz) oder sozialintegrative Staatsintervention (Bismarcksche Sozialreformen) beeinflusst, vollzog sich die Herausbildung organisierter Arbeitsinteressen in enger Verzahnung mit politischer Macht. Gewerkschaften entstanden parallel zu sozialistischen oder katholischen Parteien, teilweise wurden sie direkt von diesen Parteien gegründet. Sozialstrukturelle Homogenisie-
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rungen der Arbeiterschaft in Großbetrieben und der dadurch ermöglichte Übergang zu unternehmens- oder branchenbezogenen Industriegewerkschaften, die kollektive politische Ausgrenzung der Arbeiterschaft sowie der gemeinsame Kampf für Koalitionsfreiheit und allgemeines Wahlrecht erleichterten die Institutionalisierung organisierter Arbeitsinteressen (Grebing 1985; Klönne/Reese 1984). Unterschiedliche Pfade überbetrieblicher Regulation haben in frühen Konzeptionen kollektiver Arbeitsinteressen ihren Niederschlag gefunden. Grob lässt sich zwischen revolutionär-sozialistischen Ansätzen einerseits und evolutionär-reformerischen bzw. liberalsozialen Theoremen andererseits unterscheiden. Stilbildend für die erste Variante ist das marxsche Theoriegebäude. Im Denken von Karl Marx werden organisierte Arbeitsinteressen in ein antagonistisches Verhältnis zu kapitalistischer Klassenherrschaft gesetzt. Hinter Tauschbeziehungen auf freien Arbeitsmärkten verbirgt sich demnach eine grundlegende Machtasymmetrie. Konstitutiv für die kapitalistische Wirtschaftsweise ist, dass sich die Aneignung und Nutzung eines Überschussprodukts, das allein durch die Nutzung von Arbeitskraft entstehen kann, in der Form besonderer Produktionsverhältnisse vollzieht. Eine Klasse von Kapitaleigentümern, die den Besitz an Produktionsmitteln monopolisiert, ist in der Lage, sich den produzierten Mehrwert anzueignen. Während die Lohnarbeiter lediglich gemäß des Werts ihrer Arbeitskraft bezahlt werden, welcher – abhängig vom materiellen Lebensniveau und den Kräfteverhältnissen zwischen den gesellschaftlichen Klassen – um die Reproduktionskosten eben dieser Arbeitskraft oszilliert, sind die Kapitalbesitzer in der Lage, die Arbeitskraft über ihre Lohnkosten hinaus zu konsumieren. Nach Abzug der Kosten für konstantes Kapital (Rohstoffe, Energie, Maschinen) erzielen sie bei gelingenden Tauschakten einen Profit, der mit dem Ziel reinvestiert werden kann, noch größeren Gewinn zu erwirtschaften (Marx 1973: 170232). Um ihre Ziele durchzusetzen, können die Kapitaleigner als Einzelne zunächst auf ihre Marktmacht vertrauen. Aus sich heraus bietet das Kapitalverhältnis daher keinerlei Organisationsanreiz. Die Lohnarbeiter hingegen können die Bedingungen, zu denen sie ihre Arbeitskraft verkaufen, letztendlich nur beeinflussen, wenn sie ihre Konkurrenz überwinden und damit beginnen, „Koalitionen gegen die Bourgeoisie zu bilden“ (Marx/Engels 1977: 468). Während die Arbeiter zunächst eine „durch die Konkurrenz zersplitterte Masse“ darstellen, ermöglicht der Übergang zur großen Industrie organisierte Interessenkämpfe. In diesen Auseinandersetzungen siegen von Zeit zu Zeit die Proletarier, doch „das eigentliche Resultat ihrer Kämpfe ist nicht der unmittelbare Erfolg, sondern die immer weiter um sich greifende Vereinigung der Arbeiter“ (1977: 470f.). Erst im Verlauf der Kämpfe erfolgt die „Organisation der Proletarier zur Klasse und damit zur politischen Partei“. Der organisierte Kampf, der immer wieder durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst behindert wird, erzwingt „die Anerkennung einzelner Interessen der Arbeiter in Gesetzesform“ (1977: 471). Doch dies ist in der marxschen Sicht nur ein Übergangsstadium, das letztlich in die revolutionäre Überwindung kapitalistischer Klassenherrschaft mündet. Primär an sozialistischer Transformation interessiert, ist die marxsche Analyse innerkapitalistischer Regulationsformen rudimentär geblieben. Das gilt auch für Aussagen über das Lohnverhältnis und über die Gewerkschaften. Letztere zeichnen sich im marxschen Verständnis durch ihren „Doppelcharakter“ (Zoll 1976) aus. Gewerkschaften beeinflussen demnach erstens die Preisbildung der Ware Arbeitskraft, indem sie das Lohndiktat der Kapitaleigentümer brechen und so die volle Reproduktion der Arbeitskraft ermöglichen. Im alltäglichen „Kleinkrieg“ (Marx 1962: 152) zwischen Kapital- und Arbeit dienen sie zweitens als Sammelpunkte des
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Widerstandes und als organisatorische Zentren der Arbeiterklasse. Darüber hinaus stellen sie drittens „Schulen für den Sozialismus“ dar, weil sie die Erfahrung von Klassengegensätzen vermitteln und über erreichte materielle Verbesserungen überhaupt erst die Voraussetzungen für ein politisch selbstbewusstes Proletariat schaffen (Marx 1973: 674). Ohne den Kampf für bessere Lebensbedingungen und industrielle Rechte gering zu schätzen, war Karl Marx überzeugt, die Gewerkschaften würden ihren Zweck gänzlich verfehlen, sofern sie sie sich darauf beschränkten, „einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern“ (Marx 1962: 152). Nicht die Diagnose einer strukturellen Machtasymmetrie zwischen Anbietern und Nutzern von Arbeitskraft, sondern der behauptete Klassenantagonismus unterscheidet die marxsche von liberalen und reformsozialistischen Konzeptionen. Anders als Karl Marx konzentrieren sich liberale Reformer wie Lujo Brentano (1890) oder Reformsozialisten wie das Ehepaar Beatrice und Sidney Webb (Webb/Webb 1898), die alle den zweiten Theoriestrang repräsentieren, stärker auf die Regulation kollektiver Arbeitsinteressen innerhalb des Kapitalismus. Sie sind daher in gewisser Weise die eigentlichen Vorläufer vieler zeitgenössischer soziologischer Analysen organisierter Arbeitsbeziehungen. Die gemeinsame Schnittmenge mit den marxschen Auffassungen besteht in der Ablehnung des unregulierten Marktkapitalismus und der Überzeugung, dass die Arbeiter ihre Lebensbedingungen durch organisierte Machtausübung und Kollektivverträge verbessern können. Für Lujo Brentano sind die Arbeiter „Warenverkäufer“, die in ihren Austauschbeziehungen zu den Kapitaleigentümern einer doppelten Machtasymmetrie ausgesetzt sind. Da sie weder über Produktions- noch über sonstige Unterhaltsmittel verfügen, stehen sie unter „Angebotszwang“. Hinzu kommt, dass sich die verkaufte Arbeitskraft nicht von der Person des Verkäufers trennen lässt. Mit dem Verkauf unterliegt der Arbeiter somit auch als Person einem Herrschaftsverhältnis, dem Direktionsrecht des Unternehmers. Gewerkschaften und Kollektivverhandlungen sind für Lujo Brentano das entscheidende Mittel um diese Machtasymmetrien zu korrigieren. Er sieht sie jedoch nicht in einem Gegensatz zur liberalen Ordnung, sondern betrachtet sie als deren Vollendung (vgl. Brentano 1890). Für Beatrice und Sidney Webb bezeichnen kollektive Vertragsverhandlungen, das „collective bargaining“, die zentralen Mechanismen, um den Verkauf und die Anwendungsbedingungen der Ware Arbeitskraft zu regeln. Die beiden Mitglieder der Fabian Society sehen einen Zusammenhang zwischen der Tendenz zu lokalen, regionalen und schließlich nationalen Kollektivverträgen auf der einen und der gewerkschaftlichen Organisation auf der anderen Seite. Nur die Gewerkschaften („Gewerkvereine“) verkörpern einen Kollektivwillen, der den Vertragsschließungen „Dauer und Elastizität“ verleiht (Webb/Webb 1891). Der „Gewerkvereinsmechanismus“ stellt somit die wesentliche Triebkraft bei der Herausbildung eines Systems betriebsübergreifender Kollektivverträge dar. Letztere bedürfen, wie die Webbs betonen, zusätzlich verbindlicher – informeller oder gesetzlich fixierter – Regeln und Normen, die in der Gesellschaft akzeptiert und mit Sanktionsmacht ausgestattet sind, um die Einhaltung der Vereinbarungen zu gewährleisten. Alles in allem reflektieren diese frühen Konzeptionen bereits wesentliche Bestandteile organisierter Arbeitsbeziehungen, wie sie später zum Gegenstand soziologischer Forschung geworden sind. Im Zentrum dieser Forschungen steht die kollektive Regulierung der Arbeitsverhältnisse abhängig Beschäftigter. In der Regel wird nicht der unmittelbare Austausch zwischen Arbeitern und Beschäftigern thematisiert, Gegenstand sind vielmehr Be-
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ziehungen zwischen Repräsentanten von Arbeitsinteressen. Es geht um Organisation, kollektive Akteure, gesellschaftliche Interessendefinitionen und Regulierungen. 2.3
Organisierter Kapitalismus und befestigte, „anerkannte“ Gewerkschaft
Was klassische Theorien kollektiver Arbeitsinteressen noch antizipierten, realisierte sich erst im Übergang zum organisierten Kapitalismus (vgl. Hilferding 1974), wie er sich in den industriellen Zentren zwischen 1890 und 1933 herausbildete. In dieser Periode erfolgten der Durchbruch von Arbeiterparteien und Gewerkschaften zu Massenorganisationen, die Professionalisierung und Bürokratisierung ihrer Apparate sowie die Ausdifferenzierung von Mitglieder-, Funktionärs- und Organisationsinteressen. Offizielle Anerkennung der Gewerkschaften sowie erste Institutionalisierungen kollektiver Verhandlungssysteme fallen ebenfalls in die Zeit. Allein in Deutschland stieg die Zahl der Mitglieder sozialdemokratischer Gewerkschaftsverbände von 300.000 (1890) auf 2,5 Mio. (1914) an. Etwa ein Drittel der Gewerkschaftsmitglieder arbeitete vor dem Ersten Weltkrieg bereits im Rahmen kollektivvertraglicher Regelungen. Als Reaktion auf die gewerkschaftliche Organisierung begannen sich Unternehmerverbände zu formieren, die Streiks verhüten und in Kollektivverhandlungen als Vertragspartei auftreten sollten (Kessler 1907). Nach Kriegswirtschaft und Novemberrevolution waren die deutschen Gewerkschaften zu Beginn der 1920er Jahre mit 9,3 Mio. Mitgliedern auf dem vorläufigen Höhepunkt ihrer Organisationsmacht angelangt. Neben Arbeitern waren auch Angestellte und Beamte in nennenswerten Größenordnungen organisiert. Diese Macht, die sich auch programmatisch in einer eigenständigen wirtschaftsdemokratischen Konzeption niederschlug, konnte in den Krisenjahren der Weimarer Republik aufgrund interner Spaltungen und politischer Konkurrenzen der Arbeiterbewegungen allenfalls punktuell aktiviert werden; eine Transformation von Organisations- in institutionelle Macht misslang. Am Ende dieser Phase war das System kollektiver Arbeitsbeziehungen zerbrochen. Unter der Herrschaft der Nationalsozialisten wurden die Gewerkschaften gleichgeschaltet, die Arbeiterparteien verboten. In Westeuropa zeichnete sich bei der Regulierung von Arbeitsbeziehungen indessen eine extrem polarisierte Konstellation ab (Streeck 2003: 91). Dem faschistischen Deutschland mit seinem autoritär-antidemokratischen Regulierungssystem stand die industrielle Demokratie Schwedens gegenüber, wo nach dem sozialistischen Wahlsieg 1932 Ansätze einer nachfrageorientierten Vollbeschäftigungspolitik mit einer weit reichenden Institutionalisierung kollektiver Vertragsbeziehungen kombiniert wurden. Der Übergang zum organisierten Kapitalismus und dessen Auswirkungen auf die Arbeitsbeziehungen hatten innerhalb der sozialistischen, teilweise an marxscher Theorie orientierten Arbeiterbewegung theoretische Kontroversen ausgelöst.4 Die im engeren Sinne soziologisch relevante Diskussion (Auerbach 1922; Kessler 1907; Lederer/Marschak 1927; Cassau 1925; Losowski 1934) entsprang hingegen bei einigen Protagonisten (Briefs 1927) eher der konservativ gefärbten Sorge um Marktverzerrungen durch überproportionalen 4 Hier wurde vor allem über das Verhältnis von ökonomischer und politischer Interessenvertretung, die Arbeitsteilung zwischen Partei und Gewerkschaften sowie die Bedeutung spontaner Streiks und Massenbewegungen kontrovers diskutiert. Vertretern moderater Strömungen (Bernstein 1909) standen Anhänger revolutionär-sozialistischer Positionen gegenüber, die, wie Rosa Luxemburg (1974: 91-170) und Antonio Gramsci (1991–2002), Arbeiter- oder Fabrikräte als Organisationsform gegenüber den Gewerkschaften priorisierten.
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Gewerkschaftseinfluss (Esser 2003: 68ff.). Aus der Vielzahl der Diskussionsbeiträge seien drei besonders einflussreiche Interventionen knapp skizziert: (1) Robert Michels (1925) befasst sich am Beispiel von Arbeiterorganisationen mit einer Tendenz, die er als „ehernes Gesetz der Oligarchie“ bezeichnet. Nach seiner Auffassung dominiert in bürokratischen Großorganisationen die Tendenz zur Abkoppelung der Sonderinteressen professioneller Führungsgruppen von Mitgliederinteressen. Mit „zunehmender Organisation“ sei unweigerlich die „Demokratie im Schwinden begriffen“ (1925: 26). Professionelle Führungsgruppen neigten dazu, sich mit den bestehenden Verhältnissen auszusöhnen und interessierten sich vor allem für den Erhalt ihrer eigenen Machtpositionen. Daher gelte grundsätzlich: „Wer Großorganisation sagt, sagt Oligarchie“ (1925: 370). Robert Michels führt diese Oligarchisierungstendenz auf den Informationsvorsprung, das taktische Geschick und die überlegenen Ressourcen zurück, die Gewerkschaftsführungen in die Lage versetzen, das psychologische Bedürfnis der Massen nach ,guter Führung‘ für sich zu instrumentalisieren. Gegen diese Deutung lässt sich einwenden, dass Bürokratisierungstendenzen immer auch dem Bestreben entspringen, die Durchsetzungsfähigkeit kollektiver Interessen jenseits der Konjunkturen sozialer Bewegungen zu verstetigen (Einflusslogik). Zudem bleiben professionelle Führungsgruppen in demokratisch verfassten Großorganisationen zumindest punktuell auf eine Legitimation durch ihre Mitglieder angewiesen (Mitgliederlogik).5 Insofern ist Robert Michels „ehernes Gesetz der Oligarchie“ zu apodiktisch formuliert. Dennoch wird ein wichtiges Argument in die Diskussion um organisierte Arbeitsbeziehungen eingeführt. Sobald sie durch Großorganisationen mit professionellen Stäben und Führungsgruppen repräsentiert werden, wirken Kollektivinteressen, wie Robert Michels herausarbeitet, nicht mehr unmittelbar, sie werden gefiltert, definiert, selektiert und von Sonderinteressen überlagert, die ihren Ursprung in der Organisation selbst haben. (2) Dieses besondere Gewicht der Organisation klingt auch in den von Götz Briefs und Franz Neumann vorgelegten Funktionsanalysen an, die bis heute in der gewerkschaftssoziologischen Diskussion nachwirken (Esser 2003: 66ff.; Müller-Jentsch 2008: 53ff.). In seiner Skizze der „befestigten Gewerkschaft“ antizipiert Götz Briefs (1927) in gewisser Weise die Transformation von Organisations- in institutionelle Macht. Für Götz Briefs sind Gewerkschaften „nach innen genossenschaftliche, nach außen Interessen ihres Lebenskreises vertretende institutionelle Verbindungen besitzloser, auf Lohneinkommen gestellter Arbeitnehmer“ (1927: 1117). Erhellend ist die Unterscheidung von innerem und äußerem Zweckkreis: Nach außen agieren die Gewerkschaften als Arbeitsmarkt-Kartell und Kampfverband. Sie versuchen, Transparenz auf dem Arbeitsmarkt herzustellen und diesen im Interesse ihrer Mitglieder zu regulieren. Im Unterschied zu Berufsgewerkschaften, die sich der Arbeitsvermittlung (Stellennachweise) und der Zugangskontrolle zu lokalen oder fachspezifischen Arbeitsmärkten bedienen können, sind Industriegewerkschaften auf die massenhafte Organisierung ganzer Branchen angewiesen, um Kollektivvereinbarungen abschließen und sie gegebenenfalls mittels Streiks durchsetzen zu können. In ihrem inneren Zweckkreis fungieren die Gewerkschaften hingegen als genossenschaftliche Hilfskasse. In einem frühen Entwicklungsstadium gründen sie Kranken-, Hilfs- und Sterbekassen, die später durch interne Dienstleistungssysteme ergänzt oder abgelöst werden. Der innere Zweckkreis bezieht sich somit auf kollektive Arbeitsinteressen, die mit der Expansion des Wohlfahrtsstaates zumindest teilweise von öffentlichen Einrichtungen repräsentiert werden. 5
Zur Unterscheidung von Mitglieder- und Einflusslogik vgl. Wolfgang Streeck (1981, 1994).
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(3) Franz Neumann, im Umfeld der kritischen Theorie angesiedelt, sucht mit seiner synthetisierenden Definition, den Doppelcharakter von Gewerkschaften noch einmal neu zu begründen (Neumann 1978: 152). Die Gewerkschaften sind für ihn ebenfalls Genossenschaften, welche auf dem Grundsatz der gegenseitigen Hilfe beruhen, sowie Kampfverbände, deren Ziel die Beherrschung des Arbeitsmarktes ist. Hinzu kommt jedoch eine politische Funktion. Gewerkschaften streben danach, den Staat in allen seinen Funktionen im Mitgliederinteresse zu beeinflussen – durch „unmittelbare Teilnahme an Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung, durch Verhandlung mit Staatsbehörden wie auch durch den politischen Streik gegen den Staatsapparat“ (1978: 150f.). Darin Götz Briefs ähnlich, begreift Franz Neumann die „anerkannte“ Gewerkschaft als Zentrum organisierter Arbeitsbeziehungen. Wie viele Zeitgenossen analysiert er die Organisation immer auch als soziale Bewegung. Die Zerstörung der Gewerkschaften in faschistischen wie stalinistischen Diktaturen reflektierend, betrachtet Franz Neumann „die Idee der Befreiung der Arbeiterklasse“ weiter als konstitutives Ziel der Lohnabhängigenorganisationen (1978: 152). Jenseits der Doppelbestimmung von Kampf im und gegen das Lohnsystem antizipiert er jedoch, wiederum übereinstimmend mit Götz Briefs, eine Institutionalisierung, ja „Inkorporation“ (zitiert nach Müller-Jentsch 1997: 94) von Arbeitsinteressen, die erst in einer späteren Entwicklungsphase des Kapitalismus Realität werden sollte.
3
Neue Entwicklungslinien und Konzepte: Intermediäre Gewerkschaft und duales System
Diese Periode setzte in den westlichen Zentren nach dem Zweiten Weltkrieg ein. Sieht man von den unmittelbaren Nachkriegsjahren ab, während derer die Gewerkschaften und Teile des politischen Spektrums auf eine grundlegende Neuorganisation von Staat und Wirtschaft setzten, vollzog sich die Restrukturierung organisierter Arbeitsbeziehungen in Europa auf der Grundlage eines wohlfahrtsstaatlichen Klassenkompromisses. Im Gegenzug für einen faktischen Verzicht auf systemtranszendierende Ziele wurden die Gewerkschaften und – überwiegend – die Mehrheitsströmungen der politischen Arbeiterbewegungen in den Staat inkorporiert. Begünstigt durch die Systemkonkurrenz und durch das Interesse der Hegemonialmacht USA, Sozialkosten nicht alleine zu tragen, sondern sie auf konkurrierende europäische Volkswirtschaften auszudehnen (Streeck 2003), entstand ein sozial-bürokratischer Kapitalismus, der die „Anarchie der Märkte“ (Sennett 2007: 21) mit den quasimilitärischen Organisationsprinzipien ausdifferenzierter Bürokratien kombinierte. Unternehmensbürokratien und Wohlfahrtsstaat, wie sie in unterschiedlichen nationalen Ausformungen vor allem nach 1949 zu einem Strukturmerkmal westlicher Metropolenkapitalismen geworden sind, wirkten während der außergewöhnlich langen Nachkriegsprosperität (Lutz 1984) auch als Garanten sozialer Stabilität und Sicherheit. Dabei unterlagen sie dem Einfluss einer politischen Ökonomie der Arbeit. Dauerhafte Systemintegration war zumindest in den kontinentaleuropäischen Kapitalismen nur mittels partieller Anerkennung von kollektiven Arbeitsinteressen und Arbeitermacht zu leisten. Diese Inkorporation von Lohnabhängigeninteressen, lässt sich allerdings nicht als bloße „Integration der Klassenautonomie in die alleinige Logik des Kapitals“ verstehen. Sie ist ebenso Ausdruck einer „Ausdehnung der Arbeiterklasse, ihrer Macht und ihres gewachsenen Einflusses“ (BuciGlucksmann/Therborn 1982: 121). Je erfolgreicher Arbeiterparteien und Gewerkschaften in
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ihrem Bestreben waren, abhängig Beschäftigte am Produktivitätsfortschritt zu beteiligen und sie mit kollektiven Partizipations- und Schutzrechten auszustatten, desto stärker veränderten sie sich selbst. In den wohlfahrtsstaatlich regulierten Kapitalismen verschob sich das Zentrum ihres strategischen Handelns von struktureller und Organisationsmacht hin zu institutioneller Macht. Für Deutschland bedeutete dies, dass die Gewerkschaften und die mit ihnen verbündeten Betriebsräte die intermediäre Logik des dualen Systems der Interessenrepräsentation – die spezifische Kombination von Tarifautonomie und betrieblicher Mitbestimmung – möglichst effizient zu nutzen suchten. Auf diese Weise gelang es, institutionelle Gewerkschaftsmacht immer stärker auszubauen. 3.1
Sozialer Kapitalismus und entfaltete Intermediarität
Die während der 1950er und 1960er Jahre dominanten arbeits- und industriesoziologischen Konzeptualisierungen organisierter Arbeitsinteressen müssen vor diesem Hintergrund gesehen werden. Während sich in den angelsächsischen Staaten, in denen die Institutionalisierung von Arbeitermacht außerhalb der Betriebe weit weniger erfolgreich verlief, frühzeitig eine eigenständige Industrial-Relations-Forschung herausbildete, konzentrierte sich die bundesdeutsche Diskussion auf die „Nivellierung“ sozialer Unterschiede – eine vermeintliche „Verbürgerlichung“ der Arbeiter (Schelsky 1965; kritisch: Mooser 1984; Tenfelde 1991) – und auf die Inkorporation von Gewerkschaften in den entstehenden Wohlfahrtsstaat. Was Franz Neumann und Götz Briefs aus unterschiedlichen Perspektiven antizipiert hatten, wurde nun in gewisser Weise zu gesellschaftlicher Realität. Die Gewerkschaften, die sich in der Gründungsperiode der Bundesrepublik geradezu mit einem „Organisationswunder“ (knapp sechs Millionen DGB-Mitglieder 1951) (Müller-Jentsch/Ittermann 2000: 85) konfrontiert sahen, erreichten als „bürokratisch gefestigte und für die Volkswirtschaft als unentbehrlich angesehene Massenorganisation“ die „volle Anerkennung durch Gesetzgebung, Arbeitgeber und öffentliche Meinung“ (Briefs 1952: 87). Sie büßten sukzessive ihren Bewegungscharakter ein, übertrugen genossenschaftliche Funktionen auf den Wohlfahrtsstaat und agierten oberhalb der Betriebsebene als effiziente ,Tarifmaschinen‘. Die Institutionalisierung des Klassenkonflikts wurde sowohl in staatsrechtlichen (Forsthoff 1971) als auch in liberal-pluralistischen Ansätzen (Dahrendorf 1967) reflektiert. Fürchteten konservative Staatrechtler eine gewerkschaftliche Instrumentalisierung des Öffentlichen, die zu Lasten der Gemeinwohlorientierung des Staates gehe, hoben liberale Ansätze die Integrationskraft normierter Konflikte in einer durch Interessenvielfalt geprägten Gesellschaft hervor. Beide Richtungen hielten die Institutionalisierung des Klassengegensatzes für eine wesentliche gesellschaftliche Stabilitätsbedingung (Geiger 1949). Den konservativen Staatsrechtlern war klar, dass der von ihnen befürwortete Staatsinterventionismus schwerlich ohne Gewerkschaften möglich sein würde. Daher akzeptierten auch sie die Übertragung wirtschaftlicher Lenkungsfunktionen auf die Arbeitnehmerorganisationen. Disziplinierende Maßnahmen wie die Einschränkung des Streikrechts sollten organisierte Interessen allerdings daran hindern, den Markt als politisch beeinflussbare Größe anzusehen (Esser 2003: 68 ff.). Gemeinsam war den konkurrierenden Deutungsangeboten, dass sie die Pazifizierung des Klassenkonflikts für unumkehrbar hielten. Umso größer war die Überraschung, als sich viele westeuropäische Staaten in den späten 1960er Jahren mit einer Rückkehr der Arbeitermilitanz konfrontiert sahen (Crouch/
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Pizzorno 1978a, b; Harvey 2007: 20-22). Selbst in Westdeutschland schienen die Gewerkschaftsführungen während der spontanen Septemberstreiks im Jahr 1969 kurzzeitig die Kontrolle über ihre Mitgliederbasis zu verlieren (Schumann u.a. 1971). Für die sich im Anschluss daran etablierende kritische Arbeiterbewusstseins- (Kern/Schumann 1973; Deppe 1971; Fürstenberg 1969; Kudera u.a. 1979) und Gewerkschaftsforschung erschien das Paradigma der befestigten, anerkannten Gewerkschaft nun in einem anderen Licht. Erklärungsbedürftig war, weshalb die etablierten Gewerkschaftsorganisationen, etwa im französischen Mai 1968, gegenüber einer radikalisierten Basis Konflikt dämpfend wirkten. Forschungen, die wesentlich von dieser Fragestellung ihren Ausgangspunkt nahmen (Bergmann 1979; Bergmann/Jacobi/Müller-Jentsch 1975, 1977; Mayer 1973; Projektgruppe Gewerkschaftsforschung 1976; Erd 1978), haben wohl eine der fruchtbarsten Phasen arbeits- und industriesoziologischer Konzeptentwicklung begründet. Im Ergebnis setzten sich mit der Gewerkschaft als intermediärer Organisation und mit dem dualen System der Interessenrepräsentation Basiskategorien durch, die seither zum festen Wissensbestand der Arbeits- und Industriesoziologie zählen. In systemischen Betrachtungen organisierter Arbeitsbeziehungen haben sie später eine Weiterung gefunden (Dore 1996; Katzenstein 1989; Streeck 1999; Müller-Jentsch 1999; Frege/Kelly 2004). Das Konzept der intermediären Gewerkschaft besagt, dass die Gewerkschaften in den entwickelten Kapitalismen ihren klassenbasierten Doppelcharakter zugunsten einer eher pragmatischen Mittlerrolle zwischen Kapital- bzw. Systeminteressen auf der einen sowie Lohnarbeiter- bzw. Mitgliederinteressen auf der anderen Seite aufgeben. Walther MüllerJentsch (2008: 51-78) hat die Essenz umfangreicher empirischer wie theoretischer Forschungen in einem stilbildenden Aufsatz zusammengefasst. Danach sind für den Übergang von der „klassischen“ (Götz Briefs) zur intermediären Gewerkschaft fünf Entwicklungen ausschlaggebend. Dazu gehört (1) der bereits angesprochene Wandel der gewerkschaftlichen Organisationsformen. Bürokratisierung der Verwaltung und Professionalisierung der Funktionäre bewirken eine Lockerung des innerorganisatorischen Zusammenhalts; Verbandsziele und Mitgliederbedürfnisse fallen, anders als bei Berufsgewerkschaften, immer stärker auseinander. Dies ermöglicht (2) einen Wandel der gewerkschaftlichen Interessenpolitik. Die Notwendigkeit einer Interessenverallgemeinerung in bürokratischen Großorganisationen bedingt zugleich, dass qualitative Interessen zugunsten quantitativer (Lohn, Arbeitszeiten) in den Hintergrund geschoben werden. Der genossenschaftliche Aufgabenkreis schrumpft, während Interessenvertretung nach außen mehr und mehr zur zentralen Legitimationsgrundlage der Organisation wird. In der Dualität von Organisations- und Mitgliederinteressen sind latente Basis-Führungs-Konflikte angelegt, in denen sich der Apparat auch gegen die Mitglieder durchsetzen kann. All dies fördert (3) Differenzierungen zwischen betrieblicher und sektoraler Interessenpolitik. Zwar zeichnet sich in Westeuropa kein einheitliches Muster ab; insgesamt lässt sich jedoch von einer Intention des Managements sprechen, die Gewerkschaften aus den Betrieben herauszuhalten. Duale Vertretungsformen werden vom Management bevorzugt, gewerkschaftliche Präsenz kann nur durch staatlich-politische Intervention erzwungen werden. Doch gleich welche Form der Interessenrepräsentation sich durchsetzt, das Management muss sich arrangieren und kooperieren. Gleiches gilt umgekehrt für die betrieblichen Interessenvertretungen, die eine relativ eigenständige Machtposition besitzen und zugleich zu einem Äquivalent für den inneren Zweckkreis der klassischen Gewerkschaft werden. Entlastungen durch die betriebliche Ebene erweitern die Möglichkeiten zur (4)
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Institutionalisierung der Konfliktbeziehungen zwischen Kapital und Arbeit in der Tarifautonomie. Wirtschaftliche lassen sich von politischen Kämpfen isolieren, was eine Kanalisierung von Klassenauseinandersetzungen begünstigt. Nachholend wird diese Entwicklung auch seitens der Rechtssprechung abgesichert. Nach Anerkennung des Koalitions- und Streikrechts in früheren Phasen sind gruppenautonome Regelungen die dritte Etappe auf dem Weg zur Institutionalisierung der Tarifautonomie und zur „legalen Befestigung“ (Briefs 1952) der Gewerkschaften. Gewöhnung in kollektiven Aushandlungen lässt ein Konsensklima zwischen den Tarifparteien entstehen. All das ermöglicht die staatliche Anerkennung der Gewerkschaften als repräsentative, quasi-öffentliche Institution. Die Gewerkschaften bekommen (5) öffentliche Aufgaben und damit eine ordnungspolitische Funktion zugewiesen. Nach innen verringert dieser Organisationswandel den Solidarisierungsbedarf zugunsten tauschbarer Ordnungsleistungen, ohne indessen den sozialen Frieden verbindlich garantieren zu können. Schließlich fördert der zunehmende Bedarf an Staatsinterventionen eine wirtschaftspolitische Funktionalisierung der Gewerkschaften. Die Organisation wird in einem Wechselspiel von Machtbeschränkung und Selbstdisziplinierung in staatliche Politik eingebunden; sie entwickelt sich zu einer Ordnungsmacht. Entsprechen diese Bestimmungen im Wesentlichen den Kriterien für eine ,legal befestigte‘ Gewerkschaft, geht das Intermediaritäts-Konzept in einigen Punkten doch über die Briefsche Definition hinaus. Erstens wird gezeigt, dass der Verzicht gewerkschaftlicher Führungseliten auf Marktund Machtchancen voraussetzungsvoll ist. Basis des Verzichts sind keynesianische Wirtschaftspolitik und korporatistische Kooperation, „die die Führungseliten von Gewerkschaften und Unternehmerverbänden zu einem Steuerungsverbund zusammenzufassen versucht, um wirtschaftlich relevante Entscheidungen aufeinander abzustimmen“ (1952: 61f.). In Deutschland handelt es sich allerdings um einen begrenzten, eher sektoral entwickelten und zudem selektiven, einseitig an männlichen Facharbeiterinteressen ausgerichteten Korporatismus (Esser/Fach 1981). Zweitens bedeutet Intermediarität keineswegs zwangsläufig Verzicht auf Konfliktfähigkeit. Es bestehen durchaus Alternativen zur Kooperation. Kooperative und konfliktorische Interessenpolitiken stellen jedoch lediglich Varianten der intermediären Gewerkschaft dar. Kooperation zwischen den Repräsentanten von Kapital und Arbeit ist möglich, weil neben den antagonistischen auch kompatible sowie sektionale Fraktions- und Brancheninteressen existieren. Über die Gewichtung, die Definitionen und die Bearbeitungsformen dieser Interessen entstehen unterschiedliche Gewerkschaftsmodelle. Idealtypisch bilden revolutionäre und Staatsgewerkschaft die Pole, zwischen denen die intermediäre Gewerkschaft agiert. Letztere tritt in den Varianten der kooperativen und der konfliktorischen Gewerkschaft sowie in Gestalt des Social-Contract-Bargaining auf.6 Drittens agiert die intermediäre Gewerkschaft in zwei Umwelten. Als sozialer Akteur zielt sie auf die Durchsetzung kollektiver Mitgliederinteressen, als Organisation übernimmt sie Integrationsfunktionen für die institutionelle Umwelt. Für Sozial- wie Systemintegration (Lockwood 1971: 124-137) gleichermaßen bedeutsam, ist auch die intermediäre Gewerkschaft auf die Nutzung spezifischer Machtressourcen angewiesen. In diesem Zusammen6 Die kooperative Gewerkschaft basiert auf Wohlverhalten in Erwartung von Gegenleistungen; die konfliktorische Gewerkschaft setzt ihr Störpotential ein, um Zugeständnisse zu erzwingen, das Social-Contract-Bargaining erkennt Systemzwänge an und erwartet von einer Zurückhaltung von Organisationsmacht im Gegenzug an Arbeitsinteressen ausgerichtete Reformen.
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hang gilt: Gewerkschaftliche Macht ist Organisationsmacht, Mitgliederzahlen und Mobilisierungspotenzial sind entscheidend. Allerdings muss zwischen potentieller und manifester Ausübung von Organisationsmacht unterschieden werden. Manifeste Machtausübung in Gestalt von Streiks gilt eher als Ausnahme, sie erfolgt, wo inkompatible Interessengegensätze auftreten. Primär beruht gewerkschaftliche Interessendurchsetzung heute jedoch „auf potentieller Organisationsmacht; sie reicht aus, um in Tarifverhandlungen und im ‚politischen Tausch‘ Interessenkompromisse zu erzielen“ (Müller-Jentsch 2008: 69). Dabei übt die Organisation Macht in unterschiedliche Richtungen aus: „Die Bargaining-Funktion der Gewerkschaften hat zur Voraussetzung, dass die Organisation streikfähig ist, d. h. Macht durch Mitglieder ausgeübt werden kann. Die Repräsentationsfunktion der Gewerkschaft basiert darauf, dass sie ihre Mitglieder auf ausgehandelte Vereinbarungen verpflichten kann, d. h. Macht über ihre Mitglieder auszuüben vermag.“ (2008: 69, Hervorh. i.O.) Rückblickend beschreibt das Konzept der intermediären Gewerkschaft eindrucksvoll und in einer in der Nachfolgeforschung nur selten erreichten Klarheit die Transformation der Organisationsmacht von Lohnabhängigen in institutionelle Macht, ohne allerdings den letztgenannten Terminus überhaupt zu benutzen. Institutionelle erscheint als latente, nicht ausgeübte Organisationsmacht, ihr wird jedoch analytisch keine eigenständige Qualität und Funktion eingeräumt. Infolgedessen wird der Integrationsbegriff im Grunde eindimensional konzipiert; die Widersprüchlichkeit jeglicher Integration von Lohnabhängigenmacht geht tendenziell verloren und wird durch das Spannungsverhältnis von Sozial- und Systemintegration ersetzt. Primär aus der Organisationsperspektive definiert, bleiben Mitgliederinteressen und deren Konstitutionsprozess analytisch unterbelichtet (Beerhorst 2005). Die Organisations- dominiert die Mitgliederperspektive. Als Ordnungsmacht ist die intermediäre Gewerkschaft immer schon Bestandteil des Systems. Die Interessenregulation erfordert schwierige Balanceakte, die nur zu bewältigen sind, indem die Organisation spezifische Integrations(normative Einbindung der Aktiven, Verbandsideologie, politische Traditionen) (Offe/Wiesenthal 1980) und Selektionsmechanismen (sozialstrukturelle Interessenfilterung, Trennung von Entscheidung und Beteiligung) (Weitbrecht 1969; Bergmann 1979) ausbildet. Entscheidend ist jedoch, dass die intermediäre Gewerkschaft zum integralen Bestandteil eines Systems wird, das auf einer Dreiteilung von Aushandlungen beruht. In diesem System werden Arbeitsinteressen nicht mehr ausschließlich von den Gewerkschaften, sondern zusätzlich von den Arbeitsverwaltungen/Sozialversicherungen und den betrieblichen Interessenvertretungen repräsentiert. In der Bundesrepublik hat sich als Besonderheit eine duale Struktur von Kollektivverhandlungen herausgebildet. Der institutionalisierte Klassenkonflikt findet anhand quantifizierbarer Forderungen in der Arena der Tarifautonomie statt, während qualitative Arbeitsinteressen Sache der betrieblichen Interessenvertretung sind. Nur wenn die betriebliche Arena überfordert ist, kommt es zur Verlagerung von Aushandlungen auf eine andere Ebene. Das duale System wird wiederum durch kollektive Sicherungen entlastet, die allgemeine Reproduktionsinteressen der Lohnabhängigen wahrnehmen. Die Einbettung in kollektive Sicherungssysteme erleichtert es den Gewerkschaften, sich auf ,Arbeitsplatzbesitzer‘ zu konzentrieren. Zwar changieren die intermediären Gewerkschaften weiterhin zwischen kooperativen und konfliktorischen Formen der Interessendurchsetzung; die institutionelle Einbindung erzeugt jedoch eine ,Schwerkraft‘ zugunsten kooperativer Formen. Aus einstigen „Schulen für den Sozialismus“ sind Stützen des – wohlfahrtsstaatlich regulierten – Systems geworden (Müller-Jentsch 2008: 78). Wie sich Organisationsmacht, die überwiegend latent bleibt, reproduziert und ob sie von den kollek-
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tiven Gegenspielern dauerhaft anerkannt wird, bleibt im Konzept der intermediären Gewerkschaft allerdings ungeklärt. 3.2
Systemische Konzeptionen organisierter Arbeitsbeziehungen
An diesem neuralgischen Punkt setzen alternative (neo)marxistische Analysen an, die – während der 1950er und 1960er Jahre im akademischen Spektrum allenfalls isolierte Einzelmeinungen (Abendroth 1954, 1967; Gorz 1969; Pirker 1960) – mit dem kurzzeitigen Aufleben der Arbeitermilitanz eine vorübergehende Blüte erlebten.7 Vor allem Arbeiten aus dem Umfeld der so genannten „Marburger Schule“ (Deppe 1979; Hautsch/Pickshaus 1979: 245-278) kritisierten den hermetischen Integrationsbegriff, der dem Konzept der intermediären Gewerkschaft zugrunde lag und setzten ihm eine eigene, an Lelio Bassos (1975, vgl. auch Trentin 1982) Theorem antagonistischer Vergesellschaftung angelehnte Konstruktion von „Klassenautonomie“ entgegen. Kritiker haben an diesem Ansatz moniert, dass er mit der Überbetonung des konfliktorischen Moments seinen Gegenstand verzerre und so zur Affirmation der realen Gewerkschaftspolitik beitrage (Offe/Wiesenthal 1980; Esser 2003). Die Entwicklung der 1980er Jahre sprach in der Tat für ein stabiles System industrieller Beziehungen, das kooperative Politiken der Tarifparteien begünstigte. Ursprünglich hatten auch die Forscher im Umfeld des Frankfurter Instituts für Sozialforschung erwartet, dass ökonomische Krisen und schwindender Spielraum für materielle Zugeständnisse die Stabilisatoren der organisierten Arbeitsbeziehungen erschüttern und die Konflikte dämpfende Wirkung intermediärer Interessenregulation schwächen würden. Doch das war so nicht der Fall. Das „ökonomistische Vorurteil“, eine große Wirtschaftskrise werde auch zu Legitimationsproblemen kooperativer Gewerkschaftspolitik führen, musste angesichts der globalen Krisen von 1973/74 und 1980-1983 sowie steigender struktureller Arbeitslosigkeit korrigiert werden (Müller-Jentsch 2008: 76; Hoffmann 1987: 344-363). Mehr noch, war die intermediäre Interessenvermittlung im dualen System zunächst Gegenstand einer Kritik, die auf das Wiedererwachen einer militanten Arbeitsbasis setzte, so galt das deutsche ,Modell‘ Mitte der 1990er Jahre geradezu als Hort institutioneller Stabilität (Müller-Jentsch 1995; kritisch: SOFI 1995). Denn während sich Referenzsysteme wie das britische und das italienische mit ihren zeitweilig stärker konfliktorientierten Gewerkschaftsbewegungen bereits in einer tiefen Krise befanden (Ferner/Hyman 1998), attestierten nun selbst marxistische Autoren wie Richard Hyman (1996, 2001a, b) der IG Metall und ihren Verbündeten angesichts harter Auseinandersetzungen um die Verkürzung der Wochenarbeitszeit einen „innovativen Radikalismus“ mit Beispielcharakter für Westeuropa. In der arbeits- und industriesoziologischen Diskussion, wie auch in verwandten Disziplinen, dominierten allerdings immer stärker systemische Ansätze, die die Regulation von Arbeitsbeziehungen als komplexes Wechselspiel institutionell präformierter, ausgehandelter Anpassungsprozesse begriffen (stilbildend aus systemtheoretischer Perspektive: Dunlop 1993). Für solche Ansätze waren Gewerkschaften noch immer wichtig, aber keineswegs zentral. Als Interessenverbände repräsentierten diese eine „Logik kollektiven Handelns“ 7 Generell lässt sich sagen, dass für eine kurze Phase im Anschluss an 1968 Gewerkschaftsanalyse und -theorie ohne Bezug zur marxschen Kritik der politischen Ökonomie auch im akademischen Bereich kaum denkbar war. Siehe dazu: Dzielak u.a. 1978; Müller/Neusüß 1970; Blanke/Jürgens/Kastendieck 1975; Jacobi/Müller-Jentsch/ Schmidt 1972-1975, 1978 ff.
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(Olson 1985), die aufgrund rationaler Kosten-Nutzen-Kalküle potentieller Mitglieder eine Free-Rider-Problematik erzeugte. Ab Mitte der 1980er Jahre wurden die Gewerkschaften als Organisationen in Deutschland kaum noch beforscht. Stattdessen rückten betriebliche Interessenvertretungen, Management und Managementkonzepte, direkte Partizipationsformen oder die Steuerung von Unternehmen in den Fokus empirischer Forschungen. Der arbeitsund industriesoziologische Mainstream konzentrierte sich zumindest in Deutschland stärker auf die Regulierung betrieblicher Arbeitsbeziehungen.8 Konzeptionen, in denen die Repräsentation von Arbeitsinteressen oberhalb der Unternehmensebene überhaupt noch eine Rolle spielte, ersetzten die Frage nach der Organisationsmacht von Lohnabhängigen sukzessive durch die nach der Passfähigkeit und der Effizienz institutioneller Konfigurationen. Drei einflussreiche Theoreme mittlerer Reichweite, Neokorporatismus, Neoinstitutionalismus und Regulationstheorie, seien nachfolgend exemplarisch vorgestellt. Vorausgeschickt werden muss, dass die genannten Ansätze in sich keineswegs homogen sind. Zudem sehen sie sich jeweils mit einer vergleichbaren Problematik konfrontiert. Sie alle müssen ökonomische Internationalisierung (Dicken 2007), sektoralen und sozialstrukturellen Wandel (Castells 1996, 1997, 1998), Umbrüche in der Arbeitswelt (Voß/Pongratz 1998; Sauer 2005; Schumann 2003) sowie nicht zuletzt die Umorientierung auf angebotsorientierte Wirtschafts- wie Arbeitsmarktpolitiken (Howell 2005) verarbeiten. In diesem Kontext ist (1) Korporatismus ein schillernder Begriff, der – jenseits auch vorhandener autoritärer, etwa im italienischen Faschismus verankerter Traditionen – in seiner liberalen Fassung eine soziopolitische Technik zur Regulierung des Klassenkonflikts bezeichnet (Lehmbruch 1979). Demnach bleiben die grundlegenden Motive, Mechanismen, Attribute und Resultate des Kapitalismus (Gewinnstreben, Allokation durch Wettbewerb, Expansionsstreben, Akkumulationstendenz) konstant. Politische Interventionen, kulturelle Normen oder Krisen können zwar diese Charakteristika verzerren; als „wesenseigene Merkmale“ des Kapitalismus werden sie sich jedoch „letztendlich wieder durchsetzen“ (Schmitter 1996: 314). Dass Kapitalismus dennoch möglich bleibt, ja dass er sich mehr oder minder erfolgreich entwickeln kann, lässt sich auf eine innovative Einverleibung von Kollektivinteressen und der diese Interessen repräsentierenden Verbände zurückführen (1996: 316). Zunächst am Leitbild eines organisierten Kapitalismus orientiert, betrachtete der Neo-Korporatismus die Schaffung eines institutionalisierten, zentralisierten Verhandlungsmodus, „der in der Folge auch zu expliziten Kompromissen zwischen Gesellschaftsklassen und Wirtschaftssektoren“ (1996: 318; vgl. auch: Streeck 1999) führt, als optimale Steuerungsform. Erwartet wurde zunächst, dass sich Steuerungsexperimente, wie die Konzertierte Aktion9 in Westdeutschland, in mehr oder minder allen europäischen Kapitalismen durchsetzen ließen. Aufgrund der Instabilitäten und Misserfolge vergleichbarer Steuerungsexperimente, vor allem jedoch wegen der Abkehr von keynesianischen Wirtschaftspolitiken, geriet das neo-korporatistische Paradigma unter Druck. Gegen die These eines Übergangs zum „disorganized capitalism“ (Lash/Urry 1987) haben Verfechter des Paradigmas immerhin geltend machen kön8 Siehe hierzu den Beitrag von Rainer Trinczek „Betriebliche Regulierung von Arbeitsbeziehungen“ in diesem Band. 9 Gemeint ist der 1967 beginnende Versuch, korporative Beziehungen zwischen Staat, Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden zu institutionalisieren. Der damalige Bundeswirtschaftsminister Karl Schiller (SPD) griff eine Empfehlung des Sachverständigenrates auf und initiierte die Konzertierte Aktion als Mittel zur Steuerung der Konjunktur. Veranlasste die Konzertierte Aktion die Gewerkschaften zunächst zur Lohnzurückhaltung, verlor das korporative Bündnis infolge von Streiks und einer Verfassungsklage mehrerer Arbeitgeberverbände an Bedeutung. Auf ihrem Kongress von 1978 erteilten die Gewerkschaften der Konzertierten Aktion eine endgültige Absage.
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nen, dass korporatistische Arrangements unterhalb der nationalstaatlichen Ebene bei der Steuerung von Sektoren (Schmitter 1996: 337) oder der Bewältigung von Branchenkrisen eine bedeutsame Rolle spielen. Einen umfassenden Versuch, das neo-korporatistische Paradigma an veränderte gesellschaftliche Verhältnisse anzupassen, hat die Forschergruppe um Wolfgang Streeck (1999) vorgelegt. Ursprünglich davon überzeugt, das deutsche System dualer Interessenrepräsentation sei besonders geeignet, neue sozioökonomische Herausforderungen zu meistern (Esser 2003: 74; Streeck 1981), wird ab Mitte der 1990er Jahre eine veränderte Realität konstatiert. Von ökonomischer Globalisierung und den Folgeproblemen der deutschen Vereinigung gleichsam in die Zange genommen, zweifelt Wolfgang Streeck an der Überlebensfähigkeit des „German Capitalism“ (Streeck 1997: 33-54; Crouch/Streeck 1997). Die einmalige institutionelle Konfiguration, bestehend aus diversifizierter Qualitätsproduktion, Zentralbanksystem, ausgehandelten Unternehmen, sozial kohäsivem Staat und dualer Interessenrepräsentation, erodiere. Internationale Märkte würden durch „Diplomatie“, nicht durch komplizierte Klassenpolitiken geschaffen. Das mitbestimmte Unternehmen deutscher Prägung sei für einen Institutionen-Export nach Europa ungeeignet. Zudem nehme die Handlungsfähigkeit des Nationalstaates in einer internationalisierten Ökonomie ab, selbst ein im Entstehen begriffener europäischer Staat könne das daraus resultierende Steuerungsdefizit nicht kompensieren. Das wiege schwer, weil die deutschen Verbände einen Staat benötigten, der sie fördere. Ein solcher Staat könne in einer internationalen Ökonomie aber nicht mehr existieren. Schließlich sei die traditionalistische deutsche Wirtschaftskultur mit ihrem schwerfälligen Kollektivismus kaum in der Lage, sich den Verlockungen der attraktivindividualistischen amerikanischen Herausforderung zu widersetzen. Aus diesen Gründen drohe die „deregulierende Tendenz der Globalisierung“ zu dem „perversen Ergebnis“ zu führen, dass das „weniger leistungsfähige anglo-amerikanische Modell des Kapitalismus das leistungsfähigere ‚Rheinische Modell‘ verdrängen“ werde (1997: 51-53). Die Hoffnung, korporatistische Interessenregulierung könne durch eine prioritäre Angebotsorientierung gesellschaftlicher Kompromissbildungen an die veränderten Rahmenbedingungen angepasst werden, ist seit dem Scheitern des Bündnisses für Arbeit und Wettbewerbsfähigkeit (Heinze 2006) de facto zerstoben. Veränderungen im Tarifsystem, die sich für eine gewisse Zeit im Sinne einer korporativ eingebetteten „koordinierten Dezentralisierung“ interpretieren ließen (Rehder 2003), haben sich real eher als Schwächung organisierter Arbeitsbeziehungen erwiesen. Mit dem offensiven Verzicht auf eine Kooptation der gewerkschaftlichen Führungsgruppen (Streeck 2005), wie ihn die Agenda-Politik der rotgrünen Bundesregierung 2003 bis 2005 vollzogen hat, ist eine weitere zentrale Voraussetzung für korporative „Eliten-Deals“ (Müller-Jentsch 2008: 63; Dörre 2006: 7-28) weg gebrochen. Vorerst bleibt unklar, was an deren Stelle treten kann. Wenngleich soziologische Paradigmen nicht für politische Fehlschläge verantwortlich sind, ist doch offenkundig, dass das angebots-korporatistische Paradigma die Konsensfähigkeit organisierter Arbeitsinteressen überschätzt hat. Während Wolfgang Streeck in seinen Arbeiten die Gefahr einer marktgetriebenen Universalisierung des angelsächsischen Kapitalismusmodells (Albert 1992) akzentuiert, um sodann den Wettbewerbs-Korporatismus als letzten Rettungsanker des Rheinischen Kapitalismus zu empfehlen, argumentieren konkurrierende (2) institutionalistische Ansätze, dass der Druck einer internationalen Ökonomie die Ausprägung unterschiedlicher Kapitalismen (Fulcher 2007) eher noch verstärkt (Sorge 1999). Die vermeintlich homogenisierende Wirkung globaler Märkte wird durch
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„institutionelle Filter“ (North 1998: 247-257) klein gearbeitet und in eine tiefere Ausprägung von „Varieties of Capitalism“ (Hall/Soskice 2001) transformiert. Selbstverständlich ist sozialer Wandel auch innerhalb des institutionalistischen Paradigmas vorstellbar. Als wahrscheinlich gilt er im Falle der Arbeitsbeziehungen jedoch nur, sofern er sich innerhalb von Pfaden bewegt, welche die jeweilige institutionelle Umwelt den sozialen Akteuren nahe legt. Entsprechend dieser Annahme agieren selbst mächtige weltmarktorientierte Konzerne auf präformierten Internationalisierungspfaden, weil radikale Pfadwechsel mit beträchtlichen „sunk costs“ verbunden wären (Ruigrok/van Tulder 1995; kritisch: Altvater/ Mahnkopf 1996). Im Kontrast zu Szenarien, die von einer Nivellierung institutioneller Divergenz ausgehen, legen ,harte‘ Pfadabhängigkeitsthesen daher zwei analytische Konsequenzen nahe: Erstens schließen sie die Möglichkeit einer Verallgemeinerung z. B. des US-amerikanischen Kapitalismusmodells aus. Gegen die unter dem Eindruck des amerikanischen Jobwunders der 1990er Jahre formulierte These, radikale Innovationen, wirtschaftliches Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen seien unter den Bedingungen „intensivierter Globalisierung“ (Giddens 1995) am besten in Gesellschaften möglich, die sich durch einen an kurzfristiger Gewinnorientierung ausgerichteten Wirtschaftsstil, schwache zivilgesellschaftliche Assoziationen, Deregulierung und Entsozialstaatlichung auszeichneten, setzen Autoren wie J. Rogers Hollingsworth (1997, 1996) die Skizze einer problematischen dualen Wirtschaftsstruktur. Der amerikanische Kapitalismus sei Produkt eines historisch einmaligen Evolutionsprozesses, einer individualistischen, Pioniergeist und Unternehmertum fördernden Kultur. Seine ökonomischen Institutionen funktionierten innerhalb besonderer gesellschaftlicher Verhältnisse, sie könnten daher „nicht konvergieren“ (Hollingsworth 1997: 133). Zweitens hängt die institutionelle Einbettung des Wirtschaftshandelns eng mit der Inkorporierung von Lohnabhängigeninteressen zusammen, welche sich in Form und Volumen von Staat zu Staat unterscheidet. Auch Marktbeziehungen bilden demnach soziale Felder (Fligstein 2001: 67ff.; Polanyi 1977), deren Struktur durch Koalitionen und Kompromissbildungen beeinflusst wird, welche der Konstitution von Märkten in nationalen Wirtschaftssystemen zugrunde liegen. Folgt man Neil Fligstein, so wird die „Architektur der Märkte“ in skandinavischen Staaten durch Arbeiter-Staat-Koalitionen bestimmt; in den Vereinigten Staaten werden die Allianzen einseitig von Kapitalinteressen dominiert während es sich in Deutschland um Koalitionen handelt, die auf Kompromissbildungen zwischen Arbeitern und Kapitalisten fußen. Die besonderen Allianzen und Kompromissbildungen schlagen sich in unterschiedlichen Wohlfahrtsmodellen nieder. Zugespitzt formuliert gilt: Je stärker die Organisationsmacht und Mobilisierungsfähigkeit von Arbeiterbewegungen, desto umfassender der Sozialstaat (Korpi 1983; Esping-Andersen 1985). Politik für organisierte Arbeitsinteressen bedeutet demnach in der Regel De-Kommodifizierung (Esping-Andersen 1996: 44). Auch wenn die Stärke von Arbeiterbewegung und Gewerkschaften für sich genommen sicher nicht ausreicht, um die unterschiedlichen Welten des Wohlfahrtskapitalismus zu erklären, machen solche Überlegungen doch deutlich, dass Systeme mit einem hohen Niveau institutionalisierter Arbeitermacht radikale Anti-Gewerkschaftsstrategien nach dem Vorbild der Reagan-Revolution im Grunde ausschließen. Umgekehrt lassen sich die Mechanismen eines Finanzmarkt-Kapitalismus (Windolf 2005) leichter in und von kapitaldominierten Koalitionen in den angelsächsischen Kapitalismen durchsetzen. Was diese Er-
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kenntnis für die Analyse organisierter Arbeitsbeziehungen bedeutet, ist indessen unklar. So legen institutionalisierte Arbeitsbeziehungen Verbänden wie den Gewerkschaften Handlungsstrategien nahe, die auch dann noch überzeugend erscheinen, wenn sich gesellschaftliche Kräfteverhältnisse bereits gravierend verändert haben. Die Chance, institutionelle Macht über ihre Erzeugungsbedingungen hinaus wirksam werden zu lassen, kann kollektive Akteure aber auch dazu animieren, Repräsentationsdefizite mittels institutionenkonformen Verhaltens kompensieren zu wollen. In diesem Fall laufen vor allem die Lohnabhängigen-Organisationen beständig Gefahr, Handlungsstrategien zu konservieren, denen die Geschäftsgrundlage längst abhanden gekommen ist. Insofern sind auch bei gleichen institutionellen Rahmenbedingungen divergente strategische Optionen denkbar. Gewerkschaften können eine „auf Konsens und Interessenausgleich beruhende Koordination“ zur Blockade struktureller Anpassungen nutzen und sie können als „Traditionswächter“ einer im Niedergang begriffenen sozialen Ordnung (Beyer 2003: 18) agieren. Die Korrespondenz zwischen unterschiedlichen Kapitalismen, Arbeitsbeziehungsmodellen und Gewerkschaftstypen lässt sich aber auch als Basis für eine pfadspezifische Erneuerung der Lohnabhängigen-Organisationen (Turner 2004: 1-10; Huzzard/Gregory/Scott 2004: 20-44) nutzen. Insgesamt wird so allerdings eine Spannbreite von strategischen Optionen wie von sozialwissenschaftlichen Diagnosen deutlich, die auf ein Grundproblem institutionalistischer Theoreme (Fligstein/Choo 2006: 98-103) verweist. Es mangelt an eindeutig identifizierbaren Kriterien, anhand derer sich radikaler von pfadimmanentem Wandel abgrenzen ließe. Dementsprechend läuft institutionalistische Analyse beständig Gefahr, Veränderungen als Wiederkehr des Immergleichen zu interpretieren (Campbell 2004). Der Neoliberalismus ist dann eine übernationale Herausforderung, die jedoch komplexer, divergenter und offener ist, als es viele Interpreten wahrhaben wollen (Campbell/Pedersen 2001: 3). Kapitalmarktorientierte Steuerungsformen setzen sich auch in den Unternehmen des Rheinischen Kapitalismus durch, doch es handelt sich eben um einen „ausgehandelten Shareholder Value“ (Vitols 2003). Wird jede Veränderung sogleich als pfadimmanente gedeutet, könnte nur ein vollständiger Zusammenbruch eines Institutionensystems einen Pfadwechsel überhaupt denkbar erscheinen lassen. Umgekehrt verliert das Pfadabhängigkeits-Argument an Schlüssigkeit, wenn nahezu jede Veränderung immer auch als Kontinuitätsnachweis dienen kann (vgl. zu dieser Problematik Streeck 2009). Im Spannungsfeld von Konvergenz und Divergenz bewegen sich (3) regulationstheoretische Ansätze gewissermaßen auf einer mittleren Argumentationslinie. Den Übergang von einer kapitalistischen Formation zu einer anderen führen sie sowohl auf allgemeine, übernationale, als auch auf besondere, institutionenspezifische Triebkräfte zurück (Boyer 1997: 71-101). Laut Regulationstheorie konstituiert sich eine kapitalistische Formation über halbwegs stabile Beziehungen zwischen Akkumulationsregime, Regulationsweise und Produktionsmodell.10 Institutionelle Vielfalt ist auf der Ebene der Regulationsweise ange-
10 Ein Akkumulationsregime bezeichnet über längere Zeiträume hinweg stabile Entsprechungen zwischen den materiellen Produktionsbedingungen und ihrer Entwicklung (Volumen des eingesetzten Kapitals, Branchenstruktur, Produktionsnormen) sowie dem gesellschaftlichen Verbrauch (zahlungsfähige Nachfrage, Konsumnormen, Aglietta 2000a: 12ff.). Als Regulationsweise wird die Gesamtheit der institutionellen Formen, Organisationen, expliziten und impliziten Normen bezeichnet, die den Zusammenhalt der Gesellschaft stiften, indem sie gegensätzliche Interessen und eigensinnige Verhaltensweisen von sozialen Gruppen und Individuen mit den Erfordernissen der Kapitalverwertung in Einklang bringen. Produktionsmodelle sind Netzwerke sozialer Verhältnisse, in denen spezifische Managementprinzipien mit der Regulation der Kapital-Arbeit-Beziehungen kombiniert werden. Dazu
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siedelt. Anders als Vertreter von institutionalistischen Theoremen behaupten Regulationstheoretiker allerdings einen qualitativen Wandel gesellschaftlicher Regulationsmodi: Zwar können die konstitutiven sozialen Verhältnisse in bestimmten Perioden kapitalistischer Entwicklung mit individuellen wie kollektiven Verhaltensmustern in Überseinstimmung gebracht werden; doch diese auf Institutionen und Gewohnheit basierende Stabilität ist niemals von Dauer (Lipietz 1998: 12ff.). In ,großen Krisen‘ kapitalistischer Akkumulation wird die bestehende Regulationsweise destruiert und in einem ungerichteten, kontingenten Prozess ohne zentrales strategisches Subjekt möglicherweise durch eine andere Regulationsweise ersetzt. Nach dieser Konzeption sind sowohl institutionelle Kontinuität als auch qualitativer Wandel von Arbeitsbeziehungen möglich. So können Aushandlungsprozesse, Kontrollpraktiken und Tarifsysteme der institutionellen Form nach stabil bleiben; mit der Verschiebung der zugrunde liegenden Kompromissstruktur und den Veränderungen ihrer ,Umwelt‘ wandeln sich jedoch zugleich die Inhalte und gesellschaftlichen Bedeutungen regulativer Institutionen. Ihre Erklärungskraft hat die Regulationstheorie lange Zeit aus der retrospektiven Analyse des fordistischen Kapitalismus bezogen. Aussagen über die Herausbildung einer neuen Formation sind hingegen merkwürdig blass geblieben. Darin institutionalistischen oder neo-korporatistischen Argumentationen ähnlich, galt die deutsche Variante der „ausgehandelten Einbindung“ (Lipietz 1992) zunächst als sozial wie ökonomisch besonders leistungsund damit überlebensfähig. Als einer der ersten entwickelte Michel Aglietta (2000a) eine andere Sicht der Dinge. Ihm zufolge hat sich ein „Wachstumsregime der Vermögensbesitzer“, herausgebildet, das sich in den entwickelten Staaten zu verallgemeinern beginnt. Für das finanzgetriebene Akkumulationsregime sei die Regulation des Lohnverhältnisses nicht mehr zentral. Vom angelsächsischen Kapitalismus übernehme es „die Vorherrschaft der Konkurrenz, die Unternehmenskontrolle durch die institutionellen Anleger, das bestimmende Kriterium des Profits und die Kapitalisierung an der Börse“ (Aglietta 2000b: 66). Trotz aller Fehlentwicklungen und Krisenherde seien jedoch „positive Verkettungen“ der Systembestandteile dieses Akkumulationsregimes prinzipiell möglich. Michel Agliettas Argumentation, die unter dem Eindruck des New-Economy-Booms in den USA entstand, hat innerhalb der polit-ökonomischen Diskussion scharfen Widerspruch ausgelöst (Brenner 2003). Wichtige Autoren aus dem regulationstheoretischen Spektrum (Chesnais 1996, 2004; Orléan 1999; Lordon 2000) halten trotz dieser Einwände an der These eines finanzgetriebenen Akkumulationsregimes fest, identifizieren es jedoch eher mit einer Krisen- als mit einer Prosperitätskonstellation. So steht für Francois Chesnais (1996) außer Zweifel, dass das Anlagekapital seit Mitte der 1980er Jahre eine Position erreicht hat, die es ihm erlaubt, entscheidenden Einfluss auf die Ausrichtung der Investitionen und die Verteilung der Erträge zu nehmen. In einem originellen Rückgriff auf die marxsche Kategorie des fiktiven Kapitals (Marx 1976: 482ff., 524f.) begründet Francois Chesnais (2004) jedoch, dass sich die relative Verselbstständigung dieser Kapitalform keineswegs in parasitären Effekten erschöpfen muss. Akkumulation bestehe nicht nur im Anwachsen von Investitionsmitteln und Produktionskapazitäten; sie lasse sich auch mittels Ausweitung privatkapitalistischer Produktionsverhältnisse auf nicht erschlossene Bereiche oder durch „Mehrwertabschöpfung“ realisieren, die infolge der Macht fokaler Unternehmen über ihre Zulieferer oder mittels Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeit erreicht gehören Firmenorganisation, Formen des Wettbewerbs, Arbeitsbeziehungen und Bildungssysteme (Boyer/Durand 1997: 3, 7ff.; Aglietta 1979: 117; Lipietz: 1985).
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werden könne (2004: 222f.). In dieser Diagnose ist zugleich eine Aussage über die Entwicklung organisierter Arbeitsbeziehungen enthalten. Akkumulationsstrategien, die auf eine „Landnahme“ (Luxemburg 1975; Arendt 2006: 332ff.; Dörre 2009)11 von für die Kapitalverwertung zuvor unerschlossenen „äußeren Märkten“ (Luxemburg 1975: 315) zielen, ziehen auch die Arbeitsbeziehungen und ihre Institutionen in den Sog kompetitiver Restrukturierung (Streeck 1998, Crouch/Streeck 1997) hinein. Dieses Faktum wird paradigmenübergreifend vor allem von Analysen klar herausgearbeitet, die eine politökonomische Fundierung nicht völlig aufgegeben haben. Ungeachtet aller Divergenzen, so lässt sich festhalten, zeichnen sich innerhalb der drei hier skizzierten Paradigmen ähnliche Denkbewegungen ab: Neo-Koporatismus, neuer Institutionalismus und Regulationstheorie sind im Grunde wesensverwandt. Sie alle interpretieren die Nachkriegsentwicklung organisierter Arbeitsbeziehungen in den westlichen Staaten als einen evolutionären Prozess der Institutionalisierung, Ausdifferenzierung und intermediären Regulation kollektiver Arbeitsinteressen. Stellten einschlägige Analysen die korporative Befriedung des Klassenkonflikts zunächst unter einen Prosperitätsvorbehalt, so beförderte die reale gesellschaftliche Entwicklung ab Mitte der 1970er Jahre eine Hinwendung zu organisations- und institutionenzentrierten Forschungen. Relativ unabhängig von der jeweiligen theoretischen Fundierung (Dunlop 1993; Streck 1999; Hyman 1989) hielt der Systemgedanke Einzug in die wissenschaftliche Betrachtung organisierter Arbeitsbeziehungen. Formierung und Durchsetzung kollektiver Arbeitsinteressen oberhalb der Betriebsebene erfolgten in systemischen Konfigurationen, in denen die Gewerkschaften neben betrieblichen Interessenvertretungen, sozialstaatlichen Einrichtungen, Wirtschaftsverbänden, korporativen Gremien etc. nur noch ein Akteur unter vielen anderen waren. Innerhalb der systemischen Analysen blieben konzeptionelle Innovationen rar. Man nutzte Versatzstücke früherer Forschungen, so auch die Konzepte der intermediären Gewerkschaft und des dualen System der Interessenrepräsentation. Obwohl zum Beispiel das regulationstheoretische Paradigma zunächst zentral auf das Lohnverhältnis hin ausgerichtet war, ist der systematische Stellenwert organisierter Arbeitsbeziehungen in entsprechenden Ansätzen bis heute unklar geblieben. Arbeitsbeziehungen sind sowohl für die Regulationsweise als auch für die Produktionsmodelle konstitutiv. In ihrer Beschreibung institutioneller Konfigurationen teilweise weitaus präziser, sind aber auch in institutionalistischen oder korporatistischen Ansätzen mit den Gewerkschaften zugleich (potentielle) Mitgliederinteressen sowie die Konstitutionsbedingungen von Arbeitermacht sukzessive aus dem Blick geraten. Die Evolution organisierter Arbeitsbeziehungen schien vor allem in institutionalistischen und neokorporatistischen Ansätzen ein Extrakt kollektiver Lernprozesse von Partnern in normierten Aushandlungsprozeduren zu sein. Infolgedessen gerieten in der einschlägigen Forschung – gleich welchem der drei Theoreme sie verpflichtet war – gesellschaftliche Auseinandersetzungen, Streiks, soziale Bewegungen, Protest und Widerständigkeit mehr und mehr aus dem Blick. Selbst dramatische Veränderungsprognosen (Streeck 1997) stellten die Logiken intermediärer Konfliktregula11
Das Landnahme-Theorem besagt, dass der Kapitalismus strukturell darauf angewiesen bleibt, äußere Märkte und Produktionsformen zu erobern. Für Landnahmen kann der Kapitalismus „ein bereits bestehendes ‚Außen‘ nutzen“, etwa die Existenz nichtkapitalistischer Gesellschaften. Er kann sich ein bestimmtes Gebiet innerhalb des Kapitalismus, z. B. ein Bildungssystem, das noch nicht kommodifiziert worden ist, einverleiben. Er kann ein solches Außen aber auch „aktiv herstellen“ (Harvey 2005: 140). Dies bedeutet, dass sich der „Sündenfall“ (Arendt 2006: 335) politisch-staatlicher und mitunter gewaltsam angestoßener Akkumulationsdynamik auf erweiterter Stufenleiter beständig wiederholt.
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tion, wie sie in den analytischen Konstrukten aus den 1970er Jahren begründet worden waren, nicht grundsätzlich in Frage. Weil mit keynesianischer Wirtschaftspolitik und einer Beteiligung der Lohnabhängigen am Produktivitätszuwachs wichtige Prämissen intermediärer, korporativer Einbindung entfielen, sollten nun angebotsorientierte Anpassungsstrategien (Kommission 1996) oder ein aus kollektivem Lernen resultierender erweiterter „Bürgerstatus“ (Müller-Jentsch 1994, Marshall 1992) den Modus intermediärer Interessenregulation stabilisieren. An die Stelle der klassischen Ressourcen von Arbeitermacht rückten mehr und mehr Fragen nach der Performanz und der ökonomischen Effizienz von Institutionensystemen. Damit war zugleich eine veränderte Sicht auf Arbeiterbewegungen und Gewerkschaften verbunden. Hatten die klassischen Theorien organisierter Arbeitsinteressen ihre Analyse noch mit gesellschaftlichen Emanzipationsprojekten verbunden, so zeichnete sich die Arbeitsbeziehungsforschung zu Beginn des 21. Jahrhunderts eher durch konservierenden Realismus aus. Handlungsspielräume für kollektive Akteure wurden, wenn überhaupt, so allenfalls innerhalb der Varieties of Capitalism gesucht. Mit ihrem Gegenstand hatte sich zugleich die wissenschaftliche Sicht auf organisierte Arbeitsinteressen gewandelt. Vielen, wenn auch nicht allen wissenschaftlichen Interpreten, galten die Gewerkschaften längst nicht mehr als Protagonisten progressiver Veränderung; „ihren gesellschaftsverändernden Antrieb“ schienen die Arbeitnehmerorganisationen „verloren zu haben“ (Beyer 2003: 18). Auf wichtigen Einflussebenen seien sie nicht länger an einer im Konsens betriebenen Umgestaltung interessiert, sondern verweigerten sich den politischen Maßnahmen zur Veränderung des Bestehenden. Als Begründung für die eingeforderte Anpassung an nicht hintergehbare Zwänge galt solchen Zeitdiagnosen häufig ein als mehr oder minder alternativlos konstruierter Globalisierungsprozess, in dessen Verlauf jedoch zunehmend unklar wurde, ob, inwieweit und zu welchen Bedingungen kooperative Arrangements und institutionelle Arbeitermacht überhaupt noch die Akzeptanz gesellschaftlicher Eliten finden konnten. Im Rückblick erweisen sich somit auch die skizzierten Theorien mittlerer Reichweite trotz gravierender Divergenzen als Versuche, theoretische Konstrukte aus den 1970er Jahren auf veränderte gesellschaftliche Realitäten zu beziehen. Doch je weiter sich die gesellschaftliche Realität von diesen Konstrukten entfernt, desto stärkre reduziert sich die Erklärungskraft von Konzepten, die ihren Ursprung in der Ära des fordistischen Kapitalismus haben.
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Herausforderungen und Perspektiven: Jenseits intermediärer Interessenregulierung?
Damit ist ein neuralgischer Punkt jeglicher Analyse überbetrieblicher Interessenregulation benannt. Nicht nur die organisierten Arbeitsbeziehungen und die Gewerkschaften stehen an einem „Scheideweg“ (Esser 2003: 81); für ihre wissenschaftlichen Deutungen gilt Ähnliches. Mit Blick auf die Arbeits- und Industriesoziologie lässt sich die konservierende Schwerkraft wirkungsmächtiger Paradigmen kaum bestreiten. Insofern ist wahrscheinlich, dass Versuche, aktuelle Entwicklungen durch das Raster intermediärer Interessenregulationen hindurch zu interpretieren, auf absehbare Zeit dominieren werden. Argumente für wissenschaftliche Kontinuität sind reichlich vorhanden, solange organisierte Arbeitsbeziehungen und ihre maßgeblichen Akteure existieren. Selbst radikaler Wandel wird sich dann realitätsnah, aber einigermaßen überraschungsfrei als „Hybridisierung“ (Schmierl 2003),
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Amalgamierung oder schlicht als Kontinuität im Strukturwandel identifizieren lassen (Müller-Jentsch 2007). Der Preis für Analysen, die sich immer schon auf der sicheren Seite bewegen, dürfte indessen zunehmende gesellschaftstheoretische Marginalisierung sein. 4.1
Diskontinuitäten
Riskanter ist es, vermeintlich gesichertes arbeits- und industriesoziologisches Wissen auch theoretisch-konzeptionell in Frage zu stellen. Betrachtet man die Veränderungen nach 1991 in der Summe, ist fraglich, ob das Intermediaritätsparadigma sie noch zu bündeln vermag. So läuft die finanzgetriebene Landnahme darauf hinaus, kompatible Produktions- und Tauschnormen zu nutzen, um die raum-zeitlichen, technologischen und politisch-infrastrukturellen Fixierungen der fordistischen Ära aufzulösen und sie durch eine finanzkapitalistische Fixierung zu ersetzen (Harvey 2005, 2006a, b). In den Außenbeziehungen nationaler Kapitalismen mündet das finanzkapitalistische Regime in eine Konkurrenz unterschiedlich ausgeprägter Regulationstypen, etwa zwischen kapitalmarktorientierten westlichen und stärker produktionszentrierten asiatischen Kapitalismen (Gabriel 2006). Nach innen zielt die neue Landnahme gerade im deutschen Fall auf die Anpassung der gewinnorientierten Exportwirtschaft an das finanzmarktgetriebene Regime (Chesnais 2004; Lordon 2003). Dies geschieht über kapitalmarktorientierte Formen der Unternehmenssteuerung (Höpner 2003, Kädtler 2003),12 die Führung dezentraler Einheiten mittels Gewinnvorgaben und über die Realisierung von Produktionsmodellen, die wegen knapper Zeit-, Personal- und Materialpuffer auf eine flexible Arbeitskraftnutzung angewiesen sind (Boyer/Freyssenet 2002; Caprile/Llorens 2001; Durand 2007; Esterhazy/Nayabi /Hellingrath 2006; Dörre/Brinkmann 2005; Dörre 2002). Darüber hinaus beinhaltet die finanzmarktgetriebene Landnahme aber auch eine Übertragung konkurrenzbasierter Normen und Funktionsprinzipien des von Großunternehmen dominierten privatwirtschaftlichen Bereichs auf Sektoren, die – wie KMU-Wirtschaft, öffentlicher Dienst, Non-Profit-Sektor oder Hauswirtschaft – eigentlich völlig anderen Rationalitätsprinzipien folgen. Wichtige Hebel sind u.a. Privatisierungen, die Anwendung marktzentrierter Managementprinzipien im öffentlichen und Non-ProfitSektor sowie rekommodifizierende Arbeitsmarkt- und Sozialpolitiken (Bescherer/Röbnenack/Schierhorn 2009: 145-156). Noch innerhalb der Hülle formal intakter Institutionen haben sich die Inhalte kollektiver Aushandlungen im System der organisierten Arbeitsbeziehungen seit Mitte der 1990er Jahre grundlegend verändert. Ging es in der Ära des „sozialen Kapitalismus“ (Sennett 2007) noch um den Grad der Abkoppelung lohnabhängiger Existenzen von Marktrisiken, so wird in den Unternehmen seit langem vor allem über das Maß an Beschäftigungs-, Einkommens- und Statusunsicherheit verhandelt, das den Arbeitern und Angestellten zugemutet werden soll (Huber/Burkhard/Wagner 2006). Entsprechende Verhandlungen verfolgen hierzulande nicht das Ziel, die Gewerkschaft zu zerschlagen; die faktische Schwächung institutioneller Lohnabhängigen-Macht ist jedoch nicht zu übersehen. Dafür liefert die Praxis der betrieblichen Wettbewerbspakte Anschauungsunterricht. Unter den Bedingungen einer straffen Profitsteuerung und der Internalisierung von Marktmechanismen in die Un-
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Siehe hierzu den Beitrag von Jürgen Kädtler „Finanzmärkte und Finanzialisierung“ in diesem Band.
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ternehmensorganisation (Sauer 2005)13 gelingt es der Managementseite, die Konkurrenz unter den Arbeitern und Angestellten zu verstetigen. Standortwettbewerbe sind in vielen Großunternehmen zur alltäglichen Erfahrung geworden. Zugleich haben sich in wichtigen Branchen bei immerhin 10% der Unternehmen stark asymmetrische Wettbewerbspakte als Form betrieblicher Regulation durchgesetzt (Haipeter 2009). Im Tausch gegen befristete Beschäftigungsgarantien verlangen solche Pakte den Stammbeschäftigten Zugeständnisse bei Arbeitszeiten, Löhnen und Arbeitsbedingungen ab (Massa-Wirth 2007). Die großen Asymmetrien betrieblicher Wettbewerbspakte bewirken inzwischen Legitimationsverluste nicht nur der Gewerkschaften, sondern zunehmend auch der Betriebsräte. Noch scheint es einigermaßen verwegen, bereits vom Ende der „Dekade des Co-Managements“ zu sprechen und einen neuen Frühling basis- und mitgliedsorientierter Interessenvertretung (Rehder 2006: 242) zu prognostizieren. Unübersehbar ist indessen, dass Wettbewerbspakte die Tendenz zur Prekarisierung der Arbeitsgesellschaft (Castel 2000, 2009a) im Grunde noch verstärken. Im Zuge der neuen Landnahme gewinnen Strategien einer extensiven Arbeitskraftnutzung wieder an Bedeutung. Befristete Absicherungen von Stammbeschäftigten korrespondieren daher häufig mit der verstärkten Nutzung von prekär Beschäftigten als flexiblen ,Personalpuffern‘. Der expansive Einsatz von Leiharbeitern (Promberger u.a. 2006; Holst 2009), ist hier nur die Spitze eines Eisbergs. Denn die Rekommodifizierung trifft vor allem jene Bereiche, in denen Organisationsmacht von Gewerkschaften traditionell schwach ausgeprägt ist. Das gilt für den Niedriglohn- und den Nonprofit-Sektor – mit ihren überdurchschnittlichen Frauenanteilen – und für die von kleineren und mittleren Betrieben geprägten Strukturen14 ebenso wie für die expandierenden Segmente mit kreativer, immaterieller Arbeit, in denen es häufig nicht einmal Mitbestimmungsinstitutionen gibt (zu zaghaften Ansätzen kollektiver Interessenorientierung in diesem Sektor: Boes/Trinks 2006; Martens 2005). Vor allem in der Kulturwirtschaft, im Medienbereich und im Non-Profit-Sektor mit seinen Weiterbildungsträgern, Beschäftigungsund Transfergesellschaften sind die Grenzen zwischen kreativer und prekärer Arbeit fließend geworden (Dörre 2009b: 50-53).15 Mit voller Wucht trifft die Prekarisierung so genannte einfache, niedrig entlohnte Tätigkeiten. Das sind häufig personenbezogene Dienstleistungen im Pflegebereich, der Gastronomie, im Hotelgewerbe oder auch arbeitsintensive Boten- und Helfertätigkeiten (Bosch/Weinkopf 2007). Zwar gelingt es in gewerkschaftlichen Hochburgen wie den ehemaligen Staatsunternehmen Bahn, Post und Telekom noch immer, tariflich garantierte ,Besitzstände‘ für Stammbeschäftigte zu bewahren. Bei den Konkurrenten dieser Unternehmen und vielen ausgegründeten Subeinheiten ist das aber nicht mehr der Fall. Die wachsende Zahl von ‚Arbeitnehmern zweiter Klasse‘ – Niedriglöhnern, befristet Beschäftigten, Leiharbeitern, Mini- und Midijobbern oder „proletaroiden“ Selbstständigen (Bologna 2006: 131ff.) – wirkt auf die institutionelle Verhandlungsmacht der Gewerkschaften wie ein aggressives Virus auf ein geschwächtes Immunsystem. Vor diesem Hintergrund wird ein theoretischer Mangel des Intermediaritätsparadigmas deutlich. Dass ein mehr oder minder erfolgreicher Modus der Konfliktregulation seitens der Eliten in Frage gestellt werden könnte, ist inner13 Siehe hierzu den Beitrag von Dieter Sauer „Vermarktlichung und Vernetzung der Unternehmens- und Betriebsorganisation“ in diesem Band. 14 Siehe hierzu den Beitrag von Gerhard Bosch „Strukturen und Dynamik von Arbeitsmärkten“ in diesem Band. 15 Siehe hierzu den Beitrag von Alexandra Manske und Christiane Schnell „Arbeit und Beschäftigung in der Kultur- und Kreativwirtschaft“ in diesem Band.
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halb des Paradigmas so nicht vorgesehen. Dementsprechend wird eine fast schon überhistorische Kontinuität kooperativer Interessenpolitiken unterstellt. Solche Politiken setzen jedoch zumindest implizit relative Machtgleichgewichte zwischen Kapital und Arbeit voraus, die nur fortbestehen, wenn auch die Mittel vorhanden sind und genügend Machtressourcen reproduziert werden, um der Ausprägung großer Machtasymmetrien wirksam entgegen treten zu können (Aronowitz 2005; Carter 2006: 415-426; Naglo 2003). Gelingt dies nicht, geht die Logik der Einflussnahme früher oder später zu Lasten der gewerkschaftlichen Sozialintegration, d. h. sie beeinträchtigt die Beteiligungsmotivation potentieller Mitglieder und reduziert so die Binde- und Konfliktfähigkeit der Organisation. Hält die Schwäche der Gewerkschaften an, kann das bei den Wirtschafts- und Politikeliten die Neigung fördern, institutionelle Arbeitermacht an die schwindende Organisationsmacht anzupassen. Ein solcher Umschlagpunkt scheint nun in zahlreichen kontinentaleuropäischen Staaten, darunter – zeitverzögert – auch Deutschland, erreicht. So hat die Politik der Lohnzurückhaltung (Flassbeck 2008) und der Wettbewerbspakte den Mitgliederschwund der Gewerkschaften nicht stoppen können. Vielmehr findet die Krise gewerkschaftlicher Repräsentation im Institutionensystem eine Fortsetzung. Wegen der Mitgliederverluste der Gewerkschaften lässt der Organisationsanreiz auf der Kapitalseite nach. Das hat zu einer Schwächung der Industrie- und Wirtschaftsverbände (etwa durch die Gewährung von Mitgliedschaften ohne Tarifbindung) sowie des gesamten Tarifsystems geführt. Die heile Welt des Flächentarifvertrags, der mit seinen verbindlichen und unabdingbaren Tarifstandards die Arbeits- und Einkommensbedingungen regelte, „gehört der Vergangenheit an“ (WSI-Tarifhandbuch 2006: 41-66, 2008; dies relativierend Bispinck/Schulten 2009: 201-209). Infolge des industriellen Strukturwandels sind in klein- und mittelbetrieblich geprägten Bereichen große gewerkschafts- und mitbestimmungsfreie Zonen entstanden. Wo die Mitbestimmung existiert, gewinnen gewerkschaftsdistanzierte oder betriebssyndikalistische Formen der Interessenrepräsentation an Bedeutung. Im Osten Deutschlands ist ein teils rapider, teils schleichender „Entgewerkschaftungsprozess“ (Candeias/Röttger 2008) im Gange. Der Trend zur Schaffung großer Multibranchengewerkschaften wird durch den gegenläufigen Aufschwung kleiner Berufsvereinigungen (Sadowski 2008; Hoffmann/Schmidt 2008: 323-342) konterkariert. All das wiegt umso schwerer, als die strukturelle Schwäche organisierter Lohnarbeitsinteressen auf europäischer, inter- und transnationaler Ebene mit einer neuen Machtkonzentration an der Spitze grenzüberschreitend operierender Unternehmen einhergeht (Dicken 2007). Auch aufgrund des unbestreitbaren „Mobilitätsdifferentials“ (Hübner 1998) und der damit verbundenen Machtverschiebung zwischen organisierter Lohnarbeit und Kapital können die Gewerkschaften nicht länger damit rechnen, dass ihnen ihr über eine lange Periode gewährter quasi-institutioneller Charakter künftig Verhandlungsmacht trotz rückläufiger Organisations- und Mobilisierungsfähigkeit beschert. 4.2
Innovationen
Man mag einwenden, dass diese Sicht allzu hermetisch ausfällt. Immerhin gibt es auch neue, teilweise innovative Tarifverträge (Schulten/Pawicki 2008); eine radikale Infragestellung der Tarifautonomie hat in Deutschland hingegen bislang nicht stattgefunden. Es zeichnen sich erste Ansätze zur Herausbildung transnationaler Verhandlungssysteme (Erne
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2008) sowie internationaler Interessenpolitiken (Bieler/Lindberg/Pillay 2008: 264-282; Müller/Platzer/Rüb 2004) ab. Der Negativtrend in der Mitgliederentwicklung scheint auch bei einigen deutschen Gewerkschaften zumindest kurzzeitig gestoppt (Dörre/Holst/Nachtwey 2009); europaweit zeichnen sich ohnehin seit längerem differierende Entwicklungen ab, zu denen auch Mitgliederzuwächse in einigen Staaten gehören (Brinkmann u.a. 2008: 20-22). Angesichts der globalen Finanzkrise mag zudem die Rolle einer gewerkschaftlichen Ordnungsmacht bei zuvor skeptischen Eliten wieder stärker gefragt sein. Selbst an der Spitze der westlichen Hegemonialmacht USA ist eine spürbar veränderte Haltung zur Arbeitnehmerbewegung festzustellen (Economist 2009). Doch auch, wenn man all das in Rechnung stellt, bleiben Zweifel, ob sich die neue soziale Realität noch ins Raster intermediärer Interessenregulation zwingen lässt. Ein Typus kapitalistischer Landnahme, der die Institutionen organisierter Arbeitsbeziehungen aushöhlt und entleert, war im Intermediaritätsparadigma theoretisch-konzeptionell nicht vorgesehen. Eine wissenschaftliche Reflexion der Veränderungen muss mit dem Eingeständnis beginnen, dass institutionelle Macht (nicht nur) den deutschen Gewerkschaften gegenwärtig noch eine Stärke verleiht, die sie als Mitgliedsorganisationen gar nicht mehr besitzen. Auch aus diesem Grund stellt sich die Frage nach potentiellen Quellen von struktureller und Organisationsmacht der Lohnabhängigen oder aber nach funktionalen Äquivalenten neu. Weitet man die Untersuchungsperspektive über den engen institutionellen Rahmen nationaler Arbeitsbeziehungssysteme hinweg aus, stößt man auf Phänomene, die den Horizont konventioneller Analysen überschreiten. So kann trotz ökonomischer Globalisierung und Standortkonkurrenzen nicht von einem unaufhaltsamen Niedergang jeglicher Arbeitermacht gesprochen werden. Produktionsverlagerungen und Restrukturierung der Wertschöpfungsketten setzen keinen unaufhaltsamen Wettlauf nach unten in Gang (Silver 2005: 211ff.). Vielmehr erzeugen geografische Verlagerungen raum-zeitliche Fixierungen und mit ihnen neue Arbeiterklassen und Arbeiterbewegungen an den jeweils bevorzugten Produktionsstandorten. Jede neue räumliche Fixierung sorgt für eine Diffusion von Produktionsmacht, die sich – wie etwa in China – zunächst in Labour Unrest äußert. In Ländern wie Brasilien (Antunes 2001), Südkorea (Ho 2002; Kim/Kim 2003) und Südafrika (von Holdt 2002; Donelly/Dunn 2006) ist strukturelle Arbeitermacht aber auch in Organisationsmacht von Gewerkschaften und Arbeiterbewegungen überführt worden, die für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne kämpfen und sich z.T. an die Spitze nationaler Demokratiebewegungen setzen (Brinkmann u.a. 2008: 45-69). Unter dem Label „Labor Revitalization Studies“ (Frege/Kelly 2004; Turner/Cornfield 2007; Tait 2005; Bieler/Lindberg/Pillay 2008; Hälker/Vellay 2006) hat sich inzwischen eine neue Forschungsrichtung herausgebildet, die, ohne weiteren Niedergang auszuschließen, nach den Möglichkeiten einer ,strategischen Wahl‘ von Gewerkschaften fragt. In einem stilbildenden Aufsatz, der bezeichnenderweise mit „Breaking the Iron Law of Oligarchy“ überschrieben ist (Voss/Sherman 2000: 303-349), haben die Autorinnen den Erneuerungsprozess einiger US-Gewerkschaften facettenreich beschrieben. Vieles, was an Erkenntnissen präsentiert wird, lässt sich als implizite Kritik am Intermediaritätsparadigma verstehen. So präsentieren Kim Voss und Rachel Sherman drei Beobachtungen, von denen sich zwei auf innerorganisatorische Phänomene beziehen. Zum einen schafft das verbreitete Bewusstsein über eine tiefe politische Krise der Organisation an der Basis Voraussetzungen für einen Führungswechsel. Das neue Personal, das sich lokal durchsetzt, verbindet die eigene Positionierung mit der Motivation für einen politischen Strategiewechsel. Zum an-
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deren erfasst der Wandel die gesamte nationale Organisation und ist teilweise mit heftigen Konflikten an der Spitze verbunden. Von zentraler Bedeutung ist indessen eine dritte Beobachtung. Ein Teil der neuen Führungskräfte kommt von außen und verfügt über Erfahrungen mit sozialen Bewegungen, Graswurzelinitiativen und Stadtteilarbeit. Diesen bewegungssozialisierten Gewerkschaftern fällt es offenbar leichter, einen umfassenden Strategiewechsel in Gang zu setzen. Sie verfügen in der Regel über komplexere Gerechtigkeitsvorstellungen als Gewerkschafter „mit Stallgeruch“. Mit eingefahrenen Gewerkschaftstraditionen und Handlungsroutinen sind sie nicht belastet. Dafür sind die neuen Aktivisten mit Mobilisierungstechniken in der Zivilgesellschaft bestens vertraut. Ihre Kontakte versetzen sie in die Lage, Bündnisbeziehungen zu NGOs und Initiativen außerhalb der Arbeitswelt als Machtressourcen auch für die Gewerkschaft zu nutzen (2000: 327-331). Mittlerweile gibt es eine Vielzahl an Studien und Publikationen, die sich der Revitalisierung von Gewerkschaften und Arbeiterbewegungen unter verschiedensten Gesichtspunkten (Mitgliederpartizipation, Bündnispolitik, Kampagnen, Kollektivvereinbarungen, politischer Tausch) nähern. Ein wichtiger analytischer Zugang ist Social Movement Unionism. Ursprünglich war diese Kategorie der Bewegungsgewerkschaft auf neue Arbeiterbewegungen und erstarkende Gewerkschaften in einigen Ländern des Südens gemünzt. Diese schwach institutionalisierten Gewerkschaften setzen nicht nur auf Massenmobilisierung, sie verfügen über eine entwickelte Beteiligungskultur in ihrer Mitgliedschaft, organisieren ihre Kämpfe über die Fabrikgrenzen hinaus, gehen Bündnisse mit sozialen Bewegungen außerhalb der Arbeitssphäre ein und bemühen sich vor allem um einen Brückenschlag zwischen organisierten Beschäftigten und jenen Gruppen, die zu eigenständiger Mobilisierung „aus sich heraus nicht in der Lage sind: die Verarmten, Arbeitslosen oder Prekären“ (Moody 1997: 276; Tait 2005). Autoren wie Kim Moody (1997) und Peter Waterman (2008: 248263) werten dies als Herausbildung eines völlig neuen Gewerkschaftstyps, der sich vornehmlich außerhalb korporativer Einbindungen formiert. Andere Interpreten sprechen dagegen von einer Neuauflage des alten „political unionism“ (Neary 2002). Jenseits dieser Kontroverse thematisieren Forscher, die eine starke Verknüpfung von Organizing-Ansätzen und Bewegungsgewerkschaft konstatieren (Nissen 2003: 143ff.), einen wichtigen Punkt. Offenkundig fällt es Gewerkschaften, die vornehmlich als bessere Problemlöser mit dem Management konkurrieren, schwer, organisationspolitisch erfolgreich zu sein, weil der Gewerkschaftsanteil an den Problemlösungen für die Beschäftigten kaum nachzuvollziehen ist und von solchen Ansätzen daher kein Beteiligungs- und Organisierungsimpuls ausgeht (Cregan 2005). Insofern passen Interessenpolitiken, die Gerechtigkeitsfragen gegenüber dem Nachweis wirtschaftlicher Effizienz priorisieren (Aronowitz 2005), in vielen Fällen offenbar besser zum Anspruch offensiver Organizing- und Erneuerungsansätze (Fantasia/Voss 2004: 127-130) als wertschöpfungsorientierte Strategien. Allerdings sind die Forschungsergebnisse hier nicht eindeutig (Hurd/Milkman/Turner 2003): Bewegungspolitiken lassen sich nicht beliebig auf Dauer stellen. Auch die südlichen Bewegungs- und die nordamerikanischen Organizing-Gewerkschaften sind um eine Institutionalisierung ihrer Verhandlungsmacht bemüht. Ferner ist fraglich, inwieweit sich Erfahrungen aus voluntaristischen, gering institutionalisierten Arbeitsbeziehungs-Systemen auf Kontinentaleuropa übertragen lassen (Frege 2000). Fakt ist jedoch, dass die Adaption von Erneuerungspraktiken durch europäische und deutsche Gewerkschaften längst im Gange ist (Rehder 2008; Bremme/Fürniß/Meinecke 2007; Dribbusch 2007: 24-52; Dörre/Holst/
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Nachtwey 2009). Eine wissenschaftliche Reflexion dieser Phänomene ist in Deutschland bislang jedoch randständig geblieben. 4.3
Forschungen jenseits gesicherter Erkenntnisse
Zur Kluft zwischen mittlerweile renommierten, international ausgerichteten LaborRevitalization-Studies und einer in Deutschland eher selbstgenügsamen Arbeitsbeziehungsforschung dürfte die fraglose Akzeptanz des Intermediaritätsparadigmas in erheblichem Maße beigetragen haben. Soll dies korrigiert werden, sind theoretisch-konzeptionelle Innovationen unabdingbar. Offensichtlich ist, dass die soziale Frage ins Zentrum entwickelter Gesellschaften und damit in den Mittelpunkt sozialwissenschaftlicher Zeitdiagnosen zurückgekehrt ist (Aulenbacher 2009). Fakt ist aber auch, dass sich diese Entwicklung in den zeitgenössischen Analysen organisierter Arbeitsbeziehungen konzeptionell kaum niedergeschlagen hat. So bewirkt die Flexibilisierung und Prekarisierung von Arbeit keineswegs automatisch „Desaggregation“, wie Manuell Castells (2001) vermutet. Allerdings erzeugt sie eine Konfliktdynamik, die sich im Grunde am Besitz von knappem „sozialen Eigentum“ (Castel 2005: 41, 2009b) entzündet. Hatte Jürgen Habermas (1987: 276f., 293) seine Zeitdiagnose einer „Kolonialisierung der Lebenswelten“ an die wohlfahrtsstaatliche Pazifizierung des Klassenkonflikts gebunden, so zehrt die finanzkapitalistische Landnahme nun an eben dieser Regulierungskapazität. Das Resultat ist freilich weder ein Disorganized Capitalism noch die Wiederkehr des industriellen Klassenkonflikts in seiner bekannten historischen Gestalt. Zwar spricht einiges dafür, dass die finanzgetriebene Landnahme auch „als ein Projekt angelegt war, das die alte Klassenmacht“ herrschender Gruppen wiederherstellen sollte (Harvey 2007: 26). Trotz des unbestreitbaren Erfolgs dieses Projekts wirkt die soziale Macht der „Finanzaristokratie“ (Marx 1976: 454) und der „aktiven Rentiers“ (Chesnais 2004: 224) auf Seiten der Beherrschten keineswegs als Katalysator konventioneller Arbeitermacht. Der soziale Konflikt splittert auf. Zum Niedergang organisierter Arbeitsbeziehungen in manchen Sektoren und Ländern gesellen sich neue Arbeiterbewegungen in anderen Staaten und Regionen. Die Revitalisierung zuvor bürokratisierter, im Niedergang begriffener Gewerkschaften ist ebenso möglich, wie die neuerliche Ausprägung von Bewegungsmomenten, ohne die Gewerkschaften wahrscheinlich niemals wirklich handlungsfähig waren. Kollektive Arbeitsinteressen artikulieren sich jedoch häufig nicht mehr innerhalb normierter Konflikte. In abgehängten Quartieren und Regionen findet längst ein „bargaining by riots“ statt, das – trotz der unbestreitbaren Relevanz ethnischer oder geschlechtsspezifischer Konstruktionen – als Ausdruck von „Brotkonflikten“, von spontanem, mitunter aber auch von organisiertem Klassenhandeln jenseits der gewerkschaftlichen und politischen Arbeiterbewegung analysiert werden kann (Wacquant 2009: 85-112). Ihre gesellschaftstheoretische Relevanz werden Analysen von Arbeitsinteressen nur erhöhen können, wenn sie sich auch mit solchen Phänomenen jenseits normierter Konflikte und kollektiver Aushandlungen beschäftigen. Eine adäquate Theoretisierung der – empirisch teilweise gut erfassten – Veränderungen der Arbeitsbeziehungen seit 1991 steht bislang noch aus. Um Derartiges leisten zu können, ist es sinnvoll, organisations- und institutionenzentrierte Analysen organisierter Arbeitsbeziehungen wieder stärker auf ihre sozioökonomischen Kontexte rückzubeziehen (dazu instruktiv Streeck 2009: 230-272). Sicher-
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lich war es wichtig und richtig, die Spezifik von Organisation und Institution herauszuarbeiten. Doch mit deren sozioökonomischen Konstitutionsbedingungen sind zugleich Machtsressourcen und -asymmetrien, nicht-normierte Konflikte und soziale Bewegungen aus dem Blick geraten. Das gilt es zu korrigieren. Dementsprechend kann Arbeitsbeziehungsforschung nicht mehr ausschließlich als Analyse intermediärer Organisationen und Interessenregulierung betrieben werden. Sie hat zu verarbeiten, dass Klassenkonflikte heute in eine Vielzahl klassenunspezifischer Alltagswelten eingebettet sind, welche eine Verbindung von Arbeiter-Organisationsmacht mit anderen Machtquellen und -ressourcen möglich machen (Tait 2005: 4ff.). Ein solcher Formwandel von Arbeitermacht lässt sich indessen nur thematisieren, wenn die Forschung neue Akteure (Konsumentengruppen, Migrantenund Frauenorganisationen, Umweltverbände, NGOs) und Felder (Organisierung von ,Nicht-Organisierbaren‘) einbezieht, eine international ausgerichtete Analyseperspektive einnimmt, Arbeiterbewegungen und Labour Unrest in den Ländern des Südens untersucht und sich zugleich für andere Disziplinen und Fachrichtungen (z. B. den International Political Economy Approach – dazu ein Überblick in Bieling 2007) öffnet. Ein solches Erneuerungsprojekt anzugehen, würde bedeuten, dass die wissenschaftliche Thematisierung kollektiver Arbeitsinteressen in gewisser Weise zu ihren Wurzeln zurückkehren muss. Angesichts eines radikal gewandelten Kapitalismus und einer Krise, die zumindest in ihren Ausmaßen an die große Depression von 1929/33 erinnert (Galbraith 2008), harrt die Frage nach den Quellen von Arbeitermacht einer neuen Bearbeitung. Bei der Suche nach Antworten kann auf gesicherte Erkenntnisse der Disziplin nicht verzichtet werden. Ohne den Mut zu konzeptionellen Innovationen jenseits des Intermediaritätsparadigmas dürfte analytischer Fortschritt indessen nur schwer möglich sein. Zur Vertiefung Brinkmann, Ulrich/Choi, Hae-Lin/Detje, Richard/Dörre, Klaus/Holst, Hajo/Karakayali, Serhat/ Schmalstieg, Catharina (2008). Strategic Unionism. Aus der Krise zur Erneuerung? Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften. Crouch, Colin/Streeck, Wolfgang (eds.) (1997). Political economy and modern capitalism. Mapping convergence and diversity. London: Sage. Müller-Jentsch, Walther (1997). Soziologie der industriellen Beziehungen. Frankfurt a.M., New York: Campus (2. Auflage, zuerst 1986). Schröder, Wolfgang/Wessels, Bernhard (Hrsg.) (2003). Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften. Silver, Beverly J. (2005). Forces of Labor. Arbeiterbewegung und Globalisierung seit 1870. Berlin, Hamburg: Assoziation A. Streeck, Wolfgang (1999). Korporatismus in Deutschland. Zwischen Nationalstaat und Europäischer Union. Frankfurt a.M., New York: Campus.
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Gegenstand und Problemstellung: Die politische Gestalt der Erwerbsarbeit
Die Erwerbsarbeit ist sozialpolitisch voraussetzungsvoll. Ihre Gestalt, ihre Entwicklung und ihr Status sind zu einem guten Teil das Ergebnis der formierenden Kraft wohlfahrtsstaatlicher Eingriffe und arbeitsrechtlicher wie arbeitsmarktpolitischer Regulation. Zustand und Form der Erwerbsarbeit sind eng mit der staatlichen Ordnung des Wirtschaftlebens, der politischen Gestaltung der Arbeitsmärkte und der rechtlichen Normierung der Beschäftigungsverhältnisse verknüpft. Staat, Recht und Politik konstituieren die moderne Arbeitswelt. Das geschieht durch Initiativen der Bildungs- und Forschungspolitik, aber auch durch die Justierungen der Sozialversicherung oder des individuellen Arbeitsrechts. Darüber hinaus sind staatliche Einrichtungen und sozialpolitische Institutionen relevante und in tarifwie personalpolitischer Hinsicht stilprägende Tätigkeitsfelder. Wohlfahrtsstaatliche Sozialpolitik ist daher nicht nur Ausdruck des Leistungsstaates, der sichert und verteilt, sondern sie repräsentiert sich im „arbeitenden Staat“ (von Stein 1956), der als Arbeitgeber einen Beschäftigungsfaktor ersten Ranges darstellt. Sozialpolitik ist Gesellschaftsgestaltung. Daher gehen Vorschläge zur Sozialpolitik immer mit spezifischen Bildern und normativen Vorgaben sozialer Entwicklung einher. Vorstellungen einer guten, gerechten und den Menschen angemessenen Sozialordnung durchziehen die Geschichte der modernen Sozialpolitik – von Lorenz von Stein über die Enqueteberichte des Vereins für Sozialpolitik und die Sozialenzykliken von Papst Leo XIII. (Rerum novarum) bis zu – allerdings in deutlich kleinerer Münze – New Labour oder Agenda 2010. In diesen Ordnungsbildern des Sozialen geht es gleichermaßen um Fragen beruflicher und sozialer Integration, um Aspekte der ,richtigen‘ Lebensführung wie um die Justierung von Lebenschancen und Privilegien für spezifische Gruppen und Klassen der Gesellschaft. Das gilt etwa mit Blick auf den Ausbau des Schul- und Gesundheitswesens, aber zum Beispiel auch für die Entwicklung der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit. Wenn Recht und Politik des Sozial- und Wohlfahrtsstaates ins Blickfeld der Arbeitsund Industriesoziologie kommen, dann allerdings meist in einem ganz und gar funktionalen Sinn. Sozialpolitik wird in diesem Zusammenhang entweder als Reaktion auf die negativen Folgen der Lohnarbeit bzw. der kapitalistischen Verwertung der Arbeitskraft vorgestellt. Sie kommt dann ins Spiel, wenn die Erwerbsarbeit verloren geht, wenn Armut droht, wenn gesundheitliche Schädigungen durch Erwerbstätigkeit eintreten oder wenn es um die Existenzsicherung in der Zeit nach dem Arbeitsleben geht. Oder die Sozialpolitik wird als Abwehr politischer Legitimationskrisen gedeutet. Sie dient dann im Wesentlichen der Beruhigung und Dämpfung sozialer Konflikte und Ungleichheiten, die ihren Ausgangspunkt in der Arbeitswelt haben.
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Eine grundlegende Kritik der funktionalen Verengung der Sozialpolitik auf Defizitausgleich und Schadensbegrenzung formulierten in den späten 1970er Jahren Gero Lenhardt und Claus Offe in ihrem Beitrag „Staatstheorie und Sozialpolitik“ (Lenhardt/Offe 1977). Sie betonen, dass wohlfahrtsstaatliche Politik keineswegs alleine Reaktion auf vorhandene Probleme ist, sondern immer auch Aktion zur Gestaltung der Gesellschaft, vor allem zur Gestaltung der Bedingungen, Formen und Ausprägungen der Lohnarbeit in einer erwerbsarbeitszentrierten Arbeitnehmergesellschaft. In historischer Perspektive erscheint Sozialpolitik zwar in der Regel als eine nachträgliche ‚Korrektur‘ bzw. als Reaktion auf Probleme der Lohnarbeit. Doch Sozialpolitik kompensiert bei weitem nicht nur die Folgen der Lohnarbeit, sondern ist aktives Moment der gesellschaftlichen Durchsetzung, Verbreitung und Aufrechterhaltung von Lohnarbeit (vgl. Lehnhardt/Offe 1977). Hier klingt der Grundton an, der uns im Folgenden begleiten wird. Betrachten wir zunächst die historischen und konzeptionellen Forschungszugriffe auf das spannungsreiche Feld von Erwerbsarbeit und (staatlicher) Sozialpolitik. In einem ersten Schritt wird gezeigt, dass – obwohl kein zentrales Thema – dennoch in der arbeits- und industriesoziologischen Forschung unterschiedliche Ansätze zum Einfluss staatlicher Regulierung entwickelt wurden (Abschnitt 2). Daran anschließend folgt ein Blick auf den Wandel wohlfahrtsstaatlicher Rahmenbedingungen der Erwerbsarbeit (Abschnitt 3). Der Beitrag schließt mit neuen Fragen in Bezug auf Prekarität und Wandel der Arbeitswelt insgesamt ab (Abschnitt 4).
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Entwicklungslinien und Wissensbestände: Arbeitssoziologische Forschung und staatliche Regulierung der Arbeitswelt
Welche unterschiedlichen Perspektiven finden wir in der arbeits- und industriesoziologischen Literatur auf das Verhältnis von Erwerbsarbeit und Sozialpolitik? Erstens ist zu erkennen, dass in der empirischen Arbeits- und Industriesoziologie die wohlfahrtsstaatliche Sozialpolitik als systematischer Ausgangspunkt und als Zentrum der Analyse der Erwerbsarbeit Randthematik bleibt. Die Gründe liegen in den gesellschaftspolitischen Anforderungen und in der spezifischen Ausgangslage der Industriesoziologie der 1950er Jahre. Der Hinweis von Fritz Böhle aus den 1970er Jahren, dass die „Einwirkungen staatlicher Sozialpolitik auf Entwicklungen im Arbeitsbereich“ in der soziologischen Analytik der Arbeitswelt weitgehend ausgespart bleiben, und umgekehrt „staats-, verwaltungsund rechtssoziologische (...) Untersuchungen“ den systematischen Bezug auf die Arbeitswelt notorisch unterlassen (Böhle 1977: 290), gilt cum grano salis noch heute. Zwar findet sich insbesondere in den Analysen „kritischer Industriesoziologie“ (vgl. Schumann 2003) der Hinweis auf die politische Form der Erwerbsarbeit. Im Gesamteindruck ist jedoch die Staatsferne der Soziologie der Arbeit kaum zu übersehen. Das Politikverständnis der Arbeits- und Industriesoziologie ist betriebs- und akteurszentriert. Zweitens hat sich unabhängig von der empirischen Forschung eine konzeptionelle und theoretische Debatte entwickelt, die den Wohlfahrtsstaat aus politökonomischer Perspektive von der Erwerbsarbeit her problematisiert. Diese Bemühungen weisen nur vereinzelt Berührungspunkte mit der empirischen Arbeits- und Industriesoziologie auf. Zur spezifischen Orientierung der Arbeits- und Industriesoziologie tragen drittens schließlich gesellschaftspolitische Vorhaben und politisch-staatliche Akteure bei. Sie wir-
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ken seit den 1970er Jahren in starkem Maße auf deren Fragestellungen ein. Die erfolgreiche Etablierung und Institutionalisierung der Arbeits- und Industriesoziologie verdankt sich nicht zuletzt dieser Expansion staatlicher Forschungsstrukturen und politischer Planungsbedürfnisse. Viertens war der Wohlfahrtsstaat zwar nur in Ausnahmefällen der Ausgangspunkt und das analytische Zentrum der Arbeits- und Industriesoziologie. Dennoch entstand in den vergangenen Jahrzehnten eine vielfältige arbeits- und industriesoziologische Wirkungsforschung, die Zusammenhänge zwischen sozialpolitischen Interventionen und Gestaltungen der Arbeitswelt knüpfte. Das gilt für Fragen der betrieblichen Gesundheitsvorsorge, der Alterssicherung, des Arbeitsschutzes oder auch der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik. 2.1
Arbeitssoziologisches Denken vom Betrieb her
Die arbeits- und industriesoziologische Forschung besaß seit den 1950er Jahren eine Leitfunktion für die Entwicklung der westdeutschen Soziologie. Diese Blütezeit ging von Stil prägenden Forschergruppen aus (vgl. Kern 1982). Es gab die Gruppe um Heinrich Popitz und Hans Paul Bahrdt, die in ihren wegweisenden Studien über „Technik und Industriearbeit“ (vgl. Popitz u.a. 1957a) und „Das Gesellschaftsbild des Arbeiters“ (vgl. Popitz u.a. 1957b) nach dem Wandel des Klassenbewusstseins und dem Einfluss der technischen Entwicklung auf die Erfahrung der industriellen Arbeitswelt fragten. Zur gleichen Zeit arbeiteten Burkart Lutz und Theo Pirker unter der Überschrift „Arbeiter, Management, Mitbestimmung“ (vgl. Lutz/Pirker 1955) zu Prozessen betrieblicher Demokratisierung. Und schließlich sind in diesem Kontext industriesoziologischer Pionierleistungen die „Betriebsklima-Untersuchungen“ von Ludwig von Friedeburg (vgl. Friedeburg 1963) zu nennen. Trotz Differenzen im Detail war sich diese industriesoziologische Gründergeneration darin einig, die Soziologie der Erwerbsarbeit mit zeitdiagnostischem Anspruch zu praktizieren. Das Ziel war, die Ergebnisse theoretisch zu verallgemeinern (Kapitalismusanalyse), aber zugleich im betrieblichen Detail in hohem Maße präzise zu sein. Der gemeinsame Maßstab empirischer Präzision war der Betrieb.1 Die Orte der Arbeitsleistung sowie der Arbeitsbelastungen und -konflikte wurden zum Nukleus der Forschungsbemühungen und der theoretischen Anstrengungen. Fragen nach Demokratie, politischer Stabilität und gesellschaftlicher Integrationsfähigkeit wurden in der arbeits- und industriesoziologischen Forschung vom Betrieb her gedacht und formuliert. Das Denken der Gesellschaft fand im industriellen (Groß-) Betrieb seinen Ausgangspunkt. Die Industriearbeiterschaft rückte auf diese Weise als zentraler Akteur gesellschaftlicher Entwicklung in den Blickpunkt neuer, moderner Sozialforschung. Die Arbeiter waren die zentrale Trägergruppe der demokratischen Industriegesellschaft. In einem Rückblick auf diese Gründerzeit der deutschen Nachkriegssoziologie benennt Burkart Lutz die Gründe für die Betriebsorientierung und die (Industrie-) Arbeiterfokussierung der empirischen Sozialforschung: „Zum einen war die Bundesrepublik (…) auf Gedeih und Verderb abhängig von der Fähigkeit ihrer Wirtschaft, sich mit hochwertigen Industrieprodukten auf dem Weltmarkt zu behaupten. Leistungsfähigkeit und Innovationspotential der deutschen Industrie waren deshalb von herausragender Bedeutung. Nur von einem raschen und nachhaltigen industriellen Wachstum waren die baldige Hei1 Siehe hierzu den Beitrag von Maria Funder „Betriebliche Organisation und Organisationsgesellschaft“ in diesem Band.
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lung der kriegsbedingten Wunden und die von allen erstrebte Mehrung des individuellen wie kollektiven Wohlstands zu erhoffen. Dies war jedoch kaum denkbar ohne eine aktive Beteiligung der qualifizierteren Teile der Arbeiterschaft. Zum anderen wurde sehr schnell sichtbar, dass die Eingliederung der Flüchtlinge und Heimatvertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft nur dann gelingen konnte, wenn ein großer Teil von ihnen, ganz unabhängig von ihrer beruflichen Tätigkeit vor 1945, in der Industrie dauerhaft Arbeit fand“ (Lutz 2005: 289). Der qualitative Kern der sozialen Entwicklung der noch jungen Bundesrepublik Deutschland lag daher – zumindest aus dieser Perspektive – in der Zukunft der betrieblich organisierten Erwerbsarbeit. Die formative und normative Kraft des Wohlfahrtsstaates als soziales und rechtliches Ordnungsmodell einer erwerbsarbeitszentrierten Gesellschaft kam in diesen Überlegungen kaum in den Blick; bestenfalls als Rahmenbedingung, die in den empirischen Studien punktuell ausgeleuchtet wurde, oder als Randproblematik, wenn die subjektive Seite der Arbeitskraft unter sozial- oder gesundheitspolitischen Aspekten diskutiert wurde. 2.2
Staatliche Regulierungen als Rahmenbedingungen
Ein gutes Beispiel für die punktuelle Ausleuchtung des Einflusses staatlicher Regulierungen auf Erwerbsarbeit ist der Band „Arbeitssituation, Lebenslage und Konfliktpotential“ aus der Studienreihe des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (vgl. Osterland 1975). In programmatischen Beiträgen werden in dieser Publikation verschiedene Formierungen wohlfahrtsstaatlicher Politik diskutiert. Das (Sozial-) Staatsbewusstsein der Arbeiter (vgl. Baethge/Schumann 1975) kommt zur Sprache, die Regulation der Arbeitskonflikte durch Arbeitsrecht (vgl. Rosenbaum 1975) oder die Historie des Arbeitsschutzes (vgl. Nahnsen 1975). In diesen Beiträgen werden auf interessante Weise die Defizite empirischer Sozialforschung zu staatlicher Politik und rechtlicher Regulierung mit Blick auf die Arbeitswelt angesprochen. Ein weiteres Beispiel für die instruktiven Konzeptionen und Forschungen zum Verhältnis von Sozialpolitik und Erwerbsarbeit sind die im Umfeld des Münchener Instituts für sozialwissenschaftliche Forschung entwickelten und durchgeführten Forschungen. Exemplarisch kann hier der Programmtext „Produktionsprozeß, Risiken und Sozialpolitik. Anregungen für ein Forschungskonzept“ (Böhle 1982) genannt werden. Im Rahmen des Münchener Sonderforschungsbereichs „Theoretische Grundlagen sozialwissenschaftlicher Berufs- und Arbeitskräfteforschung“ wurden beispielsweise das Arbeitsrecht und die Sozialpolitik als wichtige Gestaltungsfaktoren der betrieblichen Nutzung von Arbeitskraft bearbeitet (vgl. Deiß u.a. 1988 sowie Böhle/Sauer 1975). Aus diesem Kontext heraus kamen zudem Forderungen, eine stärker prozessorientierte und präventive Sozialpolitik zu entwickeln. Die staatliche Sozialpolitik blieb in dieser Forschungslinie immer ein wichtiges Thema. Der Fixpunkt des sozialpolitischen Denkens war freilich auch in diesen Forschungsansätzen die im kapitalistischen Betriebszusammenhang eingebundene und ,vernutzte‘ Arbeitskraft, die konsequent als sozialpolitikbedürftig gedacht wurde.2 Staatliche Sozialpolitik, ob als Gesundheits-, Arbeitsmarkt- oder auch Bildungspolitik war immer mit historisch variablen betrieblichen Verwertungsstrategien der Arbeitskraft konfrontiert. Doch die wohlfahrtspolitische Konstitution der Erwerbsarbeit, die öffentliche Daseinsvorsorge als zentrale Strukturvoraussetzung des wirtschaftlichen und betrieblichen Geschehens 2
Siehe hierzu den Beitrag von Fritz Böhle „Arbeit und Belastung“ in diesem Band.
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sowie die arbeits- und sozialrechtliche Formierung des Arbeitnehmers als spezifische Sozialfigur bzw. als bestimmtes Modell der Lebensführung und Konsumneigung blieben auch in diesen Forschungszusammenhängen arbeitssoziologische Randthemen. Die Bestimmung des Verhältnisses von Wohlfahrtsstaat, Sozialpolitik und Erwerbsarbeit folgte der Dominanz der ökonomischen Analyse. Die Logik der Kapitalverwertung sticht das Nachdenken über die Eigenständigkeit und Wirkkraft staatlichen Handelns aus. In der arbeits- und industriesoziologischen Debatte über die Globalisierung setzt sich diese ökonomische Grundausrichtung der Analyse der Erwerbsarbeit übrigens nahtlos fort (vgl. hierzu Cohen 1998). Als ein erstes Zwischenresümee können wir an dieser Stelle festhalten, dass der Gründungsakt der bundesdeutschen Arbeits- und Industriesoziologie in einer relativen, aber dennoch deutlichen Distanz von staats- oder politikwissenschaftlichen Debatten und in der ausdrücklichen Hinwendung zur konkreten Arbeitswirklichkeit im Betrieb stattfand. Die Faustregel der vergangenen Jahrzehnte lautete: ‚shop floor‘ statt ‚welfare state‘. Der Sprung zu einer empirischen Systematisierung des Verhältnisses von Sozialpolitik und Arbeit blieb über weite Strecken aus. Interessanterweise gilt diese Feststellung auch für den Zeitraum ab den 1990er Jahren, obgleich es in dieser Periode historisch einigen Anlass dazu gegeben hätte. Denn in den Jahren der wirtschaftlichen und arbeitsgesellschaftlichen Umgestaltung Ostdeutschlands wurde ein regelrechtes Hochamt staatlicher Steuerung der Arbeitswelt und ihrer betrieblichen Organisation gefeiert. Die Gestaltung der Beschäftigungsverhältnisse, die politische Konstitution eines Arbeitsmarktes und der Aufbau erwerbsorientierter Institutionen in den neuen Bundesländern waren ein Regulationsprojekt ohne gleichen (vgl. Vogel 1999). Doch die betriebsbezogene Orientierung der Empirie hat sich seither eher noch verstärkt. Die Arbeits- und Industriesoziologie entwickelt sich spätestens seit Mitte der 1990er Jahre mehr und mehr zu einer spezialisierten betrieblichen Organisationswissenschaft, die komplexere gesellschaftsanalytische Ansprüche weitgehend aufzugeben bereit war (vgl. hierzu insbesondere Schumann 2003). 2.3
Das Verhältnis von Erwerbsarbeit und Sozialpolitik als Gegenstand der Wirkungsforschung
Im Zuge der Institutionalisierung der empirischen Arbeits- und Industriesoziologie entwickelte sich seit den 1960er Jahren eine ebenso vielfältige wie zum Teil sehr detaillierte, auf die betriebliche Ebene bezogene Wirkungsforschung. Diese zielt darauf ab, arbeitspolitische Vorhaben und rechtliche Interventionen in ihrer gesellschaftlichen Wirkung und Wirksamkeit abzuschätzen bzw. zu bewerten. Für die arbeitssoziologische Wirkungsforschung war das Verhältnis von betrieblicher Erwerbsarbeit und staatlicher Sozialpolitik immer ein wichtiges Thema. Bestimmte thematische Schwerpunkte symbolisieren diese Verbindungslinien. Zu nennen sind hier beispielsweise die arbeitspolitischen Forschungen am Wissenschaftszentrum für Sozialforschung in Berlin zu Wirkungen des innerbetrieblichen wie des allgemeinen auf die Veränderungen der Arbeitswelt bezogenen Gesundheitsschutzes (vgl. exemplarisch Rosenbrock/Müller 1998). Zahlreiche Beiträge zur arbeitssoziologischen Wirkungsforschung kommen seit vielen Jahren aus dem Soziologischen Forschungsinstitut in Göttingen (vgl. aktuell Schumann u.a. 2006). Hier geht es um die Folgen betrieblicher Rationalisierung und Neuorganisation auf die Arbeitswirklichkeit. Der zentrale Ansatzpunkt sind hier die Arbeitskräfte selbst: Welche Erfahrungen machen sie, wie bewerten sie
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die Veränderungen der Arbeit, welche Perspektiven bieten sich ihnen? Weiterhin liefern auch die Studien zu Arbeitsschutz und Beschäftigungssicherung bei Rationalisierung im Münchener Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung (vgl. als Überblick Deiß u.a. 1988) oder auch die vielfältigen arbeitsmarktpolitischen Analysen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg (vgl. bilanzierend Brinkmann u.a. 2007) wichtige Beiträge in der Wirkungsforschung. Die Evaluation der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik war auch für Einrichtungen wie das Institut für Arbeit und Technik in Gelsenkirchen (heute Institut für Arbeit und Qualifikation an der Universität DuisburgEssen) oder für das Zentrum für Sozialforschung in Halle konstitutiv. Die besonderen Leistungen der soziologisch inspirierten Wirkungsforschung (auf die hier nur stichwortartig verwiesen werden kann) bestand darin, die sozialpolitischen Voraussetzungen der Erwerbsarbeit im Sinne spezifischer rechtlicher und sozialtechnischer Arrangements ins Bewusstsein der (Fach-) Öffentlichkeit zu heben. Zur empirischen Bestimmung des Einflusses von sozial-, gesundheits- und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen auf Erwerbsarbeit trägt die Wirkungsforschung zweifelsohne erheblich bei. Hier verfügen wir über reichhaltige Bestände. Dennoch bleibt der Blick der Wirkungsforschung stets auf die gesellschaftlichen, betrieblichen und individuellen Folgewirkungen gerichtet. Von der staatlichen, politischen und rechtlichen Konstitution der Erwerbsarbeit her wird nur selten gedacht. 2.4
Arbeits- und Industriesoziologie und Forschungsförderung
Die Wirkungsforschung steht freilich in engem Zusammenhang mit der staatlichen Forschungsförderung. Insbesondere in den 1970er Jahren wurden im Zuge sozialliberaler Absichten und Planungen für eine modernisierte Arbeitswelt umfangreiche Programme zur Forschungsförderung aufgelegt. Damit verband sich das Ziel, „die langfristigen Folgen des technisch-ökonomischen Wandels zu erfassen und die darin enthaltenen Beeinträchtigungen der Lebensinteressen der Arbeitnehmer aufzufangen, zu kompensieren oder doch wenigstens zu entschärfen. (…) Ohne empirische Sozialwissenschaft waren solche Informationen schlechterdings nicht zu erhalten“ (Kern, 1982: 239ff). Insbesondere zwei Programme standen im Vordergrund. Zum einen das arbeitssoziologische Schwerpunktprogramm der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Die DFG förderte von 1971 bis 1979 insgesamt 55 industriesoziologische Forschungsvorhaben zu Fragen der „industriellen Beziehungen“ 3, zur Dynamik des „technisch-organisatorischen Wandels“ 4 der Erwerbsarbeit und zu verschiedenen Einzelaspekten des Verhältnisses von „Arbeitssituation und Bewusstsein“ 5. Die starke betriebliche Prozessorientierung bzw. Subjektbezogenheit der Forschungsförderung ist in diesem Schwerpunktprogramm nicht zu übersehen. Sozialpolitik bleibt eine wichtige Randbedingung der ausgewählten arbeits- und industriesoziologischen Forschungsgegenstände, ein systematisches Zentrum ist sie nicht. Noch deutlicher wird die Ausrichtung der Forschung am betrieblichen Geschehen anhand des ambitionierten Programms zur „Humanisierung des Arbeitslebens“ (HdA) (vgl. hierzu beispielsweise Wachtler 1979; rückblickend: 3 Siehe hierzu die Beiträge von Rainer Trinczek „Betriebliche Regulierung von Arbeitsbeziehungen“ und von Klaus Dörre „Überbetriebliche Regulierung von Arbeitsbeziehungen“ in diesem Band. 4 Siehe hierzu die Beiträge von Sabine Pfeiffer „Technisierung von Arbeit“ und von Manfred Moldaschl „Organisierung und Organisation von Arbeit“ in diesem Band. 5 Siehe hierzu den Beitrag von Frank Kleemann und G. Günter Voß „Arbeit und Subjekt“ in diesem Band.
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Oehlke 2004). Das Bundesforschungsministerium rief unter der Regie von Hans Matthöfer eine Vielzahl von Projekten ins Leben, die sich auf Fragen der Arbeitsorganisation, der Arbeitsplatzgestaltung, aber auch der Arbeitssicherheit konzentrierten. Im Grunde konstituierte die HdA-Forschung die arbeitssoziologische Wirkungsforschung. Sozialpolitik wurde aus dieser Projektoptik als betriebliche Sozialpolitik thematisiert. Eine explizite Ausrichtung arbeits- und industriesoziologischer Fragen an spezifischen politischen Reformvorhaben des Wohlfahrtsstaates fand nicht statt, obgleich diese Reformvorhaben der Anlass der Forschungsförderung waren. Die eigene Rolle staatlicher Träger und Institutionen bei der Konstitution der Arbeitskraft und der Formierung der Arbeitswelt entwickelte sich nicht zum Forschungsgegenstand. Dieser Typus intensiver arbeitssoziologischer Forschungsförderung stärkte und förderte mithin eher die Betriebs- und Arbeitsprozessorientierung der Arbeitsund Industriesoziologie. Das Potential der in Abschnitt 2.1 angesprochenen arbeits- und industriesoziologischen Gründergeneration, die die betriebliche Wirklichkeit zum zentralen Ansatzpunkt einer Politik der Demokratisierung und der sozialen Integration deklarierte, wurde auf diese Weise aufgegriffen, institutionalisiert und bekräftigt. 2.5
Erwerbsarbeit im kapitalistischen Staat
Ein weiterer Zugriff auf das Thema Sozialpolitik und Erwerbsarbeit ist konzeptioneller Art. Dieser Zugriff hat Geschichte. Er beleuchtet das Verhältnis von moderner Staatlichkeit und kapitalistischer Wirtschaftsentwicklung. Als früher Protagonist dieser Debatte ist hier in besonderer Weise ein Autor hervor zu heben, der in den Ausarbeitungen der Arbeitssoziologie kaum Beachtung fand. In dessen Werk bündelt sich auf exemplarische Weise die Verknüpfung von staatlicher Intervention und kapitalistischer Marktentwicklung. Die Rede ist von Lorenz von Stein. Lorenz von Stein hat im 19. Jahrhundert gleichermaßen die Begriffe der „industriellen Gesellschaft“ und der „Socialpolitik“ in die wissenschaftliche und politische Debatte eingeführt (vgl. von Stein 1956). Zugleich hat Lorenz von Stein in bemerkenswerter soziologischer Klarsicht und frei von politischem Furor darauf hingewiesen, dass auf der einen Seite die industrielle Gesellschaft keine Zukunft ohne Sozialpolitik und staatliche Intervention haben wird, und dass auf der anderen Seite auch die Entwicklung der Sozialpolitik und der öffentlichen Daseinsvorsorge von der Substanz industrieller Produktivität und Wertschöpfung zehren. Kapitalismus und Wohlfahrt schließen in dieser Lesart einander nicht aus. Im Gegenteil, sie bedürfen einander. Gleichwohl finden sie sich in einem Spannungsverhältnis und sind daher auf staatlichen Ausgleich und verwaltende Eingriffe angewiesen. Diese konzeptionelle Linie, das Verhältnis von Markt, Arbeit und Staat als konfliktreiche Komplementarität zu denken, hat allerdings in der Soziologie der Arbeit nur wenig Spuren hinterlassen. Hier stand in konzeptioneller Hinsicht die marxistisch geprägte Vorstellung einer grundlegenden Konfliktualität im Vordergrund, die entweder davon ausgeht, dass in der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates nur die herrschenden Kapitalinteressen mehr oder weniger gut verborgen sind, oder dass Wohlfahrt und Kapitalismus kaum versöhnliche Gegensätze sind. In diesen gedachten Ordnungen bewegten sich seit den späten 1970er Jahren zahlreiche Analysen zu den „Strukturproblemen des kapitalistischen Staates“ (vgl. Offe 1972). Die Rezeption der französischen Regulationsschule, die den politischen Charakter ökonomischer Entwicklungen hervorhob und sich von einfachen Modellen unterschied, die in der Politik ausschließlich den Ausdruck herrschender ökono-
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mischer Interessen zu sehen vermochten, schloss an diese Debatten an. Einflussreich waren hier vor allen Dingen die Überlegungen zu fordistischer bzw. postfordistischer Gesellschaftspolitik. Exemplarischen Charakter hatte die Studie „Das neue Gesicht des Kapitalismus. Vom Fordismus zum Post-Fordismus“ (vgl. Hirsch/Roth 1986). Die FordismusDebatte wurde in der Arbeitssoziologie intensiv geführt. Sie kam als eine produktive Weiterentwicklung der marxschen Kritik der Politischen Ökonomie unter den Vorzeichen moderner Wohlfahrtsstaatlichkeit und einer expansiven Konsumgesellschaft daher (vgl. hierzu auch die einflussreiche Studie von Burkart Lutz 1984). Auch diese Debatte konnte jedoch den Wohlfahrtsstaat nur als ‚kapitalistischen Staat‘ denken. Ein rechtlicher, sozialer und materieller Eigenwert kam in dieser Diskussions- und Forschungstradition dem Staat nicht zu. Eine Soziologie, die den „arbeitenden Staat“ (von Stein 1956 – vgl. Abschnitt 1) mit Prozessen erwerbswirtschaftlicher Dynamik zusammenbringt, war aus diesen Impulsen jedenfalls nicht zu entwickeln.
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Neue Entwicklungen und Konzepte: Die wohlfahrtsstaatlichen Rahmenbedingungen der Erwerbsarbeit verändern sich
Die Zeiten intensiver und ambitionierter arbeitssoziologischer Forschungsförderung, die im vorhergehenden Abschnitt skizziert wurden, liegen lange zurück. Nicht nur die politische Landschaft hat sich seitdem in vielerlei Hinsicht verändert, auch die Arbeitswelt ist eine andere geworden. Die sozialpolitische Gestalt und Gestaltung der Erwerbsarbeit hat sich verändert bzw. ist im Begriff, sich grundlegend zu verändern. Denn das Bündnis aus interventionsfreudigem Wohlfahrtsstaat und korporativ gestalteter Arbeitsgesellschaft, das die in Abschnitt 2.4 skizzierte Programmatik der Humanisierung des Arbeitslebens in maßgeblicher Weise prägte, ist brüchig geworden. Die Leitfiguren und Prototypen wohlfahrtstaatlich gestalteter Arbeitsgesellschaften, die betrieblich und tariflich gebundenen Arbeitnehmer, verlieren quantitativ und normativ an Bedeutung. Deren Erfahrungen, Bedürfnisse und Orientierungen waren die Referenzpunkte der Arbeits- und Industriesoziologie. Doch diese sieht sich nun mit neuen Fragen konfrontiert. Sie betreffen unmittelbar die betriebliche Organisation und die soziale Sicherung der Erwerbsarbeit, reichen zugleich aber auch weit über sie hinaus. Es ist daher an der Zeit, sich in der arbeits- und industriesoziologischen Forschung nicht alleine auf die Fragen nach neuen Arbeitskrafttypen oder veränderten betrieblichen Wirklichkeiten zu konzentrieren, sondern die Sozialpolitik und den Wohlfahrtsstaat einerseits als formierende Kräfte der Erwerbsarbeit und andererseits als Arbeitsfelder und -orte im Umbruch neu zu analysieren. Angesichts veränderter Wohlfahrtsstaatlichkeit und vielfältiger politischer und rechtlicher Initiativen zur Neuordnung von Arbeit und Beschäftigung, gewinnen die Fragen nach dem Verhältnis von Sozialpolitik, Wohlfahrtsstaat und Erwerbsarbeit neue Brisanz. Doch um in dieser Hinsicht weiter zu kommen, bedarf es zunächst einiger begrifflicher Vergewisserungen. Mit welcher Art von Sozialpolitik und Wohlfahrtsstaatlichkeit haben wir es heute zu tun? Welche Rolle spielt in diesen Zusammenhängen die Erwerbsarbeit? Um auf diese Fragen Antworten zu finden, können zunächst zwei Typen wohlfahrtsstaatlicher und sozialpolitischer Gestaltung unterschieden werden: der „sorgende“ und der „gewährleistende“ Staat. In beiden Fällen steht das Verhältnis von Staatlichkeit als politisch-rechtlicher Ordnungsrahmen und Erwerbsarbeit als soziale und materiale Praxis im Zentrum (vgl. Vogel 2007).
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Der sorgende Staat – ein Auslaufmodell
Was sind die Charakteristika des „sorgenden Staates“ (vgl. de Swaan 1990)? Die staatliche Sorge und Vorsorge zielte bis weit in die 1990er Jahre auf mehrere Felder: Zum einen auf die Minimierung sozialer Risiken und die Dämpfung sozialer und materieller Ungleichheiten durch staatliche Garantien der Statussicherung in den erwerbsbiografischen, gesundheitlichen und altersbezogenen Wechselfällen des Lebens. Weiterhin richtete sie sich auf die Absicherung beruflicher Karrieren und die Öffnung sozialer Aufstiegsperspektiven durch schulische, betriebliche und universitäre Bildung; die Grundlage war ein euphorischer Bildungsbegriff – Bildung als Bürgerrecht. Zudem lief die Politik des sorgenden Staates auf eine übersichtliche Trennung beruflicher und privater Arbeitswelten hinaus. Das hatte Konsequenzen für die soziale und materiale Balance zwischen Männern und Frauen, für die Strukturierung und Ausgestaltung privater Lebenswelten und nicht zuletzt für die Formung des familiären Zusammenlebens. Schließlich charakterisierte dieses Modell die Sorge um die Organisation und den Ausbau öffentlicher Dienste als Systeme der Daseinsvorsorge. Diese Dienste waren zugleich ein expansives Beschäftigungsfeld – der Staat als Arbeitgeber gewann stark an Bedeutung. Das strukturelle, finanzielle und normative Zentrum sorgender Wohlfahrtsstaatlichkeit bildete die sozialversicherungspflichtige Erwerbsarbeit. Die Geschichte vom sorgenden Staat kann immer auch als Geschichte bildungshungriger und aufstiegsorientierter Arbeiter- und Angestelltenmilieus erzählt werden, die im Ausbau der sozialen Sicherheit Karriere, neue soziale Sicherheiten und berufliche Opportunitäten fanden. Die „hyperbolische“ (de Swaan 1990) Expansion des Bildungswesens, des Gesundheitssystems, der Pflegeeinrichtungen, der sozialen und technischen Infrastrukturen, der Wohlfahrtsverbände oder der Sozialversicherungen diente seit den 1950er Jahren vielen als berufliche und soziale Aufstiegsleiter. Die sozialstrukturelle Generaltendenz des sorgenden Wohlfahrtsstaates ist retrospektiv nicht zu übersehen: Mit dessen Expansion formierte sich eine neue breite Mittelklasse, deren Mentalitäten, Moralvorstellungen und Manieren noch heute das gesellschaftliche Klima prägen. Insbesondere für Frauen öffneten sich neue Beschäftigungsfelder. Die Erwerbsarbeit wurde weiblicher, dienstleistungsorientierter und vor allen Dingen qualifizierter.6 Auf diesen Grundlagen veränderten sich auch die fiskalischen, demografischen und sozialkulturellen Voraussetzungen der Sozialpolitik im Wohlfahrtsstaat. Das hat zur Folge, dass auch die Bedürfnisstrukturen der Gesellschaft in vielen Feldern, in der Familie, in der Erziehung, bei der Arbeit, aber auch in der Freizeit, andere geworden sind. Nicht selten treten sie in Konflikt zu dem bisherigen Modell der auf Sorge hin orientierten staatlichen Organisation des Sozialen. Die Prozesse der Individualisierung und die Neuformulierung sozialer und beruflicher Ansprüche weichen – als historisches Resultat staatlicher und rechtlicher Sorgebereitschaft – das „normative Fundament“ sorgender Wohlfahrtsstaatlichkeit auf. Der sorgende Staat wird auf diese Weise zum Opfer des eigenen Erfolgs.
6 Siehe hierzu die Beiträge von Brigitte Aulenbacher „Rationalisierung und der Wandel von Erwerbsarbeit aus der Genderperspektive“ und von Karin Gottschall „Arbeit, Beschäftigung und Arbeitsmarkt aus der Genderperspektive“ in diesem Band.
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Berthold Vogel Der gewährleistende Staat – eine neue Architektur wohlfahrtsstaatlicher Gestaltung
Im Zuge dieser Entwicklung gewinnt seit Beginn der 2000er Jahre ein neues Modell demokratisch und rechtsstaatlich organisierter Wohlfahrtspolitik an sozialer, struktureller und normativer Bedeutung. Es lassen sich bereits die Konturen einer veränderten Architektur wohlfahrtsstaatlicher Praxis erkennen, die sehr eng mit den Umbrüchen der Arbeitswelt verknüpft sind. Sichtbar wird ein Modell „gewährleistender Staatlichkeit“ (vgl. Vogel 2007, Hoffmann-Riem 2000), dessen fiskalisches und ökonomisches Fundament nach wie vor das Erwerbsarbeitsverhältnis ist. Dieses Modell verzichtet auf universale Integrationsansprüche, es bietet keine auf Dauer gestellte Sicherung des Status und des Lebensstandards mehr, und die Dämpfung sozialer Ungleichheit wird als ökonomisch kontraproduktiv angesehen. Die Bildung wird ihres aufstiegsoptimistischen Charakters entkleidet und auf Fragen ökonomischen Nutzens konzentriert. Darüber hinaus leitet der gewährleistende Staat den arbeitsrechtlichen Abschied von einer tarifvertraglich kollektivierten Arbeitswelt ein, deren Aufstiegsleitern nun entweder recht kurz geraten oder nur mühsam zu erklimmen sind. Aspekte der Fürsorge treten in den Hintergrund. Die Prinzipien der Gewährleistungsverantwortung des Staates und der sozial- wie beschäftigungspolitischen Gestaltung der Erwerbsarbeit lauten nicht mehr berufliche Statusstabilität und soziale Bindung, sondern Kostenrechnung, Projekt und Vertrag. Die Kostenrechnung prägt im Rahmen institutionalisierter Benchmarks in stärkerem Maße als früher die Gewährung von Wohlfahrtsleistungen. In Zeiten knapper Kassen und normativer Neuorientierung rücken die Fragen nach betriebswirtschaftlicher Effizienz in den Vordergrund. Die staatlichen Aktivitäten verlieren auf diese Weise nicht notwendiger Weise an Qualität, aber doch an Stetigkeit, Regelmäßigkeit und Verlässlichkeit. Die Arbeit am, im und mit dem Wohlfahrtsstaat wird mehr und mehr zum Projekt, ob in der Altenpflege, der Jugendfürsorge oder der Stadtteilpolitik. Schließlich befindet sich auch die Steuerung der staatlichen Wohlfahrtspflege im Umbruch. Sie erfolgt wesentlich über Vertrag bzw. vertragsgebundene Netzwerkstrukturen. Eine ,Vertraglichung‘ des behördlichen Alltags ist die Folge. Wenn im neu geschaffenen JobCenter die Sachbearbeiter in ihrer neuen Funktion als Case-Manager Eingliederungsverträge mit Arbeitslosen abschließen, dann kommt die wachsende Vertraglichung von sozialen Leistungen ins Spiel. Eingliederungsvereinbarungen werden zentrale Steuerungsinstrumente der Arbeitsmarktpolitik und Beschäftigungsförderung. Doch Tendenzen kontraktueller Steuerung finden sich nicht nur im staatlich organisierten Sozialleistungssystem, sondern sie sind zentraler Bestandteil betrieblicher Personalpolitik. Der Vertrag wird zur arbeitsund industriesoziologisch relevanten Kategorie. Prozesse und Elemente der Kontraktualisierung lassen sich auf zahlreichen Ebenen inner- und zwischenbetrieblicher Kooperation finden (vgl. hierzu die Überlegungen bei Kalkowski 2006). Alle diese Veränderungen repräsentieren zwar keinen fundamentalen Bruch in der Strukturlogik des Wohlfahrtsstaates, aber die Arbeitsgrundlagen der Sozialpolitik verschieben sich doch. Das voraussetzungsvolle Verhältnis von Sozialpolitik und Erwerbsarbeit wird neu justiert. Der Gestaltwandel von Erwerbsarbeit und Wohlfahrtsstaat verstärkt sich wechselseitig. Die strukturelle Zentralität der Erwerbsarbeit bleibt freilich bestehen. Denn der erfolgreiche Zugang zum Leistungssystem sozialer Sicherung erfolgt noch immer über die Erwerbsarbeit. Auch mit Blick auf die Finanzierungsgrundlagen sozialer Sicherungen gilt, dass zwar wesentliche Verschiebungen in Richtung privater Eigenvorsorge und Selbst-
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beteiligung stattfinden, doch die Grundüberzeugung, dass auch der gewährleistende Staat ein aktiver Leistungs- und Steuerstaat sein muss, dessen fiskalische Basis in der Abschöpfung erwerbsarbeitsbezogener Leistungen besteht, wurde bislang nicht in entscheidender Weise modifiziert. Die Veränderungen der staatlichen Architektonik sozialer Sicherung und Daseinsvorsorge ändern nichts daran – die Erwerbsarbeit bleibt sozialpolitisch voraussetzungsvoll. Wenn zudem die Sozialpolitik als zentraler Arbeitsort selbst erheblichen Veränderungen unterliegt, dann ergeben sich daraus sowohl interessante Perspektiven als auch neue Anforderungen an die Arbeitssoziologie. 3.3
Transformation der Arbeit – korporative Wohlfahrtsverbände und öffentliche Dienste
Das neue Verhältnis von Erwerbsarbeit, Sozialpolitik und wohlfahrtsstaatlicher Gestaltung lässt sich an bestimmten Orten der Gesellschaft in besonderer Weise nachvollziehen. Ein exemplarischer Fall ist die Transformation der korporativen Wohlfahrtsverbände in politisch konstituierte Wohlfahrtsmärkte bzw. in ,Sozialkonzerne‘. Das Verbandssystem aus Caritas, Diakonie, Arbeiterwohlfahrt und Paritätischem Wohlfahrtsverband als Dachorganisation transformiert sich in einen marktgesteuerten Sozialsektor mit einer größeren Differenzierung der Leistungsanbieter und mit mehr Wettbewerb anstelle eingespielter Verfahren der Sozialpartnerschaft (vgl. Bode 2004 und Nullmeier 2001).7 Jetzt geht es um das Management öffentlicher und privater Ressourcen, da die staatliche Alimentierung nur noch unter Vorbehalt stattfindet. In der Wohlfahrtspflege tritt nun die kurzfristige Kalkulation an die Stelle langfristiger Planung und das korporative Wohlfahrtsgeschehen wird immer stärker über Märkte reguliert. Mit dem politischen Aufbau von Wohlfahrtsmärkten verändern sich auf der Angebotsseite die Beschäftigungsbedingungen und Tätigkeitsfelder der Wohlfahrtsakteure. Im stärkeren Marktbezug der Wohlfahrt stehen jedoch nicht nur strukturelle, sondern auch normative Praktiken und Gesellschaftsbilder zur Verhandlung. Weiterhin entwickeln sich auch die öffentlichen Dienste auf bemerkenswerte Weise von Orten beruflicher Sicherheit und professioneller Karrieren zu Experimentierfeldern prekärer Beschäftigung. Im Fall der öffentlichen Dienste haben wir es allerdings nicht nur mit irgendwelchen schrumpfenden oder boomenden Branchen zu tun. In den unterschiedlichen Tätigkeitsfeldern des öffentlichen Dienstes stehen die Stärke oder Schwäche, die Qualität und die Organisation der universalen Daseinsvorsorge, des Gemeinwohls und der Konfliktregulation zur Disposition. Die Qualität des gesellschaftlichen Lebens ist jedoch mit der Qualität der öffentlichen Dienste eng verknüpft. Daher spricht einiges dafür, dass ein wichtiges Zentrum des Wandels der Arbeitswelt in den öffentlichen Diensten liegt. Die öffentlichen Dienste transformieren sich von einem Ort der Statussicherheit und der wohlgeordneten bürokratischen Routine in ein nervöses und reformfiebriges Experimentierfeld. Kosten sparende Einschnitte und organisationspolitische Zumutungen prägen den institutionellen Alltag. Die Forcierung von Verwaltungsreformen unter dem Stichwort New Public Management oder die Neuorganisation öffentlicher Aufgabenerfüllung unter dem Stichwort des Public Private Partnership sind (betriebs-) wirtschaftliche Leitbilder, die auf politische Weise den Druck knapper Haushaltskassen auszugleichen versuchen. Es sind gerade staatliche Agenturen, die intensiv auf die Einführung von Marktprinzipien und auf kontraktuelle 7
Siehe hierzu den Beitrag von Ingo Bode „Arbeit im gemeinnützigen und informellen Sektor“ in diesem Band.
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Aufgabendelegation an Private drängen. Arbeiten beim Staat und für den Staat heißt daher heute, mit Personalabbau ebenso zu tun zu haben, wie mit der Verlängerung der Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich, mit wachsender Arbeitsverdichtung, verdeckten Lohnsenkungen durch Streichung und Reduzierung von Sonderzahlungen (Urlaubs- und Weihnachtsgeld) und auch mit der Durchsetzung flexiblerer Arbeitsbedingungen. Der arbeitende Staat ist zum Protagonisten einer unsicheren und brüchigen Arbeitswelt geworden. Neue soziale Ungleichheiten sind die Folge. Sie trennen nicht mehr qualifizierte und nicht qualifizierte Arbeitskräfte, oder die Statuslagen von einfachem, gehobenem oder höherem Dienst – sie verlaufen nun mitten durch die Dienstklassen des Wohlfahrtsstaates. Beschäftigte, die unter den Bestandsschutz des alten Dienstrechts fallen, stehen neben instabilen Beschäftigtengruppen, die auf Zeit, unter Inkaufnahme schlechterer Entlohnung und flexiblerer Arbeitszeiten tätig sind. Die ursprüngliche Homogenität und Übersichtlichkeit in wohlfahrtsstaatlicher Verwaltung und öffentlichem Dienst zerfällt. Diejenigen, die die Prekarität der Arbeitswelt oder die Prekarität familiärer und nachbarschaftlichen Beziehungen bearbeiten sollen, sind selbst häufig prekär beschäftigt. Die Beschäftigung beim Staat hat den beruhigenden Unterton gesicherter Laufbahnen und dauerhafter Gratifikationen verloren. Doch mit der stärkeren Marktorientierung staatlichen Handelns, mit der steigenden Nachfrage nach Beratung und Therapie entwickeln sich auch in den öffentlichen Diensten neue berufliche Gelegenheiten und es eröffnen sich neue soziale Karrierefelder. Andere Arbeitnehmerfiguren machen nun Karriere: der Controller, der Mediator, der Projektentwickler, der Therapeut oder der Case-Manager. Der Umbau wohlfahrtsstaatlicher Steuerung und Architektonik schafft auch neue institutionelle Handlungsfelder, beispielsweise die Regulierungsbehörde „Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post und Eisenbahnen“. In diesem Tätigkeitsfeld der politischen Markteröffnung, der Sicherstellung von Markttransparenz und der administrativen Bewertung von Marktleistungen sind neue fachliche Qualifikationen und betriebliche Kompetenzen gefragt. Mit Blick auf diese Entwicklungen im Verhältnis von Staatlichkeit, Sozialpolitik und Erwerbsarbeit stellt sich der Arbeitssoziologie mithin eine Vielzahl neuer Anforderungen.
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Herausforderungen und Perspektiven: Die arbeitssoziologische Forschung zwischen Prekaritätsdiagnostik und Wandel der Arbeitswelt
Im Rückblick auf die Erfolgsgeschichte der Arbeits- und Industriesoziologie der 1960er Jahre schreibt Michael Schumann: Die Industriesoziologie „entzauberte das problematisch gewordene Bild einer befriedeten Mittelstandsgesellschaft. Und obwohl ihr theoretisches Vermögen begrenzt war, sie über keine elaborierte, allgemein anerkannte ‚Theorie der Gesellschaft‘ verfügte (die marxsche Kritik der politischen Ökonomie bot nur eine Orientierung, nicht mehr), hatten ihre Aussagen für die gesellschaftlichen Akteure und die Medien Deutungskraft. ‚Arbeit‘- und die durch sie zu erklärenden gesellschaftlichen Probleme – wurde wieder zur Schlüsselkategorie“ (Schumann 2003: 161-162). Vieles spricht dafür, dass wir heute mit Blick auf das Verhältnis von Wohlfahrtsstaat, Sozialpolitik und Erwerbsarbeit mit einer ähnlichen Situation konfrontiert sind. Die wachstumsgewisse, wohlstandsgeprägte und auf Erwerbsarbeit konzentrierte Mittelstandsgesellschaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verliert im Zuge der fiskalischen und strukturellen Nöte
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wohlfahrtsstaatlicher Leistungspolitik, infolge der wachsenden Prekarität der Erwerbsarbeit und aufgrund des arbeitsmarktpolitischen Abschieds von der sozialen und beruflichen Statussicherung in substantieller Weise ihre Kraftquellen. Neue soziale Differenzen und Konflikte sowie verschärfte Spannungen in der Arbeitswelt sind die Folge. Diese Entwicklung beschränkt sich nicht auf den nationalen Rahmen, sondern sie ist ein europäisches Phänomen. Im Großen und Ganzen gilt diese allmähliche Erosion des Bündnisses von industrieller Arbeit, korporativer sozialer Sicherung und mittelständischen Formen der Lebensführung in allen (west-)europäischen Gesellschaften. Insofern geht Michael Schumanns Überlegung in doppelter Hinsicht in die richtige Richtung, wenn er eine ‚Renaissance‘ arbeitsund industriesoziologischer Forschung in Aussicht stellt. Denn zum einen stehen die politische Organisation, die rechtliche Gestaltung und die betriebswirtschaftliche Praxis der Erwerbsarbeit tatsächlich in neuer Weise auf dem Prüfstand. Damit sind eklatante soziale Problematiken verknüpft, zu denen eine auf der Höhe der Zeit befindliche Soziologie aussagefähig sein muss. Diese gesellschaftspolitische Aussagefähigkeit ist im Schumannschen Verständnis nicht nur ein, sondern das Wesensmerkmal kritischer Sozialforschung. Zum anderen erfordert auch die bemerkenswerte und wissenschaftlich bislang nur unzureichend reflektierte Gleichgerichtetheit arbeits- und sozialpolitischer Veränderungen eine Renaissance der Arbeits- und Industriesoziologie. Wir sind aktuell Zeugen einer doppelten Transformation. Unter den strukturellen, aber eben auch normativen Leitvokabeln der Eigenverantwortung, der Kontraktualisierung und der Subjektivierung8 sind gleichermaßen die Veränderungen in der Arbeitswelt angesprochen, die mit dem Stichwort der „negativen Individualisierung“ (Castel 2000) nur schwach umschrieben sind, wie auch die Veränderungen im Arbeits- und Sozialrecht, in der sozialen Sicherung, oder in der öffentlichen Daseinsvorsorge. Diese Leitvokabeln zeigen zudem, dass die Neuformierung der Arbeitswelt und des Wohlfahrtsstaates in starkem Maße auch mit veränderten subjektiven Ansprüchen und individuellen Bedürfnissen gegenüber der Arbeit und gegenüber wohlfahrtsstaatlichen Dienst- und Sicherungsleistungen zu tun hat. Es verändern sich mithin nicht nur die Strukturen der Arbeitswelt, dadurch dass sich neue Ungleichgewichte und Ungleichheiten ergeben; auch die Ansprüche an Erwerbsarbeit sind nicht mehr dieselben wie im Zeitalter (groß) industrieller Blüte. Ökonomen wie Daniel Cohen oder Soziologen wie John Goldthorpe zeigen, dass der Zuwachs an Dienst leistenden Tätigkeiten die Disparitäten in der Arbeitswelt und die wohlfahrtsstaatliche Organisation des Sozialen weit mehr verändert hat, als die viel diskutierten Prozesse der Globalisierung (vgl. Cohen 1998 und Goldthorpe 2003). Gleichwohl ist nur dann eine produktive Renaissance arbeitssoziologischer Fragen zu erwarten, wenn künftig verschiedene programmatische Anforderungen erfüllt werden. Worin bestehen diese programmatischen Anforderungen an die Arbeits- und Industriesoziologie?
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Zunächst ist die methodische Abkehr von der Betriebszentrierung der Arbeits- und Industriesoziologie gefordert. Sozialpolitik wird immer noch in erster Linie als betriebliche Arbeits- oder Sozialpolitik wahrgenommen und erforscht. Diese methodologische Engführung muss angesichts veränderter betrieblicher Realitäten in den produzierenden und vor allen Dingen in den Dienst leistenden Sektoren der Erwerbsarbeit aufgebrochen werden. Zudem ist eine stärkere konzeptionelle Hinwendung zu den rechtlichen Voraussetzungen und politischen Gestaltungsprinzipien der Arbeitswelt notwendig; zumal wir es –
Siehe hierzu den Beitrag von Frank Kleemann und G. Günter Voß „Arbeit und Subjekt“ in diesem Band.
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Berthold Vogel Stichwort: Kontraktualisierung – mit einer immer stärkeren Verrechtlichung der Arbeit zu tun haben. Die veränderten Rechts- und Vertragsformen der Erwerbsarbeit und der betrieblichen Organisation sowie die Neujustierung der rechtlichen Grenzziehungen zwischen Arbeit und Nichtarbeit oder zwischen stabilen und prekären Beschäftigungsformen müssen in das Blickfeld der Arbeits- und Industriesoziologie kommen. Die Ferne zum Recht als normatives Funktions- und Gestaltungsprinzip muss in der arbeitsund industriesoziologischen Forschung überwunden werden, indem beispielsweise die Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit als moderierende und integrative Organisationen stärkere Aufmerksamkeit finden oder auch die rechtlich basierten institutionellen Umbauten zur Kenntnis genommen werden, die in der Arbeitsverwaltung stattfinden. Ein weiterer zentraler und rechtsrelevanter Punkt sind in diesem Zusammenhang die Verschiebungen im Tarifwesen, insbesondere im Substanzverlust der Tarifautonomie. In einem programmatischen Sinne geht es um die empirische und theoretische Ausarbeitung einer Soziologie des ‚arbeitenden Staates‘, die einen neuen Blick auf die Verbindung von Erwerbsarbeit und Sozialpolitik erlaubt (vgl. Vogel 2009). Kurzum, die Welt der Arbeit muss stärker vom Recht und ihrer sozialpolitischen Gestaltung her gedacht werden.
Der Historiker Tony Judt beschreibt in seiner eindrucksvollen „Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg“ (Judt 2005) die Konturen eines zwar vergehenden, zugleich aber sehr wirkmächtigen Zeitalters. Dieses Zeitalter war von der Praxis wie vom Geist des kollektiven Aufstiegs und der materiellen Sekurität erfüllt, und es war geprägt von den Strukturen und Einrichtungen wirtschaftlichen Wohlstands, sozialer Wohlfahrt und industrieller wie bürokratisch organisierter Erwerbsarbeit. Dynamischer Wegbereiter und stabiler Garant dieser Ära war in weiten Teilen Europas die rechtstaatlich gerahmte und arbeitsgesellschaftlich korporativ gestaltete Sozialverfassung des Wohlfahrtsstaates. Wenn wir daher heute über die Verbindung von Wohlfahrtsstaat, Sozialpolitik und Erwerbsarbeit reden, dann beziehen wir uns explizit oder implizit immer auf diese Epoche der europäischen Gesellschaftsgeschichte. Ihre Energie bezog diese Epoche aus der produktiven Spannung zwischen Mobilität und Sekurität, zwischen neuen sozialen Perspektiven für Viele und der Bereitschaft zur Sorge um Stabilität für Alle. Die Arbeits- und Industriesoziologie war eine, vielleicht sogar die wichtigste und einflussreichste wissenschaftliche Repräsentantin dieses Zeitalters. Sie förderte dessen sozial- und arbeitspolitische Energien und profitierte gleichermaßen davon. Doch die Energien dieses Zeitalters scheinen weitgehend erschöpft zu sein. Wohlfahrtsstaat und Erwerbsarbeit finden jetzt in einer neuen, spannungsreichen Beziehung zueinander. Und die Erwerbsarbeit bleibt sozialpolitisch voraussetzungsvoll. Für die Arbeits- und Industriesoziologie ist es eine Herausforderung, sich und die gesellschaftliche Öffentlichkeit angesichts wachsender sozialer Ungleichheiten und Unsicherheiten über diese neuen Voraussetzungen aufzuklären. Zur Vertiefung Castel, Robert (2000). Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz: UVK-Universitätsverlag Konstanz. Ferber, Christian von/Kaufmann, Franz-Xaver (Hrsg.) (1977). Soziologie und Sozialpolitik (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 19). Opladen: Westdeutscher Verlag.
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Vogel, Berthold (2009). Wohlstandskonflikte. Soziale Fragen, die aus der Mitte kommen. Hamburg: Hamburger Edition.
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Haushaltsarbeit und Haushaltsdienstleistungen
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Haushaltsarbeit und Haushaltsdienstleistungen Birgit Geissler
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Gegenstand und Problemstellung: Der Haushalt als Ort von Arbeit
Zur Haushaltsarbeit gibt es unzählige Expert/innen des Alltags, die sich über den Sinn und Nutzen dieser Arbeit keineswegs einig sind. Wissenschaftliche Expertise ist dagegen eher dünn gesät; in der Soziologie erregt die Beschäftigung damit gelegentlich Erstaunen. Das Thema ist schwer einzugrenzen, denn Arbeit im privaten Haushalt ist soziologisch in ihren beiden Formen interessant: als unbezahlte, private Arbeit und als Dienstleistung. Der Schwerpunkt dieses Beitrags liegt auf kulturalistischen Forschungsansätzen und neueren Überlegungen zur interaktiven Seite dieser Arbeit, wobei die ‚klassischen‘ Ansätze nicht vernachlässigt werden. Haushaltsarbeit als private Arbeit ist bisher kein Gegenstand der Arbeitssoziologie; als Dienstleistungsarbeit wird sie erst neuerdings wissenschaftlich beobachtet. Für eine zuverlässige quantitative Erhebung der privat geleisteten Haushaltsarbeit gibt es bisher keine geeigneten Instrumente; nur die Daten der Sozialstruktur- und der Zeitbudgetforschung (vgl. Statistisches Bundesamt 2004; SOEB-1 2004; SOEB-2 2004) können im Hinblick auf Umfang, zeitliche Verteilung und Wertäquivalente dieser Arbeit interpretiert werden. Noch größer ist das Informationsdefizit zu Haushaltsdienstleistungen. In amtlichen Statistiken werden sie nicht gesondert ausgewiesen, sie sind hier Teil der personenbezogenen Dienste. Dieser Beitrag kann sich daher nicht auf eine klare Datenlage und auf eingeführte Begriffe und Theorien der Arbeitssoziologie stützen. In neuerer Zeit wächst allerdings das Interesse an Haushaltsarbeit. Aktuelle Kontexte einer vertieften Beschäftigung mit Arbeit im privaten Haushalt sind auf der Seite der Politik die Entdeckung des Haushalts als Arbeitsmarkt und die Förderung „familienunterstützender Dienstleistungen“ (Schupp/Schäfer 2005); auf der Seite der Wissenschaft entwickelten sich aus dem Forschungsinteresse an informeller und gering qualifizierter Arbeit, an der Lebenslage von Trans-Migrantinnen und aus den Studien zum Verhältnis von Arbeit und Leben auch Forschungsfragen zur Arbeit im privaten Haushalt. 1.1
Der private Haushalt und seine Leistungen
Der Haushalt ist der räumlich, wirtschaftlich und sozial definierte Ort der Lebensführung, in dem grundlegende materiell-physische, kulturelle, soziale und emotionale Bedürfnisse des Individuums befriedigt werden und die Sozialisation der nachwachsenden Generation stattfindet.1 Von der plurilokalen Familie unterscheidet sich der Haushalt durch die Einheit des
1 Die neuere Sozialökonomik sieht die wesentliche Funktion des Haushalts in der Haushaltsproduktion als der Gesamtheit der Leistungen, die zur Deckung materieller und immaterieller Bedürfnisse beitragen. Demnach sind
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Birgit Geissler
Ortes.2 Die Trennung von Haushalt und Unternehmen ist eine der grundlegenden gesellschaftlichen Differenzierungen am Beginn der Moderne. Während in der Vormoderne Leben und Wirtschaften in der (bäuerlichen, handwerklichen, bürgerlichen) Hausgemeinschaft integriert waren (Richarz 1997: 102), wird nun der Haushalt vorrangig als Ort des Privatlebens wahrgenommen. Wirtschaft wird mit Marktwirtschaft gleich gesetzt, der Haushalt wird als ein „vor öffentlicher Kontrolle geschützter privater Bereich“ (Häußermann/Siebel 1996: 315) in seiner ökonomischen Bedeutung abgewertet und gleichzeitig als Ort der Liebe emotional aufgeladen (vgl. Hochschild 1996; Krebs 2002; kritisch zu „Arbeit aus Liebe“ Bock/Duden 1977)3. Erst mit der Trennung der beiden Ökonomien (gewinnorientierte Wirtschaftsunternehmen und subsistenzorientierte Haushalte) entsteht historisch die Haushaltsarbeit,4 die zugleich wegen der Abgrenzung des Haushalts von der Sphäre der Wertschöpfung ihren Arbeitscharakter verliert (vgl. Hausen 2000). Die Differenzierung von Arbeits- und Lebenssphäre und die damit einher gehende Familialisierung der Sorgearbeit (vgl. Kickbusch 1987; Senghaas-Knobloch 2005: 57) sind der Hintergrund für die „Polarisierung der Geschlechtscharaktere“ (Hausen 1978) – mit anderen Worten: für die Zuschreibung spezifischer ‚häuslicher‘ Eigenschaften an das weibliche Geschlecht. Diese geschlechtliche Konnotation der Arbeit überformt die alltäglichen Praktiken der Haushaltsführung und der Arbeitsteilung5 wie auch die Selbst- und Fremddeutungen der im Haushalt Tätigen. Soweit sich Wissenschaft und Öffentlichkeit mit dem Haushalt beschäftigen, ist der Diskurs meist geprägt von einer „Normalitätsfiktion“ (Bonß/Plum 1990): es wird eine empirische Regelmäßigkeit des Familienhaushalts mit nicht-erwerbstätiger oder teilzeiterwerbstätiger Frau angenommen. Die Zeitgebundenheit dieser ‚Normalität‘ wird nicht immer reflektiert. Demgegenüber wird hier ein weiterer Begriff des Haushalts vorausgesetzt. Das Zusammenleben und gemeinsame Wirtschaften im Haushalt ist nicht zwingend durch eheliche oder Verwandtschaftsbeziehungen bestimmt; der Haushalt ist instabiler als der familiale Zusammenhang. Haushalt und Familie sind daher zu unterscheiden; familiale Beziehungen dauern über mehrere Generationen und über Trennung und Scheidung hinweg an (vgl. Bertram 2000), während die Haushaltsstruktur sich Lebens- und Familienphasen, mit denen verschiedene Formen der Lebensführung und der Arbeitsbelastung verbunden sind, anpasst. So manifestiert sich der Wandel der räumlichen Einbindung und sozialen Vernetzung von Individuen (z.B. bei einem Umzug) analytisch auf der Ebene des Haushalts. Es fehlt allerdings eine Haushaltsklassifikation, mittels derer die ‚objektiven‘ Faktoren wie Erwerbsbeteiligung, Haushaltsform sowie wohlfahrtsstaatliche RahmenbedingunPrivathaushalte „Einheiten, in denen Personen kooperieren, um gemeinsame, für ihre Wohlfahrt relevante Leistungen zu erstellen.“ (Galler/Ott 1993: 19ff.). 2 Empirische Studien und statistische Datenquellen verwenden unterschiedliche Haushaltsbegriffe; auch ist die Abgrenzung verschiedener Haushaltsformen nicht einheitlich. 3 „Die Polarisierung des Alltagslebens in eine öffentliche und eine private Sphäre ist Teil jenes Prozesses der Zivilisation, in dessen Verlauf Fremdzwang als Selbstzwang in die Individuen hinein verlegt wird. Dieser Prozess der Verinnerlichung sozialer Kontrolle verläuft individuell und schichtspezifisch unterschiedlich.“ (Häußermann/Siebel 1996: 315). 4 Mit Hinweisen zur Entstehung der Hausarbeit ist das Lehrbuch von Gertraude Mikl-Horke (2000: 470-471) eine Ausnahme in der Arbeitssoziologie; die Autorin referiert auch Ann Oakleys Unterscheidung von Haus- und Erziehungsarbeit. 5 Göran Therborn (2000: 79) referiert internationale Daten aus den 1960er Jahren zu der Zeit, die verheiratete berufstätige Männer für Haushaltsarbeit aufwenden in Prozent des Zeitaufwands verheirateter berufstätiger Frauen. Die Anteile liegen zwischen 1 und 29 Prozent. Ist also Hausarbeit „eine narzißtische Kränkung für den Mann“? – so Ilona Ostner (1988: 64).
Haushaltsarbeit und Haushaltsdienstleistungen
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gen in Verbindung mit Mustern der Arbeitsteilung und dem Lebenslauf der Haushaltsmitglieder interpretiert werden könnten (vgl. Geissler 1996: 122ff.). Um die private wie auch die erwerbsförmige Haushaltsarbeit umfassend analysieren zu können, sind sozial-ökonomische wie auch kulturalistische Ansätze heran zu ziehen. In der Sozialökonomik wird der private Haushalt als Lebenszusammenhang von Individuen definiert, der durch gemeinsames Wohnen und Wirtschaften gekennzeichnet ist; als Wohlfahrtsleistung des Haushaltes gelten darüber hinaus auch soziale Integration und subjektives Wohlempfinden, die durch alltägliche Interaktion und Social Support entstehen (vgl. Bohler/Glatzer 1998: 112).6 Der Haushalt hat demnach über die Versorgung und die Organisation des Alltags hinaus zentrale Funktionen bei der Sozialintegration der Individuen, bei der Stabilisierung persönlicher Netzwerke, und er setzt die Bedingungen für das Aufwachsen von Kindern. Daher ist der Haushalt auch ein Ort spezifischer Werte (vgl. Kutsch/Neu 1998) und kultureller Praktiken, welche die Standards und Arbeitsweisen, die Arbeitsteilung, die Sozialisation von Kindern zur Haushaltsarbeit wie auch die Inanspruchnahme von Dienstleistungen präformieren. Der Haushalt ist „einerseits eine ökonomische Einheit und damit Teil des Wirtschaftssystems in seiner Gesamtheit. Andererseits ist er auch eine ‚sittliche Größe‘, da das (ökonomische und weitere) Handeln seiner Mitglieder vermittelt wird durch ein spezifisches Set von soziokulturellen Wahrnehmungsweisen, Werten und Ästhetiken, die selbst wiederum konstituiert werden durch die Erfahrungen, Biographien …und Taktiken der Mitglieder eines Haushalts“ (Hepp 1999: 213-214). 1.2
Arbeit im Haushalt
Alltagssprachlich werden unter Haushaltsarbeit eher technische Tätigkeiten verstanden: putzen, kochen, waschen etc. Planerisch-organisatorische Aufgaben werden in dieser Wahrnehmung ausgeblendet, und die an Kommunikation gebundenen (z.B. die erzieherischen) Arbeiten werden der ,Liebe‘ zugeschlagen, von der Mühe und Belastung getrennt, mit der der Arbeitsbegriff assoziiert wird. Gegen eine solche Banalisierung der Haushaltsarbeit können komplexe Konzepte wie Wohlfahrtsproduktion,7 Analyse symbolischer Praktiken oder Soziale Konstruktion des Alltags herangezogen werden, die den Fokus auf die ökonomisch-finanziellen und organisatorischen Dimensionen der Haushaltsführung bzw. auf die sinnstiftenden und ästhetischen Dimensionen des Lebensstils legen. Mit diesen Ansätzen kommen die kulturellen und interaktiven Seiten der Haushaltsführung und damit der Arbeit in den Blick. Nützlich für die Analyse der Arbeitsteilung ist darüber hinaus das Konzept der Alltäglichen Lebensführung, in dem die Haushaltsführung einen eigenen Stellenwert in der „Arbeitsteilung auf der Ebene der Person“ hat (vgl. Voß 1991: 376-378; sowie die Beiträge in Jurczyk/Rerrich 1993 und in Projektgruppe 1995).
6
„Zusammenfassend könnte man sagen: Der Haushalt ist immer dort gefragt, wo die Transformation von Bedürfnissen in einen marktförmig oder staatlich definierten Bedarf und ein entsprechendes marktliches oder staatliches Angebot nicht gelingt.“ (Ostner 1988: 59). 7 Auch der vom Statistischen Bundesamt für die Analyse der Zeitverwendung benutzte Begriff der Haushaltsproduktion umfasst planerische, erzieherische und pflegerische Tätigkeiten sowie Nachbarschaftshilfe (vgl. Schäfer 2004: 250).
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Private Arbeit im Haushalt Die private Arbeit ist von einer Tätigkeitsvielfalt geprägt, in der kommunikative und technisch-instrumentelle Anteile schwer zu trennen sind. Daher ist die gängige Begriffsbestimmung zu erweitern und die Trennung von instrumentellen und kommunikativen Anteilen zu überwinden. Die Verbindung von technisch-instrumenteller, an Rationalität orientierter Arbeit, mit nicht-rationalen – das heißt hier an Werten, Gefühlen und Beziehungen8 orientierten – Handlungsformen ist ein Grund dafür, dass die Erweiterung des Arbeitsbegriffs auf Hausarbeit relativ neu ist. Bei einer arbeitssoziologischen Analyse des Haushalts als Arbeitsort darf jedoch diese Seite, die auf die sozio-kulturelle Einbindung der Lebensführung zurückgeht, nicht übersehen werden. Typologisch handelt es sich bei privater Haushaltsarbeit sowohl um ‚Selbstsorge‘ im Sinne von Eigenarbeit9 wie auch um Sorge für Andere. Die meisten Tätigkeiten sind auch auf die Gestaltung und Stabilisierung privater Beziehungen gerichtet. Das gilt auch für viele Arbeitsvollzüge in Ein-Personen-Haushalten. Sorge für Andere ist – wie die Eigenarbeit – keine Dienstleistung. Haushaltsarbeit kann daher auch als in symbolisch vermittelte Vorstellungen vom ‚richtigen Leben‘ eingebundene Tätigkeit bzw. als emotional und normativ verankerter Habitus gesehen werden. Hier zeigen etwa die Studien von J. Claude Kaufmann (vgl. dazu Abschnitt 3.2), welch weit reichenden subjektiven Sinn die Erledigung bestimmter Dinge im Haushalt haben kann. Haushaltsarbeit wird daher im Folgenden als die Gesamtheit derjenigen Tätigkeiten definiert, die der Befriedigung der physischen, kulturellen, sozialen und emotionalen Bedürfnisse der Haushaltsmitglieder und der organisatorischen Gewährleistung ihres Zusammenlebens dienen. Damit kommen auch personale Bindungen und wechselseitige Unterhalts- und Sorgeansprüche sowie -verpflichtungen in den Blick. Die sozialwissenschaftliche Frauenforschung hat für diesen Zusammenhang von Fürsorgearbeit, Bindung und Verpflichtung den Begriff „care“ geprägt (Tronto 1996; Waerness 2000; Glenn 2000; vgl. auch die Beiträge in Pfau-Effinger/Geissler 2005). Bei dem auf die Sorge fokussierten Blick wird jedoch die instrumentelle Seite der Arbeit tendenziell vernachlässigt. Die von den Haushaltsmitgliedern selbst erledigte Arbeit ist von erwerbsförmiger Arbeit im und für den Haushalt zu unterscheiden. Personen- und haushaltsbezogene Dienstleistungen sind eine inzwischen schnell wachsende Branche. Hier entstehen Angebote für die technischen Anteile der Haushaltsarbeit sowie private Sport- und Freizeit-Dienstleistungen, kommerzielle Erziehungs- und Familienberatung und Anderes. Vor allem in dem tendenziell wachsenden Sektor der Kinderbetreuung behindern rechtliche Hürden die Entstehung eines breiten kommerziellen Angebotes (vgl. Geissler 2002b).
8 „Kriterien der Zugehörigkeit, Gefühle der Zuneigung und Normen sozialer Verpflichtungen haben… Priorität vor ökonomischen Tauschbeziehungen“ schreibt Wolfgang Glatzer (2001: 296) in seiner Definition des Haushalts. Vgl. auch Geissler 2003. 9 Durch die Einbeziehung von Eigenarbeit wird ein gegenüber der amtlichen Statistik erweiterter Begriff der Haushaltsarbeit verwendet; zum sog. „Drittpersonenkriterium“ vgl. Statistisches Bundesamt 2004: 249-250. Erwerbsarbeit für einen externen Arbeit- oder Auftraggeber, die in der eigenen Wohnung erledigt wird, ist keine Haushaltsarbeit.
Haushaltsarbeit und Haushaltsdienstleistungen
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Haushaltsbezogene Dienstleistungen Haushaltsdienstleistungen sind Erwerbstätigkeiten in technisch-instrumenteller Haushaltsarbeit, in Kinderbetreuung und Pflege, die einen Bezug zum Haushalt haben und von Haushalten nachgefragt werden. Dabei ist die private Wohnung oft, aber nicht immer der Arbeitsort. Dienstleistungen im Haushalt selbst sind demnach Arbeiten in den Bereichen Reinigung und Alltagsorganisation (einschließlich einkaufen und kochen), individuelle Kinderbetreuung, häusliche Alten- und Krankenpflege. Beispiele für Haushaltsdienste, die nicht im Haushalt selbst (aber für Haushalte) erbracht werden, sind Nachhilfeunterricht, Nachmittagsbetreuung und Fahrdienste für Schüler, die Betreuung von Kindern durch eine Tagesmutter, Hausmeister- und Reparaturdienste oder Essen-Bring-Dienste.10 Die Dienstleistungen können sowohl in staatlicher (z.B. kommunaler) Trägerschaft, in der Trägerschaft von Verbänden und anderen Non-Profit-Organisationen als auch in privatwirtschaftlicher Form – von Betrieben und Einzelpersonen – erbracht werden. Sie sind abgrenzbar von sozialen Dienstleistungen, etwa im Gesundheitswesen und in der sozialen Arbeit. Sie sind auch von ehrenamtlicher Arbeit und Nachbarschaftshilfe abzugrenzen. Angesichts der neuen Aktualität von Dienstleistungen für Haushalte sollte nicht vergessen werden, dass nur ein geringer Anteil der Privathaushalte in den letzten Jahrzehnten solche Dienste in Anspruch genommen hat. Die Verkleinerung der Familien und die Technisierung des Alltags verringerten den Umfang der technischen Haushaltsarbeit und die wahrgenommene Belastung. Letztlich schien auch die unbezahlte Arbeit der Hausfrau ein Relikt, Ausdruck einer vormodernen Lebensweise. Entgegen dieser Einschätzung ist in fast allen westlichen Ländern neben dem formellen Arbeitsmarkt für personenbezogene Dienste inzwischen ein ausdifferenzierter Arbeitsmarkt für haushaltsbezogene Dienste entstanden. Nach dieser Einführung in verschiedene Sichtweisen auf den privaten Haushalt und auf Haushaltsarbeit werden im Abschnitt 2 feministische Theorien zur Arbeit im Haushalt sowie die Hauptlinien sozial-ökonomischer und haushaltswissenschaftlicher Ansätze vorgestellt. In Abschnitt 3 geht es um Wandel und Funktionserweiterung des Haushalts als Ursache für die Entstehung neuer Aufgaben und Anforderungen an die Arbeit im Haushalt sowie um eine Analyse privater Haushaltsarbeit als Interaktionsprozess, welcher mit einer spezifischen – an personalen Bindungen und Unentgeltlichkeit orientierten – Handlungslogik verbunden ist. Anschließend wird der Stand der Forschung zum informellen Arbeitsmarkt für Haushaltsdienstleistungen und zu den dort herrschenden Arbeitsbedingungen referiert. Abschnitt 4 stellt die prekäre Verbindung zweier Handlungslogiken in den Haushaltsdienstleistungen vor; abschließend wird die These der Ökonomisierung des privaten Haushalts diskutiert.
10 Eine so weite Bestimmung von Haushaltsdienstleistungen liegt neueren empirischen Studien zu diesem Thema zugrunde. Das gilt für die Zeitbudgetstudie (Schäfer 2004), für die aktuelle Untersuchung der Nachfrage nach Haushaltsdienstleistungen (Geissler/Bergmann/Pohlheim 2008) wie auch für die Studie zu „familienunterstützenden Dienstleistungen“ (FamilienForschung 2008 – im Auftrag des BMFSFJ). Der Einzelhandel wird – in Übereinstimmung mit der üblichen sektoralen Gliederung des Arbeitsmarkts – nicht zu den Haushaltsdienstleistungen gerechnet. Die in diesem Sektor früher vorhandenen Elemente der Unterstützung von Haushaltsarbeit sind fast völlig abgebaut worden.
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Entwicklungslinien und Wissensbestände: Gesellschaftliche Funktion von Haushaltsarbeit
Haushalt und Familie stehen in liberalen Gesellschaften nicht nur als das ‚Andere‘ der wirtschaftlichen Sphäre von Produktion und Einkommenserzielung gegenüber; sie sind auch als der gegenüber Öffentlichkeit und Politik abgeschottete Raum privater Häuslichkeit11 institutionalisiert. „In liberalen Gesellschaften hat das Private die Funktion, ein autonomes Leben zu ermöglichen und zu schützen.“ (Rössler 2001: 10) Der Begriff der liberalen Gesellschaft bezeichnet hier diejenigen modernen Gesellschaften, in denen alle Bürgerinnen und Bürger verfassungsmäßig verbriefte Freiheits- und Partizipationsrechte genießen. Die traditionelle liberale Theorie interessiert sich nur für diese Rechte als Grundlage wirtschaftlicher und politischer Aktivität; die private Versorgung der Bürger wird einfach unterstellt. Daher „kann sie die öffentliche Sphäre als unbelastet von diesen Problemen konzeptualisieren.“ (Rössler 2001: 55) Dabei wird ‚vergessen‘, dass im Haushalt gearbeitet wird und diese Arbeit wirtschaftlich und sozial relevant ist. 2.1
Frauenforschung und feministische Theorie zur privaten Haushaltsarbeit
Die Kritik der Arbeitsteilung als einer wesentlichen Dimension der Geschlechterverhältnisse stand am Beginn der internationalen Frauenbewegung der 1970er Jahre, und sowohl die Unsichtbarmachung und Missachtung von Hausarbeit als Arbeit wie auch die damit einher gehende gesellschaftliche Abwertung der Frauen12 und ihre Marginalisierung im Erwerbssystem stellte ein zentrales Thema der entstehenden sozialwissenschaftlichen Frauenforschung dar (vgl. Oakley 1978; Ostner 1978; Eichler 1978; Kontos/Walser 1979; Kickbusch 1987; Hofbauer/Pastner 2000). Die frühe Frauenforschung betonte den strukturellen Zusammenhang von unbezahlter Haushalts- und Familienarbeit, kapitalistischer Produktionsweise und Benachteiligung von Frauen im Arbeitsmarkt.13 Diese Forschungsansätze formulierten das Problem bereits in internationaler Perspektive und waren international vernetzt.14 Die durchweg unqualifizierte und schlecht bezahlte Erwerbsarbeit von Frauen wurde als dem Kapitalismus immanente Ausbeutungsstrategie interpretiert; diese und andere Studien analysierten daher gezielt die „Frauenstrategien“ (Kramer u.a. 1986) zur Überwindung frauendiskriminierender Strukturen. Für eine theoretische Deutung der geschlechtlichen Arbeitsteilung gab es in der soziologischen Theorietradition so gut wie keine Vorarbeiten. Im Feminismus der 1970er Jahre 11
Vgl. die historisch-systematische Darstellung der Entwicklung von Familie und Privatheit bei Klinger 2000. Vgl. zur Soziologie der „nichterwerbstätigen Hausfrau“ Helge Pross 1975. 13 Eine frühe Studie zur Erwerbs- und Haushaltsarbeit von Frauen legten Christel Eckart, Ursula G. Jaerisch und Helgard Kramer 1979 vor; Kramer 1981 analysiert Hausarbeit als tayloristische Arbeit. Etwa zeitgleich entwickelte Ursula Beer 1984 eine Theorie der Arbeitsteilung. In ganz anderer (ökonomischer) Perspektive untersuchten Berger-Schmitt und Glatzer 1986 die „alltäglichen Leistungen der Familien und Haushalte“. 14 Das gilt für die feministische Theoriebildung und für die Forschung zum Frauenarbeitsmarkt bis heute. Dabei wirkte sich die Nähe der Frauen- und der Dritte-Welt-Bewegung als soziale Bewegungen aus: „Im Bielefelder (Subsistenz-)Ansatz wird diese zentrale Erkenntnis der Hausfrauendebatte, dass die Hausarbeit eine wesentliche Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise darstellt, radikalisiert. Die diesen Ansatz vertretenden Autorinnen (…) verbinden die Frauenfrage mit der Dritte-Welt-Frage (und später mit der Ökologiefrage).“ (Baier 2004: 729). Vgl. v. Werlhof 1978; Mies 2001. 12
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wurde die Zuständigkeit der Frauen für Haushaltsarbeit als Ausdruck (verinnerlichter) privater und gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse – der Macht ‚der‘ Männer über ‚die‘ Frauen – analysiert. Differenzierte historisch und international vergleichende Analysen machten die Grenzen dieses Ansatzes deutlich. So wurden angesichts der unterschiedlichen Ausprägung der Arbeitsteilung in verschiedenen Wohlfahrtsstaaten seit Beginn der 1990er Jahre institutionalistische und kulturalistische Ansätze zum Wohlfahrtsregime (EspingAndersen 1990; O’Connor 1996; Duncan/Pfau-Effinger 2000) erklärungsrelevant. In diesem Kontext wird die Forderung nach einer geschlechterneutralen Arbeitsteilung (auch) an den Staat und an Wirtschaftsorganisationen adressiert.15 Für die neuere konstruktivistische Theorie des Doing Gender ist die Zuständigkeit der Frauen für Haushaltsarbeit und Sorge ein Element der sozialen Konstruktion von Weiblichkeit (vgl. Gildemeister 1992).16 So kann wie die Familie auch der Haushalt als der Bereich gelten, „in dem Geschlechterdifferenz quasi ‚naturwüchsig‘ verankert“ ist (Gildemeister u.a. 2003: 400). Sie wird konstruiert über Mechanismen, „die im Hintergrund wirken“ – über Interaktion als „Hauptmechanismus“ (Heintz 2003: 215). Die Alltäglichkeit der hausarbeitsvermittelten habitualisierten Interaktion trägt demnach zur Stabilität der Arbeitsteilung bei – und ist eine Quelle der „Illusion der Emanzipation“ (Koppetsch/Burkart 1999). Erst Frauenbewegung und Frauenforschung seit den 1970er Jahren brachten die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz von Haushaltsarbeit und nach dem Arbeitscharakter der Sorge für Andere auf die Agenda von Wissenschaft und Politik. Zugleich wurde das private Abhängigkeitsverhältnis nicht erwerbstätiger Frauen thematisiert: „Die Übernahme von Versorgungs-, Pflege- und Erziehungsaufgaben im privaten Bereich suggeriert einerseits Autonomie und Freiheit und zwingt andererseits doch zur permanenten Anpassung und Abhängigkeit von den Erwerbsbereichen und Bildungsinstitutionen, in denen Ehepartner und/oder Kinder tätig sind.“ (v. Schweitzer 1988: 138) In Kritik am marxistischen Zugang, der Haushaltsarbeit zur unproduktiven Tätigkeit erklärte, die durch gesellschaftlichen Fortschritt überflüssig werden würde, entwickelten sich die Grundlagen für eine Theorie der Hausarbeit. Das zentrale Stichwort war das der gesellschaftlich notwendigen Arbeit. Die private Arbeit wurde als Voraussetzung der Freisetzung des Mannes für Lohnarbeit erkannt. Haushaltsarbeit und Erwerbsarbeit sind demnach komplementär zueinander, und die geschlechtliche Arbeitsteilung im Privaten ist ein strukturierendes Element der gesellschaftlichen Reproduktion (vgl. u.a. Ostner 1978; Beer 1984). Nachhaltig erfolgreich war die feministische Kritik des erwerbszentrierten Arbeitsbegriffs sowie die Kritik der Naturalisierung, die die Befähigung zur Hausarbeit und zur Sorge für Andere (vor allem für Kinder) als angeborene weibliche Eigenschaft postuliert. Diese Kritiken haben zur De-Legitimierung des Lebensmodells der Hausfrau beigetragen. Im öffentlichen Diskurs zu Haushaltsarbeit und Kinderbetreuung wird heute nur noch selten von einer naturgegebenen Verbindung von Weiblichkeit und häuslicher Sorge ausgegangen.17
15
Die kurze Zeit populäre Forderung nach „Lohn für Hausarbeit“ (dalla Costa/James 1973) war nicht zuletzt wegen des fehlenden Adressaten wenig erfolgreich. 16 Dieses Konzept wurde indirekt auch durch historische Studien zu Alltagspraktiken von Frauen vorbereitet; sehr instruktiv und gut lesbar ist etwa die Studie von Barbara Orland 1991 zum Wäsche waschen. 17 Als Übergangstheorem kann die Annahme eines (in der Sozialisation erworbenen) „weiblichen Arbeitsvermögens“ gelten, das für Familienarbeit wie für spezifische Frauenberufe nützlich ist (Ostner 1978). Dieser Ansatz wurde in der feministischen Theoriedebatte der 1980er Jahre überwiegend kritisch diskutiert.
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Birgit Geissler Wirtschafts- und haushaltswissenschaftliche Ansätze
Im wirtschaftswissenschaftlichen Ansatz der „new home economics“ 18 zur Analyse der Haushaltsökonomie steht die (Haushalts-)Nutzenfunktion im Mittelpunkt. Es wird angenommen, dass Frauen und Männer als wirtschaftlich aktive Akteure nicht vollkommen gleiche Anlagen, Qualifikationen und Neigungen haben; daher unterscheiden sie sich auch im Hinblick auf die Effizienz bei der Haushaltsproduktion bzw. bei der Erzielung von Erwerbseinkommen. Zum Verständnis der Arbeitsvollzüge trägt dieser Ansatz wenig bei; er orientiert sich konzeptionell am Begriff des Humanvermögens und am Tauschverhältnis. In diesem Ansatz begründet die Spezialisierung eines Haushaltsmitgliedes (der Frau) auf Haushaltsarbeit die Rationalität der geschlechtlichen Arbeitsteilung (Becker 1991). Ein soziologischer Zugang muss demgegenüber unterschiedliche Muster der Arbeitsteilung und die sachliche Komplexität der Aufgaben und der geleisteten Arbeit ebenso berücksichtigen wie ihre Einbettung in rechtlich-institutionelle Kontexte und in unterschiedliche (schicht- und generationengebundene) Formen der Lebensführung sowie Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster. Der subjektive Stellenwert von Haushaltsarbeit und die Alltagspraktiken variieren entlang kulturell fundierter Deutungsmuster von Privatheit, Familienleben und Erwerbsarbeit, von Geschlechterverhältnis und Lebenslauf. Neuere haushaltswissenschaftliche Theorien sind in diesem Sinne soziologisch anschlussfähig. Sie transzendieren sowohl die ökonomische Perspektive wie den arbeitswissenschaftlichen und berufspädagogischen Blickwinkel der klassischen Haushaltswissenschaft, welche Haushaltsarbeit unhinterfragt als (Berufs-)Arbeit von Frauen konzipierte und zugleich die Interaktionsdimension vernachlässigte. Soziologisch interessant sind auch Studien zur Produktion von kulturellem Kapital im Haushalt (vgl. Meier 1995), zur Technisierung des Haushalts (vgl. Schemenau 2000; Meyer u.a. 2001) sowie zur Interdependenz von Haushalt, Institutionen und Märkten (vgl. Richarz 2000). In solchen Studien werden konsumtive und produktive Aspekte des Haushalts verknüpft, und dieser wird gleichzeitig als Teil sozialer Netzwerke und Institutionen definiert. So reflektieren etwa die Analysen zur „neuen Hausarbeit“ (Thiele-Wittig 1987) den Einzug neuer Technologien im Haushalt, neue Haushaltsformen und Zeitstrukturen und die Vielfalt der Außenbeziehungen von Haushalten. Die klassische Haushaltswissenschaft (z.B. Kutsch/Piorkowsky/Schätzke 1997) stellte demgegenüber die instrumentell-technische Dimension der Haushaltsarbeit sowie die naturwissenschaftliche Fundierung der Ernährung in den Mittelpunkt. Ihre Forschungs- und Ausbildungsschwerpunkte richteten sich auf die organisatorische Rationalisierung der Haushaltsarbeit.19 Erst neuerdings wird im Anschluss an die sozialwissenschaftliche Frauenforschung der 1970er Jahre auch auf die Bedeutung der psychischen Reproduktionsarbeit hingewiesen (so schon Thiele-Wittig 1987). Deutlich wird insbesondere in den neueren Ansätzen,20 dass Haushaltsarbeit keine „geschichtslose Naturkonstante“ (Resch 1991; 1999), sondern in weitere soziale Kontexte eingebunden ist. Der Haushalt umfasst sowohl
18 Verschiedene Aspekte des ökonomischen Ansatzes werden behandelt in Richarz 1997; Ott 1997; Piorkowsky 2003 und Maier 2006: 146-147. Ein interessanter neuer Ansatz (Schaffer 2006) bezieht in die Berechnung des Bruttoinlandsprodukts die hauswirtschaftliche Produktion mit ein – als ,Gender-BIP‘. 19 Diese Ansätze wurden unterschiedslos auf die Arbeit von Hausfrauen als auch auf die von Hauswirtschafterinnen angewandt. 20 Vgl. dazu auch die Beiträge in Methfessel/Glatzer 1994 sowie die Publikationen in der Schriftenreihe „Der private Haushalt” im Campus Verlag.
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„die Personen mit ihren sozialen Beziehungen als auch die Subsistenz, den Lebensunterhalt und die Einordnung ins Gemeinwesen“ (Richarz 2000: 18).
3
Neue Entwicklungen und Konzepte: Interaktionsarbeit und Haushaltsdienstleistungen
Mit der Modernisierung der Lebensführung und mit dem sozialstrukturellen Wandel der Haushalte verändert sich auch die Haushaltsarbeit. Die technisch-instrumentellen Arbeitsanteile werden zunehmend als Belastung empfunden und daher zum Teil an Dienstleister delegiert. Zugleich gewinnen die organisatorischen und kommunikativen Anteile an Bedeutung. Mit der Entdeckung dieser interaktiven Seite wird Haushaltsarbeit auch für die Soziologie interessant. 3.1
Funktionserweiterung des Haushalts und Arbeitsteilung
Als neuere soziologische Analysen des Haushalts und der Haushaltsarbeit sind zunächst Forschungen zum Wandel der Bevölkerungsstruktur und der Lebens- und Haushaltsformen zu nennen.21 Dieser Wandel ist statistisch dokumentiert, hervorzuheben ist hier insbesondere die sinkende Durchschnittsgröße sowie die Zunahme von Haushalten ohne Kinder. So ist von 1961 bis 2004 der Anteil der Drei-Personenhaushalte von 22,6% auf 13,8%, und der Anteil der Haushalte mit vier und mehr Personen von 30,3% auf 14,8% gesunken.22 Dieser Strukturwandel manifestiert sich zum einen in der Zunahme nicht-familialer Haushaltsformen; hier sind insbesondere Einpersonenhaushalte,23 Wohngemeinschaften und Paarhaushalte ohne Kinder, in denen beide Erwachsene erwerbstätig sind,24 zu nennen. Relevant ist zum anderen die Zunahme nicht-traditionaler Lebens- und Haushaltsformen. Bei Alleinerziehenden und Patchwork-Familien ist oft die Einbindung von Kindern in mehrere Haushalte anzutreffen. In solchen Haushalten entstehen andere und zusätzliche Anforderungen an Haushaltsorganisation und private Arbeit im Haushalt – etwa Zeitplanung über mehrere Wochen hinweg, Absprachen und Transporte.25 Zum Strukturwandel des Haushalts trägt auch bei, dass das Modell einer weiblichen Lebensführung, die um die Sorge für Andere gravitiert, keine Geltung mehr hat (vgl. Geissler/Oechsle 1996; DJI/Cornelißen 2002).26 Das Familienleitbild der jüngeren Generationen 21
Zur Haushaltszusammensetzung zwischen 1871 und 1991 in Deutschland vgl. Franz-Xaver Kaufmann 1995. Daten des Statistischen Bundesamtes (destatis), Abruf Nov. 2007. 23 Die wachsende Zahl von Ein-Personenhaushalten geht auch auf die Alterung der Gesellschaft zurück. 24 Weitere Differenzierungsformen sind: Haushalte gleichgeschlechtlicher Paare, Living-apart-together, doppelte Haushaltsführung mit pendeln zwischen Arbeits- und Lebensort. 25 Siehe dazu auch die Forschung zur Modernisierung der Kindheit. Mit den innovativen Folgen neuer Haushaltsformen, der Technisierung des Alltags, dem steigenden Lebensstandard, dem Wandel des Konsums und der Mobilität hat sich auch die Haushaltswissenschaft befasst: Thiele-Wittig 1992 und die Beiträge in Gräbe 1995; Meier 1997. 26 „Die Definition einer ,guten Mutter‘ war bis in die 1970er Jahre fast synonym mit dem Leitbild einer ,guten Hausfrau‘. Das Versorgen eines Kindes mit Nahrung und Kleidung und die Führung eines Familienhaushalts haben nicht zuletzt durch die Mütter selbst einen Bewertungswandel erfahren. Junge Frauen mit Kindern beziehen sich in ihrer Entwicklung von Identität und Selbstverständnis nicht mehr auf das traditionelle Leitbild der Haus22
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ist von der Berufstätigkeit beider Partner geprägt; vielfach wird eine gleichheitsorientierte Lebensführung mit kontinuierlicher Erwerbsarbeit beider Partner (ggfs. mit einer kurzen Elternzeit) angestrebt. Die seit den 1970er Jahren sich verbreitende „modernisierte Versorgerehe“ (Pfau-Effinger/Geissler 1992: 366-367), bei der der Mann in Vollzeit, die Frau in Teilzeit erwerbstätig ist, ist als Kompromiss zwischen institutionellen Constraints und modernen Gleichheitsvorstellungen – als neues ‚Normalitätsmodell‘ – zwar gesellschaftlich konsensfähig. Da mit diesem Familienmodell unterstellt wird, die Haushaltsarbeit werde weiterhin nebenher erledigt, wird es jedoch inzwischen von vielen Frauen nicht mehr akzeptiert. Die Beschäftigung von Dienstleister/innen ist vor diesem Hintergrund nur eine von mehreren Strategien, die jüngere Frauen mit dem Ziel der „Modernisierung der Fürsorglichkeit“ (Diezinger/Rerrich 1998) heute verfolgen. Die weiter steigende Erwerbsbeteiligung der Frauen ist ein entscheidendes Element des sozialen Wandels, das inzwischen Eingang in die Theoriebildung findet. So widmet Gösta Esping-Andersen in seinem europäischen Vergleich der „postindustrial economies“ auch der „household economy“ ein Kapitel, das er mit dem Hinweis auf die ökonomische und soziale Bedeutung der kollektiven ‚Entscheidung‘ von Frauen „to transform themselves from housewives to workers“ (Esping-Andersen 1999: 47) einleitet. Im Wandel der Geschlechtsrollen und der Muster der Arbeitsteilung entstehen neue Anforderungen an die Alltagsorganisation und die vom privaten Haushalt erbrachten Leistungen (vgl. auch SOEB-3: 2004). Für die Analyse der Arbeit im Haushalt ist zudem die Technisierung der Haushaltsausstattung,27 die Verbreitung internetgestützten Konsums sowie die zunehmende Inanspruchnahme von Dienstleistungen relevant. Ungeachtet des Wandels der Lebensführung erfüllen Haushalt und Haushaltsarbeit weiterhin zentrale gesellschaftliche Funktionen, wenn auch in veränderter Form. Der Haushalt hat neue Funktionen hinzu gewonnen und gibt überkommene Funktionen ab.28 Zusammenfassend geht es um folgende Prozesse:
Die Anforderungen an die Erfüllung der herkömmlichen sozialen Integrationsfunktion nehmen zu. Im Zuge intensivierter betrieblicher Nutzung aller Kompetenzen des Individuums in der Erwerbsarbeit und neuer wohlfahrtsstaatlicher Strategien der Einbeziehung aller Erwerbsfähigen in den Arbeitsmarkt wird der Haushalt als Regenerationsraum zunehmend wichtiger. Mit steigenden Ansprüchen an ,Lebensqualität‘ erweitern sich die Aufgaben und Tätigkeitsfelder im Haushalt.29 Die Wechselbeziehung zwischen Erwerbsarbeitszeit und Zeit für die Haushaltsführung wird enger. Im Zeitvergleich 1991-2001 hat sich das Zeitbudget für die private Haushaltsarbeit etwas verringert, während die Erwerbsarbeitszeit pro Woche bei den Frauen steigt. Die Muster der Arbeitsteilung vervielfältigen sich entlang von Alter und Bildungsniveau: Bei jüngeren Paaren ist die Hausarbeit eher egalitär aufgeteilt. Je länger die
frau, sondern auf das einer ,modernen‘ Mutter, die sich inzwischen eher über Kinder als über den Haushalt definiert.“ (Kortendiek 2004: 386). 27 Neuere Beiträge zur Technik im Haushalt in: Zeitschrift für Familienforschung Heft 3-2000. 28 In der Theorie gesellschaftlicher Differenzierung wird angenommen, dass mit der Herausbildung neuer Funktionssysteme (Dienstleistungswirtschaft, Bildungs- und Gesundheitswesen) diese den Haushalt von Aufgaben entlasten, die sie z.T. in professionalisierter und z.T. in vermarktlichter Form übernehmen. 29 Zum Beispiel: ökologisches Recycling, Geräteprogrammierung, Chauffieren der Kinder, Urlaubs- und Freizeitplanung (vgl. Thiele-Wittig 1987, 1992).
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Partnerschaft dauert, umso traditioneller wird die Verteilung, unabhängig von der Lebensform. Zugleich wird ein traditionalisierender Effekt von Kindern beobachtet (vgl. Huinink/Steinbach/Röhler u.a. 2000: 23-24). Da immer mehr Erwerbstätige den eigenen Haushalt als (zusätzlichen) Arbeitsort nutzen, verlagern sich berufliche und Netzwerkaktivitäten in den Haushalt. Der Alltag mit Kindern wird komplexer; damit entsteht ein steigender Bedarf an Dienstleistungen zur Kinderbetreuung, der auch zunehmend artikuliert wird (vgl. Geissler/Bergmann/Pohlheim 2008).
Dies sind Anzeichen für eine Funktionserweiterung des privaten Haushalts. Umbrüche im Geschlechterverhältnis spielen hierbei eine ebenso große Rolle wie demografische Veränderungen, gewandelte Familienstrukturen und neue Erwerbsformen, das gestiegene Niveau der Lebenshaltung und neue Zeitstrukturen.30 Dabei wird die Art und Weise, wie private Haushaltsarbeit und Dienstleistungen in die Lebensführung integriert werden, zunehmend als bewusster Ausdruck eines Lebensstils, als kulturelle Praxis wahrgenommen. Vielfach kann von einer „Stilisierung“ des Alltags gesprochen werden (vgl. Voß 2000). 3.2
Private Haushaltsarbeit als komplexer Arbeits- und Interaktionsprozess
Private Haushaltsarbeit ist äußerst vielfältig: produzierend, konsumierend, gestaltend, organisierend. Während die Produktion langlebiger Güter für den Eigenverbrauch stark zurück gegangen ist, bestimmen zunächst konsumbezogene (sich informieren und einkaufen, lagern und aufbereiten von Waren) und produktive Arbeiten (kochen, nähen, dekorieren) den Alltag. Parallel dazu stehen eher reproduktive, Ordnung wiederherstellende Tätigkeiten an (putzen, waschen, bügeln, Geschirr spülen, aufräumen, reparieren, entsorgen). Diese Arbeiten werden hier – ungeachtet ihrer zugleich körperlich-sinnlichen Qualität – als „technischinstrumentelle“ Haushaltsarbeit bezeichnet. Dazu komplementär sind verschiedene Formen kommunikativer Haushaltsarbeit: die Organisation des Alltagslebens, die Pflege verwandtschaftlicher und nachbarschaftlicher Kontakte, die Vorbereitung von Festen und Reisen, die Ausgabenplanung. Mit diesen Tätigkeiten (wie auch mit der instrumentellen Arbeit) zeitlich und sozial untrennbar verbunden ist die Betreuung und Erziehung von Kindern. Traditionell findet im Haushalt auch die Sorge für kranke und pflegebedürftige Verwandte statt. Häufig verkannte Merkmale von Haushaltsarbeit sind daher die ständige Verfügbarkeit, die Gleichzeitigkeit technischer und kommunikativer Arbeiten und die häufige Unterbrechung von Tätigkeiten. Zum Verständnis des Arbeitscharakters von Haushaltsarbeit sind Ansätze der Dienstleistungsforschung hilfreich, die Handhabung, Interaktion und Symbolanalyse (Einsatz theoretischen Wissens) als Tätigkeitsdimensionen unterscheiden (Jacobsen 2008). Für die Analyse der privaten Haushaltsarbeit wie der Haushaltsdienstleistungen sind vor allem die Dimensionen Handhabung und Interaktion relevant; bei den technischen Tätigkeiten dominiert offenbar die immer wiederkehrende Handhabung von Gegenständen und Stoffen, während Arbeit in anderen Bereichen von personaler Interaktion geprägt ist. (Über den Status theoretischen Wissens in der alltäglichen Arbeit ist bisher wenig bekannt.) 30 Beschleunigung, Verdichtung und Desynchronisierung werden als europäische Zeittrends empirisch analysiert von Manfred Garhammer (1999), als Zeitdiagnose dargelegt von Hartmut Rosa (2005).
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Wegen der meist gleichzeitigen Ausführung technisch-instrumenteller wie kommunikativer Tätigkeiten ist Arbeit im privaten Haushalt ganz wesentlich Interaktionsarbeit. Im Unterschied zu konsum- und personenbezogenen Dienstleistungen (vom Einzelhandel über die Zugbegleiter bis zur Krankenpflege), für die in jüngster Zeit die Interaktionsdimension in der Arbeit empirisch untersucht wurde,31 geht es in privaten Arbeitskontexten nicht (nur) um zeitlich begrenzte und zweckgerichtete Interaktion, sondern um die Konstruktion und Sicherung personaler Bindungen und um die bewusste und unbewusste Bekräftigung normativer Haltungen und Einstellungen. In der Zeitdimension wie in der Dimension verinnerlichter Normen unterscheidet sich diese Interaktionsweise von der Interaktion in Erwerbsbezügen. Als Beispiele für Haushaltsarbeit, mit der solche Bindungen gefestigt und normative und kulturelle Standards rekonstruiert und weiter gegeben werden, können gelten:
Mahlzeiten und andere Alltagsroutinen organisieren, mit Kindern während der Haushaltsarbeit sprechen und Nachahmung anregen, eine Atmosphäre der Nähe entfalten, Familienrituale etablieren, Feste vorbereiten, Lernprozesse und Neigungen anderer Haushaltsmitglieder unterstützen, zum Funktionieren eines sozialen Netzwerkes (einschl. Funktionsträgern, z.B. Ärzten) beitragen, das Ordnungsniveau im Haushalt aufrecht erhalten (und einen entsprechenden Habitus bei Kindern und Jugendlichen fördern), andere Haushalts- und Familienmitglieder bei der Verfolgung ihrer Ziele und der Einhaltung ihrer Verpflichtungen praktisch unterstützen.
Analyse symbolischer Praktiken der Haushaltsarbeit Charakteristisch für die private Arbeit ist der geringe Formalisierungsgrad; wie regelmäßig, strukturiert und gründlich die (technisch-instrumentelle) Haushaltsarbeit erledigt wird, wie viel Zeit damit verbracht wird, welche Standards von Sauberkeit und Ordnung gelten, all das variiert beträchtlich. Der Versuch einer sozialstrukturellen Kategorisierung der Vielfalt der Arbeitsweisen und ihrer individuellen Deutung ist vergeblich; was für den Einen bereits als ordentliche Haushaltsführung gilt, mag von Anderen als an der Grenze zur Verwahrlosung eingestuft werden. Trotz des Fehlens objektiver Kriterien für ‚gute‘ Haushaltsarbeit geht es bei der soziologischen Analyse dieses Feldes nicht um individuelle Idiosynkrasien. Habitualisierte Praktiken in der privaten Arbeit tragen zur Entwicklung individueller Lebensstile, zur Konstruktion von Geschlechtsidentitäten und nicht zuletzt zur Festigung von Beziehungen bei. Wichtige Anstöße zum Verständnis der symbolischen Bedeutung solcher Praktiken kommen von mikrosoziologischen Studien zur Haushaltsarbeit.32 Sehr materialreich in dieser Hinsicht sind die ethnomethodologisch orientierten Studien zur Haushaltsarbeit von Jean Claude Kaufmann (1994; 2005). Er interessiert sich für Diskursstrategien, Gesten und Rituale, durch die sich Geschlechtsidentitäten in Paarbeziehungen im Alltag reproduzieren. Haushaltsarbeit wird dabei als routinisierte, inkorporierte Praxis interpre-
31
Vgl. Voswinkel 2005; die Beiträge in Böhle/Glaser 2006; Dunkel/Weihrich 2006; Weihrich/Dunkel 2007. Siehe hierzu auch den Beitrag von Wolfgang Dunkel und Margit Weihrich „Arbeit als Interaktion“ in diesem Band. 32 Indirekt tragen dazu Forschungen zu personenbezogenen Dienstleistungen bei (vgl. Rabe-Kleberg 1993).
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tiert, deren Vergabe an Dienstleister/innen das fragile Konstrukt einer harmonischen häuslichen Welt tendenziell zerstören würde (Kaufmann 2005: 109ff.).
Die Handlungslogiken der privaten Arbeit: personale Bindung und Unentgeltlichkeit Im Folgenden werden in Erweiterung der kulturalistischen Perspektive Überlegungen vorgetragen, die soziokulturelle Merkmale der Haushaltsarbeit und der Erwerbsarbeit einander gegenüber stellen; die Arbeit im privaten Lebenszusammenhang wird als explizit nicht (ökonomisch) rational gekennzeichnet. Es geht dabei nicht mehr um die symbolischen Funktionen haushaltsbezogener Praktiken; thematisiert wird vielmehr die Arbeit der Lebensführung (Voß 1991; Diezinger 2004) als Vermittlungsebene zwischen objektiven Lebenslagen und kulturellen Normen. Die hier vorgeschlagene Differenzierung von Logiken des Handelns kann – so die Hypothese – auch zum Verständnis der (vorbewussten) Verbindung von Weiblichkeit und Haushaltsarbeit und der besonderen Form, in der Haushaltsdienstleistungen erbracht werden, beitragen (vgl. dazu Abschnitt 4). In Folge der historischen Aufspaltung der Herstellung moderner Lebensbedingungen in marktvermittelte Wirtschaft auf der einen Seite und Haushaltsökonomie auf der anderen haben sich spezifische Handlungslogiken von Erwerbsarbeit und privater Arbeit ausdifferenziert, die auch kulturell verankert sind – in den sozialen Deutungsmustern zu Arbeit und Beziehungen (‚Liebe‘)33 und in den Geschlechterstereotypen. Arbeit in beiden Sphären hat als Ausgangspunkt die anthropologische Konstante der Angewiesenheit des Individuums auf die Kooperation mit Anderen. So schreibt Eva Senghaas-Knobloch (1999: 5) in Anlehnung an Adam Smith: „Arbeitsteilung entsteht ... auf der Grundlage ursprünglicher Angewiesenheit der Menschen aufeinander und ermöglicht (...) wachsenden Wohlstand.“ In der marktwirtschaftlichen Sphäre geht es um den Tausch von Gütern und Zahlungsmitteln bzw. differenzierten Arbeitsfähigkeiten. Angewiesenheit ist hier über Vertragsbeziehungen zwischen autonomen Marktteilnehmern vermittelt. Die private Lebensführung ist demgegenüber von existentieller Angewiesenheit auf Sorge, auf Unterstützung durch Andere (auch jenseits der Grenzen des eigenen Haushalts) geprägt. Jedoch erst in der Moderne mit der Trennung in Öffentlichkeit und Privatsphäre und mit der Zuordnung privater Wirtschaftstätigkeit zur öffentlichen Sphäre im Laufe des 19. Jahrhunderts ist die Erwerbsarbeit von „Sorge- und Treueverhältnissen wie von Sachleistungen bereinigt“ (Offe 2000: 495). Die wechselseitige Angewiesenheit der Menschen wird nun mit Schwäche und Abhängigkeit (Geissler 2002a) konnotiert und begrifflich in die private Sphäre verbannt. Diese diskursive Strategie hat weit reichende Folgen für die Wahrnehmung der Arbeit im Privaten. Während Wirtschaft und Erwerb mit Aktivität und Unabhängigkeit verbunden werden und terminologisch die Produktion und die Arbeit für sich ,pachten‘ können, wird der Haushalt zum Ort von Erholung, Freizeit und Konsum. Dass im Haushalt auch gearbeitet wird, ist heute allerdings nicht mehr umstritten. Erst die gemeinsame Betrachtung von Erwerbsarbeit und privater Arbeit unter dem Aspekt der Angewiesenheit stellt jedoch die Gleichrangigkeit her: als Interdependenz der gesellschaftlich-rationalen Arbeitsteilung in
33 In neuerer Zeit ist die Seite der Arbeit im Verhältnis von Arbeit und Liebe nicht systematisch bearbeitet worden. Angelika Krebs (2002) behandelt andere Aspekte des Themas.
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der sogenannten produktiven Sphäre mit der individuell-interaktiven ganzheitlichen Sorge im privaten Raum.34 Die im Folgenden auf Haushaltsarbeit bezogene Unterscheidung verschiedener Logiken des Handelns ist in sozialtheoretischen Ansätzen ausformuliert, so z.B. als ein, dem Geschlechterverhältnis eingeschriebenes, paradoxes Verhältnis von Autonomie und Bindung bei Jessica Benjamin (1990). Ohne auf die theoretischen Grundlagen dieses und anderer dualistischer Konzepte eingehen zu können, gibt doch die Zuschreibung von (Zweck)Rationalität und Autonomie zum öffentlichen Bereich und parallel der Erwartung uneigennützigen – ökonomisch irrationalen – Handelns in der Privatsphäre Aufschluss über mögliche Entwicklungsperspektiven von Haushaltsarbeit in unbezahlter und bezahlter Form. In heuristischer Absicht werden daher entlang des Schemas von Autonomie und Bindung unterschiedliche Handlungslogiken mit ihren jeweils dominanten – nicht exklusiven – Merkmalen bestimmt. Abbildung:
Handlungslogiken von Erwerbsarbeit und privater Arbeit35
ARBEIT im Erwerbssektor
PRIVATE ARBEIT im Haushalt
I DISTANZIERUNG Arbeitsleistungen für Arbeitgeber, Kunden und Klienten beruhen auf personaler Autonomie – ungeachtet des Beschäftigungsverhältnisses und der Statusunterschiede.
I BINDUNG Arbeitsleistungen für Partner/in, Kinder, Verwandte beruhen auf personaler Bindung und Empathie – ungeachtet der Frage, ob die Beziehungen frei eingegangen werden oder sozial zugewiesen sind.
II MONETARISIERUNG der Arbeit auf der Grundlage systematischer Messung der erbrachten Leistung. Kriterien für das Arbeitsentgelt werden vertraglich vereinbart.
II UNENTGELTLICHKEIT der Arbeit auf der Grundlage geteilter Normen über die Lebensführung oder auf der Grundlage informeller Aushandlung
In der alltäglichen Lebensführung muss das Individuum, das an Erwerbs- und Privatsphäre teilhat, die Handlungslogiken beider Sphären sowohl unterscheiden können als auch ihre Ähnlichkeiten und Beziehungen untereinander kennen. In der Erwerbsarbeit dominiert rationales Kalkül,36 während im Haushalt Alltagsroutinen, Erfahrungswissen, alltagsweltliche Deutungsmuster und soziale Normen des Zusammenlebens, z.B. Geschlechterstereotype, Erziehungsleitbilder, Reinlichkeitsstandards die Arbeit rahmen. Empathie fungiert hier als Oberbegriff für nicht-rationale Aspekte von Arbeit, in denen Erfahrungswissen und implizites Wissen relevant werden. 34
Diese Wechselbeziehung wurde schon in der frühen Frauenforschung mit dem Theorem der Freisetzung des Mannes für Lohnarbeit durch die Arbeit der Frau benannt, siehe Abschnitt 2.1. 35 Arbeitsweisen wie das Ehrenamt oder die Nachbarschaftshilfe, die die Unterscheidung von Distanzierung und Bindung diskursiv zu überwinden suchen und einer gemischten Handlungslogik folgen, bleiben hier ausgeklammert. 36 Die Logiken der privaten Arbeit strahlen in die Praxis und die Arbeitsbedingungen der sog. Frauenberufe aus; vgl. dazu Rabe-Kleberg 1999. Wie neuere empirische Studien zeigen, sind nicht-rationale Elemente des Handelns – etwa der Einsatz von Erfahrungswissen und implizitem Wissen – auch in männlich geprägten Erwerbsarbeitskontexten relevant. Siehe hierzu auch den Beitrag von Fritz Böhle „Arbeit als Handeln“ in diesem Band.
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Die erwerbsbezogenen Handlungslogiken Distanzierung und Monetarisierung sind – mit unterschiedlicher Reichweite für verschiedene Berufs- und Genusgruppen – in den erwerbsbezogenen Institutionen, das heißt im Arbeitsvertrag, in Arbeitsrecht und sozialer Sicherung, im Ausbildungssystem, in betrieblichen Anreizsystemen und in der Tarifordnung verankert. Diese Logiken erlauben innerhalb der notwendigen Kooperation in der Arbeit die Anerkennung divergierender Interessen (und bieten situativ Anknüpfungspunkte für nicht-rationale Elemente). Dagegen prägen davon abweichende Handlungslogiken der privaten Arbeit (Bindung und Unentgeltlichkeit) die persönlichen (Sorge-)Beziehungen und sind hier indirekt – in Arbeitsteilung und Geschlechterordnung (vgl. Klinger 2000) – institutionalisiert. Ein von diesen Logiken (wenn auch nicht ausschließlich) geprägtes Handeln in Hausarbeit, Pflege oder Erziehungsarbeit geht von normativ fundierten und interaktiv anerkannten Ansprüchen des ,Gegenübers‘ aus. Interessendivergenzen und zweckrationale Motive gelten als illegitim und ihre manifeste Äußerung wird unterdrückt. Während in der Erwerbsarbeit formalisierte Arbeitsvollzüge und Wissensbestände, einheitliche Ausbildungswege und Qualifikationsstandards dazu führen, dass die Arbeitskräfte grundsätzlich austauschbar sind, ist das im Privaten nicht der Fall. Private Arbeit ist beziehungs-, kontext- und erfahrungsgebunden. Grundlagen privater Arbeit mit und für Andere sind die gemeinsame private Geschichte und die kontinuierliche Interaktion. Persönliche Bindungen werden so im Alltagsleben auch durch Arbeitsvollzüge rekonstruiert. Die These der Komplementarität technischer und kommunikativer Seiten der Haushaltsarbeit wird damit bestätigt. 3.3
Haushaltsdienstleistungen
Mit dem Wandel der Lebensführung geht eine Vervielfachung und Ausdifferenzierung von Rollen und Verpflichtungen einher, in die die Haushaltsmitglieder eingebunden sind. Da zugleich eine egalitäre Arbeitsteilung nur in wenigen Haushalten realisiert wird,37 ergibt sich ein struktureller Bedarf an Dienstleistungen (vgl. Meyer u.a. 1999; Geissler 2002b).
Die neue Aktualität der Haushaltsdienstleistungen Der Privathaushalt wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit dem Rückgang der Dienstbotenbeschäftigung als ein schrumpfender Arbeitsmarkt mit vormodernen Strukturen betrachtet (Coser 1973). Entgegen dieser Einschätzung hat sich in fast allen westlichen Ländern am Ende des 20. Jahrhunderts aufgrund der Intensivierung und Flexibilisierung der Erwerbsarbeit und der Modernisierung der Lebenslagen jüngerer Frauen ein neuer Bedarf an Dienstleistungen für Haushalte ergeben.38 Frauen wird eine qualifizierte Berufstätigkeit
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Die Studie von Johannes Huinink, Anja Steinbach und Heiko Röhler (2000) gibt hierzu näheren Aufschluss: Eindeutige Männeraufgaben im Haushalt sind nach wie vor Reparaturen und Autopflege. Bedingungsfaktoren für die Verteilung der Hausarbeit zwischen Partnern sind Alter, Bildungsniveau der Partner, Berufstätigkeit der Frau, Vorhandensein von Kindern. 38 Die neuere Familienforschung zeigt, dass in Familienhaushalten Aushandlungen über die Lebensführung an der Tagesordnung sind. In der breiten Forschung zu nicht-traditionellen Familienformen, zum Strukturwandel der Kindheit, zur Durchsetzung verhandlungsorientierter Erziehungsstile und zur Vereinbarung Familie-Beruf wird
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und Selbstbestimmung über ihre Lebensführung grundsätzlich eröffnet, zugleich wird ihnen jedoch nach der Familiengründung die Haushaltsarbeit weiterhin abverlangt. Damit ist die sogenannte Vereinbarkeitsfrage nicht nur ungelöst geblieben – sie hat sich radikalisiert. Vor diesem Hintergrund hat sich eine öffentliche Debatte zum Privathaushalt als Arbeitsplatzreservoir entwickelt, die davon ausgeht, dass Aufgaben in den Markt verlagert werden.
Dies ist zum einen ein familienpolitischer Diskurs zur öffentlichen Unterstützung von Familien bei der Erfüllung ihrer Aufgaben und zur Förderung der Entwicklung von Kindern. Zum anderen wird in einem arbeitspolitischen Diskurs die Etablierung eines Teilarbeitsmarktes für gering qualifizierte Arbeitnehmer/innen angesprochen. Dafür sind verschiedene Modelle öffentlicher Förderung von Dienstleistungsangeboten (vgl. Weinkopf 2001; 2002; 2003) und zur steuerlichen Begünstigung der Beschäftigung von Dienstleistenden im privaten Haushalt aufgelegt worden. (In diesen Diskursen werden Art und Qualität der zu leistenden Arbeit nicht thematisiert.)
Die Nachfrage nach Haushaltsdienstleistungen Mit der Modernisierung der Lebensführung wandelt sich das Verhältnis des Haushalts zum Markt. Bisher unentgeltlich erbrachte Leistungen werden vermarktlicht, d.h. bisher privat oder vom Wohlfahrtsstaat erbrachte Leistungen unterliegen Marktmechanismen und werden damit zugleich rationalisiert und monetarisiert. Inwieweit private Haushalte Dienstleistungen nachfragen, ist jedoch bisher kaum bekannt. Eine der wenigen Quellen zur Inanspruchnahme von Haushaltsdienstleistungen ist das Sozio-ökonomische Panel; es zeigt, dass drei bis vier Millionen Haushalte mehr oder weniger regelmäßig Dienstleistungen (im wesentlichen Putzdienste) in Anspruch nehmen. Unbekannt ist, wie viele Personen diese Nachfrage bedienen. Im Haushalt sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind nur ca. 40.000 Personen (vgl. Schupp 2002; Schupp u.a. 2006; vgl. auch Seckauer/Weidenholzer 1999). Die politischen Initiativen zur Etablierung eines ‚Arbeitsmarktes Privathaushalt‘ unterstellen eine entsprechende Nachfrage: das heißt eine Bereitschaft der Haushalte, die propagierte neue Arbeitsteilung zwischen Haushalt, Markt und Staat zu akzeptieren. Dies ist jedoch nicht selbstverständlich, denn in Deutschland werden Dienstleistungen traditionell als zweitbeste Lösung gegenüber privater Haushaltsarbeit angesehen; vor allem die Sorge für sehr kleine Kinder soll demnach im geschützten privaten Raum stattfinden. Diese Einstellungen sind mit historisch gewachsenen familialen Werten verbunden und gehen auch auf die spezifisch deutsche Institutionalisierung (und Unterscheidung) staatlicher und familialer Aufgaben zurück. Damit enthält das Wohlfahrtsregime eine implizite Bestimmung des Öffentlichen und des Privaten. Haushaltsbezogene Dienstleistungen – von der Tagesmutter bis zur Putzhilfe – tangieren diese Definition der Grenzen von Privatsphäre und Öffentlichkeit (so schon Laura Balbo 1984). Dies ist ganz wörtlich zu nehmen: die Erledigung von Haushaltsarbeit betrifft den privaten Raum im Sinne von persönlicher Intimität (vgl. Hochschild 1996, 2000; Rössler 2001: 18) und Vertrauen (vgl. Endress 2002: jedoch die Frage nach der Arbeitsteilung im Haushalt, die über eine Umverteilung zwischen den Partnern hinausgeht, bisher nicht gestellt.
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53ff.). Daher muss die Einbeziehung von Dienstleister/innen in den Haushaltzusammenhang auch unter den Gesichtspunkten der sozialen und kulturellen Nähe und des Umgangs mit Scham und Abwehr betrachtet werden (vgl. Thiessen 2004). Auf diese meist unbewussten Aspekte einer Arbeitsbeziehung im Haushalt sind vermutlich mentale Barrieren gegen externe Dienstleister/innen zurückzuführen. Daher muss die Herauslösung einer bisher selbst bearbeiteten Aufgabe aus dem privaten Kontext, ebenso wie ihre Vergabe an externe Personen oder Organisationen und die mit der Bezahlung verbundene Wertbestimmung dieser Tätigkeit, normativ legitimiert und in eine Neubestimmung der Lebensführung eingebettet werden. Für die Frage nach der realisierten Nachfrage nach Dienstleistungen sind daher neben dem Ressourceneinsatz vor allem die sozialen Deutungsmuster und Handlungsregulative interessant, die die Wahrnehmung der Situation und der Handlungsalternativen präformieren. Erst wenn die sozialen Normen und Deutungsmuster dies ‚erlauben‘, wird über die Umschichtung materieller Ressourcen nachgedacht und können Dienstleistungsangebote angenommen werden. Eine aktuelle empirische Studie zum potenziellen Bedarf (Geissler u.a. 2008) hat diese These bestätigt; insbesondere Vorstellungen über die Grenzen der Privatheit sowie das Bedürfnis, Vertrauen in die Anbieter haben zu können, sind für die Bereitschaft ausschlaggebend, Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen. Zugleich zeigt sich, dass sich mit der Krise der Familienernährerehe die Deutungsmuster zum Verhältnis von privater und öffentlicher Kinderbetreuung wandeln. Daher ist anzunehmen, dass ein bisher latent gebliebener Betreuungsbedarf zunehmend als Nachfrage artikulieren wird.
Das Dienstleistungsangebot In Deutschland bieten bisher weder Staat noch Markt differenzierte Dienstleistungen für Haushalte an, die die Unterschiedlichkeit der Bedürfnisse in verschiedenen Lebenslagen und -phasen und je nach Lebensstil berücksichtigen würden. Das wohlfahrtsstaatliche Angebot zielt vor allem auf Personen mit sozialpolitisch relevanten Merkmalen und unterstützt Haushalte jeweils nur fallbezogen, das heißt soweit eine spezifische Berechtigung gegeben ist. Es setzt zudem in der Regel die Integration der Klienten (Kinder, Pflegebedürftige) in einen funktionierenden Haushalt voraus. Jenseits dieser Fallstruktur sind sozial- und familienpolitische Leistungen durchweg monetär; sie leisten Einkommensersatz oder -ergänzung, keine Dienstleistungen. Sie sollen Einkommenslücken überbrücken, nicht aber Überlastungs- oder Zeitprobleme lösen. Damit bleiben wesentliche Bereiche der Lebensführung außerhalb der Reichweite des deutschen Wohlfahrtsregimes, das gekennzeichnet ist durch ein Spannungsverhältnis zwischen der ausgebauten sozialen Sicherung und der Privatisierung der Kosten weiterer Felder der Zukunftsvorsorge (Bildung, Erziehung). Bisher haben sich öffentliche Einrichtungen auf Dienste spezialisiert, die Expertenwissen verlangen, während auf dem Markt Dienstleistungen für Körperpflege, Freizeit, Reisen, Sport u.ä. angeboten werden. Dieses kommerziell-betriebliche Angebot ist lokal höchst unterschiedlich ausgeprägt. Privatwirtschaftliche Angebote in den Bereichen Pflege und Erziehung dienen bisher im Wesentlichen der Ergänzung des sozialstaatlichen Angebots. Dienstleistungen zur regelmäßigen Unterstützung bei der alltäglichen Haushaltsarbeit und
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Kinderbetreuung werden überwiegend von Einzelpersonen (als atypisch Selbstständige oder in Schwarzarbeit) angeboten,39 Wirtschaftsbetriebe spielen hier eine geringe Rolle. Erste Hinweise auf ein wachsendes Dienstleistungsangebot (überwiegend von Frauen) ergaben sich im Rahmen von Studien mit anderem thematischem Fokus (Jurczyk/Rerrich 1993; Friese 1995). Inzwischen liegen empirische Arbeiten vor, die bezahlte Haushaltsarbeit zum Gegenstand haben, und die herausarbeiten, wie heterogen Arbeitsverhältnisse in Privathaushalten sind (Odierna 2000; Gather/Meißner 2002; Thiessen 2004). In diesen Studien werden damit einher gehende neue Muster sozialer Ungleichheit zwischen Frauen erkennbar. Explorative Studien in verschiedenen Ländern zeigen, dass die Gruppe der Dienstleister/innen im privaten Haushalt sehr heterogen ist, ihre Zusammensetzung, ihre Arbeits- und Einkommenssituation und ihre sozialpolitische Lage variiert beträchtlich im europäischen Vergleich. Jedenfalls für Deutschland gibt es für den im Begriff der ,neuen Dienstboten‘ nahe gelegten Vergleich mit den Dienstmädchen des Bürgertums, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert in persönlicher Abhängigkeit von ihrem Arbeitgeber standen,40 wenig Plausibilität. Informell beschäftigt in privaten Haushalten sind zum einen Personen (das heißt überwiegend Frauen) ohne ausreichendes eigenes Einkommen (auch Jugendliche und Rentner/innen). Über diese Gruppe, über die soziale und Alters-Zusammensetzung und über den Anteil der Frauen mit Migrationshintergrund gibt es keine zuverlässigen Daten, sondern nur Schätzungen. Qualitative Studien weisen darauf hin, dass diese Form der Erwerbstätigkeit für viele verheiratete Frauen der Unterschicht die einzige Erwerbsmöglichkeit ist, der sie zum Teil lebenslang nachgehen (Gather 2004). Auf diese Gruppe richtet sich die erwähnte Förderstrategie, mit steuerlich begünstigten, sogenannten Minijobs die vermutete Arbeitsplatzreserve im privaten Haushalt auszuschöpfen (vgl. Weinkopf 2001, 2003). Anders als für diese Gruppe ist der Anreiz, eine zusätzliche Arbeit im Haushalt aufzunehmen, für Personen, die soziale Transfers beziehen,41 gering. Insgesamt sind Haushaltsdienstleistungen in unterschiedlicher Weise institutionalisiert, und das Angebot ist für die Kunden unübersichtlich; das gilt auch für die Qualität und die rechtliche Form:
ein Teil wird von Wirtschaftsbetrieben oder Non-Profit-Organisationen42 erbracht, die mit ausgebildetem Personal arbeiten, ein sehr geringer Teil wird von abhängig Beschäftigten mit entsprechender Ausbildung erbracht, die (fest angestellt) nur für einen oder zwei Haushalte arbeiten, der überwiegende Teil der Dienstleistungen wird von atypisch Selbstständigen erbracht, die keine spezifische Ausbildung für diese Tätigkeit, oft aber langjährige Erfahrung haben.
39 Putzdienste, Kinderbetreuung und Pflege werden durchweg von Frauen geleistet, Männer dominieren in handwerksnahen Bereichen (Fensterputzer, Gärtner, Hausmeister). 40 Historische Studien zu Dienstmädchen (z.B. Walser 1985; Schmidt 2002) heben deren umfassende Einbindung in den Arbeitgeberhaushalt hervor. Zu einer kritischen Perspektive auf heutige ,Dienstboten‘ vgl. Geneviève Fraisse (2001). 41 In Deutschland wird jeglicher Zuverdienst mit geringen Freigrenzen angerechnet. Sofern das zusätzliche Einkommen angemeldet wird, verschlechtert sich die Einstufung zu Lasten des finanziellen Ertrags; wenn es nicht angegeben wird, muss mit Sanktionen gerechnet werden. 42 Nur die Fremdbetreuung von Kleinkindern findet überwiegend in Einrichtungen von Kommunen oder Wohlfahrtsverbänden statt. Zur Zahl der selbstständigen ‚Tagesmütter‘ liegen keine vollständigen Informationen vor.
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Atypisch Selbstständige im privaten Haushalt Nur ein kleiner Teil des Unterstützungsbedarfs von Privathaushalten wird durch sozialstaatliche Dienste, etwa durch die Kranken- oder die Pflegeversicherung abgedeckt. Der Löwenanteil wird durch Einzelpersonen befriedigt, die stundenweise, neben- oder hauptberuflich dieser Tätigkeit nachgehen und sich mit ihrem Arbeitsangebot überwiegend in einer rechtlichen Grauzone befinden (vgl. Geissler 2006). Da jedoch zu Angebot und Nachfrage von Haushaltsdienstleistungen und zu den Merkmalen dieser Erwerbsarbeit weder in der Soziologie noch der Haushaltswissenschaft systematisch geforscht wird,43 gibt es dazu keine differenzierten und zuverlässigen Daten. Reguläre Beschäftigung ist in diesem Bereich die Ausnahme. Neben verbreiteter Schwarzarbeit weiten sich informelle Arbeitsverhältnisse bzw. Formen atypischer Selbstständigkeit aus, das heißt Selbstständigkeit ohne solide Kapitalbasis und ohne Angestellte. In dieser Form erwerbstätig sind etwa ‚Tagesmütter‘ (vgl. Diller u.a. 2005), aber auch Dienstleister, die auf eigene Rechnung arbeiten und deren Einkommenssituation in der Regel prekär ist.44 Es überrascht nicht, dass in den Erwerbsstatistiken nicht nur die informell und ‚schwarz‘ Arbeitenden fehlen, sondern dass sie auch diese Selbstständigen nicht zuverlässig erfassen; ein wesentlicher Grund dafür ist deren fehlende Einbindung in Organisationen. Ebenfalls völlig unterreguliert ist die Arbeitssituation derjenigen, die Dienstleistungen in technisch-instrumenteller Haushaltsarbeit übernehmen oder Kinder betreuen. Merkmale der Arbeitssituation sind
informeller Arbeitmarkt, daher Vertragsabschluss aufgrund unvollständiger Informationen, informeller (meist mündlicher) Vertrag, daher formlose Kündbarkeit von beiden Seiten, unklare Kriterien für das Lohnniveau, regional sehr unterschiedliche Lohnstandards, keine oder unvollständige Einbindung in soziale Sicherungssysteme, unklare Qualifikationsanforderungen bei fehlendem Berufsbild, hohe Arbeitsanforderungen und unspezifizierte Belastungen (Emotion Work), keine kollektive Organisierung und Interessenvertretung, überwiegend zeitlich flexible und im Umfang wechselnde Inanspruchnahme durch die Haushalte.
Dennoch gibt es Regulierungsversuche, politische Initiativen, die auf eine Ausweitung legaler Arbeitsverhältnisse oder auf die Förderung von Unternehmensgründungen (z.B. Dienstleistungsagenturen oder -pools) zielen, seit Mitte der 1990er Jahre in verschiedenen Ländern, so in Frankreich, Dänemark und Niederlande ebenso wie in Deutschland (zu Deutschland Bittner/Weinkopf 2002; zu Frankreich Lallement 2001; Fagnani/Letablier 2005). Ein Teil der Kosten für haushaltsbezogene Dienste ist steuerlich abzugsfähig. Die 43 Die zunehmende Bedeutung von Dienstleistungen und von 'intermediärer' Arbeit zwischen Privatsphäre und Erwerbssphäre findet bisher eher in der Sozialpolitikforschung Beachtung, wobei hier vor allem die sozialpolitischen Implikationen untersucht werden. 44 Bestimmte Dienste für Haushalte werden von Allein-Selbstständigen in Handwerksberufen ausgeübt (Fensterputzer, Friseurinnen); auch deren Erwerbssituation ist gegebenenfalls prekär.
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Erfolge dieser Programme zur Ausweitung und Legalisierung der Beschäftigung sind bislang jedoch deutlich hinter den Erwartungen zurück geblieben. Wenngleich eine systematische Untersuchung der Ursachen noch aussteht, dürfte dabei eine Rolle spielen, dass ein Teil der informell Beschäftigten kein Interesse oder keine Möglichkeit hat, das Arbeitsverhältnis zu legalisieren (vgl. Weinkopf 2003). Dies gilt auch für Migrantinnen, die oft weder über eine Aufenthalts- noch eine Arbeitserlaubnis verfügen.
Die Globalisierung im Haushalt: Trans-Migrantinnen als Dienstleisterinnen Dass informelle Arbeit ein rechtlich und sozial ungeregeltes Verhältnis zwischen Arbeitgeber/in und Arbeitnehmer/in herstellt, gilt für alle, also auch für die einheimischen Beschäftigten. Die Lebens- und Arbeitssituation von Trans-Migrantinnen ist darüber hinaus von der Unsicherheit des Aufenthalts und der sozialen Situation geprägt. Zu den Motiv- und Entscheidungsstrukturen der Migrantinnen, den Migrationswegen und den Formen und sozialen Risiken der Trans-Migration gibt es inzwischen differenzierte Ergebnisse der Migrationsforschung. Während die Feminisierung der Migration (im Sinne von Auswanderung) bereits für Mitte des 20. Jahrhunderts angesetzt wird, haben erst die Modernisierung der Schwellenländer und die neuen Kommunikationsmedien die Möglichkeit der befristeten bzw. ‚Pendel‘Migration eröffnet. Das seit den 1980er Jahren kontinuierlich zunehmende Arbeitsangebot von Trans-Migrant/innen ist für die expandierende Dienstleistungswirtschaft in den Metropolen („global cities“, vgl. Sassen 1991, 1998) unverzichtbar; die Haushaltsdienstleistungen sind ein integraler Bestandteil dieses Sektors.45 In Europa am besten erforscht ist die Lebenslage von im Haushalt arbeitenden (und oft als ,live-in‘ lebenden) Trans-Migrantinnen in Großbritannien.46 Erst neuere Studien zeigen die Arbeits- und Lebenssituation der TransMigrantinnen in Deutschland (Lutz 2007; Fallstudien: Rerrich 2006). In folgenden Dimensionen bestehen für Trans-Migrantinnen besondere Risiken der Marginalisierung:
45
Arbeitsrecht und Arbeitsbedingungen: formale und einklagbare Regelungen von Arbeitsbedingungen und Lohnhöhe fehlen; es gibt keinen Kündigungsschutz und keine Lohnfortzahlung im Krankheitsfall; Beruf und Qualifikation: vorhandene berufliche Qualifikationen verlieren ihren Wert; die Arbeit selbst ist weitgehend ohne Kooperationsmöglichkeiten und ohne sozialen Austausch; Aufenthalts- und Arbeitsrecht/Citizenship: Migrantinnen müssen für die Vertretung ihrer Interessen informelle Netzwerke bilden;
Zur Theorie der Trans-Migration vgl. Pries 1998. Zur Feminisierung der globalen Arbeitsmigration und zu den Erwerbsformen und Arbeits- und Lebensbedingungen der Haushaltsarbeiterinnen wird im angelsächsischen Raum seit den 1980er Jahren geforscht (vgl. etwa Phizacklea 1983; Gregson/Lowe 1994; Anderson/Phizacklea 1997; für die USA prominent: Sassen 1991, 1998; vgl. auch das Sonderheft der Zeitschrift Gender & Society 2002). In diesen Studien werden auch die schichtenund ethnizitätsspezifischen Linien der Umverteilung der privaten Arbeit analysiert. Mit dem Konzept der „Global Care Chain“ (Hochschild 2000) wird darüber hinaus die Globalisierungsforschung um die Thematik der Lebenslage von Dienstleisterinnen mit eigenen Kindern erweitert (vgl. auch die Beiträge in Ehrenreich/Hochschild 2003). 46
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Soziale Rechte: die informelle Arbeitssituation und der prekäre Aufenthaltsstatus bringen es mit sich, dass Migrantinnen sozial nicht abgesichert und bei Krankheit und Arbeitslosigkeit auf karitative Einrichtungen verwiesen sind; Persönliche Lage: die Kontaktmöglichkeiten sind eingeschränkt, weitgehend auf das ethnische Netzwerk beschränkt; durch die räumliche Distanz besteht die Gefahr der Entfremdung von der eigenen Familie bzw. Kindern.
Die Ausführungen zu Haushaltsdienstleistungen verweisen auf deren letztlich unklaren Status als Erwerbsarbeit. Zum einen ergeben sich bei vielen Tätigkeiten Überschneidungen mit der selbst erledigten Haushaltsarbeit der Kunden, was zu diskontinuierlicher Auftragslage und Nachfrage führt. Zum anderen bewegt sich ein erheblicher Teil der Aktivität der Erwerbstätigen unterhalb der ‚Aufmerksamkeitsschwelle‘ öffentlicher Institutionen (einschließlich der Gewerkschaften).47 Die unterkomplexe Regelung von Arbeitsverhältnis und -situation, die Instabilität von Beschäftigung und Einkommen und nicht zuletzt die fehlende Professionalisierung charakterisieren einen residualen Erwerbssektor, der mit den bekannten Instrumenten der Arbeitsmarktpolitik nicht regulierbar sein wird.
4
Herausforderungen und Perspektiven: Besonderheiten der Haushaltsdienstleistungen
Welche Schlüsse ergeben sich daraus für die weitere arbeitssoziologische Forschung – die zum Thema Haushaltsarbeit ja noch zu etablieren wäre? Zunächst: Die Frage nach dem ‚Arbeitsmarkt Privathaushalt‘ sollte zurück gestellt werden, bevor nicht weitere grundlegende Erkenntnisse zum spezifischen Charakter der Arbeit vorliegen. Die folgenden Überlegungen sind vor dieser Prämisse zu verstehen. 4.1
Ansätze soziologischer Reflexion
Bei den Haushaltsdienstleistungen handelt es sich um einen Erwerbssektor weitgehend außerhalb organisationaler Einbindung, mit uneinheitlichen Vorgaben für die Arbeitsausführung, für die Qualität der Dienstleistungen, für Kontrolle und Gewährleistung. Mit Ausnahme der öffentlichen Kinderbetreuung gibt es in diesem Sektor noch kein professionelles Selbstverständnis oder etablierte Standards für Entlohnung und Arbeitsbedingungen. Die Einkommen der atypisch Selbstständigen variieren stark entsprechend der lokalen Marktstrukturen. Im Bereich der Putzdienste haben sich in einigen Großstädten ethnisch homogene Anbietermärkte entwickelt. Durch die Ausdifferenzierung der Formen, in denen Haushaltsarbeit erledigt wird, entstehen neue Arbeitsbeziehungen sowie neue Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen Arbeits- und Erwerbsformen. Zu diesen Themen gibt es in der Arbeitssoziologie ein deutliches Empirie- wie Theoriedefizit. Über die Arbeitsbedingungen, über Orientierungen, Qualifizierungs- und Berufswege und biografische Perspektiven der Arbeitskräfte ist ebenso 47 Ähnliches lässt sich zu den Arbeitsbedingungen von Frauen im Reinigungsgewerbe sagen (vgl. dazu Schroth/Schürmann 2006).
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wenig bekannt wie über elementare Funktionsmechanismen dieses Marktes, etwa über Informationswege und Matching, über die Lohnentwicklung oder über Fluktuation und Übergang in andere Arbeitsmarktsegmente. Inwieweit sich spezifische Verhaltensanforderungen an Dienstleister/innen, die im formellen Sektor arbeiten, auch im privaten Haushalt durchsetzen, kann noch nicht gesagt werden. Nach der neueren Forschung zur Kundenorientierung nehmen Unternehmen das Interesse der Kunden an Freundlichkeit und Zugewandtheit auf und überformen es im Organisations- bzw. Unternehmensinteresse. So interpretiert Stephan Voswinkel 2005 (im Anschluss an Arlie Hochschild 1979) diese Entwicklung in dem Sinn, dass Dienstleistende im Kundenkontakt „Emotionsmanagement“ leisten müssen. Obwohl – so Stephan Voswinkel – Freundlichkeit und Zuwendung Arbeit ist, geht die betriebliche Rationalisierung dieser Kompetenzen unter der Maxime der Kundenorientierung mit Leistungsverdichtung bei gleichzeitig fehlender Wertschätzung dieser Aspekte der Arbeit einher. 4.2
Logiken des Handelns in den Haushaltsdienstleistungen
Die Handlungslogiken von Erwerbsarbeit in privaten Kontexten sind sowohl von der Seite der persönlichen Nähe, die wegen des Arbeitsortes bzw. des Arbeits‚gegenstandes‘ nicht ignoriert werden kann, wie auch von der Seite des abstrakten Tauschs her zu bestimmen; dazu können hier nur vorläufige Überlegungen vorgetragen werden.
Die Nähe zur privaten Arbeit Private Haushaltsarbeit zeichnet sich durch komplexe, an den Bedürfnissen der Haushaltsmitglieder orientierte Arbeitsformen aus, die oft parallel ausgeübt werden und eine emotional-interaktive Komponente haben. Daher ist nicht davon auszugehen, dass private Arbeit in jedem Bereich vollständig durch Dienstleistungen ersetzt werden kann. Die – im Vergleich mit anderen Dienstleistungen – geringe Inanspruchnahme hat aber vor allem damit zu tun, dass die Routinen und Standards der (eigenen) privaten Arbeit normativ verankert sind und als Elemente des Habitus’ weitgehend vorbewusst bleiben. Haushaltsdienstleistungen müss(t)en so gestaltet sein und ausgeführt werden, dass sie mit diesen Vorstellungen nicht konfligieren. Das gilt sowohl für routinisierte Arbeitsvollzüge wie auch für interaktiv geprägte Tätigkeiten, etwa in der Kinderbetreuung. Von der Seite der Nachfrager werden daher Dienstleistungen explizit oder implizit an den eigenen (unausgesprochenen) Routinen, Praktiken und Standards für Haushaltsarbeit gemessen. Die Bindung der privaten Arbeit an Beziehungen und Kontexte tangiert auch die Ausübung bezahlter Arbeit in diesem Bereich. Damit wird ,Bindung‘ als eine Handlungslogik des privaten Bereichs in modifizierter Form auch für die Dienstleister/innen relevant. So wird erwartet, dass sie ,sehen‘, was zu tun ist, und ,wissen‘ wie es getan werden soll48 – obwohl sie die entsprechenden Kenntnisse und Habitualisierungen in der Regel nicht mitbringen. Ein unkompliziertes Dienstleistungsverhältnis wird sich – dies wäre eine mögliche Schlussfolgerung – vor allem bei solchen auftraggebenden Haushalten herstellen, in denen 48
Ungeachtet der Tatsache, dass diese ‚Normalität‘ in jedem Haushalt anders aussieht.
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die Haushaltsmitglieder ihren eigenen Habitus distanziert sehen und auch andere Formen der Haushaltsarbeit als ihre eigenen für angemessen halten können. Personale Bindung und Empathie im Arbeitshandeln heißt für Dienstleister/innen auch: Sie sollen ein persönliches Interesse an den Personen, die im Haushalt leben, und an deren Lebensweise zeigen und ihre eigenen erwerbsbezogenen Interessen zurück stellen. Damit wird zwar nicht die Logik der Unentgeltlichkeit für sie handlungsleitend. Durch diese Konstellation wird jedoch eine marktförmige Wertbestimmung von haushaltsbezogenen Dienstleistungen erschwert, weil die gleichen Arbeitsvollzüge auch unbezahlt erledigt werden. Lohnforderungen, die sich an anderen Dienstleistungen orientieren, kommen deshalb unter Druck.
Die Balance zwischen Distanzierung und Bindung Während die Dienstleistungsbeziehung auf der Seite von Arbeitsinhalt und Arbeitsorganisation überdeterminiert ist, erscheint sie auf der Seite des Tauschs eher unterdeterminiert. Dienstleistungsarbeit ist geprägt von lokalen Marktstrukturen mit unterschiedlichen Lohnhöhen in einem informellen Markt und mit unregelmäßigen Arbeitszeiten auf der Basis individueller Aushandlungsprozesse. Dennoch werden die aus der privaten Arbeit abgeleiteten Anforderungen nicht dominant; erwartet wird nicht uneigennütziges – ökonomisch nicht-rationales – Handeln. Der Entgeltanspruch wird nicht grundsätzlich bestritten. Für Haushaltsdienstleistungen gilt jedoch, dass objektivierte (z.B. in Tarifverträgen oder Ausbildungsordnungen) festgelegte Kriterien für ,gute‘ Haushaltsarbeit fehlen und es daher keine Tradition (und folglich keine Instrumente) der Leistungsmessung und -bewertung gibt. Sofern aus dem Haushalt heraus Dienstleistungen in Anspruch genommen werden, fehlen deshalb die Kriterien für eine leistungsorientierte Bezahlung. Welche Konstellation nehmen vor diesem Hintergrund die Logiken des Arbeitshandelns an? Können Dienstleister/innen sich auf die Logiken der Distanzierung und der Monetarisierung zurückziehen, oder müssen sie diese mit den Logiken privater Arbeit vermitteln? Zur Beantwortung dieser Fragen können Studien zu sozialen Dienstleistungen einen Beitrag leisten. Zum einen ist Empathie als Anforderung der Arbeit49 in diesen Tätigkeiten unbestreitbar gegeben. Bei der Arbeit in der Krankenpflege beispielsweise wird personale Zuwendung und Interesse an Menschen verlangt – operationalisiert als Geduld, Interesse an persönlichen Lebenslagen, Unterdrückung von Aggression und negativen Gefühlen. Zum anderen sind in diesen Berufen Distanzierung und Monetarisierung nur unvollkommen ausgeprägt; Forschungsergebnisse zur subjektiven Arbeitsorientierung von Beschäftigten zeigen, dass die Interaktionsseite der Arbeit (der „Kontakt mit Menschen“) so hoch bewertet wird, dass sie die vergleichsweise schlechte Bezahlung hinnehmen50 und sogar eigene Ressourcen in die Verbesserung der Arbeitssituation investieren. In Übertragung dieser Erkenntnisse auf Dienstleistungsarbeit für Haushalte ergibt sich, dass eine Balance zwischen Distanzierung und Bindung, Monetarisierung und Unentgelt49 So schon Daniel Bell (1979: 164): „Begegnung und die Reaktion des Ich auf den Anderen (…), sie ist grundlegend für die Arbeit in der nachindustriellen Gesellschaft“. Vgl. auch die Literatur zu „emotion work“ seit Arlie Hochschild 1979. 50 Das titelgebende Zitat einer Studie zu Hauspflegerinnen (Wulfers 1987) lautet: „…das kann man sich nicht bezahlen lassen.“
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lichkeit gefordert ist.51 Für die Frage, wer die Arbeit im Haushalt erledigen kann, sind daher nicht (nur) die den Arbeitsmarkt strukturierenden Kriterien (etwa die formale Qualifikation) ausschlaggebend; wichtig ist vielmehr die Fähigkeit, beiden Handlungslogiken entsprechen zu können. 4.3
Entleerung, Überlastung, Ökonomisierung
Als eine der Folgen des „Abschieds vom Industrialismus“ (Baethge 2000) wird der Wandel der Familie, der Lebensformen und der inneren Struktur der privaten Haushalte zwar häufig benannt, jedoch gibt es kaum Erkenntnisse über die Folgen dieses Wandels für die Haushaltsarbeit. Zwei Thesen sind dazu im Umlauf: zum einen wird hervorgehoben, dass die private Haushaltsarbeit mit der Verkleinerung der Haushalte, der Technisierung und allgemeiner der Modernisierung der Lebensführung an Bedeutung verliert (Entleerungsthese). Zum anderen wird betont, dass gerade diese moderne Lebensführung und die gestiegene Erwerbsbeteiligung zu neuen Anforderungen an den Haushalt führen, so dass ein wachsender Teil der privaten Haushalte mit den ihnen zugewiesenen Aufgaben überlastet ist. Beide Thesen lassen sich mit der Rationalisierung der selbst erledigten (technischen) Haushaltsarbeit wie auch der Zunahme von Haushaltsarbeit als bezahlte Arbeit begründen. Wenn jedoch die kommunikativen Anteile der Haushaltsarbeit berücksichtigt werden, verliert die Entleerungsthese an Plausibilität; der relative Zeitgewinn durch Technisierung, erweiterten Konsum und Dienstleistungen wird durch neue Planungsaufgaben und wachsende Ansprüche an die ‚Qualität‘ der Kinderbetreuung und der personalen Beziehungen mehr als aufgewogen. Unbestreitbar ist eine Ökonomisierung des Privatlebens – und damit auch des Haushalts. Bei der Erfüllung der traditionellen wie der neu hinzukommenden Funktionen scheinen sich in der privaten Lebensführung sowie generell im Verhältnis von Haushalt, Wohlfahrtsstaat und Individuum Marktmechanismen auszuweiten. Stichworte sind die Entgrenzung von Arbeit und Leben und das Eindringen utilitaristischer und administrativer Logiken in die Lebensführung. Als Verstärkung dieser Tendenz wird auch die steigende Nachfrage nach personenbezogenen Dienstleistungen (etwa in der Kinderbetreuung und Altenpflege) interpretiert. Die Deutung des privaten Haushalts als vom öffentlichen Bereich abgeschottete und der wirtschaftlichen Logik fern stehende Sphäre ist jedenfalls längst unplausibel geworden. Zur Vertiefung Geissler, Birgit (2006). Haushalts-Dienstleistungen als informelle Erwerbsarbeit: neue Ungleichheit oder Ausdifferenzierung des Arbeitsmarkts? Arbeit. Zeitschrift für Arbeitsforschung, 15 (3), 194-205. Glatzer, Wolfgang (2001). Haushalte und Haushaltsproduktion in der Bundesrepublik Deutschland. In: B. Schäfers/W. Zapf (Hrsg.), Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands (S. 294-306). Opladen: Leske+Budrich (2. Auflage, zuerst 1998). 51
Studien und empirische Fallbeispiele zeigen, dass Dienstleister/innen selbst nur selten Lohnerhöhungen fordern (vgl. z.B. Gather/Meißner 2002).
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Arbeit im gemeinnützigen und informellen Sektor
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Arbeit im gemeinnützigen und informellen Sektor Ingo Bode
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Gegenstand und Problemstellung: Arbeit und Organisation jenseits von Markt und Staat
Arbeit als sozial koordinierte und zweckspezifisch organisierte Tätigkeit wurde in den Sozialwissenschaften bislang nur selten mit Blick auf Bereiche jenseits erwerbswirtschaftlicher bzw. verwaltungsbürokratischer Praxis verhandelt – obwohl diese Bereiche für das gesellschaftliche Leben von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind, wenn man die faktische alltägliche Arbeitsverausgabung etwa in den Handlungsfeldern Politik, soziale Hilfe oder Freizeitgestaltung betrachtet. Die Arbeits- und Industriesoziologie, die sich nicht-industriellen Arbeitsformen ohnehin erst sehr spät zugewandt hat, konzentriert sich bis heute auf privatwirtschaftlich organisierte Beschäftigungsverhältnisse, während sich die Verwaltungswissenschaften zwar mit bestimmten organisationalen Aspekten solcher Arbeitsformen auseinandersetzen, dies jedoch in der Regel für den Fall klassischer Behörden. Diese Engführung der Arbeitssoziologie überrascht insofern, als Unterscheidungen zwischen produktiver und reproduktiver Tätigkeit, zwischen formalisierter und informeller Vergesellschaftung und zwischen hierarchisch-bürokratischem und demokratisch-assoziativem kollektiven Handeln für die Sozialwissenschaften schon lange einschlägig sind. Da die Arbeits- und Industriesoziologie in ihrer Fixierung auf klassische Erwerbsarbeit solche Unterscheidungen kaum aufgegriffen hat, sind aus ihrer Perspektive für das gesellschaftliche Leben maßgebliche Bereiche organisierten ‚Tätigseins‘ unbekanntes Terrain. Dies wiegt umso schwerer, als Tätigkeitsfelder jenseits von Erwerbswirtschaft und Staatsbürokratie einer gesonderten arbeitssoziologischen Reflexion bedürfen. Als ihre beiden Grundformen können die gemeinnützige Berufstätigkeit und das organisierte Ehrenamt angesehen werden. Diese Grundformen sind, obwohl sie je eigene Merkmale besitzen, auf vielfältige Weise miteinander verwoben; und in beiden manifestiert sich „Arbeit als Engagement“ (Priller/Zimmer 2006). Gemeinnützige Berufsarbeit überschneidet sich zwar mit Tätigkeitsprofilen, wie sie für öffentliche Einrichtungen typisch sind; dennoch ist ihre häufige Einbettung in den Kontext formal unabhängiger Nonprofit-Organisationen folgenreich. Organisiertes freiwilliges Engagement wiederum – welches, dies sei hier schon betont, immer auch ein Engagement für persönliche (lebensweltliche) Interessen sein kann – weist Gemeinsamkeiten mit anderen Varianten informeller Tätigkeit (Familienarbeit, Freizeitgestaltung) auf. Es kann aber durchaus als spezifische Arbeitsform angesehen werden, die durch ihre Ausrichtung auf das, was Jonathan I. Gershuny (1979) Gemeinschaftsproduktion genannt hat, außerhalb der privaten Haushaltsökonomie angesiedelt ist. Beide Tätigkeitsformen verkörpern (auch) in zeitgenössischen Sozialordnungen westlicher Prägung weit verbreitete Alltagsphänomene. Mehr noch: Sie sind ein zentrales Momentum moderner Vergesellschaftung. Wesentliche Institutionen des Staates bzw. des politischen Systems (z.B. Parteien und Verbände), aber auch Teile der Dienstleistungsproduk-
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Ingo Bode
tion (v.a. im Kultur- und Sozialbereich) basieren auf ihnen. Idealtypisch können sie einem gesellschaftlichen Subsystem zugeordnet werden, welches Integrationsbedarfe der Gesamtgesellschaft oder einzelner Kollektive adressiert und dabei genuin einer Assoziationslogik unterliegt (Wex 2004: 284-291). Die assoziative Strukturierung des Subsystems manifestiert sich in Steuerungsprozessen auf der Basis kommunikativer Abstimmung unter gleichberechtigten Mitgliedern, ferner in einer (offiziell) dominanten, aber innerhalb von Mitgliederkollektiven frei verfügbaren Sachzweckfixierung sowie (häufig) in wertrational ausgerichteten Handlungsprogrammen. Organisationen, die entsprechende Eigenschaften formalisiert ausgebildet haben – i.e. (im Kern) demokratische Willensbildung, Sachzielprimat und Kollektiveigentum bei operativer Autonomie – werden nicht selten einem sog. Dritten Sektor zugerechnet, der sich mit diesen Charakteristika zumindest idealtypisch von erwerbswirtschaftlichen Unternehmen und reinen Verwaltungsbürokratien, aber auch vom Bereich rein individuell gestalteter, allenfalls ‚inoffiziell‘ organisierter Tätigkeit (in Form von Schattenwirtschaft oder Eigenarbeit) abgrenzen lässt. Solche Organisationen sind dabei einerseits auf spezifische Weise mit ihren Bezugsumwelten (Privathaushalten, Staat und For-Profit-Ökonomie) verkoppelt – was durchaus auf die Gestalt der in ihnen ausgebildeten Beschäftigungsverhältnisse und andere Formen der Arbeitsverausgabung ausstrahlt. Andererseits erweisen sie sich, wie das Weitere zeigen wird, im Hinblick auf die sie strukturierenden Arbeitszusammenhänge in vielerlei Hinsicht als eigensinnig. Der Grad und die jeweilige Ausprägung dieser Eigensinnigkeit – und damit verbunden: die Profile gemeinnütziger und informeller Tätigkeit – sind dabei indes hochgradig kontingent. Sie unterliegen Veränderungsdynamiken, die maßgeblich mit den Reproduktionsbedingungen des Sektors zusammenhängen und dessen (integrative) Wirkungsweise nachhaltig beeinflussen. Im Folgenden werden verschiedene Aspekte und Dimensionen gemeinnütziger und informeller Tätigkeit sowie ihrer organisationalen und gesellschaftlichen Einbettung in den Blick genommen. Der Beitrag beginnt mit einer Retrospektive auf sozialhistorische Entwicklungen und klassische soziologische Analysen mit Bezug zu gemeinnütziger und informeller Arbeit (Abschnitt 2). Er skizziert anschließend deren wesentliche Strukturmerkmale, v.a. im Hinblick auf das für sie während der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts charakteristische Produktionsregime; dem schließt sich ein kursorischer Blick auf empirische Forschungsbefunde zur Entwicklung dieser Tätigkeitsformen an (Abschnitt 3). Abschließend werden – unter Verweis auf neuere Diskussionen zur Zukunft gemeinnütziger bzw. informeller Arbeit – die Konturen des sich gegenwärtig herauskristallisierenden neuen Produktionsregimes umrissen und aktuelle Herausforderungen für eine (arbeits-)soziologische Auseinandersetzung mit diesen Tätigkeitsformen erörtert (Abschnitt 4).
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Entwicklungslinien und Wissensbestände: Gibt es einen klassischen Blick auf gemeinnützige und informelle Arbeit?
Wie eingangs festgehalten, stellt gemeinnützige bzw. informelle Arbeit kein einschlägiges Thema der Industrie-, Verwaltungs- und Organisationssoziologie dar. Dennoch gibt es einen Bestand an klassischer sozialwissenschaftlicher Reflexion über diesen Gegenstand bzw. für ihn relevante Traditionslinien. Bereits bei den Gründern der modernen Soziologie spielt assoziatives Handeln (als Grundlage entsprechender Tätigkeitsformen) durchaus eine
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Rolle. So beschäftigte sich Max Weber mit dem Vereinswesen (z.B. mit Sekten als Prototypus voluntaristischer Verbände), mit dem Honoratiorenwesen (in dessen Bindung an bürgerlich-asketische Lebensführung) sowie mit der (wertrationalen) Handlungslogik politischer Aktivisten (vgl. etwa Weber 1924; Kim 2004); im Zentrum stand dabei die Verschränkung von Sozialprestige, Berufsrolle und ehrenamtlicher Praxis. Emile Durkheim (1992) sah – ganz ähnlich – in Zusammenschlüssen von Berufsgruppenangehörigen ein wesentliches Bindeglied zunehmend funktional differenzierter Gesellschaften; Erwerbsarbeit und assoziatives Handeln stellten sich ihm als organisch miteinander verbunden dar. Frühe Beiträge zur Soziologie sozialer Reziprozität, etwa von Georg Simmel (1989) oder George Mead (1987), schärften zudem das Bewusstsein dafür, dass Tätigkeiten, die außerhalb der Sphäre privater Reproduktion sowie der Erwerbsarbeit angesiedelt sind, den für die Moderne charakteristischen Vergesellschaftungsprozess maßgeblich (mit)prägen. Sie machten erkennbar, dass die Lebensführung des bürgerlichen Individuums sich nicht allein über die instrumentelle Rationalität erwerbswirtschaftlicher Praxis konstituiert, sondern auch mittels sozialer Aktivitäten, die auf unabgeschlossenen Tauschbeziehungen sowie auf assoziativer Vergemeinschaftung basieren. Die sozialen (und auch motivationalen) Hintergründe solcher Aktivitäten sowie – in Ansätzen – die Besonderheiten jener Organisationen, in denen sich diese Aktivitäten vollziehen, wurden folglich von der klassischen Soziologie gerade auch im Hinblick auf gesellschaftliche Integrationsprozesse durchaus in den Blick genommen: Die Moderne, so lautet das Desiderat ihrer Botschaften, entwickelt sich nicht allein über die Verallgemeinerung bürokratischer und erwerbswirtschaftlicher Arbeitsformen, sondern sie lebt zugleich von weiteren Formen organisierter Tätigkeit. Eine genuin arbeitssoziologische Perspektive auf diese Praxis war mit dieser Erkenntnis freilich nicht verbunden. Immerhin informieren sozialhistorische Studien über den konkreten Konstitutionszusammenhang gemeinnütziger und informeller Tätigkeit im Übergang zur Hochmoderne. Sie knüpfen zunächst an Webers Honoratiorenmodell an und beschreiben, wie das (ideal)typische Lebensführungskonzept bürgerlicher Eliten mit der Übernahme ehrenamtlicher Funktionen v.a. im lokalen Vereinswesen, aber auch in der kommunalen Selbstverwaltung und Armenfürsorge, korrespondierte (vgl. Kocka 2002 und Sachße/Tennstedt 1980: 222-244). Sie verweisen ferner auf die Ursprünge dessen, was sich nachfolgend als Leitbild des weiblich-karitativen Ehrenamts herauskristallisiert – i.e. die Verlängerung der, Frauen (askriptiv) zugewiesenen, Sozialverantwortung für reproduktive Belange in außerhäusliches Sozialengagement hinein (Backes 1987). Ehrenamtliche Tätigkeiten erscheinen hier – innerhalb bestimmter Sozialmilieus – als integraler Bestandteil ‚normalisierter‘ Lebensführung. Daneben beleuchtet die historische Perspektive die Rolle informellen Engagements – und später auch formalisierter Berufstätigkeit – in Zusammenhängen assoziativer Selbstorganisation, konkret: bei den Gewerkschaften und Genossenschaften des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (vgl. zusammenfassend Wex 2004: 66-70). Der Zusammenschluss Gleichsituierter zur Verteidigung sozioökonomischer Interessen sowie (häufig auch) zur Entwicklung von Modellen des ‚guten Wirtschaftens‘ erweist sich hier als (potenziell) eigenständiger Vergesellschaftungsmodus jenseits von kapitalistischer Ökonomie und herrschaftsorganisierender Staatsbürokratie und begründet eine lange, international bis heute einflussreiche Tradition gemeinwirtschaftlicher Praxis (Dülfer/Laurinkari 1994; Nyssens 2006). Eine wesentliche Quintessenz der sozialhistorischen Betrachtung ist somit die, dass informelle bzw. gemeinnützige Arbeitsformen mit Mainstream-Phänomenen der Moderne (bürgerliche Herrschaft, geschlechtliche Arbeitsteilung, soziale Frage) rückge-
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koppelt sind, sich dabei aber gleichzeitig innerhalb spezifischer sozialer Sphären eigensinnig entwickeln. Der historische Blick auf diese Sphären klärt auch darüber auf, dass – v.a. in dem für gesellschaftliche Integrationsprozesse zentralen Feld der sozialen Hilfe – informelle und formalisierte Tätigkeiten mit der Entfaltung der modernen Arbeitsgesellschaft eine genetische Verbindung eingehen (Nadai u.a. 2005: 67-82). Aus ehrenamtlicher Armenunterstützung wird die moderne Sozialarbeit, wobei diese (beispielsweise innerhalb von Wohlfahrtsverbänden) mit freiwilligem Engagement verwoben bleibt (siehe Abschnitt 3.2). Im integrativen Subsystem der Gesellschaft bilden sich also Tätigkeitsprofile aus, für deren programmatische Ausgestaltung assoziative Zusammenschlüsse (mit) zuständig bleiben. Personenbezogene soziale Dienstleistungen konstituieren sich dabei als spezifisch regulierte Arbeitsform (Hasenfeld 1992; Wendt 1995).1 Im Zuge fortschreitender Modernisierung entwickeln sich diese Dienstleistungen mit dem Anspruch auf fachliche Autonomie und lokale Nähe – orientierungsstiftend sind die Norm fallindividueller Intervention, das Primat der Ko-Produktion bzw. Beziehungsarbeit (mit Klienten) sowie ein häufig normativ geprägter Zielhorizont, welcher sich im Spannungsfeld von Sozialkontrolle und Human Empowerment bewegt. Insoweit dieser Zielhorizont (auch) unabhängig von institutionellen (staatlichen) Vorgaben im assoziativen Rahmen abgestimmt und gelebt wird, entfaltet gemeinnützige Berufstätigkeit hier einen besonderen Eigensinn. Ähnliches gilt auch für den Bereich der Kulturarbeit sowie (ansatzweise) für Tätigkeiten im Umwelt- und Sportsektor. Insgesamt sind damit für die Analyse gemeinnütziger und informeller Arbeit eine Reihe grundlagentheoretischer und sozialhistorischer Anknüpfungspunkte verfügbar. Diese betreffen überwiegend den gesellschaftlichen Kontext dieser Tätigkeiten. In ihrer Eigenschaft als assoziativ gerahmte, an Sachzielen ausgerichtete Arbeitsformen sind solche Tätigkeiten jedoch lange Zeit nicht zum Gegenstand problemorientierter sozialwissenschaftlicher Forschung geworden – ein Umstand, an dem sich erst in der jüngeren Vergangenheit etwas geändert hat.
3
3.1
Neue Entwicklungen und Konzepte: Die Entfaltung spezifischer Organisations- und Arbeitsformen im informellen und gemeinnützigen Bereich Strukturmerkmale gemeinnütziger und informeller Arbeit in der Hochmoderne
Wie gestalten sich die Strukturmerkmale gemeinnütziger und informeller Arbeit unter den Bedingungen der Hochmoderne, d.h. der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts? Eine Zusammenschau einschlägiger zeitgenössischer Untersuchungen erlaubt eine idealtypische Bestimmung der wesentlichen Merkmale, wobei sich die besondere organisationale Einbettung dieser Tätigkeitsformen als folgenreich erweist. Dies gilt sowohl für formalisierte Tätigkeiten (Berufsarbeit) als auch für informelles Engagement (im Ehrenamt), wobei auch letzteres als – außerhalb der Haushaltsökonomie (i.e. der Familienarbeit) angesiedelte – Arbeitsform begriffen werden sollte (Backes 1987: 12; Böhle/Kratzer 1999: 276-283). 1
Siehe hierzu den Beitrag von Wolfgang Dunkel und Margit Weihrich „Arbeit als Interaktion“ in diesem Band.
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Gesellschaftliche Hintergründe für die Entfaltung informeller und gemeinnütziger Arbeit Die Konturen dessen, was sich im Verlaufe des 20. Jahrhunderts als Mainstream gemeinnütziger bzw. informeller Arbeit herauskristallisiert, erschließen sich erst vor dem Hintergrund allgemeiner gesellschaftlicher Umbrüche. Zu diesen gehört die Tertiarisierung der Ökonomie auf der Basis industrieller Prosperität, also die Ausweitung von Dienstleistungsarbeit, von Freizeitspielräumen und von Bildungsoptionen. Wesentlich erscheint zudem die Genese eines zunehmend interventionsorientierten (und nicht nur transferleistenden) Wohlfahrtsstaates – und damit einhergehend die Entstehung und Expansion öffentlich regulierter Sozialorganisationen als operativem Feld für formalisierte, aber auch informelle, gemeinnützige Arbeit. Weitere relevante Faktoren sind die durch gesellschaftliche Emanzipationsansprüche (i.e. wachsende Erwartungen an politische Beteiligung) unterfütterte Demokratisierung des staatlichen Gemeinwesens sowie (infolgedessen) die Institutionalisierung neuer zivilgesellschaftlicher Vereinigungen und Verfahren. Interessenverbände bzw. auf die Gestaltung des Gemeinwesens gerichtete Bürgergruppen schaffen Raum für freiwilliges Engagement und professionelle Berufsarbeit jenseits von Erwerbswirtschaft und Staatsbürokratie. Das betrifft auch die Gewerkschaften, die sich zu hauptamtlich gesteuerten Massenorganisationen entwickeln, aber gleichzeitig bis heute über einen aktiven ehrenamtlichen Unterbau verfügen (Prott 2006). Nicht zuletzt beeinflusst die Dynamik geschlechtlicher Arbeitsteilung die Entwicklung gemeinnütziger bzw. informeller Arbeit. Einerseits entwickeln sich gemeinnützige Berufsfelder zu Domänen weiblicher Arbeitsmarktbeteiligung, andererseits differenzieren sich ehrenamtliche Aktivitäten in spezifischer Weise aus: Das soziale Ehrenamt bleibt zunächst fast ausschließlich weiblich, während Männer sich in klassischen ehrenamtlichen Führungspositionen behaupten – bevor sich diese Arbeitsteilung dann, v.a. im Zuge der sog. Neuen Sozialen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre, tendenziell verflüssigt (siehe Abschnitt 3.2). Unter diesen Bedingungen entstehen im (fortgeschrittenen) 20. Jahrhundert massive Organisationsfelder, für die sich gemeinnützige und informelle Tätigkeiten als strukturbildend erweisen und die auf diese Weise einen Dritten Sektor neben Staat und Marktökonomie konstituieren (Anheier/Seibel 1990, Zimmer/Priller 2005). Die Organisationen dieses Sektors – und damit auch die in ihnen ausgebildeten Arbeitsverhältnisse – werden im Kern assoziativ, d.h. über Abstimmung und Verhandlung, und nicht bürokratisch-hierarchisch bzw. im Rahmen eines auf Privateigentum basierenden Herrschaftsverhältnisses gesteuert. Bei den formalisierten (materiell entlohnten) Tätigkeiten führt zwar die Adaptation etablierter Beschäftigungsnormen v.a. aus dem öffentlichen Sektor dazu, dass – z.B. in Sozial- und Gesundheitseinrichtungen – insbesondere ausführende Tätigkeiten ‚gesellschaftsüblich‘ organisiert werden, also mittels vordefinierter Mitgliedschaftsregeln, der Abgrenzung formalisierter Rollenerwartungen sowie der Beschränkung materieller Anwartschaften; die Beschäftigungsordnung unterscheidet sich damit beispielsweise von den oben erwähnten genossenschaftlichen Formen der Arbeitsorganisation, die sich (idealtypisch) durch Mitgliederdemokratie und Kollektiveigentum mit entsprechenden Ertragsbeteiligungsrechten auszeichnet. Zu beachten ist überdies, dass sich die Organisationen des Dritten Sektors innerhalb assymetrischer gesamtgesellschaftlicher Kräfteverhältnisse bewegen, die auf ihre Integrationsfunktion ausstrahlen und sie mitunter – beispielsweise im Bildungssystem (Stichwort: Privatschulen) zu einem Ordnungsfaktor hierarchischer Sozialgebilde machen können.
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Allerdings impliziert assoziative Steuerung, indem sie formal von Gewinninteressen abstrahiert und keinen institutionellen (staatlichen) Herrschaftsansprüchen unterliegt, potenziell Freiräume zur Andersgestaltung von Arbeitsverhältnissen, etwa bezüglich der Berücksichtigung sozialer Belange der Beschäftigten oder im Hinblick auf deren Einbeziehung in die Zieldiskussion der Organisation. Letzteres ist grundlegend für (organisierte) informelle Arbeit: Ehrenamtliche Führungskräfte, aber potenziell auch das ‚freiwillige Fußvolk‘ gemeinnütziger Organisationen verfügen über Spielräume zur Entwicklung einer intrinsisch motivierten, an bestimmten Sachzielen und/oder Wertbezügen ausgerichteten Arbeitspraxis. Anders als in Erwerbswirtschaft und Staatsbürokratie gibt es mithin im Dritten Sektor keine unmittelbar strukturbedingte Differenzierung zwischen „principal“ und „agent“ (Jensen/Meckling 1976) und somit auch ein mindestens reduziertes Transformationsproblem im Hinblick auf die sozial entfremdende, zweckspezifische ‚Zurichtung‘ menschlicher Arbeitskraft, welche häufig als zentrales Movens moderner Wirtschaftsorganisationen angesehen wird (vgl. z.B. Türk 1995: 77).
Der Trend zum hybriden Organisationsmodell Die Ausbildung organisierter gemeinnütziger und informeller Tätigkeitsformen kann als Bestandteil der säkularen Bewegung hin zur Pluralisierung von Arbeit begriffen werden. Wichtige Rahmenbedingungen gemeinnütziger bzw. informeller Arbeit erschließen sich dabei aus Entwicklungen in den Bezugsumwelten von Dritt-Sektor-Organisationen. Im Hinblick auf gemeinnützige Berufsarbeit sind beispielsweise Professionalisierungsprozesse von grundlegender Bedeutung. Zunächst überwiegend informell organisierte Tätigkeiten – etwa in den Bereichen Soziales, Kultur, Sport und Entwicklungszusammenarbeit – entwickeln sich zu formalisierten Beschäftigungsverhältnissen, die sich durch eine fachwissensbasierte Selbstständigkeit sowie (häufig auch) bestimmte ethische Berufshaltungen auszeichnen, welche wiederum maßgeblich von freiwilligen Vereinigungen auf den Weg gebracht bzw. gepflegt werden (Nadai u.a. 2005: 17-62; Pankoke 1996). Als einflussreich erweist sich ferner die staatliche Regulierung gemeinnütziger Wohlfahrtsproduktion (Bode 2004: 32-37; Zimmer/Priller 2005): Nicht nur in Deutschland ermöglichte die öffentliche Alimentierung freier Träger und deren operativer ‚Kurzschluss‘ mit staatlichen Instanzen (z.B. Kultur- oder Sozialbehörden) in der Vergangenheit die Einrichtung stabiler Normalarbeitsverhältnisse in großem Stil, bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der formalen Unabhängigkeit der Trägerorganisationen. Bezüglich des ehrenamtlichen Engagements erscheint das oben bereits skizzierte, sich in der frühen Moderne herauskristallisierende Gesamtarrangement zunächst als vergleichsweise robust. Die Expansion des deutschen Verbände- und Vereinssektors geht einher mit einem männlich dominierten, stark mit Berufspositionen (im Erwerbsleben) verkoppelten, Ehrenamt in steuernden Funktionen (Winkler 1988) sowie mit einem hausarbeitsnahen weiblichen (sozialen) Ehrenamt, das von vielen Frauen allerdings zunehmend im Sinne eigener Selbstentfaltungsambitionen sowie als Übergangssphäre zwischen Haus- und Erwerbsarbeit genutzt wird (Backes 1987). Während der 1970er und 1980er Jahre, im Zuge der Ausbildung einer neuen, durch soziale Bewegungen eingebrachten, Selbstorganisationskultur, wird dieses Modell zumindest ideologisch überwunden: Informelles Engagement, aber auch Tätigkeiten in der Grauzone zwischen Engagement und Berufsarbeit nehmen eine neue, ge-
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schlechtlich weniger stark ausdifferenzierte, Gestalt an (Thiel 1998; Bode/Graf 2000; Rucht 2001). Selbsthilfegruppen, Bürgerinitiativen und Bewegungsorganisationen schaffen – v.a. für Teile der Mittelschichten – neue Aktivitätszonen, die (zunächst) hochgradig dialogisch (bzw. basisdemokratisch) gesteuert werden und dabei, so weit sie mit produktiven Tätigkeiten verknüpft sind, häufig genossenschaftsähnliche Züge aufweisen. Im weiteren Verlauf übernehmen allerdings auch diese neuen Initiativen das in der Nachkriegsepoche gewachsene und seitdem im Dritten Sektor vorherrschende hybride Organisationsmodell. Dieses Modell kennzeichnet ein „Neben- und Miteinander von Lohnarbeit als hauptamtlicher Beschäftigung und ehrenamtlichem Engagement als Leitungs- und Führungstätigkeit wie auch als freiwillige unbezahlte Mitarbeit“ (Priller/Zimmer 2006: 20); informelles Engagement und gemeinnützige Berufstätigkeit sind organisch miteinander verknüpft und stark in institutionelle Umwelten (staatliche bzw. gesetzliche Normen) eingebettet. Typische Beispiele dafür sind – neben Gewerkschaften oder Umweltorganisationen – die sog. Wohlfahrtsverbände (Rauschenbach/Sachße/Olk 1995; Boeßenecker 2005). Dabei handelt es sich um organisierte Netzwerke von Sozialeinrichtungen, Freiwilligengruppen und Expertenapparaten, die in Deutschland (noch immer) wesentliche Funktionen bei der Unterhaltung der wohlfahrtsstaatlichen Infrastruktur sowie deren sozialpolitischer Programmierung innehaben, so etwa in der Jugend- und Altenhilfe oder bei der Pflege- und Gesundheitsversorgung. Nicht unwesentlich ist die führende Rolle weltanschaulich geprägter, kirchlicher Träger in diesen Netzwerken (diese beschäftigen in Deutschland ca. drei Viertel des Gesamtpersonals der Wohlfahrtspflege). Dem hybriden Organisationsmodell liegt somit ein spezifisches Produktionsregime zu Grunde, in dem die vorrangige Orientierung an Sachzielen, eine starke interne Konsensorientierung sowie kulturell eine gewisse Prinzipienfestigkeit mit einer Vielfalt verschiedener Arbeitsformen einhergehen: Erstens ehrenamtliche Führungsrollen im Rahmen der oben skizzierten Assoziationslogik, d.h. nach Maßgabe von diskursiv verhandelten bzw. demokratisch – jedoch immer auch unter Einfluss von Umweltakteuren aus dem politischen System oder bestimmten Trägermilieus (z.B. Kirchen- oder Bewegungseliten) – abgestimmten Entscheidungen über Ziele und Mittel organisationalen Handelns; zweitens hauptamtliche Leitungspositionen, deren Inhaber (im Grundsatz) auf diese Entscheidungen verpflichtet werden, und die nicht selten an Personen ‚mit Stallgeruch‘ (z.B. langjährigen Engagementkarrieren) vergeben werden – wobei deren Mandat zuweilen weit reichende Interpretations- und Implementationsspielräume beinhaltet; drittens Funktionen für (häufig) im ‚Organisationsmilieu‘ sozialisierte Berufstätige, die sich an fachprofessionellen Standards orientieren und deren Mitgliedschaftsrollen bzw. Kompetenzgrenzen insofern relativ offen gehalten sind; viertens Tätigkeiten für freiwillig Engagierte, die mehr oder weniger lose an den hauptamtlichen Apparat gekoppelt sind, tendenziell sachzielorientiert tätig werden und sich dabei (wenigstens diffus) den Kernzwecken der Organisation verbunden fühlen; fünftens Beschäftigungsverhältnisse im ausführenden Bereich, die sich insofern nicht von ihren Pendants beim Staat oder auch in der gewerblichen Wirtschaft unterscheiden, als für sie extrinsische (Arbeits-)Anreize und inhaltlich stark eingegrenzte Mitgliedschaftsrollen orientierungsstiftend sind. Dieses Produktionsregime steht für ein sich in der modernen Arbeitsgesellschaft ausdifferenzierendes, spezifisches Tätigkeits- bzw. Beschäftigungssegment. Wie weiter unten
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noch zu erläutern sein wird, sind allerdings dieses Regime sowie die in ihm prominenten Arbeitsformen spätestens seit den 1990er Jahren markanten Veränderungen unterworfen. 3.2
Empirische Befunde zu gemeinnütziger und informeller Arbeit
Der Forschungsstand zu gemeinnützigen und informellen Tätigkeiten stellt sich (nicht nur) in Deutschland als noch immer recht lückenhaft dar. Allerdings gab es in den letzten beiden Jahrzehnten – unter Stichworten wie Freiwilligenarbeit oder bürgerschaftliches Engagement und u.a. auch im Zusammenhang mit Arbeiten einer Enquetekommission des Deutschen Bundestags – eine größere Anzahl von Untersuchungen zur Struktur und Entwicklung informeller Betätigung, welche neue Erkenntnisse brachten. Einige Studien befassten sich zudem mit formalisierten Arbeitsverhältnissen im Dritten Sektor, wobei es jedoch gerade hier – nicht zuletzt auf Grund der Heterogenität des Sektors – noch immer an Tiefenschärfe mangelt.
Die Entwicklungsdynamik von Berufsarbeit im Dritten Sektor Im Einzelnen offenbart die jüngere Forschung zunächst, dass das Volumen an bezahlter Berufsarbeit im Dritten Sektor in den letzten Jahrzehnten signifikant zugenommen hat (Priller/Zimmer 2006). Um die Jahrtausendwende gab es in bundesdeutschen NonprofitOrganisationen über zwei Millionen Beschäftigte (1,4 Millionen Vollzeitäquivalente). Dieser im europäischen Vergleich eher hohe Wert erklärt sich v.a. aus der außerordentlich starken Einbindung gemeinnütziger Organisationen (v.a. der o.g. Wohlfahrtsverbände) in die Erbringung sozialer, medizinischer und pflegerischer Dienstleistungen; die oben als fünfte Gruppe ausgewiesene Beschäftigtenkategorie (ausführendes Personal in ‚gesellschaftsüblichen‘ Arbeitsverhältnissen) dürfte mithin einen großen Anteil dieses Arbeitsplatzvolumens repräsentieren. Das Beschäftigungswachstum hat zuletzt nachgelassen, obwohl beispielsweise in Teilbereichen des (stark wohlfahrtsverbandlich strukturierten) Sozialwesens noch immer steigende Werte zu verzeichnen sind. In qualitativer Hinsicht erscheint augenfällig, dass Beschäftigungsverhältnisse im Dritten Sektor in stärkerem Maße atypisch sind als im übrigen Arbeitsmarkt (Trukeschitz 2005): Die Teilzeitquote fällt mit 40% doppelt so hoch aus wie in der Gesamtwirtschaft, und auch geringfügige Beschäftigung (nicht zuletzt in Gestalt der sog. 1-Euro-Jobs) spielt eine größere Rolle als im Durchschnitt der Gesamtwirtschaft. Gleichzeitig übersteigt die Befristungsrate (mit 16%) den für die Gesamtwirtschaft gemessenen Wert um gut die Hälfte. Mehr als zwei Drittel aller Beschäftigten des Dritten Sektors sind Frauen. Befragungen von hauptamtlichen Führungskräften in Verbänden (also der zweiten der für das o.g. Produktionsregime maßgeblichen Gruppe) verweisen auf das besondere Beschäftigungsprofil dieser Arbeitnehmer (Beher u.a. 2007). So spielen in deren persönlicher Sozialisation (Elternhaus, bisherige Lebenserfahrung) Engagementkarrieren eine große Rolle; die Führungskräfte kombinieren zudem ein (elitentypisch) hohes Bildungsniveau mit einer spezifischen intrinsischen Arbeitshaltung – Karin Beher, Holger Krimmer, Thomas Rauschenbach und Annette Zimmer. (2007: 70) sprechen von einem „sozial motivierten Verantwortungsbewusstsein“, Eckhard Priller und Annette Zimmer (2006: 21) von einer
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„starken Wertorientierung“ –, welche gegenüber erwerbswirtschaftlichen Karrieremotiven durchaus hervorsticht. Im Hinblick auf die Gruppe der Professionellen (v.a. im Sozialwesen) gibt es ähnliche Befunde. Eine (öffentliche Träger mit einschließende) Befragung von Heinz-Jürgen Dahme, Gertrud Kühnlein, Norbert Wohlfahrt und Monika Burmeister (2005: 199-244) zeigt, dass klassischen Professionsnormen nach wie vor ein hoher Stellenwert beigemessen wird, v.a. im Hinblick auf die Sozialverpflichtung des Berufs, die Bedeutung kollegialer Selbstkontrolle oder die Autonomie des Arbeitsvollzugs (auch gegenüber Trägerinteressen). Gleichzeitig diagnostizieren die Befragten allerdings eine Erosion dieser Normen, wobei dies teilweise als problematisch eingestuft wird (weniger Fachlichkeit, mehr Außendruck), zugleich jedoch ein größerer Teil der Befragten darin auch gewisse Vorteile (i.e. Chancen auf mehr Innovation und mehr Wirtschaftlichkeit) erkennt. Qualitative Untersuchungen bestätigen sowohl die Besonderheiten von Arbeitsverhältnissen im Dritten Sektor (insbesondere in den beiden zuletzt betrachteten Gruppen) als auch die Ambivalenz jüngerer Entwicklungsdynamiken (vgl. Bode/Graf 2000; Priller/Zimmer 2006; Bode/Frantz 2008). Besonders in jüngeren Nonprofit-Organisationen mischen sich althergebrachte Orientierungsmuster wie Sachzielbezug, der Primat demokratischer Willensbildung und hohe Wertbindung mit neuen Attitüden. Hier kommt auf ganz eigene Weise ins Spiel, was in der neueren Arbeitssoziologie mit Bezug auf den erwerbswirtschaftlichen Bereich unter Stichworten wie Subjektivierung der Arbeit oder auch Arbeitskraftunternehmer verhandelt worden ist. Die mit diesen Begriffen angesprochenen Entgrenzungsprozesse nehmen hier einen sektorspezifischen Verlauf, bewegt sich organisierte Arbeit hier doch oftmals weg von einem stark subjektiv gestalteten Tätigkeitskontext mit hohem Identifikationspotenzial hin zu eher extrinsisch gelagerten bzw. instrumentellen Arbeitshaltungen. Ehrenamtliche und hauptamtliche Führungskräfte, aber auch Mitarbeiter mit (sozial)professionellem Hintergrund suchen vermehrt Spielräume zur Förderung ihres eigenen Humankapitals, auch im Hinblick auf Karrierewege und Beschäftigungsperspektiven jenseits der Organisationsgrenzen. Vielfach entwickeln sie zudem eine betriebswirtschaftliche bzw. unternehmerische – und d.h. mitunter auch renditeorientierte – Perspektive auf ihre Tätigkeit. Im beruflichen Alltag gewinnen reputations- bzw. ressourcenrelevante Umweltbeziehungen (zu Auftraggebern, Unterstützern, Kooperationspartnern etc.) an Bedeutung; darauf bezogene Erfolgskriterien konkurrieren mit (vormals) sektortypischen Leistungserwartungen (wertkonformes und sachzielloyales Handeln). In einigen Großorganisationen sind zudem personalpolitische Instrumente wie Projektbeschäftigung, Zielvereinbarungen und erfolgsorientierte Vergütung aus der Erwerbswirtschaft importiert worden. Dessen ungeachtet leben Organisationen des Dritten Sektors und ihre Mitarbeiter weiterhin maßgeblich von Sinnbezügen, die jenseits der Erwerbslogik gewinnwirtschaftlich ausgerichteter Arbeitspraxis angesiedelt sind. Hintergrund dafür sind eigene Sozialisationserfahrungen, aber auch Festlegungen aus der Umwelt (Öffentlichkeit, Ressourcenlieferanten). Insofern haben die oben genannten Entwicklungen zur Folge, dass sie sich zunehmend in einem „Spannungsfeld zwischen ‚Mission‘ und ‚Ökonomie‘“ (Seibel 2002) bewegen. Das verlangt ihnen mehr Kreativität bei der Verarbeitung widersprüchlicher Handlungsimperative ab und birgt zugleich die Gefahr des Auseinanderdriftens von offiziellen Sachzielen und realer Praxiserfahrung sowie (nachfolgend) des Ausbruchs von Sinnkrisen. Im Bereich der ausführenden Tätigkeiten erscheint letzteres weniger virulent; hier machen sich allerdings Prekarisierungstendenzen bemerkbar, die nicht zuletzt mit der Erosion von dem öffentlichen Dienst entlehnten Tarifnormen zusammenhängen (Dahme/Trube/Wohlfahrt
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2007). So wird für Teilbereiche der freien Wohlfahrtspflege die Entstehung eines Niedriglohnsektors beobachtet, der die bis dahin vergleichsweise egalitäre Beschäftigungskultur nicht zuletzt der weltanschaulich gebundenen Sozialorganisationen aufzubrechen droht (Segbers 2007). Diese Entwicklungen beeinflussen auch das Verhältnis zwischen Hauptamtlichen und Ehrenamtlichen. In der o.g. Befragung von Karin Beher, Holger Krimmer, Thomas Rauschenbach und Annette Zimmer (2007) zeigen sich bei beiden Akteursgruppen unterschiedliche Grundhaltungen: Hauptamtliche betonen den Außenbezug ihrer Organisation, insbesondere die Dienstleistungsfunktion, während für die (in der Studie ebenfalls interviewten) ehrenamtlichen Funktionäre lebensweltlich-gemeinschaftliche Referenzen sowie der Bezug auf Mitgliederziele im Mittelpunkt stehen. Befunde aus Fallstudien verweisen dementsprechend auf durchaus folgenreiche Spannungen zwischen Haupt- und Ehrenamt (vgl. zusammenfassend Kühnlein/Böhle 2002: 100-102): Die Hauptamtlichen, denen nicht selten paternalistisch-bürokratische Umgangsformen unterstellt werden, beklagen ihrerseits ‚selbstherrliche‘ Verhaltensweisen der Laienarbeiter. Mit Blick auf Wohlfahrtsverbände ist überdies von einer innerorganisatorischen Aufspaltung von hauptamtlich Beschäftigten einerseits und freiwillig Engagierten andererseits die Rede; bezüglich Letzterer gibt es zudem auch Hinweise auf wachsende Rekrutierungsprobleme (Beher u.a. 2000: 65).
Die Entwicklungsdynamik informeller Arbeit im Dritten Sektor Allgemein verweisen quantitative Untersuchungen zur Entwicklung informeller Arbeit im Dritten Sektor auf expansive Tendenzen, wenngleich die vorliegenden Studien kein einheitliches Bild abgeben (vgl. die Diskussion bei Aner 2005: 59-72). Ergebnissen des sog. Freiwilligen-Surveys (Gensicke/Picot/Geiss 2006) zu Folge sind mehr als ein Drittel aller Erwachsenen in Deutschland (ihrer subjektiven Einschätzung nach) freiwillig tätig; bei etwa der Hälfte ist dies regelmäßig mindestens einmal pro Monat der Fall. Ungeachtet des generellen Zuwachses an informeller Beteiligung im Dritten Sektor scheint regelmäßiges Engagement allerdings nicht zuzunehmen; vielmehr sind besonders bei den Jüngeren sporadischexpressive Aktivitäten zunehmend beliebter (z.B. die Beteiligung an einzelnen Kulturevents oder auch temporäre Arbeitseinsätze in außergewöhnlichen karitativen Projekten). Die hochaggregierten Daten lassen letztlich nur allgemeine Aufschlüsse über den Charakter informeller Tätigkeiten zu: Freiwilliges Engagement findet man zuvorderst in den Bereichen Sport, Freizeit und Kultur; auch das Engagement in Schulen bzw. Kindergärten (hier v.a. bei der Unterstützung eigener Kinder) sowie im Umfeld religiöser Organisationen ist signifikant. Dies legt nahe, dass informelle Arbeit eng mit privaten (lebensweltlichen) Interessen verkoppelt und in der Mehrzahl der Fälle nur insofern gemeinnützig ausgerichtet ist, als sie in einem kollektiven Rahmen erfolgt und dabei immer auch Interessen gleich situierter Personenkreise mitbedient. Empirisch ist freiwillige Tätigkeit also keineswegs gleichbedeutend mit sozialem Engagement für Andere bzw. Dritte; auch (direkte) politische Partizipation spielt eine eher untergeordnete Rolle und war zuletzt sogar rückläufig. Augenfällig ist schließlich der markante soziale Bias im Ausmaß freiwilligen Engagements: Die Engagementquote steigt mit dem Einkommen und mit dem Bildungsniveau – und insgesamt auch mit der Einbindung in den regulären Arbeitsmarkt.
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Qualitative Studien zu den Hintergründen und Dynamiken informeller (freiwilliger) Tätigkeiten führen vor Augen, wie letztere mit dem sozialen Statusgefüge (auch) der Gegenwartsgesellschaft zusammenhängen. Ludgera Vogt (2005: 163-172) etwa portraitiert die Stiftungsinitiative einer Bürgergruppe zur Errichtung eines Jugendberufshilfeprojektes und zeigt, wie Interessen an Statusbestätigung, aber auch expressive Bedürfnisse, die – zeitlich und materiell durchaus aufwändige – Investition einer lokalen Elite antreiben. Die Verschränkung von sozialer (Lebens-) Lage und informeller Arbeit lässt sich auch für andere Bevölkerungsgruppen plausibilisieren. So illustriert Kirsten Aner (2005) Deutungs-, Erfahrungs- und Handlungsmuster bei einer Gruppe frühpensionierter VW-Mitarbeiter im Hinblick auf ihr bisheriges und zukünftiges freiwilliges Engagement; die Studie zeigt, dass erlebte Selbstentfaltungsspielräume im Beruf, aber auch Erfahrungen mit Konkurrenzkampf und Flexibilitätszumutungen, die entsprechenden Dispositionen beeinflussen – wobei die „restriktiven Sozialisationsbedingungen“ (Aner 2005: 258) einer zunehmend wettbewerblich organisierten und frustrationsträchtigen Erwerbsarbeitswelt die Ausbildung von Engagementbereitschaften negativ beeinflussen können. Andere Untersuchungen beleuchten die zunehmend verbreiteten Überschneidungen zwischen Erwerbsarbeit und freiwilligem Engagement: So hat Ulrich Bendele (1988: 72) auf die häufig als Praktikum arrangierte ehrenamtliche Mitarbeit in sozialen Dienstleistungsorganisation hingewiesen und diese als „Diffusion zwischen beruflichem und nicht-beruflichem Handeln“ beschrieben. Ulrike Schumacher (2003) zeigt am Beispiel von Umweltorganisationen, wie vor dem Hintergrund der allgemeinen Arbeitsmarktkrise Individuen – v.a. aus dem Umkreis der akademischen Mittelschichten – bezahlte und informelle Tätigkeiten in diesem Organisationsfeld operativinhaltlich kombinieren und dabei als gleichermaßen persönlich sinnstiftend wie karrierestrategisch notwendig erfahren (können). Fritz Böhle und Nick Kratzer (1999: 287) sprechen diesbezüglich von einer immer „stärkeren Komplementarität“ von Erwerbsarbeit und Engagement. Diese Beobachtung wird bestätigt durch die seit einiger Zeit geführte Diskussion über eine durch erweiterte Aufwandsentschädigungen etc. herbeigeführte „Monetarisierung des Ehrenamts“ – eine Entwicklung, die eine grundlegende Umgestaltung des Reproduktionshaushalts freiwilligen Engagements zur Folge haben könnte (Evers 2006). Als Gesamtergebnis dieses kursorischen Überblicks über die Empirie (organisierter) gemeinnütziger und informeller Tätigkeiten lässt sich festhalten, dass sich diese während des 20. Jahrhunderts expansiv entwickelt und als besondere Arbeitsformen (nicht nur) in der bundesrepublikanischen Gesellschaft fest etabliert haben. Jüngere Untersuchungen verweisen indes auf qualitative Veränderungen: Bei den formalisierten Arbeitsverhältnissen im Dritten Sektor kommt es zu einer stärkeren Spreizung der Beschäftigungskonditionen sowie zu Spannungen zwischen der Assoziationslogik und stärker instrumentellen Orientierungen. In Bezug auf informelle Arbeit rücken neben letzteren auch expressiv-sporadische Engagementformen in den Vordergrund, während über mehrere Biografiephasen andauernde, stärker organisational eingebundene Varianten freiwilliger Beteiligung an Bedeutung zu verlieren scheinen.
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Herausforderungen und Perspektiven: Auf dem Weg in ein neues Produktionsregime
In Anbetracht der bisherigen Analyse stellt sich die Frage nach strukturellen Entwicklungstendenzen, einschließlich der Veränderungen in den Rahmenbedingungen für gemeinnützige und informelle Arbeit. Erst vor diesem Hintergrund lassen sich dann auch Zukunftsperspektiven diskutieren. 4.1
Strukturwandel im Bereich informeller und gemeinnütziger Arbeit
Welche strukturellen Wandlungsprozesse kennzeichnen gegenwärtig den Bereich informeller und gemeinnütziger Arbeit? Was gemeinnützige Berufstätigkeit betrifft, so haben sich für sie maßgebliche wohlfahrtsstaatliche Regulierungen zuletzt markant verändert: Organisationen des Dritten Sektors werden immer weniger nach Maßgabe eines ihnen pauschal unterstellten Integrationsbeitrags sowie im Vertrauen auf die Sachgerechtigkeit ihrer Operationen alimentiert; vielmehr agieren sie in wachsendem Maße auf Wohlfahrtsmärkten, auf denen sie um ‚Kunden‘ sowie um (ver)knapp(t)e staatliche bzw. private Ressourcen konkurrieren (Pankoke 1996; Bode/Graf 2000; Dahme u.a. 2005). Diese, beispielsweise in der Literatur über Wohlfahrtsverbände, als Entwicklung „von der Wertegemeinschaft zum Dienstleistungsunternehmen” (Rauschenbach/Sachße/Olk 1995) diskutierte Entwicklung färbt auf die Gestalt der Beschäftigungsverhältnisse im Dritten Sektor ab. Zugleich sind maßgebliche Trägermilieus (politische Unterstützer, Spender) individualistischer, kritischer (oder auch weniger idealistisch) und insofern unzuverlässiger geworden. Überdies ist eine Schwächung der für gemeinnützige Berufsarbeit grundlegenden Professionskultur zu beobachten (vgl. allgemein dazu Pfadenauer 2006): Etablierte Arbeitsnormen wie Autonomie, lokale Bedarfsorientierung und Interaktionsbezug der Arbeit werden – auch gesamtgesellschaftlich – überlagert von Leistungserwartungen, die sich auf kurzfristig messbare oder reputationsträchtige Outputs beziehen (Fallkosten; Medienprestige). Die oben bereits skizzierten Veränderungen in den Orientierungsmustern hauptamtlicher Arbeitskräfte – v.a. die Internalisierung marktorientierten Denkens – erscheinen somit in hohem Maße umweltinduziert. Die stärkere Marktabhängigkeit des Dritten Sektors erhöht zwar Chancen auf Innovationserträge (aus Investitionen in wettbewerbsfähige Projekte), befördert jedoch gleichzeitig eine Kultur der Kurzfristigkeit sowie situationsopportunistisches Organisationshandeln. Die zunehmende Rekrutierung milieufremder Berufsarbeiter, die in Teilbereichen markant deregulierten Beschäftigungsbedingungen sowie der relative Bedeutungsverlust konsensualer Wertebezüge führen zu einer spannungsreichen Pluralisierung der Arbeitsorientierungen im Dritten Sektor sowie zu dem, was man als Banalisierung hauptamtlicher Arbeitsformen bezeichnen könnte. Dies geht einher mit Veränderungen in der Rolle ehrenamtlicher Beteiligung. Das an stabile Berufsrollen und Statuspassagen gekoppelte Inklusionsverhältnis, welches die Organisation freiwilligen Engagements in der Hochmoderne maßgeblich prägte und mit relativ verlässlichen (allerdings vielfach auch sozial erzwungenen) Engagementformen verknüpft war, weicht zumindest in Teilbereichen einerseits stärker instrumentellen, andererseits sporadisch-expressiven Beteiligungsformen – mit der Folge einer ‚Volatilisierung‘ informeller Arbeit. Beobachtet bzw. prognostiziert wird eine (auch) mit gesellschaftlichen
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Individualisierungsprozessen zusammenhängende Doppelbewegung in Richtung Rückzug aus „collective volunteering“ bzw. aktiver Massenmitgliedschaft (z.B. in Kirchen- und Gewerkschaftsorganisationen) einerseits und stärker selbstbezüglich-situativem Engagement (insbesondere bei akademisch gebildeten Mittelschichten) andererseits (Hustinx/Lammertyn 2003). Letzteres Phänomen ist von einigen Sozialwissenschaftlern – nicht zuletzt unter dem Eindruck anhaltender Massenerwerbslosigkeit – als Hinweis auf langfristige Wandlungstendenzen in der gesamten spät(oder post-?)modernen Arbeitsgesellschaft sowie mitunter auch als Anknüpfungspunkt für innovative sozialstaatliche Reformprojekte gedeutet worden (vgl. zusammenfassend Reichert 2002). Das sog. „neue Ehrenamt“ (vgl. z.B. Heinze/ Strünck 2000) bzw. das Modell der „Tätigkeitsgesellschaft“ (Mutz 1997) stehen dabei für einen veränderten Zuschnitt informeller Tätigkeit im Kontext neuer Lebensführungsmodelle. Ausgehend von – empirisch bislang eher randständigen – Phänomenen wie der Beteiligung an Projekten kollektiver Eigenarbeit oder auch an Programmen für den temporären, gegebenenfalls von Arbeitgebern gesponserten, Ausstieg aus der Berufstätigkeit (im erwerbswirtschaftlichen Sektor) wurde ein Zukunftsszenario entworfen, in dem sich die für moderne Gesellschaften typische Verkopplung von (hierarchisierten) Berufs- bzw. Statusrollen mit ehrenamtlicher Tätigkeit auflöst. Freiwilligenarbeit, so die Prognose, wird zu einer mit Bastelbiografien verbundenen Normalerfahrung und entwickelt sich im Rahmen zugespitzter Individualisierungsprozesse zu einem gesellschaftlichen Integrationsmodus jenseits von klassischer Erwerbsarbeit und moderner Statusordnung, aber auch jenseits von klassischer Wohlfahrtsstaatlichkeit. Eine wesentliche Annahme in diesem Zusammenhang ist die, dass die Grenzen zusehends verschwimmen zwischen klassischer Erwerbsarbeit – bei der sich mehr Selbstbestimmung und Selbststeuerung durchsetzen – und freiwilligem Engagement, welches vermehrt professionell gemanagt und strategisch mit Blick auf zukünftige Beschäftigungschancen genutzt wird (Kühnlein/Böhle 2002: 95-96). Gegen ein solches Szenario wird allerdings eingewendet, dass die etablierte Erwerbsarbeitsgesellschaft zwar vielfach dereguliert wird und ihren Charakter verändert, sich aber kulturell und im Hinblick auf die (schichtspezifische) Strukturierung von Lebensläufen als außerordentlich stabil erweist (vgl. z.B. Brose 2000). Andere sehen strukturelle Grenzen für die neue Ehrenamtlichkeit: Sie verweisen auf den starken sozialen Bias bei der Beteiligung an (organisierter) informeller Arbeit, die Zurückhaltung von (typischen) Erwerbslosen gegenüber bestehenden Engagementangeboten sowie die Zunahme sozialstaatlicher Arbeitsverpflichtungen im Rahmen von Workfare-Programmen. Moniert wird ferner, dass sich viele sozialwissenschaftliche Beiträge zum hier behandelten Feld von normativen Erwägungen leiten lassen und einzelne empirische Phänomene als für eine bestimmte Zukunftsvision richtungsweisend interpretieren, ohne dies mit anderen, diese Vision eher dementierenden, Sachverhalten in Beziehung zu setzen. Dieser Eindruck entsteht etwa dort, wo wachsende Spielräume für eine – ergebnisäquivalente oder gar -verbessernde – Substitution wohlfahrtsstaatlicher Unterstützungsleistungen durch ehrenamtliches Engagement ausgemacht werden, demgegenüber aber offen bleibt, unter welchen lebensweltlichen Voraussetzungen, mit welcher quantitativen Reichweite und innerhalb welcher Machtkonstellationen ein dezidiert sozial ausgerichtetes Engagement sich tatsächlich in dieser Weise entfalten kann bzw. würde. Eine solche Substitutionsbewegung erfordert, soll es nicht zu (zusätzlichen) sozialen Verwerfungen kommen, u.a. eine hohe Zeitsouveränität bzw. erhebliche Zeitressourcen bei entsprechend kompetenten (und willigen) Personenkreisen, ferner
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ab- bzw. begrenzbare Arbeitsanforderungen bei (konventionell) Berufstätigen sowie eine stringent an Unterstützungsbedarfen (und nicht primär an Eigeninteressen) ansetzende Engagementbereitschaft – mithin soziale Ressourcen, die unter Bedingungen einer eher zunehmenden Arbeitsmarktbeteiligung (gerade auch von Frauen) sowie einer allgemein stärker vermarktlichten Lebensführung keinesfalls selbstverständlich erscheinen. Gewiss: Es gibt entsprechende Substitutionsbewegungen, aber sie verlaufen in engen Grenzen und sind Teil dessen, was sich als neues Produktionsregime im Dritten Sektor darstellt. Dabei werden die Profile gemeinnütziger bzw. informeller Arbeit in widersprüchlicher Weise neu zugeschnitten. Die stärkere Kundenorientierung vieler Dritt-SektorOrganisationen und die Ausdifferenzierung von Arbeitsrollen, die (nunmehr zuvorderst) an Markterfolgen gemessen werden, ferner der wachsende kulturelle Stellenwert von Flexibilität und Innovativität, und schließlich die Zunahme selbstbezüglicher Formen freiwilliger Beteiligung, verändern den Energiehaushalt, aus dem sich gemeinnützige und informelle Arbeit speisen. Ehren- und hauptamtliche Führungskräfte nehmen es mit der Sachzielorientierung und dem Wertebezug ihrer Tätigkeit weniger genau, (sozial-)professionelle Berufsarbeit orientiert sich stärker an mikroökonomischen Denkmustern, das ehrenamtliche ‚Fußvolk‘ lässt sich weniger leicht in die zunehmend betriebswirtschaftlich standardisierten hauptamtlichen Prozesse einbinden und führt ein launisches Nischenleben. Gleichzeitig erhöht sich der (Deregulierungs-)Druck auf das ausführende Personal von Dritt-SektorOrganisationen. 4.2
Konsequenzen der Wandlungsprozesse
Die oben geschilderten Wandlungsprozesse stehen keineswegs für das Ende des Dritten Sektors und der ihm zu Grunde liegenden Arbeitsformen. Gesellschaftlich bleiben die in diesem Sektor etablierten Tätigkeitsdomänen auf Gemeinnützigkeit bzw. Freiwilligkeit festgelegt und werden letztlich daran auch gemessen. In bestimmter Hinsicht erweitert sich überdies der Zugriff des Sektors auf Umweltressourcen: Die oben angesprochenen posttradionalen Freiwilligeninitiativen, aber auch neue Optionen auf Social Sponsoring, wie sie mit Stiftungsinitiativen und veränderten Marketingstrategien erwerbswirtschaftlicher Unternehmen verbunden sind, bilden die Grundlage für populäre ‚Leuchtturmprojekte‘ und füllen zumindest einige der Lücken, die der im Hinblick auf die Bedarfsdeckung zurückhaltender werdende Wohlfahrtsstaat (als traditioneller Partner des Dritten Sektors) hinterlässt. Wie weit und mit welcher Qualität der gesellschaftliche Integrationsauftrag des Dritten Sektors vom neuen Produktionsregime im Ganzen noch bedient wird, kann hier nicht diskutiert werden. Für die hauptamtlich Beschäftigten impliziert die geschilderte Wandlungsdynamik jedenfalls neue Herausforderungen (in Bereichen wie Projektmanagement oder Fundraising), während freiwillig Engagierte mit Leitungsfunktionen in einen Prozess permanenten Kompetenzerwerbs eingewöhnt werden müssen. Der nüchterne Blick auf die Entwicklung von gemeinnützigen bzw. informellen Tätigkeiten fördert mithin zu Tage, dass Letztere einerseits auch in spätmodernen Gesellschaften eine bedeutsame, sich von anderen Sektoren unterscheidende – und potenziell gesellschaftsintegrierende Wirkungen entfaltende – soziale Realität darstellen, andererseits aber Transformationstendenzen unterliegen, die ihre Integrationsfunktion strapazieren könnten. Wie weit dies der Fall ist, hängt auch von – in diesem Beitrag nicht näher behandelten – natio-
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nal(kulturell)en Kontextbedingungen ab (vgl. dazu etwa Reichert 2002; Bode 2004 oder Kotlenga u.a. 2005). So entwickelt sich professionalisierte gemeinnützige Arbeit in verschiedenen westlichen Gesellschaften wenigstens graduell unterschiedlich, wobei sich die Rolle ehrenamtlicher Beteiligung immer auch über deren Verhältnis zur hauptamtlichen Tätigkeit (und deren wohlfahrtsstaatliche Einbettung) bestimmt. Zudem existieren, wie die skandinavischen oder angelsächsischen Verhältnisse illustrieren (Lindström/Swedberg 2003; Milligan/Conradson 2006), nationalspezifische Ehrenamtskulturen, die einmal die politisch-zivilgesellschaftliche, ein anderes Mal die produktive Dimension freiwilligen Engagements akzentuieren und das Produktionsregime des Dritten Sektors bzw. dessen Dynamik je unterschiedlich beeinflussen. Für die soziologische Auseinandersetzung mit gemeinnütziger bzw. informeller Arbeit ergibt sich daraus die Notwendigkeit einer stärker kultursensiblen Betrachtung, und zwar jenseits der Zahlenakrobatik von Freiwilligen-Surveys. Von Interesse ist dabei u.a., wie sich das Passungsverhältnis zwischen informellen und formalisierten Aktivitäten im Dritten Sektor verändert (in Ansätzen dazu Pankoke 1996; Schumacher 2003 oder Nadai u.a. 2005). Ferner stellt sich die Frage, wie der Wandel der Arbeitsgesellschaft, der sich durch diverse Entgrenzungs- und Vermarktlichungsprozesse, aber auch durch eine stärkere Erwerbsbeteiligung von Frauen und (zuletzt auch) Senioren auszeichnet, auf das Potenzial für informelles Engagement ausstrahlt (ansatzweise dazu Aner 2005) und wie sich vor diesem Hintergrund gemeinnützige Berufsarbeit weiterentwickeln wird. Der Umstand, dass die Grenzen insbesondere zwischen Erwerbsökonomie und Drittem Sektor in der jüngeren Vergangenheit poröser geworden sind, macht dabei den Blick auf die Spezifik gemeinnütziger und informeller Arbeitsformen mitnichten überflüssig. Vielmehr stellt er eine zentrale Herausforderung an eine sektorsensible Arbeitssoziologie dar. Zur Vertiefung Dahme, Heinz-Jürgen/Kühnlein, Gertrud/Wohlfahrt, Norbert/Burmeister, Monika (2005). Zwischen Wettbewerb und Subsidiarität. Wohlfahrtsverbände unterwegs in die Sozialwirtschaft. Berlin: Edition sigma. Kotlenga, Sandra/Nägele, Barbara/Pagels, Nils/Ross, Bettina (Hrsg.) (2005). Arbeit(en) im Dritten Sektor. Europäische Perspektiven. Mössingen-Talheim: Talheimer Verlag. Vogt, Ludgera (2005). Das Kapital der Bürger. Theorie und Praxis zivilgesellschaftlichen Engagements. Frankfurt a.M., New York: Campus. Wex, Thomas (2004). Der Nonprofit-Sektor der Organisationsgesellschaft. Wiesbaden: Gabler.
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Arbeit im gemeinnützigen und informellen Sektor
Arbeit in der bildenden Kunst
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Bilder als arbeitssoziologische Quellen
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Bilder als arbeitssoziologische Quellen Klaus Türk
1
Einführung
Nur selten sind bislang Bilder als Quellen für soziologische Erkenntnisse herangezogen worden.1 Der ,Pictorial Turn‘ in der Geschichtswissenschaft2 scheint die Soziologie noch nicht erreicht zu haben. Auf den ersten Blick erscheint dies plausibel, befasst sich die Soziologie doch in der Hauptsache mit der Gegenwart, und die können sich Soziologen bei Bedarf selbst ansehen und müssen nicht auf Bilder zurückgreifen wie die Geschichtswissenschaft. Soziologen können sich selbst ,ein Bild machen‘, um ,im Bilde‘ zu sein, so könnte man argumentieren. Gewiss spricht einiges für eine solche Argumentation, wenngleich sie etwas zu kurz greift und deshalb ein zweiter Blick gut tut. Es trifft zwar zu, dass die jeweilige Gegenwart im Zentrum der Soziologie steht, aber was heißt das für die Bedeutung der Vergangenheit? Ist das Gestern noch Gegenwart? Endet die Geschichte erst vor einem Jahr oder vor 20 Jahren oder wann sonst? Alles Vergangene ist aber nicht mehr sichtbar, nicht mehr selbst erlebbar – und das gilt für jeden Moment. Die Gegenwart ist streng genommen nicht ausgedehnt, Geschichte reicht offenbar immer an diesen Moment heran. Hinzu kommt ein Weiteres: Alles, was (in der Gegenwart) existiert, ist entstanden, hat Zeit gebraucht; seine Ursachen, Bedingungen, Gründe liegen in der Vergangenheit, teils nur kurz, teils aber auch sehr weit – das können tausend und mehr Jahre sein – zurückliegend. Wir können die Gegenwart nicht ohne Rückgriff auf die Vergangenheit erklären oder verstehen. Das mit der Differenz von Geschichte und Gegenwart operierende Argument zieht also nur begrenzt. Es kommt aber noch eine weitere Relativierung der oben angeführten fingierten Argumentation hinzu. Sie geht nämlich implizit davon aus, dass Bilder als Dokumente für die Realität, als ihr Ersatz in Ermangelung unmittelbaren Zugangs anzusehen seien. Gewiss, ein Foto, eine technische Zeichnung, ein Dokumentarfilm können in gewisser Weise als Ersatz, als ,Abbildungen der Realität‘ verwendet werden; aber nicht einmal hier wäre klar, in welchem Maße und in welcher Hinsicht man Verlässlichkeit erwarten kann. Dies gilt nicht nur vor dem allgemeinen erkenntnis- und kognitionstheoretischen Hintergrund, dass Wirklichkeit stets eine Konstruktion eines Beobachters ist und dass nie sie selbst an sich wahrgenommen und dargestellt werden kann, sondern überdies könnten ja auch mehr oder weniger bewusste Intentionen des Bildautors die Darstellung gelenkt haben. Wie unten noch etwas weiter ausgeführt wird, sind Bilder teilweise und mit gehöriger Quellenkritik als Dokumente für das nicht mehr Zugängliche nutzbar, aber darin erschöpfen sie sich als Quellen soziologischer Analyse nicht. Möglicherweise lohnt es sich, Bilder (statische oder bewegte) so wie andere menschliche Äußerungen auch als Artefakte oder Konstruktionen, 1 Es gibt deshalb auch keinen soziologischen Forschungsstand, über den an dieser Stelle referiert werden könnte. Allerdings hat sich die Kunstgeschichte durchaus mit dem Thema der Arbeit in der bildenden Kunst befasst; siehe dazu die umfangreichen Literaturangaben in Klaus Türk (2000) sowie Klaus Türk (2002b); im Internet findet man Informationen unter www.bilder-der-arbeit.de. 2 Siehe dazu den informativen Überblick von Gerhard Paul (2006).
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Klaus Türk
als Sichtweisen, Deutungen, als Argumente in Diskursen zu verstehen, welche die Wirklichkeit nicht abbilden, sondern Teile ihres Konstitutionsprozesses sind. Dieser Beitrag will anregen, über diese Fragen nachzudenken, und es sollen beispielhaft an Werken der bildenden Kunst einige Antworten vorgeschlagen werden. Zuvor aber kann es nützlich sein, sich einige Gedanken über Unterschiede zwischen Texten und Bildern zu machen.
2 2.1
Bilder als Forschungsgegenstand Bild und Text
Bild und Text sind unterschiedliche Medien der Kommunikation; sie sind sogar so unterschiedlich, dass sie bis auf ganz wenige Ausnahmen (dem Piktogramm z. B.) nicht ineinander übersetzbar sind (s. dazu auch Boehm 1978). Eine noch so ausgefeilte Sprache kann z. B. keine Farben kommunizieren, sondern nur Hinweise auf bereits gesehene Farben vermitteln. Kein Bild vermag etwa logische Deduktionen vorzunehmen. Bilder finden auch dann, wenn sie von einem Betrachter vielleicht gar nicht verstanden werden, eine sinnliche Resonanz, produzieren gleichsam innere Bilder, Assoziationen beim Rezipienten. Ein schriftlicher Text dagegen, der nicht verstanden wird, ist bloße Druckerschwärze. Sprache besteht aus distinkten Einheiten (Wörtern), die durch grammatikalische Regeln in begrenzter Weise kombiniert werden können. Ohne diese musterförmige Redundanz der Grammatik ist kein Verständnis möglich. Für Bilder gilt beides nicht: Weder gibt es vorab ein Inventar (analog zu einem Wörterbuch) von klar unterscheidbaren Elementen, noch existiert eine Grammatik, die syntaktische Regeln bereithielte. In einem Bild ist prinzipiell alles möglich, das Universum des Mediums und seiner Formbildungen ist in diesem Sinne chaotisch, also ohne präformierte Struktur.3 Von daher lässt sich auch nachvollziehen, dass ein Bild dann in besonderem Maße verstehbar erscheint, wenn es in seiner Wahl von Elementen und deren Komposition bereits eingeübten Regeln der Wahrnehmung bzw. Kommunikation entspricht. Ein Bild gilt in diesem Falle als ,wahr‘, als ,realistisch‘ oder ,naturalistisch‘. Schwierigkeiten, die beim Bildverstehen auftauchen, sind umgekehrt nicht selten einer Differenz zwischen eingeübten Sichtweisen und vorgefundenen Bildkonstruktionen geschuldet. Bilder können deshalb irritieren und vielfach ist genau dies ja auch die Absicht ihrer Autoren. Das Bild bewegt sich primär im Medium sinnlicher Argumentation. Bilder sind versinnlichende Vergegenständlichungen, die weniger im logisch-rationalen, sondern vielmehr im emotional-ästhetischen Wahrnehmungskanal operieren. Insbesondere bei Werken der Bildenden Kunst geht es nicht primär um Wissen oder Sinn in einem wissenschaftlichen Verständnis, sondern es geht meist in der Hauptsache um Sinn als Sinnlichkeit, um Erzeugung von Stimmung, Emotion, sinnlicher Resonanz und damit um eine Politik sinnlicher Wahrheit, sinnlicher Erkenntnis. Wenn auch – wie oben ausgeführt – das Medium des Bildes und hier insbesondere des Kunstwerkes prinzipiell unendlich viele Formenbildungen ermöglicht, so lehrt doch die geschichtliche Erfahrung, dass wir Bildwerke relativ gut bestimmten historischen Gesellschaftsformationen zuordnen können. Mit etwas geübtem Blick können wir ziemlich gut 3 Dem widerspricht nicht, dass es empirisch Bildgattungen bzw. Stile gibt, die sich durch einen begrenzten und wiederholten Formenkanon auszeichnen.
Bilder als arbeitssoziologische Quellen
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einschätzen, aus welcher Gesellschaft und welcher Zeit ein Bild stammt. Offenbar bilden Gesellschaften jeweils bestimmte Bild- und Formenprogramme, Stile, ‚Bildwelten‘ aus. Historisch gesehen ist also das Spektrum der Formenbildungen empirisch begrenzt. Bereits dieser Sachverhalt macht Bildwerke zu einer besonderen Quelle für historische Gesellschaftsforschung, insbesondere dann, wenn man weniger ganz herausragende, vielleicht sogar avantgardistische Bildproduktionen heranzieht, sondern eher große relativ homogene Bildfelder untersucht, die möglicherweise auch noch weite Verbreitung als Originale oder Reproduktionen in Zeitschriften, Ausstellungen oder Büchern gefunden haben. Dann nämlich kann man historisch gültige Bildwelten entdecken, in denen sinnliche Deutungen und Bewertungen gesellschaftlicher Sachverhalte, in unserem Falle des Bereichs der Arbeit, zu finden sind.
Ein Beispiel für einen Vergleich von Bild und Text „Selbst die Erleichterung der Arbeit wird zum Mittel der Tortur, indem die Maschine nicht den Arbeiter von der Arbeit befreit, sondern seine Arbeit vom Inhalt. Aller kapitalistischen Produktion, soweit sie nicht nur Arbeitsprozeß, sondern zugleich Verwertungsprozeß des Kapitals, ist es gemeinsam, daß nicht der Arbeiter die Arbeitsbedingung, sondern umgekehrt die Arbeitsbedingung den Arbeiter anwendet, aber erst mit der Maschinerie erhält diese Verkehrung technisch handgreifliche Wirklichkeit. Durch seine Verwandlung in einen Automaten tritt das Arbeitsmittel während des Arbeitsprozesses selbst dem Arbeiter als Kapital gegenüber, als tote Arbeit, welche die lebendige Arbeitskraft beherrscht und aussaugt.“ (Marx 1968: 445-446)
Abbildung 1:
Albert Birkle: Arbeiter und Maschine (1922) ©VG Bild-Kunst, Bonn, 2008
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Klaus Türk
An dieser Gegenüberstellung von einem Text und einem Bild mögen Leserinnen und Leser die Unterschiedlichkeit dieser beiden Medien sich selbst erfahrbar machen. Zugleich kann man etwas über die Kombination beider Medien lernen: Während der Text sich in einem intellektuell-rationalen Wahrnehmungsbereich bewegt, operiert das Bild in einem sinnlichemotionalen Kommunikationskanal. Durch das Arrangement von Text und Bild wird eine illustrierende Funktion des Bildes wie auch andersherum eine interpretierende Funktion des Textes insinuiert, also eine argumentierende Manipulation des Rezipienten vorgenommen. 2.2
Die Wirklichkeit der Bilder
Keinesfalls sind Bildwerke – das muss man eigentlich heutzutage nicht mehr betonen – schlicht Abbildungen oder Wiedergaben ihrer Bildgegenstände, obwohl in vielen Büchern der Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte historische Bilder auch heute noch etwas naiv als Illustrationen vergangener Wirklichkeit reproduziert werden. Sie sind vielmehr materielle Manifestationen von Argumenten, die in eine bestimmte Form gebracht wurden, um bestimmte Assoziationen bei den Betrachtern anzuregen. Sie sind, auch das scheint heute selbstverständlich, gesellschaftliche Konstruktion gesellschaftlicher Wirklichkeit. Sie sind also stets Abbilder, Manifestationen von Wirklichkeit, wenn nicht schlicht bezüglich ihrer Gegenstände, dann aber in jedem Falle bezüglich ihrer Bildlichkeit, ihrer visuellen Form.
Bilder als realienkundliche Quellen Man sollte allerdings das konstruktivistische Argument nicht so weit treiben, dass es einem Erkenntnisse über die dargestellte Realität, die durchaus erwerbbar wären, verbaut. Bilder können nämlich durchaus im Sinne der geschichtswissenschaftlichen ,Realienkunde‘ Auskunft geben über die Beschaffenheit sachlicher Gegenstände wie z. B. Gebäude, Maschinen, Werkzeuge, Kleidung aber auch über soziale Verhältnisse wie z. B. Hierarchien, Beziehungen der Geschlechter zueinander oder über Arbeitsverhältnisse. Die beiden historischen Bilder (Abbildungen 2 und 3) können dies verdeutlichen.
Bilder als arbeitssoziologische Quellen Abbildung 2:
Wenzel-Bibel: Turmbau zu Babel (um 1400)
Abbildung 3:
Anonym: Spielkartenmanufaktur (ca. 1660)
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Ohne Frage handelt es sich um bildkünstlerische Konstruktionen, die nicht einfach Abbilder ihrer Gegenstände wiedergeben. So ist etwa das Bild zum Turmbau zu Babel (Abbildung 2) vollständig erfunden. Aber selbst dort finden wir mit großer Wahrscheinlichkeit zumindest die Werkzeuge und Maschinen schematisch ,realistisch‘ dargestellt; dies gilt insbesondere für Krane – rechts einer mit der sogenannten Teufelskralle – sodass wir wohl tatsächlich Informationen über mittelalterliche Arbeitstechniken erhalten. Arbeitsgeschichtliche Informationen enthält mit Sicherheit auch das Manufakturbild (Abbildung 3). Auch hier ist das Bild gewiss zunächst einmal artifiziell komponiert, allerdings wohl mit der Absicht, möglichst viele Arbeitsprozesse zeigen zu können. Wir sehen neben einer alten
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Klaus Türk
Druckerpresse (rechts) arbeitsteilige Produktion, Männer und Frauen bei der Arbeit sowie links einen wohl höheren Angestellten oder gar den Unternehmer, der sich durch Haltung, Kleidung und geistige Arbeit von den Anderen unterscheidet. Zudem erfährt man etwas über die zeitgenössische Kleidung, wenngleich weiter zu untersuchen wäre, welche Bedeutung es hat, dass der Künstler alle Personen in ausgesucht guter Kleidung darstellt.
Arbeitsbilder als Elemente gesellschaftlicher Diskurse Man kann ganze Gesellschaften, gesellschaftliche Teilsysteme, Gruppierungen, theoretische Schulen und dergl. mehr nach der Art und Weise ihrer Konstruktionen gesellschaftlicher Wirklichkeit unterscheiden. Diese weisen meist Regelhaftigkeiten und thematische Schwerpunktsetzungen auf und sind an typischen argumentativen Mustern, mit denen sie ihre jeweiligen Wahrheiten produzieren, zu erkennen. Ein solches Set von Mustern kann man – mit Foucault – „Diskurs“ nennen (z. B. nur Foucault 1997). Diskurse werden mit Hilfe von Kommunikationsmedien geführt, zu denen neben der Sprache (wie in diesem Buch) auch die Bilder gehören (vgl. dazu ausführlicher Türk 2006 mit weiteren Literaturhinweisen). Diskurse produzieren und kommunizieren Sinn und ermöglichen damit die Orientierung in der Welt. Nahezu jede Aussage über die Welt lässt sich einem spezifischen Diskurs zuordnen; sie folgt in Inhalt und Form, in Adressierung und in der Erwartung bestimmter Anschlusskommunikationen identifizierbaren impliziten oder expliziten Regeln. Nahezu alles, was wir zu wissen glauben, ist diskursiv vermittelt, gehört jeweils einem bestimmten Regime der Produktion von Wahrheit oder Wissen an. Für die Soziologie sind nun vor allem jene Bereiche einer Gesellschaft von Interesse, die in besonders ausgeprägter Weise die gesellschaftlichen Verhältnisse strukturieren, und das ist wohl fraglos für den Bereich der Arbeit der Fall. Arbeit prägt die Verhältnisse der Menschen zueinander (soziale Differenzierungen in Form von Arbeitsteilungen, Ungleichheiten, Herrschaft, Unterordnungen, sozialer Status, Prestige etc.), die Verhältnisse der Gesellschaft zur äußeren Natur (z. B. Naturauffassungen, Technologien, Naturnutzungen) sowie die Subjektverhältnisse (arbeitsbezogene Identitäten, Bestimmungen des Menschen über Arbeit, Selbstverwirklichungen bzw. deren Verhinderungen). Arbeit, ihre Strukturierungen und strukturellen Korrelate gehören deshalb zu den empfindlichsten, legitimationsbedürftigen und deshalb häufig politisierten Bereichen von Gesellschaften und dies insbesondere seit Beginn der Neuzeit. So kann man davon ausgehen, dass auch die bildliche Darstellung von Arbeit nie ,unschuldig‘, bloß neutral ist. Vielmehr hat das Arbeitsbild zwangsläufig eine implizite oder explizite politische Tendenz, ob dessen Autor dies will oder nicht. Die Darstellung von Arbeit nimmt stets zu der jeweiligen historischen Form der Arbeit Stellung; sie deutet, interpretiert, verbrämt, reflektiert, unterstützt oder konterkariert herrschende Auffassungen. Ungleich offenkundiger als bei anderen Bildthemen (wie etwa der Landschaftsmalerei) ist der affirmative bzw. kritische Gehalt bei Arbeitsbildern. Viel weniger noch als bei anderen Bildthemen wird man bei der Interpretation von Arbeitsbildern ohne eine soziologische Analyse auskommen – aber viel mehr als bei Bildwerken mit anderen Themen ist von einer solchen Analyse Auskunft über die (auch konkurrierenden) Konstruktionen gesellschaftlicher Wirklichkeit zu erwarten. Die gesellschaftlichen Arbeitsdiskurse – und diese konstituieren vor allem die moderne Gesellschaft von Beginn an mit – vollziehen sich auch im Bild als Medium der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit.
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Arbeitsbilder als diskursive Elemente Diese beiden Bilder, die viel reproduziert wurden und kaum eine Generation auseinander liegen, können verdeutlichen, was gemeint ist, Bilder als diskursive Elemente zu verstehen. Abbildung 4:
Arthur Kampf: Im Walzwerk (1901)
990 Abbildung 5:
Klaus Türk Gerd Arntz: Fabrik (1927) ©VG Bild-Kunst, Bonn, 2008
Beide Bilder beteiligten sich an historischen Arbeitsdiskursen. Das Gemälde von Kampf war Teil eines großen Wandbildes in einem öffentlichen Gebäude in Aachen, was auf seine programmatisch-argumentative Funktion verweist. Es ist Teil eines affirmativ-nationalistischen Produktivitätsdiskurses industriell-männlicher Arbeit, der bereits die Zeit um 1900 prägt. Der Holzschnitt von Gerd Arntz gehört der sehr konfliktreichen diskursiven Landschaft der 1920er Jahre an, in der es auf der politischen linken Seite darum ging, ein kritisches Gesellschaftsbewusstein zu formulieren und es in der Öffentlichkeit zu verbreiten. Industrielle Arbeit wird hier als kapitalistisch subsumierte, entfremdete und ausbeutende Arbeit dargestellt. Die konstruktivistische Perspektive bildlicher Produktionen ernst zu nehmen heißt nun aber nicht, danach zu fragen, wie in unterschiedlichen Bildern die Wirklichkeit – also etwa die Natur, das menschliche Subjekt oder für unseren Zusammenhang Arbeit und Industrie – verschieden interpretiert werden. Ein solcher Ansatz setzte voraus, dass wir die Bildgegenstände als objektive Fakten vorab erkennen könnten, um dann in einem zweiten Schritt die bildhafte Interpretation dieser Gegenstände mit ihnen zu vergleichen. Auf der einen Seite gäbe es dann die Natur, den Menschen, die Industrie und auf der anderen deren Deutungen,
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Wertungen etc. Bezüglich der Vergangenheit müssten wir also z. B. die historischen Realitäten bereits kennen, um Bilder als deren Interpretationen beurteilen zu können. Dass dies nie gelingen kann, liegt auf der Hand, da wir ja stets auf mitgeteilte Beobachtungen Dritter angewiesen sind. Ein strikter Konstruktivismus ginge demgegenüber von der diskursiven Produktion der Gegenstände selbst aus. Ein Vergleich von Gegenstand und Bild kann demnach nur als ein Vergleich zweier Konstruktionen verstanden werden. Eine Übereinstimmung ist kein Indikator für (,objektive‘) Wahrheit, sondern lediglich eine Verstärkung etablierter Sichtweisen, und eine Differenz ist kein Indikator für Unwahrheit, sondern ein Angebot, das Spektrum des Wissens zu erweitern. Es kann also nicht davon ausgegangen werden, dass der Gegenstand ‚Arbeit‘ unabhängig von gesellschaftlichen Diskursen existiert. Vielmehr müsste versucht werden, etwa die Entstehungs- und Wandlungsgeschichte dessen, was jeweils ‚Arbeit‘ genannt wird, auch anhand von Bildern zu rekonstruieren. Dabei ist damit zu rechnen, dass in Diskursen gesellschaftliche Konflikte ausgetragen werden; Erzeugung und Kommunikation von Wissen sind mit Macht besetzte und um Macht ringende Prozesse der ,Wahrheitspolitik‘ (Foucault) einer Gesellschaft. Damit stellt sich auch die Frage nach der Geltungsmacht, dem Einfluss von Bildern. Dieser ließe sich in mindestens vierfacher Hinsicht untersuchen: Erstens hinsichtlich der von den Rezipienten empirisch tatsächlich zugeschriebenen Autorität, die sich in Verhaltensänderungen niederschlägt. Das ist insbesondere für historische Bilder naturgemäß schwer einzuschätzen. Zweitens könnte man die Bildkontexte untersuchen, ob ggf. sprachliche Kontexte existieren, die (bestimmten) Bildern besondere Bedeutung verleihen, ihnen einen herausgehobenen Wahrheitsgehalt zubilligen (man denke dabei z. B. an Bilder in Schulbüchern oder auch an Kunstwerke im öffentlichen Raum, denen allein durch ihre Lokalisierung Autorität verliehen werden soll). Drittens könnte man ganz bildimmanent nach bildprogrammatischen und stilistischen Mitteln fragen, die einem Bild besondere Wahrheitsgeltung verschaffen sollen (man denke z. B. an den Naturalismus, der einen Abbildcharakter vorzugeben trachtet oder aber auch an Gegenteiliges wie etwa den sozialen Realismus, der Geltungsansprüche durch Abstraktion und Konzentration zu forcieren versucht; man vergleiche unter diesen Aspekten auch einmal die Abbildungen 4 und 5). Viertens schließlich könnte man einen Indikator für empirisch zugeschriebene Autorität in der Häufigkeit finden, mit der bestimmte Bilder gezeigt, ausgestellt, kopiert, wiederholt oder reproduziert werden. Ein herausragendes Beispiel in der Geschichte des Arbeitsbildes ist hier etwa das „Eisenwalzwerk“ von Adolph Menzel, das seit seiner Fertigstellung 1875 bis heute unzählige Male auf Ausstellungen gezeigt und im Schrifttum reproduziert wurde.
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Abbildung 6:
Adolph Menzel: Das Eisenwalzwerk (1875)
Adolph Menzels „Eisenwalzwerk“ gilt geradezu als Ikone der Industriemalerei, und das seit seiner ersten Präsentation. In den vergangenen 130 Jahren wurde es bis heute unzählige Male reproduziert. Es ist in wohl jeder denkbaren Weise genutzt und interpretiert sowie politisch von ganz links bis ganz rechts (in der Nazi-Zeit wurden Reproduktionen an Arbeiter verteilt) vereinnahmt worden. Das Bild selbst wäre damit nicht nur zu seiner Entstehungszeit als diskursives Element im Kontext der bürgerlichen Konstitution des Deutschen Reiches zu verstehen, in dem nun die bürgerlich beherrschte Industrie und nicht mehr der landgebundene Adel die Macht zu übernehmen trachtet, sondern es wäre auch zu untersuchen, in welcher Weise genau es in Arbeitsdiskursen bis heute eingesetzt wird. Dieses Gemälde hat vor allem in Deutschland die Entwicklung der Bildgattung des Industriegemäldes ausgelöst. Industriearbeiter wurden nun ,bildwürdig‘.
3 3.1
Das Arbeitsbild in der Geschichte Historischer Überblick
Obwohl es bildliche Darstellungen menschlicher Arbeit bereits so lange gibt wie Menschen überhaupt Bilder produzieren, kann man von dezidiert argumentierenden Arbeitsbildern in Europa wohl erst seit dem Mittelalter sprechen. Unter argumentierenden Arbeitsbildern werden solche verstanden, die Arbeit nicht beiläufig darstellen, sondern Arbeit zum Thema der Darstellung machen, also zum Begriff, Inhalt, Wesen, Bedeutung von Arbeit und ihrer gesellschaftlichen wie subjektbezogenen Korrelate in reflektierter Weise bildliche Beiträge liefern.4 Man kann den Zeitraum dann noch weiter eingrenzen, wenn man versucht, die 4
Vgl. dazu ausführlicher Klaus Türk 2002a und 2006.
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gesellschaftliche Relevanz von Arbeitsteilung und die Aufmerksamkeit für sie zu berücksichtigen. Indikatoren für die diskursive Relevanz von Bildern sind dabei die Publikations-, Reproduktions- und Ausstellungshäufigkeit von Bildern und die Aufmerksamkeit, die sie in der Kunstkritik erfahren. Hinzu kommen Kriterien wie Erstmaligkeit des Auftretens bestimmter Bildmotive oder -gestaltungen, quantitative Häufung von Arbeitsbildern sowie die Existenz von Bildfeldern, also einer Mehrzahl thematisch und stilistisch relativ homogener Werke. Dies sind zugegebenermaßen relativ weiche und nicht immer strikt objektivierbare Kriterien. Wenn man aber trotzdem versucht, mit ihnen zu arbeiten, findet man heraus, dass sich der Zeitraum besonders ausgeprägter Bedeutung des (künstlerischen) Arbeitsbildes in Europa auf die Epoche von Beginn der Frühen Neuzeit im 16. Jahrhundert bis zum Ende des 2. Weltkrieges eingrenzen lässt, wobei es in diesem Zeitabschnitt deutliche konjunkturelle Schwankungen des Arbeitsbildes gibt.5 Wesentliche Ausnahmen bilden allerdings die staatssozialistischen Länder, in denen bis zu ihrem Untergang Bilder der Arbeit im Zentrum (staatlicher) Bildpolitik standen. Arbeitsbilder begleiten demnach die Entwicklung der modernen Arbeits- und Industriegesellschaft von Anbeginn an und ihre Relevanz schwindet je fester und selbstverständlicher sich diese Gesellschaftsformation institutionalisiert. Allein in den real-sozialistischen Staaten bedarf die gesellschaftliche Arbeit offenbar noch einer speziellen Würdigung und Legitimation, gilt doch in ihren Ideologien die ‚befreite‘ Arbeit als konstitutives und produktives Prinzip der Gesellschaft. Die Häufung von Arbeitsbildern und die gesellschaftliche Aufmerksamkeit für sie lassen sich vor diesem Hintergrund wohl auch als ein Krisenindikator interpretieren. So findet man in den Zeiten, in denen arbeitsbezogene gesellschaftliche Umwälzungen besonders ausgeprägt waren, auffällig viele und einschlägige Werke. Dies gilt für das 16. und das 19. Jahrhundert, in Deutschland auch für die Weimarer Republik und für Europa und die USA ebenso für die 1930er Jahre.6 Mit dem Beginn des 16. Jahrhunderts ist ein quantitativ wachsender Korpus von arbeitsthematischen Bildwerken festzustellen. Zunehmend bedient man sich des Kupferstichs als Vervielfältigungsmedium und soweit es sich um Ölgemälde handelt, werden auch diese häufig wiederholt bzw. kopiert. Inhaltlich findet ein Bruch zum mittelalterlichen Arbeitsbild statt, das über Jahrhunderte hinweg in Form von Buchmalerei, teilweise auch als Holzschnitt existierte, aber keine eigenständige Existenz hatte, sondern im wesentlichen der Illustration von Texten (Bibel, Gebetbücher, Kalendarien und dergleichen mehr) diente. Eine weitere ausgeprägte Diskursformation beginnt erst wieder im 19. Jahrhundert. Man kann etwa seit der Mitte des Jahrhunderts eine vermehrte Thematisierung von Arbeit in der Bildenden Kunst ausmachen: zunächst gleichsam eine Take-off-Phase, die etwa 30 Jahre umfasst, und dann die absolute Hoch-Zeit des Arbeitsbildes vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, also etwa 50 Jahre. Danach ist eine diskursive Relevanz des Arbeitsbildes – wie bereits gesagt – nur noch in real-sozialistischen Ländern 5 Diese Einschätzung erfolgt auf der Basis von mehr als 36.000 Kunstwerken, welche in dem LangfristForschungsprojekt „Bilder der Arbeit“ dokumentiert sind. Vgl. dazu auch Klaus Türk 2006. 6 Soweit man sich nur wie hier auf Werke der Bildenden Kunst bezieht, muss man allerdings mindestens zwei weitere Aspekte berücksichtigen: zum einen die kunstimmanente Stil-Entwicklung, welche sich nach 1945 im Haupttrend von realistischer Kunst abwendet, zum anderen die Entwicklung der Fotografie als neues Medium seit Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Arbeitsfotografie läuft allerdings zunächst in sehr enger Korrelation zum gemalten oder gezeichneten Bild. In den vergangenen – vielleicht 30 – Jahren hat sich aber das Genre der Industriefotografie entwickelt, das sich allerdings weniger Arbeitsprozessen als industriellen Anlagen, insbesondere der niedergehenden Industrie, widmet.
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feststellbar. In den anderen Ländern werden zwar auch noch Arbeitsbilder durchaus in quantitativ beachtlicher Anzahl produziert, allein die öffentliche Aufmerksamkeit ist sehr gering. Reproduktionen in Zeitschriften etwa, wie man sie in der Zeit davor so umfangreich fand, unterbleiben gänzlich. Eine Ausnahme bilden allerdings Firmen(fest)schriften. Hier finden sich in der Bundesrepublik Deutschland noch bis zur Mitte der 1960er Jahre gemalte oder gezeichnete Arbeitsbilder in größerer Zahl. 3.2
Bilder zur Geschichte des Begriffs der Arbeit
An dem Beispiel der Geschichte des Arbeitsbegriffes soll anhand von Bildern aus zwei Epochen aufgezeigt werden, in welcher Weise historisches Bildmaterial unser Wissen bereichern kann. Der Begriff der Arbeit ist wohl seit zweitausend Jahren Gegenstand gesellschaftlicher Reflexionen und Debatten. Bestimmte Begriffsinhalte setzen sich jeweils temporär durch. Sie ermöglichen und konfigurieren soziale Bewertungen und Differenzierungen sowie Zugriffsweisen auf Mensch und Natur. Anhand von Bildmaterial lassen sich Wandlungen und Inhalte des Arbeitsbegriffes aufzeigen. Dies soll hier am Beispiel der Verbindung des Arbeitsbegriffes mit Konzepten von Produktivität und Effizienz aufgezeigt werden.
Arbeit im Bild der Frühen Neuzeit Eine große Umbruchzeit für den Arbeitsbegriff ist die Phase des Übergangs vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit im 16. Jahrhundert. Wurde der berühmte Vers aus Vergils „Georgica“ (Gedicht über den Landbau, ca. 30 v. Chr.) ,Labor improbus omnia vincit‘ zuvor eher in der Weise interpretiert, dass nach dem verlorenen Paradies Mühe und Schinderei alles besiegte, so wird das lateinische Wort ,labor‘ seit dem 16. Jahrhundert in seiner anderen Bedeutung übersetzt, so dass nun die ,fleißige Arbeit allen Mangel besiegt‘. ,Labor (improbus) omnia vincit‘ wird seitdem zum Sinnspruch disziplinierend-merkantiler Verfleißigung.
Bilder als arbeitssoziologische Quellen Abbildung 7:
Maerten van Heemskerck: Allegorie der Arbeit (1571)
Abbildung 8:
Wolfgang Kilian: Labor improbus omnia vincit (ca. 1621)
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996 Abbildung 9:
Klaus Türk Anonymes Emblem: Labor omnia vincit (ca. 1650)
Diese Deutung wird in der wohl ersten Allegorie der Arbeit von Maerten van Heemskerck (Abbildung 7) bildlich umgesetzt; sie ziert deklamatorische Grafiken und findet Eingang in die Emblemkunst, die eine allegorische Bildsprache zu entwickeln versuchte (Abbildung 8, Abbildung 9). Die Allegorie der Arbeit von Maerten van Heemskerck ist dabei besonders interessant. Die männliche Figur links personifiziert die Arbeit als kraftvolle Anstrengung. Diese produziert angeleitet durch Diligentia, also Umsicht und Wirtschaftlichkeit – verkörpert durch die Frauengestalt rechts – Nahrung und Kleidung, welche durch die Knaben Victus und Amictus symbolisiert werden. Diligentia trägt ein Stundenglas, eine Peitsche und Sporen. Es geht also um effiziente Nutzung der (Lebens-)Zeit sowie darum, dass zur Arbeit angetrieben werden muss. Arbeit wird hier als ökonomische Produktivkraft gesehen, die von außen durch einen ,dispositiven Faktor‘ umsichtig eingesetzt und diszipliniert werden muss. Die herauslösende Verselbstständigung des Arbeitsbegriffs, welche Arbeit nun zum Gegenstand organisierender Effektivierung werden lässt, folgt einem neuen Abschöpfungsinteresse des frühabsolutistischen Staates sowie seiner ihm eng assoziierten privaten Manufaktureigentümer. Das aufkommende Effizienzparadigma ist somit auch an einen neuen Gesellschaftsbegriff gebunden, der Soziales als gestaltbar und organisierbar begreift. Zudem etabliert sich auch ein neuer Menschenbegriff, der den Menschen ebenfalls als gestaltbar, hier vor allem im Sinne der Effektivierung seines Arbeitsvermögens, auffasst. Dieser Effektivierungsdiskurs ist doppelt kodiert – eine Kodierungsform, die sich bis ins 20. Jahrhundert fortsetzt. Der eine Kodierungsmodus ist Rationalität im Sinne instrumentelltechnologischer Vernunft, der andere argumentiert mit einer Kraft-, Macht- und Gewaltsemantik. Das Rationalitätsdispositiv führt die Tugend- und Fleißmoralisierung von Arbeit weiter, die Machtsemantik entwickelt sich gleichsam dialektisch aus dem Ideologem der Naturunterworfenheit des Menschen, das nun in Naturunterwerfung umschlägt. Nicht nur die menschliche Ratio, sondern auch die durchaus physisch zu verstehende, durch Technologie und Werkzeug verstärkte Kraft des Menschen brechen die Macht und Widerständigkeit der Natur. Arbeit wird nun zur geplanten, organisierten und machtvollen Umformung der Natur für menschliche Zwecke. Für die beiden Teilmuster dieses Diskurses, für Rationalität einerseits und Macht andererseits, bilden sich im Laufe der Zeit zwei verschiedene
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Bildgattungen aus: die technologische Grafik einerseits, die vor allem in unzähligen mechanisch-technologischen Enzyklopädien vom 16. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zu finden ist und das – teils riesige – Arbeitsgemälde andererseits, das vor allem im sogenannten Industriebild des 19. und 20. Jahrhunderts fast ganz auf die Formulierung des Rationalitätsdispositivs verzichtet und stattdessen auf ein emotionalisierendes Machtdispositiv setzt, indem es industrielle Fertigungsprozesse spektakulär inszeniert. So finden wir im 16. Jahrhundert die ersten technologischen Lehrwerke, die reich illustriert sind, wie z. B. das berühmte Bergbaubuch von Georg Agricola von 1556. In solchen Werken werden die menschlichen Träger des Arbeitsvermögens zunehmend entindividualisiert und typisiert, der Produktionsprozess bildet zunehmend eine eigenständige effektivierbare Einheit. Parallel zu den technologisch-mechanischen Lehrwerken findet das patriarchale Effektivierungsparadigma in der umfangreichen Hausvaterliteratur des 17. und 18. Jahrhunderts, die häufig illustriert ist, ihren Niederschlag. Ein Höhepunkt dieser Bildgattung ist im 18. Jahrhundert die Tafelsammlung der Enzyklopädie von Denis Diderot und Jean Le Rond d’Alembert; ihr absoluter Höhepunkt dürfte in den enzyklopädischen Werken des 19. Jahrhunderts liegen, z. B. in Turgans „Grandes Usines“ oder im „Das Buch der Erfindungen“, um nur zwei der unzähligen Beispiele zu nennen, die teilweise bis zu 120 Bände umfassen. Seit dem 16. Jahrhundert dient die neue ,effektivistisch‘ definierte Arbeit auch der differenzierenden Selbstidentifikation des ,Dritten Standes‘. Herausragendes Beispiel der europäischen Bildgeschichte ist dafür das „Ständebuch“ Jost Ammans von 1568. Es grenzt den produktiven Handwerkerstand in Bildern und Texten, teils mit Hilfe von Ironie, von den für unproduktiv gehaltenen Ständen ab. Eine neue Klasse definiert sich zunehmend selbstbewusst über einen Begriff produktiver Arbeit. Deuten solche Bilder sowie die anderen oben bereits genannten Bildgattungen auf ein Disembedding von Arbeit/Ökonomie aus dem bisherigen Lebens- und Moralkontext hin und insinuieren damit eine vermeintlich politik- und moralfreie Neutralität des technologisch-ökonomischen Dispositivs, so legen andere Bilder dieser Epoche eher nahe, von einem Re-embedding zu sprechen. Das Titelkupfer der von Johannes Stradanus um 1570 publizierten Folge ,Nova Reperta‘ (Neue Erfindungen) repräsentiert bereits nicht nur die Imperative moderner expansiver Technologie, sondern bettet sie in ein politisches Programm der Weltbeherrschung ein (Abbildung 10): Im Zentrum stehen Kanone und Buchdruck als Symbole militärischen und kulturellen Hegemonieanspruchs; gerahmt werden diese bezeichnenderweise durch die Karte Amerikas und den Kompass. Die Luxusorientierung des entstehenden Kapitalismus zeigt der Seidenstrauch links unten an, die Räderuhr das neue Zeitregime, der Steigbügel darunter hat die Kriegführung revolutioniert; auf die moderne Medizin verweisen das Gujakholz und die Destillieranlage rechts.
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Abbildung 10: Johannes Stradanus: Titelkupfer zu Nova Reperta (ca. 1570)
Abbildung 11: Christoph Weigel: Abbildung der gemeinnützlichen Hauptstände (Titelkupfer) (1698)
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Gut hundert Jahre später tritt die inzwischen klarer herausentwickelte neue politische Ökonomie in dem Titelkupfer zu Christoph Weigels Ständebuch ohne Umschweife hervor (Abbildung 11). Es fasst die politische Theorie des Ständebuchs allegorisch zusammen, in welcher der Staat durch die Trias von Militär, Ökonomie und Wissenschaft gestützt wird. Mercurius dominiert – der militante Gott des Handels, der Wege und Diebe. Globalität wird durch den Globus symbolisiert; auch dem herrschaftlichen Bauen wird durch die Grundrisszeichnung ein dominanter Platz zugewiesen.
Arbeit im Bild der entwickelten Moderne (19. Jahrhundert) Machen wir einen Sprung ins 19. Jahrhundert, um zu sehen, auf welche Weise sich der Arbeitsbegriff der europäischen Moderne in neuerer Zeit manifestiert. Wenn man über die Geschichte der Arbeit im 19. Jahrhundert noch nichts wüsste und nur Einblick hätte in die (künstlerischen) Bildproduktionen dieser Zeit, käme man zu dem Schluss, dass Arbeit ein zentrales und kontrovers diskutiertes Thema gewesen sein muss. Nicht nur tauchen erstmals riesige Gemälde mit Arbeits- und Arbeiterdarstellungen auf, sondern im Laufe des Jahrhunderts erfolgt auch eine quantitativ umfangreiche Bildproduktion, in der Arbeit ganz unterschiedlich aufgefasst und dargestellt wird. Arbeit scheint ein ,umkämpftes Gelände‘ gewesen zu sein, weil sie offenbar nun zu einem zentralen Definitionsmerkmal der Gesellschaft insgesamt wie auch seiner Schichten, Klassen und politischen Gruppierungen geworden ist. Damit hat der Begriff der Arbeit im Selbstverständnis der Gesellschaft an Bedeutungsumfang und moralischer Aufladung erheblich zugenommen. Arbeit ist nun endgültig nicht mehr nur eine Tätigkeitskategorie unter anderen, sondern wird als basales Strukturprinzip des materiellen Lebens und der gesellschaftlichen Verhältnisse gewertet. Im Bereich der Bildenden Kunst kulminiert diese Positionierung von Arbeit gegen Ende des Jahrhunderts in der Schaffung von großformatigen Denkmälern der Arbeit, die sowohl in öffentlichem als auch privatem Auftrage entstehen.7 Einige wenige Bildbeispiele sollen diese Ausführungen illustrieren: Mit einem Paukenschlag eröffnet der französische Maler Gustave Courbet nach Zerschlagung der demokratischen Kräfte in Frankreich und kurz nach Erscheinen des „Manifestes der kommunistischen Partei“ von Karl Marx und Friedrich Engels im Jahre 1849 den arbeitsthematischen Bilddiskurs mit seinem Gemälde „Die Steineklopfer“, das erstmals Arbeiter – und nur Arbeiter – in Lebensgröße auf der Leinwand darstellt (Abbildung 12). Das Bild wird in konservativ-bürgerlichen Kreisen als Skandal empfunden, ist es doch sowohl kunst- als auch arbeitspolitisch revolutionär. Die Kunst will Gustave Courbet – wie Karl Marx die Philosophie – vom (idealistischen) Kopf auf die (materialistischen) Füße stellen, es gelte, die Realität zu zeigen, und arbeitspolitisch geht es um eine Anklage der unwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen des Proletariats.
7 Zudem entwickelt sich um die Jahrhundertwende die Arbeits- und Industriefotografie. Zahlreiche Unternehmungen haben nun Fotoabteilungen, welche Bildmaterial für Werbe- und Dokumentationszwecke produzieren. Zusätzlich zu gemalten oder gezeichneten Bildern zieren nun auch die aufkommenden Firmenfestschriften Fotos. Gleichzeitig entsteht die Sozialfotografie, man denke z. B. nur an Heinrich Zille in Berlin.
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Abbildung 12: Gustave Courbet: Die Steineklopfer (1849)
1844, noch vor den berühmten Weberaufständen, hatte Karl Wilhelm Hübner, stilistisch noch ganz der Tradition verbunden, die Ausbeutung der unter dem Verlagssystem leidenden Weber in seinem Gemälde „Die schlesischen Weber“ geschildert, ein Bild, das eher auf Mitleid denn auf Revolution abzielt. Eines der wenigen Bilder, das explizit gesellschaftsanalytisch ausgerichtet ist, gleichsam eine bildliche Soziologie liefert, ist das Gemälde „Work“ des Engländers Ford Madox Brown (Abbildung 14). Der Maler hat dazu auch einen umfangreichen Text verfasst.8 Das ca. zwei Meter breite Werk wurde in der Pathosform mit Rundbogen gestaltet. Es handelt sich um eine Real-Allegorie der englischen Gesellschaft und ist von einem arbeitspathetischen, romantisierenden Sozialismus getragen, wie er auch in Thomas Carlyles Schrift „Past and Present“ zum Ausdruck kommt. Umrahmt wird das Original von biblischen Inschriften. Die Bauarbeiter werden hier nicht als ausgebeutete oder unterdrückte Menschen dargestellt; vielmehr geht es darum, dieser produktiven Klasse den ihr gebührenden Platz in der Gesellschaft einzuräumen. Das Bild ist in der Gesamtkomposition so aufgebaut, dass es die arbeitende Klasse ins Zentrum rückt, rechts unten ausgegrenzt die Arbeitslosen im Graben, links und hinten die arbeitsfreie Klasse, ganz im Vordergrund die noch nicht arbeitenden armen Kinder. Arbeit wird als körperliche Arbeit aber auch als Geistesarbeit aufgefasst, zwei Geistesarbeiter, Thomas Carlyle und der sozialistisch orientierte Priester Frederick Denison Maurice, stehen rechts.
8 Der Text kann hier aus Platzgründen nicht wiedergegeben werden; siehe aber Klaus Türk 2000: 92-93 oder http://www.bilder-der-arbeit.de/Museum/Seiten/Brown.html.
Bilder als arbeitssoziologische Quellen Abbildung 13: Karl Wilhelm Hübner: Die schlesischen Weber (1844)
Abbildung 14: Ford Madox Brown: Work (1852/65)
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Gustave Courbet, Karl Wilhelm Hübner und Ford Madox Brown sind Beispiele für Künstler, die Arbeit und Gesellschaft in Beziehung zueinander setzen, indem sie die durch Arbeit bestimmte Klassenlage thematisieren. Dabei unterscheiden sie sich aber in ihren Positionen. Karl Wilhelm Hübner und Gustave Courbet kritisieren die Arbeitsverhältnisse, wobei Karl Wilhelm Hübner eher an Mitleid und Gustave Courbet eher an Revolution appelliert. Ford Madox Brown ist dagegen analytisch, teils satirisch, er stellt die faktische Bedeutung der Arbeit in das Zentrum, nobilitiert die Arbeiter gegenüber der noblen, nicht arbeitenden Klasse. Abbildung 15: Jean-François Millet: Der Mann mit der Hacke (1860/62)
Zur gleichen Zeit formuliert ein weiterer französischer Maler eine andere Position, die Arbeit nicht auf Gesellschaft, sondern auf Natur bezieht, sie aber ebenfalls ganz in das Zentrum der Aufmerksamkeit stellt. Es handelt sich um Jean-François Millet, der ein umfangreiches Werk zur Arbeitsthematik geschaffen hat, sich dabei aber ganz auf die Landarbeit konzentriert. Jean-François Millet verwendet dort statt soziologischer anthropologische Kategorien und wählt die Landarbeit als diejenige, bei der der Naturbezug besonders deutlich zutage tritt. Diese ist gleichsam paradigmatisch für die conditio humana. Jean-François Millets naturaler Materialismus führt nicht zu idealisierten Bauerngestalten, wie es sie in Unzahl vor und nach ihm in der Kunstgeschichte gibt, sondern zur Deutung des arbeitenden Menschen als Teil der Natur. Die damit verbundene Vernachlässigung der gesellschaftlichen Formbestimmtheit menschlicher Arbeit lässt ihn gerade nicht – wie zeitgenössische
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Gegner ihn zu diskreditieren versuchten – als Sozialisten titulieren, sondern eher als einen konservativ-romantischen Philosophen der Arbeit. Vincent van Gogh war ein Verehrer Jean-François Millets, und auch er widmete sich in zahlreichen Werken dem Arbeitsthema; hervorzuheben sind hier neben seinen stilistisch umgearbeiteten Landarbeiterbildern nach Motiven von Jean-François Millet vor allem seine Weber-Bilder (z.B. Abbildung 16). Jean-François Millet vergleichbar entwickelt Vincent van Gogh einen religiös-anthropologischen Begriff von Arbeit. Es wird dabei keine gesellschaftliche Anklage formuliert, sondern eine Einfühlung in die desolate Lage schwer arbeitender, armer Menschen angestrebt. Arbeit erscheint so als Schicksal. Abbildung 16: Vincent van Gogh: Der Weber (1864)
Nach diesem kleinen Intermezzo wollen wir uns aber wieder dem eigentlichen Thema dieses Abschnitts zuwenden, der Verbindung von Arbeit und Produktivität, um zu sehen, in welcher Weise diese aus der Frühen Neuzeit stammende Verbindung auch im 19. Jahrhundert weitergeführt wird. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, der Zeit des imperialistischen Hochkapitalismus, der scharf um politische und ökonomische Macht konkurrierenden Nationalstaaten und der Arbeitskämpfe, nimmt auch die Bildende Kunst an dem ökonomisch-politischen Diskurs teil. Gegenüber der Zeit davor verschärfen sich Klassenauseinandersetzungen genauso, wie die technologisch vermittelte Naturaneignung einen Quantensprung vollzieht. Wir finden nun zunehmend eine gewaltförmig-maskuline Mobilisierungsästhetik. Industrie reimt sich auf Kraft, Macht, Beherrschung; ein militanter Produktivismus breitet sich aus.
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Abbildung 17: Ferdinand Hodler: Der Holzfäller (urspr. „Die Kraft“) (1910)
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Abbildung 18: Johann Bossard: Tatkraft (Detail) (ca. 1908)
Ferdinand Hodlers Holzfäller (Abbildung 17) – eigentlich Entwurf für eine schweizerische Banknote – kann als einfachster symbolischer Ausdruck dieses Paradigmas gelten, sollte doch das Bild zunächst „Die Kraft“ heißen. Zuvor hatte Johann Bossard mit seinem Werk „Tatkraft“ (Abbildung 18) eine affirmative Visualisierung dieses neuen Dispositivs zu schaffen versucht. Vermehrt entstehen real-allegorische Bilder mit dem Titel „Arbeit“ oder auch „Industrie“, wie z. B. das in der religiösen Pathosform des Triptychons strukturierte Werk Ludwig Dettmanns (Abbildung 19): Abbildung 19: Ludwig Dettmann: Die Arbeit (1894)
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Gleichsam als eine Ikone des neuen Produktivismus kann das fast fünf (!) Meter breite Gemälde „Le Travail“ des Franzosen Victor Tardieu gelten (Abbildung 20). Kraft, Maskulinität, gewalttätige Umformung bzw. Zähmung der Natur, ausgeführt vor allem an der Arbeit des Bauens, sind die zentralen Bestimmungsmomente dieser ,Apotheose der Arbeit‘. Abbildung 20: Victor Tardieu: Arbeit (1902)
Typisch ist auch die monumentale Wandmalerei für öffentliche Gebäude, in der sich der militante Produktivismus einschlägig verwirklicht findet. Der im deutschen Kaiserreich vor allem durch Historienmalerei bekannt gewordene Arthur Kampf bearbeitet in mehreren Wandbildern und in von diesen abgeleiteten Gemälden das Menzelsche Thema des Walzwerkes, an dem sich Macht und Kraft besonders gut exemplifizieren lässt. Er übernimmt dabei Teilmotive Adolph Menzels, gestaltet seine Werke aber im Unterschied zu diesem mit völlig eindeutiger Tendenz. Arthur Kampf lässt keinen Zweifel an seinem heroisierenden Männlichkeitskult – an dem Willen zur Bildfassung wehrhafter, durch Kampf mit den Naturgewalten gestählter deutscher Arbeit. Die 1901 entstandene Ölfassung der zentralen Figurengruppe eines Freskos im Aachener Kreishaus taucht dann wieder in diversen Veröffentlichungen der Nazi-Zeit auf, stets ohne Jahresangabe und stets als Beispiel gelungener deutscher Kunst (siehe Abbildung 4). Man sieht an diesen Beispielen auch, dass es sich keineswegs um ein deutsches, sondern durchweg um ein europaweites Phänomen handelt; das ließe sich auch an den um 1900 herum entstehenden Denkmälern der Arbeit zeigen.
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Dem soziologischen Blick fällt auf, dass Bilder, die den Fortschritt des Industrialismus feiern, die Moderne nicht als Projekt abendländischer Rationalität beschreiben. Die Gemälde jener Zeit verkörpern eher eine emotionale Herrschaftsästhetik. Es geht nicht um Vernunft, sondern um Macht, für welche die Kunstwerke eine positive emotionale Resonanz erzeugen wollen. Im Rahmen der bürgerlichen Kunst, soweit sie sich mit Arbeit und Industrie befasst, formuliert der Produktivismus eine doppelte Differenz. Die Industrie gilt als paradigmatischer Ort von Produktivität, als Basis nationaler Macht und Größe und nicht etwa die Landwirtschaft. Diese wird eher romantisierend inszeniert als Ort von Tradition und bukolischer Einheit mit der Natur. Die Industrie gilt überdies, wie ausgeführt, als männliche Domäne, und sie wird in Differenz zur weiblichen Arbeit gesetzt, die sich auf das Haus bezieht, um dort tugendsamer Textilarbeit nachzugehen, die in verschiedenen Bildern als ,Stille Arbeit‘ tituliert wird. Diese Differenz wird naturalisiert, einem als natürlich geltenden Geschlechterunterschied zugerechnet. In einer Bilderflut gleichsam wird dieses Frauenbild den Menschen einzuhämmern versucht.9
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Forschungsdesiderate
Es ging in diesem Beitrag weder darum, die Geschichte des Arbeitsbildes zu schildern noch darum, das Thema „Bilder als arbeitssoziologische Quellen“ vollständig auszuloten. Vielmehr sollte nach einigen grundlegenden Überlegungen an wenigen beispielhaften Werken aus der Geschichte der Bildenden Kunst illustriert werden, dass Bilder durchaus für die sozialwissenschaftliche Forschung mit Erkenntnisgewinn untersucht werden können. Wir bewegen uns hier allerdings auf einem soziologisch wenig bearbeiteten Gebiet.10 Es fehlen bereits methodologische Untersuchungen zur Analyse von Bildmaterial in der Soziologie. Vergebens sucht man in der umfangreichen Lehrbuchliteratur zu Methoden und Techniken empirischer Sozialforschung Kapitel zur Bildanalyse. Eine soziologische Ikonographie oder auch ,Ikonologie‘ fehlt bereits in Ansätzen. Die in nur sehr geringem Ausmaße betriebene Kunstsoziologie befasst sich so gut wie gar nicht mit Inhalten von Bildern, sondern mit Strukturen und Prozessen der Kunstproduktion und Kunstrezeption. Auch dann, wenn es um Themen wie Kunst als Medium der Kommunikation geht (z. B. Luhmann 1997), unterbleiben inhaltliche Bildanalysen. Gibt es bereits im methodisch-theoretischen Bereich erhebliche Defizite, so gilt dies erst recht für empirische Bildanalysen. So wäre es für das Thema der Arbeit(-sdiskurse) in der Gegenwart gewiss von Bedeutung, über Werke der Bildenden Kunst hinaus – die heute bezüglich dieses Themas ja gar kaum mehr in der öffentlichen Diskussion sind – andere Bildquellen zu erschließen. Dazu gehören die Kunst- und Gebrauchsfotografie in vielfältigen Produktions- und Verwendungszusammenhängen wie z. B. der Werbung,11 Firmenfestschriften oder Printmedien (z. B. illustrativ eingesetzte Fotos in Tageszeitungen und Nachrichtenmagazinen). Darüber hinaus sind die bewegten Bilder, die Filme, soziologisch kaum untersucht. Wie kommt Arbeit heute in Spielfilmen, Dokumentationsfilmen, in Nachrichtensendungen vor? Es sieht so aus, als gäbe es für Soziologen auf diesem Gebiet noch Arbeit. 9
Siehe dazu Klaus Türk 2000. Möglicherweise könnte sich die Soziologie stärker als bislang an der Debatte um eine „Bildwissenschaft“ beteiligen; siehe dazu u.a. Klaus Sachs-Hombach (Hrsg.) 2005. 11 Zur Fotografie in der Werbung s. Betz/Riegler 2003. 10
Bilder als arbeitssoziologische Quellen
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Literatur Betz, Fritz/Riegler, Johanna (Hrsg.) (2003). Bilder der Arbeit im Spätkapitalismus. Zum strategischen Machtverhältnis von Arbeit, Selbst und Technologien. Wien: Erhard Löcker Verlag. Boehm, Gottfried (1978). Zu einer Hermeneutik des Bildes. In: H.-G. Gadamer/G. Boehm (Hrsg.), Seminar: Die Hermeneutik und die Wissenschaften (S. 444-471). Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Foucault, Michel (1997). Archäologie des Wissens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (8. Auflage, zuerst 1973). Luhmann, Niklas (1997). Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (5. Auflage). Marx, Karl (1968). Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie (Bd. 1: Der Produktionsprozeß des Kapitals) (Marx Engels Werke, Bd. 23). Berlin: Dietz (zuerst 1867). Paul, Gerhard (2006): Von der Historischen Bildkunde zur Visual History. Eine Einführung. In: G. Paul (Hrsg.), Visual History. Ein Studienbuch (S. 7-36). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Sachs-Hombach, Klaus (Hrsg.) (2005). Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Türk, Klaus (2000). Bilder der Arbeit. Eine ikonographische Anthologie. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. Türk, Klaus (2002a). Arbeit in der bildenden Kunst. Ikonische Diskursformation in der Geschichte der Moderne. In: U. Bröckling/E. Horn (Hrsg.), Anthropologie der Arbeit (S. 35-77). Tübingen: Gunter Narr Verlag. Türk, Klaus (2002b). Konstruktionen und Diskurse – Das Industriebild als gesellschaftsgeschichtliche Quelle. In: S. Beneke/H. Ottomeyer (Hrsg.), Die zweite Schöpfung. Bilder der industriellen Welt vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Ausstellungskatalog Deutsches Historisches Museum Berlin (S. 34-39). Berlin: Deutsches Historisches Museum. Türk, Klaus (2006). Arbeitsdiskurse in der bildenden Kunst. In: S. Maasen/T. Mayerhauser/C. Renggli (Hrsg.), Bilder als Diskurse – Bilddiskurse. Göttingen: Velbrück.
Bildnachweise Alle Abbildungen stammen aus dem Archiv des Verfassers. Copyright für Abbildung 1 und Abbildung 5: VG Bild-Kunst, Bonn 2008. Siehe auch die Homepage im Web: www.bilder-der-arbeit.de.
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Aulenbacher, Brigitte, Prof. Dr., 1959. Professorin für Soziologische Theorie und Sozialanalysen (unter bes. Berücksichtigung der Gender-Dimension) und Leiterin der Abteilung für Theoretische Soziologie und Sozialanalysen, Institut für Soziologie, Johannes-KeplerUniversität Linz. Arbeitsschwerpunkte: Gesellschaftstheorie und Methodologie, Geschlechterforschung, Rationalisierungs-, Arbeits- und Organisationsforschung. E-Mail:
[email protected]. Bode, Ingo, Prof. Dr., 1963. Institut für Sozialpolitik und Organisation sozialer Dienste, Fachbereich Sozialwesen, Universität Kassel. Arbeitsschwerpunkte: Arbeit und Organisation im Gesundheits- und Sozialsektor, Theorie und Empirie des Nonprofit-Sektors, Politische Soziologie des Wohlfahrtsstaats. E-Mail:
[email protected]. Bosch, Gerhard, Prof. Dr., 1947. Direktor des Instituts Arbeit und Qualifikation, Universität Duisburg-Essen. Arbeitsschwerpunkte: Arbeitsmarkt- und Arbeitszeitforschung, Berufliche Bildung, Industrielle Beziehungen, Beschäftigungssysteme im internationalen Vergleich. E-Mail:
[email protected]. Brater, Michael, Prof. Dr., 1944. Professor für Berufspädagogik und Kulturpädagogik, Fachbereich Kulturwissenschaft und Leiter des Instituts für Kunst im Dialog, Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft. Arbeitsschwerpunkte: Persönlichkeitsentwicklung in der beruflichen Bildung, künstlerisches Handeln als berufliche Kompetenz, Arbeit und Kompetenzen in personenbezogenen Dienstleistungen. E-Mail:
[email protected]. Böhle, Fritz, Prof. Dr., 1945. Professor für Sozioökonomie der Arbeits- und Berufswelt, Universität Augsburg (1999 -2008); Wissenschaftler und Vorsitzender des Vorstands am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. (ISF München). Arbeitsschwerpunkte: Erfahrungswissen und subjektivierendes Arbeitshandeln, Dienstleistung und Interaktionsarbeit, Selbstorganisation und Organisationsentwicklung, berufliche Bildung. E-Mail:
[email protected]. Demszky von der Hagen, Alma, Dr., 1973. Projektmitarbeiterin im EU-Projekt „Knowledge and Policy“, Institut für Soziologie, Ludwig-Maximilian-Universität München. Arbeitsschwerpunkte: Stadtsoziologie, Policy-Analysen, Beruf und alltägliche Lebensführung. E-Mail:
[email protected].
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Dunkel, Wolfgang, Dr., 1959. Wissenschaftler und Vorstandsmitglied am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. (ISF München). Arbeitsschwerpunkte: Dienstleistungsforschung, Arbeit und Gesundheit, Qualitative Methoden. E-Mail:
[email protected]. Dörre, Klaus, Prof. Dr., 1957. Professor für Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie, Friedrich-Schiller-Universität Jena. Arbeitsschwerpunkte: Kapitalismustheorie, Prekarisierung, Arbeitsbeziehungen, Strategic Unionism. E-Mail:
[email protected]. Funder, Maria, Prof., 1956. Professur für Wirtschafts- und Arbeitssoziologie, Fachbereich 03 Gesellschaftswissenschaften und Philosophie, Institut für Soziologie, Philipps-Universität Marburg. Arbeitsschwerpunkte: Wirtschaftssoziologie, Arbeits- und Industriesoziologie, Organisations- und Geschlechterforschung. E-Mail:
[email protected]. Geissler, Birgit, Prof. Dr., 1949. Professorin für Arbeitssoziologie, Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: Dienstleistungsarbeit – insbesondere Haushaltsdienstleistungen, Erwerbsbiographien von Frauen, Lebenslaufpolitik und Lebensplanung. E-Mail:
[email protected]. Gottschall, Karin, Prof. Dr. , 1955. Professorin für Soziologie und Abteilungsleiterin am Zentrum für Sozialpolitik, Universität Bremen. Arbeitsschwerpunkte: Dienstleistungsentwicklung und Frauenerwerbsarbeit, Wandel von Erwerbs- und Lebensformen, Wohlfahrtsstaatsentwicklung und Geschlechterverhältnisse. E-Mail:
[email protected]. Hirsch-Kreinsen, Hartmut, Prof. Dr., 1948. Professor am Lehrstuhl Wirtschafts- und Industriesoziologie, Technische Universität Dortmund. Arbeitsschwerpunkte: wirtschaftlicher Strukturwandel und Entwicklungstendenzen von Arbeit, Unternehmensstrategien und Unternehmensnetzwerke sowie Fragen von Innovation und Technologieentwicklung. E-Mail:
[email protected]. Jacobsen, Heike, Dr. Wissenschaftliche Geschäftsführerin Sozialforschungsstelle, Technische Universität Dortmund. Arbeitsschwerpunkte: Arbeits-, Industrie- und Wirtschaftssoziologie, Geschlechterforschung. E-Mail:
[email protected]. Jochum, Georg, Dipl. Soz., 1967. Institut für sozialwissenschaftliche Forschung und Information e.V. (ISIFO), München. Arbeitsschwerpunkte: Arbeitssoziologie, Soziologie des gesellschaftlichen Naturverhältnisses, Subjektorientierte Soziologie, Interkulturelle Kommunikation. E-Mail:
[email protected].
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Jürgens, Kerstin, Prof. Dr., 1970. Professorin für Mikrosoziologie, Universität Kassel. Arbeitsschwerpunkte: Wandel der Erwerbsarbeit, Arbeit und Leben, Lebensführung, Reproduktion. E-Mail:
[email protected]. Kleemann, Frank, Dr., 1967. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Industrie- und Techniksoziologie, Technische Universität Chemnitz. Arbeitsschwerpunkte: Arbeits-, Industrie- und Techniksoziologie, Soziologie des Alltags, Qualitative Methoden der Empirischen Sozialforschung. E-Mail:
[email protected]. Krause, Alexandra, Dr., 1975. Assistentin am Institut für Soziologie, Friedrich-SchillerUniversität Jena; Projektleiterin im SFB 580. Arbeitsschwerpunkte: Arbeitsmarkt- und Ungleichheitsforschung, soziale Gerechtigkeit. E-Mail:
[email protected]. Kädtler, Jürgen, PD Dr., 1950. Direktor am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI). Arbeitsschwerpunkte: Industrielle Beziehungen, Theorien kollektiven Handelns, Finanzmarktsoziologie. E-Mail:
[email protected]. Köhler, Christoph, Prof. Dr., 1950. Professor am Institut für Soziologie, Friedrich-Schiller-Universität Jena. Arbeitsschwerpunkte: Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, Wirtschafts- und Sozialstrukturanalyse. E-Mail:
[email protected]. Manske, Alexandra, Dr. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialwissenschaften, Forschungs- und Lehrbereich Soziologie der Arbeit und Geschlechterverhältnisse, Humboldt-Universität Berlin; Wissenschaftliche Mitarbeiterin am FG Politikwissenschaft, Technische Universität Berlin (bis Oktober 2008). Arbeitssschwerpunkte: Wandel der Arbeitsgesellschaft und ihrer Ungleichheitskonfigurationen, Urbane Kreativmilieus, Geschlechterforschung. E-Mail:
[email protected]. Marrs, Kira, Dr., 1975. Wissenschaftlerin am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. (ISF München). Arbeitsschwerpunkte: Arbeit und Subjekt, Steuerung von Arbeit, Leistungspolitik, Arbeit und Globalisierung. E-Mail:
[email protected]. Moldaschl, Manfred F., Prof. Dr., 1956. Lehrstuhl für Innovationsforschung und nachhaltiges Ressourcenmanagement, Technische Universität Chemnitz. Arbeitsschwerpunkte: Sozioökonomie, Unternehmenstheorie, Innovation, Reflexivität. E-Mail:
[email protected].
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Pfeiffer, Sabine, PD Dr. phil., 1966. Wissenschaftlerin am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. (ISF München); Lehrbeauftragte an der FernUniversität Hagen. Arbeitsschwerpunkte: Technik, Informatisierung, Subjekt, Arbeitsvermögen. E-Mail:
[email protected]. Pries, Ludger, Prof. Dr. Lehrstuhl für Soziologie – Organisation, Migration, Mitbestimmung, Ruhruniversität Bochum. Arbeitsschwerpunkte: International vergleichende Organisations- und Arbeitssoziologie, Transnationalisierungsforschung, Migrationssoziologie. E-Mail:
[email protected]. Sauer, Dieter, Prof. Dr., 1944. Wissenschaftler und Vorstandsmitglied am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. (ISF) München; Honorarprofessor für Soziologie, Friedrich-Schiller-Universität Jena. Arbeitsschwerpunkte: Betriebliche Reorganisationsund Rationalisierungsstrategien, Flexibilisierung und Subjektivierung von Arbeit, Arbeitspolitik. E-Mail:
[email protected]. Schmidt, Gert, Prof. Dr., 1943. Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (bis April 2008). Arbeitsschwerpunkte: Industrie- und Organisationssoziologie, Globalisierung, Automobilismus/Kultur der Automobilisierung. E-Mail:
[email protected]. Schmierl, Klaus, Dr., 1962. Wissenschaftler am Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. (ISF München). Arbeitsschwerpunkte: Industrielle Beziehungen, Entgelt- und Tarifpolitik, Internationalisierung von Unternehmen und Interkulturelle Arbeit. E-Mail:
[email protected]. Schnell, Christiane, Dr., 1974. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut Arbeit und Wirtschaft, Universität Bremen. Arbeitsschwerpunkte: Arbeits-, Berufs- und Professionssoziologie, künstlerische Arbeit und Kulturindustrien, Selbständigkeit/Entrepreneurship, Wohlfahrtsstaatsanalyse und Kulturpolitik. E-Mail:
[email protected]. Trinczek, Rainer, Prof. Dr., 1958. Institut für Soziologie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Arbeitsschwerpunkte: Industrielle Beziehungen, Arbeitszeitforschung, Managementsoziologie, (qualitative) Methoden der empirischen Sozialforschung. E-Mail:
[email protected]. Türk, Klaus, Prof. Dr., 1944. Professor i.R. für Soziologie, insbesondere Soziologie der Organisation, Bergische Universität Wuppertal. Arbeitsschwerpunkte: Soziologie der Organisation, Geschichte der modernen Gesellschaft, Kultur- und Gesellschaftsgeschichte der Arbeit im Medium der bildenden Kunst. Email:
[email protected].
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
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Vogel, Berthold, PD Dr., 1963. Projektleiter am Hamburger Institut für Sozialforschung; Privatdozent an der Universität Kassel. Arbeitsschwerpunkte: Wandel der Erwerbsarbeit, politische Soziologie sozialer Ungleichheit, empirische Wohlfahrtsstaatsforschung. E-Mail:
[email protected]. Voß, G. Günter, Prof. Dr., 1950. Professor für Industrie- und Techniksoziologie, Technische Universität Chemnitz. Arbeitsschwerpunkte: Wandel von Arbeitskraft und Beruf, Arbeit und Leben im Umbruch, Entgrenzung und Subjektivierung von Arbeit, Veränderungen im Verhältnis von Produktion und Konsumtion. E-Mail:
[email protected]. Wachtler, Günther, Prof. Dr., 1944. Professor für Soziologie von Arbeit, Organisation und Industrie, Universität Wuppertal (1986-2009). Arbeitsschwerpunkte: Zusammenhänge von Arbeit und Sozialstruktur, Beschäftigungsentwicklung, Arbeitsorganisation. E-Mail:
[email protected]. Weihrich, Margit, Dr., 1958. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Extraordinariat für Sozioökonomie der Arbeits- und Berufswelt, Universität Augsburg. Arbeitsschwerpunkte: Handlungs-Struktur-Theorie, Institutionenanalyse, Dienstleistungsarbeit, Soziologie alltäglicher Lebensführung. E-Mail:
[email protected]. Windeler, Arnold, Prof. Dr., 1956. Professor für Soziologie, Fachgebiet Organisationssoziologie, Technische Universität Berlin; Co-Leiter der interuniversitären Forschungsgruppe „Unternehmungsnetzwerke“. Arbeitsschwerpunkte: Organisations- und Sozialtheorie, Industriesoziologie, Organisations- und Netzwerkforschung. Email:
[email protected]. Wirth, Carsten, Prof. Dr., 1962. Professor für Verwaltung und Netzwerkarbeit in der Sozialwirtschaft, Hochschule für Angewandte Wissenschaften Kempten. Arbeitsschwerpunkte: Netzwerk- und Organisationstheorie, Industrielle Beziehungen, Personalmanagement in der Sozialwirtschaft. E-Mail:
[email protected].