Springer-Lehrbuch
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Walter Frenz
Europarecht
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Professor Dr. jur. Walter Frenz RWTH Aachen Wüllnerstraße 2 52062 Aachen Deutschland
[email protected] ISSN 0937-7433 ISBN 978-3-642-21018-1 e-ISBN 978-3-642-21019-8 DOI 10.1007/978-3-642-21019-8 Springer Heidelberg Dordrecht London New York Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011 Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Einbandentwurf: WMXDesign GmbH, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem Papier Springer ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media (www.springer.com)
Für Edelgard, Hannah und Christian
Vorwort Das Europarecht hat für die Ausbildung und die Praxis eine immer stärkere Bedeutung. Es ist nicht für nur den juristischen Wahlbereich von maßgeblicher Bedeutung, sondern bereits für den Pflichtstoff. Auch Politikwissenschaftler dürften ohne Europarecht kaum mehr auskommen. Das vorliegende Lehrbuch konzentriert sich daher auf die allgemein vorausgesetzten Inhalte, bezieht aber den Wahlfachstoff ein und bietet damit sowohl für den Pflichtfach- als auch für den Wahlfachstudierenden das notwendige Rüstzeug. Auch der Praktiker bekommt die für ihn wichtigen Grundlagen des Europarechts vermittelt. Diese sind entsprechend der Systematik des EUV und des AEUV nach dem Vertrag von Lissabon sowie dem Lissabon-Urteil des BVerfG dargestellt. Am Anfang steht daher ausführlich die Bedeutung des Unionsrechts auch im Hinblick auf das nationale Verfassungsgefüge und das Verhältnis zwischen beiden Rechtsordnungen. Sehr stark mit Beispielen dargestellt werden die europäischen Grundfreiheiten, die seit jeher einen Kern juristischer Prüfungsanforderungen im Europarecht bilden. Ebenso werden die Wettbewerbsregeln anschaulich dargestellt, einschließlich des Beihilferechts und mit Beifügung des Vergaberechts. Die verschiedenen Einzelpolitiken können nicht in allen Details erörtert werden. Es werden aber alle kurz aufgeführt. Näher behandelt werden der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts sowie die Rechtsangleichung. Sie dürften sowohl für das Examen als auch für die Praxis die größte Bedeutung haben. Ausführlich präsentiert werden die möglichen Klagen vor dem Gerichtshof der EU, aber auch vor den nationalen Verwaltungsgerichten, für die sich insbesondere die Frage der Klagebefugnis aus europarechtlichen Normen stellt. Näher werden auch die europäischen Grundrechte dargestellt. Zwar haben sie bislang in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU keine dominante Bedeutung erlangt. Indes steigt ihre Relevanz sowohl quantitativ als auch qualitativ durch eine schärfere Prüfung, wie sich in jüngeren Judikaten zeigte. Zudem sind sie nunmehr in der EGRC ausdrücklich in ihrer Vielfalt verankert. Schließlich dürfte es sich gerade für Öffentlich-Rechtler anbieten, namentlich im mündlichen Examen Vergleiche zwischen nationalen und europäischen Grundrechten herstellen zu lassen. Grundlage dieses Lehrbuchs bildet mein Handbuch Europarecht mit den Bänden 1-6. Dort können die hier enthaltenen Themen näher nachgelesen werden. Angeregt wurde das Lehrbuch Europarecht von Frau Dr. jur. Brigitte Reschke, der zuständigen Lektorin beim Springer Verlag, die mir wiederum die von jedem Autor gewünschte zeitliche und inhaltliche Flexibilität gab. Unterstützt haben mich meine wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und wissenschaftlichen Mitarbeiter Anna-Maria Distelrath, Christian Ehlenz, Kristina Wimmers M.A. und Hendrik Wübbenhorst, denen ich hierfür sehr herzlich danke, ebenso Frau Ellen Rennen M.A. für die mühevolle Arbeit der fortlaufenden Nachtragung von Änderungen
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Vorwort
und Formatierung. Einbezogen waren zudem die studentischen Hilfskräfte Lisa Bähr und Sara Vogelsang. Auch dieses Lehrbuch wird nicht frei von Fehlern und Verbesserungsmöglichkeiten sein. Bitte wenden Sie sich an: Prof. Dr. jur. Walter Frenz, Maître en Droit Public RWTH Aachen Wüllnerstraße 2 52062 Aachen E-Mail:
[email protected] Aachen, den 1.3.2011
Walter Frenz
Inhaltsverzeichnis Vorwort .................................................................................................... VII Bibliographie und Kurzrecherche ........................................................... XIII Kapitel 1: Unionsrecht ........................................................................................ 1 A. Begriff ............................................................................................................. 1 B. Die EU als supranationaler Beinahe-Staat ........................................................ 1 C. Unmittelbare Geltung ........................................................................................ 3 D. Unmittelbare Wirkung/Anwendbarkeit ............................................................. 4 E. Verordnungen .................................................................................................... 5 F. Beschlüsse ......................................................................................................... 5 G. Richtlinien ......................................................................................................... 6 H. Empfehlungen ................................................................................................. 11 J. Allgemeine Grenzen ........................................................................................ 12 K. EU-Zuständigkeiten ........................................................................................ 15 L. Gesetzgebungsverfahren ................................................................................. 25 Kapitel 2: Nationales und europäisches Recht ............................................... 37 A. Umfassender Anwendungsvorrang ................................................................. 37 B. Begrenzte Akzeptanz durch das BVerfG ........................................................ 38 C. Voraussetzungen des Anwendungsvorrangs ................................................... 43 D. Wirkungsweise des Anwendungsvorrangs ...................................................... 44 E. Anwendung europäischen Rechts durch Behörden und Gerichte ................... 46 F. Wirkungen für den Einzelnen .......................................................................... 54 Kapitel 3: Grundfreiheiten ............................................................................... 61 A. Überblick ......................................................................................................... 61 B. Grundschema der Grundfreiheiten .................................................................. 61 C. Zollfreiheit....................................................................................................... 73 D. Die Warenverkehrsfreiheit .............................................................................. 75 E. Arbeitnehmerfreizügigkeit .............................................................................. 80 F. Niederlassungsfreiheit ..................................................................................... 88 G. Allgemeines Fortbewegungs- und Aufenthaltsrecht: die Studierendenfreizügigkeit ........................................................................ 100 H. Kapitalverkehrsfreiheit .................................................................................. 102
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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 4: Wettbewerbsfreiheit...................................................................... 107 A. Unternehmensbezogene Verbote ................................................................... 107 B. Systematik ..................................................................................................... 109 C. Gruppenfreistellungsverordnungen ............................................................... 120 D. Verschränkung von nationalem und europäischem Kartellrecht ................... 123 E. Öffentliche und monopolartige sowie Versorgungsunternehmen ................. 124 F. Zusammenschlüsse von Unternehmen .......................................................... 126 G. Evidenzkontrolle ........................................................................................... 128 H. Beihilfenverbot .............................................................................................. 129 J. Auftragsvergabe ............................................................................................ 139 Kapitel 5: Organe............................................................................................ 143 A. Europäisches Parlament ................................................................................ 143 B. Europäischer Rat ........................................................................................... 155 C. Rat ......................................................................................................... 160 D. Kommission .................................................................................................. 169 E. Gerichtshof der EU........................................................................................ 178 F. Europäische Zentralbank ............................................................................... 180 G. Rechnungshof ................................................................................................ 180 H. Beratende Einrichtungen ............................................................................... 182 Kapitel 6: Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ................... 187 A. Grundkonzeption und Bedeutung .................................................................. 187 B. Grenzkontrollen, Asyl, Einwanderung .......................................................... 191 C. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen ................................................... 195 D. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen ................................................... 198 E. Polizeiliche Zusammenarbeit ........................................................................ 203 Kapitel 7: Rechtsangleichung ........................................................................ 205 A. Grundkonzeption und Bedeutung .................................................................. 205 B. System der Rechtsangleichungskompetenzen ............................................... 206 C. Grundfreiheiten und Harmonisierung ............................................................ 209 D. Bereichsausnahmen ....................................................................................... 210 E. Formelle Voraussetzungen ............................................................................ 210 F. Verhältnismäßigkeit und Subsidiarität .......................................................... 211 G. Vereinbarkeit mit sonstigem Unionsrecht und Grundrechten ....................... 212 H. Wahrung eines hohen Schutzniveaus ............................................................ 212 J. Mitgliedstaatliche Spielräume ....................................................................... 213
Inhaltsverzeichnis
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Kapitel 8: Weitere Unionspolitiken ............................................................... 217 A. Allgemeiner Rahmen..................................................................................... 217 B. Landwirtschaft ............................................................................................... 222 C. Verkehr ......................................................................................................... 225 D. Steuern ......................................................................................................... 227 E. Wirtschaft und Währung ............................................................................... 229 F. Beschäftigung ................................................................................................ 232 G. Soziales ......................................................................................................... 234 H. Bildung, Jugend, Sport .................................................................................. 237 J. Kultur ......................................................................................................... 238 K. Gesundheit..................................................................................................... 239 L. Verbraucherschutz ......................................................................................... 241 M. Infrastruktur ................................................................................................... 242 N. Umwelt ......................................................................................................... 246 O. Energie ......................................................................................................... 250 P. Atom ......................................................................................................... 252 Q. Tourismus ...................................................................................................... 253 R. Katastrophenschutz ....................................................................................... 254 S. Verwaltungskooperation ............................................................................... 255 T. Assoziierung .................................................................................................. 256 U. Auswärtiges Handeln .................................................................................... 257 W. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik ................................................. 259 Kapitel 9: Grundrechte .................................................................................. 265 A. Stellung und Konkurrenz .............................................................................. 265 B. Prüfungsabfolge und -dichte ......................................................................... 272 C. Menschenwürde und persönliche Integrität ................................................... 278 D. Personenbezogene Freiheiten ........................................................................ 287 E. Kommunikationsgrundrechte ........................................................................ 300 F. Wirtschaftsgrundrechte ................................................................................. 313 G. Gleichheitsgrundrechte .................................................................................. 334 H. Soziale Grundrechte ...................................................................................... 339 J. Bürgerrechte .................................................................................................. 341 K. Justizielle Grundrechte .................................................................................. 341 Kapitel 10: Klagen vor dem Gerichtshof der EU ......................................... 345 A. System des Rechtsschutzes ........................................................................... 345 B. Vertragsverletzungsverfahren ....................................................................... 346
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C. D. E. F. G. H.
Inhaltsverzeichnis
Nichtigkeitsklage ........................................................................................... 356 Untätigkeitsklage ........................................................................................... 373 Schadensersatzklage ...................................................................................... 381 Spezielle Verfahren ....................................................................................... 385 Vorabentscheidungsverfahren ....................................................................... 387 Inzidente Normenkontrolle............................................................................ 405
Sachregister ....................................................................................................... 407
Bibliographie und Kurzrecherche
1. Lehrbücher Arndt, Hans-Wolfgang/Fischer, Kristian/Fetzer, Thomas, Europarecht, Heidelberg, 10. Aufl. 2010 Bieber, Roland/Epiney, Astrid/Haag, Marcel, Die Europäische Union, BadenBaden, 9. Auf. 2010 Calliess, Christian/Ruffert, Matthias (Hrsg.), EUV/EGV, Kommentar, München, 3. Aufl. 2007 Dauses, Manfred (Hrsg.), Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, Loseblatt, München, Stand 12/2010 Frenz, Walter: Handbuch Europarecht Band 1: Europäische Grundfreiheiten, Heidelberg 2004; Band 2: Europäisches Kartellrecht, 2006; Band 3: Beihilfeund Vergaberecht, 2007; Band 4: Europäische Grundrechte, 2009; Band 5: Wirkungen und Rechtsschutz, 2010; Band 6: Institutionen und Politiken, 2011 Geiger, Rudolf/Khan, Daniel-Erasmus/Kotzur, Markus, EUV/AEUV, München, 5. Aufl. 2010 Grabitz, Eberhard/Hilf, Meinhard (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Kommentar, Loseblatt, München, Stand: 01/2010 Haltern, Ulrich, Europarecht, Tübingen, 2. Aufl. 2007 Haratsch, Andreas/Koenig, Christian/Pechstein, Matthias, Europarecht, Tübingen, 7. Aufl. 2010 Herdegen, Matthias, Europarecht, München, 12. Aufl. 2010 Hobe, Stephan, Europarecht, München, 5. Aufl. 2010 Lenz, Carl-Otto/Borchardt, Klaus-Dieter (Hrsg.), EU-Verträge, Köln, 5. Aufl. 2010 Oppermann, Thomas/Classen, Claus/Nettesheim, Martin, Europarecht, München, 4. Aufl. 2009 Schwarze, Jürgen (Hrsg.), EU-Kommentar, Baden-Baden, 2. Aufl. 2009 Streinz, Rudolf, Europarecht, Heidelberg, 8. Aufl. 2008 Streinz, Rudolf (Hrsg.), EUV/EGV Kommentar, München 2003 Von der Groeben, Hans/Schwarze, Jürgen (Hrsg.), EUV/EGV-Kommentar, Baden-Baden, 6. Aufl. 2003 Die themenspezifische Literatur ist bei den jeweiligen Kapiteln angegeben.
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Bibliographie und Kurzrecherche
2. Internet www.bverfg.de: Über „Entscheidungen“ gelangt man zu allen amtlichen Entscheidungen nach verschiedenen Suchkriterien ab dem 1.1.1998. www.eur-lex.europa.eu: EUR-Lex bietet Ihnen kostenlosen Zugang zu den Rechtsvorschriften der Europäischen Union und anderen als öffentlich eingestuften Dokumenten. Die Website steht Ihnen in den 23 EU-Amtssprachen zur Verfügung. www.juris.de: Rechtsprechung und Schrifttum nach thematischen Feldern. Verschiedene Suchfunktionen je nach Zugang zur Datenbank. Sehr umfangreiche Entscheidungsdatenbank auch mit nicht veröffentlichten Entscheidungen.
Kapitel 1: Unionsrecht Literatur: Frenz, Walter, Handbuch Europarecht Band 5: Wirkungen und Rechtsschutz, 2010; Nettesheim, Martin, Die Kompetenzordnung im Vertrag über eine Verfassung für Europa, EuR 2004, 511; Nowak, Carsten, Europarecht nach Lissabon, 2011; s. auch die Literatur zu Kapitel 2. Leitentscheidungen: BVerfGE 123, 267 – Lissabon; 125, 260 –Vorratsdatenspeicherung; BVerfG, NJW 2010, 3422 – Mangold; EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 – van Gend & Loos; Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 – Costa/E.N.E.L.; Rs. C-376/98, Slg. 2000, I-8419 – Tabakwerbung; Rs. C-387 u.a./02, Slg. 2005, I-3565 – Berlusconi; Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981 – Mangold; Rs. C-404/06, Slg. 2008, I-2685 – Quelle; BGH, NJW 2009, 427 – Quelle II.
A. Begriff Das Europarecht im weiteren Sinne bezeichnet die normativen Regelungen aller 1 überstaatlichen europäischen Organisationen, so auch des europäischen Wirtschaftsraums (EWR), der Westeuropäischen Union (WEU) und des Europarats und damit insbesondere auch die Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK). Das Europarecht im engeren Sinne wird durch den Vertrag über die Europäi- 2 sche Union (EUV), den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sowie den Vertrag über die Europäische Atomgemeinschaft (EAGV) konstituiert. Das europäische Unionsrecht lässt sich unterteilen in das primäre und das sekundäre Unionsrecht. Das primäre Unionsrecht wird aus den Bestimmungen der Verträge einschließlich der ungeschriebenen allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts und des Gewohnheitsrechts gebildet. Das sekundäre Unionsrecht ist das abgeleitete, also das auf der Grundlage der Verträge erlassene Recht der Unionsorgane.
B. Die EU als supranationaler Beinahe-Staat I. Keine „normale“ internationale Organisation Die EU bildet keinen Bundesstaat und auch keinen Staatenbund, sondern einen 3 Staatenverbund.1 Gleichwohl unterscheidet sie sich von herkömmlichen internationalen Organisationen.2 Zwar wurde sie durch völkerrechtliche Verträge gegründet.3 Indes wurden schon der EWG derart intensive Befugnisse übertragen, 1 2
BVerfGE 123, 267 (348) – Lissabon. S. demgegenüber im Ansatz gleichstellend BVerfGE 123, 267 (344 f., 348) – Lissabon; spezifisch dazu Frenz, Europarecht 5, Rn. 65 ff.
W. Frenz, Europarecht, DOI 10.1007/978-3-642-21019-8_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel 1: Unionsrecht
dass sie sich nicht nur wie im Völkerrecht üblich an die Staaten wenden kann. Vielmehr vermag die europäische Ebene den Einzelnen unmittelbar zu berechtigen und zu verpflichten, wie Art. 288 Abs. 2 und 4 AEUV für Verordnungen und Beschlüsse vorsehen. Dies ist der entscheidende Umstand,4 weniger der breite Kompetenzrahmen und die große Kompetenztiefe. Insoweit handelt es sich um eher quantitative Elemente, während der mögliche direkte Zugriff auf den Einzelnen ein qualitatives Alleinstellungsmerkmal der EU bildet. Damit ist der Einzelne unmittelbares Rechtssubjekt im europäischen Rah4 men,5 mithin nicht nur mediatisiert über die Mitgliedstaaten. Er nimmt zudem eine gewichtige Rolle als Durchsetzungsmotor europäischen Rechts ein. Er ist aber Adressat nicht nur eines Verfahrensmechanismus wie etwa auch im Rahmen der EMRK, sondern auch von ihn belastenden Rechtsakten der europäischen Ebene. Damit wird der Einzelne von dieser betroffen wie durch seinen eigenen Staat. In den europäischen Verträgen haben die Mitgliedstaaten unter Beschränkung 5 ihrer Souveränitätsrechte in bestimmten Bereichen „eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die … in die Rechtsordnung der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden ist“. 6 Indem Art. 23, 24 GG die Übertragung von Hoheitsgewalt auf eine supranationale Einrichtung ermöglichen, schließen sie ein, dass die von dieser ausgehenden Rechtsakte innerstaatlich so zu wirken vermögen, wie es diese Rechtsordnung vorgibt, und damit auch unmittelbar.7 Das trifft entsprechend dem europarechtlichen Ansatz ausschließlich danach zu, wie es das supranationale Recht bestimmt.8 Eine unmittelbare Wirkung besteht demgemäß explizit für Verordnungen nach Art. 288 Abs. 2 AEUV und die Adressaten von Beschlüssen nach Art. 288 Abs. 4 AEUV sowie entsprechend der Gesamtkonzeption für das Primärrecht, soweit dieses unbedingt formuliert ist und daher wie die Grundfreiheiten unmittelbar zu wirken vermag. Entsprechendes gilt für an die Mitgliedstaaten gerichtetes, umsetzungsbedürftiges Sekundärrecht.9 II. Gefilterte Einwirkung nach dem BVerfG 6 Das BVerfG lässt das Europarecht nur durch den Filter des nationalen Verfassungsrechts einwirken, „Grund und Grenze für die Geltung des Rechts der EU in der Bundesrepublik Deutschland ist der im Zustimmungsgesetz enthaltene Rechtsanwendungsbefehl, der nur im Rahmen der geltenden Verfassungsord-
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Darauf abhebend BVerfGE 123, 267 (347 ff.) – Lissabon. Etwa EuGH, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629 (643 f., Rn. 14/16) – Simmenthal II: „unmittelbare Quelle von Rechten und Pflichten“. Bereits EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 (25) – van Gend & Loos. Grundlegend EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (1269) – Costa/E.N.E.L. BVerfGE 37, 271 (280); 58, 1 (28); 59, 63 (90); 69, 1 (90); 73, 339 (374); 89, 155 (174). Als eine, aber nicht ausschließliche Voraussetzung auch von BVerfGE 123, 267 (398) – Lissabon akzeptiert. Näher Frenz, Europarecht 5, Rn. 17 ff., 26 ff.
C. Unmittelbare Geltung
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nung erteilt werden kann“. 10 Letztere ist im Konfliktfall vorrangig und das Europarecht nur abgeleitet.11 Damit wird die Einwirkung ausgeschlossen, wenn die nationale Verfassungsidentität nach Art. 79 Abs. 3 GG angetastet wird, die übertragenen Kompetenzen überschritten werden oder kein dem unabdingbaren Grundrechtsstandard nach dem GG im Wesentlichen vergleichbarer Grundrechtsschutz sichergestellt ist.12
C. Unmittelbare Geltung Das Unionsrecht kann unmittelbar gelten bzw. anwendbar sein. Die Begriffe der 7 unmittelbaren Geltung, Wirkung und Anwendbarkeit werden vielfach nicht klar unterschieden bzw. synonym gebraucht. Zum Teil wird zwischen unmittelbarer Wirkung/Anwendbarkeit und unmittelbarer Geltung differenziert.13 Die unmittelbare Wirkung/Anwendbarkeit beinhaltet, inwieweit der Einzelne aus dem Unionsrecht unmittelbar Rechte herleiten kann. Die unmittelbare Geltung betrifft dann die Frage nach der rechtlichen Grundlage und Tragweite der innerstaatlichen Geltung des Unionsrechts. Bestimmungen des Unionsrechts sind „unmittelbare Quelle von Rechten und Pflichten für alle diejenigen, die sie betreffen“. Das Unionsrecht ist „vorrangiger Bestandteil der im Gebiet eines jeden Mitgliedstaats bestehenden Rechtsordnung“ geworden.14 Es ist also seit seinem Inkrafttreten ein „integrierender Bestandteil“ der Rechtssysteme der Mitgliedstaaten und wirkt dort so, wie es selbst bestimmt. Für das unmittelbar geltende Unionsrecht bedarf es daher grundsätzlich keines nationalen Umsetzungsaktes mehr. Entscheidend ist, dass ein Mitgliedstaat in der Ratifikationsurkunde dem Uni- 8 onsvertrag ohne Vorbehalte zugestimmt hat. Das BVerfG will zur Erhaltung der Volkssouveränität und damit des demokratischen Prinzips Deutschland eine umfassende Zustimmung verwehren und nur in dem Umfang gestatten, wie die nationale Verfassungsidentität gewahrt wird.15 Diese Grenze folgt nach dem BVerfG unantastbar aus dem GG (Ewigkeitsgarantie), muss daher nicht ausdrücklich erklärt werden und limitiert in Form eines im Zustimmungsgesetz enthaltenen Rechtsanwendungsbefehls fortlaufend die Einwirkung von Europarecht auf die deutsche Rechtsordnung. 16 Die Geltung des Vertrages kann allerdings aus europarechtlicher Sicht nicht nachträglich durch nationale Umsetzungs- bzw. Transformationsakte infrage gestellt werden, weil dies zu einer unterschiedlichen Wirkung des Unionsrechts führen und Diskriminierungen bewirken würde. 17 Aus der unmittelbaren Geltung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten folgt 9 die Verpflichtung der nationalen Verwaltungsbehörden und der nationalen Gerich10 11 12 13 14 15 16 17
BVerfGE 123, 267 (402) – Lissabon unter Verweis auf BVerfGE 73, 339 (374 ff.) – Solange II. BVerfGE 123, 267 (348 f.) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (335, 353 f.) – Lissabon. Schroeder, in: Streinz, Art. 249 EGV Rn. 37. EuGH, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629 (643 f., Rn. 14 ff.) – Simmenthal II. BVerfGE 123, 267 (343 f.) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (397 f.) – Lissabon. EuGH, Rs. 9 u. 58/65, Slg. 1967, 37 (39) – San Michele.
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Kapitel 1: Unionsrecht
te, das Unionsrecht anzuwenden und durchzusetzen. Sie haben jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet zu lassen. Die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Weg oder durch ein verfassungsrechtliches Verfahren muss nicht abgewartet werden.18 Die unmittelbare Geltung von Unionsrecht macht eine Kollision von nationa10 lem Recht und Unionsrecht überhaupt erst möglich. 19 In diesem Fall führt der Grundsatz vom Vorrang des Unionsrechts über den Anwendungsvorrang des Unionsrechts zur Unanwendbarkeit der entgegenstehenden nationalen Vorschrift. Diese Unanwendbarkeit steht nach dem BVerfG unter dem Vorbehalt einer Wahrung der europäischen Kompetenzgrenzen und der nationalen Verfassungsidentität. Die Feststellung eines Verstoßes obliegt allerdings allein dem BVerfG, indem es „ausnahmsweise, unter besonderen und engen Voraussetzungen … Recht der EU für in Deutschland nicht anwendbar erklärt“.20
D. Unmittelbare Wirkung/Anwendbarkeit 11 Die Begriffe unmittelbare Anwendbarkeit und unmittelbare Wirkung sind synonym. Unmittelbar anwendbar ist eine Norm, wenn sich Unionsbürger gegenüber den Mitgliedstaaten unmittelbar auf sie berufen können (auch vertikale Wirkung genannt). Unmittelbare Drittwirkung bedeutet weiter gehend, dass die Begünstigten auch gegenüber Privaten Rechte geltend machen und durchsetzen können (auch horizontale Wirkung genannt). Dabei gilt Europarecht nicht nur unmittelbar, sofern der Vertrag dies ausdrücklich bestimmt, sondern auch, wenn es den Einzelnen wie auch den Mitgliedstaaten und den europäischen Organen eindeutige Verpflichtungen auferlegt.21 Der EuGH stützte die unmittelbare Wirkung insbesondere auf den effet utile des Vertrages. Auf den Wortlaut der einzelnen Vorschriften kommt es meist nicht an.22 Zunächst sind die Mitgliedstaaten selbst und alle innerstaatlichen Stellen an 12 unmittelbar wirkendes Unionsrecht gebunden. Durch die unmittelbare Wirksamkeit entfalten die Rechtsnormen des Unionsrechts Rechtswirkung auch innerhalb der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, ohne dass es eines konkreten Vollzugsbefehls bedürfte. Das ist die Konsequenz der unmittelbaren Geltung. Neben staatlichen Stellen werden auch natürliche und juristische Personen an13 gesprochen. Soweit insbesondere Private eigene Rechte und Pflichten erhalten, spricht man auch vom „Durchgriff“ des Unionsrechts.23 Die durch das Unionsrecht dem Einzelnen eingeräumten Rechte stellen nach der deutschen Terminologie subjektive Rechte dar, auf die sich der Einzelne gegenüber Verwaltung und
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EuGH, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629 (645, Rn. 24) – Simmenthal II. Mayer, Kompetenzüberschreitung und Letztentscheidung, 2000, S. 74. BVerfGE 123, 267 (353 f., 400 f.) – Lissabon. EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1 (25) – van Gend & Loos. Für die Grundfreiheiten Frenz, Europarecht 1, Rn. 83. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 249 EGV Rn. 28.
F. Beschlüsse
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Gerichten berufen kann. Sie können ebenso wie die national verliehenen subjektiven Rechte eingefordert werden.24 Unmittelbare Geltung und Anwendung des Unionsrechts sind Voraussetzung 14 für den Anwendungsvorrang (Vorrang im engeren Sinn). Daneben gibt es noch einen Vorrang im weiteren Sinne, der auch und gerade bei fehlender unmittelbarer Anwendung zu beachten ist. 25
E. Verordnungen Die unmittelbare Anwendbarkeit von Verordnungen ergibt sich unmittelbar aus 15 dem Wortlaut des Art. 288 Abs. 2 AEUV. Danach hat die Verordnung allgemeine Geltung, ist in allen ihren Teilen verbindlich und gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Sie gilt demnach nicht nur für die Mitgliedstaaten, sondern auch in ihnen. Die Betroffenen werden unmittelbar berechtigt oder verpflichtet, Behörden und Gerichte müssen die Verordnung anwenden, ohne dass wie bei der Richtlinie ein Umsetzungsakt erforderlich wäre. Entgegenstehendes nationales Recht wird verdrängt. Verordnungen wirken wie höherrangige Gesetze.
F. Beschlüsse Beschlüsse, vormals Entscheidungen, sind gemäß Art. 288 Abs. 4 AEUV ver- 16 bindlich. Sind sie an bestimmte Adressaten gerichtet, sind sie in allen ihren Teilen für diejenigen verbindlich, die sie bezeichnen, gelten also grundsätzlich nur für diejenigen unmittelbar. Das haben sie mit nationalen Verwaltungsakten gemeinsam. Soweit Beschlüsse an die Mitgliedstaaten adressiert sind, vermögen sie den 17 Einzelnen grundsätzlich nicht unmittelbar zu berechtigen. Werden allerdings solche Beschlüsse von den Mitgliedstaaten nicht oder nicht ordnungsgemäß umgesetzt, können sie unter Umständen gleichwohl unmittelbare Wirkungen in den Rechtsbeziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den Einzelnen begründen. Voraussetzung ist aber, dass sie den Einzelnen betreffen und die in ihnen enthaltenen Verpflichtungen unbedingt und hinreichend klar und genau sind.26 Das haben sie mit Richtlinien gemeinsam. Diesen Umweg erspart scheinbar Art. 288 Abs. 4 AEUV, indem Beschlüsse 18 nicht an bestimmte Adressaten gerichtet sein müssen. Damit können sie zwar entsprechend der allgemeinen Formulierung vergleichbar zu Art. 288 Abs. 2 AEUV generelle verbindliche Wirkung entfalten, die sich auf alle Teile erstreckt. Indes fehlt der Zusatz der unmittelbaren Geltung in jedem Mitgliedstaat. Schließlich betreffen nicht adressierte Beschlüsse vor allem den organisatorischen Binnenbereich auf EU-Ebene oder sind in einen bereichsspezifischen Kontext eingebettet,
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Näher Frenz, Europarecht 5, Rn. 3908 ff. Unterscheidung bei Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1 (2 ff.). EuGH, Rs. 9/70, Slg. 1970, 825 (838 f., Rn. 5 f.) – Franz Grad.
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Kapitel 1: Unionsrecht
ohne den Einzelnen zu berechtigen oder zu verpflichten: Das erfolgt dann höchstens mittelbar.27
G. Richtlinien I. Grundsätzlich keine unmittelbare Wirkung 19 Richtlinien wenden sich nach Art. 288 Abs. 3 AEUV nur an die Mitgliedstaaten und bedürfen grundsätzlich einer Umsetzung in nationales Recht. Sie sind zunächst nur für die betroffenen Mitgliedstaaten verbindlich und entfalten keine unmittelbare Wirkung. Eine Richtlinie muss in nationales Recht umgesetzt werden und ist erst darüber auch für den Einzelnen verbindlich. Die Frist für die Umsetzung ergibt sich in der Regel aus der Richtlinie selbst. II. Unmittelbare Wirkung nicht (hinreichend) umgesetzter Richtlinien 20 Der EuGH hat schon früh im Wege der Rechtsfortbildung eine unmittelbare Wirkung von Richtlinien anerkannt, wenn diese hinreichend regelungsintensiv ausgestaltet waren.28 Erste Voraussetzung ist demnach, dass die Richtlinie unbedingt und hinreichend genau ist. Sie ist inhaltlich unbedingt, wenn sie weder mit einem Vorbehalt noch mit einer Bedingung versehen ist und keiner weiterer Maßnahmen der Unionsorgane bedarf. Die Richtlinie ist hinreichend bestimmt, wenn der Inhalt der einzelnen Regelung und der von ihr betroffene Personenkreis eindeutig umschrieben sind. Während früher ein dem Mitgliedstaat verbliebener Beurteilungs-, Ermessens- oder Gestaltungsspielraum einer unmittelbaren Wirkung im Wege stand, genügt dem EuGH inzwischen, dass das Regelungsziel einer Richtlinie unbedingt vorgegeben ist.29 Beispiel nach EuGH, Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981 – Mangold: Art. 6 Abs. 1 der GleichbehandlungsRL 2000/78/EG erlaubte den Mitgliedstaaten ausdrücklich eine Ungleichbehandlung zum Zwecke der Beschäftigungsförderung. Der EuGH erkannte zwar einen weiten Ermessenspielraum der Mitgliedstaaten an (Rn. 63), brachte die entsprechende Maßnahme der deutschen Beschäftigungspolitik (§ 14 Abs. 3 TzBfG in der Fassung des Ersten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2002, BGBl. I, S. 4607) aber dennoch wegen Unangemessenheit durch zu starke Einschränkung der mit der Richtlinie angestrebten Gleichbehandlung zu Fall (Rn. 65).
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Die unmittelbare Wirkung ist auf Fälle beschränkt, in denen die Frist zur Umsetzung durch die Mitgliedstaaten abgelaufen ist. Diese Einschränkung gilt nicht, wenn es um die Vereitelung des Richtlinienzieles durch nationale Maßnahmen während der Umsetzungsfrist sowie die Einhaltung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes geht. Eine solche nationale Vorschrift ist unangewendet zu lassen, 27 28 29
Näher s. Frenz, Europarecht 5, Rn. 1359 ff. St. Rspr. seit EuGH, Rs. 33/70, Slg. 1970, 1213 – S.A.C.E.; Rs. 8/81, Slg. 1982, 53 – Becker. Im Einzelnen auch zum Folgenden Frenz, Europarecht 5, Rn. 1058 ff. EuGH, Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981 (10035 ff., Rn. 55 ff.) – Mangold. S. auch EuGH, Rs. C-237/07, Slg. 2008, I-6221 (6237, Rn. 38) – Janecek m.w.N.
G. Richtlinien
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auch wenn sie die Umsetzung der fraglichen Richtlinie nicht bezweckt oder bewirkt,30 ohne dass jedoch bereits die Richtlinie unmittelbar wirkt – wohl aber nach dem Urteil Mangold ein durch eine nationale Maßnahme verletzter allgemeiner Rechtsgrundsatz:31 Der EuGH bemühte das Verbot einer Diskriminierung wegen des Alters als einen „allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts“ (s. nunmehr Art. 21 EGRC). Auf der Rechtsfolgenseite führt die unmittelbare Wirkung dazu, dass sich der 22 Bürger gegenüber dem Mitgliedstaat auf die in der Richtlinie beschriebenen Rechte berufen kann (vertikale Wirkung). Richtlinienbestimmungen können subjektive öffentliche Rechte für Private begründen. Die unmittelbare Wirkung einer Richtlinie ist aber auch bereits von Amts wegen zu berücksichtigen.32 Neben dem Staat können auch Privatgesellschaften, die sich unter öffentlicher Kontrolle befinden, verpflichtet sein.33 III. Grenzen Umgekehrt kann sich ein Mitgliedstaat nicht gegenüber dem Bürger unmittelbar 23 auf eine Richtlinienbestimmung berufen (umgekehrte vertikale Wirkung). Dem Bürger können aufgrund einer unmittelbaren Wirkung von Richtlinien also keine Pflichten gegenüber dem Staat auferlegt werden.34 Dies wäre mit dem Sanktionsgedanken der unmittelbaren Wirkung unvereinbar. Schließlich hat es nur der Mitgliedstaat selbst in der Hand, die Richtlinie rechtzeitig und ordnungsgemäß auch zu seinen Gunsten umzusetzen. Die Kommission, nicht aber ein Privater, kann ein Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 257 AEUV anstrengen. Ausgeschlossen ist eine umgekehrte unmittelbare Wirkung auch in dem Fall, 24 in dem ein Mitgliedstaat auf Antrag eines Einzelnen verpflichtet wäre, einem anderen Einzelnen Rechte zu entziehen. Der Grundsatz der Rechtssicherheit steht der Begründung von Verpflichtungen für den Einzelnen durch Richtlinien auch hier entgegen.35 Dagegen rechtfertigen bloße negative Auswirkungen auf die Rechte Dritter es 25 nicht, dem Einzelnen das Recht auf Berufung auf die Bestimmungen einer Richtlinie gegenüber dem betreffenden Mitgliedstaat zu versagen. 36 Die sogenannte objektive unmittelbare Wirkung ist bereits länger anerkannt. Danach ist eine nicht umgesetzte Richtlinie nach Ablauf der Umsetzungsfrist anzuwenden, wenn
30 31 32 33 34 35 36
S. EuGH, Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981 (10038, Rn. 68) – Mangold. EuGH, Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981 (10039 ff., Rn. 74, 76, 78) – Mangold; nicht beanstandet durch BVerfG, NJW 2010, 3422 – Mangold; dazu näher u. Rn. 134. Für Gerichte EuGH, Rs. 8/81, Slg. 1982, 53 (70 f., Rn. 23) – Becker; für Verwaltungsbehörden Rs. 103/88, Slg. 1989, 1839 (1870 f., Rn. 30 f.) – Costanzo. EuGH, Rs. 152/84, Slg. 1986, 723 (749, Rn. 49) – Marshall; Rs. C-188/89, Slg. 1990, I3313 (3348 f., Rn. 17 ff.) – Foster. EuGH, Rs. C-387 u.a./02, Slg. 2005, I-3565 (3654, Rn. 73 f.) – Berlusconi; Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651 (1691, Rn. 56) – Johnston. EuGH, Rs. C-201/02, Slg. 2004, I-723 (765, Rn. 55 f.) – Wells (UVP-Pflicht). EuGH, Rs. C-201/02, Slg. 2004, I-723 (765, Rn. 57) – Wells (UVP-Pflicht).
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Kapitel 1: Unionsrecht
anderen Privaten daraus keine unmittelbaren rechtlichen Nachteile entstehen.37 Hier werden die betroffenen Privaten nur mittelbar belastet. Das Vertrauen auf eine unrichtige Umsetzungsrechtslage ist nicht schutzwürdig.38 Die objektive unmittelbare Wirkung kann auch von Privatpersonen eingefordert werden. Nach dem EuGH39 ist eine unmittelbare Wirkung zwischen Privaten (horizon26 tale Wirkung, unmittelbare Drittwirkung) ausgeschlossen, da auch dies dem Sanktionsgedanken widerspricht und den Unterschied zur Verordnung noch mehr verwischen würde. Gegen eine unmittelbare Wirkung spricht, dass der Einzelne beurteilen müsste, ob ein Mitgliedstaat seine Umsetzungspflicht verletzt hat und ob eine Richtlinienbestimmung inhaltlich zur Entfaltung einer unmittelbaren Wirkung in der Lage ist. Im Fall einer fehlenden unmittelbaren Wirkung kann das Institut der europarechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts angewendet werden. Wenn das von der Richtlinie vorgeschriebene Ziel auch nicht im Wege der Auslegung erreicht werden kann, kommt ein Anspruch auf Schadensersatz gegen den Mitgliedstaat in Betracht.40 27 Fall: Defizitäre Richtlinienumsetzung nach EuGH, Slg. 1991, I-825 – Grundwasserschutzrichtlinie: Die Grundwasserschutzrichtlinie41 bezweckt gemäß Art. 1 Abs. 1, die Verschmutzung des Grundwassers durch Stoffe der in anliegenden Listen aufgeführten Stofffamilien und Stoffgruppen zu verhüten und die Folgen seiner bisherigen Verschmutzung so weit wie möglich einzudämmen oder zu beheben. Dieser Zweck soll gemäß Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie unter anderem durch die Vorgabe an die Mitgliedstaaten, jegliche direkte Ableitung von Stoffen aus der Liste I zu verbieten, erreicht werden. Das Recht der Bundesrepublik Deutschland entspricht zwar von den Standards her den Anforderungen der Grundwasserschutzrichtlinie, erfasst aber nicht alle Stoffe der Liste I ausdrücklich und sieht, was die direkte Ableitung von Stoffen anbetrifft, nur das Erfordernis einer Genehmigung, nicht eines Verbots vor. Ist nach dieser Rechtslage42 die Ableitung von allen Stoffen der Liste I der Grundwasserschutzrichtlinie in der Bundesrepublik Deutschland verboten? Lösungsaufbau: I. Nicht ordnungsgemäße Umsetzung II. Hinreichende Bestimmtheit und Genauigkeit III. Keine Rechtswirkungen ausschließlich zwischen Privaten IV. Ergebnis Lösungsvorschlag: Die Ableitung von allen Stoffen der Liste I ist dann verboten, wenn die Grundwasserschutzrichtlinie in der Bundesrepublik Deutschland unmittelbare Wirkung entfaltet. Eine solche
37 38 39 40 41
42
EuGH, Rs. C-431/92, Slg. 1995, I-2189 (2220 f., Rn. 26) – Großkrotzenburg (UVPPflicht); näher Frenz, Europarecht 5, Rn. 1078 ff. Nettesheim, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 10 Rn. 119. EuGH, Rs. 152/84, Slg. 1986, 723 (749, Rn. 48) – Marshall; Rs. C-80/06, Slg. 2007, I4473 (4511, Rn. 20) – Moleri. EuGH, Rs. C-91/92, Slg. 1994, I-3325 (3357, Rn. 26 f.) – Faccini Dori; Rs. C-6 u. 9/90, Slg. 1991, I-5357 (5415, Rn. 39) – Francovich. RL 80/68/EWG vom 17.12.1979, ABl. 1980 L 20, S. 43. Die Richtlinie wird gemäß Art. 22 Abs. 2 Spiegelstrich 3 RL 2000/60/EG zum 22.12.2013 aufgehoben. Übergangsweise sind bis zu diesem Datum gemäß Art. 7 RL 2006/118/EG die Art. 4 f. RL 80/68/EWG i.V.m. Art. 3-5 RL 2006/60/EG bereits anzuwenden. Das Wasserrecht wurde mittlerweile umfassend novelliert.
G. Richtlinien
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unmittelbare Wirkung setzt voraus, dass die Richtlinie von der Bundesrepublik Deutschland nicht oder fehlerhaft umgesetzt wurde, sie hinreichend bestimmt und genau ist und nicht unmittelbar zulasten Privater Pflichten begründet. I. Nicht ordnungsgemäße Umsetzung Die Grundwasserschutzrichtlinie wurde in der Bundesrepublik Deutschland umgesetzt. Diese Umsetzung beinhaltet ein mit der Grundwasserschutzrichtlinie vergleichbares Niveau. Indes fügt sie sich nicht in deren System. So sind nicht alle Stoffe der Liste I ausdrücklich erfasst. Ein Rechtsakt ist nur in Gestalt einer Genehmigung, nicht eines Verbots vorgesehen. Bei einem solchen Abweichen ist es den von einem sauberen Grundwasser letztlich profitierenden Individuen erheblich erschwert, ihre Rechte zu erkennen und sie gegebenenfalls einzufordern; auch die Verpflichteten haben Schwierigkeiten, die sie treffenden Verhaltensanforderungen in Verbindung zu der Richtlinie zu sehen. Damit wird die Effektivität der Richtlinienumsetzung infrage gestellt. Tiefer gehend führt eine solche strukturell nicht deckungsgleiche Umsetzung zu einer Verschiedenartigkeit der durch Richtlinien bestimmten Normbereiche, so dass eine divergierende Belastung der Wirtschaftsteilnehmer droht und eine ausgewogene Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Union gefährdet wird. Diesem Ziel dienen letztlich entsprechend der Grundlagenbestimmung des Art. 3 Abs. 3 und 6 EUV auch Richtlinien. Nach alledem genügt die Umsetzung von Art. 4 Abs. 1 der Grundwasserschutzrichtlinie im deutschen Recht nicht den gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen. Sie ist daher nicht ordnungsgemäß. II. Hinreichende Bestimmtheit und Genauigkeit Art. 4 Abs. 1 Grundwasserschutzrichtlinie gibt eindeutig vor, dass jegliche direkte Ableitung von Stoffen aus der Liste I verboten sein muss. Die Ausgestaltung des nationalen Rechts ist hier in Einzelheiten vorgegeben; den Mitgliedstaaten verbleibt noch nicht einmal ein Ausgestaltungsspielraum. Die Richtlinie ist daher insoweit inhaltlich unbedingt und genau. III. Keine Rechtswirkungen ausschließlich zwischen Privaten Das Gewässerschutzregime erfordert ein Dazwischentreten staatlicher Instanzen. Die Grundwasserschutzrichtlinie wirkt daher nicht unmittelbar zulasten Privater, sondern vermittelt durch staatliche Instanzen. Damit ist die Staatsgerichtetheit der Richtlinien nach Art. 288 Abs. 3 AEUV auch bei einer unmittelbaren Wirkung gewahrt. IV. Ergebnis Art. 4 Abs. 1 der Grundwasserschutzrichtlinie wirkt unmittelbar. Die Ableitung von allen Stoffen aus der Liste I dieser Richtlinie ist in der Bundesrepublik Deutschland damit verboten, auch wenn diese Bestimmung im deutschen Recht nicht enthalten ist.
IV. Richtlinienkonforme Auslegung und Rechtsfortbildung Soweit eine Frage durch die Richtlinie vorgegeben ist, muss richtlinienkonform 28 ausgelegt werden.43 Das folgt aus dem Vorrang des Unionsrechts und damit auch von dessen Auslegungsmethoden. Zwar sind diese hier auf die Besonderheiten der Richtlinie abzustimmen. Jedoch müssen die vorgegebenen Richtliniengehalte zum Durchbruch gelangen. Daraus ergibt sich eine sehr weite Notwendigkeit richtlinienkonformer Auslegung.
43
A.A. Di Fabio, NJW 1990, 947 (948 ff.).
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Kapitel 1: Unionsrecht
Beispiel nach BGH, NJW 2009, 427 – Quelle II: Aus § 439 Abs. 4 BGB a.F. folgte ein Wertersatz für gezogene Nutzungen bei Lieferung vertragswidriger Verbrauchsgüter. Das widersprach Art. 3 RL 1999/44/EG (Verbraucherschutzrichtlinie).44 Der BGH ließ insoweit das nationale Recht im Wege richtlinienkonformer Rechtsfortbildung unangewendet.45 Die daraus folgende (partielle) Nichtanwendung nationaler Vorschriften, die einer Richtlinie widersprechen, kann gerade Verhältnisse zwischen Privaten betreffen. Eine solche richtlinienkonforme Rechtsfortbildung ist letztlich nur dogmatisch anders fundiert. Sie verschwimmt aber in ihren Auswirkungen mit einer unmittelbaren Wirkung zwischen Privaten, wie das zweite Quelle-Urteil des BGH zeigt.46 Aus Sicht des Gerichtshofs der EU ist es ohnehin gleichgültig, auf welcher Grundlage das nationale Recht angepasst wird, ob also über eine unmittelbare Anwendung oder eine richtlinienkonforme Auslegung.47
Vor der richtlinienkonformen Auslegung müssen auch innerstaatliche verfassungsrechtliche Ansätze48 zurücktreten, soll die Richtlinie in allen Mitgliedstaaten gleichermaßen in ihren verbindlichen Gehalten verwirklicht werden können. Das aber gehört zu ihrem festen Wirkprogramm als Instrument der Rechtsangleichung und ist daher auch in Art. 23 GG als Öffnungsnorm für das Europarecht angelegt.49 Nur wenn mehrere richtlinienkonforme Auslegungsmöglichkeiten in Betracht 30 kommen, muss die eher den nationalen Auslegungsvorgaben entsprechende gewählt werden.50 Das ist letztlich die Konsequenz, dass die richtlinienkonforme Auslegung nur die europarechtlich determinierten Inhalte erfasst und nicht darüber hinausgeht, mithin die Reichweite des nationalen Rechts nicht beschneidet. Allerdings bestimmen sich dessen Ausdehnung und damit auch das Vorliegen verschiedener Interpretationsmöglichkeiten nach unionsrechtlichen Maßstäben, also aus der Richtlinie selbst. Würden hier nationale Maßstäbe zum Zuge kommen, könnten sie die Wirkungen der Richtlinie überspielen. Entscheidend ist mithin die Festschreibung einer Vorgabe in der Richtlinie und 31 deren Genauigkeit. Sie kann sich auch erst aus dem Sinn und Zweck der Richtlinie ergeben. Insoweit besteht eine Pflicht zur effektiven Erfüllung für alle staatlichen Organe jedenfalls nach Art. 4 Abs. 3 UAbs. 2 EUV. Damit kommt es in diesem Zusammenhang nicht darauf an, ob die Richtlinienbestimmungen aufgrund ihrer hinreichenden inhaltlichen Präzision eine unmittelbare Wirkung zu entfalten vermögen.51 Beide Institute sind nicht notwendig miteinander verknüpft.52 Die richtlinienkonforme Auslegung reicht damit nur so weit wie die Richtli32 nie selbst. Sie erstreckt sich also nicht auf verwandte Bereiche, die in der Richtlinie selbst nicht geregelt sind. Eine Richtlinie beeinflusst jedenfalls nicht noch Nachbarrichtlinien. Über sie werden auch nicht europäische Grundrechtsgehalte 29
44 45 46 47 48 49 50 51 52
EuGH, Rs. C-404/06, Slg. 2008, I-2685 – Quelle. BGH, NJW 2009, 427 – Quelle II. BGH, NJW 2009, 427; näher Frenz, Europarecht 5, Rn. 1034 ff. Beljin, EuR 2002, 351 (360 f.). Di Fabio, NJW 1990, 947 (951 ff.). Näher Frenz, Europarecht 5, Rn. 236 ff. auch im Hinblick auf das Lissabon-Urteil des BVerfG. S. BVerfGE 125, 260 – Vorratsdatenspeicherung. EuGH, Rs. 79/83, Slg. 1984, 1921 (1942, Rn. 26 f.) – Harz. S. Jarass/Beljin, JZ 2003, 768 (776 f.).
H. Empfehlungen
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beeinflusst. Diese kommen vielmehr erst und nur dann zur Geltung, wenn eine Materie vom Unionsrecht erfasst ist. Insoweit hat dann die Richtlinie eine Öffnungsfunktion. Berühmtes Beispiel ist das Verbot der Altersdiskriminierung, das jedenfalls mit Ablauf der Umsetzungsfrist für die dieses Verbot tangierende Richtlinie eingreift.53 Eine Richtlinie wirkt auch zeitlich nicht für Interpretationszwecke voraus. Viel- 33 mehr prägt sie erst mit Ablauf der Umsetzungsfrist das nationale Recht, 54 außer es geht um zusätzliche Anhaltspunkte.55 Dies führt etwa im Bereich der Altersdiskriminierung durch Altersabstandsklauseln dazu, dass sie erst mit Ablauf der Frist für die Umsetzung der RL 2000/78/EG greifen und das nationale Recht auf europarechtlicher Basis entsprechend auszulegen ist.56
H. Empfehlungen Empfehlungen und Stellungnahmen sind gemäß Art. 288 Abs. 5 AEUV nicht 34 verbindlich und wirken daher nicht unmittelbar. Das gilt auch für andere Rechtshandlungen, die nicht für sich verbindlich sind, wie Mitteilungen der Kommission.57
53 54 55 56 57
Darauf strikt begrenzend EuGH, Rs. C-427/06, Slg. 2008, I-7245 (7296, Rn. 24 f.) – Bartsch. S.o. Rn. 20 f. zum Fall Mangold. EuGH, Rs. C-427/06, Slg. 2008, I-7245 (7294, Rn. 18) – Bartsch. Ausführlich Frenz, Europarecht 5, Rn. 1149 ff. Näher Bauer/Arnold, NJW 2008, 3377 (3379). S. EuG, Rs. T-258/06, VergabeR 2010, 593 – Kommission/Deutschland.
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Kapitel 1: Unionsrecht
Übersicht: Arten von Rechtsakten
35
Verordnungen (Art. 288 Abs. 2 AEUV)
• haben allgemeine Geltung. • sind in allen ihren Teilen verbindlich (Gesamtverbindlichkeit).
• gelten unmittelbar in jedem Mitgliedstaat (Durchgriffswirkung, bedürfen keiner Umsetzung). Richtlinien (Art. 288 Abs. 3 AEUV)
• sind für jeden Mitgliedstaat hinsichtlich des zu erreichenden Zieles verbindlich.
• überlassen den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel.
• gelten also grundsätzlich nicht unmittelbar, sondern
Beschlüsse (Art. 288 Abs. 4 AEUV)
Empfehlungen und Stellungnahmen (Art. 288 Abs. 5 AEUV) Sonstige Rechtsakte
bedürfen der Umsetzung durch die Mitgliedstaaten. Das muss nicht förmlich und wörtlich erfolgen, aber so klar und deutlich, dass die Begünstigten in der Lage sind, von allen ihren Rechten Kenntnis zu erlangen und diese gegebenenfalls vor nationalen Gerichten geltend zu machen. • gelten allerdings dann und insoweit unmittelbar, als sie von einem Mitgliedstaat nicht ordnungsgemäß umgesetzt wurden, hinreichend genau und bestimmt sind und nicht lediglich zwischen Privaten Pflichten begründen. • sind in allen ihren Teilen verbindlich. • allgemein o. für diejenigen, die sie bezeichnen: sie haben stets unmittelbare Wirkung, wenn sie an Individuen adressiert sind; wenn sie an Mitgliedstaaten gerichtet sind, unter den Voraussetzungen einer Richtlinie, da sie dann grundsätzlich umsetzungsbedürftig sind. sind nicht verbindlich.
Art. 288 AEUV führt die möglichen Arten von Rechtsakten nicht abschließend auf. Zur wirksamen Durchführung zahlreicher Politiken sind etwa auch Warnungen etc. erforderlich. Eine Beschränkung auf die in Art. 288 AEUV genannten Rechtshandlungen ergibt sich aber dann, wenn eine Vorschrift explizit auf diese Formen verweist.
J. Allgemeine Grenzen I. Grundsätze nach Art. 5 EUV und dazugehöriges Protokoll 36 Die allgemeinen Maßgaben in Art. 5 EUV stellen sicher, dass die Zuständigkeiten der Union strikt abgegrenzt werden und nicht über das notwendige Maß hinausreichen. Diese Maßgaben sind der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung, das Subsidiaritätsprinzip und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Für die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und des Subsidiaritätsprinzips
J. Allgemeine Grenzen
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ergibt sich Näheres aus dem dazugehörigen Protokoll (Nr. 2).58 Auf diese Weise stellen diese Eckpunkte nach dem BVerfG zugleich sicher, dass die Souveränität der Mitgliedstaaten und damit letztlich das in diesen verankerte Demokratieprinzip gewahrt bleibt, mithin die Union nicht jenseits der übertragenen Bereiche tätig wird.59 II. Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung Nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung bedarf es einer aus- 37 drücklichen Zuständigkeitszuweisung, damit die Union tätig werden kann, ansonsten bleiben gemäß Art. 5 Abs. 2 S. 2 EUV die Mitgliedstaaten kompetent. Damit wird die Union nur innerhalb der Grenzen tätig, welche ihr durch die Mitgliedstaaten zugewiesen wurden, um die in den Verträgen niedergelegten Ziele zu verwirklichen. Der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung hat also die Frage zum Inhalt, ob die Union tätig werden darf. 60 Im Gegensatz zu den Mitgliedstaaten hat die Union keine sogenannte Kompetenz-Kompetenz, um sich selbst neue Zuständigkeiten zuzuteilen, was sich direkt aus Art. 5 Abs. 2 S. 2 AEUV ergibt.61 Der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung wirkt darüber hinaus auch 38 direkt beschränkend für eine Auslegung anhand des effet utile und einen allzu weitreichenden Geltungsanspruch der Unionsziele gegenüber mitgliedstaatlicher Souveränität. So enthält Art. 114 AEUV keine allgemeine Kompetenz zur Regelung des Binnenmarkts. 62 III. Subsidiaritätsprinzip Nach Art. 5 Abs. 3 AEUV wird die Union nur tätig, wenn die mit einer Maßnah- 39 me verfolgten Ziele nicht von den Mitgliedstaaten selbst in hinreichendem Maße realisierbar sind. Die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen dürfen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend realisiert werden können. Zudem müssen diese Ziele aufgrund ihres Umfangs und ihrer Wirkungen besser durch ein Vorgehen auf Unionsebene verwirklicht werden können. Damit bezieht sich das Subsidiaritätsprinzip auf die Frage, wie zur Erreichung eines Ziels am besten vorgegangen werden sollte, nämlich entweder auf Unionsebene oder auf Ebene der Mitgliedstaaten. Materiell sind die Vorgaben des Subsidiaritätsprinzips in ein positives und ein 40 58 59 60 61 62
Protokoll (Nr. 2) über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, ABl. 2008 C 115, S. 201 (206). BVerfGE 123, 267 (340 f., 347, 349 f., 353 f.) – Lissabon. Krit. Frenz, Europarecht 5, Rn. 218 ff.; Ruffert, DVBl. 2009, 1197 ff. Ausführlich zu diesem Prinzip Frenz, Europarecht 5, Rn. 642 ff. Vgl. zur verfassungsrechtlichen Notwendigkeit dieser Begrenzung, BVerfGE 123, 267 (349 f.) – Lissabon. EuGH, Rs. C-376/98, Slg. 2000, I-8419 (8524, Rn. 83) – Tabakwerbung zur TabakwerbeRL 98/43/EG.
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Kapitel 1: Unionsrecht
negatives Kriterium einzuteilen. Es muss in einem ersten Schritt geprüft werden, ob ein Handeln auf mitgliedstaatlicher Ebene zur Zielverwirklichung ausreicht. Ein Handeln auf Unionsebene setzt voraus, dass dies nicht der Fall ist (Negativkriterium). An zweiter Stelle ist zu prüfen, ob das Maßnahmenziel daher besser auf Unionsebene erreicht werden kann und ein solches Vorgehen deutliche Vorteile verspricht (Positivkriterium).63 Formal kommen Begründungserfordernisse hinzu. Daneben bestehen noch Möglichkeiten der Stellungnahme sowie der Klage durch die nationalen Parlamente bzw. Teile davon.64 IV. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit 41 Entsprechende Spezifizierungen in formaler Hinsicht ergeben sich für den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit aus Art. 5 Abs. 4 EUV. Nach diesem müssen Maßnahmen geeignet und erforderlich zur Zielerreichung sein und dürfen damit nicht über das zur Erreichung der Ziele in den Verträgen vorgesehene Maß hinausgehen.65 Weiterhin muss die Maßnahme angemessen (verhältnismäßig im eigentlichen Sinn) sein. Näheres regelt das Protokoll (Nr. 2) über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. 66 Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist eine äußere Grenze für die Kompetenzaus42 übung auf Unionsebene.67 Dies betrifft sowohl die formale Seite als auch die inhaltliche Ausprägung einer Maßnahme und begrenzt diese bezüglich Art, Umfang und Intensität. In der Praxis wird besonders der Erforderlichkeitsprüfung starkes Gewicht 43 verliehen. Voraussetzung für deren Einhaltung ist, dass von mehreren gleich geeigneten Mitteln das mit der geringstmöglich belastenden Wirkung gewählt wird. Daraus folgt, dass auf Unionsebene ein Grundsatz des geringstmöglichen Eingriffs besteht. Dessen Einhaltung unterliegt grundsätzlich der vollständigen Überprüfung 44 durch den Gerichtshof der EU und ist in diesem Umfang justiziabel. 68 Einschränkungen ergeben sich jedoch daraus, dass den übrigen Unionsorganen durch den Gerichtshof der EU im konkreten Einzelfall häufig ein erheblicher Entscheidungsspielraum zugestanden wird. Solche Spielräume haben zur Folge, dass lediglich eine Evidenzkontrolle durch die Judikative erfolgt.69
63 64 65 66 67 68 69
S. Ludwigs, Rechtsangleichung nach Art. 94, 95 EG-Vertrag, 2004, S. 131; Frenz, Europarecht 5, Rn. 706 ff. Näher Art. 5 ff. des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, ABl. 2008 C 115, S. 201 (206). Ausführlich hierzu Frenz, Europarecht 5, Rn. 732 ff. Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, ABl. 2008 C 115, S. 201 (206). Darüber hinaus ist er jedoch ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts. Vgl. EuGH, Rs. C-265/87, Slg. 1989, 2237 (2269 f., Rn. 20 ff.) – Schräder. S. zum Ganzen ausführlich Frenz, Europarecht 5, Rn. 750 ff., mit Kritik Rn. 765.
K. EU-Zuständigkeiten
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K. EU-Zuständigkeiten I. Neugestaltung der Zuständigkeitsverteilung Die Zuständigkeitsverteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten wurde in Art. 2 45 ff. AEUV wesentlich neu gestaltet. Es gibt ausschließliche, geteilte sowie koordinierende bzw. unterstützende bzw. ergänzende Zuständigkeiten der Union. Deren jeweilige Funktionsweise wird vorgezogen in Art. 2 AEUV beschrieben. Die einzelnen Politikbereiche sind in den Folgevorschriften jeweils einer Kategorie zugeordnet. Die dort genannten Kategorien sind abschließend.70 Das erinnert an die Unterteilung zwischen ausschließlichen und konkurrieren- 46 den Kompetenzen für die Gesetzgebung nach dem deutschen GG. Allerdings werden dort die Gesetzgebungszuständigkeiten begründet, hier dagegen nur kategorisiert,71 nicht aber konstituiert: Das erfolgt gemäß Art. 2 Abs. 6 AEUV in anderen Bestimmungen. Dass die Union teilweise lediglich eine koordinierende, unterstützende oder ergänzende Funktion einnimmt, ist ihrem Charakter als bloßem Staatenverbund geschuldet. Im deutschen Bundesstaat sind hingegen solche sich überschneidenden Kompetenzen grundsätzlich ausgeschlossen.72 II. Ausschließliche Unionszuständigkeit Während bei der geteilten Zuständigkeit auch die Mitgliedstaaten handeln können 47 und diese bei der koordinierenden, ergänzenden bzw. unterstützenden Zuständigkeit der Union im Wesentlichen kompetent sind, bleiben sie bei der ausschließlichen Zuständigkeit grundsätzlich außen vor. Sie dürfen in einem solchen Fall nach Art. 2 Abs. 1 HS. 2 AEUV nur tätig werden, wenn sie von der Union hierzu ermächtigt werden oder um Rechtsakte der Union durchzuführen. Es handelt sich dann um eine lediglich abgeleitete Zuständigkeit. Eine „Rückermächtigung“ kann etwa in Schutzklauseln oder in partiellen, 48 zum Teil nur vorübergehenden allgemeinen Handlungsermächtigungen enthalten sein.73 Daraus muss sich dann auch ergeben, inwieweit die Mitgliedstaaten handeln können oder auch müssen – etwa um Unionsrecht zu ergänzen und dadurch funktionsfähig zu machen. Regelmäßig ist davon aber nicht auszugehen, handelt es sich doch um eine ausschließliche und damit generell der Union obliegende Zuständigkeit. Diese mitgliedstaatliche Zuständigkeit muss im ersten Fall ausdrücklich eröff- 49 net sein, und zwar im sekundären Unionsrecht. Im primären Unionsrecht ist demgegenüber lediglich die Union als ausschließlich zuständige rechtsetzende Ebene festgelegt. Nur sie darf daher nach Art. 2 Abs. 1 HS. 1 AEUV gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen. Solche der Mitgliedstaaten sind unzulässig. Letztere sind insoweit nicht handlungsbefugt, auch wenn die 70 71 72 73
Lenski, in: Lenz/Borchardt, Art. 2 AEUV Rn. 4. Lenski, in: Lenz/Borchardt, Art. 2 AEUV Rn. 4 a.E. BVerfGE 119, 331 – Hartz IV-Arbeitsgemeinschaften. Lenski, in: Lenz/Borchardt, Art. 2 AEUV Rn. 6.
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Kapitel 1: Unionsrecht
Union untätig blieb. Sie sollen unbedingt und dauerhaft am Handeln gehindert sein, damit die erfassten Aufgaben hinreichend erfüllt werden können. Ihr Kompetenzverlust ist mithin total.74 Ihre Rechtsetzung ist umfassend gesperrt (Sperrwirkung).75 Daher ist auch die Annahme einer Notfallkompetenz der Mitgliedstaaten sehr 50 fraglich, wenn die Union nicht tätig wird und eine Rechtslücke entsteht. Insoweit wurde trotz Normierung der Zuständigkeitsverteilung in Art. 2 ff. AEUV keine Regelung getroffen. Es ergibt sich daher höchstens eine ungeschriebene Zuständigkeit etwa kraft impliziter Ermächtigung.76 Dadurch wird indes der gewollte vollständige Kompetenzverlust der Mitgliedstaaten auch bei Untätigkeit der Union durchlöchert. Es kommt höchstens eine Fortführung der bisherigen Judikatur infrage. 77 Da51 nach können die Mitgliedstaaten ausnahmsweise bei tatsächlicher Erforderlichkeit, fehlendem Handeln der Unionsorgane trotz Möglichkeit dazu und nach eingehender Konsultation im Einvernehmen mit der Kommission als „Sachwalter des gemeinsamen Interesses“ vorläufig Recht setzen.78 III. Geteilte Zuständigkeit 1. Konkurrierende Zuständigkeit mit Vorrang der Union 52 Sowohl die Union als auch die Mitgliedstaaten können gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 AEUV gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen, wenn die Verträge der Union für einen bestimmten Bereich eine mit den Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit übertragen. Dies ist der „Normalfall“.79 Dabei handelt es sich entsprechend dem deutschen GG um eine konkurrierende Zuständigkeit80 mit Vorrang der übergeordneten Ebene. Gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 2 AEUV nehmen die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeit wahr, sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat. Von den konkurrierenden Gesetzgebungskompetenzen des GG unterscheiden 53 sich die geteilten Zuständigkeiten nach Art. 2 Abs. 2, Art. 4 AEUV dadurch, dass sie überwiegend auf die Erreichung bestimmter Ziele in den einzelnen Politiken, also anders als die sachbezogenen Kompetenzen in Deutschland final angelegt sind.81 Indes sind die Ziele oft sehr weit formuliert, so dass sich aus ihnen auch keine deutlich konkretere Kompetenzabgrenzung ergibt. 82 Das gilt zumal für den Binnenmarkt. Ohnehin haben auch die Politikbereiche der Union vielfach gegen74 75 76 77 78 79 80 81 82
Calliess, in: ders./Ruffert, Verfassung der EU, 2006, Art. I-12 Rn. 7. Lenski, in: Lenz/Borchardt, Art. 2 AEUV Rn. 5. S. Calliess, in: ders./Ruffert, Verfassung der EU, 2006, Art. I-12 Rn. 8. Lenski, in: Lenz/Borchardt, Art. 2 AEUV Rn. 7. EuGH, Rs. 804/79, Slg. 1981, 1045 (1075 f., Rn. 30) – Kommission/Vereinigtes Königreich. Lenski, in: Lenz/Borchardt, Art. 2 AEUV Rn. 8. Nettesheim, EuR 2004, 511 (529). Pernice, JZ 2000, 866. Lenski, in: Lenz/Borchardt, Art. 4 AEUV Rn. 6.
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ständlich umschriebene Felder, die sich wie Umwelt, Verkehr, Energie gerade in Art. 4 Abs. 2 AEUV wiederfinden. 2. Ausmaß der Sperrwirkung von Unionsrecht a) Europarechtlicher Ansatz Voraussetzung für eine nationale Zuständigkeit in diesem Bereich ist nach Art. 2 54 Abs. 2 S. 2 AEUV, dass die Union ihre Zuständigkeit entweder überhaupt nicht oder nicht vollständig ausgeübt hat. Im zweiten Fall ist die Reichweite der getroffenen Unionsmaßnahmen näher zu eruieren. Zwar geht es dann um eine nationale Zuständigkeit. Indes steht diese unter dem Vorbehalt, dass keine Unionsregulierung vorliegt. Daher hängt sie von Maßnahmen ab, die auf Unionsebene getroffen wurden. Deshalb sind die Auslegungsmaßstäbe des Europarechts heranzuziehen. b) Konkretes Sekundärrecht als Ausgangspunkt Eine restriktive Maßgabe trifft insoweit das Protokoll (Nr. 25) über die Aus- 55 übung der geteilten Zuständigkeit. Danach erstreckt sich unter explizitem Bezug auf Art. 2 Abs. 2 AEUV die Ausübung von Zuständigkeiten durch die Union „nur auf die durch den betreffenden Rechtsakt der Union geregelten Elemente und nicht auf den gesamten Bereich“. Damit ist der jeweilige Sekundärrechtsakt im Einzelnen zu analysieren; durch seinen Erlass ist nicht der tangierte Sachbereich insgesamt für die Mitgliedstaaten gesperrt, sondern nur der geregelte Teil davon. Das Primärrecht als Grundlage für das hier maßgebliche Sekundärrecht kann 56 höchstens Anhaltspunkte für die Reichweite im Einzelfall geben. So kann aus ihm folgen, wie weit eine Unionsregelung überhaupt reichen kann oder welche Elemente enthalten sein müssen – etwa wegen zu beachtender Grundsätze. Daher ist die jeweilige Kompetenzgrundlage für den fraglichen Sekundärrechtsakt zu ermitteln, um das Ausmaß der Regelungsmacht erfassen zu können. 83 c) Erfasste Rechtsakte Entsprechend der Formulierung in Art. 2 Abs. 2 S. 1 AEUV sind nur verbindliche 57 Rechtsakte relevant, um eine Sperrwirkung zu entfalten. Damit genügen etwa Empfehlungen nicht. Ansonsten bliebe ein Bereich allein wegen der lediglich unverbindlichen Maßnahme auf Unionsebene ohne verbindliche Regelung, deren Möglichkeit in Art. 2 Abs. 2 S. 1 AEUV vorausgesetzt wird. Die Ausübung der Zuständigkeit durch die Union nach Art. 2 Abs. 2 S. 2 AEUV beinhaltet daher nur verbindliche Rechtsakte. Allerdings können auch Einzelakte darunter fallen. Art. 2 Abs. 2 S. 1 AEUV 58 stellt verbindliche Rechtsakte der gesetzgeberischen Tätigkeit gleich. Damit zählt die Verbindlichkeit. Das korrespondiert mit der grundsätzlichen Wahlfreiheit bei den Handlungsformen. Auch Richtlinien, Verordnungen und nicht an einen bestimmten Adressaten gerichtete Beschlüsse können nach Art. 297 Abs. 2 UAbs. 1
83
Calliess, in: ders./Ruffert, Verfassung der EU, 2006, Art. I-12 Rn. 18, 21.
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AEUV ohne Gesetzescharakter sein, haben aber dann regelmäßig gemäß Art. 290 AEUV nur ergänzenden oder ändernden Charakter, bauen also auf Gesetzgebungsakten auf, präzisieren diese und damit auch die von ihnen ausgehende Sperrwirkung näher. Im Übrigen können auch an Mitgliedstaaten gerichtete Beschlüsse für diese die Gesetzgebung ausschließen, wenn sie nämlich insoweit eine Festlegung enthalten. Indem es entsprechend dem „soweit“ in Art. 2 Abs. 2 S. 2 AEUV auf die konkrete Reichweite der Sekundärrechtsakte ankommt, tritt die Sperrwirkung von Unionsrecht gegenüber nationaler Gesetzgebung ein, wenn eine Materie erschöpfend und damit abschließend geregelt ist.84 Dies ist entsprechend der zu wählenden Perspektive des Unionsrechts nach dem jeweiligen Unionsrechtsakt näher zu untersuchen. Dabei ist auf dessen Wortlaut und Systematik sowie auf den hinter der Unionsmaßnahme stehenden Regelungszweck abzustellen, ferner auf die Geschichte und die Materialien.85 Allerdings spielen die Entstehungsgeschichte und die Materialien bei der Auslegung von Unionsrecht grundsätzlich eine eher untergeordnete Rolle.86 Ist die Lage eindeutig, wenn eine Materie in einer Unionsmaßnahme geregelt wurde, können Probleme auftreten, sofern eine Regelung fehlt. Aufgrund des „soweit“ in Art. 2 Abs. 2 S. 2 AEUV spricht zwar eine erste Vermutung dafür, dass die Union dann ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat. Dies ist aber näher durch Auslegung zu ermitteln. Insoweit kann vor allem die Systematik eine Rolle spielen. Insbesondere sie gibt Auskunft darüber, ob ein impliziter Regelungsbeschluss auch für die nationale Ebene enthalten ist. Auch insoweit kann eine sekundärrechtliche Regelung vorliegen. Wurde ein Gebiet in einer Maßnahme nicht geregelt, kann die Union trotz umfassender Behandlung einer Materie absichtlich auf eine Regelung verzichtet haben. Dann hat sie ihre Zuständigkeit negativ dadurch ausgeübt, dass sie gerade keine Regelung getroffen hat. Das gilt auch dann, wenn ein Mitgliedstaat die Unionsregelung für unzureichend hält. Es obliegt der Union selbst zu entscheiden, inwieweit sie eine Materie regeln will oder nicht. Ist dies aber geschehen, und sei es negativ durch eine bewusst fehlende Normierung, ist die Kompetenz der Mitgliedstaaten gesperrt, außer die EU hat bewusst lediglich auf eine eigene Regelung verzichtet, aber sie den einzelnen Ländern ermöglichen wollen. Dann wird freilich regelmäßig eine entsprechende Klausel enthalten sein, etwa dass nationale Regelungen in dem betreffenden Gebiet unberührt bleiben bzw. unschädlich sind. Anders verhält es sich dagegen dann, wenn die Union gerade keine erschöpfende Regelung treffen wollte, sondern einen Bereich bewusst aussparte. Dann fehlt insoweit auch eine gezielte Nichtregulierung; vielmehr sollte das betroffene Feld überhaupt nicht erfasst werden. Die Union wollte dieses Gebiet mithin nicht unreguliert lassen, sondern thematisch abtrennen. Dann können die Mitgliedstaaten Regelungen treffen, und zwar auch, wenn sie nicht ausdrücklich dazu ermächtigt wurden. Das unterscheidet die geteilte Zuständigkeit von der ausschließlichen. 84 85 86
Vgl. zum GG BVerfGE 85, 134 (142) m.w.N. Vgl. BVerfGE 113, 348 (371) – Präventive Telekommunikationsüberwachung. Näher Frenz, Europarecht 5, Rn. 371 ff.
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Beispiel Emissionshandelsrichtlinie: So kann es notwendig sein, etwa im Bereich des Klimaschutzes bestimmte Vermeidungsziele europaweit festzuschreiben und dann auf die Mitgliedstaaten zu verteilen. Wie allerdings die Mitgliedstaaten ein solches Vermeidungsziel erreichen, kann ihnen überlassen werden, außer man wählt eine Maßnahme, die lediglich bei einer zentralen Festlegung auf Unionsebene sinnvoll ist. So verhält es sich etwa im Ausgangspunkt mit dem notwendig europaweiten Emissionshandel, um für alle Staaten ein insgesamt hinreichend großes Handelsgebiet und damit einen wirksamen Zertifikathandel sicherzustellen.87 Wie dieser dann aber in den Mitgliedstaaten ins Werk gesetzt wird und wie viele Zertifikate im Einzelnen die emittierenden Anlagen erhalten, um das Gesamtziel noch zu erreichen, kann und muss hingegen den Mitgliedstaaten überlassen bleiben,88 solange nicht unionsweit eine entgeltliche Ausgabe greift, wie sie ab 2013 nach und nach alle einbezogenen Branchen erfassen soll. Finden sich insoweit keine Regelungen auf Unionsebene, sind sie den Mitgliedstaaten vorbehalten. Diese müssen sie freilich nach den Vorgaben der Richtlinie ausrichten, um das darin verfolgte Ziel zu erreichen und zugleich den für die Erreichung dieses Zieles als notwendig erachteten Weg nicht zu gefährden. Zu diesem Zweck kann dann die Union bestimmte inhaltliche Vorgaben treffen.89
d) Weitere Aspekte Hat die Union eine Materie geregelt, ist in diesem Umfang die Regelungszustän- 63 digkeit der Mitgliedstaaten gesperrt. Entfällt aber eine Unionsregelung, lebt die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten wieder auf. Gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 3 AEUV nehmen die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeit nämlich erneut wahr, sofern und soweit die Union entschieden hat, ihre Zuständigkeit nicht mehr auszuüben. Dabei reicht ein entsprechender Beschluss zur Aufhebung eines Gesetzgebungsaktes aus. Letzterer muss noch nicht formell außer Kraft getreten sein. Nicht vorgesehen ist, dass die Mitgliedstaaten eine Kompetenz zur Abwei- 64 chungsgesetzgebung haben, wie dies nunmehr das GG für manche Materien vorsieht. Dagegen spricht der Vorrang des Unionsrechts. Ansonsten entstünde insoweit die Möglichkeit für die Mitgliedstaaten, von einer gemeinsamen Regelung abzuweichen. Zwar erscheint dies insofern eher möglich, als die Union einen bloßen Staatenverbund und keinen Bundesstaat darstellt. Die Zuständigkeiten der Union reichen nicht derart weit wie die eines Bundesstaates. Soweit aber eine Zuständigkeit der Union festgelegt ist, betrifft sie Materien, die gerade europaweit geregelt werden sollen, um die europäische Integration entsprechend den in Art. 3 EUV festgelegten Zielen voranzubringen. Daher schließt die Grundkonzeption der Verträge eine Abweichungsgesetzgebung der Mitgliedstaaten aus. Vielmehr muss sich das Unionsrecht gegen nationales Recht durchsetzen, auch wenn es später geschaffen wurde. Die Regelungszuständigkeit der Mitgliedstaaten ist also gesperrt.90
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Frenz, Emissionshandelsrecht, 2. Aufl. 2008, § 9 TEHG Rn. 111. S. EuG, Rs. T-183/07, Slg. 2009, II-3395 (3436, Rn. 85) – Polen/Kommission. S. RL 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.10.2003 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft und zur Änderung der RL 96/61/EG des Rates, ABl. L 275, S. 32, zul. geändert durch RL 2009/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.4.2009, ABl. L 140, S. 63; näher Frenz, Emissionshandelsrecht, 2. Aufl. 2008, § 9 TEHG Rn. 9 ff. Bereits EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (1269 f.) – Costa/E.N.E.L.
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Es besteht höchstens die Möglichkeit, dass auch im Rahmen der geteilten Zuständigkeit die Union die Mitgliedstaaten zu Regelungen ermächtigt, wie dies sogar im Bereich der ausschließlichen Zuständigkeit möglich ist.91 3. Parallele Zuständigkeit a) Funktionsweise
66 Eine besondere Regelung zur geteilten Zuständigkeit treffen Art. 4 Abs. 3 und 4 AEUV. Sie konstituieren praktisch eine parallele Zuständigkeit.92 Ein Tätigwerden der Union blockiert also nicht wie sonst bei der geteilten Zuständigkeit die Mitgliedstaaten, ihre Zuständigkeit auszuüben, sondern diese bleibt erhalten. Freilich verpflichtet sie der Grundsatz loyaler Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV dazu, ihre eigene Tätigkeit so auszurichten, dass sie nicht in Widerspruch zu den Maßnahmen bzw. zur gemeinsamen Politik der Union gerät. Von daher haben sie sich bei ihren parallelen Maßnahmen auf die grundsätzlichen Vorgaben der Union auszurichten bzw. diese mit Letzteren abzugleichen, um die Tätigkeit der Union nicht zu stören. Allerdings setzen Art. 4 Abs. 3 und 4 AEUV ein paralleles Tätigwerden voraus. 67 Daher besteht keine strikte Anpassungspflicht, sondern nur eine Pflicht zur Abstimmung insoweit, als die Tätigkeit der Union nicht gravierend gestört werden darf. Unterschiedliche Akzente sind hingegen durchaus denkbar. Die Grundkonzeption sollte hingegen nicht auseinander laufen. Deutlicher wird diese Funktionsweise für die Einzelfälle. b) Forschung, technologische Entwicklung und Raumfahrt 68 Eine parallele Zuständigkeit besteht gemäß Art. 4 Abs. 3 AEUV in den Bereichen Forschung, technologische Entwicklung und Raumfahrt. Insoweit erstellt die Union ohnehin insbesondere Programme und führt sie durch. Zudem stärkt sie gemäß Art. 179 ff. AEUV nur Grundlagen für einen europäischen Raum der Forschung und ergänzt bzw. koordiniert die Maßnahmen der Mitgliedstaaten. Damit setzen diese Vorschriften voraus, dass die Mitgliedstaaten aus eigener Zuständigkeit Maßnahmen treffen. Werden diese von der Union ergänzt bzw. koordiniert, besteht eher eine Nähe zur koordinierenden oder ergänzenden Zuständigkeit nach Art. 6 AEUV, die freilich als „Unterfall“ der geteilten Zuständigkeit angesehen wird.93 Jedenfalls besteht eine geteilte Zuständigkeit nur höchst beschränkt, indem die 69 Union für die europaweiten Aktionen Programme erstellt und im Übrigen nur koordinierend und ergänzend wirkt. Daher wird die geteilte Zuständigkeit näher durch Art. 4 Abs. 3 und 179 ff. AEUV bestimmt. Diese sind insoweit zu Art. 2 Abs. 2 AEUV speziell.
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S.o. Rn. 47. BVerfGE 123, 267 (382 f.) – Lissabon. S. Nettesheim, EuR 2004, 511 (530).
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c) Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe Entsprechendes gilt für den weitgehend parallel formulierten Art. 4 Abs. 4 AEUV. 70 Dieser erfasst die Bereiche der Entwicklungszusammenarbeit und der humanitären Hilfe. Insoweit sind Maßnahmen sowie eine gemeinsame Politik der Union vorgesehen. Die Einzelheiten, was darunter zu verstehen ist, ergeben sich aus Art. 208 ff. AEUV. Auch insoweit ist eine gegenseitige Ergänzung und Verstärkung (Art. 208 Abs. 1, Art. 212 Abs. 1 S. 3, Art. 214 Abs. 1 S. 3 AEUV) sowie Koordinierung (Art. 210, Art. 214 Abs. 6 AEUV) vorgesehen. Art. 4 Abs. 4 AEUV legt über die Vertragsschlusskompetenz hinaus (Art. 209 Abs. 2 UAbs. 2, Art. 214 Abs. 3 UAbs. 2, Art. 214 Abs. 4 UAbs. 2 AEUV) umfassend fest, dass die Ausübung der Unionszuständigkeit die Mitgliedstaaten nicht daran hindert, ihre Zuständigkeit auszuüben. Sie können also parallel zur Union ihre eigene Entwicklungspolitik verfolgen und humanitäre Hilfe leisten. Allerdings werden sie auch in diesem Bereich des auswärtigen Handelns auf Unionsebene festgelegte Strategien und Programme (Art. 209 Abs. 1 AEUV) gebührend zu berücksichtigen haben. IV. Koordinierende Zuständigkeit 1. Nationale Grundzuständigkeit a) Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik nach Art. 2 Abs. 3 AEUV Besitzt die Union eine Zuständigkeit im Rahmen der Koordinierung, sind im 71 Ausgangspunkt die Mitgliedstaaten zuständig. Die Union erlässt nur in diesem Rahmen Regelungen. Dies gibt Art. 2 Abs. 3 AEUV für die Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik vor, welche die Mitgliedstaaten im Rahmen von Regelungen der Union nach Maßgabe dieses Vertrages koordinieren. Mithin bleiben die Mitgliedstaaten weiterhin zuständig. Die Union setzt kein klassisches Sekundärrecht, sondern koordiniert und erlässt 72 fast immer höchstens Empfehlungen (s. Art. 121 Abs. 2 UAbs. 3, Abs. 4 AEUV für die Wirtschaftspolitik, Art. 126 Abs. 7 AEUV selbst noch in einem späten Stadium des Defizitverfahrens94) bzw. Leitlinien (Art. 148 AEUV für die Beschäftigungspolitik). Diese sind zwar unverbindlich, so dass letztlich keine Legislativzuständigkeit gegeben ist, sondern eine besondere Gubernativkompetenz.95 Die Funktionsweise liegt indes im Kern parallel zu den anderen Fällen der Koordinierung: Die eigentliche Zuständigkeit besitzen die Mitgliedstaaten, die Union koordiniert höchstens deren Gesetzgebung und sonstige Regulierung. Damit liegen Art. 2 Abs. 3 und 5 AEUV parallel. Die Aufnahme der Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialkompetenz in eine eigene Normierung zur Koordinierung begründet daher keinen inhaltlichen Unterschied, sondern ist ausschließlich
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Erst Art. 126 Abs. 9 AEUV sieht den betroffenen Mitgliedstaat in Verzug setzende Beschlüsse vor, Art. 126 Abs. 14 UAbs. 2 AEUV den Erlass von Bestimmungen in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren. Lenski, in: Lenz/Borchardt, Art. 2 AEUV Rn. 15 a.E.
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entstehungsgeschichtlich bedingt, weil der Verfassungskonvent über die Zuordnung nicht einig war.96 b) Allgemeiner Ausgangspunkt 73 Ähnlich ist die Rolle der Union nach Art. 2 Abs. 5 AEUV, wenn sie in bestimmten Bereichen nach Maßgabe der Verträge Maßnahmen zur Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten durchführt. Nach Art. 2 Abs. 5 UAbs. 1 a.E. AEUV tritt dadurch die Zuständigkeit der Union gerade nicht an die Stelle der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Damit besteht auch eine gewisse Nähe zur geteilten Zuständigkeit,97 wie die 74 Zuordnung der auf Unterstützung, Ergänzung und Koordinierung ausgelegten Bereiche Forschung, technologische Entwicklung und Raumfahrt sowie Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe zur geteilten Zuständigkeit nach Art. 4 Abs. 3 und 4 AEUV belegt. Nur ist die dominierende Rolle der Mitgliedstaaten festgeschrieben. Diese besteht im Gegensatz zur geteilten Zuständigkeit, wie sie in Art. 2 Abs. 2 AEUV definiert wird, auch dann, wenn die Union tätig geworden ist. Eine Parallele besteht höchstens insoweit, als die Union aufgrund der vertragli75 chen Ausgestaltung nicht zu weitergehenden Maßnahmen als der Unterstützung, Ergänzung und Koordinierung befugt ist. Damit kann die Union nur insoweit ihre Zuständigkeit ausüben. Die Mitgliedstaaten nehmen daher entsprechend Art. 2 Abs. 2 S. 2 AEUV ihre Zuständigkeit weiterhin wahr, sofern und soweit die Union ihre (hier auf die Unterstützung, Koordinierung und Ergänzung begrenzte) Zuständigkeit nicht ausgeübt hat. Dann brauchen sie auf Unionsprogramme etc. überhaupt keine Rücksicht zu nehmen, andernfalls schon. Aber auch beim Bestehen von Unionsmaßnahmen bleibt die nationale Grundzuständigkeit nach Art. 2 Abs. 5 UAbs. 1 a.E. AEUV erhalten. Dabei stehen für alle genannten Maßnahmenformen, also der Koordinierung, 76 der Ergänzung und der Unterstützung, a priori alle Handlungsformen offen, deren Wahl im konkreten Fall dem Ermessen der Union unterliegt. Die Grenze ist inhaltlich zu ziehen, dass nämlich den Mitgliedstaaten weiterhin die grundsätzliche Regelungsbefugnis zustehen muss. 98 c) Harmonisierungsverbot 77 Dem dient vor allem das Harmonisierungsverbot. Die in den Bereichen koordinierender, unterstützender bzw. ergänzender Zuständigkeit getroffenen verbindlichen Rechtsakte der Union dürfen nach Art. 2 Abs. 5 UAbs. 2 AEUV keine Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten beinhalten. Damit bleibt eine mögliche unterschiedliche Ausrichtung der nationalen Regelungen anerkannt. Die nationale Diversität wird gewahrt. Eine Rechtsvereinheitlichung durch die Union ist ausgeschlossen.
96 97 98
Krebber, EuGRZ 2004, 592 (592 f.). Einen Unterfall nimmt Nettesheim, EuR 2004, 511 (530) an. Calliess, in: ders./Ruffert, Verfassung der EU, 2006, Art. I-12 Rn. 31.
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Eine Kompetenzgrundlage für eine solche Harmonisierung bildet insbesondere 78 die Rechtsangleichungskompetenz nach Art. 114 AEUV, die zwar auf den Binnenmarkt ausgerichtet, aber sachlich nicht näher begrenzt und daher zu Übergriffen auch in lediglich koordinierende, unterstützende bzw. ergänzende Zuständigkeiten prädestiniert ist. Durch die Wahl dieser Kompetenzgrundlage das Harmonisierungsverbot zu umgehen, schloss der EuGH für die nunmehr in Art. 6 S. 2 lit. a) AEUV genannte Gesundheitspolitik explizit aus.99 2. Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung der nationalen Maßnahmen Art. 6 AEUV legt einzelne Politikfelder fest, in denen die Union für die Durchfüh- 79 rung von Maßnahmen zuständig ist, um die Maßnahmen der Mitgliedstaaten zu unterstützen, zu koordinieren oder zu ergänzen. Damit tritt die Union nur zu den Maßnahmen der Mitgliedstaaten hinzu. Diese treffen die eigentlichen Festlegungen und sind durch EU-Maßnahmen nicht gesperrt.100 Die Union hat regelmäßig lediglich eine Hilfsfunktion. Darüber können allerdings Koordinierungen hinausgehen. Eine Harmonisierung schließt aber wie gezeigt Art. 2 Abs. 5 UAbs. 2 AEUV aus. Die Einzelheiten, welche verbindlichen Rechtsakte innerhalb dieses Rahmens erlassen werden dürfen, legen gemäß Art. 2 Abs. 5 UAbs. 2 AEUV die näheren Vertragsbestimmungen für die Einzelpolitiken fest. Art. 6 S. 2 AEUV nennt die Bereiche, die von dieser unterstützenden, koordi- 80 nierenden oder ergänzenden Tätigkeit der Union betroffen sind. Zulässig sind nach dieser Vorschrift nur Maßnahmen mit europäischer Zielsetzung. Die Union darf also nicht die nationalen Zielsetzungen ersetzen, sondern höchstens auf europäischer Ebene zusammenführen. Davon ist ein koordinierendes Handeln in Bezug auf alle Mitgliedstaaten umfasst.101 Ein solches wird in Einzelpolitiken vorausgesetzt (s. etwa Art. 168 Abs. 2 UAbs. 2 S. 1 AEUV), ist allerdings von der Grundanlage nicht zwingend, wenn etwa in einem Mitgliedstaat ein Bereich nicht existiert. Jedenfalls für die Unterstützung und Ergänzung kann sich die Union auf einzelne Länder beschränken, wenn nur dort Aktivitäten bestehen (s. Art. 195 Abs. 2, 196 AEUV). Auch darüber kann eine europäische Zielsetzung gefördert werden, indem die Union die vorhandenen Ansätze aufgreift und mit voranbringt, gleichsam als Grundlage oder auch nur als Nukleus für ein gesamteuropäisches Netzwerk. 3. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Schließlich weist Art. 2 Abs. 4 AEUV der Union die Zuständigkeit für die Ge- 81 meinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu. Diese ist einschließlich der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik zu erarbeiten und zu verwirklichen. Dies erfolgt nach Maßgabe des EUV. Dort aber sind die Mitgliedstaaten weiterhin als dominierender Faktor festgelegt. Daher geht es um 99 100 101
EuGH, Rs. C-376/98, Slg. 2000, I-8419 (8524, Rn. 83; 8529 ff., Rn. 106 ff.) – Tabakwerbung. Lenski, in: Lenz/Borchardt, Art. 6 AEUV Rn. 2. Dies voraussetzend Krebber, EuGRZ 2004, 592 (595).
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eine Zusammenarbeit zwischen Union und Mitgliedstaaten. Damit hat die Union insoweit ebenfalls eine koordinierende Funktion, aber keine volle Zuständigkeit. Eine Gesetzgebung ist gemäß Art. 31 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV ausgeschlossen. V. Weitere Zuständigkeiten 1. Flexibilitätsklausel 82 Die Flexibilitätsklausel des Art. 352 AEUV bildet keine eigene Zuständigkeitskategorie,102 sondern knüpft an vorhandene Vertragsziele und Politikbereiche, aber im konkreten Fall nicht ausreichende Zuständigkeiten an, 103 wie insbesondere Art. 352 Abs. 3 AEUV zeigt, und nimmt insoweit grundsätzlich an deren Kategorie teil.104 2. Implied powers 83 Entsprechendes gilt für die implied powers, die auch das BVerfG anerkennt. Diese verlaufen innerhalb des vertraglichen Integrationsprogramms und dienen der wirksamen Kompetenzauslegung.105 Auch der EuGH knüpft an die Notwendigkeit zur Erfüllung bestimmter Aufgaben an, der er implizite Zuständigkeiten entnahm – insbesondere zur Wahrnehmung von Außenkompetenzen,106 wie nunmehr in Art. 216 AEUV explizit vorgesehen. 3. OMK 84 Die Offene Methode der Koordinierung bzw. die Methode der offenen Koordinierung hat sich in der Praxis fest etabliert, ohne als solche vertraglich geregelt zu sein. Das ist jedenfalls nicht zwingend. Dadurch wird die klare Kompetenzabgrenzung nicht ernsthaft infrage gestellt. 107 Schließlich wird darüber nicht verbindliches Recht gesetzt, sondern nur etwas politisch vereinbart. Das gilt vor allem für Ziele, gegebenenfalls mit dazugehörigem Zeitplan, Aktionspläne, Austauschmechanismen und Überprüfungen bzw. Bewertungen, und zwar bislang insbesondere in den Bereichen Bildung, Umwelt mit Nachhaltigkeit, Gesundheitsschutz und Soziales (Eingliederung, Renten).108 Soweit wie für den Gesundheitsschutz (Art. 168 Abs. 2 UAbs. 2, auch 85 Art. 156 Abs. 2, Art. 173 Abs. 2 und Art. 181 Abs. 2 AEUV) entsprechende vertragliche Regelungen bestehen, wird kein Fall der Offenen Methode der Koordi102 103 104 105 106
107 108
Lenski, in: Lenz/Borchardt, Art. 2 AEUV Rn. 3. Anders Härtel, Handbuch Europäische Rechtsetzung, 2006, S. 67. Etwa Booß, in: Lenz/Borchardt, Art. 352 AEUV Rn. 3. Näher u. Rn. 936 f. BVerfGE 123, 267 (351 f. m.w.N.) – Lissabon. S. EuGH, Rs. 22/70, Slg. 1971, 263 – AETR; Gutachten 2/91, Slg. 1993, I-1061 – IAO; Rs. C-467/98, Slg. 2002, I-9519 – Kommission/Dänemark sowie die weiteren „OpenSkies“-Entscheidungen. BVerfGE 123, 267 (382 f.) – Lissabon. Im Einzelnen Lenski, in: Lenz/Borchardt, Art. 2 AEUV Rn. 26 ff.
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nierung (i.w.S.) gesehen.109 Zumindest im Übrigen handelt es sich um eine politisch geprägte Vorstufe, die erst in konkrete Maßnahmen auf der Basis vertraglicher Zuständigkeiten mündet und damit das System nach Art. 2 ff. AEUV aktiviert, ihm aber selbst nicht zugehört. Bei expliziter Regelung ist eine präzise vertragliche Einordnung möglich.
L. Gesetzgebungsverfahren Die vorgenannten Zuständigkeitsformen werden in den dargestellten Grenzen mit 86 den aufgeführten Handlungsformen im Regelfall durch folgendes ordentliches Gesetzgebungsverfahren gemäß Art. 294 AEUV ausgefüllt. So kommt Unionsrecht zustande. Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren nach Art. 289 Abs. 1 AEUV und 87 Art. 294 AEUV entspricht dem früheren Mitentscheidungsverfahren, das erstmalig durch den Maastrichter Vertrag eingeführt wurde. Als ordentliches Gesetzgebungsverfahren ist es nun seit dem Vertrag von Lissabon das Regelverfahren zur allgemeinen Rechtsetzung in der Union. I. Regelverfahren Die Annahme eines Gesetzgebungsakts erfordert im ordentlichen Gesetzge- 88 bungsverfahren den Konsens zwischen Rat und Parlament über seine inhaltliche Ausgestaltung.110 Dadurch wird die Beteiligung des Europäischen Parlaments an der Gesetzgebung erheblich gestärkt, worin wiederum eine Vertiefung der demokratischen Eigenlegitimation der Gesetze der Union gesehen werden kann. 111 Als allgemeine Regelung beschreibt Art. 294 AEUV den Ablauf und die ver- 89 schiedenen Stadien des ordentlichen Gesetzgebungsverfahrens, trifft aber keine Aussage darüber, in welchen Fällen dieses Verfahren anzuwenden ist. Dies festzulegen bleibt – wie sich aus Art. 294 Abs. 1 AEUV erschließt – den jeweils einschlägigen Rechtsgrundlagen vorbehalten. Nur soweit in den einzelnen Rechtsgrundlagen auf das ordentliche Gesetzgebungsverfahren Bezug genommen wird, vollzieht sich die Gesetzgebung in diesem.112 Umgekehrt kommt ein besonderes Gesetzgebungsverfahren lediglich in Ausnahmefällen vor, die gemäß Art. 289 Abs. 2 AEUV ausdrücklich in den Verträgen vorgesehen sein müssen.113 Auch
109 110 111 112 113
S. BVerfGE 123, 267 (382 f.) – Lissabon. Lenski, in: Lenz/Borchardt, Art. 2 AEUV Rn. 29 ff. Gellermann, in: Streinz, Art. 251 EGV Rn. 5; Krajewski/Rösslein, in: Grabitz/Hilf, Art. 251 EGV Rn. 1. Näher Schoo, EuR 2009, Beiheft 1, 51 ff. Gellermann, in: Streinz, Art. 251 EGV Rn. 4. Das Verfahren der Zusammenarbeit, das in Art. 252 EG geregelt war, wurde nicht in den AEUV übernommen.
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dieses kann in verschiedenen Fällen114 durch einstimmigen Beschluss des Rates und nach Anhörung zumindest des Europäischen Parlaments sowie hinreichender Beteiligung der nationalen Gesetzgebungsorgane115 in das ordentliche Gesetzgebungsverfahren überführt werden. II. Mehrphasiges Grundsystem 90 Unterteilen lässt sich das ordentliche Gesetzgebungsverfahren in drei116 bzw. vier117 Phasen: In der ersten Phase wird der Vorschlag der Kommission umfassend durch Parlament und Rat beraten. Sofern sich Rat und Parlament dem Vorschlag anschließen oder der Rat die Änderungen des Parlaments billigt, kann gemäß Art. 294 Abs. 2 AEUV bereits in diesem Stadium der Rechtsakt erlassen werden. Ist dies nicht der Fall, legt der Rat gemäß Art. 294 Abs. 2 UAbs. 2 Spiegelstrich 3 AEUV einen Standpunkt fest, der den Gegenstand der Beratungen in der zweiten Phase bildet. Bei Änderungsvorschlägen des Parlaments kommt es zur zweiten Lesung in Parlament und Rat. Unterbreitet das Parlament Änderungsvorschläge, die der Rat nicht vollständig übernimmt, schließt sich als dritte Phase das Vermittlungsverfahren an. Kommt es hierbei zu einer Einigung auf einen gemeinsamen Entwurf, folgt eine dritte Lesung in Rat und Parlament. Das interne Beratungsverfahren im Europäischen Parlament und im Rat ist in 91 den jeweiligen Geschäftsordnungen näher geregelt. Diese sind bereits an die Änderungen durch den Vertrag von Lissabon angepasst worden. Das Parlament hat bei der Prüfung eines Legislativvorschlags in jeder Phase besonders auf die Wahrung der Grundrechte, auf die Einhaltung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit sowie der Rechtsstaatlichkeit, die finanziellen Auswirkungen, die Richtigkeit oder Angemessenheit der Rechtsgrundlage und die Vereinbarkeit des Rechtsakts mit der finanziellen Vorausschau zu achten (Art. 3638a GeschOEP). Diese Überprüfung findet vorwiegend durch den federführenden Ausschuss unmittelbar zu Beginn seiner Arbeit statt.118 Anders als in den meisten sonstigen Fällen119 sind die Beratungen des Rates 92 über gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren zu erlassende Rechtsakte öffentlich (Art. 16 Abs. 8 S. 1 EUV, Art. 7 GeschORat). Außerdem werden die Abstimmungsergebnisse veröffentlicht (Art. 7 Abs. 4 GeschORat). Dies soll eine möglichst hohe Transparenz seiner Beschlussfassung herbeiführen.
114
115
116 117 118 119
Art. 48 Abs. 7 UAbs. 2 EUV (sogenannte allgemeine Brückenklausel), Art. 81 Abs. 3 UAbs. 2, 153 Abs. 2 UAbs. 4, 192 Abs. 2 UAbs. 2, 333 Abs. 2 AEUV (sogenannte spezielle Brückenklauseln). Diese ist jedenfalls für Deutschland zwingend, BVerfGE 123, 267 (389 f.) – Lissabon: Zustimmung auch bei fehlender unionsrechtlicher Festschreibung und im Falle von Art. 48 Abs. 7 EUV sowie von Art. 81 Abs. 3 UAbs. 2 AEUV Erfordernis eines Gesetzes im Sinne von Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG. S. Krajewski/Rösslein, in: Grabitz/Hilf, Art. 251 EGV Rn. 11. Dies entspricht den Überschriften in Art. 294 AEUV. Schoo, in: Schwarze, Art. 251 EGV Rn. 25 f. S. Art. 5 Abs. 1 GeschORat.
L. Gesetzgebungsverfahren
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III. Verfahrenseinleitung durch Vorschlag der Kommission Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren wird dadurch eingeleitet, dass die Kom- 93 mission dem Europäischen Parlament und dem Rat einen Vorschlag unterbreitet. Dieser bestimmt zunächst den Inhalt des Vorhabens. 120 Entsprechend hat die Kommission auch jede Änderung ihres Vorschlags beiden Organen zu übermitteln.121 Es handelt sich bei dem Vorschlag um einen vollständigen Entwurf eines 94 Rechtsetzungsakts, der entsprechend vollständig, präzise und in einer Weise formuliert sein muss, die es erlaubt, ihn als einen Rechtsakt anzunehmen. Dazu bedarf es der Vorlage eines Entwurfs, der neben dem eigentlichen Text eine Begründung sowie die Angabe der maßgeblichen Rechtsgrundlagen umfasst.122 Er muss so von Parlament und Rat ohne weitere Änderungen verabschiedet werden können.123 Der Vorschlag wird im Amtsblatt der EU, Serie C, veröffentlicht. IV. Erste Lesung 1. Erste Lesung im Parlament Nach Art. 294 Abs. 3 AEUV legt das Europäische Parlament seinen Standpunkt in 95 erster Lesung fest und übermittelt ihn dem Rat. Die erste Lesung im Europäischen Parlament ist damit auf die Festlegung eines Standpunkts zur Übermittlung an den Rat gerichtet. Mit der Annahme des Entwurfs der legislativen Entschließung endet die erste Lesung im Parlament. Kommt es hingegen zu einer Ablehnung des gesamten Entwurfs der legislati- 96 ven Entschließung, ist das Rechtsetzungsverfahren gescheitert.124 Das hat zwar keine ausdrückliche Regelung im AEUV erfahren, ergibt sich aber aus dem Umstand, dass die nachfolgende Behandlung im Rat eine Stellungnahme des Parlaments zur Bedingung hat, die den Kommissionsvorschlag mit oder ohne Änderungen billigt.125 Wird der Vorschlag der Kommission insgesamt gebilligt, jedoch auf der Grund- 97 lage von gleichzeitig angenommenen Änderungen, so wird die Abstimmung über den Entwurf der legislativen Entschließung vertagt, bis die Kommission ihren Standpunkt zu jeder Änderung des Parlaments bekanntgegeben hat. 2. Erste Lesung im Rat Die erste Lesung im Rat beginnt gemäß Art. 294 Abs. 2 AEUV mit der Unter- 98 breitung des Kommissionsvorschlags, darf aber – wie sich aus Art. 294 Abs. 3 ff.
120 121 122 123 124 125
Hetmeier, in: Lenz/Borchardt, Art. 294 AEUV Rn. 3. Schoo, in: Schwarze, Art. 251 EGV Rn. 19. Gellermann, in: Streinz, Art. 250 EGV Rn. 4. Krajewski/Rösslein, in: Grabitz/Hilf, Art. 251 EGV Rn. 16. Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 251 EGV Rn. 11. Gellermann, in: Streinz, Art. 251 EGV Rn. 16.
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Kapitel 1: Unionsrecht
AEUV ergibt – erst nach Eingang des Standpunkts des Europäischen Parlaments in erster Lesung abgeschlossen werden. 126 Dieser Standpunkt des Parlaments ist nach Art. 294 Abs. 4 und 5 AEUV Ansatzpunkt für den Standpunkt des Rates, weshalb sich der Rat inhaltlich damit auseinanderzusetzen hat.127 Eine vorherige Behandlung der Angelegenheit auf der Grundlage des dem Rat unterbreiteten Kommissionsvorschlags ist zulässig, zumal hiermit lediglich dem berechtigten Anliegen, die Zeit bis zum Eingang der Stellungnahme zur eigenen Vorbereitung zu nutzen, entsprochen wird.128 Eine Entscheidung darf jedoch nur in Kenntnis des Standpunkts des Parlaments getroffen werden, damit die Argumente des Parlaments Berücksichtigung finden können. 129 In der Praxis kommt es allerdings teilweise vor, dass sich der Rat schon vor dem Standpunkt des Parlaments auf einen eigenen Standpunkt verständigt. 130 Billigt der Rat den Standpunkt des Europäischen Parlaments, so ist der betref99 fende Rechtsakt gemäß Art. 294 Abs. 4 AEUV in der Fassung des Standpunkts des Europäischen Parlaments erlassen. Dies kann in der vollständigen Billigung des Kommissionsvorschlags durch Parlament und Rat geschehen oder in der Billigung des Kommissionsvorschlags unter Änderungen des Parlaments. Zur Billigung des Standpunkts, der vollständig mit einem Kommissionsvorschlag übereinstimmt, bedarf es gemäß Art. 16 Abs. 3 EUV der qualifizierten Mehrheit. Enthält hingegen der Standpunkt des Parlaments eine Änderung gegenüber dem 100 Kommissionsvorschlag, ist ein einstimmiger Beschluss des Rates notwendig. 131 Hier kommt die allgemeine Regelung des Art. 293 Abs. 1 AEUV zum Tragen. Freilich ist es der Kommission auch im weiteren Verfahren unbenommen, sich im Rahmen ihres Änderungsrechts aus Art. 293 Abs. 2 AEUV durch Änderung ihres Vorschlags einem vom ursprünglichen Kommissionsvorschlag abweichenden Standpunkt des Parlaments anzupassen. Für den Erlass des Gesetzgebungsakts ist dann eine Billigung des Rates mit qualifizierter Mehrheit ausreichend. 132 Kommt es zu einer Billigung des Standpunkts des Parlaments durch den Rat, 101 gibt der Parlamentspräsident im Plenum bekannt, dass der vorgeschlagene Rechtsakt endgültig angenommen ist (Art. 71 GeschOEP). Nach dieser Bekanntgabe unterzeichnen der Parlamentspräsident und der Präsident des Rates gemeinsam den vorgeschlagenen Rechtsakt und veranlassen gemäß Art. 297 Abs. 1 AEUV dessen Veröffentlichung im Amtsblatt der EU (Art. 74 GeschOEP). Auf diese Weise kann es bereits sehr früh zum Erlass eines Gesetzgebungsakts kommen. In
126 127 128 129 130 131 132
EuGH, Rs. C-417/93, Slg. 1995, I-1185 (1214, Rn. 10 f.) – Parlament/Rat. Epping, in: Vedder/Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag, 2007, Art. III-396 Rn. 11. EuGH, Rs. C-417/93, Slg. 1995, I-1185 (1214, Rn. 11) – Parlament/Rat. EuGH, Rs. 138/79, Slg. 1980, 3333 (3360 f. Rn. 34) – Roquette Frères; Rs. C-417/93, Slg. 1995, I-115 (117, Rn. 9) – Parlament/Rat. Krit. dazu Krajewski/Rösslein, in: Grabitz/Hilf, Art. 251 EGV Rn. 29. Gellermann, in: Streinz, Art. 251 EGV Rn. 20. Epping, in: Vedder/Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag, 2007, Art. III-396 Rn. 12.
L. Gesetzgebungsverfahren
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der Praxis des bisherigen Mitentscheidungsverfahrens wurden mehr als zwei Drittel der Rechtsakte in erster Lesung verabschiedet.133 Der Rat kann mit qualifizierter Mehrheit134 auch den Standpunkt des Europäi- 102 schen Parlaments ablehnen. Er legt in diesem Fall einen eigenen ersten Standpunkt in erster Lesung fest. Nimmt er darin Änderungen des Kommissionsvorschlags vor, bedarf es gemäß Art. 293 Abs. 1 AEUV eines einstimmigen Beschlusses. Seinen Standpunkt übermittelt er anschließend gemäß Art. 294 Abs. 5 AEUV dem Europäischen Parlament. Zugleich unterrichtet der Rat gemäß Art. 294 Abs. 6 S. 1 AEUV das Europäi- 103 sche Parlament in allen Einzelheiten über die Gründe, aus denen er seinen Standpunkt in erster Lesung festgelegt hat. Zugleich unterrichtet die Kommission gemäß Art. 294 Abs. 6 S. 2 AEUV das Europäische Parlament in vollem Umfang über ihren Standpunkt. Der Standpunkt des Rates wird aufgrund einer interinstitutionellen Vereinbarung zur Transparenz vom 25.10.1993 mit Begründung im Amtsblatt, Serie C, veröffentlicht.135 V. Zweite Lesung 1. Zweite Lesung im Parlament Die Übermittlung des Standpunkts des Rates geschieht, indem der Präsident ihn in der Plenarsitzung des Parlaments bekannt gibt. Die Bekanntgabe durch den Präsidenten erfolgt während der auf den Eingang der Ratsdokumente folgenden Tagung (Art. 61 GeschOEP). Nach Übermittlung des Standpunkts und dezidierter Unterrichtung im Sinne des Art. 294 Abs. 6 AEUV hat das Europäische Parlament einen Zeitraum von drei Monaten in der zweiten Lesung, der nach Art. 294 Abs. 14 AEUV um höchstens einen Monat verlängert werden kann.136 Insgesamt hat das Parlament drei Entscheidungsmöglichkeiten: es kann den Standpunkt des Rates billigen,137 ablehnen oder abändern. Hat das Europäische Parlament binnen drei Monaten nach der Übermittlung den Standpunkt des Rates in erster Lesung gebilligt oder sich nicht geäußert, so gilt der betreffende Rechtsakt gemäß Art. 294 Abs. 7 lit. a) AEUV als in dieser Fassung erlassen. Die Nichtäußerung enthält demnach der Sache nach eine Billigung des Standpunkts des Rates.138 Hat das Europäische Parlament hingegen den Standpunkt des Rates in erster Lesung mit der Mehrheit seiner Mitglieder abgelehnt, so gilt der vorgeschlagene Rechtsakt gemäß Art. 294 Abs. 7 lit. b) AEUV als nicht erlassen. Das Ableh133 134 135 136 137 138
Schoo, EuR 2009, Beiheft 1, 51 (59). Vgl. Art. 16 Abs. 3 EUV. Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 251 EGV Rn. 12. S. zur Fristverlängerung Art. 62 GeschOEP, zum näheren weiteren Verfahren, das vor allem in den Ausschüssen stattfindet, Art. 63 ff. GeschOEP. Oder von einer Äußerung während des Beratungszeitraums von drei Monaten absehen. Gellermann, in: Streinz, Art. 251 EGV Rn. 25.
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Kapitel 1: Unionsrecht
nungsverfahren läuft dabei nach Art. 65 GeschOEP ab. Schließlich kann das Parlament gemäß Art. 294 Abs. 7 lit. c) AEUV mit der Mehrheit seiner Mitglieder Abänderungen an dem Standpunkt des Rates in erster Lesung vorschlagen. Für die Annahme eines zulässigen (s. Art. 66 GeschOEP) Änderungsantrags 108 bedarf es der Mehrheit der Mitglieder des Parlaments. Vor der Abstimmung über die Änderungsanträge kann der Präsident die Kommission um Mitteilung ihres Standpunkts139 und den Rat um Erläuterungen ersuchen. Durch diese Einschränkung der Zulässigkeit von Änderungsanträgen kann sich das Parlament leichter einem Kompromiss mit dem Rat annähern. Gleichzeitig wird die Kohärenz zu seiner Haltung in der ersten Lesung gesichert. 140 2. Stellungnahme der Kommission 109 Beschließt das Parlament Änderungen, gibt die Kommission gemäß Art. 294 Abs. 7 lit. c) HS. 2 AEUV hierzu eine Stellungnahme ab. Dazu sieht der AEUV keine ausdrückliche Frist vor. Die Kommission hätte es folglich in der Hand, das Zustandekommen eines von ihr nicht gewollten Gesetzgebungsakts zu verhindern. Deshalb hat für die Kommission die in Art. 294 Abs. 8 AEUV für den Rat aufgeführte Drei-Monats-Frist zu gelten. Der Rat kann sich nämlich gemäß Art. 294 Abs. 9 AEUV über Änderungen, zu denen die Kommission eine ablehnende Stellungnahme abgegeben hat, hinwegsetzen. Dies zeigt, dass eine Verhinderung des Gesetzgebungsakts durch bloße Nichtäußerung der Kommission vom Vertrag nicht vorgesehen ist. Nimmt demnach die Kommission binnen der Frist des Art. 294 Abs. 8 AEUV keine Stellung zu den Änderungen des Europäischen Parlaments, hat sie auf ihr diesbezügliches Recht zumindest konkludent verzichtet. Die Nichtäußerung ist dann als Einverständnis zu werten.141 In der Stellungnahme ist die Kommission nicht darauf beschränkt, zu den Än110 derungen durch das Parlament Stellung zu nehmen. Sie kann weitere Änderungen anregen.142 Da es noch zu keiner Einigung zwischen Parlament und Rat gekommen ist, kann die Kommission ihren Gesetzgebungsvorschlag sogar noch zurückziehen.143 3. Zweite Lesung im Rat 111 Anschließend hat der Rat drei Monate (um einen Monat nach Art. 294 Abs. 14 AEUV verlängerbar) Zeit, sich mit der vom Europäischen Parlament abgeänderten Fassung zu beschäftigen. Dabei hat der Rat nach Art. 294 Abs. 8 AEUV zwei Möglichkeiten: Er kann alle vom Parlament vorgeschlagenen Abänderungen billigen. In diesem Fall gilt der betreffende Rechtsakt gemäß Art. 294 Abs. 8 lit. a) AEUV als in der so abgeänderten Fassung erlassen. Hierzu genügt grundsätzlich 139 140 141 142 143
Vgl. Art. 294 Abs. 7 lit. c) AEUV. Krajewski/Rösslein, in: Grabitz/Hilf, Art. 251 EGV Rn. 48 auch zu den Folgen der Nichtbeachtung dieser Regelung in der GeschOEP. Epping, in: Vedder/Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag, 2007, Art. III-396 Rn. 17. Schoo, in: Schwarze, Art. 251 EGV Rn. 40. A.A. etwa Schoo, in: Schwarze, Art. 251 EGV Rn. 41 (anders noch in der Vorauflage).
L. Gesetzgebungsverfahren
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die qualifizierte Mehrheit. Hat allerdings die Kommission zuvor eine ablehnende Stellungnahme abgegeben, ist gemäß Art. 294 Abs. 9 AEUV Einstimmigkeit erforderlich. Billigt der Rat hingegen nicht alle Abänderungen, so beruft der Präsident des 112 Rates im Einvernehmen mit dem Präsidenten des Europäischen Parlaments gemäß Art. 294 Abs. 8 lit. b) AEUV binnen sechs Wochen den Vermittlungsausschuss ein. Entsprechend ist zu verfahren, wenn der Rat sich binnen der drei bzw. vier Monate nicht äußert.144 Das Schweigen ist in diesem Fall als Ablehnung zu verstehen, da für den Erlass des Gesetzgebungsakts in Art. 294 Abs. 8 AEUV zwingend eine explizite Billigung durch den Rat vorausgesetzt ist.145 VI. Vermittlungsverfahren 1. Bedeutung und Einberufung Ist es auch in der zweiten Lesung zu keiner Einigung zwischen Europäischem 113 Parlament und Rat gekommen, bietet das Vermittlungsverfahren letztmalig ein Forum zu einer Einigung auf einen gemeinsamen Gesetzgebungsakt. Der Vermittlungsausschuss hat gemäß Art. 294 Abs. 10 AEUV die Aufgabe, binnen sechs Wochen146 nach seiner Einberufung eine Einigung auf der Grundlage der Standpunkte des Europäischen Parlaments und des Rates in zweiter Lesung zu erzielen. Unter Einberufung ist die erste Sitzung zu verstehen. 147 Diese vereinbart der Parlamentspräsident mit dem Rat, wenn der Rat das Parlament davon in Kenntnis setzt, dass er nicht alle Abänderungen des Parlaments an dem Standpunkt billigen kann. 2. Zusammensetzung des Vermittlungsausschusses Nach Art. 294 Abs. 10 AEUV besteht der Vermittlungsausschuss aus den Mit- 114 gliedern des Rates oder deren Vertretern und ebenso vielen Mitgliedern, die das Europäische Parlament repräsentieren. Die Delegation des Rates setzt sich mithin aus den Mitgliedern des Rates zusammen, d.h. den Vertretern auf Ministerebene, die befugt sind, für die Regierung des von ihnen vertretenen Mitgliedstaats verbindlich zu handeln und das Stimmrecht auszuüben (s. Art. 16 Abs. 2 EUV). Jedoch können sich die Mitglieder des Rates vertreten lassen, weshalb sich in der Praxis die Delegation des Rates im Vermittlungsausschuss aus den Ständigen Vertretern der Mitgliedstaaten unter der Führung des amtierenden Ratspräsidenten zusammensetzt.148
144 145 146 147 148
Gellermann, in: Streinz, Art. 251 EGV Rn. 29. Epping, in: Vedder/Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag, 2007, Art. III-396 Rn. 19. Die Frist kann höchstens auf acht Wochen verlängert werden, s. Art. 294 Abs. 14 AEUV. S. Art. 67 GeschOEP. Schoo, in: Schwarze, Art. 251 EGV Rn. 45.
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Kapitel 1: Unionsrecht
Die Delegation des Parlaments im Vermittlungsausschuss besteht aus derselben Anzahl von Mitgliedern wie die Delegation des Rates, mithin aus 27 Personen.149 Die Kommission ist im Vermittlungsausschuss nicht mit Mitgliedern vertreten, nimmt jedoch gemäß Art. 294 Abs. 11 AEUV an den Arbeiten des Vermittlungsausschusses teil und ergreift alle erforderlichen Initiativen, um auf eine Annäherung der Standpunkte des Europäischen Parlaments und des Rates hinzuwirken, so durch Entwürfe für Kompromisstexte. Sie hat also eine bloße Vermittlungs- und keine Entscheidungsfunktion, kann aber später bei einem Scheitern des Vermittlungsverfahrens einen inhaltsgleichen Vorschlag präsentieren. 3. Beendigung des Vermittlungsverfahrens
116 Grundlage für die Beratungen im Vermittlungsausschuss sind die Standpunkte des Europäischen Parlaments und des Rates in zweiter Lesung. Die Standpunkte sind somit Ausgangspunkte bei der Suche nach einem Kompromiss. Dessen Ziel ist es, den unterschiedlichen Standpunkten von Rat und Parlament Rechnung zu tragen. Folglich ist es dem Vermittlungsausschuss möglich, weitere Änderungen vorzunehmen, wenn damit eine Einigung erzielt werden kann. 150 Es ist ihm jedoch verwehrt, einen gänzlich neuen Gesetzgebungsvorschlag zu unterbreiten, da hierdurch die Basis des Gesetzgebungsverfahrens, der Vorschlag der Kommission, wegfallen würde. Damit würde sich der Vermittlungsausschuss letztlich ein Initiativrecht anmaßen, das ihm nach den Verträgen nicht zukommt. Mag die Grenzziehung im Einzelfall auch schwierig sein, muss der Kompromiss doch zumindest einen sachlichen Bezug zu in zweiter Lesung strittigen Fragen erkennen lassen.151 Billigt der Vermittlungsausschuss binnen sechs Wochen nach seiner Einberu117 fung keinen gemeinsamen Entwurf, so gilt der vorgeschlagene Rechtsakt gemäß Art. 294 Abs. 12 AEUV als nicht erlassen. Das Gesetzgebungsverfahren ist in diesem Fall endgültig gescheitert. Ein gemeinsamer Entwurf kommt zustande, wenn die Mehrheit der Mitglieder des Europäischen Parlaments und die qualifizierte Mehrheit der Ratsmitglieder152 diesen annehmen. VII. Dritte Lesung 118 Kommt es solchermaßen zu einer Einigung im Vermittlungsausschuss, findet sowohl im Europäischen Parlament als auch im Rat eine dritte Lesung statt. Dabei haben beide Gesetzgebungsorgane nach Art. 294 Abs. 13 AEUV nur die Möglichkeit binnen einer Frist von sechs Wochen,153 den betreffenden Rechtsakt entsprechend diesem Entwurf zu erlassen. Sie können den Gesetzentwurf daher annehmen oder ablehnen, Änderungen sind hingegen nicht mehr möglich. 154 149 150 151 152 153 154
Die genaue Zusammensetzung der Parlamentsdelegation regelt Art. 68 GeschOEP. EuGH, Rs. C-344/04, Slg. 2006, I-403 (467 f., Rn. 49 ff.) – IATA. Gellermann, in: Streinz, Art. 251 EGV Rn. 32. Auch wenn vom Kommissionsvorschlag abgewichen wird, bedarf es hier keines einstimmigen Ratsbeschlusses nach Art. 293 Abs. 1 AEUV. Verlängerbar gemäß Art. 294 Abs. 14 AEUV auf acht Wochen. Gellermann, in: Streinz, Art. 251 EGV Rn. 34.
L. Gesetzgebungsverfahren
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Für die Annahme sind im Europäischen Parlament die Mehrheit der abgegebe- 119 nen Stimmen und im Rat die qualifizierte Mehrheit erforderlich.155 Kommt es binnen der genannten Frist nicht zu einer Annahme, gilt der vorgeschlagene Rechtsakt gemäß Art. 294 Abs. 13 S. 2 AEUV als nicht erlassen. VIII. Beteiligung anderer Organe und Einrichtungen 1. Verfahrenseinleitung Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren kann partiell auch auf Initiative einer 120 Gruppe von Mitgliedstaaten,156 auf Empfehlung der EZB157 oder auf Antrag des Gerichtshofs158 eingeleitet werden.159 In diesen Fällen finden gemäß Art. 294 Abs. 15 UAbs. 1 AEUV dessen Abs. 2, 6 S. 2 und Abs. 9 keine Anwendung. Die Kommission unterbreitet demnach dem Europäischen Parlament und dem Rat keinen Vorschlag für einen Gesetzgebungsakt. An dessen Stelle stehen die Initiative einer Gruppe von Mitgliedstaaten, die Empfehlung der EZB oder der Antrag des Gerichtshofs. 2. Anhörung Häufig bedarf es zum Erlass eines Gesetzgebungsakts im ordentlichen Gesetzge- 121 bungsverfahren zusätzlich zur Beteiligung von Parlament und Rat der Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses, des Ausschusses der Regionen, des Gerichtshofs, der Kommission, der EZB oder des Rechnungshofs. Damit eine entsprechende Stellungnahme in jedem Fall berücksichtigt werden kann, findet die Anhörung derart statt, dass sie vom Europäischen Parlament und dem Rat noch während der ersten Lesung berücksichtigt werden kann. Die Anhörung wird vom Europäischen Parlament, vom Rat oder von der Kommission durchgeführt, die, wenn sie es für notwendig erachten, den beteiligten Einrichtungen für die Vorlage einer Stellungnahme eine Frist setzen können.160 IX. Beteiligung der Mitgliedstaaten Für besondere Fälle ist eine Einbeziehung der Mitgliedstaaten vorgesehen, und 122 zwar durch Verfahrensaussetzung. Das gilt namentlich für den Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen nach Art. 82 Abs. 3 und Art. 83 Abs. 3 155 156 157 158 159
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Auch wenn vom Kommissionsvorschlag abgewichen wird, bedarf es hier keines einstimmigen Ratsbeschlusses nach Art. 293 Abs. 1 AEUV. Art. 82 Abs. 1 UAbs. 2, 82 Abs. 2 UAbs. 1, 83 Abs. 1, 83 Abs. 2, 84, 85 Abs. 1 UAbs. 2, 87 Abs. 2, 88 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV. Art. 129 Abs. 3 AEUV. Art. 257 Abs. 1, 281 Abs. 2 AEUV. Nach Epping, in: Vedder/Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag, 2007, Art. III-396 Rn. 27 wurde das Wort „Vorschlag“ vermieden, um den Ausnahmecharakter dieser Fälle hervorzuheben. Für Wirtschafts- und Sozialausschuss und Ausschuss der Regionen geregelt in Art. 304 Abs. 2 bzw. 307 Abs. 2 AEUV.
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Kapitel 1: Unionsrecht
AEUV. Eine entsprechende Regelung sieht Art. 48 Abs. 2 AEUV für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit vor. Wann der deutsche Vertreter im Rat die in diesen Bestimmungen vorgesehene „Notbremse“ zieht, unterliegt nach dem Lissabon-Urteil des BVerfG den notwendig vorherigen Weisungen der zuständigen nationalen Gesetzgebungsorgane161.
161
BVerfGE 123, 267 (413 f.) – Lissabon für Art. 82, 83 AEUV, S. 430 f. für Art. 48 Abs. 2 AEUV; dazu Frenz, EWS 2009, 345 (347 ff.).
L. Gesetzgebungsverfahren
X.
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Übersicht162 123
162
Frenz, Europarecht 6, Rn. 1904.
Kapitel 2: Nationales und europäisches Recht Literatur: Frenz, Walter, Kastriertes Lissabon-Urteil? Die Relativierung durch den „Mangold“-Beschluss vom 6.7.2010, EWS 2010, 401; ders., Handbuch Europarecht Band 5: Wirkungen und Rechtsschutz, 2010; ders., Handbuch Europarecht Band 6: Institutionen und Politiken, 2011; Ruffert, Matthias, An den Grenzen des Integrationsverfassungsrechts: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Vertrag von Lissabon, DVBl. 2009, 1197; Schwarze, Jürgen, Die verordnete Demokratie, EuR 2010, 108; Voßkuhle, Andreas, Der europäische Verfassungsgerichtsverbund, NVwZ 2010, 1 ff. Leitentscheidungen: EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 – Costa/E.N.E.L.; Rs. C-11/70, Slg. 1970, 1125 – Internationale Handelsgesellschaft; BVerfGE 123, 267 – Lissabon; 125, 260 – Vorratsdatenspeicherung; BVerfG, NJW 2010, 3422 – Mangold.
A. Umfassender Anwendungsvorrang Der Vorrang des europäischen vor dem nationalen Recht ist wesentlich stärker 124 ausgeprägt als der des Völkerrechts. In Form von Verträgen muss es nach Maßgabe von Art. 59 Abs. 2 GG erst über ein nationales Zustimmungsgesetz in die innerstaatliche Rechtsordnung transformiert werden. Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind nach Art. 25 GG Bestandteil des Bundesrechts und gehen den einfachen Gesetzen vor, nicht aber der Verfassung. Demgegenüber ist das europäische Recht nach dem EuGH durchgehend und uneingeschränkt vorrangig, auch gegenüber nationalem Verfassungsrecht.1 Innerstaatliche Rechtsvorschriften, die dem Unionsrecht widersprechen, dürfen im konkreten Fall nicht angewendet werden.2 Dieser Anwendungsvorrang steht nach dem BVerfG allerdings unter dem 125 Vorbehalt, dass die Kompetenzgrenzen sowie die unabdingbaren deutschen Verfassungsstandards eingehalten wurden.3 Jedenfalls im Ansatz muss Unionsrecht nicht nur berücksichtigt werden wie selbst die EMRK nach der Judikatur des BVerfG,4 sondern setzt sich, soweit es nationalem Recht widerspricht, vollständig durch. Der entscheidende Unterschied des Unionsrechts zum Völkerrecht liegt darin, dass es in jedem Mitgliedstaat gleichermaßen gilt und Unterschiede insoweit ausgeschlossen sind.5 Es bildet eine eigenständige Rechtsordnung mit einer autonomen, von den Mitgliedstaaten unabhängigen Unionsgewalt.6 1 2 3 4 5 6
EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125 (1135, Rn. 3) – Internationale Handelsgesellschaft. EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (1269 f.) – Costa/E.N.E.L. BVerfGE 123, 267 (400 f.) – Lissabon. S. BVerfG, NJW 2009, 1133; aus der Literatur krit. und umfassend Pfeffer, Das Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht, 2009. Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1 (2). Erklärung Nr. 17 zum Vertrag von Lissabon; Nettesheim, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 11 Rn. 5.
W. Frenz, Europarecht, DOI 10.1007/978-3-642-21019-8_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel 2: Nationales und europäisches Recht
B. Begrenzte Akzeptanz durch das BVerfG I. Rückbezug auf das Zustimmungsgesetz 126 Grundsätzlich hat auch das BVerfG den Anwendungsvorrang des Unionsrechts akzeptiert bzw. anerkannt.7 Dieser soll sich aber nicht aus dem Unionsrecht, sondern aus dem innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes zu den Verträgen ergeben.8 Während der Vorrang des Unionsrechts gegenüber dem einfachen Gesetzesrecht als solcher unbestritten ist, besteht der Vorrang vor nationalem Verfassungsrecht aus Sicht des BVerfG nur in den Grenzen der Art. 23 GG und Art. 79 Abs. 3 GG. Werden diese aber nicht eingehalten, kann das BVerfG Recht der EU für in Deutschland nicht anwendbar erklären.9 Das hat dann zur Folge, dass auch nationales Recht nicht verdrängt wird. Indem der europarechtliche Anwendungsvorrang unter dem Vorbehalt der nati127 onalen Verfassungsidentität steht, läuft er teilweise leer und kann sich auch gegenüber einfachem Recht nicht durchsetzen. Insoweit sieht das BVerfG seine Letztverantwortung: „Mitgliedstaatlichen Rechtsprechungsorganen mit verfassungsrechtlicher Funktion kann im Rahmen der ihnen übertragenen Zuständigkeit – dies ist jedenfalls der Standpunkt des GG – nicht die Verantwortung für die Grenzen ihrer verfassungsrechtlichen Integrationsermächtigung und die Wahrung der unverfügbaren Verfassungsidentität genommen werden.“ 10 Von daher handelt es sich bei dem europarechtlichen Anwendungsvorrang um 128 „ein völkervertraglich übertragenes, demnach abgeleitetes Institut“ als „Konsequenz der fortbestehenden Souveränität der Mitgliedstaaten“.11 Er öffnet die nationale Rechtsordnung nicht nur für das Europarecht, sondern begrenzt dieses auch. Die Öffnung greift nämlich nur dann und insoweit, wie die unabdingbaren und damit unverfügbaren Verfassungsgrenzen nach Art. 79 Abs. 3 GG eingehalten werden und sich damit der europäische Rechtsakt innerhalb des durch das Zustimmungsgesetz übertragenen Rechtsrahmens hält. II. Ultra-vires- und Identitätskontrolle nach dem Lissabon-Urteil 129 Die Wahrung dieser Identität erfolgt durch die Kontrolle des BVerfG, das hier das letzte Wort hat. Unionsrecht, das diese Grenzen nicht wahrt, ist danach wie anderes Völkerrecht unanwendbar, wenn das BVerfG entsprechend entscheidet12 und hat damit am europarechtlichen Anwendungsvorrang nicht teil. Dieser kann mithin nicht die Verfassungsidentität nach dem GG überspielen und wird durch
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Vgl. bereits BVerfGE 22, 293 (296) – EWG-Verordnungen; 31, 145 (175) – Milchpulver; deutlich 73, 339 (375) – Solange II. BVerfGE 73, 339 (375) – Solange II; 89, 155 (190) – Maastricht; 123, 267 (400) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (400 f.) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (398 f.) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (400) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (400 f.) – Lissabon.
B. Begrenzte Akzeptanz durch das BVerfG
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diese seinerseits für seine Auswirkungen in Deutschland begrenzt, ist also nicht umfassend. Weiter kann fortlaufend die etwaige Überschreitung der Kompetenzgrenzen durch die Union als Normgeber kontrolliert werden. In diesem Fall befindet sich dieser „ultra vires“, also jenseits der übertragenen Hoheitsgewalt, so dass nicht der Gerichtshof der EU, sondern das BVerfG zuständig ist. Diesen Ansatz zum sogenannten ausbrechenden Hoheitsakt im MaastrichtUrteil13 griff das BVerfG im Lissabon-Urteil wieder auf, fundierte ihn wesentlich tiefer und weitete ihn auf eine umfassende Kontrolle aus. „Wenn Rechtsschutz auf Unionsebene nicht zu erlangen ist, prüft das BVerfG, ob Rechtsakte der europäischen Organe und Einrichtungen sich unter Wahrung des gemeinschafts- und unionsrechtlichen Subsidiaritätsprinzips aus Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 EUV (Art. 5 Abs. 2 EG) in den Grenzen der ihnen im Wege der begrenzten Einzelermächtigung eingeräumten Hoheitsrechte halten.“14 Auch das Subsidiaritätsprinzip unterliegt danach der Kontrolle des BVerfG. Dieses nimmt für sich in Anspruch, die Kompetenzgrenzen selbst auszulegen, weil nur so die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Übertragung von Hoheitsbefugnissen sichergestellt ist und damit die Volkssouveränität nicht durch eine schleichende Ausweitung der europäischen Kompetenzen ausgehöhlt wird.15 Insoweit kann es sich freilich um eine „sehr zurückgenommene und sich als exzeptionell verstehende“ äußere Kontrolle des Handelns der europäischen Organe handeln.16 Diese Zurückhaltung betonte das BVerfG in seinem Mangold-Beschluss. Es muss sich um hinreichend qualifizierte und damit drastische bzw. evidente Überschreitungen der europarechtlichen Kompetenzgrenzen handeln, die das Kompetenzgefüge zwischen Union und Mitgliedstaaten tangieren.17 Der Gerichtshof der EU hat als Organ der Judikative das Recht, Fehler zu machen (Anspruch auf Fehlertoleranz).18 Fall nach BVerfG, DVBl. 2010, 1229 – Mangold: Ein Unternehmen stellte einen älteren Mitarbeiter sachgrundlos befristet ein, ohne dass damals nach nationalem Recht ein Weiterbeschäftigungsanspruch bestand. Einen solchen gründete das BAG in Anknüpfung an das EuGH-Urteil Mangold (Rs. C-144/04, Rn. 75; ebenso Rs. C-555/07, Rn. 21 – Swedex) auf das Verbot einer Diskriminierung wegen des Alters als einen „allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts“, obwohl dieser darin so nicht ausdrücklich aufgeführt ist (s. aber den damals schon verabschiedeten, jedoch noch nicht verbindlichen Art. 21 EGRC). Ob dieser Grundsatz zu Recht auf die gemeinsamen Verfassungstraditionen und völkerrechtlichen Verträge der Mitgliedstaaten gestützt wurde, ließ das BVerfG ausdrücklich offen. Selbst eine rechtsmethodisch nicht mehr vertretbare Rechtsfortbildung verstößt erst dann gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung und liegt damit ultra vires, wenn sie praktisch kompetenzbegründend wirkt oder in ein Grundrecht eingreift. Hier baut sie aber immer noch auf bereits erlassenem Sekundärrecht zur Verhinderung von Diskriminierungen 13 14 15 16 17 18
BVerfGE 89, 155 (188, 210, Leitsätze 5, 6) – Maastricht. BVerfGE 123, 267 (353 f.) – Lissabon. S. BVerfGE 123, 267 (355) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (352) – Lissabon: „sei es auch nur“. BVerfG, DVBl. 2010, 1229 (1231, Rn. 61) – Mangold. BVerfG, DVBl. 2010, 1229 (1232, Rn. 66) – Mangold; näher Frenz, EWS 2010, 401.
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wegen des Alters auf und lädt dieses nur mit einem allgemeinen primärrechtlichen Grundsatz auf, der gerade keine neuen Aufgaben oder Zuständigkeiten begründen darf (vgl. Art. 51 Abs. 2 EGRC).
III. Keine praktische Relevanz im Bereich der Grundrechte 135 Diese Linie fügt sich in die bisherige Rechtsprechung des BVerfG vor allem zu den Grundrechten und verstärkt bzw. erweitert diese. Von daher behält sich zwar das BVerfG eine Jurisdiktionskompetenz über die Überwachung von Grenzen vor, übt diese aber praktisch nicht aus. Sie fungiert gleichsam als Damoklesschwert, damit die europäischen Organe die ihnen auch nach dem deutschen Zustimmungsgesetz obliegenden Grenzen einhalten. Seit seinem Solange II-Urteil19 erkennt das BVerfG einen prinzipiell ausreichenden Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene an und verzichtet solange auf eine Prüfung europäischer Rechtsakte am Maßstab der deutschen Grundrechte.20 Entsprechende Vorlagen nach Art. 100 Abs. 1 GG sind (sogar) unzulässig. In seinem Maastricht-Urteil21 spricht das BVerfG von einem „Kooperationsverhältnis“ zum Gerichtshof der EU, wonach in erster Linie der Gerichtshof der EU den Grundrechtsschutz in jedem Einzelfall garantiert und das BVerfG sich deshalb auf eine generelle Gewährleistung des unabdingbaren Grundrechtsstandards beschränkt. 136 Fall: Alles Banane Art. 17 ff. der EG-Bananenverordnung22 kontingentieren besonders stark den Import von Bananen aus den Gebieten, die nicht zu einem der EU-Mitgliedstaaten oder den AKP-Staaten gehören, und damit insbesondere aus lateinamerikanischen Staaten (Dollarbananen). A, der mit Bananen handelt und bislang alle Bananen aus solchen Gebieten bezogen hat, sieht seine Existenz gefährdet. Nachdem eine Klage vor dem EuGH erfolglos war,23 erhebt er gegen die Bananenverordnung wegen einer Verletzung von Art. 14 Abs. 1 GG Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG. Kann er sich vor diesem insoweit auf dieses Grundrecht berufen? Lösungsaufbau: I. Unmittelbare Einwirkung von Unionsrecht auf die Grundrechte II. Ausschließlich öffnende Funktion des GG nach einer Übertragung von Hoheitsgewalt III. Einheitliche Anwendung des Unionsrechts IV. Zwischenergebnis V. Überprüfung der Vollzugsakte deutscher Behörden an den Grundrechten des GG? VI. Gesamtergebnis Lösungsvorschlag: Indem A die Grundlage für seinen Bananenhandel entzogen wird, droht sein Betrieb mit allen darin vereinigten Werten vollständig entwertet zu werden. Daher ist an sich der Schutzbereich von Art. 14 Abs. 1 GG berührt. A kann sich vor dem BVerfG indes in 19
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BVerfGE 73, 339 (387 und Leitsatz 2) – Solange II; fortgeführt durch BVerfGE 89, 155 (174 f.) – Maastricht und BVerfGE 102, 147 (162 f. und 164) – Bananenmarktordnung; anders noch BVerfGE 37, 271 – Solange I, wonach europäisches Sekundärrecht noch an deutschen Grundrechten zu überprüfen war, solange es keinen verbindlichen europäischen Grundrechtekatalog gab. Auch BVerfGE 123, 267 (335) – Lissabon. BVerfGE 89, 155 (174 f. und Leitsatz 7) – Maastricht. VO (EWG) Nr. 404/93 vom 13.2.1993, ABl. 1993 L 47, S. 1. EuGH, Rs. C-280/93, Slg. 1994, I-4973 – Bananenmarktordnung.
B. Begrenzte Akzeptanz durch das BVerfG
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diesem Fall nur dann auf sein Eigentumsgrundrecht berufen, wenn dieses auch gegenüber europäischem Sekundärrecht zu wirken vermag. I. Unmittelbare Einwirkung von Unionsrecht auf die Grundrechte Für eine solche Wirkung spricht, dass durch die für das Unionsrecht geöffnete nationale Rechtsordnung auch Rechtsakte von Unionsorganen unmittelbar auf die innerdeutsche Rechtsordnung einzuwirken vermögen und wie Rechtsakte nationaler Organe die Grundrechte beeinträchtigen können.24 Indes entspringen diese Rechtsakte nicht der deutschen Rechtsordnung, der die nationalen Grundrechte entstammen. Indem sie Teil der Unionsrechtsordnung sind, sind sie an den europäischen Grundrechten zu messen. Für deren Prüfung ist das BVerfG indes nicht zuständig. II. Wahrung unabdingbarer Grundrechtsstandards Eine Ausnahme könnte höchstens insoweit bestehen, als die europäischen Grundrechte keinen Schutz gewähren und dadurch der vom GG geforderte unabdingbare Grundrechtsstandard unterschritten wird. Im vorliegenden Fall war eine Klage vor dem EuGH erfolglos, während Art. 14 Abs. 1 GG einen Grundrechtsschutz in solchen Fällen prinzipiell verlangt. Rechtliche Basis für ein solches Eingreifen der Grundrechte könnte Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG sein, der eine EU vorsieht, die einen dem deutschen GG im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. Die unabdingbaren Standards sind nach Art. 79 Abs. 3 GG unverzichtbar. In seiner Entscheidung zur Bananenmarktordnung25 stellt das BVerfG an eine Zulässigkeit von entsprechenden Verfassungsbeschwerden und Gerichtsvorlagen hohe Anforderungen. Danach wird das Unionsrecht grundsätzlich nicht am Maßstab der Grundrechte durch das BVerfG überprüft. Verfassungsbeschwerden und Vorlagen von Gerichten, die eine Verletzung von sekundärem Unionsrecht geltend machen, sind von vornherein unzulässig, wenn ihre Begründung nicht darlegt, dass die europäische Rechtsentwicklung einschließlich der Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU unter den erforderlichen Grundrechtsschutz abgesunken ist. Die Begründung der Vorlage oder einer Verfassungsbeschwerde muss im Einzelnen darlegen, dass der jeweils als unabdingbar gebotene Grundrechtsschutz generell nicht gewährleistet ist.26 Diese Hürde wurde im Ergebnis bisher nicht genommen, so dass von diesem nationalen Vorbehalt bisher kein Gebrauch gemacht wurde.27 In seiner Entscheidung zum europäischen Emissionshandelssystem28 erweiterte das BVerfG seine Rechtsprechung auf nationale Umsetzungsakte, soweit sie zwingendes europäisches Recht umsetzen. III. Bedenken Ohnehin bezieht sich Art. 23 Abs. 1 GG nur auf die Verwirklichung eines vereinten Europas beziehungsweise auch auf die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Unionsebene (S. 2 GG). Es geht daher um das Hineinwirken der Bundesrepublik Deutschland auf die europäische Ebene, nicht um die Rückwirkungen dieser auf die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Ist einmal in einem Bereich Hoheitsgewalt übertragen, findet eine Kontrolle an deutschen Verfassungsstandards nicht mehr statt. Somit können nur bei der Übertragung von Hoheitsgewalt beziehungsweise bei Einwirkungen deutscher Organe auf den europäischen Einigungsprozess die deutschen Grundrechte entgegenstehen. Insoweit ist dann eine in die Zukunft gerichtete Prognose anzustellen, ob ein dem deutschen Recht vergleichbarer Grundrechtsstandard als Teil der Verträge gewährleistet ist. Dies ist indes grundsätzlich zu bejahen, da auf Unionsebene ein umfassender Grundrechtsstandard gewährleistet ist, wie Art. 6 EUV nunmehr ausdrücklich festschreibt. Nach einer Übertragung kommt Art. 23 Abs. 1 GG aufgrund seiner grundsätzlichen Offenheit für die europäische Integration nur 24 25 26 27 28
BVerfGE 89, 155 (175). BVerfGE 102, 147 – Bananenmarktordnung. BVerfGE 102, 147 – Bananenmarktordnung. Näher Frenz, Europarecht 5, Rn. 3714 ff. Krit. zur unklaren Rspr. des BVerfG Wegener, in Calliess/Ruffert, Art. 220 EGV Rn. 30. BVerfGE 118, 79 – Emissionshandel.
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Kapitel 2: Nationales und europäisches Recht
noch eine öffnende Funktion für Rechtsakte von Unionsorganen zu, indes keine begrenzende mehr. Aus Sicht des Unionsrechts würde ein Recht der nationalen Verfassungsgerichte, Rechtsakte von Unionsorganen an innerstaatlichen Grundrechtsstandards – wenn auch nur partiell – zu überprüfen, die einheitliche Anwendung des Unionsrechts infrage stellen. Eine solche einheitliche Anwendung ist indes die Grundlage dafür, dass das Unionsrecht in allen Mitgliedstaaten gleichermaßen zu wirken vermag. Damit wird die Verwirklichung der europäischen Integration, das Hauptziel der Unionsverträge, dem letztlich auch das Sekundärrecht dient, ernsthaft gefährdet. Das aber widerspricht dem Sinn und Zweck der Unionsverträge sowie insbesondere den Einzelbestimmungen des Art. 4 Abs. 3 EUV sowie Art. 18 AEUV, der Diskriminierungen verbietet. Solche träten aber unweigerlich auf, wenn das Unionsrecht nicht einheitlich zu wirken vermöchte. Daher können selbst aus nationaler Sicht unabdingbare Grundrechtsstandards nicht dem Unionsrecht entgegengesetzt werden. IV. Zwischenergebnis A kann vor dem BVerfG gegen die EU-Bananenverordnung nicht Art. 14 Abs. 1 GG erfolgreich geltend machen. Er scheitert schon an der vom BVerfG aufgestellten Darlegungslast. V. Überprüfung der Vollzugsakte deutscher Behörden an den Grundrechten des GG? Ein Ausweg könnte höchstens darin bestehen, dass A sich nicht gegen die EUBananenverordnung wendet, sondern gegen die Rechtsakte deutscher Behörden in Vollzug dieser Unionsvorschrift. Insoweit handeln deutsche Behörden, die an sich gemäß Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG der Grundrechtsbindung unterliegen. 29 Aber auch dann, wenn Unionsrecht von innerstaatlichen Einheiten vollzogen wird, bleibt der Gehalt dieser Rechtsakte durch Unionsrecht bestimmt, soweit dieses entsprechende Vorgaben enthält. Die nationalen Vollzugsorgane fungieren insoweit ohne originäre Entscheidungsbefugnis. Sie haben die Aufgabe, mangels eines umfassenden unionseigenen Verwaltungsunterbaus die flächendeckende, einheitliche Vollziehung sicherzustellen. Die Kompetenz zur Auslegung und zur Beurteilung der Gültigkeit dieser unionsrechtlichen Vorgaben weist Art. 267 AEUV dem Gerichtshof der EU zu. Dessen Entscheidungsmonopol kann nur dann in vollem Umfang zum Tragen kommen, wenn es sich auch auf die unionsrechtlichen Determinanten der Vollzugsakte erstreckt. Auf diese Weise eingebunden in das europäische Integrationsprogramm, ist die Stellung der nationalen Vollzugsorgane als deutsche Staatsgewalt formal und inhaltlich überlagert durch die Vorgaben des Unionsrechts. Im Hinblick auf die Grundrechte tritt an die Stelle der Bindung an die nationalen die an die europäischen. Können wegen der Ausübung deutscher Staatsgewalt nationale Gerichte angerufen werden, verengt sich dementsprechend ihre Prüfungskompetenz. Ihr unterliegen die nationalen Vollzugsakte lediglich insoweit, als sie von Vorgaben des Unionsrechts einschließlich solcher aus allgemeinen unionsrechtlichen Grundsätzen nicht erfasst werden und insoweit kein Widerspruch zum deutschen Recht auftritt.30 Im Übrigen haben die deutschen Gerichte bei einer Anrufung Unionsrecht zu vollziehen. Die Bananenverordnung kontingentiert den Import von Bananen aus Gebieten, die nicht zu einem der EU-Mitgliedstaaten und den AKP-Staaten gehören, sehr detailliert. Insoweit verbleiben daher den nationalen Behörden keine Entscheidungsspielräume. Somit können hier die deutschen Grundrechte nicht wirken. A kann sich daher auch gegenüber dem Handeln der deutschen Behörden, soweit sie die Bananenverordnung vollziehen, nicht auf Art. 14 Abs. 1 GG berufen. VI. Gesamtergebnis A kann weder gegen die Bananenverordnung selbst noch gegen die darauf gestützten Vollzugsakte deutscher Behörden Art. 14 Abs. 1 GG geltend machen.
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So auch BVerfGE 89, 155 (177 f.). BVerfGE 125, 260 (308 ff.) – Vorratsdatenspeicherung.
C. Voraussetzungen des Anwendungsvorrangs
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C. Voraussetzungen des Anwendungsvorrangs Der Anwendungsvorrang setzt zunächst voraus, dass die betreffenden Normen 137 des Unionsrechts und des nationalen Rechts wirksam sind, die europarechtliche Norm innerstaatlich unmittelbar anwendbar ist und zwischen Unionsrecht und nationalem Recht ein Konflikt auftritt.31 I. Wirksamkeit Für die Rechtsakte der Unionsorgane spricht grundsätzlich die Vermutung der 138 Gültigkeit. Selbst dann, wenn sie fehlerhaft sind, entfalten sie Rechtswirkungen, solange sie nicht aufgehoben oder zurückgenommen werden. 32 Über die Rechtmäßigkeit von Unionsrecht entscheidet allerdings allein der Ge- 139 richtshof der EU, dem insoweit ein Verwerfungsmonopol zusteht. Höchstens subsidiär greift die Ultra-vires- und die Identitätskontrolle des BVerfG, welches Unionsrecht für in Deutschland nicht anwendbar erklären kann.33 Bis dahin muss das bestehende Unionsrecht beachtet werden, auch wenn es zum Beispiel gegen Kompetenzbestimmungen, Verfahrensvorschriften oder sonstiges Primärrecht verstößt und daher rechtswidrig bzw. nichtig ist. 34 Bis zur Entscheidung durch den Gerichtshof der EU muss der nationale Rechtsanwender das Europarecht als gültig behandeln. Ebenso sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, bestehendes Unionsrecht durchzuführen, auch wenn es rechtswidrig ist. Der Vorrang gilt bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der EU. Es besteht jedoch die Möglichkeit, bis dahin einstweiligen Rechtsschutz zu gewähren.35 Nur bei Rechtsakten, die ganz offenkundig mit einem derart schweren Fehler 140 behaftet sind, dass die europäische Rechtsordnung sie nicht tolerieren kann, entfällt die Gültigkeitsvermutung.36 Sie entfalten als „Nicht-Akt“ bzw. „inexistenter Rechtsakt“ keine Rechtswirkungen und brauchen daher von den innerstaatlichen Stellen nicht angewendet zu werden.37 Der EuGH verlangt aus Gründen der Rechtssicherheit, dass die Feststellung der Inexistenz auf ganz außergewöhnliche Fälle beschränkt bleibt.38 Relevant könnte dieser Fall bei einer offensichtlichen Verletzung grundlegender Zuständigkeiten sein. Deren Auslegung obliegt freilich nach hiesiger Konzeption ausschließlich dem Gerichtshof der EU. 39
31 32 33 34 35 36 37 38 39
Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1 (3). EuGH, Rs. C-137/92 P, Slg. 1994, I-2555 (2646, Rn. 48) – BASF u.a. BVerfGE 123, 267 (353 f.) – Lissabon. Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1 (3). EuGH, Rs. C-465/93, Slg. 1995, I-3761 (3795, Rn. 51) – Atlanta Fruchthandelsgesellschaft; s.u. Rn. 169 ff. EuGH, Rs. C-137/92 P, Slg. 1994, I-2555 (2647, Rn. 49) – BASF u.a. Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1 (3). EuGH, Rs. C-137/92 P, Slg. 1994, I-2555 (2647, Rn. 50) – BASF u.a. S. Frenz, Europarecht 5, Rn. 228 ff.
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Kapitel 2: Nationales und europäisches Recht
II. Unmittelbare Anwendbarkeit 141 Nach dem EuGH nehmen die „Vertragsbestimmungen und die unmittelbar geltenden Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane“ am Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts teil.40 III. Direkte oder indirekte Kollision 142 Eine Kollision liegt vor, wenn europäisches Recht und mitgliedstaatliches Recht denselben Sachverhalt regeln (direkte bzw. unmittelbare Kollision) oder wenn nationale Rechtsakte die Wirksamkeit von Unionsrecht sonst wie beeinträchtigen (indirekte bzw. mittelbare Kollision). Direkte und indirekte Kollisionen lösen gleichermaßen den Vorrang des Europarechts aus, wenn auch unterschiedlich intensiv. Eine Kollision ist ausgeschlossen, wenn das Europarecht einen ausdrücklichen oder impliziten Vorbehalt zugunsten der Mitgliedstaaten enthält. 41
D. Wirkungsweise des Anwendungsvorrangs I. Umfassend 143 Der Vorrang gilt ohne Unterschied sowohl zugunsten des primären als auch des sekundären Unionsrechts. Auf der anderen Seite wirkt der Vorrang gegenüber allen Normen des nationalen Rechts, seien es förmliche Gesetze, Rechtsverordnungen, Satzungen oder Verwaltungsvorschriften42 sowie gegenüber Verwaltungsakten.43 Der EuGH macht auch keinen Unterschied zwischen einfachem innerstaatlichen Recht oder nationalem Verfassungsrecht.44 So standen im Fall Tanja Kreil Art. 2 und 3 der Antidiskriminierungs144 RL 76/207/EWG der Anwendung von Art. 12a GG a.F. entgegen, der Frauen allgemein vom Dienst mit der Waffe ausschloss und ihnen nur den Zugang zum Sanitäts- und Militärmusikdienst erlaubte.45 In der Folge wurde Art. 12a Abs. 4 S. 2 GG geändert und Frauen wurden unbeschränkt zum Dienst zugelassen. Aus Sicht des Unionsrechts ist es reiner Zufall, auf welcher normhierarchischen Ebene die Mitgliedstaaten einzelne Regelungen treffen; sie spielt daher keine Rolle. II. Bei bestandskräftigen Verwaltungsakten 145 Der Vorrang kann gegenüber Verwaltungsakten selbst dann gelten, wenn sie bestandskräftig geworden sind. So haben Behörden nationale Ausschlussfristen 40 41 42 43 44 45
EuGH, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629 (644, Rn. 17/18) – Simmenthal II. Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1 (3 ff.). EuGH, Rs. 158/80, Slg. 1981, 1805 (1838, Rn. 43) – „Butterfahrten“. EuGH, Rs. C-224/97, Slg. 1999, I-2517 (2540, Rn. 32 f.) – Ciola. EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125 (1135, Rn. 3) – Internationale Handelsgesellschaft; Rs. C-473/93, Slg. 1996, I-3207 (3258 f., Rn. 37 f.) – Kommission/Luxemburg. EuGH, Rs. C-285/98, Slg. 2000, I-69 – Tanja Kreil.
D. Wirkungsweise des Anwendungsvorrangs
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außer Anwendung zu lassen, die der Rückforderung einer unionswidrig gewährten staatlichen Beihilfe entgegenstehen.46 Eine Behörde kann bei Vorliegen eines entsprechenden Antrags außerdem verpflichtet sein, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zu überprüfen und gegebenenfalls zurückzunehmen. Allerdings wird die Bestandskraft von Verwaltungsentscheidungen als Bestandteil der Rechtssicherheit im Rahmen der allgemeinen Rechtsgrundsätze des Unionsrechts auch vom EuGH anerkannt.47 Die Entscheidung Ciola des EuGH betraf eine vor dem Beitritt Österreichs zur 146 EU bestandskräftig gewordene Verwaltungsentscheidung, die nach dem Beitritt gegen die Dienstleistungsfreiheit verstieß und deshalb bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Geldstrafe unangewendet bleiben musste.48 Allerdings berücksichtigt der EuGH mittlerweile tendenziell stärker und abhängig von der jeweiligen nationalen Ausgestaltung die Bestandskraft von Verwaltungsakten.49 III. Ohne Lex-posterior-Regel Das Europarecht setzt sich auch gegenüber später erlassenem nationalen Recht 147 durch; die Lex-posterior-Regel gilt hier nicht.50 Auch die Lex-specialis-Regel greift nicht.51 IV. Verpflichtung aller staatlichen Stellen Der Anwendungsvorrang muss von allen mitgliedstaatlichen Stellen beachtet wer- 148 den. Die Verpflichtung, jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet zu lassen, betrifft die nationalen Gerichte. 52 Daneben richtet sich der Vorrang an alle Träger der Verwaltung einschließlich der Gemeinden und sonstigen Gebietskörperschaften.53 Das Unionsrecht muss grundsätzlich von Amts wegen beachtet werden und nicht erst, wenn sich ein Einzelner auf seine Geltung beruft. Ausnahmen sind dann möglich, wenn die Geltendmachung nach allgemeinen Grundsätzen des nationalen Prozessrechts wie zum Beispiel im zivilrechtlichen Parteiprozess erforderlich ist. 54
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EuGH, Rs. C-24/95, Slg. 1997, I-1591 (1619, Rn. 38) – Alcan II. EuGH, Rs. C-453/00, Slg. 2004, I-837 (867 f., Rn. 20 ff.) – Kühne & Heitz. EuGH, Rs. C-224/97, Slg. 1999, I-2517 (2538 f., Rn. 25 ff.) – Ciola. S. EuGH, Rs. C-392 u. 422/04, Slg. 2006, I-8559 – I-21 Germany und Arcor; Rs. C2/06, Slg. 2008, I-411 (462, Rn. 44 f.) – Kempter. EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (1269 f.) – Costa/E.N.E.L.; Rs. 106/77, Slg. 1978, 629 (644 f., Rn. 17/18, 21/23) – Simmenthal II; Rs. C-10-22/97, Slg. 1998, I-6307 (6332 f., Rn. 20) – IN.CO.GE.’90. Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1 (2). EuGH, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629 (644 f., Rn. 21/23) – Simmenthal II. EuGH, Rs. 103/88, Slg. 1989, 1839 (1871, Rn. 32) – Costanzo. EuGH, Rs. C-430 u. 431/93, Slg. 1995, I-4705 (4737 f., Rn. 16 ff.) – van Schijndel.
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V. Bundespräsident 149 Eine verfassungsrechtliche Kompetenz des Bundespräsidenten, Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit Unionsrecht zu überprüfen, wird von der herrschenden Auffassung überwiegend mit Hinweis auf den Wortlaut des Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG und dem bloßen Anwendungsvorrang des Unionsrechts abgelehnt. 55 Demgegenüber wird neuerdings zu Recht eine Erweiterung der materiellen Prüfungskompetenz mit Hinweis auf Art. 4 Abs. 3 UAbs. 3 EUV befürwortet. Das Unionsrecht unterscheidet nicht nach nationalen Organen. Die sich aus dem primären Unionsrecht ergebende Unterlassungspflicht genießt insoweit Anwendungsvorrang vor der aus Art. 82 Abs. 1 S. 1 GG folgenden Verpflichtung zur Ausfertigung grundgesetzkonformer Gesetze.56 Im Übrigen lässt Art. 23 Abs. 1 GG das europäische Recht in die innerstaatliche Rechtsordnung einströmen. Daher ist es deren Teil und zugleich (vorrangiger) Maßstab für nationale Gesetze, wie dies entgegen dem BVerfG auch im Rahmen von Art. 2 Abs. 1 GG zu befürworten ist. 57
E. Anwendung europäischen Rechts durch Behörden und Gerichte I. Nachrangigkeit gegenüber europarechtskonformer Auslegung 150 Das Gebot der europarechtskonformen Auslegung ist eine Konsequenz des Anwendungsvorrangs und zugleich sein Ausfluss. Danach müssen alle Träger öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten das nationale Recht bei seiner Anwendung im Lichte des vorrangigen Unionsrechts auslegen.58 Die europarechtskonforme Auslegung dient dazu, dem Vorrang des Unions151 rechts schon im Vorfeld Rechnung zu tragen, indem eine Kollision möglichst vermieden wird.59 Der unionsrechtliche Anwendungsvorrang greift daher als zweiter Schritt erst ein, soweit im ersten Schritt eine europarechtskonforme Auslegung nationalen Rechts nicht möglich ist.60 Vorab zu untersuchen ist vor allem die richtlinienkonforme Auslegung. Er152 messensvorschriften können dahin gehend ausgelegt werden, dass statt einer Ermessensentscheidung der Behörde nur eine gebundene Entscheidung rechtmäßig ist. Dann ist ein Rückgriff auf den Anwendungsvorrang nicht erforderlich. Die Verpflichtung zur richtlinienkonformen Auslegung der einschlägigen natio153 nalen Vorschriften findet ihre Grenze in einer Auslegung contra legem.61 Zur Erreichung eines in einer Richtlinie vorgesehenen Ziels ist allerdings auf alle nach
55 56 57 58 59 60 61
Neumann, DVBl. 2007, 1335 (1336 f.) m.N. Ausführlich Neumann, DVBl. 2007, 1335 (1338 ff.). S. Frenz, Europarecht 5, Rn. 3834 ff. EuGH, Rs. 14/83, Slg. 1984, 1891 (1909, Rn. 26) – von Colson und Kamann; Rs. C-106/89, Slg. 1990, I-4135 (4159, Rn. 8) – Marleasing. Leible, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2006, S. 116 (127). EuGH, Rs. 157/86, Slg. 1988, 673 (690, Rn. 11) – Murphy. EuGH, Rs. C-212/04, Slg. 2006, I-6057 (6131, Rn. 110) – Adeneler.
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dem nationalen Recht zulässige Auslegungsmethoden zurückzugreifen. 62 Auch eine „richtlinienkonforme Rechtsfortbildung im Wege der teleologischen Reduktion“63 bzw. eine richtlinienkonforme Auslegung gegen den Wortlaut des nationalen Gesetzes64 wird einbezogen. Der Raum für den Anwendungsvorrang wird so verkleinert, soweit man darin nicht eine unmittelbare Anwendung einer Richtlinie gesehen wird.65 Die europarechtskonforme Auslegung umfasst auch die primärrechtskonfor- 154 me Auslegung des nationalen Rechts, die sich aus dem Vorrang des Unionsrechts ergibt.66 II. Verwerfungskompetenz 1. Gerichte Folge des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts vor dem nationalen Recht ist, 155 dass die nationalen Gerichte entscheidungserhebliche nationale Normen, die sie für unvereinbar mit dem Unionsrecht halten, unangewendet lassen und ihrer Entscheidung die unmittelbar geltende Unionsnorm zugrunde legen müssen. 67 Die nationalen Gerichte verfügen damit über eine umfassende Prüfungs- und Verwerfungskompetenz hinsichtlich der Vereinbarkeit nationaler Normen mit dem Unionsrecht. Dies gilt jedoch nur für nationale Normen. Bei unionsrechtlichen Normen darf 156 das nationale Gericht hingegen nicht selbst deren Nichtigkeit feststellen, sondern hat die Frage nach Art. 267 AEUV dem Gerichtshof der EU vorzulegen. Die Auslegungs- und Verwerfungskompetenz liegt damit allein beim Gerichtshof der EU.68 Art. 267 AEUV ermächtigt den Gerichtshof der EU jedoch nicht, über die Vereinbarkeit einer innerstaatlichen Maßnahme mit dem Vertrag zu entscheiden.69 Dies obliegt – wie soeben dargelegt – den nationalen Gerichten. Stellen diese insoweit falsche Vorlagefragen, formuliert der Gerichtshof der EU aber entsprechend um und entscheidet trotzdem. 2. Verwaltung Wie bei den Gerichten ist für die Frage, ob die Verwaltungsbehörden eine Norm- 157 verwerfungskompetenz besitzen, ebenfalls zwischen nationalen und unionsrechtlichen Normen zu differenzieren.
62 63 64 65 66 67 68 69
EuGH, Rs. C-397-403/01, Slg. 2004, I-8835 (8918, Rn. 116) – DRK. BGH, NJW 2009, 427 – Quelle II im Anschluss an EuGH, Rs. C-404/06, NJW 2008, 1433 – Quelle. S.o. Rn. 28. Pfeiffer, NJW 2009, 412 f. So Frenz, Europarecht 5, Rn. 1050 ff. S. bereits o. Rn. 28. Leible, in: Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2006, S. 116 (126 ff.). EuGH, Rs. 106/77, Slg. 1978, 629 (644 f., Rn. 21/23) – Simmenthal II. EuGH, Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199 (4230 f., Rn. 14 ff.) – Foto Frost. EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (1268) – Costa/E.N.E.L.
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a) Verwerfung nationaler Normen 158 Sind innerstaatliche Normen mit dem Unionsrecht nicht vereinbar, gilt das Normverwerfungsrecht bzw. die Normverwerfungspflicht nicht nur für die nationalen Gerichte, sondern auch für alle Träger der Verwaltung einschließlich der Gemeinden und sonstigen Gebietskörperschaften.70 Die nationalen Verwaltungsbehörden haben deshalb bei offenkundiger Unionsrechtswidrigkeit das nationale Recht unangewendet zu lassen und auf das entsprechende Unionsrecht Rückgriff zu nehmen.71 Das Unionsrecht ist über Art. 23 Abs. 1 GG zum Maßstab staatlicher Tätigkeit nach Art. 20 Abs. 3 GG geworden. Es muss damit gleichermaßen zur Anwendung gebracht werden wie Recht deutschen Ursprungs.72 Zwar hat die Verwaltung im Gegensatz zu den Gerichten keine Vorlagemög159 lichkeit an den Gerichtshof der EU. Von daher könnte eine Nichtanwendungskompetenz der Verwaltung lediglich bei einem entsprechenden Urteil des Gerichtshofs der EU angenommen werden. 73 Aber auch von den nationalen Verwaltungsbehörden kann eine Überprüfung und eingehende Auseinandersetzung mit der Rechtslage verlangt werden, zu der das Unionsrecht selbstverständlich gehört. Allerdings muss die Unionsrechtswidrigkeit für die Verwaltungsbehörde „of160 fenkundig“ sein. Diese Beschränkung lässt sich mit der Rechtssicherheit und der drohenden Staatshaftung, bei der ein Verschulden erforderlich ist, begründen. 74 Die Rechtssicherheit erfordert, dass nicht jeder mögliche Verstoß gegen Unionsrecht die Verwaltungsbehörde berechtigt und verpflichtet, nationale Rechtsnormen nicht anzuwenden. Ansonsten bestünde die Gefahr unterschiedlicher Einschätzung und damit divergierender Praxis der verschiedenen staatlichen Stellen. Dabei soll das Unionsrecht europa- und damit erst recht landesweit einheitlich angewendet werden. Zweifelsfragen kann daher nur der Gerichtshof der EU klären, gegebenenfalls 161 über Vorlagen der nationalen Gerichte, die gegen die betreffende Verwaltungsentscheidung angerufen werden. Dementsprechend können nationale Stellen auch nur dafür haften müssen, dass sie offenbar unionsrechtswidriges nationales Recht anwenden. Ansonsten wäre eine Haftung über Gebühr weit und würde leicht die Entschlusskraft der handelnden Beamten und Angestellten in Behörden lähmen. b) Verwerfung unionsrechtlicher Normen 162 Das Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV begründet ein Auslegungsmonopol des Gerichtshofs der EU für europäisches Recht. Zwar ergibt sich aus der Norm nur ein Vorlagerecht bzw. eine Vorlagepflicht für die nationalen Gerichte. Aufgrund des Auslegungsmonopols dürfen jedoch erst recht Behörden solche, d.h. die 70 71 72 73 74
S. EuGH, Rs. 103/88, Slg. 1989, 1839 (1870 ff., Rn. 30 ff.) – Costanzo. Vgl. EuGH, Rs. 158/80, Slg. 1981, 1805 (1838, Rn. 43) – „Butterfahrten“; krit. Ehlers, JZ 1996, 776 (778 f.). Kluth, DVBl. 2004, 393 (399). So Geiger, DVBl. 1993, 465 (473) und Böhm, JZ 1997, 53 (56). Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 10 EGV Rn. 60.
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von den Gerichten vorzulegenden Normen nicht einfach unangewendet lassen. Sie haben deshalb – wie die Gerichte – kein Normverwerfungsrecht hinsichtlich unionsrechtlicher Normen. III. Eingeschränkte Verwerfungskompetenz bei Umsetzungsakten In der Folge des Anwendungsvorrangs kommt den Gerichten und Verwaltungen 163 wie gezeigt eine umfassende Prüfungs- und Verwerfungskompetenz zu, wenn sie nationale Rechtsvorschriften für unvereinbar mit Unionsrecht halten. Über die Rechtmäßigkeit von Unionsrecht entscheidet dagegen ausschließlich der Gerichtshof der EU. Primärrecht, Verordnungen und Richtlinien können nicht an deutschen Grundrechten gemessen werden. 1. Unionsvertrag und Verordnungen Auch die Anwendung unmittelbar anwendbarer europäischer Normen ist der Prü- 164 fung durch nationale Gerichte entzogen.75 Unionsvertrag und Verordnungen können so auch nicht indirekt am Maßstab der Verfassung gemessen werden. Insoweit nehmen auch die konkretisierenden Anwendungsakte der nationalen Amtsträger am Vorrang des Europarechts teil.76 2. Richtlinien Richtlinien bedürfen grundsätzlich einer Umsetzung in nationales Recht. Insofern 165 stellt sich die Frage, wie die nationalen Umsetzungsakte zu beurteilen sind. Hier ist danach zu unterscheiden, inwieweit eine Richtlinie den Mitgliedstaaten tatsächlich noch einen Umsetzungsspielraum belässt. a) Fehlender Umsetzungsspielraum Besteht aufgrund der detaillierten Vorgaben der Richtlinie praktisch kein Umset- 166 zungsspielraum mehr und wird die Richtlinie daher textgleich in das nationale Recht übernommen, nehmen auch solche Umsetzungsakte am Vorrang des Unionsrechts teil. Soweit die Normsetzung zwingend dem Unionsrecht folgt, ist sie ebenso wie das sekundäre Unionsrecht selbst nicht am Maßstab deutscher Grundrechte zu prüfen, sondern unterliegt dem auf Unionsebene gewährleisteten Grundrechtsschutz.77 Die innerstaatliche Umsetzung von Richtlinien des Unionsrechts, die den Mit- 167 gliedstaaten keinen Umsetzungsspielraum belassen, sondern zwingende Vorgaben machen, wird vom BVerfG und den Fachgerichten daher nicht am Maßstab der Grundrechte des GG gemessen, solange die Rechtsprechung des Gerichtshofs der EU einen wirksamen Schutz der Grundrechte gegenüber der Hoheitsgewalt der Union generell gewährleistet, der dem vom GG jeweils als unabdingbar gebotenen
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Bereits BVerfGE 73, 339 – Solange II. Masing, NJW 2006, 264 (265). BVerfGE 118, 79 – Emissionshandel; BVerwGE 124, 49 (62 f.) – Emissionshandel.
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Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleich zu achten ist. 78 Hintergrund ist, dass sonst indirekt ein Urteil über die textgleiche Richtlinie und damit über Unionsrecht möglich wäre. b) Vorhandener Umsetzungsspielraum 168 Lässt eine Richtlinie wie von Art. 288 Abs. 3 AEUV vorgesehen den Mitgliedstaaten noch Umsetzungsspielräume, ist bei deren Ausfüllung der nationale Gesetzgeber an die Vorgaben des GG gebunden. Er unterliegt insoweit in vollem Umfang der verfassungsgerichtlichen Überprüfung. 79 IV. Erlass einstweiliger Anordnungen 1. Bei Zweifeln an der Vereinbarkeit von nationalem mit europäischem Recht 169 In der Folge des Anwendungsvorrangs kann ein nationales Gericht in einem bei ihm anhängigen, das Unionsrecht betreffenden Rechtsstreit verpflichtet sein, eine einstweilige Anordnung zu erlassen und eine dabei entgegenstehende Vorschrift des nationalen Rechts nicht anzuwenden.80 Die innerstaatlichen Gerichte haben entsprechend dem in Art. 4 Abs. 3 EUV 170 festgelegten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit den Rechtsschutz zu gewährleisten, der sich für die Einzelnen aus der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts ergibt. Das schließt ein, dass die Gerichte diejenigen Rechtsvorschriften und auch jede Gesetzgebungs-, Verwaltungs- oder Gerichtspraxis unangewendet lassen dürfen und müssen, die unter Umständen die volle Wirksamkeit einer Unionsrechtsnorm schwächen oder hindern. Das beinhaltet auch, dass ein Gericht eine einstweilige Anordnung erlassen muss, um die volle Wirksamkeit der späteren Gerichtsentscheidung über das Bestehen der aus dem Unionsrecht hergeleiteten Rechte sicherzustellen, auch wenn dies nach nationalem Recht nicht vorgesehen ist. Der einstweilige Rechtsschutz ist eine notwendige Ergänzung des Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV. Insoweit handelt es sich schon um eine Ausprägung des effet utile der jeweiligen unionsrechtlichen Bestimmung sowie des Grundsatzes effektiven Rechtsschutzes, wie er mittlerweile in Art. 47 EGRC niedergelegt ist.81 2. Bei Zweifeln an der Rechtmäßigkeit von europäischem Sekundärrecht 171 Bei Zweifeln an der Gültigkeit von Unionsrecht kommt ebenfalls vorläufiger Rechtsschutz in Betracht (zum Beispiel durch die Verwaltungsgerichte nach 78 79 80 81
BVerfGE 118, 79 (Leitsatz 1.a)) – Emissionshandel. S.o. Rn. 135 f. BVerfGE 125, 260 (308 ff.) – Vorratsdatenspeicherung. S. bereits o. Rn. 136 a.E. EuGH, Rs. C-213/89, Slg. 1990, I-2433 (2473 f., Rn. 17 ff.) – Factortame auch zum Folgenden. Spezifisch zum einstweiligen Rechtsschutz EuGH, Rs. C-432/05, Slg. 2007, I-2271 (2325 f., Rn. 72 f.) – Unibet.
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§ 123 VwGO).82 Dabei macht es keinen Unterschied, ob es um Zweifel an der Gültigkeit einer Verordnung, einer Richtlinie, des Umsetzungsrechts oder des Vollzugs von Unionsrecht geht. Voraussetzungen sind x x x x
erhebliche Zweifel an der Gültigkeit des Unionsrechts, eine Vorlage der Gültigkeitsfrage an den Gerichtshof der EU, die Dringlichkeit der vorläufigen Rechtsschutzentscheidung und die angemessene Berücksichtigung des Interesses der Union an der Durchführung des Unionsrechts.83
Bei der Frage, ob erhebliche Zweifel bestehen, ist die dazu vertretene Auffassung 172 von Gerichten anderer Mitgliedstaaten zu berücksichtigen, auch wenn diese rechtlich nicht bindend sind.84 Jedenfalls darf das nationale Gericht keine abschließende Entscheidung treffen und das Unionsrecht einfach unangewendet lassen, sondern muss bei einer Aussetzung der Vollziehung dem Gerichtshof der EU vorlegen, wenn es die Rechtmäßigkeit von EU-Recht erheblich bezweifelt. V. Rückforderung von Subventionen und nationale Fristen Bereichsspezifisch beachtet werden muss der Anwendungsvorrang namentlich im 173 Bereich der Rückforderung von unionsrechtswidrig erteilten Subventionen. Hier stellt sich die Frage, ob rechtswidrig gewährte Subventionen trotz Ablauf der Rücknahmefrist (zum Beispiel § 48 Abs. 4 VwVfG) noch zurückgenommen werden können. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts zusammen mit dem Effet-utileGrundsatz führt dann dazu, dass die nationale Fristbestimmung keine Anwendung findet. 85 So kann verhindert werden, dass der Staat die Rücknahmefrist absichtlich verstreichen lässt und so einem nationalen Unternehmen einen nicht gerechtfertigten Wettbewerbsvorteil belässt. Allerdings werden angemessene Fristen jedenfalls dann zugelassen, wenn es um eine zu Unrecht erfolgte Rückforderung von Subventionen geht, die bestandskräftig wurde. 86 VI. Modifizierung des deutschen Staatshaftungsrechts Den Anwendungsvorrang des Unionsrechts sichert auch die Staatshaftung. Sie 174 greift, wenn dieser Vorrang einschließlich der vorstehend näher aufgeführten Konsequenzen nicht gewahrt wurde. Dies hat unabhängig von den nationalen Strukturen und Restriktionen zu erfolgen. Hintergrund ist schließlich der effet utile
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BVerfG, NVwZ 2004, 1346 f. EuGH, Rs. C-465/93, Slg. 1995, I-3761 (3795, Rn. 51) – Atlanta Fruchthandelsgesellschaft; BVerfG, NVwZ 2004, 1346 (1347). Fall bei Frenz, Öffentliches Recht, 5. Aufl. 2011, Rn. 931 ff. Das BVerfG, NVwZ 2004, 1346 (1347) fordert eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den in den Entscheidungen der Gerichte der anderen Mitgliedstaaten genannten Zweifeln. EuGH, Rs. C-24/95, Slg. 1997, I-1591 (1619, Rn. 34 ff.) – Alcan II. EuGH, Rs. C-2/06, Slg. 2008, I-411 (466, Rn. 58) – Kempter.
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des Europarechts.87 Daher greift die unionsrechtliche Staatshaftung auch und gerade bei legislativem sowie judikativem Unrecht.88 Soweit die Mitgliedstaaten bei der Anwendung des Unionsrechts Schäden für 175 den Unionsbürger verursachen (zum Beispiel wegen fehlerhafter oder fehlender Umsetzung von Richtlinien), kommen als Grundlage des Ersatzanspruchs die Vorschriften des nationalen Staatshaftungsrechts nach Art. 34 S. 1 GG i.V.m. § 839 BGB in Betracht, wonach aber wegen legislativen Unrechts eigentlich nicht gehaftet wird. Damit die Nichtumsetzung von Richtlinien für die Mitgliedstaaten nicht ohne Folgen bleibt, hat der EuGH unter Rückgriff auf den effet utile und Art. 4 Abs. 3 EUV das Rechtsinstitut der unionsrechtlich gebotenen Staatshaftung geschaffen.89 Auch wenn nicht ganz klar ist, ob der EuGH den Anspruch unmittelbar aus dem Unionsrecht herleitet90 oder ob die nationalen Haftungsnormen modifiziert werden,91 so ergeben sich jedenfalls gegenüber einer rein nationalen Lösung zahlreiche Modifizierungen,92 die letztlich Folge des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts sind. Wenn eine Richtlinie durch den Mitgliedstaat nicht umgesetzt wurde, knüpft 176 der EuGH den unionsrechtlich begründeten Staatshaftungsanspruch an drei Voraussetzungen: Die unionsrechtliche Norm, gegen die verstoßen worden ist, bezweckt die Verleihung von Rechten an die Geschädigten, der Verstoß ist hinreichend qualifiziert und zwischen diesem Verstoß und dem den Geschädigten entstandenen Schaden besteht ein unmittelbarer Kausalzusammenhang.93 Der BGH zieht das nationale Recht nur noch zur materiellen und formellen Ausgestaltung heran.94 Im Übrigen wird das nationale Staatshaftungsrecht verdrängt. Schäden können auch eingetreten sein, bis die unmittelbare Anwendung ei177 ner Richtlinie oder auch von primärem Unionsrecht feststeht. Zudem kann die Ausgestaltung von Unionsrecht im Einzelnen umstritten sein. Das Fehlverhalten, das bis zur Klärung durch den EuGH eingetreten ist, kann für den Einzelnen nur durch Schadensausgleich kompensiert werden. So wurden die Bierhersteller aus anderen EU-Mitgliedstaaten durch das deutsche Reinheitsgebot benachteiligt und erlitten dadurch Schäden, bevor die Unionsrechtswidrigkeit dieser Regelung festgestellt wurde.95 Wenn schon für die fehlende Umsetzung nicht hinreichend genauen und bestimmten Sekundärrechts Staatshaftungsansprüche greifen, müssen diese erst recht bei einer defizitären Anwendung unmittelbar geltenden Primär- und auch Sekundärrechts bestehen.96 Der Einzelne soll in jeder Hinsicht davor bewahrt werden, dass er durch mitgliedstaatliche Unionsrechtsverstöße 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96
EuGH, Rs. C-6 u. 9/90, Slg. 1991, I-5357 – Francovich. EuGH, Rs. C-178 u.a./94, Slg. 1996, I-4845 – Dillenkofer; Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239 – Köbler. Im Einzelnen Frenz, Europarecht 5, Rn. 2050 ff. EuGH, Rs. C-6 u. 9/90, Slg. 1991, I-5357 – Francovich. EuGH, Rs. C-6 u. 9/90, Slg. 1991, I-5357 (5415, Rn. 41) – Francovich. EuGH, Rs. C-6 u. 9/90, Slg. 1991, I-5357 (5416, Rn. 45) – Francovich. BGHZ 134, 30 – Brasserie du pêcheur. EuGH, Rs. C-178 u.a./94, Slg. 1996, I-4845 (4878 f., Rn. 21) – Dillenkofer. BGH, NJW 1997, 123 (124) – Brasserie du Pêcheur. S.u. Rn. 260. EuGH, Rs. C-302/97, Slg. 1999, I-3099 – Konle.
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Schäden erleidet. Der Entschädigungsanspruch stellt daher die notwendige Ergänzung der unmittelbaren Wirkung dar.97 Deshalb kann auch das Verhalten von Richtern einen Staatshaftungsanspruch 178 begründen, wenn sie trotz bestehender Pflicht nicht gemäß Art. 267 AEUV vorlegen. Gerade auch die höchsten Gerichte sind insoweit Garanten des Unionsrechts.98 Für die Rechtsprechung kann dies allerdings im Hinblick auf mögliche 179 Rechtswertungen gerade in Streitfällen nicht gelten. Insoweit bedarf es daher ebenfalls einer offenkundigen und erheblichen Rechtsverletzung. Das setzt eine eindeutige, durch den Gerichtshof der EU geklärte Rechtslage voraus, die nicht beachtet wird, oder das Unterlassen einer sich aufdrängenden Vorlage. Es bedarf einer Gesamtschau aller Gesichtspunkte des Einzelfalles. Beispiel nach EuGH, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239 – Köbler: So kann es nicht genügen, wenn der EuGH einen Parallelfall entschieden hat, der aber in einem Detail abweicht, so dass sich zwingende Schlüsse auf den zu entscheidenden Fall verbieten. Zudem soll die Nichtvorlage an den EuGH dann keinen hinreichend qualifizierten Verstoß bilden, wenn irrig angenommen wurde, die Rechtsfrage sei durch den EuGH bereits geklärt. Selbst eine zunächst irrige Übernahme einer EuGH-Rechtsprechung, die später wieder rückgängig gemacht wurde, und eine dann unterlassene Vorlage sollen für eine hinreichende Rechtsverletzung nicht ausreichen. Damit wird indes die Messlatte allzu hoch gehängt, ist doch die richtige Handhabung des Unionsrechts maßgeblich auf Richter angewiesen.
Der Schadensersatzanspruch dient nicht nur der Durchsetzung des Unionsrechts, sondern auch dem Ausgleich individueller Beeinträchtigungen. Die Rückkoppelung an die individualbegünstigende Wirkung der verletzten Norm muss daher bleiben. Allerdings besitzt der nationale Gesetzgeber wie auch der Unionsnormgeber zumeist ein weites Ermessen, wie er Recht setzt. Die Freiheit des Normgebers wäre erheblich behindert, wenn gegen ihn in jedem Fall Schadensersatzansprüche erhoben werden könnten. Dies entbindet ihn allerdings nicht davon, Unionsrecht zu wahren. Aus diesem ergeben sich in erheblichem Umfange Verhaltens- oder Unterlassungspflichten. Dieser Rahmen ist auch dann einzuhalten, wenn ein Gestaltungsspielraum – gegebenenfalls nach Art. 288 Abs. 3 AEUV – besteht. Dann hat sich das Ermessen innerhalb dieser Grenzen zu bewegen. Diese dürfen jedenfalls nicht offenkundig und erheblich überschritten werden. Die Aufrechterhaltung eines unionsrechtswidrigen Normzustandes muss nicht verschuldet gewesen sein. Der Gesetzgeber hat viele Fragen, die sich gleichzeitig aufdrängen, zu bewältigen und kann nicht allen gleichzeitig nachgehen. Daher würde ein Staatshaftungsanspruch gegen normsetzende Organe praktisch leer laufen, wenn er von einem Verschulden abhinge. Generell ist dem Unionsrecht ein Verschuldenselement bei der Umsetzung und Anwendung fremd. Es greift daher auch nicht bei einem Fehlverhalten von Behörden oder Richtern. Die besonderen Umstände der Gesetzgebung werden dadurch
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EuGH, Rs. C-46 u. 48/93, Slg. 1996, I-1029 – Brasserie du pêcheur. EuGH, Rs. C-224/01, Slg. 2003, I-10239 (10306, Rn. 33 ff.) – Köbler.
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berücksichtigt, dass ein hinreichend qualifizierter Verstoß gegen Unionsrecht vorliegen muss.
F. Wirkungen für den Einzelnen I. Unmittelbare Rechte und Pflichten 184 Für die Bürger der Mitgliedstaaten ergeben sich dank des Anwendungsvorrangs und der unmittelbaren Geltung aus dem Unionsrecht unmittelbar einklagbare Rechte. Diese können sich gegen die Rechtsakte nationaler, aber auch europäischer Behörden richten, die gegen Unionsrecht verstoßen. Andererseits können die Bürger aus dem Unionsrecht auch unmittelbar verpflichtet werden. Sie können die direkten Adressaten von Verordnungen und Entscheidungen sein. Ein wichtiger Anwendungsfall des Anwendungsvorrangs ist die unmittelbare 185 Wirksamkeit von Richtlinienbestimmungen, vom EuGH im Wege der Rechtsfortbildung entwickelt99 und inzwischen allgemein anerkannt.100 Soweit eine Richtlinie nicht rechtzeitig oder nicht ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt wurde, kann sich der Einzelne dennoch auf sein Recht berufen, soweit es dem Einzelnen unbedingt und hinreichend genau gegenüber dem Staat durch die Richtlinie eingeräumt wird. Die Richtlinie genießt insoweit Anwendungsvorrang gegenüber der ansonsten geltenden nationalen Regelung. II. Verletzbare Rechte nach Art. 19 Abs. 4 GG 186 Die grundgesetzliche Rechtsschutzgarantie eröffnet den Rechtsweg, sobald jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird. Eine Beschränkung auf nationale Rechte erfolgt im Wortlaut nicht. In ihren Wirkungen für den Bürger sind die Rechte aus Unionsrecht gleichzustellen. Sie sollen gerade vom Einzelnen gegen staatliche Stellen vor Gericht subjektiv eingefordert werden können, berechtigen mithin dazu, dem Staat gegenüber eine Verhaltenspflicht durchzusetzen und erfüllen damit das Kennzeichen eines verletzbaren Rechts nach Art. 19 Abs. 4 GG. Dass im Unionsrecht solche Rechte teilweise objektiven Kontrollzwecken 187 dienen sollen, ändert an dieser Einstufung nichts; dann bildet die Eigenschaft als einforderbares Recht jedenfalls ein Mittel zum Zweck. Auch als solches soll es aber gerichtlich eingefordert werden können, und zwar vom Einzelnen, wie der EuGH im Hinblick auf die Einhaltung bestimmter Grenzwerte in seiner Judikatur zur Luftreinhaltung angesichts von Feinstaubpartikeln deutlich machte.101 Jedenfalls in diesem für die Qualifizierung als verletzbares Recht im Sinne von 188 Art. 19 Abs. 4 GG wesentlichen Punkt unterscheidet sich ein zielbezogenes Recht auch zu objektiven Kontrollzwecken nicht von personell eingrenzbaren Rechten. Daher kann nicht für Erstere eine spezifisch prozessrechtliche Lösung verfolgt 99 100 101
EuGH, Rs. 8/81, Slg. 1982, 53 – Becker. Etwa auch BVerfGE 75, 223. Näher o. Rn. 20 ff. S. EuGH, Rs. C-237/07, Slg. 2008, I-6221 – Janecek.
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werden.102 Vielmehr fallen sie umfassend in den Anwendungsbereich des Art. 19 Abs. 4 GG.103 Deren effektive gerichtliche Durchsetzbarkeit ist daher auch ein Gebot des deutschen Verfassungsrechts. 104 III. Öffentlich-rechtliche Streitigkeiten Unionsrechtliche Verpflichtungen will der Einzelne vielfach gegenüber den ver- 189 pflichteten Stellen und damit gegenüber Behörden durchsetzen, so dass es sich um öffentlich-rechtliche Streitigkeiten handelt.105 Umgekehrt können im Rahmen öffentlich-rechtlicher Streitigkeiten auch staatliche Stellen Pflichten des Bürgers einfordern. Dieser kann durch die vorgenannten Rechtsakte nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet werden. Das gilt auch für unmittelbar wirkende Richtlinien, wenn eine staatliche Stelle zwischen die Privatpersonen tritt und diese über einen gewissen Entscheidungsspielraum verfügt.106 Eine Zuweisung an spezialisierte Gerichte in einem nationalen Umsetzungsge- 190 setz darf nicht Verfahrensnachteile hervorrufen und so die Effektivität des Rechtsschutzes beeinträchtigen. Dazu führt sie, wenn vor dem Inkrafttreten des Umsetzungsgesetzes, aber nach dem Ablauf der Frist zur Umsetzung der Richtlinie entstandenes Recht an die nicht spezialisierten Gerichte verwiesen werden und dadurch höhere Kosten, längere Verfahrenszeiten etc. erwachsen.107 Damit ergeben sich aus dem Effet-utile-Grundsatz sogar Auswirkungen auf die innerstaatliche Verwaltungsgerichtsorganisation.108 IV. Klageart Die Klageart hängt von dem Klagebegehren ab. Die Durchsetzung von Europa- 191 recht vor den Verwaltungsgerichten wurde in den letzten Jahren insbesondere im Zusammenhang mit dem sogenannten Führerscheintourismus109 erörtert. Das OVG Hamburg und das OVG Weimar haben die behördliche Aberkennung des Rechts, von der mitgliedstaatlichen Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen, angesichts des aus Art. 1 Abs. 2 der sogenannten Ersten Führerscheinrichtlinie110 102 103 104 105 106 107 108 109 110
So aber Wahl, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Vorbem. § 42 Abs. 2 Rn. 127 f.; s. bereits Remmert, Die Verwaltung 1996, 465 (475). Dörr, DVBl. 2006, 1088 (1091); differenzierend hingegen Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 IV Rn. 152, 152 b. Dörr, Der europäisierte Rechtsschutzauftrag deutscher Gerichte, 2003, S. 168 f. VG Stuttgart, NVwZ-RR 2006, 392 (392). EuGH, Rs. C-201/02, Slg. 2004, I-723 (765, Rn. 56 f.) – Wells; näher Frenz, Europarecht 5, Rn. 1090 ff. EuGH, Rs. C-268/06, Slg. 2008, I-2483 – Impact. Epiney, NVwZ 2009, 949 (955). S. zu dieser Problematik Hailbronner/Thoms, NJW 2007, 1089 ff. m.w.N. und Frenz, Europarecht 5, Rn. 4130. RL 91/439/EWG des Rates über den Führerschein vom 29.7.1991, ABl. L 237, S. 1. Nunmehr sogenannte Dritte Führerscheinrichtlinie, RL 2006/126/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über den Führerschein vom 20.12.2006, ABl. L 403, S. 18.
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folgenden Gebots, die Führerscheine anderer Mitgliedstaaten grundsätzlich anzuerkennen, für rechtswidrig befunden. 111 Ob ein Verwaltungsakt begehrt wird, ist insbesondere wegen der fraglichen Außenwirkung von Verwaltungshandeln nicht immer eindeutig. Begehrt der Kläger, dass die Verwaltung konkrete Maßnahmen trifft, um hierdurch die Einhaltung der festgeschriebenen Immissionsschutzwerte zu bewerkstelligen, zielt dies regelmäßig darauf ab, Maßnahmen gegen Verkehrsteilnehmer zu ergreifen. Die Verwaltung handelt mit Außenwirkung, so dass ihrem Handeln Verwaltungsaktqualität beizumessen ist und der Kläger hierauf seine Verpflichtungsklage zu richten hat.112 Da hingegen der Aktionsplan nur die Verwaltung binden soll und insoweit, anders als konkrete Maßnahmen gegen Verkehrsteilnehmer, keine Außenwirkung entfaltet, kommt ihm keine Verwaltungsaktqualität zu.113 Erkennt man einen Anspruch des Einzelnen auf Erstellung immissionsschutzrechtlicher Aktionspläne an, ist die allgemeine Leistungsklage in Gestalt der Leitungsvornahmeklage die statthafte Klageart.114 Die Leistungsvornahmeklage ist grundsätzlich auch die statthafte Klageart, wenn es um die Einholung von Informationen und Auskünften geht und sich aus dem Unionsrecht keine konkreten Vorgaben ergeben. Entsprechende Auskunftsansprüche wurden u.a. auf Grundlage von europäischen Richtlinien in nationales Recht umgesetzt, wie zum Beispiel der Auskunftsanspruch für jedermann aus § 3 Abs. 1 UIG.115 Subsidiär greift die Feststellungsklage. Sie kann vor allem dann weiterhelfen, wenn es um die umfassende Klärung eines bestehenden oder nicht bestehenden Rechtsverhältnisses geht. Ein solches Rechtsverhältnis kann aus Unionsrecht etwa rühren, wenn es um demnach verbotene Verhaltensweisen geht, die mit Sanktionen behaftet sind. Diese brauchen nicht erst abgewartet zu werden. 116 Klagegegner ist, je nach landesrechtlicher Rechtsordnung,117 die innerstaatliche Behörde, welcher die Sanktionierung der Unionsrechtsverstöße obliegt bzw. deren Rechtsträger. Das qualifizierte Rechtsschutzbedürfnis nach § 43 Abs. 1 VwGO ist darin zu erblicken, dass 111 112 113 114 115
116 117
OVG Hamburg, NJW 2007, 1160 (1161 f.); OVG Weimar, NJW 2007, 1163. BVerwGE 129, 296 (301, Rn. 25); 128, 278 (290, Rn. 31); VG München, NVwZ 2005, 1215 (1215) im Fall Janecek. BVerwGE 128, 278 (285, Rn. 21; 288, Rn. 27); VG München, NVwZ 2005, 1219 (1220). Im Gegensatz zum BVerwG hat der EuGH, Rs. C-237/07, Slg. 2008, I-6221 – Janecek einen solchen Anspruch bejaht. Umgesetzt auf der Grundlage der RL 90/313/EWG des Rates über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt vom 7.6.1990, ABl. L 158, S. 56. Inzwischen ersetzt durch RL 2003/4/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über den Zugang der Öffentlichkeit zu Umweltinformationen und zur Aufhebung der RL 90/313/EWG des Rates vom 28.1.2003, ABl. L 41, S. 26. BVerwGE 121, 152 (156); Baumeister, EuR 2005, 1 (16); Haratsch, EuR 2008, Beiheft 3, 81 (94). Vgl. § 78 Abs. 1 Nr. 2 VwGO.
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dem Kläger das Abwarten einer Sanktion infolge des Verstoßes gegen das Unionsrecht und die hiergegen gerichtete Anfechtungsklage nicht zugemutet werden kann.118 Schließlich kommt die Überprüfung untergesetzlicher Normen des Landes- 197 rechts auf ihre Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO in Betracht. Nach dem Wortlaut der Vorschrift wird die zu überprüfende Norm auf ihre Gültigkeit hin überprüft und damit eine allgemeine Aussage ihrer Anwendbarkeit getroffen. Verstöße gegen Unionsrecht führen aber grundsätzlich nur zu einer Unanwendbarkeit der Norm im konkreten Fall.119 Ließe man aufgrund dessen aber das Unionsrecht bei der Überprüfung der Norm außer Acht, stellte dies wiederum einen Verstoß gegen die effektive Durchsetzung des Unionsrechts120 und das Äquivalenzgebot dar, wenn ausschließlich das Unionsrecht keine Beachtung in diesem Zusammenhang findet. 121 Das BVerwG hat dementsprechend in einem obiter dictum klargestellt, dass es 198 das Unionsrecht als Prüfungsmaßstab im Rahmen des Normenkontrollverfahrens anlegt.122 Die Vorschrift ist insofern unionsrechtlich auszulegen, als das Gericht aufgrund des (bloßen) Anwendungsvorrangs des Unionsrechts abweichend von § 47 Abs. 5 S. 2 VwGO nicht die Nichtigkeit, sondern die Unanwendbarkeit der unionsrechtswidrigen Norm im konkreten Fall zu tenorieren hat.123 Bedeutung hat diese Prüfung im Zusammenhang mit der Europarechtskonfor- 199 mität von Werbeverboten in Apothekerkammern124 erlangt. Auch ist denkbar, dass hiermit überprüft werden kann, inwieweit die Studiensatzungen der nationalen Universitäten unionsrechtskonform sind. V. Klagebefugnis Der nationale Gesetzgeber hat in § 42 Abs. 2 VwGO die Klagebefugnis und da- 200 mit vergleichbar enge Voraussetzungen normiert, die bei der Erhebung einer verwaltungsgerichtlichen Klage zu erfüllen sind. Von dem Erfordernis der Verletzung eines eigenen Rechts hat er aufgrund europäischer Vorgaben Ausnahmen gemacht. Infolge der Umsetzung der sogenannten Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie125 wurde in § 63 BNatSchG den nach § 61 f. BNatSchG anerkannten Naturschutzverbänden die Möglichkeit eingeräumt, Klage in bestimmten Bereichen des Naturschutzes und der Landschaftspflege zu erheben, obgleich ihnen insoweit 118 119 120 121 122 123 124 125
Haratsch, EuR 2008, Beiheft 3, 81 (95). Dünchheim, DÖV 2004, 137 (138); Rinze, NVwZ 1996, 458 (459). Pache/Burmeister, NVwZ 1996, 979 (981); Pielow, EuR 1999, 445 (475). Ehlers, DVBl. 2004, 1441 (1445). BVerwG, NVwZ-RR 1997, 111 (112). Dörr, in: Sodan/Ziekow, VwGO, EVR Rn. 232; Ehlers, DVBl. 2004, 1441 (1445). BVerwG, NVwZ-RR 1995, 358 (359). RL 2003/35/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimmter umweltbezogener Pläne und Programme und zur Änderung der RLn 85/337/EWG und 96/61/EG des Rates in Bezug auf die Öffentlichkeitsbeteiligung und den Zugang zu Gerichten vom 26.5.2003, ABl. L 156, S. 17. S. hierzu Frenz, Europarecht 5, Rn. 3982 ff.
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Kapitel 2: Nationales und europäisches Recht
keine eigenen Rechte zustehen. Damit wird zwar in diesen Bereichen die nationale Konzeption durchbrochen, doch ergeben sich darüber hinaus keine Besonderheiten für die allgemeine Prüfung der Klagebefugnis. Bei der Durchsetzung unionsrechtlich verliehener Rechtspositionen sind, auch wenn spezifische unionsrechtliche Festlegungen fehlen, insbesondere die bestehenden Vorgaben des EuGH zu beachten. Dieser bezieht bei der Prüfung der Klagebefugnis das Kriterium des subjektiv-öffentlichen Rechts, wie es im nationalen Verwaltungsrecht angewandt wird, nicht ein.126 Nach ihm ist die Klagebefugnis des Einzelnen davon abhängig, ob ihm ein schützenswertes Interesse zusteht. Dies bestimmt sich nach dem Bereich des öffentlichen Interesses, den die Norm schützt. Der Kläger ist demnach klagebefugt, wenn sein Interesse dem schützenswerten Bereich zuzuordnen ist.127 Der EuGH verlangt nicht die Verletzung eines eigenen Rechts, sondern nennt die faktische Betroffenheit des Einzelnen als Voraussetzung für die Klagebefugnis.128 Durch dieses weite Verständnis von der Klagemöglichkeit kann der Einzelne eher das Unionsrecht gerichtlich überprüfen lassen und somit besser die Einhaltung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten kontrollieren. 129 Partiell werden die europäischen Rechtspositionen als anderweitige gesetzliche Bestimmungen im Sinne von § 42 Abs. 2 HS. 1 VwGO gewertet. Der Lösungsansatz besteht darin, die einklagbaren Rechtspositionen des Unionsrechts lediglich als Initiativrechte, als Möglichkeiten der Rechtskontrolle aufzufassen und nicht als materielle Rechtsposition.130 Zum Teil wird bei der Anwendung des § 42 Abs. 2 VwGO auf die Grundrechte zurückgegriffen. Anstatt das möglicherweise verletzte materielle Recht unmittelbar aus dem Europarecht herzuleiten, wird auf die Verletzung von Grundrechten abgestellt. So stelle es zum Beispiel eine Grundrechtsverletzung des Art. 2 Abs. 2 GG dar, wenn infolge der unterbliebenen Anwendung gesundheitsfördernder Richtlinien die Gesundheit des Einzelnen betroffen sei.131 Schließlich besteht die Möglichkeit, die durch das Unionsrecht eingeräumten Rechtspositionen als materielles Recht im Sinne des § 42 Abs. 2 HS. 2 VwGO einzustufen. Die einklagbaren Rechtspositionen aus dem Unionsrecht dienen demnach nicht lediglich der Rechtskontrolle, sondern räumen dem Einzelnen schützenswerte Rechte ein, auf die er sich berufen kann. Die Bestimmung dieser 126 127 128
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Scherzberg, Jura 2006, 839 (848). Calliess, NVwZ 2006, 1 (3); Winter, NVwZ 1999, 467 (470). EuGH, Rs. C-361/88, Slg. 1991, I-2567 (2601, Rn. 16) – Kommission/Deutschland; Rs. C-58/89, Slg. 1991, I-4983 (5023, Rn. 14) – Kommission/Deutschland; Rs. C-59/89, Slg. 1991, I-2607 (2631, Rn. 19) – Kommission/Deutschland; Calliess, NVwZ 2006, 1 (3). Schoch, in: Festgabe 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 507 (519). Z.B. Kokott, Die Verwaltung 1998, 335 (350 f.); Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 17. Aufl. 2008, § 8 Rn. 16; Wahl/Schütz, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 42 Abs. 2 Rn. 37. Kopp/Schenke, VwGO, 16. Aufl. 2009, § 42 Rn. 154; Ruthig, BayVBl. 1997, 289 (295 f.). Sie machen die Anwendung von § 42 Abs. 2 VwGO allerdings davon abhängig, dass kein materielles Recht besteht.
F. Wirkungen für den Einzelnen
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Rechtspositionen erfolgt entweder nach europarechtlichen Kriterien oder nach der Schutznormtheorie. Teilweise wird die Auffassung vertreten, dass es denjenigen Rechtspositionen an einem Umsetzungsakt auf nationaler Ebene fehle, welche infolge der unmittelbaren Anwendung von Richtlinien entstehen. Da insoweit die Implementierung als subjektiv-öffentliches Recht nicht möglich sei, müsse dem Kläger unabhängig hiervon ein solches Recht nach den europarechtlichen Vorgaben, insbesondere dem Diskriminierungsverbot und dem effektiven Rechtsschutz, eingeräumt werden.132 Alternativ werden die unmittelbar anwendbaren Richtlinienbestimmungen anhand der gängigen Schutznormtheorie auf den Gehalt subjektiv-öffentlicher Rechte untersucht, wobei die Voraussetzungen aufgrund des europarechtlichen Bezugs weiter gefasst sind.133 Die nationalen Gerichte haben die im Einzelfall infrage stehenden Unionsnormen auf ihren Gehalt hin zu untersuchen. Für die Klagebefugnis nach § 42 Abs. 2 VwGO ist bei Unionsbezug zu prüfen, ob durch die Unionsnorm auch der Einzelne in seinen Interessen geschützt werden soll. Zugleich muss dem Kläger die Möglichkeit zustehen, dieses Recht gegenüber dem Mitgliedstaat durchzusetzen. Nach dem letztgenannten Ansatz enthält dann die Unionsnorm das subjektiv-öffentliche Recht, welches verletzt sein könnte. Dadurch wird der nationale Ansatz entsprechend der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten weitestgehend gewahrt, ohne die Durchsetzung in dem unionsrechtlich geforderten Maß zu gefährden. Unabhängig davon, ob man die europarechtlichen Kriterien unmittelbar anwendet oder die deutsche Schutznormtheorie heranzieht, wirken nach diesem Lösungsansatz die europäischen Vorgaben über die Klagebefugnis hinaus und führen zur Anerkennung materieller Rechtspositionen.
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Ruffert, DVBl. 1998, 69 (74); Ehlers, Jura 2007, 505 (506); Scherzberg, in: Erichsen/Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2010, § 11 Rn. 39; Sodan, in: ders./Ziekow, 3. Aufl. 2010, VwGO, § 42 Rn. 400. Calliess, NVwZ 2006, 1 (4); Classen, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 35 Rn. 47; v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S. 521; Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, 2006, Rn. 430; Frenz, DVBl. 1995, 408 (412 f.); Schoch, NVwZ 1999, 457 (465).
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Kapitel 3: Grundfreiheiten Literatur: Ehlers, Dirk (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009; Frenz, Walter, Handbuch Europarecht 1: Europäische Grundfreiheiten, 2004. Leitentscheidungen: EuGH, Rs. 8/74, Slg. 1974, 837 – Dassonville; Rs. 120/78, Slg. 1979, 649 – Cassis; Rs. C-267 u. 268/91, Slg. 1993, I-6097 – Keck; Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 – Bosman; Rs. C-281/97, Slg. 2000, I-4139 – Angonese; Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 – Schmidberger (Brenner-Blockade); Rs. C-171 u. 172/07, Slg. 2009, I4171 – DocMorris; Rs. C-73/08, NVwZ 2010, 1141 – Bressol; Rs. C-171/08, EuZW 2010, 701 – Kommission/Portugal (Goldene Aktien).
A. Überblick Die Grundfreiheiten wirken unmittelbar.1 Sie verpflichten daher die innerstaatli- 210 chen Organe und können von Individuen vor den nationalen Gerichten eingefordert werden. Es existieren folgenden Grundfreiheiten: x x x x x x
Zollfreiheit, Art. 30 AEUV Warenverkehrsfreiheit, Art. 34 ff. AEUV Arbeitnehmerfreizügigkeit, Art. 45 ff. AEUV Niederlassungsfreiheit, Art. 49 ff. AEUV Dienstleistungsfreiheit, Art. 56 ff. AEUV Kapitalverkehrsfreiheit, Art. 63 ff. AEUV
Hinzu kommt das nur an die Unionsbürgerschaft geknüpfte Freizügigkeits- und 211 Aufenthaltsrecht aus Art. 21 AEUV, das bereits das allgemeine Diskriminierungsverbot nach Art. 18 AEUV aktiviert, wie die Studierendenfreizügigkeit zeigt. 2
B. Grundschema der Grundfreiheiten I. Prüfungsschema und Vorfrage 1. Untersuchungsreihenfolge Die Grundfreiheiten stellen subjektiv-öffentliche Rechte der Unionsbürger dar. 212 Strukturell sind sie den Grundrechten des deutschen Grundgesetzes vergleichbar und können wie diese in einem dreistufigen Schema geprüft werden. Die Grundlage bildet die Klärung des Schutzbereichs. Ob dieser beeinträchtigt wurde, kann darauf aufbauend untersucht werden. Oft liegt eine der beiden Fragen auf der
1 2
Etwa EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 3 (24 ff.) – von Gend & Loos; Rs. 41/74, Slg. 1974, 1337 (1347) – van Duyn. Jüngst Fall Bressol, s.u. Rn. 325.
W. Frenz, Europarecht, DOI 10.1007/978-3-642-21019-8_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel 3: Grundfreiheiten
Hand, so dass die Prüfung ineinander fließt. Die dritte Stufe bildet die Rechtfertigung. Sofern eine Beeinträchtigung auf einem Rechtfertigungsgrund beruht und nicht gegen Rechtfertigungsschranken verstößt, liegt keine Verletzung der betreffenden Grundfreiheit vor.3 Dieser Aufbau der Grundfreiheiten lässt sich der Rechtsprechung des EuGH 213 nicht notwendig und unmittelbar entnehmen, deutet sich aber in vielen Entscheidungen an, in denen der EuGH zunächst eine Beeinträchtigung der Grundfreiheit bejaht und dann auf eine mögliche Rechtfertigung eingeht. 4 Der Begriff „Beeinträchtigung“5 passt deshalb besser, weil strittig ist, ob es sich bei den Grundfreiheiten (auch) um allgemeine Beschränkungs- oder lediglich um Diskriminierungsverbote handelt; der Beschränkungsbegriff ist daher dogmatisch aufgeladen und wird zudem nur für einen Teilbereich verwendet. Damit sind zunächst der persönliche und gegenständliche Anwendungsbereich einschließlich etwaiger Anwendungsbeeinträchtigungen, mithin der Schutzbereich, sodann Beeinträchtigungen und schließlich deren Rechtfertigung zu klären. 2. Anwendungsausschluss bei Totalharmonisierung 214 Der EuGH untersucht immer wieder die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten auf die untersuchte Maßnahme. Diese Vorfrage ist bereits vor der Eröffnung des Schutzbereichs zu überprüfen und zu verneinen, wenn eine abgeschlossene Rechtsharmonisierung durch sekundäres Unionsrecht erfolgt ist. 6 Dann werden nationale Maßnahmen nicht mehr unmittelbar an den Regelungen des EG gemessen, sondern an den Bestimmungen des sekundären Unionsrechts. Harmonisierungsmaßnahmen nehmen den Mitgliedstaaten das Recht, weiter gehende Beschränkungen in dem jeweils geregelten Bereich zu erlassen. Das (sekundäre) Unionsrecht ist insoweit vorrangig. Regelt das Sekundärrecht die Materie abschließend, fehlt den Mitgliedstaaten die Kompetenz zum Erlass abweichender Vorschriften. Die europäischen Regelungen müssen zwar mit den vertraglichen Bestimmungen vereinbar sein.7 Die jeweilige Grundfreiheit ist aber auf Einzelakte nur (unmittelbar) anwendbar, wenn keine abgeschlossene Rechtsharmonisierung auf Unionsebene vorliegt.8
3 4 5 6 7 8
Vgl. dazu Jarass, EuR 2000, 705 ff. (mit den Begriffen Anwendungsbereich, Beschränkung und Rechtfertigung). Vgl. etwa EuGH, Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 (9970 f., Rn. 78, 83) – Überseering. Z.B. EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 (5068, Rn. 92) – Bosman. EuGH, Rs. C-37/92, Slg. 1993, I-4947 (4978, Rn. 6 ff.) – Vanacker und Lesage. S. EuGH, Rs. C-324/99, Slg. 2001, I-9897 (9930, Rn. 32; 9933, Rn. 43) – DaimlerChrysler. S. etwa EuGH, Rs. 190/87, Slg. 1988, 4689 (4720, Rn. 10) – Moormann; Rs. 5/77, Slg. 1977, 1555 (1575 f., Rn. 33/35) – Tedeschi.
B. Grundschema der Grundfreiheiten
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II. Schutzbereich 1. Begriff Der Begriff des Schutzbereiches kennzeichnet eher als das Wort „Anwendungs- 215 bereich“, dass die Grundfreiheiten wie die Grundrechte einen Schutzgegenstand umfassen, von dem ausgehend sich der relevante Gewährleistungsbereich bemisst. Die auf die „Anwendung“ abstellenden Formulierungen in den vertraglichen Bestimmungen über die Grundfreiheiten wie in Art. 45 Abs. 4, Art. 51 AEUV bezeichnen Anwendungsausnahmen. Diesen vorgelagert ist die Schutzbereichsidentifikation. Der Anwendungsbereich besteht daher in erster Linie aus der Schutzbereichseröffnung, die gleichbedeutend mit der Anwendungseröffnung ist. Dieser eröffnete Schutzbereich ist dann durch Anwendungsausnahmen limitiert, die zugleich Schutzbereichsbegrenzungen bilden. Daher ist im Folgenden von Schutzbereich, dessen Eröffnung und Begrenzung die Rede. Die Schutzbereichseröffnung umfasst drei Aspekte: Der Schutzbereich muss 216 in sachlicher, personeller und zeitlicher Hinsicht eröffnet sein. Zudem ist zu überprüfen, ob in sachlicher Hinsicht für bestimmte Tätigkeiten eine Schutzbereichsbegrenzung einschlägig ist. In diesem Fall ist der Schutzbereich bereits nicht eröffnet und die Prüfung damit beendet. 2. Abgrenzung der Schutzbereiche gegeneinander Sofern das Verhalten eines Unionsbürgers Bezugspunkte zu mehreren Grundfrei- 217 heiten aufweist, ist zunächst eine Abgrenzung der Schutzbereiche gegeneinander vorzunehmen. Diese Frage ist sowohl von der abstrakten Wertigkeit als auch von der Konkurrenz der Grundfreiheiten untereinander zu unterscheiden. Eine Rangfolge der Grundfreiheiten untereinander besteht nicht. Diese sind 218 vielmehr alle gleichwertig. Eine Abgrenzung der Grundfreiheiten gegeneinander erfolgt zum einen bei der Abgrenzung der Schutzbereich gegeneinander, zum anderen bei der Frage der Konkurrenzen. Die Frage der Abgrenzung auf Schutzbereichsebene taucht auf, wenn ein 219 Vorgang Bezugspunkte zu mehreren Grundfreiheiten aufweist. So stellt sich beispielsweise bei einem Transfer von Kapital in einen anderen Mitgliedstaat zum Zweck einer Gesellschaftsgründung das Problem, ob der Schutzbereich der Niederlassungs- oder der Kapitalverkehrsfreiheit eröffnet ist oder ob beide Grundfreiheiten einschlägig sind. 9 Entsprechend fragt sich, ob bei der Erstellung von Formularen durch eine Gesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat der Schutzbereich der Dienstleistungs- oder der Niederlassungsfreiheit eröffnet ist. Im Rahmen der Abgrenzung auf Schutzbereichsebene ist das betreffende Verhalten jeweils unter die Schutzbereiche der einzelnen Grundfreiheiten zu subsumieren. Durch diesen Vorgang qualifiziert man den betreffenden Vorgang als dem Schutzbereich einer oder mehrerer Grundfreiheiten zugehörig.
9
EuGH, Rs. C-484/93, Slg. 1995, I-3955 ff. (3977 f., Rn. 19) – Svensson und Gustavsson.
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Kapitel 3: Grundfreiheiten
Beispiel nach EuGH, Rs. C-79/01, Slg. 2002, I-8923 – Payroll: Die Erstellung von Formularen stellt eine Dienstleistung dar. Wird sie durch eine Gesellschaft erbracht, die Bestandteil eines multinationalen Konzerns ist, so ist zugleich der Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit betroffen. In diesem Fall sind wiederum die Schutzbereiche beider Grundfreiheiten eröffnet.
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In manchen Fallkonstellationen ist für das betreffende Verhalten schwerpunktartig nur der Schutzbereich einer Grundfreiheit eröffnet bzw. hat eine Komponente offensichtlich lediglich Annexcharakter. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn im Zusammenhang mit dem Verkauf einer Ware eine vernachlässigenswerte Dienstleistung durch das Angebot einer zweiten Zustellung erbracht wird. In solchen Situationen ist der Schwerpunkt des betreffenden Verhaltens eindeutig der Warenverkehrsfreiheit zuzuordnen. Dann ist nur deren Schutzbereich eröffnet, nicht derjenige der Dienstleistungsfreiheit. Beispiel Goldene Aktien: Bei dem Transfer von Gründungskapital für eine Gesellschaft liegt Kapitalverkehr vor. Zugleich kann die Gründung einer Niederlassung betroffen sein, so dass die Schutzbereiche beider Grundfreiheiten eröffnet sind.10 Regelmäßig sieht der EuGH aber Beeinträchtigungen der Niederlassungsfreiheit als unmittelbare Folge der Hindernisse für den freien Kapitalverkehr und hält daher eine eigene Prüfung für entbehrlich.11
3. Kriterium des hinreichenden Unionsbezugs 221 Eine weitere Frage des sachlichen Schutzbereichs der Grundfreiheiten ist die des hinreichenden Unionsbezugs. Die Grundfreiheiten sind als Bestandteil des primären Unionsrechts supranationales Recht bzw. Völkerrecht im weiteren Sinne. Sie regeln nur Sachverhalte, die zumindest einen internationalen oder transnationalen Bezug aufweisen. Rein interne Sachverhalte mit ausschließlichem Bezug zu einem Mitgliedstaat werden dagegen von ihnen nicht erfasst. Der sachliche Schutzbereich der Grundfreiheiten ist mithin nur bei einem hinreichenden Unionsbezug eröffnet. Dieser hinreichende Bezug ist in aller Regel gegeben, wenn das betreffende Verhalten einen Grenzübertritt beinhaltet oder mit diesem zumindest zusammenhängt, nicht hingegen bei Inländerdiskriminierungen, also Ungleichbehandlungen, die nur die eigenen Staatsangehörigen benachteiligen.12 4. Schutzbereichsbegrenzungen 222 Die Bedeutung einer Schutzbereichsbegrenzung besteht darin, dass zwar der sachliche, personelle und räumliche Schutzbereich einer Grundfreiheit in Bezug auf ein bestimmtes Verhalten eröffnet, das betreffende Verhalten aber unter einen Ausnahmetatbestand zu subsumieren ist. In diesem Fall ist der sachliche Schutzbereich ausnahmsweise nicht eröffnet.
10 11 12
EuGH, Rs. C-463/00, Slg. 2003, I-4581 (4638, Rn. 85 f.) – Goldene Aktien IV (Kommission/Spanien). EuGH, Rs. C-171/08, EuZW 2010, 701 (706, Rn. 80) – Kommission/Portugal. Z.B. EuGH, Rs. 180/83, Slg. 1984, 2539 (2547, Rn. 14 f.) – Moser; näher zu aktuellen Entwicklungen BVerfG, JZ 2007, 354 sowie abl. dazu Frenz, JZ 2007, 343 zum Handwerksmeister.
B. Grundschema der Grundfreiheiten
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Im Bereich der Grundfreiheiten bestehen unterschiedliche Schutzbereichsbegrenzungen. Diese sind teilweise bereits im Vertrag festgelegt (sogenannte geschriebene Schutzbereichsbegrenzungen), teilweise auch durch die Rechtsprechung des EuGH bzw. die Rechtslehre entwickelt worden (sogenannte ungeschriebene Schutzbereichsbegrenzungen). Ausdrücklich festgelegte Schutzbereichsbegrenzungen haben die Personenverkehrsfreiheiten sowie die an diese stark angelehnte Dienstleistungsfreiheit. Da danach die jeweilige Grundfreiheit „keine Anwendung“ „findet“, handelt es sich nicht um einen Rechtfertigungsgrund,13 sondern der Schutzbereich ist nicht eröffnet. Die Produktverkehrsfreiheiten der Zollfreiheit, der Warenverkehrsfreiheit und der Kapitalverkehrsfreiheit dagegen sind nicht mit einer geschriebenen Schutzbereichsbegrenzung verbunden. Bestehen geschriebene Schutzbereichsbegrenzungen, bilden sie Ausnahmen zu den weit auszulegenden Schutzbereichen der Grundfreiheiten. Sie sind deswegen unionsweit und einheitlich im Sinne eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses eng auszulegen.14 Neben den geschriebenen Schutzbereichsbegrenzungen im Zusammenhang mit den Personenverkehrsfreiheiten existieren ungeschriebene Schutzbereichsbegrenzungen. Der EuGH hat diese in seiner Rechtsprechung vor allem für die Warenverkehrsfreiheit entwickelt. Zunächst werden die Grundsätze dieser Rechtsprechung dargestellt, dann wird ihre Übertragbarkeit auf andere Grundfreiheiten untersucht.
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5. Vertriebsbezogene Maßnahmen (Keck) Bloße Verkaufsmodalitäten beschränkende oder verbietende nationale Maßnah- 227 men können nur dann den Schutzbereich der Warenverkehrsfreiheit tangieren, wenn sie nicht unterschiedslos auf in- und EU-ausländische Produkte anwendbar sind oder sich auf deren Absatz rechtlich oder tatsächlich, nachteilig auswirken. 15 Aus der Entscheidung Keck ergibt sich die Unterteilung in produkt- und vertriebsbezogene nationale Maßnahmen. Die produktbezogenen Regelungen können ohne besondere Voraussetzungen den Schutzbereich der Warenverkehrsfreiheit berühren, während dies für allein vertriebsbezogene Maßnahmen nicht der Fall ist. Nationale Maßnahmen, die sich wie beispielsweise Ladenschlussgesetze nur auf den Vertrieb von Waren beziehen, ohne an das Produkt als solches anzuknüpfen, beeinträchtigen die Warenverkehrsfreiheit a priori nur bei diskriminierender Anwendung auf ausländische Produkte oder rechtlich bzw. tatsächlich nachteiliger Wirkung. Bei der Keck-Rechtsprechung handelt es sich somit um eine ungeschriebene Schutzbereichsbegrenzung der Warenverkehrsfreiheit.
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So Jarass, EuR 1995, 202 (221 ff.). Z.B. EuGH, Rs. 149/79, Slg. 1980, 3881 (3900, Rn. 10) – Kommission/Belgien; Rs. 66/85, Slg. 1986, 2121 (2147, Rn. 27) – Lawrie-Blum. EuGH, Rs. C-267 u. 268/91, Slg. 1993, I-6097 (6131, Rn. 16 f.) – Keck.
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Kapitel 3: Grundfreiheiten
228 Ob die ungeschriebene Schutzbereichsbegrenzung der Keck-Rechtsprechung auf andere Grundfreiheiten übertragen werden kann, ist umstritten. 16 Indes hat sich mittlerweile für die Grundfreiheiten in den Basisfragen eine weitestgehend einheitliche Dogmatik herausgebildet.17 Dies betrifft insbesondere die Annahme eines Beschränkungsverbotes.18 Dadurch ist der Schutzbereich im Ansatz derart erweitert, dass es an anderer Stelle notwendig einer Begrenzung bedarf, nicht zuletzt, um den grundsätzlich vorausgesetzten legislativen Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten zu erhalten. Diese Erweiterung betrifft unterschiedslos anwendbare, nur potenziell behindernde Maßnahmen. Parallel zur gleichmäßigen Ausdehnung des Schutzbereiches bei allen Grundfreiheiten bedarf es daher einer Übertragung der Keck-Rechtsprechung. Indem sie partiell unterschiedslos anwendbare, nicht tatsächlich behindernde Maßnahmen aus dem Schutzbereich der Grundfreiheiten a priori ausscheidet, ist sie auf sämtliche Beschränkungsverbote zugeschnitten, ohne die in jedem Fall gegebenen Diskriminierungsverbote ihrer Wirksamkeit zu berauben. Offene Diskriminierungen bilden weiterhin durchgehend eine Beeinträchtigung, für versteckte Diskriminierungen und Beschränkungen wird hingegen eine adäquate Begrenzung im Hinblick auf Maßnahmen geschaffen, die den Marktzugang nicht wirklich behindern. 6. Missbrauchsklausel 229 Eine weitere ungeschriebene Schutzbereichsbegrenzung sämtlicher Grundfreiheiten könnte für den Fall der missbräuchlichen Ausnutzung der Grundfreiheiten durch die Begünstigten bestehen. Verhaltensweisen, für die grundsätzlich der Schutzbereich einer Grundfreiheit eröffnet ist, würden dann nicht mehr in den betreffenden Schutzbereich fallen, wenn die Begünstigten die Grundfreiheit missbräuchlich ausnutzen. In dieser Hinsicht ist jedoch Vorsicht geboten. Zwar ist anerkannt, dass die missbräuchliche oder betrügerische Berufung auf Unionsrecht nicht gestattet ist.19 Grundsätzlich ist jedoch jedem Berechtigten die volle Ausschöpfung aller ihm durch die Grundfreiheiten und den Binnenmarkt eröffneten Möglichkeiten sowie des innerhalb der Union gegebenen Regelungsgefälles zwischen den Mitgliedstaaten gestattet. Diese stellt keinen Missbrauch dar. Deshalb ist die Annahme einer Schutzbereichsbegrenzung durch eine Missbrauchsklausel abzulehnen. Vielmehr ist im Einzelfall eine nationale Maßnahme, die der Missbrauchsabwehr dient, als Eingriff in den Schutzbereich zu qualifizieren und eine eventuelle Rechtfertigung der Maßnahme zu prüfen.
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Bejahend Kingreen, Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S. 62; Becker, NJW 1996, 179 (189); Kort, JZ 1996, 132 (136). Nur für eine gelockerte Verhältnismäßigkeitsprüfung Roth, in: Dauses, Handbuch des EUWirtschaftsrechts, E. I Rn. 129. S. bereits Jarass, EuR 1995, 202 ff. und EuR 2000, 705 ff. S.u. Rn. 233, 235. EuGH, Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 (1492, Rn. 24) – Centros.
B. Grundschema der Grundfreiheiten
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7. Bagatellgrenze Im Rahmen der Wettbewerbsregeln wird eine De-minimis-Regel zur Ausschei- 230 dung von Bagatellfällen herangezogen, durch die Maßnahmen ohne spürbaren Einfluss auf den grenzüberschreitenden Handel vom sachlichen Anwendungsbereich der Wettbewerbsfreiheit ausgenommen bleiben sollen. 20 Demgegenüber werden von den Grundfreiheiten auch geringfügige, sich nur potenziell auf den grenzüberschreitenden Verkehr auswirkende Maßnahmen erfasst, ohne dass eine spürbare Beeinträchtigung des innergemeinschaftlichen Handels erforderlich ist. 21 Die Begrenzung erfolgt bereichsweise über eine weitgehende Ausklammerung namentlich vertriebsbezogener Maßnahmen.22 III. Beeinträchtigung 1. Einordnung und Begrifflichkeit Nachdem auf der ersten Stufe der Prüfung einer Grundfreiheit festgestellt worden 231 ist, dass der Schutzbereich in sachlicher, personeller und räumlicher Hinsicht eröffnet ist und zudem keine Schutzbereichsbegrenzung vorliegt, ist auf der zweiten Stufe der Prüfung das Vorliegen einer Beeinträchtigung des Schutzbereichs zu untersuchen. Beide Stufen werden häufig in einem Schritt betrachtet, gehören sie doch eng zusammen und ist vielfach nur eine Stufe problematisch, entweder weil der Schutzgegenstand zum Beispiel in Form einer grenzüberschreitenden Warenverbringung offensichtlich gegeben ist oder eine beeinträchtigende Maßnahme auf der Hand liegt. Beeinträchtigungen des Schutzbereichs einer Grundfreiheit können sowohl durch nationale Maßnahmen eines Mitgliedstaates als auch durch Maßnahmen der Unionsorgane selbst erfolgen. Denn Normadressaten der Grundfreiheiten sind sowohl die einzelnen Mitgliedstaaten einschließlich ihnen im Einzelfall gleichzustellender Privater als auch die Unionsorgane selbst.23 Die Beeinträchtigung des Schutzbereichs ist nicht mit der Verletzung der 232 Grundfreiheit gleichzusetzen. Denn die Beeinträchtigung des Schutzbereichs kann gerechtfertigt sein, so dass im Ergebnis keine Verletzung der Grundfreiheit vorliegt. Anstelle des Begriffs „Eingriff“ wurde „Beeinträchtigung“ des Schutzbereichs gewählt, weil dies der – allerdings nicht einheitlichen – Terminologie des EuGH entspricht.24 Zudem werden durch den Unterschied in der Terminologie pauschale Übertragungen der deutschen Grundrechtsdogmatik vermieden. 2. Diskriminierungs- und allgemeines Beschränkungsverbot Einigkeit besteht darin, dass alle Grundfreiheiten ursprünglich Diskriminierungs- 233 verbote im Sinne eines Gleichheitsrechts darstellten und sowohl offene als auch versteckte Diskriminierungen erfassen. Der EuGH nimmt mittlerweile bei allen 20 21 22 23 24
So die st. Rspr. des EuGH, Rs. 5/69, Slg. 1969, 295 (302, Rn. 7) – Völk/Vervaecke. EuGH, Rs. 16/83, Slg. 1984, 1299 (1326, Rn. 20) – Prantl. S. vorstehend Rn. 227 f. Etwa EuGH, Rs. C-51/93, Slg. 1994, I-3879 (3898, Rn. 11) – Meyhui. S. EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 (5068, Rn. 92) – Bosman.
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Kapitel 3: Grundfreiheiten
Grundfreiheiten zudem ein Beschränkungsverbot an.25 Dies erklärt sich insbesondere daraus, dass nur so der grenzüberschreitende Wettbewerb wirksam sichergestellt werden kann. Dabei bedarf es aber einer Begrenzung auf tatsächliche Auswirkungen auf den Marktzugang, da nur insoweit eine Schutzlücke im Rahmen des Diskriminierungsverbotes besteht. 26 In jedem Fall stellen offene und versteckte Diskriminierungen Beeinträchtigun234 gen des Schutzbereichs aller Grundfreiheiten dar. Eine Diskriminierung setzt eine Ungleichbehandlung voraus. Eine solche ist nach der Rechtsprechung des EuGH gegeben, wenn unterschiedliche Vorschriften auf gleichartige oder zumindest vergleichbare Situationen angewendet werden oder dieselbe Vorschrift auf unterschiedliche Situationen angewendet wird.27 Offene Diskriminierungen werden gleichbedeutend als unmittelbare, formale oder rechtliche Diskriminierungen bezeichnet. Für versteckte Diskriminierungen werden auch die Formulierungen mittelbare, materielle oder faktische Diskriminierung verwendet.28 Als allgemeine Beschränkungsverbote können die Grundfreiheiten auch durch 235 nationale Regelungen beeinträchtigt werden, die keine Diskriminierung darstellen. Dies sind Maßnahmen, die für In- und Ausländer gleichermaßen gelten, die Ausübung der durch die Grundfreiheiten geschützten Tätigkeiten jedoch weniger attraktiv machen oder nur potenziell behindern. Aktivem staatlichen Tun sind Unterlassungen gleichzustellen, wenn eine Rechtspflicht zum Handeln besteht. 3. Private Maßnahmen 236 Maßnahmen Privater können grundsätzlich die Grundfreiheiten nicht beeinträchtigen, da keine unmittelbare Drittwirkung besteht. Eine Ausnahme für alle Grundfreiheiten besteht dann, wenn sich Private in einer staatlichen Einheiten vergleichbaren Position befinden.29 Dann aber sind sie diesen gleichgestellt und deshalb aus den Grundfreiheiten verpflichtet. Auf gleichgeordnete Rechtsbeziehungen zwischen Privaten findet hingegen nur die Arbeitnehmerfreizügigkeit infolge ihrer Schutzfunktion Anwendung, aber entsprechend der Reichweite von Art. 157 AEUV lediglich auf Diskriminierungen. Somit können nur diskriminierende Maßnahmen des Arbeitgebers gegenüber seinen Arbeitnehmern die Arbeitnehmerfreizügigkeit beeinträchtigen.30 Gerade infolge der Schutzfunktion der Arbeitnehmerfreizügigkeit können aber auch Unterlassungen Beeinträchtigungen bilden, die von Privaten ausgehen. Ein Beispiel bilden Schikanen von Kollegen im Betrieb gegenüber Arbeitern aus anderen Mitgliedstaaten, die nicht unterbunden werden.
25 26 27 28 29 30
S. z.B. jüngst EuGH, Rs. C-171/08, EuZW 2010, 701(704 f., Rn. 50, 67) – Kommission/Portugal (Goldene Aktien). S.o. Rn. 228. EuGH, Rs. C-279/93, Slg. 1995, I-225 (259, Rn. 30) – Schumacker. Ehlers, Jura 2001, 266 (270). Z.B. EuGH, Rs. 36/74, Slg. 1974, 1405 – Walrave; Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 – Bosman. S. die Konstellation in EuGH, Rs. C-281/98, Slg. 2000, I-4139 – Angonese.
B. Grundschema der Grundfreiheiten
69
IV. Rechtfertigung von Eingriffen 1. Systematik Ergibt die Prüfung, dass eine Beeinträchtigung des Schutzbereichs einer Grund- 237 freiheit vorliegt, stellt sich die Frage nach der Rechtfertigung dieser Beeinträchtigung. Ist sie zu bejahen, so liegt im Ergebnis keine Verletzung der betreffenden Grundfreiheit vor. Die Rechtfertigung von Beeinträchtigungen einer Grundfreiheit kann auf geschriebenen oder ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen beruhen. Die Unterscheidung ist insoweit von Bedeutung, als nur geschriebene Rechtfertigungsgründe offene Diskriminierungen zu rechtfertigen vermögen. Die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe dagegen sind nur im Bereich der unterschiedslosen Maßnahmen anwendbar.31 Das gilt auch für versteckte bzw. mittelbare Diskriminierungen.32 Tabelle: Rechtfertigungsgründe
238
geschriebene:
ungeschriebene:
für alle Beeinträchtigungen heranziehbar
nur für Beschränkungen und versteckte Diskriminierungen, nicht offene Diskriminierungen (Ausnahme: Umweltschutz)
2. Geschriebene Rechtfertigungsgründe Geschriebene Rechtfertigungsgründe sind im AEUV festgelegte Rechtspositio- 239 nen, aufgrund derer Beeinträchtigungen des Schutzbereichs der betreffenden Grundfreiheit bei Beachtung der Rechtfertigungsschranken zulässig sind. Das sind aber nur die bei der jeweils beeinträchtigten Grundfreiheit angesiedelten, die insoweit spezifisch „Beschränkungen“ zulassen. Nicht dazu gehören hingegen die an anderer Stelle platzierten Gesichtspunkte wie der Umweltschutz oder die Grundrechte. Sie sind zwar auch im Vertrag „geschrieben“ bzw. nach Art. 6 Abs. 1 EUV gleichgestellt, aber nicht als Rechtfertigungsgründe für die Beeinträchtigung einer Grundfreiheit. Daher bilden sie ungeschriebene Rechtfertigungsgründe.33 Die für die jeweilige Grundfreiheit geltenden geschriebenen Rechtfertigungs- 240 gründe vermögen jegliche Art von Beeinträchtigungen des Schutzbereichs zu rechtfertigen. Dies gilt sowohl für offene als auch für versteckte bzw. mittelbare Diskriminierungen und allgemeine Beschränkungen. Der Wortlaut der entsprechenden Vorschriften ist insoweit nicht beschränkt, sondern offen.
31 32 33
EuGH, Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165 (4197 f., Rn. 37) – Gebhard; Rs. C-424/97, Slg. 2000, I-5123 (5166, Rn. 57) – Haim. Etwa EuGH, Rs. C-388/01, Slg. 2003, I-721 (740, Rn. 21) – Kommission/Italien; Rs. C-55/98, Slg. 1999, I-7641 (7665, Rn. 21 ff.) – Vestergaard. Z.B. EuGH, Rs. C-209/98, Slg. 2000, I-3743 (3793, Rn. 48) – Sydhavnens Sten & Grus/Kopenhagen für den Umweltschutz; Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 (5718, Rn. 74) – Schmidberger (Brenner-Blockade).
70
Kapitel 3: Grundfreiheiten
3. Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe 241 Neben den geschriebenen Rechtfertigungsgründen existieren auch ungeschriebene Rechtfertigungsgründe. Das sind die berechtigten Interessen, die Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten legitimieren, ohne eigens gerade zu diesem Zweck für die konkret betroffene Grundfreiheit normativ festgelegt worden zu sein. Dazu gehören die Unionspolitiken und die Grundrechte. Die Figur der ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe wurde vom EuGH im Rahmen der Warenverkehrsfreiheit in der Cassis-Entscheidung34 begründet und gilt mittlerweile im Bereich aller Grundfreiheiten. Umstritten ist, ob es sich bei dogmatischer Betrachtung dieser Konstruktion nicht doch um eine Schutzbereichsbegrenzung handelt. 35 Zwingende Gründe des Allgemeininteresses bilden traditionell die wirksame 242 steuerliche Kontrolle, der Schutz der öffentlichen Gesundheit, die Lauterkeit des Handelsverkehrs und der Verbraucherschutz. In späteren Entscheidungen nannte der EuGH auch den Umweltschutz36 sowie sonstige weitere Gründe wie die Medienvielfalt37 und die Verhinderung einer Gefährdung des Systems sozialer Sicherheit.38 V. Rechtfertigungsschranken 1. Klassifikation 243 Sofern der Schutzbereich einer Grundfreiheit beeinträchtigt wird und eine Rechtfertigung aufgrund geschriebener oder ungeschriebener Rechtfertigungsgründe in Betracht kommt, sind auf der letzten Stufe der Prüfung die Rechtfertigungsschranken zu berücksichtigen. Diese entsprechen systematisch in etwa den sogenannten Schranken-Schranken bei der Prüfung von Grundrechten in der deutschen Staatsrechtslehre. Als Grenzen einer Einschränkung der Grundfreiheiten sind insbesondere das Diskriminierungsverbot sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren,39 der gerade auch die praktische Konkordanz begrenzt.40 Ansonsten wird die beeinträchtigte Grundfreiheit verletzt. Das gilt sowohl für geschriebene als auch für ungeschriebene Rechtfertigungsgründe, da es sich insoweit um Grundanforderungen jeder Legitimation von Beschränkungen einer Grundfreiheit handelt.
34 35 36 37 38 39 40
EuGH, Rs. 120/78, Slg. 1979, 649 (662, Rn. 8) – Cassis. Etwa Müller-Graff, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 28 Rn. 190; abl. Frenz, Europarecht 1, Rn. 396 ff. EuGH, Rs. 240/83, Slg. 1985, 531 (549 f., Rn. 15) – ADBHU. EuGH, Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689 (3715, Rn. 18) – Familiapress. EuGH, Rs. C-120/95, Slg. 1998, I-1831 (1885, Rn. 40) – Decker. Etwa EuGH, Rs. 220/81, Slg. 1982, 2349 (2361, Rn. 11 f.) – Robertson; Rs. 261/81, Slg. 1982, 3961 (3973 f., Rn. 17 f.) – Rau/De Smedt. Vgl. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, Rn. 72, 318.
B. Grundschema der Grundfreiheiten
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2. Diskriminierungsverbot Art. 36 S. 2 AEUV legt ebenso wie Art. 65 Abs. 3 AEUV als Rechtfertigungs- 244 schranke das Verbot der willkürlichen Diskriminierung und der verschleierten Beschränkung fest. Insoweit handelt es sich um besonders gravierende Beeinträchtigungen, die gegen das Grundsystem der Grundfreiheiten verstoßen und daher nicht gerechtfertigt sein können. Daher ist diese Rechtsfertigungsschranke auch auf andere Grundfreiheiten übertragbar. Jedenfalls im Ergebnis kommt eine Rechtfertigung nicht in Betracht, wenn eine willkürliche Diskriminierung oder eine verschleierte Beschränkung vorliegt. Dann fehlen aber regelmäßig bereits die Geeignetheit bzw. die Erforderlichkeit der Maßnahme, so dass diese spätestens an der Verhältnismäßigkeitskontrolle scheitert. 3. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Das Übermaßverbot setzt voraus, dass eine beeinträchtigende Maßnahme auf 245 einem legitimen Zweck beruht und zu dessen Erreichung geeignet, erforderlich sowie angemessen ist. Im Rahmen der Prüfung durch den EuGH liegt der Schwerpunkt allerdings, anders als im Rahmen des deutschen Staats- und Verwaltungsrechts,41 regelmäßig auf der Prüfung der Erforderlichkeit.42 Anderes gilt, wenn es spezifisch um den Ausgleich aufeinanderprallender Belange geht. Dies ist vor allem im Rahmen der grundfreiheitlichen Schutzpflichten der Fall, wenn gegenläufige Grundrechte existieren. Hier prüft der EuGH mittlerweile die Angemessenheit ausgiebig.43 Den Mitgliedstaaten steht bei der Einschätzung der Verhältnismäßigkeit einer 246 Maßnahme ein erheblicher Spielraum zu. In besonderem Maße gilt dies für den Ausgleich im Rahmen von Schutzpflichten aufeinanderprallender Grundfreiheiten und Grundrechte, die beide einschränkbar sind,44 aber auch darüber hinaus bei komplexen Einschätzungen. Ihre Überlegungen müssen die staatlichen Stellen aber näher begründen und kohärent gestalten.45 Der EuGH verlangt substanziierte, sachliche vertretbare Darlegungen und prüft diese recht gründlich. 46 Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der Rechtfertigungsvoraussetzungen bei Beeinträchtigungen einer Grundfreiheit tragen die Mitgliedstaaten, machen sie doch eine Ausnahme von der regelmäßigen Freiheit der Marktbürger geltend.
41 42 43 44 45 46
S. z.B. BVerfGE 65, 1 (48 ff.) – Volkszählung. Z.B. EuGH, Rs. C-108/96, Slg. 2001, I-837 (866 f., Rn. 26) – Mac Quen. EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 (5720 f., Rn. 82 ff.) – Schmidberger (BrennerBlockade); näher u. Rn. 265 f. EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 (5720, Rn. 81 ff.) – Schmidberger (BrennerBlockade). S. EuGH, Rs. C-171 u. 172/07, EuZW 2009, 409 (411, Rn. 42) – DocMorris; zum Gleichspiel jüngst Heidfeld, DVBl. 2010, 1547. S. EuGH, Rs. C-209/98, Slg. 2000, I-3743 (3793, Rn. 46 ff.; 3800 f., Rn. 78 ff.) – Sydhavnens Sten & Grus/Kopenhagen sowie u. Rn. 325 zum Fall Bressol.
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Kapitel 3: Grundfreiheiten
4. Bedeutung der Grundrechte 247 Geht es um die unionsrechtliche Rechtfertigung von Maßnahmen, dürfen diese nicht gegen die europäischen Grundrechte als Bestandteil des Unionsrechts verstoßen.47 Das gilt zumal dann, wenn man die Grundfreiheiten und die Grundrechte als Teil eines Gesamtsystems zur Sicherung vor allem wirtschaftlicher Freiheit sieht. Zwar finden die europäischen Grundrechte auf infrage stehende nationale Maßnahmen keine direkte Anwendung, sofern sie nicht in Umsetzung bzw. Durchführung des Unionsrechts ergangen sind. Indes geraten diese mitgliedstaatlichen Handlungen dadurch in den Focus des Unionsrechts, dass sie die Grundfreiheiten beeinträchtigen. Ob dies im Einzelfall gerechtfertigt ist, beurteilt sich nach europarechtlichen Maßstäben, zu denen auch die europäischen Grundrechte gehören. Besondere Bedeutung kommt ihnen bei der Rechtfertigung staatlicher Unterlassungen im Rahmen grundfreiheitlicher Schutzpflichten zu.48 VI. Prüfungsschema 248 Vorfrage: keine Totalharmonisierung, da ansonsten Prüfung von Einzelakten nur am Sekundärrecht 1. Schutzbereich a) Eröffnung aa) Sachlich: Schutzgüter der jeweiligen Grundfreiheit bb) Persönlich: Frage der Berechtigung cc) Räumlich: Art. 52 EUV, Art. 349 AEUV b) Keine Schutzbereichsbegrenzung aa) Geschrieben: Art. 45 IV, 51 AEUV bb) Ungeschrieben: Keck-Rspr.; nicht Cassis-Formel, Missbrauchs- oder Bagatellgrenze 2. Beeinträchtigung a) Beschränkungen - offene Diskriminierungen - versteckte Diskriminierungen und unterschiedslose Beschränkungen b) Durch „staatliches“ Tun oder Unterlassen durch - Mitgliedstaaten - Unionsorgane - Private in der Regel nur bei Stellung wie Staat 47 48
Grundlegend EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I-2925 (2964, Rn. 43 f.) – ERT. EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 (5718 f., Rn. 74 ff.) – Schmidberger (BrennerBlockade); s.u. Rn. 262 ff.
C. Zollfreiheit 3. Rechtfertigungsgründe geschriebene
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ungeschriebene
4. Rechtfertigungsschranken a) Verbot willkürlicher Diskriminierungen b) Verhältnismäßigkeit c) Wesensgehalt d) Grundrechte u. sonstiges Primärrecht
C. Zollfreiheit I. Abgrenzung und Stand Die Zollfreiheit ist neben der Warenverkehrsfreiheit die Hauptstütze des freien 249 Warenverkehrs. Die sie prägenden Elemente wurden von der Rechtsprechung schon früh herausgearbeitet. Immer wieder Schwierigkeiten bereitete insbesondere die Abgrenzung von zollgleichen und steuerlichen Abgaben, um Art. 30 und 110 AEUV auseinander zu halten. Die Zollunion ist entsprechend dem ursprünglich vertraglich vorgesehenen Stufenplan bereits weitestgehend verwirklicht. Die Verwirklichung der Zollunion ist maßgeblich durch den Zollkodex49 nebst Durchführungsverordnung (ZKDV) 50 und den Gemeinsamen Zolltarif erfolgt.51 II. Erfasste Waren Der gegenständliche Anwendungsbereich der Zollfreiheit entspricht gemäß 250 Art. 28 Abs. 2 AEUV und mangels eigener Definition im Zollkodex52 dem der
49
50
51
52
VO (EWG) Nr. 2913/92 des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften vom 12.10.1992, ABl. L 302, S. 1. Diese wird bis spätestens zum 24.6.2013 ersetzt durch VO (EG) Nr. 450/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.4.2008 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaft (Modernisierter Zollkodex). Sofern Bestimmungen im Wesentlichen unverändert übernommen wurden, kann für deren Auslegung auf die Rspr. des EuGH zur früheren Regelung zurückgegriffen werden. Vgl. Lux, in: Lenz/Borchardt, Art. 28 AEUV Rn. 29. VO (EWG) Nr. 2454/93 der Kommission vom 2.6.1993 mit Durchführungsvorschriften zu der VO (EWG) Nr. 2913/92 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften, ABl. L 253, S. 1. Diese wird ebenfalls bis spätestens zum 24.6.2013 ersetzt. Vgl. außerdem die Leitlinien der Kommission, ABl. 2001 C 269, S. 1. Zu Stellungnahmen des Ausschusses für den ZK zudem EuGH, Rs. C-11/05, Slg. 2006, I-4285 – Friesland Coberco. Zu den im ZK und im GZT getroffenen Regelungen und zum Verfahren ausführlich Lux, in: Lenz/Borchardt, Art. 28 AEUV Rn. 29 ff. auch zum Modernisierten Zollkodex (MZK). S. Kampf, in: Witte, Zollkodex, 5. Aufl. 2009, Art. 37 Rn. 2.
74
Kapitel 3: Grundfreiheiten
Warenverkehrsfreiheit. Waren sind bewegliche Sachen mit Geldwert, die Gegenstand des Handelsverkehrs sein können.53 Erfasst werden gemäß Art. 28 Abs. 2 AEUV nur Waren aus den Mitgliedstaa251 ten sowie aus dritten Ländern, die sich in den Mitgliedstaaten im freien Verkehr befinden. Die erste Gruppe bilden die ursprünglichen Unionswaren, die zweite die gekorenen Unionswaren, die erst einen zollrechtlichen Statuswechsel durchlaufen haben müssen, um zu Unionswaren zu werden. Waren aus den Mitgliedstaaten stammen aus dem Gebiet der EU bzw. sind 252 aus Produkten zusammengesetzt, die aus einem EU-Staat herrühren oder aus einem Drittstaat kommen, aber sich bereits in der Union im freien Verkehr befunden haben (s. Art. 4 Nr. 7 ZK/Art. 4 Nr. 18 MZK). Waren aus Drittstaaten sind aus Nichtmitgliedstaaten und haben ihren Ursprung daher außerhalb der EU (siehe Art. 4 Nr. 8 ZK/Art. 4 Nr. 19 MZK). Dabei genügt ein Teilursprung von außerhalb der EU. Sobald ein Teil der Ware von einem Drittstaat stammt, ohne bereits vor dem Zeitpunkt der Hinzufügung zu dem Gesamtprodukt im freien Verkehr gewesen zu sein, handelt es sich daher insgesamt um eine Nichtunionsware. III. Bedeutung und Entwicklung 1. Zölle und zollgleiche Abgaben als Behinderung des Warenverkehrs 253 Die Zollfreiheit schützt gemäß Art. 30 AEUV vor Ein- und Ausfuhrzöllen einschließlich der Finanzzölle sowie vor Abgaben gleicher Wirkung. Diese Abgaben müssen mithin denselben Effekt haben wie Zölle und auf diese Weise zollgleich sein, zumal Art. 110 AEUV unter den steuerlichen Vorschriften die Erhebung von unmittelbar oder mittelbar höheren Abgaben gleich welcher Art für ausländische als für inländische Waren verbietet. Da sich Zölle als Geldleistungspflichten von Steuern nicht wesensmäßig unter254 scheiden,54 bedarf es einer formalen oder zweckbezogenen Abgrenzung. Im Rahmen der unionsrechtlichen Zollfreiheit geht es um die Verhinderung von einseitigen finanziellen Belastungen anlässlich des Grenzübertritts.55 Diese behindern nämlich unabhängig von ihrer Höhe, Bezeichnung und der Art ihrer Erhebung den innereuropäischen Warenverkehr.56 Damit ist die Zielrichtung der Zollfreiheit entsprechend dem Titel, in dem sie unionsrechtlich festgelegt ist, bestimmt und zugleich die Abgrenzung gesichert. Um den Warenaustausch nicht negativ zu beeinflussen, sind staatliche finanzielle Belastungen wegen des Grenzübertritts in allen möglichen Ausprägungen verboten.57 Art. 110 AEUV dagegen untersagt die Schlechterstellung ausländischer Unionswaren im Rahmen eines inländischen Abgabensystems. 53
54 55 56 57
Vgl. bereits EuGH, Rs. 7/68, Slg. 1968, 633 (642) – Kunstschätze I (Kommission/Italien); später etwa sehr weit Rs. C-2/90, Slg. 1992, I-4431 (4478, Rn. 23) – Wallonische Abfälle zur Warenverkehrsfreiheit. BVerfGE 8, 260 (269). EuGH, Rs. 2 u. 3/69, Slg. 1969, 211 (222, Rn. 15/18) – Diamantarbeiders. EuGH, Rs. 87/75, Slg. 1976, 129 (138, Rn. 8/9) – Bresciani. EuGH, Rs. 87/75, Slg. 1976, 129 (138, Rn. 8/9) – Bresciani.
D. Die Warenverkehrsfreiheit
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2. Reduktion auf ein Zollverbot Mittlerweile beschränkt sich die Zollfreiheit nach Art. 30 AEUV auf das Verbot 255 von Zöllen und Abgaben gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten. Diese darf es damit einfach nicht mehr geben. Also handelt es sich um ein reines Beschränkungsverbot. Eine Ungleichbehandlung im Vergleich zu einheimischen Waren braucht im Gegensatz zu Art. 110 AEUV nicht festgestellt zu werden. Sie liegt allein schon in der Belastung anlässlich des Überschreitens der Grenze, welche inländische Erzeugnisse nicht passieren müssen.
D. Die Warenverkehrsfreiheit I. Waren Art. 34 AEUV verbietet mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen von Waren 256 sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung. Waren sind handelsfähige, bewegliche, körperliche Gegenstände, 58 denen in Behältern oder Leitungen transportierte und dadurch abgrenzbare flüssige und gasförmige Stoffe sowie Elektrizität59 gleichzustellen sind. Auf dieser Basis lassen sich auch Abgrenzungen vor allem zu den Dienstleistungsvorschriften bewältigen. Unter den Warenbegriff fallen nach sowohl gewerbliche als auch landwirtschaftliche Erzeugnisse (Art. 38 Abs. 2 AEUV),60 Kulturgüter mit kommerziellem Wert,61 Druckerzeugnisse,62 audiovisuelle Produkte in verkörperter Form, 63 aber auch Tiere64 und Samen.65 II. Verbot Eine Maßnahme gleicher Wirkung ist grundsätzlich jede Handelsregelung eines 257 Mitgliedstaates, die geeignet ist, den Handel in der Union unmittelbar oder mittelbar, aktuell oder potenziell zu behindern.66 Vertriebsbezogene Maßnahmen, das heißt solche, die bestimmte Verkaufsmodalitäten beschränken oder verbieten, fallen darunter nur bei hinreichendem Produktbezug; sie müssen tatsächlich nachteilige Wirkungen auf den Warenverkehr haben. 67 Wird die Warenverkehrsfreiheit tangiert, bedarf es der Rechtfertigung.
58 59 60 61 62 63 64 65 66 67
S.o. Rn. 250. EuGH, Rs. C-393/92, Slg. 1994, I-1477 (1516, Rn. 28) – Almelo. EuGH, Rs. 63/74, Slg. 1975, 281 (291, Rn. 10/11) – Cadsky. EuGH, Rs. 7/68, Slg. 1968, 633 (642) – Kunstschätze I (Kommission/Italien). EuGH, Rs. 18/84, Slg. 1985, 1339 (1347, Rn. 12) – Kommission/Frankreich. EuGH, Rs. 55 u. 57/80, Slg. 1981, 147 – GEMA; Rs. 60 u. 61/84, Slg. 1985, 2605 (2623, Rn. 10) – Cinéthèque. Vgl. die Schlussanträge des GA Fennelly, EuGH, Rs. C-202/94, Slg. 1996, I-355 – van der Feesten. EuGH, Rs. C-323/93, Slg. 1994, I-5077 (5107, Rn. 29 ff.) – La Crespelle. EuGH, Rs. 8/74, Slg. 1974, 837 (852, Rn. 5) – Dassonville. EuGH, Rs. C-267/91, Slg. 1993, I-6097 (6131, Rn. 16 f.) – Keck, s.o. Rn. 227 f.
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Kapitel 3: Grundfreiheiten
Übersicht: Rechtfertigung von Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit
258
Rechtfertigungsgrund
Rechtfertigung im Einzelnen
Art. 36 AEUV nennt insbesondere: • Gründe der öffentlichen Sicherheit und Ordnung • Schutz der Gesundheit und des Lebens von Menschen • Schutz des gewerblichen und kommerziellen Eigentums Immanente Schranken (Cassis-Formel)68 sind vor allem folgende zwingende nationale Erfordernisse: • wirksame steuerliche Kontrollen • Schutz der öffentlichen Gesundheit • Lauterkeit des Handelsverkehrs • Verbraucherschutz sowie Umweltschutz69
• keine willkürliche Diskriminierung • Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Geeignetheit Erforderlichkeit Angemessenheit
259
Die immanenten Schranken werden teilweise als tatbestandsausschließend angesehen.70 Jedenfalls wird zunächst die Antastung der Warenverkehrsfreiheit geprüft. Daher geht es in der Sache um deren Legitimation, mithin um die Rechtfertigung. Dabei sind die geschriebenen Gründe vor den ungeschriebenen zu prüfen, zumal Erstere auch offene Diskriminierungen ermöglichen können. 71
260
Fall nach EuGH, Rs. 178/84, Slg. 1987, 1227 – Reines Bier: In der Bundesrepublik Deutschland erlaubt ein Gesetz nur das Inverkehrbringen solcher Getränke als Bier, die nach dem auf das Jahr 1516 zurückgehenden deutschen „Reinheitsgebot“ gebraut wurden. Eine niederländische Firma möchte ihr nach anderem Rezept hergestelltes, in den Niederlanden legal vertriebenes „Bier“ auch in Deutschland verkaufen. Sie fragt Sie, ob die deutsche Regelung gegen Art. 34 AEUV verstößt. Lösungsaufbau: I. Einschränkung der Warenverkehrsfreiheit II. Rechtfertigung 1. Rechtfertigungsgrund a) Rechtfertigungsgrund nach Art. 36 AEUV b) Immanente Schranken 2. Rechtfertigung im Einzelnen a)
Wahrung des Diskriminierungsverbotes
b) Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes aa) Geeignetheit bb) Erforderlichkeit III. Ergebnis
68 69 70 71
EuGH, Rs. 120/78, Slg. 1979, 649 (662, Rn. 8) – Cassis. S.o. Rn. 241 f. EuGH, Rs. 302/86, Slg. 1988, 4607 (4630, Rn. 8 ff.) – Dänische Pfandflaschen; Rs. 240/83, Slg. 1985, 531 (549, Rn. 13) – ADBHU. S.o. Rn. 241 a.E. S.o. Rn. 237.
D. Die Warenverkehrsfreiheit
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Lösungsvorschlag: I. Einschränkung der Warenverkehrsfreiheit Art. 34 AEUV verbietet mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen sowie alle Maßnahmen gleicher Wirkung zwischen den Mitgliedstaaten. Eine Maßnahme gleicher Wirkung ist, wie festgestellt, jede Handelsregelung eines Mitgliedstaates, die geeignet ist, den Handel in der Union unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell zu behindern. Dass in Deutschland nur nach dem deutschen Reinheitsgebot gebraute Getränke als Bier verkauft werden dürfen, kann den Absatz von in anderen Mitgliedstaaten nach einem davon differierenden Rezept hergestellten „Bieren“ behindern. Die Warenverkehrsfreiheit ist somit beeinträchtigt. II. Rechtfertigung Die Einschränkung wäre gerechtfertigt, wenn ein Rechtfertigungsgrund bestünde und dieser im Einzelnen durchgreifen würde. 1. Rechtfertigungsgrund a) Rechtfertigungsgrund nach Art. 36 AEUV Art. 36 AEUV rechtfertigt Beeinträchtigungen von Art. 34 AEUV unter anderem zum Schutz der Gesundheit. Diese ist indes durch den Genuss anderer als nach dem bayerischen Reinheitsgebot gebrauter Biersorten nicht bedroht. Art. 36 AEUV scheidet daher als Rechtfertigungsgrund aus. b) Immanente Schranken Es könnten aber immanente Schranken eingreifen. Diese beruhen auf folgender Überlegung: Solange eine Harmonisierung auf Unionsebene für einen bestimmten Bereich noch nicht erfolgt ist, sind den nationalen Rechtsordnungen Unterschiede und Besonderheiten immanent, die für das innerstaatliche System von fundamentaler Bedeutung sein können. Daher müssen Hemmnisse für den Binnenhandel hingenommen werden, die sich aus den Unterschieden der nationalen Regelungen ergeben, soweit diese Bestimmungen notwendig sind, um konkreten zwingenden Erfordernissen gerecht zu werden. Solche zwingenden Erfordernisse sind unter anderem die Lauterkeit des Handelsverkehrs und der Verbraucherschutz. Die Lauterkeit des Handelsverkehrs und der Verbraucherschutz könnten hier insoweit eingreifen, als der Verbraucher beim Vertrieb von nicht nach dem Reinheitsgebot hergestellten Bieren in der Bundesrepublik Deutschland diese nicht erkennen würde, diese ihm mithin sozusagen stillschweigend untergejubelt würden. Der Verbraucher verbindet mit dem bislang in Deutschland ausschließlich vertriebenen Bier bestimmte Eigenschaften. Daher ist es zur Wahrung der Lauterkeit des Handelsverkehrs und zum Schutz der Verbraucher vom Grunde her gerechtfertigt, Verbrauchern, die aus bestimmten Grundstoffen hergestelltem Bier besondere Eigenschaften zuschreiben, die Möglichkeit zu geben, die Wahl unter diesem Gesichtspunkt zu treffen. 2. Rechtfertigung im Einzelnen a) Wahrung des Diskriminierungsverbotes Damit eine nationale Maßnahme im Einzelfall gerechtfertigt sein kann, muss sie das Diskriminierungsverbot wahren. Das bedeutet, dass sie auf inländische und ausländische Ware unterschiedslos anwendbar sein muss. Formal werden hier die deutschen und die ausländischen Biere gleich behandelt, da sie beide dem Reinheitsgebot entsprechen müssen. Das Diskriminierungsverbot ist von daher gewahrt. b) Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Eine die Warenverkehrsfreiheit einengende mitgliedstaatliche Maßnahme aus zwingenden nationalen Erfordernissen muss zudem den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahren. aa) Geeignetheit Die Maßnahme muss zunächst für den verfolgten Zweck geeignet sein, d.h. ihn fördern können. Ein gänzliches Verkehrsverbot für nicht dem Reinheitsgebot entsprechende „Biere“ vermeidet Verwechslungen.
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Kapitel 3: Grundfreiheiten
bb) Erforderlichkeit Des Weiteren muss die Maßnahme erforderlich sein. Es darf also kein milderes Mittel geben, mithin ein solches, das das angestrebte Ziel mit weniger einschneidenden Beeinträchtigungen zu erreichen vermag. Um Verwechslungen zu vermeiden und den Verbraucher über die Zusammensetzung des von ihm als Bier gekauften Getränkes aufzuklären, genügt es, wenn die in Verkehr gebrachten Erzeugnisse ausreichend gekennzeichnet werden. Das kann sichergestellt werden „insbesondere durch die Verpflichtung zu einer angemessenen Etikettierung hinsichtlich der Art des verkauften Erzeugnisses. Durch die Angabe der bei der Bierzubereitung verwendeten Grundstoffe würde der Verbraucher in die Lage versetzt, seine Wahl in Kenntnis aller Umstände zu treffen; auch die Transparenz der Handelsgeschäfte und der Angebote an die Verbraucher würde dadurch sichergestellt.“72 Da somit ein milderes Mittel existiert, das den angestrebten Erfolg erreichen kann, ist ein Verbot nicht dem deutschen Reinheitsgebot entsprechender Biere nicht erforderlich und damit unverhältnismäßig. III. Ergebnis Die Regelung, dass nur dem Reinheitsgebot entsprechende Biere als solche in Verkehr gebracht werden dürfen, beeinträchtigt die Warenverkehrsfreiheit und ist wegen fehlender Erforderlichkeit nicht gerechtfertigt. Sie verstößt daher gegen Art. 34 AEUV.
III. Schutzpflichten 261 Den Mitgliedstaaten obliegen weitergehend Schutzpflichten. Neben positivem staatlichem Verhalten und zurechenbaren Verhaltensweisen Privater können auch staatliche Unterlassungen eine Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit darstellen. Beispiel nach EuGH, Rs. C-265/95, Slg. 1997, I-6959 (6999, Rn. 32 ff.) – Kommission/Frankreich (Agrarblockaden): Agrarimporte nach Frankreich wurden über einen Zeitraum von mehreren Jahren durch empörte Privatpersonen aus der französischen Landwirtschaft an bzw. kurz nach der Grenze gestoppt und festgehalten, bis die Waren verdorben waren. Teilweise wurden die Waren auch direkt vernichtet. Die französische Republik unternahm nichts gegen diese Übergriffe Privater. Strafrechtliche Ermittlungsverfahren gegen die verantwortlichen Personen wurden teilweise gar nicht eingeleitet und führten im Übrigen nicht zur Belangung der betreffenden Personen. Diese Untätigkeit wertete der EuGH als eine Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit. Dem betreffenden Mitgliedstaat kommt eine Verpflichtung zu, die Warenverkehrsfreiheit auch gegen Übergriffe durch Private zu schützen. Welche Maßnahmen die jeweiligen Mitgliedstaaten dabei zum Schutz der Warenverkehrsfreiheit ergreifen, steht in ihrem Ermessen. Ein vollkommenes Unterlassen jeglicher Schutzmaßnahme verletzt jedoch die Warenverkehrsfreiheit.
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Im Urteil Schmidberger73 ging es um die Frage, ob die staatliche Duldung einer Demonstration, die zu einer 30-stündigen Blockade der Brenner-Autobahn führte, eine Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit darstellt. Der EuGH wies den Mitgliedstaaten wiederum eine Schutzpflicht aus der Warenverkehrsfreiheit i.V.m. Art. 4 Abs. 3 EUV zu.74 Unterlassen sie es, eine private Blockade zu untersagen, beeinträchtigen sie die Warenverkehrsfreiheit. 72 73 74
EuGH, Rs. 178/84, Slg. 1987, 1227 (1271, Rn. 35) – Reines Bier. EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 – Schmidberger (Brenner-Blockade). EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 (5714, Rn. 59) – Schmidberger (Brenner-Blockade).
D. Die Warenverkehrsfreiheit
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Grundsätzlich besteht in diesem Zusammenhang ein Ermessensspielraum der Mitgliedstaaten, welche Maßnahmen sie zur Erfüllung ihrer Verpflichtung ergreifen. Dieser Spielraum ist durch das Untermaßverbot bzw. den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit begrenzt und erstreckt sich nicht nur auf die Wahl zwischen verschiedenen Maßnahmen, sondern auch auf die Abwägung der verschiedenen Interessen.75 Solange der jeweilige Mitgliedstaat in ausreichender Weise gegen die privaten Störer vorgeht, genügt er seiner Schutzpflicht.76 So können gegenüber einer Demonstration Auflagen sowie Beeinträchtigungen des Warenverkehrs gering haltende Rahmen- und Begleitmaßnahmen an Stelle eines vollständigen Verbotes genügen, um eine unkontrollierbare Eskalation mit ungleich schwereren Störungen zu vermeiden.77 Erst wenn der Staat auch solche Basissicherungen unterlässt, indem er entweder gar keine oder vollkommen unzureichende Maßnahmen ergreift,78 verletzt er seine Schutzpflicht. Damit liegt ein pflichtwidriges Unterlassen in einer „Garantenstellung“ vor. Der Mitgliedstaat hat dann die Warenverkehrsfreiheit beeinträchtigt. Diese Beeinträchtigung kann unter Umständen bei Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes und Einhaltung der Rechtfertigungsschranken gerechtfertigt sein. Insofern greifen die allgemeinen Regeln. Insbesondere die Grundrechte sind hier von Bedeutung. Bei Blockaden von Warentransporten ist auf die Demonstrationsfreiheit zu achten, der in einem demokratischen Staat eine fundamentale Bedeutung zukommt.79 Durch deren zulässige Ausübung auftretende Hindernisse für den freien Warenverkehr sind daher in adäquatem Rahmen hinzunehmen. Unstatthaft auch in diesem Rahmen sind indes die bezweckten Beeinträchtigungen des Handels mit Waren einer bestimmten Art oder Herkunft sowie die Anwendung von Gewalt. Nicht zuletzt deswegen dürfte der EuGH letztlich die Aktionen der französischen Bauern im Erdbeerstreit für unzulässig und damit ein Unterbinden durch den Staat für notwendig gehalten, die Blockade der Brennerautobahn hingegen für in Ordnung erklärt haben. 80 Auch insoweit erscheint indes die Hinnahme einer 30-stündigen Sperre des Verkehrs im Hinblick auf eine effektive Warenverkehrsfreiheit höchst problematisch.
75 76 77 78 79 80
EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 (5720, Rn. 81 f.) – Schmidberger (BrennerBlockade). S. EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 (5720 f., Rn. 82 ff.) – Schmidberger (Brenner-Blockade). EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 (5721 ff., Rn. 87, 92 f.) – Schmidberger (Brenner-Blockade). Für eine Evidenzkontrolle Szczekalla, DVBl. 1998, 219 (223). S. EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 (5721, Rn. 86) – Schmidberger (BrennerBlockade). Näher u. Rn. 1098. Ausführlich EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 (5715 f. Rn. 65 ff.) – Schmidberger (Brenner-Blockade).
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IV. Prüfungsschema 267 Vorprüfung: keine abgeschlossene Totalharmonisierung durch sekundäres Unionsrecht 1. Schutzbereich a) Ware im Verkehr innerhalb der Union b) Kein Fall der Schutzbereichsbegrenzung nach Keck 2. Beeinträchtigung a) Definition = Dassonville-Formel (Diskriminierungen und Beschränkungen) b) Durch staatliches Tun oder Unterlassen 3. Rechtfertigungsgründe a) Geschriebene: Art. 36 AEUV (für alle Beeinträchtigungen) aa) Öffentliche Sittlichkeit bb) Öffentliche Ordnung und Sicherheit cc) Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen dd) Nationales Kulturgut von künstlerischem, geschichtlichem oder archäologischem Wert ee) Gewerbliches und kommerzielles Eigentum b) Ungeschriebene: in Gestalt zwingender Gründe des Allgemeinwohls (für formal unterschiedslos angewandte Maßnahmen, Cassis) aa) Wirksame steuerliche Kontrolle bb) Schutz der öffentlichen Gesundheit cc) Lauterkeit des Handelsverkehrs dd) Verbraucherschutz ee) Umweltschutz ff) Sonstige Gründe (v.a. Grundrechte in Fällen einer Beeinträchtigung durch staatliches Unterlassen) 4. Rechtfertigungsschranken a) Verbot willkürlicher Diskriminierungen, Art. 36 S. 2 AEUV b) Verhältnismäßigkeit c) Grundrechte
E. Arbeitnehmerfreizügigkeit I. Schutzbereich 1. Arbeitnehmer 268 Art. 45 AEUV gewährleistet die Freizügigkeit der Arbeitnehmer aus anderen EU-Mitgliedstaaten. Die Eigenschaft als Arbeitnehmer bestimmt sich nach uni-
E. Arbeitnehmerfreizügigkeit
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onsrechtlichen Grundsätzen.81 Nur so kann europaweit eine einheitliche Auslegung erreicht werden. Andernfalls hätten es die Mitgliedstaaten in der Hand, einzelne Beschäftigungsgruppen aus dem Anwendungsbereich herauszunehmen und so die Anwendung der Vorschriften über die Arbeitnehmerfreizügigkeit zu vereiteln. Da der Begriff des Arbeitnehmers den Anwendungsbereich einer Grundfreiheit festlegt, ist dieser weit und nicht einschränkend auszulegen.82 Er ist anhand objektiver Kriterien zu definieren.83 Nach der Definition des EuGH ist Arbeitnehmer jeder, der eine tatsächliche 269 und echte Tätigkeit ausübt, wobei solche Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen.84 Das wesentliche Merkmal eines Arbeitsverhältnisses besteht nach dieser Rechtsprechung darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält.85 2. Begrenzung Von vornherein ausgenommen von der Freizügigkeit der Arbeitnehmer sind ge- 270 mäß Art. 45 Abs. 4 AEUV Tätigkeiten in der öffentlichen Verwaltung. Dazu zählen entsprechend dem Ausnahmecharakter der Vorschrift aber nur solche Tätigkeiten, die eine Ausübung hoheitlicher Befugnisse mit sich bringen oder die Wahrnehmung von Aufgaben beinhalten, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind. 86 Weiter setzen sie eine besondere Verbundenheit des jeweiligen Stelleninhabers zum Staat sowie gegenseitige Rechte und Pflichten auf der Basis des Staatsangehörigkeitsbandes voraus.87 Letztlich sind dies nur die klassischen Staatstätigkeiten, wie die Polizei sie ausübt. II. Diskriminierungs- und Beschränkungsverbot Die erfassten Arbeitnehmer aus anderen EU-Staaten müssen sich in gleicher Wei- 271 se wie Einheimische um Beschäftigungsmöglichkeiten bewerben können, gleichermaßen entlohnt werden und den gleichen Arbeitsbedingungen unterliegen. Eingeschlossen ist, dass sie sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten frei bewegen und aufhalten können. Dieses Recht zum Eintritt und zum Aufenthalt erstreckt sich auf Familienangehörige, die zum Beispiel auch an den Sozialleistungen dieses anderen Mitgliedstaates teilhaben. 81 82
83 84 85 86 87
St. Rspr. EuGH, Rs. 53/81, Slg. 1982, 1035 (1049, Rn. 11 f.) – Levin; Rs. 66/85, Slg. 1986, 2121 (2144, Rn. 16) – Lawrie-Blum: „gemeinschaftsrechtliche Bedeutung“. St. Rspr. EuGH, Rs. 53/81, Slg. 1982, 1035 (1049, Rn. 13) – Levin; Rs. 66/85, Slg. 1986, 2121 (2144, Rn. 16) – Lawrie-Blum; Rs. C-337/97, Slg. 1999, I-3289 (3310 f., Rn. 13) – Meeusen. EuGH, Rs. 66/85, Slg. 1986, 2121 (2144, Rn. 17) – Lawrie-Blum. EuGH, Rs. C-337/97, Slg. 1999, I-3289 (3310 f., Rn. 13) – Meeusen. St. Rspr. EuGH, Rs. 66/85, Slg. 1986, 2121 (2144, Rn. 17) – Lawrie-Blum. EuGH, Rs. 225/85, Slg. 1987, 2625 (2639, Rn. 10) – CNR. Etwa EuGH, Rs. 66/85, Slg. 1986, 2121 (2147, Rn. 27) – Lawrie Blum.
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Kapitel 3: Grundfreiheiten
Das Recht auf Freizügigkeit nach Art. 45 AEUV wird etwa dadurch beschränkt, dass bestimmte Tätigkeiten nicht durch Inländer ausgeübt werden können, aber auch durch verdeckte mittelbare Diskriminierungen, 88 zum Beispiel aufgrund der Notwendigkeit der Zurücklegung bestimmter Wohnzeiten89 oder der Erfüllung bestimmter Sachverhalte im Inland.90 Gleichgestellt sind Beschränkungen. Fall Profifußball nach EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 – Bosman: Ein belgischer Fußballspieler ist neben einem Franzosen, einem Italiener und einem Brasilianer Lizenzfußballspieler bei einem deutschen Bundesligaverein, an den er sich durch eine hohe Ablösesumme gebunden sieht. Die Spielordnung bestimmt hingegen, dass bei Meisterschafts- und Pokalspielen nur drei Ausländer unter Einrechnung der EU-Ausländer spielen dürfen. Die Bestimmungen des AEUV sind auf den Profifußball als wirtschaftliche Betätigung anwendbar. Profifußballer sind Arbeitnehmer im Sinne des Art. 45 AEUV. Die Einschränkung der Spielmöglichkeiten beruht insoweit auf der Staatsangehörigkeit und ist daher diskriminierend. Weiter wird der grenzüberschreitende Clubwechsel durch die Ablösebedingung beeinträchtigt. Damit wird der Spielertransfer in andere EU-Staaten behindert. Insoweit greift die Arbeitnehmerfreizügigkeit als Beschränkungsverbot. Die Entfaltungsmöglichkeiten der Spieler werden allerdings nicht durch staatliche Vorschriften, sondern durch das DFB-Statut behindert, das keinen öffentlich-rechtlichen Charakter hat. Dieses hat aber in der Fußballwelt denselben Stellenwert wie eine staatliche Regelung. Zudem differiert der Regelungscharakter in den verschiedenen Mitgliedstaaten. Die wirksame und gleichmäßige Verwirklichung des Art. 45 AEUV erfordert daher seine Anwendung auch auf private kollektive Reglements.91
Beeinträchtigungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit können auch grundrechtlich gerechtfertigt sein. Im Fall Bosman hat der EuGH die Vereinigungsfreiheit als zu den von der Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechten gehörend anerkannt.92 Der Formulierung ist zu entnehmen, dass der EuGH die streitgegenständlichen Transferregeln möglicherweise als gerechtfertigt angesehen hätte, wenn sie „erforderlich“ gewesen wären, „um die Ausübung dieser Freiheit durch die genannten Verbände, die Vereine oder die Spieler zu gewährleisten“ oder wenn sie eine „unausweichliche Folge dieser Freiheit darstellen“ würden. 93 Da er diese Voraussetzungen verneinte, brauchte er sich nicht näher mit dem Verhältnis von Arbeitnehmerfreizügigkeit und Grundrechten zu beschäftigen. Im Fall Bosman bestand die Besonderheit, dass die Transferregelungen nicht 275 den Mitgliedstaaten zuzurechnen waren. Die Freigabeerklärung für den Fußballspieler Bosman wurde durch seinen bisherigen belgischen Fußballverein (RCL) aufgrund einer Regelung in der Verbandssatzung des nationalen belgischen Fußballverbandes (URBSFA) verweigert, die letztlich auf eine Regelung des internationalen Fußballverbandes FIFA und der für Europa zuständigen Untergliederung UEFA zurückzuführen war, die beide Vereine schweizerischen Rechts sind. In dieser Drittwirkungskonstellation konnten sich die einzelnen Fußballverbände 274
88 89 90 91 92 93
EuGH, Rs. 152/73, Slg. 1974, 153 (164 f., Rn. 11) – Sotgiu; Rs. C-175/88, Slg. 1990, I1779 (1792, Rn. 13) – Biehl. S. EuGH, Rs. C-111/91, Slg. 1993, I-817 (843, Rn. 9) – Kommission/Luxemburg. S. EuGH, Rs. C-27/91, Slg. 1991, I-5531 (5541 f., Rn 10 f.) – Le Manoir. Vgl. auch Art. 45 Abs. 3 lit. a) AEUV. EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 (5065, Rn. 79) – Bosman. EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 (5065, Rn. 80) – Bosman.
E. Arbeitnehmerfreizügigkeit
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aber nur insoweit unproblematisch auf das Grundrecht der Vereinigungsfreiheit berufen, als sie nicht staatlichen Einheiten vergleichbare Macht ausübten. Jedenfalls schließen die Grundrechte nicht die Anwendbarkeit der Grundfreiheiten aus.94 III. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen Eine Beschränkung der Grundfreiheiten ist nur zulässig, wenn sie verhältnismäßig 276 ist. Im Einzelnen müssen die Beschränkungen einen berechtigten Zweck verfolgen, die Anwendung dieser Regelung muss geeignet sein, die Verwirklichung des verfolgten Zweckes zu gewährleisten, und die Maßnahmen dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zweckes erforderlich ist. 95 Die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist von entscheidender Bedeutung. Einige wenige Maßnahmen verfolgen bereits kein legitimes Ziel. Das gilt für den Schutz der weltweiten Organisation des Fußballs 96 sowie für wirtschaftliche und rein praktische Gründe. In der Rechtssache Bosman sah der EuGH die streitgegenständlichen Transfer- 277 regeln als nicht geeignet zur Aufrechterhaltung des finanziellen und sportlichen Gleichgewichts zwischen den Vereinen an.97 Auch zur Unterstützung der Suche nach Talenten und der Ausbildung von jungen Spielern waren die Transferregelungen nicht geeignet, da der mögliche Anspruch auf eine Transferzahlung zu ungewiss sei, als dass die Vereine dadurch zur Ausbildung junger Spieler motiviert würden.98 Die streitgegenständlichen Ausländerklauseln waren auch zur Aufrechterhaltung des sportlichen Gleichgewichts zwischen den Vereinen nicht geeignet.99 Nach Art. 45 Abs. 3 AEUV besteht für die Mitgliedstaaten die Möglichkeit, das 278 Recht der Arbeitnehmer auf Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit zu beschränken (geschriebene Rechtfertigungsgründe). Diese Begriffe sind als unionsrechtliche Begriffe und als Ausnahmetatbestand auszulegen. Die Beschränkung setzt eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung voraus, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und bedingt ist durch die Anwesenheit oder durch das Verhalten der von der Freizügigkeit Profitierenden.100 Hinzu kommen die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe nach der Cassis-Rechtsprechung, um unterschiedslos angewandte Maßnahmen zu rechtfertigen.101
94 95 96 97 98 99 100 101
S.u. Rn. 1109. EuGH, Rs. C-55/94, Slg. 1995, I-4165 (4197 f., Rn. 37) – Gebhard; Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 (5071, Rn. 104) – Bosman. Allgemein s.o. Rn. 245 f. EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 (5072 f., Rn. 111 f.) – Bosman. EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 (5071 f., Rn. 106 f.) – Bosman. EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 (5072, Rn. 108 ff.) – Bosman. EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 (5077 f., Rn. 135) – Bosman. EuGH, Rs. 36/75, Slg. 1975, 1219 (1230 f., Rn. 23/25) – Rutili; Rs. 30/77, Slg. 1977, 1999 (2013 Rn. 33/35) – Bouchereau. S.o. Rn. 241 f.
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Kapitel 3: Grundfreiheiten
Fall Zu viel Rotwein – Der abgewiesene Abfallentsorger: A hat sein Studium der Abfallentsorgung an der RWTH Aachen erfolgreich abgeschlossen. Nun möchte er dem oft regnerischen Wetter im Rheinland entfliehen und daher als Abfallexperte im sonnigen Italien arbeiten. Dort bestehen aber normative Anforderungen für die Ausübung dieses Berufs, die sich nicht mit den deutschen decken. Er müsste einen Abschluss in Italien machen, um dort in der öffentlichen Verwaltung arbeiten zu können. Die italienischen Stellen berufen sich auch darauf, dass A während seiner Bewerbungsreise durch Italien in Rom zu viel Rotwein getrunken habe und nachts laut singend neben dem Gehweg gelaufen sei. Bei Deutschen sei dies nichts Ungewöhnliches, da der Chef eines großen deutschen Konzerns in ähnlicher Weise in Erscheinung getreten sei. Von daher bestehe auch Wiederholungsgefahr. A ist aber der Ansicht, aufgrund der Arbeitnehmerfreizügigkeit müsste sein Abschluss in Italien anerkannt werden. Lösungsaufbau: I. Unanwendbarkeit von Art. 45 AEUV wegen Tätigkeit in der öffentlichen Verwaltung? II. Grundsatz der Inländergleichbehandlung III. Adäquate Berücksichtigung EU-ausländischer Diplome IV. Beschränkung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung? V. Ergebnis Lösungsvorschlag: Der Abschluss von A könnte aufgrund von Art. 45 AEUV anerkannt werden müssen. Diese Vorschrift verlangt die Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer und gewährt in Abs. 3 lit. a) das Recht, sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben. Davon könnte die Anerkennung EU-ausländischer Abschlüsse umfasst sein. I. Unanwendbarkeit von Art. 45 AEUV wegen Tätigkeit in öffentlicher Verwaltung? Die Anwendbarkeit von Art. 45 AEUV auf A wäre in diesem Fall gemäß Art. 45 Abs. 4 AEUV ausgeschlossen, wenn die Tätigkeit des Abfallentsorgers eine Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung darstellen würde. Unabhängig davon, ob die Abfallentsorgung in Italien privatisiert ist oder nicht, zählen zu solchen Tätigkeiten entsprechend dem Ausnahmecharakter dieser Vorschrift nur solche, die eine Ausübung hoheitlicher Befugnisse mit sich bringen oder die Wahrnehmung von Aufgaben beinhalten, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates oder anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind. Die Tätigkeit als Entsorgungsexperte zählt dazu nicht. II. Grundsatz der Inländergleichbehandlung Die Arbeitnehmerfreizügigkeit umfasst gemäß Art. 45 Abs. 2 AEUV die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer. Sie statuiert damit den Grundsatz der Inländergleichbehandlung. Das bedeutet, dass Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten so wie die eigenen Staatsangehörigen behandelt werden müssen. Daher brauchen für Staatsangehörige aus anderen EU-Mitgliedstaaten keine besseren Bedingungen zu gelten. Von daher kann A nur verlangen, unter den für Italiener maßgeblichen Bedingungen eine Anstellung erhalten zu können. Bestätigt wird dieser Befund durch Art. 45 Abs. 3 AEUV. Er gibt nach lit. a) den Arbeitnehmern das Recht, sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben, ohne dass die verlangten Anforderungen näher begrenzt sind. Vielmehr berechtigt Art. 45 Abs. 3 lit. c) AEUV nur dazu, sich in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, um dort nach den für die Arbeitnehmer dieses Staates geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften eine Beschäftigung auszuüben. Eine Anerkennung seines Abschlusses als Abfallentsorger, den er in der Bundesrepublik Deutschland erworben hat, ist daher zugunsten des A von Art. 45 AEUV nicht vorgegeben. Dazu bedürfte es einer Harmonisierungsrichtlinie, die in diesem Falle, soweit ersichtlich, nicht vorhanden ist.
E. Arbeitnehmerfreizügigkeit
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III. Adäquate Berücksichtigung EU-ausländischer Abschlüsse Damit ist noch nicht gesagt, dass dem in Deutschland erworbenen Abschluss des A in Italien keine Bedeutung zugemessen werden muss. Der Realisierung der Arbeitnehmerfreizügigkeit sind aus dem Grenzübertritt entstehende Schwierigkeiten inhärent. Diese beziehen sich auch darauf, dass in den verschiedenen Mitgliedstaaten unterschiedliche Ausbildungs- und Hochschulsysteme bestehen und unterschiedliche Abschlüsse und Prüfungszeugnisse verliehen werden. Soll die Arbeitnehmerfreizügigkeit wirksam verwirklicht werden können, muss dies bei der Frage, ob die Abschlüsse eines Interessenten für die Berufsaufnahme ausreichen, berücksichtigt werden. Eine solche Einbeziehung folgt daher aus dem effet utile des Art. 45 AEUV. Deshalb müssen die im EU-Ausland erworbenen Qualifikationen in jedem Fall adäquat berücksichtigt werden. Setzen die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates für die Aufnahme eines Berufes einen Studienabschluss oder eine bestimmte berufliche Qualifikation voraus, bedarf es daher eines Vergleichs der zur Ausübung des gleichen Berufs in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen Abschlüsse, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise mit den nach nationalem Recht vorgeschriebenen Abschlüssen und Fähigkeiten. Es darf weniger um die formale Bezeichnung gehen, sondern die Frage der Gleichwertigkeit der im Herkunftsstaat erworbenen Qualifikation ist besonders zu prüfen. Das dafür angewandte Verfahren muss eine objektive Beurteilung der Gleichwertigkeit ermöglichen. Diese Beurteilung darf sich nur nach den Kenntnissen und Fähigkeiten richten, die nach diesem Abschluss unter Berücksichtigung von Art und Dauer des Studiums, auf das es sich bezieht, bei seinem Besitzer zu vermuten sind. 102 Reichen danach die Kenntnisse und Fähigkeiten noch nicht aus, um den nationalen Voraussetzungen zu genügen, müssen die gestellten zusätzlichen Anforderungen verhältnismäßig sein.103 Daher kann A zwar nicht eine Anerkennung seines Abschlusses verlangen. Er hat aber aus Art. 45 AEUV Anspruch darauf, dass seine durch das Studium in Deutschland erworbenen und in der Prüfung nachgewiesenen Kenntnisse adäquat auf ihre Gleichwertigkeit mit dem in einem vergleichbaren italienischen Studium erworbenen Kenntnisstand überprüft werden. IV. Beschränkung aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung? Gemäß Art. 45 Abs. 3 AEUV kann das Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit beschränkt werden. Diese Begriffe sind indes als unionsrechtliche Begriffe und als Ausnahmetatbestand eng auszulegen. Damit sie eingreifen, ist eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung erforderlich, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und bedingt ist durch die Anwesenheit und durch das Verhalten der von der Freizügigkeit Profitierenden. Dabei kann entsprechend der engen Auslegung und der konkreten individuellen Betroffenheit ausschließlich das persönliche Verhalten der in Betracht kommenden Einzelpersonen ausschlaggebend sein. Es darf also nicht von der Staatszugehörigkeit oder von dem Verhalten von anderen Bürgern eines EU-Mitgliedstaates auf das Verhalten einer Person geschlossen werden. Daher darf die italienische Behörde nicht allgemein auf die Staatsangehörigkeit des A abstellen, indem sie auf das Verhalten des Chefs eines großen deutschen Konzerns verweist. Als Person ist A in Italien nicht gefährdend in Erscheinung getreten. Dass er in Rom nach zu ausgiebigem Rotweinkonsum singend auf nächtlicher Straße neben dem Gehweg gegangen ist, reicht nicht aus. Auch lässt dieser Vorfall nicht auf spätere Verschlimmerungen schließen, die einen hinreichenden Grund der öffentlichen Ordnung und Sicherheit geben würden, um eine Beschränkung zu rechtfertigen. Schließlich können noch nicht einmal strafrechtliche Verurteilungen für sich gesehen ohne Weiteres eine Beschränkung begründen. Eine Be102 103
EuGH, Rs. C-375/92, Slg. 1994, I-923 (940 f., Rn. 12) – Kommission/Spanien. Vgl. EuGH, Rs. C-340/89, Slg. 1991, I-2357 (2384, Rn. 19) – Vlassopoulou; Rs. C104/91, Slg. 1992, I-3003 (3028 f., Rn. 14) – Aguirre sowie bereits Rs. 16/78, Slg. 1978, 2293 (2303, Rn. 9) – Choquet.
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Kapitel 3: Grundfreiheiten
schränkungsmöglichkeit der Arbeitnehmerfreizügigkeit des A aufgrund von Art. 45 Abs. 3 AEUV besteht daher im vorliegenden Fall nicht. V. Ergebnis A kommt trotz seiner „Eskapaden“ nach zu viel Rotwein in den Genuss der Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 AEUV. Er kann aber nicht die (automatische) Anerkennung seines in Deutschland erworbenen Abschlusses in Italien verlangen, sondern nur dessen adäquate Berücksichtigung im Rahmen der Beurteilung der Gleichwertigkeit mit parallelen italienischen Abschlüssen.
IV. Verpflichtung privater Arbeitgeber 280 Die Geltung der Arbeitnehmerfreizügigkeit für alle zwischen Privatpersonen geschlossenen Verträge hat der EuGH erstmals im Urteil Angonese ausdrücklich anerkannt.104 281 Fall nach EuGH, Rs. C-281/98, Slg. 2000, I-4139 – Angonese: Ein italienischer Staatsangehöriger hatte in Österreich studiert und bewarb sich nun um die Teilnahme an einem Auswahlverfahren für eine Stelle in einer privaten Bankgesellschaft in Bozen. Diese lehnte den Kläger ab, da er nicht im Besitz einer bestimmten Bescheinigung über die Zweisprachigkeit war, die ausschließlich von der öffentlichen Verwaltung in Bozen aufgrund einer dort stattgefundenen Prüfung ausgestellt wurde. Die unmittelbare Drittwirkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit auch gegenüber einem privaten Arbeitgeber folgert der EuGH in diesem Fall durch einen Erst-Recht-Schluss aus dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV und aus Art. 157 AEUV, der ebenfalls eine nichtdiskriminierende Behandlung auf dem Arbeitsmarkt gewährleistet, sowie aus der Forderung nach einer einheitlichen Anwendung des Unionsrechts. 105 Dementsprechend hat sich der EuGH nur auf das Verbot der Diskriminierung bezogen106 und sich nicht zur Geltung des Beschränkungsverbotes geäußert. Trotz der geforderten staatlichen Bescheinigung handelte es sich in dem konkreten Fall um eine rein private Maßnahme, da der Nachweis der Sprachkenntnisse durch einen privaten Arbeitgeber verlangt wurde und keine staatliche Vorschrift entsprechende Voraussetzungen für diese Beschäftigung aufstellte. Die Bank hätte genauso gut auf ein privates Zertifikat verweisen oder von einem Sprachnachweis ganz absehen können. Eine Rechtfertigung ist möglich, wenn der private Arbeitgeber sich auf „sachliche Erwägungen“ stützen kann, „die unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betroffenen Person und in Bezug auf das berechtigterweise verfolgte Ziel verhältnismäßig sind“.107 Indem der EuGH in dieser Entscheidung weder auf die in Art. 45 Abs. 3 AEUV genannten Rechtfertigungsgründe Bezug nimmt noch begrifflich auf die „zwingenden Gründe des Allgemeininteresses“ oder die „zwingenden Erfordernisse“ aus der Cassis-Rechtsprechung zurückgreift, scheint der EuGH davon auszugehen, dass Privaten weiter gehende Rechtfertigungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Dies legitimiert sich daraus, dass Private nicht in gleichem Maße wie die Mitgliedstaaten an die von der Unionsrechtsordnung anerkannten Rechte gebunden werden können. Private sind im Gegensatz zu den Mitgliedstaaten Träger von Grundfreiheiten und Grundrechten, die in weitem Rahmen die Privatautonomie verbürgen. Daraus folgt,
104 105 106 107
EuGH, Rs. C-281/98, Slg. 2000, I-4139 (4171 ff., Rn. 30 ff.) – Angonese. EuGH, Rs. C-281/98, Slg. 2000, I-4139 (4172 f., Rn. 34 f.) – Angonese. EuGH, Rs. C-281/98, Slg. 2000, I-4139 (4173, Rn. 36) – Angonese. EuGH, Rs. C-281/98, Slg. 2000, I-4139 (4174, Rn. 42) – Angonese.
E. Arbeitnehmerfreizügigkeit
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dass sich Private zur Rechtfertigung auch von offen und direkt diskriminierenden Maßnahmen auf wirtschaftliche Motive als „sachliche Erwägungen“ berufen können. 108 Indes ist es unverhältnismäßig, den Nachweis der Sprachkenntnisse auf andere Weise, insbesondere durch eine in einem anderen Mitgliedstaat erlangte gleichwertige Qualifikation zu erbringen als ausschließlich mit einem speziellen Nachweis, der nur in einer einzigen Provinz eines Mitgliedstaates ausgestellt wird.109
V. Prüfungsschema Vorprüfung: keine abgeschlossene Totalharmonisierung durch sekundäres Unionsrecht 1. Schutzbereich a) Arbeitnehmer aus einem anderen Mitgliedstaat b) Keine Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung, Art. 45 Abs. 4 AEUV c) Keine Schutzbereichsbegrenzung nach Keck analog 2. Beeinträchtigung a) Offene Diskriminierung, Art. 45 Abs. 2 AEUV b) Versteckte Diskriminierung oder c) Allgemeine Beschränkung d) Durch Mitgliedstaaten, Gemeinschaftsorgane oder Private e) Durch Tun oder Unterlassen (bei Handlungspflicht) 3. Rechtfertigung a) Geschriebene: Art. 45 Abs. 3 AEUV (für alle Beeinträchtigungen): öffentliche Ordnung, Sicherheit und Gesundheit b) Ungeschriebene: Zwingende Gründe des Allgemeininteresses, z.B. Schutz der Öffentlichkeit bzw. Verbraucher, Gewährleistung einer ordnungsgemäßen bzw. qualitätsvollen Berufsausübung, Sicherstellung der Beschäftigung von qualifiziertem Personal, ordnungsgemäße Verwaltung, Förderung der Nationalsprache, Kohärenz und Effektivität des Steuerrechts, Honorierung der Treue eines Arbeitnehmers gegenüber seinem Arbeitgeber, Schutz der Arbeitnehmer, Grundrechte 4. Rechtfertigungsschranken a) Verhältnismäßigkeit b) Grundrechte
108 109
Forsthoff, EWS 2000, 389 (395). EuGH, Rs. C-281/98, Slg. 2000, I-4139 (4174 f., Rn. 44 f.) – Angonese.
282
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Kapitel 3: Grundfreiheiten
F. Niederlassungsfreiheit I. Schutzbereichseröffnung: „Freiheit der Selbstständigen“ 283 Die Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 AEUV beinhaltet, dass Staatsangehörige aus anderen Mitgliedstaaten sich unter den gleichen Bedingungen wie die einheimischen Staatsangehörigen frei niederlassen oder eine Zweigstelle gründen dürfen. Im Gegensatz zur Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Art. 45 AEUV begründet Art. 49 AEUV die Freizügigkeit der Selbstständigen. Selbstständige Erwerbstätigkeiten in diesem Sinne umfassen jede Art von 284 selbstständigen, in ihrem Schwerpunkt wirtschaftlichen Betätigungen, die dem Einkommenserwerb dienen und auf Dauer angelegt sind. Dies ist in aller Regel zu bejahen, wenn sie mit der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit zumindest zusammenhängen und nicht ausschließlich privat motiviert sind.110 Die Erwerbstätigkeit ist dann als selbstständig zu bezeichnen, wenn sie weisungsunabhängig durchgeführt wird. Der Begriff der Erwerbstätigkeit ist weit auszulegen. Er meint jede wirtschaftliche Tätigkeit. Wirtschaftliche Tätigkeiten sind solche, die Bestandteil des Wirtschaftslebens im weitesten Sinne sind, weil sie, dem Wortlaut entsprechend, dem Erwerb dienen und somit gegen Entgelt ausgeübt werden. 111 Rein private Handlungen wie etwa der Erwerb eines Ferienhauses durch einen 285 Privatmann werden vom Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit nicht erfasst.112 Anders kann es sich verhalten, wenn der Erwerb des Ferienhauses nicht zu Privat-, sondern zu Erwerbszecken erfolgt.113 Ebenfalls von der Niederlassungsfreiheit erfasst, sind die mittelbar mit dem 286 Aufbau einer Niederlassung verbundenen Tätigkeiten, wie etwa der Immobilienkauf, um ein Büro oder eine Produktionsstätte zu errichten, die Anschaffung von Arbeits- und Produktionsmitteln oder das Einstellen von Mitarbeitern.114 Der Begriff der Niederlassung fordert die dauerhafte wirtschaftliche Integrati287 on in einem Mitgliedstaat. Dieses Kriterium dient insbesondere der Abgrenzung von der Dienstleistungsfreiheit.115 Diese erfasst nur vorübergehende wirtschaftliche Tätigkeiten des Dienstleistungserbringers im Aufnahmestaat sowie Fälle, in denen der Dienstleistungsempfänger sich zum Dienstleistungserbringer begibt bzw. in denen ausschließlich die Dienstleistung eine Grenze innerhalb der EU überquert. Die Abgrenzung, ob es sich um eine in den Schutzbereich der Niederlassungs288 freiheit fallende dauerhafte wirtschaftliche Integration oder um eine im Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit anzusiedelnde nur vorübergehende Tätigkeit handelt, ist jeweils im Einzelfall anhand der gesamten Umstände vorzunehmen. 116
110 111 112 113 114 115 116
Troberg/Tiedje, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 43 Rn. 55. Steindorff, NJW 1982, 1902 (1905). Bungert, IPRax 1992, 296 (298). GA Stix-Hackl, EuGH, Rs. C-386/04, Slg. 2006, I-8203 (8250, Rn. 39) – Stauffer. Roth, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, E. I Rn. 62. Schlag, in: Schwarze, Art. 43 EGV Rn. 16. Dazu im Einzelnen Frenz, Europarecht 1, Rn. 1938 ff.
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Gemäß Art. 54 AEUV natürlichen Personen gleichzusetzen sind nach dem 289 Recht eines Mitgliedstaates gegründete Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Union haben. 290 Fall nach EuGH, Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 – Überseering: Eine Aktiengesellschaft niederländischen Rechts erwarb 1990 ein Grundstück in Düsseldorf, auf dem sie Bauarbeiten durchführen ließ. Diese befand sie für mangelhaft. 1994 erwarben zwei in Düsseldorf wohnhafte deutsche Staatsangehörige sämtliche Anteile der niederländischen Gesellschaft. 1996 verklagte die nach niederländischem Recht unverändert bestehende Gesellschaft die für die Bauarbeiten zuständige Baufirma auf Schadensersatz wegen der Baumängel vor dem Landgericht Düsseldorf. Im Rahmen des Rechtsstreites stellte sich die Frage, ob die Gesellschaft niederländischen Rechts nach deutschem Recht überhaupt rechts- und parteifähig sei. Die Besonderheit des Falles besteht darin, dass die Gesellschaft nach niederländischem Recht sowie ihrer eigenen Auffassung zufolge ihren Verwaltungssitz überhaupt nicht verlegt hatte und dies auch nicht wollte. Sie ging vielmehr davon aus, dass die Veräußerung der Anteile an deutsche Staatsangehörige hierfür nicht von Bedeutung sei und die Gesellschaft nach niederländischem Recht unverändert mit dortigem Verwaltungssitz weiterbestehe. Die Gesellschaft niederländischen Rechts, die in den Niederlanden wirksam gegründet worden ist und dort ihren satzungsmäßigen Sitz hat, genießt in der Tat aufgrund der Regelungen über die Niederlassungsfreiheit das Recht, als Gesellschaft niederländischen Rechts in Deutschland von ihrer Niederlassungsfreiheit Gebrauch zu machen. Insoweit ist unbeachtlich, dass nach der Gründung dieser Gesellschaft deren gesamtes Kapital von in Deutschland ansässigen deutschen Staatsangehörigen erworben wurde, denn dieser Umstand hat offenbar nicht zum Verlust der Rechtspersönlichkeit geführt, die ihr die niederländische Rechtsordnung zuerkennt.117
II. Schutzbereichsbegrenzungen 1. Ausübung öffentlicher Gewalt Ausgenommen von der Niederlassungsfreiheit sind gemäß Art. 51 AEUV, ver- 291 gleichbar zur Arbeitnehmerfreizügigkeit, solche Tätigkeiten, die in einem Mitgliedstaat dauernd oder zeitweise mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind. Zu dieser Schutzbereichsbegrenzung zählen aber aufgrund der für Ausnahmebestimmungen zu Grundfreiheiten gebotenen restriktiven Auslegung nur solche Tätigkeiten, die eine unmittelbare oder spezifische Teilnahme an der Ausübung öffentlicher Gewalt aufweisen. 118 Problematisch wurde dieses Kriterium für den Notar: Dessen Beurkundungstä- 292 tigkeit ist zwar eine Ausübung öffentlicher Gewalt, indes erachtete GA Cruz Villalón die Beschränkung auf Inländer nicht für verhältnismäßig. 119
117 118 119
EuGH, Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 (9970, Rn. 80) – Überseering; so auch BGH, NJW 2003, 1461. EuGH, Rs. 2/74, Slg. 1974, 631 (654, Rn. 44/45) – Reyners. Vgl. o. Rn. 270. S. aber EuGH, Schlussantrag vom 14.9.2010, Rs. C-47/08 u.a., BeckRS 2010, 91089 Rn. 109 ff.
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Kapitel 3: Grundfreiheiten
2. Übertragung der Keck-Rechtsprechung 293 Eine weitere Begrenzung des Schutzbereichs bildet die Keck-Rechtsprechung des EuGH, die im Bereich der Warenverkehrsfreiheit entwickelt worden ist. 120 Im Bereich der Niederlassungsfreiheit müsste man diese Differenzierung dahin gehend übertragen,121 dass nur niederlassungsbezogene Maßnahmen durchgehend in den Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit fallen. Maßnahmen, die sich lediglich auf die Modalitäten bzw. die Ausübung der Niederlassungsfreiheit beziehen, blieben dagegen bei unterschiedsloser Anwendung und Auswirkung außen vor. Damit gelingt es, den durch die Ausweitung auch der Niederlassungsfreiheit auf versteckte Diskriminierungen und unterschiedslose Beschränkungen schier unüberschaubaren Bereich möglicher Beeinträchtigungen des Schutzbereichs wie bei den anderen Grundfreiheiten mit in den Verträgen angelegten Komponenten sachgerecht auf das Essenzielle zu begrenzen.122 Andernfalls könnte sich der Gerichtshof der EU durch die Rechtsprechung zur Niederlassungsfreiheit zum „,Generalkontrolleur’ des mitgliedstaatlichen Wirtschafts- und Steuerrechts“ aufschwingen.123 Dementsprechend fallen Vorschriften, die allgemein im Wirtschafts- und 294 Rechtsverkehr eines Mitgliedstaats gelten, eine dauernde Anforderung an die Berufsausübung darstellen und keinen Bezug zur Eingliederung von Erwerbstätigen in die Wirtschaft des Aufnahmestaates haben, nicht in den Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit.124 Als Beispiel für eine nicht niederlassungsbezogene Regelung kommt die Ausgestaltung der Niederlassung in Betracht, etwa die Einrichtung des Ladenlokals in einer bestimmten Art und Weise. Denkbar ist die Ausgestaltung eines Ladenlokals in Anlehnung an einen orientalischen Basar, die mit den lebensmittelrechtlichen Bestimmungen des Aufnahmestaates in Konflikt gerät. Ebenso vorstellbar ist eine Regelung, die das Erfordernis einer Kundentoilette mit dem Angebot von Sitzplätzen in einem Ladenlokal unabhängig von eventuellem Getränkeausschank aufstellt. Abstrakt betrachtet, beinhaltet dies eine Unterscheidung nach dem „Ob“ und 295 dem „Wie“ der Niederlassung. Maßnahmen, die sich auf das „Ob“ der Niederlassung beziehen, fallen in den Schutzbereich der Niederlassungsfreiheit, während Maßnahmen, die sich lediglich auf das „Wie“ der Niederlassung beziehen, den Schutzbereich nicht beeinträchtigen, sofern sie keine Diskriminierung enthalten und keine rechtlichen bzw. tatsächlichen Nachteile bringen. III. Diskriminierungs- und Beschränkungsverbot 296 Die Unionsbürger und Gesellschaften mit Sitz in der Union, die sich in einem anderen Mitgliedstaat niederlassen wollen, genießen gleiche Zugangsrechte und gleiche Berufsbedingungen. Der Grundsatz der Gleichbehandlung schließt 120 121 122 123 124
Ausführlich o. Rn. 227. Vgl. in diesem Sinne Eberhartinger, EWS 1997, 43 (49). S.o. Rn. 228. Nettesheim, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 29 Rn. 34 a.E. So Everling, in: GS für Knobbe-Keuk, 1997, S. 607 (621).
F. Niederlassungsfreiheit
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allerdings – wie bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit – nicht ein, dass ihre Abschlüsse ohne Weiteres in dem anderen Mitgliedstaat anerkannt werden. Hierzu bedarf es einer Harmonisierungsrichtlinie. Existiert eine solche nicht, müssen die vorhandenen Kenntnisse und Abschlüsse nur angemessen berücksichtigt werden.125 Beispiel nach BGH, Az.: AnwZ (B) 28/96, NJW 1997, 867 – Anwaltsfall: Dass ein Grieche, der in Deutschland Anwalt werden will, eine Ergänzungsprüfung für das deutsche Recht ablegen muss, ist im Interesse der Mandanten notwendig und verletzt daher die Niederlassungsfreiheit nicht.
Mit der Niederlassungsfreiheit verbunden ist wie bei der Arbeitnehmerfreizü- 297 gigkeit ein Recht auf Einreise und Aufenthalt, das sich auch auf die Familienangehörigen erstreckt. Art. 49 AEUV schützt vor unmittelbaren wie vor mittelbaren Beeinträchtigungen, die etwa darin bestehen können, dass Anforderungen für die Eröffnung eines Betriebes festgelegt werden, die auf inländische Unternehmen zugeschnitten sind. Auch Beschränkungen, welche Betriebe aus anderen EUStaaten behindern, sind untersagt. 298 Fall Stärkere Besteuerung ausländischer Gesellschaften nach EuGH, Rs. C-324/00, Slg. 2002, I-11779 – Lankhorst-Hohorst: Ein Verfahren vor dem EuGH betraf die Frage, ob die Regelung des deutschen § 8a KStG a.F. eine Beeinträchtigung der Niederlassungsfreiheit darstellt. § 8a Abs. 1 Nr. 2 KStG a.F. war ausschließlich anwendbar auf Vergütungen für Fremdkapital, das eine unbeschränkt steuerpflichtige Kapitalgesellschaft von einem nicht zur Anrechnung von Körperschaftsteuer berechtigten Anteilseigner erhalten hat. Eine solche Einschränkung bewirkt in Bezug auf die Besteuerung von Zinsen, die Tochtergesellschaften an ihre Muttergesellschaften als Vergütung für Fremdkapital zahlen, eine unterschiedliche Behandlung gebietsansässiger Tochtergesellschaften, je nachdem, ob ihre Muttergesellschaft ihren Sitz in Deutschland hat oder nicht. In Deutschland niedergelassene Muttergesellschaften sind nämlich, was die große Mehrheit unter ihnen betrifft, anrechnungsberechtigt, ausländische Muttergesellschaften im Allgemeinen dagegen nicht. Dies stellt eine Beeinträchtigung der Niederlassungsfreiheit dar.126
IV. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen Beeinträchtigungen sind wie bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit gemäß Art. 52 299 Abs. 1 AEUV aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt.127 Hinzu kommen die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe entsprechend der Cassis-Rechtsprechung bei unterschiedslos anwendbaren Maßnahmen. Die vom EuGH durch die Cassis-Rechtsprechung entwickelten Gründe sind eine wirksame steuerliche Kontrolle, der Schutz der öffentlichen Gesundheit, die Lauterkeit des Handelsverkehrs und der Verbraucher-
125 126
127
EuGH, Rs. C-340/89, Slg. 1991, I-2357 (2382 f., Rn. 10 ff.) – Vlassopoulou. EuGH, Rs. C-324/00, Slg. 2002, I-11779 (11811, Rn. 27 ff.) – Lankhorst-Hohorst. S. auch EuGH, Rs. C-9/02, Slg. 2004, I-2409 – Saillant zur Besteuerung latenter Wertsteigerungen bei Wohnsitzverlegung ins Ausland. Näher o. Rn. 278.
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Kapitel 3: Grundfreiheiten
schutz.128 In späteren Entscheidungen hat der EuGH auch den Umweltschutz sowie weitere Gründe anerkannt.129 Beispiel nach EuGH, Rs. C-307/97, Slg. 1999, I-6161 – Saint-Gobain: Eine Regelung des deutschen Steuerrechts, die ausländischen Gesellschaften mit Betriebsstätten auch in Deutschland bestimmte – inländischen Gesellschaften gewährte – Steuervergünstigungen nicht einräumte, suchte die Bundesregierung durch den ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund zu legitimieren, dass steuerliche Mindereinnahmen vermieden werden sollten. Die Steuerausfälle, die durch Gewährung der Vorteile entstehen, können nämlich bei deutschen Gesellschaften durch die Besteuerung der Erträge der Muttergesellschaft teilweise ausgeglichen werden. Bei ausländischen Gesellschaften besteht diese Möglichkeit dagegen nicht. Der EuGH stellte lapidar fest, dass die Vermeidung steuerlicher Mindereinnahmen weder einen Rechtfertigungsgrund des Art. 52 AEUV noch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellt, der die deutsche Regelung zu rechtfertigen vermag.130 Die Niederlassungsfreiheit steht insofern nicht unter einem „Finanzvorbehalt“ der Mitgliedstaaten. Die Steuererhebung als solche bzw. deren Ertrag stellt keinen Rechtfertigungsgrund dar.
Zum Zweck der Kontrolle über die Erfüllung der Steuerpflicht sind dagegen nationale Regelungen zulässig, die Niedergelassene einer Betriebsprüfung oder einer Kontrolle der Bücher unterwerfen. Sofern sich Bestandteile des Betriebes oder die Bücher in einem anderen Mitgliedstaat befinden, können auch diese im Wege der behördlichen Zusammenarbeit mit dem anderen Mitgliedstaat geprüft werden.131 Rein wirtschaftliche Gründe können hingegen eine Begrenzung der Nieder301 lassungsfreiheit nicht rechtfertigen. Sie kommen weder als geschriebene Rechtfertigungsgründe im Rahmen des Art. 52 AEUV noch als ungeschriebene Rechtfertigungsgründe in Betracht. 132 Hintergrund dieser Wertung ist, dass die Niederlassungsfreiheit wie alle Grundfreiheiten zur Verwirklichung des Binnenmarktes beitragen soll, mithin trotz aller Aspekte der Vereinheitlichung und Integration letztendlich eine wirtschaftliche Zielsetzung hat. Dieser widerspricht, die ihr dienenden Grundfreiheiten durch wirtschaftlich motivierte nationale Zielsetzungen einschränken zu können. Die Grundfreiheiten sollen vielmehr so wenig wie möglich und nur zugunsten 302 zwingender Gründe eingeschränkt werden. Jedoch geht etwa eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit über rein wirtschaftliche Erwägungen hinaus, da einem solchen Sicherungssystem ein Eigenwert zukommt. Sie kann daher einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen, der eine solche Beschränkung rechtfertigen kann. 133 303 300
Fall Registereintragung nach EuGH, Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 – Centros: Ein dänisches Ehepaar gründete eine Briefkastenfirma britischen Rechts in Form einer Ltd. Die
128 129 130 131 132 133
EuGH, Rs. 120/78, Slg. 1979, 649 (662, Rn. 8) – Cassis. S.o. Rn. 242. EuGH, Rs. C-307/97, Slg. 1999, I-6161 (6200, Rn. 51) – Saint-Gobain; auch Rs. C-324/00, Slg. 2002, I-11779 (11814, Rn. 36) – Lankhorst-Hohorst. Vgl. EuGH, Rs. C-250/95, Slg. 1997, I-2471 (2503, Rn. 39) – Futura Participations. EuGH, Rs. 352/85, Slg. 1988, 2085 (2135, Rn. 34) – Bond van Adverteerders. S. für die Warenverkehrsfreiheit EuGH, Rs. C-120/95, Slg. 1998, I-1831 (1886, Rn. 45 f.) – Decker.
F. Niederlassungsfreiheit
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Centros Ltd. mit Sitz im Vereinigten Königreich entfaltete keinerlei Geschäftstätigkeit, sondern gründete lediglich eine Zweigniederlassung in Dänemark und begehrte die Eintragung in das dänische Handelsregister. Dies diente unstreitig der Umgehung der Mindestkapitalisierungsnormen des dänischen Gesellschaftsrechts. Die Weigerung der Eintragung der Zweigstelle in das dänische Handelsregister beschränkte die sekundäre Niederlassungsfreiheit der britischen Centros Ltd. Die unstreitige Absicht der Gesellschafter der Centros Ltd., über die Zweigstellengründung die Mindestkapitalisierungsvorschriften des dänischen Handelsrechts zu umgehen, stellt an sich kein betrügerisches Verhalten dar, das eine Berufung auf die Niederlassungsfreiheit ausschließt. Die Centros Ltd. machte vielmehr in zulässiger Weise von ihrer sekundären Niederlassungsfreiheit Gebrauch. Eine Ausnutzung von innerhalb der Union bestehenden Regelungsgefällen steht dem grundsätzlich nicht entgegen.134 Später hat sich der EuGH zumindest bei Tochterfirmen gegen diese Auffassung ausgesprochen und klargestellt, dass sofern die Gesellschaft „keine wirkliche wirtschaftliche Tätigkeit im Hoheitsgebiet des Aufnahmestaats“ entfaltet, „eine rein künstliche Gestaltung“ vorliegt – etwa bei einer „Briefkastenfirma“ oder „Strohfirma“.135 In Konstellationen, in denen eine betrügerische, krass missbräuchliche Berufung auf die Grundfreiheiten vorliegt, kann die Missbrauchsabwehr einen ungeschriebenen Rechtfertigungsgrund darstellen. Die Umgehung von Mindestkapitalisierungsvorschriften eines nationalen Gesellschaftsrechts durch die Ausnutzung der Niederlassungsfreiheit ist hierfür nicht ausreichend.136 Zwar ist der Schutz der Gläubiger vor den nicht mit dem dänischen Standard an Mindestkapital versehenen Gesellschaften im Rechtsverkehr ein zwingender Grund des Allgemeininteresses. Die Verweigerung der Eintragung war jedoch bereits ungeeignet zur Zielerreichung. Denn die Zweigstelle der Centros Ltd. wäre in Dänemark eingetragen worden, sofern die Hauptstelle im Vereinigten Königreich Geschäftstätigkeiten ausgeübt hätte, obwohl auch dies zu einer Gefährdung der Gläubiger geführt hätte. Zudem konnte der Gläubigerschutz durch mildere, gleich wirksame Mittel verwirklicht werden. Insofern waren Vorschriften im Bereich des Firmen- und Registerrechts ausreichend. Auch bestand die Möglichkeit, dass Gläubiger sich entsprechende Sicherheiten einräumen ließen. Die Versagung der Eintragung war daher unionsrechtswidrig.137
V. Prüfungsschema Vorprüfung: keine abgeschlossene Totalharmonisierung durch sekundäres Unionsrecht 1. Schutzbereich a) Niederlassung (Aufnahme und Ausübung selbstständiger Erwerbstätigkeit sowie Gründung und Leitung von Unternehmen) einer natürlichen Person oder Gesellschaft gemäß Art. 54 Abs. 2 AEUV b) Keine mit der Ausübung öffentlicher Gewalt in einem Mitgliedstaat verbundene Tätigkeit, Art. 51 Abs. 1 AEUV c) Keine Schutzbereichsbegrenzung nach Keck analog
134 135 136 137
EuGH, Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 (1493, Rn. 27) – Centros. EuGH, Rs. C-196/04, Slg. 2006, I-7995 (8052, Rn. 68) – Cadbury Schweppes. S. dazu auch GA Maduro, EuGH, Rs. C-210/06, Slg. 2008, I-9641 (9659 f., Rn. 29) – Cartesio. EuGH, Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 (1494, Rn. 30) – Centros. EuGH, Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459 (1495 f., Rn. 35 ff.) – Centros.
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Kapitel 3: Grundfreiheiten 2. Beeinträchtigung a) Offene Diskriminierungen b) Versteckte Diskriminierungen c) Allgemeine Beschränkungen d) Durch staatliches Tun oder Unterlassen e) Durch Mitgliedstaaten, durch Unionsorgane; Private nur bei Stellung wie Staat 3. Rechtfertigungsgründe a) Geschriebene: Art. 52 Abs. 1 AEUV (für alle Beeinträchtigungen) Öffentliche Ordnung, Sicherheit und Gesundheit b) Ungeschriebene: In Gestalt zwingender Gründe des Allgemeinwohls (für formal unterschiedslos angewandte Maßnahmen) Cassis-Gründe (wirksame steuerliche Kontrolle, Schutz der Verbraucher bzw. der öffentlichen Gesundheit, Lauterkeit des Handelsverkehrs) Weitere Gründe (soziale Sicherung, Kohärenz des Steuersystems etc.) 4. Rechtfertigungsschranken a) Verhältnismäßigkeit b) Grundrechte
VI. Freier Dienstleistungsverkehr 1. Schutzbereich 305 Art. 56 AEUV gewährleistet, dass Dienstleistungen über die Grenzen eines Mitgliedstaates hinaus ausgetauscht werden können. Beeinträchtigungen können etwa darin bestehen, dass Unternehmer, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig sind und von dort aus in der Bundesrepublik Deutschland Handwerksleistungen erbringen oder Abfälle entsorgen wollen, besonderen Bedingungen unterworfen oder ganz vom deutschen Markt ausgeschlossen werden. Dienstleistungen im Sinne der Legaldefinition des Art. 57 Abs. 1 AEUV sind 306 Leistungen, die in der Regel gegen Entgelt erbracht werden, soweit sie nicht den Vorschriften über den freien Waren- und Kapitalverkehr und über die Freizügigkeit der Personen unterliegen. In Abgrenzung der Dienstleistungsfreiheit zu den weiteren Grundfreiheiten haben sich dabei maßgebliche Charakteristika des Dienstleistungsbegriffs herausgebildet, nämlich fehlende Verkörperung (in Abgrenzung zur Warenverkehrsfreiheit), Selbstständigkeit (in Abgrenzung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit) und fehlende Integration in eine andere Volkswirtschaft (in Abgrenzung zur Niederlassungsfreiheit). 2. Aufgelockerte Grenzen 307 Art. 56 Abs. 1 AEUV grenzt die in Art. 57 AEUV definierten Dienstleistungen bei der Festlegung des Schutzbereiches nochmals ein, indem er ein grenzüberschreitendes Moment verlangt.
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Die Dienstleistungsfreiheit schützt nach ihrem Wortlaut ausschließlich Betäti- 308 gungen, die ein Unionsbürger in einem anderen Mitgliedstaat erbringt. Im Sinne eines möglichst lückenlosen Schutzes des Dienstleistungsverkehrs genügt es in zeitlicher Hinsicht, wenn der Leistungserbringer oder -empfänger noch vor Beendigung der vertraglichen Beziehung seinen Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt.138 Bezugspunkt des sachlichen Schutzbereichs ist nicht nur der Dienstleistungs- 309 erbringer, der grenzüberschreitend tätig wird. Immerhin wird der Dienstleistungsverkehr als solcher als Schutzgut in Art. 56 Abs. 1 AEUV benannt. Zudem ist dieses Schutzgut ohne weitere Spezifizierung auf Angehörige der Mitgliedstaaten bezogen, die in einem anderen Staat der Union als demjenigen des Leistungsempfängers ansässig sind. Auch Letzterer kann sich bewegen und zum Leistungserbringer gehen. Die Dienstleistungsfreiheit schützt daher auch die Empfänger der Dienstleistungen.139 So kann sich ein Tourist auf die Dienstleistungsfreiheit berufen, dem im Unterschied zu einheimischen Touristen bei einem Museumsbesuch kein kostenloser Einlass gewährt wird.140
Um den freien Dienstleistungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten zu ge- 310 währleisten, hat der EuGH die Anknüpfung des grenzüberschreitenden Moments an den Erbringer der Dienstleistung aufgelöst und damit den sachlichen Schutzbereich beträchtlich erweitert.141 Die Dienstleistung wird auch dadurch grenzüberschreitend, dass sie der Empfänger in einem anderen Mitgliedstaat nachfragt und erbringen lässt. Es genügt sogar, dass die Dienstleistung in einem anderen EUStaat erbracht wird, ohne dass einer der Beteiligten in einem anderen Mitgliedstaat wohnt bzw. seinen eigenen verlässt. Es spielt danach keine Rolle, ob der Dienstleistungserbringer (aktive Dienst- 311 leistungsfreiheit), der Dienstleistungsempfänger (passive Dienstleistungsfreiheit) oder die Dienstleistung als solche die Grenze überschreitet (Korrespondenzdienstleistung).142 Tabelle: Dienstleistungstypen Grenzüberschreitung durch aktive Dienstleistungs-freiheit passive Dienstleistungs-freiheit Korrespondenzdienstleistung
138 139 140 141 142
312 Leistungserbringer
Leistungsempfänger
x
Leistung selbst (x)
x x
EuGH, Rs. 15/78, Slg. 1978, 1971 (1979, Rn. 3) – Koestler. Kluth, in: Calliess/Ruffert, Art. 50 Rn. 27; Kort, JZ 1996, 132 (133). EuGH, Rs. C-45/93, Slg. 1994, I-911 (920, Rn. 10) – Kommission/Spanien. EuGH, Rs. 15/73, Slg. 1974, 406 (428, Rn. 6) – Sacchi für die Ausstrahlung von Fernsehsendungen. Etwa Kort, JZ 1996, 132 (133).
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3. Nationale Verbote 313 Der Dienstleistungsbegriff unterliegt aufgrund der unionsweiten Konzeption und der Divergenz der nationalen Regelungen dem Unionsrecht. Die Mitgliedstaaten können grundsätzlich nicht einzelne Bereiche ausklammern. Das ändert aber nichts daran, dass einzelne Tätigkeiten in manchen Mitgliedstaaten verboten sind. Dies betrifft vor allem den Schwangerschaftsabbruch. Dazu stellt sich die Frage, ob dieser für die Angehörigen des Verbotsstaates in einem anderen EU-Staat durchgeführt oder wegen dieses mitgliedstaatlichen Verbots auch in einem anderen EU-Staat nicht vorgenommen werden darf.143 Ein Verbot für eigene Staatsangehörige im eigenen Land ist infolge fehlenden Unionsbezugs unproblematisch. Ein tätigkeitsbezogenes Verbot auf dem eigenen Territorium auch für Anbieter aus anderen EU-Mitgliedstaaten wahrt den Grundsatz der Inländergleichbehandlung. Hingegen wird die Ausreise eigener Staatsangehöriger zu Dienstleistern in an314 deren Mitgliedstaaten bei einer Erstreckung eines nationalen Verbotes auch auf diesen Vorgang behindert und damit der dortige Markt beeinträchtigt. Das verstößt gegen den Grundsatz der freien Inanspruchnahme aller Angebote auf Unionsebene, die nach dem Recht eines Mitgliedstaates legal erbracht werden, wie er insbesondere für die Warenverkehrsfreiheit herausgearbeitet wurde.144 Damit kommt grundsätzlich kein Ausschluss national verbotener Tätigkeiten aus dem Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit in Betracht, sondern nur die Rechtfertigung einer Beeinträchtigung. Beispiel nach EuGH, Rs. C-159/90, Slg. 1991, I-4685 – SPUC: Nach dem SPUC-Urteil ist daher für einen ärztlichen Schwangerschaftsabbruch, der im Einklang mit dem Recht des Staates vorgenommen wird, in dem er stattfindet, der Schutzbereich der Dienstleistungsfreiheit eröffnet. Dies gilt unabhängig davon, dass Schwangerschaftsabbrüche in einem anderen Mitgliedstaat per Gesetz oder sogar wie in Irland von Verfassungs wegen verboten sind. Der EuGH betont hier, dass es nicht Sache des Gerichtshofes ist, die vom Gesetzgeber in den Mitgliedstaaten vorgenommene Beurteilung durch eine eigene Beurteilung zu ersetzen. Beispiel nach EuGH, Rs. C-275/92, Slg. 1994, I-1039 – Schindler, Werbung für Glücksspiel: Im Fall Schindler rechnete der EuGH die Werbung für und die Durchführung einer Lotterie unabhängig davon zum Wirtschaftsleben, dass Lotterien in einem Mitgliedstaat (GB) verboten sind, wenn sie in einem anderen Mitgliedstaat rechtmäßig durchgeführt werden (Deutschland)145 und hielt die Dienstleistungsfreiheit für anwendbar. Auch hier mochte der EuGH trotz der sittlichen Fragwürdigkeit nicht durch eine eigene Beurteilung die der einzelnen Mitgliedstaaten ersetzen. Nichtdiskriminierende Verbote von Lotterien in einzelnen Mitgliedstaaten können jedoch aus Gründen des Schutzes der Verbraucher und der Sozialordnung gerechtfertigt sein.146
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Einen Ausschluss aus dem Schutzbereich hält der EuGH nur dann für möglich, wenn eine Tätigkeit wegen ihrer Schädlichkeit in allen Mitgliedstaaten verboten 143 144 145 146
Vgl. EuGH, Rs. C-159/90, Slg. 1991, I-4685 (4738 f., Rn. 16 ff.) – SPUC. EuGH, Rs. 120/78, Slg. 1979, 649 (664, Rn. 14) – Cassis. EuGH, Rs. C-275/92, Slg. 1994, I-1039 (1087 f., Rn. 19 f.) – Schindler (Süddeutsche Klassenlotterie). Bereits EuGH, Rs. C-275/92, Slg. 1994, I-1039 (1096, Rn. 58 f.) – Schindler. Näher u. Rn. 320.
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ist.147 Dann liegt eine unionsweite Wertvorstellung vor, die zudem mit der Berufsfreiheit konform sein muss. Die legale Erbringung dieser Dienstleistung ist dann in allen EU-Staaten ausgeschlossen. 4. Begrenzungen Von der Dienstleistungsfreiheit ausgenommen sind wie bei der Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 62 i.V.m. Art. 51 AEUV Tätigkeiten, die eine unmittelbare und spezifische Teilnahme an der Ausübung öffentlicher Gewalt aufweisen. Das gilt etwa nicht für die Anwaltschaft. Die bislang wichtigste ungeschriebene Schutzbereichsbegrenzung hat der EuGH in der Rechtssache Keck148 für einzelne Verkaufsmodalitäten entwickelt, die unterschiedslos angewandt werden und ausländische und inländische Produkte rechtlich und tatsächlich in gleicher Weise treffen. Zumal soweit die Dienstleistungsfreiheit mit der Erbringung von Leistungen oder gar wie bei Handwerkerleistungen mit der Lieferung von Waren einhergeht, liegt wegen der entsprechenden Interessenlage eine Anwendung der Grundsätze jedoch nahe. Überdies besteht generell der Zweck der Grundfreiheiten darin, den Marktzugang zu garantieren, nicht aber die vollständige Marktgleichheit im gesamten Unionsgebiet herzustellen.149 Soweit also lediglich Modalitäten der Dienstleistungserbringung betroffen sind, können die Mitgliedstaaten nicht leistungsbezogene und nicht diskriminierende Beschränkungen vornehmen. Hingegen beeinflusst etwa ein Verbot der sogenannten cold callings unmittelbar den Zugang zum Dienstleistungsmarkt in anderen Mitgliedstaaten unmittelbar. Im Bereich der personenbezogenen Berufsregelungen als Ausdruck der nicht sachbezogenen Komponente der Dienstleistungsfreiheit ist die Übertragung der Keck-Rechtsprechung schwieriger. Es ist daher zu differenzieren zwischen Maßnahmen, die sich auf den Leistungserbringer beziehen, und Maßnahmen, die allein die Leistung als Produkt betreffen. Soweit es um Maßnahmen geht, die den Zugang zu bestimmten Tätigkeiten beeinträchtigen, sind die Grundsätze der KeckRechtsprechung nicht anwendbar. Denn insoweit stehen nicht Modalitäten des grenzüberschreitenden Leistungsaustauschs infrage, sondern der Zugang zum ausländischen Markt als solcher. Dieses „Ob“ betrifft sowohl Zulassungsvoraussetzungen, die in der Person des Leistenden liegen (zum Beispiel das Erfordernis bestimmter Qualifikationsnachweise), als auch personenunabhängige Zulassungsbeschränkungen (etwa gesetzlich angeordnete Dienstleistungsmonopole). Die durch die Keck-Rechtsprechung begründete Schutzbereichsbegrenzung greift daher im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit bei unterschiedslos anwendbaren Ausübungsregeln ohne Bezug auf die Leistung selbst. Zu den Ausübungsregeln gehören etwa Arbeitsverbote an Sonntagen oder Abgaben für Infrastruktureinrichtungen.150
147 148 149 150
EuGH, Rs. C-275/92, Slg. 1994, I-1039 (1090, Rn. 32) – Schindler. EuGH, Rs. C-267 u. 268/91, Slg. 1993, I-6097 (6131, Rn. 14 ff.) – Keck. S.u. Rn. 228. EuGH, Rs. C-544 u. 545/03, Slg. 2005, I-7723 – Mobistar.
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Kapitel 3: Grundfreiheiten
VII. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen 320 Beeinträchtigungen sind wie bei der Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 62 i.V.m. Art. 52 AEUV gerechtfertigt aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit. 151 Wie bei den anderen Grundfreiheiten greifen die ungeschriebenen Rechtfertigungsgründe nach der Cassis-Formel.152 Beispiel nach EuGH, Rs. C-58/98, Slg. 2000, I-7919 – Corsten; Rs. C-215/01, Slg. 2001, I14847 – Schnitzer: Einem niederländischen Unternehmen werden Estrich-Arbeiten in Deutschland verwehrt, weil es nicht in die Handwerksrolle eingetragen ist. – Dieses formale Erfordernis ist geeignet, Dienstleistungen aus einem anderen Mitgliedstaat zu unterbinden oder weniger attraktiv zu machen. Diese personenbezogene Voraussetzung beeinträchtigt daher, obwohl unterschiedslos auf in- und ausländische Anbieter anwendbar, die Dienstleistungsfreiheit. Eine Rechtfertigung aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses entsprechend der Cassis-Formel besteht nicht, wenn die Voraussetzungen für die Aufnahme der Tätigkeit bereits im Herkunftsland geprüft wurden: An diese Feststellung sind die deutschen Behörden gebunden. Eine Pflichtmitgliedschaft in der Handwerksrolle aus Gründen der Qualitätssicherung und des Verbraucherschutzes kann daher nur im Falle einer Niederlassung und für eine Dienstleistung allenfalls pro forma sowie kostenfrei erforderlich sein, um die Einhaltung grundlegender Bestimmungen sicherzustellen. Beispiel nach EuGH, Rs. C-46/08, NVwZ 2010, 1422 – Carmen Media; Rs. C-316/07 u.a., NVwZ 2010, 1409 – Stoß sowie Rs. C-409/06, NVwZ 2010, 1419 – Winner Wetten: Private Wetten werden mit der Begründung eingeschränkt, dass die Teilnehmer nicht spielsüchtig werden sollen. Dies trifft auch Wettanbieter aus anderen EU-Staaten. Demgegenüber finden in staatlicher Obhut Wetten statt und werden auch beworben – Das Anbieten von Wetten unterfällt der Dienstleistungsfreiheit. Diese wird durch Verbote beschränkt. Ein Rechtfertigungsgrund ist der Verbraucherschutz, der über die Cassis-Formel für alle Grundfreiheiten eingreift. Allerdings wird dieser Rechtfertigungsgrund insoweit nicht vollständig verfolgt, als staatliche Wettanbieter parallele Produkte anbieten. Daher dürfen diese allenfalls höchst zurückhaltend werben. Nur dann ist die hinreichende Stringenz gewahrt, die eine Maßnahme erst geeignet macht, das angestrebte Ziel (hier Schutz der Verbraucher vor Spielsucht) zu erreichen. Dieses Ziel muss also in kohärenter und systematischer Weise verfolgt werden, um tatsächlich eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit zu rechtfertigen. Insoweit sind auch die mitgliedstaatlichen Beurteilungsspielräume begrenzt, die der EuGH im Rahmen der Rechtfertigung von Grundfreiheiten in jüngster Zeit verstärkt betont. 153
321
Fall nach EuGH, Rs. C-76/05, Slg. 2007, I-6849 – Schwarz:154 Schulgeld an inländischen Schulen kann als Sonderausgabe die Einkommensteuer mindern, nicht hingegen Schulgeld an Schulen in anderen EU-Staaten, um den Staatshaushalt zu schonen. Dass Eltern, die auf ihr inländisches Arbeitseinkommen oder auf ihre Einnahmen als Selbstständige Steuern zahlen, ihre Kinder ins Ausland zur Schule schicken, macht sie selbst nicht zu Wanderarbeitnehmern oder in einen anderen EU-Staat wechselnden Selbstständigen. Die Personenfreizügigkeit (Art. 45, 49 AEUV) ist daher nicht einschlägig. Indes fällt auch das Empfangen von Dienstleistungen in einem anderen Mitgliedstaat unter Art. 56 AEUV (passive Dienstleistungsfreiheit).
151 152 153 154
S.o. Rn. 278. S.o. Rn. 241 f. sowie speziell für die Dienstleistungsfreiheit bereits EuGH, Rs. 33/74, Slg. 1974, 1299 (1309, Rn. 10/12) – van Binsbergen. S. bereits EuGH, Rs. C-171 u. 172/07, Slg. 2009, I-4171 (4207, Rn. 19) – Doc Morris; näher Frenz, Europarecht 5, Rn. 3509 ff.; Heidfeld, DVBl. 2010, 1547. Parallel zu einer Einkommensteuerbefreiung für nebenberufliche und quasi ehrenamtliche Lehrdienstleistungen nur an inländischen Universitäten EuGH, Rs. C-281/06, Slg. 2007, I-12231– Jundt.
F. Niederlassungsfreiheit
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Voraussetzung ist aber nach Art. 57 AEUV deren Entgeltlichkeit. Damit muss der Schulunterricht im Wesentlichen privat finanziert sein. Entscheidend ist dabei die besuchte Schule im Ausland und nicht eine vergleichbare Einrichtung in Deutschland. Wird eine überwiegend aus öffentlichen Geldern finanzierte Schule in einem anderen Mitgliedstaat besucht, ist die subsidiäre allgemeine Bewegungs- und Aufenthaltsfreiheit nach Art. 21 Abs. 1 AEUV einschlägig.155 Dass Zahlungen an ausländische Schulen steuerlich nicht geltend gemacht werden können, hält Inländer infolge einer höheren Belastung davon ab, ihre Kinder in solche Schulen zu schicken, und erschwert damit die Wahrnehmung der (passiven) Dienstleistungsfreiheit bzw. der allgemeinen Bewegungsfreiheit. Zudem wird mittelbar ein darauf abgestimmtes Angebot von Schulen in anderen EU-Staaten und damit bei Entgeltlichkeit die aktive Dienstleistungsfreiheit beeinträchtigt. Wegen dieser Auswirkungen auf unionsrechtliche Freiheitsgarantien ist es unbeachtlich, dass den Mitgliedstaaten sowohl die Steuer- als auch die Bildungshoheit verblieben sind. Beide dürfen sie nur unter Wahrung des (allgemein gültigen) Unionsrechts ausüben. Eine Verringerung des Steueraufkommens und damit des Staatshaushalts sind in Art. 62 i.V.m. 52 AEUV nicht benannt. Sie bilden rein inländische finanzielle Interessen und können daher keinen zwingenden Grund des Allgemeininteresses zur Einschränkung der Grundfreiheiten bilden.156 Soweit man eine ansonsten übermäßige Belastung beschränkter staatlicher Finanzmittel, die dann das gesamte Niveau der Förderung beträfe, als Rechtfertigungsgrund akzeptiert, müsste die Förderung ausländischer Schulbesuche durch Steuererleichterungen gleichheitskonform und verhältnismäßig gedeckelt werden. Sie dürfte also nicht gänzlich ausgeschlossen, sondern nur auf das Maß begrenzt werden, das auch bei kostenpflichtigen inländischen Schulbesuchen gewährt wird, sei es der Höhe nach, sei es nach objektiven Qualitätskriterien, die gleichermaßen Anwendung finden. Daher ist auch eine Beeinträchtigung von Art. 21 Abs. 1 AEUV nicht gerechtfertigt, auf den bei Unanwendbarkeit von Art. 56 AEUV zurückzugreifen wäre. Abzustellen wäre dann auf die allgemeine Bewegungsfreiheit der Schüler, die gleichfalls nur gleichheitsgerecht und verhältnismäßig beschränkt werden darf.
VIII. Prüfungsschema Vorprüfung: keine abgeschlossene Totalharmonisierung durch sekundäres Unionsrecht 1. Schutzbereich a) Sachlich: in der Regel entgeltliche, grenzüberschreitende Dienstleistung b) Persönlich: Unionsbürger, sei es Leistungserbringer o. -empfänger c) Keine Ausübung öffentlicher Gewalt (Art. 62 i.V.m. 51 Abs. 1 AEUV) d) Keine unterschiedslose Leistungsmodalität (Keck analog) 2. Beeinträchtigung a) Offene/versteckte Diskriminierungen 155
156
Diese greift auch beim Zugang an staatliche Hochschulen; dazu Frenz, JA 2007, 4 (8); näher u. Rn. 325, zum Bafög-Anspruch EuGH, Rs. C-11 u. 12/06, Slg. 2007, I-9161 (9205, Rn. 23) – Morgan und Bucher. S.o. Rn. 299.
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Kapitel 3: Grundfreiheiten b) Allgemeine Beschränkungen c) Durch Tun oder Unterlassen d) Durch Mitgliedstaaten, Unionsorgane; Private nur bei Stellung wie Staat 3. Rechtfertigungsgründe a) Geschriebene: Art. 62 i.V.m. Art. 52 AEUV b) Ungeschriebene in Gestalt zwingender Gründe des Allgemeinwohls; insbes.: aa) Verbraucherschutz bb) soziale Belange cc) Medienordnung dd) Grundrechte 4. Rechtfertigungsschranken a) Grundrechte b) Verhältnismäßigkeit
G. Allgemeines Fortbewegungs- und Aufenthaltsrecht: die Studierendenfreizügigkeit 323 Art. 21 AEUV wird insbesondere durch Zugangsbeschränkungen für Studierende aus anderen Mitgliedstaaten beeinträchtigt. Danach hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Daraus erwächst ein umfassendes Recht auf Freizügigkeit und Aufenthalt in anderen Mitgliedstaaten. Voraussetzung ist nur die Unionsbürgerschaft, nicht die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbstständiger. Eine weitere Ausgestaltung ist in Art. 21 Abs. 2 AEUV vorgesehen, nach Abs. 3 auch im Hinblick auf die soziale Sicherheit und den sozialen Schutz, dies allerdings im besonderen Gesetzgebungsverfahren. Dies bedeutet aber nicht, dass bereits aus dem Freizügigkeits- und Aufenthalts324 recht selbst automatisch ein Anspruch auf soziale Gleichbehandlung folgt. Es handelt sich um ein Fortbewegungs- und Aufenthaltsrecht und nicht um ein umfassendes verstecktes soziales Grundrecht.157 325 Fall Nicolas Bressol nach EuGH, Rs. C-73/08, NVwZ 2010, 1141: Der französische Student Bressol möchte in Belgien Medizin studieren, wird aber abgewiesen. Grundlage dafür bildet ein Dekret zur Regelung der Studierendenzahl in bestimmten Studiengängen im Hinblick auf den übergroßen Zustrom französischer Studierender, die in Belgien Medizin studieren wollen. Hingegen haben Personen mit Hauptwohnsitz in Belgien einen freien Zugang.
157
Abl. auch Kotzur, in: Geiger/Khan/Kotzur, Art. 21 AEUV Rn. 7; weiter indes EuGH, Rs. C-85/96, Slg. 1998, I-2691 – Martinez Sala; Rs. C-158/07, Slg. 2008, I-8507 – Förster.
G. Allgemeines Fortbewegungs- und Aufenthaltsrecht: die Studierendenfreizügigkeit
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Lösungsgliederung: I. Durch die allgemeine Freizügigkeit gebundene nationale Bildungskompetenz II. Diskriminierungsverbot III. Mittelbare Diskriminierung IV. Rechtfertigungsgrund V. Darlegungslast VI. Verhältnismäßigkeit VII. Rückwirkung VIII. Ergebnis Lösungsvorschlag: I. Durch die allgemeine Freizügigkeit gebundene nationale Bildungskompetenz Zwar belassen Art. 165 Abs. 1 und 166 Abs. 1 AEUV die eigentliche Bildungskompetenz bei den Mitgliedstaaten. Sie haben insbesondere die Verantwortung für die Gestaltung der Bildungssysteme und der beruflichen Bildung; die Union wirkt nur unterstützend und ergänzend (s. auch Art. 6 lit. e) AEUV). Indes sind die Mitgliedstaaten durchgehend an die Grundfreiheiten und auch die Bestimmungen über die Freizügigkeit und die Aufenthaltsfreiheit gebunden. Damit können die Mitgliedstaaten sich zwar für ein bestimmtes Bildungssystem entscheiden und damit auch wählen, ob sie die Zahl der Studierenden, die sich einschreiben können, beschränken oder nicht. II. Diskriminierungsverbot Dieses System müssen sie aber unionsrechtskonform und damit auch vereinbar mit dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit ausgestalten. Dieser Grundsatz nach Art. 18 AEUV gilt nämlich auch im Bereich des Rechts auf freie Bewegung und Aufenthalt nach Art. 21 Abs. 1 AEUV. Damit wird der Anwendungsbereich des Unionsrechts eröffnet. Dadurch können sich die Betroffenen auf Art. 18 AEUV berufen, und zwar auch im Hinblick auf die Voraussetzungen für den Zugang zur Berufsausbildung und damit zum Hochschul- bzw. Universitätsstudium. Ein Mitgliedstaat darf daher weder unmittelbar noch mittelbar bei diesem Zugang diskriminieren. Genau das aber erfolgt, wenn nur im eigenen Staat ansässige Studierende unbeschränkten Zugang erhalten, nicht aber die aus anderen Staaten kommenden. III. Mittelbare Diskriminierung Knüpft auch die Regelung an den Hauptwohnsitz in dem betreffenden Mitgliedstaat an und nicht an die Staatsangehörigkeit, folgt daraus doch, dass zumindest faktisch die Angehörigen anderer Mitgliedstaaten besonders benachteiligt zu werden drohen. Das genügt für eine mittelbare Diskriminierung. Damit diese rechtmäßig ist, müsste sie objektiv gerechtfertigt sein. Sie müsste also geeignet sein, die Erreichung des mit ihr erfolgten Zieles zu gewährleisten, und darf nicht über das dafür Erforderliche hinausgehen. IV. Rechtfertigungsgrund Rechtfertigungsgrund ist weniger eine finanzielle Überforderung als vielmehr die Funktionsfähigkeit des nationalen Bildungssystems und seine Einheitlichkeit sowie hier spezifisch die Sicherung einer qualitativ hochwertigen, ausgewogenen allgemein zugänglichen medizinischen Versorgung, mithin ein hohes Niveau des Gesundheitsschutzes. Grundlage ist, dass genügend Berufsträger dafür ausgebildet werden und im Lande bleiben. Einheimische tun das indes nicht immer. Umgekehrt ist aber auch möglich, dass nicht in dem beschränkenden Mitgliedstaat ansässige Unionsbürger nach dem Studium bleiben und damit Teil der medizinischen Versorgung werden. V. Darlegungslast Dies alles ist im Einzelnen darzulegen, und zwar von dem Mitgliedstaat, der den Zugang zum Hochschulstudium beschränkt. Dieser muss aber nicht bis zu einem tatsächlichen Fehlen medizinischen Personals warten, sondern kann auch bei Ungewissheiten über die künftige Ent-
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Kapitel 3: Grundfreiheiten
wicklung handeln, hat mithin einen Prognosespielraum. Wie er diesen ausübt, muss er freilich durch Tatsachen näher darlegen. Bloße Spekulationen genügen nicht. VI. Verhältnismäßigkeit Dabei muss der Mitgliedstaat die Erforderlichkeit wahren und damit einen gleichwohl möglichst weiten und vor allem gleichheitsgerechten Zugang zum Hochschulunterricht sichern. Hierfür müssen auch die Kenntnisse und Erfahrungen der Bewerber nicht ansässiger Studierender berücksichtigt werden. Ein bloßes Losverfahren ist unverhältnismäßig und verstößt damit gegen Art. 18 i.V.m. 21 AEUV. Daran ändert auch Art. 13 Abs. 2 lit. c) des internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte158 nichts, da auch dieser eine Diskriminierung nach der nationalen Herkunft ausschließt und keinen breiten Zugang zu einem Hochschulunterricht von guter Qualität nur für die eigenen Staatsangehörigen gewährleisten will. VII. Rückwirkung Belgien fürchtet eine Anwendung des Urteils ex tunc, weil es viele nicht ansässige Bewerber abgewiesen hat. Allein die finanziellen Konsequenzen aus einem Urteil können indes nicht dessen Wirkungen zeitlich begrenzen. Hinzu kommen muss vielmehr, dass gutgläubig gehandelt wurde und die Tragweite der fraglichen Unionsbestimmungen objektiv in hohem Maße unsicher war. Das ist hier nicht der Fall. Daher kann sich Belgien auch nicht auf den Grundsatz der Rechtssicherheit berufen, der in gutem Glauben begründete Rechtsverhältnisse voraussetzt und ein Urteil zeitlich beschränken kann, wenn zudem schwerwiegende Störungen drohen. VIII. Ergebnis Der französische Student Bressol durfte also nicht abgewiesen werden, sondern hat jedenfalls bei entsprechender Abiturnote oder Testleistung einen Zugangsanspruch auf ein Medizinstudium in Belgien, außer tatsächliche Anhaltspunkte gefährden angesichts des großen Zustroms von Nicht-Belgiern die inländische medizinische Versorgung mit genügend Ärzten. Das zu beurteilen überlässt der EuGH indes den nationalen Gerichten. Insoweit handelt es sich um eine diesen obliegende Beurteilung des konkreten Falles.
H. Kapitalverkehrsfreiheit I. Allgemeines 326 Art. 63 ff. AEUV gewährleisten die Freiheit des Kapital- und Zahlungsverkehrs. Zum Kapitalverkehr gehören alle einseitigen Wertübertragungen aus einem Mitgliedstaat in einen anderen, die zugleich eine Vermögensanlage darstellen, nicht hingegen der Austausch von Leistung und Gegenleistung. Insoweit greifen die für die Hauptleistung anwendbaren Vorschriften, insbesondere die Waren- und die Dienstleistungsfreiheit. Eine zusätzliche Liberalisierung bewirkt Art. 63 Abs. 2 AEUV, der Beschränkungen des Zahlungsverkehrs verbietet und damit auch die Erbringung von finanziellen Gegenleistungen erfasst. Beide Vorschriften sind unmittelbar anwendbar.159 Die beiden Freiheiten können von den Mitgliedstaaten gemäß Art. 65 AEUV 327 durch Ausnahmeregelungen insbesondere aus Gründen der Steuererfassung und Bankenaufsicht, aber auch zur Bekämpfung hinreichend schwerwiegender 158 159
Von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 16.12.1966 angenommen, am 3.1.1976 in Kraft getreten. S. EuGH, Rs. C-163/94 u.a., Slg. 1995, I-4821 (4841 f., Rn. 42 f.) – Sanz de Lera.
H. Kapitalverkehrsfreiheit
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Rechtsverstöße wie Geldwäsche, Drogenhandel und Terrorismus160 beschränkt werden. Diese Beschränkungen dürfen aber gemäß Art. 65 Abs. 3 AEUV kein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung bilden und müssen verhältnismäßig sein. Wie bei den anderen Grundfreiheiten finden neben den explizit genannten Be- 328 schränkungsmöglichkeiten ungeschriebene Rechtfertigungsgründe Anwendung, wie der EuGH zuletzt im Zusammenhang mit seinen Entscheidungen zu Goldenen Aktien explizit anerkannt hat.161 Weil insoweit Beeinträchtigungen der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses entsprechend der Cassis-Formel162 gerechtfertigt werden können, ist ein Gleichklang mit den anderen Grundfreiheiten hergestellt. Dies entspricht der Ausgestaltung der Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit durch den Maastrichter Vertrag als wirklicher Grundfreiheit. Dementsprechend gelten auch die allgemeinen Schranken der Rechtfertigung, insbesondere in Form des Verhältnismäßigkeitsprinzips und des Diskriminierungsverbotes. Schließlich ist auch die Kapital- und Zahlungsverkehrsfreiheit kein bloßes Diskriminierungsverbot, sondern ist als umfassend angelegtes Beschränkungsverbot zu verstehen, ins Werk gesetzt praktisch mit der Dassonville-Formel, aber wie die Warenverkehrsfreiheit durch die Keck-Judikatur limitiert.163 Hauptanwendungsfälle sind Grunderwerbskonstellationen und Aktienanlagen bzw. Erwerbe von Unternehmensanteilen. II. Zweitwohnungen Ein Beispiel für die Beschränkung des Grundstückserwerbs sind Regelungen, mit 329 denen die Einrichtung von Zweitwohnsitzen verhindert werden soll. Sie sollen dafür sorgen, dass vor allem touristisch attraktive Gegenden nicht veröden, weil sie mit Häusern bzw. Wohnungen bebaut sind, die nur für einen begrenzten Zeitraum im Jahr bewohnt werden. 330 Fall nach EuGH, Rs. C-302/97, Slg. 1999, I-3099 – Konle: Der EuGH hat sich bislang mit den Grundverkehrsgesetzen dreier österreichischer Bundesländer befasst, die solchen raumplanerisch unerwünschten Entwicklungen entgegensteuern sollten. Das Tiroler Grundverkehrsgesetz statuierte einen Genehmigungsvorbehalt für den Erwerb von Baugrundstücken. Die Genehmigung war an die glaubhaft zu machende Erklärung des Erwerbers geknüpft, dass kein Freizeitwohnsitz geschaffen werden solle. Auf der Grundlage dieser Vorschrift wurde der Erwerbsantrag des Angehörigen eines anderen Mitgliedstaates abgelehnt, obwohl dieser versichert hatte, dass er seinen Hauptwohnsitz in Tirol nehmen und dort eine kaufmännische Tätigkeit ausüben wolle. Der Genehmigungsvorbehalt beschränkt den freien Kapitalverkehr. Er ist nur zulässig, wenn er nicht diskriminierend angewandt wird und keine weniger einschneidenden Verfahren zur Verfügung stehen. Das Erfordernis der Glaubhaftmachung räumt indes der Genehmigungsbehörde einen weiten Beurteilungsspielraum ein, der eine diskriminierende Anwendung ermöglicht. Weiter ist das Ziel des Gesetzes anstelle eines präventiv wirkenden Genehmigungsvorbehaltes auch mit den Kapitalverkehr weniger beeinträchtigen-
160 161 162 163
EuGH, Rs. C-358 u. 416/93, Slg. 1995, I-361 – Bordesa. EuGH, Rs. C-171/08, EuZW 2010, 701 (705, Rn. 69) – Kommission/Portugal (Goldene Aktien). S.o. Rn. 241 f. S. jüngst EuGH, Rs. C-171/08 EuZW 2010, 701 (704 f., Rn. 50, 65 ff.) – Kommission/Portugal (Goldene Aktien).
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Kapitel 3: Grundfreiheiten
den repressiven Maßnahmen wie etwa einer Geldbuße oder einer Nutzungsuntersagung zu erreichen. Beispiel nach EuGH, Rs. C-515, 519-524/99 u. 526-540/99, Slg. 2002, I-2157 – Reisch (Salzburger Zweitwohnungssteuer): Die Vorschriften des Salzburger Grundverkehrsgesetzes waren verfahrensrechtlich etwas anders gestaltet. Danach war die Übertragung eines Baugrundstückes nur zulässig, wenn der Erwerber das Geschäft anzeigte und eine Erklärung abgab, dass er Österreicher oder Angehöriger eines anderen Mitgliedstaates sei und eine der im AEUV garantierten Freiheiten in Anspruch nehme. Darüber hinaus musste er erklären, dass er das Grundstück als Hauptwohnsitz oder zu gewerblichen Zwecken nutzen werde. Diesen Teil der Vorschriften bewertete der EuGH als eine verhältnismäßige und deshalb zulässige Einschränkung des Grundstücksverkehrs.
III. Goldene Aktien: VW-Gesetz 331 Immer noch offen ist der Ausgang des (nunmehr erneuten) Vertragsverletzungsverfahrens der Kommission gegen die Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf das VW-Gesetz.164 Dieses Gesetz sah ursprünglich165 unabhängig von der Höhe der Beteiligung eine Stimmrechtsbeschränkung auf 20 % vor. Weiterhin war darin eine Sperrminorität vorgesehen, wonach Beschlüsse in der Hauptversammlung mit einer Mehrheit von 4/5 der abgegebenen Stimmen zu fassen sind. Darüber hinaus waren der Bund166 und das Land Niedersachsen berechtigt, jeweils zwei Mitglieder in den Aufsichtsrat zu entsenden, solange sie Anteile an der Volkswagen-AG halten. Diese beiden Bestimmungen sah der EuGH ausdrücklich als Verstoß gegen die Kapitalverkehrsfreiheit an.167 Damit wurden lediglich zwei Einzelpunkte benannt. Hintergrund bildet aber eine detaillierte Untersuchung der Kapitelverkehrsfreiheit und der Rechtfertigung etwaiger Beschränkungen. Mittlerweile wurden die Bestimmungen angepasst. Niedersachsen hat nach der VWSatzung168 aber immer noch ausweislich deren § 11 Abs. 1 zwei Mitglieder im Aufsichtsrat, aber nur, solange dem Land unmittelbar oder mittelbar mindestens 15 % der Stammaktien der Gesellschaft gehören. Da der Aufsichtsrat aus 20 Mitgliedern besteht, liegt der Anteil Niedersachsens noch unter dem Wert, der seinem Anteil an den Stammaktien der Gesellschaft entspricht. Allerdings ist insofern Niedersachsen privilegiert, als es zwei Mitglieder fest in den Aufsichtsrat zu entsenden vermag. Ein solches Vorzugsrecht haben die anderen Aktionäre nicht.
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Die Einleitung des ersten Verfahrens war nach den Goldene Aktien-Urteilen gegen Portugal, Frankreich und Belgien erwartet worden, vgl. Ruge, EuZW 2002, 421 (423 f.). Diese Regelungen wurden erstmals mit Gesetz über die Überführung der Anteilsrechte an der Volkswagenwerk GmbH in private Hand vom 21.7.1960, BGBl. I S. 585 erlassen und durch Gesetz vom 30.7.2009, BGBl. I S. 2479 geändert. Schon damals wurden lediglich zwei Aufsichtsratssitze vom Land Niedersachsen wahrgenommen, der Bund hatte seinen Aktienbesitz aufgegeben, vgl. Wellige, EuZW 2003, 427 (428, Fn. 5). EuGH, Rs. C-112/05, Slg. 2007, I-8995 (9043, Rn. 82 sowie 1. Leitsatz) – Kommission/Deutschland. Stand: 12/2010.
H. Kapitalverkehrsfreiheit
105
Damit stellt sich die Frage, ob schon dieses Entsenderecht geeignet ist, Investo- 332 ren von einem Erwerb von VW-Aktien abzuhalten. Diesen möglichen Effekt hat der EuGH in den bereits entschiedenen Verfahren als Kapitalverkehrsbeschränkung bewertet.169 Indes hob der EuGH in seinem VW-Urteil darauf ab, dass nach der bisherigen Regelung der Umfang der Beteiligung auch des Landes Niedersachsen bei der Entsendung von Vertretern in den Aufsichtsrat nicht berücksichtigt wurde.170 Das ist nun anders. Gleichwohl ist es konsequent, allein schon in der Garantie von zwei Aufsichtsratsmandaten eine die Kapitalverkehrsfreiheit beeinträchtigende Privilegierung eines staatlichen Anteilseigners zu sehen. Eine solche Privilegierung besteht ohnehin nach dem aufrechterhaltenen § 4 Abs. 3 VW-Gesetz. Danach bedürfen Beschlüsse der Hauptversammlung, für die sonst nach dem Aktiengesetz eine Dreiviertelmehrheit genügt, einer Vierfünftelmehrheit. Gerade diese dauerhafte Sperrminorität wurde vom EuGH beanstandet.171 Allerdings war sie bisher auf den 20 %-Anteil Niedersachsens zugeschnitten. Jetzt aber ist in § 11 Abs. 1 der VW-Satzung nur noch von einem mindestens 15 %-igen Anteil Niedersachsens die Rede. Damit hängt die Frage der Beanstandung davon ab, ob sich dadurch eine Sperrminorität ergibt. Indes ist nirgendwo der Anteil Niedersachsens auf 15 % der Stammaktien beschränkt. Daher kann Niedersachsen, sollte es mittlerweile einen niedrigeren Anteil als 20 % besitzen, insoweit wieder aufstocken. Bereits diese Möglichkeit ist geeignet, Anleger aus anderen Mitgliedstaaten jedenfalls von Direktinvestitionen abzuhalten. 172 Dass es auf diese Eignung ankommt und nicht auf tatsächliche Verhältnisse, zeigen gerade auch Erwägungen in der dritten Portugal-Entscheidung.173 Vor diesem Hintergrund wären die Regelungen des VW-Gesetzes nur rechtmä- 333 ßig, wenn sie durch zwingende Interessen des Allgemeinwohls gerechtfertigt wären. Dies erscheint fraglich. De EuGH lehnte bereits die Rechtfertigungsgründe der Arbeitnehmerinteressen und des Schutzes der Minderheitsaktionäre ab. Insoweit muss ein spezifischer Bezug der die Kapitalverkehrsfreiheit beeinträchtigenden Regelung bestehen, der nicht dargelegt wurde. Nur dann kann die Eignung und die Erforderlichkeit für die Erreichung der geltend gemachten Ziele angenommen werden.174 Weiter bildet die Automobilproduktion – trotz ihrer enormen wirtschaftlichen und arbeitsmarktpolitischen Bedeutung – keine Dienstleistung von allgemeinem oder strategischem Interesse. Zudem stellen das Entsenderecht wie auch die Stimmrechtsbeschränkung keine Maßnahmen dar, die eine Aufrechterhaltung der Produktion sichern könnten. Als sonstiges zwingendes Interesse zur Rechtfertigung der Stimmrechtsbeschränkung könnte allenfalls das Ziel einer breiteren Streuung des Aktienbesitzes angeführt werden. Eine solche ist
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174
Vgl. nur EuGH, Rs. C-483/99, Slg. 2002, I-4781 (4802, Rn. 41) – Goldene Aktien II (Kommission/Frankreich). EuGH, Rs. C-112/05, Slg. 2007, I-8995 (9039, Rn. 63) – Kommission/Deutschland. EuGH, Rs. C-112/05, Slg. 2007, I-8995 (9035, Rn. 46) – Kommission/Deutschland. S. EuGH, Rs. C-112/05, Slg. 2007, I-8995 (9036, Rn. 52) – Kommission/Deutschland. EuGH, Rs. C-543/08, EuZW 2011, 17 (22, Rn. 69 ff.) – Kommission/Portugal III unter Bezug gerade auf EuGH, Rs. C-112/05, Slg. 2007, I-8995 (9036 f., Rn. 54 f.) – Kommission/Deutschland. EuGH, Rs. C-112/05, Slg. 2007, I-8995 (9042, Rn. 74 ff.) – Kommission/Deutschland.
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Kapitel 3: Grundfreiheiten
aber nicht notwendig an Privilegierungen öffentlich-rechtlicher Körperschaften gebunden.175 IV. Prüfungsschema 334 Vorprüfung: keine abgeschlossene Totalharmonisierung durch sekundäres Unionsrecht 1. Schutzbereich a) Kapital- oder Zahlungsverkehr im Sinne von Art. 63 Abs. 1 oder 2 AEUV b) Abgrenzung zu anderen Grundfreiheiten 2. Beeinträchtigung a) Offene oder versteckte Diskriminierung b) Sonstige Beeinträchtigung analog Dassonville c) Keine bloße Modalität analog Keck 3. Rechtfertigungsgründe a) Geschriebene Rechtfertigungsgründe aa) Art. 65 Abs. 1 AEUV (steuerrechtliche Ungleichbehandlung, Schutz vor Umgehung innerstaatlicher Rechts- und Verwaltungsvorschriften, Meldeverfahren für den Kapitalverkehr, Öffentliche Sicherheit und Ordnung) bb) Art. 64 AEUV cc) Art. 66 AEUV b) Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe aa) Raumplanerische Ziele bb) Umweltschutz cc) Beständigkeit öffentlicher Dienstleistungen 4. Rechtfertigungsschranken a) Keine willkürliche Diskriminierung, Art. 65 Abs. 3 AEUV b) Verhältnismäßigkeit c) Grundrechte
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Abl. Wellige, EuZW 2003, 427 (433) unter Hinweis auf die Begründung der Bundesregierung zum KonTraG (Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich) vom 27.4.1998, die auf alternative Schutzmechanismen verwiesen hat.
Kapitel 4: Wettbewerbsfreiheit Literatur: Frenz, Walter, Handbuch Europarecht Band 2: Europäisches Kartellrecht, 2006; ders., Handbuch Europarecht Band 3: Beihilfe- und Vergaberecht, 2007; Koenig, Christian/Schreiber, Kristina, Europäisches Wettbewerbsrecht, 2010; Koenig, Christian/Kühling, Jürgen/Ritter, Nicolai, EG-Beihilfenrecht, 2. Aufl. 2005; Lübbig, Thomas/ Martin-Ehlers, Andrés, Beihilfenrecht der EU, 2. Aufl. 2009; Mestmäcker, ErnstJoachim/Schweitzer, Heike, Europäisches Wettbewerbsrecht, 2. Aufl. 2004. Leitentscheidungen: EuGH, Rs. 85/76, Slg. 1979, 461 – Hoffmann-La Roche; Rs. 31/80, Slg. 1980, 3775 – L´Oréal; Rs. 98 u.a./85, Slg. 1988, 5193 – Ahlström; Rs. C-266/93, Slg. 1995, I-3477 – Volkswagen und VAG Leasing für Handelsvertreter; Rs. C-24/95, Slg. 1997, I-1591 – Alcan; Rs. C-379/98, Slg. 2001, I-2099 – PreussenElektra; Rs. C475/99, Slg. 2001, I-8089 – Ambulanz Glöckner; Rs. C-280/00, Slg. 2003, I-7747 – Altmark; Rs. C-458/03, Slg. 2005, I-8585 – Parking Brixen; Rs. C-346/06, Slg. 2008, I-1989 – Rüffert; Rs. C-413/06 P, Slg. 2008, I-4951 – Impala; Rs. C-501 u.a./06 P, Slg. 2009, I-9291 – GlaxoSmithKline Services; Rs. C-441/07 P, EWS 2010, 330 – Alrosa.
A. Unternehmensbezogene Verbote I. Verbot wettbewerbsbehindernder Vereinbarungen und Beschlüsse Art. 101 Abs. 1 AEUV erfasst Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Be- 335 schlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen, worunter auch ein bloßes paralleles Verhalten fällt, sofern es koordiniert erfolgt. 1 Diese Verhaltensweisen sind dann mit dem Binnenmarkt unvereinbar und ver- 336 boten, wenn sie x den Handel von Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen geeignet sind. Es genügt also, wenn sie dem Handel zwischen den Mitgliedstaaten schaden können, etwa durch Abschotten nationaler Märkte oder eine Veränderung der Konkurrenzstruktur. Es muss sich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit voraussehen lassen, dass die entsprechende Verhaltensweise unmittelbar oder mittelbar, tatsächlich oder potenziell den Warenverkehr zwischen Mitgliedstaaten beeinflussen kann.2 Die zu befürchtenden Auswirkungen dürfen mithin nicht lediglich national sein, sondern müssen eine grenzüberschreitende Dimension haben. x eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Binnenmarktes bezwecken oder bewirken. Wenn also zwei Wirtschaftssubjekte die Absicht haben, den Wettbewerb zu beeinträchtigen, muss 1 2
Vgl. z.B. EuGH, Rs. 395/87, Slg. 1989, 2521 (2573 f., Rn. 23 ff.) – Tournier. EuGH, Rs. 56/65, Slg. 1966, 281 (303) – Maschinenbau Ulm; Rs. 31/80, Slg. 1980, 3775 (3791 f., Rn. 18 f.) – L´Oréal.
W. Frenz, Europarecht, DOI 10.1007/978-3-642-21019-8_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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dieses Resultat nur wahrscheinlich sein, selbst wenn das Verhalten keine wettbewerbsbeeinträchtigenden Auswirkungen hat. Wenn zwei Wirtschaftssubjekte keine wettbewerbsbeeinträchtigende Absicht haben, genügt es, wenn wettbewerbsbeeinträchtigende Wirkungen auftreten, sofern dieses Resultat nur vorhersehbar ist.3 Solche Verhaltensweisen können etwa auftreten, wenn sich alle nationalen Unternehmen einer Branche aufeinander abstimmen, um eine bestimmte Quote oder ein bestimmtes Umweltziel zum Beispiel in Form einer Produktverbesserung zu erreichen, ohne die Unternehmen aus dem EU-Ausland einzubeziehen. Diese müssen dann, auf sich allein gestellt, diese Entwicklung nachvollziehen oder sich den entsprechenden Anforderungen anpassen, was ihre Wettbewerbsfähigkeit mindert. Von Art. 101 Abs. 1 AEUV erfasste Verhaltensweisen können gemäß Art. 101 338 Abs. 3 AEUV unter folgenden Voraussetzungen dem Verbotsverdikt entrinnen: 337
x sie müssen zur Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts beitragen, x an dem dabei entstehenden Gewinn die Verbraucher angemessen beteiligen, x dürfen lediglich für die Verwirklichung der verfolgten Ziele unerlässliche Wettbewerbsbeschränkungen wählen und x nicht die Möglichkeit eröffnen, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren den Wettbewerb gänzlich auszuschalten. 339 Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts können etwa auch Verbesserungen im Umweltbereich sein. Der Umweltschutz als solcher genügt angesichts der detaillierten Aufzählung im Rahmen von Art. 101 Abs. 3 AEUV eigentlich nicht. Allerdings betrachtet die neue Praxis nach dem more economic approach mehr die Ziele als solche und bringt so auch politisches Anliegen wie den Umweltschutz ins Spiel. Im Wege einer Gesamtbilanz ermittelte positive Auswirkungen genügen dann. II. Missbrauch den Markt beherrschender Stellungen 340 Art. 102 AEUV erfasst, dass ein Unternehmen eine beherrschende Stellung auf dem Binnenmarkt oder einen wesentlichen Teil desselben4 hat, d.h. in einem je nach Marktverhältnissen ausreichend großen Gebiet eine dominante Position in einem bestimmten Produktbereich besitzt, die es ihm erlaubt, sich unabhängig von den Konkurrenten zu verhalten und damit die Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs zu verhindern.5 Wenn ein Unternehmen diese beherrschende Position missbräuchlich ausnutzt, 341 setzt das ein Verhalten voraus, welches ein objektiv schädliches Resultat für die 3 4 5
S. EuGH, Rs. 56 u. 58/64, Slg. 1966, 321 (390 f.) – Consten Grundig. Zur Abgrenzung des relevanten Marktes EuGH, Rs. 85/76, Slg. 1979, 461 (514 ff., Rn. 21 ff.) – Hoffmann-La Roche. EuGH, Rs. 31/80, Slg. 1980, 3775 (3793, Rn. 26) – L´Oréal.
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Konkurrenz hat, auch wenn dieses von dem Unternehmen nicht beabsichtigt wurde. Beispiele dafür sind etwa die Erzwingung von unangemessenen Einkaufsoder Verkaufspreisen oder sonstigen Geschäftsbedingungen, Absatzbeschränkungen, Koppelungen von Produktabnahmen etc. Außerdem muss dies dazu führen können, den Handel zwischen den Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Insoweit gilt das zu Art. 101 AEUV Ausgeführte.
B. Systematik I. Struktur in Parallele zu den Grundfreiheiten Die Grundstruktur der Wettbewerbsregeln liegt parallel zu der bei den Grundfreiheiten: Ein Schutzbereich ist definiert, indem ein bestimmtes Schutzgut benannt wird. Im Falle des Kartellverbotes nach Art. 101 Abs. 1 AEUV ist dies der unverfälschte Wettbewerb. Zu dessen Schutz sind allerdings bestimmte Verhaltensweisen verboten. Treten diese auf, kann der unverfälschte Wettbewerb bedroht sein. Ausgangspunkt der Prüfung ist aber nicht das Vorliegen einer Wettbewerbssituation, sondern ob eine näher benannte Verhaltensweise vorliegt. Daher ist die Bezeichnung „Anwendungsbereich“ sachgerechter.6 Benannt werden Vereinbarungen zwischen Unternehmen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen. Diese werden in Art. 101 Abs. 1 lit. a)-e) AEUV beispielhaft präzisiert. Ist eine der benannten Grundverhaltensweisen gegeben, ist der Anwendungsbereich des Kartellverbotes eröffnet. Hinzu kommen muss allerdings eine Beeinträchtigung. Hierfür genügt nach Art. 101 Abs. 1 AEUV eine Eignung dazu, wie dies auch im Rahmen der Grundfreiheiten der Fall ist. Dabei ist die Eignung wie im Rahmen der Warenverkehrsfreiheit auf eine Beeinträchtigung des Handels zwischen den Mitgliedstaaten bezogen. Eine solche Eignung reicht auch für die zweite Komponente der Prüfung der Beeinträchtigung, nämlich ob eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezweckt oder bewirkt wird. Eine Bezweckung liegt dann vor, wenn eine Maßnahme zumindest dazu geeignet ist, den Wettbewerb zu beeinträchtigen. Ansonsten ist sie von vornherein untauglich, und eine Beeinträchtigung des Wettbewerbs ist ausgeschlossen. Hinzu kommen muss aber noch eine subjektive Komponente, nämlich der Wille zur Beeinträchtigung des Wettbewerbs. Sie ist nur dann entbehrlich, wenn der Wettbewerb tatsächlich beeinträchtigt und damit seine Beschränkung bewirkt wird. Eine Alternativität besteht zwar auch im Rahmen der Grundfreiheiten; bei ihnen genügt es allerdings, dass eine Maßnahme geeignet ist, den grenzüberschreitenden Verkehr in der Union aktuell oder potenziell zu behindern.7 Ein subjektives Element muss also nicht vorliegen, die Eignung zur Beeinträchtigung, und sei es auch in der Zukunft, genügt in jedem Fall. Wie bei den Grundfreiheiten durch Art. 36, 45 Abs. 3, 52 (i.V.m. 62) und 65 AEUV werden von Art. 101 Abs. 3 AEUV explizite Befreiungstatbestände für 6 7
S. Frenz, Europarecht 2, Rn. 56. EuGH, Rs. 8/74, Slg. 1974, 837 (852, Rn. 5) – Dassonville.
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wettbewerbsbeeinträchtigende Verhaltensweisen benannt. Trotz der Formulierung „können für nicht anwendbar erklärt werden“, die eher den Anwendungsausschlüssen im Rahmen der Grundfreiheiten nach Art. 45 Abs. 4 und 51 (i.V.m. 62) AEUV entspricht, handelt es sich insoweit um Rechtfertigungsgründe, weil eine Prüfung der Angemessenheit und Unerlässlichkeit ausdrücklich gefordert wird. 8 Diese Prüfung markiert Schranken und ist daher den Rechtfertigungsschranken im Rahmen der Grundfreiheiten gleichzustellen. Damit ergibt sich ein weitgehend paralleler Aufbau zur Prüfung der Grundfreiheiten. Die Hauptunterschiede des Kartellverbotes sind die verhaltens- statt schutzgutbezogene Anknüpfung des Verbotes bestimmter Maßnahmen und die primäre Verpflichtung von Unternehmen. II. Anwendungsbereich 1. Persönlich 346 Als erste Wettbewerbsregel verpflichtet Art. 101 Abs. 1 AEUV Unternehmen sowie Unternehmensvereinigungen, also Zusammenschlüsse von Unternehmen, um deren Interessen wahrzunehmen. Diese personelle Komponente wird im Rahmen des Kartellverbotes gemeinhin an erster Stelle geprüft. Dadurch lassen sich unbeachtliche Verhaltensweisen vielfach schon ausscheiden. So ist das Verhalten privater Verbraucher, aber auch dasjenige von Handelsvertretern, die in den Betrieb eingebunden sind, mangels eigener Unternehmereigenschaft nicht umfasst.9 Auch das Verhalten staatlicher Einheiten ist ausgenommen, soweit diese nicht erwerbswirtschaftlich tätig sind und damit so wie Private unternehmerisch handeln. Art. 106 Abs. 1 AEUV hebt die Geltung der Wettbewerbsregeln für öffentliche und mit besonderen Rechten betraute Unternehmen hervor, und auch Art. 106 Abs. 2 AEUV mit seiner Ausnahme belegt die Regel, dass staatlich eingeschaltete Unternehmen grundsätzlich den Wettbewerbsregeln unterliegen. Hier kommt auch die Parallele zu den Grundfreiheiten durch, welche gleichfalls 347 auf öffentliche Unternehmen Anwendung finden, wie Art. 54 Abs. 2 AEUV deutlich macht, der sogar juristische Personen des öffentlichen Rechts mit Erwerbszweck einbezieht und namentlich in diesem Punkt für alle Grundfreiheiten steht.10 Handeln staatliche Einheiten ohne Erwerbszweck, können sie nur insoweit aus dem Kartellverbot verpflichtet sein, als sie auf das Verhalten von Unternehmen einwirken, indem sie deren Wettbewerbsverstöße hervorrufen oder begünstigen. 11 Neben diesen Anhaltspunkten im Wortlaut ist Art. 101 AEUV wirkungsbezo348 gen zu interpretieren. Das bedingt ein weites Verständnis. Auf die Rechtsform 8 9
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Näher mit weiteren Aspekten Frenz, Europarecht 2, Rn. 83 ff. Der EuGH stellt auf das Vorliegen einer wirtschaftlichen Einheit ab, z.B. Rs. C-266/93, Slg. 1995, I-3477 (3516, Rn. 19) – Volkswagen und VAG Leasing für Handelsvertreter; Rs. C-73/95 P, Slg. 1996, I-5457 (5495 f., Rn. 15 ff.) – Viho im Hinblick auf Tochtergesellschaften. Näher Frenz, Europarecht 1, Rn. 233, 236 ff. Mittlerweile st. Rspr., z.B. EuGH, Rs. C-266/96, Slg. 1998, I-3949 (3998, Rn. 49) – Corsica Ferries II unter Hinzuziehung von Art. 4 Abs. 3 EUV.
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oder die Gewinnerzielungsabsicht kommt es nicht an. Entscheidend ist die Möglichkeit, auf den Wettbewerb zwischen Unternehmen negativ einzuwirken. Diese fehlt etwa einer Tochtergesellschaft, die den Anweisungen ihrer Muttergesellschaft gehorchen muss. Entscheidend ist die eigene Teilnahme am Wettbewerb, die fehlt, wenn ein Unternehmen keine eigenen autonomen Entscheidungen zu treffen vermag, sondern denen einer anderen Gesellschaft folgen muss und auch folgt.12 Dann besteht eine wirtschaftliche Einheit.13 Ihre Untergliederungen können mangels eigener Beteiligung am Wettbewerb untereinander keine Vereinbarung nach Art. 101 AEUV treffen. Sie handeln vielmehr einseitig gegenüber den Wettbewerbspositionen Dritter, so dass nur Art. 102 AEUV erfüllt sein kann.14 2. Räumlich Mit der Frage des personellen Anwendungsbereichs ist die des räumlichen eng 349 verknüpft. Auch das Kartellverbot gilt gemäß Art. 52 EUV für das Gebiet der Union. Wirkt sich das Verhalten in der EU ansässiger Unternehmen auf dem Gebiet anderer Staaten aus, gehen diese Wettbewerbsbeeinträchtigungen immerhin vom Gebiet der Union aus, tangieren allerdings nicht den in Art. 101 AEUV geschützten und zum Maßstab erhobenen Binnenmarkt. Dieser wird jedoch beeinträchtigt, wenn Unternehmen mit Sitz außerhalb der EU auf ihm agieren oder ihn mit ihrem Verhalten zumindest negativ beeinflussen. Im ersten Fall gilt das Territorialitätsprinzip ohne Weiteres. Im zweiten Fall besteht eine räumliche Anknüpfung nicht im Hinblick auf das Verhalten, sondern nur wegen der Auswirkungen. Lässt man diese unter Rückgriff auf das Ahlström-Urteil des EuGH genügen,15 erstreckt sich das Kartellverbot auch auf Handlungen jenseits der Grenzen der EU, was völkerrechtlich nicht unproblematisch, aber letztlich mit dem EuGH unter Rückbezug auf das Territorialitätsprinzip zulässig ist. 16 Damit bilden der Binnenmarkt und die Auswirkungen auf ihn den maß- 350 geblichen Bezugspunkt, um die räumlichen Grenzen des Kartellverbotes festzulegen. Der räumliche Anwendungsbereich reicht dadurch wirkungsbedingt über den der personenbezogenen Grundfreiheiten hinaus, welche an die Grenzen des Art. 54 AEUV stoßen, der für Gesellschaften zumindest einen Sitz in der Union verlangt. Die sachbezogenen Grundfreiheiten sind demgegenüber ebenfalls wirkungsbezogen zu sehen und beziehen Drittstaatsangehörige ein. 3. Sachlich a) Erfasste Verhaltensweisen Damit leitet die Frage des räumlichen Anwendungsbereiches zu den sachlich re- 351 12 13 14 15 16
S. bereits EuGH, Rs. 6 u. 7/73, Slg. 1974, 223 (255 f., Rn. 39 ff.) – Commercial Solvents. EuGH, Rs. C-73/95 P, Slg. 1996, I-5457 (5495 f., Rn. 15 f.) – Viho für Tochtergesellschaften; Rs. 6 u. 7/73, Slg. 1974, 223 (255 f., Rn. 39 ff.) – Commercial Solvents. EuGH, Rs. C-73/95 P, Slg. 1996, I-5457 (5496, Rn. 17) – Viho. EuGH, Rs. 89 u.a./85, Slg. 1988, 5193 (5243, Rn. 16 f.) – Ahlström. EuGH, Rs. 89 u.a./85, Slg. 1988, 5193 (5243, Rn. 18) – Ahlström. Ausführlich dazu Frenz, Europarecht 2, Rn. 197 ff.
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levanten Bestandteilen des Kartellverbotes über. Als potenzielle Angriffe auf das Schutzgut der Norm, den unverfälschten Wettbewerb, werden Vereinbarungen, Beschlüsse und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen sachlich erfasst und jeweils personell bezogen. Da Art. 101 AEUV in Abgrenzung zu Art. 102 AEUV nur das Verhalten mehrerer Unternehmen erfasst, sind Beschlüsse mit Unternehmensvereinigungen als Unternehmenszusammenschlüssen und damit Kooperationen mehrerer Unternehmen verbunden. Vereinbarungen werden mit Unternehmen genannt, während die abgestimmten Verhaltensweisen nicht mit einem Urheber gekoppelt werden, freilich zumeist ebenfalls von Unternehmen ausgehen werden. Alle diese Verhaltensweisen gilt es zur Vermeidung negativer Wirkungen auf 352 den Wettbewerb zu erfassen. Daher erübrigt sich bei Überschneidungen eine Differenzierung im Einzelnen, sofern nur eine Verhaltensweise sicher gegeben ist. In Randbereichen gilt es darauf zu achten, dass auch in der Zusammenschau mit Art. 102 AEUV, mit dem gemeinsam das Kartellverbot den Wettbewerb umfassend sichern soll, keine Schutzlücken entstehen. b) Wettbewerbsförderung 353 Allerdings führten einige ungeschriebene Tatbestandsmerkmale zur Ausklammerung bestimmter Verhaltensweisen. Dadurch treten aber keine Schutzlücken auf, weil der Zweck des Kartellverbotes gewahrt bleibt und höchstens unnötiger Ballast abgeworfen wird, um die erfassten Verhaltensweisen noch überschaubar zu halten und sich auf das Wesentliche konzentrieren zu können. Ausdruck des Schutzzwecks ist die Herausnahme von solchen Verhaltenswei354 sen, die gerade der Verwirklichung des Wettbewerbs dienen und diesen damit befördern, indem sie etwa die Entwicklung neuer Produkte erst ermöglichen. 17 Das ist aber eine Frage der Störung des Wettbewerbs. Die Einflechtung einer Rule of Reason, die umfassend Vor- und Nachteile von wettbewerbsrelevanten Verhaltensweisen abwägt, würde dagegen über diese zweckbezogenen Ausnahmen hinausgehen und die strikte Kontur des Kartellverbotes verwischen. Sie hat sich deshalb in der Rechtsprechung des EuGH zu Recht nicht etablieren können.18 Eine Begrenzung des Anwendungsbereiches entspricht der Parallelentwicklung 355 im Rahmen der Grundfreiheiten durch die Keck-Rechtsprechung. Diese lässt sich selbst freilich schwerlich auf das Kartellverbot übertragen, da gerade vertriebsbezogene Vorgänge19 besonders anfällig für wettbewerbsbeeinträchtigende Verhaltensweisen sind, wie die Beispiele nach Art. 101 Abs. 1 lit. a)-e) AEUV zeigen.
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Deutlich EuGH, Rs. 258/78, Slg. 1982, 2015 (2069, Rn. 57 f.) – Nungesser. S. EuG, Rs. T-14/89, Slg. 1992, II-1155 (1246, Rn. 265) – Montedipe; T-148/89, Slg. 1995, II-1063 (1107 f., Rn. 109) – Tréfilunion; im Übrigen Frenz, Europarecht 2, Rn. 720 ff. sowie Rn. 67 ff. auch zum Folgenden. Auf diese bezieht sich die Keck-Rechtsprechung; grundlegend EuGH, Rs. C-267 u. 268/91, Slg. 1993, I-6097 (6131, Rn. 16) – Keck.
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c) Spürbarkeit Für den Wettbewerb unbedeutende Verhaltensweisen schließt das ungeschriebene 356 Merkmal der Spürbarkeit aus, welches im Rahmen der Grundfreiheiten gerade keine Anwendung finden kann, da diese sämtliche Vorgänge erfassen wollen. 20 Durch die Bagatellbekanntmachungen der Kommission wird insoweit die relevante Schwelle festgelegt, ab der von Art. 101 Abs. 1 AEUV erfasste Verhaltensweisen überhaupt einen Verstoß gegen das Kartellverbot begründen können. Unterhalb sind sie nicht dafür geeignet, den Wettbewerb im Binnenmarkt negativ zu beeinflussen, weil sie schlicht insoweit keine Rolle spielen. Die Reichweite des Kartellverbotes wird dadurch eingeschränkt, aber zugleich effektuiert, indem unbedeutende Fälle nicht in sein Blickfeld geraten. Zugleich sind diese Vorgänge von vornherein nicht geeignet, eine Beeinträchtigung im Handel zwischen Mitgliedstaaten hervorzurufen. Das gilt ebenso wie für Verhaltensweisen, die den Wettbewerb gerade fördern. Die ungeschriebenen Bereichsausnahmen im Rahmen des Kartellverbotes haben daher einen engen Bezug zur Beeinträchtigung, schließen diese allerdings von vornherein aus. III. Beeinträchtigung Ist der Anwendungsbereich persönlich, räumlich und sachlich eröffnet, setzt das Kartellverbot weiter voraus, dass die fragliche Verhaltensweise geeignet ist, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Zudem muss sie bezwecken oder bewirken, dass der Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes verhindert, eingeschränkt oder verfälscht wird. Für die erste Voraussetzung genügt wie bei den Grundfreiheiten die Eignung zu negativen Wirkungen auf den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr. Diese müssen also entsprechend der Dassonville-Formel21 nicht bereits eingetreten, sondern nur möglich sein. Außerdem können sie mangels Beschränkung auch in mittelbaren Folgen bestehen. Weit konzipiert ist auch die zweite Voraussetzung. Für diese muss nur eine subjektive oder eine objektive Bedingung vorliegen. Entweder muss die Absicht bestehen, den Wettbewerb zu beeinträchtigen oder gar auszuschalten. Oder dieser Effekt muss tatsächlich eingetreten sein. Damit ist weder stets ein Nachweis der subjektiven Komponente notwendig, weil die objektive Wirkung genügt, noch müssen die tatsächlichen Auswirkungen näher festgestellt werden, wenn bereits der Wille hierzu feststeht. In jedem Fall muss allerdings die Eignung zur Beeinträchtigung des Wettbewerbs bestehen. Insgesamt zeigt damit die Struktur der Voraussetzungen für das Vorliegen einer Beeinträchtigung, dass eine solche relativ leicht angenommen werden kann. Auch dadurch wird ein umfassender Schutz eines unverfälschten Wettbewerbs sichergestellt, da dieser nicht notwendig konkret eingeengt sein muss, sondern diese Gefahr bereits ausreicht, um das Kartellverbot eingreifen zu lassen. Besonders typische wettbewerbsverfälschende Verhaltensweisen führen
20 21
EuGH, Rs. 16/83, Slg. 1984, 1299 (1326, Rn. 20) – Prantl. EuGH, Rs. 8/74, Slg. 1974, 837 (852, Rn. 5) – Dassonville.
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Art. 101 Abs. 1 lit. a)-e) AEUV an. Sind sie vorhanden, werden eine Eignung zur Beeinträchtigung ebenso wie eine zumindest wettbewerbsverfälschende Wirkung bzw. deren Bezweckung regelmäßig anzunehmen sein. Damit besitzen sie eine Indikationsfunktion; ihr Vorliegen ist aber nicht konstitutiv. IV. Rechtfertigung 1. Ansatz 361 Ist das Kartellverbot beeinträchtigt, stellt sich die Frage einer Rechtfertigung, bevor eine Verletzung angenommen und damit eine Verhaltensweise nach Art. 101 Abs. 2 AEUV als nichtig angesehen werden kann. Nach Art. 101 Abs. 3 AEUV kann das Kartellverbot unter bestimmten Voraussetzungen für nicht anwendbar erklärt werden. Diese Umstände erlauben ein Abweichen vom Kartellverbot, konstituieren insoweit also eine Ausnahme, machen eine Feststellung der Tatbestandsmäßigkeit jedoch nicht entbehrlich. Vielmehr sind Art. 101 Abs. 1 und Abs. 3 AEUV nacheinander zu prüfen, wie Art. 1 Abs. 2 VO (EG) Nr. 1/2003 deutlich macht. Dabei ist eine Anmeldung nicht mehr erforderlich. Die Unternehmen haben 362 selbst zu beurteilen, ob der Tatbestand des Art. 101 Abs. 1 AEUV erfüllt ist, aber gegebenenfalls die Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV vorliegen und damit das Eingreifen des Kartellverbotes hindern. Ob sie dies zutreffend tun, ist von den Wettbewerbsbehörden zu beurteilen. Damit haben auch sie zu prüfen, ob ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV durch Art. 101 Abs. 3 AEUV geheilt und somit im Ergebnis gerechtfertigt wird, ohne allerdings eine eigene Freistellungsentscheidung treffen zu müssen. Deshalb entspricht das System des Kartellverbotes nunmehr dem der Grund363 freiheiten: Auch bei diesen haben die Verpflichteten für sich zu prüfen, ob sie tatbestandsmäßig handeln und gegebenenfalls gerechtfertigt sind. Die Kommission wacht darüber und leitet bei einem Fehlverhalten ein Vertragsverletzungsverfahren ein. 2. Explizite legitime Zwecke 364 Art. 101 Abs. 3 AEUV eröffnet bei allen drei vom Kartellverbot erfassten Verhaltensformen eine Vereinbarkeit mit diesem, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Als legitime Zwecke werden eine Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung und eine Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts benannt. Nur die zur Erreichung dieser Ziele unerlässlichen Beschränkungen für die betroffenen Unternehmen sind hinzunehmen. Das erinnert an das Merkmal der Erforderlichkeit, das im Rahmen der Grundfreiheiten bei der Prüfung einer Rechtfertigung zentrale Bedeutung hat.22
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Näher Frenz, Europarecht 1, Rn. 529 ff.
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3. Weitere Voraussetzung Hinzu kommen muss eine angemessene Beteiligung der Verbraucher an dem 365 entstehenden Gewinn. Insoweit und mit dieser speziellen Blickrichtung ist also auch die Angemessenheit und damit das Verhältnis zwischen Vor- und Nachteilen einer Wettbewerbsbeeinträchtigung relevant, welches im Rahmen der Prüfung der Grundfreiheiten als Abwehrrechte bislang regelmäßig zurücktrat. Die notwendig objektiven Vorteile der Wettbewerbsbeeinträchtigung müssen mithin spürbar zum Verbraucher gelangen und so kanalisiert werden; dabei haben sie die eingetretenen Nachteile für den Wettbewerb zumindest auszugleichen. 23 Schließlich darf der Wettbewerb nicht derart gravierend angetastet werden 366 können, dass er für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren ausgeschaltet ist. Das erinnert an die auch im Rahmen der Grundfreiheiten heranziehbare24 Wesensgehaltsgarantie, bezogen auf einen Einzelausschnitt und damit einen konkreten Fall.25 4. Systematik Damit ergibt sich auch im Rahmen des Art. 101 Abs. 3 AEUV die Unterteilung in 367 Rechtfertigungsgrund und -schranken, die bei der Prüfung der Grundfreiheiten fest etabliert ist. Die als Grund tauglichen legitimen Zwecke sind ausdrücklich genannt. Die Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung sowie die Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts sind allerdings vielfach von wirtschaftlichen Zielsetzungen getragen, die bei den Grundfreiheiten als Rechtfertigungsgründe ausscheiden.26 Dass sie für Art. 101 Abs. 3 AEUV relevant sind, ergibt sich aus dem generellen wirtschaftsbezogenen Kontext des Kartellverbotes und dem Bezug auf privates Handeln, das auch im Rahmen der Grundfreiheiten zu weiter gehenden Rechtfertigungsmöglichkeiten in Form notwendiger sachlicher Erwägungen führt.27 5. Weiterungen Darüber hinaus stellt sich die Frage nach zusätzlichen, ungeschriebenen Recht- 368 fertigungsmöglichkeiten, wie sie für die Grundfreiheiten fest anerkannt sind. Die Beantwortung hängt davon ab, ob man Art. 101 Abs. 3 AEUV als abschließenden Tatbestand ansieht, der nicht durch die Anerkennung zusätzlicher Gesichtspunkte ausgedehnt werden kann, um damit das Kartellverbot nicht auszuhöhlen. Auch dieser Weg bringt allerdings wegen des Bezuges von Art. 101 AEUV auf den Binnenmarkt mit sich, daraus Elemente zu entnehmen, welche die Kohärenz mit dem gesamten Unionsrecht sicherstellen. Sie müssen sich aber in die Tat23 24 25 26
27
Bereits EuGH, Rs. 56 u. 58/64, Slg. 1966, 321 (396 f.) – Consten Grundig. Frenz, Europarecht 1, Rn. 537. Wie sie auch im Rahmen von Art. 19 Abs. 2 GG angewendet wird, BVerfGE 80, 367 (373), st. Rspr.; s. etwa auch BVerfG, NJW 2004, 999. EuGH, Rs. 72/83, Slg. 1984, 2727 (2752, Rn. 35) – Campus Oil für die geschriebenen Rechtfertigungsgründe, Rs. C-120/95, Slg. 1998, I-1831 (1884, Rn. 39) – Decker für die ungeschriebenen. EuGH, Rs. C-281/98, Slg. 2000, I-4139 (4174, Rn. 42) – Angonese.
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bestandsmerkmale des Art. 101 Abs. 3 AEUV einfügen. Somit erfolgt eine Erweiterung durch Interpretation vor dem Hintergrund des unionsrechtlichen Gesamtkontextes. Die andere Möglichkeit, die Vereinbarkeit von Wettbewerbsbeschränkungen in369 klusive ihrem Verbot mit dem europarechtlichen Ganzen sicherzustellen, besteht darin, auch ungeschriebene Rechtfertigungsgründe anzuerkennen, sofern sie im Vertrag festgeschrieben sind. Besonders nahe liegt dies für den Umweltschutz und industriepolitische Strukturüberlegungen. Sie dienten in der traditionellen Praxis der Erweiterung der geschriebenen Tatbestandsmerkmale des Art. 101 Abs. 3 AEUV.28 Diese genügen regelmäßig wegen ihrer offenen Formulierung. Zudem bleibt so das wettbewerbsrechtliche System erhalten. Der Wettbewerb kann, wie in Art. 101 AEUV angelegt, als Selbstwert fungieren.29 6. More economic approach 370 Diese Bedeutung droht der Wettbewerb zu verlieren, wenn seine Beeinträchtigung durch positive Wirkungen für politisch festgelegte Ziele gerechtfertigt werden kann, wie es dem derzeit praktizierten more economic approach entspricht. Danach sind diese positiven Effekte den negativen Wirkungen für den Wettbewerb gegenüberzustellen. Daraus muss sich ein Vorteil für die gesellschaftliche Wohlfahrt ergeben. Um dieses weitreichende Ziel wohlfahrtsökonomischer Effizienz fassen zu kön371 nen, sind die Wirkungen wettbewerblich relevanten Handelns quantitativ abzuschätzen und damit durch empirische Daten darzulegen. Hintergrund ist die beabsichtigte Konzentration auf die wichtigsten Wettbewerbsstörungen. Daher kommt wirtschaftswissenschaftlichen Bewertungsmaßstäben und Modellen eine größere Bedeutung zu.30 Diese sind inhaltlich schwer rechtlich nachprüfbar. Je stärker ökonomische Aspekte Gewicht haben, desto mehr wird die an rein rechtlichen Kriterien ausgerichtete Beurteilung zurückgedrängt und es wird nur noch das ordnungsgemäße Vorgehen und plausible Folgern einschließlich der Tragfähigkeit der gewonnenen Beurteilung und der vorgelagerten rechtlichen Auslegung von Wirtschaftsdaten geprüft – nämlich bei der quantitativen Ermittlung wohlfahrtsökonomischer Effizienz. Schon der dominierende Ausgangsfaktor der wohlfahrtsökonomischen Effi372 zienz ist juristisch schwer fassbar und für unterschiedliche Einschätzungen offen. Von daher ist sogar der wirtschaftswissenschaftlich geprägte Referenzmaßstab konkreter; er soll „größere Erwartungs- und Planungssicherheit schaffen, und damit eine bessere Nutzung unternehmerischer Spielräume ermöglich(en)“.31 Ist diese Sicherheit aber ökonomisch fundiert, lässt sie sich schwerlich gerichtlich 28
29 30 31
S. schon KOME 83/669/EWG, ABl. 1983 L 376, S. 17 (19) – Carbon Gas Technologie sowie KOME 86/405/EWG, ABl. 1986 L 236, S. 30 (Rn. 59) – Lichtwellenleiter; 93/49/EWG, ABl. 1993 L 20, S. 14 – Ford/Volkswagen im Hinblick auf eine „Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts“. Frenz, Europarecht 2, Rn. 115 ff. und ausführlich Rn. 1006 ff. Koenig, DVBl. 2009, 1082 (1086). So Koenig, DVBl. 2009, 1082 (1086).
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einfordern, außer der Gerichtshof der EU prüft auch die konkrete Anwendung wirtschaftswissenschaftlicher Bewertungsmaßstäbe. Jedenfalls ergeben sich sowohl vom dominierenden Ausgangspunkt der wohl- 373 fahrtsökonomischen Effizienz her als auch aufgrund verstärkter wirtschaftswissenschaftlicher, für einen Juristen nicht ohne weiteres nachvollziehbarer Bewertungsmaßstäbe zur quantitativen Abschätzung von wettbewerblich relevanten Verhaltensweisen erhebliche Wertungsspielräume. Sie drohen auch die klaren Ausnahmetatbestände nach Art. 101 Abs. 3 AEUV zu überlagern. V. Prüfungsschema 1. Schutzbereich a) Unternehmen und Unternehmensvereinigungen b) Auch ausländische Unternehmen bei Auswirkungen im Gemeinsamen Markt c) Vereinbarung, Beschluss oder abgestimmte Verhaltensweise 2. Beeinträchtigung a) Eignung, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen b) Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs innerhalb des Gemeinsamen Marktes bezweckt oder bewirkt: Regelbeispiele lit. a)-e) 3. Rechtfertigungsgrund a) Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung b) Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts c) Gemeinschaftsziele (z.B. Umweltschutz) integriert oder als ungeschriebene Rechtfertigungsgründe (str.) 4. Rechtfertigungsschranken a) Unerlässlichkeit für angestrebten Zweck b) Angemessene Gewinnbeteiligung der Verbraucher c) Keine Ausschaltung des Wettbewerbs für einen wesentlichen Teil möglich Fall: Umweltfreundlichere Kühlschränke Die deutschen Hersteller von Kühlschränken vereinbaren eine Kooperation, mit der sie gemeinsam versuchen wollen, die Recyclingfähigkeit von Kühlschränken weiter zu verbessern und ein umfassendes Rücknahmesystem zu etablieren. Aufgrund der hohen Investitionen und Anlaufkosten könnte dies ein Unternehmen nicht allein bewältigen. Sie fragen an, ob Bedenken im Hinblick auf die europäische Wettbewerbsfreiheit bestehen. Lösungsaufbau: I. Tatbestandsmäßigkeit nach Art. 101 Abs. 1 AEUV II. Freistellungsfähigkeit nach Art. 101 Abs. 3 AEUV 1. 2.
Verfolgung eines freistellungsfähigen Ziels Angemessene Gewinnbeteiligung der Verbraucher
3.
Unerlässlichkeit
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Kapitel 4: Wettbewerbsfreiheit 4. 5.
Keine Ausschaltung des Wettbewerbs für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren Zwischenergebnis
III. Endergebnis Lösungsvorschlag: I. Tatbestandsmäßigkeit nach Art. 101 Abs. 1 AEUV Indem die deutschen Hersteller von Kühlschränken vereinbart haben, zusammenzuarbeiten, um recyclingfähigere Produkte herzustellen und ein Rücknahme- und Entsorgungssystem aufzubauen, liegt eine Vereinbarung zwischen Unternehmen im Sinne von Art. 101 Abs. 1 AEUV vor. Da im Verlauf dieser Kooperation diese Erzeugnisse umweltfreundlicher werden und vom Verbraucher bequem zurückgegeben werden können, entsteht ein Anreiz für die Konsumenten, diese Produkte zu kaufen. Wollen ausländische Anbieter gleichziehen, müssen sie, da nicht an der Vereinbarung beteiligt, eigenständig versuchen, eine größere Umweltfreundlichkeit zu erreichen und ein entsprechendes Rücknahmesystem aufzubauen. Das wird ihnen schwerlich gelingen. Daher verfälscht die Vereinbarung der deutschen Hersteller den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes. Zugleich besteht die Gefahr, dass die Importzahlen von Herstellern aus anderen EU-Mitgliedstaaten zurückgehen. Daher ist die Vereinbarung der deutschen Kühlschrankhersteller auch geeignet, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Somit ist an sich der Tatbestand von Art. 101 Abs. 1 AEUV erfüllt. Würden sich allerdings die Kühlschrankhersteller Deutschlands nicht zusammenschließen, sondern jeder für sich allein versuchen, die angestrebten Neuerungen zu verwirklichen, würden ihre Produkte so teuer werden, dass sie vom Verbraucher nicht mehr gekauft würden. Daher ist eine Kooperation zur Verwirklichung entsprechend umweltfreundlicher Entwicklungen die einzige Möglichkeit, die angestrebten Ziele zu erreichen, ohne die Konkurrenzfähigkeit für die betroffenen Produkte zu verlieren. Diese Kooperation sichert mithin erst die Wettbewerbsfähigkeit dieser Produkte. Von daher wird Wettbewerb nicht beschränkt, sondern erst gebildet. Sind wettbewerbsbegründende Verhaltensweisen auch nicht als solche verboten, vermitteln sie keinen Freibrief für jedwedes Verhalten. Solche Verhaltensweisen können nur insoweit vor Art. 101 Abs. 1 AEUV bestehen, als sie erforderlich sind, um die Wettbewerbsfähigkeit der entsprechenden Produkte herzustellen. Hierfür ist nicht ohne weiteres der hier erfolgte Ausschluss der ausländischen Konkurrenz notwendig. Es wäre auch denkbar, dass eine Kooperation zur Herstellung recyclingfähigerer Kühlschränke und zum Aufbau eines Rücknahme- und Entsorgungssystems zusammen mit den ausländischen Anbietern erfolgte. Deren Ausklammerung kann allerdings dann notwendig sein, wenn diese Unternehmen nicht zu den angestrebten Entwicklungen bereit oder in der Lage sind. Die Zahl der Kühlschrankanbieter ist schwer übersehbar. Zudem werden die ausländischen Anbieter, zumal dann, wenn sie in Deutschland nur einen geringen Marktanteil haben, schwerlich bereit sein, aufwendige Entwicklungen mitzutragen. Indes ist den deutschen Kühlschrankherstellern anzuraten, ausländischen Anbietern die Möglichkeit einzuräumen, an der vereinbarten Kooperation teilzunehmen. II. Freistellungsfähigkeit nach Art. 101 Abs. 3 AEUV Selbst wenn die vorgesehenen Entwicklungen nicht so teuer sind, dass die Wettbewerbsfähigkeit der Produkte nur durch eine Kooperation sichergestellt werden kann und es sich somit um eine wettbewerbsbegründende Verhaltensweise handelt, könnte das Verhalten der deutschen Kühlschrankhersteller gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV freistellungsfähig sein. 1. Verfolgung eines freistellungsfähigen Ziels Voraussetzung dafür wäre zunächst, dass die deutschen Kühlschrankhersteller ein freistellungsfähiges Ziel verfolgen. Die Herstellung recyclingfähigerer Produkte könnte die Warenerzeugung verbessern. Freilich steigert die Recyclingfähigkeit nicht die Gebrauchstauglichkeit und verbessert damit nicht die unmittelbaren Gebrauchsvorteile des Produkts. Indes kann der Begriff „Verbesserung der Warenerzeugung“ nicht losgelöst vom Gesamtsystem der
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Verträge gesehen werden. Die Wettbewerbsfreiheit ist unabdingbares Element des Binnenmarktes und prägt daher diesen, wird aber auch von diesem geprägt, wie Art. 101 AEUV durch seinen Bezug auf den Binnenmarkt deutlich macht. Art. 3 Abs. 3 EUV verlangt explizit ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität und verpflichtet auf eine nachhaltige Entwicklung. Dem dienen der Umwelt nutzende Innovationen auch dann und gerade, wenn sie langfristig angelegt sind. Aus diesem Grunde ist der Nutzen für die Umwelt ebenfalls ein Maßstab, ob eine Verbesserung der Warenerzeugung gegeben ist. Daher sind auch Langfristeffekte relevant. Eine Steigerung der Recyclingfähigkeit stellt eine Verbesserung der Warenerzeugnisse dar. Eine solche Maßnahme trägt auch zur Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts bei, der gleichfalls vor dem Hintergrund des Binnenmarktes und damit des diesen wesentlich prägenden Umweltschutzes zu beurteilen ist. Gekoppelt mit der Verbesserung der Recyclingfähigkeit ist die Maßnahme der deutschen Kühlschrankhersteller, ein Rücknahme- und Entsorgungssystem aufzubauen, das in der besseren Verwertungsfähigkeit der Produkte seine Grundlage hat. Dieses zweite Vorhaben ist daher Bestandteil der Gesamtmaßnahme, die Umweltverträglichkeit von Kühlschränken zu verbessern. Von daher liegt in diesem Vorhaben insgesamt eine Förderung des technischen bzw. wirtschaftlichen Fortschritts. Ein freistellungsfähiges Ziel ist damit gegeben. Das gilt erst recht, wenn man mit dem more economic approach positive Wirkungen für den Umweltschutz ausreichen lässt, welche die Beeinträchtigungen des Wettbewerbs überwiegen. 2. Angemessene Gewinnbeteiligung der Verbraucher Art. 101 Abs. 3 AEUV setzt weiter voraus, dass die Verbraucher angemessen an dem entstehenden Gewinn beteiligt werden. Verbraucher sind alle unmittelbaren oder mittelbaren Abnehmer der in Betracht kommenden Erzeugnisse, also hier sowohl die Vertreiber als auch die Endverbraucher von Kühlschränken. Unter Gewinn ist die Summe aller Vorteile zu verstehen, zu denen die gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV verstoßende Vereinbarung führt.32 Hier haben sowohl die Vertreiber als auch die Endverbraucher den Vorteil, dass sie die Kühlschränke nach Gebrauch wieder kostenlos zurückgeben können. Freilich ist es denkbar, dass die Steigerung der Recyclingfähigkeit zu Preiserhöhungen führt. Dies ist für die Verbraucher ein Nachteil. Von daher stellt sich die Frage, ob Gewinn auch qualitative Verbesserungen wie die Steigerung der Volksgesundheit oder einfach eine bessere Umweltverträglichkeit sind. Bei einer Einbeziehung der Umwelt würde das Kriterium des Gewinns von der grundsätzlich wirtschaftlichen Orientierung der Wettbewerbsfreiheit gelöst, für subjektive Wertungen offen und damit anfällig für eine Aufweichung. Indes ist auch insoweit relevant, dass die ursprüngliche Wirtschaftsgemeinschaft zumal durch Art. 3 Abs. 3 EUV um eine Umweltkomponente ergänzt wurde. Ein verbesserter Umweltschutz hebt die Lebensqualität und ist daher auch zum Nutzen der Verbraucher. Daher stellt auch eine Verbesserung der Umwelt einen Gewinn für die Verbraucher dar. Das bedeutet allerdings nicht, dass die mit umweltverbessernden Maßnahmen verbundenen Preissteigerungen vollständig auf die Verbraucher abgewälzt werden können. Indem Art. 101 Abs. 3 AEUV eine angemessene Beteiligung der Verbraucher verlangt, setzt er voraus, dass die sich für die Verbraucher ergebenden Gewinne die aus der Wettbewerbsbeschränkung resultierenden Nachteile übertreffen. Das bedeutet einmal, dass nicht überhöhte Preissteigerungen an die Seite von Umweltverbesserungen treten dürfen, indem etwa die nationalen Märkte abgeschottet werden oder das Preisgefüge erstarrt.33 Daraus folgt zugleich, dass finanzielle Anstrengungen zur Erreichung von Umweltstandards nicht einseitig zulasten der Verbraucher gehen dürfen, sondern dass die Unternehmen ebenfalls einen finanziellen Anteil tragen müssen, den sie nicht an die Verbraucher abwälzen können. Diese Aspekte müssen die Kühlschrankhersteller im Rahmen ihrer Kooperation berücksichtigen.
32 33
EuGH, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 (1916, Rn. 46 ff.) – Metro/Saba I. Kommission, ABl. 1980 L 161, S. 18 (31) – Hasselblad.
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Kapitel 4: Wettbewerbsfreiheit
3. Unerlässlichkeit Dass die Beschränkungen der Wettbewerbsfreiheit gemäß Art. 101 Abs. 3 AEUV für die Erreichung des angestrebten Ziels unerlässlich sein müssen, bedeutet, dass sie unbedingt erforderlich sein müssen. Die verfolgten Ziele müssen also ohne die erzeugten Wettbewerbsbeschränkungen gänzlich oder in dem angestrebten Ausmaß, Zeitraum oder der gewollten Sicherheit unerreichbar sein.34 Die Verbesserung der Recyclingfähigkeit von Kühlschränken und der Aufbau eines umfassenden Rücknahme- und Entsorgungssystems sind nur durch einen Zusammenschluss der Hersteller erreichbar. Der Ausschluss ausländischer Konkurrenz ist allerdings lediglich unerlässlich, wenn sich keine praktikablen Wege finden lassen, auch die Firmen aus anderen Mitgliedstaaten zu beteiligen. 4.
Keine Ausschaltung des Wettbewerbs für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren Schließlich verlangt eine Freistellung nach Art. 101 Abs. 3 AEUV, dass den beteiligten Unternehmen nicht die Möglichkeit eröffnet wird, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren den Wettbewerb auszuschalten. Ein Ausschalten liegt nur dann vor, wenn überhaupt kein Wettbewerb mehr existiert. Das ist selbst dann nicht notwendig der Fall, wenn alle Unternehmen einer bestimmten Branche zusammenarbeiten. Entscheidend ist dann, wie intensiv sie dies tun. Bezieht sich die Kooperation lediglich auf die gemeinsame Entwicklung von Produkten bzw. die Verbesserung von Produkteigenschaften oder auf den Aufbau eines Rücknahme- und Entsorgungssystems, so bleibt davon der Wettbewerb im Hinblick auf den Absatz der betreffenden Waren unberührt. So liegt der Fall hier. Eine Ausschaltung des Wettbewerbs für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren wird daher nicht ermöglicht. 5. Zwischenergebnis Sieht man durch die Kooperation der deutschen Kühlschrankhersteller den Tatbestand von Art. 101 Abs. 1 AEUV erfüllt, so ist diese immer noch nach Art. 101 Abs. 3 AEUV freigestellt, sofern die Firmen aus anderen Mitgliedstaaten nicht ohne Gefährdung der Zielerreichung beteiligt werden können. III. Endergebnis Die Vereinbarung der deutschen Kühlschrankhersteller ist nach EU-Wettbewerbsrecht unbedenklich, wenn die Firmen aus anderen EU-Mitgliedstaaten beteiligt werden oder ihnen diese Beteiligungsmöglichkeit zumindest offensteht oder aber sie von vornherein nicht praktikabel unter Gefährdung der Zielerreichung beteiligt werden können.
C. Gruppenfreistellungsverordnungen I. Eigenständige Bedeutung im Rahmen des Kartellverbotes 376 Die Freistellung bestimmter Wettbewerbsbeschränkungen wird durch verschiedene Gruppenfreistellungsverordnungen losgelöst von Einzelfällen und damit übergreifend geordnet. Vorgesehen ist dieser Weg gleichberechtigt neben dem der Einzelfreistellung. Art. 101 Abs. 3 AEUV sieht die Nichtanwendbarerklärung für Vereinbarungen, Beschlüsse bzw. aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen oder Gruppen davon vor. Darin ist aber keine Rechtsgrundlage für den Erlass entsprechender Verordnungen enthalten. Zudem kann Art. 101 Abs. 3 AEUV allein auch so verstanden werden, dass im Einzelfall bestimmte Gruppen von Verhaltensweisen, die etwa auf dasselbe Unternehmen zutreffen, vom Kartellverbot freigestellt werden können. 34
EuGH, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875 (1916, Rn. 44) – Metro/Saba I.
C. Gruppenfreistellungsverordnungen
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Die unternehmensübergreifende Freistellung erfordert hingegen generelle, vor- 377 hersehbare, verbindliche Kriterien. Solche können mit allgemeiner, unmittelbarer Bindungswirkung in einer Rechtsverordnung festgelegt werden. Grundlage dafür bildet Art. 103 AEUV, welcher die Ausgestaltung der unternehmensbezogenen Wettbewerbsregeln durch zweckdienliches Sekundärrecht vorsieht. Dabei sind dann dem grundsätzlichen Procedere entsprechend auch Rat und Europäisches Parlament einbezogen. Allerdings wurde regelmäßig die Kommission ermächtigt, die Einzelheiten von Gruppenfreistellungen zu regeln, wobei der hierfür zur Verfügung stehende Rahmen in Anlehnung an Art. 101 Abs. 3 AEUV näher bestimmt wurde. Bezogen auf die Freistellung sollen gemäß Art. 103 Abs. 2 lit. b) AEUV die 378 Einzelheiten festgelegt werden, um eine wirksame Überwachung und eine möglichst einfache Kontrolle zu ermöglichen. Dem dient die Festlegung von Fallgruppen, in denen eine Freistellung automatisch eingreifen kann. Dann steht für die Betroffenen von vornherein fest, wann sie befreit sind, ohne dass sie erst die einzelfallbezogene Rechtsprechung näher verifizieren müssen. Die Behörden brauchen keine Einzelfallprüfung durchzuführen. Die Einzelfallbeurteilung hat sich demgegenüber lediglich an die Vorgaben der 379 Gruppenfreistellungsverordnung zu halten. Nur bei sich daraus ergebenden Zweifelsfragen bzw. notwendigen Interpretationen ist das übergeordnete Recht einzubeziehen. Ansonsten ist bei abschließender sekundärrechtlicher Regelung die Vereinbarkeit der Einzelentscheidungen mit dem Primärrecht bereits durch die Unionskonformität der Gruppenfreistellungsverordnung gewahrt. Bestehen daran Zweifel, ist der Gerichtshof wegen dieser Frage einzuschalten, hingegen nicht die Freistellung automatisch zu verweigern. Die nationalen Behörden besitzen also keine eigene Verwerfungskompetenz. Insoweit haben die Gruppenfreistellungsverordnungen einen Abschirmeffekt. Dieser ist ebenfalls Teil ihrer konstitutiven Rechtswirkung.35 II. Standort und Prüfungsreihenfolge Aus diesem Grund müssen bei Gruppenfreistellungen auch die Voraussetzungen 380 des Art. 101 Abs. 3 AEUV nicht mehr geprüft werden. Dass sie gegeben sind, ist für die von einer Gruppenfreistellungsverordnung erfassten Vereinbarungen anzunehmen.36 Das folgt aus der notwendigen Konformität mit Art. 101 Abs. 3 AEUV. Daher ist nur auf die in der Gruppenfreistellungsverordnung bezeichneten Voraussetzungen abzustellen37 und damit insbesondere darauf, ob das fragliche Kartell einer darin festgelegten Kategorie angehört. Ist dies nicht der Fall und liegt die Sachverhaltskonstellation außerhalb des Anwendungsbereiches einer solchen Verordnung, muss freilich eine Einzelfallprüfung anhand von Art. 101 Abs. 3 AEUV erfolgen. 35 36 37
Fuchs, ZWeR 2005, 1 (12). Bekanntmachung der Kommission – Leitlinien zur Anwendung von Artikel 81 Absatz 3 EG-Vertrag, ABl. 2004 C 101, S. 97 (Rn. 35). EuG, Rs. T-51/89, Slg. 1990, II-309 (360, Rn. 29) – Tetra Pak I.
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Kapitel 4: Wettbewerbsfreiheit
Als Folge des Ausnahmecharakters auch der Gruppenfreistellungsverordnungen sind diese eng auszulegen38 und daher in ihren Voraussetzungen genau zu prüfen. Umgekehrt können die in ihnen festgelegten Voraussetzungen und Beschränkungen, soweit sie über Art. 101 Abs. 3 AEUV hinausgehen, nur für die in ihnen geregelten Sachverhalte eingreifen.39 Die Gruppenfreistellungsverordnungen sind gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV unmittelbar anwendbar und binden daher auch die nationalen Behörden und Gerichte, welche für das Eingreifen der Gruppenfreistellungsverordnungen angerufen werden können,40 ohne dabei deren Gehalt etwa durch Anwendung auf nicht darin bezeichnete Vereinbarungen überdehnen zu dürfen.41 Bei Auslegungs- oder Rechtmäßigkeitszweifeln können Letztere, sofern sie von den betroffenen Unternehmen angerufen werden, höchstens gemäß Art. 267 AEUV dem EuGH vorlegen; die mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden müssen gleichwohl vollziehen, da gemäß Art. 263 AEUV nur die Mitgliedstaaten den EuGH einschalten können. Damit erlangen die Gruppenfreistellungsverordnungen in der Vollzugspraxis dieselben Rechtswirkungen wie der seit der VO (EG) Nr. 1/2003 unmittelbar anwendbare Art. 101 Abs. 3 AEUV im Rahmen der Einzelfreistellungen. Sie werden automatisch bei Vorliegen eines Kartellverstoßes geprüft. Dadurch bleibt aber immer noch der Bezug der Gruppenfreistellungsverordnung allein auf Art. 101 AEUV gewahrt. Lediglich dessen Abs. 3 sieht Freistellungen für Gruppen von wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen vor. Eine Gruppenfreistellungsverordnung kann also nicht im Rahmen des Missbrauchsverbotes nach Art. 102 AEUV herangezogen werden, da dessen Systematik eine solche Freistellung nicht vorsieht.42 Auch die Gruppenfreistellungen bleiben daher auf den Rahmen des Kartellverbotes beschränkt und sind in dessen Aufbau angesiedelt. Entsprechende Verordnungen enthalten mithin Freistellungsmöglichkeiten, nicht hingegen Verhaltenspflichten. Solche erwachsen lediglich aus Art. 101 Abs. 1 AEUV. Die an einer Vereinbarung beteiligten Unternehmen müssen also nicht den Vertragsinhalt an eine Verordnung anpassen, werden aber bei einem Abweichen davon unter Umständen nicht freigestellt.43 Gruppenfreistellungen sind trotz der umgekehrten Nennung in Art. 101 Abs. 3 AEUV vor den Einzelfreistellungen zu prüfen, weil bei ihrem Eingreifen die einzelnen Voraussetzungen dieser Vorschrift nicht (mehr) vorliegen müssen, sondern nur noch die Einschlägigkeit der Gruppenfreistellungsverordnung zählt, um zu einer Freistellung zu gelangen. Damit sind sie als Ausgestaltung und Konkretisierung dieser primärrechtlichen Bestimmung speziell. Sofern die Gruppenfreistellung nicht greift, scheidet mit dem darin geregelten Ansatzpunkt eine Freistellung gänzlich aus. Eine Einzelfreistellung nach Art. 101 38 39 40 41 42 43
S. z.B. EuGH, Rs. C-322/93 P, Slg. 1994, I-2727 (2747 ff., Rn. 8 ff.) – Peugeot. EuGH, Rs. C-309/94, Slg. 1996, I-677 (698 f., Rn. 16 ff.) – Nissan France. EuGH, Rs. 63/75, Slg. 1976, 111 (118, Rn. 10/11) – Fonderies Roubaix. Ebenso wie gemäß Art. 6 VO (EG) Nr. 1/2003 über Art. 101 f. AEUV. EuGH, Rs. C-234/89, Slg. 1991, I-935 (992, Rn. 45 f.) – Delimitis. S. EuG, Rs. T-51/89, Slg. 1990, II-309 (360, Rn. 29) – Tetra Pak I. EuGH, Rs. 10/86, Slg. 1986, 4071 (4088 f., Rn. 12, 16) – VAG France; Rs. C-309/94, Slg. 1996, I-677 (698, Rn. 15) – Nissan France.
D. Verschränkung von nationalem und europäischem Kartellrecht
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Abs. 3 AEUV ist damit nicht etwa subsidiär, sondern sie steht sachlich neben einer Gruppenfreistellung, wenn deren Anwendungsbereich die fragliche Verhaltensweise nicht (voll) erfasst. Das entspricht dem Wortlaut von Art. 101 Abs. 3 AEUV, der alternativ zwischen Einzelverhaltensweisen und Gruppen davon unterscheidet.
D. Verschränkung von nationalem und europäischem Kartellrecht Durch Art. 3 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1/200344 – die das EU-Wettbewerbsrecht konkretisierende Verfahrensordnung – wird zwar die Existenz mitgliedstaatlichen Wettbewerbsrechts vorausgesetzt. Wenden die nationalen Behörden dieses aber auf die von Art. 101 Abs. 1 AEUV erfasste Verhaltensweisen an, müssen sie „auch“ Art. 101 AEUV anwenden. Entsprechendes gilt für Marktmissbräuche nach Art. 102 AEUV. Damit kann das nationale Wettbewerbsrecht nicht isoliert herangezogen werden, sondern nur in Zusammenschau mit europarechtlichen Normen. A priori ist also eine parallele Anwendung vorgeschrieben. Diese gilt allerdings nur zugunsten des Unionsrechts. Art. 3 Abs. 1 VO (EG) Nr. 1/2003 enthält keine Verpflichtung, das nationale Recht tatsächlich anzuwenden. Es kann also auch ausschließlich das Unionsrecht geprüft werden; die mitgliedstaatlichen Vorschriften können dann gänzlich außer Betracht bleiben. 45 Werden sie allerdings herangezogen, ist das Unionsrecht ebenfalls zu prüfen. Diese notwendige Einbeziehung des Unionsrechts erstreckt sich auf alle Sachverhalte, die in den sachlichen Anwendungsbereich der EU-Wettbewerbsregeln fallen. Voraussetzung ist also eine von Art. 101 f. AEUV erfasste Verhaltensweise namentlich in Form einer unternehmerischen Vereinbarung oder sonstigen Kooperation bzw. des Missbrauchs einer marktbeherrschenden Stellung. Hinzu kommen muss die Eignung dieser Verhaltensweise, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Ohne diesen grenzüberschreitenden Bezug kann das nationale Wettbewerbsrecht ungeachtet seines Inhalts zum Zuge kommen. Insoweit ist das EU-Wettbewerbsrecht und damit auch die VO (EG) Nr. 1/2003 ohnehin nicht einschlägig. Art. 3 Abs. 2 S. 1 VO (EG) Nr. 1/2003 flankiert diese notwendige Parallelprüfung durch die Gewährleistung eines gleichlaufenden Ergebnisses entsprechend den Grundsätzen des Walt-Wilhelm-Urteils,46 die allerdings weiter verschärft wurden. Die Anwendung einzelstaatlichen Wettbewerbsrechts darf nämlich auch dann nicht dazu führen, dass mit Art. 101 AEUV konforme Vereinbarungen verboten werden, wenn sie lediglich nach dessen Maßstäben oder denen einer Grup44 45
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VO (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16.12.2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. 2003 L 1, S. 1. Bekanntmachung der Kommission – Leitlinien über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags, ABl. 2004 C 101, S. 81 (Rn. 9 a.E.). EuGH, Rs. 14/68, Slg. 1969, 1 – Walt Wilhelm.
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Kapitel 4: Wettbewerbsfreiheit
penfreistellungsverordnung gerechtfertigt sind. Ist dies sichergestellt, können freilich auch parallele nationale wettbewerbsrechtliche Vorschriften weiterhin zur Anwendung kommen. Art. 3 Abs. 2 S. 2 VO (EG) Nr. 1/2003 erweitert dieses mögliche Nebeneinan390 der von mitgliedstaatlichem und europäischem Wettbewerbsrecht um strengere nationale Vorschriften, aber nur im Hinblick auf einseitige Handlungen von Unternehmen. Lediglich auf diese bezogen erlaubt die VO (EG) Nr. 1/2003 Mitgliedstaaten, in ihrem Hoheitsgebiet strengere Vorschriften zur Unterbindung oder Ahndung von unternehmerischen Handlungen festzulegen. Das betrifft namentlich Missbräuche einer marktbeherrschenden Stellung nach Art. 102 AEUV, welche zumeist durch ein Unternehmen erfolgen. Art. 102 AEUV wird denn auch in Art. 3 Abs. 2 S. 1 VO (EG) Nr. 1/2003 nicht genannt. Im Anwendungsbereich von Art. 101 Abs. 1 AEUV sind die europäischen 391 Wettbewerbsregeln hingegen durchgehend mit heranzuziehen. Es ist nicht nur das Ergebnis von nationalem und EU-Wettbewerbsrecht zu vergleichen und im Konfliktfall zugunsten des Unionsrechts auszutarieren, sondern Letzteres ist von vornherein mit zu prüfen. Daraus können sich auch Rückwirkungen auf verschiedene Tatbestandsmerkmale des nationalen Wettbewerbsrechts ergeben. In Deutschland werden Divergenzen durch eine weitgehende Ausrichtung des GWB auf das europäische Kartellrecht vermieden. Letztlich geht das europäische Wettbewerbsrecht immer vor. Das gilt selbst 392 dann, wenn es sich nur in einer Beziehung und damit etwa lediglich in der Rechtfertigung wettbewerbswidriger Verhaltensweisen vom nationalen Recht unterscheidet. Dann prägt es die juristische Beurteilung des gesamten Sachverhalts. Art. 3 Abs. 2 S. 1 VO (EG) Nr. 1/2003 schreibt dies explizit fest, indem er die mögliche Subsumtion unter Art. 101 Abs. 3 AEUV bzw. eine zu dessen Anwendung ergangene Verordnung eigens erwähnt. Woraus sich die unionskartellrechtliche Zulässigkeit ergibt, ist also gleichgültig. 47 Entscheidend ist, dass im Binnenmarkt für Vereinbarungen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen im Ergebnis dieselben Bedingungen bestehen. Daher dürfen diese Verhaltensweisen entsprechend der 8. Begründungserwägung der VO (EG) Nr. 1/2003 in den Mitgliedstaaten nur dann untersagt sein, wenn sie auch unionsrechtlich verboten sind. Im Ergebnis haben die Unternehmen bei Vereinbarungen, die den grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr betreffen, lediglich EU-Kartellrecht einzuhalten.
E. Öffentliche und monopolartige sowie Versorgungsunternehmen 393 Art. 106 AEUV verweist hinsichtlich der öffentlichen und monopolartigen Unternehmen in Abs. 1 auf die allgemeinen Regeln, welche die Mitgliedstaaten beachten müssen, und dabei insbesondere auch auf das Kartellverbot nach Art. 101 AEUV. Die nationalen Behörden dürfen daher diese Unternehmen nicht
47
Hossenfelder/Lutz, WuW 2003, 118 (120).
E. Öffentliche und monopolartige sowie Versorgungsunternehmen
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von wettbewerbsrechtlichen Pflichten freistellen oder ihnen Verstöße dagegen ermöglichen oder erleichtern. Insoweit ist die Geltung der Wettbewerbsregeln auch zulasten der Mitgliedstaaten eigens unionsrechtlich festgeschrieben. Weiter gehend bezieht sich Art. 106 Abs. 2 AEUV auf die Unternehmen selbst, 394 welche eine Sonderstellung innehaben. Indem für die Unternehmen, die mit Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse (zum Beispiel Abfallentsorgung, Telekommunikation) betraut sind, insbesondere die Wettbewerbsregeln partiell nicht gelten, greifen sie im Grundsatz ein. Art. 106 Abs. 2 AEUV verpflichtet damit auch diese Gruppe von Unternehmen trotz ihrer Sonderstellung. Insoweit handelt es sich um keine potenziell konkurrierende Norm, sondern um eine Vorschrift, welche die Anwendung namentlich der EU-Wettbewerbsregeln festschreibt. Diese sind damit aufgrund von Art. 106 AEUV insgesamt zulasten sowohl von öffentlichen und monopolartigen Unternehmen als auch von staatlichen Stellen einschlägig. Alle diese Gruppen dürfen in ihrem Handeln grundsätzlich nicht von den EU-Wettbewerbsvorschriften abweichen. Diese sind daher in Verbindung mit Art. 106 AEUV anwendbar. Es liegt eine Verweisungsnorm insbesondere auf die Wettbewerbsregeln vor. 48 Ein Dispens vor allem von den Wettbewerbsregeln eröffnet Art. 106 Abs. 2 395 AEUV, wenn deren Anwendung die Erfüllung der übertragenen besonderen Aufgaben rechtlich oder tatsächlich verhindert. Das setzt allerdings nicht voraus, dass das mit Ausschließlichkeitsrechten ausgestattete Unternehmen ohne die an sich gegen den AEUV verstoßenden Maßnahmen in seinem Überleben bedroht ist.49 Vielmehr genügt, wenn es ansonsten in der Erfüllung der ihm übertragenen besonderen Verpflichtungen (sachlich oder rechtlich) gefährdet50 oder überfordert würde. Eine solche Überforderung besteht, wenn eine gemeinwohlbezogene Aufgabe nicht mehr zu wirtschaftlich ausgewogenen51 bzw. tragbaren52 Bedingungen erfüllt werden kann.53 Insofern bezieht der Gerichtshof die prinzipielle Anwendbarkeit des Art. 106 Abs. 2 AEUV auf sämtliche Verpflichtungen, sofern diese nicht sachgerecht und wirtschaftlich erfüllt werden können. Der EuGH54 hebt in einem konkreten Fall darauf ab, dass das Abholen und die 396 Behandlung von Haushaltsabfällen möglicherweise durch das (teilweise oder ausschließliche) Angebot privater Dienstleistungen der Müllabfuhr nicht in dem Maße erfüllt werden kann, wie es aus Gründen der öffentlichen Gesundheit und des Umweltschutzes für erforderlich gehalten wird. Damit benennt er Gesichtspunkte, die eine Gewährung ausschließlicher Rechte für den Bereich der kommunalen Abfallwirtschaft vom Grundsätzlichen her zu rechtfertigen vermögen. 48 49 50 51 52 53 54
Allerdings nur eine eingeschränkte Rechtsgrundverweisung, s. Frenz, Europarecht 2, Rn. 1139. Explizit EuGH, Rs. C-159/94, Slg. 1997, I-5815 (5834, Rn. 57) – Kommission/Frankreich. EuGH, Rs. C-159/94, Slg. 1997, I-5815 (5835, Rn. 59) – Kommission/Frankreich. So EuGH, Rs. C-147 u. 148/97, Slg. 2000, I-825 (877, Rn. 52) – Deutsche Post. So EuGH, Rs. C-320/91, Slg. 1993, I-2533 (2568, Rn. 14; 2569, Rn. 16) – Corbeau. Beide Formulierungen verwendend EuGH, Rs. C-475/99, Slg. 2001, I-8089 (8156, Rn. 57 f.) – Ambulanz Glöckner. Rs. C-360/96, Slg. 1998, I-6821 (6866, Rn. 52) – BFI-Holding.
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Kapitel 4: Wettbewerbsfreiheit
Für das auf dem Abfallsektor bestehende Wettbewerbsverhältnis zwischen den öffentlichen Abfallwirtschaftsbetrieben einerseits und privaten Abfallunternehmen andererseits bedeutet dies, dass jedenfalls Gründe der öffentlichen Sicherheit, (i.w.S.) zumal wenn sie mit solchen zur Sicherung der Daseinsvorsorge zusammentreffen, die Stellung öffentlicher und damit gemeinwohlorientierter Wirtschaftsformen zu stärken und letztlich deren Wahl prinzipiell zu rechtfertigen vermögen. Doch selbst ausgehend von der Prämisse, dass gemeinwohlbezogene Überlegungen wie etwa Versorgungssicherheit, Umweltschutz, soziale Solidarität und Belange der Raumordnung die Einräumung von Sonderrechten für Dienste im Allgemeininteresse grundsätzlich rechtfertigen können, lässt sich hieraus allein noch kein hinreichender Grund für eine Befreiung von den Wettbewerbsvorschriften folgern, weil sich daraus noch keine konkreten Sonderpflichten ergeben, die ohne einen solchen Dispens nicht erfüllbar wären. Darüber hinaus muss es sich um solche Verpflichtungen handeln, die für die je398 weilige Art von öffentlichen Unternehmen und deren Tätigkeit spezifisch sind.55 Die Entsorgungspflicht für nach § 13 KrW-/AbfG überlassene Abfälle trifft aber gemäß § 15 KrW-/AbfG spezifisch die öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger als Gewährträger einer ordnungsgemäßen Entsorgung, soweit sie nicht Privaten obliegt. Diese Pflicht kann auch nur unter eingeschränkten Bedingungen nach § 16 Abs. 2 KrW-/AbfG übertragen werden. Ist der Umfang der Pflichtenobliegenheiten des jeweiligen öffentlichen Unternehmens geklärt, prüft der Gerichtshof, ob diese die Beibehaltung besonderer oder ausschließlicher Rechte zugunsten öffentlicher Unternehmen rechtfertigen, mithin die Erforderlichkeit der Sonderbehandlung.56 397
F. Zusammenschlüsse von Unternehmen I. Abgrenzung zur Fusionskontrollverordnung 399 Art. 101 AEUV setzt ein Zusammenwirken verschiedener Unternehmen voraus. Ist eine Fusion vollzogen, besteht hingegen regelmäßig nur noch ein Unternehmen. Daher greift das Kartellverbot jedenfalls unmittelbar regelmäßig nicht mehr ein. Das gilt auch für das Missbrauchsverbot, da selbst das Bestehen einer marktbeherrschenden Stellung nicht genügt, sondern deren Missbrauch hinzukommen muss, damit eine unzulässige Verhaltensweise vorliegt. Somit bleiben Fusionen von den Wettbewerbsregeln des EU-Primärrechts weitgehend unerfasst. Diese Lücke schließt die Fusionskontrollverordnung.57 Vom materiellen 400 Recht her vermag das Kartellverbot nur noch insoweit zum Zuge zu kommen, als selbstständige Unternehmen zurückbleiben, welche kooperieren. Das kann bereits bei einem bloßen Beteiligungserwerb an einem Konkurrenten der Fall sein.58 55 56 57
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EuGH, Rs. C-159/94, Slg. 1997, I-5815 (5837, Rn. 68) – Kommission/Frankreich. EuGH, Rs. C-159/94, Slg. 1997, I-5815 (5841 f., Rn. 89 ff.) – Kommission/Frankreich. Aktuell VO (EG) Nr. 139/2004 des Rates vom 20.1.2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. L 24, S. 1 (FKVO), seit dem 1.5.2004 auf alle Zusammenschlüsse anwendbar, Art. 26 Abs. 2. EuGH, Rs. 142 u. 156/84, Slg. 1987, 4487 (4575, Rn. 31) – BAT und Reynolds.
F. Zusammenschlüsse von Unternehmen
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Insoweit ist Art. 101 AEUV anwendbar. Es gilt wettbewerbsrelevante Verhaltensweisen umfassend abzudecken. Sekundärrecht vermag daran nichts zu ändern. Ausgangspunkt für die Abgrenzung von Kartellverbot und Fusionskontrolle ist daher der Begriff des Zusammenschlusses nach Art. 3 FKVO, welcher die Selbstständigkeit jedenfalls eines Unternehmens aufhebt. Einen solchen bilden Fusionen unabhängiger Unternehmen (Abs. 1 lit. a), der unmittelbare oder mittelbare Kontrollerwerb an einem anderen Unternehmen (Abs. 1 lit. b) sowie Gründungen von Vollfunktionsgemeinschaftsunternehmen (Abs. 4).59 Liegen solche Vorgänge vor, greift ausschließlich die Fusionskontrollverordnung und nicht das Kartellverbot. Das gilt unabhängig vom Erreichen der Schwellenwerte nach Art. 1 FKVO. Insoweit bestehen regelmäßig keine selbstständigen Unternehmen mehr, so dass eine Überschneidung a priori schon sachlich ausgeschlossen ist. Sind hingegen diese Vorgänge nicht gegeben, ist nach Art. 101 AEUV zu prüfen und das allgemeine Kartellverfahrensrecht einschlägig. So liegt kein Zusammenschluss vor, wenn ein Gemeinschaftsunternehmen nicht auf Dauer die Funktionen einer selbstständigen wirtschaftlichen Einheit erfüllt. Art. 21 S. 2 FKVO nimmt zudem Gemeinschaftsunternehmen ohne unionsweite Bedeutung nach Art. 1 FKVO (EG) Nr. 139/2004 aus, welche bezwecken oder bewirken, das Wettbewerbsverhalten von unabhängig bleibenden Unternehmen zu koordinieren. Insoweit greifen ebenfalls die allgemeinen Regeln Auch bei Vollfunktionsgemeinschaftsunternehmen liegen Fusion und das Verbleiben selbstständiger Unternehmen eng beieinander. Es kann zwar eine fusionierte Einheit vorliegen, die aber das Verhalten von weiterhin eigenständig gebliebenen Unternehmen steuert. Koordinierungen solcher unabhängig bleibender Unternehmen sind gemäß Art. 2 Abs. 4 FKVO nach Art. 101 Abs. 1 und 3 AEUV zu beurteilen. Damit wird dem auf diese Fälle anwendbaren Maßstab des Kartellverbotes Rechnung getragen. Die formale Prüfung erfolgt aber im Rahmen und damit auch nach dem Verfahren der Fusionskontrollverordnung. 60
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II. Nebenabreden Eine nicht nur formell-, sondern auch materiell-rechtliche Überlagerung des Kar- 405 tellverbotes erfolgt für Nebenabreden, die mit einem Zusammenschluss unmittelbar verbunden und dafür notwendig sind. Derartige direkt mit einer Fusion gekoppelte Nebenabreden sind generell und damit unabhängig von Art. 2 Abs. 4 FKVO der Fusionskontrolle unterworfen, auch wenn sie zwischen selbstständig bleibenden Unternehmen getroffen wurden. Es können zwar sachliche Überschneidungen mit dem Kartellverbot dadurch auftreten, dass im Hinblick auf Zusammenschlüsse Nebenabreden getroffen werden. Sind sie unmittelbar mit der Durchführung eines Zusammenschlusses verbunden und für diesen notwendig, gelten sie aber nach Art. 6 Abs. 1 lit. b) und Art. 8 Abs. 1 FKVO zusammen mit der positiven Fusionsentscheidung als genehmigt.
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Zu diesen Tatbeständen im Einzelnen Frenz, Europarecht 2, Rn. 1672 ff. S. Frenz, Europarecht 2, Rn. 1701 ff.
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Kapitel 4: Wettbewerbsfreiheit
Die Abgrenzung im Einzelnen richtet sich damit letztlich nach dem Umfang der fusionskontrollrechtlichen Freigabeentscheidung, inwieweit diese also Nebenabreden abdeckt, ohne dass dies aber im Einzelnen geprüft wird. III. Maßstab
407 Art. 2 Abs. 2 FKVO (EG) Nr. 139/2004 setzt für die Vereinbarkeit eines Zusammenschlusses mit dem Binnenmarkt voraus, dass auf diesem bzw. einem wesentlichen Teilmarkt wirksamer Wettbewerb nicht erheblich behindert wird. Besonders herausgestellt wird die Begründung oder Verstärkung einer beherrschenden Stellung. Indem auch die Begründung einer beherrschenden Stellung erfasst wird, geht diese Bestimmung über Art. 102 AEUV hinaus. Der Ansatz des Missbrauchsverbotes ist ohnehin nur besonders herausgehoben. Letztlich entscheidet, inwieweit wirksamer Wettbewerb auch bei Zusammenschlüssen gewahrt werden kann. Darauf ist daher auch bei solchen Fusionen zu achten, die nicht mit einer beherrschenden Stellung einhergehen. Der neue Bewertungsmaßstab macht damit den früheren Ansatz, ob eine be408 herrschende Stellung im Binnenmarkt oder in einem wesentlichen Teilmarkt begründet oder verstärkt wird, durch die wirksamer Wettbewerb erheblich behindert wird, zum Regelbeispiel.61 Ausgangspunkt ist hingegen ausschließlich die Frage einer erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs durch den Zusammenschluss und damit der sog. SIEC-Test (substantial impediment to effective competition),62 der als solcher stärker quantitativen Aspekten unterliegt und deshalb empirische Analysen vor allem auf der Basis von Ausschreibungsdaten eine verstärkte Bedeutung zuweisen könnte.63
G. Evidenzkontrolle 409 Sowohl bei den unternehmensbezogenen Wettbewerbsregeln als auch bei der Fusionskontrolle ist der Prüfungsmaßstab immer wieder problematisch. Die aus früheren Entscheidungen bekannte Kontrolldichte bei Art. 101 Abs. 3 AEUV, welche sich auf eine Evidenzkontrolle beschränkte, wurde durch die neuere Rechtsprechung näher konkretisiert. Es wird zwar weiterhin der Beurteilungsspielraum der Kommission bei komplexen wirtschaftlichen Sachverhalten betont.64 Dies wurde aber auch schon mit Urteilen im Rahmen der Fusionskontrolle unterlegt,65 in denen die Erwägungen der Kommission detailliert durch die Richter verifiziert wurden.66 Danach ist der Richter dazu angehalten, die sachliche Richtigkeit der Beweise, ihre Zuverlässigkeit und ihre Kohärenz zu prüfen.67 Ferner 61 62 63 64 65 66 67
Berg, BB 2004, 561 (562). Dazu ausführlich Böge, WuW 2004, 138 (143 ff.). Hofer/Williams/Wu, WuW 2005, 155 ff. Jüngst EuGH, Rs. C-441/07 P, EWS 2010, 330 – Alrosa. EuG, Rs. T-168/01, Slg. 2006, II-2969 (3048, Rn. 241 f.) – GlaxoSmithKline Services. Frenz, Europarecht 2, Rn. 1608. EuG, Rs. T-210/01, Slg. 2005, II-5575 (5615 f., Rn. 63) – General Electric.
H. Beihilfenverbot
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muss er kontrollieren, ob alle relevanten Daten herangezogen wurden und dass diese Daten die aus ihnen gezogenen Schlüsse zu stützen vermögen. 68 Relevanz hat dies nach dem more economic approach vor allem für die erforderliche quantitative Darstellung und Folgerung wohlfahrtsökonomischer Effizienz anhand empirischer Daten. Ob die Daten die gezogenen Rückschlüsse stützen können, bedarf einer Be- 410 wertung rechtlicher Art. So dürfen die Richter die rechtliche Auslegung von Wirtschaftsdaten ohne weiteres überprüfen.69 Damit wird das Werkzeug der Kommission auf seine Rechtmäßigkeit überprüft 411 wie auch dessen Anwendung. Die Unternehmen müssen ihre Freistellung hinreichend erläutern und rechtfertigen, ebenso dann die überprüfende Kommission, wenn sie einen Rechtfertigungsgrund ablehnt.70 Bei der Fusionskontrolle geht es dabei um die prognostizierte Fortentwicklung des Wettbewerbs bei einem Zusammenschluss.71 Die Übertragung auf kartellrechtliche Fälle erscheint daher ebenfalls durch den more economic approach begünstigt. Systematische Differenzierungen der beiden Gebiete treten in diesem Zusammenhang in gewissem Maße hinter dem darüber stehenden Leitbild einer zielgerichteten wirtschaftlichen Folgenbetrachtung zurück. Auch in der Fusionskontrolle geht es tiefer gehend um den Schutz der Verbrau- 412 cher und damit nicht nur um den Wettbewerb als solchen sowie um die Bewältigung von Prognoseunsicherheiten für künftige und komplexe Entwicklungen, woraus sich eine Absenkung der Beweisanforderungen ergibt. Zudem wird ebenfalls umgekehrt wird aber ebenfalls die Ordnungsgemäßheit des Vorgehens in Form einer vollständigen Daten- und Sachverhaltsermittlung und einer sachgerechten Beurteilung geprüft.72
H. Beihilfenverbot I. Tatbestand 1. Begünstigung, Staatlichkeit und Selektivität als Eckpunkte a) Ansatz Art. 107 Abs. 1 AEUV verbietet staatliche und aus staatlichen Mitteln gewährte 413 Beihilfen gleich welcher Art mit (drohenden) negativen Auswirkungen für den 68 69 70
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EuG, Rs. T-168/01, Slg. 2006, II-2969 (3049, Rn. 242) – GlaxoSmithKline Services. EuG, Rs. T-210/01, Slg. 2005, II-5575 (5615 f., Rn. 63) – General Electric. EuGH, Rs. C-501 u.a./06 P, Slg. 2009, I-9291 (9408, Rn. 95) – Glaxo Smith Kline Services; bereits die Vorinstanz EuG, Rs. T-168/01, Slg. 2006, II-2969 (3051 f., Rn. 252 ff.). Näher Frenz, Europarecht 2, Rn. 1658, 1756 ff. Vor allem auf die Struktur und die Entwicklung potenziellen Wettbewerbs ist zu achten. Insgesamt darf wirksamer Wettbewerb nicht erheblich behindert werden, insbes. nicht durch das Entstehen einer marktbeherrschenden Stellung (SIEC-Test), s.o. Rn. 408. EuGH, Rs. C-413/06 P, Slg. 2008, I-4951 – Impala in Aufhebung des schärfer kontrollierenden EuG, Rs. T-464/04, Slg. 2006, II-2289 – Impala.
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Kapitel 4: Wettbewerbsfreiheit
Wettbewerb und den grenzüberschreitenden Handel und hat daher einen umfassenden Anwendungsbereich. Der Begriff der Beihilfe wird denn auch, ähnlich wie der Schutzbereich der Grundfreiheiten, weit ausgelegt. Art. 107 AEUV will verhindern, dass die Mitgliedstaaten durch Unterstützungsleistungen den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes zugunsten bestimmter eigener Unternehmen oder Produktionszweige verfälschen. Es geht also vor allem darum, dass nicht eine nationale Produktion bzw. einzelne heimische Wirtschaftsteilnehmer bevorzugt werden. Da eine solche Begünstigung zumeist versteckt erfolgt, um Beanstandungen zu vermeiden, gilt es, auch verwinkelte Leistungen aufzuspüren und dem Beihilfenverbot zu unterstellen. Das spricht dafür, den Beihilfebegriff weit zu fassen und die begünstigende Wirkung entscheidend sein zu lassen. Nicht zuletzt, um möglichst alle Beihilfen zu erfassen, sieht Art. 108 Abs. 1 AEUV eine fortlaufende Überprüfung durch die Kommission in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten vor. Um diese Kontrolle auch tatsächlich greifen zu lassen, muss ein Mitgliedstaat jede beabsichtigte Einführung oder Umgestaltung von Beihilfen rechtzeitig mitteilen. Vor einer positiven Entscheidung der Kommission darf die beabsichtigte Maßnahme gemäß Art. 108 Abs. 3 AEUV nicht durchgeführt werden. Damit besteht eine Präventivkontrolle mit Genehmigungsvorbehalt. Art. 107 Abs. 1 AEUV gibt selbst keine genaue Definition des Wortes „Beihilfe“. Aus dem Tatbestand sind aber die Merkmale einer unzulässigen Beihilfe abzuleiten. Der sachliche Anwendungsbereich wird daher durch den Beihilfebegriff und seine ausdrücklich genannten Flankierungen geprägt, dass Beihilfen dem Staat zurechenbar sein und aus staatlichen Mitteln stammen müssen sowie nur bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige begünstigen. Deren Begünstigung bildet den Kern dafür, dass eine Beihilfe vorliegt. Nach allgemeiner Auffassung73 umfasst eine Beihilfe nach Art. 107 Abs. 1 AEUV daher folgende einzelne Merkmale: Es muss eine Begünstigung vorliegen, die einem bestimmten Unternehmen oder Produktionszweig zuteil wird, die Maßnahme muss also selektiven Charakter haben. Sie muss zu einer Belastung öffentlicher Mittel führen und auf einen Mitgliedstaat zurückführbar sein. Der EuGH nimmt sogleich die weiteren in Art. 107 Abs. 1 AEUV verlangten Elemente hinzu und prüft diese mittlerweile in anderer Reihenfolge: „Erstens muss es sich um eine staatliche Maßnahme oder eine Maßnahme unter Inanspruchnahme staatlicher Mittel handeln. Zweitens muss sie geeignet sein, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Drittens muss dem Begünstigten durch sie ein Vorteil gewährt werden. Viertens muss sie den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen.“74 Diese Reihenfolge ändert in der Sache aber nichts an der zentralen Bedeutung der Vorteilsgewährung als Grundbedingung, dass eine Beihilfe überhaupt vorlie73 74
S. Mederer, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 87 Rn. 23 ff.; Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, § 43 Rn. 3. EuGH, Rs. C-280/00, Slg. 2003, I-7747 (7836, Rn. 75) – Altmark; ebenso Rs. C345/02, Slg. 2004, I-7139 (7178, Rn. 33) – Pearle. Die dort genannten Vorentscheidungen halten sich freilich nicht notwendig an diese Reihenfolge und benennen sie auch gar nicht.
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gen kann,75 der EuGH die (drohende) Verfälschung des Wettbewerbs inhaltlich verbindet und zusammen prüft.76 Auch das Merkmal der Selektivität wird separat und vor den beiden vorgenannten Punkten behandelt.77 Das hat deshalb seine Berechtigung, weil das Erfordernis einer Gewährung an bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige in Art. 107 Abs. 1 AEUV vorher genannt wird und eher eine begriffliche Einschränkung der Beihilfe darstellt als die Handelsbeeinträchtigung und die Wettbewerbsverfälschung. Jedenfalls bleibt die Gewährung eines Vorteils bzw. einer Begünstigung von 419 zentraler Bedeutung für das Vorliegen einer Beihilfe. Beide Begriffe dürfen daher auch nicht gleichgesetzt werden. Das wäre deshalb irreführend, weil doch gerade noch zu prüfen ist, ob es sich bei der in Rede stehenden Maßnahme um eine Beihilfe im Sinne von Art. 107 AEUV handelt. Grundlage dafür ist, dass überhaupt eine Begünstigung vorliegt. Zudem müssen die weiteren Merkmale der Staatlichkeit und der Selektivität dieser Begünstigung gegeben sein. b) Belastung staatlicher Mittel: Förderung regenerativer Energien Spezifisch zur Frage des Beihilfecharakters der deutschen Förderung regenerativer 420 Energien erging die PreussenElektra-Entscheidung. Sie zementierte die Konzeption des EuGH, dass lediglich eine Antastung staatlicher Mittel dazu führt, dass eine Beihilfe vorliegt, nicht hingegen eine Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige, selbst wenn diese zu einer Belastung anderer Unternehmen im Wettbewerb führt. Danach verstößt eine Abnahme- und Vergütungspflicht für Strom aus erneuerbaren Energien (EE-Strom) weder gegen die Warenverkehrsfreiheit78 noch gegen das Beihilfenverbot, um den Anteil des Einsatzes regenerativer Energiequellen an der Gesamtelektrizitätserzeugung deutlich zu erhöhen. Die Verpflichtung privater Elektrizitätsversorgungsunternehmen zur Abnahme von Strom aus erneuerbaren Energiequellen zu festgelegten Mindestpreisen, die über dem tatsächlichen Wert des Stroms liegen, führt nicht zu einer unmittelbaren oder mittelbaren Übertragung staatlicher Mittel auf die Unternehmen, die diesen Strom erzeugen. Die für die privaten Elektrizitätsversorgungsunternehmen aus der Abnahmepflicht resultierenden finanziellen Belastungen werden vielmehr zwischen diesen und privaten Betreibern der vorgelagerten Stromnetze aufgeteilt. Die Unterscheidung zwischen staatlichen Beihilfen und aus staatlichen Mitteln gewährten Beihilfen dient nämlich nur dazu, über die unmittelbar vom Staat gewährten Vorteile hinaus solche einzubeziehen, die über eine vom Staat benannte oder errichtete öffentliche oder private Einrichtung gewährt werden.79 Weiterhin führt nach dem EuGH der Umstand, dass die Abnahmepflicht auf einem Gesetz beruht und bestimmten Unternehmen unbestreitbare Vorteile gewährt, genauso wenig zum Vorliegen einer staatlichen Beihilfe wie der Umstand, 75 76 77 78 79
S. ausführlich EuGH, Rs. C-280/00, Slg. 2003, I-7747 (7838 f., Rn. 83 ff.) – Altmark. EuGH, Rs. C-222/04, Slg. 2006, I-289 (362 f., Rn. 129; 365, Rn. 138 ff.) – Cassa di Risparmio di Firenze. S. EuGH, Rs. C-222/04, Slg. 2006, I-289 (364, Rn. 134 ff.) – Cassa di Risparmio di Firenze. Dazu ausführlich Frenz, NuR 2001, 301 ff. EuGH, Rs. C-379/98, Slg. 2001, I-2099 (2181, Rn. 58) – PreussenElektra m.w.N.
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dass sich die finanzielle Belastung durch die Abnahmepflicht zu Mindestpreisen negativ auf das wirtschaftliche Ergebnis der dieser Pflicht unterliegenden Unternehmen auswirken kann und sich dadurch die Steuereinnahmen des Staates verringern.80 Diese Argumentation geht aber am Kern der wettbewerbsverändernden 421 staatlichen Begünstigung vorbei: Durch eine Abnahme- und Vergütungspflichtregelung, die nur den in Deutschland erzeugten EE-Strom der Abnahme- und Mindestvergütungspflichtregelung unterstellt, werden die konventionellen Stromerzeuger sowie solche von EE-Strom in anderen Mitgliedsländern einseitig benachteiligt. Den deutschen EE-Stromerzeugern wird Strom in jedem Fall vorrangig abgenommen, was bei dem derzeitigen Anteil von EE-Strom an der Gesamtelektrizitätsversorgung auf eine Totalabnahme hinausläuft. Gleichzeitig wird der EE-Strom mit einer festen Mindestsumme vergütet, die erheblich über den Marktpreisen liegt. Der Staat gewährleistet damit Einnahmegarantien allein dadurch, dass er 422 durch Mindestpreise flankierte Abnahme- und Vergütungsregelungen vorgibt. Auf diese Weise verschafft er den Unternehmen eine gesicherte Rechtsposition, die diese im Ergebnis in gleicher Weise begünstigt wie staatliche Zahlungen. Von der Begünstigungsseite her verkörpert deshalb der Mechanismus einer Abnahme- und Vergütungsregelung eine Beihilfe. Wettbewerb ist insoweit ausgeschaltet und damit der Schutzgegenstand berührt, auf den sich auch das Beihilfenverbot bezieht. Beeinträchtigend wirkt eine staatliche Maßnahme, die eine spezifische Branche einseitig zulasten der Wettbewerber fördert. Hier vermindert der Staat die Investitionskosten und stärkt die Planungssicherheit der einheimischen EEStromerzeuger, da sie nicht mehr um Marktanteile kämpfen müssen. Durch die Abnahme- und Vergütungspflicht sind die Stromerzeuger finanziell 423 höher belastet, als die eigene Stromerzeugung kosten würde, und machen insoweit einen geringeren Gewinn. Daher zahlen sie weniger Steuern. Die damit verbundenen geringeren Einnahmen des Staates bilden die Kehrseite der Begünstigung der Erzeuger regenerativer Energien. Dass sie durch staatliche Regulierung Einnahmegarantien erhalten, führt erst zu staatlichen Einnahmeausfällen. Dieser Einnahmeverzicht ist notwendig mit der Förderung der EE-Erzeuger gekoppelt und spricht dafür, ihn in den Beihilfebegriff des Art. 107 Abs. 1 AEUV einzubeziehen. 2. Sachgebietsspezifische Begrenzungen 424 Aus dem umfassenden Ansatz der Norm, die Beihilfen „gleich welcher Art“ erfassen will, ergibt sich wie bei den Grundfreiheiten die Frage einer sinnvollen Begrenzung, um ein uferloses Eingreifen des Verbotes zu vermeiden.81 Explizite Begrenzungen folgen schon aus den Eckpunkten „staatliche“ und „aus staatlichen Mitteln gewährte“ Beihilfen „zugunsten einzelner Unternehmen oder Produktionszweige“. Schon dadurch werden die erfassten Beihilfen sachgebietsspezifisch
80 81
EuGH, Rs. C-379/98, Slg. 2001, I-2099 (2182, Rn. 62) – PreussenElektra. S.o. Rn. 227, 293.
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begrenzt, so dass allgemeine wirtschaftslenkende Maßnahmen nicht umfasst werden.82 Einschränkungen des Anwendungsbereichs des Beihilfenverbotes ergeben sich 425 zudem bereits aus dem notwendigen Vorliegen einer „Begünstigung“ als zentralem und essenziellem Merkmal einer Beihilfe. Hier kommt zum Tragen, dass das Beihilfenverbot die Wettbewerbsfreiheit vor Beeinträchtigungen schützen soll. Eine solche Beeinträchtigung ist anzunehmen, wenn der dem freien Spiel der wirtschaftlichen Kräfte überlassene Austausch von Leistung und Gegenleistung durch staatliche Vorteilsgewährung verfälscht wird. Eine im Rahmen der Beihilfevorschrift zu missbilligende Begünstigung ist damit gegeben, soweit die Begünstigung nicht durch eine marktgerechte Gegenleistung kompensiert wird.83 Die hiernach erforderliche Untersuchung, ob einer Zuwendung eine marktgerechte Gegenleistung gegenübersteht, prägt in vielen Fällen die Prüfung des Art. 107 Abs. 1 AEUV84 und begrenzt den sachlichen Anwendungsbereich der Beihilfevorschriften erheblich. 3. Wettbewerbsbezogene Begrenzungen a) Beeinträchtigende Wirkung als weitere Verengung Das Beihilfenverbot ist im Wettbewerbsrecht angesiedelt und soll den Wettbewerb vor Verfälschungen schützen. Daraus folgen weitere Begrenzungen des sachlichen Anwendungsbereiches. Eine Beihilfe ist nach Art. 107 Abs. 1 AEUV nur verboten, wenn sie durch die Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige den Wettbewerb verfälscht oder zu verfälschen droht und dabei zudem den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigt. Dass eine Wettbewerbsverfälschung lediglich drohen muss, zeigt die Entbehrlichkeit einer tatsächlichen Beeinträchtigung. Eine solche Drohung ist aber nur möglich, wenn eine Eignung zur Wettbewerbsverfälschung besteht. Während die Grundfreiheiten vor allen mitgliedstaatlichen Beschränkungen schützen sollen, so dass eine Bagatellgrenze ausscheidet,85 wird der Wettbewerb regelmäßig erst ab einer bestimmten Größenordnung tangiert. Sachliche Begrenzungen des Anwendungsbereiches des Beihilfenverbotes ergeben sich daher wie bei den anderen Wettbewerbsvorschriften aus der De-minimis-Regel, die auch im Hinblick auf das Beihilfenverbot eigens konkretisiert wurde.86 Durch sie hat die Kommission bestimmt, dass Beihilfen unterhalb eines bestimmten Schwellenwertes von der Anwendung des Art. 107 Abs. 1 AEUV ausgenommen sind. Zu einer dem Staat zuordenbaren, selektiven Beihilfe muss jedenfalls hinzukommen, dass der Wettbewerb und der innerunionale Handel tangiert werden 82 83 84 85 86
Jüngst EuGH, Rs. C-222/04, Slg. 2006, 289 (364, Rn. 134 ff.) – Cassa di Risparmio di Firenze. S. Frenz, Europarecht 3, Rn. 629 f. EuGH, Rs. C-280/00, Slg. 2003, I-7747 (7839, Rn. 87) – Altmark. Im Einzelnen s. hierzu Frenz, Europarecht 3, Rn. 171 ff. EuGH, Rs. 177 u. 178/82, Slg. 1984, 1797 (1812 f.; Rn. 13) – van de Haar. VO (EG) Nr. 69/2001 der Kommission vom 12.1.2001 über die Anwendung der Artikel 87 und 88 EG-Vertrag auf „De-minimis“-Beihilfen, ABl. L 10, S. 30. S. ausführlich dazu Frenz, Europarecht 3, Rn. 778 ff.
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können. Will man insoweit die Brücke zu den Grundfreiheiten schlagen, kann man diese beiden Merkmale als Beeinträchtigung zusammenfassen, die zumindest potenziell vorliegen muss. Auch diese beiden Merkmale sind allerdings Bestandteil des umfassenden Bei430 hilfenverbotstatbestandes und engen die durch diesen erfassten Beihilfen weiter ein. Das gilt vor allem für die feste Zahlenwerte vorsehende De-minimisVerordnung. Umgekehrt wird eine Handelsbeeinträchtigung zwischen den Mitgliedstaaten als grenzüberschreitendes Element oberhalb der in der De-minimisVerordnung festgelegten Schwellenwerte angesichts der dichten Handelsbeziehungen innerhalb der EU fast immer gegeben sein. Denkbar ist jedoch, dass bei rein lokalen wirtschaftlichen Betätigungen, fern der Grenze zu europäischen Nachbarländern, das Tatbestandsmerkmal der Handelsbeeinträchtigung zu einer Einschränkung des Anwendungsbereiches des Beihilfenverbotes unabhängig von den Grenzen der De-minimis-Verordnung führt. b) Weiterungen 431 Zuwendungen, um gemeinwohlbezogene Leistungen erbringen zu können, sollen die mit der Erbringung der Dienste verbundenen Belastungen ausgleichen und dadurch Wettbewerbsgleichheit herstellen. 87 Allerdings geht es dabei nicht wie im Rahmen des Kartellverbotes um die Förderung neuen Wettbewerbs, sondern um die Sicherung bestehender Positionen. Daher ist auf die Aufgabenerfüllung und damit auf Art. 106 Abs. 2 AEUV zurückzugreifen.88 „Positiven“ Wettbewerb und Innovation umfassend fördern will die Kommissi432 on in ihrer neuen Konzeption zur Beihilfenaufsicht und daher darauf bezogene Förderungsmaßnahmen von vornherein ausklammern. 89 Indes ist die Beurteilung insoweit noch schwieriger als bei unternehmerischen Verhaltensweisen. 90 Zudem greifen staatliche Förderungen grundsätzlich stets in den freien Wettbewerbsprozess ein und können daher allenfalls aus den dafür in Art. 107 Abs. 2 und 3 AEUV vorgesehenen Gründen für vereinbar erklärt, nicht aber schon vom Tatbestand her aus dem Beihilfenverbot herausgenommen werden. Aber auch insoweit erfolgten im Zuge der Wirtschafts- und Finanzkrise erhebliche Weiterungen.91
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EuGH, Rs. C-53/00, Slg. 2001, I-9067 (9111, Rn. 29) – Ferring. S.o. Rn. 394 ff. S. bereits Aktionsplan staatliche Beihilfen – Weniger und besser ausgerichtete staatliche Beihilfen – Roadmap zur Reform des Beihilfenrechts 2005 – 2009, KOM (2005) 107 endg., Rn. 19 sowie die aktuelle GruppenfreistellungsVO (EG) Nr. 800/2008 der Kommission vom 6.8.2008 zur Erklärung der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Gemeinsamen Markt in Anwendung der Art. 87 und 88 EGV (allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung), ABl. L 214, S. 3; näher zum Ganzen Frenz, Europarecht 3, Rn. 683 ff. S. zu diesen o. Rn. 370 ff. S. sogleich Rn. 439 ff.
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II. Rechtfertigende Ausnahmen 1. Einordnung Ein nach Art. 107 Abs. 1 AEUV verbotenes Verhalten kann gleichwohl mit dem 433 Binnenmarkt vereinbar sein, wenn eine der in Art. 107 Abs. 2 und 3 AEUV genannten Ausnahmen greift. Zwar wird in Art. 109 a.E. AEUV von „Ausnahmen“ gesprochen. Schon bei unbefangenem Lesen des Art. 107 Abs. 2 und 3 AEUV kann man aber auch zu dem Schluss gelangen, dass es sich hierbei im Ergebnis um konkrete Rechtfertigungsgründe handelt. Art. 107 Abs. 2 und 3 AEUV gehen von einer zwingenden bzw. zumindest möglichen Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt aus, wenn eine darin aufgeführte Fallgruppe vorliegt. Das setzt aber voraus, dass eine eigentlich verbotene Beihilfe vorliegt. 2. Struktur und Einzelfälle a) Unterteilung Art. 107 AEUV führt eine ganze Reihe von expliziten Ausnahmen vom Beihilfenverbot auf. Die in Art. 107 Abs. 2 AEUV aufgezählten Ausnahmen sind zwingend, die in Abs. 3 der Norm genannten dagegen fakultativ. Die zwingenden Ausnahmetatbestände in Art. 107 Abs. 2 AEUV erfassen Beihilfen sozialer Art und an einzelne Verbraucher sowie Beihilfen, um durch Naturkatastrophen bzw. sonstige außergewöhnliche Ereignisse hervorgerufene Schäden zu beseitigen oder die wirtschaftlichen Spätfolgen aus der Teilung Deutschlands zu beheben. Art. 107 Abs. 3 AEUV benennt fakultative Rechtfertigungsgründe, bei deren Eingreifen eine Beihilfe als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden kann. Insbesondere hier ist ein Entscheidungsspielraum der Kommission eröffnet. Das betrifft Beihilfen, um die wirtschaftliche Entwicklung in Gebieten mit außergewöhnlich niedriger Lebenshaltung oder erheblicher Unterbeschäftigung (lit. a)), gewisse Wirtschaftszweige oder Wirtschaftsgebiete (lit. c)), die Kultur und die Erhaltung des kulturellen Erbes (lit. d)) oder wichtige Vorhaben von gemeinsamem europäischen Interesse zu fördern bzw. eine beträchtliche Störung im Wirtschaftsleben eines Mitgliedstaates zu beheben (lit. b)). Sonstige Arten von Beihilfen können durch Entscheidung des Rates auf Vorschlag der Kommission bestimmt werden (lit. e)). Teilweise enthalten die Ausnahmen eigene Bedingungen, wie sie auch bei den Rechtfertigungsgründen für die Grundfreiheiten auftauchen. Bereits erwähnt wurde die Veränderung der Handelsbedingungen, die nicht dem gemeinsamen Interesse zuwiderlaufen darf. Art. 107 Abs. 2 lit. a) AEUV nennt das Diskriminierungsverbot als Grenze. Diese beiden Komponenten dürften auch für die anderen Ausnahmen von Bedeutung sein, selbst wenn sie nicht ausdrücklich erwähnt sind. Denn das Diskriminierungsverbot durchzieht das Unionsrecht als allgemeiner Grundsatz. Auch das Beihilfenverbot ist nur eine spezielle Ausprägung.92 Daher ist es allgemein
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und grundsätzlich zu wahren, wie dies auch im Rahmen der Grundfreiheiten zutrifft. Zudem ist bei der Freistellung vom Beihilfenverbot immer darauf zu achten, 438 dass der freie Wettbewerb nicht über Gebühr eingeschränkt wird. Das sichert die Klausel, dass die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändert werden dürfen, die dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft. Damit liegen trotz fehlender allgemeiner Erwähnung auch für Art. 107 Abs. 2 und 3 AEUV Einschränkungen der Ausnahmen vor, die nicht auf einzelne Tatbestände begrenzt sind. b) Zielbezogene Betrachtungen: Wirtschafts- und Finanzkrise 439 Bei den Ausnahmetatbeständen des Beihilfenverbotes werden ebenfalls in großem Umfang zielbezogene Betrachtungen angestellt.93 Das galt vor allem im Hinblick auf die Wirtschafts- und Finanzkrise, wenn Beihilfen gewährt werden, um Unternehmen über durch die Wirtschafts- und Finanzkrise bedingte Krisensituationen hinweg zu helfen. Vor diesem Hintergrund durften auch Finanzinstituten selbst bei eigenverschuldeten Schieflagen staatliche Beihilfen gewährt werden, wenn gemäß Art. 107 Abs. 3 lit. b) AEUV beträchtliche Störungen im Wirtschaftsleben eines Mitgliedstaates behoben werden mussten. Die Kommission genehmigte in diesem Zusammenhang gestützt auf Art. 107 440 Abs. 3 lit. b) AEUV das FMStFG94 zur Stabilisierung des Finanzmarktes.95 In § 4 FMStFG ist das maßgebliche Kriterium für die staatliche Beihilfe die Bedeutung des begünstigten Finanzinstitutes für die Finanzmarktstabilität. Damit ist die vielfach im Rahmen der Bankenrettungen genannte „Systemrelevanz“ das zentrale Kriterium.96 Dieses Kriterium verdeutlicht ganz besonders den more economic approach, da es eine absolut wirtschaftliche Folgenbetrachtung als maßgeblich für die Rechtsanwendung bestimmt und gleichzeitig normative Zielsetzungen in den Schatten stellt. Die Zielbestimmung der gesamtwirtschaftlichen Stabilität kann sehr weitrei441 chend über andere Interessen gesetzt werden, auch wenn die Zuwendung astronomische Summen umfasst und die Wettbewerbsverzerrung möglichst gering gehalten werden soll.97 Die Kommission ist sich aber der besonderen Bedeutung solch immens hoher Zuwendungen bewusst und führt bei ihrer Kontrolle eine ausführliche Abwägung im Rahmen des Art. 107 Abs. 3 lit. b) AEUV durch.98 93 94
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S. Frenz, Europarecht 3, Rn. 742 m.w.N. Gesetz zur Errichtung eines Finanzmarktstabilisierungsfonds (Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetz) vom 17.10.2008, BGBl. I S. 1982, zuletzt geändert durch Art. 4 des Gesetzes vom 9.12.2010, BGBl. I S. 1900. Vgl. K (2008) 8629, Staatliche Beihilferegelung N 625/2008 (9, Rn. 46) – Deutschland. S. auch K (2008) 8839, Staatliche Beihilfe N 615/2008 – Deutschland. Die HRE z.B. hat einen zweistelligen Milliardenbetrag erhalten, wobei die Gefahr einer Wettbewerbsverzerrung aufgrund der Schieflage jedoch nicht bestehe, da die Bank zur Zeit ohnehin am Markt wenig handlungsfähig sei, vgl. K (2008) 5735, Staatliche Beihilfe NN 44/2008 (Rn. 28) – Deutschland. Art. 107 Abs. 3 lit. b) AEUV selbst kann „nur unter wirklich außergewöhnlichen Umständen geltend gemacht werden“, vgl. Mitteilung der Kommission – Die Anwendung der Vorschriften für staatliche Beihilfen auf Maßnahmen zur Stützung von Finanzinsti-
H. Beihilfenverbot
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c) Allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung Die vorstehenden Ausnahmen werden mittlerweile durch die allgemeinen Grup- 442 penfreistellungsverordnung (AGVO)99 näher geregelt, so in Art. 18-25 Umweltschutzbeihilfen. Sie bilden vielfach den konkreten Anknüpfungspunkt, um eine Vereinbarkeit mit dem Binnenmarkt trotz Erfüllung des Beihilfetatbestandes zu bejahen. d) Anmeldeverfahren Im Gegensatz zur jetzigen Anwendung der Freistellungstatbestände vom Kar- 443 tellverbot nach Art. 101 Abs. 3 AEUV unter der VO (EG) Nr. 1/2003100 greifen die Ausnahmetatbestände im Rahmen des Beihilfenverbotes weiterhin nicht unmittelbar ein, sondern sie müssen von der Kommission im Zuge des notwendigen Anmeldeverfahrens geprüft und dabei befürwortet werden. III. Prüfungsschema Ausgangspunkt für die Prüfung des Beihilfenverbotes ist das Vorliegen einer Bei- 444 hilfe. Grundvoraussetzung dafür ist eine Begünstigung. Diese muss staatlich sein oder zumindest aus staatlichen Mitteln stammen sowie auf bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige verengt sein (Selektivität). Liegt danach eine Beihilfe vor, so ist ferner zu untersuchen, ob die Merkmale der Wettbewerbsverfälschung und Handelsbeeinträchtigung zumindest potenziell gegeben sind. Nur dann handelt es sich um eine grundsätzlich unzulässige Beihilfe im Sinne des Tatbestandes. Eine solche Beihilfe kann gleichwohl zulässig sein, wenn eine der Ausnahmen aus Art. 107 Abs. 2 und 3 AEUV gegeben ist. Diese haben rechtfertigenden und nicht bereits tatbestandsauschließenden Charakter. Dabei ist auf die Konkretisierungen und Ausgestaltungen durch Verordnungen zu achten.
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tuten im Kontext der derzeitigen globalen Finanzkrise (2008/C 270/02), ABl. C 270, S. 8, Rn. 11. VO (EG) Nr. 800/2008 der Kommission vom 6.8.2008 zur Erklärung der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Gemeinsamen Markt in Anwendung der Artikel 87 und 88 EG-Vertrag (allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung), ABl. L 214, S. 3; dazu allgemein näher Bartosch, NJW 2008, 3612. Des Rates vom 16.12.2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. 2003 L 1, S. 1. S.o. Rn. 362.
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Kapitel 4: Wettbewerbsfreiheit 1. Verbotstatbestand des Art. 107 Abs. 1 AEUV a) Begünstigung b) Staatliche oder aus staatlichen Mitteln c) Zugunsten bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige (Selektivität) d) (drohende) Verfälschung des Wettbewerbs e) (Eignung zur) Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten 2. Keine rechtfertigende Ausnahmen a) Zwingende Ausnahmen nach Art. 107 Abs. 2 AEUV b) Fakultative Ausnahmen nach Art. 107 Abs. 3 AEUV c) Dispens nach Art. 106 Abs. 2 AEUV
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IV. Bedeutung für nationale Beihilfen 1. Anmeldeverfahren 446 Grundsätzlich muss die Europarechtskonformität einer nationalen Beihilfe von einem Unionsorgan festgestellt worden sein, bevor sie gewährt werden kann. Die Mitgliedstaaten unterliegen also einem Anmeldeverfahren. Dieses bedingt eine Vollzugshemmung, wenn es um die Gewährung von Beihilfen geht. Werden Beihilfen trotzdem gewährt, fehlt es bereits an der formellen Rechtmäßigkeit. Hier stellt sich dann höchstens die Frage, welche Konsequenzen eine fehlende Anmeldung hat, wenn die Beihilfe gleichwohl materiell rechtmäßig ist.101 Jedenfalls scheidet die Gutgläubigkeit aus. Daher kann sich ein Unternehmen nicht auf Unwissenheit berufen, wenn es eine nicht angemeldete Beihilfe erhalten hat. 447 Fall nach EuGH, Rs. C-24/95, Slg. 1997, I-1591 – Alcan: Das Land Rheinland-Pfalz gewährte durch Bescheid vom 9.6. bzw. 30.11.2004 eine Beihilfe, die die begünstigte Firma verbrauchte. Die vorgeschriebene Unterrichtung der Kommission unterblieb. Diese erlangte von der Gewährung der Subvention trotzdem Kenntnis und ordnete wegen Verstoßes gegen die Beihilfevorschriften die Rückforderung am 27.6.2007 an. Mit Bescheid vom 26.9.2010 nahm die zuständige Landesbehörde den Bewilligungsbescheid zurück und verlangte die Rückzahlung der gewährten Beiträge. Zu Recht? Es stellt sich schon die Frage eines vorhandenen Vertrauens. Dass die Kommission zu unterrichten ist, ergibt sich klar aus Art. 108 Abs. 3 AEUV; bei einem Verstoß dagegen kann sich daher kein Vertrauen bilden.102 Ob das Vertrauen in das zögerliche Verhalten der deutschen Behörden bei der Rückforderung Berücksichtigung finden kann, hängt von dem grundsätzlichen Verhältnis von Unions- und nationalem Recht ab. Hat die Kommission eine Entscheidung getroffen, hat sie die (hier Un-)Vereinbarkeit mit den Beihilfevorschriften verbindlich festgestellt. Daran sind die nationalen Behörden gebunden, ohne noch über ein Ermessen zu verfügen. Daher ist in diesem Fall ein unionsrechtlich bedingtes Rücknahmeinteresse nicht nur als gesteigertes öffentliches Rücknahmeinteresse (unabhängig von den ohnehin nicht abschließenden Fällen der Bösgläubigkeit nach § 48 Abs. 2 S. 3 VwVfG) gegenüber dem Ver-
101 102
S. Frenz, Europarecht 3, Rn. 1356 ff. EuGH, Slg. 1990, I-3437 (3457, Rn. 16 f.) – BUG-Aluminium; a.A. BVerwGE 92, 81 (84).
J. Auftragsvergabe
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trauensschutz im Rahmen des § 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG zu berücksichtigen. 103 Vielmehr setzt sich die unionsrechtliche Rücknahmeentscheidung gänzlich gegenüber der nationalen Vertrauensschutzregelung durch. Ansonsten könnte sie allein durch ein zögerliches Verhalten nationaler Behörden unterlaufen werden. Zudem würde sie im Ergebnis entgegen dem aufgezeigten Effizienzgebot praktisch nicht realisierbar sein. Das Effizienzgebot würde erst recht verletzt, wenn die Rücknahme dadurch ausgeschlossen wäre, dass die nationale Behörde nicht innerhalb der Frist des § 48 Abs. 4 VwVfG den Beihilfebescheid zurücknimmt. So war auch im vorliegenden Falle die Jahresfrist ab der Entscheidung der Kommission und deren Mitteilung längst verstrichen. Das Rücknahmeermessen nach § 48 Abs. 1 VwVfG ist aufgrund der europarechtliche Vorgaben auf null reduziert.
2. Repressivkontrolle Eine Repressivkontrolle erfolgt, wenn eine Beihilfe bereits von einem Staat oder 448 aus staatlichen Mitteln gewährt wurde. Für diesen Fall sieht Art. 108 Abs. 2 AEUV ein Aufhebungsverfahren vor, das der Kommission ermöglicht, eine Rückabwicklung bzw. Umgestaltung einer Beihilfe zu verlangen. Der betroffene Mitgliedstaat kann allerdings dieses Verfahren unterbrechen, indem er den Rat anruft. Dieser kann nämlich nach Art. 108 Abs. 2 UAbs. 3 AEUV in Abweichung von den beihilferechtlichen Regelungen nationale Unterstützungsleistungen aufgrund außergewöhnlicher Umstände als mit dem Binnenmarkt vereinbar erklären.
J. Auftragsvergabe In den Unionsverträgen finden sich keine expliziten Vorschriften zum Vergabe- 449 recht. Dennoch hat der EuGH aus den oft allgemein formulierten Grundfreiheiten der Art. 34, 49, 56 AEUV, dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV sowie dem unabhängig von einer Diskriminierung eingreifenden Grundsatz der Gleichbehandlung vergaberechtliche Grundsätze abgeleitet und je nach dem zu beurteilenden Einzelfall konkrete vergaberechtliche Anforderungen aufgestellt.104 Die Auftraggeber sind danach über die Gleichbehandlung hinaus zu Transparenz, einem angemessenen Grad von Öffentlichkeit, Nachprüfbarkeit und unparteiischer Vergabe verpflichtet.105 Zudem muss jede Ausschreibung den Besonderheiten sowie der Bedeutung des betreffenden Vergabegegenstandes angemessen sein, womit ein vergabespezifischer Verhältnismäßigkeitsgrundsatz statuiert wird.106 Das gilt auch für Grenzen bei der Berücksichtigung von Angeboten.107 Daraus können sich konkrete Konsequenzen ergeben. Ist ein Unternehmen vor 450 103
104 105 106 107
So BVerwGE 92, 81 (85 ff.); s. auch BVerfG NJW 2000, 2015; zum Einwand der Unmöglichkeit der Rückforderung einer rechtswidrigen Beihilfe s. EuGH, Rs. C404/97, Slg. 2000, I-4897 – Kommission/Portugal. Z.B. EuGH, Rs. 234/03, Slg. 2005, I-9315 (9326, Rn. 24 ff.) – Contse; Rs. C-458/03, Slg. 2005, I-8585 (8630, Rn. 48 ff.) – Parking Brixen. EuGH, Rs. C-324/98, Slg. 2000, I-10745 (10794, Rn. 62) – Telaustria; Rs. C-231/03, Slg. 2005, I-7287 (7316, Rn. 17) – Coname. EuGH, Rs. C-458/03, Slg. 2005, I-8585 (8631, Rn. 50) – Parking Brixen. EuGH, Rs. C-538/07, Slg. 2009, I-4219 (4248, Rn. 23 ff.) – Assitur.
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Kapitel 4: Wettbewerbsfreiheit
Auftragsvergabe mit Forschungs-, Erprobungs-, Planungs- und Entwicklungsarbeiten betraut, ist es vom Wettbewerb auszuschießen, wenn es nicht hat beweisen können, dass sein Wissensvorsprung und seine Erfahrung diesen Wettbewerb nicht hat verfälschen können.108 Damit enthält das Primärrecht vergaberechtliche Vorgaben, so dass von einem primärrechtlichen Vergabeeuroparecht gesprochen werden kann. Vom EuGH aus recht abstrakten Primärrechtsnormen entwickelt, fehlt es den primärrechtlichen Vorgaben allerdings häufig an eindeutigen und für den Betroffenen nachlesbaren Tatbestandsmerkmalen. In der Praxis muss daher die einschlägige Rechtsprechung des EuGH bekannt sein. Aber selbst ihr lassen sich nicht immer eindeutige Anwendungsvorgaben entnehmen, so dass der Makel der Unklarheit und die daraus folgende Rechtsunsicherheit häufig bestehen bleiben. In Einzelbereichen ist indes eine detaillierte Ausgestaltung der Judikatur erfolgt. Das gilt namentlich für Dienstleistungskonzessionen.109 Ein Rückgriff auf das Primärrecht hat jedoch durch die umfangreiche und fortschreitende Ausgestaltung des Vergaberechts mittels Sekundärrecht an Bedeutung verloren. Es handelt sich um die RL 2004/18/EG 110 und 2004/17/EG111 sowie die Rechtsmittelrichtlinie in ihrer neuen Fassung.112 In ihrem Anwendungsbereich gewährleisten die Vergaberichtlinien zumeist selbst ein diskriminierungsfreies Vergaberecht, so dass dem Primärrecht nur noch mittelbare Bedeutung zukommt. So verbleibt ihm hauptsächlich die unterstützende Rolle als Auslegungs-, Umsetzungs- und Anwendungsvorgabe für das nationale und europäische Recht. Zudem bildet der Vertragstext die äußerste Grenze des Sekundärrechts. Die Vergaberichtlinien sind daher immer auf ihre Vereinbarkeit mit dem höherrangigen Primärrecht zu prüfen. Der EuGH wendet darüber hinaus die Grundfreiheiten zuweilen kumulativ neben den Vergaberichtlinien an. 113 Insofern kann das Primärrecht auch in ihrem Anwendungsbereich zu berücksichtigen sein. Herausragende Bedeutung kommt dem primärrechtlichen Vergabeeuroparecht allerdings in den Verfahren zu, die von den Vergaberichtlinien nicht erfasst werden. Auf das sekundärrechtliche Vergaberecht kann sich der einzelne Bieter hier mangels Anwendbarkeit nicht berufen. Als einzige und alleinige
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EuGH, Rs. C-21 u. 34/03, Slg. 2005, I-1559 (1591 f., Rn. 25 ff.) – Fabricom; OLG Düsseldorf VergabeR 2009, 905, 915 – Schülerspezialverkehr Köln. S. Frenz, Europarecht 3, Rn. 2554 ff. RL 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31.3.2004 über die Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge, ABl. L 134, S. 114. RL 2004/17/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31.3.2004 zur Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggeber im Bereich der Wasser-, Energieund Verkehrsversorgung sowie der Postdienste, ABl. L 134, S. 1. RL 2007/66/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.12.2007 zur Änderung der RL 89/665/EWG und 92/13/EWG des Rates im Hinblick auf die Verbesserung der Wirksamkeit der Nachprüfungsverfahren bezüglich der Vergabe öffentlicher Aufträge, ABl. L 335, S. 31. Etwa EuGH, Rs. C-346/06, Slg. 2008, I-1989 – Rüffert: Tariftreue ist kein zulässiges Kriterium für Auftragsvergaben mit möglicher grenzüberschreitender Relevanz.
J. Auftragsvergabe
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Rechtsquelle bleibt ihm nur das Primärrecht. Das gilt selbst bei Mitteilungen der Kommission, da diese keine unmittelbare rechtliche Wirkung haben, 114 wenngleich sie von Gerichten berücksichtigt werden. In den richtlinienfreien Bereichen erstarken damit die für den einzelnen Bieter unmittelbar anwendbaren Grundfreiheiten und das übrige Primärrecht zum dominierenden vergaberechtlichen Prüfungsmaßstab.
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EuG, Rs. T-258/06, VergabeR 2010, 593 – Kommission/Deutschland.
Kapitel 5: Organe Literatur: Frenz, Walter, Handbuch Europarecht Band 6: Institutionen und Politiken, 2011; Hartmann, Jürgen, Das politische System der Europäischen Union, 2. Aufl. 2009; Hellmann, Vanessa, Der Vertrag von Lissabon, 2009; Nowak, Carsten, Europarecht nach Lissabon, 2011; Ruffert, Matthias, Institutionen, Organe und Kompetenzen – der Abschluss eines Reformprozesses als Gegenstand der Europarechtswissenschaft, EuR 2009, Beiheft 1, 31 ff. Leitentscheidungen: BVerfGE 123, 267 – Lissabon.
Auch auf EU-Ebene lassen sich Legislative, Exekutive und Judikative unter- 455 scheiden. Nur Letztere gibt es aber in Reinform. Die anderen Funktionen sind auf verschiedene Organe verteilt. Erheblich aufgewertet wurde das Europäische Parlament, ohne aber einer nationalen Volksvertretung gleichgesetzt werden zu können.1
A. Europäisches Parlament I. Aufgaben und Befugnisse Das Europäische Parlament ist zuständig für Gesetzgebung, Haushalt, Kontrolle, 456 Personalbefugnisse und schließlich Beratung (Art. 14 Abs. 1 EUV). 1. Gesetzgebung, Haushaltsplanung und Beratung Zusammen mit dem Rat nimmt das Europäische Parlament die Gesetzgebungs- 457 befugnisse wahr (Art. 14 Abs. 1 S. 1 EUV). Über das ordentliche Gesetzgebungsverfahren als Regelverfahren ist es mittlerweile gleichberechtigt beteiligt. 2 Der Rat kann nur noch in wenigen Politikfeldern unabhängig vom Europäischen Parlament Recht setzen.3 Das Verhältnis zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat als formal 458 gleichberechtigte Gesetzgeber wird jetzt durch die gleichlautenden Formulierungen in Art. 14 Abs. 1 S. 1 und Art. 16 Abs. 1 S. 1 EUV deutlich. Ersteres verfügt aber grundsätzlich4 über kein Initiativrecht und ist daher darauf angewiesen, 1 2 3 4
S. BVerfGE 123, 267 – Lissabon. Schwarze, EuR 2009, Beiheft 1, 9 (12). S.o. Rn. 123. Hartmann, Das politische System der Europäischen Union, S. 137. Art. 289 Abs. 4 AEUV anerkennt gleichwohl Ausnahmen in den Verträgen. Die wenigen Initiativrechte des Europäischen Parlaments betreffen die Aufgaben der Parlamentarier (Art. 223 Abs. 2 AEUV), Einzelheiten zu den Untersuchungsausschüssen (Art. 226 Abs. 3 AEUV) und den Bürgerbeauftragten (Art. 228 Abs. 4 AEUV).
W. Frenz, Europarecht, DOI 10.1007/978-3-642-21019-8_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel 5: Organe
dass die Kommission von ihrem Initiativrecht Gebrauch macht. Das Europäische Parlament kann die Kommission mit der Mehrheit seiner Mitglieder dazu auffordern, geeignete Vorschläge für diejenigen Themen vorzulegen, die nach seiner Auffassung die Ausarbeitung und Durchführung durch die Union erfordern (Art. 225 S. 1 AEUV). Daneben kann es der Kommission sogenannte Initiativberichte vorlegen, welche die Kommission im Wege der Selbstverpflichtung zu prüfen hat (Nr. 31 Anlage XIV GeschOEP).5 Das Europäische Parlament nimmt durch die Mitarbeit am jährlichen Gesetzge459 bungs- und Arbeitsprogramm der Kommission (Anhang 2 Anlage XIV GeschOEP) bereits im Vorfeld Einfluss auf die Legislativvorhaben der Kommission. Das Europäische Parlament und der Rat nehmen nach Art. 314 AEUV gemein460 sam das Budgetrecht wahr und erstellen einen Haushaltsplan. Nach Art. 14 Abs. 1 S. 2 EUV obliegt dem Europäischen Parlament auch die 461 Beratung. Es kann Fragen aufwerfen, diese diskutieren und hierzu einen einheitlichen Willen bilden. 6 2. Vertragsänderungen 462 Damit Vertragsänderungen auch ohne die Einberufung eines Änderungskonvents von einer Regierungskonferenz vorgenommen werden können, muss das Europäische Parlament dem zustimmen (Art. 48 Abs. 3 UAbs. 2 EUV). Ebenfalls muss es einem Beitritt neuer Mitgliedstaaten zur Union zustimmen 463 (Art. 49 Abs. 1 S. 3 HS. 2 EUV). Eine Vielzahl von Völkerrechtsverträgen bedarf ebenso seiner Zustimmung, sofern sie nicht die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) betreffen (Art. 218 Abs. 6 UAbs. 2 AEUV). 3. Postenbesetzung 464 Das Europäische Parlament ist eng in die Besetzung der Kommissionsposten eingebunden. Es wählt nach Art. 17 Abs. 7 UAbs. 1 S. 2 EUV den Kommissionspräsidenten und stimmt über die Kommission als Kollegium nach Art. 17 Abs. 7 UAbs. 3 S. 1 EUV ab. Das Europäische Parlament trägt also mit dafür Verantwortung, wie die Kommission zusammengesetzt ist und ob die Ergebnisse der Europawahl hier ihre Berücksichtigung finden. Außerdem wählt das Europäische Parlament den Bürgerbeauftragten (Art. 228 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 AEUV) und ernennt zusammen mit dem Rat den Europäischen Datenschutzbeauftragten (Art. 42 Abs. 1 UAbs. 1 Datenschutzverordnung7).
5 6 7
Ambos/Rackow, Jura 2006, 505 (508). Haag/Bieber, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 189 EG Rn. 11. VO (EG) Nr. 45/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18.12.2000 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft und zum freien Datenverkehr, ABl. 2001 L 8, S. 1.
A. Europäisches Parlament
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4. Kontrolle Gemäß Art. 14 Abs. 1 S. 2 EUV erfüllt das Europäische Parlament Aufgaben der politischen Kontrolle nach Maßgabe der Verträge. Grundlage ist die Information. Die Kommission hat nach Art. 230 Abs. 2 AEUV Anfragen des Europäischen Parlaments zu beantworten. Der Rat hat sich selbst zur Beantwortung der Anfragen aus dem Europäischen Parlament verpflichtet. 8 Größeren Gruppierungen und unter Umständen auch einzelnen Mitgliedern des Europäischen Parlaments steht ein mündliches Fragerecht zu (Art. 115 f. GeschOEP). Kommission, Rat und Europäischer Rat haben dem Europäischen Parlament Bericht über ihre Tätigkeiten zu erstatten, was im Wesentlichen durch die Jahresberichte erfolgt. Aus der Kontrollbefugnis des Europäischen Parlaments folgt die Möglichkeit, der Kommission die Entlastung für die Ausführung des Haushaltsplans nach Art. 319 AEUV zu versagen, da eine Entlastung ohne Missbilligungsmöglichkeit dem Sinn einer Entlastung entgegenliefe.9 Auch wenn diese Versagung keine Rechtsfolgen für die Kommission nach sich zieht, sendet sie doch ein deutliches Signal.10 Das Europäische Parlament kann nach Art. 17 Abs. 8 S. 2 EUV i.V.m. Art. 234 AEUV gegen die Kommission ein Misstrauensvotum aussprechen und so die Kommission zum Rücktritt zwingen. Daneben kann es den Kommissionspräsidenten dazu auffordern, von einem Kommissionsmitglied den Rücktritt zu verlangen. Kommt der Kommissionspräsident dieser Aufforderung nicht nach, muss er seine abschlägige Entscheidung gegenüber dem Europäischen Parlament begründen (II.3. Anlage XIV GeschOEP). Das Europäische Parlament kann Untersuchungsausschüsse einrichten (Art. 226 AEUV). Schließlich steht dem Europäischen Parlament die Möglichkeit zu, den Gerichtshof der EU anzurufen. Das Europäische Parlament zählt zu den privilegierten Parteien des Art. 263 Abs. 2 AEUV. Seine Klagebefugnis ist kaum eingeschränkt und es muss hierfür vergleichsweise wenig vortragen.
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II. Wahl und Zusammensetzung 1. (Europa-)Wahl Das Europäische Parlament wird in allgemeiner, unmittelbarer, freier und gehei- 469 mer Wahl gewählt (Art. 14 Abs. 3 EUV, Art. 1 Abs. 3 Direktwahlakt und Art. 223 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV). Die konkrete Ausgestaltung der Wahlen ist den Mitgliedstaaten11 vorbehalten. Die Stimmabgabe erfolgt einmalig – in Deutsch8 9 10 11
Haltern, Europarecht, Rn. 242. Schoo, in: Schwarze, Art. 276 EUV/EGV Rn. 15. Maurer, Parlamentarische Demokratie in der Europäischen Union, 2002, S. 112. In Deutschland konkretisieren das (EuWG) und die Europawahlordnung (EuWO) die näheren Anforderungen an die Wahl. Daneben sind noch die Bekanntmachung des Wahltags für die Europawahl 2009 bzw. zukünftig 2014 das WahlPrG und das BwahlG von Bedeutung.
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Kapitel 5: Organe
land persönlich (§ 6 Abs. 4 EuWG). Der Wahltermin liegt grundsätzlich innerhalb desselben Zeitraums, in dem bei der letzten Wahl der Wahltermin lag. Er erstreckt sich über einen einheitlichen Zeitraum, der je nach Mitgliedstaat von Donnerstagmorgen bis zum nachfolgenden Sonntag beginnen kann. Die gemäß Art. 39 Abs. 1 EGRC auch grundrechtlich zur Wahl in anderen Mitgliedstaaten als denen ihrer Staatsangehörigkeit berechtigten Unionsbürger wählen die Europaabgeordneten desjenigen Mitgliedstaats, nicht etwa diejenigen mit ihrer Staatsangehörigkeit.12 2. Wahlgleichheit 470 Im Unionsrecht ist die Wahlgleichheit nicht eigens und jedenfalls nicht umfassend gewährleistet. Das Gebot der Wahlgleichheit wirft viele Probleme auf und wird bisher nur im Rahmen dessen eingehalten, was aufgrund der Unionsstruktur möglich erscheint. Nach Art. 14 Abs. 2 EUV sind maximal 750 Parlamentssitze nebst dem Präsidenten zu vergeben, wovon pro Mitgliedstaat mindestens sechs und maximal 96 (für Deutschland13) degressiv proportional14 im Verhältnis zur Bevölkerung der Mitgliedstaaten verteilt werden. D.h., die Anzahl der zusätzlichen Sitze nimmt mit zunehmender Bevölkerungsgröße ab.15 Die Zähl- und Erfolgswertgleichheit ist insoweit nicht gegeben, als die kleine471 ren Staaten wie etwa Malta oder Luxemburg überproportional im Europäischen Parlament vertreten sind. Darin sieht das BVerfG einen Widerspruch zu Art. 3 des 1. EMRK-Zusatzprotokolls.16 Nach dem EGMR bedarf es aber der Einbettung des Wahlrechts in das jeweilige politische System.17 Das der Union beruht auf der Eigenschaft der Mitgliedstaaten als Herren der Verträge, 18 was eine Referenz an den Grundsatz der Staatengleichheit einschließt:19 Insoweit handelt es sich daher um die unausweichliche Folge der Konzeption der EU, wie sie auch bei sonstigen Verteilungen der Entscheidungsgewichte zutage tritt, so im Rat oder bei der Besetzung der Kommission bzw. der Richter des Gerichtshofes der EU, die gleichfalls abhängig von der Staatengröße erfolgt. Vergleichbar ist die ebenfalls die kleineren Länder begünstigende Zusammensetzung des Bundesrates, der nach dem BVerfG je nach der innerstaatlichen Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeit neben dem Bundestag zur Wahrung des Demokratieprinzips entscheiden muss.20 Die Repräsentation Bremens ist im Bundesrat – gemessen an der Einwoh12 13 14 15 16 17 18 19 20
Halberstam/Möllers, GLJ 10 (2009), 1241 (1249); Hector, ZEuS 2009, 599 (612); Sack, ZEuS 2009, 623 (651). Aktuell 99, da 2009 noch nach Art. 190 Abs. 2 EG gewählt wurde; s. auch Art. 2 Abs. 1 geändertes Übergangsprotokoll vom 23.6.2010, ABl. C 263, S. 1. Zur Definition s. Pressemitteilung des Europäischen Parlaments vom 10.10.2007, REF 20071008IPR11 353, S. 1. Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon, 3. Aufl. 2010, S. 64. BVerfGE 123, 267 (373 f.) – Lissabon. EGMR, Nr. 9267/81, Rn. 54 – Mathieu-Molin und Clerfayt/Belgien. Das betont gerade BVerfGE 123, 267 (348 f.) – Lissabon. Näher Frenz, Europarecht 5, Rn. 314 ff. BVerfGE 123, 267 (413 f., 420, 430 f.) – Lissabon.
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nerzahl – zwölf Mal so hoch wie die Nordrhein-Westfalens. Die Abweichung ist also genauso stark wie bei den Wahlen zum Europäischen Parlament. 21 Im Übrigen werden in den USA bei (zumindest faktisch) direkt vom Volk ge- 472 wählten Organen Stimmgewichtungen nach den Bundesstaaten vorgenommen, die nicht (voll) mit der Einwohnerzahl korrespondieren. Das gilt für den Senat, in den jeder Bundesstaat unabhängig von seiner Einwohnerzahl zwei Vertreter entsendet. Dieses Ungleichgewicht setzt sich partiell bei der Präsidentenwahl fort. Der USPräsident wird formal über Wahlmänner gewählt, die bei den Präsidentschaftswahlen pro Bundesstaat vom Volk festgelegt werden, ohne dass sie der genauen Einwohnerzahl des jeweiligen Staates entsprechen. Vielmehr entsenden im Verhältnis dazu die kleinen Staaten tendenziell mehr Wahlmänner, weil deren Zahl den von dem jeweiligen Staat entsandten Kongressmitgliedern entspricht. Der Kongress aber setzt sich nicht nur aus den proportional nach der Bevölkerungszahl gewählten 435 Mitgliedern des Repräsentantenhauses zusammen, sondern auch aus den 100 Senatoren, die wie gezeigt aus jedem Staat unabhängig von der Einwohnerzahl kommen. Daher besteht auch unter Berücksichtigung des vom BVerfG grundsätzlich ak- 473 zeptierten Mehrheitswahlrechts22 nach den Maßstäben des Lissabon-Urteils „keine Gewähr dafür, dass die Mehrheit der abgegebenen Stimmen auch eine Mehrheit der Unionsbürger repräsentiert. … Es könnte möglicherweise eine nach Maßgabe des Repräsentationsverhältnisses bestehende zahlenmäßige Bürgerminderheit durch eine Mehrheit der Abgeordneten gegen den politischen Willen einer oppositionellen Mehrheit …“23 den Präsidenten bestimmen, im Senat Gesetze beschließen bzw. im Kongress ein Präsidentenveto mit 2/3-Mehrheit überstimmen. Hält man gleichwohl die USA für hinreichend demokratisch, muss dies auch für die EU gelten. Dass das BVerfG auf die Tolerierung einer Abweichung vom Repräsentationsprinzip nur für die zweite Kammer neben dem Parlament und damit in den USA für den Senat verweist, 24 greift deshalb zu kurz, weil auch diese zweiten Kammern für die Gesetzgebung und damit für die Entfaltung des Volkswillens durch Repräsentation konstitutiv sein können und in den USA Gesetze generell auch vom Senat verabschiedet werden müssen. Die Wahl des gerade in den USA äußerst gewichtigen Präsidenten bleibt insoweit beim BVerfG außer Betracht, obwohl es dort von einer „dual verfasste(n) Repräsentativdemokratie“25 ausgeht. 3. Mangelnde Repräsentation und Legitimation? Hinzu kommen nach dem BVerfG Repräsentationsdefizite auf europäischer Ebe- 474 ne. Ihm zufolge fehlt ein durch gleiche Wahl aller Unionsbürger zustande gekommenes politisches Entscheidungsorgan mit der Fähigkeit zur einheitlichen Repräsentation des Volkswillens. Damit zusammenhängend, mangelt es zudem an einem 21 22 23 24 25
GA a.D. Lenz, FAZ vom 8.8.2009, Nr. 182, S. 7. BVerfGE 123, 267 (342 f., 372 f.) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (372 f.) – Lissabon, bezogen auf die Regierungsbildung. BVerfGE 123, 267 (375) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (366 f.) – Lissabon.
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System der Herrschaftsorganisation, in dem ein europäischer Mehrheitswille die Regierungsbildung so trägt, dass er auf freie und gleiche Wahlentscheidungen zurückreicht und ein echter und für die Bürger transparenter Wettstreit zwischen Regierung und Opposition entstehen kann.26 Die Ausgestaltung und das Zusammenspiel von Kommission, Rat und Parla475 ment entspricht dem spezifischen Zuschnitt der europäischen Integration und lässt in den Entscheidungen durchaus Mehrheiten aus den Wahlen zum Europäischen Parlament wie auch aus den nationalen Wahlen zum Zuge kommen. Die Zusammensetzung von Kommission und Rat richtet sich nach den politischen Mehrheitsverhältnissen in den Mitgliedstaaten, der Kommissionspräsident braucht die Billigung des Parlaments. Dieses wiederum setzt sich aus Fraktionen zusammen, deren Stärke das Gesamtwahlergebnis zum Europaparlament widerspiegelt und muss mit einer Mehrheit Einzelentscheidungen treffen und vor allem Rechtsakten zustimmen. Daher verläuft die Mehrheitsbildung sachbezogener, was aber kein K.o.-Kriterium für eine repräsentative Demokratie ist. Der notwendige Wettstreit zwischen (permanenter) Regierung und Opposition, der für den Bürger transparent ist, bildet eine Kreation des BVerfG, die nicht zwingend aus dem Demokratieprinzip folgt und für die europäische Ebene nicht einfach übernommen werden kann, selbst wenn sie sich weiterentwickelt und sich im Übrigen zumindest ansatzweise zeigt. Auch das BVerfG hält diese „Selbstbestimmung des Volkes nach dem Mehrheitsprinzip“ nur „für die vom GG verfasste Staatsordnung … konstitutiv“. 27 Ohne Abstriche von der strikten, in Gänze unaufgebbaren Demokratiekonzep476 tion des BVerfG entsteht ein unauflösbares Dilemma: Die Mitgliedstaaten müssen nach dem BVerfG notwendig Herren der Verträge bleiben und damit die letztendliche Verfügungsgewalt behalten. „Nach der Verwirklichung des Prinzips der Volkssouveränität in Europa können nur die Völker der Mitgliedstaaten über ihre jeweilige verfassungsgebende Gewalt und die Souveränität des Staates verfügen. Ohne den ausdrücklich erklärten Willen der Völker sind die gewählten Organe nicht befugt, in ihren staatlichen Verfassungsräumen ein neues Legitimationssubjekt zu schaffen oder die vorhandenen zu delegitimieren.“28 Übertragen auf das Demokratieprinzip führt diese Grundlage aber wie gezeigt 477 zu einer mitgliedstaatlich orientierten Verteilung der Sitze im Europäischen Parlament. Solange dies so ist, können umgekehrt nach dem BVerfG die Hoheitsrechte der europäischen Ebene – außer durch Volksabstimmung – nicht weiter substanziell ausgedehnt werden – eine „zirkuläre“29 Konzeption. Damit ist der europäische Integrationsprozess im Hinblick auf das im GG nach Art. 20 zugrunde gelegte repräsentative Demokratieprinzip30 praktisch jedenfalls im Wesentlichen gestoppt. Nach Paul Kirchhof markiert nun das BVerfG den Vertrag von
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S. BVerfGE 123, 267 (341 f.) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (341 f.) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (404) – Lissabon. GA a.D. Lenz, FAZ vom 8.8.2009, Nr. 182, S. 7. Etwa Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 II Rn. 17, 38 ff.
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Lissabon „als klaren Endpunkt“.31 Eine Weiterentwicklung hin zu einer gemeinsamen Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik im Gefolge des verlängerten EuroRettungsschirms wäre danach ausgeschlossen. Dabei geht Art. 23 Abs. 1 GG von einem kontinuierlichen Fortgang der europä- 478 ischen Integration aus und setzt in diesem Prozess die Mitwirkung der deutschen Regierungsorgane voraus. Diese ist auf der Basis des Lissabon-Urteils praktisch nur noch in einem weitere Kompetenzerweiterungen der EU bremsenden Sinne möglich. Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG sieht aber keinen Endpunkt für die Übertragung von Hoheitsrechten vor. Zudem ist in der Präambel zum GG von einem „vereinten Europa“ die Rede, das herkömmlicherweise einen europäischen Bundesstaat, die Vereinigten Staaten von Europa, einschließt.32 Einen solchen Endpunkt markiert höchstens die Ewigkeitsgarantie. In Über- 479 tragung der Grundrechtsjudikatur des BVerfG 33 müsste die Ausgestaltung der Demokratie auf europäischer Ebene so sehr unter den unabdingbaren deutschen Standards bleiben, dass die unveräußerlichen Verfassungsprinzipien und damit auch die elementaren Inhalte des Demokratieprinzips verletzt sind. Davon kann aber im Hinblick auf die Einhaltung der Wahlgleichheit in den jeweiligen Mitgliedstaaten und die Sitzverteilung im Europäischen Parlament nach Maßgabe der jeweiligen Bevölkerungszahl, wenn auch nicht nach der genauen Einwohnerzahl, schwerlich ausgegangen werden. Schließlich lässt sie sich mit den Besonderheiten des europäischen Integrationsprozesses zumindest erklären und ist immerhin auf eine in diesem Rahmen möglichst weitgehende Verwirklichung der Wahlrechtsgleichheit gerichtet. 4. Mandat a) Bezug auf alle Unionsbürger Gemäß Art. 14 Abs. 2 EUV setzt sich das Parlament aus Vertretern der Unions- 480 bürgerinnen und Unionsbürger zusammen (s. auch Art. 10 Abs. 2 EUV). Daraus ergibt sich zumindest ein solcher Repräsentationsanspruch. Das BVerfG verweist zwar auf ein mangelndes europäisches Staatsvolk, solange keine europäische Staatsangehörigkeit eingeführt wird.34 Indes widerspräche dies der Konzeption des Europa der Mitgliedstaaten. Eine davon losgelöste Staatsangehörigkeit ist ausweislich Art. 14 Abs. 2, 10 Abs. 2 EUV nicht Voraussetzung eines Mandats durch alle Unionsbürger und von daher einer Gesamtrepräsentation. Vielmehr ist die Unionsbürgerschaft der maßgebliche Bezugspunkt, der gerade auf der nationalen Staatsangehörigkeit aufbaut (Art. 20 Abs. 1 AEUV), aber das Wahlrecht explizit umfasst, selbst wenn die Staatsangehörigkeit nicht die des Wohnsitzlandes ist (Art. 22 AEUV), mithin mit ihr nicht untrennbar verwoben ist.
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Zitiert nach Der Spiegel, Nr. 28 vom 6.7.2009, S. 28 (30). GA a.D. Lenz, FAZ vom 8.8.2009, Nr. 182, S. 7. Etwa BVerfG, NVwZ 2007, 942 und auch BVerfGE 123, 267 (335 f.) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (404 f.) – Lissabon.
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b) Freies Mandat 481 Die Mitglieder des Europäischen Parlaments sind nicht wie die Ratsvertreter rückgebunden und üben keine mitgliedstaatliche Hoheitsgewalt aus. Sie unterliegen im Rahmen ihrer Mandate keinerlei mitgliedstaatlichen Weisungen, insbesondere verfassungsrechtlicher Art (Art. 2 Abs. 1 Abgeordnetenstatut, Art. 2 GeschOEP, Art. 6 Abs. 1 S. 2 Direktwahlakt). Sie nehmen auch insoweit ein freies Mandat wahr. Dem Mandat ist das Recht zur Abstimmung und das Recht auf Zugang zu den Parlamentsdebatten inhärent (s. Art. 164 Abs. 1 GeschOEP). Maßnahmen von Einrichtungen des Europäischen Parlaments, welche in die 482 Stellung der Abgeordneten eingreifen, sind dem Organ Europäisches Parlament zuzuordnen und daher justiziabel.35 Sind Mitglieder vom Europäischen Parlament in ihrer Rechtsstellung derart betroffen, dass sie wie Dritte aufzufassen sind,36 können sie gegen Maßnahmen des Europäischen Parlaments Nichtigkeitsklage vor dem EuG erheben. Doppelmandate, bei denen gleichzeitig ein Wahlmandat für das Europäische 483 Parlament und ein mitgliedstaatliches Gesamtparlament wahrgenommen werden, sind nach Art. 7 Abs. 2 Direktwahlakt unzulässig.37 Mit der Aufhebung der Doppelmandate sollte Interessenkonflikten und der Mehrfachbelastung vorgebeugt werden. Das Freiwerden des Sitzes wird durch das Parlament festgestellt (Art. 4 Abs. 4 GeschOEP). c) Einbindung in Parlament und Fraktion 484 Die Mitarbeit im Europäischen Parlament erfolgt in Fraktionen oder in der Gruppe der Fraktionslosen und in Ausschüssen. Der Zugang zu den Ausschüssen und das Rederecht richten sich aus Gründen der Effizienz und Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments grundsätzlich nach dieser Zugehörigkeit und nicht nach dem einzelnen Mandat (s. Art. 149 Abs. 3 und 4, Art. 186 Abs. 1 S. 1 GeschOEP).38 Vereinbarungen über die Ausübung des Mandats und dessen vorzeitige Nieder485 legung sind nichtig (Art. 2 Abs. 2 bzw. Art. 3 Abs. 2 Abgeordnetenstatut). Mitglieder des Parlaments können daher nicht vorab Vereinbarungen über die Niederlegung ihres Mandats treffen, zum Beispiel wenn sie nicht im Sinne der Fraktion abstimmen etc. (Art. 2 Abs. 2 Abgeordnetenstatut). Verglichen mit der Tätigkeit innerhalb nationaler Fraktionen ist die Fraktionsdisziplin weniger streng.39 Um ihre Unabhängigkeit besser überprüfen zu können, müssen die Parlamen486 tarier ihre berufliche Tätigkeiten sowie sonstige entgeltliche Tätigkeiten und sonstige finanzielle, personelle oder materielle Unterstützung durch Dritte benen35 36 37 38 39
EuGH, Rs. 294/83, Slg. 1986, 1339 (1364, Rn. 20 ff.) – Les Verts; Rs. C-314/91, Slg. 1993, I-1093 (1110, Rn. 11 f.) – Weber. EuGH, Rs. C-314/91, Slg. 1993, I-1093 (1110, Rn. 11) – Weber. Daneben bestimmt § 7 EuAbgG i.V.m. § 22 Abs. 2 EuWG die Unvereinbarkeit des Mandats mit deutschen Ämtern. Näher Böttger, EuR 2002, 898 (903 f.). Haag/Bieber, in: von der Groeben/Schwarze, nach Art. 190 EG (DWA) Rn. 4.
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nen (Art. 2 Abs. 1 Anlage I GeschOEP). Die Mitglieder können bei Verstößen gegen die GeschOEP oder bei respektlosem Verhalten gegenüber den anderen Mitgliedern durch den Präsidenten zur Ordnung gerufen und im Wiederholungsfall im Protokoll vermerkt werden (Art. 152 Abs. 1 und 2 GeschOEP). Bei weiteren Zuwiderhandlungen drohen weitere Maßnahmen, die sich auch auf die finanzielle Unterstützung auswirken. Treten Mitglieder aus der Fraktion aus, behalten sie ihr Mandat. Die Berücksichtigung ihrer Rechte erfolgt dann insbesondere durch die Gruppe der Fraktionslosen. d) Vorrechte Die Mitglieder des Europäischen Parlaments genießen Indemnität40 für Äußerungen und Abstimmungen im Rahmen der Wahrnehmung ihres Mandats (Art. 8 Vorrechteprotokoll). Während der Sitzungsperiode werden die Parlamentarier in ihrem Hoheitsgebiet durch die Immunität vor Strafverfolgung im selben Rahmen geschützt, wie sie auch Mitgliedern des mitgliedstaatlichen Parlaments zukommt. Sie dürfen in anderen Hoheitsgebieten nur verfolgt werden, sofern sie auf frischer Tat ergriffen worden sind (Art. 9 Vorrechteprotokoll). Die Immunität kann nur durch das Europäische Parlament aufgehoben werden. 41 Hingegen ist die Aufhebung der Indemnität nicht möglich. Die Immunität wird flankiert durch die Unverletzlichkeit der Räumlichkeiten, Gebäude und Archive der Union (Art. 1, 2 Vorrechteprotokoll) und schützt insbesondere die Büroräumlichkeiten der Parlamentarier. Parlamentarier können auf Indemnität und Immunität nicht verzichten. Diese Rechte sind nicht ihrem individuellen Interesse zuzuordnen, sondern dem Mandat. In der Praxis wurde Mitgliedern des Europäischen Parlaments dennoch zugestanden, sich vor Gericht zu verteidigen.42 Ebenfalls genießen die Parlamentarier die in Art. 7 Vorrechteprotokoll gewährte Freizügigkeit, wodurch ihnen ungehinderte Reisefreiheit zum und vom Tagungsort des Europäischen Parlaments gewährt wird. Nach §§ 1, 6 EuAbgG können sich die in Deutschland gewählten Mitglieder 43 des Europäischen Parlaments auf ein Zeugnisverweigerungsrecht für Informationen berufen, die ihnen in ihrer Eigenschaft als Parlamentarier zukommen.
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Die Indemnität verhindert auch nachträglich die Verfolgung wegen solcher Äußerungen oder Abstimmungen, die der Parlamentarier in Ausübung seines Amtes getätigt hat. Während die Immunität nur die Strafverfolgung betrifft, verhindert die Indemnität schon die Strafbarkeit als solche. Ein Gerichtsverfahren ist bis dahin auszusetzen, EuGH, Rs. C-200 u. 201/07, Slg. 2008, I-7929 (7966, Rn. 46) – Marra. S. Schultz-Bleis, Die parlamentarische Immunität der Mitglieder des Europäischen Parlaments, 1995, S. 92 f. EuAbgG findet nach dessen § 1 nicht lediglich auf die deutschen Mitglieder Anwendung. So aber Hölscheidt, in: Grabitz/Hilf, Art. 190 EGV Rn. 48; Mager, ZEuS 2000, 177 (196).
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e) (Finanzielle) Unterstützung 491 Die Parlamentarier haben einen „Anspruch auf eine angemessene Entschädigung, die ihre Unabhängigkeit sichert“ (Art. 9 Abs. 1 Abgeordnetenstatut). In den Durchführungsbestimmungen zum Abgeordnetenstatut sind unter anderem die Regeln über die Kostenübernahme für Personal und Material, Erstattungskosten, Entschädigungen und Versicherungsschutz einheitlich für alle Mitglieder geregelt und damit ebenfalls von unterschiedlichen Regelungen in den Mitgliedstaaten entkoppelt.44 Daneben erhalten sie eine allgemeine Kostenpauschale,45 Versicherungsschutz, Reisekostenerstattung, Entfernungszulagen, Tagegeld46 und Zulagen für persönliche Mitarbeiter. Des Weiteren werden die Parlamentarier von den Mitgliedstaaten und deren 492 Parlamenten unterstützt. Die in Deutschland gewählten Mitglieder des Europäischen Parlaments haben aufgrund dieses Mandats Anspruch auf die Mitbenutzung eines Büroraums am Sitz des Bundestages, Freifahrtberechtigungen, Benutzung der Dienstfahrzeuge und Telekommunikationsdienste des Bundestages sowie weitere Sach- und Dienstleistungen und Aufwandsentschädigungen durch die Bundestagsverwaltung (§§ 10 f. EuAbgG). f) Dauer 493 Die Mitglieder des Europäischen Parlaments werden für eine Wahlperiode gewählt, die fünf Jahre umfasst. Das Mandat endet grundsätzlich mit der Eröffnung der ersten Sitzung des neuen Europäischen Parlaments nach den Wahlen, 47 alternativ mit dem Tod oder Rücktritt des Mitgliedes (Art. 4 Abs. 1 und 2 GeschOEP) bzw. dem Entzug des Mandats (Art. 13 Abs. 1 Var. 3 Direktwahlakt), zum Beispiel wegen einer unzulässigen Parallelausübung eines anderen Amtes. Ein Selbstauflösungsrecht des Europäischen Parlaments ist nicht vorgesehen. 494 Gleichwohl kann ein Großteil der Parlamentarier zurücktreten (s. Art. 4 Abs. 3 GeschOEP) und so diesen Effekt durch die Handlungsunfähigkeit des Europäischen Parlaments herbeiführen.
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Für alle EU-Parlamentarier gilt grundsätzlich eine einheitliche Diät von 38,5 % der Grundbezüge eines Richters am Gerichtshof der EU (Art.10 Abgeordnetenstatut) – derzeit ca. 7.665 Euro monatlich. Die Mitgliedstaaten können nach Art. 29 Abgeordnetenstatut aus ihrem Haushalt höhere Diäten entrichten, die jedenfalls die Höhe der Diäten für mitgliedstaatliche Parlamentarier erreichen müssen und nur für eine Übergangszeit von maximal zwei Wahlperioden greifen können. 4.202 Euro nach Art. 26 Abs. 2 Durchführungsbestimmungen Abgeordnetenstatut. 298 Euro nach Art. 24 Abs. 2 Durchführungsbestimmungen Abgeordnetenstatut. Schoo, in: Schwarze, Art. 190 EUV/EGV Rn. 19. Der Parlamentspräsident oder einer der Vizepräsidenten leitet aber noch die konstituierende Sitzung der neuen Wahlperiode (Art. 12 Abs. 1 GeschOEP).
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III. Organisation 1. Sitz Offizieller Sitz des Europäischen Parlaments ist Straßburg. Dort finden auch die 495 zwölf Plenartagungen sowie die Haushaltstagung statt. Der Arbeitsalltag der Parlamentarier und ihrer Stäbe spielt sich allerdings maßgeblich in Brüssel ab. Dort tagen die Fraktionen, Ausschüsse sowie Arbeitsgruppen und koordinieren sich die Parlamentarier mit den anderen Unionsorganen. Trotz vielfacher Beschwerden der Mitglieder des Europäischen Parlaments konnte der Tagungsort bisher nicht einheitlich auf Brüssel festgesetzt werden. 48 2. Wahlperiode, Sitzungsperiode und Tagungen Die Wahlperiode, nach Art. 133 Abs. 1 GeschOEP die Mandatsdauer der Mit- 496 glieder, erstreckt sich über fünf Sitzungsperioden. Sie umfassen nach Art. 229 Abs. 1 S. 1 AEUV jeweils ein Jahr. Beginn der Sitzungsperiode ist jeweils der erste Dienstag im Juli (vgl. Art. 11 Abs. 3 Direktwahlakt). Getagt wird in Straßburg und auch in Brüssel. Die Wahlperiode endet mit der konstituierenden Sitzung des neuen Parlaments 497 (Art. 11 Abs. 4 Direktwahlakt). Das Europäische Parlament geht in Art. 214 Abs. 1 GeschOEP grundsätzlich vom Verfall der bisher unerledigten Angelegenheiten aus, sofern nicht die Konferenz der Präsidenten deren Fortbestand beschließt.49 3. Präsidium Das gewählte Präsidium des Europäischen Parlaments kümmert sich um die 498 verwaltungstechnische und finanzpolitische Organisation des Europäischen Parlaments und der ihm zugeordneten Einrichtungen. Ihm unterstehen das Generalsekretariat und die Dienststellen. Der Parlamentspräsident leitet die Plenarsitzungen, kontrolliert die Einhaltung der GeschOEP und entwirft zusammen mit der Konferenz der Präsidenten50 den vom Parlament zu beschließenden jährlichen Sitzungskalender, die Tagesordnung und die Zuständigkeitszuweisungen an die Ausschüsse nebst deren Zusammensetzung (Art. 25 Abs. 6, 8 GeschOEP). Er vertritt das Europäische Parlament nach außen und formuliert dessen Positionen vor den Sitzungen des Europäischen Rates. Das Europäische Parlament wird in seiner Arbeit durch das Generalsekretariat 499 mit Sitz in Luxemburg unterstützt. Der Großteil der Mitarbeiter übernimmt Aufgaben im Sprachendienst.
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S. EuGH, Rs. C-345/95, Slg. 1997, I-5215 – Frankreich/Parlament. Bieber, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 196 EG Rn. 10 spricht von relativer Diskontinuität. Zusammen mit den Fraktionsvorsitzenden bildet der Präsident die Konferenz der Präsidenten (Art. 24 Abs. 1 S. 1 GeschOEP).
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IV. Zusammenarbeit 1. Fraktionen 500 Im Europäischen Parlament setzen sich die Parlamentarier derzeit in sieben 51 Fraktionen zusammen. Voraussetzung für die Bildung einer Fraktion ist zunächst eine gemeinsame weltanschauliche Ausrichtung. Der Zusammenschluss von fraktionslosen Mitgliedern, lediglich um den Fraktionsstatus zu erlangen, ist daher nicht möglich.52 Die Fraktionen haben diverse Rechte, u.a. bei der Besetzung von Ausschüssen sowie der Einreichung von Beschlussvorlagen und ihnen werden finanzielle Vorteile gewährt. Die Redezeit der Mitglieder richtet sich nach der Fraktionsstärke. Möglichkeiten zu Anträgen und Wahlvorschlägen werden vielfach den Fraktionen eingeräumt. Die Fraktionen sind deutlich heterogener zusammengesetzt, als dies etwa im 501 Bundestag der Fall ist; sie nehmen im Arbeitsalltag bisher auch keine vergleichbar dominierende Rolle ein, u.a. mangels Fraktionszwangs53. 2. Ausschüsse 502 Das Europäische Parlament bereitet seine Sitzungen in derzeit 20 ständigen Ausschüssen und zwei Sonderausschüssen vor, die öffentlich ein- bis zweimal im Monat in Brüssel tagen. Die Mitglieder beraten in den Ausschüssen über die Gesetzesvorhaben und entwickeln unter anderem Legislativvorschläge, Initiativberichte und erstellen Berichte. Außerdem pflegen sie die Beziehungen zu Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union. Die Ausschüsse sind entsprechend den Gewichtungen der Fraktionen im Europäischen Parlament proportional besetzt (Art. 186 Abs. 1 S. 3 GeschOEP). 3. Delegationen und Konferenzen 503 Das Europäische Parlament bildet sogenannte Delegationen und organisiert Konferenzen, in denen sich Mitglieder des Europäischen Parlaments mit Mitgliedern anderer Parlamente zusammenschließen und austauschen. Die Europaausschüsse der mitgliedstaatlichen Parlamente halten zusammen mit einer Delegation des Europäischen Parlaments in der Regel jedes halbe Jahr eine zweitägige Konferenz der Ausschüsse für Gemeinschafts- und Europa-Angelegenheiten bzw. COSAC (Art. 2.1 GeschOCOSAC54). Auf der Konferenz der Parlamentspräsidenten
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In absteigender Reihenfolge ihrer Fraktionsmitglieder: EVP-Fraktion (Christdemokraten), S&D (Sozialisten), ALDE (Liberale), Grüne/EFA, EKR (Europäische Konservative und Reformisten), VEL/NGL (Vereinte Europäische Linke/Nordische Grüne Linke) und EFD (Europa der Freiheit und Demokratie). In den beiden stärksten Fraktionen sind fast 60 % der Mitglieder vertreten. Vgl. EuGH, Rs. C-488/01 P, Slg. 2003, I-13355 – Martinez. Böttger, EuR 2002, 898 (901). Geschäftsordnung der Konferenz der Ausschüsse für Gemeinschafts- und Europa-Angelegenheiten der Parlamente der Europäischen Union, ABl. 2008 C 27, S. 6.
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tagen die Präsidenten der jeweiligen Parlamente zusammen mit dem Präsidenten des Europäischen Parlaments.
B. Europäischer Rat I. Terminologie Bei den Bezeichnungen der Unionsorgane kommt es häufig zu Verwechslungen.55 Der Europäische Rat bezeichnet das Organ der Union, in dem sich die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten treffen. Der am 5.5.1949 gegründete Europarat ist keine Einrichtung der EU. Dort arbeiten europäische Staaten zusammen, um den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt ihrer Mitglieder zu stärken. Hierzu werden allgemeine Fragen debattiert und das gemeinsame Erbe der Mitglieder gewahrt. Neben den EU-Mitgliedstaaten sind in diesem Zusammenschluss weitere europäische Staaten organisiert. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit Sitz in Straßburg kann von den Bürgern der Mitgliedstaaten angerufen werden. Seine Rechtsprechung zielt auf die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit und die Einhaltung der Grundrechte ab. Unter der Bezeichnung Rat bzw. Rat der Europäischen Union treffen sich die Vertreter der Mitgliedstaaten auf Ministerebene zu verschiedenen Themengebieten.
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II. Aufgaben und Befugnisse 1. Leitorgan Der Europäische Rat ist das Leitorgan der EU.56 Er übernimmt die politische 508 Gesamtleitung und entwickelt das Zukunftskonzept der EU.57 Er bestimmt die inhaltliche Ausrichtung der EU, indem er die allgemeinen politischen und wirtschaftlichen Leitlinien vorgibt. Hierzu formuliert er Grundsätze und Leitlinien, welche im Anschluss an seine Treffen in sogenannten Schlussfolgerungen veröffentlicht werden. Sie haben nicht den förmlichen Charakter von zum Beispiel Ratsbeschlüssen, sondern sind wie Erklärungen ausgestaltet, in denen der Präsident des Europäischen Rates Aufträge und Anliegen formuliert.58
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S. zu den terminologischen Herausforderungen Diehm, JuS 2007, 209 ff. Thiele, EuR 2010, 30 (37). Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon, 3. Aufl. 2010, S. 60. Hilf/Pache, in: Grabitz/Hilf, Art. 4 EUV Rn. 18. Die Schlussfolgerungen sind auf der Internetseite des Europäischen Rates abrufbar unter: http://www.european-council. europa.eu/council-meetings/ presidency-conclusions.aspx?lang=de.
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2. Einflussnahme auf Gesetzgebung 509 Anders als noch nach Art. 4 EU in der Fassung von Nizza ist der Europäische Rat gemäß Art. 15 Abs. 1 S. 2 EUV ausdrücklich von der Gesetzgebung ausgeschlossen.59 Die Beschlüsse haben auch nach dem Umkehrschluss aus Art. 289 Abs. 3 AEUV keinen Gesetzescharakter. Die legislativen Befugnisse des Europäischen Rates beschränken sich auf die Vermittlerrolle bei Komplikationen im Rat und auf Änderungen von Teil III AEUV zusammen mit den Mitgliedstaaten (Art. 48 Abs. 6 UAbs. 2 EUV). Obwohl der Europäische Rat nur in den genannten Fällen legislative Befug510 nisse wahrnimmt, kommt ihm dennoch eine wichtige Rolle bei der Gesetzgebung zu. Immerhin entscheiden im Europäischen Rat die höchsten Entscheidungsträger der Mitgliedstaaten, die wiederum die Herren der Verträge sind.60 3. Weisungsbefugnis? 511 Formal hat der Europäische Rat keine Weisungsbefugnis gegenüber dem Rat, sofern sich nichts anderes aus den Verträgen ergibt. 61 Konkrete Vorgaben mit Bindungswirkung ergeben sich etwa in den Bereichen der Wirtschaft- und Beschäftigungspolitik aus Art. 121 Abs. 2 UAbs. 3, Art. 148 Abs. 2 AEUV. Jedenfalls in den vertraglich normierten Fällen entfalten seine Beschlüsse Bin512 dungswirkung. Weigert sich der Rat etwa, den Beschlüssen des Europäischen Rates nach Art. 236 AEUV nachzukommen, handelt er gegen die Verträge und damit rechtswidrig. Schwierig gestalten sich die Fälle, in denen der Europäische Rat seine Leit513 linien sehr konkret ausgestaltet. Denn die Leitlinienkompetenz darf nicht dazu führen, dass der Europäische Rat den Organen in ihre Angelegenheiten hineinregiert. Deren Kompetenzen dürfen nicht durch die Koordinierungsfunktion des Europäischen Rates ausgehebelt werden. Da die Verträge nur in bestimmten Fällen den Beschlüssen des Europäischen Rates Bindungswirkungen zumessen (etwa Art. 14 Abs. 2 UAbs. 2 EUV), ergibt sich im Umkehrschluss, dass sich aus den nicht vertraglich vorgesehenen Beschlüssen keine konkreten rechtlichen Bindungen ergeben. III. Zusammensetzung 1. Staats- und Regierungschefs 514 Im Europäischen Rat versammeln sich die Staats- und Regierungschefs sämtlicher Mitgliedstaaten auf europäischer Ebene. Jeder Mitgliedstaat entsendet einen
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Ruffert, EuR 2009, Beiheft 1, 31 (42). Editorial Comments, CMLR 46 (2009), 1383 (1390 f.). Oppermann, in: FS für Badura, 2004, S. 1113 (1119) sieht in Anlehnung an die Formulierung „Herren der Verträge“ den Europäischen Rat als „Herrn der Union“. Hilf/Pache, in: Grabitz/Hilf, Art. 4 EUV Rn. 35.
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Vertreter. Während der entsandte Vertreter in den meisten Fällen der Regierungschef ist, kann alternativ auch der Staatschef an den Treffen teilnehmen. 2. Präsident des Europäischen Rates a) Bezeichnung Als weiteres Mitglied hat der Europäische Rat gemäß Art. 15 Abs. 2 S. 1 EUV 515 seinen Präsidenten, umgangssprachlich „EU-Ratspräsident“ genannt. Da der Ratsvorsitz gelegentlich ebenfalls (EU-)Ratspräsident genannt wird, ist der Begriff schon aus diesem Grund ungeeignet. Der Präsident des Europäischen Rates darf kein einzelstaatliches Amt ausüben (Art. 15 Abs. 6 UAbs. 3 EUV). Er wird nach Art. 15 Abs. 5 EUV mit qualifizierter Mehrheit vom Europäischen Rat für die Dauer von zweieinhalb Jahren gewählt. Als ersten Präsidenten des Europäischen Rates haben die Staats- und Regierungschefs den Belgier Herman Van Rompuy bestimmt. b) Aufgaben im Europäischen Rat Der Präsident des Europäischen Rates bereitet die Treffen des Europäischen 516 Rates vor, achtet auf die Einhaltung der GeschOER (Art. 4 Abs. 4 UAbs. 4 GeschOER) und vertritt die EU nach außen in Angelegenheiten der Außen- und Sicherheitspolitik „auf seiner Ebene und in seiner Eigenschaft“ (Art. 15 Abs. 6 UAbs. 2 EUV). Der Präsident des Europäischen Rates nimmt nicht an dessen Abstimmungen teil (Art. 235 Abs. 1 UAbs. 2 S. 2 AEUV, Art. 6 Abs. 4 UAbs. 2 GeschOER). Er verfügt über keine Richtlinienkompetenz oder Weisungsbefugnis gegenüber den anderen Mitgliedern im Europäischen Rat. Auf diese Weise erlangt kein Mitgliedstaat ein größeres Stimmgewicht (vgl. auch Art. 235 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV).62 Im Europäischen Rat kommt seinem Präsidenten die Rolle eines Moderators und Mediators zu; er nimmt vor allem repräsentative Aufgaben wahr.63 Im Vorfeld von wichtigen Entscheidungsfindungen eruiert er, ähnlich einem Makler,64 die Positionen der Mitgliedstaaten und handelt Kompromisse zwischen ihnen aus.65 c) Außendarstellung der EU Sowohl mit dem Kommissionspräsidenten als auch mit dem Hohen Vertreter der 517 Union für Außen- und Sicherheitspolitik bestehen Überschneidungen des Präsi-
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Nach Art. 235 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV, Art. 6 Abs. 4 UAbs. 1 GeschOER besteht die Möglichkeit innerhalb des Europäischen Rates, dass ein Mitglied das Stimmrecht maximal eines anderen Mitglieds übertragen bekommt. Wichard, in: Calliess/Ruffert, Verfassung der EU, 2006, Art. I-22 Rn. 1, 6, 9; a.A. Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon, 3. Aufl. 2010, S. 68. Tomuschat, CMLR 47 (2010), 3 (4). Epping, in: Vedder/Heintschel v. Heinegg, Europäischer Verfassungsvertrag, 2007, Art. I-22 Rn. 1.
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denten bei der Außendarstellung der EU.66 aa) Überschneidungen mit dem Kommissionspräsidenten 518 Sowohl der Präsident des Europäischen Rates als auch der Kommissionspräsident können für sich in Anspruch nehmen, das Gesicht der Union zu sein. Dabei steht der Präsident des Europäischen Rates für die intergouvernementale Ebene, der Kommissionspräsident für die supranationale Union. 67 Dementsprechend vertritt der Präsident des Europäischen Rates die Union in 519 Angelegenheiten der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs, wohingegen der Kommissionspräsident die Union vertritt, wenn die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nicht betroffen ist. Sofern Treffen beide Ebenen tangieren, nehmen beide Präsidenten teil. 68 bb) Überschneidungen mit dem Hohen Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik 520 Während der Präsident des Europäischen Rates die Außenvertretung der Union im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wahrnimmt, leitet der Hohe Vertreter diese, führt sie im Auftrag des Rates durch (Art. 18 Abs. 2 EUV) und ist mit „der Koordinierung der übrigen Aspekte des auswärtigen Handelns der Union betraut“ (Art. 18 Abs. 4 S. 3 EUV). Die Vertretungsbefugnisse des Präsidenten sind in Art. 15 Abs. 6 UAbs. 2 EUV 521 darauf beschränkt, dass er die Vertretung „auf seiner Ebene und in seiner Eigenschaft“ wahrnimmt. Dies ist die Ebene der Staats- und Regierungschefs.69 Zusammen mit der Eingrenzung auf den Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beschränkt sich seine Vertretungsbefugnis auf G8-Treffen, Gipfeltreffen mit EU-Drittstaaten etc.70 Da der Präsident des Europäischen Rates weder weisungsbefugt ist noch 522 Stimmrecht hat, verfügt er nicht über die notwendigen Kompetenzen, um selbst umfangreich Außenpolitik zu betreiben. Er ist insoweit an die Vorgaben des Europäischen Rates gebunden. Die Tätigkeiten des Präsidenten auf Gipfeltreffen beschränken sich daher, ebenso wie im Europäischen Rat, vor allem auf repräsentative Aufgaben. Freilich ist nicht auszuschließen, dass unabhängig von diesen Regelungen sowohl der Präsident des Europäischen Rates als auch der Hohe Vertreter gemeinsam an den Treffen teilnehmen.
66 67 68 69 70
Schoo, EuR 2009, Beiheft 1, 51 (63); Thym, AVR 42 (2004), 44 (63 ff.). Wichard, in: Calliess/Ruffert, Verfassung der EU, 2006, Art. I-22 Rn. 1. Editorial Comments, CMLR 46 (2009), 1383 (1392). Wichard, in: Calliess/Ruffert, Verfassung der EU, 2006, Art. I-22 Rn. 8. Brok, in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, 2004, S. 419 (426).
B. Europäischer Rat
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3. Kommissionspräsident Der Kommissionspräsident ist ebenfalls Mitglied des Europäischen Rates (Art. 15 523 Abs. 2 S. 1 EUV), aber dort nicht stimmberechtigt (Art. 235 Abs. 1 UAbs. 2 S. 2 AEUV,71 Art. 6 Abs. 4 UAbs. 2 GeschOER). Durch seine Teilnahme soll stückweise kompensiert werden, dass die Kommission ihre Lenkungsfunktion in Grundsatzfragen an den Europäischen Rat verloren hat sowie der Sachverstand der Kommission in den Europäischen Rat eingebracht werden.72 4. Weitere Teilnehmer Der Hohe Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik ist nicht Mitglied des 524 Europäischen Rates. Dies ergibt sich im Umkehrschluss aus der Regelung zur Zusammensetzung des Europäischen Rates nach Art. 15 Abs. 2 S. 1 EUV und der erst nachträglichen Nennung des Hohen Vertreters in Art. 15 Abs. 2 S. 2 EUV. Neben den offiziellen Mitgliedern können weitere Personen an den Treffen des Europäischen Rates teilnehmen. IV. Entscheidungsfindung Der Europäische Rat ist auf Konsens ausgerichtet (Art. 15 Abs. 4 EUV, Art. 6 525 Abs. 1 GeschOER). Das Konsensprinzip besagt, dass so lange verhandelt wird, bis kein Mitgliedstaat mehr Einwände erhebt.73 Zu einer Abstimmung kommt es in aller Regel nicht. Das bedeutet, dass der Europäische Rat seine politischen Entscheidungen ohne Gegenstimmen beschließt, sofern sich nichts anderes aus den Verträgen ergibt (s. Art. 15 Abs. 4 EUV). Die Entscheidungen erfolgen in einer Atmosphäre gegenseitiger Wertschätzung, bei der auch die gemeinsamen politischen Perspektiven und die grundsätzliche Kompromissbereitschaft eine wesentliche Rolle spielen.74 Das Erfordernis der Einstimmigkeit bezieht sich hingegen auf Abstimmungen. 526 Für seine rechtsförmigen Entscheidungen, namentlich den Beschlüssen, sind dem Europäischen Rat unterschiedliche Abstimmungsmodalitäten vorgeschrieben. So sehen die Verträge Einstimmigkeit (zum Beispiel Art. 31 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 EUV), qualifizierte (zum Beispiel Art. 18 Abs. 1 S. 1 EUV) oder einfache Mehrheiten (zum Beispiel Art. 48 Abs. 3 UAbs. 1 S. 1 EUV) vor.
71 72 73 74
Der Ausschluss in Satz 2 gilt grundsätzlich, obgleich sich Satz 1 der Vorschrift nur auf die qualifizierten Abstimmungen bezieht. Stumpf, in: Schwarze, Art. 4 EUV/EGV Rn. 6. Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon, 3. Aufl. 2010, S. 62. Nettesheim, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 7 Rn. 61.
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Kapitel 5: Organe
V. Organisation 527 Seine Treffen hält der Europäische Rat ausschließlich in Brüssel 75 ab (Art. 1 Abs. 2 UAbs. 1 GeschOER), sofern nicht außergewöhnliche Umstände einen anderen Tagungsort erforderlich machen (Art. 1 Abs. 2 UAbs. 2 GeschOER). Der Europäische Rat tritt regelmäßig zweimal pro Halbjahr (Art. 15 Abs. 3 HS. 1 EUV) – d.h. in aller Regel vierteljährlich – für grundsätzlich zwei Tage (Art. 4 Abs. 1 GeschOER) zusammen.76 Daneben können weitere Treffen abgehalten werden, auf denen wichtige aktuelle Themen erörtert werden. Seine Tagungen sind nicht öffentlich (Art. 4 Abs. 3 GeschOER). Darüber hinaus besteht grundsätzlich eine Geheimhaltungspflicht. Der Europäische Rat greift auf das Generalsekretariat des Rates zurück (Art. 235 Abs. 4 AEUV, Art. 13 Abs. 1 GeschOER).
C. Rat I. Aufgaben und Befugnisse 528 Der Rat ist das Beschlussorgan innerhalb der Union. Er bezeichnet sich selbst als Rat der Europäischen Union.77 Alternativ wird auch vom Ministerrat gesprochen. Diese Bezeichnung spiegelt die Zusammensetzung nicht adäquat wider und sollte daher vermieden werden. Zusammen mit dem Europäischen Parlament nimmt der Rat die Gesetzgebung und die Haushaltsbefugnisse wahr. Sofern der Rat auf das Initiativrecht der Kommission angewiesen ist, kann er mit einfacher Mehrheit beschließen, die Kommission zur Vorlage geeigneter Gesetzesvorschläge aufzufordern (Art. 241 S. 1 AEUV). Kommt die Kommission dieser Aufforderung nicht nach, hat sie ihre Entscheidung zu begründen (Art. 241 S. 2 AEUV). Der Rat ist maßgeblich an den Außenbeziehungen der Union beteiligt. Er ge529 staltet gemäß Art. 26 Abs. 2 UAbs. 1 EUV – wenngleich im Rahmen der Leitlinien und Vorgaben des Europäischen Rates – die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, welche dann vom Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik und von den Mitgliedstaaten durchgeführt wird. Auch koordiniert der Rat die Arbeiten im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Darüber hinaus stehen ihm Exekutivbefugnisse zu, wie die Bestimmung über 530 Ausnahmen vom Beihilfenverbot aufgrund außergewöhnlicher Umstände gemäß Art. 108 Abs. 2 UAbs. 3 AEUV. Er steht in diesem Bereich im Spannungsverhält-
75
76 77
Derzeit noch im selben Gebäude, in dem auch der Rat tagt: dem Justus-Lipsius-Gebäude, auch Consilium genannt. Als einziges Organ wurde der Sitz des Europäischen Rates nicht im Protokoll (Nr. 6) zum EUV/AEUV über die Festlegung der Sitze der Organe und bestimmter Einrichtungen, sonstiger Stellen und Dienststellen der Europäischen Union, ABl. 2010 C 83, S. 265 geregelt. Bisher fanden die Treffen im März, Juni, September und Dezember statt. S. den Beschluss des Rates vom 8.11.1993 über seine Bezeichnung im Anschluss an das Inkrafttreten des Vertrags über die Europäische Union, ABl. L 281, S. 18.
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nis zur Kommission, welche ansonsten über die Vereinbarkeit von Beihilfen entscheidet. Der Rat beschließt über die Besetzung des Rechnungshofes, des Ausschusses 531 der Regionen und des Wirtschafts- und Sozialausschusses, indem er über die Kandidatenlisten für diese Einrichtungen abstimmt (Art. 286 Abs. 2 S. 2, Art. 305 Abs. 3 S. 3 und Art. 302 Abs. 1 S. 2 AEUV). II. Bedeutung Der Rat ist das Bindeglied zwischen den Mitgliedstaaten, welche die Ratsmit- 532 glieder entsenden, und der Union, auf deren Ebene er tätig ist.78 Im Rat werden die Interessen der Mitgliedstaaten vertreten und ausgehandelt. Der Rat ist von den anderen Organen in seiner Bedeutung eingeholt worden. 533 Seine Funktion als Leitorgan hat der Europäische Rat übernommen. Der Rat steht in einem Subordinationsverhältnis zum Europäischen Rat, ohne formal weisungsgebunden zu sein. Während der Europäische Rat die Leitentscheidungen trifft, handelt der Rat als (ein) ausführendes Organ.79 Er ist das operative Organ zur Ausgestaltung der Politiken.80 Seine Unterordnung zeigt sich unter anderem daran, dass er selbst nicht über seine Zusammensetzung beschließt (Art. 16 Abs. 6 UAbs. 1 HS. 2 EUV i.V.m. Art. 236 lit. a) AEUV). III. Zusammensetzung und Organisation Der Rat setzt sich aus je einem Vertreter pro Mitgliedstaat auf Ministerebene zu- 534 sammen (Art. 16 Abs. 2 EUV). Nach Art. 16 Abs. 2 EUV ist der Vertreter befugt, verbindlich zu handeln. Die Vertreter sollen mithin über große Entscheidungsspielräume verfügen,81 um die Koordination im Rat nicht durch langwierige Rücksprachen zu erschweren. Die Ständigen Vertreter sowie andere Beamte können daher zwar das Ratsmitglied ihres Mitgliedstaats vertreten (Art. 4 GeschORat82), sind aber nicht stimmberechtigt.83 Die von der Bundesrepublik Deutschland entsandten Mitglieder im Rat sind 535 nicht ausschließlich Bundesminister, sondern auch Minister aus den Länderregierungen werden in den Rat entsandt, wenn nämlich schwerpunktmäßig ausschließliche Gesetzgebungsbefugnisse der Bundesländer in den Bereichen schulische Bildung, Kultur oder Rundfunk betroffen sind (§ 6 Abs. 2 S. 1 EUZBLG). 78 79 80 81 82 83
Epping, in: Vedder/Heintschel v. Heinegg, Europäischer Verfassungsvertrag, 2007, Art. I-22 Rn. 2; vgl. Herdegen, Europarecht, § 8 Rn. 13 „Scharnierfunktion“. Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon, 3. Aufl. 2010, S. 61, 66. Epping, in: Vedder/Heintschel v. Heinegg, Europäischer Verfassungsvertrag, 2007, Art. I-22 Rn. 3. Hix, in: Schwarze, Art. 203 EUV/EGV Rn. 6. VO (EU) Nr. 2009/937 des Rates vom 1.12.2009 zur Änderung seiner Geschäftsordnung, ABl. L 325, S. 35, zuletzt berichtigt durch ABl. 2010 L 55, S. 83. Nettesheim, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 7 Rn. 65.
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Obgleich ihre Teilnahme im Primärrecht nicht geregelt ist, entsendet Deutschland nach eingeübter Praxis auch Staatssekretäre in die Ratssitzungen, die dort über ein volles Stimmrecht verfügen. 84 Die Vertreter der Mitgliedstaaten lassen sich von Beamten der Mitgliedstaaten, 536 d.h. aus den Ministerien oder der Ständigen Vertretung, unterstützen. Die Kommission wird zu den Ratssitzungen eingeladen und durch das für das Ressort zuständige Kommissionsmitglied vertreten. Dieses kann ebenfalls Beamte zu seiner Unterstützung heranziehen. IV. Struktur 1. Ratsformationen 537 Der Rat tagt je nach Themengebiet in unterschiedlichen Formationen, 85 in organisatorischer Annäherung an die Arbeitsstruktur der Kommission mit ihren Ressorts und Generaldirektionen.86 Welche Minister konkret an den Sitzungen teilnehmen, richtet sich nach dem Thema und nach der Verteilung der Ressorts in den Mitgliedstaaten. Da aber stets der Rat beschließt, können Ratsformationen wirksam über Gegenstände bestimmen, die eigentlich von einer anderen Ratsformation hätten entschieden werden müssen.87 Im Vertragstext werden der Rat „Allgemeine Angelegenheiten“ und der Rat 538 „Auswärtige Angelegenheiten“ ausdrücklich in Art. 16 Abs. 6 UAbs. 2 S. 1 bzw. UAbs. 3 EUV unterschieden. Ersterer übernimmt die zentrale Lenkung der Ratsformationen, sichert die Kohärenz bei den Arbeiten der anderen Ratsformationen und bereitet die Sitzungen des Europäischen Rates vor (Art. 16 Abs. 6 UAbs. 2 S. 1 EUV).88 Eine Vorrangstellung gegenüber den anderen Ratsformationen kommt ihm trotzdem nicht zu, zumal der Rat trotz seiner Formationen ein einheitliches Organ ist.89 Im Rat „Auswärtige Angelegenheiten“ koordinieren die Ratsmitglieder die 539 Außenpolitik der Union. Nur in dieser Formation wechselt der Vorsitz nicht. Stattdessen nimmt der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik den Vorsitz während seiner Amtszeit wahr, der hier nicht stimmberechtigt ist.90 Die Ratsformation „Wirtschaft und Finanzen“ ist von besonderer Bedeu540 tung für die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU). Bei bestimmten Abstimmungen, welche nach Art. 139 Abs. 4 UAbs. 1 i.V.m. 2 AEUV nur die Wirtschafts- und Währungsunion betreffen (insbesondere bei spezifischem Bezug zum 84 85 86 87 88 89 90
Ambos/Rackow, Jura 2006, 505 (507). Mitunter Fachräte genannt, s. Hartmann, Das politische System der Europäischen Union, S. 106 ff. Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon, 3. Aufl. 2010, S. 66. Jacqué, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 203 EG Rn. 22. Ruffert, EuR 2009, Beiheft 1, 31 (43). Wichard, in: Calliess/Ruffert, Verfassung der EU, 2006, Art. I-24 Rn. 4. Cremer, in: Calliess/Ruffert, Die Verfassung der EU, 2006, Art. I-28 Rn. 38; Streinz/ Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon, 3. Aufl. 2010, S. 68.
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Euro), sind nicht alle Vertreter stimmberechtigt. Von dieser Ratsformation zu unterscheiden ist die sogenannte Euro-Gruppe. Diese ist ein informeller Zusammenschluss der Wirtschafts- und Finanzminister derjenigen Mitgliedstaaten, die den Euro als Währung führen. Neben diesen Zusammensetzungen tritt der Rat noch in sieben weiteren Forma- 541 tionen zusammen. Beim Zusammenschluss „im Rat vereinigte Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten“ kommen zwar die Ratsmitglieder zusammen.91 Angesichts einer unklaren Normlage treten sie aber nicht als Rat zusammen, sondern auf völkerrechtlicher Ebene. Die Ratsformationen können sich auch als sogenannte informelle Ministerta- 542 gungen treffen. Diese Tagungen erfolgen im jeweils vorsitzführenden Mitgliedstaat. Sie dienen dem freien Meinungsaustausch zwischen den betroffenen Ministern. Das hindert die zusammentreffenden Minister freilich nicht, Ergebnisse im Rat auf diesen Treffen vorwegzunehmen.92 2. Vorbereitende Ausschüsse und Sondergremien Der Rat wird bei seinen Vorhaben durch den Ausschuss der Ständigen Vertreter (AStV/COREPER 93), den Sonderausschuss Landwirtschaft (SAL/SCA94) und weitere, zum Teil untergeordnete, Ausschüsse und Arbeitsgruppen unterstützt. Der Ausschuss der Ständigen Vertreter gewährleistet die ständige Repräsentation der Mitgliedstaaten im Rahmen der EU. Er tagt wöchentlich in zwei Zusammensetzungen, dem Ausschuss der Ständigen Vertreter I und II (AStV I bzw. II). Der Ausschuss der Ständigen Vertreter setzt sich aus den Ständigen Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten bzw. deren Stellvertretern zusammen.95 Die Ständigen Vertreter sind als Beamte der Mitgliedstaaten an deren Weisungen gebunden.96 Die Abstimmungen des Ausschusses der Ständigen Vertreter haben für den Rat keine Bindungswirkung.97 Den Vorsitz innerhalb der Ausschüsse nimmt derjenige Vertreter wahr, dessen Land den Vorsitz im Rat wahrnimmt (Art. 19 Abs. 4 UAbs. 1, 3 GeschORat), sofern nicht ein ständiger Vorsitzender bestimmt wurde. 98 Auf dem Gebiet der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wird der Rat ebenfalls durch Sondergremien unterstützt, die im engen Zusammenhang mit 91 92 93 94 95 96 97 98
Beispielsweise die Vertreter der Mitgliedstaaten im Verteidigungsressort. Jacqué, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 203 EG Rn. 23. Frz.: Comité des représentants permanents. Engl.: Special Committee on Agriculture. Hix, in: Schwarze, Art. 207 EUV/EGV Rn. 3. Mentler, Der Ausschuß der Ständigen Vertreter bei den Europäischen Gemeinschaften, 1996, S. 44; Wichard, in: Calliess/Ruffert, Verfassung der EU, 2006, Art. I-24 Rn. 11. Wichard, in: Calliess/Ruffert, Verfassung der EU, 2006, Art. I-24 Rn. 13. S. dazu Anhang III Beschluss (2009/908/EU) des Rates vom 1.12.2009 zur Festlegung von Maßnahmen für die Durchführung des Beschlusses des Europäischen Rates über die Ausübung des Vorsitzes im Rat und über den Vorsitz in den Vorbereitungsgremien des Rates, ABl. L 322, S. 28; korrigiert durch ABl. L 344, S. 56.
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den Aufgaben des Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicherheitspolitik stehen. Das Politische und Sicherheitspolitische Komitee (PSK) ist die zentrale Koordinierungsstelle für die Bereiche der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP).99 Der Militärausschuss der EU (EUMC) berät das Politische und Sicherheits547 politische Komitee in militärischen Angelegenheiten (Nr. 1 Anhang Militärausschussbeschluss100). Bei der Krisenbewältigung ist dieser Ausschuss das Forum der Mitgliedstaaten zur militärischen Konsultation. Als höchstes militärisches Gremium der EU bildet er die Schnittstelle zwischen Politik und Militär. Der Militärstab der EU (EUMS) überwacht die Frühwarnung, Lagebeurtei548 lung und strategische Planung hinsichtlich der Aufgaben der Westeuropäischen Union (WEU, Nr. 2 Abs. 1 und Nr. 3 Spiegelstrich 3 Anhang Militärstabsbeschluss101). Er ist das Bindeglied zwischen dem Militärausschuss der EU und den der EU zur Verfügung stehenden militärischen Kräften (Nr. 3 Spiegelstrich 2 Anhang Militärstabsbeschluss) sowie zu militärischen Organisationen (Nr. 4 Anhang Militärstabsbeschluss). Er ist inzwischen Bestandteil des Europäischen Auswärtigen Dienstes. V. Ratsvorsitz 1. Aufgaben und Befugnisse 549 Der Vorsitz im Rat, auch Präsidentschaft des Rates oder EU-Ratspräsidentschaft genannt,102 nimmt die interne Koordinierung und Organisation der Ratsformationen wahr.103 Ihm obliegen die Überwachung der Einhaltung der GeschORat und die ordnungsgemäße Aussprache innerhalb der Ratsformationen (Art. 20 Abs. 1 S. 1 GeschORat). Er bereitet Verhandlungspakete vor und schlichtet in Konfliktfällen. Die vorsitzführenden Mitgliedstaaten erarbeiten einen Vorhabenplan, dessen Schwerpunkt auf Unionsangelegenheiten liegen soll.
99 100 101
102 103
S. im Einzelnen Art. 38, 43 Abs. 2 S. 2 EUV; Art. 222 Abs. 3 UAbs. 2 AEUV; Bitterlich, in: Lenz/Borchardt, Art. 38 EUV Rn. 2. Beschluss (2001/79/GASP) des Rates vom 22.1.2001 zur Einsetzung des Militärausschusses der Europäischen Union, ABl. L 27, S. 4. Beschluss (2001/80/GASP ) des Rates vom 22.1.2001 zur Einsetzung des Militärstabs der Europäischen Union, ABl. L 27, S. 7; zuletzt geändert durch Beschluss (2001/298/GASP) des Rates vom 7.4.2008 zur Änderung des Beschlusses 2001/80/GASP zur Einsetzung des Militärstabs der Europäischen Union, ABl. L 102, S. 25. Die Terminologie im AEUV und der GeschORat ist uneinheitlich, s. etwa Art. 236 lit. b) u. Art. 237 AEUV oder Art. 1 Abs. 1 u. Abs. 2 S. 1 GeschORat. Wichard, in: Calliess/Ruffert, Verfassung der EU, 2006, Art. I-24 Rn. 17.
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2. Rotation Anders als im Europäischen Rat wurde im Rat die Idee des rotierenden Vorsit- 550 zes104 beibehalten. Für einen Zeitraum von 18 Monaten sollen sich jeweils drei Mitgliedstaaten zu einer Gruppe, dem sogenannten Teamvorsitz,105 zusammenschließen und ein gemeinsames Programm ausarbeiten. Die jeweiligen Arbeitsprogramme müssen an die vorherigen Arbeitsprogramme anschließen. Die Wahrnehmung des Vorsitzes wechselt zwar alle sechs Monate in allen 551 Ratsformationen, mit Ausnahme des Rates „Auswärtige Angelegenheiten“,106 doch unterstützen sich die beteiligten Mitgliedstaaten gegenseitig bei der Wahrnehmung des Vorsitzes (Art. 1 Abs. 2 S. 2 Vorsitz-Beschluss des Europäischen Rates). Den betroffenen Mitgliedstaaten steht es frei, alternative Regelungen zu treffen, zum Beispiel den Vorsitz nach Themengebieten aufzuteilen, so dass die Mitgliedstaaten nach Ratsformationen aufgeteilt für 18 Monate den Ratsvorsitz wahrnehmen. Die Reihenfolge des Vorsitzes im Rat ist durch Beschluss desselben geregelt worden.107 VI. Abstimmungen Die Abstimmungen des Rates erfolgen nach einem System gewogener Stimmen.
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1. Stimmengewichtung Die Stimmenverteilung jedes Mitgliedstaats ist im Wesentlichen nach seiner 553 Bevölkerungsgröße gewichtet, wenngleich sie nicht proportional dazu erfolgt. Diese Gewichtung geht, ebenso wie die Stimmenarithmetik bzw. Ponderierung der Stimmen im Europäischen Parlament, auf einen Kompromiss zwischen dem Grundsatz der Staatengleichheit und der angemessenen Repräsentation der Mitgliedstaaten im Rat zurück.108 Die vier bevölkerungsreichsten Mitgliedstaaten (Deutschland, Frankreich, Ver- 554 einigtes Königreich und Italien) verfügen über jeweils 29 Stimmen, gefolgt von Spanien und Polen mit jeweils 27 Stimmen. Die restlichen Stimmen verteilen sich auf die verbleibenden Mitgliedstaaten in Gewichtungen von drei bis 14 Stim-
104 105 106 107
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Umgangssprachlich auch EU-Ratspräsident, EU-Ratsvorsitz oder Ratspräsident genannt. Auch „Troika“, Weber, EuZW 2008, 7 (10) oder „Teampräsidentschaft“, Hellmann, Der Vertrag von Lissabon, S. 41 genannt. S.o. Rn. 539. Beschluss (2009/908/EU) des Rates vom 1.12.2009 zur Festlegung von Maßnahmen für die Durchführung des Beschlusses des Europäischen Rates über die Ausübung des Vorsitzes im Rat und über den Vorsitz in den Vorbereitungsgremien des Rates, ABl. L 322, S. 28; korrigiert durch ABl. L 344, S. 56. Ambos/Rackow, Jura 2006, 505 (507).
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men.109 Mit jedem Beitritt eines weiteren Mitgliedstaats muss diese Gewichtung neu austariert werden. 2. Einfache Mehrheit 555 Ist die einfache Mehrheit für einen Ratsbeschluss erforderlich, muss der Rat mit der Mehrheit seiner Mitglieder beschließen und damit zustimmen (Art. 238 Abs. 1 AEUV). Die einfache Mehrheit ist zumeist bei Verfahrensfragen ausreichend. Da das Nichterreichen der notwendigen Mehrheitsverhältnisse zur Ablehnung des Beschlusses führt, ist eine Stimmenthaltung hier mit der Ablehnung gleichzusetzen.110 3. Qualifizierte Mehrheiten a) Systemansatz 556 Grundsätzlich ist im Rat die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit vorgesehen (Art. 16 Abs. 3 EUV). Dabei müssen zunächst drei Zeiträume unterschieden werden (vgl. Art. 16 EUV, 238 AEUV): die Zeit bis zum 31.10.2014, die Zeit ab dem 1.4.2017 und die Übergangszeit zwischen diesen beiden Terminen. Im Folgenden wird die Situation bis zum 31.10.2014 dargestellt. b) Alle Mitglieder stimmberechtigt 557 Die Mehrheit ist dadurch qualifiziert, dass eine bestimmte Stimmenanzahl erreicht werden muss und auf Antrag eines Mitgliedstaats – d.h. eines Ratsvertreters oder Vertreters im Europäischen Rat – überprüft werden kann, ob die zustimmenden Mitgliedstaaten einen ausreichenden Anteil der Unionsgesamtbevölkerung (62 %) repräsentieren. Die Voraussetzungen nach Art. 16 Abs. 5 EUV i.V.m. Art. 3 Abs. 3 UAbs. 3 558 S. 1, UAbs. 4 Übergangsprotokoll sind: x Mehrheit der Mitgliedstaaten x 255 Stimmen x auf Antrag eines Mitgliedstaats: Überprüfung, ob die Mehrheit mindestens 62 % der Unionsgesamtbevölkerung repräsentiert. 559 Ergeht der Beschluss nicht auf vorherigen Beschluss der Kommission, ist die qualifizierte Mehrheit nach Art. 16 Abs. 5 EUV i.V.m. Art. 3 Abs. 3 UAbs. 3 und 4 Übergangsprotokoll weiter gehend qualifiziert: Nicht nur die Mehrheit, sondern zwei Drittel der Mitgliedstaaten müssen für den Beschluss stimmen. 109
110
S. Art. 16 Abs. 5 EUV i.V.m. Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 f. Protokoll (Nr. 36) zum EUV/ AEUV über die Übergangsbestimmungen, ABl. 2010 C 83, S. 322. Die weiteren Stimmen verteilen sich wie folgt: Rumänien (14); Niederlande (13); Belgien, Griechenland, Portugal, Tschechien und Ungarn (12); Bulgarien, Österreich und Schweden (10); Dänemark, Finnland, Irland, Litauen und die Slowakei (7); Estland, Lettland, Luxemburg, Slowenien und Zypern (4) und schließlich Malta (3). Hummer/Obwexer, in: Streinz, Art. 205 EGV Rn. 19.
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c) Nur ausgewählte Mitglieder stimmberechtigt Sind nicht alle Mitgliedstaaten berechtigt, an der Abstimmung teilzunehmen – 560 zum Beispiel bei der Ausgabe des Euro nach Art. 128 AEUV (Art. 139 Abs. 2 UAbs. 1 lit. d) AEUV) – müssen die Vorgaben entsprechend dem Verhältnis der abstimmungsberechtigten Mitglieder angepasst werden. Nach Art. 16 Abs. 5 EUV i.V.m. Art. 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 3 UAbs. 3 f. Über- 561 gangsprotokoll bezieht sich die Mehrheit nur auf die abstimmungsberechtigten Mitgliedstaaten und muss mindestens 73,91 %111 der insgesamt den stimmberechtigten Mitgliedern zur Verfügung stehenden Stimmen umfassen. 4. Einstimmigkeit Bei Abstimmungen im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspoli- 562 tik ist grundsätzlich Einstimmigkeit erforderlich (Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 S. 2 EUV). Eine Stimmenthaltung ist für das Zustandekommen des Beschlusses nicht hinderlich (Art. 238 Abs. 4 AEUV). Theoretisch kann daher ein Beschluss mit nur einer Stimme bei restlichen Enthaltungen erfolgen.112 In diesem Regelungsbereich kann der Stimmenthaltung als sogenannte kon- 563 struktive Stimmenthaltung eine Erklärung beigefügt werden, wonach der Mitgliedstaat nicht verpflichtet ist, den Beschluss umzusetzen (Art. 31 Abs. 1 UAbs. 2 EUV).113 Einstimmigkeit ist insbesondere dann vorgesehen, wenn wichtige Themen der Mitgliedstaaten betroffen sind.114 Nach Art. 31 Abs. 2 EUV kann von dem Erfordernis der Einstimmigkeit in be- 564 stimmten Bereichen abgewichen und mit qualifizierter Mehrheit abgestimmt werden, wobei freilich die Grenze des Art. 48 Abs. 7 UAbs. 1 EUV zu berücksichtigen ist. 5. Abstimmungsverfahren Stimmaufteilungen sind unzulässig. Ein Ratsmitglied kann (maximal) ein an- 565 deres Ratsmitglied bei den Abstimmungen vertreten (Art. 239 AEUV, Art. 11 Abs. 3 GeschORat). 111 112 113
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Der Prozentsatz ergibt sich aus der Relation der 255 Stimmen zur maximalen Stimmzahl von 345 Stimmen. Hix, in: Schwarze, Art. 205 EUV/EGV Rn. 11. Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, Rn. 264. Konstruktive Stimmenthaltungen sind nur solange möglich, wie die sich auf diese Art und Weise enthaltenden Mitgliedstaaten nicht mindestens ein Drittel und zudem ein Drittel der Unionsbevölkerung ausmachen (Art. 31 Abs. 1 UAbs. 2 S. 4 EUV). Neben der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sind dies unter anderem Fragen der Sozialpolitik (Art. 21 Abs. 3 S. 2 AEUV) oder des Strafrechts (Art. 82 Abs. 2 UAbs. 2 lit. d), Art. 83 Abs. 1 UAbs. 3, Art. 87 Abs. 3 UAbs. 1 S. 2 AEUV). Der andere Bereich, in dem ebenfalls Einstimmigkeit erforderlich ist, lässt sich am ehesten mit Verfassungs- oder Strukturfragen der EU umschreiben, Jacqué, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 205 EG Rn. 3. Betroffen ist unter anderem die Europawahl (Art. 22 Abs. 1 S. 2 bzw. Abs. 2 S. 2 AEUV).
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In manchen Angelegenheiten kann es erforderlich sein, einen Ratsbeschluss zu erlassen, obgleich der Rat nicht tagt. Neben dringenden Beschlüssen im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik kommen hier vor allem vom Ausschuss der Ständigen Vertreter (AStV)115 geprüfte Antworten auf Anfragen der EU-Parlamentarier und Anhörungsbeschlüsse anderer Organe in Betracht (Art. 12 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a), c) GeschORat). Im Rahmen des dann einschlägigen vereinfachten schriftlichen Umlauf- und Abstimmungsverfahrens gelten die Beschlüsse nach Ablauf der vom Ratsvorsitz bestimmten Frist als angenommen (Art. 12 Abs. 2 UAbs. 2 GeschORat). Sofern keine Dringlichkeit vorliegt, müssen die Schriftstücke und Entwürfe in 567 allen amtlichen Sprachfassungen vorliegen (Art. 14 Abs. 1 GeschORat). Die Sitzungen selbst werden simultan übersetzt. 566
VII. Organisation 568 Sitz des Rates ist Brüssel.116 Lediglich bei außergewöhnlichen Umständen (Art. 1 Abs. 3 UAbs. 2 GeschORat) und in den Monaten April, Juni und Oktober tagt der Rat in Luxemburg.117 Die Ratsformationen tagen mitunter mehrfach pro Halbjahr. Inzwischen ist primärrechtlich geregelt (Art. 16 Abs. 8 EUV), dass die Sitzungen des Rates über Gesetzesentwürfe öffentlich zu erfolgen haben. Das Generalsekretariat übernimmt die Ratsverwaltung.118 Es bereitet die Sit569 zungen des Rates in den verschiedenen Formationen vor, plant die Sitzungen und Treffen, übernimmt die Protokollführung, Übersetzungstätigkeiten, Veröffentlichungen etc. VIII. Mitgliedstaatliche Bindungen? 570 Da die Vertreter im Rat, anders als die Mitglieder der Kommission oder des Europäischen Parlaments, Vertreter der Mitgliedstaaten sind, stellt sich die Frage, inwieweit sie an Vorgaben aus ihren Mitgliedstaaten gehalten sind. 119 Bei der Stimmberechtigung ist nur entscheidend, dass das Mitglied als Rats571 vertreter mit Ministerrang eine Stimme abgeben darf. Andernfalls stünde jede Abstimmung im Rat unter dem Vorbehalt der mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen. Die Rechtssicherheit wäre dann nicht mehr gewährleistet. Die verfas115 116
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S.o. Rn. 544. Lit. b) S. 1 Protokoll (Nr. 6) zum EUV/AEUV über die Festlegung der Sitze der Organe und bestimmter Einrichtungen, sonstiger Stellen und Dienststellen der Europäischen Union, ABl. 2010 C 83, S. 265. Konkret: Rat der Europäischen Union, Rue de la Loi 175 (Justus-Lipsius-Gebäude), B-1048 Brüssel. Lit. b) S. 2 Protokoll (Nr. 6) zum EUV/AEUV über die Festlegung der Sitze der Organe und bestimmter Einrichtungen, sonstiger Stellen und Dienststellen der Europäischen Union, ABl. 2010 C 83, S. 265. Hellmann, Der Vertrag von Lissabon, S. 38. Herdegen, Europarecht, § 8 Rn. 34.
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sungsrechtlichen Verpflichtungen des Ratsvertreters schlagen daher nicht auf Unionsebene durch. Mit erfolgreicher Abstimmung im Rat können die nationalen Grundrechte auf diesen Akt keine Anwendung mehr finden, 120 außer es bestehen Umsetzungsspielräume.121 Deutschland kann dann aber aufgrund der Feststellungen in einer BVerfG-Entscheidung dazu angehalten sein, den Unionsrechtsakt nicht umzusetzen oder anzuwenden.122 Dies hätte wiederum zur Folge, dass dem Mitgliedstaat dann ein Vertragsverletzungsverfahren droht. Die Vertreter im Rat sind nach den jeweiligen mitgliedstaatlichen Bestim- 572 mungen in der Regel verpflichtet, sich an die Vorgaben des Staats- oder Regierungschefs zu halten. Verstoßen sie hiergegen, gegen mitgliedstaatliches Recht oder gegen die Weisungen des auf sie übertragenden Ratsmitgliedes, hindert dies aber nicht das Zustandekommen des Ratsbeschlusses.123 Ob ein Ratsbeschluss ordnungsgemäß ergeht, bestimmt sich ausschließlich nach den unionsrechtlichen Bestimmungen und diese kennen keine entsprechenden Vorbehalte.
D. Kommission I. Aufgaben und Befugnisse 1. Hüterin der Verträge Gemäß Art. 17 Abs. 1 S. 2 EUV sorgt die Kommission124 für die Anwendung der 573 Verträge sowie der von den Organen kraft der Verträge erlassenen Maßnahmen, mithin des Primär- und Sekundärrechts. Zusammen mit dem Gerichtshof der EU und zugleich unter dessen Kontrolle (Art. 17 Abs. 1 S. 3 EUV) überwacht sie die Einhaltung und Durchführung des Unionsrechts. Die Kommission ist die „Hüterin der Verträge“.125 Diese Rolle kommt insbesondere bei den unternehmenswie mitgliedstaatsbezogenen Wettbewerbsbestimmungen zum Tragen. 2. Exekutivbefugnisse Die Kommission übernimmt zusammen mit den ihr nachgelagerten Stellen die 574 meisten Koordinierungs- und Exekutivfunktionen innerhalb der Union,126 gemäß Art. 17 Abs. 1 S. 5 EUV nach näherer vertraglicher Festlegung. Einen wesentlichen Anteil an der Verwaltungstätigkeit der Kommission haben 575 die Exekutivagenturen, Ämter etc. Der ganz überwiegende Teil der Einrichtungen und Stellen zur Unterstützung der Union sind der Kommission zugeordnet. 120 121 122 123 124 125 126
Herdegen, Europarecht, § 8 Rn. 35. S. BVerfGE 125, 260 (308 f.) – Vorratsdatenspeicherung, aber mit faktischer Parallelprüfung der EU-Mindestvorgaben in Rn. 208. BVerfGE 123, 267 (355, 402) – Lissabon. Hummer/Obwexer, in: Streinz, Art. 203 EGV Rn. 24. Abw. hiervon bezeichnet sich die Kommission selbst als „Europäische Kommission“, sofern es nicht um Rechtsakte oder offizielle Veröffentlichungen im Amtsblatt geht. Nettesheim, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 7 Rn. 93, 134. Hellmann, Der Vertrag von Lissabon, S. 43.
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3. Vertretungsbefugnisse 576 Gemäß Art. 17 Abs. 1 S. 6 EUV nimmt die Kommission außer in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und den übrigen explizit vertraglich benannten Fällen die Vertretung der Union nach außen vor, hat dafür also die Regelzuständigkeit. Zivilrechtlich vertritt sie die Union, soweit es nicht um das Funktionieren anderer Organe geht (Art. 335 S. 2 f. AEUV). 4. Gesetzgebungsinitiative 577 Im Bereich der Gesetzgebung kommt der Kommission eine wesentliche Funktion zu, da sie gemäß Art. 17 Abs. 2 S. 1 EUV ohne andere vertragliche Festlegung das Initiativmonopol innehat.127 Auch andere Rechtsakte ergehen, wie Art. 17 Abs. 2 S. 2 EUV zeigt, oft auf der Grundlage eines Kommissionsvorschlags, sofern dies in den Verträgen vorgesehen ist. Vielfach erlässt die Kommission Rechtsakte auch unmittelbar. Die Kommission ist daher zum Motor der Verträge berufen, weil ohne ihre Initiative kaum Rechtsakte ergehen können. 128 Dies gilt jedenfalls für die ehemaligen Gemeinschaftsbereiche. Neben diesen Befugnissen wirkt die Kommission durch die sogenannten 578 Grünbücher (Diskussionsgrundlagen für bestimmte Themenbereiche), Weißbücher (konkretere Gesetzesvorschläge und -vorhaben), Aktionspläne und Programme (größer angelegte Projekte zur Verbesserung in bestimmten Arbeits- und Lebensbereichen) sowie diverse Stellungnahmen auf die Fortführung und Integration des Unionsrechts hin. II. Zusammensetzung und Struktur 1. Kommissionsmitglieder a) Anzahl 579 Die Kommission besteht derzeit aus 27 Mitgliedern. Neben dem Präsidenten und dem Hohen Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik arbeiten weitere 25 Mitglieder in der Kommission. Die Anzahl der Kommissionsmitglieder bleibt noch bis zum 31.10.2014 unverändert bei einem Kommissionsmitglied pro Mitgliedstaat (Art. 17 Abs. 4 EUV).129 Die vor Inkrafttreten des Vertrages von Lissa-
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Hartmann, Das politische System der Europäischen Union, S. 55. Vgl. Nettesheim, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 7 Rn. 125. Aus Gründen der verbesserten Arbeitsbedingungen der Kommissionsmitglieder und der besseren Zusammenarbeit des Gremiums ist vorgesehen, dass die Anzahl der Kommissionsmitglieder zukünftig beschränkt wird: Ab dem 1.11.2014 soll die Anzahl auf zwei Drittel der Mitgliedstaaten limitiert werden, sofern nicht der Europäische Rat „einstimmig eine Änderung dieser Anzahl beschließt“ (Art. 17 Abs. 5 UAbs. 1 EUV), was er bereits in Aussicht gestellt hat.
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bon gewählten Kommissionsmitglieder bleiben gemäß Art. 5 S. 1 Übergangsprotokoll130 bis zum Ende ihrer regulären Amtszeit im Amt. b) Ernennung und Voraussetzungen Jede Regierung eines Mitgliedstaats schlägt einen Kandidaten als Kommissions- 580 mitglied vor.131 Bevor die Kommissionsmitglieder vom Europäischen Rat ernannt werden, unterziehen die Fachausschüsse des Europäischen Parlaments die Kandidaten ausführlichen Befragungen zu Sachthemen und persönlichen Grundhaltungen im Zusammenhang mit dem jeweiligen Ressort, das ihnen übertragen werden soll.132 Die Nominierung für das Amt eines Kommissionsmitglieds ist nach Art. 17 581 Abs. 3 UAbs. 2 EUV – anders als zum Beispiel bei den Richtern und Generalanwälten am Gerichtshof der EU – formal lediglich abhängig von der „allgemeinen Befähigung“ und dem „Einsatz für Europa“. Das öffentliche Ernennungsverfahren und die Anhörungen in den Ausschüssen des Europäischen Parlaments erschweren in der Praxis aber die Ernennung von ungeeigneten Kandidaten. Bei den Kommissionsmitgliedern handelt es sich in aller Regel um (ehemalige) Minister oder andere Politikerpersönlichkeiten aus den Mitgliedstaaten. Werden die Kommissionsmitglieder erneut in die Kommission berufen, wechseln sie in aller Regel das Ressort. c) Unabhängigkeit Die Kommissionsmitglieder müssen gemäß Art. 17 Abs. 3 UAbs. 2 EUV volle 582 Gewähr für ihre Unabhängigkeit bieten. Dem können nicht offen gelegte Nebentätigkeiten und -einkünfte entgegenstehen. Sie dürfen nach Art. 17 Abs. 3 UAbs. 3 S. 2 EUV weder Weisungen der Mitgliedstaaten einfordern noch entgegennehmen. An die Kommissionsmitglieder werden hohe Anforderungen hinsichtlich der 583 unabhängigen Wahrnehmung des Amtes und der Vermeidung von Interessenkonflikten gestellt. Näheres regelt der selbst auferlegte Verhaltenskodex für Kommissionsmitglieder (VerhKKom).133 In finanzieller Hinsicht ergibt sich die Unabhängigkeit aus der Gewährung ei- 584 nes monatlichen Grundgehalts sowie weiterer Zulagen. 134 Die Kommissionsmit-
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Protokoll (Nr. 36) zum EUV/AEUV über die Übergangsbestimmungen, ABl. 2010 C 83, S. 322. Das vom Mitgliedstaat zu entsendende Kommissionsmitglied muss nach dem Wortlaut des Art. 17 Abs. 4 EUV nicht dessen Staatsangehörigkeit aufweisen. Da aber ein Mitgliedstaat durch die Benennung eines anderen Staatsangehörigen die Auswahl desjenigen Mitgliedstaats beeinträchtigen könnte, muss nach dem Sinn und Zweck der Norm der Kandidat dieselbe Staatsangehörigkeit aufweisen. Kugelmann, in: Streinz, Art. 214 EGV Rn. 8. SEK (2004) 1487/2; abrufbar unter: http://ec.europa.eu/commission_2010-2014/pdf/ code_conduct_en.pdf.
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Kapitel 5: Organe
glieder dürfen während ihrer Amtszeit keine anderweitige Berufstätigkeit ausüben (Art. 245 Abs. 2 S. 1 AEUV).135 Diese Verpflichtungen reichen über das Ende des Mandats hinaus: Nehmen die ehemaligen Mitglieder nach der Amtszeit neue Tätigkeiten auf oder erhalten Vorteile, müssen sie hierbei „ehrenhaft und zurückhaltend“ vorgehen (Art. 245 Abs. 2 S. 2 AEUV). Handeln die Kommissionsmitglieder dem entgegen, können die Kommission oder der Rat mit einfacher Mehrheit beim EuGH die Amtsenthebung oder finanzielle Sanktionen beantragen. d) Amtszeit aa) Reguläre Dauer 585 Die Amtszeit der Kommissionsmitglieder beginnt ab dem Zeitpunkt, der in den Ernennungsbeschlüssen angegeben ist. Die Amtszeit der Kommission beträgt nach Art. 17 Abs. 3 UAbs. 1 EUV fünf Jahre und gilt für die gesamte Kommission, also für alle Kommissionsmitglieder gleichermaßen. Sie richtet sich in der Weise nach der Wahlperiode des Europäischen Parlaments, dass dieses zu Beginn seiner Wahlperiode über die neue Kommission abstimmt. Die Amtszeiten sind damit zwar ähnlich lang, aber doch verschoben. Die Amtszeit der neuen Kommission verlängert sich durch die Verschiebung 586 nicht. Sie besteht nur bis zu dem Zeitpunkt, ab dem die nachfolgende Kommission ihre Geschäfte aufnimmt. Daher werden die am 9.2.2010 ernannten Kommissionsmitglieder regulär nicht bis zum Februar 2015 ihr Mandat wahrnehmen, sondern nur bis zum 31.10.2014.136 Umgekehrt kann die Tätigkeit der Kommission auch länger als fünf Jahre andauern, wenn die Kommission bis zur Ernennung der neuen Kommission geschäftsführend tätig bleibt. bb) Verkürzung der Amtszeit 587 Scheidet ein Mitglied vorzeitig aus der Kommission aus und wird daraufhin ein neues Kommissionsmitglied ernannt, ist dessen Amtszeit verkürzt. Dieses Kommissionsmitglied bleibt nur für die verbleibende Amtszeit des Vorgängers in der Kommission (Art. 246 Abs. 2 AEUV). Die Amtszeit der Kommissionsmitglieder verkürzt sich durch den Ablauf der 588 Amtszeit (Art. 17 Abs. 3 UAbs. 1 EUV), den Tod des Kommissionsmitgliedes (Art. 246 Abs. 1 EUV), die Aufforderung zur Amtsniederlegung (Art. 17 Abs. 6 UAbs. 2 S. 1 EUV), den freiwilligen Rücktritt des Kommissionsmitgliedes
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Das monatliche Grundgehalt beträgt derzeit zwischen ca. 20.278 Euro für die Kommissionsmitglieder und ca. 24.285 Euro für den Kommissionspräsidenten. Zu den sonstigen Zulagen und Zahlungen http://ec.europa.eu/commission_2010-2014/pdf/entitlements_ en.pdf. Die Erklärungen der Kommissionsmitglieder über ihre finanziellen Interessen sind abrufbar unter: http://ec.europa.eu/commission_2010-2014/interests/index_de.htm. Freilich sind die Erklärungen über die Beteiligungen mitunter äußerst spärlich. Art. 1 Beschluss des Europäischen Rates vom 9.2.2010 zur Ernennung der Europäischen Kommission, ABl. L 38, S. 7.
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(Art. 246 Abs. 1 AEUV), die Amtsenthebung (Art. 247 AEUV) oder ein erfolgreiches Misstrauensvotum (Art. 234 Abs. 2 S. 1 AEUV). Trotz Ablaufs der Amtszeit oder sonstiger Ausscheidungsgründe kann das 589 Kommissionsmitglied dazu angehalten sein, im Amt zu bleiben und die Geschäfte vorübergehend und unter Beibehaltung des Stimmrechts fortzuführen. Daher sind diese Ereignisse nicht per se mit dem Ende der Amtszeit gleichzusetzen. Besonderheiten gelten für den Kommissionspräsidenten und den Hohen Vertreter der Union (s. Art. 246 Abs. 4 f. AEUV) 2. Kabinett Die Kommissionsmitglieder verfügen über einen persönlichen Mitarbeiterstab von 590 sechs bis neun Personen, der Kabinett genannt wird. Das Kabinett unterstützt die Kommissionsmitglieder bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben, insbesondere bei der Kommunikation mit den Generaldirektionen und der Vorbereitung der Kommissionsarbeiten, namentlich den Beschlüssen (Art. 19 Abs. 1 GeschOKom; Art. 2.2 VerhKKom). Die Kabinettschefs bereiten die Sitzungen der Kommission vor. 3. Kommissionspräsident a) Aufgaben und Befugnisse Der Kommissionspräsident leitet die Kommission. Er sorgt für den organisatori- 591 schen Zusammenhalt der Kommissionsmitglieder und vertritt die Kommission nach außen (Art. 3 Abs. 5 S. 1 GeschOKom). Er kann die Ressorts anderen Kommissionsmitgliedern zuteilen (Art. 3 Abs. 1 592 GeschOKom) und den Zuschnitt der Ressorts und Generaldirektionen verändern (Art. 248 S. 2 AEUV), ohne sich noch der Zustimmung des Kollegiums versichern zu müssen (Art. 17 Abs. 6 UAbs. 2 S. 1 EUV), um personelle Veränderungen voranzutreiben, und zwar auch aus politischen Erwägungen. 137 Infolge dieses Druckmittels ist inzwischen von einem (faktischen) Weisungsrecht des Kommissionspräsidenten auszugehen.138 Der Kommissionspräsident übernimmt dadurch die Führung und Leitung der 593 Kommission (Art. 17 Abs. 6 UAbs. 1 lit. a), b) EUV, Art. 1 ff. GeschOKom). Damit ist nicht lediglich die sich bereits aus seiner Stellung als Präsident ergebende allgemeine Leitungsbefugnis angesprochen. Art. 248 S. 3 AEUV betont, dass die Kommissionsmitglieder ihre Aufgaben unter seiner Leitung wahrnehmen. Da der Kommissionspräsident aufgrund von Gegenreaktionen der Mitgliedstaaten im Rat nicht jede Personalie frei entscheiden kann, sind seine Kompetenzen aber nicht mit denen der deutschen Bundeskanzlerin gegenüber ihren Regierungsmitgliedern zu vergleichen.139 Allerdings ist die Stellung des Kommissionspräsidenten im Laufe der Zeit immer stärker geworden.
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Schmitt v. Sydow, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 217 EG Rn. 28. Breier, in: Lenz/Borchardt, Art. 17 EUV Rn. 24. Vgl. Nettesheim, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 7 Rn. 105.
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Kapitel 5: Organe
b) Wahl 594 Der Kommissionspräsident wird zunächst vom Europäischen Rat vorgeschlagen (Art. 17 Abs. 7 UAbs. 1 S. 1 HS. 1 EUV). Hierbei hat dieser das Wahlergebnis des Europäischen Parlaments zu berücksichtigen (Art. 17 Abs. 7 UAbs. 1 S. 1 HS. 2 EUV), wobei keine Pflicht besteht, den Kommissionspräsidenten aus der stärksten Fraktion zu bestimmen. Das Europäische Parlament wählt auf diesen Vorschlag hin den Kommissionspräsidenten mit der Mehrheit seiner Mitglieder (Art. 17 Abs. 7 UAbs. 1 S. 2 EUV). Der Kommissionspräsident ist damit quasi doppelt legitimiert. c) Amtszeit 595 Zwar wird der Kommissionspräsident bereits vor der gemeinsamen Zustimmung zur Kommission durch das Europäische Parlament gewählt und beginnt seine Amtszeit mit der erfolgreichen Wahl. Darüber hinaus ergeben sich aber kaum Besonderheiten hinsichtlich seiner Amtszeit. 4. Kollegium 596 Die Kommission agiert formal als Kollegium (Art. 1 GeschOKom; s. auch Art. 17 Abs. 7 UAbs. 3 S. 1, Abs. 8 S. 1 EUV). Das Kollegium ist die oberste Verantwortungsebene (Art. 2.1. Abs. 2 S. 2 VerhKKom). Ein Ressortprinzip, wonach die Kommissionsmitglieder eigenverantwortlich nach außen Entscheidungen treffen, existiert offiziell nicht,140 auch wenn sie innerhalb der ihnen zugeteilten Ressorts über einen hohen Grad an Eigenständigkeit verfügen. 141 Nur ein kleiner Bruchteil der Beschlüsse ergeht tatsächlich in mündlicher Verhandlung.142 Der Präsident kann gezielt Einfluss auf Ressorts und Personalien nehmen. Die Kommission hat sich dadurch zu einem Präsidialsystem entwickelt.143 III. Hoher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik 1. Institutionelle Mehrfachverortung 597 Im Amt des Hohen Vertreters laufen die Kompetenzen des Rates und der Kommission in Angelegenheiten des Auswärtigen zusammen. 144 Von Seiten des Rates erhält der Hohe Vertreter die Mittel der Diplomatie und des Krisenmanagements. Die Kommissionsseite vermittelt ihm die eher wirtschaftlich geprägten Instrumente: Handelspolitik, Entwicklungspolitik und wirtschaftliche Zusammenarbeit. 145
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Nettesheim, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 7 Rn. 104. Kugelmann, in: Streinz, Art. 217 EGV Rn. 8. V. Arnim, NJW 2007, 2531 (2533). Breier, in: Lenz/Borchardt, Art. 17 EUV Rn. 23. Magiera, in: FS für Rengeling, 2008, S. 591 (605). S. Bitterlich, in: Lenz/ Borchardt, Art. 18 EUV Rn. 8.
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Die Aufgaben des Hohen Vertreters sind allein im EUV an verschiedenen Stel- 598 len aufgeführt (s. hauptsächlich Art. 18, 27 EUV). Die unterschiedlichen Formulierungen – Leitung, Festlegung, Durchführung etc. – verdeutlichen die Probleme, die der Normgeber bei der Festlegung seiner Position im Institutionengefüge gehabt hat. Der Hohe Vertreter tritt durch sein Amt gleich in mehreren wichtigen Unionseinrichtungen in Erscheinung. Er ist Vizepräsident146 der Kommission (Art. 18 Abs. 4 EUV) und Vorsitzender des Rates „Auswärtige Angelegenheiten“ (Art. 18 Abs. 3, Art. 27 Abs. 1 EUV). Außerdem nimmt er nach Art. 15 Abs. 2 S. 2 EUV an den Arbeiten des Europäischen Rates teil, ohne Mitglied zu sein. 2. Integration in der Kommission Der Hohe Vertreter ist im Rahmen seiner Kommissionsaufgaben Kommissions- 599 mitglied und unterliegt insoweit deren Vorgaben. Er ist der Organisationsbefugnis des Kommissionspräsidenten hinsichtlich seines Aufgabenbereiches entzogen, da dieser in Art. 18 Abs. 4 EUV vorgegeben ist.147 Er ist aber an die Beschlüsse der Kommission gebunden. Da er zugleich auch den Vorsitz im Rat „Auswärtige Angelegenheiten“ innehat, ist er jedenfalls insoweit den Vorgaben des Rates unterworfen. 3. Aufgaben und Befugnisse Der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik koordiniert die 600 gemeinsame Außenpolitik der Mitgliedstaaten und vertritt die EU nach außen. 148 a) Koordinierung Innerhalb der Union beteiligt sich der Hohe Vertreter an der Ausgestaltung der 601 Außen- und Sicherheitspolitik. Durch Vorschläge hilft er bei der Festlegung der Außenpolitik im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (Art. 27 Abs. 1 EUV). Insoweit hat er eher eine initiierende und vorbereitende als eine leitende Funktion. Die letztliche inhaltliche Entscheidungsmacht liegt beim Europäischen Rat (Art. 26 Abs. 1 EUV) bzw. beim Rat, der die für die Festlegung und Durchführung erforderlichen Beschlüsse fasst (Art. 26 Abs. 2 UAbs. 1 EUV). Insoweit sorgt dann der Hohe Vertreter mit dem Rat gemäß Art. 26 Abs. 2 UAbs. 2 EUV für ein einheitliches, kohärentes und wirksames Vorgehen und stellt die Durchführung der Beschlüsse des Europäischen Rates und des Rates sicher (Art. 27 Abs. 1 EUV).
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S. auch Art. 17 Abs. 4, Abs. 6 UAbs. 1 lit. c) EUV, Art. 3 Abs. 3 GeschOKom. Nemitz, in: Schwarze, Art. 217 EUV/EGV Rn. 12. Schwarze, EuR 2009, Beiheft 1, 9 (24); Wichard, in: Calliess/Ruffert, Verfassung der EU, 2006, Art. I-22 Rn. 8. Dementsprechend hatte sich für dieses Amt die Bezeichnung „Außenminister“ angeboten, doch wurde aufgrund mitgliedstaatlicher Befindlichkeiten hiervon wieder Abstand genommen, s. Ruffert, EuR 2009, Beiheft 1, 31 (44).
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Kapitel 5: Organe
b) Außenvertretung 602 Der Hohe Vertreter vertritt die Union in den Bereichen der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik und in internationalen Organisationen bzw. auf internationalen Konferenzen (Art. 27 Abs. 2 EUV). Er ist zuständig für die Beziehungen der EU zu den internationalen Organisationen, den Drittstaaten und den Delegationen der Union (Art. 220 Abs. 2 AEUV). Unterstützt wird der Hohe Vertreter durch den Europäischen Auswärtigen 603 Dienst (EAD; Art. 27 Abs. 3 S. 1 EUV), den er leitet.149 Außerdem unterstehen die nach Art. 33 EUV auf seinen Vorschlag hin vom Rat ernannten Sonderbeauftragten seiner Verantwortung. 4. Ernennung 604 Der Hohe Vertreter wird nach Art. 18 Abs. 1 S. 1 EUV vom Europäischen Rat mit qualifizierter Mehrheit und mit Zustimmung des Kommissionspräsidenten ernannt. Letzterem kann aufgrund seiner notwendigen Zustimmung kein Hoher Vertreter gegen seinen Willen aufgedrängt werden.150 Das Europäische Parlament wählt ihn zwar nicht, es kann aber den Hohen Vertreter ablehnen, indem es dem gesamten Kollegium die Zustimmung versagt (s. Art. 17 Abs. 7 UAbs. 3 S. 1 EUV). 5. Amtszeit 605 Die Amtszeit des Hohen Vertreters ist nicht ausdrücklich normiert. Da der Hohe Vertreter Mitglied der Kommission ist, bemisst sich seine Amtszeit hiernach. 151 D.h., die Amtszeit endet mit Ablauf der fünfjährigen Amtszeit der Kommission (Art. 17 Abs. 3 UAbs. 1 EUV), konkret am 31.10.2014.152 Seine Amtszeit beginnt nicht erst mit der Bestätigung der gesamten Kommission, sondern bereits mit dem Ernennungszeitpunkt im Beschluss des Europäischen Rates, weil Vertretungslücken und Schwebezustände in diesem Bereich nicht hingenommen werden können. Im Übrigen ergibt sich dies ohnehin für diejenigen Bereiche, die nicht der Kommission zuzuordnen sind. Scheidet der Hohe Vertreter vor Ablauf der Amtszeit aus, muss sein Amt neu 606 besetzt werden. Infolge eines Misstrauensantrags gegen die Kommission muss er
149 150 151 152
Bitterlich, in: Lenz/Borchardt, Art. 27 EUV Rn. 7. Epping, in: Vedder/Heintschel v. Heinegg, Europäischer Verfassungsvertrag, 2007, Art. I-28 Rn. 5. Cremer, in: Calliess/Ruffert, Verfassung der EU, 2006, Art. I-28 Rn. 7. S. Art. 1 des Beschlusses des Europäischen Rates mit Zustimmung des Präsidenten der Kommission vom 4.12.2009 zur Ernennung des Hohen Vertreters der Union für Außenund Sicherheitspolitik, ABl. L 328, S. 69; Art. 1 Beschluss des Europäischen Rates vom 9.2.2010 zur Ernennung der Europäischen Kommission, ABl. L 38, S. 7.
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nur sein „im Rahmen der Kommission ausgeübtes Amt“ niederlegen (Art. 17 Abs. 8 S. 3 HS. 2 EUV).153 6. Europäischer Auswärtiger Dienst (EAD) Der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) ist nach Art. 27 Abs. 3 S. 1 EUV 607 dem Hohen Vertreter zugeordnet und soll ihn unterstützen. Die Verträge und der EAD-Beschluss154 äußern sich nicht ausdrücklich dazu, ob der EAD Bestandteil des Rates, der Kommission oder eine Einrichtung sui generis ist. Der EAD setzt sich gemäß Art. 27 Abs. 3 S. 2 EUV aus Bediensteten des Rates, 608 der Kommission sowie von mitgliedstaatlichen Stellen zusammen. Der EAD wird als funktional eigenständige Einrichtung weder dem Rat noch der Kommission zugeordnet. Sowohl Einrichtungen der Kommission als auch des Rates zur Außendarstellung gingen im EAD auf. IV. Organisation Sitz der Kommission ist Brüssel.155 Dort verfügt die Kommission über die not- 609 wendige Infrastruktur für ihre Arbeiten. Die enge Anbindung der Kommission an das Europäische Parlament zeigt sich auch in organisatorischen Details: So tagt die Kommission ebenfalls in Straßburg, wenn das Europäische Parlament dort tagt.156 Die Kommission tagt wöchentlich (Art. 5 Abs. 2 S. 1 GeschOKom), mit Ausnahme des Monats August. Ihre Sitzungen sind nicht öffentlich und ihre Beratungen vertraulich (Art. 9 GeschOKom). V. Beschlussfassung Die Kommission beschließt mit der einfachen Mehrheit ihrer Mitglieder (Art. 250 610 Abs. 1 AEUV; Art. 7 GeschOKom), derzeit mit mindestens 14 Stimmen. Neben der gemeinschaftlichen Sitzung kommen als weitere Beschlussverfahren noch das schriftliche Verfahren ohne gemeinsames Treffen sowie das Ermächtigungs- und das Delegationsverfahren in Betracht, bei dem die Entscheidungsfindung auf einzelne Kommissionsmitglieder oder Mitarbeiter der Kommission zurückfällt. Der Generalsekretär der Kommission und der Kabinettschef des Kommis- 611 sionspräsidenten nehmen grundsätzlich an den Sitzungen teil (Art. 10 Abs. 1 GeschOKom). Weitere regelmäßige Teilnehmer sind die Generaldirektoren des 153
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Ein Antrag des Europäischen Parlaments beim Kommissionspräsidenten, wonach dieser den Hohen Vertreter zum Rücktritt auffordert, bleibt hingegen angesichts der notwendigen Zustimmung des Europäischen Rates fruchtlos. Beschluss (2010/427/EU) des Rates vom 26.7.2010 über die Organisation und die Arbeitsweise des Europäischen Auswärtigen Dienstes, ABl. L 201, S. 30. Lit. c) S. 1 Protokoll (Nr. 6) zum EUV/AEUV über die Festlegung der Sitze der Organe und bestimmter Einrichtungen, sonstiger Stellen und Dienststellen der Europäischen Union. http://ec.europa.eu/atwork/collegemeetings/index_de.htm.
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Kapitel 5: Organe
Juristischen Dienstes und der Dienststelle Kommunikation sowie der Sprecher der Kommission.157 Als Arbeitssprache der Kommission hat sich de facto Englisch etabliert. VI. Einrichtungen und Stellen der Kommission 612 Die Kommission wird bei ihren Arbeiten durch die vertraglich vorgesehenen Ausschüsse, Sonderausschüsse und Expertengruppen unterstützt. Die wesentliche Unterstützung erfährt die Kommission aber durch ihre Generaldirektionen158 und sonstigen Dienststellen.159 Die Kommunikation mit den Dienststellen erfolgt regelmäßig über die zuständigen Kabinette. Dies betrifft sowohl Informationen an das Kommissionsmitglied als auch Anordnungen für die Dienststellen (Art. 2.4.1.2 Abs. 5 VerhKKom). Die Einrichtungen der Kommission unterteilen sich in:160 613 x politische Dienststellen (u.a. Energie; Landwirtschaft und ländliche Entwicklung; Unternehmen und Industrie; Wettbewerb), x Dienste der Außenbeziehungen (u.a. EuropeAid; Außenbeziehungen; Handel), x allgemeine Dienste für alle Einrichtungen der EU (etwa Eurostat; Europäisches Amt für Personalauswahl; Europäisches Amt für Betrugsbekämpfung bzw. OLAF), x Dienste für die Tätigkeiten der Kommission (Generalsekretariat; Juristischer Dienst etc.) und x derzeit sechs Exekutivagenturen, die mit der Verwaltung und Durchführung von Programmen der Kommission betraut sind.
E. Gerichtshof der EU I. Unabhängiges Unionsorgan 614 Die Hauptaufgabe des Gerichtshofes der EU161 ist es, das Unionsrecht bei dessen Auslegung und Anwendung zu wahren (Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV). Recht in diesem Sinne umfasst die Verträge, denen nach Art. 6 Abs. 1 EUV die EGRC gleichgestellt ist, das Sekundärrecht mit seinen in Art. 288 AEUV vorgesehenen wie auch den darüber hinausgehenden Rechtsakten, die völkerrechtlichen Verträge und sonstige bindende Vereinbarungen und Erklärungen. Neben diesen 157 158 159
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Schmitt v. Sydow, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 219 EG Rn. 13. Auch GD oder DG (Direction Générale/Directorate-General). Ambos/Rackow, Jura 2006, 505 (510). Der Begriff Kommission wird mitunter auf diese Einrichtungen und Dienststellen erstreckt, Sabathil/Dietz/Joos/Keßler (Hrsg.), Das Räderwerk der Europäischen Kommission, 2006, S. 43. In Anlehnung an Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 218 EGV Rn. 5 ff; http://ec.europa. eu/dgs_de.htm; s. auch http://ec.europa.eu/staffdir/plsql/gsys_page.display_index. Näher zum Gerichtshof der EU und seinen Gerichten Frenz, Europarecht 5, Rn. 2236 ff.
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festgehaltenen Normen erfasst der Rechtsbegriff aber auch die allgemeinen Rechtsgrundsätze, das Gewohnheitsrecht der Union und schließlich die Menschenrechte, soweit sie nicht Bestandteil der Verträge sind.162 Sie wurden aber vielfach in die Grundrechte der EGRC aufgenommen, die gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV Teil des Unionsrechts ist. Der Gerichtshof der EU übt die Rechtskontrolle über sämtliche Teilnehmer der 615 Rechtsgemeinschaft aus. Lediglich das Unionsrecht und die bestehenden völkerrechtlichen Abkommen binden ihn in seiner Rechtsprechung (zum Letzteren Art. 216 Abs. 2 AEUV). Er ist das einzige unabhängige Organ im Verbund der EU.163 Bei der Rechtskontrolle der Unionsorgane ist der Gerichtshof der EU grund- 616 sätzlich darauf beschränkt, die Tätigkeiten auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen. Nur in Ausnahmefällen kann sich seine Kontrolle (Art. 261 AEUV) auch auf Zweckmäßigkeits- und Billigkeitsaspekte erstrecken.164 Auch insoweit unterliegt er rechtlichen Bindungen und ist in seiner Entscheidungsfindung nicht völlig frei.165 Grundsätzlich kann der Gerichtshof der EU in allen Rechtsbereichen mit Uni- 617 onsbezug Recht sprechen. Gerade im Vorabentscheidungsverfahren (Art. 267 AEUV) legen ihm die mitgliedstaatlichen Gerichte Fragen aus allen Bereichen des Unionsrechts vor.166 II. Struktur Der Gerichtshof der EU ist dreigliedrig aufgebaut (Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 618 EUV): Gerichtshof (EuGH), Gericht (EuG) und Fachgerichte (derzeit nur das EuGöD167). Der EuGH ist im Wesentlichen zuständig als oberste Instanz und Verfassungsgericht. Das EuG ist derzeit die Eingangsinstanz zumindest für Privatpersonen. Den Fachgerichten werden spezielle Themenbereiche zugewiesen. Die Organisation aller drei Ebenen ist in der EuGH-Satzung geregelt. Der Ablauf und die konkreten Umstände der Gerichtsverfahren sind den jeweiligen VerfOen zu entnehmen. Der EuGH setzt sich aus 27 Richtern – einem pro Mitgliedstaat – und acht Ge- 619 neralanwälten zusammen (Art. 19 Abs. 2 UAbs. 2 S. 1 EUV, Art. 252 Abs. 1 S. 1 AEUV). Das EuG weist ebenfalls 27 Richter auf, sieht regulär aber keine Generalanwälte vor (Art. 19 Abs. 2 UAbs. 2 EUV). Das EuGöD als bisher einziges Fachgericht wird nicht durch einen Richter pro Mitgliedstaat besetzt, sondern hat nur sieben Richter. 162 163 164 165 166 167
Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 220 EG Rn. 11. Herdegen, Europarecht, § 8 Rn. 4. EuG, Rs. T-275/94, Slg. 1995, II-2169 (2191 f., Rn. 59 f.) – CB; Booß, in: Grabitz/ Hilf, Art. 229 EGV Rn. 4; Cremer, in: Calliess/Ruffert, Art. 229 EGV Rn. 3. Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, 2. Aufl. 2003, § 4 Rn. 12. Ausführlich Frenz, Europarecht 5, Rn. 3244 ff. Gericht für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union.
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Kapitel 5: Organe
III. Klageverfahren 620 Der Katalog der Klageverfahren ist in Art. 258 ff. AEUV abschließend aufgeführt. Gleichwohl hat der Gerichtshof der EU aufgrund seines weiten Verständnisses von der Rechtsschutzgarantie Klagen akzeptiert, die dort nicht explizit vorgesehen waren. Der Gerichtshof der EU hat durch seine vielfältigen Rechtsfortbildungen und der Etablierung diverser Grundsätze entscheidend zum Zusammenwachsen der Union und der Mitgliedstaaten beigetragen. Daher hat er die Rolle eines Integrationsmotors.168
F. Europäische Zentralbank 621 Die EZB und die nationalen Zentralbanken betreiben die Währungspolitik der Union (Art. 282 Abs. 1 S. 2 AEUV). Zusammen mit den nationalen Zentralbanken bildet die EZB das Europäische System der Zentralbanken, ESZB (Art. 282 Abs. 1 AEUV). Vorrangiges Ziel des ESZB ist, die Preisstabilität zu gewährleisten (Art. 127 Abs. 1 S. 1 AEUV). Die EZB besitzt Rechtspersönlichkeit (Art. 282 Abs. 3 S. 1 AEUV). Dies ist im 622 Verhältnis zu den anderen Unionsorganen einmalig. 169 Außerdem besitzt die EZB in jedem Mitgliedstaat die weitestgehende Rechts- und Geschäftsfähigkeit, die juristischen Personen nach dessen Rechtsvorschriften zuerkannt ist (Art. 9.1 ESZB- und EZB-Satzung). Sie kann insbesondere bewegliches und unbewegliches Vermögen erwerben und veräußern sowie vor Gericht stehen. Die nationalen Zentralbanken sind trotz ihrer Integration in das ESZB Ein623 richtungen der Mitgliedstaaten geblieben. Die Mitgliedstaaten haben ihre geldund währungspolitischen Kompetenzen weitestgehend auf die Union übertragen. Geldpolitische Entscheidungen treffen insoweit allein die Beschlussorgane der EZB.
G. Rechnungshof I. Aufgaben und Befugnisse 624 Dem Rechnungshof obliegt die Rechnungsprüfung der Union (Art. 285 Abs. 1 AEUV). Demnach prüft dieser die Rechnung über alle Einnahmen und Ausgaben der Union sowie jeder von der Union geschaffenen Einrichtung und sonstigen Stelle, soweit der Gründungsrechtsakt dies nicht ausschließt (Art. 287 Abs. 1 AEUV).
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Dieser Ausdruck geht zurück auf Hallstein, Die echten Probleme der europäischen Integration, 1965, S. 9, der von einem „Integrationsfaktor erster Ordnung“ spricht. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, § 15 Rn. 25, verwendet den Begriff „Integrationsorgan“. Häde, EuR 2009, 200 (211).
G. Rechnungshof
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Prüfungsmaßstab für die Rechnungsprüfung sind die Rechtmäßigkeit und 625 Ordnungsmäßigkeit der Einnahmen und Ausgaben sowie die Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung (Art. 287 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 AEUV). Die Durchführung der Prüfung erfolgt anhand der Rechnungsunterlagen. Soweit dies erforderlich ist, kann die Prüfung an Ort und Stelle bei den anderen Organen, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union, in den Mitgliedstaaten in Zusammenarbeit mit den nationalen Behörden oder aber bei Privaten, die Zahlungen aus dem Unionshaushalt erhalten, erfolgen (s. Art. 287 Abs. 3 UAbs. 1 AEUV). Der Rechnungshof kommuniziert die Prüfungsergebnisse durch Erklärungen 626 über die Zuverlässigkeit der Rechnungsführung, Jahresberichte, Sonderberichte, Bemerkungen und Stellungnahmen. II. Zusammensetzung und Organisation Nach Art. 285 Abs. 2 S. 1 AEUV besteht der Rechnungshof aus einem Staatsangehörigen je Mitgliedstaat. Die Mitglieder des Rechnungshofes werden aus einer gemäß den Vorschlägen der Mitgliedstaaten erstellten Liste durch den Rat mit qualifizierter Mehrheit nach Anhörung des Europäischen Parlaments auf sechs Jahre ernannt (Art. 286 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 und 2 AEUV). Art. 286 Abs. 1 AEUV stellt bestimmte Anforderungen hinsichtlich der fachlichen Qualifikation sowie der persönlichen, sachlichen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Mitglieder des Rechnungshofes. Die Unabhängigkeit seiner Mitglieder ist das maßgebliche Kriterium für die Autorität des Rechnungshofes.170 Nicht nur bei der Ernennung ist daher darauf zu achten, dass die Mitglieder jede Gewähr für Unabhängigkeit bieten (Art. 286 Abs. 1 S. 2 AEUV). Bei der Erfüllung ihrer Pflichten dürfen sie Anweisungen einer Regierung oder anderen Stelle weder anfordern noch entgegennehmen (Art. 286 Abs. 3 S. 1 AEUV). Während ihrer Amtszeit ist es den Mitgliedern zudem untersagt, eine andere entgeltliche oder unentgeltliche Berufstätigkeit auszuüben. Der Rechnungshof ist ein Kollegialorgan (Art. 1 GeschO Rechnungshof). Die Beschlussfassung erfolgt in der Regel durch Mehrheitsbeschluss (Art. 287 Abs. 4 UAbs. 3 AEUV). Die Mitglieder des Rechnungshofes wählen aus ihrer Mitte den Präsidenten des Rechnungshofes für drei Jahre (Art. 286 Abs. 2 UAbs. 2 S. 1 AEUV). Ihm obliegen die Aufgaben der Koordination und Repräsentation. 171 Die Tätigkeit der Mitglieder des Rechnungshofes wird durch ein Sekretariat unterstützt, an dessen Spitze der Generalsekretär steht.
170 171
Bieber, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 247 EG Rn. 12. Waldhoff, in: Calliess/Ruffert, Art. 247 EGV Rn. 4.
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H. Beratende Einrichtungen I. (Europäischer) Wirtschafts- und Sozialausschuss 1. Aufgaben und Befugnisse 631 Aufgabe des Wirtschafts- und Sozialausschusses172 ist es, Probleme, welche sich aus der Wirtschafts- und Sozialstruktur der Mitgliedstaaten ergeben, in die Diskussion und Willensbildung der Rechtsetzungsorgane einzubringen und die Ergebnisse in die Zivilgesellschaft hineinzutragen. Seine Hauptfunktion besteht in der Erarbeitung von Stellungnahmen. Zu diesem Zweck ist er von den Rechtsetzungsorganen Europäisches Parlament, Rat und Kommission in den vertraglich vorgesehenen Fällen anzuhören (Art. 304 Abs. 1 S. 1 AEUV). Wurde er entgegen den Vorgaben nicht angehört, stellt dies einen wesentlichen Formfehler dar, 173 den er selbst aber nicht ahnden kann.174 Je nach Zweckmäßigkeit kann der Ausschuss in weiteren Fällen angehört werden (Art. 304 Abs. 1 S. 2 AEUV). Der Wirtschafts- und Sozialausschuss kann auch aus eigenem Antrieb Stel632 lungnahmen erarbeiten (Art. 304 Abs. 1 S. 3 AEUV). Ebenso kann der Ausschuss Entschließungen zu aktuellen Themen annehmen, wenn eine Vielzahl an Mitgliedern dies verlangt (Art. 31a GeschOWSA). 2. Bedeutung 633 Obwohl der Wirtschafts- und Sozialausschuss nur beratende Funktion hat, wird seinen Äußerungen Gewicht beigemessen.175 Er wird auch in den nicht obligatorischen Fällen häufig angehört.176 Seine Stellungnahmen werden zumindest von der Kommission aufmerksam verfolgt.177 Da der Ausschuss aber erst spät angehört wird, können seine Stellungnahmen keine grundlegenden Änderungen mehr herbeiführen.178 Ohne Rechtsschutzmöglichkeiten sind seine Befugnisse deutlich eingeschränkt. 3. Mandate 634 Der Wirtschafts- und Sozialausschuss setzt sich nach Art. 300 Abs. 2 AEUV aus derzeit 344179 Vertretern der Zivilgesellschaft aus allen Mitgliedstaaten zusam172
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Abw. von der vertraglichen Bezeichnung nennt sich der Wirtschafts- und Sozialausschuss auf seiner Internetpräsenz und in der kodifizierten Fassung seiner GeschO Europäischer Wirtschafts- und Sozialausschuss bzw. EWSA. Burgi, in: Streinz, Art. 262 EGV Rn. 4. A.A. Hönle, in: Schwarze, Art. 265 EUV/EGV Rn. 22. Nettesheim, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 7 Rn. 175; a.A. Hartmann, Das politische System der Europäischen Union, S. 179. Burgi, in: Streinz, Art. 262 EGV Rn. 6. Hayder, EuZW 2010, 171 (173). Burgi, in: Streinz, Art. 262 EGV Rn. 5. Art. 7 Protokoll (Nr. 36) zum EUV/AEUV über die Übergangsbestimmungen, ABl. 2010 C 83, S. 322.
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men. Die Anzahl der zu entsendenden Mitglieder pro Mitgliedstaat reicht von jeweils 24 Mitgliedern für die bevölkerungsreichsten Mitgliedstaaten Deutschland, Frankreich, das Vereinigte Königreich und Italien über 21 Mitglieder für Spanien und Polen bis zu 5-15 Mitglieder für weniger bevölkerungsreiche Mitgliedstaaten (s. Art. 7 Protokoll (Nr. 36) zum EUV/AEUV). Der Rat beschließt aufgrund von Vorschlagslisten der Mitgliedstaaten über die 635 Entsendung der Mitglieder in den Wirtschafts- und Sozialausschuss (Art. 302 Abs. 1 S. 2 AEUV). Da der Wirtschafts- und Sozialausschuss ein Spiegelbild der Zivilgesellschaft in der Union darstellt, ergibt sich hieraus die Pflicht der Mitgliedstaaten, alle Bereiche der Zivilgesellschaft zu berücksichtigen und jedenfalls Vertreter aus den drei Gruppen Arbeitgeber, Arbeitnehmer und sonstige wichtige Vertreter der Zivilgesellschaft zu entsenden. Das konkrete Zahlenverhältnis der Mitglieder untereinander ist – auch angesichts der individuellen Wahlmöglichkeit der Mitglieder – nicht vorgegeben.180 Die Mitglieder des Ausschusses sind formal an keinerlei Weisungen durch die 636 Mitgliedstaaten gebunden und üben ihre Tätigkeit einzig zum Wohl der Union aus (Art. 300 Abs. 4 AEUV). Zumeist handelt es sich bei den Mitgliedern um Verbandsfunktionäre.181 Das Mandat beginnt mit dem vom Rat benannten Ernennungszeitpunkt und en- 637 det mit Ablauf der Mandatsperiode, Rücktritt, Amtsenthebung, bei Tod, höherer Gewalt oder Unvereinbarkeiten infolge von Ämterhäufungen (Art. 70 Abs. 2 GeschOWSA). Das Mitglied behält trotz seines Austritts aus der Organisation das Mandat. 4. Zusammenschlüsse Der Wirtschafts- und Sozialausschuss bildet aus seinen Mitgliedern drei in etwa 638 gleich große182 Gruppen, welche die Arbeitgeber, Arbeitnehmer und sonstige wirtschaftliche und soziale Bereiche der organisierten Zivilgesellschaft183 repräsentieren (Art. 27 Abs. 1 GeschOWSA). Ein Vertreter kann maximal in einer Gruppe Mitglied sein (Art. 27 Abs. 12 S. 2 GeschOWSA). Sechs Fachgruppen bereiten, vergleichbar mit den Ausschüssen im Europäi- 639 schen Parlament, Stellungnahmen oder Berichte vor und arbeiten diese aus (Art. 32 GeschOWSA). Daneben bilden die Mitglieder gruppenübergreifend Interessengruppen und existieren Beobachtungsstellen, Ad-hoc-Gruppen und beratende Kommissionen.
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Kaufmann-Bühler, in: Lenz/Borchardt, Art. 302 AEUV Rn. 4. Burgi, in: Streinz, Art. 257 EGV Rn. 9. Eine Liste der aktuellen Vertreter im Wirtschafts- und Sozialausschuss findet sich unter: http://eescmembers.eesc.europa.eu. Zweifelnd Hayder, EuZW 2010, 171 (176). Nettesheim, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 7 Rn. 167: Landwirtschaft, Handel, Verkehr, Handwerk, freie Berufe, Verbraucher, soziale Einrichtungen etc.
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Kapitel 5: Organe
5. Organisation 640 Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat seinen Sitz in Brüssel. 184 Er wird durch ein Generalsekretariat unterstützt. Aus seiner Mitte wählt der Wirtschafts- und Sozialausschuss ein Präsidium mit dem Präsidenten an seiner Spitze. Dem Präsidium obliegen die Leitungs- und Koordinierungsfunktionen bei den Sitzungen und deren Vorbereitung. Es ist unter anderem für den personellen, finanziellen und technischen Einsatz zuständig und überwacht Budget- und Finanzfragen. II. Ausschuss der Regionen 1. Aufgaben und Befugnisse 641 Der Ausschuss bringt die regionale und lokale Ebene185 der Union – wie sie inzwischen in Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV berücksichtigt wird – in das Gesetzgebungsverfahren ein (s. Art. 300 Abs. 3 AEUV). 186 Die wichtigste Betätigung des Ausschusses der Regionen ist die Erarbeitung 642 von Stellungnahmen.187 Nach Art. 307 Abs. 1 AEUV hören das Europäische Parlament, der Rat oder die Kommission den Ausschuss der Regionen in den vertraglich vorgesehenen Fällen an (obligatorische Anhörung). Wurde der Ausschuss der Regionen entgegen den Vorgaben bei der Gesetzgebung nicht angehört, stellt dies einen formellen Fehler dar, den er mit der Nichtigkeitsklage nach den ihn ausdrücklich berechtigenden Art. 263 Abs. 3 AEUV überprüfen lassen kann (Art. 8 Abs. 2 Subsidiaritätsprotokoll188). Wenn der Wirtschafts- und Sozialausschuss nach Art. 304 AEUV gehört 643 wird, ist dem Ausschuss der Regionen davon gemäß Art. 307 Abs. 3 S. 1 AEUV Kenntnis zu geben. Er kann dann nach Art. 307 Abs. 3 S. 2 AEUV ebenfalls Stellung nehmen, sofern „spezifische regionale Interessen berührt werden“ (akzessorische Anhörung). Die Rechtsetzungsorgane können den Ausschuss der Regionen in den zweckmäßigen Fällen auch freiwillig anhören, insbesondere bei Bezug zur grenzüberschreitenden Zusammenarbeit (Art. 307 Abs. 1 AEUV). Der Ausschuss der Regionen kann von sich aus Stellungnahmen abgeben 644 (Art. 307 Abs. 4 AEUV). Entschließungen sind nur in Ausnahmefällen zulässig (Art. 43 Abs. 1 GeschOAdR).
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Lit. f) S. 1 Protokoll (Nr. 6) zum EUV/AEUV über die Festlegung der Sitze der Organe und bestimmter Einrichtungen, sonstiger Stellen und Dienststellen der Europäischen Union, ABl. 2010 C 83, S. 265. Themenfelder mit vorrangig regionaler und lokaler Ausrichtung sind insbesondere die Kultur (Art. 167 AEUV), der wirtschaftliche, soziale und territoriale Zusammenhalt (Art. 174 ff. AEUV) sowie der Ausbau der Netze, berufliche Bildung etc. Leinen, in: FS für Bieber, 2007, S. 147 (152). Zum Nachstehenden Hönle, in: Schwarze, Art. 264 EUV/EGV Rn. 20. Protokoll (Nr. 2) zum EUV/AEUV über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit, ABl. 2010 C 83, S. 206.
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2. Bedeutung Die tatsächlichen Einwirkungen des Ausschusses der Regionen auf das Recht- 645 setzungsverfahren bleiben nicht nur wegen der divergierenden Interessen der vielen Gebietskörperschaften beschränkt. Seine Stellungnahmen werden zwar durch die von ihm beratenen Unionsorgane beachtet. Konsequenzen aus ihrer Nichtbeachtung ergeben sich aber nur bei Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip.189 Damit bleibt eine (symbolische) Bedeutung dieses Ausschusses für eine Union, welche sich der Bürgernähe und dem Gedanken der Subsidiarität verschrieben hat.190 3. Mandate Der Ausschuss der Regionen setzt sich aus derzeit 344 191 Vertretern der regionalen 646 und lokalen Gebietskörperschaften zusammen (Art. 300 Abs. 3 AEUV). Die Zusammensetzung nach Mitgliedstaaten entspricht derjenigen im Wirtschafts- und Sozialausschuss (Art. 7 f. Protokoll (Nr. 36) zum EUV/ AEUV). Die Mitglieder des Ausschusses der Regionen müssen ein regionales oder lo- 647 kales Wahlmandat innehaben oder gegenüber einer gewählten Versammlung politisch verantwortlich sein (Art. 300 Abs. 3 AEUV). Aufgrund ihrer Mandate in den Mitgliedstaaten ist es ihnen nicht verwehrt, Weisungen ihrer Regierungen anzufordern oder zu befolgen.192 Eine Pflicht zur Berücksichtigung lokaler Strukturen im Ausschuss der Regio- 648 nen folgt nicht aus dem Unionsrecht. Für Deutschland ergibt sich die Pflicht zur Berücksichtigung beider Ebenen aus dem Bundesrecht, namentlich aus der Gewährleistung des Bundesstaatsprinzips in Art. 20 Abs. 1 GG und der kommunalen Selbstverwaltung in Art. 28 Abs. 2 GG.193 In Deutschland sind die regionalen Gebietskörperschaften die Bundesländer.194 Die lokalen Gebietskörperschaften betreffen die Ebene unterhalb der Regionen, in Deutschland also die Kommunen und Kreise.195 Unter den 24 deutschen Mitgliedern im Ausschuss der Regionen werden 21 von den Bundesländern und drei Mitglieder von den kommunalen Spitzenverbänden Städtetag, Landkreistag, Städte- und Gemeindebund nominiert.196
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Wiedmann, EuR 1999, 49 (74 f.). Nettesheim, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 7 Rn. 182; a.A. Hönle, in: Schwarze, Art. 263 EUV/EGV Rn. 12 f. Art. 7 Protokoll (Nr. 36) zum EUV/ AEUV über die Übergangsbestimmungen, ABl. 2010 C 83, S. 322. Hönle, in: Schwarze, Art. 263 EUV/EGV Rn. 55; a.A. Obermüller, in: von der Groeben/ Schwarze, Art. 263 EG Rn. 7. Blanke, in: Grabitz/Hilf, Art. 263 EGV Rn. 23. Hönle, in: Schwarze, Art. 263 EUV/EGV Rn. 30, 39. Hönle, in: Schwarze, Art. 263 EUV/EGV Rn. 31. Art. 1 Abs. 2 Abkommen über die Entsendung der Mitglieder und Stellvertreter in den Ausschuss der Regionen der Europäischen Gemeinschaft vom 27.5.1993, GMBl. Saarland 1993, S. 226. Die Bundesländer entsenden mindestens einen Vertreter, wobei die
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Kapitel 5: Organe
Das Mandat beginnt mit dem vom Rat benannten Ernennungszeitpunkt. Es endet mit dem Tod, Rücktritt oder Verlust des Mandats im Ausschuss bzw. des Mandats, das Voraussetzung zur Ernennung gewesen ist (Art. 305 Abs. 3 S. 4 AEUV; Art. 3 Abs. 1 und 2 GeschOAdR). Bei Mandatswechseln ist daher eine Neubesetzung notwendig.197 4. Zusammenschlüsse
650 Die Mitglieder des Ausschusses verteilen sich auf sechs Fachkommissionen, welche die Plenartagungen vorbereiten (Art. 45 Abs. 1 GeschOAdR). Entsprechend den sie entsendenden Mitgliedstaaten unterteilen sich die Mitglieder in nationale Delegationen (Art. 8 GeschOAdR). Die Mitglieder können entsprechend ihrer politischen Ausrichtung Fraktionen bilden (Art. 9 Abs. 1 GeschOAdR).198 Zusätzlich können die Mitglieder entsprechend ihren Agenden interregionale Gruppen bzw. sogenannte Netzwerkgruppen bilden (Art. 10 GeschOAdR).199 5. Organisation 651 Der Ausschuss der Regionen wird vom Präsidium koordiniert und geleitet. Sitz des Ausschusses der Regionen ist Brüssel.200 Seine Plenarversammlung wird einmal pro Quartal einberufen (Art. 14 Abs. 1 GeschOAdR). Dem Generalsekretariat des Ausschusses der Regionen obliegen allgemeine Verwaltungsaufgaben, die Beratung der Ausschussmitglieder sowie die Öffentlichkeitsarbeit.201
197 198
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fünf bevölkerungsreichsten Bundesländer jeweils einen weiteren Vertreter entsenden (Art. 1 Abs. 3 AdR-Abkommen). S. auch http://cormembers.cor.europa.eu. Hönle, in: Schwarze, Art. 263 EUV/EGV Rn. 37. Die dort vertretenen Parteien sind von den Fraktionen im Europäischen Parlament zu unterscheiden, weil die Zusammensetzung der Fraktionen im Ausschuss der Regionen davon abweichen kann. Diese Form des Zusammenschlusses bietet sich insbesondere für Vertreter aus Grenzregionen an, die trotz unterschiedlicher Mitgliedstaaten gemeinsame Interessen und Probleme haben können. Lit. g) S. 1 Protokoll (Nr. 6) zum EUV/AEUV über die Festlegung der Sitze der Organe und bestimmter Einrichtungen, sonstiger Stellen und Dienststellen der Europäischen Union, ABl. 2010 C 83, S. 265. Hönle, in: Schwarze, Art. 264 EUV/EGV Rn. 16.
Kapitel 6: Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts Literatur: Frenz, Walter, Handbuch Europarecht Band 6: Institutionen und Politiken, 2011, S. 749-866; Müller-Graff, Peter-Christian, Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts in der Lissabonner Reform, EuR 2009, Beiheft 1, S. 105 ff.; Nettesheim, Martin, Grundrechtskonzeption des EuGH im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, EuR 2009, S. 24 ff. Leitentscheidungen: EuGH, Rs. C-77/05, Slg. 2007, I-11459 – Vereinigtes Königreich/Rat; Rs. C-402 u. 415/05 P, Slg. 2008, I-6351 – Kadi u. Al Barakaat; Rs. C301/06, Slg. 2009, I-593 – Irland/Rat; BVerfGE 113, 273 – Europäischer Haftbefehl; 123, 267 – Lissabon; 125, 260 – Vorratsdatenspeicherung
A. Grundkonzeption und Bedeutung I. Regelung Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (RFSR) ist in den letz- 652 ten Jahren in das Zentrum der europäischen Politik gerückt und hat sich zu einem der am schnellsten wachsenden und dynamischsten Politikfelder entwickelt.1 Examensrelevant ist er infolge seiner Verbindungen zu klassischen Gebieten. Er besteht aus der Politik im Bereich Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung (Art. 77 ff. AEUV), der justiziellen Zusammenarbeit in Zivilsachen (Art. 81 AEUV), der justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (Art. 82 ff. AEUV) und der polizeilichen Zusammenarbeit (Art. 87 ff. AEUV). II. Schengener Übereinkommen als Ausgangspunkt und Dritte Säule Der ursprüngliche Ausgangspunkt für den RFSR war das Schengener Überein- 653 kommen.2 Dessen Hauptziel war der Abbau der Personenkontrollen an den gemeinsamen Grenzen der Mitgliedstaaten und der Verlegung dieser Kontrollen an ihre Außengrenzen.3 Durch den Vertrag von Amsterdam wurde das SchengenÜbereinkommen in die EU einbezogen und seine Weiterentwicklung in weiten 1 2
3
So Nettesheim, EuR 2009, 24 (24). Übereinkommen zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 14.6.1985 (Schengener Übereinkommen), GMBl. 1986, S. 79 und ABl. 2000 L 239, S. 13. EuGH, Rs. C-77/05, Slg. 2007, I-11459 (11528 f., Rn. 83) – Vereinigtes Königreich/Rat.
W. Frenz, Europarecht, DOI 10.1007/978-3-642-21019-8_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel 6: Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
Bereichen in die Kompetenz der Europäischen Gemeinschaft überführt. Die Polizei liche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) war dabei jedoch noch intergouvernemental organisiert und fand sich als sogenannte Dritte Säule der EU in Art. 29 ff. EU. Sie ist nun in den AEUV integriert. III. Ziele 654 Der RFSR bildet ein Hauptziel der Union. Nach Art. 3 Abs. 2 EUV bietet die Union ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen. Dieser ist auf die Gewährleistung des freien Personenverkehrs gerichtet. Darin besteht der Hauptzweck. Die hierzu erforderliche Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen bedingt als korrespondierende Elemente weitere Zielsetzungen, nämlich die Ergreifung geeigneter Maßnahmen in Bezug auf die Kontrollen an den EU-Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität. Diese Ziele werden in Art. 67 ff. AEUV noch einmal wiederholt und präzisiert. Art. 67 Abs. 4 AEUV benennt darüber hinaus als Ziel der Union den erleichter655 ten Zugang zum Recht. Die Möglichkeit, grenzüberschreitend wirksamen Rechtsschutz zu erlangen und entsprechende Titel vollstrecken zu können, ist ebenfalls eine Zielsetzung des RFSR. IV. Bekämpfung des Terrorismus 656 In jüngerer Zeit hat auch die Bekämpfung des Terrorismus die Vorschriften des RFSR mit geprägt. Zu den beschlossenen Maßnahmen gehören etwa die Einführung des Europäischen Haftbefehls, die Erstellung einer gemeinsamen Liste terroristischer Vereinigungen und eine stärkere Einbeziehung von Europol. Art. 75 AEUV enthält zudem zur Verhütung und Bekämpfung von Terrorismus und damit verbundener Aktivitäten eine Kompetenz zur Rahmengesetzgebung durch Verordnungen für Verwaltungsmaßnahmen in Bezug auf Kapitalbewegungen und Zahlungen. Ausdrücklich soll das Einfrieren von Geldern, finanziellen Vermögenswerten oder wirtschaftlichen Erträgen ermöglicht werden, deren Eigentümer oder Besitzer natürliche oder juristische Personen, Gruppierungen oder nichtstaatliche Einheiten sind.4
4
S. allerdings begrenzend im Hinblick auf die notwendige Wahrung der Verteidigungsrechte sowie des Eigentumsrechts EuGH in der Rs. C-402 u. 415/05 P, Slg. 2008, I-6351 – Kadi und Al Barakaat.
A. Grundkonzeption und Bedeutung
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V. Reichweite 1. Kompetenzen Der Bereich des RFSR fällt gemäß Art. 4 Abs. 2 lit. j) AEUV unter die zwischen 657 Union und Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit. Für den Bereich der Verwaltungszusammenarbeit nach Art. 74 AEUV besteht nach Art. 6 lit. g) AEUV eine Zuständigkeit der Union zur Unterstützung, Koordinierung oder Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten.5 Des Weiteren besteht eine Unterstützungszuständigkeit bei der Förderung der Generalprävention nach Art. 84 AEUV. 2. Grenzen Als Kompetenzgrenze im gesamten RFSR besteht der Ordre-public-Vorbehalt. 658 Die Politik im Bereich des RFSR berührt nach Art. 72 AEUV nicht die Wahrnehmung der Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit. Dort bleiben also die Mitgliedstaaten kompetent, eigene Maßnahmen zu erlassen. Im Übrigen bestehen die allgemeinen Kompetenzausübungsgrenzen. Bei der 659 Abgrenzung der Zuständigkeiten der Union zu den Mitgliedstaaten gilt der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 EUV). Da der RFSR in den Bereich der geteilten Zuständigkeit fällt, ist nach Art. 5 Abs. 3 EUV zudem das Subsidiaritätsprinzip zu beachten. Die in Art. 5 Abs. 3 UAbs. 2 S. 2 EUV allgemein vorgesehene Verantwortung der nationalen Parlamente für die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips wird für den Bereich der bisherigen dritten Säule in Art. 69 AEUV noch einmal speziell betont. Zudem ist gemäß Art. 5 Abs. 4 EUV der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren. 3. Grundrechte Art. 67 Abs. 1 AEUV verpflichtet die Union im Bereich des RSFR zur Achtung 660 der Grundrechte und der verschiedenen Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten. Dies ist angesichts der verbindlichen Einbeziehung der Grundrechtecharta durch Art. 6 Abs. 1 EUV und der Anerkennung der Grundrechte, die sich aus der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts (Art. 6 Abs. 3 AEUV) selbstverständlich. Maßnahmen im Bereich des RFSR, insbesondere solche zum Schutz der Si- 661 cherheit, geraten leicht mit dem Datenschutz in Konflikt. Das gilt etwa für die Speicherung und Weitergabe von Fluggastdaten in die USA zur Terrorprävention oder die Vorratsdatenspeicherung in den EU-Staaten zu diesem Zweck.6 Nach Art. 16 Abs. 1 AEUV hat jede Person das Recht auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten. Art. 8 Abs. 1 EGRC gewährt ein eigenständiges, un5 6
Vgl. näher u. Rn. 899 ff. S.o. Rn. 719 zur Rechtsangleichung nach Art. 114 AEUV als Kompetenzgrundlage, EuGH, Rs. C-301/06, Slg. 2009, I-593 – Irland/Rat.
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mittelbar wirkendes Grundrecht auf Datenschutz. Dessen Eingreifen hängt zwar von einem hinreichenden Unionsrechtsbezug ab. Dieser wird aber auch dadurch ausgelöst, dass eine umsetzungspflichtige Richtlinie ergeht, soweit deren Gehalt reicht. Im Übrigen greifen die nationalen Grundrechte. 7 Bei der Verarbeitung personenbezogener Daten ist zudem auf sekundärrechtli662 cher Ebene die DatenschutzRL 95/46/EG8 zu beachten. Auch wenn die Richtlinie an sich nur an die Mitgliedstaaten gerichtet ist, haben nach Art. 16 Abs. 2 AEUV auch die Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Union alle Vorschriften über den Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten zu wahren. Problematisch ist nur, dass die Richtlinie gerade auf den Bereich der öffentlichen Sicherheit keine Anwendung findet. Beispiel Vorratsdatenspeicherung: Besonders umstritten ist die Vorratsdatenspeicherung.9 Die Terrorprävention bildet einen legitimen Beweggrund für Grundrechtseinschränkungen. Dabei geht es auch um Leben und Gesundheit (s. Art. 2 und 3 EGRC). Vor allem bei Terroranschlägen ist jedoch schwerlich abzusehen, ob und wann sie wirklich erfolgen. Welche Schutzgüter sie gefährden steht allerdings fest. Diese können somit wie erforderlich10 konkret benannt werden. Der Zweck von Datenschutzbeschränkungen steht daher fest und bleibt auch so lange erhalten, wie eine Bedrohung von Leben und Gesundheit vorliegt. Indes ist die Wahrscheinlichkeit der Schutzgutverletzung ungewiss. Das liegt im Wesen der terroristischen Bedrohung begründet, die oft lange im Verborgenen liegt und vielfach erst bei der Vorbereitung konkreter Anschläge aufgedeckt werden kann. Nur dann zeigt sich eine konkrete Gefahr. Das Umschlagen in diese erfolgt aber so rasch, dass eine Reaktion nur bei vorheriger fortlaufender Beobachtung erfolgen kann – namentlich durch die Gewinnung und Auswertung von Daten. Deren effektive Nutzung beginnt somit im Vorfeld. Für terroristische Anschläge genügt daher die Gefahr des Eintretens, die selbst nicht hinreichend konkret sein muss.11 Für eine latente Bedrohung müssen allerdings tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Die Anforderungen sind insoweit aber umso niedriger anzusetzen, je höherwertig das geschützte Rechtsgut ist und je stärker es gefährdet wird. Ansatzpunkt für einen solchen gleitenden Maßstab ist die im Zentrum der Prüfung stehende Verhältnismäßigkeit.12 Erforderlich sind aber verfahrensmäßige Schutzvorkehrungen gegen Missbrauch sowie die Beschränkung auf bestimmte schwere Straftaten. Stärkere Verdachtsmomente sind bei
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S. BVerfGE 125, 260 (309) – Vorratsdatenspeicherung. RL 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24.10.1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr, ABl. L 281, S. 31. Zur auf Art. 114 AEUV gestützten RL 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.3.2006 über die Vorratsspeicherung von Daten, ABl. L 105, S. 54 o. Rn. 719. S. Frenz, Europarecht 4, Rn. 1445. S. dagegen GA Kokott, EuGH, Rs. C-275/06, Slg. 2007, I-271 (296 f., Rn. 82) – Promusicae/Telefónica zur Vorratsdatenspeicherung sowie die von ihr explizit in Bezug genommene BVerfGE 115, 320 (354) aus Sicht des deutschen Verfassungsrechts für die Rasterfahndung; anders näher Frenz, NVwZ 2007, 631 ff. S. zur wegweisenden G10-Entscheidung des EGMR Frenz, Europarecht 4, Rn. 1340 ff.
B. Grenzkontrollen, Asyl, Einwanderung
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einer Personalisierung notwendig,13 wenn also die Daten zu einer konkreten Person in Bezug gesetzt werden. Die konkrete Ausgestaltung der Vorratsdatenspeicherung in §§ 113a, 113b TKG und § 100g StPO hat das BVerfG im Rahmen des nationalen Umsetzungsspielraums gesehen und sie daher wegen Unvereinbarkeit mit Art. 10 Abs. 1 GG für verfassungswidrig und nichtig erklärt.14 Allerdings ist eine Speicherungspflicht in dem vorgesehenen Umfang nicht von vornherein schlechthin verfassungswidrig, es fehlte lediglich eine dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechende Ausgestaltung.15
B. Grenzkontrollen, Asyl, Einwanderung Als ersten Bereich des RFSR regeln Art. 77 ff. AEUV die Politik im Bereich 663 Grenzkontrollen, Asyl und Einwanderung. I. Grenzkontrollen Art. 77 Abs. 1 AEUV wiederholt dabei zunächst noch einmal speziell für den 664 Bereich der Grenzkontrollen den Grundsatz der Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen bei gleichzeitiger Verlagerung der Kontrollen an die EUAußengrenzen. Die erforderlichen Ermächtigungsgrundlagen für diesen Bereich finden sich dann in Art. 77 Abs. 2 AEUV. 1. Binnengrenzen Art. 77 Abs. 1 lit. a) AEUV sieht demnach die vollständige Abschaffung der 665 Grenzkontrollen an den Binnengrenzen vor. Er verlangt also eine Freizügigkeit aller Personen unabhängig von der Staatsangehörigkeit und dem Reisezweck. Von dieser Freizügigkeit sollen nicht nur Unionsbürger, sondern auch Drittstaatsangehörige und Staatenlose profitieren. Die Rechtsgrundlage für die vollständige Abschaffung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen findet sich in Art. 77 Abs. 2 lit. e) AEUV. Die Voraussetzungen, unter denen sich Drittstaatsangehörige innerhalb der Union während eines kurzen Zeitraums frei bewegen können, sind nach Art. 77 Abs. 2 lit. c) AEUV bestimmbar. Sekundärrechtlich verwirklicht sind diese Vorgaben bereits im Schengener 666 Grenzkodex.16 Dieser sieht vor, dass keine Grenzkontrollen in Bezug auf Personen stattfinden, die die Binnengrenzen zwischen den Mitgliedstaaten der EU überschreiten. Die Binnengrenzen dürfen grundsätzlich unabhängig von der Staatsangehörigkeit der betreffenden Personen an jeder Stelle ohne Personenkontrollen überschritten werden. Im Falle einer schwerwiegenden Bedrohung der öffentli13 14 15 16
S. EGMR, NJW 2007, 1433 (1437 ff.) – Weber und Sasavia/Deutschland; näher Frenz, Europarecht 4, Rn. 1348 ff., 1450 ff., 1462 ff. BVerfGE 125, 260 – Vorratsdatenspeicherung. BVerfGE 125, 260 (315 f.) – Vorratsdatenspeicherung. VO (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.3.2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex), ABl. L 105, S. 1.
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chen Ordnung oder inneren Sicherheit kann ein Mitgliedstaat aber ausnahmsweise auch an seinen Binnengrenzen zeitlich befristet wieder Grenzkontrollen einführen (vgl. Art. 72 AEUV). 2. Außengrenzen 667 Die Kontrollen werden an die Außengrenzen verlagert. Die Rechtsgrundlage für Maßnahmen im Bereich der Kontrollen, denen Personen beim Überschreiten der Außengrenzen unterzogen werden, findet sich in Art. 77 Abs. 2 lit. b) AEUV. Die Basis für Maßnahmen in Bezug auf Visa und andere kurzfristige Aufenthaltstitel bildet Art. 77 Abs. 2 lit. a) AEUV. Alle Maßnahmen, die für die schrittweise Einführung eines integrierten Grenzschutzsystems an den Außengrenzen erforderlich sind, können auf Art. 77 Abs. 2 lit. d) AEUV gestützt werden. 668 Der Schengener Grenzkodex legt auch Regeln für die Grenzkontrollen und Einreisebedingungen in Bezug auf Personen fest, die die Außengrenzen der Mitgliedstaaten der EU überschreiten wollen. Die Außengrenzen dürfen grundsätzlich nur an den Grenzübergangsstellen und während der festgesetzten Verkehrsstunden überschritten werden. Ob Drittstaatsangehörige für einen Aufenthalt ein gültiges Visum vorlegen müssen, richtet sich nach der VO (EG) Nr. 539/2001.17 Drittstaatsangehörige dürfen zudem insbesondere nicht im Schengener Informationssystem (SIS)18 zur Einreiseverweigerung ausgeschrieben sein. Bei letzterem handelt es sich um eine spezielle Datenbank, die den zuständigen Behörden der Schengen-Staaten den Datenaustausch über konkrete polizeilich bzw. strafrechtlich relevante Tatbestände ermöglicht. Im Bereich der gemeinsamen Visapolitik hat die Union unter anderem auch das 669 Visa-Informationssystem (VIS) als System für den Austausch von Visa-Daten zwischen den Mitgliedstaaten geschaffen.19 Was genau unter der Einführung eines integrierten Grenzschutzsystems zu 670 verstehen ist, wird weder in der programmatischen Zuweisung in Art. 77 Abs. 1 lit. c) AEUV noch in der Kompetenzzuweisung in Art. 77 Abs. 2 lit. d) AEUV näher definiert. Die Koordinierungsaufgaben bei der Sicherung der Außengrenzen obliegen bisher schon der Europäischen Agentur für die operative Zusammen-
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VO (EG) Nr. 539/2001 des Rates vom 15.3.2001 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind, ABl. L 81, S. 1. S. aktuell das Schengener Informationssystem der zweiten Generation (SIS II), VO (EG) Nr. 1987/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.12.2006 über die Einrichtung, den Betrieb und die Nutzung des Schengener Informationssystems der zweiten Generation (SIS II), ABl. L 381, S. 4. Entscheidung 2004/512/EG des Rates vom 8.6.2004 zur Einrichtung des VisaInformationssystems, ABl. L 213, S. 5; vgl. auch die VIS-VO (EG) Nr. 767/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 9.7.2008 über das VisaInformationssystem (VIS) und den Datenaustausch zwischen den Mitgliedstaaten über Visa für einen kurzfristigen Aufenthalt (VIS-VO), ABl. L 218, S. 60.
B. Grenzkontrollen, Asyl, Einwanderung
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arbeit an den Außengrenzen (Frontex).20 Zudem bestehen Soforteinsatzteams für Grenzsicherungszwecke (RABIT)21, die für eine begrenzte Dauer eine verstärkte technische und operative Unterstützung eines Mitgliedstaates durch Grenzschutzbeamte anderer Mitgliedstaaten ermöglichen. 3. Freizügigkeitsrecht für Unionsbürger Art. 77 Abs. 3 AEUV enthält eine subsidiäre Kompetenz, um die Ausübung des in 671 Art. 20 Abs. 2 lit. a) AEUV genannten Freizügigkeitsrechts für Unionsbürger zu erleichtern. Der Rat kann demnach Bestimmungen betreffend Pässe, Personalausweise, Aufenthaltstitel oder diesen gleichgestellten Dokumenten erlassen. In Zukunft könnte etwa eine Änderung der VO (EG) Nr. 2252/200422 auf Art. 77 Abs. 3 AEUV gestützt werden.23 II. Asyl Nach Art. 78 Abs. 1 S. 1 AEUV entwickelt die Union desweiteren eine gemein- 672 same Politik im Bereich Asyl, subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz, mit der jedem Drittstaatsangehörigen, der internationalen Schutz benötigt, ein angemessener Status angeboten und die Einhaltung des Grundsatzes der NichtZurückweisung gewährleistet werden soll. Nach Art. 78 Abs. 2 AEUV sind die Maßnahmen der Union auf die Errichtung eines gemeinsamen europäischen Asylsystems gerichtet,24 so dass eine Vollharmonisierung des materiellen Asylrechts und des Asylverfahrensrechts vorgegeben ist. 25 Art. 78 Abs. 2 lit. a)-g) AEUV zählen einzelne Bereiche dieses gemeinsamen europäischen Asylsystems auf. Bei einer Notlage aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen kann der Rat auf Vorschlag der Kommission nach Art. 78 Abs. 3 AEUV zudem vorläufige Maßnahmen zugunsten der betreffenden Mitgliedstaaten treffen.
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VO (EG) Nr. 2007/2004 des Rates vom 26.10.2004 zur Errichtung einer Europäischen Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union, ABl. L 349, S. 1. Rapid Border Intervention Teams; VO (EG) Nr. 863/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.7.2007 über einen Mechanismus zur Bildung von Soforteinsatzteams für Grenzsicherungszwecke und zur Änderung der VO (EG) Nr. 2007/2004 des Rates hinsichtlich dieses Mechanismus und der Regelung der Aufgaben und Befugnisse von abgestellten Beamten, ABl. L 199, S. 30. Des Rates vom 13.12.2004 über Normen für Sicherheitsmerkmale und biometrische Daten in von den Mitgliedstaaten ausgestellten Pässen und Reisedokumenten, ABl. L 385, S. 1. So Hoppe, in: Lenz/Borchardt, Art. 78 AEUV Rn. 15. Classen, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 37 Rn. 14. Hailbronner, in: Hummer/Obwexer (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon, 2009, S. 361 (365 f.).
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Kapitel 6: Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
Das bisherige Sekundärrecht enthält überwiegend Mindestnormen für die Gewährung von Asyl.26 Die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrages zuständigen Mitgliedstaats ist in der sogenannten Dublin II-VO27 geregelt. Zudem wurde ein elektronisches Fingerabdruckvergleichssystem („EURODAC“) für den Vergleich der Fingerabdrücke von Asylbewerbern und illegalen Einwanderern eingerichtet.28 Zur finanziellen Unterstützung einzelner Maßnahmen und damit zur Lastenverteilung wurde der Europäische Flüchtlingsfonds (EFF) eingerichtet.29 III. Einwanderung
674 Nach Art. 79 Abs. 1 AEUV entwickelt die Union eine gemeinsame Einwanderungspolitik, die in allen Phasen eine wirksame Steuerung der Migrationsströme, eine angemessene Behandlung von Drittstaatsangehörigen, die sich rechtmäßig in einem Mitgliedstaat aufhalten, sowie die Verhütung und verstärkte Bekämpfung von illegaler Einwanderung und Menschenhandel gewährleisten soll. Die Einwanderungspolitik der EU ist also, anders als die Bezeichnung vermuten lässt, nicht auf eine aktive Zuwanderungspolitik gerichtet, sondern hat vor allem die Verhinderung illegaler Einwanderung im Blick.30 Art. 79 Abs. 2 lit. a)-d) AEUV nennt die einzelnen Bereiche der Einwande675 rungspolitik der Union. Seit dem Vertrag von Lissabon kann die Union außerdem nach Art. 79 Abs. 3 AEUV Übereinkünfte über eine „Rückübernahme“ von Drittstaatsangehörigen treffen (Rückübernahmeabkommen). Die Integrationsbemühungen der Mitgliedstaaten können des Weiteren nach Art. 79 Abs. 4 AEUV durch Maßnahmen der Union gefördert und unterstützt werden. Eine Harmonisie26
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Vgl. RL 2004/83/EG des Rates vom 29.4.2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. L 304, S. 12; RL 2003/9/EG des Rates vom 27.1.2003 über Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten, ABl. L 31, S. 18; RL 2005/85/EG des Rates vom 1.12.2005 über Mindestnormen für Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Zuerkennung und Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft, ABl. L 326, S. 13. VO (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18.2.2003 zur Festlegung von Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, den ein Staatsangehöriger eines Drittlandes in einem Mitgliedstaat gestellt hat, ABl. L 50, S. 1; s. auch die DurchführungsVO (EG) Nr. 1560/2003, ABl. L 222, S. 3. VO (EG) Nr. 2725/2000 des Rates vom 11.12.2000 über die Einrichtung von „Eurodac“ für den Vergleich von Fingerabdrücken zum Zwecke der effektiven Anwendung des Dubliner Übereinkommens, ABl. L 316, S. 1. Entscheidung 573/2007/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23.5.2007 zur Einrichtung des Europäischen Flüchtlingsfonds für den Zeitraum 2008-2013 innerhalb des Generellen Programms „Solidarität und Steuerung der Migrationsströme“ und zur Aufhebung der Entscheidung 2004/904/EG des Rates, ABl. L 144, S. 1. Classen, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 37 Rn. 20.
C. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen
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rung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten ist jedoch ausdrücklich ausgeschlossen. Nach Art. 79 Abs. 5 AEUV können die Mitgliedstaaten trotz der europäischen 676 Einwanderungspolitik weiterhin festlegen, wie viele Drittstaatsangehörige aus Drittländern in ihr Hoheitsgebiet einreisen dürfen, um dort als Arbeitnehmer oder Selbstständige Arbeit zu suchen. Die Frage, inwieweit die Union eine Kompetenz für die Arbeitsmarktpolitik hat, war bisher heftig umstritten.31 Im Bereich der Einwanderungspolitik der Union hat bereits eine umfassende 677 sekundärrechtliche Umsetzung stattgefunden.32 So wurde unter anderem ein einheitlicher Aufenthaltstitel für Drittstaatsangehörige geschaffen.33 Mit der sogenannten blauen Karte EU wurden die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von hochqualifizierten Arbeitskräften festgelegt. 34 Die sogenannte Abschiebe-Richtlinie regelt Mindeststandards für die Rückführung illegaler Einwanderer.35 IV. Grundsatz der Solidarität und der gerechten Lastenverteilung Für die Politik der Union in den genannten Bereichen Grenzkontrollen, Asyl und 678 Einwanderung ist nach Art. 80 AEUV der Grundsatz der Solidarität und der gerechten Lastenverteilung unter den Mitgliedstaaten, und zwar auch in finanzieller Hinsicht, zu beachten. Die einzelnen Rechtsakte müssen bei Bedarf Ausgleichsregelungen vorsehen. Maßnahmen, die einzelne Mitgliedstaaten unverhältnismäßig stark belasten, sind nicht ohne gleichzeitige Regeln über eine Lastenverteilung möglich. Art. 80 AEUV ist insofern eine spezielle Ausprägung des allgemeinen Solidaritätsprinzips für den Bereich der Asyl- und Einwanderungspolitik.
C. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen Als weiteren Bereich des RFSR regelt Art. 81 AEUV die justizielle Zusammenar- 679 beit in Zivilsachen.
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S. Frenz, ZESAR 2010, 399. Vgl. die Übersicht bei Frenz, Europarecht 6, Rn. 2905 ff. VO (EG) Nr. 1030/2002 vom 13.6.2002 zur einheitlichen Gestaltung des Aufenthaltstitels für Drittstaatenangehörige, ABl. L 157, S. 1. RL 2009/50/EG des Rates vom 25.5.2009 über die Bedingungen für die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen zur Ausübung einer hochqualifizierten Beschäftigung, ABl. L 155, S. 17. RL 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.12.2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger, ABl. L 348, S. 98.
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Kapitel 6: Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
I. Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung 680 Diese beruht nach Art. 81 Abs. 1 AEUV auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher und außergerichtlicher Entscheidungen und in einzelnen Bereichen auf einer Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten. Danach anerkennen die zuständigen Behörden im Vollstreckungsstaat eine übermittelte Entscheidung ohne jede weitere Formalität und haben unverzüglich alle erforderlichen Maßnahmen zu deren Vollstreckung zu treffen; Ausnahmen sind nur bei ausdrücklich normierten Gründen zulässig. 36 Die zur Erreichung dieser Zielsetzung im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren 681 zu erlassenden Maßnahmen regelt Art. 81 Abs. 2 AEUV. Diese sollen insbesondere das reibungslose Funktionieren des Binnenmarktes sicherstellen. Das BVerfG verlangt zudem einen grenzüberschreitenden Bezug. 37 Die in Art. 81 Abs. 2 AEUV genannten Fallgruppen sind abschließend formuliert. Das gilt auch für eine Harmonisierung nach Art. 81 Abs. 1 S. 2 AEUV38 und für die Maßnahmen im Familienrecht.39 In Betracht kommen vor allem Maßnahmen in den Bereichen des Verfahrens- und Kollisionsrechts.40 Harmonisierungsmaßnahmen im Bereich des materiellen Zivilrechts müssen hingegen weiterhin auf die allgemeine Binnenmarktkompetenz in Art. 114 AEUV gestützt werden.41 In Einzelfällen kann auch die Rechtsprechung des EuGH zu den Grundfreiheiten und zur Unionsbürgerschaft zu einer Rechtsangleichung führen.42 Für das Familienrecht enthält Art. 81 Abs. 3 AEUV besondere Vorschriften. 682 In diesem besonders sensiblen Bereich ist Einstimmigkeit im Rat erforderlich. Ein Übergang zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren ist aber nach der PasserelleRegelung (Brückenklausel) in Art. 81 Abs. 3 UAbs. 2 und 3 AEUV möglich. Den mitgliedstaatlichen Parlamenten kommt dabei ein Widerspruchsrecht zu. In Deutschland müssen die gesetzgebenden Organe aber im Vorhinein zustimmen, und zwar durch Gesetz nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG, weil eine Blockademöglichkeit und damit praktisch ein Teil nationaler Souveränität aufgegeben wird. 43 II. Sekundärrecht 683 Für die justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen besteht vielfältiges Sekundärrecht.44 Für den Bereich des Verfahrensrechts zu nennen sind unter anderem die 36 37 38 39 40 41 42 43 44
Zerdick, in: Lenz/Borchardt, Art. 82 AEUV Rn. 3. BVerfGE 123, 267 (414 f.) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (414 f.) – Lissabon. Dies gilt auch für die Erweiterungsmöglichkeit nach Art. 81 Abs. 3 S. 2 und 3 AEUV, vgl. BVerfGE 123, 267 (416) – Lissabon. Classen, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 37 Rn. 22 ff. Dieser diente etwa als Rechtsgrundlage für die Verbraucherkreditrichtlinie und die Überweisungsrichtlinie, die beide im BGB umgesetzt wurden. Vgl. EuGH, Rs. C-353/06, Slg. 2008, I-7639 – Grunkin. BVerfGE 123, 267 (390 f., 414, 434 ff.) – Lissabon auch zu anderen Bereichen. Näher Frenz, Europarecht 6, Rn 2940 ff.
C. Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen
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EuGVV,45 die ZustellungsVO (EuZVO),46 die BeweisaufnahmeVO (EuBVO),47 die ProzesskostenRL,48 die Verordnungen über den europäischen Vollstreckungstitel bei unbestrittenen Forderungen,49 über das europäische Mahnverfahren50 und über die Geltendmachung geringfügiger Forderungen. 51 Als Kollisionsrecht regelt die Rom I-VO52 das Internationale Privatrecht der EU im Bereich der vertraglichen Schuldverhältnisse und die Rom II-VO53 im Bereich der außervertraglichen Schuldverhältnisse. Ergänzend wurde zudem ein Europäisches Justizielles Netz für Zivil- und Handelssachen eingerichtet, das die justizielle Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten erleichtert und der umfassenden Information der Mitgliedstaaten und der Öffentlichkeit über das jeweilige nationale und unionsrechtliche Zivil- und Handelsrecht dient.54
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VO (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22.12.2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, ABl. 2001 L 12, S. 1. VO (EG) Nr. 1393/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.11.2007 über die Zustellung gerichtlicher und außergerichtlicher Schriftstücke in Zivil- oder Handelssachen in den Mitgliedstaaten (Zustellung von Schriftstücken) und zur Aufhebung der VO (EG) Nr. 1348/2000 des Rates, ABl. L 324, S. 79. S. ergänzend §§ 1067 ff. ZPO. VO (EG) Nr. 1206/2001 des Rates vom 28.5.2001 über die Zusammenarbeit zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Beweisaufnahme in Zivil- oder Handelssachen, ABl. L 174, S. 1. S. ergänzend §§ 1072 ff. ZPO. RL 2002/8/EG des Rates vom 27.1.2003 zur Verbesserung des Zugangs zum Recht bei Streitsachen mit grenzüberschreitendem Bezug durch Festlegung gemeinsamer Mindestvorschriften für die Prozesskostenhilfe in derartigen Streitsachen, ABl. L 26, S. 41. S. ergänzend §§ 1076 ff. ZPO. VO (EG) Nr. 805/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.4.2004 zur Einführung eines europäischen Vollstreckungstitels für unbestrittene Forderungen, ABl. L 143, S. 15. S. ergänzend §§ 1079 ff. ZPO. VO (EG) Nr. 1896/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2006 zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens, ABl. L 399, S. 1. S. ergänzend §§ 1087 ff. ZPO. VO (EG) Nr. 861/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.7.2007 zur Einführung eines europäischen Verfahrens für geringfügige Forderungen, ABl. L 199, S. 1. S. ergänzend §§ 1097 ff. ZPO. VO (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17.6.2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I), ABl. L 177, S. 6. VO (EG) Nr. 864/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.7.2007 über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom II), ABl. L 199, S. 40. Entscheidung 2001/470/EG des Rates vom 28.5.2001 über die Einrichtung eines Europäischen Justiziellen Netzes für Zivil- und Handelssachen, ABl. L 174, S. 25.
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D. Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen I. Grundsatz der Anerkennung und Angleichung der Rechtsvorschriften 684 Die justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen in der Union beruht als weiterer Bereich des RFSR ebenso auf dem Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und umfasst die Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten in den in Art. 82 Abs. 2 und Art. 83 AEUV aufgeführten Bereichen (Art. 82 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV). Maßnahmen werden nach Art. 82 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren gemäß Art. 294 AEUV erlassen. Sie müssen sich auf die in Art. 82 Abs. 1 UAbs. 2 lit. a)-d) AEUV abschließend aufgeführten Bereiche erstrecken. Die gegenseitige Anerkennung von Urteilen und gerichtlichen Entscheidungen 685 gemäß Art. 82 Abs. 1 UAbs. 2 lit. a) AEUV wurde in der Vergangenheit durch den Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl verwirklicht.55 Dieser sieht vor, dass einer Straftat verdächtigte Personen und verurteilte Straftäter, die sich ins Ausland abgesetzt haben, umgehend an das Land ausgeliefert werden können, in dem sie vor Gericht gestellt werden sollen bzw. wurden. Das in Deutschland zur Umsetzung dieses Rahmenbeschlusses zunächst verab686 schiedete Europäische Haftbefehlsgesetz (EuHbG)56 hat das BVerfG wegen Verstoßes gegen das Grundrecht auf Auslieferungsfreiheit (Art. 16 Abs. 2 GG) und die Rechtsweggarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) für verfassungswidrig und nichtig erklärt, da der Gesetzgeber die bestehenden Gestaltungsspielräume zugunsten der deutschen Staatsangehörigen nicht im verfassungsrechtlich gebotenen Umfang ausgeschöpft hatte. Die Umsetzungsspielräume müssen im Hinblick auf die dann eingreifenden nationalen Grundrechte schonend ausgefüllt werden. Der Einzelne hat aber grundsätzlich Anspruch darauf, mit seiner ihm bekannten Rechtsordnung konfrontiert und nicht ohne Weiteres an fremde Staaten überstellt zu werden. Daher bedurfte es näherer Differenzierung, einer Ausklammerung von Taten mit maßgeblichem Inlandsbezug und einer konkreten Einzelfallprüfung. 57 Der Gesetzgeber erließ daraufhin ein überarbeitetes Europäisches Haftbefehlsgesetz (EuHbG).58 Art. 82 Abs. 1 UAbs. 2 lit. d) AEUV sieht Maßnahmen zur Erleichterung der 687 Zusammenarbeit zwischen den Justizbehörden im Rahmen der Strafverfolgung sowie des Vollzuges und der Vollstreckung von Entscheidungen vor. Es wurde 55
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Rahmenbeschluss 2002/584/JI des Rates vom 13.6.2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten – Stellungnahmen bestimmter Mitgliedstaaten zur Annahme des Rahmenbeschlusses, ABl. L 190, S. 1; zu dessen Vereinbarkeit mit Primärrecht EuGH, Rs. C-303/05, Slg. 2007, I-3633 – Europäischer Haftbefehl. Zum weiteren ergangenen Sekundärrecht vgl. Frenz, Europarecht 6, Rn. 3000 ff. BGBl. I 2004 S. 1748. BVerfGE 113, 273 (300 ff.) – Europäischer Haftbefehl. BGBl. I 2006 S. 1721.
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das Europäische Justizielle Netz (EJN)59 eingerichtet. Dieses dient dazu, über ein Netz nationaler Kontaktstellen die justizielle Zusammenarbeit sowie den Austausch rechtlicher und praktischer Informationen zwischen den Mitgliedstaaten insbesondere bei der Verfolgung der schweren Kriminalität aktiv zu unterstützen. Weiterhin wurden die Durchführung und der Inhalt des Austauschs von Informationen aus dem Strafregister zwischen den Mitgliedstaaten geregelt60 sowie darauf gestützt ein Europäisches Strafregisterinformationssystem (ECRIS) etabliert.61 II. Mindestvorschriften 1. Verfahrensrecht a) Anforderungen Im Bereich des Strafverfahrensrechts besteht seit dem Vertrag von Lissabon 688 nach Art. 82 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV zudem die Möglichkeit, für einzelne Aspekte gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Richtlinien Mindestvorschriften festzulegen. Voraussetzung ist, dass dies zur Erleichterung der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Urteile und Entscheidungen und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit mit grenzüberschreitender Dimension erforderlich ist. Das BVerfG verlangt eine enge Auslegung dieser Tatbestandsmerkmale im Sinne einer tatsächlichen grenzüberschreitenden Dimension. 62 Bei diesen Mindestvorschriften müssen nach Art. 82 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 AEUV zudem die Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen und -traditionen der Mitgliedstaaten berücksichtigt werden. Die möglichen Gegenstände einer Mindestangleichung regelt Art. 82 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV.63 Nach Art. 82 Abs. 2 UAbs. 2 lit. d) AEUV können in lit. a)-c) nicht ausdrücklich aufgezählte „sonstige spezifische Aspekte des Strafverfahrens“ durch einen einstimmigen Ratsbeschluss nach Zustimmung des Europäischen Parlaments als Gegenstände der Mindestangleichung bestimmt werden. b) Brückenverfahren Das Erfordernis der Einstimmigkeit für Beschlüsse nach Art. 82 Abs. 2 UAbs. 2 689 lit. d) AEUV kann durch ebenfalls notwendig einstimmigen Beschluss des Europäischen Rates gemäß Art. 48 Abs. 7 EUV im Wege des allgemeinen Brücken59 60
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62 63
Beschluss 2008/976/JI des Rates vom 16.12.2008 über das Europäische Justizielle Netz, ABl. L 348, S. 130. Rahmenbeschluss 2009/315/JI des Rates vom 26.2.2009 über die Durchführung und den Inhalt des Austauschs von Informationen aus dem Strafregister zwischen den Mitgliedstaaten, ABl. L 93, S. 23. Beschluss 2009/316/JI des Rates vom 6.4.2009 zur Einrichtung des Europäischen Strafregisterinformationssystems (ECRIS) gemäß Art. 11 des Rahmenbeschlusses 2009/315/JI, ABl. L 93, S. 33. BVerfGE 123, 267 (410 f.) – Lissabon. Zum Sekundärrecht in diesen Bereichen vgl. Frenz, Europarecht 6, Rn. 3022 f.
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verfahrens zu einem solchen bloß qualifizierter Mehrheit umgewandelt werden. Damit der deutsche Ratsvertreter einem solchen Beschluss zustimmen kann, bedarf es eines Gesetzes nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG.64 c) Notbremsemechanismus 690 Die Mitgliedstaaten sind nach Art. 82 Abs. 2 UAbs. 3 AEUV nicht gehindert, ein höheres Schutzniveau für den Einzelnen beizubehalten oder einzuführen. Ist ein Mitgliedstaat der Auffassung, dass ein Entwurf einer Richtlinie grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung berühren würde, kann er zudem beantragen, dass das ordentliche Gesetzgebungsverfahren ausgesetzt und der Europäische Rat befasst wird (Art. 82 Abs. 3 AEUV). Es handelt sich um einen sogenannten Notbremsemechanismus.65 Der deutsche Vertreter muss vor der Abstimmung jedoch zunächst die Weisung des Deutschen Bundestages und, soweit Regelungen über die Gesetzgebung dies erfordern, des Bundesrates einholen.66 2. Materielles Strafrecht a) Anforderungen 691 Nach Art. 83 Abs. 1 AEUV können gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Richtlinien zudem Mindestvorschriften zur Festlegung von Straftaten und Strafen in Bereichen besonders schwerer Kriminalität festgelegt werden. Voraussetzung ist auch hier eine grenzüberschreitende Dimension. b) Dynamische Blankettermächtigung 692 Die in Art. 83 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV genannten Kriminalitätsbereiche sind zunächst abschließend.67 Nach Art. 83 Abs. 1 UAbs. 3 AEUV können, „je nach Entwicklung der Kriminalität“ durch einen einstimmigen Ratsbeschluss nach Zustimmung des Europäischen Parlaments aber weitere Kriminalitätsbereiche bestimmt werden. Insoweit handelt es sich um eine dynamische Blankettermächtigung, deren Gebrauch nach dem BVerfG einer Erweiterung der geschriebenen Kompetenzen der Union gleichkommt und daher dem Gesetzesvorbehalt nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG unterliegt. 68 Auch inhaltlich macht das BVerfG Vorgaben.69 c) Brückenverfahren 693 Die notwendige Einstimmigkeit für die Festlegung anderer Kriminalitätsbereiche nach Art. 83 Abs. 1 UAbs. 3 AEUV kann ein einstimmiger Beschluss des Europä64 65 66 67 68 69
BVerfGE 123, 267 (414) – Lissabon. Lenski, in: Pernice (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon: Reform der EU ohne Verfassung?, 2008, S. 99 (101). BVerfGE 123, 267 (413 f.) – Lissabon. Zerdick, in: Lenz/Borchardt, Art. 83 AEUV Rn. 5. BVerfGE 123, 267 (413 f.) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (413 f.) – Lissabon.
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ischen Rates nach dem allgemeinen Brückenverfahren gemäß Art. 48 Abs. 7 EUV in ein bloßes qualifiziertes Mehrheitserfordernis verwandeln. Grundlage für eine entsprechende Zustimmung des deutschen Ratsvertreters ist aber wiederum ein von Bundestag und Bundesrat verabschiedetes Gesetz nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG.70 d) Annex-Kompetenz Über diese Kompetenz zur Rechtsangleichung im Strafrecht hinaus führt der Ver- 694 trag von Lissabon eine strafrechtliche Annex-Kompetenz der EU für alle Gebiete ein, auf denen Harmonisierungsmaßnahmen erfolgt sind.71 Art. 83 Abs. 2 AEUV ermächtigt zum Erlass von Mindestvorschriften durch Richtlinien für die Festlegung von Straftaten und Strafen, sofern sich die Angleichung der strafrechtlichen Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten als unerlässlich für die wirksame Durchführung der Politik der Union auf diesen Gebieten erweist. Eine grenzüberschreitende Dimension ist hier nicht erforderlich. Das BVerfG verlangt aber den Nachweis, dass in dem betroffenen Sachbereich tatsächlich ein gravierendes Vollzugsdefizit besteht und nur durch Strafandrohung beseitigt werden kann.72 Das Gesetzgebungsverfahren zum Erlass der Mindestvorschriften richtet sich gemäß Art. 83 Abs. 2 S. 2 AEUV nach dem Verfahren, mit dem die Harmonisierungsmaßnahmen des betreffenden Politikbereichs erlassen worden sind. e) Notbremsemechanismus Parallel zu Art. 82 Abs. 3 AEUV kann nach Art. 83 Abs. 3 AEUV auch hier im 695 Rahmen des sogenannten Notbremsemechanismus ein Mitgliedstaat verlangen, dass das Gesetzgebungsverfahren ausgesetzt und der Europäische Rat befasst wird, wenn er der Auffassung ist, dass der Entwurf einer Richtlinie grundlegende Aspekte seiner Strafrechtsordnung berühren würde. Auch insoweit muss der deutsche Vertreter im Rat die Weisung von Bundestag und, falls von der nationalen Gesetzgebungskompetenz her erforderlich, des Bundesrates einholen.73 III. Kriminalprävention Gemäß Art. 84 AEUV können im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren zudem 696 Maßnahmen zur Förderung und Unterstützung des Vorgehens der Mitgliedstaaten im Bereich der Kriminalprävention erlassen werden. Dies hat unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechtsvorschriften zu erfolgen.
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BVerfGE 123, 267 (414) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (296) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (412 f.) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (413 f.) – Lissabon.
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IV. Eurojust 697 In den Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen fällt nach Art. 85 AEUV zudem die Tätigkeit von Eurojust, der europäischen Justizbehörde mit Sitz in Den Haag.74 Eurojust hat den Auftrag, die Koordinierung und Zusammenarbeit zwischen den nationalen Behörden zu unterstützen und zu verstärken, die für die Ermittlung und Verfolgung von schwerer grenzüberschreitender Kriminalität zuständig sind, wenn zwei oder mehr Mitgliedstaaten betroffen sind oder eine Verfolgung auf gemeinsamer Grundlage erforderlich ist. Dabei stützt sich Eurojust auf die von den Behörden der Mitgliedstaaten und von Europol durchgeführten Operationen und gelieferten Informationen (Art. 85 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV). Der Aufbau, die Arbeitsweise, der Tätigkeitsbereich und die Aufgabenzuwei698 sung an Eurojust werden nach Art. 85 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Verordnung festgelegt. Art. 85 Abs. 1 UAbs. 2 lit. a)-c) AEUV benennt exemplarisch die möglichen Aufgaben. Demnach kann Eurojust nun insbesondere die Aufgabe übertragen werden, strafrechtliche Ermittlungsmaßnahmen einzuleiten und zu koordinieren (lit. a)). Auch die Nutzung dieser Kompetenzgrundlage bedarf wegen der besonders empfindlichen Berührung der demokratischen Selbstbestimmung durch Straf- und Strafverfahrensnormen nach dem BVerfG jedoch strikter Auslegung und einer besonderen Rechtfertigung.75 Sie ergibt sich aus der Betroffenheit verschiedener Mitgliedstaaten bzw. der erforderlichen Verfolgung auf gemeinsamer Grundlage durch den grenzüberschreitenden Charakter der erfassten schweren Kriminalität. Im Übrigen bleiben förmliche Prozesshandlungen den nationalen Strafverfolgungsbehörden vorbehalten (Art. 85 Abs. 2 AEUV). V. Europäische Staatsanwaltschaft 699 Durch den Vertrag von Lissabon neu eingeführt wurde zudem die Möglichkeit eine Europäische Staatsanwaltschaft einzusetzen (Art. 86 AEUV). Sie ist gemäß Art. 86 Abs. 1 AEUV zunächst auf die Bekämpfung von Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union beschränkt. Durch die PasserelleRegelung (Brückenklausel) in Art. 86 Abs. 4 AEUV können die Befugnisse der Europäischen Staatsanwaltschaft aber auf die Bekämpfung der schweren Kriminalität mit grenzüberschreitender Dimension ausgeweitet werden; gleichgestellt wird die Ausweitung auf Täter oder Teilnehmer schwerer Straftaten, die mehr als einen Mitgliedstaat betreffen. Das BVerfG verlangt dafür wieder ein der Zu74
75
Errichtet durch Beschluss 2002/187/JI des Rates vom 28.2.2002 über die Errichtung von Eurojust zur Verstärkung der Bekämpfung der schweren Kriminalität, ABl. L 63, S. 1; umgesetzt in Deutschland durch Gesetz zur Umsetzung des Beschlusses (2002/187/JI) des Rates vom 28.2.2002 über die Errichtung von Eurojust zur Verstärkung der Bekämpfung der schweren Kriminalität (Eurojust-Gesetz – EJG), BGBl. I 2004 S. 902. BVerfGE 123, 267 (410) – Lissabon, von der Anordnung und offenen Formulierung auch mit Bezug auf S. 407 f.
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stimmung vorausgehendes, durch Bundestag und Bundesrat verabschiedetes Gesetz nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG sowie inhaltlich das Vorliegen tatsächlich grenzüberschreitender Anhaltspunkte, und zwar gestützt auf die verfolgte Straftat.76 Die Aufgabe der Europäischen Staatsanwaltschaft erstreckt sich gemäß Art. 86 700 Abs. 2 S. 1 AEUV neben der strafrechtlichen Untersuchung und Verfolgung auch auf die Anklageerhebung in Bezug auf Personen, die als Täter oder Teilnehmer Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union begangen haben. Die Europäische Staatsanwaltschaft nimmt dabei die Aufgaben der nationalen Staatsanwaltschaft wahr und ersetzt diese insofern (Art. 86 Abs. 2 AEUV). Bisher ist die Einsetzung einer Europäischen Staatsanwaltschaft noch nicht er- 701 folgt. Dies könnte „ausgehend von Eurojust“ nach dem in Art. 86 Abs. 1 AEUV beschriebenen besonderen Gesetzgebungsverfahren erfolgen. Sollte auch hier das allgemeine Brückenverfahren nach Art. 48 Abs. 7 UAbs. 1 oder 2 EUV zur Anwendung kommen, verlangt das BVerfG wiederum ein Übertragungsgesetz. 77
E. Polizeiliche Zusammenarbeit I. Entwicklung einer polizeilichen Zusammenarbeit Der RFSR umfasst nach Art. 87 Abs. 1 AEUV ferner die Entwicklung einer poli- 702 zeiliche Zusammenarbeit zwischen allen zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten einschließlich der Polizei, des Zolls und anderer auf die Verhütung oder die Aufdeckung von Straftaten sowie entsprechende Ermittlungen spezialisierter Strafverfolgungsbehörden. Hierfür können im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren die in Art. 87 Abs. 2 AEUV benannten Maßnahmen erlassen werden. Maßnahmen zur Ermöglichung einer operativen Zusammenarbeit können nach Art. 87 Abs. 3 UAbs. 1 AEUV allerdings nur im besonderen Gesetzgebungsverfahren mit einem einstimmigen Beschluss des Rates nach Anhörung des Europäischen Parlaments erlassen werden. Auch insoweit kann der Europäische Rat gemäß Art. 48 Abs. 7 EUV einen Übergang zur qualifizierten Mehrheit bzw. zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren beschließen. Der deutsche Vertreter darf aber wieder nur zustimmen, wenn zuvor ein Gesetz nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG erging.78 II. Europol Teil der polizeiliche Zusammenarbeit ist nach Art. 88 AEUV zudem die Tätigkeit 703 des Europäischen Polizeiamtes Europol, einer grenzüberschreitend tätigen euro-
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Vgl. BVerfGE 123, 267 (410 f.) – Lissabon. Vgl. BVerfGE 123, 267 (390 f.) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (390 f.) – Lissabon.
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Kapitel 6: Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts
päischen Polizeibehörde mit Sitz in Den Haag.79 Europol hat nach Art. 88 Abs. 1 AEUV den Auftrag, die Tätigkeit der nationalen Polizeibehörden und der anderen Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten sowie deren gegenseitige Zusammenarbeit zu unterstützen und zu verstärken, sofern die Verhütung und Bekämpfung der zwei oder mehr Mitgliedstaaten betreffenden schweren Kriminalität, des Terrorismus und der Kriminalitätsformen, die ein gemeinsames Interesse verletzen, das Gegenstand einer Politik der Union ist, betroffen sind. Auch insoweit bedarf es nach den Vorgaben des BVerfG eines grenzüberschreitenden bzw. auf die Union ausgerichteten Bezuges, der die Einschaltung einer Stelle der Union in die Strafverfolgung auf der Basis einer vertraglichen Kompetenzgrundlage sachlich rechtfertigt.80 Der Aufbau, die Arbeitsweise, der Tätigkeitsbereich und die Aufgaben von Eu704 ropol werden nach Art. 88 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Verordnung festgelegt. Art. 88 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV benennt mögliche Aufgaben. Operative Maßnahmen darf Europol nur in Verbindung und in Absprache mit den Mitgliedstaaten ergreifen, deren Hoheitsgebiet betroffen sind (Art. 88 Abs. 3 S. 1 AEUV). Die Anwendung von Zwangsmaßnahmen bleibt ausschließlich den zuständigen nationalen Behörden vorbehalten (Art. 88 Abs. 3 S. 2 AEUV).
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Beschluss 2009/371/JI des Rates vom 6.4.2009 zur Errichtung des Europäischen Polizeiamts (Europol), ABl. L 121, S. 37. S. BVerfGE 123, 267 (410) – Lissabon.
Kapitel 7: Rechtsangleichung Literatur: Frenz, Walter, Handbuch Europarecht Band 6: Institutionen und Politiken, 2011, S. 943-1004; Ludwigs, Markus, Rechtsangleichung nach den Art. 94, 95 EGVertrag, 2004. Leitentscheidungen: EuGH, Rs. C-376/98, Slg. 2000, I-8419 – Tabakwerbung; Rs. C491/00, Slg. 2002, I-11453 – Tobacco; Rs. C-380/03, Slg. 2006, I-11573 – Tabakwerbung II; Rs. C-301/06, Slg. 2009, I-593 – Vorratsdatenspeicherung; BVerfGE 123, 267 – Lissabon.
A. Grundkonzeption und Bedeutung Eine der wichtigsten Spielarten der Unionsrechtsetzung ist die Rechtsangleichung. Bei ihr werden mitgliedstaatliche Rechtsvorschriften an einen unionsrechtlich vorgegebenen Standard angeglichen, indem Sekundärrecht geschaffen wird. Dies dient der Verringerung und Beseitigung von Rechtsunterschieden zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten.1 Damit ist die Rechtsangleichung ein wichtiges Instrument zur Unterstützung der europäischen Integration. 2 Innerhalb des AEUV ist neben „Angleichung“ noch synonym von „Harmonisierung“ die Rede. Die „Koordinierung“, „Unterstützung“ und „Ergänzung“ sind demgegenüber grundsätzlich kein Fall der Harmonisierung, was Art. 2 Abs. 5 AEUV zeigt. Dennoch wird der Begriff „Koordinierung“ in den Verträgen zum Teil in Zusammenhang mit der Rechtsangleichung verwendet, so in Art. 52 Abs. 2 AEUV. Als Anhaltspunkte, wann eine Koordinierung im Sinne des Art. 2 Abs. 5 AEUV vorliegt, können Art. 5 und 6 AEUV herangezogen werden. Die Rechtsangleichung selbst hat instrumentellen Charakter und ist daher weniger sachbezogen. Damit lassen sich die einzelnen verfolgten Ziele bei den speziellen Angleichungskompetenzen – etwa für den Umweltschutz Art. 191 f. AEUV – aus dem jeweiligen Sachgebiet ableiten. In den Art. 114 ff. AEUV befinden sich die besonders wichtigen binnenmarktbezogenen Angleichungskompetenzen. Sie tragen zwar die Überschrift „Angleichung der Rechtsvorschriften“. Trotzdem betreffen sie nur den Binnenmarkt.3 Maßgebliches Ziel ist die Gewährleistung der Grundfreiheiten, was Art. 26 Abs. 2 AEUV zeigt. Als Rechtsbegriff wird der Binnenmarkt dort legaldefiniert. Art. 26 Abs. 1 AEUV enthält einen expliziten Gesetzgebungsauftrag an die Union.4 Wenn eine Sachmaterie Berührungspunkte zum Binnenmarkt aufweist, kön1 2 3 4
Taschner, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 94 EG Rn. 4. Tietje, in: Grabitz/Hilf, Vor Art. 94-97 EGV Rn. 36. S. Fischer, in: Lenz/Borchardt, Vorb. Art. 114-118 AEUV Rn. 1. Hatje, in: Schwarze, Art. 14 EGV Rn. 1.
W. Frenz, Europarecht, DOI 10.1007/978-3-642-21019-8_7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel 7: Rechtsangleichung
nen insofern grundsätzlich für alle Politikbereiche Wirkungen erwachsen. Es besteht damit die Möglichkeit, binnenmarktfremde Inhalte über Art. 114 ff. AEUV zu regulieren, so den Umweltschutz oder die öffentliche Sicherheit. Im Verhältnis zu Art. 114 AEUV spielt der enger gefasste Art. 115 AEUV re709 gelmäßig eine untergeordnete Rolle. Es besteht ein Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen beiden Vorschriften.5 Art. 116 und 117 AEUV betreffen Sonderfälle, wie bereits ihr Wortlaut zeigt. Art. 118 AEUV enthält eine besondere Kompetenzgrundlage für die Schaffung eines einheitlichen europäischen Rechtstitels im Bereich der Immaterialgüterrechte. Ihr Anknüpfungspunkt ist ebenso wie bei Art. 114 AEUV der Binnenmarkt, so dass sie zumindest wesensverwandt sind.
B. System der Rechtsangleichungskompetenzen 710 Die Angleichung innerstaatlicher Rechtsnormen ist eine der Kernaufgaben der EU.6 Es gibt eine Vielzahl von Kompetenzen hierfür, die sich grob in Angleichungskompetenzen mit und ohne Binnenmarktbezug einteilen lassen. 7 I. Allgemeine Angleichungskompetenzen mit Binnenmarktbezug 711 Die allgemeinen Angleichungskompetenzen mit Binnenmarktbezug befinden sich in Art. 114 ff. AEUV. Sie dienen dazu, einen funktionierenden Binnenmarkt herzustellen. Eine sehr weit gefasste und zugleich die bedeutendste Angleichungskompetenz enthält Art. 114 AEUV, welcher eine zentrale Rolle im Prozess der europäischen Integration einnimmt. Die Harmonisierung von Rechtsvorschriften, die einen Binnenmarktbezug auf712 weisen, entfaltet zwar erhebliche tatsächliche Wirkungen für andere, stärker sachbezogene Politikfelder. Die Wirkungsmöglichkeiten gelten aber nicht unbegrenzt, wie das Urteil des EuGH zur Tabakwerberichtlinie 98/43/EG8 zeigt.9 Der Schwerpunkt der jeweiligen Maßnahme muss hiernach auf dem Binnenmarkt liegen, schließt jedoch ein Motivbündel für den Erlass von Sekundärrecht nicht aus. Diese mögliche Koppelung wirkt sich auch auf die Regelungen aus, welche ei713 ne Harmonisierung eigentlich verbieten. Ein solcher Harmonisierungsausschluss besteht zum Teil ausdrücklich über sachbezogene Vorschriften, so in Art. 153 Abs. 2 lit. b) oder Art. 165 Abs. 4 AEUV. Darüber hinaus schreibt Art. 2 Abs. 5 UAbs. 2 AEUV einen allgemeinen Ausschluss der Harmonisierung für die Berei5 6 7 8
9
Herrnfeld, in: Schwarze, Art. 95 EGV Rn. 9. Herrnfeld, in: Schwarze, Art. 94 EGV Rn. 1. Fischer, in: Lenz/Borchardt, Vorb. Art. 114-118 AEUV Rn. 3. Des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6.7.1998 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Werbung und Sponsoring zugunsten von Tabakerzeugnissen, ABl. L 213, S. 9. EuGH, Rs. C-376/98, Slg. 2000, I-8419 – Tabakwerbung.
B. System der Rechtsangleichungskompetenzen
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che vor, in denen die Union lediglich unterstützend, koordinierend oder ergänzend tätig wird. Diese Regelungen entfalten aber bei einem Binnenmarktbezug der Materie nur begrenzt Wirkung und stehen einem Tätigwerden etwa auf der Grundlage des Art. 114 AEUV grundsätzlich nicht entgegen.10 Liegen dessen Voraussetzungen vor, kann ein Rechtsakt hierauf gestützt werden, so dass auch kein Verstoß gegen das Umgehungsverbot im Rahmen der Harmonisierungsverbote gegeben ist.11 Andere Politikbereiche sind ohnehin stets zu berücksichtigen, was ausdrücklich gemäß Art. 114 Abs. 3 AEUV für das Streben nach einem hohen Schutzniveau in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umwelt- und Verbraucherschutz gilt. II. Abgrenzung zu den speziellen Angleichungskompetenzen 1. Zweistufige Kompetenzabgrenzung Die Abgrenzung zwischen einzelnen Kompetenzen zur Rechtsangleichung erfolgt 714 zweistufig. Wenn mehrere Angleichungskompetenzen in Betracht kommen, ist zunächst zu fragen, ob sie über das Verhältnis der Spezialität und Subsidiarität abgrenzbar sind. Dafür müssen sie sich im Endeffekt inhaltlich in ihrer Zielrichtung weitgehend decken. Dann ist die Vorschrift mit den engeren Voraussetzungen speziell. Beispiel Energie: So dienen etwa Art. 114 AEUV und Art. 194 AEUV beide der Verwirklichung des Binnenmarktes. Art. 194 AEUV ist jedoch wegen seines besonderen Sachbezugs zur Energiepolitik spezieller als Art. 114 AEUV.
Falls die einschlägigen Kompetenzen inhaltlich so unterschiedlich sind, dass ih- 715 re Einordnung auf diesem Wege scheitert, kann auf die methodische Feststellung des Vorrangverhältnisses nicht zurückgegriffen werden. Dann bedarf es der Festlegung auf eine Kompetenzgrundlage über die sogenannte Schwerpunkttheorie. Sie erfordert eine dem Ansatz nach sachbezogene Gewichtung. Diese ist stark einzelfallbezogen. Für die Gewichtung muss die Regelungsintention des Unionsgesetzgebers ergründet werden. Aufschlussreich sind dabei insbesondere die Erwägungsgründe, welche in den einzelnen Sekundärrechtsakten zu Beginn aufgeführt sind.12 Im Ergebnis prüft der EuGH allerdings im Wesentlichen, ob die Voraussetzungen des Art. 114 Abs. 1 AEUV vorliegen. Über die Kompetenzgrundlage wird festgelegt, auf welche Handlungsformen 716 zurückgegriffen werden darf. Daraus ergeben sich starke Auswirkungen auf den Inhalt, die Reichweite und die Intensität einer Angleichungsmaßnahme. 13 Die Wahl der Kompetenzgrundlage liegt jedoch nicht im Ermessen des Unionsgesetzgebers.14 Der Gerichtshof der EU prüft umfassend, insbesondere unter Berücksich10 11 12 13 14
Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 95 EGV Rn. 23. Ausführlich Ludwigs, Rechtsangleichung nach Art. 94, 95 EG-Vertrag, 2004, S. 273 ff. Ludwigs, Rechtsangleichung nach Art. 94, 95 EG-Vertrag, 2004, S. 334. EuGH, Rs. 68/86, Slg. 1988, 855 (894, Rn. 6) – Vereinigtes Königreich/Rat. Ausführlich zum Ganzen Frenz, Europarecht 5, Rn. 662 ff.
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Kapitel 7: Rechtsangleichung
tigung von Ziel und Inhalt einer Maßnahme, ob die Wahl der Angleichungskompetenz nach objektiven, für das Gericht nachprüfbaren Umständen erfolgte. 15 Über das Verhältnis der Subsidiarität und Spezialität sind die allgemeinen 717 Rechtsangleichungskompetenzen in Art. 114 ff. AEUV aufgrund der gemeinsamen Bedeutung für den Binnenmarkt regelmäßig zu den Art. 43, 46, 48, 50, 52 Abs. 2, 53, 59, 62 i.V.m. 52 Abs. 2 und 53, 64 Abs. 2, 91 Abs. 1, 95 Abs. 3, 100, 113, 171 f. und 194 AEUV abzugrenzen.16 Problematischer ist das Verhältnis zu den Art. 153, 168, 169, 191 f. und 207 AEUV, welches sich nicht so eindeutig systematisch kategorisieren lässt.17 Die Harmonisierung von Rechtsvorschriften kann auch in Bereichen ohne di718 rekten Binnenmarktbezug ein effektives Mittel zur Verwirklichung einzelner Sachgebiete sein. Für den Bereich der Unionsbürgerschaft und des Diskriminierungsverbotes befinden sich solche Kompetenzen in Art. 18 Abs. 2, Art. 19 Abs. 1 und Art. 21 Abs. 2 AEUV. Ferner sind unter engen Voraussetzungen sogenannte Doppelabstützungen möglich, bei denen eine Maßnahme mehreren gleichrangigen Zielen dient.18 719 Fall „Vorratsdatenspeicherung“ nach EuGH, Rs. C-301/06, Slg. 2009, I – 593: Zur Harmonisierung der Pflicht von Telekommunikationsunternehmen, Informationen über elektronische Kommunikationsverbindungen für eine gewisse Dauer zu speichern, wurde 2006 die Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie erlassen. Sinn und Zweck einer solchen Datenspeicherung liegen darin, die Ermittlungsarbeiten bei schweren Straftaten zu erleichtern. Unter welchen Voraussetzungen die Ermittlungsbehörden auf diese Daten zugreifen dürfen, ist über die Richtlinie nicht unmittelbar geregelt. Welche Pflichten den Telekommunikationsunternehmen durch nationales Recht für die Datenspeicherung auferlegt werden, also etwa wie lange gespeichert werden soll, hingegen schon. Gegen die Vorratsdatenspeicherung reichte Irland mit der Begründung, dass Art. 114 AEUV keine geeignete Kompetenzgrundlage biete, Nichtigkeitsklage ein. Ob eine solche sachspezifische Richtlinie auf Art. 114 AEUV gestützt werden kann, ist fraglich. Wenn Art. 114 Abs. 1 AEUV in Betracht kommt, nimmt der Gerichtshof der EU allerdings eher keine Gewichtung der jeweiligen Ziele im Sinne einer abstrakten Schwerpunktprüfung vor. Der Maßnahmenschwerpunkt wird darüber festgelegt, ob die Voraussetzungen des Art. 114 Abs. 1 AEUV konkret vorliegen.19 Anliegen des Binnenmarktes ist nach Art. 26 Abs. 2 AEUV die effektive Gewährleistung der Grundfreiheiten. Zudem gilt es, Wettbewerbsverfälschungen zu beseitigen. Um aber unübersehbare Weiterungen entgegen dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung zu vermeiden, muss ein negativer Effekt für den Binnenmarkt absehbar sein. Einschränkend wirkt insofern, dass die Entstehung von Hindernissen für den Handelsverkehr oder spürbare
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EuGH, Rs. C-440/05, Slg. 2007, I-9097 (9156, Rn. 61) – Kommission/Rat m.w.N. aus der Rspr; Rs. C-268/94, Slg. 1996, I-6177 (6216, Rn. 22) – Portugal/Rat. Vgl. Fischer, in: Lenz/Borchardt, Art. 114 AEUV Rn. 3. Zu deren Abgrenzung zueinander ausführlich Frenz, Europarecht 6, Rn. 3413 ff. Zu Doppelabstützungen s. ausführlich Frenz, Europarecht 5, Rn. 673 ff. S. bereits EuGH, Rs. C-491/01, Slg. 2002, I-11453 (11574, Rn. 62) – Tobacco.
C. Grundfreiheiten und Harmonisierung
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Wettbewerbsverzerrungen wahrscheinlich sein müssen und die Maßnahme auf die Vermeidung dieser Effekte abzielt.20 Dies muss auf objektive, gerichtlich nachprüfbare Umstände zurückzuführen sein. Darauf liegt der Schwerpunkt der Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie angesichts der nationalen Unterschiede, wenn es auch in der Sache um Datenschutz und die Verfolgung von Straftaten geht. Diese nationalen Abweichungen hätten zur Folge, dass die Telekommunikationsunternehmen in den einzelnen Mitgliedstaaten mit unterschiedlichen Betriebskosten konfrontiert würden. Diese sind von erheblichem Gewicht. Daher waren die unterschiedlichen Regelungen in den Mitgliedstaaten geeignet, sich unmittelbar auf das Funktionieren des Binnenmarktes auszuwirken. Dabei bestand lediglich eine konkrete Gefahr für den Binnenmarkt. Insofern handelt es sich in diesem Fall um eine sogenannte präventive Rechtsangleichung. Diese ist nach dem EuGH zulässig, wenn das Entstehen von Hindernissen für den Binnenmarkt hinreichend wahrscheinlich ist und die fragliche Maßnahme dem konkret entgegenwirken soll. Diese Gefahr wurde als gegeben angesehen. Damit lagen insoweit die Voraussetzungen des Art. 114 AEUV vor und die Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie wurde auf die richtige Kompetenzgrundlage gestützt.21
2. Rechtsangleichung über die eigentlichen Unionsbefugnisse hinaus Eine Angleichung von Rechtsnormen unabhängig vom Binnenmarktbezug oder 720 von den Voraussetzungen einer speziellen Angleichungskompetenz kommt ferner gestützt auf die Flexibilitätsklausel des Art. 352 AEUV in Betracht. Ausweislich des Wortlauts wird die Union tätig, wenn die Verträge an sich keine Befugnis vorsehen, aber ein Vorgehen auf Unionsebene zur Verwirklichung eines der Ziele der Verträge erforderlich ist. Diese Angleichungskompetenz wurde insofern als Generalermächtigung bezeichnet.22 Zu anderen Kompetenzgrundlagen ist sie daher stets subsidiär, etwa gegenüber Art. 114 AEUV.23 Aus der Offenheit des Art. 352 AEUV ergeben sich ohnehin unschärfere Konturen, die nach dem BVerfG ein Gesetz nach Art. 23 Abs. 1 GG notwendig machen, bevor der deutsche Vertreter im Rat seine förmliche Zustimmung zu einem entsprechenden Rechtsetzungsvorschlag der Kommission erteilen darf.24
C. Grundfreiheiten und Harmonisierung Wenn ein bestimmter Sachgegenstand auf Unionsebene verbindlich harmonisiert 721 wurde, sind die daraufhin getroffenen nationalen Maßnahmen nicht mehr anhand der Vorgaben der Verträge, sondern an der Harmonisierungsmaßnahme selbst zu messen. Die Wirkung der Harmonisierung ist dementsprechend weitreichend: Das erlassene Sekundärrecht verdrängt mit seinen verbindlichen Vorgaben die
20 21 22 23 24
EuGH, Rs. C-301/06, DVBl. 2009, 371 (372, Rn. 64) – Vorratsdatenspeicherung (mit Anm. Frenz). S. weiter u. Rn. 729 sowie bereits Rn. 662. Rossi, in: Calliess/Ruffert, Art. 308 EGV Rn. 62. EuGH, Rs. C-436/03, Slg. 2006, I-3733 (3766, Rn. 36) – Parlament/Rat. BVerfGE 123, 267 (395) – Lissabon; u. Rn. 936 f.
210
Kapitel 7: Rechtsangleichung
Grundfreiheiten und auch sonstiges Primärrecht, sofern es mit diesem vereinbar ist.25 Die Grundfreiheiten haben als prägender Faktor des Binnenmarktkonzeptes (s. 722 Art. 26 Abs. 2 AEUV) eine wichtige Rolle für die Rechtsangleichung. Namentlich durch Urteile werden Entwicklungen auf Unionsebene angestoßen. Einen solchen Effekt hatte etwa die Cassis de Dijon-Rechtsprechung26 für den Bereich der technischen Harmonisierung und Normung.27
D. Bereichsausnahmen 723 Die in Art. 114 Abs. 2 AEUV genannten Bereichsausnahmen sollen ein Vorgehen nach Art. 114 Abs. 1 AEUV auf den Gebieten Steuern, Freizügigkeit und Arbeitnehmerrechte und -interessen grundsätzlich ausschließen. Diese Bereiche sollen wegen ihrer politischen Sensibilität nur aufgrund spezieller Ermächtigungsgrundlagen auf Unionsebene angeglichen werden. 28 Namentlich Steuern und soziale Belange gehören auch zu den Bereichen, die das BVerfG wegen ihrer Bedeutung für eine demokratische Gesellschaft weitgehend den Mitgliedstaaten vorbehalten will.29 Damit ist vor allem eine Rechtsangleichung problematisch, ohne aber vom BVerfG als solche ausgeschlossen zu werden. Im Lissabon-Urteil hält es immerhin die sachlich notwendige Koordinierung grenzüberschreitender Sachverhalte für ein mögliches Abgrenzungsmerkmal zugunsten einer Tätigkeit der Union.30 Solche Sachverhalte liegen im Bereich der Freizügigkeit begriffsnotwendig vor.31 Jedenfalls insoweit ist Art. 114 Abs. 2 AEUV als unionsrechtliche Ausnahmevorschrift grundsätzlich eng auszulegen. 32 Wenn die Rechtsangleichung über Art. 114 Abs. 1 AEUV die in Abs. 2 genannten Bereiche nur unwesentlich und nicht substanziell betrifft, kann dies daher nicht als Hindernis angesehen werden.33
E. Formelle Voraussetzungen I. Verfahrensablauf 724 Für die Rechtsangleichung nach Art. 114 Abs. 1 AEUV hat die Kommission als Inhaberin des Initiativmonopols für Gesetze das Vorschlagsrecht (s. Art. 294 25 26 27 28 29 30 31 32 33
Ausführlich Frenz, Europarecht 1, Rn. 350 ff. EuGH, Rs. 120/78, Slg. 1979, 649 – Rewe. Vgl. Mitteilung der Kommission über die Auswirkungen des Urteils des EuGH, Rs. 120/78 (Rewe), ABl. 1980 C 256, S. 2. Tietje, in: Grabitz/Hilf, Art. 95 EGV Rn. 20. BVerfGE 123, 267 (357 f.) – Lissabon; krit. Frenz, Europarecht 5, Rn. 282 ff. BVerfGE 123, 267 (359) – Lissabon. Frenz, Europarecht 1, Rn. 262 ff. Herrnfeld, in: Schwarze, Art. 95 EGV Rn. 16. Tietje, in: Grabitz/Hilf, Art. 95 EGV Rn. 21.
F. Verhältnismäßigkeit und Subsidiarität
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Abs. 2 UAbs. 1 AEUV). Das Europäische Parlament und der Rat beschließen gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren34 nach Anhörung des Wirtschafts- und Sozialausschusses. II. Wahl des Handlungsinstruments Der Wortlaut von Art. 114 Abs. 1 AEUV schließt kein Handlungsinstrument im 725 Sinne des Art. 288 AEUV für die Angleichung nationalen Rechts aus. Über das ordentliche Gesetzgebungsverfahren erfolgt gemäß Art. 289 Abs. 1 AEUV eine Fixierung auf Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse. Die Richtlinie entspricht am ehesten der Zwecksetzung der Rechtsangleichung, auch wenn zum Teil eine Vollharmonisierung über Verordnungen notwendig und durchführbar ist. Die Wahl des Handlungsinstruments muss dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nach Art. 5 Abs. 4 EUV genügen. Danach ist die eingriffsschwächere Handlungsform und damit die Richtlinie vor der Verordnung jedenfalls bei gleicher Eignung vorzuziehen.35 Diese Einschätzung unterliegt aber einem weiten Entscheidungsspielraum.36
F. Verhältnismäßigkeit und Subsidiarität Art. 114 Abs. 1 AEUV ist in seiner Anwendung in mehrfacher Hinsicht begrenzt. 726 Der ausdrückliche Bezug auf Art. 26 AEUV verpflichtet auch zu dessen Maßgabe, dass nur erforderliche Maßnahmen getroffen werden dürfen. Es besteht ohnehin eine Rückbindung an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Sinne des Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 4 EUV.37 Bedarf es für die konkret zu fassende Maßnahme komplexer Erwägungen politischer, wirtschaftlicher oder sozialer Art, steht dem Unionsgesetzgeber jedoch eine weite Einschätzungsprärogative zu, welche keiner umfassenden Rechtsprüfung durch die Judikative unterliegt.38 Es erfolgt eine lediglich auf evidente Fehler beschränkte Prüfung. Weiterhin besteht nach Art. 4 Abs. 2 lit. a) AEUV für den Binnenmarkt grund- 727 sätzlich eine geteilte Zuständigkeit zwischen der Union und den Mitgliedstaaten. Damit gilt auch der Subsidiaritätsgrundsatz im Sinne des Art. 5 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 EUV. Dieser hat jedoch lediglich geringe Auswirkungen und gilt in aller Regel bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 114 Abs. 1 AEUV als erfüllt.39 Der Binnenmarkt erfordert dann regelmäßig eine unionsweite Regulierung.
34 35 36 37 38 39
S.o. Rn. 86. Frenz, Europarecht 5, Rn. 739. Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 95 EGV Rn. 20. EuGH, Rs. C-210/03, Slg. 2004, I-11893 (11915, Rn. 33) – Swedish Match. EuGH, Rs. C-491/01, Slg. 2002, I-11453 (11590, Rn. 123) – Tobacco; Rs. C-380/03, Slg. 2006, I-11573 (11668 f., Rn. 145) – Tabakwerbung II. EuGH, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079 (7159, Rn. 32) – Biopatentrichtlinie.
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Kapitel 7: Rechtsangleichung
G. Vereinbarkeit mit sonstigem Unionsrecht und Grundrechten 728 Die Maßnahmen zur Rechtsangleichung müssen sich daneben auch an den übrigen höherrangigen Regelungen auf Unionsebene messen lassen. So darf eine Maßnahme nicht gegen die Grundfreiheiten verstoßen, welche auch die Unionsorgane binden. Weiterhin darf eine Rechtsangleichungsmaßnahme nicht Grundrechte verletzen.40 Dies gilt, wie sich an Art. 6 EUV zeigt, sowohl für die EGRC als auch für die EMRK. Die Union muss indes noch der EMRK beitreten. Solange gelten die in ihr niedergelegten Grundrechte gemäß Art. 6 Abs. 2 und 3 EUV als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts und gingen im Übrigen in viele Grundrechte der EGRC ein. 729 Fortsetzung Fall „Vorratsdatenspeicherung“ nach EuGH, Rs. 301/06, Slg. 2009, I –593: In den Erwägungsgründen zur Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie wird ausdrücklich auf Art. 8 EMRK Bezug genommen, aus diesem jedoch keine der Richtlinie entgegenstehende Wirkung abgeleitet. Der EuGH griff explizit nicht die Vereinbarkeit der Richtlinie mit den Grundrechten auf. Die EGRC und die EMRK fanden insofern keinen Niederschlag im Urteilstenor. Irland hat sich nicht auf die Grundrechte berufen, die Slowakische Republik als Streithelfer hingegen schon. In der Regel müssen die Parteien bei der Nichtigkeitsklage materiellrechtliche Rügen selbst vorbringen, da sie grundsätzlich nicht von Amts wegen geprüft werden. Die beschränkte Prüfung in solchen Fällen ist in der Literatur seit jeher heftiger Kritik ausgesetzt, was bislang jedoch keinen Kurswechsel zur Folge hatte. Allerdings hat EU-Justizkommissarin Viviane Reding nachträglich angekündigt, die Vorratsdatenrichtlinie zu überprüfen und im Sinne des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes mit den Erfordernissen der Grundrechte in Einklang zu bringen. Die Vereinbarkeit mit dem Grundrecht auf Datenschutz nach Art. 8 Abs. 1 EGRC ist problematisch.41
H. Wahrung eines hohen Schutzniveaus I. Begrifflichkeit 730 Art. 114 Abs. 3 AEUV dient ausdrücklich der Sicherung eines hohen Schutzniveaus in den Bereichen Gesundheit, Sicherheit, Umwelt- und Verbraucherschutz. Dabei entspricht der Begriff „Umweltschutz“ dem in Art. 191 ff. AEUV verwendeten Passus. Ebenso ist der Begriff der „Gesundheit“ identisch mit dem in Art. 36 Abs. 1 AEUV gebrauchten. Der Begriff „Verbraucherschutz“ korrespondiert mit dem in Art. 169 AEUV. Die „Sicherheit“ in Art. 114 Abs. 3 AEUV kann allerdings nicht mit der Formulierung in Art. 36, 52 AEUV gleichgesetzt werden, sondern meint die technische Sicherheit von Produkten und Produktionsstätten sowie Dienstleistungen. 42
40 41 42
EuGH, Rs. C-154 u. 155/04, Slg. 2005, I-6451 (6521, Rn. 120 ff.) – Alliance for Natural Health. S.o. Rn. 661 f. Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 95 EGV Rn. 28.
J. Mitgliedstaatliche Spielräume
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II. Systematik Sofern noch keine Rechtsangleichung in einem Sachgebiet erfolgt ist, können die 731 Mitgliedstaaten gestützt auf Art. 36 AEUV oder auf die Cassis de DijonRechtsprechung gegebenenfalls ihre Regelungen trotz einer Beschränkung des freien Warenverkehrs oder auch anderer Grundfreiheiten beibehalten. Den Mitgliedstaaten wird hierdurch zugestanden, an einem höheren Schutzniveau als dem auf Unionsebene angestrebten festzuhalten. Wenn ein solcher Bereich aber abschließend harmonisiert wurde, können sich die Mitgliedstaaten nicht mehr auf diese Abweichungsbefugnisse stützen. Daher soll bei der Rechtsangleichung ein hohes Schutzniveau über Art. 114 Abs. 3 AEUV zumindest in den dort genannten Bereichen gesichert werden, um den Interessen der Mitgliedstaaten mit hohen Ansprüchen in diesen Politikfeldern gerecht zu werden. III. Begrenzte Verpflichtung Der Wortlaut verdeutlicht mit dem Gebot des „Strebens“ nach einem hohen 732 Schutzniveau, dass keine Verpflichtung auf ein bestimmtes, objektiv von der Norm vorgezeichnetes Niveau besteht. Dies gilt, auch wenn die Harmonisierungsmaßnahme letztendlich tatsächlich ein hohes Schutzniveau aufweisen muss.43 Ferner muss nach Art. 27 AEUV die Angleichungsmaßnahme auch wirtschaftlich im Hinblick auf die Lage ökonomisch schwächerer Staaten vertretbar sein.44 Damit verbleibt dem Unionsgesetzgeber bei der Festlegung auf ein bestimmtes Schutzniveau ein entsprechend großer Entscheidungsspielraum. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit muss bei der Gewichtung einzelner Aspekte jedoch der besondere Stellenwert der in Art. 114 Abs. 3 AEUV genannten Bereiche berücksichtigt werden.45
J. Mitgliedstaatliche Spielräume I. Nationale Abweichungsmöglichkeiten Trotz einer abschließenden Harmonisierung nach Art. 114 Abs. 1 AEUV auf Uni- 733 onsebene und der grundsätzlich daraus folgenden Sperrwirkung für den geregelten Bereich bestehen für die Mitgliedstaaten Abweichungsmöglichkeiten. Diese können sich aus Art. 114 Abs. 4 und 5 AEUV ergeben. Sie erlauben den Mitgliedstaaten, unter bestimmten Umständen Regelungen beizubehalten (Abs. 4) oder sogar neu einzuführen (Abs. 5). Insofern spricht man auch von den Harmonisierungsdurchbrechungsklauseln. Die Grenzen für ein solches Vorgehen sind jedoch eng gesteckt und nur in den genannten Sachgebieten zulässig. Es besteht für die Mit43 44 45
Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 95 EGV Rn. 26. Herrnfeld, in: Schwarze, Art. 95 EGV Rn. 33. EuGH, Rs. C-210/03, Slg. 2004, I-11893 (11919, Rn. 46 ff.) – Swedish Match; Rs. C154 u. 155/04, Slg. 2005, I-6451 (6520, Rn. 109 ff.) – Alliance for Natural Health.
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Kapitel 7: Rechtsangleichung
gliedstaaten die Pflicht, der Kommission mitzuteilen, dass sie von der Harmonisierung abweichen wollen. Die Kommission muss dann gemäß Art. 114 Abs. 6 AEUV zustimmen. Sachlich muss das Abweichen des einzelnen Mitgliedstaates neben den norm734 spezifischen Voraussetzungen vor allem dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz genügen. Das innerstaatliche Recht kann im Schutzumfang nur nach oben abweichen und damit höheren Schutz gewährleisten. Ansonsten fehlt es an der Erforderlichkeit für den Schutz der in Art. 114 Abs. 4 und 5 AEUV genannten Güter. Ferner darf keine einseitige Ausrichtung an den dort genannten Schutzgütern erfolgen. Vielmehr bedarf es einer sorgfältigen Abwägung, bei welcher ganz im Sinne der praktischen Konkordanz auch die übrigen gleichrangigen Ziele der Verträge beachtet werden müssen.46 Ansonsten würde ein Ziel als vorrangig betrachtet und so die in Art. 3 EUV, Art. 9 ff. AEUV sichtbare Gleichordnung der verschiedenen Ziele verletzt. Eine Harmonisierungsmaßnahme kann auch ausdrücklich ein Abweichen von 735 der jeweiligen Maßnahme erlauben, wenn sie mit einer Schutzklausel gemäß Art. 114 Abs. 10 AEUV versehen ist. Diese ermächtigt zu vorläufigen Maßnahmen der Mitgliedstaaten aus den in Art. 36 AEUV genannten Gründen nichtwirtschaftlicher Art. Solche lediglich temporär begrenzten Abweichungsbefugnisse müssen nach Art. 114 Abs. 10 AEUV einem Kontrollverfahren auf Unionsebene unterworfen sein, so dass auch hier die Entscheidung über das rechtmäßige Abweichen durch einen Mitgliedstaat letztendlich in den Händen der Union liegt. Art. 114 Abs. 10 AEUV ist grundsätzlich eine eng auszulegende Vorschrift. 47 736 Trotzdem ist der Anwendungsbereich entgegen dem Wortlaut nicht auf Art. 36 AEUV beschränkt, sondern kann auch aus Gründen des Umweltschutzes herangezogen werden, sei es entsprechend den zwingenden Gründen im Sinne der Cassis de Dijon-Rechtsprechung, zu denen der Umweltschutz zählt, sei es auf der Basis einer Analogiebildung; die Vergleichbarkeit der Sachverhalte ergibt sich dabei insbesondere aus einer Zusammenschau von Gesundheits- und Umweltschutz.48 Im Übrigen ist ein Vorgehen über Art. 114 Abs. 4 oder 5 durch Abs. 10 AEUV nicht versperrt.49 II. Nachträgliche Anpassung 737 Falls es einem Mitgliedstaat nach Art. 114 Abs. 6 AEUV gestattet wird, von einer Harmonisierungsmaßnahme abzuweichen, oder er im Bereich der Gesundheitspolitik der Kommission ein besonderes Problem mitteilt, ist es möglich, dass für die gesamte Harmonisierungsmaßnahme ein nachträgliches Anpassungsbedürfnis besteht. Die Kommission ist gemäß Art. 114 Abs. 7 und 8 AEUV verpflichtet, dies zu überprüfen. Es soll gewährleistet werden, dass die Harmonisierung sich 46 47 48 49
Vgl. GA Saggio, EuGH, Rs. C-319/97, Slg. 1999, I-3143 (3169, Rn. 24) – Kortas. Vgl. EuGH, Rs. 11/82, Slg. 1985, 207 (245 f., Rn. 26 ff.) – Piraiki-Patraiki. Zum Ganzen m.w.N. Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 95 EGV Rn. 71. Tietje, in: Grabitz/Hilf, Art. 95 EGV Rn. 170.
J. Mitgliedstaatliche Spielräume
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nicht als inhaltlich verfehlt herausstellt. Darauf aufbauend wird die Rechtsangleichungsmaßnahme einer nachträglichen Kontrolle unterworfen und möglicherweise modifiziert, wodurch der Angleichungsprozess an Dynamik gewinnt. III. Beschleunigtes Vertragsverletzungsverfahren In Art. 114 Abs. 9 AEUV ist ein beschleunigtes Vertragsverletzungsverfahren 738 vor dem EuGH gegen Mitgliedstaaten vorgesehen. Ein Befugnismissbrauch im Sinne der Regelung liegt vor, wenn ein Mitgliedstaat eine Maßnahme im Sinne des Art. 114 Abs. 4-6 AEUV ergreift, die Voraussetzungen aber nicht erfüllt sind. Über die Anwendung in diesen Fällen hinaus ist Art. 114 Abs. 9 AEUV auch auf Konstellationen gemäß Abs. 10 denkbar.50
50
Leible, in: Streinz, Art. 95 EGV Rn. 96.
Kapitel 8: Weitere Unionspolitiken Literatur: Frenz, Walter, Handbuch Europarecht Band 6: Institutionen und Politiken, 2011; Häde, Ulrich, Die Wirtschafts- und Währungsunion im Vertrag von Lissabon, EuR 2009, 200 ff.; Kahl, Wolfgang, Die Kompetenzen der EU in der Energiepolitik nach Lissabon, EuR 2009, 601 ff.; Nowak, Carsten, Europarecht nach Lissabon, 2011; Terhechte, Jörg (Hrsg.), Verwaltungsrecht der Europäischen Union, 2011 sowie div. Beiträge in: Schwarze, Jürgen/Hatje, Armin (Hrsg.), Der Reformvertrag von Lissabon, EuR 2009, Beiheft 1. Leitentscheidungen: BVerfGE 123, 267 – Lissabon.
A. Allgemeiner Rahmen I. Systematik Den größten Teil des AEUV machen die internen Politiken und Maßnahmen der 739 Union aus (3. Teil). Bereits dargestellt wurden der freie Warenverkehr (Titel II), die Freizügigkeit, der freie Dienstleistungs- und Kapitalverkehr (Titel IV), der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Titel V) sowie die Wettbewerbsregeln und die Rechtsangleichung aus Titel VII. Hinzu kommen zahlreiche weitere Einzelpolitiken, die im Folgenden dargestellt werden. Sie alle sind rückgebunden auf die Ziele der Union, die zentral in Art. 3 EUV festgelegt sind. II. Werte der Union Den Zielen vorgelagert sind die Werte, auf die sich die Union nach Art. 2 EUV 740 gründet. Das sind die klassischen Werte der europäischen Demokratien, nämlich Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte, wobei die Rechte der Personen, die Minderheiten angehören, eigens eingeschlossen werden. Sodann wird die Gemeinsamkeit dieser Werte betont und auf die nationalen Gesellschaften rückbezogen, die sich durch Pluralismus, Nicht-Diskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Männern und Frauen auszeichnen. Insoweit handelt es sich allerdings nicht mehr um konstitutive Werte, wenngleich die genannten Aspekte in enger Verbindung mit den vorhergehenden klassischen Werten stehen. Nach der Systematik von Art. 2 S. 2 EUV handelt es sich um beschreibende 741 Elemente, die freilich im AEUV vielfach rechtlich abgesichert sind, nämlich in den allgemein geltenden Bestimmungen nach Art. 8 (Gleichheit und Gleichstellung von Männern und Frauen) und Art. 10 AEUV (Nicht-Diskriminierung). Die Solidarität wird in den sozialen Grundrechten näher ausgeformt. 1 1
S.u. Rn. 1208 ff.
W. Frenz, Europarecht, DOI 10.1007/978-3-642-21019-8_8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
218
Kapitel 8: Weitere Unionspolitiken
III. Ziele der Union 742 Die Werte werden in Art. 3 Abs. 1 EUV als Ziel in Bezug genommen. Art. 3 Abs. 2 EUV nennt dann einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen mit Gewährleistung des freien Personenverkehrs. Den eigentlichen übergreifenden Zielkern für die Einzelpolitiken bildet Art. 3 Abs. 3 EUV. Am Beginn steht wie bei den internen Politiken der Binnenmarkt. Er wird näher in Art. 26 AEUV definiert und umfasst gleichfalls einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem allerdings nicht nur der freie Personenverkehr, sondern auch der Verkehr von Waren, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist. Die näheren prägenden Elemente führt Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 S. 2 EUV auf. 743 Vorgeschaltet ist dort der übergreifende Gedanke der nachhaltigen Entwicklung Europas. Damit sind ökologische, ökonomische und soziale Belange gleichgewichtig zu wahren, wie auch der Zusatz der nachhaltigen Entwicklung in der Umweltquerschnittsklausel nach Art. 11 AEUV unterstreicht. Im Folgenden werden zunächst wirtschaftliche Elemente genannt, nämlich 744 ausgewogenes Wirtschaftswachstum und Preisstabilität sowie eine in hohem Maße wettbewerbsfähige soziale Marktwirtschaft. Damit wird aber bereits die Marktwirtschaft sozial ausgerichtet. Sie zielt zudem auf Vollbeschäftigung sowie sozialen Fortschritt und nennt damit zwei zentrale soziale Elemente, die in Art. 9 AEUV für die Festlegung und Durchführung aller Politiken verbindlich gemacht werden, wenn auch nur in Form der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus. Vollbeschäftigung ist ohnehin praktisch nie zu erreichen. Auch wird dort nur ein angemessener sozialer Schutz genannt. Art. 3 Abs. 3 UAbs. 2 EUV verlangt zudem eine Bekämpfung sozialer Aus745 grenzung, von Diskriminierungen und die Förderung sozialer Gerechtigkeit und sozialen Schutzes ebenso wie die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes. Für die Umweltunion steht ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung 746 der Umweltqualität nach Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 S. 2 EUV. Dabei handelt es sich zugleich um Erfordernisse des Umweltschutzes, die nach Art. 11 AEUV bei der Festlegung und Durchführung aller Unionspolitiken und Maßnahmen einzubeziehen sind. Weiter wird gemäß Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 S. 3 EUV der wissenschaftliche und technische Fortschritt gefördert. Die kulturelle und sprachliche Vielfalt nimmt Art. 3 Abs. 3 UAbs. 3 EUV 747 auf. Deren Reichtum wahrt die Union und sorgt für den Schutz und die Entwicklung des kulturellen Erbes Europas. Nach Art. 3 Abs. 4 EUV errichtet die Union eine Wirtschafts- und Wäh748 rungsunion, deren Währung der Euro ist. Die internationalen Beziehungen nimmt Art. 3 Abs. 5 EUV ins Visier und legt dabei die grundlegenden Zielsetzungen fest.
A. Allgemeiner Rahmen
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IV. Verwirklichung Art. 3 EUV ist selbst nicht kompetenzbegründend. Vielmehr knüpft er an die der Union verliehenen Zuständigkeiten an und kann daher nur wirken, wo der Union an anderer Stelle Kompetenzen verliehen wurden. Art. 3 Abs. 6 EUV hebt dies ausdrücklich hervor, wonach die Union ihre Ziele mit geeigneten Mitteln entsprechend den Zuständigkeiten verfolgt, die ihr in den Verträgen übertragen sind. 2 Wegen dieser eindeutigen Begrenzung helfen auch die Flexibilitätsklausel 3 und die Implied-Powers-Lehre4 nicht weiter.5 Vielmehr bedarf es auch insoweit der Anknüpfung an vorhandene Politikbereiche, um eines der Vertragsziele zu verwirklichen (s. Art. 352 Abs. 1 AEUV). Letztere genügen also nicht allein. Daher ist es auch problematisch, allein über die Ziele nach Art. 3 EUV bereits einen hinreichenden Unionsrechtsbezug zu bejahen, der Voraussetzung für das Eingreifen des Diskriminierungsverbotes und der europäischen Grundrechte ist.6 Damit könnte nämlich die Geltung von Unionsrechtsvorschriften allein darüber aktiviert werden, dass Unionsziele verfolgt werden, selbst wenn insoweit keine Kompetenz vorhanden ist. Zwar läuft dann letztlich eine entsprechende Maßnahme leer, weil sie gegen das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verstößt. Dann aber kann sie auch nicht an europarechtlichen materiellen Maßstäben zu messen sein bzw. diese aktivieren, wenn die mitgliedstaatlichen Spielräume entsprechend der Trennlinie zwischen nationalen und europäischen Kompetenzen in vollem Umfang gewahrt bleiben sollen. Etwas anderes gilt selbstverständlich dann, wenn ein grenzüberschreitender Bezug vorhanden ist und darüber die Geltung von europarechtlichen Regeln – insbesondere der Grundfreiheiten7 – aktiviert wird. Dann aber liegt es bereits in deren Regelwerk, dass sie eingreifen. Hierfür bedarf es des Umwegs über Art. 3 EUV nicht. Auch wenn die Ziele nach Art. 3 EUV selbst keine Kompetenz begründen, sondern insoweit vielmehr die Vermittlung über konkrete Zuständigkeitszuweisungen notwendig ist, sind auch die Ziele allein nicht ganz ohne Wirkung auf die Mitgliedstaaten. Die Unionsorgane binden sie ohnehin in vollem Umfang. Schließlich wird durch die Ziele nach Art. 3 EUV der weitere Verlauf der Integration vorgezeichnet. Damit muss aber insoweit das Tor für weitere Maßnahmen zumindest grundsätzlich offen bleiben. Die Mitgliedstaaten dürfen dieses Tor nicht zielstrebig verschließen und auf diese Weise der Integration entgegenwirken. 8 Ein solches Verschließen weiterer Integrationsschritte läge etwa vor, wenn ein Mitgliedstaat die soziale Marktwirtschaft durch eine zentrale Planwirtschaft 2 3 4 5 6 7 8
Unter Hinweis auf die früher teilweise abw. Praxis Reimer, EuR 2003, 992 (1001 f.). S. BVerfGE 123, 267 (394 f.) – Lissabon; näher u. Rn. 936 f. Grds. anerkannt auch von BVerfGE 123, 267 (351 f.) – Lissabon. Reimer, EuR 2003, 992 (1009 f.). Dafür Reimer, EuR 2003, 992 (1002). Aktuell zur An-Post-Judikatur des EuGH Frenz, NVwZ 2010, 609 (612 f.); generell ders., Europarecht 1, Rn. 125, 156 f., 254 ff. S. EuGH, Rs. 319/81, Slg. 1983, 601 (622, Rn. 20) – Kommission/Italien; Rs. 80 u. 81/77, Slg. 1978, 927 (947, Rn. 35/36) – Commissionaires Réunis.
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Kapitel 8: Weitere Unionspolitiken
ablöste. Dadurch würde indes auch gegen Vorschriften der europäischen Wirtschaftsordnung verstoßen. Das zeigt, dass die Unionsziele nach Art. 3 EUV selten allein stehen. Damit kann regelmäßig eine konkretere Stand-Still-Verpflichtung begründet werden. Die konkretisierenden Vorschriften sind dann auch justiziabler als die entsprechende Verpflichtung nach Art. 3 EUV. Darüber hinaus werden indes die Mitgliedstaaten nicht durch Art. 3 EUV verpflichtet, ebenso wenig Private.9 Die Ziele für sich sind freilich sehr wohl verbindlich und nicht lediglich offen. 754 Das ist die Konsequenz der Union als Rechtsgemeinschaft.10 Das ändert aber nichts daran, dass den Unionsorganen ein großer Spielraum zusteht, wie sie die Vertragsziele konkret umsetzen. Daher ist die Vorschrift auch nur sehr begrenzt justiziabel. Es kann höchstens eine Evidenzkontrolle auf offensichtliche Zielverfehlungen stattfinden.11 Dies ist auch dadurch bedingt, dass die Ziele sich vielfach widersprechen und daher miteinander versöhnt werden müssen. Gerade bei diesen Abwägungsprozessen ist das Ergebnis nicht im Einzelnen vorgegeben, sondern das Resultat eines politischen Entscheidungsprozesses. V. Bedeutung für die nachfolgenden Bestimmungen 1. Hierarchisierte Wechselwirkung 755 Indem Art. 3 EUV das Integrationsprogramm der Union vom Rahmen her festlegt, gewinnt er maßgebliche Bedeutung für die folgenden Bestimmungen. Offensichtlich ist dies dann, wenn auf die Ziele der Union ausdrücklich Bezug genommen wird. Es verhält sich hier wie im Hinblick auf die Werte der Union nach Art. 2 EUV, die in Art. 3 Abs. 5 EUV für die Beziehungen der Union zur übrigen Welt genannt werden. Art. 120 AEUV verlangt eine Ausrichtung der Wirtschaftspolitik in den Mitgliedstaaten auf die Ziele der Union im Sinne von Art. 3 EUV. Art. 5 Abs. 3 EUV bezieht das Subsidiaritätsprinzip und damit die Erforderlichkeit eines Tätigwerdens der Union auf die Verwirklichung der Ziele, allerdings hinsichtlich der in Betracht gezogenen Maßnahmen. Insoweit sind die Ziele konkretisiert. Allerdings müssen sie sich letztlich auch in die Ziele der Union nach Art. 3 EUV einfügen lassen. Übergreifend bringen Art. 1 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 6 EUV die Ziele der Union 756 mit sämtlichen Zuständigkeiten in Verbindung. Nach Art. 3 Abs. 6 EUV verfolgt die Union ihre Ziele mit geeigneten Mitteln entsprechend den Zuständigkeiten, die ihr in den Verträgen übertragen sind. Nach Art. 1 Abs. 1 EUV dient die Übertragung der Zuständigkeiten durch die Mitgliedstaaten der Verwirklichung ihrer gemeinsamen Ziele. Die Zuständigkeiten bilden also das Instrument, um die Ziele der Union zu 757 verwirklichen. Auf eine entsprechende Konkretisierung sind diese Ziele von vornherein angelegt. Sie sind über diese Einzelermächtigungen zugunsten der Union
9 10 11
Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Verfassung der EU, 2006, Art. I-3 Rn. 4. Etwa Streinz, in: ders., Art. 2 EUV Rn. 4. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Verfassung der EU, 2006, Art. I-3 Rn. 5.
A. Allgemeiner Rahmen
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und über koordinierte mitgliedstaatliche Politiken wie im Bereich der Wirtschaft auszufüllen.12 Umgekehrt begrenzen die Zuständigkeiten gemäß dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung den möglichen Handlungsrahmen und bilden so den formalen Rahmen. Dadurch entsteht eine Wechselwirkung, die allerdings klar hierarchisiert ist.13 758 Art. 3 EUV gibt auch für die Einzelermächtigungen und eine mitgliedstaatliche Koordinierung vorgebenden Vertragsvorschriften die Richtung vor, wird aber umgekehrt erst durch diese Vorschriften konkretisiert und damit zugleich ausgefüllt. Das Gesamtbild entsteht damit erst in der Zusammenschau. Der inhaltliche Rahmen wird durch Art. 3 EUV bestimmt, die nähere Detaillierung hingegen durch die folgenden Vertragsvorschriften, die sich allerdings bei diesem Prozess an diesen Rahmen zu halten haben. 2. Kompetenzausfüllung Damit sind zwar die Ziele nicht kompetenzbegründend, aber kompetenzausfüllend. Auf diese Weise können sie auch die Reichweite von Kompetenzvorschriften beeinflussen. Das gilt dann, wenn Zweifelsfragen auftreten. Sie sind dann im Licht der Ziele nach Art. 3 EUV auszulegen. Dabei ist näher zu prüfen, ob die einzelnen Kompetenzvorschriften in ihrer Reichweite ausreichen, um die vorgegebenen Ziele zu erreichen. Wenn es dabei zu Unsicherheiten kommt, sind sie im Zweifel so weit auszulegen, dass die Ziele nach Art. 3 EUV wirksam verfolgt werden können. Zugleich wird die Richtung der Einzelmaßnahmen so vorgegeben, dass sie eine effektive Zielverwirklichung sicherstellen. Sowohl formell als auch materiell geben damit auch die Ziele nach Art. 3 EUV Anhaltspunkte dafür, ob konkrete Einzelmaßnahmen vom Unionsrecht (noch) gedeckt sind. Allerdings darf es darüber zu keiner schleichenden Kompetenzausdehnung durch die Hintertür kommen. 14 Ansonsten würde der Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung durchbrochen. Klare Begrenzungen in den Einzelzuständigkeiten können daher auch nicht durch die übergeordneten Ziele überspielt werden. Dann können unter Umständen Ziele nur eingeschränkt verwirklicht werden – so lediglich in den Grundlagen durch Mindeststandards wie im Sozialbereich gemäß Art. 153 Abs. 2 lit. b) AEUV. Nicht nur in Zweifelsfragen, sondern bei jeder inhaltlichen Ausfüllung der Kompetenzvorschriften spielen die Ziele eine Rolle, wenn die Union ein Ermessen hat. Ein solches muss nämlich nach den allgemeinen vertraglichen Vorgaben gebraucht werden. Diese ergeben sich zwar in erster Linie aus der konkreten Kompetenzbestimmung. Übergeordnet sind aber die Ziele mit heranzuziehen. Zentrale Bedeutung hat damit die Zielvorschrift bei Entscheidungsspielräu-
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S. EuGH, Rs. 31/74, Slg. 1975, 47 (61 f., Rn. 14) – Galli. Es besteht „eine spezifisch unionsrechtliche Zielhierarchie“, Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Verfassung der EU, 2006, Art. I-3 Rn. 7; bereits Calliess, in: Hiebaum/Koller (Hrsg.), Politische Ziele und juristische Argumentation, 2003, S. 85 (90). S. BVerfGE 123, 267 (352) – Lissabon.
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men.15 Ebenso sind die Ziele relevant, wenn unbestimmte Rechtsbegriffe ausgelegt werden. 16 Noch stärker gilt dies für die Rechtsfortbildung.17 Diese geht gerade über die 763 einzelnen Vertragsbestimmungen hinaus und bedarf daher zusätzlicher Anhaltspunkte, die besonders in dem übergreifenden Rahmen der Zielbestimmungen zu finden sind. Daraus ergibt sich besonders der übergeordnete Zweck, dienen doch die Einzelvorschriften der näheren Ausfüllung der Zielvorschriften, der Ziele der Union nach Art. 3 EUV, die damit zugleich den übergeordneten Zweck formulieren. Ein Beispiel dafür ist die Auslegung des Wettbewerbsrechts im Licht der Ver764 tragsziele durch den EuGH.18 Umso gravierender ist, dass ein unverfälschter Wettbewerb nicht mehr derart zentral aufgeführt ist wie noch in Art. 3 Abs. 1 lit. g) EG, worauf sich der EuGH gerade stützte. Insoweit stellt sich allerdings die Frage, inwieweit nicht eine wettbewerbsfähige Marktwirtschaft jedenfalls dahin auszulegen ist, und sei es in Verbindung mit dem eigens beigefügten Protokoll (Nr. 27) über den Binnenmarkt und den Wettbewerb, wonach der Binnenmarkt ein System umfasst, das den Wettbewerb vor Verfälschungen schützt, diesen mithin in zunächst unverfälschter Weise voraussetzt.
B. Landwirtschaft I. Auftrag zur Festlegung und Durchführung einer gemeinsamen Agrar- und Fischereipolitik 765 Nach Art. 38 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV legt die Union eine gemeinsame Agrar- und Fischereipolitik fest und führt sie durch. Diese ausdrückliche Aufgabenbenennung unterstreicht den besonderen Stellenwert der Agrar- und Fischereipolitik im Unionsgefüge.19 Auch Art. 3 Abs. 1 lit. e) EG benannte „eine gemeinsame Politik auf dem Gebiet der Landwirtschaft und der Fischerei“ im Rahmen der Tätigkeitsbeschreibung der Gemeinschaft. Art. 38 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV konkretisiert diese Tätigkeit der Union nun hinsichtlich der Festlegung und der Durchführung der gemeinsamen Agrar- und Fischereipolitik. Der Begriff „Gemeinsame Agrar- und Fischereipolitik“ selbst ist dabei in 766 den Verträgen nicht ausdrücklich definiert, ergibt sich aber aus dem Anwendungsbereich der entsprechenden Vorschriften. Er umfasst den gesamten Bereich der Landwirtschaft und Fischerei, soweit sie unionsrechtlich erfasst werden. 20 In
15 16 17 18 19 20
Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 2 EGV, Rn. 8 unter Heranziehung schon von EuGH, Rs. 1/69, Slg. 1969, 277 (284, Rn. 4/5) – Italien/Kommission. EuGH, Rs. 299/86, Slg. 1988, 1213 (1235, Rn. 24) – Drexl. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Verfassung der EU, 2006, Art. I-3 Rn. 9. Grundlegend EuGH, Rs. 6/72, Slg. 1973, 215 (245 f., Rn. 24 ff.) – Continental Can; auch etwa Rs. 85/76, Slg. 1979, 461 (552 f., Rn. 125) – Hoffmann-La Roche. Lorenzmeier, in: Vedder/Heintschel v. Heinegg, Europäischer Verfassungsvertrag, 2007, Art. III-225 Rn. 5. Van Rijn, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 33 EG Rn. 1.
B. Landwirtschaft
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den Verträgen werden dabei die Bezugnahmen auf die gemeinsame Agrarpolitik (GAP) so verstanden, dass unter Berücksichtigung der gemeinsamen Merkmale des Fischereisektors auch die Fischerei gemeint ist (Art. 38 Abs. 1 UAbs. 2 S. 3 AEUV). II. Zuständigkeitsverteilung Nach Art. 4 Abs. 2 lit. d) AEUV teilt die Union ihre Zuständigkeit im Bereich der 767 Landwirtschaft und Fischerei mit den Mitgliedstaaten, mit Ausnahme der Erhaltung der biologischen Meeresschätze. Daher können sowohl Union als auch Mitgliedstaaten in diesem Bereich gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen. Die Mitgliedstaaten werden nur tätig, sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt oder entschieden hat, ihre Tätigkeit nicht mehr auszuüben (Art. 2 Abs. 2 AEUV). Eine ausschließliche Zuständigkeit kommt der Union nach Art. 3 Abs. 1 lit. d) 768 AEUV hingegen für die Erhaltung der biologischen Meeresschätze im Rahmen der gemeinsamen Fischereipolitik zu. In diesem Bereich kann daher nur die Union gesetzgeberisch tätig werden und verbindliche Rechtsakte erlassen. Ein Tätigwerden der Mitgliedstaaten ist nur nach Ermächtigung durch die Union oder zur Durchführung der Unionsrechtsakte zulässig (Art. 2 Abs. 1 AEUV). III. Ziele der GAP 1. Ziele und Rahmenvorgaben Art. 39 AEUV normiert in Abs. 1 die verbindlichen Ziele der GAP, die mit den in 769 Art. 40 ff. AEUV festgeschriebenen Mitteln und Verfahren zu verwirklichen sind. Darüber hinaus legt er in Abs. 2 bestimmte Rahmenvorgaben fest, die bei der Gestaltung der GAP und den hierfür anzuwendenden besonderen Methoden zu berücksichtigen sind. Die Auslegung der Ziele des Abs. 1 hat im Lichte der Rahmenvorgaben des Abs. 2 zu erfolgen.21 2. Verhältnis zu anderen Vertragszielen Die fünf in Art. 39 Abs. 1 AEUV normierten Ziele konkretisieren die in Art. 3 770 EUV genannten allgemeinen Ziele der Union für den Bereich der GAP. 22 Sie sind dabei grundsätzlich vorrangig gegenüber den allgemeinen Zielen der Verträge. 23 Für den Binnenmarkt und den Wettbewerb ergibt sich dieser Vorrang ausdrücklich aus Art. 38 Abs. 2 und Art. 42 AEUV. Darüber hinaus sind die in Art. 39 Abs. 1 AEUV normierten Ziele abschließend. 771 Eine Maßnahme, die nicht zumindest eines der fünf Ziele verfolgt, fällt nicht in
21 22 23
EuGH, Rs. 68/86, Slg. 1988, 855 (895, Rn. 10) – Vereinigtes Königreich/Rat. Bittner, in: Schwarze, Art. 33 EGV Rn. 1. Kopp, in: Streinz, Art. 33 EGV Rn. 5.
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Kapitel 8: Weitere Unionspolitiken
den Anwendungsbereich der GAP und damit auch nicht unter die Ermächtigungsgrundlage des Art. 43 Abs. 2 AEUV.24 3. Rechtliche Bedeutung 772 Da die einzelnen Zielsetzungen als solche nicht einklagbar sind, liegt ihre rechtliche Bedeutung insbesondere in der Heranziehung als Auslegungsmaßstäbe für die zahlreichen im Rahmen der GAP ergehenden Sekundärrechtsakte. 25 Gemeinsam mit dem durch Art. 38 AEUV festgelegten sachlichen Anwendungsbereich bestimmt Art. 39 AEUV den Umfang der in Art. 43 Abs. 2 AEUV gewährten agrarpolitischen Ermächtigungsgrundlage,26 prägt so deren Reichweite und damit auch die Grenzen nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 EUV.27 Insofern verweisen die Maßnahmenregelungen der Art. 40 ff. AEUV auf Art. 39 AEUV. Bei der Auslegung des so erlassenen Sekundärrechts der GAP ist im Zwei773 felsfall diejenige Interpretation zu wählen, die der Verwirklichung der in Art. 39 Abs. 1 AEUV genannten Ziele am nächsten kommt.28 Diese Ziele prägen damit den Gehalt des effet utile als dominierende Auslegungsmethode. 4. Die einzelnen Leitziele 774 Die in Art. 39 Abs. 1 lit. a)-c) AEUV normierten Zielsetzungen dienen primär den Belangen der Landwirtschaft, die in Art. 39 Abs. 1 lit. d) und e) AEUV enthaltenen Ziele betreffen hingegen vorrangig die Interessen der Verbraucher.29 Eine Unterscheidung kann auch nach den eher wirtschaftspolitisch ausgerichteten Zielen der lit. a), c) und d) und den überwiegend sozialpolitisch motivierten Zielsetzungen der lit. b) und e) getroffen werden. 30 Die Produktivität der Landwirtschaft (lit. a)) kann dabei ebenso wie die Versorgungssicherheit (lit. d)) auch langfristig gesehen werden und schließt daher Umweltgesichtspunkte im Interesse eines wirksamen Boden- und Gewässerschutzes nicht aus.31 Zudem arbeitet die Landwirtschaft bereits vielfach für den Umwelt- und Klimaschutz – so durch Biogasanlagen auf der Basis von Mais etc.
24 25 26 27 28 29 30 31
Bittner, in: Schwarze, Art. 33 EGV Rn. 3. Busse, in: Lenz/Borchardt, Art. 39 AEUV Rn. 8. Bittner, in: Schwarze, Art. 33 EGV Rn. 1. S. die strenge Sicht nach BVerfGE 123, 267 (349 f.) – Lissabon. Offener nunmehr BVerfG, NJW 2010, 3422 – Mangold. Vgl. EuGH, Rs. 159/73, Slg. 1974, 121 (129, Rn. 4) – Hannoversche Zucker; Rs. 147/81, Slg. 1982, 1389 (1396 f., Rn. 7 ff.) – Merkur; st. Rspr. Classen, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 25 Rn. 10 f. Bittner, in: Schwarze, Art. 33 EGV Rn. 4. S. Frenz, Europarecht 6, Rn. 2550 ff., 2564.
C. Verkehr
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C. Verkehr I. Elementare Bedeutung für den Binnenmarkt Gemäß Art. 90 AEUV werden auf dem im Titel Verkehr geregelten Sachgebiet 775 die Ziele der Verträge im Rahmen einer gemeinsamen Verkehrspolitik verfolgt. Damit knüpft die Verkehrspolitik explizit an die Ziele der Verträge an. Ein wesentliches Vertragsziel ist die Errichtung des Binnenmarktes, und zwar gemäß der allgemeinen Zielvorgabe des Art. 3 Abs. 3 S. 1 EUV und dem einleitenden Titel für die internen Politiken und Maßnahmen der Union nach Art. 26 AEUV. Nach dessen Abs. 2 umfasst der Binnenmarkt einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet ist. Als Teil des Binnenmarktes muss die Verkehrspolitik grundsätzlich zugleich 776 dessen Regeln unterliegen. Damit finden im Verkehrssektor außer bei Sonderregelungen die Grundfreiheiten selbst Anwendung. Der Verkehr bildet insbesondere eine Dienstleistung. Gleichwohl nimmt ihn Art. 58 Abs. 1 AEUV von den allgemeinen Bestimmungen über die Dienstleistungsfreiheit aus.32 Ebenso gelten für das Beihilferecht besondere Bestimmungen (s. Art. 93, 96 AEUV), sofern nach der gleichwohl einschlägigen prägenden Beihilfejudikatur Altmark33 überhaupt eine Beihilfe vorliegt; das ist nicht der Fall, wenn durch Unterstützungen nur besondere gemeinwirtschaftliche Verpflichtungen ausgeglichen werden.34 Im Übrigen zeigen sich die Eigenheiten des Verkehrssektors, die eine eigene Politik begründen. Diese Eigenheiten dürfen gleichwohl nur dort greifen, wo Besonderheiten im 777 Verkehrssektor existieren, die eine umfassende Anwendung der generellen Regeln hindern. Ansonsten wird die Verkehrspolitik nicht ihrer in Art. 26 Abs. 2 AEUV postulierten Grundlagenfunktion für den Binnenmarkt gerecht. Daher gilt es, einen gemeinsamen Verkehrsmarkt ohne mengenmäßige Beschränkungen und ohne Wettbewerbsverfälschungen zu schaffen.35 II. Reichweite Gemäß Art. 100 Abs. 1 AEUV gelten die Bestimmungen über die gemeinsame 778 Verkehrspolitik und damit die vorstehend genannten besonderen Grundsätze und Ausprägungen der Vertragsziele für die Beförderungen im Eisenbahn-, Straßenund Binnenschiffsverkehr. Wegen der umfassenden Zielsetzung infolge der Einbettung in die Ziele des Gesamtvertragswerkes nach Art. 90 AEUV werden nicht nur die reinen Beförderungsleistungen erfasst, sondern auch deren Grundlagen und damit die Rahmenbedingungen.
32 33 34 35
S. auch Mückenhausen, in: Lenz/Borchardt, Vorbem. Art. 90-100 AEUV Rn. 2 f. Grundlegend EuGH, Rs. C-280/00, Slg. 2003, I-7747 (7839, Rn. 87 ff.) – Altmark. Näher Frenz, Europarecht 3, Rn. 428 ff.; ders., Europarecht 6, Rn. 3142 ff. Allgemeine Meinung, etwa Boeing, in: Grabitz/Hilf, Art. 70 EGV Rn. 19 ff.; Epiney, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, L Rn. 99 ff.
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Kapitel 8: Weitere Unionspolitiken
So hängt die Wettbewerbssituation maßgeblich davon ab, wer die Verkehrsinfrastruktur beherrscht bzw. auf sie Zugriff hat. Die Frage, ob Beihilfen vorliegen bzw. Unterstützungsleistungen für bestimmte Unternehmen gegeben sind, ist eng mit der Finanzierung von Verkehrswegen verbunden, wenn erhobene Gebühren etwa gerade für die Unterstützung der einheimischen Unternehmen benutzt werden. Tiefer gehend wird dadurch der grenzüberschreitende Dienstleistungsverkehr berührt, wenn etwa für schwere Nutzfahrzeuge Gebühren erhoben werden, sofern sie bestimmte Verkehrswege benutzen.36 Die Wettbewerbssituation der einzelnen Teilnehmer wird auch maßgeblich von 780 den steuerlichen Vorschriften und Umweltschutzanforderungen geprägt. Art. 91 Abs. 1 lit. b) AEUV sieht etwa Vorschriften für die Zulassung von Verkehrsunternehmen zum Verkehr innerhalb eines Mitgliedstaates, in dem sie nicht ansässig sind, vor. Damit werden sämtliche Rahmenbedingungen für Beförderungsleistungen der in Art. 100 Abs. 1 AEUV genannten Verkehrsmittel umfasst.37 Art. 91 AEUV ermächtigt aber auch zu den klassischen Verkehrsmaßnahmen wie solchen zur Verbesserung der Verkehrssicherheit (lit. c)) sowie für den internationalen und Durchgangsverkehr (lit. a)). Über die zweckdienlichen Maßnahmen nach Art. 91 Abs. 1 lit. d) AEUV besteht eine umfassende Auffangklausel und ist ein weites Regulierungsfeld eröffnet. Von besonderer Aktualität ist die Frage des Austauschs von Fluggastdaten. 781 Die Übermittlung und Verwendung von Fluggastdaten wird insbesondere aus Gründen des Datenschutzes kritisiert. 38 Das Europäische Parlament verzichtete zwar nach einem Beschluss vom 5.5.2010 vorerst darauf, das FluggastdatenAbkommen mit den USA39 außer Kraft zu setzen, verlangte aber eine kürzere Speicherung der von den Passagieren auf Transatlantikflügen erhobenen Daten (gegebenenfalls fünf statt 15 Jahre) und bessere Einspruchmöglichkeiten gegen die Auswertung dieser Daten in den USA. Die Kommission erarbeitete ein Gesamtkonzept.40 Soweit Daten auf Vorrat gespeichert werden, ist dies zwar als solches nicht schlechthin unzulässig, unterliegt aber aus deutscher Sicht hohen Anforderungen. Dies hat das BVerfG im Hinblick auf die Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten hervorgehoben. 41 779
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37 38 39
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Daher RL 1999/62/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über die Erhebung von Gebühren für die Benutzung bestimmter Verkehrswege durch schwere Nutzfahrzeuge vom 17.6.1999, ABl. L 187, S. 42, zuletzt geändert durch RL 2006/103/EG des Rates vom 20.11.2006 zur Anpassung bestimmter Richtlinien im Bereich Verkehrspolitik anlässlich des Beitritts Bulgariens und Rumäniens, ABl. L 363, S. 344. Epiney, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, L Rn. 37 m.w.N. Hierzu m.w.N. Zerdick, in: Lenz/Borchardt, Art. 87 Rn. 10. Abkommen zwischen der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika über die Verarbeitung von Fluggastdatensätzen (Passenger Name Records — PNR) und deren Übermittlung durch die Fluggesellschaften an das United States Department of Homeland Security (DHS) (PNR-Abkommen von 2007), ABl. L 204 vom 4.8.2007, S. 18. Mitteilung der Kommission vom 4.11.2010 über ein Gesamtkonzept für den Datenschutz in der EU, KOM (2010) 609 endg. BVerfGE 125, 260 (308 f., 316, 322 ff.) – Vorratsdatenspeicherung aus Unionsperspektive; o. Rn. 661 f.
D. Steuern
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III. Zuständigkeitsverteilung Gemäß Art. 4 Abs. 2 lit. g) AEUV hat die Union in der Verkehrspolitik eine ge- 782 teilte Zuständigkeit. Allerdings implizieren die Regelungsgegenstände von Art. 91 Abs. 1 lit. a) und b) AEUV jedenfalls unionsweite Grundregeln. Diese wie auch Detailregelungen schließt aber die geteilte Zuständigkeit nicht aus. Nur sind gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 2 AEUV die Mitgliedstaaten regelungsbefugt, wenn bzw. soweit die Union keine verbindlichen Rechtsakte erlässt. Das gilt gemäß Art. 4 Abs. 2 lit. a) AEUV sogar für den Binnenmarkt, sieht man von den für sein Funktionieren erforderlichen Wettbewerbsregeln ab (Art. 3 Abs. 1 lit. b) AEUV).
D. Steuern I. Regelungsansätze Die steuerlichen Vorschriften sind in den Verträgen zum einen in Titel VII Ka- 783 pitel 2 über die Steuerlichen Vorschriften (Art. 110-113 AEUV) normiert. Zum anderen finden sich auch außerhalb dieses Kapitels steuerrechtlich relevante Bestimmungen wie Art. 65 Abs. 1 lit. a), 114 Abs. 2, 192 Abs. 2 lit. a) und 194 Abs. 3 AEUV. Ergänzend kommen die allgemeinen Vorschriften zur Rechtsangleichung der Art. 115, 116 AEUV hinzu 42 sowie die Grundfreiheiten, die bei Diskriminierungen und Beschränkungen, insbesondere im Bereich der direkten Steuern, herangezogen werden können.43 Spezielle Steuerbefreiungsvorschriften enthält zudem das Protokoll über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union.44 Darüber hinaus werden verschiedene Normen zur Begründung einer Besteuerungskompetenz der Union herangezogen.45 II. Nationale Steuerhoheit Die Vertragsgeber agierten bei der Ausgestaltung des Steuerrechts sehr verhalten. 784 Wie im Ausspruch „the power to tax is the power to govern“ zum Ausdruck kommt, gehört die Steuerhoheit zu den fundamentalen Souveränitätsrechten der Mitgliedstaaten.46 Das BVerfG sieht die Einnahmen als wesentlichen Bereich demokratischer Gestaltung und damit typischerweise den Mitgliedstaaten zuzuordnende Aufgabe.47 Folglich haben die Mitgliedstaaten auf dem Gebiet der Besteuerung nur in begrenztem Umfang Hoheitsrechte an die Union abgegeben.48
42 43 44 45 46 47 48
Nicht Art. 114 AEUV, s. dessen Abs. 2. Kamann, in: Streinz, vor Art. 90 EGV Rn. 3; näher Frenz, Europarecht 1, Rn. 1393, 1410 ff., 2616 f., 2129, 2823 ff. Protokoll (Nr. 7) zum EUV/AEUV über die Vorrechte und Befreiungen der Europäischen Union, ABl. 2010 C 83, S. 266. Ausführlich hierzu Frenz, Europarecht 6, Rn. 3305 ff. Nettesheim, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 34 Rn. 1. BVerfGE 123, 267 (357 ff.) – Lissabon. Voß, in: Grabitz/Hilf, vor Art. 90 EGV Rn. 24.
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III. Begrenzte Abstimmung der Steuersysteme 785 Ziel der europäischen Steuerpolitik sollte es nicht sein, die einzelstaatlichen Steuersysteme zu vereinheitlichen, sondern diese untereinander und mit den Zielen der Verträge in Einklang zu bringen.49 Mithin regeln die Verträge die Besteuerung lediglich insoweit, als das spezifische Integrationsanliegen des Unionsrechts betroffen ist.50 Das entspricht dem Ansatz des BVerfG, die „demokratiesensiblen“ Bereiche am ehesten bei sachlicher Notwendigkeit grenzüberschreitender Gestaltung dem Unionsrecht zu öffnen. 51 Die steuerrechtlichen Vorschriften der Union stellen also kein geschlossenes und eigenständiges Steuersystem dar. Die Verträge enthalten daher zwei prinzipiell selbstständige Instrumente zur 786 Verwirklichung der Steuerpolitik der Union: die Diskriminierungsverbote und die Harmonisierungsgebote.52 Dabei weisen die unionsrechtlichen Besteuerungsregeln eine systematische Unterscheidung zwischen direkten 53 und indirekten Steuern54 auf. Art. 110 ff. AEUV normieren vornehmlich an die Mitgliedstaaten gerichtete 787 abgabenrechtliche Diskriminierungsverbote zur Unterbindung diskriminierender Formen nationaler Besteuerung. Im Einzelnen enthält Art. 110 Abs. 1 AEUV ein Diskriminierungsverbot für indirekte Steuern, das von Art. 110 Abs. 2 AEUV auch auf einen etwaigen Substitutionswettbewerb erstreckt wird. Art. 111 AEUV statuiert ein Privilegierungsverbot für die Rückvergütung indirekter Steuern. Auf direkte Steuern findet lediglich Art. 112 AEUV Anwendung, der ein Kompensationsverbot für direkte Steuern enthält.55 Daneben wirkt der Gerichtshof der EU unter Berufung auf die Grundfreiheiten richterrechtlich auf eine diskriminierungsfreie Ausgestaltung der direkten Steuern hin. 56 Als zweites Instrument eröffnet der AEUV den Unionsorganen mit Art. 113 788 AEUV die Möglichkeit, nationale Steuervorschriften über die indirekten Steuern zu harmonisieren. Bei den direkten Steuern ist dies über die allgemeinen Vorschriften der Rechtsangleichung nach Art. 115, 116 AEUV und die Flexibilitätsklausel des Art. 352 AEUV möglich.57
49 50 51 52 53
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55 56 57
Europäische Kommission, Steuerpolitik in der Europäischen Union, 2000, S. 5. Stumpf, in: Schwarze, Art. 93 EGV Rn. 1. BVerfGE 123, 267 (359) – Lissabon. Waldhoff, in: Calliess/Ruffert, Art. 90 EGV Rn. 7. Direkte Steuern belasten grds. den Steuerschuldner, der sie abführt; Steuerschuldner und Steuerträger sind also identisch; z.B. Einkommensteuer, Körperschaftsteuer, Vermögensteuer. Indirekte Steuern belasten nicht den Steuerschuldner, der sie abführt (Händler, Hersteller), da dieser die Steuer nur für den Staat einzieht und auf den Verkaufspreis umlegt, so dass die Belastung vom Endverbraucher getragen wird; Steuerschuldner und Steuerträger sind also nicht identisch; z.B. Mehrwertsteuer, Verbrauchsteuern. Rossi, in: Vedder/Heintschel v. Heinegg, Europäischer Verfassungsvertrag, 2007, Art. III-170 Rn. 2. Nettesheim, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 34 Rn. 9. Eilers/Sedlaczek, in: von der Groeben/Schwarze, Vorbem. Art. 90-93 EG Rn. 1.
E. Wirtschaft und Währung
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Grund der Differenzierung zwischen direkten und indirekten Steuern ist, dass 789 direkte Steuern im Vergleich zu indirekten Steuern die Person und nicht die Warenbewegung belasten, so dass von ihnen unmittelbar keine Wettbewerbsverzerrung und keine Marktbeeinträchtigung ausgeht. 58 Die Vertragsgeber sahen daher keine Notwendigkeit, die direkten Steuern ausdrücklich vertraglich zu reglementieren. Auch wenn diese damit primär in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fallen, „müssen diese ihre Zuständigkeit unter Wahrung des Gemeinschaftsrechts (Unionsrechts) ausüben“. 59 Sofern sich also nationale Vorgaben auf die Grundfreiheiten und dabei vor allem auf das Niederlassungsrecht von Personen und Unternehmen in der Union auswirken, kann dem über die allgemeinen Harmonisierungsvorschriften und die Grundfreiheiten entgegengewirkt werden.60 IV. Umwelt und Energie Art. 192 Abs. 2 lit. a) und 194 Abs. 3 AEUV sehen den Erlass von Steuerbestim- 790 mungen zudem als Instrumente der Umwelt- und Energiepolitik der Union vor. Auch solche Öko- bzw. Energiesteuern müssen wie andere Steuervorschriften im Rat einstimmig beschlossen werden. Durch Art. 192 Abs. 2 lit. a) und 194 Abs. 3 AEUV wird der Erlass von Har- 791 monisierungsmaßnahmen auf der Grundlage von Art. 113 und 115 AEUV jedoch auch für umweltrelevante Steuern nicht ausgeschlossen. Diese sind einschlägig, sofern der Binnenmarktbezug der fiskalischen Maßnahme überwiegt. 61 Haben die Steuern ihren Schwerpunkt hingegen im Bereich des Umweltschutzes bzw. der Energiepolitik, bilden Art. 192 Abs. 2 UAbs. 1 lit. a) und 194 Abs. 3 AEUV die einschlägigen Rechtsgrundlagen.62
E. Wirtschaft und Währung I. Allgemeine Grundkonzeption und Bedeutung Auf primärrechtlicher Ebene ist die Wirtschafts- und Währungspolitik in 792 Art. 119-144 AEUV geregelt. Den Untergliederungen in einzelne Kapitel in diesem Abschnitt ist Art. 119 AEUV vorgelagert. Dessen übergeordnete Stellung zeigt sich auch in den Verweisen in Art. 120 und 127 AEUV, welche jeweils die ersten Normen der Kapitel über die Wirtschafts- bzw. Währungspolitik sind. Art. 119 Abs. 1 und 2 AEUV legen den Rahmen der Wirtschafts- und Währungspolitik fest. In Art. 119 Abs. 3 AEUV werden die „richtungweisenden Grundsätze“ aufgeführt, welche zur Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) beachtet werden müssen. 58 59 60 61 62
Birk, FR 2005, 121 (121). EuGH, Rs. C-264/96, Slg. 1998, I-4695 (4721, Rn. 19 u. zitierte Rspr.) – ICI; Rs. C307/97, Slg. 1999, I-6161 (6202, Rn. 58) – Saint Gobain. Europäische Kommission, Steuerpolitik in der Europäischen Union, 2000, S. 7. Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 175 EGV Rn. 22. Kahl, in: Streinz, Art. 175 EGV Rn. 19.
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Kapitel 8: Weitere Unionspolitiken
II. Rahmen der Wirtschaftspolitik 793 Art. 119 Abs. 1 AEUV nimmt Bezug auf die in Art. 3 EUV niedergelegten Ziele der Union namentlich in Gestalt des Binnenmarktes und einer Wirtschaftsunion (Abs. 3 S. 1, Abs. 4) und konkretisiert die Rahmenbedingungen für die wirtschaftspolitische Tätigkeit von Union und Mitgliedstaaten. Damit sind, im Gegensatz zu Art. 3 EUV, ausdrücklich auch die Mitgliedstaaten Adressaten der Norm. Art. 119 AEUV stellt bestimmte Vorgaben auf, die es zu beachten gilt. Die Einführung und Verwirklichung einer allgemeinen Wirtschaftspolitik auf 794 Grundlage einer engen Koordinierung der mitgliedstaatlichen Wirtschaftspolitik, der Verwirklichung des Binnenmarktes und der Festlegung gemeinsamer Ziele ist die Leitidee dieser Norm. Dabei besteht eine ausdrückliche Rückbindung an den Grundsatz der offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb.63 Aus der notwendigen Koordinierung und Festlegung gemeinsamer Ziele wird 795 ersichtlich, dass es sich bei der allgemeinen Wirtschaftspolitik um keinen Bereich gemeinsamer Politik handelt, für dessen Verwirklichung und Durchsetzung zuvorderst die Unionsorgane zuständig wären.64 Vielmehr liegt die Kompetenz in diesem Politikbereich weitgehend bei den Mitgliedstaaten, was auch durch Art. 5 AEUV im Rahmen der Zuständigkeitsnormen ausdrücklich Erwähnung findet. Entsprechend dem Koordinierungsgebot des Art. 121 AEUV bildet die Wirtschaftspolitik freilich eine Angelegenheit von gemeinsamem Interesse. Für die Verwirklichung des Binnenmarktes und der europäischen WWU ist die 796 wirksame Koordinierung ein unentbehrliches Element, da ein erhebliches Auseinanderlaufen der Konjunktur in den Mitgliedstaaten die mit ihr verbundenen Ziele gefährden würde.65 Ausdrücklich wird das Gebot der Koordinierung im wirtschaftspolitischen Bereich auch in Art. 5 Abs. 1 AEUV im Rahmen der Zuständigkeitsverteilung auf Unionsebene erwähnt. III. Rahmen der Währungspolitik 797 Der Rahmen und die wesentlichen Elemente der Währungspolitik werden in Art. 119 Abs. 2 AEUV zusammengefasst. Dadurch wird die in Art. 3 Abs. 4 EUV postulierte Währungsunion konkretisiert. Eine zentrale Rolle kommt dabei der Einführung des Euro zu, die am 1.1.1999 erfolgte. Der Euro als einheitliche Währung stellt dabei zusammen mit der Festlegung 798 und Durchführung einer einheitlichen Geld- und Wechselkurspolitik das zentrale Instrumentarium dar, um das nach Art. 119 Abs. 2 AEUV maßgebliche Ziel der Preisstabilität zu erreichen. Dieses auch in der grundlegenden Zielbestimmung des Art. 3 Abs. 3 S. 2 EUV aufgeführte Ziel, welches nach Vorgabe der Europäischen Zentralbank (EZB) bei einem Anstieg des Preisniveaus von weniger als 2 % gewahrt ist, ist mehr als ein Lippenbekenntnis, was sich auch im Zusammenhang 63 64 65
S. hierzu ausführlich Frenz, Europarecht 2, Rn. 25 ff. Bandilla, in: Grabitz/Hilf, Art. 4 EGV Rn. 2, 5. Mickel/Bergmann (Hrsg.), Handlexikon der Europäischen Union, 2005, Schlagwort: „Wirtschaftspolitik“.
E. Wirtschaft und Währung
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mit der jüngsten Wirtschaftskrise gezeigt hat. Die EZB verhielt sich entsprechend dieser Zielsetzung im internationalen Vergleich relativ zurückhaltend bei der Leitzinssenkung, um die Erhöhung der Geldmenge in kontrollierten Bahnen zu halten, auch wenn sie sich damit einiger Kritik aussetzte. Konkret als Grundsätze festgelegt sind die Gewährleistung stabiler Preise, ge- 799 sunde öffentliche Finanzen und monetäre Rahmenbedingungen sowie eine dauerhaft finanzierbare Zahlungsbilanz. Dabei handelt es sich um Handlungsmaximen für die Politik, welche trotz der weitgehenden Zuständigkeit der Mitgliedstaaten im wirtschaftspolitischen Bereich auch für diese Geltung entfalten. Die so erzeugte Rückbindung ist aber nicht besonders eng und hat grundsätzlich keinen rechtlich streng verbindlichen Gehalt.66 Die Vorgaben in Art. 119-121 AEUV binden daher die Mitgliedstaaten nicht unmittelbar, so dass sich der Einzelne auch nicht vor nationalen Gerichten hierauf berufen kann.67 Während für die Wirtschaftspolitik alle Mitgliedstaaten gemäß Art. 119 ff. 800 AEUV weitgehend selbst zuständig sind, werden die währungspolitischen Kompetenzen für die Mitgliedstaaten mit Zugehörigkeit zum Euro nach Art. 127 ff. AEUV auf Unionsebene ausgeübt. Dies hat besondere Probleme zur Folge, da in den einzelnen Mitgliedstaaten eine divergierende Wirtschaftspolitik verfolgt werden kann. Daraus können insbesondere unterschiedliche Verschuldungsgrade resultieren, die auf die Stabilität einer Währung durchschlagen. Das zeigte die Euro-Schwäche im Gefolge der Bedenken wegen der überbordenden griechischen Staatsverschuldung. Gerade wenn der betroffene Mitgliedstaat wie Griechenland zum Euroraum gehört, können die Folgen für den Währungsraum verheerend sein. Diese Probleme erstrecken sich aufgrund der engen Vernetzung im Rahmen des Binnenmarktes auch auf die übrigen Mitgliedstaaten. IV. Staatshilfen 1. Finanzieller Beistand Mit Art. 122 Abs. 2 AEUV besteht die Möglichkeit, einen finanziellen Transfer 801 zugunsten einzelner Mitgliedstaaten zu veranlassen, wenn sie durch Naturkatastrophen oder sonstige außergewöhnliche, nicht kontrollierbare Ereignisse in Mitleidenschaft gezogen wurden. Insofern wird ein Gegengewicht zu Art. 125 AEUV geschaffen, der grundsätzlich keine Einstandspflicht der Union für Verbindlichkeiten der Mitgliedstaaten vorsieht.68 Neben dem Wortlaut der Regelung selbst resultiert hieraus eine restriktive Anwendung der Norm. Damit wird eine Gewährung von finanziellem Beistand an bereits bestehende 802 oder drohende gravierende Schwierigkeiten geknüpft, auf welche der Mitgliedstaat keinen Einfluss hat. Ob und wie finanzieller Beistand gewährt wird, unterliegt wiederum einem weiten Ermessensspielraum des Rates, welcher auf Vor-
66 67 68
Häde, in: Calliess/Ruffert, Art. 4 EGV Rn. 43. EuGH, Rs. C-9/99, Slg. 2000, I-8207 (8233, Rn. 25) – Échirolles Distribution. Bandilla, in: Grabitz/Hilf, Art. 100 EGV Rn. 9.
232
Kapitel 8: Weitere Unionspolitiken
schlag der Kommission beschließt.69 Für die aktuelle Schuldenkrise in der EU stellt sich die Frage, ob Art. 122 Abs. 2 AEUV herangezogen werden kann, um finanziellen Beistand zu gewähren.70 2. Institutionalisierung der Staatshilfe über Art. 122 Abs. 2 AEUV 803 Der Erlass der VO (EU) Nr. 407/2010 des Rates vom 11.5.2010 zur Einführung eines europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus71 führte zu einer Institutionalisierung des finanziellen Beistands auf der Grundlage des Art. 122 Abs. 2 AEUV. Nach Art. 1 der VO (EU) Nr. 407/2010 ersetzen diese Regelungen ausdrücklich nicht die VO (EG) Nr. 332/2002.72 Letztere regelt in Art. 1 finanzielle Hilfen für Mitgliedstaaten, deren Währung nicht der Euro ist. 73 Hieraus ergibt sich in der Folge, dass die wahren Begünstigten der Verordnung die Mitgliedstaaten mit dem Euro sind, da für die übrigen Mitgliedstaaten bereits die Regelungen in der VO (EG) Nr. 332/2002 Finanzhilfen ermöglichen. Dabei werde die VO (EU) Nr. 407/2010 selbst durch außergewöhnliche Umstände im Rahmen der Finanzkrise gerechtfertigt. Das Vorliegen dieser Umstände soll regelmäßig alle sechs Monate nach Inkrafttreten erneut überprüft werden. 74
F. Beschäftigung I. Unionale Koordinierung 804 Die Unionskompetenzen im Rahmen der Beschäftigungspolitik sind sehr begrenzt. Die Sicherung eines hohen Beschäftigungsniveaus verbleibt letztlich in der Kompetenz der Mitgliedstaaten. Es handelt sich, wie Art. 146 Abs. 1 AEUV formuliert, um „ihre Beschäftigungspolitik“, in deren Rahmen sie dann zusammenarbeiten, wie Art. 147 Abs. 1 AEUV voraussetzt. Die Union hat lediglich diese Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten zu fördern und deren beschäftigungspolitische Maßnahmen zu unterstützen und zu ergänzen.75 Die europäische Beschäftigungspolitik ist damit eine flankierende Politik. 805 Der EU kommt lediglich eine ergänzende, koordinierende und fördernde Rolle zu, gemäß Art. 5 Abs. 2 AEUV insbesondere durch die Festlegung von Leitlinien. Damit ist die Beschäftigungspolitik wie die Wirtschaftspolitik, auf deren Grundzüge Art. 146 Abs. 1 AEUV verweist, und die Sozialpolitik Teil der koordinieren-
69 70 71 72
73 74 75
S. auch Hattenberger, in: Schwarze, Art. 100 EGV Rn. 6. Abl. Frenz, Europarecht 6, Rn. 3650 ff. ABl. L 118, S. 1. VO (EG) Nr. 332/2002 des Rates vom 18.2.2002 zur Einführung einer Fazilität des mittelfristigen finanziellen Beistands zur Stützung der Zahlungsbilanzen der Mitgliedstaaten, ABl. L 53, S. 1, zuletzt geändert durch VO (EG) Nr. 431/2009 des Rates vom 18.5.2009, ABl. L 128, S. 1. Vgl. auch Erwägungsgrund 7 der VO (EG) Nr. 332/2002. Zu Kompetenzbedenken Frenz, Europarecht 6, Rn. 3656 ff. Herdegen, Europarecht, § 28 Rn. 1.
F. Beschäftigung
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den Zuständigkeit der Union nach Art. 5 AEUV. Grundsätzlich bleibt sie eine Angelegenheit der Mitgliedstaaten.76 II. Sozialfonds Ergänzt wird die Beschäftigungspolitik insbesondere durch die Tätigkeit des euro- 806 päischen Sozialfonds, der auf die Verbesserung der Beschäftigungsmöglichkeiten der Arbeitskräfte im Binnenmarkt abzielt (Art. 162 ff. AEUV). III. Beschäftigungsstrategie Unmittelbare Ziele der europäischen Beschäftigungspolitik sind nach Art. 145 807 AEUV die Entwicklung einer koordinierten Beschäftigungsstrategie, die Förderung der Qualifizierung, Ausbildung und Anpassungsfähigkeit der Arbeitnehmer und die Fähigkeit der Arbeitsmärkte, auf die Erfordernisse des wirtschaftlichen Wandels zu reagieren. Bei der Formulierung des Art. 145 AEUV wird nicht deutlich, ob die Beschäftigungsstrategie der Oberbegriff ist, der durch die anderen genannten Aspekte ausgefüllt wird,77 oder ob es sich um verschiedene Aufgabenbereiche einer Beschäftigungspolitik handelt. Die Frage ist jedoch nicht weiter von Bedeutung, da die Aufzählung ohnehin nicht abschließend ist, wie die Verwendung des Wortes „insbesondere“ zeigt.78 „Koordinierte Beschäftigungsstrategie“ heißt, dass sich sowohl die Mitglied- 808 staaten als auch die Union mit einer aufeinander abgestimmten Beschäftigungsstrategie befassen müssen. In deren Rahmen müssen unmittelbar und mittelbar staatlich veranlasste Maßnahmen derart aufeinander ausgerichtet werden, dass sie die Beschäftigung in den einzelnen Mitgliedstaaten unterstützen. Damit verbunden werden alle Maßnahmen unterlassen, die sich beschäftigungsfeindlich auswirken. Der Strategiebegriff macht deutlich, dass es sich nicht um eine lediglich kurz- 809 weilige Maßnahme handelt, sondern dass das Beschäftigungsniveau stetig und langfristig gesteigert werden soll. 79 Allerdings handelt es sich hierbei um einen programmatischen Ansatz, der laut Art. 145 AEUV „nach diesem Titel“ verwirklicht werden soll.80 Der Verwendung des Begriffs „koordinierte Beschäftigungsstrategie“ ist daher noch keine Handlungspflicht zu entnehmen. Dies zeigt sich auch daran, dass die Mitgliedstaaten und die Union nach Art. 145 AEUV auf die Entwicklung einer koordinierten Beschäftigungsstrategie hin „arbeiten“.
76 77 78 79 80
Coen, in: Lenz/Borchardt, Vorbem. Art. 145-150 AEUV Rn. 9. So Kreßel, in: Schwarze, Art. 125 EGV Rn. 18; Marauhn/Lochen, in: Grabitz/Hilf, Art. 125 EGV Rn. 26. Krebber, in: Calliess/Ruffert, Art. 125 EGV Rn. 9; Niedobitek, in: Streinz, Art. 125 EGV Rn. 23. Kreßel, in: Schwarze, Art. 125 EGV Rn. 19. Marauhn/Lochen, in: Grabitz/Hilf, Art. 125 EGV Rn. 32.
234
Kapitel 8: Weitere Unionspolitiken
G. Soziales I. Begriff 810 Die europäische Sozialpolitik kennt die im deutschen Recht gängige Aufteilung in Arbeits- und Sozialrecht nicht.81 Die im Titel X des AEUV enthaltenen, dort sogenannten Sozialvorschriften umfassen in erster Linie das Arbeitsrecht und insbesondere mit den in Art. 153 Abs. 1 lit. c), j) und k) AEUV genannten Bereichen „soziale Sicherheit, sozialer Schutz und soziale Ausgrenzung“ das Sozialrecht. Unter europäischer Sozialpolitik insgesamt ist daher die Summe der Regelun811 gen zu verstehen, die das Ziel verfolgen, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Bürger durch öffentliche Maßnahmen zu verbessern. 82 Damit wird bereits die Wechselbeziehung zwischen Wirtschafts- und Sozialpolitik deutlich. Die Union, die ursprünglich als reine Wirtschaftsgemeinschaft konzipiert wurde, widmete sich bald auch sozialpolitischen Themen. Seit dem Vertrag von Amsterdam verfügt die Union über einen eigenen Titel zur Sozialpolitik (Art. 151 ff. AEUV). II. Sozialunion? 812 Von einer echten „Sozialunion“ ist die Union dennoch bislang weit entfernt,83 zumal die Unterschiede zwischen den Sozialordnungen der Mitgliedstaaten derart groß sind, dass eine europäische Harmonisierung des nationalen Sozialrechts nicht ohne weiteres durchsetzbar ist. Während manche Mitgliedstaaten die sozialpolitischen Befugnisse der Union parallel und gleichrangig zu den Freiheiten des Binnenmarktes ausbauen wollen, sehen andere Mitgliedstaaten (darunter auch Deutschland) in der Sozialpolitik lediglich Begleitmaßnahmen zugunsten einer sozialen „Abfederung“ des Binnenmarktes. Daher basiert die europäische Sozialpolitik häufig auf Kompromissen.84 III. Zuständigkeitsverteilung 813 Die Sozialpolitik stellt gemäß Art. 4 Abs. 2 lit. b) AEUV eine zwischen der Union und den Mitgliedstaaten geteilte Zuständigkeit dar. Gestalt bekommt die Sozialpolitik durch das umfangreiche Sekundärrecht.85 Daneben kann die Union gemäß Art. 5 Abs. 3 AEUV Initiativen zur Koordinierung der Sozialpolitik der Mitgliedstaaten ergreifen. Diese Vorschrift passt aber nur für Art. 156 Abs. 2 AEUV. Das BVerfG sieht den Bereich der sozialen Sicherung als Teil unaufgebbarer
81 82 83 84 85
Vgl. Krebber, in: Calliess/Ruffert, Art. 136 EGV Rn. 1. Classen, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 30 Rn. 1; s. auch Art. 151 Abs. 1 AEUV. Rebhahn/Reiner, in: Schwarze, Art. 136 EGV Rn. 13. Classen, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 30 Rn. 3. S. näher Frenz, Europarecht 6, Rn. 3861 ff.
G. Soziales
235
mitgliedstaatlicher Staatsaufgaben und lässt am ehesten zu, dass die Union grenzüberschreitende Sachverhalte bei sachlicher Notwendigkeit koordiniert.86 IV. Ziele Art. 3 Abs. 3 UAbs. 2 EUV benennt für die Union sozialpolitische Ziele. Danach 814 bekämpft die Union soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen und fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz, die Gleichstellung von Frauen und Männern, die Solidarität zwischen den Generationen und den Schutz der Rechte des Kindes. Zu Beginn des Sozialpolitik-Titels des AEUV werden in Art. 151 Abs. 1 AEUV konkretere Ziele benannt, und zwar nach einem Bekenntnis zu den sozialen Grundrechten der ESC und der GCSGA.87 Danach verfolgen die Union und die Mitgliedstaaten die Förderung der Be- 815 schäftigung, die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, um dadurch auf dem Weg des Fortschritts ihre Angleichung zu ermöglichen, einen angemessenen sozialen Schutz, den sozialen Dialog, die Entwicklung des Arbeitskräftepotenzials im Hinblick auf ein dauerhaft hohes Beschäftigungsniveau und die Bekämpfung von Ausgrenzungen. Hierbei handelt es sich um eine rechtlich unverbindliche Programmformel.88 V. Betätigungsfelder der Union Art. 153 AEUV greift diese grundsätzlichen Regelungen auf und schafft der Uni- 816 on für Teilbereiche des Arbeits- und Sozialrechts eine Rechtsetzungskompetenz. Art. 153 Abs. 1 AEUV benennt die Betätigungsfelder der Union, in denen diese die Tätigkeit der Mitgliedstaaten unterstützt und ergänzt, so die Arbeitsumwelt, die Arbeitsbedingungen, die soziale Sicherheit, der (soziale) Schutz der Arbeitnehmer, die Chancengleichheit von Männern und Frauen sowie die Bekämpfung von Ausgrenzung. Nach Art. 153 Abs. 4 Spiegelstrich 1 AEUV bleibt die Regelungsautonomie bei 817 den Mitgliedstaaten, die Grundprinzipien ihres Systems der sozialen Sicherheit festzulegen. Explizit ausgenommen vom Betätigungsfeld der Union sind nach Art. 153 Abs. 5 AEUV zudem das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht sowie das Aussperrungsrecht. VI. Fördermaßnahmen der Kommission Neben den genannten Kompetenzen kann die Kommission nach Art. 156 AEUV 818 Maßnahmen ergreifen, um die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern und die Abstimmung ihres Vorgehens zu erleichtern. Diese Möglichkeit besteht nach Art. 156 Abs. 1 AEUV für alle unter dem Sozialpolitik-Titel des 86 87 88
BVerfGE 123, 267 (357 ff.) – Lissabon; krit. Frenz, Europarecht 5, Rn. 279 ff. Ausführlich zu den sozialen Grundrechten Frenz, Europarecht 4, Rn. 3533 ff. S. bereits EuGH, Rs. 149/77, Slg. 1978, 1365 (1378, Rn. 19/23) – Defrenne.
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Kapitel 8: Weitere Unionspolitiken
AEUV genannten Bereiche, wobei besonders folgende Gebiete hervorgehoben werden: x x x x x x x
die Beschäftigung, das Arbeitsrecht und die Arbeitsbedingungen, die berufliche Ausbildung und Fortbildung, die soziale Sicherheit, die Verhütung von Berufsunfällen und Berufskrankheiten, der Gesundheitsschutz bei der Arbeit, das Koalitionsrecht und die Kollektivverhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
VII. Verbot der Diskriminierung von Männern und Frauen 819 Im Primärrecht finden sich verschiedene Diskriminierungsverbote (Art. 18 f. AEUV, Art. 157 AEUV, Art. 21 sowie 23 EGRC89). Diese haben besondere sozialrechtliche Bedeutung, insbesondere im Zusammenhang mit der Freizügigkeit der Unionsbürger. Entsprechend hat auf der Grundlage des Art. 157 Abs. 3 AEUV eine Harmonisierung vor allem auf dem Gebiet der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Arbeitsleben stattgefunden. Die dabei ergangenen Gleichbehandlungsrichtlinien wirken aber nicht unmittelbar im Verhältnis zu den privaten Arbeitgebern.90 Art. 157 Abs. 1 AEUV selbst ist unmittelbar anwendbar und Grundlage einer 820 reichhaltigen Judikatur.91 Hintergrund dieser Regelung waren zwar nicht in erster Linie soziale Gerechtigkeitserwägungen, sondern zumindest ursprünglich ging es um die Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen. 92 Der EuGH geht dessen ungeachtet von einer doppelten, nämlich wirtschaftlichen und sozialen Zweckbestimmung aus.93 Dieser hat die Vorschrift entsprechend der Öffnung schon in Art. 157 Abs. 2 AEUV über die Notwendigkeit gleichen Entgelts für Männer und Frauen hin zu einem weitreichenden Diskriminierungsverbot im Arbeitsleben ausgedehnt, das sowohl die privaten als auch die öffentlichen Arbeitgeber verpflichtet. Ungleichbehandlungen sind nur bei objektiv gerechtfertigten Kriterien möglich. Dadurch wird auch eine gezielte Bevorzugung von Frauen beschränkt. Mit Art. 821 157 Abs. 4 AEUV, an den Art. 1 Abs. 8 RL 2002/73/EG („Gleichbehandlungsrichtlinie in der Beschäftigung“) anknüpft, ist eine Vorrangregelung für Frauen dann vereinbar, wenn sie weiblichen Bewerbern, welche die gleiche Qualifikation wie ihre männlichen Mitbewerber besitzen, keinen automatischen und unbedingten Vorrang einräumt und wenn die Bewertungen Gegenstand einer ob89 90 91 92 93
Näher Frenz, Europarecht 4, Rn. 3220 ff., 3358 ff. Coen, in: Lenz/Borchardt, Art. 157 AEUV Rn. 33 ff. mit näherer Darstellung der einschlägigen Richtlinien. Grundlegend EuGH, Rs. 43/75, Slg. 1976, 455 (473, Rn. 13 ff.) – Defrenne. Im Einzelnen Frenz, Europarecht 1, Rn. 1823 ff. und ders., Europarecht 4, Rn. 3364 ff. Hilf/Willms, JuS 1992, 368 (369). EuGH, Rs. 43/75, Slg. 1976, 455 (473, Rn. 8/11) – Defrenne.
H. Bildung, Jugend, Sport
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jektiven Beurteilung sind, bei der die besondere persönliche Lage aller Bewerber berücksichtigt wird. Andernfalls ist das Erfordernis der Sachgerechtigkeit und damit die Verhältnismäßigkeit von Förderregeln nicht gewahrt. 94
H. Bildung, Jugend, Sport I. Systematik Art. 165 und 166 AEUV bilden den Titel XII „Allgemeine und berufliche Bildung, 822 Jugend und Sport“ und sind in diesen Bereichen die zentralen Vertragsgrundlagen für die Tätigkeit der Union. Sie sind in ihrer Struktur identisch. 95 Art. 165 AEUV enthält die abschließende Handlungsermächtigung der Union im Bereich der allgemeinen Bildung, der Jugend und des Sports. Art. 166 AEUV betrifft die Politik der Berufsbildung. Die Jugend wird von beiden Artikeln des AEUV umfasst, während der Sport nur im Bereich der allgemeinen Bildung auftaucht. 96 Art. 166 AEUV ist im Verhältnis zu Art. 165 AEUV die speziellere Vorschrift, 823 wenn der Teilbereich der beruflichen Bildung Gegenstand der Regelung ist.97 Er ist als Politik gekennzeichnet, während durch Art. 165 AEUV lediglich ein Beitrag zu einer qualitativ hoch stehenden Bildung geleistet werden soll. Damit soll insbesondere hervorgehoben werden, dass der Unionstätigkeit in der beruflichen Bildung ein höheres Gewicht zukommt als im Bereich der allgemeinen Bildung.98 Auch stellt diese Norm eine ergänzende lex specialis zu den entsprechenden Kompetenzen im Rahmen der Personenfreizügigkeit, in der Beschäftigungspolitik und beim Europäischen Sozialfonds dar. Mit Blick auf die Hochschulen kommen in Abhängigkeit von Inhalt und Zweck der jeweiligen Maßnahmen beide Vorschriften in Betracht.99 Die zur allgemeinen Bildung anerkannten Grundsätze gelten auch für die berufliche Bildung. 100 II. Zuständigkeitsverteilung Die Vorschriften sind so angelegt, dass die Hauptverantwortung für die Aus- 824 gestaltung der Bildungspolitik bei den Mitgliedstaaten liegt und die Union darauf beschränkt ist, die Politik der Mitgliedstaaten in komplementärer Weise zu fördern, zu unterstützen und zu ergänzen (Art. 165 f. AEUV jeweils Abs. 1). Dies entspricht der Zuordnung in Art. 6 S. 2 lit. e) AEUV. Die Union verfügt also über keine eigene Bildungspolitik und die Mitgliedstaaten bleiben voll für ihre Lehr-
94
95 96 97 98 99 100
EuGH, Rs. C-407/98, Slg. 2000, I-5539 (5582 f., Rn. 52 ff.) – Fogelqvist; Rs. C158/97, Slg. 2000, I-1875 – Hessisches Gleichberechtigungsgesetz; Rs. C-409/95, Slg. 1997, I-6363 – Marschall. Fischer, in: Lenz/Borchardt, Art. 166 AEUV Rn. 2. Fischer, in: Lenz/Borchardt, Art. 165 AEUV Rn. 11. Fischer, in: Lenz/Borchardt, Art. 166 AEUV Rn. 2. Niedobitek, in: Streinz, Art. 150 EGV Rn. 6. Fischer, in: Lenz/Borchardt, Art. 165 AEUV Rn. 11. Fischer, in: Lenz/Borchardt, Art. 165 AEUV Rn. 11.
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Kapitel 8: Weitere Unionspolitiken
inhalte und die Gestaltung ihrer Bildungssysteme verantwortlich, müssen aber einen den Maßstäben nach Art. 18 i.V.m. 21 AEUV genügenden diskriminierungsfreien Zugang gewähren; Beschränkungen für Bürger aus anderen EUStaaten sind im Einzelnen rechtfertigungsbedürftig.101 III. Ziele 825 Die Ziele der Union für ihre Tätigkeiten werden abschließend jeweils in Abs. 2 der Art. 165 f. AEUV aufgezählt. Gemäß Art. 165 f. (jeweils Abs. 3) AEUV können auch die Mitgliedstaaten auswärtige Bildungspolitik betreiben. Art. 165 f. AEUV räumen der Union jeweils in Abs. 4 weiterhin Handlungsmöglichkeiten zur Verwirklichung der Ziele wie den Erlass von Fördermaßnahmen und den Erlass von Empfehlungen ein, wobei eine Rechtsharmonisierung ausgeschlossen ist.
J. Kultur I. Notwendige Dominanz der Mitgliedstaaten 826 Die begrenzten kulturpolitischen Kompetenzen der Union sind in Art. 167 AEUV geregelt. Danach darf die Union keine eigene Kulturpolitik entwickeln, sondern hat sich – entsprechend der allgemeinen Zuordnung in Art. 6 S. 2 lit. c) AEUV – auf unterstützende und ergänzende Maßnahmen der Kulturpolitik der Mitgliedstaaten zu beschränken. Sie darf diese nicht konterkarieren, vereinheitlichen oder gar ersetzen.102 Dass die Union nur begrenzte Kompetenzen hat, ist auf zwei Gedanken zurück827 zuführen. Zum einen konzentrierten sich die europäischen Verträge lange auf die Wirtschaft.103 Zum anderen vollzieht sich Kultur im Wesentlichen auf der regionalen und nationalen Ebene. Auch das BVerfG sieht die Kultur als typischerweise in der nationalen Gemeinschaft gelebten Bereich und spricht von „Kulturraum“; auf die Verwirklichung darin ist danach die demokratische Selbstbestimmung besonders angewiesen.104 Sie hat zur Folge, Entscheidungen insbesondere im Schul- und Bildungssystem, im Familienrecht, bei der Sprache etc. bei den Mitgliedstaaten zu belassen.105 Die kulturellen Lebensverhältnisse und „Fragen wie die Verfügung über die Sprache, die Gestaltung der Familien- und Bildungsverhältnisse, die Ordnung der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit oder der Umgang mit dem religiösen und weltanschaulichen Bekenntnis“ müssen von den Mitgliedstaaten ausreichend politisch gestaltet werden können; der EU obliegt am ehesten die sachlich notwendige Koordinierung grenzüberschreitender Sachverhalte.106 101 102 103 104 105 106
EuGH, Rs. C-73/08, NVwZ 2010, 1141 – Bressol; s.o. Rn. 325. Blanke, in: Calliess/Ruffert, Art. 151 EGV Rn. 1. Fechner, in: Liber amicorum Thomas Oppermann, 2001, S. 687 (695). BVerfGE 123, 267 (363) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (363) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (357 ff.) – Lissabon.
K. Gesundheit
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Damit verfolgt das BVerfG bei einem sehr weiten Kulturbegriff, der sich auf 828 eigentlich primär grundrechtlich geprägte Felder erstreckt,107 eine restriktive Konzeption für die Zuständigkeit der Union, die selbst die Koordinierung mit grenzüberschreitenden Sachverhalten und sachlicher Notwendigkeit verbindet. II. Aufgabe der Union Die Verankerung der Kultur in einem AEUV-Artikel, dem ein eigener Titel ge- 829 widmet ist, unterstreicht die Eigenständigkeit und Bedeutung der Kultur im Unionsrecht. Es wird deutlich, dass die Union sich zum Ziel gesetzt hat, sich an den gemeinsamen Anstrengungen auf dem Kulturgebiet zu beteiligen. Ihre in Art. 167 Abs. 1 AEUV formulierte Aufgabe ist es, einen Beitrag zur Entfaltung der Kulturen der Mitgliedstaaten zu leisten.108 Daraus ergibt sich der klare Bezug auf die nationalen Kulturen, der durch die Wahrung der jeweiligen Vielfalt auch in den Regionen unterstrichen und durch die gleichzeitige Hervorhebung des gemeinsamen kulturellen Erbes flankiert wird. Letzteres gründet sich aber auf die mitgliedstaatlichen Kulturen und ist nicht etwa von ihnen losgelöst.
K. Gesundheit I. Geringe Unionskompetenz Titel XIV AEUV ist mit „Gesundheitswesen“ überschrieben. Die Gesundheits- 830 politik kann daher um ihrer selbst willen und nicht nur als bloßer Annex zu anderen Materien Gegenstand von Unionsmaßnahmen sein.109 Die der Union eingeräumten Kompetenzen in diesem Bereich sind jedoch weiterhin sehr begrenzt. Eine autonome Gesundheitspolitik kann die Union grundsätzlich nicht betreiben.110 Die Mitgliedstaaten bleiben die „Herren der Gesundheitspolitik“.111 Die Union ist entsprechend Art. 6 S. 2 lit. a) AEUV im Wesentlichen auf unterstützende, koordinierende und ergänzende Maßnahmen beschränkt. Grundprinzip der europäischen Gesundheitspolitik ist eine komplementäre eu- 831 ropäische Zuständigkeit.112 Die Union unterstützt die nationalen Gesundheitspolitiken, darf aber keine eigenen Ziele verfolgen.113 Abweichend davon wird in Art. 168 Abs. 4 AEUV der Union jedoch in Bezug auf gemeinsame Sicherheitsanliegen und damit in Umsetzung des Art. 4 Abs. 2 lit. k) AEUV die Möglichkeit
107 108 109 110 111 112 113
S. aber auch EuGH, Rs. C-288/89, Slg. 1991, I-4007 (4043, Rn. 22 ff.) – Collectieve Antennevoorziening Gouda. Ress/Ukrow, in: Grabitz/Hilf, Art. 151 EGV Rn. 13. Sander, ZEuS 2005, 253 (255). Wichard, in: Calliess/Ruffert, Art. 152 EGV Rn. 2. Wichard, in: Calliess/Ruffert, Art. 152 EGV Rn. 10; Berg, in: Schwarze, Art. 152 EGV Rn. 11. Schnell/Wesenberg, DRV 2008, 275 (283). Classen, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 35 Rn. 49, 58.
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Kapitel 8: Weitere Unionspolitiken
zu einer selbstständigen, von der Politik der Mitgliedstaaten unabhängigen Gesundheitspolitik eröffnet.114 Art. 168 Abs. 1 UAbs. 2 S. 1 AEUV macht die generelle Aufgabenverteilung 832 zwischen Union und Mitgliedstaaten deutlich: Grundsätzlich ergänzt die Tätigkeit der Union die Politik der Mitgliedstaaten. Die hauptsächliche Verantwortung für die Gesundheitspolitik liegt daher weiterhin bei den Mitgliedstaaten.115 Dies gilt insbesondere für die in Art. 168 Abs. 7 AEUV genannten Bereiche, die in der alleinigen Verantwortung der Mitgliedstaaten verbleiben: die Festlegung der mitgliedstaatlichen Gesundheitspolitik, die Organisation des Gesundheitswesens, die medizinische Versorgung, die Verwaltung des Gesundheitswesens und der medizinischen Versorgung, die Zuweisung der dafür bereitgestellten Mittel, die Spende oder medizinische Verwendung von Organen und Blut. Allerdings verpflichtet Art. 168 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV die Mitgliedstaaten zu 833 einer Koordinierung der Gesundheitspolitiken und Programme. Danach müssen die Mitgliedstaaten untereinander im Benehmen mit der Kommission ihre Politiken und Programme abstimmen. Sie müssen sich im Rahmen eines fortlaufenden Prozesses gegenseitig konsultieren und informieren, um die Stimmigkeit und Kohärenz ihrer Maßnahmen zu gewährleisten. 116 II. Querschnittsklausel 834 Art. 168 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 AEUV enthält die sogenannte Querschnittsklausel,117 welche die Union zur Sicherstellung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus verpflichtet. Der Querschnittsklausel kann implizit die Zielsetzung der Union entnommen werden, sowohl durch die Maßnahmen im Rahmen des Titels XIV als auch in anderen Politiken einen Beitrag zur Erreichung bzw. Sicherstellung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus zu leisten.118 III. Grundfreiheiten 835 Umgekehrt sind im Rahmen der Gesundheitspolitik umfassend die Grundfreiheiten zu wahren. Allerdings können Beeinträchtigungen der Warenverkehrsfreiheit, der Arbeitnehmerfreizügigkeit, der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit aus Gesundheitsbelangen gerechtfertigt sein.119 Einen Rechtfertigungsgrund bildet auch die Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des
114 115 116 117 118 119
Fischer, in: Lenz/Borchardt, Art. 168 AEUV Rn. 3. Fischer, in: Lenz/Borchardt, Art. 168 AEUV Rn. 9. Fischer, in: Lenz/Borchardt, Art. 168 AEUV Rn. 10. Zur gleichlautenden Bestimmung in Art. 35 S. 2 EGRC Frenz, Europarecht 4, Rn. 4209 ff. Berg, in: Schwarze, Art. 152 EGV Rn. 8. S. Art. 36, 45 Abs. 3, 52 Abs. 1, 62 AEUV. Näher dazu Frenz, Europarecht 1, Rn. 948 ff., 1642 ff., 2235, 2641 ff.
L. Verbraucherschutz
241
Systems der sozialen Sicherheit.120 Von besonderem Interesse ist dies im Rahmen der grenzüberschreitenden Inanspruchnahme medizinischer Leistungen und dem Verkauf von Arzneimitteln.121 Zu Ersterer wurde jüngst eine VO erlassen.122
L. Verbraucherschutz I. Querschnittsklausel Art. 12 AEUV verpflichtet die Union, in allen Politikbereichen, „den Erfordernis- 836 sen des Verbraucherschutzes“ Rechnung zu tragen (sogenannte Querschnittsklausel). Demgegenüber gebietet Art. 38 EGRC explizit ein hohes Verbraucherschutzniveau.123 Die Querschnittsklausel trägt der Tatsache Rechnung, dass Verbraucherbelange sehr weit gefächert und vielfältig sind und daher praktisch jede Politik den Verbraucher in irgendeiner Weise berührt. Dementsprechend weitreichend ist sie zu beachten. II. Beschränkte Unionskompetenz Allerdings sind die Unionskompetenzen nicht gleichermaßen wie die Aufwertung 837 des Verbraucherschutzes durch die Aufnahme der Querschnittsklausel erweitert worden. Gemäß Art. 169 Abs. 1 AEUV leistet die Union zur Förderung der Interessen der Verbraucher und zur Gewährleistung eines hohen Verbraucherschutzniveaus einen Beitrag zum Schutz der Gesundheit, der Sicherheit und der wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher sowie zur Förderung ihres Rechts auf Information, Erziehung und Bildung von Vereinigungen zur Wahrung ihrer Interessen. Gemäß Art. 169 Abs. 2 lit a) AEUV leistet die Union einen Beitrag zur Errei- 838 chung dieser Ziele durch Maßnahmen, die sie im Rahmen der Verwirklichung des Binnenmarktes nach Art. 114 AEUV erlässt und gleichfalls auf ein hohes Schutzniveau gerichtet sind (Abs. 3). Hinzu kommen Maßnahmen zur Unterstützung, Ergänzung und Überwachung der Politik der Mitgliedstaaten (Art. 169 Abs. 2 lit. b) AEUV). Damit begründet Art. 169 AEUV eine europäische Zuständigkeit neben der der 839 Mitgliedstaaten. Sie ist für beide in Art. 169 Abs. 2 AEUV eröffneten Wege gemäß Art. 4 Abs. 2 lit. a) bzw. f) AEUV mit den Mitgliedstaaten geteilt. Letztere bleiben außerhalb der Rechtsangleichung primär verantwortlich.
120 121 122 123
EuGH, Rs. C-120/95, Slg. 1998, I-1831 (1884, Rn. 39) – Decker; Rs. C-322/01, Slg. 2003, I-14887 (15001, Rn. 122 f.) – DocMorris. S. Frenz, Europarecht 1, Rn. 1558 ff., 1570. Zugrunde liegt ein Vorschlag der Kommission, KOM (2008) 414. S. auch F.A.Z. vom 20.1.2011, Nr. 16, S. 10 „Freie Arzt- und Krankenhauswahl in Europa“. Ausführlich dazu Frenz, Europarecht 6, Rn. 2393 ff., 4241 f.; ders., Europarecht 4, Rn. 4377 ff.
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III. Verbraucherleitbild 840 Dem in Art. 12, 169 AEUV, 38 EGRC verankerten Verbraucherschutz stehen die Interessen der Anbieter an einem reibungslosen Funktionieren des Binnenmarktes gegenüber, die in erster Linie durch die Marktfreiheiten der Art. 34, 56 AEUV geschützt werden. Der EuGH hat den Ausgleich dieses Interessengrundsatzes in der Weise vorgenommen, dass er zur Auslegung des Verbraucherschutzbegriffs sowohl im Primär-124 als auch im Sekundärrecht125 in ständiger Rechtsprechung vom „aufgeklärten“ Verbraucher, d.h. vom durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Bürger ausgeht. Dem Leitbild des EuGH liegt die Vorstellung zugrunde, dass die Verbraucher gegebene Informationen zur Kenntnis nehmen und zutreffende Schlüsse ziehen.126 Nicht zuletzt deshalb erfährt dieses Leitbild Kritik.127 Mit dem Schutzcharakter des Art. 38 EGRC ist es für dessen Anwendungsbereich problematisch, außer eine hinreichende Information wird verbrauchergerecht sichergestellt.128
M. Infrastruktur I. Netze 841 In den Art. 170-172 AEUV sind Regelungen zu den sogenannten transeuropäischen Netzen (TEN) getroffen. Diese Vorschriften bilden den unionsrechtlichen Rahmen für den Auf- und Ausbau der Verkehrs-, Telekommunikations- und Energieinfrastrukturnetze in der EU. Nach Art. 4 Abs. 2 lit. h) AEUV fällt dieser Bereich in die geteilte Zuständigkeit zwischen Union und Mitgliedstaaten. Das Ziel und der Regelungsgegenstand, den Auf- und Ausbau der transeuropäi842 schen Netze voranzutreiben und die Interoperabilität und den Verbund dieser Netze zu fördern, wird inhaltlich näher in Art. 170 AEUV erörtert. Diese Vorschrift ist ausdrücklich den Binnenmarktzielen und der Förderung des wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalts in der Union verpflichtet. Insofern ist der Ausbau der transeuropäischen Netze auch ein Mittel zur Verwirklichung der Ziele in Art. 26 und 174 AEUV. Art. 171 Abs. 1 AEUV legt näher fest, auf welche Instrumente die Union dabei 843 zurückgreifen darf. Für die Mitgliedstaaten folgt aus Art. 171 Abs. 2 AEUV eine Koordinierungspflicht für alle Politikbereiche mit Berührungspunkten zu Art. 170 AEUV. Dies ist notwendig, um eine den Zielen des Art. 170 AEUV zuwiderlaufende Politik zu vermeiden. Dass der Bau und Betrieb von Infrastrukturnetzen Sache der Mitgliedstaaten ist, macht die Beschränkung auf eine Koordinierung notwendig. Über Art. 171 Abs. 3 AEUV kann der Netzausbau mit Dritt-
124 125 126 127 128
EuGH, Rs. C-220/98, Slg. 2000, I-117 (146, Rn. 27 f.) – Estée Lauder. EuGH, Rs. C-210/96, Slg. 1998, I-4657 (4691, Rn. 31) – Gut Springenheide; Rs. C-44/01, Slg. 2003, I-3095 (3148, Rn. 55) – Pippig Augenoptik. Lettl, GRUR 2004, 449 (453). Deutsch, GRUR 1996, 541 (544 ff.); Helm, in: FS für Tilmann, 2003, S. 135 (142). Frenz, Europarecht 4, Rn. 4403 f.
M. Infrastruktur
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ländern vorangetrieben werden. Art. 172 AEUV legt den Verfahrensablauf für Maßnahmen gemäß Art. 171 Abs. 1 AEUV fest. II. Industrie 1. Einordnung Aus Art. 173 AEUV ergeben sich Kompetenzen der Union für die Industriepoli- 844 tik. Die Union soll demnach einen ergänzenden Beitrag leisten, um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie sicherzustellen. In diesem Politikbereich nimmt die Union nach Art. 6 S. 2 lit. b) AEUV lediglich eine unterstützende Funktion wahr und setzt insofern nur die Rahmenbedingungen. Damit bleibt die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten nach Art. 2 Abs. 5 UAbs. 1 AEUV unberührt und kann nach UAbs. 2 dieser Vorschrift und konkret über Art. 173 Abs. 3 AEUV nicht durch eine Harmonisierung auf Unionsebene beeinträchtigt werden. Im Vordergrund steht damit, die Wettbewerbsfähigkeit der Industrie auf Uni- 845 onsebene zu fördern. In diesem Zusammenhang ist die Industriepolitik als ein näher spezifizierter Teilbereich der allgemeinen Wirtschaftspolitik zu verstehen.129 Der fördernde Beitrag der Union ist nicht gleichzusetzen mit dem Beitrag durch 846 die Union zum Auf- und Ausbau der transeuropäischen Netze im Sinne der Art. 170 ff. AEUV, sondern aufgrund des Art. 6 AEUV tatsächlich insgesamt nur ergänzend. Diese Zuständigkeitsverteilung resultiert aus den erheblichen Abweichungen zwischen den Mitgliedstaaten, was ihre traditionellen Vorstellungen von der Regulierung des Industriesektors betrifft.130 2. „Europäische Wirtschaftsregierung“? In jüngster Zeit werden auf Unionsebene in Zusammenhang mit der Finanzkrise 847 die Stimmen lauter, die eine „europäische Wirtschaftsregierung“ fordern und so über die Vorgaben des Art. 121 AEUV und für den industriepolitischen Bereich über die Konzeption des Art. 173 AEUV in der Sache hinausgehen. Dies ist jedoch mit dem derzeitigen Primärrecht nicht zu vereinbaren. 131 3. Eingrenzung Unter Industriepolitik versteht man alle wirtschaftspolitischen Maßnahmen zur 848 Sicherung und Erhöhung des Wettbewerbspotenzials der Industrie.132 Dabei sind jedenfalls nicht nur große Industriebetriebe erfasst, sondern auch kleine und mittlere Unternehmen (KMU).133 Diese werden auch in Zusammenhang mit der Förderung eines für die Weiterentwicklung freundlichen Umfelds in Art. 173 129 130 131 132 133
Mickel/Bergmann (Hrsg.), Handlexikon der Europäischen Union, 2005, Schlagwort: „Industriepolitik“ (1. Begriffliches). Hellmann, Europäische Industriepolitik, 1994, S. 33 ff. Ruffert, NJW 2009, 2093 (2097); Frenz, Europarecht 6, Rn. 3680 ff. Mickel/Bergmann (Hrsg.), Handlexikon der Europäischen Union, 2005, Schlagwort: „Industriepolitik“ (1. Begriffliches). Breier, in: Lenz/Borchardt, Art. 173 AEUV Rn. 4.
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Abs. 1 UAbs. 2 Spiegelstrich 2 AEUV als besondere Zielgruppe genannt. Es ist nicht möglich, den Industriebegriff fest einzugrenzen,134 wodurch er Einzelfallbewertungen zugänglich bleibt. Aus einer aktiv gestalteten Industriepolitik folgen gleichzeitig marktinterven849 tionistische Züge. In einigen besonders marktwirtschaftlich ausgerichteten Mitgliedstaaten beschränken sich die industriepolitischen Maßnahmen dementsprechend nur auf horizontale Maßnahmen, welche unterschiedslos die Industrie insgesamt fördern. Der freie Wettbewerb steht insofern im Vordergrund. Sektorale oder punktuelle Eingriffe widersprechen diesem Verständnis. Mitgliedstaaten mit einer traditionell merkantilistischen oder colbertistischen 850 Verwurzelung beziehen sich für die Rechtfertigung solcher Eingriffe im Gegensatz hierzu auf ihren volkswirtschaftlichen Nutzen und setzen sich damit zu einem strengen Verständnis des freien Wettbewerbs in Widerspruch. 135 Art. 173 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV selbst enthält beide Konzepte und trifft insofern keine Wertung. 136 Dies erzeugt ein Spannungsverhältnis zu Art. 173 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV und dem dort postulierten System offener und wettbewerbsorientierter Märkte. Wie dieses Spannungsverhältnis gelöst wird, ist maßgeblich vom traditionellen wirtschaftspolitischen Verständnis in den einzelnen Mitgliedstaaten geprägt und wird nicht auf Unionsebene vorgegeben. III. Regionen 1. Funktion 851 In Art. 174-178 AEUV befinden sich nähere Vorgaben, wie eine einheitliche Gesamtentwicklung in der Union erreicht und besonders rückständige Regionen gefördert werden können. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde der wirtschaftliche und soziale Zusammenhalt in der Union um den territorialen Zusammenhalt ergänzt und steht als Unionsziel schon in Art. 3 Abs. 3 EUV, ohne näher definiert zu sein. Jedenfalls ist dieser Begriff extensiv auszulegen. 137 Um eine homogenere Gesamtentwicklung zu gewährleisten, wird als zentrales 852 Mittel auf europäische Fonds zurückgegriffen, deren nähere Ausgestaltung sich aus Art. 175-178 AEUV ergibt. Die Strukturfonds sind hinter den Agrarfonds der zweitgrößte Ausgabenposten im Unionsbudget.138 Die Vorgaben in Art. 174 AEUV schlagen sich auch in anderen Politikbereichen nieder, so etwa beim Aufund Ausbau der transeuropäischen Netze im Sinne des Art. 170 AEUV. Die Zuständigkeit ist zwischen den Mitgliedstaaten und der Union gemäß Art. 4 Abs. 2 lit. c) AEUV geteilt.
134 135 136 137 138
Mellein, in: Schwarze, Art. 157 EGV Rn. 11. Zum Ganzen Kallmayer, in: Calliess/Ruffert, Art. 157 EGV Rn. 1. S. Hellmann, Europäische Industriepolitik, 1994, S. 25 f. S. ausführlich Battis/Kersten, EuR 2009, 3 (13). Priebe, in: Schwarze, Art. 158 EGV Rn. 1.
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2. Bedeutung Art. 174 AEUV ist nicht zu entnehmen, was unter stärkerem Zusammenhalt zu 853 verstehen ist. Dies muss in Zusammenschau mit den Zielen selbst geschehen. 139 Hauptziel ist, dass das Entwicklungsgefälle in der Union im Sinne der Solidarität verringert wird und die Gesamtentwicklung harmonisch voranschreitet. Die Art. 174 ff. AEUV sind als grundlegendes Strukturziel der EU anzuse- 854 hen.140 Dabei sollen nach Art. 175 Abs. 1 AEUV die Maßnahmen der Union und der Mitgliedstaaten auf eine homogene Entwicklung in der Union hinwirken. Dies gilt besonders für die Wirtschafts- und Währungspolitik sowie für die Verwirklichung des Binnenmarktes. Hieraus folgt auch der Querschnittscharakter der Ziele in Art. 174 AEUV. 3. Ausrichtung Art. 174 ff. AEUV sind trotz des besonderen Verweises auf die Wirtschaftspolitik 855 sowie den Binnenmarkt nicht primär auf ökonomische Parameter ausgerichtet. Die in Art. 174 Abs. 1 AEUV enthaltenen grundlegenden Vorgaben sind vielmehr in einem umfassenden Sinn zu verstehen, was auch der Passus verdeutlicht, dass die „harmonische Entwicklung der Union als Ganzes“ gefördert werden soll.141 Aus diesem Grund wird Art. 174 Abs. 1 AEUV auch strukturpolitische Generalklausel genannt.142 Art. 174 Abs. 2 AEUV enthält demgegenüber einen besonderen territorialen Bezugspunkt und liefert die Grundlage für regionalpolitische Maßnahmen der Union.143 Art. 174 AEUV nennt zwei Bereiche einer einheitlichen Zielsetzung, nämlich 856 die Kohäsion in Abs. 1 und die Konvergenz in den Absätzen 2 und 3 AEUV.144 Unter Kohäsion versteht man in diesem Zusammenhang eine umfassende und über ökonomische Aspekte hinausgehende stärkere Verbindung der Mitgliedstaaten. Aus dem Kohäsionsziel ergibt sich in der Folge das mit ihr eng verknüpfte Konvergenzziel, welches als Kern der Kohäsionspolitik angesehen werden kann. Dieses Ziel ist darauf gerichtet, die in ihrem Entwicklungsstand zum Teil sehr unterschiedlichen Regionen aneinander anzunähern und Unterschiede zu verringern, insbesondere in geographisch benachteiligten Gebieten.145 IV. Forschung u.a. In Art. 179-190 AEUV werden Regelungen zur Forschung, Technologie und 857 Raumfahrt als eigene Unionspolitik getroffen. Die grundlegenden Zielsetzungen befinden sich in Art. 179 AEUV. Aus Art. 180 ff. AEUV ergeben sich die Unions-
139 140 141 142 143 144 145
S. Priebe, in: Schwarze, Art. 158 EGV Rn. 9. Priebe, in: Schwarze, Art. 158 EGV Rn. 3. Puttler, in: Calliess/Ruffert, Art. 158 EGV Rn. 7. So Stabenow, in: Grabitz/Hilf, Art. 158 EGV Rn. 3. Borchardt, in: Lenz/Borchardt, Art. 174 AEUV Rn. 16. S. Puttler, in: Calliess/Ruffert, Art. 159 EGV Rn. 1. Zum Ganzen Puttler, in: Calliess/Ruffert, Art. 158 EGV Rn. 7 f.
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befugnisse und auch nähere Vorgaben für die Mitgliedstaaten, wobei vor allem die Kompetenzen in Bezug auf die verschiedenen Programme ausführlicher primärrechtlich geregelt sind. Die Wissensdiffusion und Freizügigkeit für Forscher in Art. 179 Abs. 1 858 AEUV ist von der Industrie losgelöst. 146 Eine Erweiterung stellt auch der neu eingeführte Art. 189 AEUV dar, welcher eine eigene ausdrückliche Kompetenz der Union für die Raumfahrtpolitik begründet. Für die Kernenergie werden daneben im EAG ausführlich Bestimmungen über die Forschungsförderung, die Verbreitung der Kenntnisse, gemeinsame Unternehmen für die Entwicklung der Kernindustrie und auch die Lizenzierung der Patente von der Union als Inhaberin geschützter Rechte getroffen. 147 Instrumente sind die Koordinierung und Ergänzung einzelstaatlicher Forschungsprogramme und eigene Forschungsprogramme der Union sowie die Errichtung von Kernforschungsstellen.148 In den allgemeinen Zielen nach Art. 3 Abs. 3 S. 2 EUV wird die Union darauf 859 festgelegt, den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt zu fördern. Art. 179 Abs. 1 AEUV nennt drei Einzelziele, welche dazu beitragen sollen, die übergeordnete Zielsetzung zu erreichen. Dies sind die Schaffung des Europäischen Raums der Forschung (EFR), die Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit der Union einschließlich ihrer Industrie und die Unterstützung aller Forschungsmaßnahmen im Rahmen anderer Unionspolitiken. Diese drei Eckpunkte der Forschungspolitik sind erheblich aneinander gebunden und dienen dem Zweck, die Union wettbewerbsfähiger und attraktiver für öffentliche und private Forschung zu machen.
N. Umwelt I. Überschießende Reichweite 860 Der Vertrag von Lissabon hat die primärrechtlichen Regelungen zur Umweltpolitik nicht wesentlich verändert.149 Der hohe Schutzstandard wurde gewahrt. Es handelt sich nicht nur um eine eigenständige Unionspolitik, und zwar gemäß Art. 4 Abs. 2 lit. e) AEUV in geteilter Unionszuständigkeit, sondern der Umweltschutz wird in den Verträgen auch an vielen anderen Stellen als Ziel und Aufgabe der EU hervorgehoben. Bereits in der Präambel zum EUV (vgl. Erwägungsgrund 9) wird seine Stärkung als eine Rahmenbedingung im Prozess der europäischen Integration genannt. Im direkten Kontext steht außerdem der Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung, der bei der Förderung des wirtschaftlichen und sozialen Fortschritts zu berücksichtigen ist. Diese Formel verdeutlicht den breiten Wirkungsbereich des Umweltschutzes auf 861 europäischer Ebene. Nach Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 S. 2 EUV wirkt die Union auf ein hohes Maß an Umweltschutz und eine Verbesserung der Umweltqualität hin. Die nachhaltige Entwicklung Europas ist sogar einem ausgewogenen Wirt146 147 148 149
S. Eikenberg, EuR 2008, 125 (125). S. ausführlich Frenz, Europarecht 6, Rn. 4794 ff. Zum Ganzen Mellein, in: Schwarze, Art. 163 EGV Rn. 1. Pahl, in: Pernice (Hrsg.), Der Vertrag von Lissabon, 2008, S. 205 (205).
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schaftswachstum als prägender Faktor vorangestellt. Zudem müssen gemäß Art. 11 AEUV, der sogenannten Querschnitts- bzw. Integrationsklausel, die Erfordernisse des Umweltschutzes bei der Festlegung und Durchführung der Unionspolitiken und -maßnahmen insbesondere zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung einbezogen werden. II. Ziele Der Anwendungsbereich und die Zielrichtung der europäischen Umweltpolitik 862 werden in Art. 191 Abs. 1 AEUV operationalisiert. Konkrete Ziele der europäischen Umweltpolitik sind gemäß Art. 191 Abs. 1 AEUV: x die Erhaltung und der Schutz der Umwelt sowie die Verbesserung ihrer Qualität, x der Schutz der menschlichen Gesundheit, x die umsichtige und rationelle Verwendung der natürlichen Ressourcen und x die Förderung von Maßnahmen auf internationaler Ebene zur Bewältigung regionaler oder globaler Umweltprobleme und insbesondere zur Bekämpfung des Klimawandels. Die Bekämpfung des Klimawandels ist erst jüngst infolge des Vertrages von Lissabon angefügt worden und zeigt besonders die notwendig internationale Dimension des Umweltschutzes. Bei dem genannten Zielkatalog handelt es sich nicht um eine beispielhafte Aufzählung. Der Wortlaut des Art. 191 Abs. 1 AEUV ist insoweit eindeutig. Allerdings erfassen die aufgeführten Ziele einen derart weiten Bereich, dass die EU in der Umweltpolitik inhaltlich nicht beschränkt ist.150 Die Abfolge der Nennung der einzelnen Ziele stellt überdies keine Rangordnung dar.151 Soweit der europäische Gesetzgeber Maßnahmen zur Verfolgung eines konkreten Zieles erlässt, müssen diese nicht zwingend auch zugleich bzw. unmittelbar den anderen Zielsetzungen dienen. Gemäß Art. 191 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 AEUV verfolgt die EU in Bezug auf ihre umweltpolitischen Ziele insgesamt ein hohes Schutzniveau (vgl. auch Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 S. 2 EUV).
863
864
865
866
III. Sonderstellung einzelner Bereiche Art. 192 AEUV legt das Beschlussverfahren fest und verlangt in Abs. 2 Einstim- 867 migkeit für Steuervorschriften, Maßnahmen mit Berührung der Raumordnung, der Wasserressourcen, der Bodennutzung mit Ausnahme der Abfallbewirtschaftung oder der Wahl zwischen verschiedenen Energiequellen und der Struktur der Energieversorgung.
150 151
Epiney, Umweltrecht in der Europäischen Union, 2. Aufl. 2005, S. 96. Breier, in: Lenz/Borchardt, Art. 191 AEUV Rn. 3.
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IV. Grundsätze 868 Art. 191 Abs. 2 UAbs. 1 S. 2 AEUV nennt Grundsätze, auf denen die Umweltpolitik der EU „beruht“. Sowohl der Vorsorge- als auch der Vorbeugungsgrundsatz weisen auf den Bereich des präventiven Umweltschutzes und vermögen damit der notwendig über den repressiven Bereich hinausreichenden Erhaltung und dem Schutz der Umwelt zu entsprechen. Der Begriff „Vorsorge“ weist graduell stärker in den präventiven Bereich.152 Der Ursprungsgrundsatz verlangt eine Bekämpfung der Umweltbeeinträchti869 gung an der Stelle, an der sie auftritt, 153 mithin an der Quelle. Erforderlich ist ein Ansetzen nicht an irgendeinem für das Entstehen der Umweltbeeinträchtigung maßgeblichen Punkt, sondern an dem „Ursprung“ und somit an dem am weitesten vorgelagerten Punkt. Schließlich „beruht“ die europäische Umweltpolitik gemäß Art. 191 Abs. 2 870 UAbs. 1 S. 2 AEUV auch auf dem Verursacherprinzip. Danach ist grundsätzlich der Verursacher von Umweltbeeinträchtigungen für die Verwirklichung der erforderlichen Schutzmaßnahmen in die Pflicht zu nehmen. Dies kann auch durch eine direkte Inanspruchnahme, beispielsweise durch ein Verhaltensgebot geschehen. Der Wortlaut der Norm enthält keine Anhaltspunkte dafür, dass sich das Verursacherprinzip nur auf die Kostentragung bezieht. 154 Ebenso wenig ließe sich dies mit der Zielrichtung des Prinzips vereinbaren, sich an die Verantwortung des Einzelnen zu richten und durch Internalisierung der externen Kosten eine Anreizwirkung zu umweltgerechterem Verhalten zu erzeugen.155 Das Kooperationsprinzip, also das grundsätzliche Zusammenwirken staatlicher 871 und gesellschaftlicher Kräfte beim Bilden und Realisieren umweltpolitischer Ziele,156 ist zwar nicht primärrechtlich verankert, wird aber vielfach praktiziert. Es trägt zur Effektivität des Umweltschutzes bei und steht in enger Verbindung zur Verhältnismäßigkeit: Bei kooperativen Handlungsformen ist diese eher gewährleistet.157 Unmittelbar aus Art. 191 AEUV und auch aus dem sonstigen Primärrecht erge872 ben sich zwar keine weiteren ausdrücklichen Handlungsgrundsätze. Allerdings wird der „Grundsatz des bestmöglichen Umweltschutzes“ als weiterer Maßstab anerkannt, der das umweltpolitische Handeln der EU bestimmt. 158 Eines solchen selbstständigen Grundsatzes bedarf es allerdings nicht.159 Bereits die konsequente 152 153 154
155 156 157 158 159
Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 9 Rn. 102. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 174 EGV Rn. 45. Kahl, in: Streinz, Art. 174 EGV Rn. 82; a.A. etwa Epiney, Umweltrecht in der Europäischen Union, 2. Aufl. 2005, S. 106; vgl. auch die engl. und frz. Fassung: „polluter should pay“ bzw. „pollueur-payeur“. M.w.N. Frenz, Das Verursacherprinzip im Öffentlichen Recht, 1997, S. 31 ff. Etwa Hoppe/Beckmann/Kauch, Umweltrecht, 2000, Rn. 151; Rengeling, Das Kooperationsprinzip im Umweltrecht, 1988. Näher Frenz, Selbstverpflichtungen der Wirtschaft, 2001, S. 282 f. Zuleeg, NVwZ 1987, 280 (283 ff.); Epiney, Umweltrecht in der Europäischen Union, 2. Aufl. 2005, S. 119; Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, 1993, S. 10 ff. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 174 EGV Rn. 57.
N. Umwelt
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und effektive Anwendung des umweltpolitischen Primärrechts kann einen effektiven und in diesem Sinne bestmöglichen Umweltschutz ermöglichen. Ein absolut bestmöglicher Umweltschutz ist gerade nicht gefordert und widerspricht auch der notwendigen Abwägung mit anderen Unionszielen und -politiken, die ebenfalls effektiv zu verwirklichen sind. Eine Privilegierung nur des Umweltschutzes scheidet daher aus, zumal mittlerweile auch andere Querschnittsklauseln mit anspruchsvollen Vorgaben existieren, namentlich der Gesundheitsschutz. V. Nachhaltige Entwicklung Art. 191 AEUV erwähnt nicht eigens den – auch umweltschutzbezogenen – Grund- 873 satz der nachhaltigen Entwicklung.160 Eine Deckungsgleichheit zwischen dem explizit genannten Vorsorgeprinzip und dem Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung besteht ebenfalls nicht. Aus einer Gesamtschau mit der Präambel zum EUV (Erwägungsgrund 9), Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 S. 2 EUV und Art. 11 AEUV ergibt sich allerdings, dass sich auch der Anwendungsbereich der Umweltpolitik auf die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung bezieht. Die Verbesserung der ökonomischen und sozialen Lebensbedingungen des 874 Menschen ist mit der langfristigen Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen in Einklang zu bringen. Der Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung will daher eine dauerhafte Entwicklung ohne Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen auch für künftige Generationen sicherstellen. Für den Umweltschutz folgt daraus, dass er notwendig integraler Bestandteil jeder Entwicklung sein muss. 161 Er wird zum immanenten Faktor der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Indem der Grundsatz der nachhaltigen Entwicklung auf die Sicherung der Nut- 875 zung der Umwelt auch durch künftige Generationen angelegt ist, werden insbesondere Aktionen gedeckt, die auf eine langfristige Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen gerichtet sind. Darin liegt der tiefere Grund, weshalb trotz der mit dem Vertrag von Lissabon eingeführten Energiepolitik Maßnahmen im Energiesektor bei gewollten positiven (Fern-)Wirkungen auf die Umwelt, auch wenn diese nicht konkret fassbar oder auch nur einigermaßen absehbar sind, auf die Umweltkompetenz gestützt werden können. VI. Opting out Art. 193 AEUV räumt den Mitgliedstaaten die Möglichkeit ein, von Umwelt- 876 schutzvorgaben der Union nach oben abzuweichen (Opting Out). So können auch national begrenzte Effekte erzielt werden, wenn die Entwicklung bzw. die Wirtschaftskraft divergieren oder regionale Besonderheiten bestehen. Dies bezieht sich sowohl auf Rechtsakte, die unmittelbar auf Art. 192 AEUV gestützt wurden, als
160 161
Vgl. hingegen Art. 37 EGRC. Ausführlich hierzu Frenz, Europarecht 4, Rn. 4310 ff. Breier, ZfU 1997, 131 (131).
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auch auf solche, die nach heutiger Rechtslage auf Art. 192 AEUV zu stützen wären.162 Insofern sind die auf der Grundlage von Art. 193 AEUV erlassenen Umwelt877 schutzvorschriften nur Mindestanforderungen.163 Ziel ist es, auf diese Weise den Umweltschutz in der EU zu stärken, sogenannte Schutzverstärkungsklausel.164 Voraussetzung ist, dass die mitgliedstaatlichen Schutzmaßnahmen in qualitativer oder quantitativer Hinsicht tatsächlich einen stärken Schutzinhalt haben, mit den Verträgen vereinbar sind und der Kommission angezeigt werden.
O. Energie I. Neue Politik 878 Bislang fehlte im Primärrecht ein Kapitel mit der Überschrift „Energiepolitik“, so wie es auch an einer energiespezifischen Kompetenz mangelte. Art. 3 Abs. 1 lit. u) EGV bezog sich lediglich ganz allgemein auf mögliche Tätigkeiten der Union im Energiebereich, begründete aber selbst keine eigenständige Kompetenz auf diesem Gebiet. Die Energiepolitik hat nunmehr den Status einer eigenen Unionspolitik mit gemäß Art. 4 Abs. 2 lit. i) AEUV geteilter Zuständigkeit der Union. Einerseits soll sie „im Geiste der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten“ erfolgen (Art. 194 Abs. 1 AEUV). Andererseits bleibt es dem einzelnen Mitgliedstaat aber unbenommen, selbst über die Bedingungen für die Nutzung seiner Energieressourcen, die Wahl zwischen verschiedenen Energiequellen und die allgemeine Struktur seiner Energieversorgung zu bestimmen. Diese Regelung des Art. 194 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV stimmt in der Nennung der 879 beiden letztgenannten Punkte mit der Einstimmigkeit verlangenden Umweltregelung des Art. 192 Abs. 2 lit. c) AEUV überein, auf den explizit verwiesen wird. Insoweit bleiben damit freilich Maßnahmen auf umweltrechtlicher Grundlage möglich, wenn sie von allen Mitgliedstaaten getragen werden. Art. 194 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV legt demgegenüber für rein energiepolitische Maßnahmen eine Kompetenz- und nicht lediglich eine Verfahrensgrenze fest. Aufgrund dieser nationalen Regelungsvorbehalte bleibt es den Mitgliedstaaten 880 überlassen, auch im Falle einer Krise ihre Reserven ausschließlich den eigenen Bürgern zur Verfügung zu stellen 165 sowie Strom aus Kernkraft zu gewinnen. II. Konkrete Ziele 881 Konkrete Ziele der europäischen Energiepolitik sind gemäß Art. 194 Abs. 1 AEUV:
162 163 164 165
Es heißt „die aufgrund dieses Artikels getroffen werden“, nicht „wurden“; näher Frenz, Europäisches Umweltrecht, 1997, Rn. 632 ff. mit weiteren Problemen. Epiney, Umweltrecht in der Europäischen Union, 2. Aufl. 2005, S. 144. Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 176 EGV Rn. 1. Hobe, EuR 2009, Beiheft 1, 219 (229).
O. Energie
x x x x x
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die Sicherstellung des Funktionierens des Energiemarktes, die Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit in der Union, die Förderung der Energieeffizienz und von Energieeinsparungen sowie die Entwicklung neuer und erneuerbarer Energien und die Förderung der Interkonnektion der Energienetze.
Die Entwicklung neuer und erneuerbarer Energiequellen bildet nach Art. 194 882 Abs. 1 lit. c) AEUV erst im Zusammenhang mit der Förderung der Energieeffizienz und von Energieeinsparungen ein selbstständiges Ziel. Mit neuen Energien sind solche gemeint, die bislang nicht oder kaum zum Einsatz kamen, wie etwa die Technik der Brennstoffzelle, der Energiespeichersysteme auf chemischer Basis oder der Wasserstoffgewinnungssysteme.166 Zu den erneuerbaren Energien gehören alle Formen der Energiegewinnung aus Sonne, Wind, Gezeiten, Wasser, Erdwärme und nachwachsenden Rohstoffen. Die erneuerbaren Energien müssen – trotz des nicht ganz eindeutigen Wortlauts – nicht zugleich neue Energiequellen sein.167 Ansonsten würde unter anderem die „alte“ Wasserkraft nicht dem Art. 194 Abs. 1 lit. c) AEUV unterfallen, was nicht dem umweltpolitischen Leitprinzip des Art. 194 Abs. 1 AEUV entspräche. III. Einrahmung durch den Binnenmarkt und den Umweltschutz Eingerahmt werden die konkreten energiespezifischen Ziele gemäß Art. 194 883 Abs. 1 EUV von der Absicht der Verwirklichung des Binnenmarktes (s. übergreifend Art. 3 Abs. 3 UAbs. 1 S. 1 EUV) sowie der durchgehend einzubeziehenden (vgl. Art. 11 AEUV) „Notwendigkeit der Erhaltung und Verbesserung der Umwelt“, mithin den Anforderungen des Umwelt- und Klimaschutzes (s. Art. 191 Abs. 1 Spiegelstrich 4 AEUV). Diese energiepolitischen Leitprinzipien allein begründen keine Kompetenz der Union nach Art. 194 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV.168 Indirekt können sie aber den Inhalt der energiepolitischen Maßnahmen beeinflussen. Gemäß dem in Art. 11 AEUV verankerten Integrationsprinzip strebt die EU mithin eine integrierte Klima- und Energiepolitik an.169 Die Ziele Nachhaltigkeit bzw. Umweltverträglichkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Versorgungssicherheit sollen so miteinander in Einklang gebracht werden. Zwischen den Zielen „Verwirklichung des Binnenmarktes“, „Versorgungs- 884 sicherheit“, „Erhaltung und Verbesserung der Umwelt“ sowie „Interkonnektion der Energienetze“ kann es zu Konflikten kommen, die austariert werden müssen. Letztlich sollen die Förderung der Energieeinsparung und Energieeffizienz bei der Erzeugung, Fortleitung und Nutzung der Energiequellen, die Entwicklung neuer und erneuerbarer Energien der Emissionsverringerung, der Minderung von Risiken, etwa ausgehend von der Kernenergie, und der nach166 167 168 169
Hobe, EuR 2009, Beiheft 1, 219 (228). Ehricke, in: Frenz/Müggenborg (Hrsg.), EEG, 2010, Europäisches Recht der erneuerbaren Energien, Rn. 12. Ehricke, in: Frenz/Müggenborg (Hrsg.), EEG, 2010, Europäisches Recht der erneuerbaren Energien Rn. 14. Kahl, EuR 2009, 601 (601, Fn. 8).
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Kapitel 8: Weitere Unionspolitiken
haltigen Nutzung begrenzt zur Verfügung stehender Ressourcen dienen, mithin die Versorgungssicherheit gewährleisten.170 Die Lebensbedingungen und die wirtschaftlichen Daten in der EU spielen demnach trotz anspruchsvoller Klimaschutzziele keine nachrangige Rolle.171 Das Wirtschaftswachstum und der Energieverbrauch müssen entkoppelt werden.
P. Atom I. Systematik 885 Die Atompolitik auf EU-Ebene wird hauptsächlich durch den Euratom-Vertrag (EAG)172 bestimmt. Die Vorschriften des EUV und AEUV können jedoch ebenfalls dieses Sachgebiet beeinflussen. Dafür stehen vor allem die Grundfreiheiten, die Umwelt- und Energiepolitik sowie die Grundrechte der EGRC (s. Art. 6 Abs. 1 EUV). Der EAG ist lex specialis im Verhältnis zu EUV und AEUV. Er enthält aber keine abschließenden Sonderregelungen, so dass die anderen vertraglichen Bestimmungen subsidiär herangezogen werden können.173 Die Euratom ist eine neben der Union bestehende internationale Organisation 886 zur Koordinierung und Kontrolle, welche maßgeblich die zivile Nutzung von Kerntechnik betrifft.174 Nach Art. 184 EAG hat die Euratom Rechtspersönlichkeit und kann damit Vertragspartei völkerrechtlicher Verträge sein. Sie wird nach Art. 1 EAG darauf verpflichtet, zur Entwicklung der Nuklearwirtschaft in der Union beizutragen und die Beziehungen mit Drittländern zu fördern. Der EAG ist in sechs Titel unterteilt. In den ersten beiden Titeln werden die 887 Aufgaben der Euratom festgelegt (Titel I) und nähere Bestimmungen dazu getroffen, wie der Fortschritt auf dem Gebiet der Kernenergie gefördert werden soll (Titel II). In den folgenden Titeln finden sich Vorschriften über die Organe und Finanzvorschriften (Titel III), besondere Finanzvorschriften (Titel IV), allgemeine Bestimmungen (Titel V) und Schlussbestimmungen (Titel VI). Vor dem Vertrag von Lissabon befanden sich die Vorschriften über die Organe, 888 den gemeinsamen Markt, die Außenbeziehungen, die Finanzvorschriften und die allgemeinen Bestimmungen weitgehend analog zu denen des EG im EAG selbst. Seit Inkrafttreten der Vertragsänderungen werden nun für den EAG einige Regelungen des EUV und AEUV gemäß Art. 106a EAG direkt angewendet und es wurden dementsprechend die Regelungen im EAG aufgehoben. Dies gilt insbesondere für Regelungen zu den Organen und den Finanzvorschriften.175 Art. 288 ff. AEUV 170 171 172 173 174 175
Hobe, EuR 2009, Beiheft 1, 219 (227 f.). Frenz, ZNER 2009, 112 ff. S. zur Fassung nach dem Vertrag von Lissabon: Konsolidierte Fassung des Vertrags zur Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft, ABl. 2010 C 84, S. 1. Vgl. EuGH, Rs. C-62/88, Slg. 1990, I-1527 (1550, Rn. 16 f.) – Griechenland/Rat. Schärf, Europäisches Nuklearrecht, 2008, S. 161. S. Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, unterzeichnet in Lissabon am 13.12.2007 – PROTOKOLLE – B. Protokolle, die dem Vertrag von Lissabon beizufügen sind – Protokoll (Nr. 2) zur Änderung des Vertrags zur Gründung der Euro-
Q. Tourismus
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über das Gesetzgebungsverfahren finden ebenfalls Anwendung. Besondere Vorschriften für die Organe im Rahmen des EAG ergeben sich aus den Titeln III und IV. II. Gewandelte Ausrichtung Der EAG wurde allgemein zu dem Zweck eingeführt, die Nuklearindustrie der 889 Mitgliedstaaten zusammenzuführen. Inhaltlich lassen sich die übergeordneten Ziele zunächst aus der Aufgabenumschreibung in Titel I des EAG näher konkretisieren. Aus Art. 1 Abs. 2 EAG und der Präambel folgt, dass die Gemeinwohlfahrt durch die friedliche Nutzung von Kernenergie gefördert werden soll, auch in Bezug auf Drittländer. Die in Art. 2 EAG genannten Aufgaben zeigen eine starke Ausrichtung auf In- 890 novation und Fortschritt. Organisatorischen Aufgaben und der Koordinierung durch die Euratom kommt hierbei eine wichtige Rolle zu. Die Euratom muss darüber hinaus gemäß Art. 2 lit. b) und e) EAG besondere Vorkehrungen für die Sicherheit im Zusammenhang mit der Gesundheit der Bevölkerung treffen und der unzweckmäßigen Verwendung von Kernstoffen entgegenwirken. In diesem Zusammenhang sind Disziplinierungsmaßnahmen denkbar. Sicherheitsfragen sind heute von zentraler Bedeutung, sowohl in Bezug auf den 891 Gesundheits- und Umweltschutz im Zusammenhang mit dem Betrieb von Kernkraftwerken als auch bezüglich der Gefahren, welche vom internationalen Terrorismus ausgehen. Durch die Aufgabe, die Bevölkerung vor ionisierenden Strahlen zu schützen, ist eine Regelungskompetenz begründet, welche zwar die Umwelt als Schutzobjekt mit einbezieht,176 aber auch im Hinblick auf die Gesundheit nicht umfassend ist.177
Q. Tourismus Der Tourismus als Bestandteil der internen Politiken der Union ist erst mit dem 892 Vertrag von Lissabon eingeführt worden. Der AEUV enthält nun einen Titel XXII „Tourismus“, der in Art. 195 AEUV als einzigem Artikel Ergänzungsmaßnahmen im Tourismussektor regelt. Art. 195 AEUV konkretisiert insofern die ebenfalls durch den Vertrag von Lissabon neu gefasste Zuständigkeit der Union für den Bereich Tourismus in Art. 6 S. 2 lit. d) AEUV.
176 177
päischen Atomgemeinschaft, ABl. 2007 C 306, S. 199 zu den Änderungen im Einzelnen. So Grunwald, Das Energierecht der Europäischen Gemeinschaften, 2003, S. 210. Frenz, Europarecht 6, Rn. 4765, 4770 ff.
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Kapitel 8: Weitere Unionspolitiken
R. Katastrophenschutz I. Neue Zusammenarbeit 893 Mit dem Vertrag von Lissabon wurde der Katastrophenschutz erstmals zu einer internen Politik der Union. Titel XXIII „Katastrophenschutz“ regelt in Art. 196 AEUV die Zusammenarbeit beim Katastrophenschutz. Darin besteht die Konkretisierung der ebenfalls durch den Vertrag von Lissabon neu gefassten Zuständigkeit der Union für den Bereich Katastrophenschutz in Art. 6 S. 2 lit. f) AEUV, um die Tätigkeit der Mitgliedstaaten zu unterstützen, zu koordinieren und zu ergänzen. Art. 196 Abs. 1 AEUV normiert die im Rahmen der Förderung des Katastro894 phenschutzes zu verfolgenden Ziele. Als übergeordnete Zielsetzung verfolgt die Union eine wirksamere Gestaltung der Systeme, um Naturkatastrophen oder vom Menschen verursachte Katastrophen zu verhüten und vor ihnen zu schützen (Art. 196 Abs. 1 UAbs. 1 AEUV). Art. 196 Abs. 1 UAbs. 2 AEUV konkretisiert diese Zielsetzung hinsichtlich 895 mehrerer Teilziele. Demnach unterstützt und ergänzt die Union mit ihrer Tätigkeit die Mitgliedstaaten auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene. Das gilt für die Risikoprävention, die Ausbildung der in den Mitgliedstaaten am Katastrophenschutz Beteiligten und Einsätze im Falle von Naturkatastrophen oder vom Menschen verursachten Katastrophen in der Union (Art. 196 Abs. 1 UAbs. 2 lit. a) AEUV). Des Weiteren fördert die Union eine schnelle und effiziente Zusammenarbeit in der Union zwischen den einzelstaatlichen Katastrophenschutzstellen (Art. 196 Abs. 1 UAbs. 2 lit. b) AEUV) und zielt mit ihrer Tätigkeit darauf, die Kohärenz der Katastrophenschutzmaßnahmen auf internationaler Ebene zu verbessern (Art. 196 Abs. 1 UAbs. 2 lit. c) AEUV). Die Union unterstützt und ergänzt die Tätigkeit der Mitgliedstaaten also bei 896 Prävention, Präparation und Intervention178 und koordiniert die Zusammenarbeit der nationalen Stellen sowie die Kohärenz der internationalen Katastrophenschutzmaßnahmen. II. Solidaritätsklausel 897 Art. 196 AEUV ist eingebettet in eine Reihe von Vertragsnormen, die im Falle von Katastrophenfällen eingreifen. So besteht zum einen ein Zusammenhang zur Solidaritätsklausel aus Art. 222 AEUV, in der die Solidarität der Union und ihrer Mitgliedstaaten festgeschrieben ist, für den Fall, dass ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag, einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe betroffen ist. Die Solidaritätsklausel wurde insbesondere in Reaktion auf die Anschläge vom 11.9.2001 und den Anschlag von Madrid in die Verträge aufgenommen.179 Sie erfasst im Gegensatz zu Art. 196 AEUV nicht nur Katastrophenfälle, sondern auch Terroranschläge. 178 179
Vgl. die Begrifflichkeit bei Weerth, in: Lenz/Borchardt, Art. 196 AEUV Rn. 6. Vedder, in: ders./Heintschel v. Heinegg, Europäischer Verfassungsvertrag, 2007, Art. I-43 Rn. 1.
S. Verwaltungskooperation
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In Bezug auf Katastrophenfälle regelt Art. 222 AEUV in Abgrenzung zur Ka- 898 tastrophenschutzkompetenz des Art. 196 AEUV nicht die Förderung einer wirksamen Gestaltung der mitgliedstaatlichen Katastrophenschutzsysteme durch die Union im Vorfeld, sondern die konkrete Unterstützung durch Union und Mitgliedstaaten für den Fall, dass ein Mitgliedstaat von einer Naturkatastrophe oder einer vom Menschen verursachten Katastrophe auf seinem Hoheitsgebiet betroffen ist. Der betroffene Mitgliedstaat muss um diese Unterstützung ersuchen. 180
S. Verwaltungskooperation I. Neue Politik Die Verwaltungszusammenarbeit als Bestandteil der internen Politiken und 899 Maßnahmen der Union ist ebenfalls erst mit dem Vertrag von Lissabon eingeführt worden. Der AEUV enthält nun einen Titel XXIV „Verwaltungszusammenarbeit“, der in Art. 197 AEUV als einzigem Artikel Unterstützungsmaßnahmen der Union für die Effektivierung der administrativen Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten regelt, so die Erleichterung des Austauschs von Informationen und von Beamten sowie die Unterstützung von Aus- und Weiterbildungsprogrammen. Insofern stellt Art. 197 AEUV eine Konkretisierung der ebenfalls durch den Vertrag von Lissabon neu geschaffenen Zuständigkeit der Union für den Bereich der Verwaltungszusammenarbeit in Art. 6 S. 2 lit. g) AEUV dar. II. Verbindung mit dem nationalen Vollzug von Unionsrecht Zielsetzung ist eine Unterstützung der effektiven Durchführung des Unions- 900 rechts durch die Mitgliedstaaten seitens der Union, da diese für das ordnungsgemäße Funktionieren der Union als entscheidend angesehen wird (Art. 197 Abs. 1 AEUV). Diese wird damit als Regelfall zugrunde gelegt, 181 nicht indes mit Vorrang ausgestattet.182 Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur effektiven Durchführung des Unionsrechts setzt Art. 197 Abs. 1 AEUV dabei bereits voraus. Diese ergibt sich aus dem in Art. 4 Abs. 3 EUV normierten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit und aus dem Gesamtgefüge der Verträge.183 Darüber hinaus erklärt Art. 197 Abs. 1 AEUV die effektive Durchführung des 901 Unionsrechts zu einer „Frage von gemeinsamem Interesse“. Obwohl den Mitgliedstaaten also generell die Zuständigkeit zur verwaltungsmäßigen Durchführung des Unionsrechts obliegt und auch durch die Maßnahmen im Rahmen von Art. 197 AEUV keine Einschränkung erfolgt (vgl. Art. 2 Abs. 5 UAbs. 1 a.E., Art. 197 Abs. 2 S. 3, 4 und Abs. 3 AEUV), müssen diese bei der Durchführung
180 181 182 183
S. auch u. Rn. 913 a.E. Näher zur Solidaritätsklausel Frenz, Europarecht 6, Rn. 5225 ff. Ein Vollzug durch die Union benötigt eine explizite Rechtsgrundlage, etwa v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S. 316. Dazu näher Frenz, Europarecht 5, Rn. 1749 ff. EuGH, Rs. 205-215/84, Slg. 1983, 2633 (2665, Rn. 17) – Deutsche Milchkontor.
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Kapitel 8: Weitere Unionspolitiken
des Unionsrechts das gemeinsame Interesse der Union und der Mitgliedstaaten an der Effektivität dieser Durchführung berücksichtigen.184 Damit steht auch Art. 197 Abs. 1 AEUV für das Effektivitätsgebot im Sinne 902 einer wirksamkeitsbezogenen Konzeption der Durchführung des Unionsrechts. Er bezieht sich aber von seinem Regelungsgegenstand her auf die unterstützende Funktion der Union, nicht die vielfältigen mitgliedstaatlichen Pflichten zur Ausgestaltung von Verwaltungsorganisation und -verfahren. Diese Pflichten lässt die unterstützende Tätigkeit der Union leichter erfüllbar werden, baut auf diese Weise zugleich auf ihnen auf und federt sie ab. Die Grundentscheidung für einen prinzipiellen nationalen Vollzug des Uni903 onsrechts185 wird dadurch mit der Unionsebene verzahnt und für die Unterstützung durch die Union geöffnet, ohne aber im Grundansatz angetastet zu werden. Sie ist und bleibt vielmehr elementar für das ordnungsgemäße Funktionieren der Union und ist aus dieser Perspektive von gemeinsamem Interesse. Der nationale Vollzug muss also auch im Unionsinteresse gewahrt bleiben, wenn die Union unterstützend tätig wird.
T. Assoziierung 904 Gemäß Art. 198 Abs. 1 AEUV kommen die Mitgliedstaaten überein, die außereuropäischen Länder und Hoheitsgebiete, die mit Dänemark, Frankreich, den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich besondere Beziehungen unterhalten, der Union zu assoziieren. Insoweit muss also kein Assoziierungsabkommen gemäß Art. 217 AEUV geschlossen werden, sondern die Assoziierung besteht kraft primärrechtlicher Anordnung. Damit gelten aber nicht automatisch die vertraglichen Vorschriften wie der freie Warenverkehr, sondern es handelt sich um einen dynamischen und allmählichen Prozess unter Einbeziehung der Grundsätze des Unionsrechts – einschließlich derer mit Bezug auf die gemeinsame Agrarpolitik. 186 Die erfassten Länder und Hoheitsgebiete sind in Anhang II aufgeführt, und zwar 905 abschließend. Eine Verengung kann sich durch Durchführungsbeschlüsse nach Art. 203 AEUV oder Unabhängigkeit eines Landes oder Hoheitsgebietes187 ergeben; im zweiten Fall kann die vorläufige Weitergeltung des Assoziierungsbeschlusses angeordnet werden.188 Für die erfassten überseeischen Länder und Hoheitsgebiete gilt das besondere 906 Assoziierungssystem des Vierten Teils des AEUV (Art. 355 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV), das mittels Durchführungsbeschlüssen nach Art. 203 AEUV näher ausgestaltet wird. Die besonderen politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu diesen ehemaligen Kolonialgebieten sollen nicht durch einen Beitritt zur Union 184 185 186 187 188
Vedder, in: ders./Heintschel v. Heinegg, Europäischer Verfassungsvertrag, 2007, Art. III-285 Rn. 4. Etwa v. Danwitz, Europäisches Verwaltungsrecht, 2008, S. 303 f. EuGH, Rs. C-17/98, Slg. 2000, I-675 (726, Rn. 28 ff.) – Emesa Sugar; Rs. C-390/95 P, Slg. 1999, I-769 (813, Rn. 36 f.) – Antillean Rice Mills. EuGH, Rs. 147/73, Slg. 1973, 1543 – Lensing für Guinea. S. Art. 61 des Beschlusses 2001/822/EG.
U. Auswärtiges Handeln
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gefährdet werden. Es wird damit eine von der Anlage her vergleichbare Rechtsbeziehung wie zu Drittstaaten etabliert.189 Die Assoziierung knüpft an die besondere soziale und wirtschaftliche Lage der 907 Länder und Hoheitsgebiete an. Ziel ist nach Art. 198 Abs. 2 AEUV die Förderung von deren wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung und die Herstellung enger Wirtschaftsbeziehungen zwischen ihnen und der gesamten Union. Dabei soll die Assoziierung gemäß Art. 198 Abs. 3 AEUV entsprechend den in der Präambel der Verträge aufgestellten Grundsätzen in erster Linie den Interessen der Einwohner dieser Länder und Hoheitsgebiete dienen und ihren Wohlstand fördern, um sie der von ihnen erstrebten wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Entwicklung entgegenzuführen. Ausgangspunkt ist also die bislang zurückbleibende wirtschaftliche und soziale 908 Entwicklung, die gefördert werden soll. Diese Förderung soll aber nicht primär dem Nutzen der EU dienen, sondern in erster Linie den Interessen der Einwohner der assoziierten Länder und Hoheitsgebiete. Ihr Wohlstand soll gefördert werden. Die von ihnen erstrebte wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung dient als Fernziel. Damit geht es um die Förderung eines Entwicklungsprozesses, der von diesen Ländern und Hoheitsgebieten gewünscht wird. Dieser muss nicht notwendig mit den Vorstellungen der EU-Staaten übereinstimmen. Allerdings handelt es sich um eine Anbindung an das EU-Recht, so dass dessen 909 Grundsätze auch für die nähere Ausgestaltung gelten. 190 Insbesondere für Begrenzungen etwa der Grundfreiheiten können aber die spezifischen Aspekte der überseeischen Länder und Hoheitsgebiete wesentliche Bedeutung erlangen. Näheres regeln Art. 199 ff. AEUV. So gilt im Ausgangspunkt gemäß Art. 199 Ziff. 1, 2, 5 AEUV das EU-Vertragsrecht, allerdings mit Besonderheiten.191
U. Auswärtiges Handeln I. Völkerrechtssubjektivität der EU Art. 47 EUV stattet die EU nunmehr ausdrücklich mit einer eigenen Rechtsper- 910 sönlichkeit aus, so dass sie im internationalen Verkehr ein handlungsfähiges Völkerrechtssubjekt darstellt.192 Als umfassendes Völkerrechtssubjekt kann sie im Rahmen ihrer Kompetenzen am völkerrechtlichen Verkehr teilnehmen, Adressat völkerrechtlicher Rechte und Pflichten sein und insbesondere völkerrechtliche Verträge abschließen (Art. 216 Abs. 1 AEUV).
189
190 191 192
EuGH, Gutachten 1/78, Slg. 1979, 2871 (2919, Rn. 62) – Internationales Naturkautschuk-Übereinkommen; Rs. C-181/97, Slg. 1999, I-483 (509 f., Rn. 37, 41) – van der Kooy. S. EuGH, Rs. C-17/98, Slg. 2000, I-675 (726, Rn. 30) – Emesa Sugar. Im Einzelnen Frenz, Europarecht 6, Rn. 4947 ff. Vgl. die dem Vertrag von Lissabon beigefügte Erklärung Nr. 24 zur Rechtspersönlichkeit der Europäischen Union, ABl. 2010 C 83, S. 346.
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Kapitel 8: Weitere Unionspolitiken
II. Zuständigkeiten und Handlungsmöglichkeiten 911 Auf der Grundlage des Vertrages von Lissabon verschmelzen die EG und die EU, wobei die Union gemäß Art. 1 Abs. 3 EUV die Rechtsnachfolge der EG antritt. Als Rechtsnachfolgerin übernimmt die Union die Rechtsstellung der EG als Beobachterin oder Mitglied in internationalen Organisationen. Die Rechtsnachfolge hat dagegen keine Auswirkungen auf die rechtliche Kontinuität im europäischen Integrationsprozess. Das Primärrecht wird in funktioneller sowie kompetenzieller Hinsicht in nahezu identischer Weise fortgeführt, so dass die EU ihrem Wesen und ihren Handlungsmöglichkeiten nach im völkerrechtlichen Bereich der bisherigen EG vergleichbar bleibt. Der EU werden im Bereich des auswärtigen Handelns nicht nur im Wege der 912 Rechtsnachfolge die Zuständigkeiten der EG übertragen, sondern zusätzlich stehen ihr auch diejenigen zu, die ihr durch den AEUV erstmals zugewiesen werden, ebenso die schon bisher im EU enthaltenen und nunmehr fortentwickelten. Es bleiben mögliche auswärtige Aktivitäten im Hinblick auf eng damit verschränkte Sachmaterien und damit Binnenkompetenzen. Daran knüpft Art. 216 Abs. 1 AEUV für den Abschluss internationaler Übereinkünfte an und sieht diesen Abschluss eigens vor. Demgegenüber ist etwa Art. 191 Abs. 4 AEUV selbst trotz Verweis auf internationale Umweltaktivitäten der Union nicht kompetenzbegründend. 193 Das auswärtige Handeln der EU umfasst mithin den Bereich der Gemeinsamen 913 Außen- und Sicherheitspolitik (GASP, Art. 23-46 EUV) einschließlich der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP, Art. 42-46 EUV),194 den Bereich der gemeinsamen Handelspolitik (Art. 206 und 207 AEUV), 195 die Zusammenarbeit mit Drittländern und die humanitäre Hilfe (Art. 208-214 AEUV), den Erlass von restriktiven Maßnahmen (Art. 215 AEUV), den Abschluss internationaler Übereinkünfte (Art. 216-219 AEUV), die Beziehungen der Union zu internationalen Organisationen und Drittländern sowie Delegationen der Union (Art. 220 und 221 AEUV) und die Anwendung der Solidaritätsklausel (Art. 222 EUV). Letztere ist zwar auf Terroranschläge, Naturkatastrophen und von Menschen verursachte Katastrophen, die einen Mitgliedstaat betreffen, ausgerichtet (s. auch den auf Drittländer bezogenen Art. 214 AEUV e contrario), so dass eine enge sachliche Verbindung zum Katastrophenschutz nach Art. 196 AEUV besteht.196 Indes geht es hier auch um das auswärtige Handeln.197 III. Neue Systematik 914 Einen wichtigen Beitrag zur Klärung der Außenkompetenzen der EU leistet der Vertrag von Lissabon bereits dadurch, dass ein Großteil der für die Außenbeziehungen relevanten Bestimmungen im Fünften Teil des AEUV zusammengefasst 193 194 195 196 197
Frenz, Außenkompetenzen der Europäischen Gemeinschaften und der Mitgliedstaaten im Umweltbereich, 2001, S. 41 f. S. sogleich Rn. 930 ff. Näher Frenz, Europarecht 6, Rn. 5018 ff. auch zum Folgenden. S. daher o. Rn. 898. S. insbes. Art. 222 Abs. 3 AEUV.
W. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
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wird. Lediglich der Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wird unter dem Titel V des EUV noch gesondert geregelt. Daneben enthält der EUV auch Bestimmungen zu den allgemeinen Grundsätzen und Zielen des auswärtigen Handelns der EU. IV. Ziele und Grundsätze Die Ziele und Grundsätze des auswärtigen Handelns der EU werden durch Art. 21 EUV festgelegt. Er enthält in Abs. 1 eine Aufzählung der Grundsätze und nennt in Abs. 2 die Ziele, wodurch die allgemeinen Werte und Ziele der EU (Art. 2 und 3 EUV) näher konkretisiert werden. Die Ziele und Grundsätze des auswärtigen Handels sind dabei zu einem Teil aus den für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik geltenden Bestimmungen (Art. 11 EU a.F.) entnommen, jedoch deutlich ergänzt und zu für den gesamten Bereich des auswärtigen Handelns der Union geltenden Grundsatzbestimmungen erhoben worden. Die Grundsätze und Ziele sind gemäß Art. 21 Abs. 3 EUV bei der Ausarbeitung und Umsetzung des gesamten auswärtigen Handelns zu wahren. Dies soll ausdrücklich auch für alle externen Aspekte der übrigen Politikbereiche gelten. Gemäß Art. 21 Abs. 3 UAbs. 2 S. 1 EUV ist es nunmehr Aufgabe der EU, auf die Kohärenz zwischen den einzelnen Bereichen des auswärtigen Handelns und zwischen diesen und ihren übrigen Politikbereichen zu achten. Dieses gegenüber Art. 7 AEUV spezifische Kohärenzgebot stellt so einen Gleichklang auch von internem und auswärtigem Handeln her. Namentlich im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik spielen freilich die Mitgliedstaaten weiterhin eine tragende Rolle. Daher bedarf es trotz fehlender Erwähnung in Art. 21 Abs. 3 UAbs. 2 EUV einer Kohärenz auch vertikal zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten. Nur so ist ein umfassendes Zusammenspiel gewährleistet. Art. 24 Abs. 3 EUV schreibt dementsprechend für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik eine Unterstützungs- und Achtungspflicht fest. Der Rat und die Kommission, die vom Hohen Vertreter der Union für Außenund Sicherheitspolitik unterstützt werden, stellen gemäß Art. 21 Abs. 3 UAbs. 2 S. 2 EUV die Kohärenz sicher und arbeiten zu diesem Zwecke zusammen. Die Verantwortung für die Kohärenz liegt folglich beim Rat und bei der Kommission.
915
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W. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik I. Systematik Gemäß Art. 23 EUV beruht das Handeln der Union auf internationaler Ebene im 919 Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) auf den Grundsätzen des Kapitels 1 und damit den allgemeinen Bestimmungen über das auswärtige Handeln. Es verfolgt die darin genannten Ziele und steht mit den allgemeinen Bestimmungen jenes Kapitels im Einklang. Das ergibt sich auch schon aus
260
Kapitel 8: Weitere Unionspolitiken
Art. 21 Abs. 3 EUV, wird so aber für die besonders ausgestaltete GASP nochmals betont.198 Allerdings sind die sich daraus ergebenden Grundsätze und Ziele recht allge920 mein. Aus ihnen resultieren keine präzisen Vorgaben, wenn es um einzelne Maßnahmen geht. Daher bedarf es näherer Konkretisierung. Dafür gibt es eine gestufte Rangfolge, ein „Kaskadenprinzip der Willensbildung“.199 Diese Stufung folgt aus Art. 25 EUV. Zunächst werden allgemeine Leitlinien 921 bestimmt (lit. a)). Diese werden auch in Art. 26 EUV wieder aufgegriffen und in einem Zuge mit den strategischen Interessen der Union (s. Art. 22 EUV) und den Zielen genannt. Letztere werden näher konkretisiert, indem die von der Union durchzuführenden Aktionen und die von der Union einzunehmenden Standpunkte festgelegt werden, und zwar durch Beschlüsse (Art. 25 lit. b) i), ii) EUV). Um diese Beschlüsse mit den konkretisierenden Festlegungen im Einzelnen durchzuführen, werden nach Art. 25 lit. b) iii) EUV ebenfalls Beschlüsse erlassen. Diese Instrumente der Zielverwirklichung sind aber rückbezogen auf das Ko922 härenzgebot nach Art. 23 EUV und müssen sich damit wie die GASP generell im Rahmen der allgemeinen Grundsätze des auswärtigen Handelns wie der Werte und Ziele der Union im Allgemeinen halten. Dadurch ist sichergestellt, dass auch bei der Konkretisierung die GASP in das Vertragsganze eingebettet bleibt. Die Konkretisierungsbedürftigkeit als solche korrespondiert mit der notwendigen Umsetzung der Ziele der Union gemäß Art. 3 Abs. 6 EUV mit geeigneten Mitteln entsprechend den vertraglich übertragenen Zuständigkeiten auch im Inneren der Union. II. Bezug auf die Mitgliedstaaten 923 Die GASP ist nicht ohne Grund im EUV verblieben. In ihr sind weiterhin die Mitgliedstaaten dominant, auch wenn sie zur Loyalität im Hinblick auf die Außenund Sicherheitspolitik der Union verpflichtet sind; diese Loyalität ist aber auf eine Achtung des Handelns der Union ausgerichtet (Art. 24 Abs. 3 UAbs. 1 EUV). Im Übrigen arbeiten die Mitgliedstaaten ihrerseits zusammen (Art. 24 Abs. 3 924 UAbs. 2 EUV) und bilden auch den Zielpunkt des auswärtigen Handelns der Union. Dieses beruht nämlich gemäß Art. 24 Abs. 2 EUV auf einer Entwicklung der gegenseitigen politischen Solidarität der Mitgliedstaaten, der Ermittlung von Fragen von allgemeiner Bedeutung und der Erreichung einer immer stärkeren Konvergenz des Handelns der Mitgliedstaaten. Dieses bildet also weiterhin den Bezugs- und zugleich Ausgangspunkt. Faktisch dominiert es bislang ohnehin. Die EU trat vielfach nicht einheitlich auf, weder im Irak-Konflikt noch – trotz Art. 34 Abs. 2 EUV – bei anderen Gelegenheiten im UN-Sicherheitsrat.200 Gesetzgebungsakte sind gemäß Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 S. 3 EUV ausgeschlos925 sen. Beschlüsse werden grundsätzlich einstimmig gefasst (Art. 31 Abs. 1 EUV mit
198 199 200
Bitterlich, in: Lenz/Borchardt, Art. 23 EUV Rn. 1. Cremer, in: Calliess/Ruffert, Art. 13 EUV Rn. 9. Bitterlich, in: Lenz/Borchardt, Art. 24 EUV Rn. 6.
W. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
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Ausnahmen in Abs. 2 und 3). Insbesondere daraus ergibt sich die starke Stellung der Mitgliedstaaten im Bereich der GASP, die eine einheitliche europäische „Auswärtige Gewalt“ nicht wirklich aufkommen lässt.201 Die fortbestehende Eigenständigkeit und feste Position der Mitgliedstaaten schlägt sich auch in der Zuständigkeitsverteilung sowie in den Verfahrensregelungen nieder. III. Zuständigkeiten Für die GASP ist die Union gemäß Art. 2 Abs. 4 AEUV nach Maßgabe des EUV zuständig. Das gilt auch für die schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik. Diese Bestimmung ist zwischen zwei lediglich koordinierenden Feldern platziert. Das entspricht der in erster Linie lediglich koordinierenden Rolle der Union im Rahmen der GASP. Die Details ergeben sich – wie bei den anderen Politiken – aus den Sachregelungen, nur eben aus dem EUV. Maßgeblich sind Art. 24 ff. EUV.202 Das schließt aber umgekehrt die Anwendung von Bestimmungen des AEUV nicht gänzlich aus. So sieht Art. 37 EUV nur den Abschluss von Übereinkünften im Bereich der GASP vor, während Art. 40 Abs. 1 EUV die Verfahren und die Befugnisse der Organe nach dem AEUV unberührt lässt, sie also nicht ausschließt. Art. 3 Abs. 2 AEUV legt die Fälle der ausschließlichen Zuständigkeit der Union für den Abschluss internationaler Übereinkünfte fest. Er baut aber auf der AETRJudikatur203 auf, die eine implizite Vertragsschlusskompetenz bei korrespondierender Binnenkompetenz annahm und bei entsprechender Verschränkung eine ausschließliche Unionszuständigkeit bejahte.204 Die GASP ist indes gerade von einer Binnenkompetenz losgelöst. Daher passt Art. 3 Abs. 2 AEUV nicht. Zudem geht die GASP von einem koordinierenden Konzept aus, bei dem sich die Mitgliedstaaten unter dem Dach der Union abstimmen, im Übrigen aber selbst zuständig bleiben. Um die Souveränität der Mitgliedstaaten auch im Rahmen der GASP zu wahren, zirkelt Art. 40 Abs. 2 EUV diesen Bereich gegenüber anderen Politikfeldern ab, damit nicht durch die Hintertür eine stärkere Integration erfolgt.205 Im Bereich der GASP müssen die Mitgliedstaaten grundsätzlich alle zustimmen. Die Festlegungen werden nämlich gemäß Art. 31 Abs. 1 EUV einstimmig getroffen, außer ein Fall des Art. 31 Abs. 2 oder 3 EUV liegt vor. Letztlich bestimmen damit doch die Mitgliedstaaten, auch wenn formal die Union zuständig ist. Insoweit ist daher die Zuständigkeit der Union eine Hülle, die von dem Willen der Mitgliedstaaten ausgefüllt wird, der einhellig vorliegen muss. Das setzt sich in
201 202 203 204 205
Calliess, in: ders./Ruffert, Verfassung der EU, 2006, Art. I-16 Rn. 9; s. auch Risse, integration 2003, 564 (569); Nettesheim, EuR 2004, 511 (519). Im Einzelnen Frenz, Europarecht 6, Rn. 5244 ff. auch zu den Instrumenten und Beschlüssen. S. grundlegend EuGH, Rs. 22/70, Slg. 1971, I-263 – AETR. S. etwa EuGH, Rs. C-467/98, Slg. 2002, I-9519 (9549 f. Rn. 56 ff.) – Kommission/ Dänemark; Gutachten 2/91 Slg. 1993, I-1061 (1079, Rn. 18 ff.) – IAO. Cremer, in: Calliess/Ruffert, Art. 47 EUV Rn. 7.
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Kapitel 8: Weitere Unionspolitiken
dem Abschluss internationaler Übereinkünfte fort. Zwar greift auch insoweit Art. 218 AEUV, der nach Art. 40 Abs. 1 EUV unberührt bleibt. Gemäß Art. 218 Abs. 8 UAbs. 2 AEUV muss der Rat aber wie nach Art. 31 EUV einstimmig beschließen. IV. Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) 1. Bezug zur GASP 930 Gemäß Art. 42 Abs. 1 S. 1 EUV ist die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik integraler Bestandteil der GASP. Deren Bestimmungen erstrecken sich damit grundsätzlich auch auf die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik; Letztere wird teilweise auch ausdrücklich in Bezug genommen, so in Art. 36 Abs. 2 EUV bei der Aussprache des Europäischen Parlaments oder im Hinblick auf Krisenbewältigungsoperationen nach Art. 43 EUV bezüglich des Politischen und Sicherheitspolitischen Komitees (Art. 38 Abs. 2 und 3 EUV). In die Haushaltsvorschriften werden allgemein auch Missionen nach Art. 42 Abs. 1 EUV einbezogen (Art. 41 Abs. 3 EUV). Die Sonderrolle zeigt sich namentlich durch das unbedingte Festhalten an der Einstimmigkeit für die Beschlussfassung im Rat bei militärischen und verteidigungspolitischen Bezügen (Art. 31 Abs. 4 EUV). Gleichwohl ist die Union grundsätzlich und umfassend für die Sicherheitsund Verteidigungspolitik zuständig.206 2. Erweiterte Handlungsmöglichkeiten 931 Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik sichert der Union gemäß Art. 42 Abs. 1 S. 2 EUV eine auf zivile und militärische Mittel gestützte Fähigkeit zu Operationen. Sie geht damit über die allgemeine Außen- und Sicherheitspolitik hinaus, welche nach Art. 28 Abs. 1 EUV auch bereits ein operatives Vorgehen einschließt, aber jedenfalls nicht ein solches mit militärischen Mitteln. Insoweit bildet die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik eine spezielle Form der GASP und zugleich deren Verlängerung, ausgehend vom allgemeinen, lediglich politischen Rahmen. Auf die mit der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik verbunde932 nen zivilen und militärischen Mittel und darauf gestützte Operationen kann die Union gemäß Art. 42 Abs. 1 S. 3 EUV bei Missionen außerhalb der Union zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit zurückgreifen.207 Das macht deutlich, dass es sich um besondere Situationen handeln muss, in denen es nicht nur um diplomatische Unstimmigkeiten geht, sondern um konkrete Konflikte bzw. Gefährdungen des Friedens, die situationsweise oder längerfristig durch Stärkung der internationalen Sicherheit gebannt werden sollen. Art. 42 Abs. 1 S. 3 EUV verlangt, dass ein solches Vorgehen in Übereinstim933 mung mit den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen erfolgt. Weil die 206 207
Bitterlich, in: Lenz/Borchardt, Art. 42 EUV Rn. 2. Näher Frenz, Europarecht 6, Rn. 5402 ff. auch zum Folgenden.
W. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
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Union keine eigene Armee oder sonstige bewaffnete Kräfte besitzt, erfüllt sie die Aufgaben der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit Hilfe der Fähigkeiten, die von den Mitgliedstaaten bereitgestellt werden (Art. 42 Abs. 1 S. 4 EUV). Diese werden nach Maßgabe von Art. 42 Abs. 3 EUV zur Verfügung gestellt. Es handelt sich also nicht um eigene Fähigkeiten der Union.208 3. Gemeinsame Verteidigung als Fernziel Als Perspektive sieht Art. 42 Abs. 2 UAbs. 1 EUV wie schon Art. 17 EU die 934 schrittweise Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik der Union vor. Ihr Ziel ist die gemeinsame Verteidigung. Allerdings ist hierfür ein einstimmiger Beschluss des Europäischen Rates erforderlich, dessen Ergehen aufgrund des „sobald“ im Gegensatz zu dem „falls“ in der Amsterdamer Vertragsfassung fest erwartet wird. Zudem enthält schon Art. 42 Abs. 2 UAbs. 1 S. 3 EUV die Empfehlung für einen Beschluss im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Vorschriften der Mitgliedstaaten. Das BVerfG betont die Notwendigkeit der Einstimmigkeit und schließt eine weiter gehende Vertragsänderung, die zu einer Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit führen kann, nach deutschem Verfassungsrecht aus und verbietet insoweit der Bundesrepublik die Beteiligung daran.209 Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik respektiert den beson- 935 deren Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten (Art. 42 Abs. 2 UAbs. 2 sowie Abs. 7 UAbs. 1 EUV) und achtet auch die Bündnisverpflichtungen im Rahmen der NATO (Art. 42 Abs. 2 UAbs. 2 EUV). 210 Damit baut sie auf den nationalen Eigenheiten auf. Deshalb kommt nur eine behutsame Fortentwicklung infrage. Zudem ist selbst diese durch die Einstimmigkeit gebunden. Eine Vertragsänderung nach Art. 48 Abs. 2-5 EUV ist jedenfalls nach dem Vorbehalt des BVerfG im Lissabon-Urteil ausgeschlossen. Dieses betont vielmehr den wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt, der bei strikter Anwendung die Nutzung von Chancen ständiger gemeinsamer Einheiten auf Unionsebene verschließt.211 VI. Flexibilitätsklausel Zwar ist die Flexibilitätsklausel nach Art. 352 AEUV nicht mehr auf die Ziel- 936 verwirklichung im Rahmen des Gemeinsamen bzw. nunmehr des Binnenmarktes beschränkt und enthält eigene verfahrensmäßige Vorkehrungen.212 Gleichwohl bildet sie immer noch eine in ihren Wirkungsmechanismen vorherbestimmte Kompetenznorm. Sie kann trotz ihrer Erstreckung auf alle Politikbereiche mit Ausnahme der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (Art. 352 Abs. 1, 4 AEUV) in anderen Vorschriften enthaltene Zuständigkeiten ergänzen, wenn dies 208 209 210 211 212
Bitterlich, in: Lenz/Borchardt, Art. 42 EUV Rn. 3 a.E. BVerfGE 123, 267 (426) – Lissabon. S. auch Protokoll (Nr. 11) zu Art. 42 Abs. 2 des Vertrages über die Europäische Union. Krit. bereits Frenz, Europarecht 5, Rn. 289. Anders auch Fährmann, Die Bundeswehr im Einsatz für Europa, 2010. BVerfGE 123, 267 (351 f.) – Lissabon.
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Kapitel 8: Weitere Unionspolitiken
zur Erreichung der Vertragsziele erforderlich ist, indes keine neuen Kompetenzen schaffen. Auch das BVerfG erkennt die Implied-powers-Doktrin an und sieht diese als „Teil des vom GG gewollten Integrationsauftrags“.213 Damit aber geht es um die Auslegung einer europäischen Kompetenzvorschrift. Sie behält sich das BVerfG vor,214 und reichert sie um nationale Verfahrensanforderungen an, ohne dass dies dem Europarecht entnommen werden kann. Vielmehr werden so gegebenenfalls eilbedürftige Maßnahmen zur Erreichung der Vertragsziele blockiert, obwohl sie ins vertragliche System passen und für die auch von Art. 23 Abs. 1 GG vorausgesetzte Integration erforderlich sind, jedoch nicht notwendig bei der Schaffung der bisherigen Kompetenzen vorhersehbar waren. Damit überschreiten sie gerade nicht das vorherbestimmte Integrationsprogramm, was das BVerfG mit seiner Kompetenzkontrolle verhindern wollte.215 Um Schwierigkeiten im Rahmen von Art. 352 AEUV zu vermeiden, empfiehlt 937 sich eine wirksamkeitsbezogene Auslegung der vorhandenen spezifischen Kompetenzen entsprechend der Effet-utile-Regel, die auch das BVerfG akzeptiert.216 Zwar behält es sich auch insoweit durchgehend eine Ultra-vires-Kontrolle vor,217 verficht indes nur für die „demokratiesensiblen“ Kompetenzen eine restriktive Auslegung, im Übrigen aber lediglich eine „auch nur sehr zurückgenommene und sich als exzeptionell verstehende“ Kontrolle.218
213 214 215 216 217 218
BVerfGE 123, 267 (351 f.) – Lissabon. Allgemein BVerfGE 123, 267 (352) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (352) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (351 f.) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (352 ff.) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (352) – Lissabon; noch deutlicher BVerfG, NJW 2010, 3422 – Mangold.
Kapitel 9: Grundrechte Literatur: Ehlers, Dirk, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009; Frenz, Walter, Handbuch Europarecht 4: Europäische Grundrechte, 2009, Heselhaus, Sebastian M./Nowak, Carsten, Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006; Jarass, Hans D., EU-Grundrechte, 2005; Meyer, Jürgen (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2011; Rengeling, Hans-Werner/Sczcekalla, Peter, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004; Tettinger, Peter J./Stern, Klaus, Europäische Grundrechte-Charta, 2006. Leitentscheidungen: EuGH, Rs. C-280/93, Slg. 1994, I-4933 – Bananen; Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079 – Niederlande/Parlament und Rat („Biopatentrichtlinie“); Rs. C127/07, Slg. 2008, I-9895 – Arcelor; Rs. C-92 u. 93/09, EuZW 2010, 939 – Schecke und Eifert; EGMR, Urt. vom 30.6.2005, Nr. 45036/98, NJW 2006, 197 – Bosphorus/Irland.
A. Stellung und Konkurrenz I. Vertragsrecht, v.a. Grundfreiheiten 1. „Bedingungen und Grenzen“ der Grundrechte Gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV ist die EGRC mit ihren Grundrechten fest anerkannt 938 und mit den Verträgen rechtlich gleichrangig. Auch die Charta enthält in ihrem Allgemeinen Teil eine Regelung, die das Verhältnis der Chartagrundrechte zu dem in den Verträgen enthaltenen Primärrecht, und zwar insbesondere zu den Grundfreiheiten betrifft. Nach Art. 52 Abs. 2 EGRC erfolgt die Ausübung der durch die Charta anerkannten Rechte, die auch in den Verträgen geregelt sind, im Rahmen der in den Verträgen festgelegten Bedingungen und Grenzen.1 Damit wird auf den Schutzbereich und die Einschränkungsmöglichkeiten verwiesen, die für die in den Verträgen verankerten parallelen Rechte bestehen. Offen bleibt danach, ob auch das Erfordernis eines grenzüberschreitenden 939 Bezugs mit erfasst wird. Die Formulierung der „Bedingungen und Grenzen“ ist so offen, dass der Wortlaut einer Einbeziehung nicht entgegensteht.2 Zwar ist dieses Erfordernis nicht ausdrücklich in den Grundfreiheiten formuliert, doch ist es aus dem Wortlaut der Grundfreiheiten selbst und somit aus dem Primärrecht ableitbar, wie etwa bei der Warenverkehrsfreiheit in Art. 34 ff. AEUV, in der von Ein- und Ausfuhrbeschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten die Rede ist.3
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Näher Frenz, Europarecht 4, Rn. 185 ff. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 272. Vgl. EuGH, Rs. 355/85, Slg. 1986, 3231 (3242, Rn. 10) – Cognet; s.o. Rn. 221.
W. Frenz, Europarecht, DOI 10.1007/978-3-642-21019-8_9, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel 9: Grundrechte
Nach dem Wortlaut des Art. 52 Abs. 2 EGRC dürfen nur in den Verträgen selbst festgelegte Bedingungen und Grenzen herangezogen werden. Dies kann aber nicht für diejenigen Rechte gelten, für die in den Verträgen selbst auf das Sekundärrecht verwiesen wird, das dann entsprechende Vorbehalte konkretisiert.4 Denn insoweit ordnet das Primärrecht selbst die Anwendung sekundärrechtlicher Ausgestaltungsregelungen an. Daraus ergibt sich erst das jeweilige Recht in vollem Umfang. Das Sekundärrecht erfüllt damit eine grundlegendere Funktion als die Rechtsprechung, die ebenfalls einbezogen wird, um den näheren Gehalt eines Rechts zu ermitteln. Relevant ist dies vor allem für die Rechte aus der allgemeinen Freizügigkeit nach Art. 21 AEUV. 5 2. Rechtfertigung von Grundfreiheitsbeeinträchtigungen
941 Besonders ins Blickfeld gerückt ist die Rechtfertigung von Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten durch Grundrechte. Zwar bezog sich die diese Frage näher behandelnde EuGH-Entscheidung Schmidberger6 auf grundfreiheitliche Schutzpflichten.7 Jedoch sind die Grundrechte wie die Grundfreiheiten generell europarechtlich gewährleistet. Bei Konflikten bedarf es daher generell eines Ausgleichs. Dieser erfolgt im Rahmen der Rechtfertigung von Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten. Zum einen können Grundrechte Rechtfertigungsgründe bilden. Zum anderen begrenzen sie als Bestandteil der europäischen Rechtsordnung die Rechtfertigung von Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten, da keine unionsrechtlich relevante Maßnahme gegen die europäischen Grundrechte verstoßen darf.8 3. Rechtfertigung von Grundrechtsbeeinträchtigungen 942 Umgekehrt können die Grundfreiheiten Beeinträchtigungen der europäischen Grundrechte rechtfertigen, wenn diese als solche beschränkbar sind. Schließlich sind auch die Grundfreiheiten im Verhältnis zu den Grundrechten gleichermaßen europarechtlich gewährleistet und können in diesem Zusammenhang berechtigte Ziele für Grundrechtsbeschränkungen bilden.9 Ob sie im Einzelfall eine Beeinträchtigung der Grundrechte zu rechtfertigen vermögen, hängt von einer Abwägung beider Belange ab, bei der „das rechte Gleichgewicht zwischen diesen Interessen gewahrt worden ist,“ mithin eine Verhältnismäßigkeitsprüfung, bei der der EuGH den zuständigen Stellen „ein weites Ermessen“ zubilligt.10
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V. Danwitz, in: Tettinger/Stern, Art. 52 Rn. 50. Näher Frenz, Europarecht 4, Rn. 4818 ff. m.w.N. auch zur gegenteiligen Ansicht. EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 (5719 f., Rn. 77 ff.) – Schmidberger (BrennerBlockade). S.o. Rn. 262 ff. Ansatzweise weiter aber bereits z.B. EuGH, Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689 (3715, Rn. 18) – Familiapress. Näher im Zusammenhang Frenz, Europarecht 1, Rn. 505 ff., Rn. 539. S. EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 (5719 f., Rn. 79 ff.) – Schmidberger (Brenner-Blockade). EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 (5720, Rn. 81 f.) – Schmidberger (BrennerBlockade).
A. Stellung und Konkurrenz
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II. Dreifacher Grundrechtsschutz? Trotz der Existenz eines mit Inkrafttreten des Reformvertrages rechtsverbindlichen Grundrechtekatalogs macht Art. 6 Abs. 3 EUV die Grundrechte der EMRK und der Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze zum Teil des Unionsrechts. Es stellt sich die Frage, welche Bedeutung diesen Grundsätzen neben einem geschriebenen Grundrechtekatalog bzw. nach einem Beitritt der Union zur EMRK noch zukommen kann. Bis zu einem Beitritt zur EMRK bildet Art. 6 Abs. 3 EUV neben Art. 52 Abs. 3 EGRC die dogmatische Grundlage für eine (faktische) Bindung der Union an die EMRK. Durch das Inkrafttreten der Charta wird diese Verknüpfung mit der EMRK nicht obsolet. Zwar hat die Charta erkennbar die EMRK zum Vorbild genommen, jedoch wird die EMRK nicht inkorporiert. Nach einem Beitritt der Union wird Art. 6 Abs. 3 EUV, soweit er auf die Grundrechte der EMRK verweist, aber überflüssig, da die Union dann als Mitgliedstaat unmittelbar rechtlich an die EMRK gebunden ist. Auch der in Art. 6 Abs. 3 EUV enthaltene Verweis auf die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten verlor mit Inkrafttreten der Charta seine eigenständige Bedeutung. Denn die Charta selbst sieht die in ihr gewährten Rechte als Ausdruck dieser gemeinsamen Überlieferungen. 11 Demgegenüber gehen Teile der Literatur von einer fortbestehenden Bedeutung des Art. 6 Abs. 3 EUV sowohl im Hinblick auf die Rechte der EMRK als auch auf die aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten abgeleiteten Grundrechte aus. In Bezug darauf ist auch von einem „dreifachen Grundrechtsschutz“ die Rede.12 Indes hat die Regelung des Art. 6 Abs. 3 EUV nach dem Beitritt zur EMRK bzw. nach dem Inkrafttreten der Charta ihre Funktion als dogmatische Grundlage zur Herleitung der Grundrechtsgeltung in der Union verloren. Die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze hat der EuGH im Rahmen richterlicher Rechtsfortbildung entwickelt, weil es keinen geschriebenen Grundrechtekatalog gab.13 Nachdem diese „Lücke“ durch geschriebenes Recht gefüllt ist, haben die richterrechtlich entwickelten Grundsätze ihre Herleitungsvoraussetzung14 und ihre Funktion verloren. Hinzu kommt, dass bei einer Fortgeltung das Verhältnis der ungeschriebenen Grundsätze zum geschriebenen Recht völlig unklar bleibt. Zu einer verbesserten Transparenz der Grundrechtsgeltung auf Unionsebene, eines der Ziele der EGRC,15 führt dies nicht.
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Vgl. Präambel, 5. Erwägungsgrund. Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, 3. Aufl. 2010, S. 123; Pache/Rösch, NVwZ 2008, 473 (475). Beginnend mit EuGH, Rs. 29/69, Slg. 1969, 419 (425, Rn. 7) – Stauder; Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125 (1135, Rn. 4) – Internationale Handelsgesellschaft; deutlich etwa noch Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 (5719, Rn. 79) – Schmidberger (Brenner-Blockade). Vgl. zur Gesetzeslücke als Voraussetzung richterlicher Rechtsfortbildung Larenz/Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 187 ff. Präambel, 4. Erwägungsgrund.
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Kapitel 9: Grundrechte
II. Europäische Grundrechte und EMRK 1. Ableitung der europäischen Grundrechte aus der EMRK 947 Schon in der Rechtssache Nold verwies der Gerichtshof zusätzlich auf die internationalen Verträge zum Schutz der Menschenrechte, die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts „Hinweise“ geben können.16 Nach der Präambel zur EGRC sind die Grundrechte der Charta eine „Bekräftigung“ der Rechte, die sich aus der EMRK und der Rechtsprechung des EGMR ergeben. Art. 52 Abs. 3 EGRC enthält eine Kongruenzklausel, wonach den Rechten der Charta, die eine Entsprechung in der Konvention finden, mindestens die gleiche Bedeutung und Tragweite zukommt wie nach der EMRK (s. auch Art. 53 EGRC). Vielfach liegt eine Verkürzung darin, dass das Recht in der EGRC parallel zur 948 Gewährleistung nach der EMRK festgelegt ist, so die Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 7 EGRC/Art. 8 Abs. 1 EMRK), die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 10 EGRC/Art. 9 EMRK), die Freiheit der Meinungsäußerung (Art. 11 Abs. 1 EGRC/Art. 10 Abs. 1 EMRK) oder die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 EGRC/Art. 11 Abs. 1 EMRK), indes fehlen die jeweils in Abs. 2 der genannten Vorschriften nach der EMRK festgelegten Schranken. Hier sichert die allgemeine Vorschrift des Art. 52 Abs. 3 EGRC den notwendigen Gleichklang auch für die Schranken. 2. Konflikte 949
Fall nach EGMR, Urt. vom 30.6.2005, Nr. 45036/98, NJW 2006, 197 ff. – Bosphorus: Die VO (EWG) Nr. 990/9317 setzte die Resolution 82018 der UN zur Beschlagnahme von Flugzeugen im Rahmen von Sanktionen gegen die ehemalige Republik Jugoslawien um. Auf dieser Basis hatten die irischen Behörden ein Flugzeug im Eigentum der Yugoslav Airlines, das wiederum von einer türkischen Charterfluggesellschaft geleast worden war, beschlagnahmt. Die Charterfluggesellschaft klagte gegen die Beschlagnahme. Im Rahmen der Berufung richtete der irische Oberste Gerichtshof ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH, der die Verordnung als mit den Grundrechten vereinbar erklärte.19 Die Chartergesellschaft bewertete die Beschlagnahme als Verstoß gegen das in Art. 1 Abs. 2 Zusatzprotokoll zur EMRK garantierte Eigentumsrecht. Der EGMR hatte insoweit zu prüfen, ob eine Verordnung, die vom EuGH für rechtmäßig erachtet worden war, mit den Garantien der EMRK vereinbar ist. Der EGMR bejahte das Vorliegen eines Eingriffs in das Eigentumsrecht und prüfte dann, inwieweit dieser gerechtfertigt ist.20 Im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung behandelte der EuGH die Pflichtenkollision des beklagten Konventionsstaates. Er löste diese durch die Statuierung einer widerlegbaren Vermutung. Wenn die internationale Organisation (konkret die Union) einen der EMRK vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet, und zwar in mate-
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EuGH, Rs. 4/73, Slg. 1974, 491 (507, Rn. 13) – Nold, noch ohne explizite Nennung der EMRK; s. bereits Rs. 36/75, Slg. 1975, 1219 (1232, Rn. 32) – Rutili. Des Rates vom 26.4.1993 über den Handel zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien und Montenegro), ABl. L 102, S. 14. UN-Sicherheitsrat, 3200ste Sitzung, Resolution S/RES/820 vom 17.4.1993. EuGH, Rs. C-84/95, Slg. 1996, I-3953 (3985 ff., Rn. 21 ff.) – Bosphorus. EGMR, Urt. vom 30.6.2005, Nr. 45036/98 (Rn. 149 ff.), NJW 2006, 197 (201 f.) – Bosphorus/Irland.
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rieller wie in verfahrensrechtlicher Hinsicht, gilt die Vermutung, dass der Konventionsstaat, der durch sein Handeln gleichzeitig Pflichten erfüllt, die sich aus der Mitgliedschaft in dieser Organisation ergeben, nicht gegen die EMRK verstoßen hat.21 Der EGMR prüfte daraufhin den Grundrechtsschutz in der Union und stellte vor allem im Hinblick auf den engen Zusammenhang zwischen der Charta und der EMRK ein vergleichbares Schutzniveau fest. Auch die im Europarecht vorgesehenen Kontrollmechanismen erachtete der Gerichtshof trotz des Fehlens einer speziellen Grundrechtsrüge und der nur eingeschränkten Individualklagemöglichkeiten als ausreichend.22 Die Widerlegung dieser Vermutung behandelt der EGMR dann nur noch mit der pauschalen Feststellung, dass es im konkreten Fall offensichtlich nicht zu einem Versagen der gemeinschaftlichen Kontrollmechanismen gekommen sei.23
Im Ergebnis hat der EGMR seine Prüfungskompetenz in Bezug auf Unions- 950 rechtsakte zugunsten des EuGH zurückgenommen und so das Problem der Pflichtenkollision pragmatisch gelöst. Die Begründung weist Parallelen zur SolangeRechtsprechung des BVerfG auf. Auch hier war im Rahmen des Aufeinandertreffens zweier Grundrechtsordnungen zu klären, welcher Ordnung und mittelbar auch welchem Gericht der Vorrang zukommen sollte. Das BVerfG verzichtet auf seine Prüfungskompetenz, solange der EuGH einen generell wirksamen Grundrechtsschutz gewährleistet, der dem des GG im Wesentlichen gleichzuachten ist.24 Wie das BVerfG, so lässt es auch der EGMR ausreichen, wenn generell, d.h. 951 unter Zugrundelegen einer abstrakten Betrachtungsweise vergleichbarer Schutz gewährleistet wird. Auch im Rahmen der Prüfung, ob die Vermutung widerlegt sein könnte, statuiert der EGMR für den Einzelfall nur einen grobmaschigen Prüfungsmaßstab. Eine konkrete Prüfung soll nur erfolgen, wenn der Schutz offensichtlich unzureichend war. Hier ist der Prüfungsmaßstab des EGMR strenger als der des BVerfG. Denn insoweit behält sich der EGMR in bestimmten Fällen eine Einzelfallprüfung vor, während das BVerfG darauf generell verzichtet.25 Dabei lässt der EGMR offen, wann dies der Fall ist. 3. Künftige Letztentscheidungskompetenz des EGMR Darüber hinaus kommt dem EGMR nach einem Beitritt der Union zur EMRK die 952 Letztentscheidungskompetenz für die Auslegung der Konventionsrechte auch gegenüber dem EuGH zu. Zwar orientiert sich der EuGH für die Auslegung der EMRK schon jetzt an der Rechtsprechung des EGMR.26 Indes wäre die Maßgeblichkeit der Auslegung durch den EGMR nach dem Beitritt auch institutionell und damit gerade auch für den Fall der Divergenz abgesichert.27 21 22 23 24 25 26 27
EGMR, Urt. vom 30.6.2005, Nr. 45036/98 (Rn. 159 ff., 165), NJW 2006, 197 (203) – Bosphorus/Irland. EGMR, Urt. vom 30.6.2005, Nr. 45036/98 (Rn. 160 ff.), NJW 2006, 197 (203) – Bosphorus/Irland. EGMR, Urt. vom 30.6.2005, Nr. 45036/98 (Rn. 166), NJW 2006, 197 (203 f.) – Bosphorus/Irland. BVerfGE 73, 339 (387); 102, 147 (164) – Bananenmarkt; s.o. Rn. 135 f. So auch Schohe, EuZW 2006, 33. Vgl. etwa EuGH, Rs. C-117/01, Slg. 2004, I-541 (579 f., Rn. 33 f.) – National Health Service; Rs. C-540/03, Slg. 2006, I-5769 (5826 ff., Rn. 52 ff.) – Parlament/Rat. Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563 (569).
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Damit ist aber keine Einordnung des EuGH in eine Instanzenhierarchie mit dem EGMR an der Spitze verbunden.28 Vielmehr wird ein neues Nebeneinander geschaffen, in dem der EGMR die auf Grundrechtsschutz spezialisierte gesamteuropäische Instanz darstellt, die für einen Gleichlauf der Rechte der EMRK und der europäischen Grundrechte sorgt.29 III. Europäische und nationale Grundrechte 1. Grundsätzliches Verhältnis
954 Das BVerfG geht von einem Vorrang des Grundrechtsschutzes durch den EuGH aus, solange dieser allgemein nach dem GG unabdingbare Mindeststandards wahrt.30 Der EuGH hält die europäischen Grundrechte für vorrangig. Im Übrigen stehen europäische und nationale Grundrechte nebeneinander. Dies bedingt ihr unterschiedlicher Anwendungsbereich. Auch Art. 51 Abs. 1 EGRC geht von einer Trennung beider Grundrechtsbereiche aus. Danach ist die Geltung der europäischen Grundrechte darauf beschränkt, dass Unionsorgane handeln oder die Mitgliedstaaten Unionsrecht durchführen. Das Handeln mitgliedstaatlicher Organe, soweit es sich nicht auf die Durchführung von Unionsrecht beschränkt, unterliegt deshalb ausschließlich dem Maßstab der nationalen Grundrechte. 955 Fall nach EuGH, Rs. C-400/10 – McB: Es ging um die Vereinbarkeit der VO (EG) Nr. 2201/2003 (Brüssel II a) mit den Grundrechten aus Art. 7 und 24 EGRC. Problematisch war der Verweis in das jeweilige nationale Recht, ob die Veränderung des Aufenthaltes eines Kindes widerrechtlich war. Der Kläger möchte auf der Grundlage von Art. 7 EGRC als nichtehelicher Vater ein Sorgerecht zuerkannt haben. Indes handelt es sich dabei um eine Frage des materiellen Familienrechts. Dafür ist die Union nicht zuständig. Daher greift die EGRC nicht ein. Die VO (EG) Nr. 2201/2003 ist deshalb nicht an den Grundrechten aus Art. 7 und 24 EGRC zu überprüfen (Rn. 51, 59 des genannten Urteils).
956
Insoweit ist die Anwendung der europäischen Grundrechte prinzipiell auf die europäische Ebene beschränkt. Praktisch erstreckt sie sich wegen des grundsätzlichen mitgliedstaatlichen Vollzugs aber tief in die Verwaltungen der Mitgliedstaaten hinein, zumal wenn man auch Beeinträchtigungen der Grundfreiheiten einbezieht.31 Aber auch unabhängig von diesem Einwirken auf die Ebene des nationalen Rechts schließt die grundsätzliche Trennung der Anwendungsbereiche eine wechselseitige inhaltliche Prägung europäischer und nationaler Grundrechte nicht aus. 2. Gleichberechtigtes Nebeneinander
957 Für das Verhältnis der europäischen zu den nationalen Grundrechten statuiert Art. 53 EGRC eine auf den jeweiligen Anwendungsbereich der verschiedenen Grundrechtsgewährleistungen abstellende Konkurrenzregel. Danach stehen beide
28 29 30 31
Alber/Widmaier, EuGRZ 2000, 497 (506). Krüger/Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92 (94 f.). BVerfGE 102, 147 (164) – Bananenmarkt; BVerfG, NVwZ 2007, 942 – Emissionshandel. Näher o. Rn. 135 f. S. im Einzelnen Frenz, Europarecht 4, Rn. 262 ff.
A. Stellung und Konkurrenz
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Grundrechtsordnungen grundsätzlich nebeneinander, keine bildet für die andere den Maßstab. Abweichungen im Grundrechtsschutz sind von daher zulässig. 3. Harmonieklausel des Art. 52 Abs. 4 EGRC Zu diesem Nebeneinander scheint die Regelung des Art. 52 Abs. 4 EGRC in einem 958 gewissen Widerspruch zu stehen. Erkennt die Charta Grundrechte an, wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben, so werden sie nach dieser Vorschrift im Einklang mit den Überlieferungen ausgelegt. Diese Formulierung könnte bedeuten, dass das Chartarecht im Falle paralleler Gewährleistungen wie das jeweilige nationale Grundrecht ausgelegt werden muss. Jedoch soll die Ermittlung des Grundrechtsgehalts nicht durch eine Übertragung der Gehalte des nationalen Rechts vollzogen werden, sondern im Wege wertender Rechtsvergleichung.32 Dies zeigt sich schon am Wortlaut des Art. 52 Abs. 4 EGRC. Darin wird auf gemeinsame Verfassungsüberlieferungen und nicht auf einzelne nationale Grundrechte abgestellt. Es handelt sich also nicht um eine Transferklausel, sondern um eine Ausle- 959 gungsregel, die dem Rechtsanwender einigen interpretatorischen Freiraum lässt. Dieser ist auch erforderlich, um etwa mit divergierenden Traditionen oder Wertkonflikten umgehen zu können. Im Hinblick darauf kann diese Vorschrift keine starke Bindungswirkung für die Rechtsprechung des EuGH entwickeln. 33 Unabhängig davon hat die Vorschrift des Art. 52 Abs. 4 EGRC a priori nur ei- 960 nen eingeschränkten Anwendungsbereich. Denn sie kommt überhaupt nur zum Tragen, wenn Art. 52 Abs. 2 und Abs. 3 EGRC nicht eingreifen.34 Handelt es sich also um Rechte, die aus den Verträgen oder der EMRK herrühren, sind die Art. 52 Abs. 2 EGRC bzw. Art. 52 Abs. 3 EGRC vorrangig. Diese Spezialität gilt auch dann, wenn die Verträge bzw. die EMRK nicht die einzige Ableitungsquelle darstellen, sondern daneben auch die nationalen Verfassungen dieses Recht anerkennen.35 4. Die allgemeine Verweisungsklausel des Art. 52 Abs. 6 EGRC In Art. 52 Abs. 6 EGRC enthält die Charta auch eine allgemeine Regelung, nach 961 der den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten, wie es in der Charta bestimmt ist, in vollem Umfang Rechnung zu tragen ist. Nach den Chartaerläuterungen bezieht sich diese Vorschrift auf die verschiedenen Artikel der Charta, in denen auf die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten verwiesen wird. Danach kommt ihr nur ein deklaratorischer Charakter zu. 36 Der genaue Inhalt des Verweises ist danach für jede Norm getrennt zu bestimmen und kann insoweit auch unterschiedlich sein.
32 33 34 35 36
Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563 (566 f.). Vgl. Ladenburger, in: Tettinger/Stern, Art. 52 Rn. 78. Borowsky, in: Meyer, Art. 52 Rn. 44 b. Dorf, JZ 2005, 126 (129). Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. 2007 C 303, S. 17 (35).
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B. Prüfungsabfolge und -dichte I. Schutzbereich 1. Ansatz 962 Der Schutzbereich der einzelnen Grundrechte wird durch die Gewährleistungen in der EGRC definiert. In ihnen werden regelmäßig bestimmte Rechte benannt. Diese stehen entweder den Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern, gegebenenfalls erweitert um juristische Personen, oder als Jedermann-Grundrecht allen zu. Damit ist für den sachlichen und personellen Anwendungsbereich in erster Linie das jeweilige Einzelgrundrecht maßgeblich. Daher zählt in erster Linie die Gestalt des jeweiligen Grundrechts in der EGRC. Die EMRK-Rechte als Vorbild sind aber weiterhin auslegungsrelevant. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze wurden hingegen trotz des Verweises auf sie in Art. 6 Abs. 3 EUV mit Inkrafttreten der Charta obsolet37 und dienen nur noch der Ermittlung des durch die EGRC Gemeinten, soweit die Charta-Rechte an diese Grundsätze anknüpfen. Das erschließt sich insbesondere aus den Erläuterungen, soweit diese auf die EuGH-Rechtsprechung Bezug nehmen. Für die Interpretation kann also auch maßgeblich sein, woher das jeweilige 963 Grundrecht stammt. Wurde es aus der EMRK übernommen, zählt nach Art. 52 Abs. 3 EGRC der dortige Standard, und zwar sowohl für die Bedeutung und damit den Schutzbereich als auch für die Tragweite und damit die jeweiligen Einschränkungen.38 Entsprechendes gilt für bereits vertraglich normierte Rechte gemäß Art. 52 Abs. 2 EGRC.39 Es zählen daher umfassend die dort festgelegten Bedingungen und Grenzen. Dazu gehört auch eine nähere sekundärrechtliche Ausgestaltung, wenn auf sie im Primärrecht wie in Art. 21 Abs. 2 AEUV verwiesen wird und sich erst aus ihr der nähere Gehalt eines Rechts ergibt.40 Sie ist dann eine Bedingung nach Art. 52 Abs. 2 EGRC. Nachfolgend sind gemäß Art. 52 Abs. 4 EGRC die Traditionen der Mitglied964 staaten heranzuziehen, soweit sich die Grundrechte aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten ergeben. Divergieren deren Standards, bedarf es einer Harmonisierung. Damit hat der EuGH diese verschiedenen Traditionen zusammenzuführen, im Zuge dieser wertenden Betrachtung eine Vorschrift autonom auszulegen und auch die Ziele der Union einzubeziehen.41 Art. 53 EGRC bildet ebenfalls eine Schutzverstärkungsklausel.42 Auch diese 965 nennt die Verfassungen der Mitgliedstaaten am Ende. Weil aber diese Verfassungen regelmäßig am Schluss genannt werden, kann ihnen keine zu hohe Bedeutung zugemessen werden.
37 38 39 40 41 42
Sie verlieren ihre lückenfüllende Bedeutung, s.o. Rn. 946. S.o. Rn. 947 f. S.o. Rn. 938 ff. S.o. Rn. 940. S. bereits o. Rn. 958. Anders allerdings Borowsky, in: Meyer, Art. 52 Rn. 44. Eisner, Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union, 2005, S. 157.
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2. Grundsätze Auch nach Art. 52 Abs. 6 EGRC werden die Grundrechte nicht durch die nationa- 966 len Vorschriften inhaltlich determiniert.43 Gerade mit dem feststehenden Gehalt der subjektiv einforderbaren Grundrechte wäre eine solche prägende Bedeutung nationalen Rechts nicht vereinbar. Bei den grundrechtlichen Grundsätzen (s. Art. 52 Abs. 5 EGRC) kann dem- 967 gegenüber eine gänzlich andere Herangehensweise angezeigt sein. Diese sind nämlich vielfach nicht in den Grundrechten komplett ausformuliert, sondern verweisen auf andere Vorschriften und Gepflogenheiten, seien es nationale, seien es europarechtliche. Dann ist auf diese zurückzugreifen, um den Schutzbereich näher auszufüllen. 3. Konkurrenzen Sind mehrere Schutzbereiche einschlägig, stellt sich die Frage der Konkurrenzen. Allgemeine Regeln enthält die EGRC nicht. Auch gibt es kein Auffanggrundrecht, das von vornherein nachrangig wäre. Lediglich einige spezielle Grundrechte lassen sich ausmachen. Das sind Spezifizierungen allgemeiner Gewährleistungen, so das Verbot der Folter (Art. 4 EGRC) zum Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 3 Abs. 1 EGRC) oder das Verbot der Zwangsarbeit nach Art. 5 EGRC zur negativen Berufsfreiheit gemäß Art. 15 EGRC. Insoweit sind die speziellen Garantien auch noch stärker, da es sich um absolute Verbote handelt. Unabhängig von einer abgestuften Gewährleistung bestehen weitere Grundrechte, die aus bisher übergreifenden Rechten herausgelöst wurden, so der Datenschutz in Art. 8 EGRC aus der Achtung des Privatlebens (Art. 7 EGRC) und die Unternehmerfreiheit in Art. 16 EGRC aus der Berufsfreiheit. Gleichwohl kann flankierend das bisherige „Muttergrundrecht“ eingreifen, wenn ansonsten nicht gewollte Schutzdefizite auftreten. Auf diese Weise ist ein möglichst umfassender und intensiver Grundrechtsschutz sicherzustellen, wie es allgemein Anliegen der EGRC ist. Daher geht auch der Schutz an einem subjektiv einforderbaren Grundrecht einem bloßen Grundsatz vor, der nach Art. 52 Abs. 5 EGRC nur eine eingeschränkte Wirkung hat.44 Praktisch relevant wird dies vor allem beim Umweltschutz, der explizit in Art. 37 EGRC nur als Grundsatz enthalten ist, aber in der Judikatur des EGMR maßgeblich am Schutz des Privatlebens festgemacht wird und zudem bzw. noch eher aus dem Schutz von Leben und Gesundheit nach Art. 2 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 EGRC folgt.45 Letzteres gilt auch für den Gesundheits- und den Verbraucherschutz (Art. 35, 38 EGRC), so, wie der Kündigungsschutz nach Art. 30 EGRC rudimentär schon aus der Schutzfunktion der Berufsfreiheit abgeleitet wird.46 Darüber hinaus aber besteht kein abgestufter Schutz. Die Grundrechte sind auch nicht etwa in einem fest geordneten Wertesystem angeordnet. Daher haben 43 44 45 46
S.o. Rn. 961. Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak, § 7 Rn. 16 mit Fn. 37. S. mit Nachw. u. Rn. 1008. Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak, § 7 Rn. 16, 96.
968
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sie grundsätzlich die gleiche Bedeutung und den gleichen Rang. Deshalb besteht im Allgemeinen Idealkonkurrenz,47 außer es lässt sich eine sachliche Unterscheidung treffen. Diese richtet sich aber nach den einzelnen Grundrechten. 48 Vielfach werden die Grundrechte aber auch einfach zusammen geprüft, so die 972 Eigentums- und Berufsfreiheit49 oder die Berufsausübungs- und die unternehmerische Freiheit.50 II. Einschränkungen und Schrankensystematik 1. Einbeziehung mittelbarer und indirekter Beeinträchtigungen 973 Nach Art. 52 Abs. 1 EGRC muss jede Einschränkung der Ausübung der in der EGRC anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein. Damit bleibt die Form dieser Einschränkung offen. Vielmehr ist jede solche negative Antastung eines Grundrechts eingeschlossen, also auch eine indirekte und mittelbare Beeinträchtigung sowie eine faktische Auswirkung von positivem Staatshandeln wie auch durch Unterlassen. Von dieser Weite der erfassten Einwirkungen auf Grundrechte geht auch der 974 EuGH jedenfalls seit der Entscheidung Bosphorus aus, in der er die mittelbaren Auswirkungen einer EG-Verordnung und eines nationalen Umsetzungsaktes auf eine türkische Fluggesellschaft als rechtfertigungsbedürftige Beeinträchtigung einstufte.51 Richtlinien bedürfen grundsätzlich eines nationalen Umsetzungsaktes und grei975 fen damit in der Regel nicht unmittelbar in grundrechtlich geschützte Positionen ein. Wohl kann eine Beeinträchtigung eines Grundrechts insofern absehbar sein, als der in Rede stehende Teil der Richtlinie umsetzungspflichtig ist. Insoweit kann von einer Zwangsläufigkeit gesprochen werden, die zu einer beeinträchtigungsgleichen Gefährdung durch die Richtlinie selbst führt.52 Allerdings kann eine solche Gefährdung nur schwer gerichtlich geltend gemacht werden.53 2. Unantastbare Grundrechte 976 Nach Art. 52 Abs. 1 S. 1 EGRC muss jede Einschränkung der Grundrechtsausübung gesetzlich vorgesehen sein. Das setzt voraus, dass sie überhaupt bestimmt und damit möglich ist. Das hängt vom jeweiligen Grundrecht ab. Sie ist ausgeschlossen, wenn ein Grundrecht unantastbar ist. Das gilt für die Würde des Men47 48 49 50 51 52 53
Szczekalla, in: Heselhaus/Nowak, § 7 Rn. 18. S. etwa Frenz, Europarecht 4, Rn. 2054, 2508 ff., 2730 zur Abgrenzung von Medien- und Berufs- sowie Unternehmerfreiheit. S. im Grundansatz und ohne nähere Abgrenzung EuGH, Rs. C-280/93, Slg. 1994, I-4973 (5065, Rn. 78) – Bananen. EuGH, Rs. C-184 u. 223/02, Slg. 2004, I-7789 (7846 f., Rn. 51) – Spanien und Finnland/Parlament und Rat. EuGH, Rs. C-84/95, Slg. 1996, I-3953 (3986, Rn. 22 ff.) – Bosphorus; ebenso schon Rs. C-90 u. 91/90, Slg. 1991, I-3617 (3637 f., Rn. 13 f.) – Neu. S.o. Rn. 949. So auch Kühling, in: Heselhaus/Nowak, § 23 Rn. 41. S.u. Rn. 1302, 1309.
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schen nach Art. 1 EGRC. Soll sie in vollem Umfang unantastbar sein, dürfen auch die ihr entspringenden weiteren Rechte wie das Verbot der Todesstrafe (Art. 2 Abs. 2 EGRC) oder der Folter (Art. 4 EGRC) nicht eingeschränkt werden. Dort heißt es aber zudem, dass „niemand“ einer bestimmten Behandlung unterworfen werden darf. Weiter greift Art. 52 Abs. 3 EGRC, soweit es sich um EMRK-Rechte handelt. 3. Einschränkung und Schranke Der Begriff „Einschränkung“ in Art. 52 Abs. 1 EGRC bezeichnet Begrenzungen 977 der Ausübung der Rechte und Freiheiten nach der EGRC und damit Beeinträchtigungen bzw. Eingriffe nach der klassischen Grundrechtsterminologie. Der EuGH verwendet keine feste Ausdrucksweise. Er benutzt die Begriffe „Eingriffe“,54 „Einschränkungen“,55 „Beschränkungen“56 und „Beeinträchtigungen“57 synonym und im Hinblick auf die Notwendigkeit einer Rechtfertigung, die ihrerseits verhältnismäßig ausgefüllt worden ist. Damit umfasst Art. 52 Abs. 1 EGRC sowohl Schranken als auch Schranken- 978 Schranken im Sinne der deutschen Grundrechtsterminologie, die aber so auf europäischer Ebene nicht besteht. Art. 52 Abs. 2 und 3 EGRC haben letztlich dieselbe Reichweite, auch wenn sie anders formuliert sind. „Bedingungen und Grenzen“ nach Art. 52 Abs. 2 EGRC sind ebenso umfassend zu verstehen wie „Bedeutung und Tragweite“ gemäß Art. 52 Abs. 3 EGRC. Dabei ist entsprechend dem System dieser beiden Normen an die umfassende Rechtsprechung des EuGH zu den Grundfreiheiten und des EGMR zur EMRK anzuknüpfen, die beide sowohl Schranken als auch Schranken-Schranken prüfen. III. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen 1. Ansatz in Art. 52 Abs. 1 EGRC Gemäß Art. 52 Abs. 1 S. 2 EGRC müssen Grundrechtseinschränkungen den 979 Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren. Sie dürfen nur vorgenommen werden, wenn sie erforderlich sind und den von der Union anerkannten, dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen. Grundlage ist also ein legitimer Zweck. Dessen Verfolgung muss im Einzelfall geeignet, notwendig und angemessen sein. Zudem muss nach Art. 52 Abs. 1 S. 1 EGRC der Wesensgehalt der eingeschränkten Rechte und Freiheiten geachtet werden.
54 55 56 57
Unter Bezug auf diesen Begriff in der EMRK (Art. 8 Abs. 2) EuGH, Rs. C-465/00 u.a., Slg. 2003, I-4989 (5042 ff., Rn. 71 ff.) – Österreichischer Rundfunk. Z.B. EuGH, Rs. C-274/99 P, Slg. 2001, I-1611 (1677, Rn. 46) – Connolly. EuGH, Rs. C-340/00 P, Slg. 2001, I-10269 (10298 f., Rn. 28) – Cwik. S. EuGH, Rs. C-368/95, Slg. 1997, I-3689 (3717, Rn. 26) – Familiapress.
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2. Materienbezogener Beurteilungsspielraum 980 Der EuGH gewährt einen weiten Beurteilungsspielraum weniger aufgrund des Wesens der Einschränkungsgründe als vielmehr nach der betroffenen Materie. Verfügt ein europäisches Organ in einem bestimmten Bereich über ein weites Ermessen, so scheitert die Rechtmäßigkeit nur, wenn die Maßnahme für die Erreichung des verfolgten Zieles offensichtlich ungeeignet ist.58 Eine solche eingeschränkte Verhältnismäßigkeitskontrolle erscheint vor allem 981 geboten, wenn es darum geht, „einen Ausgleich zwischen divergierenden Interessen herbeizuführen und auf diese Weise im Rahmen der in (die) eigene Verantwortung fallenden politischen Entscheidungen eine Auswahl zu treffen.“ 59 Ansatzpunkt ist damit tiefer gehend wie beim EGMR die Wahrung der politischen Entscheidungsbefugnis, die nicht durch eine zu enge gerichtliche Kontrolle verdrängt werden darf, und damit die Gewaltenteilung. 60 Diese kann aber schwerlich zu einer Abschwächung des Grundrechtsschutzes führen, hat doch auch sie wiederum eine die Freiheit des Bürgers sichernde Funktion. Daher wird eher die Gewaltenteilung durch die Grundrechtskonformität geprägt als umgekehrt. Ein weiterer Ansatz sind komplexe Abwägungen, die getroffen werden müs982 sen.61 Der EuGH billigt dem europäischen Gesetzgeber und den Mitgliedstaaten daher einen weitgehenden Gestaltungsspielraum bei der Regelung wirtschaftlicher Sachverhalte zu.62 So prüfte der EuGH im Bananen-Urteil nur, ob die fragliche Maßnahme zur Erreichung des verfolgten Zieles offensichtlich ungeeignet ist und ob sie bei Unsicherheiten bezüglich der künftigen Auswirkungen im Hinblick auf die Erkenntnisse, die der Gemeinschaftsgesetzgeber im Zeitpunkt des Erlasses verfügt, offensichtlich irrig erscheint.63 In dieser Sentenz zeigt sich auch der Gedanke eines Prognosespielraums bei zukunftsbezogenen Sachverhalten. 3. Bisher defizitäre Verhältnismäßigkeitsprüfung 983 Nach diesem Maßstab überprüft der EuGH im Wesentlichen grundrechtseinschränkendes Handeln nur auf evidente Irrtümer. Seine wesentlichen Eckpunkte waren bislang, dass die Beschränkungen tatsächlich den dem Gemeinwohl dienenden Zwecken entsprechen und die gewährleisteten Rechte nicht in ihrem Wesensgehalt antasten. Mit diesem letzten Gedanken wird die Verhältnismäßigkeit verwoben. Die Beschränkungen dürfen „nicht einen im Hinblick auf den verfolg-
58 59 60 61 62 63
EuGH, Rs. C-331/88, Slg. 1990, I-4023 (4063, Rn. 14) – Fedesa. EuGH, Rs. C-280/93, Slg. 1992, I-4973 (5069, Rn. 91) – Bananen. S. GA Léger, EuGH, Rs. C-317 u. 318/04, Slg. 2006, I-4721 (4782 f., Rn. 231, 233) – Parlament/Rat und Kommission. S. GA Léger, EuGH, Rs. C-317 u. 318/04, Slg. 2006, I-4721 (4783, Rn. 232 a.E.) – Parlament/Rat und Kommission m.w.N. Etwa EuGH, Rs. 113/88, Slg. 1989, 1991 (2015, Rn. 20) – Leukhardt; Rs. C-127/07, Slg. 2008, I-9895 – Arcelor. S. EuGH, Rs. C-280/93, Slg. 1994, I-4973 (5068 f., Rn. 90) – Bananen.
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ten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet“.64 Auch in der Sache erfolgte regelmäßig keine Verhältnismäßigkeitsprüfung, wie 984 sie für individuelle Grundrechtsgewährleistungen typisch ist. Zwar lassen sich formal die Elemente der Verhältnismäßigkeit identifizieren. Den angestrebten Gemeinwohlbelangen wurde indes nicht die Schwere der Beeinträchtigung Einzelner in einer konkreten Situation gegenübergestellt.65 Vielmehr wurde die gesellschaftliche Funktion dieser Rechte herausgestrichen. Die infrage stehenden Belange wurden daher nicht ausreichend ermittelt und gewichtet, sondern eher abstrakt betrachtet.66 Die Verhältnismäßigkeitsprüfung erfolgte mithin nur formal und ohne wirkliche Substanz. Die Abwägung ging regelmäßig zugunsten der Gemeinwohlinteressen aus. 4. Neue Entwicklung In neueren Entscheidungen zeigt sich allerdings ein schärferer Kontrollmaßstab. 985 Zwar betonte der EuGH auch in der Arcelor-Entscheidung den weiten Beurteilungsspielraum der Unionsorgane, aber bezogen auf die Komplexität des behandelten Gegenstandes. Im Ansatzpunkt prüfte er den Gleichheitssatz nicht lediglich am Willkürverbot, sondern am Verhältnismäßigkeitsmaßstab67 und ging von einer grundrechtlichen Verifizierungspflicht aus, auch wenn er im Ergebnis eine gestufte Einführung des Emissionshandels unter Ausklammerung bestimmter Branchen billigte. Hingegen beanstandete er im Urteil Schecke und Eifert eine defizitäre Wahrung der Grundrechte auf Datenschutz und der Achtung des Privatlebens. Er verlangte die nähere Prüfung eines milderen Mittels. Da sie nicht erfolgte, erklärte er die eine umfassende Internetveröffentlichung der Empfänger von Agrarsubventionen vorsehende VO für ungültig. 68 Verschiedentlich prüfte er den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bereits dreistufig und damit auch im Hinblick auf die Angemessenheit.69 IV. Grundsätze Neben den subjektiv einforderbaren Grundrechten sieht Art. 52 Abs. 5 EGRC 986 Grundsätze vor. Deren Funktionsweise ist indirekt, vergleichbar den Richtlinien.70 Sind aber staatliche Maßnahmen zu ihrer Ausgestaltung notwendig, kann eine Beeinträchtigung erst auf dieser Basis geprüft werden. Nicht jede staatliche Maßnahme, die Grundsätze antastet, führt also zu ihrer Beeinträchtigung. Viel64 65 66 67 68 69 70
EuGH, Rs. C-280/93, Slg. 1994, I-4933 (5065, Rn. 78) – Bananen; auch etwa Rs. C292/97, Slg. 2000, I-2737 (2777, Rn. 45) – Karlsson. Im Einzelnen Nettesheim, EuZW 1995, 106 (106 f.). V. Danwitz, in: Tettinger/Stern, Art. 52 Rn. 20 m.N. EuGH, Rs. C-127/07, Slg. 2008, I-9895 (9937 f., Rn. 47 f.; 9941, Rn. 58 f.) – Arcelor. EuGH, Rs. C-92 u. 93/09, EuZW 2010, 939 (943 f., Rn. 81, 83, 86) – Schecke und Eifert. Z.B. EuGH, Rs. C-147/03, Slg. 2005, I-5969 (6008, Rn. 47 f.; 6013, Rn. 63) – Kommission/Österreich; Rs. C-534/06, Slg. 2008, I-4129 (4139, Rn. 25) – Carni Ovine. S. näher Frenz, Europarecht 4, Rn. 579 ff.
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mehr ist ein Gesamtbild der ergriffenen Maßnahmen notwendig, ob diese insgesamt gesehen die Grundsätze näher ausformen oder aber einschränken. Sie sind ohnehin nicht auf vollständige Verwirklichung angelegt. Daher liegt es auch in der Natur der Sache, dass die staatlichen Maßnahmen sie 987 nicht optimal verwirklichen, mithin ihre vollständige Wirkungskraft kaum entfaltet werden kann. Würde man dies bereits als Beeinträchtigung ansehen, wäre der in Art. 52 Abs. 5 EGRC zugebilligte Gestaltungsspielraum weitgehend verloren. Es geht um fortlaufende Optimierung und Annäherung. Daher ist auch die gerichtliche Überprüfung beschränkt. Sie wird auch dadurch erheblich zurückgedrängt, dass die erst realisierungsbedürftigen Grundsätze selbst kein subjektives Recht verleihen.71 V. Prüfungsschema zu Art. 52 Abs. 1 und Abs. 5 EGRC 988 Tabelle: Prüfungsschema zu Grundrechten und Grundsätzen Grundrechte
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Grundsätze Schutzbereich Gleichrang der Grundrechte, grds. nur • nähere Ausfüllung oft durch nationale Spezialität bzw. europäische Bestimmungen Beeinträchtigung auch mittelbar und indirekt • fehlerhafte Ausgestaltung kein Bagatellvorbehalt • Unterschreitung Mindeststandard • Missachtung in der Abwägung Rechtfertigung legitimer Beweggrund • legitimer Beweggrund auf gesetzlicher Grundlage • auf gesetzlicher Grundlage geeignet • Untermaßverbot bei großem Beurteilungsspielraum erforderlich • Abwägung, ob Zurückstehen eines Beangemessen langs geeignet, erforderlich und angemesBeurteilungsspielraum: sen (sachgerechter Ausgleich) v.a. bei komplexen Sachverhalten, Schutzpflichten Wesensgehalt
C. Menschenwürde und persönliche Integrität I. Unantastbarkeit der Menschenwürde 989 Bei der Lektüre von Art. 1 EGRC fühlt man sich an den Beginn des deutschen GG versetzt, wo es in Satz 1 identisch und in Satz 2 ganz ähnlich heißt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Dass „Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“ in Art. 1 EGRC fehlt, ändert am umfassenden Geltungsanspruch der Menschenwürde71
Jarass, Europäische Grundrechte, § 7 Rn. 36 f.
C. Menschenwürde und persönliche Integrität
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garantie nichts. Auch durch die europäische Formulierung ist alle staatliche Gewalt verpflichtet, soweit sie Unionsrecht erlässt und ausführt (Art. 51 Abs. 1 EGRC), allerdings begrenzt auf den Geltungsbereich der europäischen Grundrechte. Wie auch im GG steht die Menschenwürdegarantie in der EGRC am Beginn in 990 Art. 1. Damit steht sie jeweils an der Spitze, was ihre Bedeutung als solche wie für die anderen Grundrechte betont. Nicht umsonst bildet sie nach den Erläuterungen des Präsidiums „das eigentliche Fundament der Grundrechte“. 72 Der EuGH hat die Menschenwürde sowohl als subjektives Recht als auch als 991 objektiv zu wahrenden Rechtsgrundsatz anerkannt. Eine Person hat Anspruch auf Achtung ihrer Würde, und der Gerichtshof muss die Würde schützen. 73 Damit griff der EuGH beide Komponenten auf, die heute in Art. 1 S. 2 EGRC enthalten sind. Beispiel Patente für Körperteile nach EuGH, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079 – Niederlande/Parlament und Rat: In seiner Entscheidung zur BiopatentRL 98/44/EG74 hob der EuGH, wenn auch im Zusammenhang mit Patenten, darauf ab, dass die Unveräußerlichkeit der Menschenwürde gewahrt werden muss. Daher durften bloße Körperteile nicht zum Gegenstand von Patenten gemacht werden. 75 Sie konnten mithin nicht zum Gegenstand kommerzieller Rechte werden. Bestandteile des Menschen dürfen demzufolge nicht zum Objekt herabgewürdigt werden. Der Mensch darf wie nach Art. 1 Abs. 1 GG (sogenannte Dürig’sche Objektformel76) mithin nie als Objekt behandelt werden, sondern ist in seinem individuellen Achtungsanspruch zu respektieren und stets als Subjekt zu betrachten.
Die EGRC definiert weder in Art. 1 noch anderswo den Menschen näher. Sie 992 verleiht ihm einfach Würde. Deshalb nimmt sie ihn so, wie er ist. Damit gilt auch hier der vom BVerfG geprägte Satz: „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu.“77 Das Dasein als Mensch ist also ohne Würde nicht denkbar. Sie kommt ihm allein schon durch seine Existenz zu. Damit wird der Schutz- und Achtungsanspruch von Art. 1 EGRC von subjektiven Einschränkungen und Bewertungen losgelöst. Der Mensch ist kraft seiner selbst zu respektieren. Ungeklärt ist der Beginn des menschlichen Lebens, so im Bereich der embryo- 993 nalen Stammzellenforschung.78 Das ist aber nur relevant, wenn man nicht schon die Verwendung von Stammzellen, die auch der Mensch in sich trägt, zu Forschungszwecken als Objektbehandlung des Menschen selbst ansieht, vergleichbar der Patentierbarkeit von Körperteilen.79 Entsprechende Probleme bestehen beim Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen bzw. bei der Sterbehilfe. Bei illegaler Einwanderung stellt sich für Bootsflüchtlinge die Frage, ob diese zum Ob72 73 74 75 76 77 78 79
Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. 2007 C 303, S. 17 (17). EuGH, Rs. C-13/94, Slg. 1996, I-2143 (2165, Rn. 22) – P./S. ABl. 1998 L 213, S. 13. EuGH, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079 (7169 f., Rn. 73, 77) – Niederlande/Parlament und Rat. G. Dürig, AöR 81 (1956), 117 (127); s. auch etwa BVerfGE 30, 1 (25). BVerfGE 39, 1 (41). Für embryonale Stammzellen abl. Höfling/Rixen, in: Heselhaus/Nowak, § 10 Rn. 23. Frenz, Europarecht 4, Rn. 826 ff. auch zum Folgenden.
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jekt staatlichen Unterlassens werden, wenn sie dem Ertrinken preisgegeben und nicht gerettet werden. II. Prüfungsschema zu Art. 1 EGRC 994
1. Schutzbereich a) Subjektivität des Menschen b) autonome Selbstbestimmung c) Achtungs- und Schutzpflicht 2. Beeinträchtigung keine hinreichende Achtung des Menschen als Subjekt kein hinreichender Schutz (durch Strafandrohung und -verfolgung), z.B.: - embryonale Stammzellenforschung - vorzeitige Lebensbeendigung - keine Rettung von Bootsflüchtlingen 3. Rechtfertigung ausgeschlossen
III. Recht auf Leben 1. Tötungsverbot 995 Zwar ist Art. 2 Abs. 1 EGRC mit dem schlichten Satz „Jeder Mensch hat das Recht auf Leben“ wesentlich eingängiger formuliert als Art. 2 Abs. 1 S. 1 EMRK, wonach das Recht jedes Menschen auf das Leben gesetzlich geschützt wird. Indes ist dieses Recht bewusst an diese Vorgängerbestimmung angelehnt. Dieser Lebensschutz wurde bislang weder von der EKMR noch vom EGMR auf das ungeborene Leben erstreckt,80 so dass den Konventionsstaaten ein breiter Gestaltungsspielraum zukommt. Verlangt wird nur ein fairer Ausgleich der entgegenstehenden Interessen der Frau und des Fötus.81 Das entspricht einer Gesamtschau der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten, da nur Irland in seiner Verfassung ein Lebensrecht Ungeborener ausdrücklich anerkennt und ein solches aus dem allgemeinen Lebensrecht nicht durchgehend, sondern im Wesentlichen nur in Deutschland befürwortet wird. 82 Am gravierendsten wird das Recht auf Leben durch den Staat beeinträchtigt, 996 wenn er selbst tötet. Das ist insbesondere der Fall, wenn eine Todesstrafe verhängt und vollstreckt wird. Diese ist indes nach Art. 2 Abs. 2 EGRC explizit und spezifisch verboten. Indirekt greifen staatliche Organe zwar das Lebensrecht an, wenn sie Ausländer abschieben oder ausweisen, obgleich ihnen im Zielstaat die
80 81 82
Ausdrücklich offen lassend EGMR, Urt. vom 8.7.2004, Nr. 53924/00 (Rn. 84 f.), NJW 2005, 727 (731) – Vo/Frankreich. EGMR, Entsch. vom 5.9.2002, Nr. 50490/99, RJD 2002-VII – Boso/Italien. S. dazu BVerfGE 88, 203 (251 f.) – Schwangerschaftsabbruch II; näher Borowsky, in: Meyer, Art. 2 Rn. 2.
C. Menschenwürde und persönliche Integrität
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Todesstrafe droht.83 Insoweit enthält aber Art. 19 Abs. 2 EGRC ein spezielles Verbot.84 Staatliche Organe tasten auch dann das Lebensrecht an, wenn sie etwa bei Ver- 997 haftungen oder Polizeiaktionen Menschen töten. Gemäß Art. 2 Abs. 2 EMRK, der nach Art. 52 Abs. 3 EGRC in Art. 2 EGRC hineinzulesen ist, verletzt eine Tötung dann nicht das Recht auf Leben, wenn sie sich aus einer unbedingt erforderlichen Gewaltanwendung ergibt. Hierfür werden drei Ziele genannt: x Die Verteidigung eines Menschen gegenüber rechtswidriger Gewaltanwendung, x eine ordnungsgemäße Festnahme oder um das Entkommen einer ordnungsgemäß festgehaltenen Person zu verhindern, x zur Unterdrückung eines Aufruhrs oder eines Aufstandes im Rahmen der Gesetze. Dadurch sind die wichtigsten polizeilichen Handlungen, in denen eine Tötung 998 erfolgen kann, benannt. Zwar wird in diesen die Tötung schon nicht als Verletzung dieses Artikels betrachtet, indes muss sie sich durch eine unbedingt erforderliche Gewaltanwendung ergeben. Damit ist eine nähere Legitimation notwendig. Zumindest muss diese im Nachhinein gegeben werden können. Das setzt auch voraus, dass die Gewaltanwendung zum verfolgten Ziel angemessen war. 2. Schutz bedrohter Personen Über dieses Abwehrrecht hinaus besteht eine staatliche Pflicht, das Leben vor 999 Übergriffen Privater zu schützen. Dies hat durch wirksam abschreckende strafrechtliche Vorschriften zu erfolgen, die auch tatsächlich vollzogen werden. Bei unmittelbarer Lebensgefahr etwa für einen Journalisten müssen vorbeugend praktische Maßnahmen hinzukommen, die vor strafbarem Handeln Dritter schützen, soweit polizeilich möglich und opportun. Scheitern sie, bedarf es wirksamer Ermittlungen.85 3. Verbot der Todesstrafe a) In der EU Art. 2 Abs. 2 EGRC verbietet strikt die Todesstrafe, deren Abschaffung bereits 1000 Art. 1 S. 2 des Protokolls Nr. 6 zur EMRK86 verlangt. Dieser Vorschrift wurde be-
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84 85 86
Diesen Ansatz für das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe nach Art. 3 EMRK wählend EGMR, Urt. vom 7.7.1989, Nr. 14038/88 (Rn. 87 f.), NJW 1990, 2183 (2184) – Soering/Vereinigtes Königreich. S. Frenz, Europarecht 4, Rn. 1150. EGMR, Urt. vom 8.11.2005, Nr. 34056/02 (Rn. 164 ff.), NJW 2007, 895 (897 ff.) – Gongadze/Ukraine. S. Erwägungsgründe 3 und 4 des Protokolls Nr. 13 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Abschaffung der Todesstrafe unter allen Umständen vom 3.5.2002.
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Kapitel 9: Grundrechte
wusst gefolgt.87 Niemand darf zur Todesstrafe verurteilt werden. Es darf auch niemand hingerichtet werden. Selbst wenn also jemand zur Todesstrafe verurteilt ist, darf diese nicht vollstreckt werden. Insoweit wird das Recht auf Leben für das Strafrecht konkretisiert. Dieses Recht kann auch durch schwerste Straftaten nicht verwirkt werden. Wie das Recht auf Leben als solches steht auch das Verbot der Todesstrafe unter keiner Einschränkung. Es gibt also keine Ausnahmen. b) Todesstrafe in anderen Staaten 1001 Die Durchsetzbarkeit der europäischen Grundrechte ist auf das Gebiet der EU beschränkt. Das gilt auch für elementare Menschenrechte. Werden Unionsbürger von entsprechenden Sanktionen in Staaten außerhalb der EU betroffen, greifen staatliche Schutzpflichten schon auf der Basis des Lebensrechts ein, und zwar gemäß Art. 46 EGRC auch dann, wenn der eigene Staat dort nicht diplomatisch oder konsularisch vertreten ist; die geeigneten Maßnahmen haben dann andere EU-Staaten zu ergreifen. Befinden sich Unionsbürger noch in der EU, dürfen sie u.a. bei drohender Todesstrafe nach Art. 19 Abs. 2 EGRC nicht abgeschoben oder ausgeliefert werden. Halten sich Bürger aus Nicht-EU-Staaten im Gebiet der EU auf, so sind gleichfalls die Regelungen über die Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung nach Art. 19 Abs. 2 EGRC speziell. Das Asylrecht nach Art. 18 EGRC gewährt generell kein subjektives Recht, sondern ist dies nur nach Maßgabe der genannten Abkommen und Verträge gewährleistet. 4. Prüfungsschema zu Art. 2 EGRC 1002
1. Schutzbereich a) Leben (auch Embryonen) b) Abwehr und Schutz (präventiv und repressiv) c) Verbot der Todesstrafe 2. Beeinträchtigung a) Tötung b) kein hinreichender Schutz gegen private Tötungsversuche c) drohende Todesstrafe bei Abschiebung: Art. 19 Abs. 2 EGRC 3. Rechtfertigung ausgeschlossen
III. Recht auf Unversehrtheit 1. Ansatz 1003 Das Recht auf Unversehrtheit nach Art. 3 Abs. 1 EGRC hat einen rein europarechtlichen Ursprung. Es wird in der EMRK nicht ausdrücklich genannt. Allerdings umfasst der Schutz des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK die physi-
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S. die Begründung zum zweiten Vorschlag des Präsidiums zum Grundrechtekonvent, CHARTE 4149/00 CONVENT 13.
C. Menschenwürde und persönliche Integrität
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sche und psychische Integrität des Menschen.88 Indes griff der EuGH bei seiner Einstufung des Grundrechts auf Unversehrtheit der Person als allgemeiner Grundsatz nicht auf die EMRK zurück.89 Auf dieses Urteil zur BiopatentRL 98/44/EG90 nehmen die Erläuterungen zur 1004 EGRC Bezug. Sie spezifizieren weiter, dass dieses Grundrecht im Bereich der Medizin und der Biologie die freiwillige Einwilligung des Spenders und des Empfängers nach vorheriger Aufklärung umfasst. 91 Damit wird auch Art. 3 Abs. 2 lit. a) EGRC auf die Rechtsprechung des EuGH zurückgeführt. 2. Erhaltung der körperlichen Integrität Zunächst gewährleistet Art. 3 Abs. 1 EGRC die körperliche Unversehrtheit. Der 1005 Körper darf also nicht verletzt bzw. in seinen Funktionen beeinträchtigt werden. Dabei ist der Körper genauso wie der Mensch zu nehmen wie er ist. Geschützt ist also auch ein kranker Körper, nicht lediglich ein kerngesunder bzw. ein Körper im Ideal- bzw. Optimalzustand.92 Daher bildet auch die ärztliche Heilbehandlung im Ansatz einen Eingriff in das Recht auf körperliche Unversehrtheit, selbst wenn sie den Zustand des Körpers verbessern soll. 93 Das zeigt nicht zuletzt Art. 3 Abs. 2 lit. a) EGRC, wonach im Rahmen der Medizin die freie Einwilligung des Betroffenen nach vorheriger Aufklärung beachtet werden muss. Schwieriger zu fassen ist die geistige Unversehrtheit. Wie bei der körperlichen 1006 Unversehrtheit ist Ausgangspunkt der geistige Zustand des jeweiligen Betroffenen. Damit besitzt auch der Geisteskranke ein Recht darauf, dass die bei ihm noch vorhandene geistige Kraft unversehrt bleibt. Das hat Auswirkungen, wenn er im Hinblick auf seine Geisteskrankheit behandelt und dabei etwa durch Medikamente ruhiggestellt wird. Entsprechendes gilt bei psychischen Erkrankungen.94 Selbst der Nasciturus kann in seiner geistigen Unversehrtheit beeinträchtigt werden, kann doch bereits er jedenfalls ab einem gewissen Schwangerschaftsstadium mental bzw. psychisch beeinflusst werden.95 Die geistige Unversehrtheit umfasst wie die körperliche nur den Status quo und 1007 nicht das Optimum. Es wird daher nicht das psychische Wohlbefinden geschützt,96 welches die Gesundheitsdefinition der WHO einbezieht. 88 89 90 91
92 93 94 95 96
St. Rspr., z.B. EGMR, Urt. vom 29.4.2002, Nr. 2346/02 (Rn. 61), NJW 2002, 2851 (2853) – Pretty/Vereinigtes Königreich. S. EuGH, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079 (7168, Rn. 70) – Niederlande/Parlament und Rat („Biopatentrichtlinie“). Des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6.7.1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen (BiopatentRL), ABl. L 213, S. 13. Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. 2007 C 303, S. 17 (18); s. auch EuGH, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079 (7170, Rn. 78 ff.) – Niederlande/Parlament und Rat („Biopatentrichtlinie“). Rixen, in: Heselhaus/Nowak, § 11 Rn. 5. Rixen, in: Heselhaus/Nowak, § 11 Rn. 5. Rixen, in: Heselhaus/Nowak, § 11 Rn. 9. Rixen, in: Heselhaus/Nowak, § 11 Rn. 13. Dahin Borowsky, in: Meyer, Art. 3 Rn. 36; ausdrücklich abl. auch Höfling, in: Tettinger/Stern, Art. 3 Rn. 8 mit Fn. 15.
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1008
Kapitel 9: Grundrechte
Der damit geschützte vorhandene geistige Zustand besteht in der Gesamtheit der kognitiven, kommunikativen und emotionalen Fähigkeiten eines Menschen.97 So kann etwa auch das Auslösen von Angstzuständen die geistige Unversehrtheit beeinträchtigen. Dabei müssen aber psychische Beeinträchtigungen auf die geistige Unversehrtheit durchschlagen. Das ist etwa dann der Fall, wenn eine psychische Lähmung infolge gravierender Ängste das Denken fortdauernd blockiert, nicht schon bei bloßen allgemeinen psychischen Ängsten, die nur das Wohlbefinden beeinträchtigen, wie aus der Zulassung von Flughäfen oder Kernkraftwerken. Hingegen kann die Unterschreitung von Mindeststandards etwa vor Lärm wegen möglicher körperlicher Wirkungen eine Beeinträchtigung darstellen.98 3. Beeinträchtigungen und ihre Rechtfertigung
1009 Unmittelbare Eingriffe in die Körpersubstanz oder auch in Körperfunktionen sowie den Geisteszustand werden vor allem im Bereich des Strafvollzuges und der klinischen Behandlung erfolgen. Dazu gehören psychiatrische Zwangsbehandlungen ohne näheren Anlass, Verstümmelungen, Zwangssterilisationen, aber auch Blut- oder Liquorentnahmen zur Täterermittlung sowie Impfzwänge.99 Auch jede medizinische Behandlung bildet eine Beeinträchtigung, außer sie 1010 beruht gemäß Art. 3 Abs. 2 lit. a) EGRC auf der freien Einwilligung des Betroffenen nach vorheriger Aufklärung. Diese muss aber hinreichend ausführlich erfolgt sein. Zudem muss der Betroffene einwilligungsfähig sein. Weil eine solche Einwilligung zugleich Ausdruck der Selbstbestimmung über den eigenen Körper und bei psychiatrischen Behandlungen über den eigenen Geist ist, schließt sie bereits die Tatbestandsmäßigkeit aus. Handelt es sich um Zwangsbehandlungen, sei es medikamentös,100 sei es psy1011 chiatrisch, kann eine wirksame Einwilligung nur der Vertreter geben. Andernfalls bedarf es einer näheren Rechtfertigung. 101 Solche rechtfertigenden Gründe können in einer Gefährdung für die Umgebung liegen. Schließlich werden auch andere in ihrer körperlichen und geistigen Unversehrtheit geschützt. Zudem gilt die Gesundheit auch nach dem AEUV als Schutzgut. Der Staat beeinträchtigt die körperliche und geistige Unversehrtheit auch 1012 dadurch, dass er den Einzelnen nicht zu bestimmten Heilbehandlungen gehen lässt. Das ist namentlich dann der Fall, wenn Unionsbürger in anderen Mitgliedstaaten gesundheitliche Leistungen nachfragen wollen. Das ist aber eine Frage der Grundfreiheiten, die für solche grenzüberschreitenden Vorgänge speziell sind.
97 98
99 100 101
Rixen, in: Heselhaus/Nowak, § 11 Rn. 9. Borowsky, in: Meyer, Art. 3 Rn. 38. Demgegenüber nimmt der EGMR (GK), Urt. vom 8.7.2003, Nr. 36022/97 (Rn. 119 ff.), NVwZ 2004, 1465 (1467 ff.) – Hatton/Vereinigtes Königreich den Schutz des Privatlebens als Ansatzpunkt. S. dagegen BVerfGE 79, 174 (201 f.). Alle Beispiele aus Borowsky, in: Meyer, Art. 3 Rn. 37; ebenso Höfling, in: Tettinger/ Stern, Art. 3 Rn. 11. Rixen, in: Heselhaus/Nowak, § 11 Rn. 27. S. Schweizerisches Bundesgericht, EuGRZ 2004, 311 ff.
C. Menschenwürde und persönliche Integrität
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Rechtfertigungsgrund ist aber auch insoweit die Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens.102 4. Verbote für Medizin und Biologie Art. 3 Abs. 2 EGRC enthält vier Vorgaben für die Medizin und die Biologie aus der Biomedizinkonvention.103 Sie stehen in engem Bezug zur Menschenwürdegarantie und sind daher stark in Anlehnung an diese zu interpretieren. So wollen die nach Art. 3 Abs. 2 lit. b) EGRC verbotenen eugenischen Praktiken die natürlichen Anlagen des Menschen steuern und verbessern, also nicht zulassen, wie sie sind und wie sie sich beim natürlichen Fortgang entwickeln. Damit achten sie den Menschen entgegen der ihm zukommenden Würde nicht so wie er ist, sondern wollen nach vorgefassten Denkmustern steuern. Das zeigt sich nicht zuletzt bei dem genannten Beispiel der Selektion von Menschen. Würde der Organhandel entgegen dem Verbot von Art. 3 Abs. 2 lit. c) EGRC freigegeben, könnten menschliche Körper und Teile als Ware fungieren und würden damit gleichsam zum Handelsobjekt gemacht. Bereits in seiner Entscheidung zur BiopatentRL 98/44/EG104 hat indes der EuGH betont, dass Körperteile nicht Gegenstand von Patenten sein können und damit auch nicht Gegenstand von Handelsgeschäften, sondern unveräußerlich sind. 105 Das Verbot des reproduktiven Klonens von Menschen nach Art. 3 Abs. 2 lit. d) EGRC wird als bereichsspezifische Konkretisierung der allgemeinen Menschenwürdegarantie angesehen und daher absolut gesetzt. Wegen dieses Bezugs wird dieses Verbot allgemein auf das Klonen erstreckt.106
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5. Prüfungsschema zu Art. 3 EGRC 1. Schutzbereich a) körperliche Unversehrtheit: Erhaltung der Körpersubstanz und -funktionen b) geistige Unversehrtheit c) nicht physische Unversehrtheit, außer Rückwirkungen auf körperliche oder geistige Unversehrtheit d) Selbstbestimmungsrecht e) Verbote für Medizin und Biologie, Art. 3 Abs. 2 EGRC 2. Beeinträchtigung
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104 105 106
S. im Einzelnen Frenz, Europarecht 1, Rn. 1558 ff. Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin vom 4.4.1997, Europarat Vertrag Nr. 164. ABl. 1998 L 213, S. 13. EuGH, Rs. C-377/98, Slg. 2001, I-7079 (7168 f., Rn. 70 ff.) – Niederlande/Parlament und Rat („Biopatentrichtlinie“); s.o. Rn. 991. Höfling, in: Tettinger/Stern, Art. 4 Rn. 22 ff.; restriktiver Frenz, Europarecht 4, Rn. 968 ff.
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Kapitel 9: Grundrechte a) Eingriff in Körpersubstanz oder -funktionen: vor allem Zwangsbehandlungen b) medizinische Behandlung, außer wirksame Einwilligung c) Unterschreitung von Mindeststandards (etwa vor Lärm) 3. Rechtfertigung a) mit Rechtfertigungsmöglichkeit aa) Gesundheitsschutz bb) Schutz vor sich selbst bzw. der Umgebung cc) Finanzierbarkeit Krankenversicherungssystem b) ohne Rechtfertigungsmöglichkeit aa) eugenische Praktiken bb) reproduktives Klonen cc) Organhandel
IV. Folterverbot 1018 Teil des Schutzes der Würde des Menschen nach Titel I ist auch das Verbot der Folter oder unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung nach Art. 4 EGRC. Dessen Formulierung stimmt mit Art. 3 EMRK überein. Aus beiden Gesichtspunkten ergibt sich wie schon aus seiner konkreten Fassung die unbedingte Geltungskraft. Es darf daher von diesem Verbot nicht abgewichen werden, nach Art. 15 Abs. 2 EMRK selbst nicht im Krieg oder bei einem anderen öffentlichen Notstand.107 Dieses Verbot gilt selbst unter schwierigsten Umständen wie bei der Bekämp1019 fung des Terrorismus und des organisierten Verbrechens.108 Für Auslieferungen ist Art. 19 Abs. 2 EGRC speziell. Nach der UN-Folterkonvention, welche in diesem Zusammenhang herangezo1020 gen wird, sind körperliche und seelische Schmerzen oder Leiden gleichgestellt. Daher kann auch psychischer Druck ausreichen. Er muss nur hinreichend groß sein, wie dies aber auch für körperliche Schmerzen oder Leiden Voraussetzung ist. Ein Beispiel für Folter, jedenfalls aber eine unmenschliche Behandlung, ist daher auch die Drohung, massive Schmerzen zuzufügen, selbst wenn dies zum Zweck geschieht, von dem so bedrohten vermeintlichen Täter den Aufenthaltsort eines entführten Jungen zu erfahren, den man in großer Lebensgefahr wähnte.109
107 108 109
Etwa EGMR, Urt. vom 28.7.1999, Nr. 25803/94 (Rn. 95), NJW 2001, 56 (59) – Selmouni/Frankreich. EGMR, Urt. vom 4.7.2006, Nr. 59450/00 (Rn. 115 f.), EuGRZ 2007, 141 (143) – Ramirez Sanchez (Carlos)/Frankreich. S. EGMR, Entsch. vom 10.4.2007, Nr. 22978/05 (Abschnitt B.1.a)), NJW 2007, 2461 (2463) – Gäfgen/Deutschland.
D. Personenbezogene Freiheiten
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V. Prüfungsschema zu Art. 4 EGRC 1. Schutzbereich a) Folterverbot b) Verbot unmenschlicher Strafe oder Behandlung c) Verbot erniedrigender Strafe oder Behandlung 2. Beeinträchtigung Verletzungen: Vermutung, wenn im Vollzug - unzureichende Haftbedingungen (medizinische Versorgung) - Isolationshaft strenge Ausnahme - Brechmitteleinsatz 3. Rechtfertigung ausgeschlossen
1021
D. Personenbezogene Freiheiten I. Freiheit und Sicherheit 1. Schutz vor Freiheitsentzug Art. 6 EGRC gewährt jedem Menschen – und damit jeder natürlichen, nicht aber 1022 juristischen Person – unabhängig von der Staatsangehörigkeit 110 das Recht auf Freiheit und Sicherheit. Er ist damit dem ersten Satz von Art. 5 Abs. 1 EMRK nachgebildet. Die näheren Ausführungen der EMRK-Vorschrift, welche die einzelnen Fälle möglicher Freiheitsentziehung im Einzelnen benennt und unter Bedingungen stellt, sind gemäß Art. 52 Abs. 3 EGRC Bestandteil der Tragweite des Rechts auf Freiheit und Sicherheit111 und deshalb in die gleichlautende Freiheit nach Art. 6 EGRC hineinzulesen. Letztlich beinhaltet Art. 6 EGRC damit das klassische Freiheits- und Schutz- 1023 recht der Habeas-corpus-Akte, welche erstmals die persönliche Freiheit vor willkürlicher Verhaftung garantierte. Freiheit und Sicherheit bilden von daher keine sich gegenüberstehenden gleichwertigen Komponenten, sondern es geht um die Freiheit durch Sicherheit vor willkürlicher Verhaftung und nur in diesem begrenzten Ausmaße um eine sichere Freiheit. So ist im Öcalan-Urteil im Zusammenhang mit dem „Recht auf Sicherheit der Person“ vor willkürlicher Verhaftung auch die Rede davon, dass die Haftsituation geprüft werden muss, und auch dort sollen Schutzmechanismen vor willkürlichem Verhalten oder Isolationshaft greifen.112
110 111 112
Tettinger, in: ders./Stern, Art. 6 Rn. 32. Allgemein o. Rn. 947 f. EGMR, Urt. vom 12.3.2003, Nr. 46221/99 (Rn. 86), EuGRZ 2003, 472 (474) – Öcalan/Türkei.
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Kapitel 9: Grundrechte
2. Recht auf Opferschutz? 1024 Allerdings hat der EGMR über diese enge Konzeption hinaus Art. 5 EMRK eine Schutzpflicht der Mitgliedstaaten entnommen, alle erforderlichen Maßnahmen zum Schutz ihrer Bürger namentlich vor kriminellen Übergriffen anderer zu ergreifen. Das Grundrecht auf Sicherheit könnte daher zum Grundrecht auf Opferschutz mutiert sein.113 Aus Sicht des EGMR gilt das freilich nur, wenn die Behörden ein reelles und unmittelbar bevorstehendes Risiko für das Leben von einer oder mehrerer bestimmten Personen kennen oder kennen müssen. 114 Dieser Ansatz könnte vor dem Hintergrund der danach eingetretenen Entwicklung, nämlich den verschiedenen terroristischen Anschlägen islamistischer Organisationen seit dem 11.9.2001, zu einer Sicherheitssäule insbesondere gegen den Terrorismus verstärkt werden. Danach hätte der Staat die Pflicht, umfassend für die Sicherheit seiner Bürger zu sorgen und diese daher vor solchen Anschlägen zu bewahren. Im Bereich des Habeas-corpus-Rechts nach Art. 6 EGRC ist allerdings in 1025 Übereinstimmung mit Art. 5 EMRK der Bezug auf den Freiheitsentzug und die dabei notwendigen Sicherungen zu beachten. Der sich daraus ergebende Schutz ist als Abwehrrecht konzipiert. Daher können jedenfalls in diesem Rahmen Schutzpflichten nur hinzutreten, ohne als eigene Schutzkomponente über diesen freiheitlichen Ansatz hinaus fungieren zu können.115 3. Beeinträchtigung und Rechtfertigung 1026 Sämtliche Antastungen des Rechts auf Freiheit und Sicherheit können Beeinträchtigungen von Art. 6 EGRC bilden. Das gilt also auch, wenn die in Art. 5 Abs. 2-5 EMRK genannten und in Art. 6 EGRC hinein zu interpretierenden Rechte bei erfolgtem Freiheitsentzug angetastet werden. Das trifft natürlich in erster Linie dann zu, wenn jemand tatsächlich seiner Freiheit beraubt wird. Aber auch die Pflicht, einen bestimmten Ort nicht zu verlassen, kann eine Beeinträchtigung bilden.116 Solche Konstellationen können auch das Handeln im Rahmen europäischer Einsätze betreffen, soweit die Kompetenzen reichen. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik schließt schon jetzt gemeinsame Aktionen ein, zu denen auch polizeiliche Aktionen und damit freiheitsentziehende Maßnahmen gehören. Jedenfalls können sich widersetzende Personen vorläufig festgehalten werden.117 Vor allem aber bei der Normgebung auf europäischer Ebene, namentlich um Strafen bei organisierter Kriminalität, Terrorismus und illegalem Drogenhandel festzulegen (s. Art. 83 Abs. 1 AEUV), sind die Sicherungen des Art. 6 EGRC i.V.m. Art. 5 EMRK strikt einzuhalten. Ein Eingriff liegt auch dann vor, wenn jemand ohne gesetzliche Grundlage oder 1027 über die Fälle, welche in Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK genannt werden, hinaus seiner
113 114 115 116 117
S. den Titel von Burgi, in: FS für Isensee, 2007, S. 655 für die deutsche Diskussion. EGMR, Urt. vom 28.10.1998, Nr. 23452/94 (Rn. 115 f.), Rep. 1998-VIII – Osman/ Vereinigtes Königreich. Ähnlich auch Tettinger, in: ders./Stern, Art. 6 Rn. 22. Baldus, in: Heselhaus/Nowak, § 14 Rn. 24. Baldus, in: Heselhaus/Nowak, § 14 Rn. 27.
D. Personenbezogene Freiheiten
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Freiheit beraubt wird. Hier ist dann primär das Recht auf Sicherheit von solchen nicht näher vorhersehbaren Handlungen beeinträchtigt. Zugleich bilden die Sicherungen nach Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK, dass nämlich 1028 die Freiheit nur auf die gesetzlich vorgeschriebene Weise entzogen werden darf, eine Schranke in Form eines Gesetzesvorbehaltes, der gemäß Art. 52 Abs. 3 EGRC dem allgemeinen nach Art. 52 Abs. 1 EGRC vorgeht.118 Für die Ausgestaltung der Freiheitsentziehung und dabei vor allem für die Dauer sind weiter die Gründe relevant, auf die sie gestützt wird. So darf ein Betroffener nach Art. 5 Abs. 1 lit. f) EMRK nur so lange festgehalten werden, wie das Ausweisungs- oder Auslieferungsverfahren dauert. Das ist Ausdruck der Verhältnismäßigkeit, die damit sachgebietsspezifisch entsprechend dem jeweiligen Freiheitsentziehungsgrund zu prüfen ist. So ist es gerechtfertigt, einen Asylsuchenden sieben Tage und dabei auch zusätzlich noch einen Tag bis zur offiziellen Zurückweisung des Asylgesuchs festzuhalten.119 Für Freiheitsentziehungen über die Fälle des Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a)-f) EMRK 1029 hinaus besteht keine Legitimationsgrundlage. Vielmehr handelt es sich hierbei um einen abgeschlossenen Kanon. Art. 6 EGRC sieht genauso wenig wie Art. 5 EMRK weiter gehende Rechtfertigungsmöglichkeiten vor. 4. Prüfungsschema zu Art. 6 EGRC 1. Schutzbereich a) Freiheitsentzug nur in den Fällen des Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK mit Verfahrensgarantien b) Sicherheit nur akzessorisch: Rechtssicherheit; kein Anspruch auf Sicherheit z.B. vor Terror 2. Beeinträchtigung Freiheitsberaubung etwa auch bei Kampfeinsätzen
1030
3. Rechtfertigung Art. 5 Abs. 1 S. 2 EMRK sowie Verhältnismäßigkeit
II. Privat- und Familienleben 1. Reichweite Auch Art. 7 EGRC entspricht der Parallelvorschrift der EMRK, ohne die beste- 1031 henden Grenzen näher zu benennen. Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Der abweichend gewählte Begriff „jede Person“ betont stärker die Personenbezogenheit des Rechts. Die gewährleistete Achtung der Kommunikation (EGRC) ist gegenüber der 1032 Achtung des Briefverkehrs (EMRK) umfassend und berücksichtigt die aktuelle 118 119
S. auch Bernsdorff, in: Meyer, Art. 6 Rn. 13; anders Grabenwarter, DVBl. 2001, 1 (3). EGMR (GK), Urt. vom 29.1.2008, Nr. 13329/03 (Rn. 72 f., 79) – Saadi/Vereinigtes Königreich.
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Kapitel 9: Grundrechte
Entwicklung in Form der elektronischen Kommunikation, die gleichfalls für Überwachungsmaßnahmen anfällig ist. Der Schutz des Privatlebens besteht vor allem in der physischen und psychi1033 schen Integrität, insbesondere im Hinblick auf körperliche Untersuchungen, der sexuellen Selbstbestimmung, dem Schutz der Privatsphäre und dem Recht am eigenen Bild – auch im Hinblick auf die Presse.120 Für das Familienleben ist ein Kind Voraussetzung, nicht hingegen ein Fortbe1034 stand des familiären Zusammenlebens. Es kann vor allem durch fürsorge- und ausländerrechtliche Maßnahmen beeinträchtigt werden. 2. Schutzbereich ohne Auffangcharakter 1035 Schon die einzeln benannten Schutzgegenstände sprechen gegen einen Charakter von Art. 7 EGRC als Auffanggrundrecht. Ausgangspunkt für die Bestimmung des Schutzbereiches sind damit die vier eigens in Art. 7 EGRC festgelegten Begriffe und nicht Reservefunktionen wegen zu eng geratener anderer Grundrechte oder allgemeine Schutzgedanken. Gewährleistungsgegenstand ist daher nicht eine allgemeine Handlungsfreiheit, sondern der Schutz der Privatsphäre in ihren wesentlichen Ausprägungen. Es geht um eine kraftvolle Entfaltung der Persönlichkeit und den dafür notwendigen Freiraum.121 3. Schranken 1036 Art. 7 EGRC benennt keine ausdrücklichen Schranken. Nach Art. 52 Abs. 3 EGRC sind aber die Begrenzungen für Eingriffe gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK auch in Art. 7 EGRC hineinzulesen. Der Eingriff muss gesetzlich vorgesehen sein und eine Maßnahme darstellen, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist. Damit ist der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, welcher auch in Art. 52 Abs. 1 EGRC ebenso wie das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage genannt ist, speziell für dieses Recht bestimmt. 4. Umwelt 1037 Eine elementare Grundlagenfunktion für die individuelle Lebensführung hat die Umwelt. Wird sie stark beeinträchtigt oder gar zerstört, ist eine individuelle Entfaltung schwerlich noch möglich. Umweltverschmutzung kann daher das Privatleben und vor allem die Beziehungen zu anderen erschweren oder gar ausschließen. Das gilt vor allem für Fluglärm, welcher zu einem nicht mehr tolerierbaren Stress führen und damit das Recht auf Privatleben beeinträchtigen kann. Allerdings muss der Lärm erheblich sein, was sowohl die Stärke als auch die Häufigkeit anbetrifft. 120 121
BVerfGE 120, 180 – Caroline von Hannover. Z.B. EGMR, Urt. vom 24.7.2003, Nr. 46133 u. 48183/99 (Rn. 95), RJD 2003-IX – Smirnova/Russland.
D. Personenbezogene Freiheiten
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Zudem wird ein großer Beurteilungsspielraum gewährt, um Lärmemissionen etwa durch ein öffentliches Interesse an einem Großflughafen, der in einer demokratischen Gesellschaft notwendig und für die wirtschaftliche Entwicklung des Landes erforderlich ist, zu rechtfertigen. Dieser weite Ermessensspielraum gilt dabei unabhängig davon, ob man das Recht auf Umweltschutz als Abwehrrecht oder aber als (positive) Schutzpflicht des Staates versteht.122 In der EGRC liegt aber eher eine Abstützung auf das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit nahe.123 5. Geschäftsräume Das durch Art. 7 EGRC geschützte Privatleben erstreckt sich auch auf den berufli- 1038 chen und geschäftlichen Bereich. Das gilt trotz der ausdrücklichen Gewährleistung der Berufsfreiheit in der EGRC jedenfalls für die Anbahnung zwischenmenschlicher Beziehungen. Auch dazu können Geschäftsräume dienen. Ohnehin lässt sich vielfach nicht zwischen privater und beruflicher Tätigkeit trennen. Entsprechend der weiten Bedeutung des französischen Begriffs „domicile“ fallen daher auch Geschäftsräume unter die Wohnung nach Art. 7 EGRC.124 Damit sind auch im Rahmen der europäischen Grundrechte die Geschäftsräume in einer eigenen Bestimmung geschützt, so dass gegen Durchsuchungen nicht nur allgemeine Grundsätze wie insbesondere die Rechtsstaatlichkeit und die Verhältnismäßigkeit ins Feld geführt werden können, sondern eine umfassende grundrechtliche Gewährleistung. Jedenfalls muss eine Rechtsgrundlage bestehen und die Durchsuchung darf nicht willkürlich oder unverhältnismäßig sein. Insoweit ist normativ wirksamer Schutz zu gewähren.125 6.Prüfungsschema zu Art. 7 EGRC 1. Schutzbereich a) Privatleben aa) physische und psychische Integrität bb) sexuelle Selbstbestimmung cc) Schutz der Privatsphäre dd) Recht am eigenen Bild ee) Umwelt b) Familienleben Kind konstitutiv, Fortbestand nicht c) Wohnung (einschließlich Geschäftsräume)
122 123 124
125
EGMR (GK), Urt. vom 8.7.2003, Nr. 36022/97 (Rn. 119 ff.), NVwZ 2004, 1465 (1468 ff.) – Hatton u.a./Vereinigtes Königreich. S.o. Rn. 1008. Grundlegend EGMR, Urt. vom 16.12.1992, Nr. 13710/88 (Rn. 30 ff.), NJW 1993, 718 (719) – Niemietz/Deutschland; nunmehr auch EuGH, Rs. C-94/00, Slg. 2002, I-9011 (9054, Rn. 29) – Roquette Frères III. EuGH, Rs. 46/87 u. 227/88, Slg. 1989, 2859 (2924, Rn. 19) – Hoechst; Rs. 97-99/87, Slg. 1989, 3165 (3186, Rn. 16) – Dow Chemical.
1039
292
Kapitel 9: Grundrechte d) Kommunikation 2. Beeinträchtigungen a) körperliche Untersuchungen, sexuelle Beschränkungen, Videoüberwachung, unzureichender Schutz vor Presse oder Umweltbelastung b) fürsorge- und ausländerrechtliche Maßnahmen c) Durchsuchungen d) Überwachung 3. Rechtfertigung Art. 52 Abs. 3 EGRC i.V.m. Art. 8 Abs. 2 EMRK: v.a. Gesundheitsschutz, Verfolgung von hinreichend schweren Straftaten und Terrorgefahren
III. Datenschutz 1. Doppelte Zielrichtung 1040 Der europarechtliche Datenschutz ist vor allem für die weitere Entwicklung der noch jungen europäischen Politikfelder bedeutsam. Das gilt insbesondere im Hinblick auf die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen.126 Art. 16 Abs. 1 AEUV gibt gleichlautend zu Art. 8 Abs. 1 EGRC jeder Person das Recht auf Schutz der sie betreffenden Daten. Damit ist das Grundrecht auf Datenschutz auch vertraglich fixiert. Art. 16 Abs. 2 AEUV sieht eine darauf bezogene Normierung über den Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten nicht nur durch die Unionsorgane, sondern auch durch die Mitgliedstaaten vor, wenn sie im Anwendungsbereich des Unionsrechts tätig sind. Art. 39 EUV gewährleistet den Datenschutz entsprechend für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und damit etwa für den sensiblen Bereich einer beschlossenen Übermittlung von Fluggastdaten zur Terrorprävention. 127 Darüber hinaus geht es nicht nur um die Abwehr von datenschutzrechtlichen 1041 Zugriffen und damit die informationelle Selbstbestimmung des Einzelnen, sondern auch um die Gewährleistung eines grenzüberschreitenden Datentransfers, welcher den Binnenmarkt und damit die Wirtschaftsbeziehungen über die Staatengrenzen hinweg nicht beeinträchtigt. Die zweite Zielrichtung ist mithin der freie Datenverkehr. Er wird auch in den Gesetzgebungsaufträgen nach Art. 16 AEUV und Art. 39 EUV eigens genannt. 2. Wechselwirkung mit Sekundärrecht 1042 Beide Ansatzpunkte treten in der RL 95/46/EG128 hervor. Dementsprechend ist dieses Grundrecht im Gegensatz zu den anderen den persönlichen Bereich betreffenden Garantien weniger anhand der EMRK, die es nicht ausdrücklich enthält, 126 127 128
S. zur Vorratsdatenspeicherung o. Rn. 662, 719. S. näher zu den materiellen Grundrechtsproblemen Frenz, Europarecht 4, Rn. 1450 ff. Des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24.10.1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (DatenschutzRL), ABl. L 281, S. 31; zuletzt geändert durch VO (EG) Nr. 1882/2003, ABl. 2003 L 284, S. 1.
D. Personenbezogene Freiheiten
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als vielmehr insbesondere anhand der DatenschutzRL 95/46/EG auszulegen, der es auch in Einzelheiten nachgebildet ist. 129 Insoweit handelt es sich zwar um nachgeordnetes Sekundärrecht, welches seinerseits von dem grundrechtlichen Schutz personenbezogener Daten geprägt wird. Dessen prinzipielle Aussagen müssen allerdings konkretisiert werden. Die VO (EG) Nr. 45/2001130 präzisierte die vorgenannte Richtlinie näher, ist vom Aufbau und Inhalt her aber weitgehend vergleichbar.131 Weiter einschlägig ist die DatenschutzRL für elektronische Kommunikation 2002/58/EG,132 die sich in ihrer Begründung schon auf Art. 8 EGRC bezieht und durch die Richtlinie zur Vorratsspeicherung von Daten133 geändert wurde. 3. Schutz personenbezogener Daten Art. 8 Abs. 1 EGRC gibt nur das Recht auf Schutz personenbezogener Daten. 1043 Sie müssen die Person, die dieses Recht geltend macht, betreffen. Reine Geschäftsdaten sind daher vom Schutzbereich ausgeschlossen. Ihr Schutz richtet sich nach den unternehmensbezogenen Freiheiten und damit nach der unternehmerischen Freiheit134 und dem Eigentumsgrundrecht,135 aber auch nach der Berufsfreiheit,136 soweit man diese insoweit nicht von der Unternehmensfreiheit verdrängt sieht.137 Nach Art. 8 Abs. 2 EGRC dürfen personenbezogene Daten mit Einwilligung 1044 der betroffenen Person nach Treu und Glauben für festgelegte Zwecke verarbeitet werden. Dieser Weg steht alternativ zu einer gesetzlich geregelten legitimen Grundlage. Damit wird die Einwilligung formal mit einem Rechtfertigungsgrund auf eine Ebene gestellt. Gleichwohl handelt es sich um eine die Eingriffsqualität
129 130
131 132
133
134 135 136 137
Johlen, in: Tettinger/Stern, Art. 8 Rn. 16. Des Europäischen Parlaments und des Rates vom 18.12.2000 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die Organe und Einrichtungen der Gemeinschaft und zum freien Datenverkehr (DatenschutzVO), ABl. 2001 L 8, S. 1 s. im hiesigen Zusammenhang Erwägungsgrund 12: Gewährleistung einer kohärenten, homogenen Anwendung der Bestimmungen für den Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten von Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten in der gesamten Gemeinschaft. Hatje, in: Schwarze, Art. 286 EGV Rn. 3. Des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.7.2002 über die Verarbeitung personenbezogener Daten und den Schutz der Privatsphäre in der elektronischen Kommunikation (DatenschutzRL für elektronische Kommunikation), ABl. L 201, S. 37. RL 2006/24/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.3.2006 über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze erzeugt oder verarbeitet werden, und zur Änderung der RL 2002/58/EG, ABl. L 105, S. 54. Unter Bezug auch auf das Prinzip des freien Wettbewerbs Harings/Classen, EuZW 2008, 295 (300). Jarass, § 13 Rn. 4. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 8 GRCh Rn. 10 a.E. S.u. Rn. 1161.
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Kapitel 9: Grundrechte
ausschließende Tatsache,138 in der sich das durch Art. 8 EGRC geschützte Recht auf informationelle Selbstbestimmung gerade manifestiert.139 Damit muss aber die Einwilligung in voller Selbstbestimmung auch tatsächlich 1045 erfolgt sein. Nach Art. 7 lit. a) RL 95/46/EG muss die betroffene Person „ohne jeden Zweifel“ ihre Einwilligung gegeben haben. 140 Daher muss die Einwilligung, wie in Art. 2 lit. h) RL 95/46/EG näher bestimmt, ohne Zwang, für den konkreten Fall und in Kenntnis der Sache erfolgt sein. 4. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen 1046 Beeinträchtigungen erfolgen v.a. durch das Sammeln, Speichern, Übermitteln und Verarbeiten personenbezogener Daten, aber auch die Verweigerung von Auskünften ohne eigenen Antrag oder einer Berichtigung als Folgerechte. Art. 8 Abs. 2 EGRC nennt als spezifische Voraussetzungen für Eingriffe in den Schutz personenbezogener Daten eine gesetzlich geregelte legitime Grundlage, welche in der Abfolge der Norm einer Einwilligung der betroffenen Person nachgestellt ist. Zudem dürfen die Daten nur nach Treu und Glauben für strikt einzuhaltende festgelegte Zwecke verarbeitet werden. Diese Voraussetzung ist der Einwilligung vorangestellt und damit auch bei deren Vorliegen zu beachten. Insbesondere bedarf es einer strikten Verhältnismäßigkeitskontrolle, die auch die Auswirkungen auf den Einzelnen einbezieht. 141 Ebenso in den Grundrechten festgelegt, werden insbesondere kollidierende 1047 Grundrechtspositionen Beeinträchtigungen zulassen. Diesen Ansatz wählte der EuGH für die Frage, ob personenbezogene Daten zur Verfolgung von Urheberrechtsverstößen in zivilgerichtlichen Verfahren weiterzugeben sind, und zog als mögliche Grundlage das Eigentumsrecht und das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf heran.142 Da die Wahrung der Vertraulichkeit personenbezogener Daten die Pri1048 vatsphäre des Einzelnen berührt, ist der Beurteilungsspielraum eigentlich beschränkt und die gerichtliche Nachprüfung strenger.143 Das spricht auch gegen den für die Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen durch File-sharing vom EuGH befürworteten breiten Beurteilungsspielraum. 144 Indes wird für den Zweck, die nationale Sicherheit zu schützen und den Ter1049 rorismus zu bekämpfen, ein größerer Beurteilungsspielraum zugestanden. Die zuständigen Stellen haben grundsätzlich selbst zu beurteilen, „welche Maßnahmen 138 139 140 141
142 143
144
Mehde, in: Heselhaus/Nowak, § 21 Rn. 38. Bernsdorff, in: Meyer, Art. 8 Rn. 21. Ebenso Art. 5 lit. d) VO (EG) Nr. 45/2001 (ABl. 2001 L 8, S. 1). EuGH, Rs. C-92 u. 93/09, EuZW 2010, 939 (943 f., Rn. 81 ff.) – Schecke und Eifert; s.o. Rn. 985. EuGH, Rs. C-275/06, EuZW 2008, 113 (116, Rn. 65) – Promusicae/Telefónica; näher Frenz, Europarecht 4, Rn. 1440 ff. S. bezogen auf Gesundheitsdaten GA Léger, EuGH, Rs. C-317 u. 318/04, Slg. 2006, I-4721 (4781 f., Rn. 229) – Parlament/Rat und Kommission unter Verweis auf EGMR, Urt. vom 25.2.1997, Nr. 22009/93 (Rn. 96), ÖJZ 1998, 152 (154) – Z./Finnland. S. Frenz, Europarecht 4, Rn. 1441 ff.
D. Personenbezogene Freiheiten
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im Kampf gegen den Terrorismus und andere schwere Straftaten ihrem Wesen nach angemessen und zweckmäßig sind“.145 Schließlich ist gerade die Terrorismusbekämpfung sehr stark von faktischen und strategischen Überlegungen geprägt, bei denen naturgemäß große Irrtümer unterlaufen können, wie gerade auch die verschiedenen Reaktionen auf den 11.9.2001 belegen. Allerdings ist auch insoweit eine umso stärkere Konkretisierung von Ver- 1050 dachtsmomenten notwendig, je eher die Daten auf bestimmte Personen bezogen werden. Das gilt zumal bei möglichen negativen Folgen wie zum Beispiel Einreiseverboten, ohne dass allerdings stets ein konkreter Verdacht vorliegen muss.146 So können Verbindungen zwischen Terroristen über eine entsprechende Vorratsdatenspeicherung beim Provider ermittelt werden. Gleichwohl können und sollen daraus Kontakte zwischen bestimmten Personen herausgefunden werden. Also handelt es sich in der Sache um auf eine konkrete Person weisende und damit auf diese bezogene Daten. Werden aber Personen erfasst, ist insbesondere zu prüfen, ob nicht eine Anonymisierung genügt. Gegebenenfalls bedarf es einer einschränkenden Auslegung der nationalen Regelung147 oder aber datenschutzrechtlicher Sicherungen durch Verfahrensmechanismen und eine gerichtliche Nachprüfbarkeit.148 Diese Notwendigkeit besteht nicht, wenn die relevanten Sachinformationen 1051 konkret zu einer bestimmten Person in Bezug gesetzt werden müssen. So liegt der Fall etwa, wenn eine ordnungsgemäße Verwaltung öffentlicher Mittel im Hinblick auf die Personalkosten für gut verdienende Beschäftigte im öffentlichen Dienst untersucht werden soll.149 Auch bei der Erfassung der Gewohnheiten von Fluggästen, um daraus etwaige Terrorverdächtige ableiten zu können, geht es gerade um das Aufspüren bestimmter Personen, so dass eine Anonymisierung ebenfalls nicht weiterhilft. Es stellt sich dann allerdings die Frage, wie stark die Gefahr sein muss. Zudem dürfen solche Daten nur insoweit und so lange gespeichert werden, wie sie nach der Einschätzung der zuständigen Stellen für die Suche nach potenziellen Terroristen gebraucht werden. Das ist über den Flug hinaus nur für die Personen notwendig, die tatsächlich typische Verdachtsmerkmale aufweisen, nicht aber für das Gros der Passagiere. Deren Daten sind daher sofort zu löschen. Das gilt auch bei Daten, die in andere Staaten übermittelt werden. Daher hat die EU bei Vereinbarungen auf entsprechende Sicherungen hinzuwirken.
145 146
147 148 149
GA Léger, EuGH, Rs. C-317 u. 318/04, Slg. 2006, I-4721 (4782 f., Rn. 230 f.) – Parlament/Rat und Kommission. S. auch o. Rn. 662; mit strengerer Tendenz GA Kokott, EuGH, Schlussanträge vom 18.7.2007, Rs. C-275/06 (Rn. 82) – Promusicae/Telefónica schon für die Vorratsdatenspeicherung. EuGH, Rs. C-465/00 u.a., Slg. 2003, I-4989 (5048, Rn. 93) – Österreichischer Rundfunk. GA Léger, EuGH, Rs. C-317 u. 318/04, Slg. 2006, I-4721 (4786 f., Rn. 244 ff.) – Parlament/Rat und Kommission. EuGH, Rs. C-465/00 u.a., Slg. 2003, I-4989 (5048, Rn. 94) – Österreichischer Rundfunk.
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Kapitel 9: Grundrechte
5. Besonderheiten bei der Datenschutzüberwachung Privater 1052 Der Schutz personenbezogener Daten nach Art. 8 EGRC ist vom Schutz der Person her konzipiert und erfasst daher auch Beeinträchtigungen personenbezogener Daten durch Private.150 Deshalb greifen insoweit ebenfalls die vorstehend genannten organisationsrechtlichen Vorkehrungen. Auch für den privaten Bereich muss daher ein unabhängiger Datenschutzbeauftragter vorhanden sein. Dieser muss mit den vorgenannten Sicherungen ausgestattet sein. Um unabhängig zu sein, darf daher auch der Leiter bzw. das leitende Gremium der Kontrollstelle nicht dadurch von der Exekutive abhängig sein, dass er bzw. es ausschließlich durch sie bestellt wird oder ihren Weisungen unterworfen ist oder von ihren Personal- und Sachmitteln abhängt. Nur so kann auch materiell eine vollständige Unabhängigkeit gesichert werden. Schließlich kann es von staatlichem Interesse sein, inwieweit Daten von Privaten über andere Private weitergegeben werden. Das zeigte sich gerade in dem Fall, der einer der Anlässe für die Untersuchung der Kommission war. Beispiel IP-Adresse: Das Privatunternehmen T-Online teilte nämlich den Besitzer einer IPAdresse namentlich mit, von der ein Forumsbeitrag stammte, welchen die Staatsanwaltschaft als Straftat ansah. Die zuständige Aufsichtsbehörde untersagte T-Online die dieser Mitteilung zugrunde liegende Speicherung der Verbindungsdaten seiner Kunden nicht. Es stellte sich die Frage, ob dies auch aus wirtschaftlichen Gründen geschah, um nämlich T-Online nicht zu einem Weggang aus dem Bundesland Hessen zu bewegen. 151
6. Prüfungsschema zu Art. 8 EGRC 1. Schutzbereich a) personenbezogene Daten, nicht geschäftliche (Art. 15 ff. EGRC) b) jegliche Verwendung c) Abwehr- und Schutzanspruch d) Auskunftsanspruch (antragsunabhängig) e) Berücksichtigungsanspruch f) organisationsrechtliche Sicherungen 2. Beeinträchtigung a) durch alle Formen der Verarbeitung mit hinreichendem Bezug zu personenbezogenen Daten b) ausgeschlossen bei tatsächlicher Einwilligung in Kenntnis der Sachlage c) Missachtung einer Zweckbindung d) keine Auskunft oder Berichtigung e) kein unabdingbarer Mindestschutz des Staates 3. Rechtfertigung a) feststehender, zulässiger Zweck (z.B. Terrorabwehr, i.E. str., konkrete schwere Straftaten)
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150 151
S. Frenz, Europarecht 4, Rn. 1388 ff. FAZ vom 14.8.2007, S. 10. S. dazu EuGH, Rs. C-92 u. 93/09, EuZW 2010, 939 ff.
D. Personenbezogene Freiheiten
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b) Abwägung mit kollidierenden Grundrechtspositionen (Beurteilungsspielraum) c) nach Treu und Glauben
IV. Ehe und Familie 1. Schutzsystem Der Schutz des Familienlebens als solcher ist in Art. 7 EGRC gewährleistet.152 Art. 9 EGRC beschränkt sich auf die Gründung und erfasst nicht die spätere Entfaltung. Eine spezifische Ausprägung ist Art. 24 Abs. 3 EGRC, wonach jedes Kind Anspruch auf regelmäßige persönliche Beziehung und direkte Kontakte zu beiden Elternteilen hat, es sei denn, dies steht seinem Wohl entgegen. Art. 24 EGRC gibt Kindern darüber hinaus einen Anspruch auf Schutz und Fürsorge. Damit ist der Schutz des Kindes als dessen eigener Anspruch ausgestaltet. Den rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Schutz der Familie gewährleistet eigens Art. 33 EGRC und gibt weiter gehend spezifische Rechte im Zusammenhang mit der Mutterschaft und nach der Geburt oder Adoption eines Kindes. Gerade insoweit schützt er die Familiengründung materiell vor Gefährdungen durch den Arbeitgeber. Soweit diese spezifischen Bestimmungen nicht greifen, gilt subsidiär immer noch Art. 7 EGRC mit seiner umfassenden Gewährleistung des Familienlebens. In Anlehnung an Art. 12 EMRK wurde das Recht, eine Familie zu gründen, um ein solches zur Eingehung einer Ehe ergänzt. Allerdings wurden beide Rechte voneinander separat geregelt und sind damit durch die Formulierung als getrennte Rechte unterschieden.153 Deshalb sind Ehe und Familie nicht notwendig deckungsgleich. Damit ist der Familienbegriff in Anlehnung an das Familienleben nach Art. 7 EGRC zu definieren.154 Weiter fehlt in Art. 9 EGRC der in Art. 12 EMRK explizit aufgeführte Bezug auf „Männer und Frauen“. Damit wird auch nicht die Vorstellung erzeugt, dass sowohl Männer als auch Frauen beteiligt sein müssen, damit eine Ehe eingegangen wird. Vielmehr ist so das Leitbild auch für homosexuelle Ehen und gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften geöffnet.
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2. Beeinträchtigungen Wie auch im Rahmen des Privat- und Familienlebens nach Art. 7 EGRC erfolgen 1058 Beeinträchtigungen insbesondere durch Begrenzungen der Entfaltung besonderer sexueller Ausrichtungen und durch Trennungen. Daraus erwächst auch eine erhebliche ausländerrechtliche Relevanz, weil Drittstaatsangehörige und Staatenlose ebenfalls in den Genuss des Menschenrechts nach Art. 9 EGRC kommen. 155 Allerdings geht es, weil das Eingehen und die Gründung geschützt werden, auch 152 153 154 155
S.o. Rn. 1031, 1034. Beutler, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 6 EU Rn. 135. S.o. Rn. 1034. Bernsdorff, in: Meyer, Art. 9 Rn. 23.
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Kapitel 9: Grundrechte
um formale Hürden. Demgegenüber zählt im Rahmen von Art. 7 EGRC eher eine Behinderung des tatsächlichen Lebens. Aber auch materielle Benachteiligungen können Beeinträchtigungen auslösen, 1059 indem sie von einer Ehe bzw. von der Gründung einer Familie abhalten. Insoweit können auch Parallelen zu Art. 7 EGRC gezogen werden. Wird das spätere Ehe- bzw. Familienleben beeinträchtigt, kann dies davon abhalten, solche Lebensformen überhaupt zu wählen. 3. Prüfungsschema zu Art. 9 EGRC 1060
1. Schutzbereich a) Eingehen Ehe (auch trans-, nicht homosexuelle) b) Gründung Familie 2. Beeinträchtigung keine Mindestausgestaltung (nicht finanziell) 3. Rechtfertigung a) Nachweis Ehevoraussetzungen b) Gefahr für öffentliche Sicherheit bei ausländerrechtlichen Maßnahmen
V. Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit 1. Enger Zusammenhang der Einzelfreiheiten 1061 Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit ist in Art. 10 Abs. 1 EGRC praktisch wortgleich mit Art. 9 Abs. 1 EMRK niedergelegt. Wie dort werden die innere Seite, also insbesondere die Gedanken-, aber auch die Gewissens- und Religions(bildungs-)freiheit sowie die äußere Bekundung und damit die Gewissens- und Religions(äußerungs-)freiheit zusammengezogen. Daher war es sachgerecht, alle drei Freiheiten in einer Vorschrift zu vereinigen. 1062 Das ändert aber nichts daran, dass es sich gleichwohl um drei verschiedene Grundrechtsausprägungen handelt, die teilweise auch unterschiedliche Konsequenzen mit sich bringen. Indem die Religionsfreiheit neben der Gewissens- und Gedankenfreiheit gewährleistet ist, wird auch der Schutzbereich von Art. 4 Abs. 1 GG voll abgedeckt, der zwischen der Freiheit des Glaubens und des Gewissens als zumindest in erster Linie innere Komponenten und der Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses als äußere Komponente explizit unterscheidet. Die Glaubens- und die Bekenntnisfreiheit werden somit in Art. 10 Abs. 1 EGRC unter der Religionsfreiheit zusammengezogen. 2. Nähere Umschreibung der Bekenntnisfreiheit 1063 In Art. 10 Abs. 1 S. 2 EGRC wird die Bekenntnisfreiheit als Ausfluss der Religionsfreiheit näher umschrieben und auch auf Weltanschauungen bezogen. Religion oder Weltanschauung dürfen einzeln oder gemeinsam mit anderen, öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten bekannt werden.
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Dies entspricht der Formulierung in Art. 9 Abs. 1 HS. 2 EMRK, wo nur etwas ausführlicher von „Praktizieren von Bräuchen und Riten“ die Rede ist. Ebenso wie in der EMRK wird explizit das Recht aufgeführt, die Religion oder 1064 Weltanschauung zu wechseln. Gleichklang besteht auch insoweit, als trotz entsprechender Änderungsvorstöße im Grundrechtekonvent die Entfaltung der negativen Religions- bzw. Weltanschauungsfreiheit nicht explizit erwähnt ist. Diese Freiheit wird ohnehin nicht in allen ihren Erscheinungsformen ausgebreitet, ist aber gleichwohl gewährleistet. Schon die inneren Überzeugungen, vor allem aber die äußeren Betätigungen reagieren sensibel auf indirekte Maßnahmen wie Einschüchterungen. Die kollektive Religionsfreiheit in Form der Betätigungsfreiheit der Kirchen und anderer religiöser bzw. weltanschaulicher Vereinigungen blieb im Wortlaut völlig außen vor,156 lässt sich aber gleichwohl ableiten.157 3. Zusammenhang von Schutzbereich und Schranken Infolge dieser praktisch vollständigen Übereinstimmung des Schutzbereichs von Art. 10 Abs. 1 EGRC mit Art. 9 Abs. 1 EMRK greift Art. 52 Abs. 3 EGRC ein, wonach die Rechte der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite wie in der EMRK haben. Diese formt jedenfalls den Mindeststandard. Hingegen fehlt in Art. 10 EGRC eine Art. 9 Abs. 2 EMRK vergleichbare Schrankenregel. Nach dieser müssen Einschränkungen des Bekenntnisses von Religion oder Weltanschauungen durch Gesetz vorgeschrieben sein und in einer demokratischen Gesellschaft im Interesse der öffentlichen Sicherheit, zum Schutz von öffentlicher Ordnung, Gesundheit oder Moral oder von Rechten und Freiheiten anderer notwendig sein. Auch dieser Schrankenvorbehalt macht den besonderen Gehalt der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit nach Art. 9 EMRK aus und gehört daher auch zu Art. 10 EGRC. Das belegt auch die Entscheidung des EGMR zum Verbot des islamischen Kopftuchs an türkischen Hochschulen.158 In ihr wird nämlich die Neutralitätspflicht des Staates in einer pluralistischen Demokratie sowie die Notwendigkeit des Ausgleichs zwischen verschiedenen religiösen und weltanschaulichen Strömungen verlangt und daraus eine Einschränkung der Glaubensfreiheit abgeleitet. Dieser Ansatz lässt sich besonders gut durch eine Betrachtung der Schrankenregel gewinnen. Er führt aber auch schon im Schutzbereich dazu, die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit als einen Grundpfeiler der demokratischen Gesellschaft zu betrachten, ihr also nicht nur individuellen Wert zuzumessen, sondern sie als Wesensbestandteil der Demokratie zu sehen, mit der der Pluralismus untrennbar verbunden ist.159 Die Schranken des Art. 9 Abs. 2 EMRK beziehen sich allerdings nur auf die Ausübungsfreiheit. Die „innere“ Religionsfreiheit und damit die Gedanken-, Ge156 157 158 159
Gaitanides, in: Heselhaus/Nowak, § 29 Rn. 3. S. Frenz, Europarecht 4, Rn. 1638 ff. EGMR, Urt. vom 10.11.2005, Nr. 44774/98 (Rn. 106 f.), NVwZ 2006, 1389 (1392) – Leyla Sahin/Türkei. Darauf verweist wiederum EGMR, Urt. vom 10.11.2005, Nr. 44774/98 (Rn. 104), NVwZ 2006, 1389 (1391) – Leyla Sahin/Türkei.
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Kapitel 9: Grundrechte
wissens- und Religionsbildungsfreiheit gelten daher auch im Rahmen von Art. 10 EGRC schrankenlos.160 Dabei ist aber das Diskriminierungsverbot zu wahren. Werden also einige Personen aus bestimmten Gründen befreit, muss dies für alle gelten.161 4. Wehrdienstverweigerung 1069 In Art. 10 Abs. 2 EGRC wird über Art. 9 EMRK hinaus das Recht auf Wehrdienstverweigerung ausdrücklich gewährleistet. Anerkannt wird es aber nur nach den einzelstaatlichen Gesetzen. Somit richtet sich der Schutz letztlich nach diesen. Damit besteht im Ergebnis kein Unterschied zur EMRK. 162 Für sie hat die EKMR entschieden, dass sie kein Recht auf Wehrdienst- und auch Wehrersatzdienstverweigerung aus Gewissensgründen enthält, sondern, wie aus Art. 4 Abs. 3 lit. b) EMRK ersichtlich, den Vertragsstaaten vielmehr freistellt, ein solches Recht anzuerkennen oder nicht.163 5. Prüfungsschema zu Art. 10 EGRC 1. Schutzbereich a) Gedankenfreiheit: forum internum b) Gewissensfreiheit: auch Handeln, außer Wehrdienstverweigerung, diese nur nach nationalen Maßstäben c) Religionsfreiheit, individuell und kollektiv sowie korporativ einschließlich Schutz 2. Beeinträchtigungen a) Verhaltensvorgaben (z.B. Kopftuchverbot) b) besondere Bedeutung indirekter Maßnahmen wie Einschüchterung 3. Rechtfertigung a) Art. 52 Abs. 1 EGRC für innere Gedanken- und Gewissensfreiheit, die grundsätzlich nicht beschränkbar sind b) Art. 52 Abs. 3 EGRC i.V.m. Art. 9 Abs. 2 EMRK für äußere Freiheit: insbesondere Wahrung von Toleranz, Neutralität und Pluralismus (Kopftuchverbot)
1070
E. Kommunikationsgrundrechte I. System 1071 Die Kommunikationsgrundrechte umfassen mehrere unterschiedliche Freiheiten mit sich teilweise überschneidenden Schutzbereichen. Allen ist ein besonderer Bezug zum Austausch von Meinungen, Informationen und Ideen gemein. Sie haben von daher auch eine hervorgehobene Bedeutung in der Demokratie. 160 161 162 163
Hölscheidt/Mund, EuR 2003, 1083 (1089). EKMR, Entsch. vom 11.10.1984, Nr. 10410/83, DR 40, 203 (207) – N./Schweden. Gaitanides, in: Heselhaus/Nowak, § 29 Rn. 21. EKMR, Entsch. vom 5.7.1977, Nr. 7705/76 (Rn. 1), DR 9, 196 – X./Deutschland.
E. Kommunikationsgrundrechte
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Im Zentrum steht die Kommunikationsfreiheit im engeren Sinne, also die Mei- 1072 nungs- und Informationsfreiheit sowie die Medienfreiheit. Die Versammlungsfreiheit wird als Verwirklichung der Meinungsfreiheit betrachtet. 164 Sie schützt das Verlangen des Menschen nach geistiger Gemeinschaft165 und ermöglicht damit unter anderem direkte Kommunikation mehrerer Menschen untereinander. Andererseits ist die Meinungsfreiheit wiederum essenziell für die effektive Ausübung der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Gleichwohl stellen nach Ansicht des EGMR die in Art. 11 EMRK statuierten Rechte – Versammlungs-, Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit – leges speciales zur Meinungsfreiheit nach Art. 10 EMRK dar.166 Die Kunstfreiheit als Freiheit, sich durch Mittel der Kunst auszudrücken, wird 1073 in Art. 13 S. 1 EGRC ausdrücklich garantiert, während sie nach der Rechtsprechung des EGMR vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit in Art. 10 EMRK erfasst wird. In den Erläuterungen zur EGRC steht die Forschungsfreiheit ebenfalls in der Tradition von Meinungs- und Gedankenfreiheit.167 Die Freiheit der Medien und die Pluralität werden in Art. 11 Abs. 2 EGRC so- 1074 dann, ebenfalls anders als nach Art. 10 EMRK, gesondert erfasst. Ob man daraus auf die Eigenständigkeit der Medienfreiheit im Sinne eines selbstständigen Grundrechts schließt, hat wohl überwiegend theoretische Bedeutung. Entscheidend ist die einheitliche Schrankenregelung.168 II. Informations- und Meinungsäußerungsfreiheit 1. Geschützte Kommunikationsinhalte a) Schwer unterscheidbarer Dreiklang Der sachliche Schutzbereich des Art. 11 EGRC umfasst als Gegenstand der Kom- 1075 munikationsfreiheit nach seinem Wortlaut Meinungen, Informationen und Ideen. Mit Meinungen sind Werturteile gemeint, Informationen fallen eher in den Bereich der Tatsachen. Teilweise werden Ideen wiederum als Unterfall der Informationen betrachtet. 169 Da Ideen aber vielfach wertende Bestandteile haben und über die bestehenden Kenntnisse gerade hinausreichen, passt diese Zuordnung nicht. Weil nach dem Wortlaut des Art. 11 EGRC aber Meinungen, Ideen und Informationen Schutz genießen, muss auf Schutzbereichsebene auch nicht differenziert werden. Sowohl Tatsachen, prinzipiell auch falsche Tatsachen,170 als auch Werturteile unterfallen der Kommunikationsfreiheit. 164 165 166 167 168 169 170
S. Mann, in: Heselhaus/Nowak, § 27 Rn. 7; vgl. EGMR, Urt. vom 26.4.1991, Nr. 11800/85 (Rn. 37), Ser. A 202 – Ezelin/Frankreich. Mann, in: Heselhaus/Nowak, § 27 Rn. 6. EGMR, Urt. vom 25.11.1999, Nr. 23118/93 (Rn. 44), RJD 1999-VIII – Nilsen und Johnsen/Norwegen. S. Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. 2007 C 303, S. 17 (22). Stern, in: Tettinger/Stern, Art. 11 Rn. 49; a.A. Bernsdorff, in: Meyer, Art. 11 Rn. 20. Jarass, § 16 Rn. 7. In Deutschland sind bewusst unwahre Tatsachen jedoch nicht geschützt, s. BVerfGE 54, 208 (219).
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Kapitel 9: Grundrechte
b) Abgestufte Schutzintensität 1076 Allerdings können sich Unterschiede in der Schutzintensität bei der Rechtfertigung eines Eingriffs ergeben. So differenziert der EGMR bei der Eingriffsrechtfertigung zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen. Werturteile sind danach dem Wahrheitsbeweis nicht zugängliche Äußerungen und können somit generell nicht dem Erfordernis unterstellt werden, bewiesen zu werden. Aber auch für Werturteile fordert der EGMR eine ausreichende Tatsachengrundlage, ohne die ein Werturteil überzogen ist. 171 Unwahre Tatsachenbehauptungen genießen im Rahmen einer Abwägung weniger Schutz als wahre Tatsachen. c) Grundsätzliche Unbeachtlichkeit des Inhalts 1077 Der Inhalt der geäußerten Meinungen, Ideen und Informationen ist grundsätzlich irrelevant. Art. 11 EGRC enthält insoweit keine Einschränkungen. Geschützt sind nicht nur politische oder kulturelle, sondern unter anderem auch kommerzielle Inhalte.172 Auch unerwünschte, schockierende und beunruhigende, selbst strafrechtlich relevante Meinungs- oder Tatsachenäußerungen genießen grundrechtlichen Schutz und fallen zunächst in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit. 173 Nur die weitere Behandlung ist verschieden, so die Zubilligung eines Beurteilungsspielraums. Namentlich im Rahmen der Aussagedelikte sind allerdings erforderliche Eingriffe möglich und mit dem Schutz der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege zu rechtfertigen. Äußerungen, die den Grundwerten der EMRK zuwiderliefen, so pro1078 nationalsozialistische Politik und die Leugnung oder Infragestellung feststehender historischer Tatsachen wie des Holocausts, hat der EGMR vereinzelt unter Berufung auf das Missbrauchsverbot in Art. 17 EMRK vom Schutzbereich der Meinungsfreiheit ausgeklammert.174 Ein entsprechendes Missbrauchsverbot enthält Art. 54 EGRC. Auch ohne ausdrückliche Berufung auf Art. 17 EMRK entschied der EGMR, dass rassistische Äußerungen nicht dem Schutz des Art. 10 EMRK unterfielen.175 2. Geschützte Vorgänge 1079 Der sachliche Schutzbereich umfasst zunächst den Vorgang der Meinungsbildung und das Haben einer Meinung als interne Vorgänge. 176 Sie stellen die not171 172 173 174 175 176
EGMR, Urt. vom 17.12.2004, Nr. 49017/99 (Rn. 76), NJW 2006, 1645 (1648 f.) – Pedersen und Baadsgaard/Dänemark. Vgl. EuGH, Rs. C-380/03, Slg. 2006, I-11573 (11670 f., Rn. 154) –Deutschland/Parlament und Rat (Tabakrichtlinie) m.w.N. EGMR, Urt. vom 6.5.2003, Nr. 48898/99 (Rn. 39 ff.), NJW 2004, 2653 (2655 f.) – Perna/Italien m.w.N. Vgl. EGMR, Entsch. vom 24.6.2003, Nr. 65831/01 (Abschnitt I.2.), NJW 2004, 3691 (3692) – Garaudy/Frankreich. EGMR, Urt. vom 23.9.1994, Nr. 15890/89 (Rn. 35), ÖJZ 1995, 227 (229) – Jersild/ Dänemark. S. Stern, in: Tettinger/Stern, Art. 11 Rn. 25; Jarass, § 16 Rn. 11; Frowein/Peukert, EMRK, 3. Aufl. 2009, Art. 17 Rn. 3.
E. Kommunikationsgrundrechte
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wendige Vorstufe zur Meinungsäußerung dar, die eigentliche Hauptform der Meinungsfreiheit, werden allerdings erst in Art. 11 Abs. 1 S. 2 EGRC und damit nachgeordnet unter dem Oberbegriff der Meinungsfreiheit genannt. Dabei werden sie freilich auch unter die Meinungsäußerungsfreiheit gezogen, welche die Meinungsfreiheit ausdrücklich einschließt, ebenso den Empfang und die Weitergabe von Ideen und Informationen. Damit handelt es sich um eine über die bloße Meinungsäußerungsfreiheit weit hinausgehende Kommunikationsfreiheit. Diese besteht entsprechend der europaweiten Geltung grenzüberschreitend, so dass der Ort des Kommunikationsaktes auch insoweit frei wählbar ist, 177 wie auch die Kommunikationsform bzw. das Übertragungsmedium.178 Auch das Nicht-Haben einer bestimmten Meinung ist von dieser Kommunika- 1080 tionsfreiheit geschützt. Insoweit handelt es sich nur um die negative Kehrseite zum Haben einer Meinung (negative Meinungsfreiheit). Daraus folgt, dass dem Bürger vom Staat keine Meinungen aufgedrängt werden dürfen. Art. 11 EGRC schützt daher etwa vor schulischer Indoktrinierung.179 Öffentliche Stellen dürfen an das Haben oder Nicht-Haben einer Meinung keine Nachteile knüpfen.180 Art. 11 EGRC schützt ebenfalls die negative Meinungsäußerungsfreiheit, also das Recht, sich nicht zu äußern. Dies wird beispielsweise relevant bei der Verpflichtung, Produkte mit Warnhinweisen zu versehen, wie im Rahmen der TabakproduktRL 2001/37/EG.181 Das Recht auf freie Meinungsäußerung schließt nach Art. 11 Abs. 1 S. 2 EGRC 1081 die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen (Rezipientenfreiheit). Um die von ihm gewünschten Informationen zu erlangen, kann der Einzelne 1082 auf staatliche Mithilfe angewiesen sein. Jedenfalls muss der Staat sein eigenes Informationssystem so gestalten, dass sich jeder Bürger über alle wesentlichen Fragen informieren kann.182 Im Bereich der EMRK wird von einem Recht, angemessen informiert zu werden, ausgegangen. 183 Im Zuge der selbstverständlichen Recherche im Internet geht indes eine staatliche Informationspflicht zu weit. 3. Beeinträchtigung Im Rahmen der Kommunikationsfreiheit ist ein weiter Eingriffsbegriff zugrunde 1083 zu legen. Danach liegt ein Eingriff in den Schutzbereich zwar in erster Linie bei finalen oder unmittelbar bewirkten Belastungen der Meinungs- und Informations177 178 179 180 181
182 183
S. EGMR, Urt. vom 27.4.1995, Nr. 15773 u. 15774/89, ÖJZ 1995, 751 – Piermont/ Frankreich. Jarass, § 16 Rn. 10; für die EMRK Grabenwarter, EMRK, 2. Aufl. 2008, § 23 Rn. 4. Vgl. EGMR, Urt. vom 7.12.1976, Nr. 5095/71 u.a. (Rn. 52 f.), NJW 1977, 487 (487) – Kjeldsen u.a./Dänemark. Jarass, § 16 Rn. 11. RL 2001/37/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5.6.2001 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Herstellung, die Aufmachung und den Verkauf von Tabakerzeugnissen (TabakproduktRL), ABl. L 194, S. 26. Kühling, in: Heselhaus/Nowak, § 23 Rn. 20. Erläuterungen und Kritik bei Frowein/Peukert, EMRK, 3. Aufl. 2009, Art. 10 Rn. 13.
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Kapitel 9: Grundrechte
freiheit vor.184 In der Rechtsprechung des EGMR ist aber in vielen Einzelfällen vom klassischen Eingriffsbegriff abgewichen worden und es wurden schon indirekte, subtile Beeinträchtigungen als Eingriff in die Meinungsfreiheit betrachtet. Angesichts dieser fallbezogenen Herangehensweise des EGMR kann der klassische finale und unmittelbare Eingriffsbegriff lediglich als Ausgangspunkt herangezogen werden. Es ist auch nicht erforderlich, dass es sich um einen förmlichen Eingriffsakt durch den Grundrechtsverpflichteten handelt. 4. Rechtfertigung 1084 Art. 11 EGRC normiert wie auch die anderen Grundrechte keine spezielle Schrankenregelung für die Meinungs- und Informationsfreiheit, so dass Eingriffe nach der allgemeinen Bestimmung des Art. 52 EGRC zu rechtfertigen sind. Art. 11 Abs. 1 EGRC entspricht wortgetreu Art. 10 Abs. 1 S. 1 und 2 EMRK, so dass gemäß Art. 52 Abs. 3 EGRC von gleicher Bedeutung und Tragweite auszugehen ist, wozu auch die zugelassenen Einschränkungen gehören. Damit hat der Grundrechtsverpflichtete bei einschränkenden Regelungen die gleichen Bestimmungen zu beachten, die in der Schrankenregelung des Art. 10 EMRK enthalten sind.185 Für die Rechtfertigung eines Eingriffs in Art. 11 EGRC bedarf es zunächst ei1085 ner gesetzlichen Grundlage. Dasselbe gilt auch für faktische Eingriffe. Eine nationale Grundlage muss als Gesetz im Sinne des Art. 10 Abs. 2 EMRK gelten.186 Den Schwerpunkt der Prüfung bildet auch bei Eingriffen in die Meinungsfrei1086 heit regelmäßig die Wahrung der Verhältnismäßigkeit. In diesem Zusammenhang hat sich eine umfangreiche Kasuistik herausgebildet. Deren einzelne Fallgruppen sind vor allem dadurch gekennzeichnet, dass je nach Fallgruppe ein unterschiedlich weit reichender Beurteilungsspielraum zugestanden wird. Der EuGH gewährt ihm je nach dem Ziel, das eine Beschränkung der Meinungsfreiheit rechtfertigt, und je nach der Art der Tätigkeit, um die es geht. Namentlich für den Gebrauch der Meinungsfreiheit im Geschäftsverkehr, besonders in einem so komplexen und wandelbaren Bereich wie der Werbung, reduziert sich die Kontrolle auf die Prüfung, ob ein Eingriff in angemessenem Verhältnis zu den verfolgten Zielen steht.187 5. Prüfungsschema zu Art. 11 Abs. 1 EGRC 1. Schutzbereich a) Personell aa) natürliche Personen bb) juristische Personen des Privatrechts; Sonderfall öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten
1087
184 185 186 187
Vgl. EuGH, Rs. C-219/91, Slg. 1992, I-5485 (5513, Rn. 36 ff.) – Ter Voort. Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. 2007 C 303, S. 17 (33). Hier EGMR, Urt. vom 25.3.1985, Nr. 8734/79 (Rn. 46), NJW 1985, 2885 (2886) – Barthold/Deutschland. EuGH, Rs. C-380/03, Slg. 2006, I-11573 (11671, Rn. 155) –Deutschland/Parlament und Rat (Tabakrichtlinie); Rs. C-71/02, Slg. 2004, I-3025 (3070 f., Rn. 51) – Karner.
E. Kommunikationsgrundrechte
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b) Sachlich aa) Meinungen, Ideen und Informationen bb) prinzipiell auch unwahre Tatsachen, aber abgestufte Schutzintensität cc) Inhalt unbeachtlich; auch z.B. kommerzielle Inhalte dd) Bilden und Haben einer Meinung; Äußerung von Ideen, Tatsachen oder Meinungen; Empfang von Informationen und Meinungen ee) zugängliche staatliche Informationssysteme 2. Beeinträchtigung a) unmittelbar (z.B. Verbote), mittelbar b) direkt, indirekt (Sanktionen) c) faktisch oder rechtlich 3. Rechtfertigung a) Schrankenregelung aus Art. 10 Abs. 2 EMRK über Art. 52 Abs. 3 EGRC, parallele Anwendung des Art. 52 Abs. 1 EGRC entbehrlich b) gesetzliche Grundlage erforderlich c) legitime Beschränkungsziele in Art. 10 Abs. 2 EMRK abschließend genannt (Rechte anderer, Aufrechterhaltung der Ordnung, Moral etc.) d) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mit variierendem nationalen Beurteilungsspielraum
III. Medienfreiheit 1. Medien und geschützte Aktivität Mit dem Begriff der Medien geht die EGRC über den klassischen Bereich von 1088 Presse und Rundfunk hinaus, indem alle, auch die sogenannten neuen Medien einbezogen werden. Der Ausdruck Medien zeichnet sich zudem durch eine Zukunfts- und Entwicklungsoffenheit aus. Erfasst werden nicht nur die jetzt bereits bekannten Medien, sondern auch sämtliche in der Zukunft entstehenden Übertragungsmedien für an die Allgemeinheit gerichtete Kommunikation. 188 Wie auch die Stellung der Medienfreiheit als besonderer Teil der Kommunika- 1089 tionsfreiheit vermuten lässt, gehört zu den ureigensten geschützten Tätigkeiten die Übermittlung von Inhalten. Diese Inhalte sind ebenso weit zu verstehen wie im Rahmen der allgemeinen Meinungsfreiheit. Es sind Meinungen und Tatsachen mit breitem Inhaltsspektrum umfasst. Diese Vielfalt der Inhalte beruht auf adäquaten Arbeitsbedingungen wie unge- 1090 hinderte Recherche, Quellenschutz und Vertrieb der einzelnen Medieneinrichtungen und -unternehmen, also öffentlich-rechtlicher wie privater Anbieter, wie auch auf einem breiten Spektrum von Anbietern, mithin dem Medienpluralismus.
188
Stern, in: Tettinger/Stern, Art. 11 Rn. 25 u. 46; für Art. 10 EMRK Kugelmann, EuGRZ 2003, 16 (19).
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Kapitel 9: Grundrechte
Auch schockierende oder beunruhigende sowie abstoßende Inhalte dürfen verbreitet werden.189 2. Beeinträchtigung 1091 Ebenso wie bei der allgemeinen Kommunikationsfreiheit ist auch im Rahmen der Medienfreiheit von einem weiten Eingriffsbegriff auszugehen. Daher kommen neben den klassischen finalen, rechtlichen Beeinträchtigungen auch mittelbare und faktische in Betracht.190 Besonderheiten im Bereich der Medien ergeben sich insofern, als insbesondere auch wirtschaftliche Regelungen Eingriffscharakter haben können,191 ebenso Antastungen eines pluralistischen Angebotes, so durch eine Besetzung von Aufsichtsgremien, in denen eine politische Partei dominiert. 3. Rechtfertigung 1092 Die bloße textliche Verselbstständigung der Medienfreiheit, die deren besondere Bedeutung innerhalb der Kommunikationsfreiheit hervorheben sollte, vermag die besondere Schrankenbestimmung aus Art. 10 Abs. 2 EMRK nicht auszuschließen. Diese ist demnach über Art. 52 Abs. 3 EGRC auch für die Medienfreiheit einschlägig. Auch für sie ergibt sich eine abgestufte Verhältnismäßigkeitsprüfung je nach Beeinträchtigung. Für Äußerungen von Journalisten über Politiker hebt der EGMR etwa den 1093 Grundsatz hervor, dass die Meinungsfreiheit nicht nur für allgemein zustimmend aufgenommene, sondern auch für schockierende oder verletzende Äußerungen gilt.192 Die journalistische Freiheit umfasst auch die Möglichkeit der Übertreibung oder Provokation.193 Allerdings ist dabei das allgemeine Persönlichkeitsrecht zu wahren. Zudem brauchen auch Prominente Rückzugsräume. 194 Auch wenn die Rechtsprechung zur Feststellung der Weite des Beurteilungs1094 spielraums an die Zugehörigkeit zu bestimmten Personengruppen anknüpft, so steht im Grunde die Frage dahinter, inwieweit die betreffende Diskussion zu Themen von allgemeinem öffentlichem Interesse beiträgt. Ausschlaggebend sind insofern sowohl inhaltliche als auch personenbezogene Kriterien.195
189 190 191 192 193 194 195
EGMR, Urt. vom 1.7.1997, Nr. 20834/92 (Rn. 29), NJW 1999, 1321 (1321 f.) – Oberschlick/Österreich (Nr. 2). Vgl. Kühling, in: Heselhaus/Nowak, § 24 Rn. 56. Vgl. EuGH, Rs. 43 u. 63/82, Slg. 1984, 19 (62, Rn. 33 f.) – VBVB und VBBB. EGMR, Urt. vom 1.7.1997, Nr. 20834/92 (Rn. 29), NJW 1999, 1321 (1321 f.) – Oberschlick/Österreich (Nr. 2). EGMR, Urt. vom 21.1.1999, Nr. 29183/95 (Rn. 45), NJW 1999, 1315 (1316) – Fressoz und Roire/Frankreich. S. EGMR, NJW 2008, 1793 – Caroline von Hannover; näher Frenz, Öffentliches Recht, 5. Aufl. 2011, Rn. 324 ff. sowie ders., NJW 2008, 3102. Vgl. Holoubek, AfP 2003, 193 (197).
E. Kommunikationsgrundrechte
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4. Prüfungsschema zu Art. 11 Abs. 2 EGRC 1. Schutzbereich a) personell v.a. Medienunternehmen als juristische Personen, auch wenn Sitz außerhalb EU, sowie öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten b) Medien als Massenmedien: Rundfunk, Fernsehen, Presse, Bücher, Film, auch Internet und vergleichbare neue Medien c) Vermittlung von Inhalten einschl. Meinungen und Werbung d) Informationszugang als Grundlage e) Arbeitsbedingungen (Recherche, Quellenschutz, Vertrieb) f) Pluralismus (objektiv-rechtlich), nicht: innere Pressefreiheit 2. Beeinträchtigungen a) Beschränkungen der Recherche, des Vertriebs, der Werbung b) prozentuale oder inhaltliche Vorgaben (z.B. Gegendarstellung) c) Vergütungs-/Urheberregelungen 3. Rechtfertigung (Art. 52 Abs. 3 EGRC i.V.m. Art. 10 Abs. 2 EMRK) a) allgemeines Persönlichkeitsrecht b) Eigentums-/Urheberrechte c) bei Abwägung: Bedeutung der Medienfreiheit in der Demokratie, stärkere Beschränkungen bei Tatsachenbehauptungen und öffentlichen Personen möglich
1095
IV. Versammlungsfreiheit 1. Reichweite der Versammlungsfreiheit innerhalb der Kommunikationsgrundrechte Nach Art. 12 Abs. 1 EGRC hat jede Person das Recht, sich frei und friedlich zu 1096 versammeln und sich frei mit anderen zusammenzuschließen. Die Bestimmung gewährleistet so neben der Versammlungsfreiheit auch die Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit als verwandte Rechte.196 Damit entspricht sie Art. 11 EMRK.197 Die Versammlungsfreiheit ermöglicht unter anderem die direkte Kommunikati- 1097 on mehrerer Menschen untereinander. Daher ist die Meinungsfreiheit zugleich für die effektive Ausübung der Versammlungsfreiheit prägend.198 Es besteht folglich eine Wechselwirkung zwischen den beiden Grundrechten, sie sind stark aufeinander bezogen. Zugleich kann sich in ihrem Rahmen die Religionsfreiheit entfalten, deren Ausdruck ebenfalls Versammlungen sind. Indem jedem Einzelnen der Meinungsaustausch innerhalb einer Gemein- 1098 schaft zusteht, weist die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit ebenso wie die 196 197 198
Ausführlich zur Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit einschließlich der Konflikte mit den Grundfreiheiten u. Rn. 1104 ff. Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. 2007 C 303, S. 17 (22). EGMR, Urt. vom 25.11.1999, Nr. 23118/93 (Rn. 44), RJD 1999-VIII – Nilsen und Johnsen/Norwegen.
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Kapitel 9: Grundrechte
Meinungsfreiheit einen besonderen Bezug zur Demokratie auf. Aufgrund ihrer Relevanz in jedem demokratischen Staatssystem wird dementsprechend durch Art. 12 EGRC auch politische Arbeit geschützt. Die Versammlungsfreiheit wird daher ebenso wie die Meinungsfreiheit als fundamentales Recht innerhalb einer demokratischen Gesellschaft betrachtet.199 Zwar kommt die Bedeutung der Versammlungsfreiheit für die Demokratie na1099 turgemäß insbesondere bei politischer Betätigung zum Tragen. Die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit ist jedoch universell garantiert. Die in Art. 12 EGRC gesondert erwähnten Bereiche der politischen, gewerkschaftlichen oder zivilgesellschaftlichen Betätigung sind nicht abschließend zu verstehen, sondern heben nur typische Felder hervor.200 Schließlich ist auch die Meinungsfreiheit, zu der die Versammlungsfreiheit in engem Bezug steht, umfassend konzipiert und nicht auf den politisch-gesellschaftlichen Bereich beschränkt. Die Versammlungsfreiheit schützt alle versammlungsspezifischen Tätigkei1100 ten und Verhaltensweisen. Dies umfasst sowohl die Planung, Organisation, Vorbereitung und Veranstaltung als auch die Durchführung und die Teilnahme an der Versammlung.201 Auch die Entscheidung über Art, Zeitraum und Dauer sowie über die Aufmachung der Teilnehmer fällt in den Schutzbereich. 202 Damit werden die Vorbereitung und die näheren Modalitäten wie bei der Meinungs- und Pressefreiheit umfassend geschützt. 2. Rechtfertigung von Beeinträchtigungen 1101 Beeinträchtigungen sind entsprechend dem weitgesteckten Schutzbereich in allen Stadien der Versammlung denkbar. Einschränkungen, die sich auf die Planung und Vorbereitung einer Versammlung beziehen, lassen sich daher ebenso als Eingriff qualifizieren wie die Auflösung oder das Verbot der Versammlung selbst.203 Die Versammlungsfreiheit enthält in Art. 12 EGRC keine eigene Schrankenre1102 gelung. Sie entspricht Art. 11 EMRK und hat daher gemäß Art. 52 Abs. 3 EGRC die gleiche Bedeutung wie das durch die EMRK geschützte Recht. Sie hat nur eine größere Tragweite, da sie auf allen Ebenen, auch auf europäischer Ebene Anwendung finden kann. Damit greifen die einschränkenden Regelungen aus Art. 11 EMRK auch für Art. 12 EGRC.204 Beispiel Brenner-Blockade nach EuGH, Rs. C-112/00, Slg. 2003, I-5659 – Schmidberger205: Eine Einschränkung kann auch aus den Grundfreiheiten erwachsen. Anwohner blockierten 199 200 201 202 203 204 205
EKMR, Entsch. vom 10.10.1979, Nr. 8191/78 (Rn. 3), EuGRZ 1980, 36 (36) – Rassemblement Jurassien und Unité Jurassienne/Schweiz. Vgl. Rixen, in: Tettinger/Stern, Art. 12 Rn. 5. Mann, in: Heselhaus/Nowak, § 27 Rn. 16. Marauhn, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 4 Rn. 62. Marauhn, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 4 Rn. 65. Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. 2007 C 303, S. 17 (22). Näher bereits o. Rn. 262 ff. zu den Grundfreiheiten.
E. Kommunikationsgrundrechte
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30 Stunden die Brenner-Autobahn, um gegen den starken LKW-Verkehr zu demonstrieren. Die staatliche Schutzpflicht verlangte, den freien Warenverkehr zu sichern. Sie wurde vom EuGH aber durch die Meinungsäußerungs- und Versammlungsfreiheit beschränkt. Da beide nicht schrankenlos gewährleistet sind, bedurfte es eines verhältnismäßigen Ausgleichs: Die Demonstration musste stattfinden können, ihr Schutz überwog also im Einzelfall die Warenverkehrsfreiheit. Sie durfte aber den LKW-Verkehr nicht gänzlich blockieren; Nebenstrecken mussten offen bleiben und die Zeitdauer war begrenzt.
3. Prüfungsschema zur Versammlungsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 EGRC 1. Schutzbereich a) Versammlung: Zusammenkunft von mindestens zwei Personen b) zu gemeinsamem Zweck: auch gesellschaftlich (str.), aber friedlich 2. Beeinträchtigung a) bei Durchführung/Vorbereitung durch Anmelde- und Genehmigungserfordernisse b) fehlender Schutz bei Störung von außen 3. Rechtfertigung nach Art. 52 Abs. 3 EGRC i.V.m. Art. 11 EMRK insbesondere Schutz von öffentlicher Sicherheit und Ordnung
1103
V. Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit 1. Eigenständige Bedeutung Art. 12 EGRC schützt wie Art. 11 EMRK neben der Versammlungsfreiheit als 1104 verwandte Rechte die Vereinigungs- und die Koalitionsfreiheit. Damit sind spezifische kommunikative Tätigkeiten geschützt, die sich durch den Zusammenschluss mehrerer zur gemeinsamen Interessenverfolgung charakterisieren lassen. Ähnlich wie bei der Versammlungsfreiheit tritt somit ein enger Zusammenhang mit der Meinungsfreiheit zutage. Ein solcher besteht auch zur Religionsfreiheit, die sich typischerweise in Glaubensvereinigungen entfaltet.206 Durch die Vereinigungsfreiheit ist der Zusammenschluss von Personen zu 1105 rechtmäßigen Zwecken geschützt. Der EGMR sieht in dem Recht der Bürger, „ … eine juristische Person zu gründen, um gemeinsam in einem Bereich übereinstimmender Interessen tätig zu werden, … eines der wichtigsten Elemente der Vereinigungsfreiheit.“207 Die konkrete Ausgestaltung steht dem Mitgliedstaat jedoch frei. Koalitionen bilden besondere Vereinigungen. Die Koalitionsfreiheit kann da- 1106 her als spezieller Fall der Vereinigungsfreiheit betrachtet werden. Innerhalb der Vereinigungsfreiheit kommt dann der Koalitionsfreiheit zur Vertretung der Interessen durch Gewerkschaften eine besondere Bedeutung zu, wie die Hervorhe206 207
S. EGMR, Urt. vom 5.4.2007, Nr. 18147/02 (Rn. 72), NJW 2008, 495 (496) – Scientology Kirche Moskau/Russland. EGMR, Urt. vom 5.4.2007, Nr. 18147/02 (Rn. 73), NJW 2008, 495 (496) – Scientology Kirche Moskau/Russland.
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Kapitel 9: Grundrechte
bung in Art. 12 Abs. 2 EGRC zeigt. Damit geht aber keine Privilegierung gegenüber den gleichfalls geschützten Arbeitgeberverbänden einher. Zudem ist die negative Koalitionsfreiheit geschützt, also die Entscheidung, keiner Gewerkschaft beizutreten. 2. Größere personelle Reichweite 1107 Im Gegensatz zur Versammlung als vergleichsweise losem Zusammenschluss mehrerer kann sich die Vereinigung selbst auf das Grundrecht berufen. Daneben ist der einzelne Bürger geschützt. Eine unmittelbare Drittwirkung wie nach Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG, so dass sich 1108 Grundrechtsträger gegenüber privaten Dritten auf die Koalitionsfreiheit berufen können, entfaltet Art. 12 EGRC zwar nicht. Es sind jedoch Schutzfunktionen enthalten, die den nationalen Gesetzgeber zum Schutz gegen Beeinträchtigungen durch Dritte verpflichten.208 3. Streikrecht und seine Grenzen 1109
Fall nach EuGH, Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779 – Viking: EU-ausländische Betriebe werden blockiert, in denen die Gewerkschaftstätigkeit nicht wie sonst in dem Mitgliedstaat üblich ermöglicht wird. Fall nach EuGH, Rs. C-341/05, Slg. 2007, I-11767 – Laval: Betriebe aus anderen Mitgliedstaaten, die niedrige Löhne auszahlen, werden bestreikt. 1. Streikrecht Auch die kollektive Koalitionsfreiheit, also die Tätigkeit der Gewerkschaften selbst, fällt in den Schutzbereich des Art. 12 EGRC. Nicht eindeutig dem Wortlaut zu entnehmen ist allerdings die Reichweite dieses Schutzes. Um in ihrer kollektiven Form voll zur Geltung kommen zu können, muss die Koalitionsfreiheit den typischen Zweck gewerkschaftlicher Organisation schützen. Kollektive Maßnahmen sowie Tarifverhandlungen und Tarifverträge können „eines der Hauptmittel zum Schutz der Interessen ihrer Mitglieder sein“.209 Das Streikrecht folgt explizit bereits aus Art. 28 EGRC.210 2. Grenzen aus den Grundfreiheiten und Wettbewerbsregeln Die europäischen Grundrechte beschränken den Anwendungsbereich der Grundfreiheiten nicht,211 und zwar selbst dann nicht, wenn Einschränkungen der Grundfreiheiten mit der Ausübung der Grundrechte einhergehen, wie dies bei kollektiven gewerkschaftlichen Maßnahmen in Form von Blockaden gegen grenzüberschreitende Anbieter der Fall ist.212 Vielmehr können die Grundfreiheiten umgekehrt einer Maßnahme einen grenzüberschreitenden Bezug verleihen, so dass sie in den Geltungsbereich der Unionsgrundrechte fällt.213 Im Übrigen sind die Grundrechte auf der Ebene der Schranken mit den Grundfreiheiten auszugleichen. Ebenso verhält es sich umgekehrt. Werden durch private Aktivitäten wie Versammlungen oder kollektive gewerkschaftliche Maßnahmen die Grundfreiheiten beschränkt, geht nicht der grund-
208 209 210 211 212 213
Genauer Frenz, Europarecht 4, Rn. 2296 ff. EuGH, Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779 (10837, Rn. 86) – Viking. Vgl. EuGH, Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779 (10826, Rn. 44) – Viking sowie Rs. C341/05, Slg. 2007, I-11767 (11884, Rn. 91) – Laval. Jüngst EuGH, Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779 (10827, Rn. 47) – Viking; Rs. C341/05, Slg. 2007, I-11767 (11885, Rn. 95) – Laval. EuGH, Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779 (10827 f., Rn. 48 ff.) – Viking. S. Frenz, Europarecht 4, Rn. 262 ff.
E. Kommunikationsgrundrechte
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rechtliche Schutz verloren. Die Ausübung der betroffenen Grundrechte liegt „nicht außerhalb der Bestimmungen des Vertrages. Sie muss mit den Erfordernissen hinsichtlich der durch den Vertrag geschützten Rechte in Einklang gebracht werden und dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entsprechen.“214 Dabei können die Grundfreiheiten Koalitionen unmittelbar verpflichten. So kann sich ein durch gewerkschaftlichen Boykott Betroffener gegenüber der Gewerkschaft direkt auf die Niederlassungsfreiheit berufen.215 Eine staatliche Einflussnahme auf die Gewerkschaft ist insoweit nicht erforderlich. Die unmittelbare Drittwirkung befürwortet der EuGH dann, wenn natürliche oder juristische Personen aufgrund der ihnen zustehenden Rechte ein besonderes Maß an kollektiver Machtfülle auf sich vereinen.216 Die für die Wettbewerbsregeln vom EuGH befürwortete Zurückdrängung des Anwendungsbereiches bei Tarifverträgen217 lehnte der EuGH für die Grundfreiheiten ab, da diese ihren „eigenen Anwendungsvoraussetzungen gehorchen“.218 Die Grundrechte aber sind eher mit den Grundfreiheiten als mit den Wettbewerbsregeln zu vergleichen. 219 Damit ist naturgemäß eine Abwägung verbunden, die auf einer Einbindung der jeweiligen Interessen und damit Aktivitäten beruht. Da unionsrechtlich entsprechend Art. 153 Abs. 2 UAbs. 1 AEUV grenzüberschreitend nur soziale Mindeststandards realisierbar sind und auch in der EntsendeRL festgeschrieben wurden, können gewerkschaftliche Streiks auch nur darauf gerichtet sein. So können Mindestlöhne und -beteiligungen von Gewerkschaften durchgesetzt werden. Gehen ihre Ziele darüber hinaus, sind sie unverhältnismäßig und verletzen die Niederlassungsfreiheit. 3. Grundrechtliche Weiterung? Eine Weiterung könnte sich aus Art. 31 Abs. 1 EGRC ergeben, wonach jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer das Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen hat. Der gesamte Artikel ist überschrieben mit „gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen“. Ein Ausschluss des Entgelts wie nach Art. 153 Abs. 5 AEUV erfolgt nicht, so dass von daher auch dieser Bereich umfasst sein kann.220 Der Begriff der würdigen Arbeitsbedingungen stellt einen Bezug zu Art. 1 EGRC her.221 Entsprechend der zum wortgleichen Art. 1 GG entwickelten sogenannten Objektformel222 sind deshalb als unwürdig solche Arbeitsbedingungen anzusehen, welche die personale Würde des Arbeitenden infrage stellen, ihn lediglich als Mittel zur Produktion betrachten und ihn damit zum bloßen Objekt herabwürdigen223 oder sexueller Belästigung bzw. wiederholten, verwerflichen oder ausgesprochen feindseligen und beleidigenden Handlungen am Arbeitsplatz aussetzen.224 Weiter stellt sich deshalb die Frage, ob durch die Überschrift des Art. 31 EGRC „gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen“ die Gewährleistung gerechter und angemessener Arbeitsbedingungen in Art. 31 Abs. 1 EGRC hineingelesen werden kann und/oder ob das in der Überschrift verwandte Adjektiv „gerecht“ verallgemeinerungsfähig die in Art. 31 Abs. 1 EGRC verwandten Begriffe „gesund, sicher und würdig“ umfasst und Letztere nur als Kon-
214 215 216 217 218 219 220 221 222 223 224
EuGH, Rs. C-341/05, Slg. 2007, I-11767 (11885, Rn. 94) – Laval. EuGH, Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779 (10823, Rn. 33 ff.) – Viking. Vgl. EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 (5065 f., Rn. 82 ff.) – Bosman. EuGH, Rs. C-67/96, Slg. 1999, I-5751 (5882, Rn. 59) – Albany. EuGH, Rs. C-438/05, Slg. 2007, I-10779 (10828, Rn. 53) – Viking. Ausführlich Frenz, Europarecht 1, Rn. 65 ff. Frenz, Europarecht 4, Rn. 3870 mit weiterer Einschränkung in Rn. 3895 f. Jarass, § 30 Rn. 25. S.o. Rn. 992. Lang, in: Tettinger/Stern, Art. 31 Rn. 8. Lang, in: Tettinger/Stern, Art. 31 Rn. 8 f.
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Kapitel 9: Grundrechte
kretisierung anzusehen sind.225 Dagegen spricht jedoch, dass die Adjektive „gerechte“ und „angemessene“ im Normtext nicht erscheinen. So wurde auch im Grundrechtekonvent vor allem die Reichweite und inhaltliche Bedeutung des Begriffs „gerechte“ Arbeitsbedingungen diskutiert, während die Forderung nach sicheren und gesunden Arbeitsbedingungen weitgehend Zustimmung fand.226 Art. 31 EGRC enthält deshalb kein allgemeines Recht auf gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen.227 Die Problematik des „gerechten Lohns“ ist daher nicht in diesem Rahmen zu diskutieren.228 Die Streiks in den Beispielsfällen werden daher auch nicht grundrechtlich legitimiert, sondern verletzen die Niederlassungsfreiheit.
4. Politische Parteien 1110 Gemäß Art. 12 Abs. 2 EGRC tragen die politischen Parteien auf der Ebene der Union dazu bei, den Willen der Bürger zum Ausdruck zu bringen. Aus der gesonderten Erwähnung politischer Tätigkeit im Zusammenhang mit der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und der Aufgabenbeschreibung für die Parteien in Art. 12 EGRC wird deutlich, dass Parteien als besondere Vereinigungen von der Vereinigungsfreiheit geschützt sind. Nur wenn sie demokratische Kerngehalte antasten, können sie verboten werden. Art. 12 Abs. 2 EGRC enthält selbst zwar kein Grundrecht und hat allenfalls geringen rechtlichen Gehalt. Man kann in ihm allerdings einen Ansatz zur institutionellen Verankerung politischer Parteien auf europäischer Ebene sehen.229 Im Übrigen bleiben Art. 10 Abs. 4 EUV bzw. Art. 224 AEUV Kernstück des Parteienrechts.230 5. Prüfungsschema zur Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit aus Art. 12 EGRC 1111
1. Schutzbereich a) Vereinigung: verfestigter freiwilliger Zusammenschluss mehrerer zu gemeinsamem Zweck; notwendiger organisationsrechtlicher Rahmen b) v.a. individuelle und kollektive Koalitionsfreiheit, unmittelbare Drittwirkung höchstens durch Grundfreiheiten bei kollektiver Macht c) Beitrittsfreiheit d) politische Parteien ohne eigenes Grundrecht 2. Beeinträchtigung a) Zwangsmitgliedschaft, außer in öffentlich-rechtlicher Vereinigung b) kein Schutz vor privatem Beitrittszwang mit drohendem Arbeitsplatzverlust c) Streikeinschränkung o. -verbot
225 226 227 228 229 230
Lang, in: Tettinger/Stern, Art. 31 Rn. 4. Bernsdorff/Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2002, S. 217, 325. Krebber, in: Calliess/Ruffert, Art. 31 GRCh Rn. 2. Offen bei Lang, in: Tettinger/Stern, Art. 31 Rn. 15; Dorfmann, Soziale Gewährleistungen in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2002, S. 53. Bernsdorff, in: Meyer, Art. 12 Rn. 21. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 12 GRCh Rn. 17.
F. Wirtschaftsgrundrechte
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3. Rechtfertigung a) Beitrittszwang: grundsätzlich rechtfertigungsfähig b) Parteienverbote: Gesamtsicht; nur bei Antastung demokratischer Kerngehalte c) Streikblockaden höchstens gegen Sozialdumping
F. Wirtschaftsgrundrechte Die EGRC enthält drei Wirtschaftsgrundrechte: die Berufs-, die Unternehmer- und 1112 die Eigentumsfreiheit. I. Berufsfreiheit 1. Beruf Der Schlüsselbegriff zur Definition des Anwendungsbereichs von Art. 15 EGRC ist der Beruf. An ihn ist das Recht der freien Berufsausübung und der vorgelagerten Berufswahl geknüpft. Er bildet zugleich den Rahmen, in dem das gleichfalls aufgeführte Recht zu arbeiten wahrgenommen werden kann. Art. 15 EGRC schützt die Berufsfreiheit umfassend und differenziert nicht zwischen selbstständigen und unselbstständigen Tätigkeiten. Beide sind gleichermaßen umfasst, wie auch Art. 15 Abs. 2 EGRC belegt, wo sowohl auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit als auch auf die Selbstständigenfreiheiten der Niederlassung und der Dienstleistungserbringung verwiesen wird. Die berufliche Tätigkeit ist daher europaweit einheitlich und nach objektiven Kriterien zu bestimmen, und zwar weit und nicht einschränkend, wird doch der Anwendungsbereich eines elementaren Grundrechts festgelegt.231 Erforderlich für einen Beruf ist eine tatsächliche und echte Tätigkeit, die nicht einen so geringen Umfang hat, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellt.232 Es werden für eine bestimmte Zeit und damit für eine gewisse Dauer Leistungen erbracht, die vergütet werden.233 Voraussetzung ist mithin ein gewisser wirtschaftlicher Wert.234 Dann ist eine Leistung auch Bestandteil des Wirtschaftslebens, was Grundvoraussetzung für eine selbstständige Erwerbstätigkeit ist. Ausdruck dessen ist, dass sie nur gegen Entgelt ausgeübt wird. Damit trägt die betroffene wirtschaftliche Tätigkeit regelmäßig zum Lebensunterhalt bei. Diese Bedingung wird daher ebenfalls für das Vorliegen eines Berufs aufgestellt,235 allerdings nur vom BVerfG,236 nicht jedoch vom EuGH im Rahmen 231 232 233 234 235 236
Vgl. EuGH, Rs. 66/85, Slg. 1986, 2121 (2144, Rn. 16 f.) – Lawrie-Blum zur Arbeitnehmerfreizügigkeit. Etwa Nowak, in: Heselhaus/Nowak, § 30 Rn. 38 a.E. Vgl. EuGH, Rs. C-337/97, Slg. 1999, I-3289 (3310 f., Rn. 13) – Meeusen. EuGH, Rs. 66/85, Slg. 1986, 2121 (2144, Rn. 18) – Lawrie-Blum für die Arbeitnehmerfreizügigkeit. Penski/Elsner, DÖV 2001, 265 (271). S. BVerfGE 7, 377 (397).
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der Grundfreiheiten. Hintergrund ist, dass das BVerfG die Berufsfreiheit als Selbstverwirklichung und Persönlichkeitsentfaltung ansieht, woraus eine entsprechende Kernfunktion der beruflichen Tätigkeit und damit der Charakter als Lebensaufgabe und zugleich Beitrag zur gesellschaftlichen Gesamtleistung folgen soll.237 Zwar steht auch an der Spitze der EGRC die Menschenwürde. Daher kann die Berufsfreiheit in der EGRC als Entfaltung der Anlagen des Einzelnen im gesamtgesellschaftlichen Kontext angesehen werden. Indes bleibt der stärkere Bezug auf die wirtschaftliche Tätigkeit aufgrund der engen Verbindung zu den Grundfreiheiten nach Art. 15 Abs. 2 EGRC, für die darin das Hauptunterscheidungsmerkmal liegt. Deshalb zählt letztlich die wirtschaftliche Tätigkeit als solche und nicht ihr Beitrag zum Lebensunterhalt. Ebenso wenig kann damit notwendigerweise eine Gewinnerzielungsabsicht 1117 gefolgert werden. Erforderlich ist nur eine gewisse wirtschaftliche Relevanz für den Einzelnen. Reine Hobbytätigkeiten und Liebhabereien werden damit nicht umfasst. Allerdings genügen auch Teilzeitbeschäftigungen und Gelegenheitsarbeitsverhältnisse sowie zeitlich befristete Beschäftigungen von einigen Monaten wie im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit.238 Mehrere parallel ausgeübte Tätigkeiten können jeweils für sich einen Beruf darstellen, auch wenn der Lebensunterhalt nicht aus einer von ihnen bestritten werden kann. Selbst die zusätzliche Abhängigkeit von staatlichen Mitteln steht dem Eingreifen der Berufsfreiheit nicht entgegen.239 Das gilt etwa für Tätigkeiten mit Gehältern, die vom Staat aufgestockt werden. Infolge der europarechtlichen Dimension der wirtschaftlichen Tätigkeit kann es 1118 nicht darauf ankommen, ob es sich um eine national erlaubte oder verbotene bzw. als sittenwidrig eingestufte Tätigkeit handelt. Ansonsten könnten die Mitgliedstaaten nach eigenem Belieben wichtige wirtschaftliche Freiheitsrechte des Bürgers einschränken. Um eine europaweit einheitliche Anwendung sicherzustellen, ist höchstens daran zu denken, in allen Mitgliedstaaten bzw. durch Europarecht verbotene Tätigkeiten aus dem Schutzbereich der Berufsfreiheit auszuklammern.240 2. Umfasste Betätigungen a) Berufswahl und Berufsausübung 1119 Schon in einem seiner ersten Urteile zur Berufsfreiheit unterscheidet der EuGH zwischen der Aufnahme eines Berufs und dessen freier Ausübung. 241 Die Berufsausübung erstreckt sich auf die näheren Modalitäten der beruflichen Tätigkeit, etwa wo und bei wem jemand arbeitet, mithin die Wahl des Ortes und des Ar-
237 238
239 240 241
S. BVerfGE 7, 377 (397). S. EuGH, Rs. 53/81, Slg. 1982, 1035 (1050, Rn. 15 f.) – Levin; Rs. C-357/89, Slg. 1992, I-1027 (1059 f., Rn. 9 ff.) – Raulin; Rs. C-413/01, Slg. 2003, I-13187 (13230 f., Rn. 32) – Ninni-Orasche. Für die Arbeitnehmerfreizügigkeit EuGH, Rs. 139/85, Slg. 1986, 1741 (1750 f., Rn. 14) – Kempf. Dafür im Bereich der Berufsfreiheit Nowak, in: Heselhaus/Nowak, § 30 Rn. 39 a.E. EuGH, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727 (3750, Rn. 32) – Hauer.
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beitgebers.242 Erschwert wird die Abgrenzung dadurch, dass gesetzlich fixierte Berufsbilder, woran das BVerfG in Deutschland anknüpft, 243 und Traditionen auf europäischer Ebene nicht einheitlich sind. Soweit daher europäische Regelungen zu beruflichen Tätigkeiten erfolgen, kann höchstens an normative Typisierungen in diesen angeknüpft werden. Solche finden sich namentlich in der Berufsanerkennungs-244 und der Dienstleistungsrichtlinie.245 Darin werden aber verschiedene Berufstypen zu Obergruppen zusammengefasst. Daher kommt dieser Einteilung nur begrenzte Bedeutung zu. Auch wegen dieser Schwierigkeiten erweist es sich als Vorteil, dass nach den Maßstäben des EuGH eine nähere Abgrenzung von Berufswahl und Berufsausübung nicht zu erfolgen hat. Rückwirkungen auf die Berufswahl haben vor allem Qualifikationsanforde- 1120 rungen, um eine Tätigkeit aufzunehmen. Daher sind auch die Berufsanerkennungs- und die Dienstleistungsrichtlinie an dem Grundrecht der Berufsfreiheit zu messen.246 b) Vertrauensschutz Grundlage einer wirksamen Ausübung und auch Ergreifung eines Berufs ist, sich 1121 auf bestehende Regelungen in Normen oder durch Verwaltungsentscheidungen und sonstiges staatliches Verhalten verlassen zu können. Insbesondere im gewerblichen und industriellen Bereich ist ansonsten eine langfristige Planung unmöglich. Sie ist aber Voraussetzung für effektive Investitionen, ja überhaupt für das längerfristige Anbieten von Dienstleistungen und das Produzieren von Waren. Daher ist auch der Vertrauensschutz Ausfluss der Berufsfreiheit. Umso mehr Bedenken erweckt es, dass der EuGH, welcher den Vertrauensschutz als allgemeinen Rechtsgrundsatz ansieht und nicht grundrechtlich fundiert, insbesondere normative Änderungen auch gravierender Art regelmäßig als zulässig ansieht, jedenfalls wenn sie erst für die Zukunft wirken.247 Beispiel Agrarmarktorganisation: So prüft der EuGH insbesondere die Veränderung von Rahmenbedingungen innerhalb einer Marktorganisation der europäischen Agrarordnung nicht spezifisch am Maßstab der Berufsfreiheit.248 Lediglich dann greift der EuGH mittlerweile auf die Berufsausübungsfreiheit zurück, wenn eine Marktorganisation neu errichtet wird und damit solche Wirtschaftsteilnehmer erfasst, die bislang noch nicht einbezogen werden. 249
242 243 244
245 246 247 248 249
EuGH, Rs. C-132 u.a./91, Slg. 1992, I-6577 (6609, Rn. 32) – PCO Stauereibetrieb. BVerfGE 75, 246 (265); 13, 97 (117). RL 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7.9.2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, ABl. L 255, S. 22, zuletzt geändert durch VO (EG) Nr. 1430/2007, ABl. 2007 L 320, S. 3. RL 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12.12.2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt, ABl. L 376, S. 36. Im Hinblick auf die Grundfreiheiten ausführlich Frenz, Handwerkliche Qualifikation und EU-Recht, 2006. Ausführlich dazu Frenz, Europarecht 4, Rn. 3009 f., 3012 ff. EuGH, Rs. 230/78, Slg. 1979, 2749 (2768, Rn. 22) – Eridania. S. EuGH, Rs. C-280/93, Slg. 1994, I-4973 (5066, Rn. 81) – Bananen.
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c) Freiheit von Arbeit 1122 Art. 5 Abs. 2 EGRC schützt vor Zwangs- oder Pflichtarbeit. Das schließt aber nur aus, dass die Arbeit aufgrund von körperlichem oder moralischem Zwang sowie unter Androhung irgendeiner Strafe unfreiwillig geleistet werden muss. 250 Damit ist die bloße Arbeitsverweigerung nicht umfasst. Daher bleibt immer noch ein Anwendungsbereich für ein Grundrecht der negativen Berufsfreiheit.251 d) Recht auf Arbeit? 1123 An erster Stelle nennt Art. 15 Abs. 1 EGRC das Recht zu arbeiten. Es wurde damit aber kein „Recht auf Arbeit“ verankert.252 Die Berufsfreiheit wurde bewusst als Freiheitsrecht festgeschrieben. e) Rückbindung an die Grundfreiheiten 1124 Art. 15 Abs. 2 EGRC nimmt mit der Gewährleistung der Freiheit, in jedem Mitgliedstaat Arbeit zu suchen, zu arbeiten, sich niederzulassen oder Dienstleistungen zu erbringen, die Garantien der Arbeitnehmerfreizügigkeit, der Niederlassungsfreiheit und der Dienstleistungsfreiheit auf. Indem damit praktisch auf diese Grundfreiheiten verwiesen wird, gelten die dafür maßgeblichen Regeln. Insbesondere bedarf es eines grenzüberschreitenden Bezugs, um nicht die begrenzte Reichweite der Grundfreiheiten über Art. 15 Abs. 2 EGRC auszuhöhlen.253 f) Gleichbehandlung von Drittstaatsangehörigen (Art. 15 Abs. 3 EGRC) 1125 Wie die Grundfreiheiten enthält auch Art. 15 Abs. 3 EGRC ein Diskriminierungsverbot, allerdings bezogen auf Drittstaatsangehörige, die aus den aufgeführten personenbezogenen Grundfreiheiten nicht berechtigt sind. Zugleich ist diese Vorschrift enger als die Grundfreiheiten, weil sie kein Beschränkungsverbot enthält, sondern auf einen Gleichbehandlungsanspruch in den Arbeitsbedingungen beschränkt bleibt. Wie die Arbeitnehmerfreizügigkeit entfaltet die Vorschrift unmittelbare Drittwirkung, weil sie ansonsten weitestgehend leer liefe.254 Indem Art. 15 Abs. 3 EGRC voraussetzt, dass die Staatsangehörigen dritter 1126 Länder im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten arbeiten dürfen, wird ein Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates gerade nicht garantiert;255 die Freizügigkeit als solche kommt also nur Unionsbürgern nach Art. 15 Abs. 2 EGRC zu.
250 251 252 253 254 255
EGMR, Urt. vom 23.11.1983, Nr. 8919/80 (Rn. 32), EuGRZ 1985, 477 (481) – Van der Mussele/Belgien. Bejahend Rengeling/Szczekalla, Rn. 785 f.; abl. Bernsdorff, in: Meyer, Art. 15 Rn. 14. S. Tettinger, NJW 2001, 1010 (1014). Blanke, in: Tettinger/SternArt. 15 Rn. 51; a.A. Grabenwarter, DVBl. 2001, 1 (5). S. Frenz, Europarecht 4, Rn. 2531 ff.; a.A. Jarass, § 20 Rn. 25. Bernsdorff, in: Meyer, Art. 15 Rn. 21 a.E.
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3. Beeinträchtigung a) Art. 15 Abs. 3 EGRC Das Gleichbehandlungsgebot nach Art. 15 Abs. 3 EGRC wird beeinträchtigt, 1127 wenn Staatsangehörige dritter Länder, die im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten arbeiten dürfen, Arbeitsbedingungen unterliegen, die nicht denen der Unionsbürgerinnen und Unionsbürger entsprechen. Diese müssen also schlechter als ein Inländer behandelt werden, und zwar im Rahmen der gleichen oder einer gänzlich vergleichbaren Tätigkeit.256 Bejaht man eine unmittelbare Drittwirkung, 257 ist es gleichgültig, ob die Schlechterbehandlung durch öffentliche oder private Arbeitgeber erfolgt. Andernfalls bedarf es bei Schutzlücken konkretisierender normativer Regelungen, die zumindest nicht offensichtlich ungeeignet sind. Zudem müssen sich Unionsorgane an ihre begrenzten Kompetenzen nach Art. 153 AEUV halten. Damit geht es vor allem um eine gemeinsame Lösung mit den Mitgliedstaaten und eine Vorgabe von Mindeststandards, möglichst unter Anknüpfung an bestehende nationale Regelungen. b) Art. 15 Abs. 2 EGRC Indem Art. 15 Abs. 2 EGRC die Grundfreiheiten aufgreift, ohne einen weiter 1128 gehenden Gehalt zu umfassen, bemisst sich nach deren Regeln, inwieweit eine Beeinträchtigung vorliegt. c) Art. 15 Abs. 1 EGRC Der Schwerpunkt von Beeinträchtigungen der Berufsfreiheit liegt auf Eingriffen in 1129 Art. 15 Abs. 1 EGRC und damit in das übergreifende Berufsfreiheitsrecht. Da sowohl die Berufswahl als auch die Berufsausübung umfasst werden, sind Eingriffe in beide Gebiete gleichermaßen relevant. Weil allerdings eine Beeinträchtigung der Berufswahl regelmäßig tiefer gehend in die Freiheitssphäre des Bürgers eingreift, liegt darin der schwerwiegendere Eingriff. Er ist daher zuerst zu prüfen. Dabei kommt es entscheidend auf die Auswirkung einer Maßnahme auf die Be- 1130 rufsfreiheit an, nicht aber auf ihre formale Gestalt oder ihre Wirkungsweise.258 Damit ist es gleichgültig, ob eine Beeinträchtigung in einer normativen Regelung enthalten ist oder auf einem nicht normativen Verhalten beruht. Erfasst werden daher auch Warnungen und Empfehlungen, etwa bestimmte Produkte nicht zu kaufen. Indirekt für die eigene Wirtschaftsposition relevante Vorgänge können ebenfalls eingreifen, so wenn Subventionen an Konkurrenten bezahlt werden oder europarechtlich eine Konkurrenz durch öffentliche Unternehmen veranlasst wird.259 Bei mittelbaren Eingriffen ist entscheidend, dass die geschädigten Parteien für die beeinträchtigende Situation nicht selbst verantwortlich sind.260
256 257 258 259 260
Jarass, § 20 Rn. 30. S.o. Rn. 280 ff. EuGH, Rs. C-84/95, Slg. 1996, I-3953 (3986, Rn. 22) – Bosphorus. Blanke, in: Tettinger/Stern, Art. 15 Rn. 41. So EuGH, Rs. C-84/95, Slg. 1996, I-3953 (3986, Rn. 22) – Bosphorus.
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Beispiel Klimaschutz: Aktuelles Beispiel ist der Klimaschutz durch die Emissionshandelsrichtlinie.261 Der Emissionshandel schränkt die Berufsausübung bereits dadurch ein, dass für mit der Industrieproduktion verbundene Verschmutzungen Zertifikate erworben werden müssen, wie es nunmehr auf europäischer Ebene in größerem Umfange als bisher vorgesehen ist, mithin eine Verhaltenspflicht auferlegt wird.
Allein schon die Beteiligung am Emissionshandelssystem mit den damit verbundenen Anzeige-, Dokumentations- und Abgabepflichten beeinträchtigt die Berufsausübung direkt und stellt damit einen unmittelbaren Eingriff dar. Nur indirekt werden die Erwerbsmöglichkeiten negativ berührt. Ebenso mittelbar werden die Produktionsverfahren beeinflusst, indem diese der angestrebten Reduktion von CO2-Emissionen angepasst werden müssen. Auch darin ist eine Handlungspflicht mit Eingriffscharakter zu sehen,262 die allerdings nur indirekt wirkt, weil sich ein Unternehmen durch den Kauf von Emissionshandelszertifikaten von dieser Pflicht lösen kann. Macht die für die dritte Emissionshandelsperiode wesentlich umfassender ge1132 plante Notwendigkeit von Zertifikatkäufen die weitere Ausübung oder die Aufnahme eines Gewerbes unmöglich, wird die Berufswahlfreiheit beeinträchtigt.263 Aber auch insoweit wird eine mittelbare Grundrechtsbeeinträchtigung vorliegen, verbietet doch der Staat nicht die Ausübung bzw. die Aufnahme einer bestimmten Tätigkeit, sondern erzeugt höchstens eine faktische abschreckende Wirkung bzw. errichtet eine finanzielle Hürde, die sich erst durch die Herausbildung eines entsprechend hohen Zertifikatpreises am Markt ergibt. 1131
4. Rechtfertigung 1133 Bei der Rechtfertigungsprüfung unterscheidet der EuGH nicht näher zwischen Berufsausübung und Berufswahl. Er gibt allerdings einen Hinweis, dass die Einschränkungen der Berufsausübung weniger gewichtig sind. 264 Allerdings kann auch die Berufsausübung in schwerwiegender Weise tangiert 1134 werden. Beispiel dafür ist der Emissionshandel. Je teurer die Zertifikate werden, desto eher sind die betroffenen Branchen in ihrer Berufsausübung betroffen, ohne dass sie notwendigerweise ihre Produktion stilllegen. Sie werden diese höchstens reduzieren bzw. nur unter erschwerten wirtschaftlichen Voraussetzungen wahrnehmen können.
261 262 263
264
Ausführlich dazu Frenz, Emissionshandelsrecht, 2. Aufl. 2008, § 9 TEHG Rn. 49 sowie Rn. 52 ff. zur Verhältnismäßigkeit. Giesberts/Hilf, Handel mit Emissionszertifikaten, 2002, Rn. 308. S. Art. 9 RL 2003/87/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13.10.2003 über ein System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten in der Gemeinschaft und zur Änderung der Richtlinie 96/61/EG des Rates, ABl. L 275, S. 32 i.V.m. Beschluss der Kommission vom 22.10.2010 zur Anpassung der gemeinschaftsweiten Menge der im Rahmen des EU-Emissionshandelssystems für 2013 zu vergebenden Zertifikate und zur Aufhebung des Beschlusses 2010/384/EU, ABl. L 279, S. 34; Burgi, NJW 2003, 2486 (2490 f.). Vgl. EuGH, Rs. C-306/93, Slg. 1994, I-5555 (5582, Rn. 24) – Winzersekt; s. auch Rs. 234/85, Slg. 1986, 2897 (2912, Rn. 9) – Keller.
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Im Gegensatz zu Art. 12 Abs. 1 GG enthält Art. 15 EGRC keinen ausdrücklichen Gesetzesvorbehalt. Dieser wird aber allgemein in Art. 52 Abs. 1 S. 1 EGRC angeordnet. Begrenzungen sind möglich, „die durch die dem allgemeinen Wohl dienenden Ziele der Gemeinschaft gerechtfertigt sind“.265 Dabei kommt es nur auf die europäischen Ziele und Gemeinwohlinteressen an, nicht auf die nationalen. Ansonsten würde der Schutz der Berufsfreiheit gleichsam „nationalisiert“. Entsprechend einer Vielzahl von Entscheidungen im Bereich der Landwirtschaft spielten bislang oft Zielsetzungen agrarpolitischer Natur eine Rolle. So ging es um die Herstellung eines dauerhaften Gleichgewichts auf dem Weinmarkt sowie eines Preisniveaus, das einerseits für die Erzeuger einträglich und andererseits für die Verbraucher angemessen ist – bei Verbesserung der Qualität.266 Neben Zielsetzungen aus der Agrarpolitik bediente sich der EuGH verschiedener Rechtfertigungsgründe. Besonders herauszuheben ist der Schutz des Urheberrechts als Bestandteil des gewerblichen kommerziellen Eigentums nach Art. 36 AEUV. Hier bezog sich der EuGH sogar eigens auf eine Parallele der Berufsfreiheit zu den Grundfreiheiten.267 Weitere Gesichtspunkte waren – parallel zu den Grundfreiheiten – Aspekte wie der Umweltschutz,268 die jedenfalls zu dem Zeitpunkt, als sie erstmals herangezogen wurden, noch nicht vertraglich verankert waren. Das gilt auch für den Verbraucherschutz269 sowie die Volksgesundheit.270 Damit verliert die Frage erheblich an Bedeutung, ob die Ziele vertraglich niedergelegt sein müssen. 271 Die Rechtsprechung des EuGH deutet insgesamt darauf, dass er genauso verfährt wie bei den Grundfreiheiten, wo auch nicht ausdrücklich vertraglich verankerte, zwingende Gemeinwohlbelange als Rechtfertigungsgrund herangezogen werden. Weiter gehend wurden – ebenfalls vergleichbar zu den Grundfreiheiten – völkerrechtliche Verpflichtungen herangezogen, um eine Beeinträchtigung zu rechtfertigen.272 Bisheriger Ansatz für den Klimaschutz ist das Kyoto-Protokoll. Der Schwerpunkt der Prüfung des EuGH liegt darin, ob eine Beschränkung tatsächlich Gemeinwohlzielen der Union entspricht und den Wesensgehalt der Berufsfreiheit nicht antastet. Zwar wird die Verhältnismäßigkeit erwähnt, aber unmittelbar neben das Verbot eines nicht tragbaren Eingriffs gestellt und auf die Antastung des Wesensgehalts bezogen.273 Allerdings hat der EuGH nicht näher definiert, wann der Wesensgehalt berührt ist. Er folgert vielmehr, dass die gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt 265 266 267 268 269 270 271 272 273
EuGH, Rs. 4/73, Slg. 1974, 491 (507 f., Rn. 14) – Nold. EuGH, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727 (3748, Rn. 25) – Hauer. EuGH, Rs. C-200/96, Slg. 1998, I-1953 (1980, Rn. 24) – Metronome Musik. EuGH, Rs. 240/83, Slg. 1985, 531 (549, Rn. 13) – ADBHU. EuGH, Rs. 234/85, Slg. 1986, 2897 (2913, Rn. 14) – Keller; s. Art. 169 AEUV. EuGH, Rs. C-183/95, Slg. 1997, I-4315 (4375, Rn. 43) – Affish; Rs. C-210/03, Slg. 2004, I-11893 (11927, Rn. 74) – Swedish Match; s. Art. 168 AEUV. S. Frenz, Europarecht 4, Rn. 639 ff. m.w.N. S. EuGH, Rs. C-280/93, Slg. 1994, I-4973 (5066, Rn. 82) – Bananen; Rs. C-200/96, Slg. 1998, I-1953 (1980, Rn. 25) – Metronome Musik. S. etwa EuGH, Rs. C-306/93, Slg. 1994, I-5555 (5581, Rn. 22) – Winzersekt; auch noch Rs. C-210/03, Slg. 2004, I-11893 (11926, Rn. 72) – Swedish Match.
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betroffen sind, wenn es sich um einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff handelt. 274 Daher wird ein unverhältnismäßiger Eingriff der Wesensgehaltstheorie gleichgesetzt. 275 Die Prüfungsschärfe des EuGH im Bereich der Berufsfreiheit ist auch deshalb gering, weil er dem europäischen Gesetzgeber ein weites Ermessen zubilligt. Daher kann die Rechtmäßigkeit einer „erlassenen Maßnahme nur dann beeinträchtigt sein …, wenn diese Maßnahme zur Erreichung des Zieles, das das zuständige Organ verfolgt, offensichtlich ungeeignet ist“.276 Weiter stellt der EuGH nur darauf ab, ob die Beschränkung der Berufsfreiheit 1141 im Hinblick auf das angestrebte Ziel verhältnismäßig ist und einen tragbaren Eingriff darstellt. Damit stellt er lediglich das verfolgte Ziel der gegebenen Grundrechtsbeeinträchtigung gegenüber.277 Damit bedarf es noch einer Angleichung in der Rechtsprechung des EuGH, dass dem elementaren Wirtschaftsgrundrecht der Berufsfreiheit tatsächlich zu diesem Charakter verholfen wird. Regelmäßig muss sich daher an die Eignungsprüfung eine auch freiheitsbezogene Erforderlichkeitskontrolle anschließen, ebenso die Prüfung der Angemessenheit, dass nämlich die mit einer Maßnahme erreichten Vorteile für das angestrebte Ziel die individuellen Grundrechtsbeeinträchtigungen nicht überwiegen, wie dies in der neueren EuGHJudikatur hervortritt.278 5. Übergangsbestimmungen 1142 Die Berufsfreiheit kann deshalb (besonders scharf) beeinträchtigt werden, weil eine Maßnahme zu rasch greift, mithin keine Übergangsfrist lässt. Das ist etwa dann möglich, wenn eine gemeinsame Marktorganisation im Bereich der Landwirtschaft eingeführt wird.279 In diesen Fällen kann zwar die Grundrechtsbeeinträchtigung als solche verhältnismäßig sein, aber nicht in der vorgesehenen Schnelle.280 Insoweit bestehen vielfach Verbindungen zum Vertrauensschutz. Eine Übergangsfrist ist umso eher und in umso längerem Ausmaß geboten, wie schützenswertes Vertrauen entfaltet wurde, das jedenfalls nicht sofort enttäuscht werden darf. Erforderlich ist, dass die Wirtschaftsteilnehmer bislang mit normaler Sorgfalt 1143 im Hinblick auf die bestehenden Regelungen gehandelt haben und auch nicht Kenntnis haben konnten, dass sich eine Neuregelung in Gestalt einer gemeinsamen Marktorganisation ergibt. 281
274 275 276 277 278 279 280 281
EuGH, Rs. C-306/93, Slg. 1994, I-5555 (5581, Rn. 22) – Winzersekt. S. etwa Pernice, NJW 1990, 2409 (2416); Huber, EuZW 1997, 517 (521). EuGH, Rs. C-306/93, Slg. 1994, I-5555 (5581, Rn. 21) – Winzersekt; ebenso etwa Rs. C-280/93, Slg. 1994, I-4973 (5068, Rn. 89 f.) – Bananen.; st. Rspr. S. auch EuGH, Rs. C-84/95, Slg. 1996, I-3953 (3986, Rn. 23) – Bosphorus; Rs. C-183/95, Slg. 1997, I-4315 (4375, Rn. 42) – Affish. S.o. Rn. 985. EuGH, Rs. C-68/95, Slg. 1996, I-6065 (6100, Rn. 40) – T.Port. Vgl. EuGH, Rs. C-463/01, Slg. 2004, I-11705 (11760 f., Rn. 79 ff.) – Kommission/ Deutschland; Rs. C-309/02, Slg. 2004, I-11763 (11821, Rn. 80) – Radlberger. EuGH, Rs. C-68/95, Slg. 1996, I-6065 (6100, Rn. 41) – T.Port.
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Ein anderer Punkt, um eine Verhältnismäßigkeitsprüfung positiv ausfallen zu 1144 lassen, sind Härtefallregelungen. Dadurch werden Extremfälle aufgefangen, die im Einzelfall die Verhältnismäßigkeit und dabei vor allem die Angemessenheit problematisch erscheinen lassen. Dies hat auch der EuGH im Hinblick auf die Bananenmarktordnung geprüft.282 6. Prüfungsschema zu Art. 15 EGRC 1. Schutzbereich a) Jedermann-Recht auch für Drittstaatsangehörige sowie öffentliche Unternehmen bei erwerbswirtschaftlicher Aktivität b) Beruf: jede selbstständige oder unselbstständige Tätigkeit von gewisser Dauer und gewissem wirtschaftlichen Wert, gegen Entgelt erbracht und nicht völlig untergeordnet oder unwesentlich c) Berufswahl- und Berufsausübungsfreiheit d) Freiheit von, aber kein Recht auf Arbeit e) Maßgeblichkeit Arbeitnehmerfreizügigkeit, Niederlassungsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit gemäß Art. 15 Abs. 2 i.V.m. Art. 52 Abs. 2 EGRC f) Diskriminierungsverbot für Drittstaatsangehörige gemäß Art. 15 Abs. 3 EGRC auch zulasten Privater 2. Beeinträchtigung a) jede unmittelbare oder mittelbare Regelung, die einen Nachteil für den Grundrechtsinhaber bewirkt, unabhängig von der formalen Gestalt oder Wirkungsweise der Maßnahme b) Berufswahlfreiheit ist als schwerwiegendste Berufsbeeinträchtigung vor der Berufsausübungsfreiheit zu prüfen c) Art. 15 Abs. 2: Prüfung der jeweiligen Grundfreiheit d) Art. 15 Abs. 3 EGRC: Schlechterstellung von Drittstaatsangehörigen in Bezug auf die Arbeitsbedingungen bei gleicher oder gänzlich vergleichbarer Tätigkeit 3. Rechtfertigung a) einheitlicher Rechtfertigungsmaßstab des Art. 52 Abs. 1 EGRC für Berufswahl- und Berufsausübungsregelungen b) gesetzliche Grundlage c) Gemeinwohlziel: parallel zu den Grundfreiheiten auch Verbraucherschutz, Volksgesundheit, völkerrechtliche Verpflichtungen d) Verhältnismäßigkeit mit enger werdendem Beurteilungsspielraum; ggf. Übergangsbestimmungen e) Wesensgehaltsgarantie
282
S. EuGH, Rs. C-280/93 R, Slg. 1993, I-3667 (3680, Rn. 41) – Bananen (einstweiliger Rechtsschutz).
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II. Unternehmerische Freiheit 1. Bedeutung 1146 Die unternehmerische Freiheit findet sich als Art. 16 EGRC zwischen der Berufsfreiheit des Art. 15 EGRC und dem Eigentumsrecht nach Art. 17 EGRC. Schon diese systematische Verklammerung mit den anderen beiden Wirtschaftsgrundrechten verdeutlicht den Bezug der unternehmerischen Freiheit zur Berufsfreiheit und ihre Brückenfunktion zum Eigentumsrecht. Gemeinschaftlich bilden sie die Trias der wirtschaftsbezogenen Grundrechte.283 Die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit 284 und Unternehmerfreiheit285 hatte 1147 der Gerichtshof bereits frühzeitig anerkannt. Synonym spricht der EuGH ferner von wirtschaftlicher Handlungsfreiheit.286 Auch der Begriff der unternehmerischen Freiheit ist inzwischen vom EuGH aufgegriffen worden.287 2. Schutzbereichsbezogene Konzeption des Art. 16 EGRC 1148 Art. 16 EGRC anerkennt die unternehmerische Freiheit nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten. Danach lässt sich streiten, ob das Unionsrecht sowie die Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten zur Konkretisierung des Schutzbereiches heranzuziehen sind288 oder aufgrund der Bezugnahme auf die mitgliedstaatliche Ebene als sogenannte vertikale Schrankenregelung Bedeutung erlangen. 289 Indes kann die Formulierung des Art. 16 EGRC schon deshalb nicht als zusätz1149 liche Schranke gedeutet werden, weil der ansonsten über die Berufsfreiheit nach Art. 15 EGRC gewährleistete Schutz der unternehmerischen Freiheit auch lediglich unter der allgemeinen Schrankenregelung des Art. 52 Abs. 1 EGRC gestanden hätte. Der EuGH hat der unternehmerischen Freiheit als Teilgewährleistung der Berufsfreiheit insoweit einen ihr gleichwertigen Schutzstandard eingeräumt.290 Daher konnte dieses Schutzniveau durch die Hervorhebung der unternehmerischen Freiheit in Art. 16 EGRC nicht hinter den durch den EuGH geschaffenen Standard zurückfallen.291 Ist die Formulierung des Art. 16 EGRC als Hinweis auf die Konkretisierung der 1150 unternehmerischen Freiheit durch das Unionsrecht, die nationalen Rechtsvorschrif283 284 285 286 287 288 289 290 291
Etwa Rengeling, DVBl. 2004, 453 (459). EuGH, Rs. 4/73, Slg. 1974, 491 (507 f., Rn. 14) – Nold. EuGH, Rs. C-143/88 u. 92/89, Slg. 1991, I-415 (552, Rn. 72 f.) –Süderdithmarschen. EuGH, Rs. C-418/01, Slg. 2004, I-5039 (5085, Rn. 48) – IMS Health. EuGH, Rs. C-184 u. 223/02, Slg. 2004, I-7789 (7846 f., Rn. 51) – Spanien und Finnland/Parlament und Rat. Blanke, in: Tettinger/Stern, Art. 16 Rn. 2, 7 f. Grabenwarter, DVBl. 2001, 1 (5); Nowak, in: Heselhaus/Nowak, § 31 Rn. 24. Vgl. EuGH, Rs. C-143/88 u. 92/89, Slg. 1991, I-415 (552, Rn. 72 f.) – Süderdithmarschen. So ebenfalls Rengeling, DVBl. 2004, 453 (459); v. Danwitz/Röder, in: Stern/Tettinger (Hrsg.), Die europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 31 (36).
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ten und staatlichen Gepflogenheiten zu verstehen, können diese die unternehmerische Freiheit nur insoweit einschränken, als sie auch die Voraussetzungen der allgemeinen Schrankenregelung des Art. 52 Abs. 1 EGRC erfüllen.292 3. Persönlicher Schutzbereich Neben den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten sind auch Angehörige von Dritt- 1151 staaten und Staatenlose Träger der unternehmerischen Freiheit. 293 Auch wenn damit verschiedene Personengruppen berechtigt sind, die miteinander in Geschäftsbeziehungen stehen, entfaltet Art. 16 EGRC grundsätzlich keine Drittwirkung und gilt damit nicht unmittelbar unter Privaten; immerhin wirkt er als Auslegungsmaßstab in das Privatrecht hinein.294 4. Sachlicher Schutzbereich a) Unternehmensbegriff Die unternehmerische Freiheit ist schon ihrem Wortlaut nach auf ein Unternehmen 1152 oder – aktivisch formuliert – auf eine Unternehmung angelegt. Jede von Art. 16 EGRC gewährleistete Freiheit setzt entsprechend eine unternehmerische Betätigung als Ausgangspunkt ihrer freien Ausübung voraus.295 Der Unternehmensbegriff des Art. 16 EGRC ist zunächst wie jeder andere europarechtliche Begriff nach einheitlichen Maßstäben zu bilden und daher nicht davon abhängig, ob ein Unternehmen eine entsprechende Anerkennung im mitgliedstaatlichen Recht findet. Unternehmerisch wird tätig, wer selbstständig und dauerhaft eine anbietende 1153 Tätigkeit am Markt gegen Entgelt erbringt. Der Bezug zwischen unternehmerischer Freiheit und dem Gewerbebegriff folgt aus der früheren Verankerung in der Berufsfreiheit.296 Natürliche Personen nehmen die unternehmerische Freiheit als Einzelunter- 1154 nehmer wahr, juristische Personen als Gesellschaftsunternehmen. Die Gesellschafter einer verselbstständigten juristischen Person sind jedoch selbst keine Unternehmer. Eine gesellschaftsrechtliche Beteiligung selbst genügt noch nicht den Anforderungen an eine Unternehmung, da die Verwaltung von Gesellschaftsanteilen allein keine anbietende Tätigkeit am Markt darstellt. b) Die Freiheiten des Unternehmens Die unternehmerische Freiheit ist in einem weiten Sinn zu verstehen. 297 Insofern 1155 ist grundsätzlich jede Wirtschafts- oder Geschäftstätigkeit als Ausprägung der unternehmerischen Freiheit zu qualifizieren.298 292 293 294 295 296 297
Rengeling/Szczekalla, Rn. 796. Jarass, § 21 Rn. 9; Rengeling, DVBl. 2004, 453 (459); implizit EuGH, Rs. C-84/95, Slg. 1996, I-3953 (3980, Rn. 2 i.V.m. 19 ff.) – Bosphorus. Jarass, § 21 Rn. 3. Jarass, § 21 Rn. 6. Zur Diskussion im Grundrechtekonvent Bernsdorff, in: Meyer, Art. 16 Rn. 4 ff. Nowak, in: Heselhaus/Nowak, § 31 Rn. 28.
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Wie auch bei der Berufsfreiheit sind hingegen bloße unternehmerische Interessen oder Aussichten nicht von Art. 16 EGRC geschützt, da solche Risiken dem Wesen einer jeden wirtschaftlichen Tätigkeit immanent sind.299 Die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit garantiert daher kein bestimmtes Geschäftsvolumen oder einen bestimmten Marktanteil.300 Die Unternehmenskonstitution ist die Keimzelle marktwirtschaftlicher Betätigung, sie geht ihr denknotwendig voraus. Deshalb sind von Art. 16 EGRC zunächst die Gründung eines Unternehmens und die Aufnahme einer unternehmerischen Betätigung geschützt.301 Der Gegenstand der Unternehmung steht nach Art und Umfang im Belieben des Unternehmers, seien es Dienstleistungen, die Erzeugung von Wirtschaftsgütern302 oder deren Vertrieb etwa in der Land-303 und Wein-304 sowie der Transportwirtschaft, 305 der Fischerei306 und im Import-/Exportgewerbe.307 Die unternehmerische Freiheit erstreckt sich auch auf die Organisation des Unternehmens.308 Die Organisationsfreiheit umfasst das Selbstbestimmungsrecht über die eigene Rechtsform, den Inhalt der Unternehmenssatzung und das Verfahren der Willensbildung sowie die Führung der Geschäfte. Der wirtschaftliche Erfolg einer Unternehmung wird wesentlich durch eine gute Unternehmensplanung beeinflusst. Die unternehmerische Freiheit muss daher auch die Möglichkeit erfassen, die Unternehmens-, Investitions-, Personal-, Finanz-, Vertriebs- und Preispolitik des Unternehmens nach eigenen Vorstellungen festzulegen. Die Vertragsfreiheit ermöglicht die Realisierung des Mehrwertes der Unternehmensleistung und wurde vom EuGH frühzeitig anerkannt. 309 Sie gründet auf der Privatautonomie.310 Der EuGH hat auch die Handelsfreiheit als Ausprägung der Berufsfreiheit anerkannt.311 Aufgrund ihres unternehmerischen Bezuges ist die Handelsfreiheit nunmehr von Art. 16 EGRC erfasst. Essenziell ist auch die Wettbewerbsfreiheit. 298 299 300 301 302
303 304 305 306 307 308 309 310 311
Bernsdorff, in: Meyer, Art. 16 Rn. 11. Bereits EuGH, Rs. 4/73, Slg. 1974, 491 (507 f., Rn. 14) – Nold. EuG, Rs. T-521/93, Slg. 1996, II-1707 (1730, Rn. 62) – Atlanta AG. Blanke, in: Tettinger/Stern, Art. 16 Rn. 10; Jarass, § 21 Rn. 7; wohl auch Nowak, in: Heselhaus/Nowak, § 31 Rn. 30. Vgl. EuGH, Rs. C-143/88 u. 92/89, Slg. 1991, I-415 (553, Rn. 76) – Süderdithmarschen; EuG, Rs. T-13/99, Slg. 2002, II-3305 (3472, Rn. 457 ff.) – Pfizer; Jarass, § 21 Rn. 8. EuGH, Rs. C-63/93, Slg. 1996, I-569 (610, Rn. 28 f.) – Duff. EuGH, Rs. 234/85, Slg. 1986, 2897 (2912, Rn. 8 ff.) – Keller. EuGH, Rs. C-248 u. 249/95, Slg. 1997, I-4475 (4513 f., Rn. 71 ff.) – SAM und Stapf; Rs. C-84/95, Slg. 1996, I-3953 (3985 f., Rn. 19 ff.) – Bosphorus. EuGH, Rs. C-370/88, Slg. 1990, I-4071 (4094, Rn. 27 f.) – Marshall. EuGH, Rs. C-183/95, Slg. 1997, I-4315 (4375, Rn. 41 ff.) – Affish. Jarass, § 21 Rn. 7. Vgl. EuGH, Rs. 151/78, Slg. 1979, 1 (13, Rn. 19 f.) – Sukkerfabriken Nykøbing; Rs. C-240/97, Slg. 1999, I-6571 (6634, Rn. 99) – Spanien/Komission. Wernsmann, JZ 2005, 224 (232). EuGH, Rs. 4/73, Slg. 1974, 491 (507 f., Rn. 14) – Nold; Rs. 240/83, Slg. 1985, 531 (548, Rn. 9) – ADBHU.
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Deren subjektiv-rechtlichen Gehalt hat der EuGH aber bislang offen gelassen.312 Die Rechtsprechung des EuGH lässt auch auf den Schutz von Geschäftsunterlagen313 und Geschäftsgeheimnissen314 als Teilgewährleistung der unternehmerischen Freiheit schließen. Der Schutz von Betriebsgeheimnissen und Geschäftsunterlagen sichert die Erhaltung marktwirtschaftlich erarbeiteter Wettbewerbsvorteile. Auch die Werbefreiheit ist als Teilgewährleistung von der unternehmerischen 1162 Freiheit des Art. 16 EGRC erfasst.315 Relevanz hat die Werbefreiheit vor allem aufgrund der RL 98/43/EG zur Tabakwerbung 316 erlangt. Während der EuGH diese Richtlinie lediglich aus kompetenzrechtlichen Gründen für nichtig befunden hat,317 sah GA Fenelly auch das Grundrecht der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit durch die Bestimmungen dieser ersten Tabakrichtlinie verletzt.318 5. Beeinträchtigungen und ihre Rechtfertigung Für die unternehmerische Freiheit als verselbstständigte Teilgewährleistung der 1163 Berufsfreiheit gelten die dortigen Prinzipien zu Eingriff und Rechtfertigung grundsätzlich entsprechend. Demnach liegt zumindest in jeder Regelung, die einen Nachteil des Grundrechtsinhabers bezweckt oder mit einem solchen hinreichend verbunden ist, ein Eingriff in die unternehmerische Freiheit.319 Als verselbstständigte Teilgewährleistung der Berufsfreiheit finden deren 1164 Schranken auch auf die unternehmerische Freiheit Anwendung. 320 Entsprechend kann die unternehmerische Freiheit keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen, da auch sie im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Funktion zu sehen ist.321 Die Rechtfertigung eines Eingriffs in die unternehmerische Freiheit richtet sich 1165 daher nach Art. 52 Abs. 1 EGRC. Sie hat auf der Grundlage eines Gesetzes zu erfolgen und muss sich auf Beschränkungen beziehen, die „tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die
312 313 314 315 316
317 318
319 320 321
EuGH, Rs. C-280/93, Slg. 1994, I-4973 (5060 f., Rn. 58 i.V.m. 62) – Bananen. EuGH, Rs. C-435/02 u. 103/03, Slg. 2004, I-8663 (8683, Rn. 49) – Axel Springer Verlag. EuGH, Rs. C-450/06, Slg. 2008, 581 (616, Rn. 48 f.) – Varec. Nowak, in: Heselhaus/Nowak, § 31 Rn. 31. Des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6.7.1998 zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über Werbung und Sponsoring bei Tabakerzeugnissen (erste Tabakrichtlinie), ABl. L 213, S. 9 ff. EuGH, Rs. C-376/98, Slg. 2000, I-8419 (8532, Rn. 118) – Deutschland/Parlament und Rat. GA Fenelly, EuGH, Rs. C-376/98, Slg. 2000, I-8419 (8486 f., Rn. 151) – Deutschland/ Parlament und Rat. Nur die Presse- und Meinungsfreiheit prüfte EuGH, Rs. C-380/03, Slg. 2006, I-11573 (11669, Rn. 147 ff.) – Deutschland/Parlament und Rat (Tabakrichtlinie). S. Jarass, § 21 Rn. 10. Nowak, in: Heselhaus/Nowak, § 31 Rn. 42; Blanke, in: Tettinger/Stern, Art. 16 Rn. 19. EuGH, Rs. C-210/03, Slg. 2004, I-11893 (11926, Rn. 72) – Swedish Match.
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unternehmerische Freiheit in ihrem Wesensgehalt antastet“.322 Darüber hinaus müssen die Regelungen hinreichend bestimmt, zugänglich und vorhersehbar sein.323 6. Prüfungsschema zu Art. 16 EGRC 1166
1. Schutzbereich a) Jedermann-Recht auch für Drittstaatsangehörige b) keine unmittelbare Drittwirkung c) verselbstständigte Ausprägung der Berufsfreiheit d) unternehmerische Betätigung: jede selbstständige, dauerhaft betriebene anbietende Wirtschafts- oder Geschäftstätigkeit am Markt gegen Entgelt durch einen Unternehmensträger e) Ausdrucksformen: Unternehmenskonstitution und Aufnahme einer unternehmerischen Betätigung, Organisations- und Planungsfreiheit, Vertrags-, Handels-, Wettbewerbs- und Werbefreiheit, Schutz von Betriebsgeheimnissen f) nicht vom Schutzbereich erfasst sind bloße unternehmerische Interessen oder Aussichten g) Unionsrecht und nationale Regeln nicht konstitutiv, nur konkretisierend 2. Beeinträchtigung a) Eingriff ist jede Regelung mit Nachteil für den Grundrechtsinhaber, jedenfalls wenn bezweckt oder mit jener hinreichend verbunden b) z.B. regelt Gesellschaftsrecht die Organisations- und Willenbildungsautonomie von Unternehmen, Vertragsrecht die Vertragsfreiheit von Unternehmen, Wettbewerbsrecht regelt Marktstrukturen und Marktverhalten c) Regelungswirkung haben ferner Abgaben, Marktordnungen, Erzeugungs- und Produktionsvorschriften d) kein hinreichender Schutz vor Monopolgefahren und unlauterem Wettbewerb 3. Rechtfertigung a) Rechtfertigung am Maßstab des Art. 52 Abs. 1 EGRC (wie Berufsfreiheit); Unionsrecht, nationales Recht und nationale Gepflogenheiten sind keine zusätzliche, darüber hinausgehende Schranke b) gesetzliche Grundlage c) Gemeinwohlziel (wie bei Berufsfreiheit) d) Verhältnismäßigkeit e) Wesensgehaltsgarantie
322 323
EuGH, Rs. C-184 u. 223/02, Slg. 2004, I-7789 (7847, Rn. 52) – Spanien und Finnland/ Parlament und Rat, st. Rspr. Jarass, § 21 Rn. 17.
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III. Eigentumsfreiheit 1. Schutzbereich a) Grundlagen Der Begriff des Eigentums, d.h. der sachlich gegenständliche Schutzbereich des 1167 Art. 17 EGRC, ist in der Charta, mit Ausnahme des in Art. 17 Abs. 2 EGRC genannten geistigen Eigentums, nicht vorgegeben. Im Gegensatz zu anderen Rechtsakten, die den Eigentumsschutz gewährleisten, nennt Art. 17 EGRC allerdings ausdrücklich einen positiven Schutzbereich, nämlich das Besitzen, Nutzen, Verfügen über und Vererben des Eigentums. Indem die Verwendungsmöglichkeiten des Eigentums bereits durch den positiven Schutzbereich skizziert und damit aus dem Eigentumsbegriff selbst herausgehoben werden, hat sich die Definition des Eigentumsbegriffs auf dessen Substanz zu beschränken. Diese bildet die Grundlage für die Verwendungsmöglichkeiten, die daher darauf aufbauend dargestellt werden. Erwartungen und Chancen werden nicht geschützt; 324 Ungewissheit gehört nach 1168 dem EuGH zum Wesen wirtschaftlicher Tätigkeit.325 Dieser Grundsatz ist auch auf Art. 17 EGRC übertragen worden326 und deckt sich ebenso mit der aus dem deutschen Verfassungsrecht geläufigen Regel, dass die Eigentumsfreiheit lediglich das Erworbene, nicht hingegen den Erwerb schützt.327 b) Einzelobjekte Vom Schutzbereich des Art. 17 EGRC ist zunächst das Eigentum an Mobilien 1169 und Immobilien erfasst.328 Obwohl der EuGH und der EGMR sich in ihrer Rechtsprechung dazu nicht eindeutig äußerten, haben beide den Schutz von Sach- und Grundeigentum in ihren Urteilen vorausgesetzt. 329 Auch sonstige dingliche Rechte330 und das Vorbehaltseigentum331 werden vom Eigentumsrecht erfasst. Auch obligatorische Rechte zählen zum Schutzbereich des Eigentumsrechts.332 1170 In der Entscheidung Bosphorus hat der EuGH Nutzungsrechte aufgrund eines
324 325 326 327
328 329
330 331 332
EuGH, Rs. 154/78, Slg. 1980, 907 (1010 f., Rn. 89) – Valsabbia. S. bereits EuGH, Rs. 4/73, Slg. 1974, 491 (507 f., Rn. 14) – Nold. Jarass, NVwZ 2006, 1089 (1090). BVerfGE 30, 292 (334 f.); Cremer, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG, 2006, Kap. 22 Rn. 30; ebenso EGMR, Entsch. vom 2.3.2005, Nr. 71916/01 u.a. (Rn. 74c), NJW 2005, 2530 (2531) – Maltzan u.a./Deutschland. Heselhaus, in: ders./Nowak, § 32 Rn. 37. EuGH, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727 (3745, Rn. 17) – Hauer; EGMR, Urt. vom 23.2.1995, Nr. 15375/89 (Rn. 57), Ser. A 306-B – Gasus Dosier- und Fördertechnik GmbH/Niederlande. EGMR, Urt. vom 12.12.2002, Nr. 37290/97 (Rn. 10 i.V.m. 42 f.), EuGRZ 2003, 224 (227) – Wittek/Deutschland. EGMR, Urt. vom 23.2.1995, Nr. 15375/89 (Rn. 57), Ser. A 306-B – Gasus Dosier- und Fördertechnik GmbH/Niederlande. Depenheuer, in: Tettinger/Stern, Art. 17 Rn. 22; Frowein/Peukert, EMRK, 3. Aufl. 2009, Art. 1 des 1. ZP Rn. 5.
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Leasingvertrages als Bestandteil des Eigentumsrechts angesehen. 333 Der Ansatz des EuGH lässt sich für sämtliche schuldrechtliche Forderungen verallgemeinern, so dass auch Forderungen aus Darlehen, Miet- und Pachtrechten vom europäischen Eigentumsrecht erfasst sind. 334 Diese Forderungen gehen, wenn sie auf einen konkreten Gegenstand bezogen sind, vielfach mit einem Besitzanspruch einher. Dann ist vom jeweiligen Nutzungsrecht auch der Besitz als vom Eigentum trennbare Eigentumsposition erfasst.335 Im Gegensatz zu subjektiven öffentlich-rechtlichen Positionen aus Eigenleis1171 tung werden einseitige Gewährungen nicht vom europäischen Eigentumsrecht geschützt.336 In diesen Fällen steht nicht die Entziehung erwirtschafteten Eigentums, sondern die Aufrechterhaltung staatlicher Leistungen im Vordergrund, die sich der Bürger jedoch nicht „verdient“ hat. Solche staatlichen Leistungen sind Interventionskäufe,337 Subventionen, Ausbildungsförderung und Kinderzulagen,338 jedenfalls solange sie nicht durch einen gesetzlichen Anspruch gesichert339 oder sofern dessen Voraussetzungen entfallen sind.340 Der EuGH hat die Eigentumsrechte der Unternehmen nicht als Eigentum am 1172 eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb zusammengefasst, sondern sich darauf beschränkt, Unternehmen prinzipiell unter den Schutz des Eigentumsrechts zu stellen.341 Geistiges Eigentum ist nach Art. 17 Abs. 2 EGRC ausdrücklich geschützt. 1173 Seine besondere Hervorhebung wird mit dessen zunehmender Bedeutung und dem abgeleiteten Unionsrecht erläutert. 342 In der Substanz ist es Eigentum an immateriellen Gütern,343 die ihren eigentumsspezifischen Vermögenswert aus einer schöpferischen Geistesleistung erhalten344 und deshalb anderen Eigentumspositionen gleichzustellen sind. Der Gewährleistungsgehalt des geistigen Eigentums ist daher trotz der besonderen Stellung des Art. 17 Abs. 2 EGRC mit demjenigen des Art. 17 Abs. 1 EGRC identisch.345
333 334 335 336 337 338 339 340 341 342 343 344 345
EuGH, Rs. C-84/95, Slg. 1996, I-3953 (3985 f., Rn. 19, 22) – Bosphorus. Jarass, NVwZ 2006, 1089 (1091). Zum deutschen Recht Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: 10/2010, Art. 14 Rn. 201. Depenheuer, in: Tettinger/Stern, Art. 17 Rn. 35. EuGH, Rs. C-296 u. 307/93, Slg. 1996, I-795 (850 f., Rn. 64) – Frankreich und Irland/ Kommission. A.A. zum deutschen Recht Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: 10/2010, Art. 14 Rn. 123. Vgl. EGMR, Urt. vom 2.2.2006, Nr. 51466/99 u. 70130/01 (Abschnitt I.4.), NVwZ 2006, 1274 (1275) – Buchheit und Meinberg/Deutschland. EKMR, Entsch. vom 3.10.1984, Nr. 10438/83, DR 41, 170 (173) – Batelaan und Huiges/ Niederlande. Müller-Michaels, Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der Europäischen Union, 1997, S. 38 f. Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. 2007 C 303, S. 17 (23). Depenheuer, in: Tettinger/Stern, Art. 17 Rn. 29. EuGH, Rs. 15/74, Slg. 1974, 1147 (1163, Rn. 9) – Sterling. Depenheuer, in: Tettinger/Stern, Art. 17 Rn. 29.
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Ob auch das Vermögen in seiner Gesamtheit in den Schutzbereich des Eigentumsrechts einbezogen ist, wird sehr unterschiedlich beurteilt.346 Dass auch Geldleistungspflichten am Eigentumsrecht zu messen sind, legt die Entscheidung des EuGH in der Sache Faroe Seafood nahe.347 Hier thematisiert der EuGH „die sich aus dem Eigentumsrecht und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ergebenden Anforderungen einer Nacherhebung von Eingangsabgaben“.348 Unter Zugrundelegung des vom EuGH und EGMR kasuistisch vorgeprägten Schutzbereichs lässt sich der Eigentumsbegriff des Art. 17 EGRC wie folgt definieren: Eigentum ist jedes kraft eigener Leistung entstandene und nach den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten einer Person zugeordnete349 oder in seiner Entstehung rechtlich abgesicherte Vermögensrecht einer jeden natürlichen oder juristischen Person, das die Substanz wirtschaftlicher Selbstbestimmung konstituiert und damit Grundlage wirtschaftlicher Freiheit ist. Jede nach Art. 17 EGRC schützenswerte Eigentumsposition muss dabei rechtmäßig erworben sein. Die Rechtmäßigkeit des Eigentumserwerbs richtet sich grundsätzlich nach dem nationalen Recht der Mitgliedstaaten.350 Im deutschen Recht kommt es für eine schutzfähige Eigentumsposition sowohl auf die Regelungen des Zivilrechts als auch auf sonstige Rechtsvorschriften an, mit denen der Gesetzgeber das Eigentumsrecht ausgestaltet.351 Träger des Eigentumsrechts nach Art. 17 EGRC ist „jede Person“. Die Offenheit dieses Begriffs legt grundsätzlich die Einbeziehung aller natürlichen und juristischen Personen in den Schutz des Art. 17 EGRC nahe.352
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2. Beeinträchtigung a) Eigentumsentzug Art. 17 EGRC nennt zwei zulässige Formen der Beeinträchtigung des Eigentums- 1178 rechts. Gemäß Art. 17 Abs. 1 S. 2 EGRC darf niemandem sein Eigentum entzogen werden, es sei denn aus Gründen des öffentlichen Interesses in den Fällen sowie unter den Bedingungen, die in einem Gesetz vorgesehen sind, und gegen eine rechtzeitige und angemessene Entschädigung für den Verlust des Eigentums. Darüber hinaus kann nach Art. 17 Abs. 1 S. 3 EGRC die Nutzung des Eigentums gesetzlich geregelt werden, soweit dies für das Wohl der Allgemeinheit erforderlich ist. Aufgrund der stärkeren Eingriffsintensität und strengeren Rechtfertigungsvoraussetzungen ist zunächst zu prüfen, ob ein Eingriff als Entziehung des Eigentums zu werten ist. 346
347 348 349 350 351 352
S. Rengeling/Szczekalla, Rn. 810; Müller-Michaels, Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der Europäischen Union, 1997, S. 42; jeweils mit Hinweis auf EuGH, Rs. C-143/88 u. 92/89, Slg. 1991, I-415 (552, Rn. 74) – Süderdithmarschen. Heselhaus, in: ders./Nowak, § 32 Rn. 53. EuGH, Rs. C-153 u. 204/94, Slg. 1996, I-2465 (2548, Rn. 116) – Faroe Seafood. So schon zur Rspr. des EuGH v. Danwitz, in: ders./Depenheuer/Engel, Bericht zur Lage des Eigentums, 2002, S. 215 (262). Jarass, § 22 Rn. 7, 15; Bernsdorff, in: Meyer, Art. 17 Rn. 16. S. das Beispiel in BVerfG, NJW 1990, 1229 (1229). Depenheuer, in: Tettinger/Stern, Art. 17 Rn. 42.
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Kapitel 9: Grundrechte
Eine Enteignung ist eine dauerhafte353 ganze oder teilweise354 Übertragung355 von nach Art. 17 EGRC geschützten Eigentumspositionen auf den Staat oder einen Dritten356 kraft eines Gesetzes und aus Gründen des öffentlichen Interesses. 357 Diese Entziehung des Eigentums kann durch unmittelbaren staatlichen Zugriff oder mittelbar etwa durch Auferlegung einer Übertragungsverpflichtung 358 sowie durch Ausübung eines gesetzlichen Vorkaufsrechts erfolgen.359 Der formellen Enteignung stellt der EGMR die faktische Enteignung gleich. 1180 Eine solche ist anzunehmen, wenn die mit dem Eigentum verbundenen Nutzungs- und Verfügungsrechte derart eingeschränkt werden, dass dem Berechtigten lediglich eine formale Eigentümerstellung zukommt, während die wirtschaftlichen Auswirkungen mit jenen der Enteignung gleichzusetzen sind.360 Erforderlich ist, dass dem Eigentümer jede sinnvolle Nutzungsmöglichkeit genommen wird oder das Eigentum gänzlich seinen Wert verliert.361 Das muss dauerhaft erfolgen. Die vorübergehende Schließung einer Betriebsstätte genügt dafür nicht, zumal wenn nicht nur eine neue Zulassung erlangt, sondern der vorhandene Kundenstamm verkauft werden kann.362 Im Gegensatz zum EGMR, der durch die Anerkennung der faktischen Enteig1181 nung die Eingriffsintensität und tatsächlichen Auswirkungen zum Abgrenzungskriterium zwischen Eigentumsentziehung und Nutzungsregelung erhoben hat, 363 fordert der EuGH für den Enteignungstatbestand einen „gezielten“ Entzug und beschränkt sich damit auf die formelle Enteignung. 364 Aber auch nach der Rechtsprechung des EuGH ist eine Enteignung anzunehmen, wenn dem Eigentümer die Möglichkeit genommen ist, über sein Eigentum zu verfügen und es jeder nicht untersagten Nutzung zuzuführen,365 mithin sämtliche damit verbundenen Rechte genommen werden,366 oder wenn jede sinnvolle Art der Vermarktung eines Pro1179
353
354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365 366
EGMR, Urt. vom 7.12.1976, Nr. 5493/72 (Rn. 62 f.), EuGRZ 1977, 38 (48 f.) – Handyside/Vereinigtes Königreich; Urt. vom 30.10.1991, Nr. 11796/85 (Rn. 72), ÖJZ 1992, 238 (240 f.) – Wiesinger/Österreich. Heselhaus, in: ders./Nowak, § 32 Rn. 67. EGMR, Urt. vom 23.9.1982, Nr. 7151 u. 7152/75 (Rn. 63), NJW 1984, 2747 (2747 f.) – Sporrong und Lönnroth/Schweden. Cremer, in Grote/Marauhn, EMRK/GG, 2006, Kap. 22 Rn. 88. EGMR, Urt. vom 9.12.1994, Nr. 13092/87 u. 13984/88 (Rn. 61 ff.), ÖJZ 1995, 428 (430) – Holy Monasteries/Griechenland. EGMR, Urt. vom 21.2.1990, Nr. 11855/85 (Rn. 9, 43 f.), EuGRZ 1992, 5 (5, 8) – Håkansson und Sturesson/Schweden. EGMR, Urt. vom 22.9.1994, Nr. 13616/88 (Rn. 35), EuGRZ 1996, 593 (597) – Hentrich/Frankreich. Vgl. EGMR, Urt. vom 23.9.1982, Nr. 7151 u. 7152/75 (Rn. 63), NJW 1984, 2747 (2747 f.) – Sporrong und Lönnroth/Schweden. Grabenwarter, in: Bonner Kommentar zum GG, Anh. z. Art. 14 S. 6. EGMR, Entsch. vom 9.5.2007, Nr. 29005/05, EuGRZ 2008, 24 (26) – Brückl/Deutschland: Widerruf einer Approbation als Apothekerin. S. Depenheuer, in: Tettinger/Stern, Art. 17 Rn. 45. Grabenwarter, in: Bonner Kommentar zum GG, Stand: 2/2011, Anh. z. Art. 14 S. 16. EuGH, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727 (3746, Rn. 19) – Hauer; Müller-Michaels, Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der Europäischen Union, 1997, S. 45 f. S. EuGH, Rs. C-363/01, Slg. 2003, I-11893 (11937, Rn. 55 f.) – Flughafen Hannover.
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duktes ausgeschlossen ist. 367 Die Grenze zwischen faktischer Enteignung und rechtswidriger Nutzungsbeschränkung wird damit fließend.368 b) Nutzungsregelung Nutzungsregelung im Sinne des Art. 17 EGRC ist zunächst jede hoheitliche Maßnahme, die das Recht einer Person, ihr Eigentum zu besitzen, zu nutzen, darüber zu verfügen oder es zu vererben, in zeitlicher, räumlicher oder sachlicher Hinsicht zu beeinträchtigen bezweckt, so dass diese nicht in jeder Hinsicht nach ihrem Belieben damit verfahren kann. Gleichzeitig darf die Nutzungsregelung noch nicht die Intensität einer Enteignung erreichen. Die Beeinträchtigung kann sich in Form eines Verbotes oder eines Gebotes auf die positive Eigentumsfreiheit auswirken.369 Ähnlich der Finalität bei der Enteignung lässt sich der Rechtsprechung des EuGH auch für Nutzungsregelungen entnehmen, dass eine Beschränkung des Eigentumsrechts durch die entsprechenden gesetzlichen Vorschriften bezweckt wird oder notwendig mit diesen verbunden sein muss. 370 Negative Auswirkungen auf das Eigentumsrecht, die nur mittelbare Folgen von Rechtsnormen sind, tasten das Eigentumsrecht danach hingegen nur an, wenn sie auch dessen Wesensgehalt beeinträchtigen.371 Die Möglichkeit zur Regelung der Eigentumsnutzung umfasst zunächst die Befugnis, die Freiheiten des Eigentümers in Bezug auf sein Eigentum zu beschränken (Nutzungsbeschränkung). Die Nutzung eines Grundstücks wird etwa durch Versagung einer Baugenehmigung, durch Verhängung eines Bauverbotes, durch Erlass einer Abrissverfügung, durch Aussetzung der Vollstreckung von Räumungsurteilen oder aufgrund eines Anpflanzungsverbotes372 sowie durch Vorschriften über die Art und Weise der Bestellung landwirtschaftlichen Bodens373 beeinträchtigt. Der letzte Punkt ist vor allem bei Normierungen zum Bodenschutz relevant. Das Recht zur freien Verfügung über das Eigentum ist beim Einfrieren von Geldern betroffen374 sowie bei insolvenzrechtlichen Verfügungsbeschränkungen des Insolvenzschuldners.375 Die Verfügungsfreiheit ist ferner tangiert, wenn
367 368 369 370 371 372 373 374 375
EuGH, Rs. C-347/03, Slg. 2005, I-3785 (3868, Rn. 122) – Regione Autonoma FriuliVenezia Giulia. So zur EMRK auch v. Danwitz, in: ders./Depenheuer/Engel, Bericht zur Lage des Eigentums, 2002, S. 215 (243). Depenheuer, in: Tettinger/Stern, Art. 17 Rn. 47. Jarass, § 22 Rn. 26 mit Hinweis auf EuGH, Rs. C-200/96, Slg. 1998, I-1953 (1981, Rn. 28) – Metronome Musik. EuGH, Rs. 59/83, Slg. 1984, 4057 (4079, Rn. 21 f.) – Biovilac. EuGH, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727 (3746, Rn. 19) – Hauer. EuGH, Rs. C-293/97, Slg. 1999, I-2603 (2647, Rn. 55) – Standley; Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727 (3747, Rn. 21) – Hauer; Jarass, § 22 Rn. 25. EuG, Rs. T-306/01, Slg. 2005, II-3533 (3628, Rn. 285; 3631, Rn. 299) – Yusuf und Al Barakaat. Vgl. EGMR, Urt. vom 17.6.2002, Nr. 56298/00 (Rn. 28) – Bottaro/Italien; Urt. vom 17.7.2003, Nr. 32190/96 (Rn. 67), RJD 2003-IX – Luordo/Italien.
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dem Eigentümer kartellrechtliche Beschränkungen beim Einsatz seiner Wirtschaftsgüter aufgegeben werden.376 Quantitative Produktionsbeschränkungen können unter Berufung auf den 1186 EuGH als Nutzungsregelungen qualifiziert werden.377 Vorhandene Eigentumsgegenstände können dann nur noch für eine zahlenmäßig begrenzte Produktionsmenge eingesetzt werden. Daher wird auch in Vorhandenes eingegriffen und nicht nur der Erwerb beschränkt. Nach der Rechtsprechung des EuGH führt die Senkung von Stützpreisen für 1187 Agrarprodukte innerhalb einer gemeinsamen Marktorganisation und die damit verbundene Wertminderung von Agrarbeständen der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer nicht zu einem Eingriff in das Eigentumsrecht.378 Teilweise ist unter Berufung auf dieses Urteil der Schluss gezogen worden, die Beeinträchtigung profitabler Nutzungsmöglichkeiten, zum Beispiel in Form der Beseitigung bestehender Vermarktungsmöglichkeiten für vorhandene Produkte, sei schon keine Nutzungsregelung im Sinne des Art. 17 Abs. 1 S. 3 EGRC.379 Indes wird damit eine mit eigenen Investitionen unterlegte Marktposition angetastet, außer sie ist wie Stützpreise rein staatlich verliehen.380 3. Rechtfertigung a) Enteignung 1188 Eine Enteignung kann gemäß Art. 17 Abs. 1 S. 2 EGRC gerechtfertigt sein, wenn kumulativ drei Voraussetzungen erfüllt werden. 381 Erstens müssen die Bedingungen der Enteignung in einem Gesetz vorgesehen sein. Zweitens darf die Enteignung nur aus Gründen des öffentlichen Interesses erfolgen. Drittens muss die Enteignung durch eine rechtzeitige und angemessene Entschädigung kompensiert werden. Als ungeschriebenes viertes Erfordernis lässt sich der Rechtsprechung des EGMR382 ein vernünftiges und angemessenes Verhältnis zwischen den eingesetzten Mitteln und dem angestrebten Ziel entnehmen. Im Gegensatz zum EGMR hat der EuGH in seiner bisherigen Rechtsprechung 1189 zum Eigentumsrecht in keinem der ihm vorgelegten Fälle einen Entzug des Eigen-
376 377 378 379
380 381 382
EuG, Rs. T-65/98, Slg. 2003, II-4653 (4726, Rn. 171) – van den Bergh Foods. Jarass, § 22 Rn. 25 mit Hinweis auf EuGH, Rs. 258/81, Slg. 1982, 4261 (4280, Rn. 13) – Metallurgiki Halyps. EuGH, Rs. 281/84, Slg. 1987, 49 (91 f., Rn. 25 f.) – Zuckerfabrik Bedburg. Depenheuer, in: Tettinger/Stern, Art. 17 Rn. 48; so auch für die Einschränkung von Interventionskäufen v. Danwitz, in: ders./Depenheuer/Engel, Bericht zur Lage des Eigentums, 2002, S. 215 (269 f.) unter Bezugnahme auf EuGH, Rs. C-296 u. 307/93, Slg. 1996, I-795 (850 f., Rn. 64) – Frankreich und Irland/Kommission. Frenz, Europarecht 4, Rn. 2967 f. Rengeling/Szczekalla, Rn. 818. EGMR, Urt. vom 21.2.1986, Nr. 8793/79 (Rn. 50), EuGRZ 1988, 341 (345) – James u.a./Vereinigtes Königreich; Urt. vom 20.11.1995, Nr. 17849/91 (Rn. 38), ÖJZ 1996, 275 (276) – Pressos Compania Naviera S.A./Belgien.
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tums angenommen383 und sich entsprechend auch nicht abschließend zu dessen Voraussetzungen geäußert.384 b) Nutzungsregelungen Die Befugnis der Staaten, die Nutzung des Eigentums zu regeln, ist die zweite von 1190 Art. 17 Abs. 1 S. 3 EGRC explizit zugelassene Form der Beeinträchtigung des Eigentumsrechts. Die Regelung muss durch ein Gesetz erfolgen und für das Wohl des Allgemeininteresses erforderlich sein. Auch die Regelung der Eigentumsnutzung ist damit der Schrankensystematik des Art. 1 des Zusatzprotokolls zur EMRK nachempfunden,385 für die der EGMR schon gefordert hat, dass ein gerechter Ausgleich zwischen dem Allgemeininteresse und den Rechten des Einzelnen herzustellen ist.386 Auch nach der Rechtsprechung des EuGH ist das Eigentumsrecht nicht schran- 1191 kenlos gewährleistet, sondern in Zusammenhang mit seiner gesellschaftlichen Funktion zu sehen. Folglich kann die Ausübung des Eigentumsrechts Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese Beschränkungen tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet.387 Die Orientierung der Nutzungsregelung am Gemeinwohl wurde daher auch vom EuGH zum wesentlichen Kriterium der Rechtfertigung von Nutzungsregelungen erhoben.388 Jedenfalls wenn eine besondere Dinglichkeit für eine Nutzungsregelung fehlt, kommt auch eine Ausgleichspflicht in Betracht.389 4. Prüfungsschema zu Art. 17 EGRC 1. Schutzbereich a) Jedermann-Recht b) Eigentum: - kraft eigener Leistung entstanden - nach den Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten einer natürlichen oder juristischen Person zugeordnetes oder in seiner Entstehung rechtlich abgesichertes Vermögensrecht 383
384
385 386 387 388 389
Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 17 GRCh Rn. 13; Streinz, in: ders., Art. 17 GR-Charta Rn. 10; Müller-Michaels, Grundrechtlicher Eigentumsschutz in der Europäischen Union, 1997, S. 45. Vgl. EuGH, Rs. C-20 u. 64/00, Slg. 2003, I-7411 (7479, Rn. 86) – Booker Aquaculture; Rs. 5/88, Slg. 1989, 2609 (2639 f., Rn. 19) – Wachauf; ferner EuG, Rs. T-113/96, Slg. 1998, II-125 (145, Rn. 57) – Dubois et fils; Schmidt-Preuß, EuR 2006, 463 (484). Rengeling/Szczekalla, Rn. 823. EGMR, Urt. vom 15.2.2001, Nr. 37095/97 (Rn. 57) – Pialopoulos/Griechenland. Schon EuGH, Rs. 44/79, Slg. 1979, 3727 (3747, Rn. 23) – Hauer; auch z.B. Rs. C-22/94, Slg. 1997, I-1809 (1839 f., Rn. 27) – Irish Farmers Association. Calliess, in: ders./Ruffert, Art. 17 GRCh Rn. 22. Abgelehnt von EuGH, Rs. C-20 u. 64/00, Slg. 2003, I-7411 (7479, Rn. 85) – Booker Aquaculture für die Schlachtung eines seuchenbefallenen Fischbestandes; s. aber Frenz, Europarecht 4, Rn. 2985 f.
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Kapitel 9: Grundrechte c) Sach- und Grundeigentum, obligatorische Rechte und Forderungen, öffentlich-rechtliche Rechtspositionen, geistiges Eigentum, Unternehmenssubstanz, als Ganzes und in Einzelbestandteilen, das Vermögen (str.) d) Besitz, Nutzung, Verfügung und Vererbung e) Grundlage: rechtmäßiger Erwerb 2. Beeinträchtigung a) Eigentumsentzug: dauerhafte ganze oder teilweise Übertragung von Eigentumspositionen auf den Staat oder einen Dritten; Gleichstellung faktischer Enteignungen nach Intensität (EGMR)/Finalität (EuGH) b) Nutzungsregelung: jede hoheitliche Maßnahme, die das Recht einer Person, ihr Eigentum zu besitzen, zu nutzen, darüber zu verfügen oder es zu vererben, in zeitlicher, räumlicher oder sachlicher Hinsicht beeinträchtigt (nach Rspr. zudem Bezweckung); nach EuGH nicht Produktions- und Vermarktungsbeschränkungen 3. Rechtfertigung a) Eigentumsentzug: - gesetzlich vorgesehene Enteignungsbedingungen - Gemeinwohlziel - Verhältnismäßigkeit - rechtzeitige und angemessene Entschädigung b) Nutzungsregelungen: - gesetzliche Grundlage - Gemeinwohlziel - Verhältnismäßigkeit - Wesensgehaltsgarantie - ggf. Ausgleichspflichtigkeit
G. Gleichheitsgrundrechte I. System 1193 Das europäische Primärrecht kennt bereits eine Vielzahl von Gleichheitsrechten. Mit der EGRC treten neben diese bekannten Normen die in Titel III enthaltenen Rechte. Es stellt sich daher die Frage nach ihrer Systematisierung. 1. Gleichheitsrechte und Diskriminierungsverbote 1194 Bereits im nationalen Verfassungsrecht ist es schwierig, Gleichheitsrechte zu kategorisieren.390 Im europäischen Zusammenhang werden die Begriffe „allgemeiner 390
Kingreen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 17 Rn. 1.
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Gleichheitssatz“, „besonderer Gleichheitssatz“, „allgemeines Diskriminierungsverbot“, „besonderes Diskriminierungsverbot“ häufig nicht stringent verwandt. Der EuGH hat in der Vielzahl seiner zum Gleichheitssatz getroffenen Entscheidungen bislang ebenfalls unterschiedliche Formulierungen gewählt.391 Der Begriff der Diskriminierung entstammt ursprünglich dem amerikanischen 1195 Wirtschaftsrecht. Er bezeichnet dabei die Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte.392 Dies entspricht dem Inhalt des Gleichheitsgebotes. Damit wird bereits das Verhältnis der beiden Rechtssätze zueinander deutlich: Bei dem Diskriminierungsverbot handelt es sich um die negative Formulierung des Gleichheitsgebots.393 Beide Begriffe können als Synonyme angesehen werden. Dies entspricht auch der Rechtsprechung des EuGH, der die Diskriminierungsverbote als Anwendungsfälle des Gleichheitssatzes betrachtet.394 2. Dreistufiges Spezialitätsverhältnis Nach der Rechtsprechung des EuGH ist Art. 18 AEUV eine spezielle, auf die 1196 Staatsangehörigkeit bezogene Ausformung des allgemeinen Gleichheitssatzes395 und geht daher vor.396 Gleiches gilt für die entsprechenden Bestimmungen der EGRC: Die allgemeinen Diskriminierungsverbote der Art. 21 und Art. 23 EGRC gehen dem allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 20 EGRC vor.397 Die besonderen, einen bestimmten Bereich betreffenden Diskriminierungsver- 1197 bote aus dem AEUV hat der EuGH wiederum als Konkretisierungen des allgemeinen Diskriminierungsverbotes des Art. 18 AEUV qualifiziert.398 Damit gehen sie und die besonderen Diskriminierungsverbote der Art. 15 Abs. 3 EGRC und Art. 34 Abs. 2 EGRC dem allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV vor.399 Zugleich ist damit auch eine Aussage im Verhältnis zum allgemeinen Gleichheitssatz getroffen: die genannten Vorschriften genießen insoweit ebenfalls Vorrang.400 Es handelt sich damit insgesamt um ein dreistufiges Spezialitätsverhältnis: auf 1198 der ersten und allgemeinsten Stufe steht der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 20 EGRC); auf der zweiten Stufe finden sich die allgemeinen Diskriminierungsverbote (Art. 18 AEUV, Art. 21 EGRC, Art. 23 EGRC), auf der dritten Stufe folgen die besonderen Diskriminierungsverbote (aus den Grundfreiheiten, 401 den Vor-
391 392 393 394 395 396 397 398 399 400 401
Sachs, in: Tettinger/Stern, Art. 20 Rn. 7. Rengeling/Szczekalla, Rn. 869. Rengeling/Szczekalla, Rn. 870; a.A. Meyer-Ladewig, EMRK, 2. Aufl. 2006, Art. 14 Rn. 8, der nur die ungerechtfertigte Ungleichbehandlung als Diskriminierung ansieht. Vgl. EuGH, Rs. C-15/95, Slg. 1997, I-1961 (1995, Rn. 35) – EARL de Kerlast; auch Rs. C-292/97, Slg. 2000, I-2737 (2775, Rn. 39) – Karlsson. EuGH, Rs. 147/79, Slg. 1980, 3005 (3019, Rn. 7) – Hochstrass. Rossi, EuR 2000, 197 (209). Sachs, in: Tettinger/Stern, Art. 20 Rn. 16. EuGH, Rs. 36/74, Slg. 1974, 1405 (1418 f., Rn. 4/10) – Walrave. Wernsmann, JZ 2005, 224 (228). Sattler, in: FS für Rauschning, 2001, S. 251 (254). Art. 34, 35, 37 Abs. 1, 45 Abs. 2, 49, 56, 65 Abs. 3 AEUV.
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schriften zur Agrarpolitik,402 der Verkehrspolitik,403 dem Wettbewerbsrecht,404 der Sozialpolitik,405 Art. 15 Abs. 3 EGRC, Art. 34 Abs. 2 EGRC). 3. Prüfungsaufbau 1199 Überwiegend wird eine dem deutschen Verfassungsrecht entsprechende zweistufige Prüfung favorisiert.406 Sie ist auch vom EuGH vorgenommen worden.407 Dabei wird auf einer ersten Stufe die Ungleichbehandlung vergleichbarer Sachverhalte (bzw. Gleichbehandlung unterschiedlicher Sachverhalte) festgestellt. Es schließt sich auf einer zweiten Stufe die Prüfung nach einer Rechtfertigung für die Ungleich- (bzw. Gleich-)behandlung an.408 So ging der EuGH etwa auch im Fall Bressol vor und behandelte dabei näher die Verhältnismäßigkeit. 409 II. Allgemeiner Gleichheitssatz 1200 Gemäß Art. 20 EGRC sind alle Personen vor dem Gesetz gleich. Nach den Erläuterungen zur EGRC410 entspricht dieser Artikel dem allgemeinen Rechtsprinzip, das in allen europäischen Verfassungen verankert ist und das der Gerichtshof als ein Grundprinzip des Gemeinschaftsrechts angesehen hat. 1. Ungleichbehandlung 1201 Das allgemeine Gleichheitsgebot erfährt zwei Ausprägungen: Zum einen dürfen vergleichbare Sachverhalte nicht unterschiedlich behandelt werden. Zum anderen dürfen unterschiedliche Sachverhalte nicht gleich behandelt werden. 411 Oder in der einprägsamen Kurzformel: Gleiches muss gleich, Ungleiches ungleich behandelt werden.412
402 403 404 405 406
407 408 409 410 411 412
Art. 40 Abs. 2 UAbs. 2 AEUV. Art. 92 AEUV. Art. 107 Abs. 2 lit. a), 110 AEUV. Art. 157 AEUV. S. Hölscheidt, in: Meyer, Art. 20 Rn. 14 ff. Möglich ist auch eine den Freiheitsrechten gleichgesetzte dreistufige Prüfung mit Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung; Kingreen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 17 Rn. 8 f.; Rengeling/Szczekalla, Rn. 878 f.; krit. zur Übertragbarkeit der deutschen Dogmatik Odendahl, in: Heselhaus/Nowak, § 43 Rn. 4 ff. Z.B. EuGH, Rs. C-29/95, Slg. 1997, I-300 (307, Rn. 19) – Pastoors und Trans-Cap. Kingreen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 17 Rn. 8 f., der selbst dreistufig prüft. EuGH, Rs. C-73/08, NVwZ 2010, 1141 – Nicolas Bressol; s.o. Rn. 325. Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, ABl. 2007 C 303, S. 17 (24). EuGH, Rs. C-15/95, Slg. 1997, I-1961 (1995, Rn. 35) – EARL de Kerlast. Sachs, in: Tettinger/Stern, Art. 20 Rn. 20.
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2. Rechtfertigung Bei Art. 20 EGRC handelt es sich nicht um ein absolutes, sondern um ein soge- 1202 nanntes relatives Diskriminierungsverbot.413 Denn auch wenn eine Ungleichbehandlung gleicher Sachverhalte gegeben ist, liegt nur dann ein Verstoß gegen das Gleichheitsgebot vor, wenn diese unterschiedliche Behandlung nicht gerechtfertigt ist.414 Für die Frage, wann eine derartige Rechtfertigung gegeben ist, hat der EuGH 1203 bislang keine übergreifenden dogmatischen Leitsätze entwickelt. 415 So spricht er davon, dass die unterschiedliche Behandlung nicht willkürlich sein darf oder auf objektive Unterschiede gestützt sein muss.416 Wann dies der Fall ist, präzisiert er jedoch nicht.417 Auch bei der Prüfungsdichte verfolgt er eine uneinheitliche Linie. Während er zum Teil den weiten Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers betont,418 verlangte er in anderen Entscheidungen eine substantiierte Darlegung der Differenzierungsgründe.419 III. Diskriminierungsverbote 1. Grundstruktur Art. 21 EGRC beinhaltet zwei allgemeine Diskriminierungsverbote, die Diskri- 1204 minierungen aufgrund bestimmter Merkmale verbieten. Gemäß Art. 21 Abs. 1 EGRC sind Diskriminierungen insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung verboten. Art. 21 Abs. 1 EGRC enthält damit ein umfassendes allgemeines Diskriminierungsverbot.420 Es werden nur verschiedene Merkmale besonders genannt. Sie bilden den Ausgangspunkt und Maßstab, um ein tatbestandsrelevantes Verhalten in Form einer Ungleichbehandlung feststellen zu können. Daher sind sie auch schon auf Tatbestands- und nicht erst auf Rechtfertigungsebene zu prüfen.421 413 414 415 416 417 418 419
420 421
Kischel, EuGRZ 1997, 1 (4). EuGH, Rs. C-292/97, Slg. 2000, I-2737 (2775, Rn. 39) – Karlsson. S. Kingreen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 17 Rn. 14. EuGH, Rs. C-370/88, Slg. 1990, I-4071 (4093, Rn. 24) – Marshall; Rs. C-462/99, Slg. 2003, I-5197 (5257 f., Rn. 115) – Connect Austria. Odendahl, in: Heselhaus/Nowak, § 43 Rn. 26 f. EuGH, Rs. C-267-285/88, Slg. 1990, I-435 (481, Rn. 14) – Wuidart u.a. EuGH, Rs. 117/76 u. 16/77, Slg. 1977, 1753 (1770 f., Rn. 8 ff.) – Ruckdeschel; Rs. 124/76 u. 20/77, Slg. 1977, 1795 (1812 f., Rn. 19/21 ff.) – Moulins et Huileries de Pont-à-Mousson. Streinz, in: ders., Art. 21 GR-Charta Rn. 4. Anders Kingreen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 17 Rn. 19.
338
1205
Kapitel 9: Grundrechte
Art. 21 Abs. 2 EGRC verbietet Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit und entspricht mit leicht abgewandelter Formulierung Art. 18 AEUV. Aufgrund der Bestimmung des Art. 52 Abs. 2 EGRC müssen deshalb sowohl der Gewährleistungsbereich als auch die Beeinträchtigungsmöglichkeiten miteinander übereinstimmen.422 Daher kann auch die Rechtsprechung zu Art. 18 AEUV herangezogen werden.423 2. Mittelbare Diskriminierung
1206 Da das Diskriminierungsverbot des Art. 21 Abs. 1 EGRC wie auch das nach Abs. 2 alle Diskriminierungen aus Gründen eines bestimmten Merkmals verbietet, kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass neben den unmittelbaren Diskriminierungen auch mittelbare verboten sind.424 Um eine unmittelbare Diskriminierung425 handelt es sich, wenn eine Diskriminierung offen an ein Merkmal anknüpft, wenn also eine Person aufgrund eines bestimmten Merkmals in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt als eine andere Person.426 Fehlt es an einer derart offenen Anknüpfung an ein verbotenes Merkmal, führt aber eine Regelung, die sich auf ein anderes, nicht verbotenes Merkmal stützt, im Ergebnis immer oder in den weitaus meisten Fällen zu einer Diskriminierung aufgrund des verbotenen Merkmals, handelt es sich um eine mittelbare Diskriminierung.427 Beispiel für eine mittelbare Diskriminierung aus Gründen des Alters ist die Anknüpfung an die Zugehörigkeitsdauer zu einer Institution, da dadurch typischerweise die lebensälteren Mitglieder betroffen sind.428 3. Rechtfertigung 1207 Art. 21 EGRC enthält ein relatives Diskriminierungsverbot, d.h. eine Ungleichbehandlung kann gerechtfertigt sein. 429 Dabei kommt es neben der Intensität des Eingriffs und dem Gewicht der Rechtfertigungsgründe auch auf das Merkmal an, aufgrund dessen eine Differenzierung vorgenommen worden ist. 430 So ist eine Besserstellung der (herkömmlichen) Ehe gegenüber gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften mit ausreichenden Sachgründen denkbar,431 obwohl Art. 21 Abs. 1 EGRC grundsätzlich eine Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orien-
422 423 424 425 426 427 428 429 430
431
Jarass, § 25 Rn. 25. S. daher o. Rn. 325 am Beispiel Bressol. Kingreen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 17 Rn. 19. Auch „offene“, „direkte“, „formale“, „rechtliche“ oder „formelle“ Diskriminierung genannt. Hölscheidt, in: Meyer, Art. 21 Rn. 28a. Auch „versteckte“, „indirekte“, „materielle“ oder „faktische“ Diskriminierung genannt. Wernsmann, JZ 2005, 224 (227). Jarass, § 25 Rn. 21. Kingreen, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 17 Rn. 19 stellt deshalb auch erst auf der Rechtfertigungsebene auf die unterschiedlichen Diskriminierungsmerkmale ab. EuGH, Rs. C-117/01, Slg. 2004, I-541 (578, Rn. 28) – National Health Service.
H. Soziale Grundrechte
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tierung verbietet.432 Auch Ungleichbehandlungen aufgrund der Sprache sind bei Vorliegen gewichtiger Gründe, zum Beispiel einer Verringerung der Verfahrenskosten, möglich.433 Rassisch motivierte Diskriminierungen stellen hingegen regelmäßig eine Beeinträchtigung der Menschenwürde dar und können in einer demokratischen Gesellschaft, die auf den Grundsätzen des Pluralismus und des Respekts für unterschiedliche Kulturen beruht, niemals gerechtfertigt sein. 434
H. Soziale Grundrechte I. System In Titel IV der EGRC sind unter der Überschrift „Solidarität“ verschiedene be- 1208 triebsbezogene Rechte, individuelle Arbeitnehmerrechte, Rechte zum besonderen Schutz der Familie, Mütter und Eltern, Rechte betreffend den sozialen Schutz sowie den Gesundheitsschutz, die Daseinsvorsorge, den Umwelt- und den Verbraucherschutz enthalten. Diese und vergleichbare Rechte lassen sich ihrem Gegenstand nach in vier Gruppen ordnen, wobei Überschneidungen möglich sind:435 x Rechte, die den Bereich des Berufslebens und die Stellung als Arbeitnehmer betreffen, so auf Arbeitspausen, bezahlten Urlaub, sichere und soziale Arbeitsbedingungen und besondere Schutzrechte im Arbeitsleben für Kinder und Frauen. Solche Arbeitnehmerrechte finden sich in Art. 27 EGRC, Art. 28 EGRC, Art. 29 EGRC, Art. 30 EGRC, Art. 31 EGRC, Art. 32 EGRC und Art. 33 Abs. 2 EGRC. x Rechte, die ein Mindestmaß an sozialer Sicherheit garantieren. Dazu gehören insbesondere die Einführung und Beibehaltung eines Systems der sozialen Sicherheit, das Recht auf Fürsorge sowie das Recht auf Inanspruchnahme sozialer Dienste, auf ärztliche Versorgung und besondere Rechte für Familien, Mütter oder Behinderte. Rechte bezüglich der sozialen Sicherheit sind zu finden in Art. 33 Abs. 1 und Art. 34 EGRC sowie auch in Art. 36 EGRC, jedenfalls soweit soziale Dienste betroffen sind. x Rechte auf sozial-kulturelle Entfaltung. Grundlegend ist hierbei das Recht auf Bildung, das Basis für Entwicklungsmöglichkeiten ist. x Eine Sondergruppe von Rechten, die als grundlegend für befriedigende Lebensverhältnisse angesehen werden können und die maßgeblich auf dem Prinzip der Solidarität basieren. Dazu zählen der Gesundheits-, Umwelt- und Verbraucherschutz. Der letztgenannten Sondergruppe der solidarischen Rechte für befriedigende Lebensverhältnisse gehören Art. 35 EGRC, Art. 37 EGRC und Art. 38 EGRC an.
432 433 434 435
Jarass, § 25 Rn. 23. EuGH, Rs. C-361/01 P, Slg. 2003, I-8283 (8343 ff., Rn. 92 ff.) – Kik/HABM. EGMR, Urt. vom 13.11.2007, Nr. 57325/00 (Rn. 176), NVwZ 2008, 533 (534) – D.H. u.a./Tschechien. Vgl. Murswiek, in: Isensee/Kirchhof, HStR V, 1992, § 112 Rn. 41 ff.; Diercks, LKV 1996, 231 (232).
340
Kapitel 9: Grundrechte
1209 Damit sind die wesentlichen sozialen Rechte trotz ihrer Vielfalt und Verschiedenartigkeit nahezu vollständig in Titel IV der EGRC vereinigt. Das für die dritte Gruppe der sozial-kulturellen Entfaltung elementare Recht auf Bildung ist demgegenüber bei den kommunikativen Grundrechten in Art. 14 EGRC angesiedelt. Das ist ein Beleg für die Verbindung sozialer und kommunikativer Grundrechte insofern, als beide an die Einbindung des Einzelnen in die Gemeinschaft anknüpfen. Die Perspektive der kommunikativen Grundrechte ist allerdings vor allem auf die Demokratie gerichtet. Die kommunikativen Grundrechte sind in erster Linie Abwehrrechte. II. Grundrechtsqualität 1210 Die Zuordnung eines Rechts als soziales Recht besagt noch nichts über dessen Grundrechtsqualität. Grundrechte sollen die Grundlagen und Werte eines Gemeinwesens bilden, weshalb es sich bei ihnen um fundamentale Rechte handeln muss. Bei einigen in die EGRC aufgenommenen sozialen Rechten kann dies bezweifelt werden. So stellt es keine unverrückbare, für eine Wertegemeinschaft essenzielle Kernposition dar, wenn in Art. 29 EGRC jedem Menschen das Recht auf Zugang zu einem unentgeltlichen Arbeitsvermittlungsdienst gewährt wird.436 Dass in Art. 31 Abs. 2 EGRC jeder Arbeitnehmerin und jedem Arbeitnehmer das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub gewährt wird, bildet lediglich einen konkret ausformulierten Unterfall von Art. 31 Abs. 1 EGRC, der jeder Arbeitnehmerin und jedem Arbeitnehmer das Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen gibt.437 Eine erhebliche Bedeutung hat hingegen das Recht auf Kollektivverhandlungen und -maßnahmen und dabei v.a. das Streikrecht.438 Legt man bei der Einordnung der Grundrechte die deutsche Grundrechtsdogma1211 tik mit dem Zusatz der Grundsätze zugrunde, 439 wird man wie folgt differenzieren können: ein Freiheitsrecht gewährt Art. 28 EGRC; Grundrechte, die Schutzansprüche vermitteln, finden sich in Art. 30 EGRC, Art. 31 EGRC, Art. 32 EGRC und Art. 33 EGRC; Teilhaberechte gewähren Art. 29 EGRC und Art. 34 Abs. 2 EGRC; Grundsätze werden formuliert in Art. 34 Abs. 1 und 3 EGRC, Art. 35 S. 2 EGRC, Art. 36 EGRC, Art. 37 EGRC und Art. 38 EGRC,440 aber weitestgehend auch in Art. 27 EGRC.441
436 437 438 439 440 441
Everling, in: GS für Heinze, 2005, S. 157 (164). M. Weiss, AuR 2001, 374 (376). S.o. die Fälle Viking und Laval in Rn. 1109. S.o. Rn. 986 ff. Grabenwarter, DVBl. 2001, 1 (9 f.); Calliess, EuZW 2001, 261 (264); Kingreen, EuGRZ 2004, 570 (571). Näher Frenz, Europarecht 4, Rn. 3622 ff.
K. Justizielle Grundrechte
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III. Solidarische Rechte Die sozialen Grundrechte sind in die Charta vornehmlich unter dem mit „Solidari- 1212 tät“ überschriebenen Titel IV (Art. 27-38 EGRC) aufgenommen worden. Es gilt als „geschickter Schachzug“442 des Konventspräsidiums, den Streit im Grundrechtekonvent um die sozialen Rechte dadurch entschärft zu haben, dass die einschlägigen Rechtspositionen unter dem von den Konventsmitgliedern Braibant und Meyer vorgeschlagenen Begriff der Solidarität443 zusammengefasst wurden. Damit wurde das Reizwort der sozialen Grundrechte vermieden. Wenn die EGRC in Art. 35 S. 2 EGRC, Art. 37 EGRC und Art. 38 EGRC fest- 1213 legt, dass hohe Gesundheits-, Umweltschutz- und Verbraucherschutzniveaus sichergestellt werden, ist damit eine Wertentscheidung zugunsten dieser Güter getroffen, deren Schutz allen in der Solidarität verbundenen Mitgliedstaaten und den Organen und Einrichtungen der EU obliegt. Diese Grundsätze können daher auch als solidarische Grundrechte bezeichnet werden, da bei ihnen der Gedanke der Solidarität – weiter gehend als bei den übrigen sozialen Rechten – im Vordergrund steht.
J. Bürgerrechte Hinzu kommen Bürgerrechte, so die Wahlrechte nach Art. 30, 40 EGRC, das 1214 Recht auf eine gute Verwaltung gemäß Art. 41 EGRC, auf Zugang zu Dokumenten in Art. 42 EGRC wie auch in Art. 15 Abs. 3 AEUV, auf diplomatischen und konsularischen Schutz gemäß Art. 46 EGRC sowie Befassung des Bürgerbeauftragten nach Art. 43 EGRC und das Petitionsrecht in Art. 44 EGRC. Das Freizügigkeits- und Aufenthaltsrecht gemäß Art. 45 EGRC entspricht demnach Art. 21 AEUV.444
K. Justizielle Grundrechte I. Effektiver Rechtsschutz Art. 47 EGRC enthält das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz. Es handelt 1215 sich dabei um ein Recht akzessorischer Art, das an eine Verletzung anderer Rechte anknüpft.445 Das Recht auf effektiven Rechtsschutz kann also niemals weiter gehen als die zu überprüfende Verletzung subjektiver Rechte. Allerdings hat es durchaus eine gleichwertige Bedeutung, laufen doch die anderen Grundrechte weitgehend leer, wenn sie nicht wirksam gerichtlich durchgesetzt werden können. Daher handelt es sich um kein bloßes „Annexgrundrecht“. In verschiedenen Ausprägungen wird gewährleistet, dass tatsächliche oder po- 1216 tenzielle Verletzungen subjektiver Unionsrechte gerichtlicher Kontrolle unterlie442 443 444 445
Tettinger, NJW 2001, 1010 (1014). Vgl. Bernsdorff, VSSR 2001, 1 (15 f.). S.o. Rn. 323. Nowak, in: Heselhaus/Nowak, § 51 Rn. 9, 32.
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Kapitel 9: Grundrechte
gen. Unter dem Begriff des effektiven Rechtsschutzes befinden sich dabei nicht nur die Kernaussagen der Absätze von Art. 47 EGRC. Vielmehr sind auch die rechtsstaatlichen Ausprägungen des Grundsatzes des fairen Verfahrens erfasst. Dazu gehört insbesondere der Anspruch auf rechtliches Gehör, der das Recht zur Stellungnahme446 und deren notwendige Berücksichtigung 447 sowie die Waffen- und Chancengleichheit448 beinhaltet.449 Belastende Entscheidungen – etwa auch in Wettbewerbssachen mit den dort verhängten Bußgeldern – sind zu begründen.450 II. Überblick zu Art. 47 EGRC 1. Schutzbereich
1217
a) kein einheitliches Grundrecht, sondern selbstständige Gewährleistungen b) Abs. 1: gerichtlicher Rechtsschutz durch wirksamen Rechtsbehelf für subjektive Rechte, deren Verletzung schlüssig behauptet c) Abs. 2: gerichtliches und faires Verfahren, öffentlich in angemessener Frist (Anspruch auf rechtliches Gehör; Waffen- und Chancengleichheit; Verteidigung und Vertretung) d) Abs. 3: Prozesskostenhilfe, wenn nicht offensichtlich negative Erfolgsaussichten und Bedarf entsprechend Verfahrenskosten 2. Beeinträchtigung unfaires Verfahren z.B. bei Gewinnung von Beweismitteln durch unmenschliche Behandlung (Brechmittel, Androhung von Zwang) und Verwertung, außer nur untergeordnete Bedeutung bei späterem freiwilligem Geständnis 3. Rechtfertigung nur ausnahmsweise: z.B. im Interesse der nationalen Sicherheit, zum Schutz von Personen bzw. Privatsphäre
III. Schutz vor Strafverfolgung 1. Unschuldsvermutung 1218 Während im deutschen Recht die Unschuldsvermutung – trotz unstrittiger Anerkennung – nicht niedergeschrieben ist, findet sie sich in der EGRC in Art. 48 Abs. 1 EGRC ausdrücklich. Damit geht die Charta nicht nur mit der EMRK (Art. 6 Abs. 2 EMRK), sondern auch mit diversen Verfassungen der Mitgliedstaaten konform. Aus dem Zusammenspiel mit einem fairen Verfahren ergibt sich 446 447 448 449 450
EuGH, Rs. C-276/01, Slg. 2003, I-3735 (3779, Rn. 77) – Steffensen. S. EuGH, Rs. C-17/98, Slg. 2000, I-665 (671, Rn. 11 ff.) – Emesa Sugar. EuGH, Rs. C-13/99 P, Slg. 2000, I-4671 (4695, Rn. 32 ff.) – TEAM. Näher Frenz, Europarecht 4, Rn. 5033 ff. S. EuGH, Rs. C-156/98, Slg. 2000, I-6857 (6912, Rn. 105) – Deutschland/Kommission; Rs. C-15/98 u. 105/99, Slg. 2000, I-8855 (8915 f., Rn. 65 ff.) – Italien und Sardegna Lines/Kommission.
K. Justizielle Grundrechte
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das Recht zu schweigen und sich nicht selbst zu beschuldigen („nemo tenetur“Grundsatz) bzw. zu belasten – etwa durch die Preisgabe bestimmter Informationen, die etwa durch Täuschung erlangt werden sollen. 451 2. Verteidigungsrechte Gemäß Art. 48 Abs. 2 EGRC sind die Verteidigungsrechte jedes Angeklagten 1219 zu achten. Die Grundrechtecharta unterscheidet sich in ihrer Gewährleistung von Art. 6 Abs. 3 EMRK insofern, als sie deutlich kürzer formuliert ist und auf die beispielhafte Aufzählung in Form von Mindestgarantien verzichtet. Mit Leben gefüllt wird die Chartavorschrift durch die Rechtstraditionen der Mitgliedstaaten, aber – und hier zeigt sich ein prägnanter Fall von Art. 52 Abs. 3 EGRC –, die in der EMRK dargelegten Ausprägungen sind als Mindeststandard ebenso dem Art. 48 Abs. 2 EGRC zugrunde zu legen. Als lex specialis für die Strafverfahren steht die Vorschrift damit im Verhältnis 1220 zu Art. 47 Abs. 2 S. 2 EGRC. Viele der zu dieser Garantie festgestellten Vorgaben sind auch auf Art. 48 Abs. 2 EGRC zu übertragen.452 3. Gesetzmäßigkeit Die Gesetzmäßigkeit wird in Art. 49 Abs. 1 und 2 EGRC als wesentliche Voraus- 1221 setzung zur Bestrafung normiert. Da der Schwerpunkt nicht in einer verfahrensrechtlichen Garantie liegt, handelt es sich weniger um ein Prozessgrundrecht im eigentlichen Sinne, sondern primär um ein subjektives Abwehrrecht. Unter der „Gesetzlichkeit“ verbergen sich mehrere Gesichtspunkte, die allesamt 1222 der Berechenbarkeit der Strafgesetzgebung und -justiz dienen.453 Im Wesentlichen unterfallen damit das Erfordernis einer gesetzlichen Grundlage für verbotene Handlungen und ihre Strafe, das Bestimmtheitsgebot („nulla poena sine lege certa“), das Analogieverbot („nulla poena sine lege stricta“) und das Rückwirkungsverbot („nulla poena sine lege praevia“) den Vorgaben des Art. 49 Abs. 1 und 2 EGRC. 4. Verhältnismäßigkeit Gemäß Art. 49 Abs. 3 EGRC darf das Strafmaß gegenüber der Straftat nicht un- 1223 verhältnismäßig sein (Gebot der Verhältnismäßigkeit des Strafmaßes). Art. 49 Abs. 3 EGRC normiert hierbei einen Spezialfall des allgemeinen Prinzips, das bei jeder Einschränkung von Grundrechten zu beachten und zu wahren ist. 454 Gerade bei der Sanktionierung von Verhalten wird jedoch in besonders sensible Schutzbereiche eingegriffen, so dass die besondere Aufnahme in den Kanon der justiziellen Grundrechte passt. In deren Rahmen hat es freilich teilweise einen besonderen Gehalt. 451 452 453 454
Für den Einsatz von Brechmitteln EGMR, Nr. 54810/00 (Rn. 108), NJW 2006, 3117 (3123) – Jalloh/Deutschland. S. näher Frenz, Europarecht 4, Rn. 5056 ff. Kadelbach, in: Grote/Marauhn, EMRK/GG, 2006, Kap. 15 Rn. 9. Jarass, § 42 Rn. 17.
344
Kapitel 9: Grundrechte
5. Ne bis in idem 1224 Das Doppelbestrafungsverbot wurde mit der EGRC nicht völlig neu geschaffen. Frühe Urteile des EuGH bezogen sich auf wettbewerbliche Bußgelder.455 Für sie ist daher dieser Grundsatz fest anerkannt. Er gilt damit unabhängig von einer Erweiterung von Art. 50 EGRC über Straftaten hinaus auch für Sanktionen im Verwaltungsverfahren ohne strafrechtlichen Charakter. Art. 50 EGRC erweitert demgegenüber seinen Anwendungsbereich grenzüberschreitend, so dass ein transnationales Doppelbestrafungsverbot vorliegt. 456 6. Übersicht zu strafrechtlichen Garantien 1. Unschuldsvermutung, Art. 48 Abs. 1 EGRC a) auch bei Ordnungswidrigkeiten, z.T. Verwaltungssanktionen (str.) b) keine oder beschränkte Auswirkungen auf Zivil- und Arbeitsrecht (Verdachtskündigung) schon für Beschuldigten
1225
2. Verteidigungsrechte, Art. 48 Abs. 2 EGRC a) Verletzung nur bei möglichem negativem Einfluss auf Entscheidung b) Rechtfertigung bei Verhältnismäßigkeit 3. Gesetzmäßigkeit, Art. 49 Abs. 1 und 2 EGRC a) Bestimmtheitsgebot b) Analogieverbot c) Rückwirkungsverbot, v.a. „nulla poena sine lege“ d) Grundsatz des milderen Gesetzes 4. Verhältnismäßigkeit, Art. 49 Abs. 3 EGRC 5. „ne bis in idem“, Art. 50 EGRC
455 456
S. EuGH, Rs. 14/68, Slg. 1969, 1 – Walt Wilhelm; Rs. C-289/04 P, Slg. 2006, I-5859 (5907, Rn. 50) – Showa Denko KK. S. auch Frenz, Europarecht 4, Rn. 5173 ff.
Kapitel 10: Klagen vor dem Gerichtshof der EU Literatur: Dörr, Oliver/Lenz, Christofer, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, 2006; Everling, Ulrich, EuR 2009, Beiheft 1, 71 ff.; Frenz, Walter, Europarecht 5, 2010; Pechstein, Matthias, EU-/EG-Prozessrecht, 3. Aufl. 2007; Rengeling, Hans-Werner/ Middeke, Andreas/Gellermann, Martin (Hrsg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, 2. Aufl. 2003; Thiele, Alexander, Europäisches Prozessrecht, 2007. Leitentscheidungen: EuGH, Rs. 25/62, Slg. 1963, 211 – Plaumann; Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415 – C.I.L.F.I.T.; Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199 – Foto-Frost; Rs. C-453/00, Slg. 2004, I-837 – Kühne & Heitz; Rs. C-345/06, Slg. 2009, I-1659 – Heinrich; Rs. C421/06, EuR 2009, 241 – Cargill; EuG, Rs. T-177/01, Slg. 2002, II-2365 –Jégo-Quéré; BVerfGE 123, 267 – Lissabon; BVerfG, NJW 2010, 3422 – Mangold.
A. System des Rechtsschutzes Um die ihm durch Art. 19 EUV zugedachte Rolle als Wahrer des Rechts bei der 1226 Auslegung und Anwendung der Verträge ausfüllen zu können, sind für den Gerichtshof der EU in den Art. 258 ff. AEUV diverse Verfahrensarten vorgesehen. Vervollständigt wird das System des Rechtsschutzes durch die Möglichkeit einer inzidenten Kontrolle von Unionsnormen unter den Voraussetzungen des Art. 277 AEUV. Durch den Vertrag von Lissabon wurde des Weiteren die Subsidiaritätsklage eingeführt. Die verschiedenen Verfahrensarten lassen sich dem Ziel der jeweiligen Klage 1227 nach in drei Hauptgruppen unterteilen.1 Ob das Verhalten von Mitgliedstaaten die Verträge verletzt, wird im Rahmen des Vertragsverletzungsverfahrens nach den Art. 258, 259 AEUV überprüft. Um sicherzustellen, dass die Unionsorgane bei Ausübung ihrer von den Verträgen zugewiesenen Aufgaben nicht gegen Unionsrecht verstoßen, stehen in einer weiteren Gruppe die Verfahren der Nichtigkeitsklage (Art. 263 AEUV), der Untätigkeitsklage (Art. 265 AEUV), der Schadensersatzklage (Art. 268 AEUV) und der Beamtenstreitigkeiten (Art. 270 AEUV) zur Verfügung. Daneben kann gemäß Art. 218 Abs. 11 AEUV ein Gutachtenverfahren beim EuGH eingeleitet werden, um eine präventive Kontrolle zukünftiger Abschlüsse völkerrechtlicher Verträge herbeizuführen. In eine dritte Gruppe von Verfahrensarten fällt das Vorabentscheidungsverfahren gemäß Art. 267 AEUV. Dieses Verfahren unterscheidet sich von den übrigen dadurch, dass Rechtsstreitigkeiten nicht unmittelbar entschieden werden. Vielmehr wird nach
1
Geiger, in: Geiger/Khan/Kotzur, Art. 19 EUV Rn. 8 ff.
W. Frenz, Europarecht, DOI 10.1007/978-3-642-21019-8_10, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Kapitel 10: Klagen vor dem Gerichtshof der EU
Vorlage eines nationalen Gerichts abstrakt die Gültigkeit und Auslegung des Unionsrechts durch die europäische Gerichtsbarkeit bestimmt. 2
B. Vertragsverletzungsverfahren I. Grundlagen und Bedeutung 1228 Vertragsverletzungsverfahren sind für die Kontrolle der Einhaltung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten von großer Bedeutung. Ihre Funktion tritt vor allem in der Form des Aufsichtsverfahrens durch die Kommission nach Art. 258 AEUV zutage. Gemäß Art. 259 AEUV besteht weiter die Möglichkeit, dass ein Mitgliedstaat direkt gegen einen anderen Mitgliedstaat vorgeht, wenn er der Meinung ist, dass dieser Unionsrecht verletzt hat. Die Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258-260 AEUV stellen objektive 1229 Beanstandungsverfahren dar. Mit ihnen haben die Kommission wie auch einzelne Mitgliedstaaten ein Instrument, Vertragsverletzungen effektiv zu verfolgen und zu unterbinden. Eine individualrechtschützende Funktion kann dem Vertragsverletzungsverfahren hingegen allenfalls mittelbar zukommen. Die Kommission kann nämlich aufgrund von Beschwerden tätig werden, die von Einzelnen an sie gerichtet wurden.3 Eine solche Individualbeschwerde bringt der Kommission allerdings lediglich die tatsächliche oder vermeintliche Vertragsverletzung zur Kenntnis. Die Entscheidung über die Verfahrenseinleitung oder die Klageerhebung liegt dessen ungeachtet im Ermessen der Kommission, welches sich unter Umständen jedoch zu einer Pflicht verdichten kann.4 Das Vertragsverletzungsverfahren gehört zu den Direktklagen, die unmittelbar 1230 beim Gerichtshof der EU eingelegt werden können. 5 Bei beiden Varianten des Vertragsverletzungsverfahrens handelt es sich um Feststellungsklagen. Das bedeutet, dass die beanstandete nationale Maßnahme nicht etwa aufgehoben oder der Staat förmlich zur Beseitigung des vertragswidrigen Zustandes verurteilt werden kann.6 Es wird lediglich die Verletzung des Vertrages festgestellt. Nach Art. 260 Abs. 1 AEUV besteht für den Mitgliedstaat jedoch eine Handlungspflicht die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus dem Urteil ergeben. II. Aufsichtsklage der Kommission 1. Keine Sperrwirkung durch innerstaatlichen Rechtsstreit 1231 Die Unionsgerichtsbarkeit ist bei der Aufsichtsklage nach Art. 258 AEUV auch dann eröffnet, wenn die Vertragsverletzung Gegenstand einer gerichtlichen Aus2 3 4 5 6
EuGH, Rs. C-364/92, Slg. 1994, I-43 (57, Rn. 1) – Eurocontrol. Vgl. Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 226 EG Rn. 2 m.N. Hierzu Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 249. Vgl. Ehlers, Jura 2007, 684 (684). Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 6 Rn. 4.
B. Vertragsverletzungsverfahren
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einandersetzung im jeweiligen Mitgliedstaat ist. Es handelt sich um gänzlich unterschiedliche Verfahren mit verschiedenen Funktionen. Umgekehrt schließt auch die Möglichkeit der Anrufung des EuGH eine Klage vor dem innerstaatlichen Gericht nicht aus.7 2. Sachliche Zuständigkeit Die sachliche Zuständigkeit für eine Aufsichtsklage der Kommission liegt nach 1232 Art. 256 Abs. 1 UAbs. 1 S. 1 AEUV i.V.m. Art. 51 EuGH-Satzung beim EuGH. Dies ergibt sich im Wege der Negativ-Abgrenzung daraus, dass keine Zuständigkeit für das EuG in den genannten Vorschriften begründet ist, wodurch es bei der Zuständigkeit des EuGH bleibt. 3. Parteifähigkeit Parteifähig im Vertragsverletzungsverfahren sind gemäß Art. 258 AEUV die 1233 Kommission als Klägerin sowie die jeweiligen Mitgliedstaaten als Beklagte. 4. Klagegegenstand Zulässiger Klagegegenstand einer Vertragsverletzungsklage ist der vermeintliche 1234 oder tatsächliche Rechtsverstoß eines Mitgliedstaates gegen Unionsrecht. Entgegen dem Wortlaut des Art. 258 AEUV, der von einer Vereinbarkeit mit den Verträgen spricht, sind nicht nur der AEUV und EUV selbst gemeint, sondern sämtliches primäres wie sekundäres, geschriebenes wie ungeschriebenes Unionsrecht. Umfasst sind auch, falls anwendbar und für den Mitgliedstaat verbindlich, völkerrechtliche Bestimmungen. Darunter fallen die Abkommen mit Drittstaaten, die gemäß Art. 216 Abs. 2 AEUV für die Organe der Union und die Mitgliedstaaten verbindlich sind.8 Bei dem von der Kommission beanstandeten Verhalten muss es sich um einen 1235 dem Mitgliedstaat zurechenbaren Rechtsverstoß handeln. Im Unionsrecht werden die Mitgliedstaaten grundsätzlich als Handlungseinheit angesehen. Es spielt daher keine Rolle, welches staatliche Organ, welche Körperschaft oder Behörde den monierten Rechtsverstoß begangen hat.9 Bei föderativen Staaten wie der Bundesrepublik erstreckt sich die Verantwort- 1236 lichkeit des Mitgliedstaates daher auch auf die einzelnen Bundesländer und die Kommunen. Dies gilt grundsätzlich auch für unabhängige Organe.10 Es können daher nicht nur die Parlamente, sondern auch nachgeordnete Behörden und diesen Gleichgestellte wie etwa Beliehene eine dem Staat zurechenbare Vertragsverletzung begehen. Grundsätzlich sind auch von Gerichten begangene Vertrags-
7 8 9 10
EuGH, Rs. 133-136/85, Slg. 1987, 2334 (2338, Rn. 12) – Walter Rau. Ehlers, Jura 2007, 684 (685). Vgl. EuGH, Rs. C-361/88, Slg. 1991, I-2567 (2603, Rn. 22 ff.) – Kommission/ Deutschland. S. EuGH, Rs. C-129/00, Slg. 2003, I-14637 (14686, Rn. 29) – Kommission/Italien.
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verletzungen angreifbar.11 Aktuell werden kann dies etwa im Rahmen einer Ultravires- und Identitätskontrolle des BVerfG.12 Für die Zurechnung des Verhaltens öffentlicher oder privater Unternehmen ist 1237 erforderlich, dass der betreffende Mitgliedstaat sich zur Verwirklichung seiner Ziele Privater bedient und entscheidende Einflussnahmemöglichkeiten auf deren Verhalten hat.13 5. Vorverfahren 1238 Vor der Anrufung des EuGH sieht Art. 258 AEUV zwingend die Durchführung eines Vorverfahrens vor. Dies dient der Gewährung rechtlichen Gehörs sowie der Schonung der Souveränität der Mitgliedstaaten. 14 Zudem spielen Effektivitätsgesichtspunkte eine Rolle. Vor dem formellen Vorverfahren wird in der Praxis häufig zunächst informell 1239 versucht, auf dem Verhandlungswege eine Einigung mit dem Mitgliedstaat zu finden, zum Beispiel durch einfache Anschreiben an den Staat, bilaterale Besprechungen mit den verantwortlichen Dienststellen und dergleichen.15 Problemlösungen für Beschwerden Privater können noch ohne Einschaltung der Kommission im Rahmen des Konfliktlösungsportals SOLVIT zwischen den Mitgliedstaaten erarbeitet werden. Das formelle Vorverfahren selbst gliedert sich in verschiedene Teile. Zuerst 1240 verfasst die Kommission ein Mahnschreiben16 an den Mitgliedstaat. Das Mahnschreiben muss die Tatsachen benennen, in denen die Kommission eine Vertragsverletzung sieht, die Ankündigung aufnehmen, dass aufgrund der Vorwürfe ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet wurde sowie eine Aufforderung an den Mitgliedstaat enthalten, sich innerhalb angemessener Frist zu den Vorwürfen zu äußern. Der Mitgliedstaat hat sodann innerhalb der ihm gesetzten Frist Gelegenheit, ei1241 ne Gegendarstellung abzugeben. Ob eine Gegendarstellung tatsächlich erfolgt, ist zunächst unerheblich.17 Sofern danach noch keine Einigung erzielt werden kann, die Kommission sich also nicht von den Argumenten des Mitgliedstaates überzeugen lässt und dieser auch nicht das beanstandete Verhalten unterlässt bzw. der Mitgliedstaat sich gar nicht zu den Vorwürfen äußert, folgt eine mit Gründen versehene ausführliche Stellungnahme zu den Vorwürfen.
11 12 13 14 15 16 17
EuGH, Rs. 77/69, Slg. 1970, 237 (243, Rn. 15/16) – Kommission/Belgien. Vgl. hierzu BVerfGE 123, 267 (353 ff., 402) – Lissabon. Ehricke, in: Streinz, Art. 226 EGV Rn. 10; vgl. auch EuGH, Rs. C-353/96, Slg. 1998, I-8565 (8592 ff., Rn. 23, 36 ff.) – Kommission/Irland. Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 6 Rn. 9. Karpenstein/Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Art. 226 EGV Rn. 45 ff. Synonym werden auch die Begriffe Aufforderungs- oder Fristsetzungsschreiben verwendet. EuGH, Rs. 31/69, Slg. 1970, 25 (34, Rn. 13) – Kommission/Italien; Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 5 Rn. 21.
B. Vertragsverletzungsverfahren
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In der begründeten Stellungnahme fasst die Kommission alle relevanten Tat- 1242 sachen zusammen. Zudem sind die Rechtsgründe zu benennen, Beweismittel aufzuführen und eine Bewertung des Vertragsverstoßes abzugeben. Die Stellungnahme legt so den Streitgegenstand für den Fall eines gerichtlichen Verfahrens fest. Auch in der mit Gründen versehenen Stellungnahme muss die Kommission zudem eine angemessene Frist setzen, die dem Mitgliedstaat letztmalig Gelegenheit zum Einlenken und zur Herstellung eines vertragsgemäßen Zustandes bzw. zur Erwiderung auf die Vorwürfe der Kommission gibt. 6. Klageerhebung Tut der Mitgliedstaat dies nicht, so beschließt die Kommission über die Anrufung 1243 des Gerichtshofes der EU. Die Entscheidung über die Klageerhebung steht im Ermessen der Kommission. In Art. 258 Abs. 2 AEUV heißt es, die Kommission „kann“ den Gerichtshof der EU anrufen. Daraus ist abzuleiten, dass sie zum einen darüber beschließt, ob der Gerichtshof der EU angerufen wird. Zum anderen legt sie auch den Verfahrensgegenstand fest. Der EuGH entscheidet nur über die Vorwürfe, die mit der Klageschrift vorgebracht werden. 18 Eine Pflicht zur Einleitung des gerichtlichen Verfahrens besteht nicht. Der Ent- 1244 schluss der Kommission ist nicht anfechtbar. Sollte die Kommission nicht für die Anrufung des Gerichts entscheiden, so kann auch dies nicht etwa mit der Untätigkeitsklage angegriffen werden.19 7. Zulässigkeit der Klage a) Ordnungsgemäße Klageerhebung Die Klageschrift muss schriftlich eingereicht werden und inhaltlich den Anforde- 1245 rungen aus Art. 21 EuGH-Satzung, Art. 37 f. EuGH-VerfO entsprechen. Sie muss also neben Namen und Sitz des Klägers die Bezeichnung des Beklagten, den Streitgegenstand und die kurze Darstellung der Klagegründe sowie die Anträge des Klägers und gegebenenfalls die Beweismittel enthalten. Zumindest in knapper Form sind also die tatsächlichen und rechtlichen Gründe der Klage zu benennen. Der Klageantrag muss auf Feststellung des vertragswidrigen Verhaltens des Mitgliedstaates lauten.20 b) Ordnungsgemäßes Vorverfahren Weiterhin setzt die Zulässigkeit der Klage den ordnungsgemäßen Ablauf des eben 1246 geschilderten vorprozessualen Verfahrens voraus. c) Klagefrist Generell gilt keine besondere Klagefrist. Auch der Zeitpunkt der Klageerhebung 1247 18 19 20
Vgl. Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 6 Rn. 33. EuGH, Rs. 247/87, Slg. 1989, I-291 (301, Rn. 11 ff.) – Star Fruit Company SA. Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 6 Rn. 32.
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steht grundsätzlich im Ermessen der Kommission, das nicht gerichtlich nachgeprüft wird.21 Eine Vertragsverletzungsklage kann frühestens mit dem fruchtlosen Ablauf der in der begründeten Stellungnahme gesetzten Frist erhoben werden. In Extremfällen ist denkbar, dass die Kommission ihr Klagerecht nach Verstreichen eines sehr langen Zeitraums verwirkt.22 d) Rechtsschutzbedürfnis 1248 Nach der Rechtsprechung des EuGH hat die Kommission grundsätzlich kein spezifisches oder gar individuelles Rechtsschutzinteresse nachzuweisen. Dies ergibt sich daraus, dass es beim Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV nicht um den Schutz eigener Rechte der Kommission geht. 23 Daher ist auch ein etwaiges vertrauensbegründendes Verhalten gegenüber dem beklagten Mitgliedstaat vor der Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens bedeutungslos. Allerdings geht der EuGH auf das Rechtsschutzinteresse immer dann ein, wenn die gerügte Vertragsverletzung in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht erledigt ist.24 8. Begründetheit der Klage 1249 Eine Vertragsverletzungsklage ist begründet, wenn der behauptete Vertragsverstoß rechtlich und tatsächlich gegeben ist. Die behaupteten Tatsachen müssen also zur Überzeugung des EuGH nachgewiesen sein und objektiv eine Vertragsverletzung darstellen.25 Die Vertragsverletzung muss ferner als eine des Mitgliedstaates angesehen werden können. Zur Verteidigung ihres Verhaltens können die Mitgliedstaaten zum einen den 1250 zur Last gelegten Sachverhalt bestreiten. Zum anderen kann der Vertragsverstoß aus rechtlichen Erwägungen zurückgewiesen werden. Letzteres bildet den Regelfall.26 Keine rechtfertigende Wirkung hat dabei der Einwand, aus internen Gründen habe eine Richtlinie nicht schnell genug angewandt oder umgesetzt werden können, auch wenn verfassungsrechtliche Hindernisse bestanden.27 Damit geht für Deutschland auch ein Verweis auf die Ultra-vires- und die Identitätskontrolle des BVerfG, welche die Anwendung von Unionsrecht hindern soll, 28 ins Leere. Die Behauptung, andere Mitgliedstaaten seien ihren vertraglichen Verpflich1251 tungen auch nicht nachgekommen, berührt die Unrechtmäßigkeit des eigenen Verhaltens ebenfalls nicht.29 Auch der Einwand, wegen des Geltungsvorrangs des Unionsrechts bzw. der teilweise unmittelbaren Wirkung von Richtlinien sei eine 21 22 23 24 25 26 27 28 29
EuGH, Rs. C-422/92, Slg. 1995, I-1097 (1131, Rn. 18) – Kommission/Deutschland. Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 226 EG Rn. 43. EuGH, Rs. C-422/92, Slg. 1995, I-1097 (1130, Rn. 16) – Kommission/Deutschland; Rs. C-431/92, Slg. 1995, I-2189 (2219, Rn. 21) – Großkrotzenburg. Vgl. Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 281. Vgl. Schwarze, in: ders., Art. 226 EGV Rn. 27. Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 6 Rn. 47. EuGH, Rs. C-358/03, Slg. 2004, I-12055 (12062, Rn. 13) – Kommission/Österreich. BVerfGE 123, 267 (353 ff., 402) – Lissabon. EuGH, Rs. 325/82, Slg. 1984, 777 (793, Rn. 10 f.) – „Butterfahrten“.
B. Vertragsverletzungsverfahren
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Änderung der nationalen Vorschriften entbehrlich, greift nicht. 30 Bereits der Anschein anderslautenden nationalen Rechts kann die Einhaltung des Unionsrechts gefährden.31 Allein den Einwand objektiver Unmöglichkeit lässt der EuGH unter Umstän- 1252 den gelten. Dies setzt aber voraus, dass der Mitgliedstaat seine Probleme bei der Durchführung des Unionsrechts den zuständigen Unionsorganen vorlegt und nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit gemäß Art. 4 Abs. 3 EUV eine Lösung zu finden versucht.32 9. Das feststellende Urteil im Vertragsverletzungsverfahren Erweist sich die Vertragsverletzungsklage als zulässig und begründet, so stellt der 1253 Gerichtshof der EU nach Art. 260 Abs. 1 AEUV lediglich fest, dass der beklagte Mitgliedstaat gegen eine ihm obliegende Verpflichtung aus dem Unionsrecht verstoßen hat. Dieses Feststellungsurteil ist weder ein vollstreckungsfähiger Titel noch hat es rechtsgestaltende Wirkung.33 Der betreffende Mitgliedstaat ist vielmehr ex nunc zur Behebung des vertragswidrigen Zustandes verpflichtet (Art. 260 Abs. 1 AEUV).34 Der EuGH kann ihm nicht aufgeben, bestimmte Maßnahmen zu ergreifen.35 Liegt der Vorwurf gegenüber dem Mitgliedstaat jedoch in einem Unterlassen, können zumindest den Urteilsgründen in aller Regel die gebotenen Maßnahmen entnommen werden.36 Der Mitgliedstaat hat demnach die festgestellte Vertragsverletzung für die Zu- 1254 kunft abzustellen. Umstritten ist hingegen, ob er auch zur Beseitigung der Folgen seines Vertragsverstoßes verpflichtet ist.37 Eine Folgenbeseitigung kann sich jedenfalls im Einzelfall aus dem Urteilstenor ergeben, wenn die Kommission gerade die Nichtbeseitigung der Folgen einer Vertragsverletzung zum Gegenstand des Verfahrens gemacht hat. 10. Sanktionsverfahren Um trotz der fehlenden Vollstreckbarkeit des Vertragsverletzungsurteils die wirk- 1255 same Anwendung des Europarechts sicherzustellen, sieht Art. 260 Abs. 2 und 3 AEUV ein spezielles Sanktionsverfahren vor, mit dessen Hilfe der verurteilte Staat zum urteilsgemäßen Verhalten bewegt werden soll. Die Kommission erhält
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EuGH, Rs. C-253/95, Slg. 1996, I-2423 (2430, Rn. 13) – Kommission/Deutschland. Vgl. Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 6 Rn. 47. S. EuGH, Rs. C-280/95, Slg. 1998, I-259 (276 f., Rn. 13 ff.) – Kommission/Italien. Cremer, in: Calliess/Ruffert, Art. 228 EGV Rn. 1. Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 300. EuGH, Rs. C-104/02, Slg. 2005, I-2689 (2720, Rn. 49) – Kommission/Deutschland. Vgl. Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 298. Ausführlich hierzu Karpenstein/Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Art. 228 EGV Rn. 12 ff. m.w.N.
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Kapitel 10: Klagen vor dem Gerichtshof der EU
damit die Möglichkeit, beim EuGH die Verhängung eines Zwangsgeldes oder eines Pauschalbetrags gegen den Mitgliedstaat zu beantragen.38 Art. 260 Abs. 3 AEUV erlaubt es dem EuGH dabei sogar, bereits im ersten Ur1256 teil Sanktionen festzusetzen, die die Kommission benannt hat, wenn ein Mitgliedstaat gegen seine Verpflichtung verstoßen hat, Maßnahmen zur Umsetzung einer gemäß einem Gesetzgebungsverfahren erlassenen Richtlinie mitzuteilen.39 Die vom EuGH verhängten Sanktionen sind dann gegenüber den Mitgliedstaa1257 ten vollstreckbar.40 Ob auch eine Aufrechnung mit Zwangsgeldforderungen gegen säumige Mitgliedstaaten erfolgen kann, 41 wird mangels eindeutiger Rechtsgrundlage in den einzelnen Finanzordnungen der Union bezweifelt. 42 11. Spezielle Vertragsverletzungsverfahren 1258 An verschiedenen Stellen enthält das Unionsrecht für Vertragsverletzungen spezielle Regelungen. So für das Beihilfeverfahren in Art. 108 Abs. 2 AEUV oder für Streitsachen über die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten aus den Satzungen der EIB und des ESZB sowie der EZB in Art. 271 AEUV. Als weitere Sonderfälle ermöglichen Art. 114 Abs. 9 AEUV und Art. 348 Abs. 2 AEUV eine unmittelbare Anrufung des Gerichtshofes der EU ohne Vorverfahren. Da gemäß Art. 126 Abs. 10 im Rahmen der Haushaltsüberwachung das Klagerecht nach Art. 258, 259 AEUV nicht ausgeübt werden kann, sieht Art. 126 AEUV eine besondere Vorgehensweise vor. Zudem können sekundärrechtlich besondere Verfahren festgelegt sein. III. Staatenklage 1. Funktion und Bedeutung 1259 Die Staatenklage nach Art. 259 AEUV entspricht im Wesentlichen dem Verfahren gemäß Art. 258 AEUV. Da die Mitgliedstaaten anders als die Kommission jedoch nicht die Aufgabe haben, die Einhaltung der Verträge durch andere Mitgliedstaaten zu kontrollieren, erfüllt das Verfahren nach Art. 259 AEUV eine etwas andere Funktion. Die Einhaltung der Verträge liegt im Interesse aller Mitgliedstaaten. Um diesem Interesse auch prozessual gerecht zu werden, wird durch Art. 259
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Beide Sanktionen können grundsätzlich parallel verhängt werden, vgl. EuGH, Rs. C304/02, Slg. 2005, I-6263 (6345 f., Rn. 81 ff.) – Kommission/Frankreich; ausführlich Huck/Klieve, EuR 2006, 413 ff. Everling, EuR 2009, Beiheft 1, 71 (81 f.). Vgl. Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 244 EG Rn. 2; a.A. Härtel, EuR 2001, 617 (621) m.w.N. So Schoo, in: Schwarze, Art. 256 EGV Rn. 7; abl. wegen der vollstreckungsähnlichen Wirkung Härtel, EuR 2001, 617 (622). So Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 228 EG Rn. 23; Heidig, EuR 2000, 782 (791).
B. Vertragsverletzungsverfahren
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AEUV jedem Mitgliedstaat die Möglichkeit gegeben, nach Durchführung eines Vorverfahrens den Gerichtshof der EU anzurufen. 2. Vorverfahren Unterschiede zwischen beiden Verfahren ergeben sich etwa beim Vorverfahren. 1260 Anders als beim Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV sind bei der Staatenklage drei Parteien am Vorverfahren beteiligt. Art. 259 Abs. 2 und 3 AEUV sehen zwingend vor, dass der Mitgliedstaat vor Klageerhebung die Kommission mit der Sache befasst. Diese nimmt in etwa die Position eines „Schiedsrichters“ ein. a) Befassung der Kommission Der Mitgliedstaat ist im Rahmen der Befassung der Kommission verpflichtet, die 1261 relevanten Tatsachen und die rechtlichen Vorwürfe, die er daraus ableitet, substantiiert vorzutragen. Dies dient unter anderem der Eingrenzung des Streitgegenstandes. Zudem muss aus dem Vortrag des Mitgliedstaates deutlich hervorgehen, dass er selbst eine Klage vor dem EuGH anstrebt und nicht lediglich ein Vertragsverletzungsverfahren bei der Kommission anregen will.43 b) Anhörung Nachdem die Kommission mit der Sache befasst wurde, gibt sie gemäß Art. 259 1262 Abs. 3 AEUV den beteiligten Mitgliedstaaten Gelegenheit zu schriftlicher und mündlicher Äußerung in einem kontradiktorischen Verfahren. Hierin liegt ein Unterschied zum Verfahren nach Art. 258 AEUV, wo nicht explizit die mündliche und schriftliche Äußerung verlangt wird. c) Mit Gründen versehene Stellungnahme der Kommission Das Vorverfahren schließt die Kommission durch eine mit Gründen versehene 1263 Stellungnahme ab. Diese Stellungnahme unterscheidet sich von der im Verfahren nach Art. 258 AEUV erheblich. Die Kommission kann sich zustimmend oder auch ablehnend zu den erhobenen Vorwürfen äußern. Dies folgt aus ihrer Position im Verfahren, wonach sie selbst nicht Partei in dem möglicherweise folgenden Klageverfahren ist. Der Inhalt der Stellungnahme oder eine etwaige Fristsetzung durch die Kommission haben keinen Einfluss auf das Klagerecht des Mitgliedstaates. Auch beeinflusst die Stellungnahme den Streitgegenstand nicht. Dieser definiert sich bei der Staatenklage durch den mitgliedstaatlichen Antrag. 44 Die Stellungnahme der Kommission soll innerhalb einer Dreimonatsfrist, „nach- 1264 dem ein entsprechender Antrag gestellt wurde“, abgegeben werden. Geschieht dies
43 44
Schwarze, in: ders., Art. 227 EGV Rn. 4. Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 226 EG Rn. 13 u. 16.
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nicht, so kann der Mitgliedstaat dennoch Klage erheben, Art. 259 Abs. 4 AEUV. Die Stellungnahme ist also nicht Sachurteilsvoraussetzung.45 3. Rechtsschutzbedürfnis 1265 Ein besonderes Rechtsschutzbedürfnis ist grundsätzlich auch bei der Staatenklage nicht nachzuweisen. Erledigt sich der Streitgegenstand noch vor Klageerhebung, soll allerdings die Klage unzulässig sein.46 Wird der beanstandete Vertragsverstoß während des Verfahrens aufgehoben, soll ebenfalls ein Rechtsschutzinteresse des klagenden Mitgliedstaates erforderlich sein. 47 Ein Unterschied im Rechtsschutzbedürfnis zur Aufsichtsklage der Kommission 1266 besteht jedenfalls darin, dass ein Mitgliedstaat schwerlich gegen das Verhalten eines Mitgliedstaates vorgehen kann, wenn er sich mit diesem einverstanden erklärt hat. Zwar dient auch die Staatenklage der Wahrung des Unionsrechts. Indes haben die Mitgliedstaaten keine spezifische Hüterrolle wie die Kommission. 4. GASP und PJZS 1267 Die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS) wurde mit dem Vertrag von Lissabon dem allgemeinen Rechtsschutzsystem unterstellt, so dass Vertragsverletzungsverfahren grundsätzlich zulässig sind.48 Nach Art. 276 AEUV gilt dies jedoch nicht für die Überprüfung der Gültigkeit und Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit. Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 S. 6 EUV i.V.m. Art. 275 AEUV erklärt den Gerichts1268 hof der EU im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) für nicht zuständig, mit Ausnahme der in Art. 275 Abs. 2 AEUV normierten Sonderfälle. 5. Prüfungsschema I. Zulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens 1. Eröffnung der Unionsgerichtsbarkeit Keine Sperrwirkung durch innerstaatlichen Rechtsstreit
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45 46 47 48
Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 314. Karpenstein/Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Art. 226 EGV Rn. 18. Vgl. Karpenstein/Karpenstein, in: Grabitz/Hilf, Art. 226 EGV Rn. 20; differenzierend Frenz, Europarecht 5, Rn. 2701. Beachte jedoch Art. 10 des Protokolls (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen, nach dem die Befugnisse des Gerichtshofes hinsichtlich der vor Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon auf der Grundlage des Titels VI EU angenommenen Rechtsakte für eine Übergangsfrist von bis zu fünf Jahren unverändert bleiben und Art. 258 AEUV nicht gilt.
B. Vertragsverletzungsverfahren 2. Sachliche Zuständigkeit EuGH gemäß Art. 256 Abs. 1 i.V.m. Art. 51 EuGH-Satzung 3. Parteifähigkeit a) Aufsichtsklage Kommission aktiv parteifähig, Mitgliedstaaten passiv parteifähig, Art. 258 Abs. 1 AEUV b) Staatenklage Mitgliedstaaten aktiv und passiv parteifähig, Art. 259 Abs. 1 AEUV 4. Klagegegenstand „Verstoß gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen“ nach Art. 258 Abs. 1 AEUV/Art. 259 Abs. 1 AEUV d.h. Primärrecht (AEUV und EUV), Sekundärrecht und in das Unionsrecht integriertes Völkerrecht, egal ob geschrieben oder ungeschrieben 5. Vorverfahren entbehrlich in den Fällen der Art. 114 Abs. 9 und 348 Abs. 2 AEUV, modifiziert im Rahmen des Art. 108 Abs. 2 AEUV a) Aufsichtsklage Art. 258 Abs. 1 und 2 AEUV - Mahnschreiben der Kommission an den Mitgliedstaat mit Aufforderung, sich innerhalb einer angemessenen Frist zu der vorgeworfenen Vertragsverletzung zu äußern - mit Gründen versehene Stellungnahme der Kommission mit Fristsetzung zur Beseitigung bzw. Äußerung zur Vertragsverletzung b) Staatenklage Art. 259 Abs. 2-4 AEUV - Befassung der Kommission durch Mitgliedstaat (Abs. 2) - Kommission gibt Mitgliedstaaten Gelegenheit zur schriftlichen und mündlichen Äußerung im kontradiktorischen Verfahren (Abs. 3) - mit Gründen versehene Stellungnahme der Kommission (Abs. 3); keine Sachurteilsvoraussetzung, Klage auch möglich, wenn nicht innerhalb von drei Monaten nach Befassung abgegeben (Abs. 4) 6. Klagefrist a) Aufsichtsklage keine; Klageerhebung jedoch frühestens nach Ablauf der in der Stellungnahme gesetzten Frist b) Staatenklage keine; Klageerhebung jedoch frühestens nach Abgabe der Stellungnahme bzw. drei Monate nach Befassung der Kommission, s. Art. 259 Abs. 4 AEUV 7. Ordnungsgemäße Klageerhebung Art. 21 EuGH-Satzung, Art. 37 f. EuGH-VerfO 8. Rechtsschutzbedürfnis
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Kapitel 10: Klagen vor dem Gerichtshof der EU a) Aufsichtsklage grds. kein Nachweis eines Rechtsschutzbedürfnisses durch die Kommission notwendig (objektives Beanstandungsverfahren); besteht, solange gerügte Vertragsverletzung fortbesteht (Zeitpunkt des Ablaufs der in der Stellungnahme gesetzten Frist maßgeblich); darüber hinaus nur bei Wiederholungsgefahr, Haftungsfragen und bei Klärung essenzieller Rechtsfragen der Union b) Staatenklage grds. kein Nachweis eines Rechtsschutzbedürfnisses durch den Mitgliedstaat notwendig (objektives Beanstandungsverfahren); entfällt nur, wenn Vertragsverletzung vor Klageerhebung behoben (Ausnahmen s.o.) oder klagender Mitgliedstaat damit einverstanden war II. Begründetheit des Vertragsverletzungsverfahrens 1. Verstoß gegen Unionsrecht Vertragsverstoß rechtlich und tatsächlich gegeben und Mitgliedstaat zurechenbar 2. Keine Rechtfertigungsgründe z.B. objektive Unmöglichkeit
C. Nichtigkeitsklage I. Grundlagen und Bedeutung 1270 Der Gerichtshof der EU überwacht gemäß Art. 263 AEUV die Rechtmäßigkeit der verbindlichen Handlungen der Unionsorgane und der Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU. Zu diesem Zweck kann er im Klagewege „wegen Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung der Verträge oder einer bei deren Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm oder Ermessensmissbrauchs“ angerufen werden, Art. 263 Abs. 2 AEUV. Die Nichtigkeitsklage ermöglicht somit eine gerichtliche Kontrolle des relativ weiten Handlungsspielraums der beteiligten Organe bei der Sekundärrechtsetzung. Nur der Gerichtshof der EU kann rechtsverbindlich über die Rechtmäßigkeit von Unionsrecht entscheiden. Es gibt drei verschiedene Formen der Nichtigkeitsklage. Zum einen sind das 1271 die Staaten- und Organnichtigkeitsklage nach Art. 263 Abs. 2 AEUV und die Klage des Rechnungshofes, der EZB bzw. des Ausschusses der Regionen nach Art. 263 Abs. 3 AEUV. Zum anderen ist es die individualbezogene Klage natürlicher und juristischer Personen nach Art. 263 Abs. 4 AEUV. Die unterschiedlichen Nichtigkeitsklagen haben zum Teil unterschiedliche Sachurteilsvoraussetzungen, ähneln sich aber im Wesentlichen. Vor allem in ihrer Ausprägung als institutionenbezogenes Verfahren dient die 1272 Nichtigkeitsklage der objektiven Rechtmäßigkeitskontrolle. Soweit sie von Privaten erhoben wird, dient sie auch dem subjektiven Rechtsschutz. Die Nichtigkeitsklage ist auf die Aufhebung unrechtmäßiger Rechtsakte gerichtet. Daher handelt es sich um eine Gestaltungsklage. Sie ist mit der Vertragsverletzungsklage die wichtigste Direktklage des Unionsrechts.
C. Nichtigkeitsklage
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II. Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage 1. Sachliche Zuständigkeit Die sachliche Zuständigkeit des EuG und des EuGH ergibt sich aus Art. 256 1273 Abs. 1 AEUV i.V.m. Art. 51 EuGH-Satzung. Hiernach ist der EuGH, bis auf wenige in Art. 51 EuGH-Satzung genannte Ausnahmen, für die Nichtigkeitsklagen der Mitgliedstaaten und der Unionsorgane zuständig. Für die mit dem Vertrag von Lissabon neu eingeführten Klagen des Ausschus- 1274 ses der Regionen (AdR) trifft Art. 51 EuGH-Satzung keine ausdrückliche Zuweisung. Nach Art. 13 Abs. 4 EUV und Art. 300 AEUV zählt der AdR nicht zu den Unionsorganen, sondern ist lediglich beratende Einrichtung der Union. Auch die durch den Vertrag von Lissabon geschaffenen Nichtigkeitsklagen gegen Handlungen des Europäischen Rates und der Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union werden bisher in Art. 51 EuGH-Satzung nicht berücksichtigt. Möglicherweise ist hier jedoch eine extensive Auslegung des Art. 51 EuGH-Satzung angezeigt.49 Für Nichtigkeitsklagen juristischer und natürlicher Personen ist jedenfalls das EuG erstinstanzlich zuständig. 2. Parteifähigkeit a) Privilegierte Kläger Die Mitgliedstaaten, der Rat, die Kommission und das Europäische Parlament 1275 sind nach Art. 263 Abs. 2 AEUV aktiv parteifähig. Sie bilden den Kreis der privilegierten Kläger und sind bei ihrer Klage nicht auf die Wahrnehmung eigener Rechte beschränkt. Dabei bezieht sich die aktive Parteifähigkeit der Mitgliedstaaten auf den Ge- 1276 samtstaat und nicht auf Teilgebiete wie föderative Unterteilungen. Gebietskörperschaften können aber als juristische Personen (des öffentlichen Rechts) nach Art. 263 Abs. 4 AEUV Klage erheben. Hinsichtlich des Europäischen Parlaments bezieht sich die aktive Parteifä- 1277 higkeit ebenfalls lediglich auf das Parlament als Gesamtorgan. Teile des Parlaments, wie die Fraktionen, sind unter Umständen jedoch als juristische Personen nach Art. 263 Abs. 4 AEUV parteifähig.50 b) Teilprivilegierte Kläger Nach Art. 263 Abs. 3 AEUV sind auch der Rechnungshof und die EZB aktiv 1278 parteifähig. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde weiter dem AdR die aktive
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So Pache, in: Vedder/Heintschel v. Heinegg, Europäischer Verfassungsvertrag, 2007, Art. III-365 Rn. 9. EuGH, Rs. 78/85, Slg. 1986, 1753 (1757, Rn. 10) – Fraktion der Europäischen Rechten/Parlament.
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Parteifähigkeit zuerkannt. Alle drei gehören zu den sogenannten teilprivilegierten Klägern, die ihre Klage nur auf die Geltendmachung eigener Rechte stützen können. c) WSA 1279 Der Vertrag von Lissabon hat zwar die Parteifähigkeit des AdR, nicht aber des Wirtschafts- und Sozialausschusses (WSA) eingeführt. Entsprechend dieser ausdrücklichen Erweiterung ist die Aufzählung in Art. 263 Abs. 3 AEUV abschließend. d) Europäischer Rat 1280 Der Europäische Rat ist zwar gemäß Art. 263 Abs. 1 AEUV nunmehr passiv und im Rahmen der Untätigkeitsklage als Organ auch aktiv parteifähig. Nichtigkeitsklagen des Europäischen Rates sieht Art. 263 Abs. 2 AEUV aber ebenfalls nicht vor. e) Natürliche und juristische Personen 1281 Die Parteifähigkeit natürlicher und juristischer Personen ergibt sich aus Art. 263 Abs. 4 AEUV. Aktiv parteifähig ist demnach „jede natürliche oder juristische Person“. Wie sich aus dem Zusatz „jede“ ergibt, ist der Kreis der parteifähigen natürlichen und juristischen Personen weit zu fassen. Daher können auch Staatsangehörige von Drittstaaten Partei im Prozess sein, selbst wenn sie ihren Wohnsitz oder Aufenthaltsort bzw. ihren Gründungs- oder Geschäftssitz nicht in einem Mitgliedstaat haben.51 Der Begriff der juristischen Person ist ein eigenständiger unionsrechtlicher 1282 Rechtsbegriff, der nicht notwendig mit den Definitionen der verschiedenen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten übereinstimmt. 52 Parteifähig sind demnach alle Körperschaften, Verbände und Kapitalgesellschaften des öffentlichen und privaten Rechts, denen nach nationalem Recht Rechtspersönlichkeit zukommt, insbesondere die nach nationalem Recht partei- und prozessfähigen Gebietskörperschaften53 sowie die zur Wahrnehmung kollektiver Interessen einer Gruppe gegründeten Vereinigungen wie Berufsvereinigungen,54 Gewerkschaften55 und Unternehmensverbände.56
51 52 53 54 55 56
EuGH, Rs. 239 u. 275/82, Slg. 1984, 1005 (1030, Rn. 11 ff.) – Allied Corporation; Rs. 240/84, Slg. 1987, 1809 (1851, Rn. 5) – Toyo. EuGH, Rs. 135/81, Slg. 1982, 3799 (3808, Rn. 10) – Agences de Voyages. S. EuGH, Rs. C-95/97, Slg. 1997, I-1787 (1793, Rn. 11) – Wallonische Region. EuGH, Rs. 297/86, Slg. 1988, 3531 (3552, Rn. 9) – CIDA. EuGH, Rs. 175/73, Slg. 1974, 917 (924 f., Rn. 9/13) – Gewerkschaftsbund. EuGH, Rs. 67 u.a./85, Slg. 1988, 219 (268 f. Rn. 18 ff.) – van der Kooy.
C. Nichtigkeitsklage
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f) Passive Parteifähigkeit Die passive Parteifähigkeit ergibt sich sowohl für die Klagen der (teil-)privilegier- 1283 ten Kläger als auch für Individualnichtigkeitsklagen aus Art. 263 Abs. 1 AEUV. Demnach sind der Rat, die Kommission, das Parlament und die EZB passiv parteifähig – Rat und Parlament auch gemeinsam. Mit dem Vertrag von Lissabon ist darüber hinaus auch dem Europäischen Rat sowie den Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union die passive Parteifähigkeit zuerkannt worden. 57 Der Rechnungshof ist nicht ausdrücklich in Art. 263 Abs. 1 AEUV benannt. Ihm ist aber jedenfalls als Einrichtung der Union die passive Parteifähigkeit zuzubilligen. Grundsätzlich ist die Nichtigkeitsklage gegenüber demjenigen Organ zu erhe- 1284 ben, das den angegriffenen Rechtsakt erlassen hat. Es kommt darauf an, wem die streitgegenständliche Maßnahme letztverantwortlich zuzurechnen ist. 3. Klagegegenstand a) Erweiterter Ansatz Die Liste zulässiger Klagegegenstände ist in Art. 263 Abs. 1 AEUV normiert. Der 1285 Gerichtshof der EU überwacht demnach die Rechtmäßigkeit der Gesetzgebungsakte sowie der Handlungen des Rates, der Kommission und der EZB, soweit es sich nicht um Empfehlungen und Stellungnahmen handelt. Darüber hinaus sieht Art. 263 Abs. 1 S. 1 AEUV neben den Handlungen des Europäischen Parlaments auch die Handlungen des Europäischen Rates mit Rechtswirkung gegenüber Dritten als Klagegegenstände vor, in Satz 2 zudem die Handlungen von Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union mit Rechtswirkung gegenüber Dritten. b) Abgrenzung zur Untätigkeitsklage Bei dem Klagegegenstand muss es sich um eine Handlung, also ein positives Tun 1286 handeln. Klagen, die sich gegen ein Unterlassen einer Unionsinstitution richten, sind mit der Untätigkeitsklage zu verfolgen. Kein Unterlassen, sondern eine Handlung im Sinne des Art. 263 AEUV stellt jedoch die Ablehnung einer begehrten Regelung dar oder ein aus der Sicht des Rechtssuchenden unvollständiges Tätigwerden.58 c) Keine Besonderheit der Individualnichtigkeitsklage Organ- und Staatennichtigkeitsklagen können sich grundsätzlich gegen jede in 1287 Art. 263 Abs. 1 AEUV beschriebene Handlung richten. Für Individualnichtigkeitsklagen verweist Art. 263 Abs. 4 AEUV ebenfalls auf Art. 263 Abs. 1 AEUV. Lediglich hinsichtlich der Klagebefugnis wird bei der Individualnichtigkeitsklage zwischen verschiedenen Klagegegenständen differenziert. Dem Klagegegenstand nach bezieht sich die Individualnichtigkeitsklage gleichwohl allgemein auf „Hand57 58
Vgl. zu letzteren Art. 263 Abs. 1 S. 2 AEUV sowie die Einschränkungen hinsichtlich Individualklagen Art. 263 Abs. 5 AEUV. Ehlers, Jura 2009, 31 (32).
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lungen“ der Union, also auf alle Maßnahmen, die Rechtswirkung erzeugen und die Interessen des Klägers beeinträchtigen, unabhängig von ihrer Form. 59 Insofern besteht kein Unterschied zur Staaten- oder Organnichtigkeitsklage. d) Verbindliche Handlung eines Unionsorgans 1288 Es muss sich bei der anzugreifenden Handlung also um einen Rechtsakt eines der in Art. 263 Abs. 1 AEUV genannten Organe oder der Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union handeln. Kein tauglicher Klagegegenstand liegt vor, wenn das Handeln den einzelnen Mitgliedstaaten zuzurechnen ist. Die Art der anfechtbaren Handlungen wird dahin gehend eingeschränkt, dass 1289 nach Art. 288 Abs. 5 AEUV nicht verbindliche Empfehlungen oder Stellungnahmen ausgenommen sind. Dies gilt auch für weitere unverbindliche Handlungen. Alle sonstigen Handlungen, die Rechtswirkungen erzeugen, sind hingegen mit der Nichtigkeitsklage angreifbar, unabhängig von ihrer Rechtsnatur und Form.60 e) Außenwirkung 1290 Des Weiteren muss die betreffende Handlung Außenwirkung entfalten. Ausdrückliche Erwähnung findet dies bei Klagen gegen das Europäische Parlament und den Europäischen Rat sowie solche nach Art. 263 Abs. 1 S. 2 AEUV, die sich gegen eine Handlung „mit Rechtswirkung gegenüber Dritten“ richten müssen. Handlungen, die lediglich die interne Organisation berühren, sind demnach nicht mit der Nichtigkeitsklage überprüfbar. f) Rechtliche Existenz der angegriffenen Maßnahme 1291 Darüber hinaus muss es sich um einen rechtlich existenten Akt handeln. Eine Nichtigkeitsklage gegen einen inexistenten Akt ist unzulässig.61 Grundsätzlich wird die Gültigkeit eines Rechtsaktes vermutet. In außergewöhnlichen Einzelfällen können Rechtsakte jedoch als rechtlich inexistent zu betrachten sein, da sie offenkundig mit einem schweren Fehler behaftet sind.62 Das gilt etwa bei einer eindeutigen Überschreitung der Verbands- oder Organkompetenzen (Ultra-viresAkt)63 oder der offensichtlichen Verletzung grundlegender Zuständigkeitsvorschriften.64
59 60 61 62 63 64
Cremer, EuGRZ 2004, 577 (578). Vgl. EuGH, Rs. C-57/95, Slg. 1997, I-1627 (1647, Rn. 7) – Frankreich/Kommission; EuG, Rs. T-351/02, Slg. 2006, II-1047 (1066, Rn. 35) – Deutsche Bahn. EuGH, Rs. 1 u. 14/57, Slg. 1957, 213 (233) – Société des usines à tubes de la Sarre. EuGH, Rs. C-475/01, Slg. 2004, I-8923 (8958, Rn. 18 f.) – Kommission/Griechenland. Vgl. Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 349. Schwarze, in: ders., Art. 230 EGV Rn. 17; vgl. EuGH, Rs. 71/74, Slg. 1975, 563 (582, Rn. 19/20) – Frubo.
C. Nichtigkeitsklage
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4. Klagebefugnis Die Voraussetzungen der Klagebefugnis sind je nachdem, ob es sich um einen 1292 privilegierten, einen teilprivilegierten oder einen nicht privilegierten Kläger handelt, unterschiedlich. Hier bestehen feine Abstufungen in den Voraussetzungen einer Nichtigkeitsklage. a) Privilegierte Kläger Die in Art. 263 Abs. 2 AEUV genannten privilegierten Kläger sind aufgrund ihrer 1293 herausgehobenen Stellung im Unionsgefüge im Rahmen der Nichtigkeitsklage grundsätzlich immer klagebefugt. b) Teilprivilegierte Kläger Die Klagen der teilprivilegierten Kläger müssen gemäß Art. 263 Abs. 3 AEUV auf 1294 die Wahrung ihrer Rechte abzielen. Mit der Nichtigkeitsklage können diese also nur geltend machen, dass ihre eigenen von den Verträgen verliehenen Rechte und Befugnisse durch die angegriffene Maßnahme verletzt werden.65 Indes müssen sie keine herausgehobene Betroffenheit ins Feld führen, Art. 263 Abs. 4 AEUV e contrario. Diese wird im Hinblick auf die ihnen zustehenden Rechte vermutet. c) Individualkläger Für die Klagen natürlicher und juristischer Person stellt Art. 263 Abs. 4 AEUV 1295 besondere Anforderungen an die Klagebefugnis. Diese sind klagebefugt, wenn eine Handlung an sie gerichtet ist, sie unmittelbar und individuell betrifft oder ein Rechtsakt mit Verordnungscharakter sie unmittelbar betrifft und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht. Art. 263 Abs. 4 AEUV unterscheidet also drei Konstellationen, in denen unterschiedliche Anforderungen an die Klagebefugnis gestellt werden. aa) An Kläger gerichtete Handlungen Ergeht eine Handlung an den Kläger als Adressaten, ist dieser nach Art. 263 Abs. 4 1296 Alt. 1 AEUV ohne weiteres klagebefugt. Ein an den Kläger gerichteter Rechtsakt liegt etwa bei einem an den Kläger gerichteten adressatenbezogenen Beschluss nach Art. 288 Abs. 4 S. 1 AEUV vor. bb) Andere Handlungen Nach Art. 263 Abs. 4 Alt. 2 AEUV ist der Kläger zudem klagebefugt wegen aller 1297 ihn unmittelbar und individuell betreffender Handlungen. Unter die zweite Alternative fallen Handlungen, deren Adressat nicht der Kläger, sondern ein anderer66 ist, oder die gar keinen spezifischen Adressaten haben. Dies ist etwa bei an 65 66
Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 230 EG Rn. 41. Als Dritter kommt auch ein Mitgliedstaat oder Drittstaat in Betracht; vgl. EuGH, Rs. 25/62, Slg. 1963, 211 (237) – Plaumann.
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Dritte gerichteten adressatenbezogenen Beschlüssen, Richtlinien, Verordnungen und adressatenlosen Beschlüssen der Fall. Für diese ist der Nachweis einer unmittelbaren und individuellen Betroffenheit erforderlich, sofern nicht die Privilegierung des Art. 263 Abs. 4 Alt. 3 AEUV eingreift. cc) Betroffenheit 1298 Mit dem Kriterium der Betroffenheit wird festgestellt, ob die Handlung überhaupt in den Interessenkreis des Klägers eingreift und er somit beschwert ist. Der Kläger muss daher geltend machen, dass er ein Interesse an der Aufhebung des angefochtenen Rechtsaktes hat.67 Die Verletzung in subjektiven Rechten muss hingegen nicht dargelegt werden.68 dd) Unmittelbar 1299 Das Kriterium der unmittelbaren Betroffenheit dient dem Ausschluss lediglich potenziell Betroffener aus dem Kreis der Klagebefugten.69 Die Handlung muss den Kläger ipso facto70 beeinträchtigen, ohne dass es des Hinzutretens weiterer Umstände oder Durchführungsmaßnahmen bedarf.71 Bei an einen Mitgliedstaat gerichteten Handlungen ist dies der Fall, wenn der Mitgliedstaat ohne Ermessensspielraum zur Umsetzung des Rechtsaktes verpflichtet ist oder ein Abweichen des Mitgliedstaates von dem an ihn gerichteten Rechtsakt nicht zu erwarten ist. 72 Dem gleichgestellt sind Fälle, in denen eine den Kläger beeinträchtigende Maßnahme nachträglich vom Unionsorgan gebilligt wird oder der Mitgliedstaat mit hinreichender Deutlichkeit und Festigkeit die Absicht kundgetan hat, dass eine bestimmte mitgliedstaatliche Maßnahme nur noch von einer Ermächtigung der Kommission abhängt.73 ee) Individuelle Betroffenheit 1300 Mit dem Kriterium der individuellen Betroffenheit soll die Popularklage verhindert und das Funktionieren der Unionsgerichtsbarkeit garantiert werden. 74 Grundlegend für die Auslegung des Merkmals der individuellen Betroffenheit war die Plaumann-Entscheidung aus dem Jahr 1963. Nach dieser ist ein Kläger nur individualisiert, wenn ein Rechtsakt ihn „wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender
67 68 69 70 71 72 73 74
EuGH, Rs. 60/81, Slg. 1981, 2639 (2653, Rn. 16 ff.) – IBM; EuG, Rs. T-138/89, Slg. 1992, II-2181 (2192, Rn. 33) – NBV und NBV. Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 230 EG Rn. 47. EuGH, Rs. 246/81, Slg. 1982, 2277 (2291, Rn. 16) – Lord Bethell. Lat. „durch die Tatsache selbst“. EuGH, Rs. 11/82, Slg. 1985, 207 (241, Rn. 7) – Piraiki-Patraiki. EuGH, Rs. C-386/96 P, Slg. 1998, I-2309 (2370 f., Rn. 43) – Dreyfus. EuGH, Rs. 11/82, Slg. 1985, 207 (241, Rn. 7 ff.) – Piraiki-Patraiki. Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 230 EG Rn. 50.
C. Nichtigkeitsklage
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Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten“.75 Zur Anwendung dieser Formel hat der Gerichtshof der EU verschiedene Fall- 1301 gruppen herausgebildet. Eine solche liegt zum einen bei einer Verfahrensbeteiligung des Klägers vor. Dieser muss bestimmte Verfahrensrechte wahrgenommen haben, die ausdrücklich in der betreffenden Verfahrensordnung vorgesehen waren. Oder er muss diese Rechte unverschuldet nicht wahrgenommen haben.76 Gleiches gilt bei einer tatsächlichen Beteiligung am Verfahren,77 jedoch nicht bei einem auf eigener Initiative beruhenden Eingriff ins Verfahren oder einem Vorbringen unabhängig von einem Verfahren.78 Zu den weiteren Fallgruppen zählt neben der spürbaren Beeinträchtigung der 1302 Marktposition des Klägers79 auch die Verletzung von Unionsgrundrechten.80 Die Rechtsprechung geht zudem von einer individuellen Betroffenheit aus, wenn eine unionsrechtliche Norm die Rücksichtnahme auf die Interessen des Klägers bei der Durchführung der Maßnahme gebietet. 81 Beispiel Feinstaub, abgewandelt nach EuGH, Rs. C-237/07, Slg. 2008, I-6221 – Janecek: Sehr weit konzipiert sind hier vielfach Maßnahmen des Umwelt- und Gesundheitsschutzes, so etwa zur Bekämpfung von Feinstaub. Daraus ergibt sich eine sehr weite Betroffenheit, aber nicht zu Lasten der insoweit begünstigten Anwohner, sondern etwa der Autofahrer, die in ihrem Fahrverhalten eingeschränkt werden. Zwar bedarf es vielfach der nationalen Konkretisierung, bei Luftschadstoffen durch Luftqualitätspläne und Pläne für kurzfristige Maßnahmen (Art. 23 f. RL 2008/50/EG)82. Die Einhaltung bestimmter Luftgrenzwerte ist jedoch vorgegeben (s. B. Anhang XI RL 2008/50/EG, D f. Anhang XIV RL 2008/50/EG). Dagegen muss daher eigentlich auch schon auf Unionsebene geklagt werden können. Allerdings sind die betroffenen Autofahrer etc. unübersehbar. Zudem soll die LuftreinhalteRL nicht spezifisch auf ihre Interessen Rücksicht nehmen, wenn auch schon aus grundrechtlicher Sicht die Belastungen für sie in die Abwägung einbezogen werden mussten. Diese Abwägung ist aber nicht an konkreten Betroffenen ausgerichtet, so dass sich auch daraus keine individuelle Betroffenheit ergibt.
Problematisiert wurde die Rechtsprechung zur individuellen Betroffenheit vor 1303 allem im Hinblick auf allgemein gültige Regelungen, die den Einzelnen nicht besonders herausheben, wenn dieser mangels Durchführungsmaßnahmen auch vor 75 76 77 78 79
80 81 82
EuGH, Rs. 25/62, Slg. 1963, 211 (238) – Plaumann. EuGH, Rs. 191/82, Slg. 1983, 2913 (2935 f., Rn. 28 ff.) – Fediol; Rs. 264/82, Slg. 1985, 849 (865, Rn. 12 f.) – Timex; Rs. 169/84, Slg. 1986, 391 (415, Rn. 24) – Cofaz. EuGH, Rs. C-358/89, Slg. 1991, I-2501 (2531 f., Rn. 13 ff.) – Extramet Industrie. EuG, Rs. T-585/93, Slg. 1995, II-2205 (2229, Rn. 56) – Greenpeace. EuGH, Rs. C-358/89, Slg. 1991, I-2501 (2532, Rn. 17) – Extramet Industrie; EuG, Rs. T-3/93, Slg. 1994, II-121 (162 f., Rn. 82) – Air France; Frenz, Europarecht 3, Rn. 1600 f. EuGH, Rs. C-309/89, Slg. 1994, I-1853 (1886, Rn. 21 f.) – Cordoniu; Rs. 169/84, Slg. 1986, 391 (416, Rn. 28) – Cofaz. EuG, Rs. T-481 u. 484/93, Slg. 1995, II-2941 (2964, Rn. 61) – Exporteurs in Levende Varkens. RL 2008/50/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21.5.2008 über Luftqualität und saubere Luft für Europa, ABl. 152, S. 1.
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nationalen Gerichten keinen (hinreichenden) Rechtsschutz zu erlangen vermag. Hier wurde vielfach ein Konflikt mit dem Grundsatz effektiven Rechtsschutzes (s. Art. 47 EGRC) gesehen.83 Selbst das EuG ist in seiner Entscheidung Jégo Quéré von den in der Entschei1304 dung Plaumann vorgegebenen Kriterien abgewichen und hat eine weitere Auslegung des Merkmals der individuellen Betroffenheit vorgeschlagen.84 Auch GA Jacobs sprach sich in seinen Schlussanträgen zur Rechtssache Unión de Pequenos Agricultores für eine neue Auslegung des Begriffs der individuellen Betroffenheit aus.85 Der EuGH wies diese Rechtsauffassungen jedoch zurück und berief sich auf den Wortlaut des Art. 230 Abs. 4 EG sowie die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung.86 Ausreichender Rechtsschutz sei zudem im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens über den Umweg der nationalen Gerichte gewährleistet. 87 ff) Rechtsakte mit Verordnungscharakter 1305 Art. 263 Abs. 4 3. Alt. AEUV enthält als Reaktion auf die oben geschilderte Kontroverse nunmehr eine Privilegierung für Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die keine Durchführungsmaßnahme nach sich ziehen. Für sie ist nicht mehr eine individuelle Betroffenheit, sondern nur noch eine unmittelbare Betroffenheit erforderlich. Damit wird die Konstellation erfasst, dass wie im Fall Jégo Quéré (auch) nicht herausgehobenen Personen Rechte eingeschränkt oder Pflichten auferlegt werden. 1306 Fall nach EuG, Rs. T-177/01, Slg. 2002, II-2365; EuGH Rs. C-263/02 P, Slg. 2004, I-3425 – Jégo-Quéré: Der Fall Jégo Quéré betrifft die Klage einer Fischfangreederei auf Nichtigerklärung der KommissionsVO (EG) Nr. 1162/200188 mit Maßnahmen zur Wiederauffüllung des Seehechtbestandes, die in bestimmten Fischereigebieten Mindestmaschengrößen für Fischfangnetze festlegt. Anders als das EuG in der Vorinstanz ist der EuGH von einer Unzulässigkeit der Klage mangels individueller Betroffenheit der Klägerin ausgegangen. Ein direkter Rechtsschutz vor europäischen Gerichten war dieser damit verwehrt. Die im Fall Jégo Quéré angegriffene Verordnung wurde von der Kommission auf Grundlage der RatsVO (EWG) Nr. 3760/9289 als abgeleiteter Rechtsakt erlassen. Es handelt sich daher nach der heutigen Systematik der Rechtsakte um einen Rechtsakt ohne Gesetzescharakter. Diese sind unproblematisch unter den Begriff der Rechtsakte mit Verordnungscharakter zu subsumieren. Auf den Nachweis einer individuellen Betroffenheit kommt es daher nicht mehr an, so dass die Nichtigkeitsklage der Jégo Quéré heute zulässig wäre, sofern diese auch unmittelbar betroffen ist. Das ist wegen der VO-Festlegung von Mindestmaschengrößen der Fall.
83 84 85 86 87 88 89
S. bereits v. Danwitz, NJW 1993, 1108 ff.; Calliess, NJW 2002, 3577 ff.; Frenz, Europarecht 4, Rn. 760 m.w.N. EuG, Rs. T-177/01, Slg. 2002, II-2365 (2383, Rn. 51) – Jégo-Quéré. GA Jacobs, EuGH, Rs. C-50/00 P, Slg. 2002, I-6677 (6698, Rn. 60) – UPA. Vgl. EuGH, Rs. C-50/00 P, Slg. 2002, I-6677 (6733 ff., Rn. 36 ff.) – UPA; Rs. C263/02 P, Slg. 2004, I-3425 (3459 f., Rn. 36 ff.) – Jégo-Quéré. EuGH, Rs. C-50/00 P, Slg. 2002, I-6677 (6734 f., Rn. 40 ff.) – UPA; Rs. C-263/02 P, Slg. 2004, I-3425 (3457 ff., Rn. 30 ff.) – Jégo-Quéré. ABl. L 159, S. 4. ABl. L 389, S. 1; vgl. insb. Art. 15 Abs. 1.
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Allerdings bildet die Auslegung des Begriffs der Rechtsakte mit Verordnungs- 1307 charakter nun selbst den Gegenstand von Kontroversen. Insbesondere wird diskutiert, ob darunter auch Gesetzgebungsakte (vgl. Art. 289 Abs. 3 AEUV) subsumiert werden können. Für deren Einbeziehung sprechen der Wortlaut der Norm und eine fehlende durchgehende Hierarchisierung der Gesetzgebungsakte im System der Rechtsakte der Union. Letztlich wird auch nur so die eben dargestellte Rechtsschutzlücke bei Klagen Privater gegen umsetzungsfreie Verordnungen umfassend geschlossen.90 Fall nach EuG, Rs. T-173/98, Slg. 1999, II-3357; EuGH Rs. C-50/00 P, Slg. 2002, I-6677 – UPA: Die Unión de Pequenos Agricultores ist ein Berufs- und Interessenverband von kleinen spanischen Landwirten, die sich mit ihrer Nichtigkeitsklage gegen die RatsVO (EG) Nr. 1638/9891 über die Errichtung einer gemeinsamen Marktorganisation für Fette richtete. Mit dieser wurde u.a. die gemeinsame Marktorganisation für Olivenöl hinsichtlich der verwendeten marktordnenden Instrumente geändert. Sowohl das EuG als auch der EuGH gingen von einer Unzulässigkeit der Klage aus, da weder eine individuelle Betroffenheit der von der UPA vertretenen Mitglieder vorliege noch eigene Interessen der Klägerin als Vereinigung beeinträchtigt seien. Im AEUV werden Maßnahmen im Rahmen der gemeinsamen Agrarpolitik auf Grundlage von Art. 43 AEUV erlassen. Dabei ist die gemeinsame Organisation der Agrarmärkte nach Art. 43 Abs. 2 AEUV im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren zu beschließen. Maßnahmen zur Festsetzung der Preise, Abschöpfungen, Beihilfen und mengenmäßigen Beschränkungen können nach Art. 43 Abs. 3 AEUV hingegen auch durch den Rat als Rechtsakt ohne Gesetzescharakter erlassen werden. Eine Abgrenzung der beiden Rechtsgrundlagen ist schwierig und kann nur im Einzelfall erfolgen.92 Schließt man im Rahmen der Bestimmung des Begriffs der Rechtsakte mit Verordnungscharakter jedoch Gesetzgebungsakte aus, so kommt es für den Rechtsschutz Einzelner gerade darauf an, ob die betreffende Maßnahme auf Grundlage von Art. 43 Abs. 2 oder 3 AEUV erlassen worden ist. Nur im letzteren Fall würde das Erfordernis des Nachweises einer individuellen Betroffenheit entfallen. Nach der hier favorisierten extensiven Auslegung ist hingegen in beiden Fällen die Klagebefugnis auch bei fehlender individueller Betroffenheit zu bejahen.
1308
Neben dem Erlassverfahren kann auch die Form des Erlasses nicht ausschlag- 1309 gebend für die Subsumtion unter den Begriff der Rechtsakte mit Verordnungscharakter sein. Bereits die weite Formulierung „Verordnungscharakter“ legt nahe, dass es entscheidend auf die Rechtswirkungen einer Maßnahme ankommt, also deren allgemeine Geltung (vgl. Art. 288 Abs. 2 AEUV). Daher werden auch Richtlinien erfasst, sofern diesen dann im Weiteren unmittelbare Wirkung zukommt.93 Beispiel Feinstaub nach EuGH, Rs. C-237/07, Slg. 2008, I-6221 – Janecek: Eine solche unmittelbare Wirkung hat die LuftqualitätsRL hinsichtlich der einzuhaltenden Luftgrenzwerte.
90
91 92 93
Zust. Rabe, NJW 2007, 3153 (3157); Everling, EuR 2009, Beiheft 1, 71 (74); a.A. Schröder, DÖV 2009, 61 (62 f.); Classen, in: Oppermann/Classen/Nettesheim, Europarecht, § 14 Rn. 61. ABl. L 210, S. 32. Vgl. Busse, in: Lenz/Borchardt, Art. 43 AEUV Rn. 5. Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, 3. Aufl. 2010, S. 94; a.A. Kokott/Dervisopoulos/ Henze, EuGRZ 2008, 10 (14).
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Um diese zu gewährleisten, können Pläne für kurzfristige Maßnahmen gefordert werden, um die Gefahr gesundheitlicher Beeinträchtigungen durch die Luft auf ein Minimum zu verringern und schrittweise die Luftbelastung unter diese Werte oder Schwellen zurückführen zu können. Damit bleibt aber immer noch das Erfordernis nationaler Maßnahmen in Gestalt dieser Pläne, die auch näher ausgestaltet werden müssen. An die Grenzwerte bzw. -schwellen allein ist hingegen keine unmittelbare Wirkung geknüpft. Bei ihrer Überschreitung eingreifende sofortige Maßnahmen kann der Einzelne schon gar nicht einfordern.
Stärker in ihren unmittelbaren Wirkungen sind abstrakt-generelle Beschlüsse. Im Unterschied zu den der Entscheidung nachgebildeten adressatenbezogenen Beschlüssen94 sind diese ebenfalls allgemeine Rechtsakte, die der Verordnung strukturell gleichen.95 Die Rechtsakte mit Verordnungscharakter dürfen als weitere einschränkende 1311 Voraussetzung keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen. Hierbei ist die Abgrenzung zum Kriterium der Unmittelbarkeit fraglich. Haben Rechtsakte mit Verordnungscharakter Durchführungsmaßnahmen zur Folge, ist der Einzelne grundsätzlich auch nicht unmittelbar betroffen. Ein eigenständiger Anwendungsbereich scheint allenfalls dann zu verbleiben, wenn diese Rechtsakte zwar noch von den Mitgliedstaaten umgesetzt oder durchgesetzt werden müssen, diesen dabei aber kein Ermessenspielraum zusteht, so dass bereits ohne diesen Vollzug eine unmittelbare Betroffenheit bejaht werden kann. 96 Diese fehlt jedenfalls bei Richtlinien mit Ausgestaltungsspielräumen. 1310
5. Klagegrund 1312 Der Kläger muss bei der Nichtigkeitsklage einen der vier in Art. 263 AEUV genannten Klagegründe in der Klageschrift geltend machen. Hierbei genügt es, wenn sich der Begründung der Klage hinreichend deutlich entnehmen lässt, auf welchen der Klagegründe sich die Klage stützt. Es kann zwischen zwei formellen und zwei materiellen Nichtigkeitsgründen unterschieden werden. Die formellen Nichtigkeitsgründe sind die Unzuständigkeit und die Verletzung wesentlicher Formvorschriften. In materieller Hinsicht nennt Art. 263 Abs. 2 AEUV die Verletzung des Vertrages oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm sowie den Ermessenmissbrauch. Ob einer der geltend gemachten Klagegründe tatsächlich vorliegt, ist aber eine Frage der Begründetheit der Klage. 6. Klagefrist 1313 Gemäß Art. 263 Abs. 6 S. 1 AEUV ist die Nichtigkeitsklage binnen zwei Monaten zu erheben. Bei der Klagefrist handelt es sich um eine Ausschlussfrist, welche die
94 95 96
Auch diese einbeziehend Cremer, EuGRZ 2004, 577 (581). Ebenso Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, 3. Aufl. 2010, S. 94. Näher hierzu Cremer, EuGRZ 2004, 577 (583); für eine darüber hinausgehende Bedeutung des Merkmals „Durchführungsmaßnahmen“ Petzold, Individualrechtsschutz an der Schnittstelle zwischen deutschem und Gemeinschaftsrecht, 2008, S. 82 f.
C. Nichtigkeitsklage
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Unionsgerichte von Amts wegen überprüfen. 97 Die Frist beginnt nach Art. 263 Abs. 6 S. 2 AEUV „je nach Lage des Falles von der Bekanntgabe der betreffenden Handlung, ihrer Mitteilung an den Kläger oder in Ermangelung dessen von dem Zeitpunkt an, zu dem der Kläger von dieser Handlung Kenntnis erlangt hat“. Für Letztere musste der Kläger die Möglichkeit haben, umfassende und genaue Kenntnis von Inhalt und Begründung des Rechtsaktes zu erlangen.98 Die Frist endet zwei Monate nach Bekanntgabe oder Kenntniserlangung. Zur Berechnung sind Art. 80 EuGH-VerfO und Art. 101 EuG-VerfO heranzuziehen. 7. Ordnungsgemäße Klageerhebung Bei der Nichtigkeitsklage gelten die allgemeinen Bestimmungen zur ordnungsge- 1314 mäßen Klageerhebung (Art. 21 EuGH-Satzung, Art. 38 EuGH-VerfO, Art. 44 EuGVerfO). 8. Rechtsschutzbedürfnis Der Kläger muss allgemein ein rechtlich schutzwürdiges Interesse an der Nich- 1315 tig-erklärung des angegriffenen Aktes darlegen. Dieses Erfordernis entfällt bei den privilegierten Klägern im Sinne des Art. 263 Abs. 2 AEUV wiederum aufgrund ihrer besonderen Stellung innerhalb des Systems und dem naturgemäß zu unterstellenden, besonderen Interesse an der Wahrung des Unionsrechts. 99 Im Übrigen ist ein Rechtsschutzinteresse immer dann anzunehmen, wenn die 1316 Nichtigerklärung als solche Rechtswirkungen zugunsten des Klägers entfalten kann.100 Bei der Beurteilung, ob ein Rechtsschutzinteresse gegeben ist, wird auf den Zeitpunkt der Klageerhebung abgestellt.101 III. Begründetheit Die Nichtigkeitsklage ist begründet, wenn einer der vier in Art. 263 Abs. 2 AEUV 1317 genannten Nichtigkeitsgründe vorliegt. Unerheblich ist hingegen, welche Norm der angegriffene Rechtsakt verletzt und ob diese drittschützend ist. Als Nichtigkeitsgründe benennt Art. 263 Abs. 2 AEUV die Unzuständigkeit, die Verletzung wesentlicher Formvorschriften, die Verletzung der Verträge oder der bei seiner Durchführung anzuwendenden Vorschriften und den Ermessensmissbrauch.
97 98 99 100 101
Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, 2006, Rn. 141 m.N. zur Rspr. EuGH, Rs. 236/86, Slg. 1988, 3761 (3784, Rn. 14) – Dillinger Hüttenwerke; Rs. C-309/95, Slg. 1998, I-655 (677, Rn. 18) – Kommission/Rat. Vgl. o. Rn. 1275. Dörr/Lenz, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, 2006, Rn. 148. EuGH, Rs. 14/63, Slg. 1963, 767 (799) – Hohe Behörde.
368
Kapitel 10: Klagen vor dem Gerichtshof der EU
1. Unzuständigkeit 1318 Zur Rechtswidrigkeit einer Maßnahme führt es, wenn die sie erlassende Stelle nicht die notwendige Befugnis für die Maßnahme innehat. Hierbei kann zwischen vier verschiedenen Kompetenzüberschreitungen unterschieden werden.102 Es fehlt bereits die Verbandskompetenz, wenn es sich nicht um einen Akt handelt, der in die Zuständigkeit der Union fällt (vgl. Art. 5 EUV).103 In diesem Zusammenhang ist auch der Grundsatz der Subsidiarität zu beachten, auf dessen Einhaltung das BVerfG großen Wert legt.104 Weiter ist die Überschreitung der Organkompetenz denkbar, wenn sich das handelnde Organ nicht innerhalb der ihm zugewiesenen Befugnisse bewegt oder aber auf dem betreffenden Gebiet überhaupt keine Befugnis zugewiesen bekommen hat. 105 Schließlich können auch Missachtungen der räumlichen oder sachlichen Zuständigkeit einen Nichtigkeitsgrund bilden. Letzteres kommt in Betracht, wenn ein Mittel angewandt wird, das nicht für die beabsichtigte Maßnahme vorgesehen ist. 106 2. Verletzung wesentlicher Formvorschriften 1319 Als weiterer Nichtigkeitsgrund kommt die Verletzung wesentlicher Formvorschriften in Betracht. Solche bilden zwingende Anhörungs- und Beteiligungsrechte. Auch wenn eine Beteiligung zwar erfolgt ist, aber nicht in der vorgesehenen Art und Weise, kann dies einen Nichtigkeitsgrund darstellen. Eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften kann des Weiteren in einem 1320 Verstoß gegen Vorschriften liegen, die besondere Anforderungen an ein Beschlussverfahren stellen. Dies gilt auch für solche Regelungen, die sich das Organ in seiner Verfahrensordnung selbst auferlegt hat. 107 Gemäß Art. 296 Abs. 2 AEUV sind Rechtsakte der Unionsorgane mit einer Be1321 gründung zu versehen. Ein Begründungsmangel kann demnach ebenfalls die Verletzung einer Formvorschrift darstellen. Durch ein Nachschieben von Gründen kann ein solcher Mangel regelmäßig nicht geheilt werden.108 Keinen Einfluss auf die Rechtmäßigkeit eines Rechtsaktes haben hingegen Fehler bei seiner Bekanntgabe. Diese wirken sich lediglich auf den Beginn der Klagefrist aus.109
102 103 104 105 106 107
108 109
Etwa Stotz/Tonne, in: Dauses, Handbuch des EU-Wirtschaftsrechts, P. I Rn. 138 ff. Daher wurde die Richtlinie zur Tabakwerbung für nichtig erklärt, EuGH, Rs. C-376/98, Slg. 2000, I-8419 (8532, Rn. 115 ff.) – Tabakwerbung. BVerfGE 123, 267 (353 ff.) – Lissabon. EuGH, Rs. 6 u. 7/88, Slg. 1989, 3639 (3675, Rn. 24 f.) – Spanien und Frankreich/Kommission; Rs. C-327/91, Slg. 1994, I-3641 (3678, Rn. 42 f.) – Frankreich/Kommission. EuGH, Rs. 228 u. 229/82, Slg. 1984, 1129 (1162, Rn. 23 f.) – Ford. EuGH, Rs. 68/86, Slg. 1988, 855 (900 ff., Rn. 40 ff.) – Vereinigtes Königreich/Rat; Rs. 131/86, Slg. 1988, 905 (933 ff., Rn. 31 ff.) – Vereinigtes Königreich/Rat jeweils bzgl. der Geschäftsordnung des Rates. EuGH, Rs. 195/80, Slg. 1981, 2861 (2877, Rn. 27) – Michel. EuGH, Rs. 48/69, Slg. 1972, 619 (656, Rn. 39/43) – ICI.
C. Nichtigkeitsklage
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Die eben aufgelisteten Formverstöße müssen aber auch wesentlich sein. Dies ist 1322 insbesondere dann anzunehmen, wenn der Verstoß sich auf den Inhalt des Rechtsaktes auswirken konnte.110 3. Verletzung der Verträge oder einer bei ihrer Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm Als eine Art Auffangtatbestand kann der Nichtigkeitsgrund der Verletzung des 1323 Vertrages oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm betrachtet werden. Er umfasst Verstöße gegen primäres und sekundäres Unionsrecht einschließlich der allgemeinen Rechtsgrundsätze sowie des in die Unionsrechtsordnung integrierten Völkerrechts im Sinne der von der Union abgeschlossenen völkerrechtlichen Verträge und der in Bezug auf solche Verträge geltenden allgemeinen Rechtsgrundsätze des Völkerrechts bzw. des Völkergewohnheitsrechts. 111 4. Ermessensmissbrauch Der Nichtigkeitsgrund des Ermessensmissbrauchs stimmt nicht mit dem Ermes- 1324 sensfehlgebrauch im Sinne der deutschen Rechtsordnung überein.112 Ihm ist vielmehr ein spezifisch unionsrechtliches Verständnis zugrunde zu legen. So unterscheidet der EuGH zum einen nicht zwischen Tatbestand und Rechtsfolgenseite, sondern zählt sämtliche Spielräume auf der Tatbestands- oder Rechtsfolgenseite zum Begriff des Ermessens. 113 Zum anderen findet auch die deutsche Unterscheidung der verschiedenen Ermessensfehler kein Pendant im Europarecht. Der EuGH prüft vor allem, ob es Hinweise gibt, dass der infrage stehende Rechtsakt zu anderen Zwecken erlassen wurde als zu denjenigen, die in seiner Begründung angeführt wurden. 114 Es können im Einzelfall aber auch Ermessensfehler wie die Ermessensüber- oder -unterschreitung und der Ermessensfehlgebrauch kontrolliert werden.115 5. Nichtigkeitsurteil nach Art. 264 AEUV Ist die Klage zulässig und begründet, so erklärt der Gerichtshof der EU gemäß 1325 Art. 264 Abs. 1 AEUV die angefochtene Handlung für nichtig. Wenn die Handlung aus mehreren, voneinander abtrennbaren Teilen besteht und nur einer dieser Teile wegen eines Verstoßes gegen Unionsrecht fehlerhaft ist, kann auch eine Teilnichtigerklärung ergehen.116 Bis zur Nichtigerklärung wird die Gültigkeit
110 111 112 113 114 115 116
Vgl. Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 7 Rn. 98. Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 555. Pache, DVBl. 1998, 380 (384 f.). Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 7 Rn. 103 f. auch zum Folgenden. Bereits EuGH, Rs. 18 u. 35/65, Slg. 1966, 153 (176 ff.) – Gutmann. Schon EuGH, Rs. 3-4/64, Slg. 1965, 596 (616) – Chambre Syndicale. EuGH, Rs. 17/74, Slg. 1974, 1063 (1082, Rn. 21) – Transocean Marine Paint Association; Rs. C-68/94 u. 30/95, Slg. 1998, 1375 (1528, Rn. 256) – Frankreich u.a./Kommission.
370
Kapitel 10: Klagen vor dem Gerichtshof der EU
und Rechtmäßigkeit des betroffenen Rechtsaktes vermutet.117 Ein Vollzug ist selbst dann noch möglich, wenn bereits eine Klage anhängig ist. Allerdings steht den Parteien die Möglichkeit offen, einen Antrag auf Aussetzung des Vollzugs nach Art. 278 S. 2 AEUV zu stellen. Mit der Nichtigerklärung wird der Rechtsakt ex tunc durch Gestaltungsurteil 1326 beseitigt. EuGH und EuG dürfen den für nichtig erklärten Rechtsakt aber weder durch einen anderen ersetzen noch die beklagte Institution zum Erlass bestimmter Maßnahmen anweisen.118 Die Verpflichtungen für die Unionsinstitutionen ergeben sich vielmehr aus Art. 266 AEUV. Bei Rechtsakten mit allgemeiner Wirkung wie Verordnungen, Richtlinien und allgemeinen Beschlüssen entfaltet das Nichtigkeitsurteil zudem Wirkung erga omnes.119 Sofern er es für notwendig erachtet, kann der Gerichtshof der EU nach Art. 264 1327 Abs. 2 AEUV bei der Nichtigerklärung einer Handlung diejenigen Wirkungen bezeichnen, die als fortgeltend zu betrachten sind. Das Erfordernis der Rechtmäßigkeit hoheitlichen Handelns steht in diesen Fällen im Widerstreit mit den Grundsätzen des Vertrauensschutzes, der Rechtssicherheit, der Achtung wohlerworbener Rechte Dritter sowie sonstigen überragenden öffentlichen Interessen.120 6. GASP und PJZS 1328 Die gerichtliche Kontrolle der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ist nach Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 S. 6 EUV i.V.m. Art. 275 Abs. 1 AEUV grundsätzlich ausgeschlossen. Nichtigkeitsklagen natürlicher und juristischer Personen im Zusammenhang mit der Überwachung der Rechtmäßigkeit von Beschlüssen über restriktive Maßnahmen können jedoch nach Art. 275 Abs. 2 2. Alt. AEUV erhoben werden. Im Rahmen der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen bestehen grundsätzlich keine einschränkenden Besonderheiten mehr,121 mit Ausnahme der in Art. 276 AEUV geregelten Gegenstände.122 7. Subsidiaritätsklage 1329 Art. 8 des Protokolls (Nr. 2) über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit sieht als spezielle Form der Nichtigkeitsklage eine Subsidiaritätsklage vor. Demnach entscheidet der Gerichtshof der EU über Nich117 118 119 120 121
122
EuGH, Rs. C-137/92 P, Slg. 1994, I-2555 (2646 f., Rn. 48 f.) – BASF u.a. EuGH, Rs. C-199 u. 200/94 P, Slg. 1995, I-3709 (3720, Rn. 24) – Pevasa und Inpesca; EuG, Rs. T-22/96, Slg. 1996, II-1009 (1016, Rn. 17) – Langdon. EuGH, Rs. 3/54, Slg. 1954/55, 131 (147) – ASSIDER. EuGH, Rs. 45/86, Slg. 1987, 1493 (1522, Rn. 23) – APS; Rs. 51/87, Slg. 1988, 5459 (5481, Rn. 22) – Kommission/Rat. Beachte jedoch Art. 10 des Protokolls (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen, nach dem die Befugnisse des Gerichtshofes der EU hinsichtlich der vor Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon auf der Grundlage der Titel V und VI EU angenommen Rechtsakte für eine Übergangsfrist von bis zu fünf Jahren unverändert bleiben. Everling, EuR 2009, Beiheft 1, 71 (79).
C. Nichtigkeitsklage
371
tigkeitsklagen wegen des Verstoßes eines Gesetzgebungsaktes (Art. 289 Abs. 3 AEUV) gegen das Subsidiaritätsprinzip. Die Klage kann von einem Mitgliedstaat erhoben, aber auch von einem Mitgliedstaat im Namen seines nationalen Parlaments oder einer Kammer dieses Parlaments übermittelt werden.123 Außerdem kann der Ausschuss der Regionen Nichtigkeitsklage erheben, wenn für den Erlass des betreffenden Rechtsaktes seine Anhörung vorgeschrieben ist. Voraussetzung für das Klagerecht der mitgliedstaatlichen Parlamente ist der 1330 Erlass korrespondierender nationaler Vorschriften. In Deutschland ist dies durch den neu eingefügten Art. 23 Abs. 1a GG und das Gesetz zur Umsetzung der Grundgesetzänderungen für die Ratifizierung des Vertrages von Lissabon 124 geschehen. Demnach haben sowohl Bundestag als auch Bundesrat das Recht, Subsidiaritätsklage zu erheben.125 Der Bundestag ist hierzu verpflichtet, wenn dies ein Viertel seiner Mitglieder beantragt; gerade der Opposition muss dies möglich sein.126 Die Bundesregierung übermittelt die Klagen im Namen des Organs an die EU. Das Organ, das die Erhebung beschlossen hat, übernimmt die Prozessführung vor dem Gerichtshof der EU. 8. Prüfungsschema I. Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage 1. Sachliche Zuständigkeit Art. 256 Abs. 1 AEUV i.V.m. Art. 51 EuGH-Satzung 2. Parteifähigkeit a) Aktive Parteifähigkeit aa) Privilegierte Kläger Mitgliedstaaten, Europäisches Art. 263 Abs. 2 AEUV
Parlament,
1331
Rat,
Kommission,
bb) Teilprivilegierte Kläger Rechnungshof, EZB, AdR, Art. 263 Abs. 3 AEUV cc) Individualkläger Natürliche und juristische Personen, Art. 263 Abs. 4 AEUV dd) Subsidiaritätsklage Mitgliedstaaten, Übermittlung durch Mitgliedstaat im Namen seines nationalen Parlaments oder einer Kammer dieses Parlaments, AdR, Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll
123
124
125 126
Schwarze, EuR 2009, Beiheft 1, 9 (20): Art Sachwalterschaft; Streinz/Ohler/Herrmann, Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, 3. Aufl. 2010, S. 62: Art Prozessstandschaft. Vom 1.12.2009, BGBl. I S. 3822 (Nr. 76). Durch dieses Gesetz wurde ein neuer § 12 zur Regelung der Subsidiaritätsklage in das Integrationsverantwortungsgesetz eingefügt. Der Bundesrat ist insoweit als Kammer eines nationalen Parlaments im Sinne von Art. 8 des Protokolls anzusehen, vgl. BVerfGE 123, 267 (432) – Lissabon. BVerfGE 123, 267 (431) – Lissabon.
372
Kapitel 10: Klagen vor dem Gerichtshof der EU b) Passive Parteifähigkeit Rat, Kommission, EZB, Europäisches Parlament, Europäischer Rat, Einrichtungen und sonstige Stellen der Union, str. Rechnungshof, s. Art. 263 Abs. 1 AEUV 3. Klagegegenstand a) (Teil-)privilegierte Kläger/Individualkläger Alle rechtlich existenten Handlungen einer Unionsinstitution, die verbindliche Rechtswirkung nach außen entfalten, Art. 263 Abs. 1 AEUV. Ausnahmen für GASP und PJZS (Art. 275 f. AEUV) b) Subsidiaritätsklage Verstoß eines Gesetzgebungsaktes gegen das Subsidiaritätsprinzip, Art. 8 Subsidiaritätsprotokoll 4. Klagebefugnis a) Privilegierte Kläger Kein Nachweis einer Klagebefugnis erforderlich b) Teilprivilegierte Kläger Geltendmachung einer möglichen Verletzung in ihnen von den Verträgen verliehenen Rechten und Befugnissen, Art. 263 Abs. 3 AEUV c) Individualkläger Art. 263 Abs. 4 AEUV Kein Nachweis einer Klagebefugnis erforderlich bei an den Kläger gerichteten Handlungen; Nachweis einer unmittelbaren Betroffenheit bei Rechtsakten mit Verordnungscharakter, die keine Durchführungsmaßnahme nach sich ziehen (Auslegung str.); ansonsten Nachweis einer unmittelbaren und individuellen Betroffenheit 5. Klagegrund Geltendmachung eines Nichtigkeitsgrundes nach Art. 263 Abs. 2 AEUV: Unzuständigkeit, Verletzung wesentlicher Formvorschriften, Verletzung der Verträge oder einer bei deren Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm, Ermessensmissbrauch 6. Klagefrist Klageerhebung binnen zwei Monaten nach Bekanntgabe bzw. Mitteilung an den Kläger oder Kenntniserlangung, Art. 263 Abs. 6 AEUV; Fristberechnung nach Art. 80 § 1 lit. b) EuGH-VerfO bzw. Art. 101 § 1 lit. b) EuGVerfO 7. Ordnungsgemäße Klageerhebung Art. 21 EuGH-Satzung, Art. 38 EuGH-VerfO, Art. 44 EuG-VerfO 8. Rechtsschutzbedürfnis Fehlt nur, wenn Fehlerhaftigkeit des Rechtsakts mittlerweile behoben oder Rechtsakt aufgehoben.
D. Untätigkeitsklage
373
Ausnahme: Wiederholungsgefahr, Klärung essenzieller Rechtsfragen der Union, Haftungsfragen II. Begründetheit der Nichtigkeitsklage Soweit einer der in Art. 263 Abs. 2 AEUV genannten Klagegründe (o. 5.) tatsächlich vorliegt
D. Untätigkeitsklage I. Grundlagen und Bedeutung Die Untätigkeitsklage zielt nach Art. 265 AEUV auf die Feststellung einer Ver- 1332 tragsverletzung aufgrund pflichtwidrigen Unterlassens. Den Institutionen der Union obliegen zahlreiche Handlungspflichten. Kommen sie diesen nicht nach, stellt dies ebenso eine Vertragsverletzung dar wie die Vornahme eines rechtswidrigen Aktes. Durch die Untätigkeitsklage wird damit die Sanktionierung von Vertragsverstößen der Unionsorgane und der sonstigen Unionsinstitutionen um den Bereich der pflichtwidrigen Untätigkeit erweitert und so der durch die Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV gewährte Rechtsschutz ergänzt. 127 Nach der Konzeption des EuGH regeln Art. 263 AEUV und Art. 265 AEUV ein und denselben Rechtsbehelf.128 Art. 265 AEUV enthält verschiedene Typen von Untätigkeitsklagen, die jeweils 1333 an unterschiedliche Sachurteilsvoraussetzungen gekoppelt sind. Im Einzelnen wird zwischen privilegierten Klägern (Mitgliedstaaten und Unionsorgane) und nicht privilegierten Klägern (natürliche und juristische Personen) differenziert. II. Zulässigkeit der Untätigkeitsklage 1. Sachliche Zuständigkeit Die sachliche Zuständigkeit für die Untätigkeitsklage ergibt sich aus Art. 256 1334 Abs. 1 AEUV i.V.m. Art. 51 EuGH-Satzung. Bis auf wenige, in Art. 51 EuGHSatzung aufgelistete Ausnahmen fallen Untätigkeitsklagen der Mitgliedstaaten und der Unionsorgane demnach in die Zuständigkeit des EuGH. Die durch den Vertrag von Lissabon neu eingeführten Untätigkeitsklagen gegen ein Unterlassen des Europäischen Rates und der Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union sind bisher in Art. 51 EuGH-Satzung nicht berücksichtigt. Zumindest Klagen gegen ein Unterlassen des Europäischen Rates sind aus systematischen und teleologischen Gründen mit solchen gegen ein Unterlassen der anderen Unionsorgane
127 128
Schwarze, in: ders., Art. 232 EGV Rn.1. EuGH, Rs. 15/70, Slg. 1970, 975 (979, Rn. 5/7) – Chevalley; Rs. C-68/95, Slg. 1996, I-6065 (6105, Rn. 59) – T. Port. Gleichwohl ist die Untätigkeitsklage im Verhältnis zur Nichtigkeitsklage subsidiär.
374
Kapitel 10: Klagen vor dem Gerichtshof der EU
gleichzustellen.129 Erstinstanzlich zuständig ist das EuG jedenfalls für Untätigkeitsklagen juristischer und natürlicher Personen, unabhängig davon, gegen wen sie sich richten. 2. Parteifähigkeit a) Privilegierte Kläger nach Art. 265 Abs. 1 AEUV 1335 Aktiv parteifähig sind nach Art. 265 Abs. 1 AEUV die Mitgliedstaaten und die Organe der Union (vgl. Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 EUV). Trotz seiner Organstellung sind jedoch der Gerichtshof der EU sowie die einzelnen ihn bildenden Gerichte nicht aktivlegitimiert. Er wäre mit Erhebung der Untätigkeitsklage sonst Kläger in eigener Sache, was zu einem unstatthaften In-sich-Prozess führen würde.130 Auch eine Klageberechtigung der in Art. 13 Abs. 4 EUV genannten beratenden 1336 Einrichtungen der Union scheidet aus. 131 Ihnen kommt keine den Organen vergleichbare Organqualität zu. 132 Zudem ist die aktive Parteifähigkeit des Ausschusses der Regionen (AdR) im Rahmen der Nichtigkeitsklage in Art. 263 Abs. 3 AEUV ausdrücklich normiert worden, was bei der Untätigkeitsklage gerade unterblieb. b) Natürliche und juristische Personen 1337 Art. 265 Abs. 3 AEUV erklärt „jede natürliche oder juristische Person“ im Verfahren einer Untätigkeitsklage für aktiv parteifähig. Die Parteifähigkeit knüpft weder an die Staatsangehörigkeit noch an den Wohnort, den Sitz oder die Hauptniederlassung einer Person in einem Mitgliedstaat an.133 Zudem ist der unionsrechtliche Begriff der juristischen Person weit zu verstehen.134 c) Passive Parteifähigkeit 1338 Gemäß Art. 265 Abs. 1 S. 1 AEUV können sich Untätigkeitsklagen gegen das Europäische Parlament, den Europäischen Rat, den Rat, die Kommission oder
129 130 131
132 133 134
So auch Pache, in: Vedder/Heintschel v. Heinegg, Europäischer Verfassungsvertrag, 2007, Art. III-365 Rn. 9. S. GA Lenz, EuGH, Rs. 13/83, Slg. 1985, 1513 (1515) – Parlament/Rat; a.A. Booß, in: Grabitz/Hilf, Art. 175 EGV Rn. 3. Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 232 EG Rn. 5; der EuGH hat zu dieser Frage bisher noch nicht Stellung genommen, vgl. Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 8 Rn. 11. EuGH, Rs. 828/79, Slg. 1982, 269 (290, Rn. 26) – Adam; Rs. 1253/79, Slg. 1982, 297 (319, Rn. 26) – Battaglia zum Wirtschafts- und Sozialausschuss. Ehricke, in: Streinz, Art. 232 EGV Rn. 5. S. bereits o. Rn. 1282.
D. Untätigkeitsklage
375
die EZB richten. Gleiches gilt nach Art. 265 Abs. 1 S. 2 AEUV für die Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union.135 Der Rechnungshof wurde auch mit dem Vertrag von Lissabon nicht in den 1339 Kreis der explizit aufgelisteten Klagegegner aufgenommen. Allerdings ist er gemäß Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 Spiegelstrich 7 EUV ein vollwertiges Unionsorgan und nach Art. 285 und 287 AEUV mit eigenen Rechten und Pflichten ausgestattet. Das Unterlassen dieser Vertragspflichten muss im Klageweg geltend gemacht werden können, so dass der Rechnungshof trotz fehlender Auflistung als zulässiger Klagegegner anzuerkennen ist.136 3. Klagegegenstand Die Anforderungen an die Statthaftigkeit des Klagegegenstandes sind für jede der 1340 in Art. 265 Abs. 1 und 3 AEUV genannten Klägergruppen unterschiedlich. a) Staaten- und Organklagen aa) Beschluss Gemäß Art. 265 Abs. 1 AEUV ist statthafter Klagegegenstand bei der Staaten- 1341 und Organklage das Unterlassen eines Organs, einen Beschluss zu fassen. Die Terminologie des Beschlusses wirft Probleme auf, da sie eine Anlehnung an die in Art. 288 Abs. 4 AEUV normierte Handlungsform des Beschlusses nahelegt. Bereits im Rahmen der Vorgängernorm des Art. 232 Abs. 1 EG wurde der Begriff des Beschlusses jedoch schon weit ausgelegt. Der EuGH subsumierte darunter „jede Maßnahme, deren Tragweite sich hinreichend bestimmen lässt, so dass sie konkretisiert werden und Gegenstand eines Vollzugs im Sinne des Art. 233 EG sein kann“.137 Dafür sprechen auch die Mehrheit der anderssprachigen Entsprechungen des Art. 265 Abs. 1 AEUV und Art. 288 Abs. 4 AEUV sowie ein systematischer Vergleich zu Art. 265 Abs. 1 S. 2 und Abs. 2 AEUV, ebenso die Zielsetzung einer umfassenden Rechtsschutzgewährleistung. bb) Vertragsverletzung Die Unterlassung eines Organbeschlusses kann gemäß Art. 265 Abs. 1 AEUV 1342 nur dann Gegenstand der Untätigkeitsklage sein, wenn sie eine Vertragsverletzung begründet. Dabei werden sowohl Verletzungen des Primär- als auch des Sekundärrechts erfasst. Ob im konkreten Fall tatsächlich eine vertragsverletzende Untätigkeit vorliegt, ist jedoch eine Frage der Begründetheit.138
135
136 137 138
Anders als bei der Nichtigkeitsklage in Art. 263 Abs. 5 AEUV sieht Art. 265 AEUV nicht die Möglichkeit vor, das Klagerecht natürlicher und juristischer Personen in den Gründungsrechtsakten der jeweiligen Einrichtungen zu beschränken. So bereits zum EG Ehricke, in: Streinz, Art. 232 EGV Rn. 6; Schwarze, in: ders., Art. 232 EGV Rn. 7; a.A. Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 8 Rn. 16. EuGH, Rs. 13/83, Slg. 1985, 1513 (1593, Rn. 37) – Parlament/Rat. Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 8 Rn. 22.
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Kapitel 10: Klagen vor dem Gerichtshof der EU
b) Klagen gegen Einrichtungen und sonstige Stellen der Union 1343 Bei Klagen gegen Einrichtungen und sonstige Stellen der Union ist statthafter Klagegegenstand nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Art. 265 Abs. 1 S. 2 AEUV ein Unterlassen, tätig zu werden. Der weite Ansatz der statthaften Klagegegenstände im Rahmen der Nichtigkeitsklage139 kann hier daher unproblematisch übernommen werden. c) Individualklagen 1344 Klagen natürlicher und juristischer Personen unterliegen nicht nur den Anforderungen des Art. 265 Abs. 1 und 2 AEUV, sondern auch den in Art. 265 Abs. 3 AEUV aufgestellten.140 Demnach kann sich eine Individualuntätigkeitsklage nur dagegen richten, dass eine Unionsinstitution unterlassen hat, einen anderen Akt als eine Empfehlung oder Stellungnahme an den Kläger zu richten. aa) Verbindlichkeit des Rechtsaktes 1345 Aus der ausdrücklichen Ausklammerung von Empfehlungen und Stellungnahmen als statthafte Klagegegenstände ergibt sich, dass der Klagegegenstand nur auf verbindliche Rechtsakte gerichtet ist. Neben den ausdrücklich genannten werden auch weitere unverbindliche Rechtsakte wie Ratschläge und Auskünfte als taugliche Klagegegenstände der Individualuntätigkeitsklage ausgeschlossen.141 bb) Individualbezogenheit des Rechtsaktes 1346 Weiter fordert Art. 265 Abs. 3 AEUV, dass der unterlassene Akt an den Kläger zu richten ist. Der begehrte Rechtsakt muss also individuelle Geltung entfalten und seiner Form oder Rechtsnatur nach an den Einzelnen gerichtet sein. 142 Darüber hinaus muss gerade der Kläger potenzieller Adressat des unterlassenen Rechtsaktes sein.143 Wie bei der Nichtigkeitsklage kann die natürliche oder juristische Person die Untätigkeit aber auch dann rügen, wenn sie zwar nicht Adressat der begehrten Maßnahme ist, jedoch von ihrem Erlass unmittelbar und individuell betroffen wäre. Die Möglichkeit des Einzelnen, seine Rechte geltend zu machen, kann nicht von einem Tätigwerden des Organs abhängen.144 Andernfalls besteht kein umfassender Individualrechtsschutz. Zudem hat die Untätigkeitsklage eine parallele Struktur zur Nichtigkeitsklage.
139 140 141 142 143 144
S.o. Rn. 1289. Schwarze, in: ders., Art. 232 EGV Rn. 13; Ehricke, in: Streinz, Art. 232 EGV Rn. 16. EuGH, Rs. 15/70, Slg. 1970, 975 (980, Rn. 10 ff.) – Chevalley; Rs. 83 u. 84/84, Slg. 1984, 3571 (3575, Rn. 10) – N.M. EuGH, Rs. 15/71, Slg. 1971, 797 (804, Rn. 4) – Mackprang; Rs. 134/73, Slg. 1974, 1 (10, Rn. 5) – Holtz & Willemsen. EuGH, Rs. C-371/89, Slg. 1990, I-1555 (1557, Rn. 5) – Emrich; EuG, Rs. T-334/02, Slg. 2003, II-5121 (5137, Rn. 44) – Viomichania. EuGH, Rs. C-68/95, Slg. 1996, I-6065, (6105, Rn. 59) – T. Port.
D. Untätigkeitsklage
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4. Klagebefugnis a) Privilegierte Kläger Für die privilegierten Kläger nach Art. 265 Abs. 1 AEUV setzt die Untätigkeits- 1347 klage keine besondere Klagebefugnis voraus. Es handelt sich vielmehr um ein objektives Verfahren zur Wahrung des Unionsrechts, in dem die Kläger ipso jure klagebefugt sind.145 b) Nicht-privilegierte Kläger Bei den Individualklägern ergibt sich als Folge des in Art. 265 Abs. 3 AEUV 1348 enger gefassten Klagegegenstands eine Beschränkung der Klagebefugnis. Zielt die Untätigkeitsklage nicht auf den Erlass eines an den Kläger gerichteten Aktes, muss der Kläger unmittelbar und individuell betroffen sein. Dabei sind die Plaumann-Formel146 und die für die Nichtigkeitsklage entwickelten Erwägungen entsprechend heranzuziehen. 5. Vorverfahren Nach Art. 265 Abs. 2 AEUV ist die Untätigkeitsklage nur zulässig, wenn die in- 1349 frage stehende Institution zuvor aufgefordert worden ist, tätig zu werden und binnen zwei Monaten keine Stellungnahme abgegeben hat. Der Klageerhebung ist bei der Untätigkeitsklage also ein zweistufiges Vorverfahren vorgeschaltet. Dieses nimmt eine wichtige Warn- und Filterfunktion wahr. Die betreffende Institution erhält die Möglichkeit, im Wege der Selbstkontrolle den Streitfall außergerichtlich beizulegen und so EuGH und EuG zu entlasten. 147 Zudem werden bereits im Vorverfahren der Streitgegenstand und die Person des Klägers festgelegt, da nur die Partei des Vorverfahrens die Untätigkeitsklage erheben kann und der Streitgegenstand weder in rechtlicher noch in tatsächlicher Hinsicht über den Gegenstand des Vorverfahrens hinausgehen darf.148 a) Aufforderung zum Tätigwerden Die Aufforderung zum Tätigwerden muss die Maßnahme(n) hinreichend genau 1350 bezeichnen, welche die betreffende Institution vornehmen soll und die verletzten Handlungspflichten benennen. Darüber hinaus muss deutlich werden, dass das Organ oder die sonstige Unionsinstitution zu einer Stellungnahme im Sinne von Art. 265 Abs. 2 AEUV veranlasst werden soll und die Absicht besteht, im Fall der fortdauernden Untätigkeit Klage zu erheben.149 Eine Frist für die Aufforderung
145 146 147 148 149
Schwarze, in: ders., Art. 232 EGV Rn. 18. EuGH, Rs. 25/62, Slg. 1963, 211 (238) – Plaumann. S.o. Rn. 1300 ff. Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 232 EG Rn. 15. EuGH, Rs. 75/69, Slg. 1970, 535 (542, Rn. 4 ff.) – Hake. Eine Einschränkung der Vorwürfe ist jedoch möglich, näher Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 590. EuGH, Rs. 13/83, Slg. 1985, 1513 (1589, Rn. 24) – Parlament/Rat; Rs. 119/85, Slg. 1986, 1777 (1796, Rn. 15) – Usinor.
378
Kapitel 10: Klagen vor dem Gerichtshof der EU
sieht Art. 265 Abs. 2 AEUV nicht vor. Das Klagerecht kann bei unangemessener Verspätung aber verwirkt werden.150 b) Stellungnahme der Unionsinstitution 1351 Gibt die infrage stehende Institution innerhalb von zwei Monaten eine als Stellungnahme zu qualifizierende Äußerung ab, so ist die Klage mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig.151 Dabei sind jedoch nur solche Äußerungen als Stellungnahme im Sinne von Art. 265 Abs. 2 AEUV anzusehen, die eine verbindliche und endgültige Festlegung eines Standpunkts durch die Unionsinstitution betreffen.152 Auch eine nach Ablauf der zweimonatigen Stellungnahmefrist (Art. 265 Abs. 2 1352 S. 2 AEUV) verspätet abgegebene Stellungnahme kann sich noch auf das Rechtsschutzbedürfnis des Klägers auswirken.153 6. Klagefrist 1353 Mit Ablauf der Frist zur Stellungnahme beginnt nach Art. 265 Abs. 2 S. 2 AEUV eine zweimonatige Klagefrist. Die Frist beginnt mit dem Tag, an dem die Stellungnahme des Organs dem Kläger spätestens hätte zugehen müssen.154 7. Rechtsschutzbedürfnis 1354 Die Untätigkeitsklage ist nicht vom Nachweis eines besonderen Rechtsschutzbedürfnisses abhängig.155 Nur in Ausnahmefällen ist ein Rechtsschutzbedürfnis erforderlich, so auch wenn die beklagte Institution nach Ablauf der Stellungnahmefrist des Art. 265 Abs. 2 AEUV, aber vor Urteilsverkündung tätig geworden ist. 156 Bei Erlass des begehrten Aktes wird der Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt. III. Begründetheit 1355 Die Untätigkeitsklage ist begründet, wenn die betreffende Unionsinstitution es vertragswidrig unterlassen hat, einen Beschluss zu fassen bzw. tätig zu werden, Art. 265 Abs. 1 AEUV, oder einen Rechtsakt an den Kläger zu richten, Art. 265 Abs. 3 AEUV. 150 151 152 153 154 155 156
EuGH, Rs. C-170/02 P, Slg. 2003, I-9889 (9942 f., Rn. 36 ff.) – Schlüsselverlag Moser, nach einer Frist von fast vier Monaten. EuGH, Rs. 167 u. 212/85, Slg. 1987, 1701 (1727 f., Rn. 8 f.) – Assider. S. EuGH, Rs. C-107/91, Slg. 1993, I-599 (634, Rn. 38) – ENU; vgl. auch die engl. Fassung „defined his position“ oder die spanische Fassung „definido su posición“. S. sogleich Rn. 1354. Ehricke, in: Streinz, Art. 232 EGV Rn. 24. Näher zu den Gründen Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 640. EuGH, Rs. C-15 u. 108/91, Slg. 1992, I-6061 (6097, Rn. 15) – Buckl; EuG, Rs. T-107/96, Slg. 1998, II-311 (325, Rn. 29) – Pantochim.
D. Untätigkeitsklage
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Es muss also eine hinreichend konkretisierte unionsrechtliche Handlungs- 1356 pflicht vorgelegen haben,157 deren Unterlassen eine Vertragsverletzung darstellt. Im Unterschied zur Nichtigkeitsklage ist die Vertragsverletzung bei der Untätigkeitsklage der alleinige Klagegrund. Als Prüfungsmaßstab zu ihrer Feststellung dient das gesamte geschriebene und ungeschriebene Unionsrecht. 158 Objektive Schwierigkeiten der Organe oder Einrichtungen und sonstigen Stellen, ihrer Rechtspflicht zum Handeln nachzukommen, sind unerheblich.159 Eine Vertragsverletzung scheidet allenfalls dann aus, wenn die betreffende Institution bei vernünftiger Betrachtung nicht in der Lage war, den geforderten Beschluss zu erlassen.160 IV. Abschließende Entscheidung In einem stattgebenden Untätigkeitsurteil stellen EuGH oder EuG gemäß 1357 Art. 265 Abs. 1 AEUV fest, dass die Unionseinrichtung durch ihre Untätigkeit gegen die Verträge verstoßen hat. Im Gegensatz zur Nichtigkeitsklage, die als Gestaltungsklage auf die Beseitigung der angefochtenen Rechtshandlung zielt, ist die Untätigkeitsklage jedoch als reine Feststellungsklage ausgestaltet. EuGH oder EuG können daher weder die beantragte Handlung selbst vornehmen noch die beklagte Institution förmlich zum Erlass der fraglichen Maßnahme verurteilen. 161 Eine Verpflichtungsklage kennt das Europarecht nicht. Allerdings ist die betroffene Unionsinstitution gemäß Art. 266 AEUV verpflichtet, von sich aus die sich aus dem Urteil ergebenden Maßnahmen zu ergreifen. V. Prüfungsschema I. Zulässigkeit der Untätigkeitsklage 1. Sachliche Zuständigkeit Art. 256 Abs. 1 AEUV i.V.m. Art. 51 EuGH-Satzung 2. Parteifähigkeit a) Aktive Parteifähigkeit aa) Privilegierte Kläger Mitgliedstaaten und Unionsorgane (außer Gerichtshof der EU), Art. 265 Abs. 1 AEUV bb) Individualkläger Natürliche und juristische Personen, Art. 265 Abs. 3 AEUV b) Passive Parteifähigkeit
157 158 159 160 161
Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 691. Schwarze, in: ders., Art. 232 EGV Rn. 29. EuGH, Rs. 13/83, Slg. 1985, 1513 (1596, Rn. 48) – Parlament/Rat. EuG, Rs. T-286/97, Slg. 1998, II-2629 (2639, Rn. 29) – Goldstein. EuGH, Rs. C-25/91, Slg. 1993, I-1719 (1759, Rn. 14) – Pesqueras Echebastar SA.
1358
380
Kapitel 10: Klagen vor dem Gerichtshof der EU Europäisches Parlament, Europäischer Rat, Rat, Kommission, EZB, Einrichtungen und sonstige Stellen der Union, str. Rechnungshof, s. Art. 265 Abs. 1 AEUV 3. Klagegegenstand a) Privilegierte Kläger Verletzung des Unionsrechts durch das Unterlassen, einen Beschluss zu fassen bzw. tätig zu werden, Art. 265 Abs. 1 AEUV. Erfasst wird das Unterlassen jeder Maßnahme, deren Tragweite sich hinreichend bestimmen lässt, so dass sie konkretisiert werden und Gegenstand eines Vollzugs sein kann (grds. auch Empfehlungen und Stellungnahmen) b) Individualkläger Verletzung des Unionsrechts durch das Unterlassen, einen anderen Akt als eine Empfehlung oder Stellungnahme an den Kläger zu richten, Art. 265 Abs. 3 AEUV. Erfasst wird nur das Unterlassen verbindlicher Rechtsakte, deren Adressat der Kläger ist oder die ihn unmittelbar und individuell betreffen 4. Klagebefugnis a) Privilegierte Kläger Kein Nachweis einer besonderen Klagebefugnis erforderlich b) Individualkläger Kein Nachweis einer besonderen Klagebefugnis erforderlich bei Begehren eines an den Kläger gerichteten Aktes; ansonsten Nachweis einer unmittelbaren und individuellen Betroffenheit, Art. 265 Abs. 3 AEUV 5. Klagegrund Geltendmachung einer Verletzung der Verträge, Art. 265 Abs. 1 AEUV 6. Vorverfahren Aufforderung tätig zu werden; Organ, Einrichtung oder sonstige Stelle kann binnen zwei Monaten Stellung nehmen, Art. 265 Abs. 2 AEUV 7. Klagefrist Klageerhebung binnen zwei Monaten nach erfolglosem Ablauf der Frist zur Stellungnahme, Art. 265 Abs. 2 S. 2 AEUV 8. Ordnungsgemäße Klageerhebung Art. 21 EuGH-Satzung, Art. 38 EuGH-VerfO, Art. 44 EuG-VerfO 9. Rechtsschutzbedürfnis Fehlt nur in Ausnahmefällen Klage unzulässig, wenn beklagte Institution nach Ablauf der Stellungnahmefrist, aber vor Klageerhebung tätig geworden ist EuGH erklärt Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt, wenn Institution nach Rechtshängigkeit, aber vor Urteilsverkündung tätig wird II. Begründetheit der Untätigkeitsklage Tatsächliches Vorliegen einer unionsrechtlichen Handlungspflicht, der das Organ, die Einrichtung oder die sonstige Stelle vertragswidrig nicht nachgekommen ist
E. Schadensersatzklage
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E. Schadensersatzklage I. Zulässigkeit 1. Zuständigkeit der europäischen Gerichtsbarkeit Bei der Haftung ist zu unterscheiden zwischen dem Haftungsschuldner, nämlich 1359 ob die EU oder die Mitgliedstaaten haften, und der Haftungsgrundlage, d.h. ob eine vertragliche oder eine außervertragliche Haftung in Betracht kommt. Die Haftung der Mitgliedstaaten wegen Verstoßes gegen Unionsrecht richtet sich nach dem jeweiligen nationalen Recht, weshalb nationale Gerichte zur Entscheidung berufen sind und auch das innerstaatliche Verfahrensrecht anwenden. Für Rechtsstreitigkeiten zur vertraglichen Haftung der EU sind grundsätzlich ebenfalls die nationalen Gerichte zuständig, wie sich aus Art. 274 i.V.m. Art. 268 AEUV mangels einer anderweitigen Zuweisung ergibt. Lediglich für die außervertragliche Haftung der Union oder der EZB162 ist das EuG gemäß Art. 268 i.V.m. Art. 256 AEUV zuständig. Maßgeblich ist daher vor allem, ob der Schaden durch die Union oder durch die 1360 nationale Hoheitsgewalt verursacht wurde. Dies ist für die Fälle des direkten, d.h. durch die Unionsorgane selbst durchgeführten Vollzugs des Unionsrechts unproblematisch. Regelmäßig werden die Unionsregelungen aber von den nationalen Behörden vollzogen. Im Rahmen dieses indirekten Vollzugs kann die Abgrenzung der europäischen und der nationalen Gerichtsbarkeit Schwierigkeiten bereiten. Nach dem Gerichtshof der EU haftet grundsätzlich die materiell für eine Entscheidung verantwortliche Ebene, auch wenn sie nicht nach außen gehandelt hat.163 2. Sachliche Zuständigkeit Gemäß Art. 268 i.V.m. Art. 256 AEUV ist das EuG für Klagen über den in 1361 Art. 340 Abs. 2 AEUV vorgesehenen Schadensersatz ausschließlich164 zuständig. 3. Parteifähigkeit Eine Regelung zur Parteifähigkeit in einem Schadensersatzprozess findet sich in 1362 den Gründungsverträgen nicht. Abzustellen ist daher auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes der EU zur Aktiv- und Passivlegitimation bei Art. 340 Abs. 2 AEUV.165
162 163 164 165
S. Art. 340 Abs. 3 AEUV, der auf die Regelung des Art. 340 Abs. 2 AEUV verweist. EuGH, Rs. 175/84, Slg. 1986, 753 (768, Rn. 23) – Krohn; auch EuG, Rs. T-30/99, Slg. 2001, II-943 (960, Rn. 31) – Bocchi Food. EuGH, Rs. 281/84, Slg. 1987, 49 (88 f., Rn. 12) – Zuckerfabrik Bedburg. Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 10 Rn. 8; Ehlers, Jura 2009, 187 (188).
382
Kapitel 10: Klagen vor dem Gerichtshof der EU
a) Natürliche und juristische Personen 1363 Kläger einer Schadensersatzklage kann jede natürliche und juristische Person sein. Es ist nicht erforderlich, dass die Person Angehörige eines Mitgliedstaates oder darin ansässig ist.166 Ob eine Personenvereinigung als juristische Person berechtigt ist, bestimmt sich allein nach dem Recht des Sitzstaates.167 Es können auch öffentlich-rechtliche Körperschaften wie Gemeinden oder Bundesländer die Parteifähigkeit besitzen.168 Soweit sie wie Private geschädigt wurden, können sogar Drittstaaten parteifähig sein.169 Für den Bereich des hoheitlichen Handelns dürfte dies hingegen abzulehnen sein.170 b) Mitgliedstaaten 1364 Die Rechtsprechung hat noch nicht entschieden, ob die Mitgliedstaaten selbst anspruchsberechtigt sein können. Dadurch könnte das institutionelle Unionsgefüge gestört werden.171 Indes sind die Unionsverträge auf eine Ausschöpfung des eigenen Rechtsschutzsystems angelegt.172 Auch enthält Art. 268 AEUV einen eigenständigen Rechtsbehelf, der unabhängig von sonstigen den Mitgliedstaaten zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfen wie der Nichtigkeitsklage zu betrachten ist.173 Zudem sind die Mitgliedstaaten, wenn sie privatwirtschaftlich auftreten, den Handlungen der Union wie jede andere privatwirtschaftlich agierende Person ausgesetzt.174 c) Unionsbedienstete 1365 Beamte und Bedienstete der EU können ihre Schadensersatzklagen nicht auf Art. 268 AEUV stützen, da Art. 270 AEUV eine spezielle Rechtsgrundlage für alle dienstrechtlichen Klagen inklusive Haftungsansprüchen vorsieht.175 d) Passive Parteifähigkeit 1366 Da gemäß Art. 340 Abs. 2 AEUV die Union den Schadensersatz zu leisten hat, ist die Klage grundsätzlich gegen die Union zu richten. 176 Allein die Union ist also passiv parteifähig.177 In der Praxis werden die Klagen allerdings häufig direkt 166 167 168 169 170 171 172 173 174 175 176 177
Vgl. EuGH, Rs. 145/83, Slg. 1985, 3539 – Adams; Rs. C-182/91, Slg. 1993, I-2161 – Forafrique. Vgl. EuG, Rs. T-390/94, Slg. 1997, II-501 (514, Rn. 34) – Schröder u.a. Vgl. EuGH, Rs. 310/81, Slg. 1984, 1341 – EISS. Ehlers, Jura 2009, 187 (188). Gilsdorf/Niejahr, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 288 EG Rn. 25. Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 9 Rn. 9. V. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 288 EGV Rn. 36 unter Verweis auf Art. 292 EGV. Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 10 Rn. 10. Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 726. Ehlers, Jura 2009, 187 (188). EuGH, Rs. 63-69/72, Slg. 1973, 1229 (1247, Rn. 7) – Werhahn. Thiele, Europäisches Prozessrecht, § 10 Rn. 11; a.A. v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 288 EGV Rn. 39.
E. Schadensersatzklage
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gegen das betreffende Organ gerichtet, was vom Gerichtshof der EU nicht beanstandet wird.178 Gemäß Art. 340 Abs. 3 AEUV ersetzt die EZB den durch sie oder ihre Bediensteten verursachten Schaden. Die Klage ist in diesem Fall direkt gegen die EZB zu richten. 4. Klagebefugnis Die Darlegung einer besonderen Klagebefugnis verlangt Art. 268 AEUV nicht.
1367
5. Vorverfahren Ein Vorverfahren ist nicht erforderlich, die Geltendmachung des Anspruchs unter- 1368 bricht aber die Verjährung (Art. 46 EuGH-Satzung). 6. Ordnungsgemäße Klageerhebung Die Klageschrift muss den Anforderungen der Art. 21 EuGH-Satzung, Art. 38 1369 EuGH-VerfO bzw. Art. 44 EuG-VerfO genügen.179 7. Klagefrist Eine ausdrückliche Klagefrist für die Schadensersatzklage benennt weder der 1370 AEUV noch die EuGH-Satzung. Art. 46 EuGH Satzung enthält zwar zeitliche Vorgaben. Demnach verjähren die Ansprüche aus außervertraglicher Haftung der Union in fünf Jahren nach Eintritt des Ereignisses, das ihnen zugrunde liegt. Allerdings wird in der Vorschrift von einer „Verjährung“ der Ansprüche gesprochen. Deshalb könnte dies auch als materiell-rechtliche Norm verstanden werden, die im Rahmen der Begründetheit zu prüfen wäre.180 8. Rechtsschutzbedürfnis Es ist nicht erforderlich, dass der Kläger den Beklagten zuvor erfolglos aufgefor- 1371 dert hat, den Schaden zu ersetzen.181 Das Rechtsschutzbedürfnis könnte allerdings fehlen, wenn dem Kläger anderweitige, vorrangig in Anspruch zu nehmende Rechtsschutzmöglichkeiten zur Verfügung stehen. So hat der Gerichtshof der EU eine Schadensersatzklage schon als unzulässig 1372 abgelehnt, weil mit ihr in Wirklichkeit die Aufhebung einer Einzelfallentscheidung begehrt wurde182 und ein stattgebendes Urteil zur Folge gehabt hätte, so dass die Rechtswirkungen dieser Entscheidung beseitigt würden.183 Die besonderen
178
179 180 181
Vgl. EuGH, Rs. C-234/02 P, Slg. 2004, I-2803 (2859, Rn. 67) – Lamberts; EuG, Rs. T-572/93, Slg. 1995, II-2025 (2037, Rn. 22) – Odigitria; auch Rs. T-201/99, Slg. 2000, II-4005 (4014, Rn. 20) – Royal Olympic Cruises. Ehlers, Jura 2009, 187 (190). S. zum Streitstand Frenz, Europarecht 5, Rn. 3044 ff. Eine Aufforderung unterbricht allerdings gemäß Art. 46 S. 2 EuGH-Satzung die Verjährung.
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Kapitel 10: Klagen vor dem Gerichtshof der EU
Voraussetzungen der Nichtigkeits- und Untätigkeitsklage nach Art. 263, 265 AEUV dürfen durch die Schadensersatzklage also nicht umgangen werden. Liegt ein rechtswidriger nationaler Vollzugsakt vor, muss der Geschädigte 1373 zunächst über die nationalen Haftungstatbestände auf dem innerstaatlichen Rechtsweg zu einer Haftung der Mitgliedstaaten zu gelangen suchen. II. Begründetheit 1374 Gemäß Art. 340 Abs. 2 AEUV ersetzt die Union den durch ihre Organe oder Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachten Schaden nach den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsam sind. Der Schadensersatzanspruch ist demnach begründet, wenn die Organe oder Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit einen Schaden verursacht haben. III. Das Urteil 1375 Wird die Union zur Zahlung verurteilt, ergeht ein Leistungsurteil, das gemäß Art. 280 i.V.m. Art. 299 Abs. 2-4 AEUV vollstreckt wird. Gleichzeitig wird in dem Urteil auch ein Zinsanspruch anerkannt,184 wobei die Zinshöhe vom EuGH in regelmäßigen Abständen neu festgesetzt wird. 185 Wird lediglich beantragt, die Haftung der Union dem Grunde nach festzustellen, ergeht ein nicht vollstreckbares Feststellungsurteil. Eine erfolgreiche Schadensersatzklage führt nicht zur Beseitigung der rechts1376 widrigen Handlung, die den Schadensersatzanspruch ausgelöst hat. Vielmehr stellt der Gerichtshof der EU die Rechtswidrigkeit im Schadensersatzverfahren fest, ohne dass dadurch die Gültigkeit des Unionsrechtsaktes mit Wirkung erga omnes berührt wird.186 IV. Prüfungsschema I. Zulässigkeit 1. Zuständigkeit der europäischen Gerichtsbarkeit nur bzgl. außervertraglicher Haftung der Union
1377
2. Sachliche Zuständigkeit EuG nach Art. 268, 256 AEUV i.V.m. Art. 51 EuGH-Satzung 182 183 184 185 186
EuGH, Rs. 175/84, Slg. 1986, 753 (770, Rn. 33) – Krohn; EuG, Rs. T-47/02, Slg. 2006, II-1779 (1792 f., Rn. 28 ff.) – Danzer. S. EuG, Rs. T-479 u. 559/93, Slg. 1994, II-1115 (1130, Rn. 38 f.) – Bernardi; Rs. T485/93, Slg. 1996, II-1101 (1123 f., Rn. 57) – Dreyfus. Vgl. EuGH, Rs. C-152/88, Slg. 1990, I-2477 (2512, Rn. 32) – Sofrimport. Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 9 Rn. 58. Ehlers, Jura 2009, 187 (194).
F. Spezielle Verfahren
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3. Parteifähigkeit a) Aktive Parteifähigkeit nicht ausdrücklich normiert, aber durch Rspr. entwickelt - jede natürliche und juristische Person (auch aus Drittstaaten) - öffentlich-rechtliche Körperschaften - Drittstaaten, wenn wie Private geschädigt - Mitgliedstaaten (str.) - nicht Unionsbedienstete, Art. 270 AEUV lex spec. b) Passive Parteifähigkeit - EU (handelndes Organ kann aber in Klageschrift als Klagegegner aufgeführt werden) - EZB, Art. 340 Abs. 3 AEUV 4. Klagebefugnis keine besondere Klagebefugnis erforderlich 5. Vorverfahren nicht erforderlich aber Unterbrechung der Verjährung nach Art. 46 EuGH-Satzung 6. Ordnungsgemäße Klageerhebung Art. 21 EuGH-Satzung, Art. 38 EuGH-VerfO, Art. 44 EuG-VerfO 7. Klagefrist Klageerhebung nach Art. 46 EuGH-Satzung binnen fünf Jahren nach Eintritt des schädigenden Ereignisses 8. Rechtsschutzbedürfnis fehlt bei anderweitigen vorrangigen Rechtsschutzmöglichkeiten - subsidiär zu innerstaatlichen Rechtsschutzmöglichkeiten - eigenständiger Rechtsbehelf im europäischen Rechtsschutzsystem II. Begründetheit Wenn Unionsorgane oder -bedienstete in Ausübung ihrer Amtstätigkeit eine höherrangige Rechtsnorm (im Fall normativen Unrechts hinreichend qualifiziert) verletzt haben und dem Kläger dadurch ein kausaler Schaden entstanden ist, Art. 340 Abs. 2 und 3 AEUV.
F. Spezielle Verfahren I. Bedienstetenstreitsachen Gemäß Art. 270 AEUV ist der Gerichtshof der EU für alle Streitsachen zwischen 1378 der Union und ihren Bediensteten innerhalb der Grenzen und nach Maßgabe der
386
Kapitel 10: Klagen vor dem Gerichtshof der EU
Bedingungen zuständig, die im Statut der Beamten der Union (BSt)187 festgelegt sind oder sich aus den Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten der Union ergeben. Erstinstanzlich zuständig ist hierfür das Gericht für den öffentlichen Dienst der EU (EuGöD). Rechtsmittelinstanz für Entscheidungen des EuGöD ist gemäß Art. 257 Abs. 3 AEUV das EuG. Art. 270 AEUV sieht keinen eigenständigen Rechtsbehelf vor, weshalb auch 1379 für Bedienstetenstreitigkeiten die allgemeinen Rechtsschutzregeln gelten.188 Folge ist, dass die Bediensteten Anfechtungs-, Untätigkeits-, Leistungs-, Feststellungs- und Schadensersatzklagen sowie Anträge auf einstweiligen Rechtsschutz erheben können.189 Allerdings enthalten die Art. 90 ff. BSt Modifizierungen, 190 die als Spezialregeln für Klagen aus dem Dienstverhältnis gegenüber den allgemeinen Rechtsschutzbestimmungen Vorrang genießen.191 II. Streitsachen bezüglich EIB und EZB 1380 Art. 271 AEUV begründet eine Zuständigkeit des Gerichtshofes der EU in gewissen Streitsachen betreffend die Europäische Investitionsbank (EIB) und die Europäische Zentralbank (EZB). III. Schiedsklauseln und Schiedsverträge 1381 Art. 272 und Art. 273 AEUV eröffnen die Möglichkeit, durch vertragliche Vereinbarung die Zuständigkeit des Gerichtshofes der EU zu begründen. Gemäß Art. 272 AEUV ist der Gerichtshof der EU für Entscheidungen aufgrund einer Schiedsklausel zuständig, die in einem von der Union oder für ihre Rechnung abgeschlossenen öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Vertrag enthalten ist. Gemäß Art. 273 AEUV ist der Gerichtshof der EU für jede mit dem Gegenstand der Verträge in Zusammenhang stehende Streitigkeit zwischen Mitgliedstaaten zuständig, wenn diese bei ihm aufgrund eines Schiedsvertrages anhängig gemacht wird.
187
188 189 190 191
VO (EWG, Euratom, EGKS) Nr. 259/68 des Rates vom 29.2.1968 zur Festlegung des Statuts der Beamten der Europäischen Gemeinschaften und der Beschäftigungsbedingungen für die sonstigen Bediensteten dieser Gemeinschaften sowie zur Einführung von Sondermaßnahmen, die vorübergehend auf die Beamten der Kommission anwendbar sind; ABl. L 56, S. 1. Schwarze, in: ders., Art. 236 EGV Rn. 3. Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 236 EGV Rn. 3. Auch anwendbar für die Bediensteten, s. Art. 46 BSB. Vgl. EuGH, Rs. 174/83, Slg. 1985, 2133 (2147, Rn. 12) – Amman; Rs. 9/75, Slg. 1975, 1171 (1181 f., Rn. 7 ff.) – Meyer-Burckhardt.
G. Vorabentscheidungsverfahren
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IV. Völkerrechtsbezogene Gutachten Nach Art. 218 Abs. 11 AEUV können ein Mitgliedstaat, das Europäische Parla- 1382 ment, der Rat oder die Kommission beim EuGH ein Gutachten über die Vereinbarkeit einer geplanten völkerrechtlichen Übereinkunft mit den Verträgen einholen. Damit kann im Rahmen einer objektiven Rechtskontrolle ein Abkommen a priori auf seine Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht hin überprüft werden. 192
G. Vorabentscheidungsverfahren I. Grundlagen und Bedeutung Die unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts führt i.V.m. dem Vorrangprin- 1383 zip dazu, dass die nationalen Gerichte sich nicht auf eine Überprüfung am Maßstab des mitgliedstaatlichen Rechts beschränken dürfen. Vielmehr müssen sie auch das Unionsrecht als Prüfungsmaßstab heranziehen. Dies gilt für primärrechtliche Regelungen wie die Grundfreiheiten sowie für sekundärrechtliche Rechtsakte wie Verordnungen und Beschlüsse und unter Umständen auch Richtlinien. Daher müssen nationale Gerichte Unionsrecht auslegen und die Vereinbarkeit 1384 nationalen Rechts mit Unionsrecht prüfen. Schließlich kann sich auch die Frage nach der Gültigkeit des Unionsrechts selbst stellen. Dieses Aufeinandertreffen von nationaler und supranationaler Rechtsebene erfordert eine zentrale Instanz, die innerhalb der Union die einheitliche Auslegung und Anwendung des Unionsrechts sicherstellt. Diese Aufgabe obliegt gemäß Art. 267 AEUV dem Gerichtshof der EU im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens. Neben der einheitlichen Anwendung und Auslegung des Unionsrechts193 1385 dient das Vorabentscheidungsverfahren zudem der Sicherung des Individualrechtsschutzes als Ergänzung zu den nur eingeschränkten Direktklagemöglichkeiten Privater.194 II. Gegenstände des Vorabentscheidungsverfahrens 1. Deutung als Zulässigkeitsvoraussetzungen für eine Vorlage Die Regelung des Art. 267 AEUV umschreibt, in welchen Fällen der Gerichtshof 1386 der EU im Weg des Vorabentscheidungsverfahrens entscheidet. Die einzelnen Elemente werden dabei auch als Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Vorlage geprüft.195 Eine formale Einteilung passt für das Vorlageverfahren allerdings nicht 192 193 194 195
EuGH, Gutachten 3/94, Slg. 1995, I-4577 (4596, Rn. 20 f.) – GATT. EuGH, Rs. 166/73, Slg. 1974, 33 (38, Rn. 2) – Rheinmühlen; Rs. C-99/00, Slg. 2002, I4839 (4885, Rn. 14) – Lyckeskog. Vgl. EuGH, Rs. C-50/00 P, Slg. 2002, I-6677 (6734, Rn. 40 ff.) – UPA. So etwa von Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 10 Rn. 16; vgl. zudem EuGH, Rs. C-244/80, Slg. 1981, 3045 (3063, Rn. 19) – Foglia.
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Kapitel 10: Klagen vor dem Gerichtshof der EU
ganz, da bei ihm für eine sich regelmäßig anschließende Begründetheitsprüfung kein Raum ist. Denn Ziel des Vorabentscheidungsverfahrens ist nicht die materielle Prüfung eines Klagebegehrens, sondern die Beantwortung der Frage eines nationalen Gerichts. Eine materielle Rechtmäßigkeitsprüfung findet nur im Rahmen der Gültigkeitsvorlage statt.196 2. Vertragliche Zweiteilung 1387 In Art. 267 Abs. 1 lit. a) und b) AEUV sind die zulässigen Gegenstände eines Vorabentscheidungsverfahrens abschließend aufgezählt. Dabei lässt sich zwischen Auslegungs- und Gültigkeitsvorlagen unterscheiden. Im Rahmen von Gültigkeitsfragen können grundsätzlich sämtliche Handlungen der Unionsorgane vorgelegt werden. Daneben können die nationalen Gerichte nach der Auslegung der Verträge und der Handlungen der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union fragen. 3. Auslegungsfragen a) Primärrecht 1388 Gemäß Art. 267 Abs.1 lit. a) AEUV entscheidet der Gerichtshof der EU im Wege der Vorabentscheidung über die Auslegung „dieser Verträge“. Damit sind alle Fragen nach der Auslegung des EUV und des AEUV zulässiger Verfahrensgegenstand. Doch wird von dieser Alternative über den Wortlaut hinausgehend das gesamte Primärrecht erfasst. Insoweit können auch die Anhänge der Verträge, die beigefügten Protokolle,197 die Verträge zur Änderung und Ergänzung sowie die Beitrittsverträge taugliche Vorlagegegenstände sein.198 Über das geschriebene Vertragsrecht hinaus ist auch das ungeschriebene Primärrecht vorlagefähig, also die von der Rechtsprechung entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätze ebenso wie das Unionsgewohnheitsrecht.199 b) Sekundärrecht 1389 Nach Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV entscheidet der Gerichtshof der EU zudem über die Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union. Der Organbegriff ist nach Maßgabe der abschließenden Aufzählung in Art. 13 Abs. 1 EUV auszulegen. Ein wichtiger Teil der Handlungen der Organe ist das gesamte sekundäre Unionsrecht. Dazu gehören alle in Art. 288 AEUV genannten Rechtsakte, unerheblich ob verbindlich oder unverbindlich, sowie die atypischen Handlungsformen.200
196 197 198 199 200
So auch Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 10 Rn. 69. Diese sind ohnehin gemäß Art. 51 EUV Vertragsbestandteil. Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 234 EG Rn. 17, Art. 220 EG Rn. 14. Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 220 EG Rn. 11. EuGH, Rs. 59/75, Slg. 1976, 91 (101 f., Rn. 19 ff.) – Manghera.
G. Vorabentscheidungsverfahren
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c) Urteile? Es ist jedoch umstritten, ob ein nationales Gericht mittels Vorabentscheidung auch 1390 nach der Auslegung von Urteilen des Gerichtshofes der EU fragen kann.201 Jedenfalls indirekt werden damit vielfach Fragen nach der Auslegung von Unionsrecht verbunden sein. Im Übrigen kann nur das Gericht, das in dieser Sache bereits vorgelegt hat, in einem erneuten Antrag nach Art. 267 AEUV um Erläuterung bzw. Ergänzung des Urteils bitten.202 d) Völkerrechtliche Verträge Als vorlagefähige „Handlungen der Organe“ sind allgemein auch völkerrechtli- 1391 che Verträge anerkannt, die von der Union abgeschlossen wurden oder für diese aus anderen Gründen verbindlich sind.203 Erfasst werden auch Verträge, die zwar von den Mitgliedstaaten abgeschlossen wurden, bei denen die Union zwischenzeitlich aber in die Verpflichtungen eingetreten ist.204 Auch gemischte Verträge, also Verträge, bei denen die Union neben den Mitgliedstaaten Vertragspartner ist, können Gegenstand einer Vorlage sein, wenn die Union in vollem Umfang für die Einhaltung des Abkommens haftet. 205 Umstritten ist aber die Auslegungskompetenz des Gerichtshofes der EU für Regelungen in gemischten Abkommen, für die eine mitgliedstaatliche Kompetenz besteht.206 Es bedarf einer unionsrechtlichen Verbindung.207 4. Gültigkeitsprüfung Die Gültigkeitsvorlage erstreckt sich gemäß Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV auf die 1392 Handlungen der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union. Damit kann vor allem das gesamte von den Unionsorganen erlassene Sekundärrecht auf seine Gültigkeit hin überprüft werden. Demgegenüber ist das Primärrecht einer Gültigkeitsüberprüfung im Vorabentscheidungsverfahren entzogen, wie der engere Wortlaut des Art. 267 Abs. 1 lit. a) AEUV im Verhältnis zu Art. 267 Abs. 1 lit. b) AEUV zeigt.208 Auch können Gerichtsentscheidungen des EuGH nicht Gegenstand einer Gültigkeitsvorlage sein,209 da diese grundsätzlich mangels Bestehen von Rechtsmitteln in Rechtskraft erwachsen. Hingegen ist es nicht ausgeschlossen, dass Vorabentscheidungen des EuG im Rechtsmittelverfahren vor dem 201 202 203 204 205 206 207 208 209
Abl. Schwarze, in: ders., Art. 234 EGV Rn. 9; befürwortend Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 234 EGV Rn. 5. EuGH, Rs. 69/85, Slg. 1986, 947 (953, Rn. 15) – Wünsche. Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 798. EuGH, Rs. 21-24/72, Slg. 1972, 1219 (1227 f., Rn. 14/18) – International Fruit Company. Z.B. Assoziierungsverträge, EuGH, Rs. 12/86, Slg. 1987, 3719 (3750, Rn. 7) – Demirel; Rs. C-192/89, Slg. 1990, I-3461 (3501, Rn. 9) – Sevince. S. Bungenberg, in: FS für Folz, 2003, S. 13 (14 ff.). EuGH, Rs. C-53/96, Slg. 1998, I-3603 (3647 f., Rn. 25 ff.) – Hèrmes. Ehricke, in: Streinz, Art. 234 EGV Rn. 11. EuGH, Rs. 69/85, Slg. 1986, 947 (952, Rn. 13 f.) – Wünsche.
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EuGH verhandelt werden, wenn dem EuG in bestimmten Sachgebieten die Zuständigkeit zum Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 256 Abs. 3 AEUV übertragen wird. Parallel zur Auslegungsvorlage können völkerrechtliche Verträge hingegen 1393 auch Gegenstand einer Gültigkeitsvorlage sein. Der EuGH hat zur Gültigkeitsprüfung völkerrechtlicher Verträge zwar noch nicht in einem Vorabentscheidungsverfahren Stellung genommen. Er hat aber im Rahmen eines Gutachtens gemäß Art. 218 Abs. 11 AEUV festgestellt, dass die Frage, ob ein völkerrechtlicher Vertrag mit dem Unionsrecht vereinbar ist, auch im Weg eines Verfahrens nach Art. 267 AEUV vor den Gerichtshof gebracht werden könnte. 210 5. Verhältnis zur Nichtigkeitsklage 1394 Eine Gültigkeitsprüfung von Sekundärrecht kann auch im Rahmen der Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 Abs. 4 AEUV erfolgen. Daher ist eine Gültigkeitsvorlage ausgeschlossen, wenn der zu überprüfende Unionsrechtsakt dem Kläger des Ausgangsverfahrens gegenüber bestandskräftig geworden ist, weil er die Frist zur Erhebung einer Nichtigkeitsklage nach Art. 263 Abs. 6 AEUV hat verstreichen lassen.211 Etwas anderes soll nur gelten, wenn die Klagefrist noch nicht abgelaufen ist oder eine Klage wegen zweifelhafter Klagebefugnis nicht zumutbar war. 212 Andernfalls könnte das Vorlageverfahren dazu führen, dass die Bestandskraft von Handlungen der Unionsorgane nachträglich infrage gestellt wird. 6. Keine Prüfung nationalen Rechts 1395 Für beide Vorlagearten gilt, dass das jeweilige nationale Recht kein Prüfungsgegenstand ist.213 Das nationale Gericht darf deshalb nicht fragen, ob eine nationale Vorschrift ungültig ist, weil sie gegen eine Unionsrechtsnorm verstößt. 214 Vielmehr muss die Vorlage auf die Auslegung der Unionsrechtsnorm gerichtet sein, verbunden mit der Frage, ob diese Auslegung dem Inhalt einer bestimmten nationalen Norm entgegensteht. Auch eigentlich unzulässige Fragen weist der EuGH aber nicht zurück, sondern deutet sie in Fragen nach der Auslegung des jeweils anwendbaren Unionsrechts um.215
210 211 212
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214 215
EuGH, Gutachten 1/75, Slg. 1975, 1355 (1361) – Lokale Kosten. EuGH, Rs. C-188/92, Slg. 1994, I-833 (852 f., Rn. 15 ff.) – TWD Textilwerke Deggendorf. Der EuGH prüft insoweit, ob die Zulässigkeit einer Nichtigkeitsklage „offenkundig“ war, vgl. Rs. C-241/95, Slg. 1996, I-6699 (6727, Rn. 15 f.) – Accrington Beef; Rs. C-408/95, Slg. 1997, I-6315 (6352, Rn. 29) – Eurotunnel. EuGH, Rs. 11/70, Slg. 1970, 1125 (1135, Rn. 3) – Internationale Handelsgesellschaft; Rs. 369/89, Slg. 1991, I-2971 (2983, Rn. 7) – Piageme; Rs. C-188/91, Slg. 1993, I-363 (390, Rn. 27) – Deutsche Shell. S. EuGH, Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251 (1268) – Costa/E.N.E.L.; Rs. C-292/92, Slg. 1993, I-6787 (6820, Rn. 8) – Hünermund. S. nur EuGH, Rs. 54/85, Slg. 1986, 1067 (1076, Rn. 6) – Mirepoix; Rs. C-15/96, Slg. 1998, I-47 (65, Rn. 9) – Schöning-Kougebetopoulou.
G. Vorabentscheidungsverfahren
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III. Recht zur Vorlage Art. 267 AEUV unterscheidet zwischen einem Recht zur Vorlage und einer Vor- 1396 lagepflicht. Gemäß Art. 267 Abs. 2 AEUV kann das Gericht eines Mitgliedstaates dem Gerichtshof der EU eine Vorlagefrage stellen, wenn es eine Entscheidung darüber zum Erlass seines Urteils für erforderlich hält. Demgegenüber muss ein einzelstaatliches Gericht ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der EU richten, wenn seine Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können. 1. Vorlageberechtigte Gerichte Zur Vorlage berechtigt sind gemäß Art. 267 Abs. 2 AEUV allein die Gerichte 1397 eines Mitgliedstaates. Welche nationalen Stellen zu den „Gerichten“ im Sinne der Vorschrift gehören, ist nach unionsrechtlichen Kriterien zu entscheiden.216 Der EuGH hat hierzu einige formelle und materielle Kriterien entwickelt, die grundsätzlich kumulativ erfüllt sein müssen. Dazu gehören die Errichtung auf gesetzlicher Grundlage, das Wesen als ständige Gerichtsbarkeit mit obligatorischem Charakter, die Entscheidung auf der Grundlage eines rechtsstaatlich geordneten Verfahrens, die richterliche Unabhängigkeit und die potenzielle Rechtskraft der Entscheidungen.217 Private Schiedsgerichte stellen nach der Rechtsprechung des EuGH demnach 1398 keine mitgliedstaatlichen Gerichte dar, da sie auf privaten Vereinbarungen beruhen und ihnen damit das Merkmal einer obligatorischen Gerichtsbarkeit fehlt. 218 Für bestimmte Berufsgruppen eingerichtete Berufsgerichte, die Verstöße gegen bestimmte Berufspflichten ahnden, sind hingegen Gerichte im Sinne des Art. 267 AEUV, sofern sie mit Zustimmung und unter Mitwirkung der Behörden tätig sind und ihre Entscheidungen in einem streitigen Verfahren ohne einen Rechtsbehelf zu den ordentlichen Gerichten treffen. 219 Nicht vorlagefähig sind dagegen Sportgerichte, da es ihnen an der vom EuGH geforderten Mitwirkung der Behörden fehlt.220 Diese werden in alleiniger Verantwortung des Vereins errichtet und mit Richtern besetzt, ohne Einflussmöglichkeiten oder Aufsicht durch die Justiz. Bei Registergerichten ist zu differenzieren. Ist das Gericht nach den jeweils 1399 einschlägigen gesetzlichen Vorschriften auf eine Prüfung der formellen Eintragungsvoraussetzungen beschränkt, hat seine Entscheidung keinen Rechtspre216 217
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219 220
Vgl. EuGH, Rs. 61/65, Slg. 1966, 583 (601 f.) – Vaassen-Göbbels; Rs. C-24/92, Slg. 1993, I-1277 (1304, Rn. 15) – Corbiau. S. dazu EuGH, Rs. 109/88, Slg. 1989, 3199 (3224, Rn. 7 f.) – Danfoss; Rs. C-393/92, Slg. 1994, I-1477 (1514 f., Rn. 21 ff.) – Almelo; Rs. C-110-147/98, Slg. 2000, I-1577 (1610 f., Rn. 33 ff.) – Gabalfrisa u.a.; auch Rs. C-516/99, Slg. 2002, I-4573 (4606, Rn. 34 ff.) – Walter Schmid. Anders ist dies bei gesetzlich vorgesehenen Schiedsgerichten; vgl. EuGH, Rs. 61/65, Slg. 1966, 583 (602) – Vaassen-Göbbels; Rs. 109/88, Slg. 1989, 3199 (3224, Rn. 7 f.) – Danfoss. EuGH, Rs. 246/80, Slg. 1981, 2311 (2328, Rn. 17) – Broekmeulen. Offen Pechstein, EU-/EG-Prozessrecht, Rn. 819.
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chungscharakter, denn es handelt sich nicht um einen Rechtsstreit, der zwischen zwei sich gegenüber stehenden Parteien entschieden wird.221 Darf es dagegen auch die materielle Rechtmäßigkeit der Eintragungsvorschriften prüfen, entscheidet es als „Gericht“ im Sinne des Art. 267 AEUV. 2. Modalitäten des Vorlagerechts 1400 Stellt sich in einem anhängigen Verfahren eine Auslegungs- oder Gültigkeitsfrage gemäß Art. 267 Abs. 1 lit. a) und b) AEUV und hält das entscheidende Gericht eine Entscheidung des Gerichtshofes der EU darüber für erforderlich, so kann es ihm diese Frage zur Entscheidung vorlegen. So umschreibt Art. 267 Abs. 2 AEUV das Vorlagerecht der nationalen Gerichte. Damit liegt es in der Entscheidungsmacht des Prozessgerichts, ob es ein 1401 Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der EU richtet oder nicht. 222 Im Rahmen dieser Entscheidung obliegt ihm zu beurteilen, ob eine Vorlage erforderlich ist.223 Es muss sich dabei aber mit ihm vorliegenden anderen Auffassungen auseinandersetzen.224 Eine unionsrechtliche Vorschrift darf es freilich nicht für ungültig halten und deshalb unangewendet lassen. 225 Das Vorlagerecht kann nicht durch nationales Verfahrensrecht eingeschränkt 1402 werden. In der Rechtssache Peterbroeck hat der EuGH aber angedeutet, dass eine verfahrensrechtliche Einschränkung des Vorlagerechts nationaler Gerichte durch allgemeine Rechtsgrundsätze wie den der Rechtssicherheit gerechtfertigt sein könne.226 Die Parteien des Ausgangsverfahrens können eine Vorlage zwar anregen, aber 1403 sie weder erzwingen227 noch die Fassung der Vorlagefragen verändern.228 Art. 267 AEUV eröffnet den Parteien eines innerstaatlichen Gerichtsverfahrens keinen zusätzlichen Rechtsbehelf.229 Vielmehr handelt es sich um ein Zwischenverfahren im Rahmen eines vor mitgliedstaatlichen Gerichten bereits anhängigen Rechtsstreits, das der Parteiherrschaft entzogen ist.230
221 222 223
224 225 226 227 228 229 230
Vgl. EuGH, Rs. C-178/99, Slg. 2001, I-4421 (4443, Rn. 16) – Salzmann; Rs. C-182/00, Slg. 2002, I-547 (566, Rn. 15) – Lutz u.a. Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 234 EG Rn. 51. EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 (5059, Rn. 59) – Bosman; Rs. C-380/01, Slg. 2004, I-1389 (1411 f., Rn. 21) – Schneider; Rs. C-345/06, Slg. 2009, I-1659 (1710 f., Rn. 36) – Heinrich. Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633 (638). S.u. Rn. 1411. EuGH, Rs. C-312/93, Slg. 1995, I-4599 (4621, Rn. 14; 4623, Rn. 20). EuGH, Rs. C-402/98, Slg. 2000, I-5501 (5529, Rn. 29) – ATB u.a. EuGH, Rs. 5/72, Slg. 1972, 443 (448, Rn. 3) – Grassi; Rs. C-297/94, Slg. 1996, I-1551 (1569, Rn. 19) – Bruyère u.a. EuGH, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415 (3428, Rn. 9) – C.I.L.F.I.T.; Rs. C-344/04, Slg. 2006, I-403 (462, Rn. 28) – IATA. EuGH, Rs. C-2/06, Slg. 2008, I-411 (461, Rn. 41) – Kempter.
G. Vorabentscheidungsverfahren
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3. Erforderlichkeitsprüfung durch den Gerichtshof der EU Zwar steht die Entscheidung, ob ein Vorabentscheidungsersuchen an den Ge- 1404 richtshof der EU gerichtet wird oder nicht, im Ermessen des nationalen Gerichts. Deshalb darf der Gerichtshof der EU grundsätzlich die Erforderlichkeit nicht nachprüfen und unter Hinweis auf deren Fehlen die Vorlage als unzulässig ablehnen.231 Der EuGH geht sogar von einer generellen Vermutung für die Erheblichkeit der gestellten Vorlagefragen aus.232 Diese Vermutung ist aber widerlegbar.233 Nach ständiger Rechtsprechung entscheidet der Gerichtshof der EU deshalb nicht über eine Vorlagefrage, „wenn offensichtlich ist, dass die von einem nationalen Gericht erbetene Auslegung des Unionsrechts in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreites steht, oder wenn das Problem hypothetischer Natur ist und der Gerichtshof der EU nicht über die tatsächlichen oder rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind.“234 IV. Pflicht zur Vorlage Im Gegensatz zu Art. 267 Abs. 2 AEUV, der die Vorlage an den Gerichtshof der 1405 EU in das Ermessen des nationalen Gerichts stellt, statuiert Art. 267 Abs. 3 AEUV eine Vorlagepflicht. Danach müssen nationale Gerichte, deren Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der EU richten. 1. Erforderlichkeit der Vorlage Auch wenn diese Voraussetzung im Wortlaut nicht eigens erwähnt ist, so ist auch 1406 im Rahmen von Art. 267 Abs. 3 AEUV das Merkmal der Erforderlichkeit zu prüfen.235 Dies lässt sich aus der Stellung als Parallelvorschrift zu Art. 267 Abs. 2 AEUV ableiten. Auch ist nicht einzusehen, warum für die letztinstanzlichen Gerichte weniger strenge Maßstäbe gelten sollten. 2. Letztinstanzliche Gerichte Nach dem Wortlaut des Art. 267 Abs. 3 AEUV ist jedes einzelstaatliche Gericht, 1407 dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, zur Anrufung des Gerichtshofes der EU verpflichtet. 231 232 233 234
235
Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 234 EG Rn. 57. EuGH, Rs. C-222-225/05, Slg. 2007, I-4233 (4260 f., Rn. 22) – Van der Weerd; Rs. C-313/07, Slg. 2008, I-7907 (7922, Rn. 26) – Kirtruna. EuGH, Rs. 244/80, Slg. 1981, 3045 (3063 f., Rn. 21) – Foglia. EuGH, Rs. C-415/93, Slg. 1995, I-4921 (5059 f., Rn. 61) – Bosman; Rs. C-344/04, Slg. 2006, I-403 (460, Rn. 24) – IATA; Rs. C-345/06, Slg. 2009, I-1659 (1711, Rn. 37) – Heinrich. EuGH, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415 (3429, Rn. 10) – C.I.L.F.I.T.
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Kapitel 10: Klagen vor dem Gerichtshof der EU
a) Rechtsmittelbegriff 1408 Der Begriff des Rechtsmittels ist als unionsrechtlicher Begriff auszulegen. 236 Zu den Rechtsmitteln im Sinne von Art. 267 Abs. 3 AEUV gehören alle ordentlichen Rechtsbehelfe wie Berufung und Revision. Dabei ist es unschädlich, wenn die Anfechtung einer gerichtlichen Entscheidung von einer Zulassungserklärung durch das Rechtsmittelgericht abhängig ist.237 Insoweit gehört auch die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision gemäß § 133 Abs. 1 VwGO zu den Rechtsmitteln im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV.238 Außergewöhnliche Rechtsbehelfe wie Verfassungsbeschwerden oder Wie1409 deraufnahmeverfahren, die nach rechtskräftigem Abschluss von Gerichtsverfahren ein neues Verfahren eröffnen, gehören nicht zu den Rechtsmitteln. Umgekehrt ist nach diesem Ansatz auch das BVerfG letztinstanzliches Gericht.239 b) Abstrakte oder konkrete Betrachtungsweise 1410 Es ist umstritten, ob bei der Einstufung eines Gerichts als letztinstanzlich eine konkrete oder eine abstrakte Betrachtungsweise zugrunde zu legen ist. Nach abstrakter Betrachtung unterliegen nur die an der Spitze der Gerichtshierarchie stehenden Gerichte der Vorlagepflicht. Demgegenüber ist es bei einer konkreten Betrachtungsweise ausreichend, wenn die Entscheidung des Gerichts im konkreten Einzelfall nicht anfechtbar ist. Diese einzelfallbezogene Sichtweise trägt den Zielen des Vorabentscheidungsverfahrens, vor allem dem Individualschutz Rechnung.240 Die ihr entgegenstehende hohe Belastung des Gerichtshofes der EU sollte nicht durch eine einschränkende Auslegung des Art. 267 Abs. 3 AEUV gelöst werden, sondern durch Änderungen des Verfahrensrechts.241 3. Verpflichtung nicht letztinstanzlicher Gerichte 1411 Der AEUV statuiert eine Vorlagepflicht in Art. 267 Abs. 3 AEUV nur für letztinstanzliche Gerichte, doch hat der EuGH diese Verpflichtung in bestimmten Fällen auf Instanzgerichte ausgedehnt. Hält ein nicht letztinstanzlich entscheidendes Gericht einen Unionsrechtsakt für ungültig und will diesen deshalb nicht anwenden, so muss es ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der EU richten. Dies begründete der EuGH mit der notwendig einheitlichen Auslegung des Unionsrechts sowie mit der Kohärenz des Rechtsschutzsystems. Das sich aus
236 237 238 239 240 241
Ehricke, in: Streinz, Art. 234 EGV Rn. 40; Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 10 Rn. 58. EuGH, Rs. C-99/00, Slg. 2002, I-4839 (4885, Rn. 16) – Lyckeskog. BVerwG, NJW 1987, 601; NVwZ-RR 1998, 752 (754). Mittlerweile offen für eine Vorlage an den EuGH BVerfGE 125, 260 (308) – Vorratsdatenspeicherung; ausführlich Frenz, VerwArch. 2010, 159. Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 234 EG Rn. 63. Dahin EuGH Rs. C-99/00, Slg. 2002, I-4839 (4885, Rn. 15) – Lyckeskog: die Vorlagepflicht beschränkt sich nicht auf die „obersten Gerichte“.
G. Vorabentscheidungsverfahren
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Art. 263 AEUV ergebende Verwerfungsmonopol des Gerichtshofes der EU erfordert es, diesem das Verdikt der Ungültigkeit vorzubehalten. 242 4. Schranken der Vorlagepflicht a) Einstweiliger Rechtsschutz Der EuGH hat die sich aus Art. 267 Abs. 3 AEUV ergebende Vorlagepflicht nicht 1412 nur ausgedehnt, sondern sie in seiner Rechtsprechung auch eingeschränkt. In Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes hat er eine Vorlagepflicht auch letztinstanzlicher Gerichte verneint, solange den Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit offen steht, das Hauptsacheverfahren zu betreiben.243 b) Acte-clair-Doktrin Weitere Ausnahmen von der Vorlagepflicht hat der EuGH in der Rechtssache 1413 C.I.L.F.I.T anerkannt. Wenn zu der die Auslegung des Unionsrechts betreffenden Frage entweder bereits eine gesicherte Rechtsprechung des Gerichtshofes der EU vorliegt244 oder aber die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass kein Raum für vernünftige Zweifel bleibt, ist das Gericht nicht zur Vorlage verpflichtet (sogenannte Acte-clair-Doktrin).245 Davon soll ein nationales Gericht aber nur ausgehen dürfen, „wenn es überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof der EU die gleiche Gewissheit bestünde“.246 Die hohen Anforderungen der C.I.L.F.I.T.-Rechtsprechung werden als zu eng und schwer handhabbar kritisiert.247 Der EuGH hält aber bislang daran fest.248 1414 Fall nach EuGH, Rs. C-461/03, Slg. 2005, I-10513 – Gaston Schul: Besteht eine Vorlagepflicht auch dann, wenn in einem nationalen Rechtsstreit die Gültigkeit von Bestimmungen infrage steht, die anderen europarechtlichen Bestimmungen entsprechen, deren Ungültigkeit der EuGH bereits festgestellt hat? Dann ist die besonders bei Gültigkeitsfragen zwingende einheitliche Anwendung des Unionsrechts durch die nationalen Gerichte und damit die Einheit der Unionsrechtsordnung selbst und das grundlegende Erfordernis der Rechtssicherheit gefährdet. Zudem ist die Mög-
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245 246 247 248
EuGH, Rs. 314/85, Slg. 1987, 4199 (4230 f., Rn. 13 ff.) – Foto-Frost; Rs. C-344/04, Slg. 2006, I-403 (461, Rn. 27) – IATA. EuGH, Rs. 35 u. 36/82, Slg. 1982, 3723 (3734 f., Rn. 8 ff.) – Morson; ebenso BVerfG, NVwZ 1992, 360 (360). Dies gilt insbesondere dann, wenn die gestellte Frage in einem gleichgelagerten Fall bereits Gegenstand einer Vorabentscheidung gewesen ist, so EuGH, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415 (3429, Rn. 13 unter Verweis auf EuGH, Rs. 28-30/62, Slg. 1963, 63 – Da Costa). EuGH, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415 (3429, Rn. 14; 3430, Rn. 16) – C.I.L.F.I.T. EuGH, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415 (3430, Rn. 16) – C.I.L.F.I.T. Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 234 EGV Rn. 28; Schlussanträge von GA Jacobs, EuGH, Rs. C-338/95, Slg. 1997, I-6495 (6515, Rn. 59 ff.) – S. I. Wiener. Vgl. aus jüngerer Zeit EuGH, Rs. C-461/03, Slg. 2005, I-10513 (10547, Rn. 16) – Gaston Schul. Dazu ausführlich Herrmann, EuZW 2006, 231 (233 f.).
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Kapitel 10: Klagen vor dem Gerichtshof der EU
lichkeit der nationalen Gerichte, über die Ungültigkeit einer Unionshandlung zu entscheiden, unvereinbar mit der notwendigen Kohärenz des vertraglich geschaffenen Rechtsschutzsystems, in dem die Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Unionshandlungen dem Gerichtshof der EU obliegt. Deshalb kommt eine Ausdehnung der im Urteil C.I.L.F.I.T. vorgenommenen Interpretation, die Auslegungsfragen betrifft, auf Fragen nach der Gültigkeit von Gemeinschaftshandlungen nicht in Betracht.
c) Konkurrenz mit Art. 100 Abs. 1 GG 1415 Es ist denkbar, dass ein deutsches Gesetz sowohl mit dem GG als auch mit dem Unionsrecht kollidiert. Hegt ein deutsches letztinstanzliches Gericht insoweit „doppelte“ Zweifel an der Rechtmäßigkeit einer Norm, so liegt es nach dem BVerfG im Ermessen des nationalen Gerichts, ob es zuerst ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gemäß Art. 267 Abs. 1, 3 AEUV richtet oder aber einen konkreten Normenkontrollantrag gemäß Art. 100 Abs. 1 GG beim BVerfG einreicht. 249 Schließlich könnte es an der Entscheidungserheblichkeit der nationalen Norm im Sinne des Art. 267 Abs. 3 AEUV fehlen, wenn die fragliche Norm gegen nationales Verfassungsrecht verstößt und deshalb nichtig ist. Umgekehrt kann die Unionsrechtswidrigkeit des nationalen Gesetzes dazu führen, dass das BVerfG die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes prüft, das wegen des Anwendungsvorrangs von Unionsrecht gar nicht angewendet werden darf.250 Es darf also kein Ping-Pong-Spiel derart erwachsen, dass für beide Fälle die 1416 Entscheidungserheblichkeit verneint wird. Im Zweifel spricht der Geltungsvorrang des Unionsrechts für eine Prüfung zuerst vor dem Gerichtshof der EU. Etwas anderes gilt nur bei evidenten Verfassungszweifeln. 5. Verstoß gegen die Vorlagepflicht 1417 Eine Nichtvorlage trotz bestehender Vorlagepflicht allzu streng zu sanktionieren steht in einem gewissen Gegensatz zu der in allen Mitgliedstaaten garantierten Unabhängigkeit der Gerichte (vgl. Art. 97 GG). Zudem könnte die „Vorlagefreude“ der nationalen Gerichte nach Art. 267 Abs. 2 AEUV darunter leiden. a) Vertragsverletzungsverfahren 1418 Verstößt ein nationales Gericht gegen seine Vorlagepflicht aus Art. 267 Abs. 3 AEUV, liegt darin gleichzeitig der Verstoß eines Mitgliedstaates gegen eine vertragliche Pflicht im Sinne des Art. 258 f. AEUV, so dass ein Vertragsverletzungsverfahren in Betracht kommt. Bislang hat die Kommission von dieser Möglichkeit jedoch noch nicht Gebrauch gemacht.251
249 250 251
BVerfGE 116, 202 (215). BVerfGE 116, 202 (215). S. hierzu die Nachweise bei Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633 (640, Fn. 87).
G. Vorabentscheidungsverfahren
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b) Unionsrechtlicher Staatshaftungsanspruch Hat eine unter Verstoß gegen Art. 267 Abs. 3 AEUV ergangene Gerichtsentschei- 1419 dung einen Schaden verursacht, kann außerdem ein unionsrechtlicher Haftungsanspruch bestehen.252 Verletzte Rechtsnorm im Sinne dieser Voraussetzungen ist dann nicht in erster Linie Art. 267 Abs. 3 AEUV, sondern die unionsrechtliche Norm, die von Bedeutung für den Ausgangsrechtsstreit ist. c) Durchbrechung der Bestandskraft Die Verletzung der Vorlagepflicht kann unter Umständen auch Auswirkungen auf 1420 die dem Gerichtsverfahren zugrunde liegende Verwaltungsentscheidung haben. Der EuGH hat in der Leitentscheidung Kühne & Heitz festgestellt, dass eine nationale Verwaltungsbehörde aus dem in Art. 4 Abs. 3 EUV verankerten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet sein kann, ihre bestandskräftige Entscheidung zu überprüfen, um einer zwischenzeitlich vorgenommenen Auslegung des Unionsrechts durch den Gerichtshof der EU Rechnung zu tragen. 253 Im Hinblick auf diese nicht eindeutige Formulierung ist in der Literatur umstritten, ob nach deutschem Verwaltungsverfahrensrecht § 51 VwVfG oder § 48 Abs. 1 S. 1 VwVfG (i.V.m. § 51 Abs. 5 VwVfG) der richtige Anknüpfungspunkt ist und ob die Behörde eine bloße Prüfungs- oder eine strikte Aufhebungspflicht trifft. 254 d) Verfassungsbeschwerde aa) Entzug des gesetzlichen Richters Da Art. 267 Abs. 3 AEUV unmittelbar anwendbares Primärrecht ist, sind die Ge- 1421 richte an diese Zuständigkeitsnorm ebenso gebunden wie an nationales Prozessrecht. Liegen die Voraussetzungen dieser Norm vor, richtet das letztinstanzlich entscheidende Gericht aber kein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der EU, sondern entscheidet den Rechtsstreit selbst, so hat ein unzuständiges Gericht judiziert. Dies stellt einen Verstoß gegen das grundrechtsgleiche Recht aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG dar, wonach niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf.255 Jedoch bewertet das BVerfG nicht jede Verletzung der Vorlagepflicht als Verletzung des Rechts aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Es prüft nur am Willkürverbot. Dieses ist namentlich dann verletzt, wenn das nationale letztinstanzliche Hauptsachegericht x die Vorlage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl Unionsrecht entscheidungserheblich und zugleich zweifelhaft ist (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht), 252 253
254 255
Näher Frenz/Götzkes, EuR 2009, 623 ff. EuGH, Rs. C-453/00, Slg. 2004, I-837 (869, Rn. 27) – Kühne & Heitz; s. auch Rs. C392 u. 422/04, Slg. 2006, I-8559 (8607 ff., Rn. 53 ff.) – I-21 Germany und Arcor; Rs. C-2/06, Slg. 2008, I-411 (462, Rn. 44 f.) – Kempter; Frenz, Europarecht 5, Rn. 3326 ff. Vgl. dazu Ludwigs, DVBl. 2008, 1164 (1172 f.). Für eine Interpretation als bloße Prüfungspflicht Skouris, in: FS für Götz, 2005, S. 223 (236 f.). BVerfGE 73, 339 (366); 82, 159 (192 ff.).
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x bewusst von der Rechtsprechung des Gerichtshofes der EU abweicht und gleichwohl nicht oder nicht erneut vorlegt (bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft), x eine Judikatur des Gerichtshofes der EU zu einer entscheidungserheblichen unionsrechtlichen Frage gänzlich fehlt, nicht erschöpfend oder eine Fortentwicklung praktisch nicht bzw. nur entfernt möglich ist (Unvollständigkeit der Rechtsprechung). Allerdings besteht insoweit ein richterlicher Beurteilungsspielraum, der in unvertretbarer Weise überschritten sein muss. Das ist vor allem dann gegeben, wenn mögliche Gegenauffassungen gegenüber der vom nationalen Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen sind.256 1422
Fall nach BVerfG, NJW 2001, 1267, Az.: 1 BvR 1036/99: Das BVerwG (E 108, 289) hält ein deutsches Gesetz, das eine sechsmonatige Vollzeittätigkeit in einer Praxis für Allgemeinmedizin zur Voraussetzung für die Bezeichnung „praktischer Arzt“ bzw. „praktische Ärztin“ macht und eine zwölfmonatige Teilzeittätigkeit nicht genügen lässt, unter Verweis auf den begrenzten Anwendungsbereich des Art. 157 AEUV offenbar für unionsrechtskonform und verneint daher eine Vorlagepflicht. Der EuGH hat sehr dezidiert den Grundsatz der Gleichbehandlung der Geschlechter als Grundrecht herausgearbeitet und aus ihm das umfassende Verbot der unmittelbaren oder mittelbaren Benachteiligung wegen des Geschlechts abgeleitet.257 Sind von einer zwingenden Vollzeitregelung mehr Frauen als Männer nachteilig betroffen, liegt eine versteckte Diskriminierung vor.258 Da das BVerwG diese Rechtsprechung des EuGH grundsätzlich verkannte, legte es zu Unrecht nicht vor und verletzte Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG.
Im Übrigen hat indes das nationale Gericht einen Beurteilungsspielraum. Es muss prüfen, ob es einen konkreten Fall anhand der vorliegenden Judikatur des Gerichtshofes der EU lösen kann. Eine Vorlage muss nicht schon dann erfolgen, wenn die entscheidungsrelevante Konstellation noch nicht in der Rechtsprechung des Gerichtshofes der EU entschieden wurde. Vielmehr genügt es, wenn das nationale Gericht diese Judikatur auf die infrage stehende Konstellation überträgt, sich dabei mit ihr auseinandersetzt und auf dieser Basis zu einem vertretbaren Ergebnis kommt.259 Lediglich dann, wenn ihm diese Übertragung und Anwendung auf den konkreten Fall nicht gelingt, muss es vorlegen. Der dabei bestehende Beurteilungsspielraum darf durch ein letztinstanzliches 1424 Hauptsachegericht nur nicht unvertretbar überschritten worden sein. Unvertretbar handelt es dann, wenn es trotz eindeutig vorzuziehender Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts seine Meinung beibehält und nicht vorlegt, sondern die unionsrechtliche Rechtsfrage einfach selbst ohne nähere Auseinandersetzung beantwortet.260 1423
256 257 258 259 260
BVerfG, NJW 2010, 3422 (3427, Rn. 90) – Mangold. Bereits EuGH, Slg. 1978, 1365 (1379, Rn. 26/29 f.) – Defrenne; Slg. 1984, 1509 (1530, Rn. 17) – Razzouk und Beydoun. EuGH, Slg. 1989, 2743 (2761, Rn. 15 f.) – Rinner-Kühn. BVerfG, NVwZ 2007, 942 (945) mit Bezug auf BVerwGE 124, 47. BVerfG, NVwZ 2007, 942 (945); s. bereits BVerfGE 82, 159 (195 f.) sowie BVerfG, NVwZ 2009, 519 (520).
G. Vorabentscheidungsverfahren
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Damit stellt das BVerfG auf die vertretbare Lösung einer europarechtlichen 1425 Frage durch die nationalen letztinstanzlichen Gerichte ab und zieht den Maßstab bei der Handhabung einfachrechtlicher Bestimmungen der deutschen Rechtsordnung heran.261 Dabei geht es um die korrekte Handhabung der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV. Die dafür bestehenden Maßstäbe müssen daher entscheiden.262 Danach entfällt eine Vorlagepflicht entsprechend der Acte-clair-Doktrin nur dann, wenn sich die europarechtliche Rechtsfrage offenkundig und zweifelsfrei richtig beantworten lässt, um die einheitliche Auslegung des Unionsrechts sicherzustellen.263 Ob dies allerdings in der zu entscheidenden Konstellation der Fall ist, muss wiederum das nationale Fachgericht beurteilen. Insoweit besteht der richterliche Beurteilungsspielraum, wenn in der konkreten 1426 Konstellation der Gerichtshof der EU noch nichts gesprochen hat. Dann bleiben nur Ableitungen und Rückschlüsse aus der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofes der EU in anderen Konstellationen. Seine bisherige Judikatur ist also auf den konkreten Fall zu beziehen, wie es typischer richterlicher Wertungsarbeit entspricht. Damit spielt aber doch herein, inwieweit das nationale Fachgericht vertretbar zu dem Ergebnis kommen konnte, die Frage sei europarechtlich offenkundig und zweifelsfrei gelöst.264 Grundlage bildet auch nach dem BVerfG in jedem Fall eine tragfähige Wür- 1427 digung der betreffenden Frage namentlich unter Auseinandersetzung mit der Judikatur des Gerichtshofes der EU sowie der Norm selbst und ihrer Regelungssystematik.265 Eine Übertragung der Judikatur des Gerichtshofes der EU auf einen konkreten Fall ist aber nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Dabei muss indes eine nähere Beschäftigung und eine erschöpfende Definition eines fraglichen Begriffs erfolgt sein, um diesen ohne Vorlage als geklärt anzusehen.266 Es genügt auch kein Verweis auf nationale Rechtsprechung.267 Damit ist auch das BVerfG bei der Prüfung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG entsprechend Art. 267 AEUV auf die Judikatur des Gerichtshofes der EU fokussiert. bb) Verletzung des rechtlichen Gehörs Verletzt ein letztinstanzlich entscheidendes Gericht seine Vorlagepflicht aus 1428 Art. 267 Abs. 3 AEUV und haben die Verfahrensbeteiligten im Verfahren auf diese Pflicht hingewiesen, so kommt grundsätzlich auch eine Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG in Betracht. Dies aber nur, wenn das Gericht sich trotz entsprechendem Vor-
261 262
263 264 265 266 267
BVerfG, NJW 2010, 3422 (3427, Rn. 89) – Mangold. Daher die Rspr. des BVerfG abl. etwa Roth, NVwZ 2009, 345 (350 m. zahlr. w.N. in Fn. 57); s. aber jetzt BVerfG, NJW 2011, 288 (288, Rn. 48); näher Bäcker, NJW 2011, 270 (271 ff.). S. EuGH, Rs. C-461/03, Slg. 2005, I-10513 (10548, Rn. 21) – Gaston Schul. Unterschiedliche Maßstäbe sehen aber Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633 (636). BVerfG, NVwZ 2009, 519 (521). BVerfG, NVwZ 2009, 519 (520). BVerfG, NVwZ 2009, 519 (520).
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bringen der Verfahrensbeteiligten überhaupt nicht mit einer Vorlage nach Art. 267 AEUV auseinandersetzt. e) Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 EMRK 1429 Hat ein deutsches Gericht nach Auffassung der Verfahrensbeteiligten gegen seine Vorlagepflicht verstoßen und hat das BVerfG die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen, so besteht noch die Möglichkeit einer Klage beim EGMR.268 Denn die Verletzung der Vorlagepflicht könnte gegen das Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK verstoßen. Dies kommt insbesondere dann in Betracht, wenn die Nichtvorlage willkürlich erscheint. 269 V. Verfahren 1. Zuständigkeit 1430 Nach der derzeitigen Rechtslage liegt gemäß Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV, Art. 267 AEUV die ausschließliche Zuständigkeit für das Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH. Von der zur Entlastung des EuGH eingefügten Öffnungsklausel des Art. 256 Abs. 3 AEUV, wonach das EuG in besonderen in der Satzung festgelegten Sachgebieten für Vorabentscheidungen nach Art. 267 AEUV zuständig ist, wurde bisher nicht Gebrauch gemacht. 270 2. Form und Inhalt des Vorabentscheidungsersuchens 1431 In welcher Form das nationale Gericht die Entscheidung zur Vorlage trifft, ist unionsrechtlich nicht geregelt und deshalb auf der Grundlage des nationalen Verfahrensrechts zu entscheiden. In Deutschland stellen die Gerichte die Vorlagefragen in Form einfacher Gerichtsbeschlüsse. Diese beruhen auf § 148 ZPO, § 94 Abs. 1 VwGO, § 74 FGO oder § 114 Abs. 2 SGG. Die Vorlage ist an die Kanzlei des EuGH zu übermitteln (Art. 23 Abs. 1 EuGH-Satzung). Sie sollte knapp, aber so umfassend begründet sein, dass der EuGH die tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte erfassen kann. 3. Verfahrensablauf 1432 Vorabentscheidungen ergehen regelmäßig im regulären Verfahren. In bestimmten Fällen kann der Gerichtshof der EU aber auch in einem vereinfachten Verfahren anstatt durch ein Urteil entscheiden und einen mit Gründen versehenen Beschluss 268
269 270
Eine Individualbeschwerde ist gemäß Art. 35 Abs. 1 EMRK nur zulässig, wenn die innerstaatlichen Rechtsbehelfe erschöpft sind. Bei Beschwerden gegen Deutschland muss daher regelmäßig zuvor erfolglos Verfassungsbeschwerde beim BVerfG eingelegt worden sein. EGMR, Beschl. vom 13.2.2007, Nr. 15073/03, EuGRZ 2008, 274 (276) – John/ Deutschland; w.N. bei Kokott/Henze/Sobotta, JZ 2006, 633 (637, Fn. 46). Beachte hierzu auch Art. 256 Abs. 3 UAbs. 2 und 3 AEUV, die für bestimmte Fälle eine Letztentscheidungsbefugnis des EuGH normieren.
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erlassen (Art. 104 § 3 EuGH-VerfO).271 Bei „außerordentliche(r) Dringlichkeit“ ist die Durchführung eines beschleunigten Verfahrens möglich (Art. 104a EuGHVerfO, Art. 23a EuGH-Satzung). Zudem existiert die Möglichkeit eines Eilvorlageverfahrens (Art. 104b EuGH-VerfO, Art. 23a EuGH-Satzung), sofern absolut erforderlich ist, dass der Gerichtshof der EU in kürzester Frist entscheidet. VI. Die Wirkungen des Vorabentscheidungsurteils 1. Bindungswirkung Das Urteil, mit dem der EuGH über die Gültigkeit oder die Auslegung unions- 1433 rechtlicher Rechtshandlungen entscheidet, erwächst in formelle und materielle Rechtskraft und bindet neben dem Gericht des Ausgangsverfahrens auch alle anderen Gerichte, die in derselben Rechtssache zu entscheiden haben. 272 Diese Gerichte müssen den Rechtsstreit nach Maßgabe der Auffassung des EuGH entscheiden und dürfen von der Entscheidung inhaltlich nicht abweichen oder diese abändern.273 Hat der Gerichtshof der EU im Rahmen eines Vorabentscheidungsurteils einen 1434 Unionsrechtsakt oder eine sonstige Handlung eines Unionsakteurs für ungültig erklärt, so entfaltet diese Feststellung Wirkung auch über das Ausgangsverfahren hinaus. Ein solches Urteil stellt für jedes Gericht einen ausreichenden Grund dafür dar, diese Handlung bei den von ihm zu erlassenden Entscheidungen als ungültig anzusehen. Eine Ungültigkeitserklärung bindet also alle innerstaatlichen Gerichte und zudem auch die nationalen Verwaltungsorgane.274 Darüber hinaus werden von der Bindungswirkung auch die Unionsorgane erfasst. Sie sind verpflichtet, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um der festgestellten Rechtswidrigkeit abzuhelfen (Art. 266 AEUV analog).275 Die Bindungswirkung von Auslegungsurteilen liegt weniger eindeutig zuta- 1435 ge. Aus der C.I.L.F.I.T.-Entscheidung des EuGH lässt sich ableiten, dass ein letztinstanzliches nationales Gericht, das von einer einmal durch den Gerichtshof der EU vorgenommenen Auslegung einer Unionshandlung abweichen möchte, verpflichtet ist, diese Frage dem Gerichtshof der EU erneut vorzulegen. 276 Das bedeutet im Umkehrschluss, dass es im Übrigen an dessen Auslegung gebunden ist. 277 Zur Bindungswirkung von Auslegungsurteilen des Gerichtshofes der EU für die Instanzgerichte hat der EuGH sich bislang nicht ausdrücklich geäußert. Die herr-
271 272 273 274 275 276 277
Vgl. EuGH, Rs. C-492/04, Slg. 2007, I-3775 – Lasertec. EuGH, Rs. 29/68, Slg. 1969, 165 (178, Rn. 3) – Deutsche Milchkontor. Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 234 EGV Rn. 36. EuGH, Rs. 66/80, Slg. 1981, 1191 (1215, Rn. 13) – International Chemical; Rs. C-421/06, EuR 2009, 241 (251, Rn. 53 f.) – Cargill. EuGH, Rs. 117/76 und 16/77, Slg. 1977, 1753 (1771, Rn. 13) – Ruckdeschel und Ströh; Rs. C-421/06, EuR 2009, 241 (251, Rn. 52) – Cargill. EuGH, Rs. 283/81, Slg. 1982, 3415 (3430 f., Rn. 21) – C.I.L.F.I.T. Schwarze, in: ders., Art. 234 EGV Rn. 66.
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schende Auffassung in der Literatur geht hier aber mindestens von einer tatsächlichen Bindungswirkung aus. 278 2. Rückwirkung 1436 Grundsätzlich kommt Vorabentscheidungsurteilen des Gerichtshofes der EU in zeitlicher Hinsicht eine Ex-tunc-Wirkung zu. Für die Gerichte bedeutet dies, dass sie verpflichtet sind, die durch den Gerichtshof der EU vertretene Auslegung des Unionsrechts bzw. die im Urteil festgestellte Ungültigkeit einer Unionsnorm auch auf Rechtsverhältnisse anzuwenden, die in der Vergangenheit, also schon vor Anhängigkeit des Vorabentscheidungsersuchens begründet wurden. Das Risiko unkalkulierbarer Folgewirkungen einer generellen Rückwirkung hat den EuGH aber dazu bewogen, unter bestimmten Voraussetzungen die zeitlichen Wirkungen seiner Urteile auf den Zeitpunkt ab deren Verkündung zu beschränken. 279 3. Nationaler Ersatzanspruch 1437 Urteile des EuGH im Vorlageverfahren wirken notwendig ex tunc, da sie eine bestimmte Rechtslage feststellen; weiter kann nur so die einheitliche Einhaltung des Unionsrechts als Ziel des Vorlageverfahrens umfassend gesichert werden. Eine Begrenzung ergibt sich daher lediglich aus dem unionsrechtlichen Vertrauensschutz, welcher die Rückwirkung von Entscheidungen beschränken kann.280 Dieser kann aber nicht die Unvereinbarkeit nationalen Rechts mit Unionsrecht hemmen. Insoweit liegt höchstens eine nationale Rechtsverletzung vor, nämlich im Hinblick auf die Pflicht zur Einhaltung von Unionsrecht. Das aber ist ein Fall der Haftung nationaler Instanzen, wie dies auch im Rahmen der unionsrechtlichen Staatshaftung der Fall ist.281 Daher kommt ein Ersatz des Vertrauensschadens in Betracht, den die natio1438 nalen Gerichte gewähren, wenn der Betroffene auf eine unionsrechtswidrige Regelung vertraut und in diesem Vertrauen Dispositionen getroffen hat.282 Dieser ist dann aber gegebenenfalls gesondert geltend zu machen und nicht schon von dem Gericht zu gewähren, welches das nationale Recht vor dem Hintergrund des Unionsrechts für unanwendbar erklärt. 283
278 279
280 281 282 283
Dörr/Mager, AöR 125 (2000), 386 (410): „faktische Präjudizwirkung“. S. zu Ungültigkeitsurteilen EuGH, Rs. 300/86, Slg. 1988, 3443 (3464 f., Rn. 24 ff.) – Van Landschoot; Rs. C-228/92, Slg. 1994, I-1445 (1471, Rn. 19) – Roquette Frères; grundlegend für Auslegungsurteile EuGH, Rs. 43/75, Slg. 1976, 455 (480, Rn. 69 ff.) – Defrenne II. BVerfG, NJW 2010, 3422 (3427, Rn. 83) – Mangold unter Verweis auf EuGH, Rs. C61/79, Slg. 1980, 1205 (1223, Rn. 16 f.) – Denkavit; st. Rspr. Zur ambivalenten Rechtsnatur näher Frenz, Europarecht 5, 2010, Rn. 2041 ff. m.w.N. BVerfG, NJW 2010, 3422 (3427, Rn. 84 f.) – Mangold. S. BVerfG, NJW 2010, 3422 (3427, Rn. 86) – Mangold.
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VII. GASP und PJZS Art. 24 Abs. 1 UAbs. 2 S. 6 EUV i.V.m. Art. 275 Abs. 1 AEUV enthält hinsicht- 1439 lich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) eine Ausnahmeregel für das Vorabentscheidungsverfahren, wonach der Gerichtshof der EU in diesem Bereich nicht zuständig ist. Hinsichtlich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsa- 1440 chen (PJZS) waren im EG in Art. 35 EU und Art. 68 EG noch Sonderregelungen vorgesehen, die jedoch so nicht in AEUV und EUV übernommen wurden. Eine Ausnahmeregelung besteht lediglich nach Art. 276 AEUV noch für Maßnahmen der Polizei oder anderer Strafverfolgungsbehörden sowie mitgliedstaatlicher Maßnahmen für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit.284 VIII. Prüfungsschema I. Anforderungen an den Vorlagebeschluss 1. Zuständigkeit EuGH gemäß Art. 19 Abs. 1 UAbs. 1 S. 2 EUV, Art. 267 AEUV Von der Öffnungsklausel in Art. 256 Abs. 3 AEUV wurde in der EuGHSatzung bisher noch nicht Gebrauch gemacht. 2. Vorlagegegenstand - Auslegung der Verträge (AEUV, EUV samt Anhängen, Protokollen, EGRC, Änderungen, Ergänzungen und Beitrittsverträgen; allgemeine Rechtsgrundsätze und Unionsgewohnheitsrecht) - Auslegung der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union (Handlungen aller Unionsorgane nach Art. 13 Abs. 1 EUV, egal ob verbindlich oder unverbindlich; str. Urteile von Unionsgerichten; grds. auch völkerrechtliche Verträge) - Gültigkeit der Handlungen der Organe, Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union (nicht bzgl. Primärrecht, nicht bzgl. Urteilen von Unionsgerichten, str. bzgl. völkerrechtlichen Verträgen) - grds. nicht nationales Recht! vgl. Art. 267 Abs. 1 lit. a) und b) AEUV 3. Vorlageberechtigung „Gericht eines Mitgliedstaats“, Art. 267 Abs. 2 AEUV Kriterien: - Errichtung auf gesetzlicher Grundlage - Wesen als ständige Gerichtsbarkeit mit obligatorischem Charakter 284
Beachte jedoch Art. 10 des Protokolls (Nr. 36) über die Übergangsbestimmungen, nach dem die Befugnisse des Gerichtshofes der EU hinsichtlich der vor Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon auf der Grundlage der Titel V und VI EU angenommenen Rechtsakte für eine Übergangsfrist von bis zu fünf Jahren unverändert bleiben.
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Entscheidung auf Grundlage eines rechtsstaatlichen geordneten Verfahrens - richterliche Unabhängigkeit - potenzielle Rechtskraft der Entscheidungen Erfasst sind damit Gerichte aller Instanzen der staatlichen Gerichtsbarkeit, regelmäßig auch Berufsgerichte, nicht jedoch private Schiedsgerichte, Sportgerichte, Registergerichte. 4. Vorlagepflicht und Vorlagerecht a) Vorlagerecht Gericht hält Entscheidung über eine Frage zum Erlass seines Urteils für erforderlich, Art. 267 Abs. 2 AEUV - Zweifel an der Gültigkeit oder Auslegung von Unionsrecht - Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage Vorlage liegt im Ermessen des Gerichts b) Vorlagepflicht aa) Letztinstanzlich entscheidende Gerichte bzgl. „schwebenden Verfahren bei einem einzelstaatlichen Gericht (…), dessen Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können“, Art. 267 Abs. 3 AEUV Rechtsmittel: alle ordentlichen Rechtsbehelfe, wie Berufung und Revision, sowie Beschwerde gegen Nichtzulassung der Revision, nicht Verfassungsbeschwerden oder Wiederaufnahmeverfahren konkrete Betrachtungsweise; ob BVerfG, str. bb) Ausnahmsweise nicht letztinstanzlich entscheidende Gerichte wenn diese einen Unionsrechtsakt für ungültig halten und deshalb nicht anwenden wollen cc) Schranken der Vorlagepflicht Einstweiliger Rechtsschutz C.I.L.F.I.T.-Rechtsprechung/„Acte-clair-Doktrin“ bei bestehender gesicherter Rechtsprechung des EuGH oder wenn richtige Auslegung des Unionsrechts derart offenkundig, dass kein Raum für Zweifel (nur bzgl. Auslegung!) 5. Form und Inhalt des Vorlagebeschlusses keine besonderen Formerfordernisse 6. Frist keine ausdrückliche Frist, aber Verhältnis zur Nichtigkeitsklage beachten! grds. keine Gültigkeitsvorlage bei Bestandskraft des Unionsrechtsaktes wegen Ablaufs der Frist des Art. 263 Abs. 6 AEUV II. Entscheidung des EuGH EuGH beantwortet nur die vorgelegte Frage. Die Übertragung auf den Ausgangsrechtsstreit obliegt den nationalen Gerichten. Der Tenor enthält daher lediglich die Auslegung des vorgelegten Primärrechts oder des Sekundärrechtsaktes bzw. die Ungültig- oder Gültigerklärung der Handlungen der Organe oder Einrichtungen und sonstigen Stellen.
H. Inzidente Normenkontrolle
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Darüber hinausgehende Vorgaben für Auslegungskriterien bzw. die Feststellung der Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit mit höherrangigem Unionsrecht sind in den Entscheidungsgründen enthalten.
H. Inzidente Normenkontrolle Eine Sonderstellung nimmt die inzidente Normenkontrolle nach Art. 277 AEUV 1442 ein. Sie eröffnet keinen selbstständigen Klageweg, sondern setzt eine bereits erhobene Klage voraus, in deren Rahmen dann einredeweise die Unanwendbarkeit eines Rechtsaktes mit allgemeiner Geltung aufgrund der in Art. 263 Abs. 2 AEUV genannten Gründe als Inzidentrüge erhoben werden kann.285 Trotz des Verweises auf Art. 263 AEUV ist die Inzidentrüge nicht auf die dort 1443 vorgesehenen Klagen beschränkt und kann im Rahmen aller Klagearten geltend gemacht werden.286 Ihre Zulässigkeit ist an die Zulässigkeit des vorher anhängig gemachten Verfahrens geknüpft. Wird ein Rechtsakt aufgrund Art. 277 AEUV für unanwendbar erklärt, führt 1444 dies zur Nichtanwendung des strittigen Rechtsaktes im konkreten Verfahren und berührt damit nicht den Bestand der Norm an sich.
285 286
Vgl. EuGH, Rs. 33/80, Slg. 1981, 2141 (2157, Rn. 17) – Albini. Cremer, in: Calliess/Ruffert, Art. 241 EGV Rn. 3.
Sachregister Die Ziffern beziehen sich auf die Randnummern.
Abbruch lebensverlängernder Maßnahmen 993 Abfallbewirtschaftung 867 Abfallentsorgung 305, 394 Abgaben gleicher Wirkung 253 Abgeleiteter Rechtsakt 1306 Abgestimmte Verhaltensweisen 351 Abgrenzung auf Schutzbereichsebene 219 Abgrenzung Rechtsgrundlage 1308 Ablehnung einer begehrten Regelung 1286 Ablehnungsverfahren 107 Abnahme- und Vergütungspflicht für Strom aus erneuerbaren Energien 420 Abrissverfügung 1184 Absatzbeschränkungen 341 Abschiebe-Richtlinie 677 Abschiebung 1001 Abschluss von Übereinkünften 927 Abschlüsse 279, 296 Abschotten nationaler Märkte 336 Abschreckende strafrechtliche Vorschriften 999 Abstimmungsmodalitäten 526 Abstrakte Betrachtung 1410 Abstrakt-generelle Beschlüsse 1310 Abweichungsgesetzgebung 64 Achtung des Privat- und Familienlebens 1031 Achtung des Privatlebens 969 Achtung wohlerworbener Rechte Dritter 1327 Acte-clair-Doktrin 1413 Adoption eines Kindes 1055 AETR-Judikatur 927 Agrar- und Fischereipolitik 765 ff. Agrarordnung 1121 Agrarpolitischen Ermächtigungsgrundlage 772
Ahlström-Urteil 349 Aktionsplan 193, 578 Aktive Dienstleistungsfreiheit 311 Aktive Zuwanderungspolitik 674 Allgemeine Bildung 822 f. Allgemeine Diskriminierungsverbote 1204 Allgemeine Freizügigkeit 940 Allgemeine Handlungsfreiheit 1035 Allgemeine Leitlinien 921 Allgemeine Rechtsgrundsätze 614 Allgemeiner Gleichheitssatz 1196 f. Allgemeiner Rechtsgrundsatz 21 Allgemeines Diskriminierungsverbot 1196 f. Alter 1204, 1206 Altersabstandsklauseln 33 Altersdiskriminierung 33 Altmark-Urteil 776 Amtsenthebung 584, 588 Amtsniederlegung 588 Amtszeit der Kommission 585 Amtszeit des Hohen Vertreters 605 Analogieverbot 1222 Anbahnung zwischenmenschlicher Beziehungen 1038 Anerkennung - EU-ausländische Abschlüsse 279 - gerichtliche und außergerichtliche Entscheidungen 680 - gerichtliche Urteile und Entscheidungen 684, 688 Anfechtungsklage 196 Anfragen des Europäischen Parlaments 465 Angemessene Beteiligung der Verbraucher 365 Angemessene Entschädigung 491 Angemessener Grad von Öffentlichkeit 449 Angemessenheit 245
W. Frenz, Europarecht, DOI 10.1007/978-3-642-21019-8, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2011
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Sachregister
Angleichung der Rechtsvorschriften 707 Angleichung innerstaatlicher Rechtsnormen 710 Angleichungskompetenzen mit Binnenmarktbezug 711 ff. Angstzustände 1008 Anhänge der Verträge 1388 Anhörung 1262 Anhörungs- und Beteiligungsrechte 1319 Anklageerhebung 700 Anmeldeverfahren 446 Anonymisierung 1050 f. Anpassungspflicht 67 Anpflanzungsverbot 1184 Anschaffung von Arbeits- und Produktionsmitteln 286 Anschläge 1024 Anspruch auf Fehlertoleranz 133 Anwaltschaft 316 Anwendungsbereich 215 Anwendungsvorrang 14, 125 f., 137 Arbeitgeber 638 Arbeitnehmer 269, 638 - aus anderen EU-Mitgliedstaaten 268 - Freizügigkeit 236, 267 - Interessen 723, 332 Arbeitnehmerrechte 723, 1208 - Rechtsangleichung 723 Arbeitsbedingungen 271, 816, 818, 1127, 1210 Arbeitsentgelt 817 Arbeitskräftepotenzial 815 Arbeitsmarktpolitik 676 Arbeitsrecht 810, 818 Arbeitsumwelt 816 Arbeitsvermittlungsdienst 1210 Arbeitsverweigerung 1122 Armee 933 Arzneimittel 835 Ärztliche Heilbehandlung 1005 Assoziierung 904 Assoziierungsbeschluss 905 Assoziierungssystem 906 Asyl 654, 672, 278 Asylrecht 1001 Asylsuchende 1028 Atompolitik 885 ff. Audio-visuelle Produkte 256
Aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen 335 Aufenthaltsort eines entführten Jungen 1020 Aufenthaltstitel (für Drittstaatsangehörige) 677 Auffanggrundrecht 968, 1035 Auffangtatbestand - Nichtigkeitsgrund 1323 Aufforderung zum Tätigwerden 1350 Aufgeklärte Verbraucher 838 Aufhebungsverfahren 448 Aufklärung 1010 Auflösung 1101 Aufrechnung mit Zwangsgeldforderungen 1257 Aufruhr 997 Aufsichtsklage der Kommission 1231 ff. Aufsichtsverfahren 1228 Aufstand 997 Aus- und Weiterbildungsprogramme 899 Ausbau der transeuropäischen Netze 842, 852 Ausbildungsförderung 1171 Ausbrechender Hoheitsakt 131 Ausfuhrzölle 253 Ausgewogenes Wirtschaftswachstum 744 Ausgleich zwischen verschiedenen religiösen und weltanschaulichen Strömungen 1067 Ausgleichspflicht 1191 Ausgrenzungen 815 Auskünfte 1345 Auskunftsanspruch 194 Ausländer abschieben 996 Ausländerrechtliche Maßnahmen 1034 Auslegung contra legem 153 Auslegung der Unionsrechtsnorm 1395 Auslegung von Urteilen des Gerichtshofs der EU 1390 - Vorabentscheidungsverfahren 1390 Auslegungs- und Verwerfungskompetenz 156 Auslegungsmonopol 162 Auslegungvorlagen 1388 ff. Auslieferung 1001 Auslieferungsfreiheit 686
Sachregister Auslieferungsverfahren 1028 Ausschaltung des Wettbewerbs 375 Ausschließliche Zuständigkeit 47 Ausschließliche Rechte 398 Ausschließlichkeitsrechte 395 Ausschlussfristen 145 Ausschuss der Regionen 531, 641 ff., 643, 1271, 1278, 1329, 1336 - Subsidiaritätsklage 1329 - Untätigkeitsklage 1336 Ausschuss der Ständigen Vertreter (AStV/COREPER) 543 f., 566 Ausschüsse 484, 502, 612 Außenbeziehungen der Union 529 Außengrenzen 668 Außenvertretung der Union 520 Außenwirkung 1290 Außergewöhnliche Rechtsbehelfe 1409 Außergewöhnliche, nicht kontrollierbare Ereignisse 801 Außervertragliche Haftung 1359 Außervertragliche Schuldverhältnisse 683 Aussetzung des Vollzugs 1325 Aussperrungsrecht 817 Austausch von - Fluggastdaten 781 - Informationen 899 - Informationen aus dem Strafregister 687 Ausübung hoheitlicher Befugnisse 270 Ausübung öffentlicher Gewalt 292, 316 Auswärtige Bildungspolitik 825 Auswärtige Gewalt 925 Auswärtiges Handeln 912, 915 Ausweisung 1001 Ausweisungsverfahren 1028 Automobilproduktion 333 Bagatellbekanntmachungen 356 Bagatellgrenze 428 Bananenmarktordnung 136 Bankenaufsicht 327 Bau und Betrieb von Infrastrukturnetzen 843 Baugrundstücke 329 Bauverbot 1184 Beamte 899 Beamtenstreitigkeiten 1227 Bedienstetenstreitigkeiten 1379 Beeinträchtigung 212 f., 231, 977
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Beeinträchtigungen personenbezogener Daten durch Private 1052 Befähigungsnachweise 279 Befassung der Kommission 1261 Befreiungstatbestände für wettbewerbsbeeinträchtigende Verhaltensweisen 345 Begrenzte Einzelermächtigung 131 Begründete Stellungnahme 1242 Begründung einer beherrschenden Stellung 407 Begründungsmangel 1321 Begünstigung 416 Behandlung von Drittstaatsangehörigen 674 Beherrschende Stellung 340 Behinderung 1204 Beihilfe 145, 413, 776 - sozialer Art 434 - Verfahren 1258 Beitritt neuer Mitgliedstaaten 463 Beitrittsverträge 1388 Bekämpfung - Ausgrenzung 816 - Feinstaub 1302 - illegaler Einwanderung 674 - Terrorismus 656 Bekanntgabe 1321 Bekenntnisfreiheit 1062 f. Belange der Landwirtschaft 774 Belastung öffentlicher Mittel 416 Beliehene 1236 Beratung 461 Berechenbarkeit der Strafgesetzgebung und -justiz 1222 Beruf 1113 ff., 1115 - Anerkennungsrichtlinie 1119 f. - Ausbildung und Fortbildung 818 - Ausübung 1113, 1119, 1129, 1133 - Bildung 822 f. - Freiheit 1113 ff., 1149 - Freiheitsrecht 1129 - Gerichte 1398 - Typen 1119 - Vereinigungen 1282 - Wahl 1113, 1120, 1129, 1133 - Wahlfreiheit 1132 Berufung 1408 Beschäftigung 818 - Bedingungen 1378
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Sachregister
- Möglichkeiten 271 - Niveau 809, 815 - Politik 804 ff. - Strategie 807 Beschlüsse 16, 351, 921, 925, 1341 - an die Mitgliedstaaten 17 - Frist für die Umsetzung 19 - GASP 921, 925 - nicht adressierte 18 - Richtlinien 19 - unmittelbare Wirkungen 17, 20 - Untätigkeitsklage 1341 - Unternehmensvereinigungen 335 Beschlussverfahren 1320 Beschränkungen 977 Beschränkungsbegriff 213 Beschränkungsverbot 233, 235 Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision 1408 Besitzanspruch 1170 Besondere Diskriminierungsverbote 1197 Besserstellung der (herkömmlichen) Ehe 1207 Bestandskräftige Verwaltungsentscheidung 145 Besteuerung 785 Besteuerungskompetenz der Union 783 Bestimmtheitsgebot 1222 Beteiligungserwerb 400 Betriebsprüfung 300 Betroffenheit 1298 Beurteilungsspielraum 1037, 1048 f., 1086 - Datenschutz 1049 - Kommission 409 - Lärmschutz 1037 - Meinungsfreiheit 1086 - Vorlage an EuGH 1421 ff. Bewaffnete Kräfte 933 BeweisaufnahmeVO 683 Bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft 1421 Beziehungen der EU 602 Bildung 84, 1209 - Kompetenz 325 - Personenfreizügigkeit 823 - Politik 824 - System 325, 824 - Vereinigungen 837
Billigung Kommissionsvorschlag 99 Bindungswirkung von Auslegungsurteilen 1435 Binnenmarkt - Angleichungskompetenzen 707 - Energie 883 - Infrastruktur 842 - Rechtsangleichung 708, 712 - Wirtschaftspolitik 794 - Ziele 742, 842 Binnenschiffsverkehr 778 Biogasanlagen 774 Biologie 1004, 1013 Biologische Meeresschätze 767 f. Biomedizinkonvention 1013 BiopatentRL 991 Blaue Karte EU 677 Blockaden 1109 Blut 832 Blutentnahmen 1009 Bodennutzung 867 Bodenschutz 774, 1184 Bootsflüchtlinge 993 Bosphorus-Entscheidung 949 Bräuche 1063 Brennstoffzelle 882 Briefverkehr 1031 Brückenklausel 682, 699 Brückenverfahren 689, 693, 701 Budgetrecht 460 Bundesländer - Schadensersatzklage 1363 - Verantwortlichkeit 1236 Bürgerbeauftragter 464, 1214 Bürgerminderheit 473 Bürgernähe 645 Bürgerrechte 1214 Bundesminister 535 Bundespräsident 149 Bundesrat 471, 690, 693, 695, 699, 1330 - Subsidiaritätsklage 1330 Bundesstaat 64, 478 Bundesstaatsprinzip 648 Bundestag 690, 693, 695, 699 - Subsidiaritätsklage 1330 Bundestagsverwaltung 492 BVerfG - letztinstanzliches Gericht 1409 - Ultra-vires- und Identitätskontrolle 129 ff.
Sachregister Cassis de Dijon-Rechtsprechung 241, 736, 722, 731 - Rechtsangleichung 736 Chancengleichheit 816 Charta der Vereinten Nationen 933 Chartagrundrechte 938 ff. CO2-Emissionen 1131 Colbertistische Verwurzelung 850 Cold callings 317 COSAC 503 Darlegungs- und Beweislast 246 Darlehen 1170 Datenaustausch 668 Datenschutz 660, 969, 1040 ff. - RFSR 660 Datenschutzbeauftragter 1052 Datenschutzrechtliche Verfahrensmechanismen 1050 DatenschutzRL 662, 1042 DatenschutzRL für elektronische Kommunikation 1042 Dauerhafte Entwicklung 874 Defizitäre Anwendung 177 Delegationen 503 Delegationen der Union 913 Delegationsverfahren 610 De-minimis Verordnung 430 De-minimis-Regel 428 Demokratie 740, 1098 Demokratiekonzeption des BVerfG 476 Demokratieprinzip 36, 471, 475, 477 Demokratische Gesellschaft 1036, 1037, 1066, 1098 Demonstrationsfreiheit 265 Deutsche Ratsvertreter 689 Dienstleistungen 306 Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse 394 Dienstleistungserbringer 309 Dienstleistungsfreiheit - aktiv 311 - passiv 311 - Verkehr 776 Dienstleistungskonzessionen 451 Dienstleistungsmonopole 318 Dienstleistungsrichtlinie 1119 f. Dienstleistungsverkehr 779 Dienstrechtliche Klagen 1365 Dienststellen 612 Dingliche Rechte 1169
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Diplomatischer und konsularischer Schutz 1214 Direkte Steuern 783 Direkter Vollzug des Unionsrechts 1360 Direktklage 1272 Direktklagemöglichkeiten Privater 1385 Direktklagen 1230 Direktwahlakt 469 Diskriminierung 745, 1195 Diskriminierungsfreier Zugang 824 Diskriminierungsverbot 436, 819, 1068, 1125, 1195 - Arbeitsleben 820 - Berufsfreiheit 1125 - Glaubensfreiheit 1068 - indirekte Steuern 787 Doppelabstützungen 718 Doppelbestrafungsverbot 1224 Doppelmandate 483 Dreifacher Grundrechtsschutz 945 Dritte Säule 653 Drittstaaten 913, 1363 - Parteifähigkeit 1363 Drogenhandel 327 Drohung 1020 Druckerzeugnisse 256 Dual verfasste Repräsentativdemokratie 473 Dublin II-VO 673 Durchführung von Unionsrecht 954 - Grundrechte 954 Durchführungsmaßnahmen 1311 Durchgangsverkehr 780 Durchgriff des Unionsrechts 13 Durchsetzungsmotor 4 Dürig’sche Objektformel 991 Dynamische Blankettermächtigung 692 EAD 603, 607 EAD-Beschluss 607 EAG 858, 885 ff., 888 ECRIS 687 EFF 673 Effektive Durchführung 900 Effektivitätsgebot 902 Effet utile 38, 773 Effizienzgebot 447 Ehe 1056, 1059 Ehemalige Kolonialgebiete 906 Eigene Rechtsordnung 5 Eigentumsbegriff 1167, 1175
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Sachregister
Eigentumsentzug 1178 ff. Eigentumsfreiheit 1167 ff. Eigentumsgrundrecht 1043, 1167 ff. Eigentumsrecht 949, 1047 - Datenschutz 1043, 1047 - EMRK 949 Eilvorlageverfahren 1432 Ein- und Ausfuhrzölle 253 Eindeutige, durch den EuGH geklärte Rechtslage 179 Einfache Mehrheit 555 Einfrieren von Geldern 656, 1185 Eingerichteter und ausgeübter Gewerbebetrieb 1172 Eingriffe 978 Einheitliche Anwendung des Unionsrechts 1385, 1414 Einheitliche Währung 798 Einnahmegarantien 422 Einreise - Bedingungen 668 - Verbote 1050 - Verweigerung 668 Einschätzungsprärogative 726 Einschränkung 977 - Wettbewerb 343 Einschüchterungen 1064 Einseitige Gewährungen 1171 Einstellen von Mitarbeitern 286 Einstimmigkeit 562 Einstweilige Anordnung 169 Einstweiliger Rechtsschutz 1412 - Vorabentscheidungsverfahren 1412 Einwanderung 654, 678 Einwanderungspolitik 674 Einwilligung 1010 - Datenschutz 1044 Einzelfreistellung 376, 384 Einzelunternehmer 1154 Eisenbahnverkehr 778 EJN 687 Elektrizität 256 Elektrizitätsversorgungsunternehmen 420 Elektronisches Fingerabdruckvergleichssystem 673 Embryonale Stammzellenforschung 993 Emissionshandel 62,1134 Emissionshandelssystem 136, 1131 Emissionsverringerung 884
Empfänger der Dienstleistungen 309 Empfehlungen 34, 72, 1130, 1289, 1345 - Individualuntätigkeitsklage 1345 EMRK 943, 947 ff. Energie 53 - Effizienz 881, 884 - Einsparung 881, 884 - Infrastrukturnetze 841 - Markt 881 - Netze 881 - Politik 714, 878 - Quellen 867, 878 - Ressourcen 878 - Speichersysteme 882 - Steuern 790 - Verbrauch 884 - Versorgung 867, 878 - Versorgungssicherheit 881 Enteignung 1179 Entfaltung der Persönlichkeit 1035 Entkommen einer ordnungsgemäß festgehaltenen Person 997 Entschädigung 1188 Entscheidungen 16 Entscheidungsmacht des Prozessgerichts 1401 Entscheidungsspielraum 44, 762 Entschließungen 632, 644 Entstehungsgeschichte 59 Entwicklungsprozess 908 Entwicklungszusammenarbeit 70 Entziehung des Eigentums 1179 Entzug des gesetzlichen Richters 1421 ff. Erdwärme 882 Erfolgswertgleichheit 471 Erforderlichkeit 245 - Grundfreiheiten 245 - Grundrechte 979 - Kompetenzausübung 43 - Vorabentscheidungsverfahren 1383 ff., 1404 Ergänzung 73 Erhaltung des kulturellen Erbes 435 Erheblichkeit der gestellten Vorlagefragen 1404 Ermächtigungsverfahren 610 Ermessen 762 Ermessensfehler 1324 Ermessensmissbrauch 1317, 1324 Erneuerbare Energien 881 f., 884
Sachregister Erniedrigende Strafe oder Behandlung 1018 Erwerb 1168 Erwerbszweck 347 Erziehung 837 Erzwingung von unangemessenen Einkaufs- oder Verkaufspreisen 341 ESZB 621 ESZB- und EZB-Satzung 622 Ethnische oder soziale Herkunft 1204 EuBVO 683 Eugenische Praktiken 1014 EuGH-Satzung 618 EuGöD 618 EuGVV 683 EuHbG 686 EUMC 547 EUMS 548 Euratom 886 f., 890 Euratom-Vertrag 885 EU-Ratspräsident 515 EU-Ratspräsidentschaft 549 Euro 560, 748, 797 EURODAC 673 Euro-Gruppe 450 Eurojust 697 f. Europa(wahl) 469 ff. Europaausschüsse der mitgliedstaatlichen Parlamente 503 Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen 670 Europäische Justizbehörde 697 Europäische Sozialpolitik 810 ff. Europäische Staatsanwaltschaft 699 Europäische und nationale Grundrechte 954 ff. Europäische Wirtschaftsregierung 847 Europäische Zentralbank 621 ff. Europäischer Auswärtigen Dienst 603, 607 Europäischer Datenschutzbeauftragter 464 Europäischer Flüchtlingsfonds 673 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 506 Europäischer Haftbefehl 656, 685 Europäischer Rat 504 ff., 508, 525, 1283, 1338 - passive Parteifähigkeit 1283
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- Schadensersatzklage 1366 - Untätigkeitsklage 1338 Europäischer Raum der Forschung 859 Europäischer Sozialfonds 823 Europäisches Amt für Personalauswahl 613 Europäisches Haftbefehlsgesetz 686 Europäisches Justizielles Netz 687 - für Zivil- und Handelssachen 683 Europäisches Parlament 456 ff., 1277, 1338 - aktive Parteifähigkeit 1277 - Untätigkeitsklage 1338 Europäisches Polizeiamt Europol 703 Europäisches Strafregisterinformationssystem 687 Europäisches System der Zentralbanken 621 Europarat 505 Europarecht - im engeren Sinne 2 - im weiteren Sinne 1 Europarechtskonforme Auslegung 150 EuropeAid 613 Europol 656, 704 Euro-Schwäche 800 Eurostat 613 EWG 3 Ewigkeitsgarantie 8, 479 Exekutivagenturen 575 Exekutivbefugnisse 530, 574 Exekutive 455 Expertengruppen 612 EZB 621, 1271, 1278, 1283, 1338, 1366 - passive Parteifähigkeit 1283 - Satzung 622 - Schadensersatzklage 1366 - Untätigkeitsklage 1338 Fachgerichte 618 Faires Verfahren 1429 - Nichtvorlage 1429 Faktische Betroffenheit des Einzelnen 202 Faktische Enteignung 1180 Familie 1056 - Angehörige 271, 297 - Gründung 1055 - Leben 1034, 1055 - Recht 681 f.
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Sachregister
Fehlende Integration in eine andere Volkswirtschaft 306 Fehlende Verkörperung 306 Festlegung eines Standpunkts 1351 Festlegung von Straftaten und Strafen 691,694 Festnahme 997 Feststellungsklage 195, 1230, 1357 Feststellungsurteil 1253, 1375 File-sharing 1048 Finanzieller Transfer 801 Finanzielles Gleichgewicht des Systems der sozialen Sicherheit 301, 835 Finanzinstituten 439 Finanzkrise 803, 847 Finanzstabilisierungsmechanismus, europäischer 803 Finanzvorbehalt der Mitgliedstaaten 299 Finanzzölle 253 Fingerabdrücke von Asylbewerbern 673 Fischerei 766 Flexibilitätsklausel 82, 749, 936 Fluggastdaten-Abkommen 781 Flughäfen 1008 Fluglärm 1037 FMStFG 440 Folgenbeseitigung 1254 Folter 976 Folterverbot 968, 1018 Förderung der Beschäftigung 815 Förderung des technischen oder wirtschaftlichen Fortschritts 338, 364, 375 Formelle Enteignung 1180 Formelles Vorverfahren 1239 Forschung 68, 857 Forschungsfreiheit 1073 Forschungsmaßnahmen 859 Fötus 995 Frage von gemeinsamem Interesse 901 Fraktionen 484, 500 Fraktionsdisziplin 485 Freie Einwilligung 1005 Freier Datenverkehr 1041 Freier Personenverkehr 654 Freier Personenverkehr 742 Freier Warenverkehr 904 Freies Mandat 481 Freiheit 704, 1023
Freiheit vor willkürlicher Verhaftung 1023 Freiheitsentzug 1026, 1028 - Schutz vor 1022 Freistellungsentscheidung 362 Freiwillige Einwilligung 1004, 1010 Freizeitwohnsitz 329 Freizügigkeit - Aufenthalt 323 - Forscher 858 - Personen 654, 665 - Rechtsangleichung 723 Freizügigkeitsrecht für Unionsbürger 671 Friedenssicherung 932 Friedliche Nutzung Kernenergie 889 Fristbestimmung 173 Frontex 670 Führerscheinrichtlinie 191 Führerscheintourismus 191 Fusionen 399 ff., 407 Fusionskontrolle 409 Fusionskontrollverordnung 400 G8-Treffen 521 Garantenstellung 264 Garantie von zwei Aufsichtsratsmandaten 332 GASP 913, 919 ff., 1267 f., 1439 - Vertragsverletzungsverfahren 1267, 1439 Gebietskörperschaften 148, 158, 645 f., 1276, 1282 Gebot der Wahlgleichheit 470 Geburt 1055, 1204 Gedankenfreiheit 1061 ff. Gefährdung für die Umgebung 1011 Gegendarstellung 1241 Gegenstand der Unternehmung 1158 Gegenstände - Nichtigkeitsklage 1270 ff. - Untätigkeitsklage 1332 ff. - Vertragsverletzungsverfahren 1228 ff. - Vorabentscheidungsverfahren 1386 Geisteskranke 1006 Geistige Unversehrtheit 1006 Geistiger Zustand 1008 Geistiges Eigentum 1173 Gekorene Unionswaren 251
Sachregister Geld- und Wechselkurspolitik 798 Geldbuße 330 Geldwäsche 327 Gelegenheitsarbeitsverhältnisse 1117 Geltendmachung geringfügiger Forderungen 683 Gemeinden 148, 158, 1363 - Schadensersatzklage 1363 Gemeinsame Agrar- und Fischereipolitik 766 ff. Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik 81, 519, 521, 529, 546, 562, 566, 601, 913, 917, 919, 936, 1026, 1040, 1328, 1439 - Datenschutz 1040 - gerichtliche Kontrolle 1328 - Vorabentscheidungsverfahren 1439 Gemeinsame Handelspolitik 913 Gemeinsame Liste terroristischer Vereinigungen 656 Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik 913, 930 ff. Gemeinsame Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten 944 Gemeinsame Verteidigung 934 Gemeinsame Verteidigungspolitik 81, 926 Gemeinsames europäisches Asylsystem 672 Gemeinschaftsunternehmen 403 Gemeinwohlbezogene Aufgabe 395 Gemeinwohlbezogene Leistungen 431 Gemischte Verträge 1391 Generaldirektionen 612 Generaldirektoren 611 Generalermächtigung 720 Generalsekretär der Kommission 611 Generalsekretariat 613 Genetische Merkmale 1204 Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen 1109 Gerechtigkeit 740 Gerichte 155, 618, 1236, 1397 Gerichtsbarkeit mit obligatorischem Charakter 1397 Gerichtsentscheidungen - Staatshaftung 174 - Vorabentscheidungsverfahren 1392 Gerichtshof der EU 614 ff., 1226
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Gesamtrepräsentation 480 Gesamtwirtschaftliche Stabilität 441 Geschäftsdaten 1043 Geschäftsgeheimnisse 1161 Geschäftsräume 1038 Geschäftsunterlagen 1161 Geschäftsvolumen 1156 Geschlecht 1204 GeschOER 516 Geschriebene Rechtfertigungsgründe 239 Geschriebene Schutzbereichsbegrenzung 224 Gesellschaftsrechtliche Beteiligung 1154 Gesetzgeber 458 Gesetzgebungs- und Arbeitsprogramm der Kommission 459 Gesetzgebungsakte 1307 f. Gesetzgebungsbefugnisse 457 Gesetzgebungszuständigkeiten 46 ff. Gesetzliches Vorkaufsrecht 1179 Gesetzmäßigkeit 1221 Gestaltungsklage 1272 Gestaltungsurteil 1326 Gesunde öffentliche Finanzen 799 Gesundheit 662, 713, 730, 1066 - der Bevölkerung 890 - Rechtsangleichung 713, 730 Gesundheitliche Leistungen 1012 Gesundheits- und Verbraucherschutz 970 - grundrechtlicher Schutz 970 Gesundheitsdefinition der WHO 1007 Gesundheitspolitik 830 Gesundheitsschutz 84 f., 325 - bei der Arbeit 818 Gesundheitswesen 830 Geteilte Zuständigkeit 52, 74 Gewährung eines Vorteils 419 Gewährung von Asyl 673 Gewaltanwendung 997 Gewässerschutz 774 Gewerbebegriff 1153 Gewerkschaften 1106, 1109, 1282 Gewerkschaftliche Streiks 1109 Gewerkschaftlicher Boykott 1109 Gewinn 375 Gewinnerzielungsabsicht 1117 Gewissensfreiheit 1061 ff. Gewohnheiten von Fluggästen 1051
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Sachregister
Gewohnheitsrecht 614 Gezeiten 882 Gipfeltreffen 522 - mit EU-Drittstaaten 521 Glaubensfreiheit 1062, 1067 Gleichbehandlung - unterschiedliche Sachverhalte 1199 - von Männern und Frauen 819 Gleichbehandlungsanspruch in den Arbeitsbedingungen 1125 Gleichbehandlungsrichtlinie in der Beschäftigung 821 Gleichbehandlungsrichtlinien 819 Gleiches Entgelt für Männer und Frauen 820 Gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften 1057 Gleichheit von Männern und Frauen 740 f. Gleichheitsgebot 1195 Gleichheitsgerechter Zugang zum Hochschulunterricht 325 Gleichheitssatz 985, 1194 Gleichstellung von Frauen und Männern 745, 814 Globale Umweltprobleme 862 Goldene Aktien 220, 331 Gottesdienst 1963 Grenzkontrollen 664, 668, 678 Grenzschutzsystem an den Außengrenzen 667 Grenzüberschreitender Bezug 939 Grenzüberschreitender Datentransfer 1041 Grenzüberschreitendes Moment 307 Großflughafen 1037 Grünbücher 578 Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit 278, 299, 397 Grundfreiheiten 250 ff., 453, 708, 728, 731, 783, 909, 938, 1102, 1124, 1128 - Assoziierung 909 - Berufsfreiheit 1124, 1128 - Grundrechte 938 ff. - Rechtsangleichung 708, 728, 731 - Steuern 783 Grundrecht auf Datenschutz 985, 1040 Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz 1215
Grundrechte 241, 660, 728, 938 ff., 947, 983 ff. - allgemeine Grundsätze 943 - Ansatz 962 ff. - Beurteilungsspielraum 979 - Datenschutz 985 - Einschränkungen 973 ff. - EMRK 943, 947 ff. - GG 212 - Grundfreiheiten 938 ff. - Grundsätze 967, 986, 1211 - Harmonisierung 964 - mittelbare Beschränkungen 973 ff. - Prüfungsabfolge und -dichte 962 ff. - Rechtfertigungsgründe 941 - Rechtsangleichung 728 - RFSR 660 - Schrankensystematik 973 ff. - Schutzbereich 962 ff. - Sekundärrecht 940 - Spezialität 968 - unantastbare 976 - Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten 943 - Verhältnismäßigkeit 979 - Verweisungsklausel 961 - Wertesystem 971 Grundrechtekatalog 943 Grundrechtsordnungen 957 Grundsatz - der begrenzten Einzelermächtigung 37, 659, 719, 757, 761 - der freien Inanspruchnahme aller Angebote auf Unionsebene 314 - der gegenseitigen Anerkennung 680 ff. - der Gleichbehandlung 296 - der Gleichbehandlung der Geschlechter 1422 - der Inländergleichbehandlung 313 - der loyalen Zusammenarbeit 66 - der nachhaltigen Entwicklung 860 - der Nicht-Zurückweisung 672 - der Rechtssicherheit 325 - der Solidarität 678 - der Verhältnismäßigkeit 41, 659, 726 - des bestmöglichen Umweltschutzes 872
Sachregister - des effektiven Rechtsschutzes 170, 1303 Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit 900 - Durchbrechung der Bestandskraft 1420 Grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht 1421 Gründung einer Familie 1059 Gründung eines Unternehmens 1157 Gruppe der Fraktionslosen 484, 486 Gruppenfreistellungen 377 Gruppenfreistellungsverordnung 379, 382 GSVP 913, 930 ff. Gubernativkompetenz 72 Gültigkeitsvorlage 1392 Gutachten 1382 Gutachtenverfahren 1227 Gutgläubigkeit 446 GWB 391 Habeas-corpus-Akte 1023 Habeas-corpus-Recht 1025 Haftsituation 1023 Haftung der Mitgliedstaaten 1359 Haftungsgrundlage 1359 Haftungsschuldner 1359 Handelsfreiheit 1161 Handlung 1286 Handwerksleistungen 305 Harmonieklausel 958 ff. Harmonisierung 706 Harmonisierungsausschluss 713 Harmonisierungsdurchbrechungsklauseln 733 Harmonisierungsmaßnahme 694, 721 Harmonisierungsrichtlinie 296 Harmonisierungsverbot 77 Härtefallregelungen 1144 Haushaltsplan 460, 466 Haushaltstagung 495 Haushaltsüberwachung 1258 Hautfarbe 1204 Hilfsfunktion 79 Hinreichender Unionsbezug 221 Hinrichtung 1000 Hobbytätigkeiten 1117 Hochqualifizierte Arbeitskräfte 677 Hochschulen 823 Höchstarbeitszeit 1210
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Hoher Vertreter der Union für Außenund Sicherheitspolitik 520, 524, 529, 539, 597 ff. Hohes Beschäftigungsniveau 744, 804 Hohes Gesundheitsschutzniveau 834 Hohes Schutzniveau - Rechtsangleichung 732 Hohes Verbraucherschutzniveau 836 Homogene Entwicklung 854 Homosexuelle Ehen 1057 Horizontale Wirkung 11, 26 Humanitäre Hilfe 70, 913 Hüterin der Verträge 573 Ideen 1075 Illegale Einwanderer 673 Illegaler Drogenhandel 1026 Im Rat vereinigte Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten 451 Immanente Schranken 259 Immaterialgüterrechte 710 Immaterielle Güter 1173 Immissionsschutzwerte 192 Immobilien 1169 Immobilienkauf 286 Immunität 487 f. Impfzwänge 1009 Implied powers 83, 749, 936 Indemnität 487 f. Indirekter Vollzug 1360 Individualbeschwerde 1229 Individualkläger 1295 ff. Individualnichtigkeitsklagen 1287 Individualrechtsschutz 1385 Individualuntätigkeitsklage 1344 Individuelle Betroffenheit 13001346, 1348 Individuelle Geltung 1346 Indoktrinierung 1080 Industriebegriff 848 Industriepolitik 844, 848 Industriepolitische Strukturüberlegungen 369 Inexistenter Rechtsakt 140 Information 837, 1075 Informationelle Selbstbestimmung 1041 Informationsfreiheit 1071 Informationssystem 1082 Informelle Ministertagungen 542 Initiativberichte 458 Initiativmonopol 577
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Sachregister
Initiativrecht 458, 528 Inländerdiskriminierungen 221 Innere Überzeugungen 1064 Insolvenzrechtliche Verfügungsbeschränkungen 1185 Instanzgerichte 1411 Institutionenbezogenes Verfahren 1272 Integration - Klausel 861 - Motor 620 - Prinzip 883 - Programm der Union 755 - Schritte 753 Integrierte Klima- und Energiepolitik 883 Integriertes Grenzschutzsystem 670 Interesse an der Nichtigerklärung 1315 Interinstitutionelle Vereinbarung zur Transparenz 103 Interkonnektion der Energienetze 884 Internationale Beziehungen 748 Internationale Katastrophenschutzmaßnahmen 896 Internationale Konferenzen 602 Internationale Organisationen 3 Internationale Organisationen 602, 913 Internationale Sicherheit 932 Internationale Übereinkünfte 913, 927, 929 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte 325 Internationaler Terrorismus 891 Internationales Privatrecht 683 Interne Sachverhalte 221 Interregionale Gruppen 650 Interventionskäufe 1171 Inzidente Normenkontrolle 1442 ff. Inzidentrüge 1442 f. Ionisierende Strahlen 891 IP-Adresse 1052 Irak-Konflikt 924 Isolationshaft 1023 Jahresberichte 645 Jahresurlaub 1210 JégoQuéré-Entscheidung 1304 Journalisten 999 Judikative 455 Jugend 822 Juristische Person 1282, 1337 Juristischer Dienst 613
Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen 679 ff. Kabinett 590 Kabinettschef des Kommissionspräsidenten 611 Kandidaten 580 Kapitalbewegungen 656 Kapitalgesellschaften des öffentlichen und privaten Rechts 1282 Kapitalverkehr(sfreiheit) 326 ff. Kartellrechtliche Beschränkungen 1185 Kaskadenprinzip der Willensbildung 920 Katastrophen 895 - Fälle 898 - Schutz 893 - Schutzmaßnahmen 895 - Schutzstellen 895 Keck-Rechtsprechung 228, 318, 355 Kernenergie 858, 884, 887 Kernforschungsstellen 858 Kernkraft 878 Kernkraftwerk 891, 1008 Kernstoffe 890 Kerntechnik 886 Kinder - Anspruch auf Schutz und Fürsorge 1054 Kinderzulagen 1171 Kirchen 1064 Klage beim EGMR - Nichtvorlage 1429 Klage des Rechnungshofs 1271 Klageantrag 1245 Klagebefugnis 200, 1292 - Individualkläger 1295 ff. - Nichtigkeitsklage 1292 - Teilprivilegierte Kläger 1294 Klageerhebung, Pflicht zu 1243 Klagefrist 1353, 1370 - Schadensersatzklage 1370 - Untätigkeitsklage 1353 Klagegegenstand 1234, 1285 - Nichtigkeitsklage 1285 ff. - Untätigkeitsklage 1340 ff. - Vertragsverletzungsverfahren 1234 ff. Klageschrift 1245 Klageverfahren 620 Kleine und mittlere Unternehmen 848
Sachregister Klimaschutz 63, 883, 1138 - Berufsfreiheit 1138 Klimaschutzziele 884 Klimawandel 862 f. Klinische Behandlung 1009 Klonen 1016 KMU 848 Koalitionsfreiheit 1096, 1104, 1106 Koalitionsrecht 817 f. Kohärenz 409, 918, 1414 Kohärenzgebot - GASP 916, 922 Kohäsionsziel 856 Kollektive Koalitionsfreiheit 1109 Kollektive Machtfülle 1109 Kollektive Religionsfreiheit 1064 Kollektivverhandlungen 818, 1210 - -maßnahmen 1210 Kollisionsrecht 681, 683 Kommerzielle Inhalte 1077 Kommerzielles Eigentum - Berufsfreiheit 1137 Kommerzielle Rechte 991 Kommission 536, 573 ff., 1283, 1338 - als Kollegium 464 - Mitglieder 579, 581 f. - passive Parteifähigkeit 1283 - Posten 464 - Präsident 464, 475, 518, 519, 523, 591 - Untätigkeitsklage 1338 Kommunale Abfallwirtschaft 396 Kommunale Selbstverwaltung 648 Kommunen 648, 1236 Kommunikation 1032 Kommunikationsform 1079 Kommunikationsfreiheit 1079, 1089 Kommunikationsgrundrechte 1071 ff. Kompensationsverbot für direkte Steuern 787 Kompetenzgrenzen 10, 132 Kompetenz-Kompetenz 37 Kompetenzüberschreitungen 1318 Komplexe Abwägungen 982 Konferenz der Parlamentspräsidenten 503 Konferenz der Präsidenten 498 Konferenzen 503 Konfliktverhütung 932 Kongress 472 f. Konkrete Betrachtungsweise 1410
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Konkrete Gefahr 662 Konkreter Normenkontrollantrag 1415 Konkretisierte unionsrechtliche Handlungspflicht 1356 Konkretisierung von Verdachtsmomenten 1050 Konkurrierende Zuständigkeit 52 Konsensprinzip 525 Konstruktive Stimmenthaltung 563 Kontakte zu beiden Elternteilen 1054 Kontrolldichte 409 Kontrolle 465 - BVerfG 129 - Erfüllung der Steuerpflicht 300 Kontrollen an Außengrenzen 654, 664, 667 - Grenzkontrollen 666 - inneren Sicherheit 666 - öffentlichen Ordnung 667 Kontrollen an den Binnengrenzen 654, 664 Kontrollerwerb 401 Konvergenzziel 856 Kooperationsprinzip 871 Kooperationsverhältnis 135 Koordinierte Beschäftigungsstrategie 807 ff. Koordinierung 71, 73, 706, 828 Koordinierung der Gesundheitspolitiken 833 Koordinierung der Sozialpolitik 813 Koordinierung grenzüberschreitender Sachverhalte 723 Koordinierungsfunktion 513 Koordinierungsgebot 795 Kopftuch 1067 Koppelung - Rechtsangleichung 712 Koppelungen von Produktabnahmen 341 Körperliche Schmerzen 1020 Körperliche Untersuchungen 1033 Körperliche Unversehrtheit 1005 Körperschaften 1282 Korrespondenzdienstleistung 311 Kostenpauschale 491 Kranker Körper 1005 Kreise 648 Kriminalität 654 Kriminalitätsbereiche 692 Kriminalprävention 696
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Sachregister
Kühne&Heitz-Entscheidung 1420 Kultur 435, 826 ff., 827 Kulturbegriff 828 Kulturelle und sprachliche Vielfalt 747 Kulturelles Erbe 829 Kulturgüter 256 Kulturpolitik 826 Kulturraum 827 Kündigungsschutz 970 Künftige Generationen 874 Kunstfreiheit 1073 Kurzfristige Aufenthaltstitel 667 Kyoto-Protokoll 1138 Ladenschlussgesetze 227 Landkreistag 648 Landwirtschaft und Fischerei 767 ff. Landwirtschaftliche Erzeugnisse 256 Lärmemissionen 1037 Latente Bedrohung 662 Lauterkeit des Handelsverkehrs 242 Leasingvertrag 1170 Leben 662 Lebensältere Mitglieder 1206 Lebensschutz 995 Legislative 455 Lehrinhalte 824 Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens 1012 Leistungsklage 193 Leistungsurteil 1375 Leistungsvornahmeklage 194 Leitlinien 72, 513 Leitorgan 508, 533 Letztentscheidungskompetenz - BVerfG 129 ff. - EMRK 952 - EuGH 129 ff., 1381 ff. Letztinstanzliche Gerichte 1407 ff., 1411 Letztverantwortung 127 Lex-posterior-Regel 147 Lex-specialis-Regel 147 Liebhabereien 1117 Liquorentnahmen 1009 Lissabon-Urteil 129 ff., 935 Lokale Gebietskörperschaften 648 Lokale wirtschaftliche Betätigungen 430 Losverfahren 325 LuftqualitätsRL 1309
LuftreinhalteRL 1302 Luftreinhaltung 187 Maastricht-Urteil 135 Mahnschreiben 1240 Mahnverfahren 683 Mandatsdauer 496 Marktanteil 1156 Marktgerechte Gegenleistung 425 Marktinterventionistische Züge 849 Marktorganisation 1121, 1142 Maßnahme gleicher Wirkung 257 Maßnahmenschwerpunkt 719 Materialien 59 Mediator 516 Medien 1088 Medienfreiheit 1071, 1074 Medienpluralismus 1090 Medienvielfalt 242 Medikamente 1006 Medizin 1004, 1013 Medizinische Behandlung 1010 Medizinische Leistungen 835 Medizinische Versorgung 832 Medizinische Verwendung 832 Medizinstudium 325 Mehrheitsbildung 475 Mehrheitsprinzip 475 Mehrheitswille 474 Meinungen 1075, 1089 Meinungsäußerung 1077, 1079 Meinungsaustausch innerhalb einer Gemeinschaft 1098 Meinungsbildung 1079 Meinungsfreiheit 1072, 1097 Meinungsfreiheit im Geschäftsverkehr 1086 Mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen 256 Menschen 992 Menschenhandel 674 Menschenrechte 614 Menschenwürde 740 Menschenwürdegarantie 989 ff. Menschliche Gesundheit 862 Menschlicher Körper 1015 Merkantilistische Verwurzelung 850 Miet- und Pachtrechte 1170 Migrationsströme 674 Mildere Mittel 985 Militärausschuss der EU 547
Sachregister Militärstab der EU 548 Minderheit 740, 1204 Mindestangleichung 688 Mindestbeteiligungen 1109 Mindestlöhne 1109 Minister aus Länderregierungen 535 Ministerrat 528 Missbrauchsklausel 229 Missbrauchsverbot 1078 Missionen 931 f. Misstrauensvotum 467, 588 Mitglieder des Ausschusses der Regionen 647 Mitgliedstaaten 1259, 1329, 1335 - Subsidiaritätsklage 1329 - Untätigkeitsklage 1335 ff. - Vertragsverletzungsverfahren 1259 Mitgliedstaatliche Parlamente 682 - Subsidiaritätsklage 1330 Mitteilungen 34 Mittelbare Diskriminierung 325, 1206 Mittelbare Kollision 142 Mobilien 1169 Modalitäten der Dienstleistungserbringung 317 Moderator 516 Moral 1036, 1066 More economic approach 339, 370, 375, 409, 440 Mündliches Fragerecht 465 Mutterschaft 1055 Nachgeordnete Behörden 1236 Nachhaltige Entwicklung 375, 743, 861, 873 Nachhaltigkeit 883 Nachprüfbarkeit 449 Nachschieben von Gründen 1321 Nachwachsende Rohstoffe 882 Nasciturus 1006 Nationale Kulturen 829 Nationale Sicherheit 1036, 1049 Nationale Transformationsakte 8 Nationale Vertrauensschutzregelung 447 Nationale Vollzugsakte 136 Nationale Zentralbanken 623 Nationaler Vollzug des Unionsrechts 903 Nationales Wettbewerbsrecht 386
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NATO 935 Naturkatastrophe 434, 801, 894, 897, 913 Natürliche Ressourcen 862 Natürliche und juristische Personen - Klagebefugnis 1337 - Schadensersatzklage 1363 Nebenabreden 405 Negative Berufsfreiheit 1122 Negative Koalitionsfreiheit 1106 Negative Meinungsfreiheit 1080 Negative Religions- bzw. Weltanschauungsfreiheit 1064 Netzausbau mit Drittländern 843 Netzwerkgruppen 650 Neue Energien 882 Neue Konzeption zur Beihilfenaufsicht 432 Neue Medien 1088 Neutralitätspflicht des Staates 1067 Nicht-Akt 140 Nichtanwendung des strittigen Rechtsakts 1444 Nichtanwendungskompetenz 159 Nicht-Diskriminierung 740 f. Nichtigerklärung 1326 Nichtigkeitsgründe 1312, 1317 ff. Nichtigkeitsklage 482, 1227, 1270 ff., 1394 - juristischer und natürlicher Personen 1274 - Schadensersatzklage 1372 - Vorabentscheidungsverfahren 1394 Nichtigkeitsurteil 1325 ff. Nichtregulierung 62 Nichtunionsware 252 Nichtvorlage 1417 - Verfassungsbeschwerde 1421 Niederlassung 287 Niederlassungsbezogene Maßnahmen 293 Niederlassungsfreiheit 283 ff. Niederlegung 485 Normenkontrollverfahren 198 Normverwerfungskompetenz 157 Normverwerfungspflicht 158 Notbremsemechanismus 690, 695 Notfallkompetenz der Mitgliedstaaten 50
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Sachregister
Nuklearindustrie 889 Nutzungsbeschränkung 1184 Nutzungsrechte 1170 Nutzungsregelung 1182 ff. Nutzungsuntersagung 330 Objektive Kontrollzwecke 187 f. Objektive Rechtmäßigkeitskontrolle 1272 Objektive Rechtskontrolle 1382 Objektive unmittelbare Wirkung 25 Objektive Unmöglichkeit 1252 Objektives Beanstandungsverfahren 1229 Objektives Verfahren 1347 Obligatorische Anhörung 642 Obligatorische Rechte 1170 Offene Diskriminierungen 234, 237 Offene Marktwirtschaft 794 Offene Methode der Koordinierung 84 Offenkundige und erhebliche Rechtsverletzung 179 Öffentliche Gesundheit 396 Öffentliche Ordnung 658, 1066 - Grundfreiheiten 396 - Grundrechte 1066 - RFSR 658 Öffentliche Ruhe und Ordnung 1036 Öffentliche Sicherheit 1066 - Grundfreiheiten 397 - Grundrechte 1066 - Rechtsangleichung 708 Öffentliche Unternehmen 398 Öffentlichkeitsbeteiligungsrichtlinie 200 Öffentlich-rechtliche Körperschaften - Schadensersatzklage 1363 Öffentlich-rechtliche Positionen aus Eigenleistung 1171 Öffentlich-rechtliche Streitigkeiten 189 Öffentlich-rechtlicher Vertrag 1381 Ökosteuer 790 OLAF 613 Operative Maßnahmen 704 Operative Zusammenarbeit 702 Opferschutz 1024 Opposition - Subsidiaritätsklage 1330 Opting Out 876 Ordentliches Gesetzgebungsverfahren 88 ff.
Ordre-public-Vorbehalt 658 Organ 832 Organe der Union - Untätigkeitsklage 1335 ff. Organhandel 1015 Organisation des Gesundheitswesens 832 Organisation eines Unternehmens 1159 Organisierte Kriminalität 1026 Organisiertes Verbrechen - Folterverbot 1019 Organklagen 1287 Organkompetenz 1318 Organnichtigkeitsklage 1271 Parallele Zuständigkeit 66 Paralleles Verhalten 335 Parlament 473 ff., 1236 - passive Parteifähigkeit 1283 Parteifähigkeit 1233, 1275, 1335, 1362 - natürlicher und juristischer Personen 1281 - Nichtigkeitsklage 1275 - Schadensersatzprozess 1362 - Vertragsverletzungsverfahren 1233 Pässe 671 Passerelle-Regelung 682, 699 Passive Dienstleistungsfreiheit 311 Passive Parteifähigkeit 1283, 1338, 1366 Pauschalbetrag 1255 Personalausweise 671 Personenbezogene Daten 1043, 1050 Personenkontrollen 653 Personenkontrollen an den Binnengrenzen 665 Personenvereinigung - Schadensersatzklage 1363 Petitionsrecht 1214 Pflicht zur Abstimmung 67 Pflichtmitgliedschaft in der Handwerksrolle 320 Pflichtwidrige Untätigkeit 1332 PJZS 653 - Vertragsverletzungsverfahren 1267 Plaumann-Entscheidung 1300 Plaumann-Formel 1348 Plenartagungen 495 Pluralismus 740, 1067
Sachregister Pluralistische Demokratie 1067 Politische Betätigung 1099 Politische Dienststellen 613 Politische Mehrheitsverhältnisse 475 Politische oder sonstige Anschauung 1204 Politische Parteien 1110 Politische Solidarität der Mitgliedstaaten 924 Politisches und Sicherheitspolitisches Komitee (PSK) 546, 930 Polizei 270, 702 Polizeiaktionen 997, 1026 Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit 688 Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen 653, 1328 - gerichtliche Kontrolle 1328 - Vorabentscheidungsverfahren 1439 Polizeiliche Zusammenarbeit 702 ff. Popularklage 1300 Präsident des Europäischen Parlaments 503 Präsident des Europäischen Rates 515 ff., 518 ff. Präsident des Rechnungshofs 630 Präsidentschaft des Rates 549 - EU-Ratspräsidentschaft 549 Präsidentschaftswahlen 472 Präsidialsystem 596 Präsidium des Europäischen Parlaments 498 Präventive Rechtsangleichung 719 Präventiver Umweltschutz 868 Preisstabilität 621, 744, 798 Preissteigerung 375 Presse 1088 Primärrecht 1388, 1392 - Vorabentscheidungsverfahren 1388, 1392 Primärrechtliches Vergabeeuroparecht 451, 454 Primärrechtskonforme Auslegung 154 Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung 134 Privat- und Familienleben 1031 ff. Privatautonomie 1160 Private Blockade 262 Private Schiedsgerichte 1398 Privatleben 1033
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Privatrechtlicher Vertrag 1381 Privilegierte Kläger - Nichtigkeitsklage 1293 - Untätigkeitsklage 1335 Privilegierung eines staatlichen Anteilseigners 332 Produktbezogene Regelungen 227 Produktivität der Landwirtschaft 774 Prognosespielraum 325, 982 Programme 578 Protokoll (Nr. 2) über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit 36 Protokoll (Nr. 25) über die Ausübung der geteilten Zuständigkeit 55 Protokoll (Nr. 27) über den Binnenmarkt und den Wettbewerb 764 Protokolle 1388 Provokation 1093 Prozesshandlungen 698 ProzesskostenRL 683 Prozessrechtliche Lösung 188 Prüfungskompetenz 155 Prüfungsmaßstab 409 Prüfungszeugnisse 279 Psychiatrische Zwangsbehandlungen 1009 Psychische Ängste 1008 Psychische Beeinträchtigungen 1008 Psychische Erkrankungen 1006 Psychische Lähmung 1008 Psychischer Druck 1020 Psychisches Wohlbefinden 1007 Qualifikationsanforderungen 1120 Qualifizierte Mehrheit 556 Querschnittsklausel 834, 836, 861 - Gesundheit 834 - Umweltschutz 861 - Verbraucherschutz 836 RABIT 670 Rahmenvorgaben 769 Rangfolge der Grundfreiheiten 218 Rasse 1204 Rassisch motivierte Diskriminierungen 1207 Rassistische Äußerungen 1078 Rat 528 ff. - passive Parteifähigkeit 1283 - Untätigkeitsklage 1338
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Sachregister
Rat „Allgemeine Angelegenheiten“ 538 Rat „Auswärtige Angelegenheiten“ 538 f. Rat der Europäischen Union 507, 528 Ratsbeschlüsse 508 Ratschläge 1345 Ratsformation „Wirtschaft und Finanzen“ 540 Ratsformationen 537 Ratsvertreter 571 Ratsverwaltung 569 Ratsvorsitz 549 ff. Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts 652 ff., 742 Raum ohne Binnengrenzen 742 Raumfahrt 68, 857 Raumfahrtpolitik 858 Räumliche oder sachliche Zuständigkeit 1318 Raumordnung 867 Rechnungshof 531, 624 ff., 1278 - passive Parteifähigkeit 1283 - Untätigkeitsklage 1338 Rechnungsprüfung der Union 624 Rechnungsunterlagen 625 Recht - am eigenen Bild 1033 - auf Arbeit 1123 - auf eine gute Verwaltung 1214 - auf Einreise und Aufenthalt 297 - auf Freiheit und Sicherheit 1022 ff., 1026 - auf gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen 1109 - auf informationelle Selbstbestimmung 1044 - auf körperliche Unversehrtheit 968 - auf Umweltschutz 1037 - bezüglich der sozialen Sicherheit 1208 - zur Stellungnahme 1216 - zur Vorlage 1396 ff. Rechte und Freiheit anderer 1066 Rechtfertigung 1199 - für die Ungleich(bzw. Gleich-)behandlung 1199 - Grundrechte 247 - von Beeinträchtigungen 941, 979 ff. Rechtfertigungsgrund 212
Rechtfertigungsschranken 212, 243 Rechtlich existenter Akt 1291 Rechtliches Gehör 1216 Rechtmäßigkeit und Ordnungsmäßigkeit der Einnahmen und Ausgaben 625 Rechtsakt ohne Gesetzescharakter 1308 Rechtsakte mit Verordnungscharakter 1305 ff. Rechtsangleichung 29, 705 ff., 783 Rechtsangleichungskompetenz 78, 710 ff. Rechtsanwendungsbefehl 6, 8, 126 Rechtsfortbildung 134, 763 Rechtsgemeinschaft 754 Rechtsharmonisierung 214 Rechtsmittel 1408 Rechtsmittelrichtlinie 452 Rechtsnachfolge 911 Rechtspersönlichkeit 910 Rechtspositionen als materielles Recht 205 Rechtsprechung 179 Rechtsschutz 655 Rechtsschutzbedürfnis 1248, 1265, 1315, 1354, 1271, 1351 - Nichtigkeitsklage 1315 - Schadensersatzklage 1371 - Untätigkeitsklage 1351 - Vertragsverletzungsverfahren 1248, 1265 Rechtsschutzgarantie 185 Rechtsschutzsystem 1414 Rechtssicherheit 1327 Rechtstaatlichkeit 740 Rechtsunterschiede zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten 705 Rechtsverstoß eines Mitgliedstaats 1234 Rechtsweggarantie 686 Recyclingfähigkeit 375 Redezeit 500 Regelungszuständigkeit der Mitgliedstaaten 63 Regelungszweck 59 Regierungschefs 514 Regierungskonferenz 462 Regionale Gebietskörperschaften 648 Regionalpolitische Maßnahmen 855 Registergerichte 1399 Regulierung des Industriesektors 846 Reisefreiheit zum und vom Tagungsort 489
Sachregister Relatives Diskriminierungsverbot 1202 Religion 1063, 1204 Religions(äußerungs-)freiheit 1061 Religions(bildungs-)freiheit 1061 Religionsfreiheit 1061 ff., 1097 Repräsentantenhaus 472 Repräsentationsdefizite 474 Repräsentationsprinzip 473 Repräsentative Demokratie 475 Repräsentatives Demokratieprinzip 477 Repressivkontrolle 448 Reproduktives Klonen von Menschen 1016 Ressortprinzip 596 Ressourcen 884 Restriktive Maßnahmen 913 Revision 1408 Rezipientenfreiheit 1081 RFSR 652 ff. Richtlinie 725, 975 - Grundrechtsbeeinträchtigung 975 - Rechtsangleichung 725 - Umsetzungsspielraum 165 - unmittelbare Wirkung zwischen Privaten 28 Richtlinienkonforme Auslegung 30, 32, 152 Richtlinienkonforme Rechtsfortbildung 28, 153 Risiko für das Leben 1024 Risikoprävention 895 Riten 1063 Rom II-VO 683 Rom I-VO 683 Rotierender Vorsitz 550 Rückermächtigung 48 Rückforderung von Subventionen 173 Rückführung illegaler Einwanderer 677 Rücknahmefrist 173 Rücknahmeinteresse 447 Rücksichtnahme auf die Interessen des Klägers 1302 Rücktritt 467 Rückübernahmeabkommen 675 Rückvergütung indirekter Steuern 787 Rückwirkung - Vorabentscheidungsurteile 1436 Rückwirkungsverbot 1222 Ruhezeiten 1210 Rule of Reason 354 Rundfunk 1088
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Sachwalter des gemeinsamen Interesses 51 Samen 256 Sammeln personenbezogener Daten 1046 Sanktionen 1256 Sanktionsverfahren 1255 Satzungen 143 Schadensersatzklage 1227, 1359 ff., 1363 - Nichtig- und Untätigkeitsklage 1372 Schengener Grenzkodex 666, 668 Schengener Informationssystem 668 Schengener Übereinkommen 653 Schiedsklausel 1381 Schiedsvertrag 1381 Schleichende Kompetenzausdehnung 761 Schließung einer Betriebsstätte 1180 Schlussfolgerungen 508 Schmerzen, massive 1020 Schranken 978 Schranken-Schranken 243, 978 Schuldenkrise 802 Schuldrechtliche Forderungen 1170 Schutz - Arbeitnehmer 816 - des Kindes 1054 - Familie 1055 - Familienleben 1054 - Gesundheit 837, 1036 - innere Sicherheit 658 - Minderheitsaktionäre 333 - öffentliche Gesundheit 242 - Privatleben 970, 1003 - Privatsphäre 1033 - Rechte des Kindes 745, 814 - Rechte und Freiheiten anderer 1036 - Umwelt 862 Schutzansprüche 1211 Schutzbereich 212, 215 Schutzbereichsbegrenzung 216, 222 Schutzbereichseröffnung 216 Schützenswertes Interesse 201 Schutzklausel - Rechtsangleichung 735 Schutznormtheorie 207 Schutzpflicht 261 f. Schutzverstärkungsklausel 877, 965
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Sachregister
Schwangerschaftsabbruch 313 Schwangerschaftsstadium 1006 Schwellenwert 428 Schwere Kriminalität 691, 698 f., 703 Schwere Straftaten 1049 Schwerpunkt 220 Schwerpunkttheorie 715 Seelische Schmerzen o. Leiden 1020 Sekundärrecht 1389, 1392 - GAP 773 - Vorabentscheidungsverfahren 1388, 1392 Selbstauflösungsrecht 494 Selbstbestimmung über den eigenen Körper 1010 Selbstkontrolle 1349 Selbstständige Erwerbstätigkeiten 284 Selbstständigenfreiheiten 283, 1114 Selbstständigkeit 306 Selektion von Menschen 1014 Selektiver Charakter 416 Selektivität 418 Senat 473 Senatoren 472 Sexuelle Ausrichtung 1058, 1204 Sexuelle Selbstbestimmung 1033 Sicherheit 713, 730, 1023, 1024 - öffentliche Sicherheit s. dort - Rechtsangleichung 713, 730 - Verbraucher 837 Sicherheitsanliegen 831 Sicherung der Daseinsvorsorge 397 Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen 875 SIEC-Test 408 SIS 668 Sitzungsperiode 496 Soforteinsatzteam für Grenzsicherungszwecke 670 Solange II-Urteil 135 Solange-Rechtsprechung - EMRK 950 Solidarische Grundrechte 1213 Solidarität 740 f., 853, 1211 Solidarität zwischen den Generationen 745, 814 Solidaritätsklausel 897, 913 SOLVIT 1239 Sonderausschuss Landwirtschaft (SAL/SCA) 543 Sonderausschüsse 502, 612
Sonderrechte für Dienste im Allgemeininteresse 397 Sonne 882 Sonstige wirtschaftliche und soziale Bereiche der organisierten Zivilgesellschaft 638 Souveränität der Mitgliedstaaten 36, 128 Soziale Ausgrenzung 745, 810, 814 Soziale Gerechtigkeit 745, 814 Soziale Gleichbehandlung 324 Soziale Herkunft 1204 Soziale Marktwirtschaft 744, 753 Soziale Mindeststandards 1109 Soziale Sicherheit 810, 816 ff. Sozialer Dialog 815 Sozialer Fortschritt 744 Sozialer Schutz 745, 810, 814 f. Soziales 84 Sozialfonds 806 Sozialordnungen der Mitgliedstaaten 812 Sozialpolitik 811 Sozialpolitische Ziele 814 Sozialrecht 810 Sozialunion 812 Sozialvorschriften 810 Speichern personenbezogener Daten 1046 Speicherung der Verbindungsdaten 1052 Speicherungspflicht 662 Spende 832 Sperrwirkung 49, 57, 59 Spezialität - Kompetenzen 714, 717 Spezielle Angleichungskompetenzen 707 Spielraum 246 Sport 822 Sportgerichte 1398 Sprache 1204, 1207 Sprecher der Kommission 611 Spürbare Beeinträchtigung der Marktposition des Klägers 1302 Spürbare Wettbewerbsverzerrungen 719 Spürbarkeit 356 Staaten- und Organklagen 1341 - Untätigkeitsklage 1341 Staatenklage 1259 ff. Staatennichtigkeitsklage 1271, 1287
Sachregister Staatenverbund 46, 64 Staatliche Einnahmeausfälle 423 Staatliche finanzielle Belastungen wegen des Grenzübertritts 254 Staatliche Unterlassungen 261 Staats- und Regierungschefs 514, 572 Staatsangehörige von Drittstaaten 1281 Staatsangehörigkeit 480 Staatsanwaltschaft 700 Staatschefs 514 Staatshaftung 160, 174, 1419 - Nichtvorlage 1417 Staatssekretäre 535 Staatsvolk 480 Stabile Preise 799 Stabilisierung des Finanzmarktes 440 Stabilität einer Währung 800 Städte- und Gemeindebund 648 Städtetag 648 Ständige Vertreter 544 Standpunkt des Rates 103 Standpunkte - GASP 921 Stärkere Besteuerung ausländischer Gesellschaften 298 Stärkung der internationalen Sicherheit 932 Statut der Beamten 1378 Stellungnahme 34, 632 f., 642, 644, 1241, 1263, 1289, 1349 ff. - Individualuntätigkeitsklage 1345 Sterbehilfe 993 Steuerbefreiungsvorschriften 783 Steuererfassung 327 Steuererhebung 299 Steuerhoheit 784 Steuerliche Vorschriften 783 Steuern 254 - Rechtsangleichung 723 Steuersystem 786 Steuervorschriften 867 Stimmaufteilungen 565 Stimmenverteilung 553 Störung im Wirtschaftsleben eines Mitgliedstaats 435, 439 Strafandrohung 694 Strafen 1026 Strafrechtliche Annex-Kompetenz 694 Strafrechtliche Ermittlungsmaßnahmen 698
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Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der Union 699 Strafverfahrensrecht 688 Strafverfolgung 687, 703 Strafverfolgungsbehörden 702 f. Strafvollzug 1009 Straßenverkehr 778 Streikrecht 817, 1210 Streitsachen bzgl. EIB 1380 Streitsachen bzgl. EZB 1380 Strukturfonds 852 Strukturpolitische Generalklausel 855 Strukturziel der EU 854 Studiensatzungen 199 Stützpreise für Agrarprodukte 1187 Subjektive Rechte 13 Subjektiver Rechtsschutz 1272 Subjektiv-öffentliches Recht 201, 208 Subsidiärer Schutz 672 Subsidiarität - Kompetenzen 714, 717 Subsidiaritätsbegriff - Negativkriterium 40 - Positivkriterium 40 Subsidiaritätsgrundsatz 727 Subsidiaritätsklage 1329 ff. Subsidiaritätsprinzip 131 f., 645, 659, 755, 1329 Substitutionswettbewerb 787 Subventionen an Konkurrenten 1130 Systematik 59 f. Systemrelevanz 440 Tabakwerberichtlinie 712 Tagegeld 491 Tarifverträge 1109 Täter/Teilnehmer schwerer Straftaten 699 Tätigkeiten in der öffentlichen Verwaltung 270 Tatsachen 1089 Tatsachenäußerungen 1077 Tatsachenbehauptungen 1076 Tatsächliche Beteiligung am Verfahren 1301 Teamvorsitz 550 Technologie 857 Technologische Entwicklung 68 Teilhaberechte 1211 Teilnahme am Wettbewerb 348 Teilnichtigerklärung 1325
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Sachregister
Teilprivilegierte Kläger 1278 - Nichtigkeitsklage 1294 Teilzeitbeschäftigungen 1117 Telekommunikation 394 Telekommunikationsinfrastrukturnetze 841 Territorialer Zusammenhalt 851 Territorialitätsprinzip 349 Terroranschlag 662, 897, 913 Terrorismus 327, 703, 1019, 1024, 1026, 1049 - Folterverbot 1019 Terrorprävention 662 Themen von allgemeinem öffentlichem Interesse 1094 Tiere 256 Tochtergesellschaft 348 Todesstrafe 996 Todesstrafe in anderen Staaten 1001 Todesstrafe - Verbot der 976, 1000 Toleranz 740 Tourismus 892 Träger der Verwaltung 158 Transeuropäische Netzen 841 Transparenz 449 Trennungen 1058 Treu und Glauben 1046 Übergangsfrist 1142 Übergriffe Privater 999 Übermitteln personenbezogener Daten 1046 Überragende öffentliche Interessen 1327 Überschreitung der Kompetenzgrenzen 130 Überseering-Urteil 289 Übertragene Kompetenzen 6 Übertragung staatlicher Mittel 420 Übertragungsmedium 1079, 1088 Übertragungsverpflichtung 1179 Übertreibung 1093 Ultra-vires- und Identitätskontrolle des BVerfG 129 ff., 937, 1236, 1250 Ultra-vires-Akt 1291 Umgekehrte unmittelbare Wirkung 24 Umgekehrte vertikale Wirkung 23 Umlauf- und Abstimmungsverfahren 566
Umsetzungsfreie Verordnungen 1307 Umwelt 53, 84, 1037 Umwelt- und Gesundheitsschutz 1302 - Nichtigkeitsklage 1302 Umweltpolitik 860 ff. Umweltquerschnittsklausel 743 Umweltrelevante Steuern 791 Umweltschutz 242, 339, 369, 396, 861, 883, 970, 1138 - Berufsfreiheit 1138 - Grundrechtlicher Schutz 970 - Rechtsangleichung 708, 713, 730 Umweltunion 746 Umweltverträglichkeit 883 Unabdingbarer Grundrechtsstandard 6, 135 Unabhängige Organe 1236 Unabhängigkeit 584 , 628 - Parlamentarier 486 Unanwendbarkeit der nationalen Vorschrift 10 Unbestimmte Rechtsbegriffe 762 Unerlässlichkeit 375 UN-Folterkonvention 1020 Ungeborenes Leben 995 Ungeschriebene Rechtfertigungsgründe 241, 299, 369 Ungeschriebene Schutzbereichsbegrenzung 226 Ungeschriebene Zuständigkeit 50 Ungleichbehandlung 234, 1195, 1199 Ungültigkeitserklärung 1434 Unionsbedienstete 1365 Unionsbürgerschaft 323, 480, 718 Unionsgewalt 125 Unionspolitiken 241 Unionsrecht - primäres 2 - sekundäres 2 Unionsrechtsbezug 750 Unmenschliche Behandlung 1020 Unmittelbar und individuell betreffende Handlungen 1297 Unmittelbare Anwendbarkeit 11 Unmittelbare Anwendung einer Richtlinie 177 Unmittelbare Betroffenheit 1299, 1305 Unmittelbare Diskriminierung 1206 Unmittelbare Drittwirkung 26, 236, 1108 f., 1125 - Arbeitnehmerfreizügigkeit 281
Sachregister Unmittelbare Geltung 7, 9, 12 Unmittelbare Kollision 142 Unmittelbare Lebensgefahr 999 Unmittelbare Wirksamkeit 12 - Beschlüsse 16 ff. - Richtlinien 19 - Richtlinienbestimmungen 185 - Unmittelbare Wirkung 7 Unmittelbares Rechtssubjekt 4 Unparteiische Vergabe 449 Unschuldsvermutung 1218 Unselbstständige Tätigkeiten 1114 UN-Sicherheitsrat 924 Untätigkeitsklage 1227, 1332 ff. Untätigkeitsurteil 1357 Unterlassen einer sich aufdrängenden Vorlage 179 Unterlassen einer Unionsinstitution 1286 Unterlassung eines Organbeschlusses 1342 Unterlassungen 235 Untermaßverbot 263 Unternehmen - Begriff 1152 - Konstitution 1157 - mit Sitz außerhalb der EU 349 - Planung 1160 - Satzung 1159 - Verbände 1282 - Vereinigungen 351 Unternehmereigenschaft 346 Unternehmerfreiheit 969, 1147 Unternehmerische Freiheit 1146 ff. - Datenschutz 1043 Unternehmerische Interessen oder Aussichten 1156 Unterricht 1063 Unterschiedslose Maßnahmen 237 Unterschreitung von Mindeststandards 1008 Unterstützung 73 Untersuchungsausschüsse 468 Unverfälschter Wettbewerb 342, 359, 764 Unverletzlichkeit der Räumlichkeiten 487 Unversehrtheit, Recht auf 1003 ff. Unvollständiges Tätigwerden 1286 Unvollständigkeit der Rechtsprechung 1421
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Unzuständigkeit 1317 Urheberrechtsverstöße 1047 Ursprüngliche Unionswaren 251 Ursprungsprinzip 869 USA 472 f. Veränderung der Konkurrenzstruktur 336 Verarbeiten personenbezogener Daten 1046 Verbände 1282 Verbandsfunktionäre 636 Verbandskompetenz 1319 Verbesserung - Lebens- und Arbeitsbedingungen 815 - ökonomische und soziale Lebensbedingungen 874 - Umwelt 884 - Umweltqualität 861 - Warenerzeugung 338, 375 - Warenverteilung 338, 364 Verbindliche Rechtsakte 1345 Verbot der Altersdiskriminierung 32 Verbot der Versammlung 1101 Verbot von Zöllen und Abgaben gleicher Wirkung 255 Verbraucher 375, 774 Verbraucherbelange 836 Verbraucherleitbild 838 Verbraucherschutz 242, 713, 730, 970 - Berufsfreiheit 1138 - Rechtsangleichung 713, 730 Verbraucherschutzbegriff 838 Verbraucherschutzrichtlinie 28 Vereinbarungen 351 - zwischen Unternehmen 335 Vereinfachtes Verfahren 1432 Vereinigte Staaten von Europa 478 Vereinigungsfreiheit 274, 1096, 1104 Verfahrensbeteiligung des Klägers 1301 Verfahrensmäßige Schutzvorkehrungen 662 Verfahrensrecht 681, 683, 1301 Verfälschung des Wettbewerbs 343 Verfassungsbeschwerde 1409, 1421, 1428 - Nichtvorlage 1421, 1428 Verfassungsidentität 6, 8, 10, 127, 129 Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten 943
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Sachregister
VerfOen 618 Vergaberechtliche Grundsätze 449 Vergaberichtlinien 452 Vergabespezifischer Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 449 Vergleichbarer Grundrechtsstandard 136 Verhaftungen 997 Verhalten von Richtern 178 Verhaltenskodex für Kommissionsmitglieder 583 Verhältnismäßigkeit 732, 979 - Grundrechte 979 ff. - Grundrechte und Grundfreiheiten 942 - Rechtsangleichung 732 - Strafmaß 1223 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 662, 725, 734 - Datenschutz 662 - Rechtsangleichung 725, 734 Verhinderung des Wettbewerbs 343 Verhinderung einer Gefährdung des Systems sozialer Sicherheit 242 Verhinderung von strafbaren Handlungen 1036 Verhütung von Berufsunfällen und Berufskrankheiten 818 Verjährung 1370 Verkehr 53, 775 - Beihilfen 779 - Beihilferecht 776 - Dienstleistung 776 - Dienstleistungsfreiheit 776 - Grundfreiheiten 776 - mengenmäßige Beschränkungen 777 - steuerliche Vorschriften 780 - Umweltschutzanforderungen 780 - Wettbewerbsverfälschungen 777 Verkehrsinfrastruktur 779 Verkehrsinfrastrukturnetze 841 Verkehrspolitik 775 ff. Verkehrssicherheit 780 Verlauf der Integration 752 Verletzung der Verträge 1317 Verletzung des rechtlichen Gehörs 1428 Verletzung von Unionsgrundrechten - Nichtigkeitsklage 1302 Verletzung wesentlicher Formvorschriften 1317, 1319 ff.
Vermeidung steuerlicher Mindereinnahmen 299 Vermittlerrolle 509 Vermögen 1174, 1204 Vermögensanlage 326 Vermutung der Gültigkeit 138 Veröffentlichung im Amtsblatt 101 Verordnung 15 Verpflichtungsklage 192, 1357 Verringerung der Verfahrenskosten 1207 Versammlungsfreiheit 1071, 1096 Versammlungsspezifische Tätigkeiten 1100 Verschleierte Beschränkung 244 Verschuldungsgrade 800 Versorgungssicherheit 397, 883 f. Verspätet abgegebene Stellungnahme 1352 Versteckte Diskriminierungen 234 Verstöße gegen die GeschOEP 486 Verstümmelungen 1009 Verteidigung der Ordnung 1036 Verteidigung eines Menschen 997 Verteidigungspolitik 934 Verteidigungsrechte jedes Angeklagten 1219 Vertikale Wirkung 11, 22 Vertragliche Haftung der EU 1359 Vertragliche Schuldverhältnisse 683 Vertragsänderungen 462 Vertragsfreiheit 1160 Vertragsverletzung 1249 Vertragsverletzungsverfahren 1227, 1228 ff., 1418 - Nichtvorlage 1417 - Rechtsangleichung 738 Vertrauensschutz 1121, 1327, 1437 - Ersatz des Vertrauensschadens 1438 - Rückwirkung von Entscheidungen 1437 Vertreter der Zivilgesellschaft 634 Vertreter im Rat 572 Vertretung der Union nach außen 576 Vertriebsbezogene Maßnahmen 227, 257 Verursacherprinzip 870 Verwaltung des Gesundheitswesens 832 Verwaltung öffentlicher Mittel 1051
Sachregister Verwaltungsakte 16, 143, 145, 192 Verwaltungsaktqualität 192 Verwaltungsentscheidung 1420 - Nichtvorlage 1417 Verwaltungsvorschriften 143 Verwaltungszusammenarbeit 657, 899 Verwendung von Stammzellen 993 Verwerfungskompetenz 155 f. Verwerfungsmonopol (des Gerichtshofs der EU) 139, 1411 Verwirklichung des Wettbewerbs 354 VIS 669 Visa 667 f. Visa-Daten 669 Visa-Informationssystem 669 Vizepräsident der Kommission 598 Völkerrecht 124 Völkerrechtliche Abkommen 615 Völkerrechtliche Bestimmungen 1234 Völkerrechtliche Verpflichtungen 1138 - Berufsfreiheit 1138 Völkerrechtliche Verträge 463, 614, 910, 1227 - Vorabentscheidungsverfahren 1391, 1393 Völkerrechtssubjekt 910 Volksabstimmung 477 Volksgesundheit - Berufsfreiheit 1138 Volkssouveränität 8, 132 Vollbeschäftigung 744 Vollfunktionsgemeinschaftsunternehmen 401, 404 Vollharmonisierung 725 Vollstreckung 680 - von Entscheidungen 687 Vollstreckungsfähiger Titel 1253 Vollstreckungstitel 683 Vollzug 687 Vom Menschen verursachte Katastrophe 894, 897 Vorabentscheidungsersuchen 1415 Vorabentscheidungsurteil 1433 ff. Vorabentscheidungsverfahren 1227, 1383 ff. Vorbehaltseigentum 1169 Vorbereitung einer Versammlung 1101 Vorbeugungsgrundsatz 868 Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse 435 Vorlage, Umdeutung 1395
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Vorlageberechtigte Gerichte 1397 ff. Vorlagepflicht 1405 ff. Vorlagerecht der nationalen Gerichte 1400 Vorläufiger Rechtsschutz 171 Vorrang des Unionsrechts 10 Vorrangregelung für Frauen 821 Vorrangverhältnis 715 Vorratsdatenspeicherung 662, 719 VorratsdatenspeicherungsRL 719 Vorrechteprotokoll 487 Vorschlag der Kommission 93 ff. Vorsitz im Rat 549 Vorsitz-Beschluss 551 Vorsitzender des Rates „Auswärtige Angelegenheiten“ 598 Vorsorgegrundsatz 868 Vorteilsgewährung 418, 425 Vorübergehender Schutz 672 Vorverfahren 1237 ff., 1260 ff. - Untätigkeitsklage 1349 - VW-Gesetz 331 Waffen- und Chancengleichheit 1216 Wahl des Handlungsinstruments 725 Wahlgleichheit 470 ff. Wahlrechte 1214 Wahltermin 469 Wahrscheinlichkeit der Schutzgutverletzung 662 Währung 792 ff. Wahrung der Menschenrechte 740 Wahrung der Vertraulichkeit personenbezogener Daten 1048 Währungspolitische Kompetenzen 800 Währungsunion 797 ff. Walt-Wilhelm-Urteil 389 Waren 250, 256 - aus den Mitgliedstaaten 252 - aus Drittstaaten 252 Warenverkehrsfreiheit 250 ff. Warnungen 1130 Wasser 882 Wasserkraft 882 Wasserressourcen 867 Wasserstoffgewinnungssysteme 882 Wechselwirkung 758 Wehrdienstverweigerung 1069 Wehrersatzdienstverweigerung 1069 Wehrverfassungsrechtlicher Parlamentsvorbehalt 935
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Sachregister
Weißbücher 578 Weisungsrecht des Kommissionspräsidenten 592 Weites Ermessen 181 Weltanschauliche Vereinigungen 1064 Weltanschauung 1063, 1204 Werbefreiheit 1162 Werbeverbote in Apothekerkammern 199 Werbung 1086 Werte 740 Wertende Rechtsvergleichung 958 Wertminderung von Agrarbeständen 1187 Wertübertragungen 326 Werturteile 1076 Wesensgehaltsgarantie 366, 1139 f. Wesentliche Formvorschriften 1319 Westeuropäische Union 548 Wettbewerb 357 - Beeinträchtigung 358 - eingeschränkt 357 - verfälscht 357 - verhindert 357 Wettbewerbsbeeinträchtigende Absicht 336 Wettbewerbsbeeinträchtigende Wirkungen 336 Wettbewerbsbehörden 362 Wettbewerbsfähigkeit 883 - Energie 883 Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie 844 Wettbewerbsrecht 336 ff, 764 - Ziele 264 Wettbewerbsverändernde staatliche Begünstigung 421 Wettbewerbsverfälschende Verhaltensweisen 360 Wettstreit zwischen (permanenter) Regierung und Opposition 475 WEU 548 Wiederaufnahmeverfahren 1409 Wille zur Beeinträchtigung des Wettbewerbs 344 Willkürliche Diskriminierung 244 Wind 882 Wirksame Ermittlungen 999 Wirksame steuerliche Kontrolle 242 Wirksamer Wettbewerb 407 Wirkung erga omnes 1326
Wirtschaft 792 ff. Wirtschaftliche Betätigungsfreiheit 1147 Wirtschaftliche Einheit 348 Wirtschaftliche Entwicklung des Landes 1037 Wirtschaftliche Entwicklung in Gebieten 435 Wirtschaftliche Gründe 301 Wirtschaftliche Handlungsfreiheit 1147 Wirtschaftliche Spätfolgen aus der Teilung Deutschlands 434 Wirtschaftliche Zielsetzungen 367 Wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhalt 851 Wirtschaftlicher Wandel 807 Wirtschaftliches Wohl des Landes 1036 Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung 625 Wirtschafts- oder Geschäftstätigkeit 1155 Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik 71 Wirtschafts- und Finanzkrise 439 Wirtschafts- und Sozialausschuss 531, 631 ff., 634, 643, 1279 Wirtschafts- und Sozialpolitik 811 Wirtschafts- und Währungspolitik 792, 854 Wirtschafts- und Währungsunion 540, 748, 792 Wirtschaftsbezogene Grundrechte 1146 Wirtschaftsdaten 410 Wirtschaftsgebiete 435 Wirtschaftslenkende Maßnahmen 424 Wirtschaftspolitik 755, 794 ff., 845 Wirtschaftsunion 793 Wirtschaftswachstum 884 Wirtschaftswissenschaftliche Bewertungsmaßstäbe 371 Wirtschaftszweige 435 Wissenschaftlicher und technischer Fortschritt 746 Wissensdiffusion 858 Wohlfahrtsökonomische Effizienz 372 f., 409 Wohnung 1031, 1038 Wortlaut 59 Würde des Menschen 976 Würdige Arbeitsbedingungen 1109 WWU 792, 796
Sachregister Zahlungsbilanz 799 Zahlungsverkehr(sfreiheit) 326 ff . Zertifikatkäufe 1132 Zeugnisverweigerungsrecht 490 Ziele der GAP 769 ff. Ziele der Union 739, 742 ff., 756 Ziele für Grundrechtsbeschränkungen 942 Zielverfehlungen 754 Zinsanspruch 1375 Zinshöhe 1375 Zivile und militärische Mittel 932 Zivilgesellschaft 631, 635 Zivilgesellschaftliche Betätigung 1099 Zivilrecht 681 Zoll 702 Zollfreiheit 249, 254 Zollgleiche und steuerliche Abgaben 249 Zollkodex 250 Zollrechtlichen Statuswechsel 251 Zollunion 249 Zugang - Beschränkungen für Studierende 323 - zu Dokumenten 1214 - zum Arbeitsmarkt 1126 - zum Recht 655 - zur Berufsausbildung 325
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Zugehörigkeitsdauer zu einer Institution 1206 Zugunsten einzelner Mitgliedstaaten 801 Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Vorlage 1386 Zulassung von Verkehrsunternehmen 780 Zulassungserklärung durch das Rechtsmittelgericht 1408 Zusammenarbeit mit Drittländern 913 Zusammenhalt 853 Zusammenschluss 401, 405, 407 Zuständigkeiten 757 Zuständigkeitszuweisung 37 ZustellungsVO 683 Zustimmungsgesetz 6, 124, 126 Zwangsarbeit - Verbot 968 Zwangsbehandlungen 1011 Zwangsgeld 1255 Zwangsmaßnahmen 704 Zwangssterilisation 1009 Zweifelsfragen 756 Zweigstelle 283 Zweitwohnsitz 329 Zwischenverfahren 1403