Marco Schmitt · Michael Florian · Frank Hillebrandt (Hrsg.) Reflexive soziale Mechanismen
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Marco Schmitt · Michael Florian · Frank Hillebrandt (Hrsg.) Reflexive soziale Mechanismen
Marco Schmitt · Michael Florian Frank Hillebrandt (Hrsg.)
Reflexive soziale Mechanismen Von soziologischen Erklärungen zu sozionischen Modellen
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage Dezember 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Monika Mülhausen / Tanja Köhler Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15006-2
Einführung: Die Reflexivität sozialer Mechanismen
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Inhalt
Einführung: Die Reflexivität sozialer Mechanismen Marco Schmitt ....................................................................................................... 7 Teil I: Was leistet der Mechanismenbegriff? Zur Logik mechanismischer Erklärungen in den Sozialwissenschaften Michael Schmid ................................................................................................... 31 Transintentionale Mechanismen sozialer Selbstorganisation Roman Langer ..................................................................................................... 65 Zur sozionischen Notwendigkeit mechanistisch-soziologischer Erklärungen Thomas Kron, Christian W. G. Lasarczyk ........................................................ 105 Teil II: Zur Reflexivität sozialer Mechanismen Soziale Mechanismen und das struktur-individualistische Erklärungsprogramm. Zur forschungspraktischen Verortung sozialer Mechanismen Andrea Maurer................................................................................................... 141 Die Self-fulfilling prophecy als reflexiver Mechanismus. Überlegungen zur Reflexivität sozialer Praxis Michael Florian.................................................................................................. 165 Kommunikative Mechanismen Reflexive soziale Mechanismen und kommunikationsorientierte Modellierung Marco Schmitt ................................................................................................... 203
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Inhalt
Kommunikation, Kausalität, Struktur – Zur Entstehung sozialer Mechanismen im Modus kommunikativ vermittelter Reflexivität Rasco Hartig-Perschke....................................................................................... 229 Reflexion als sozialer Mechanismus zum strategischen Management autonomer Softwaresysteme Ingo J. Timm, Frank Hillebrandt ....................................................................... 255 Über die Autoren ............................................................................................... 289
Einführung: Die Reflexivität sozialer Mechanismen
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Einführung: Die Reflexivität sozialer Mechanismen Marco Schmitt
Kaum ein soziologischer Diskurs hat sich in den letzten Jahren so sehr um begriffliche Stringenz und kausale Erklärungsfähigkeit bemüht wie der „mechanism-based approach to social theory“ (Hedström & Swedberg 1998a). In diesen Diskurs wollen wir uns hier mit der Frage einmischen, ob und wie sich das Konzept der sozialen Mechanismen angesichts der inhärenten „Reflexivität“ von sozialen Zusammenhängen bewähren kann. Angestrebt wird eine Theorieiskussion, die sich an den Stichworten „Erklärung“, „Erzeugung“, „Reflexivität“ festmachen und unterschiedliche Ansätze zu Wort kommen lassen will. Als eine Besonderheit muss die sozionische Perspektive einiger Beiträge erwähnt werden, denn der hier vorgelegte Sammelband ist aus dem Schwerpunktprogramm „Sozionik“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft1 hervorgegangen, einem interdisziplinären Forschungsprogramm zwischen Soziologie und Informatik. Das Konzept sozialer Mechanismen hatte eine starke Anziehungskraft auf die sozioische Diskussion, da eine präzise und möglichst formale Rekonstruktion sozioogischer Theorien zu den Grundanforderungen der sozionischen Arbeit gehört. Soziale Mechanismen schienen demnach im selben Bestreben um Präzisierung und Formalisierung der soziologischen Theorie verwurzelt wie auch die Sozionik.2 In dieser Einführung wird es nun darum gehen, zum einen die wesentlichen Elemente des und die wesentlichen Positionen innerhalb dieses Diskurses noch einmal kurz zu Wort kommen zu lassen, um dann kurz anzureißen welche Dimensionen von Reflexivität denn in sozialen Mechanismen eine ganz grundlegende Rolle spielen und welche Probleme damit für einen analytisch verstandenen „mechanism-based approach“ verbunden sein könnten. Abschließend soll ein sich aus dieser Problemlage ergebendes Forschungsprogramm skizziert werden, in das dann auch die in diesem Band versammelten Beiträge einzuordnen sind.
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Die Herausgeber bedanken sich bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die es ermöglicht hat, die Themen dieses Sammelbandes auf zwei Tagungen innerhalb des Schwerpunktprogrammes 1077 „Sozionik“ zu diskutieren. Allerdings steht die sozionische Anbindung nicht im Vordergrund dieses Sammelbandes. Für eine eingehendere Beschäftigung mit den Zielen und Ergebnissen der Sozionik bieten sich die folgenden Publikationen an: Malsch 1998 und Florian, Fischer & Malsch 2005.
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Die Diskussion um soziale Mechanismen Mittlerweile ist die Diskussion um das Für und Wider des Einsatzes sozialer Mechanismen in soziologischen Erklärungen, wie auch um die Bestrebungen zu einer klaren Definition des Begriffs „sozialer Mechanismus“ ein weites Feld.3 Sowohl die mit diesem Begriff verbundenen Ansprüche sind ausgesprochen heterogen, als auch die Ansichten darüber wie und was mit einem Mechanismus eigentlich modelliert werden soll. Zudem hat der Begriff auch schon eine etwas längere Vorgeschichte4, wenn auch häufig nur als ein „proto-concept“.5 Dies führt zu einer alltagsprachlichen oder einfach nur idiosynkratischen Verwendungsweise, die einen Vergleich zwischen verschiedenen Theorien oder Modellen, die als Mechanismen deklariert werden (so auch Hedström & Swedberg 1998b: 5), schwierig bis unmöglich macht. Versuchen wir also das Feld etwas zu lichten, indem wir wesentliche Ansätze und Positionen innerhalb dieser Diskussion herausarbeiten. Den Begriff „sozialer Mechanismus“ für die soziologische Theoriebildung stark gemacht und ihn als soziologisches Konzept ausformuliert zu haben, wird gemeinhin Robert K. Merton zugeschrieben.6 Der soziale Mechanismus wird dabei als Prozess definiert, der nachweisbar bestimmte Effekte oder Konsequenzen für eine bestimmte Sozialstruktur aufweist (Merton 1968: 43). Dabei verbindet er zwei forschungspraktische Zielsetzungen mit seiner Definition eines sozialen Mechanismus: Zum einen dienen soziale Mechanismen zur Prononcierung seines Ansatzes zu Theorien mittlerer Reichweite, da sie eine mittlere Ebene zwischen kausalen Gesetzen und Beschreibungen einnehmen; zum anderen stellen sie nach Meinung von Merton das zentrale Forschungsprogramm für die Soziologie dar.7 Eine Theorie mittlerer Reichweite ist demnach immer auf der 3
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Eine Übersicht über die Vielzahl neuerer Definitionen eines „sozialen Mechanismus“ gibt Mahoney in seiner Rezension zum Sammelband von Hedström und Swedberg (Mahoney 2001). Klingen die meisten Definitionen auf den ersten Blick noch recht ähnlich, werden doch bestimmte Details mit unterschiedlicher Gewichtung oder Vehemenz genannt oder auch weggelassen. So weisen Hedström und Swedberg die Verwendung des Begriffs schon in einem Lehrbuch von Albion Small aus dem Jahre 1905 (Small 1905: 401-402) nach (Hedström & Swedberg 1998b: 5). Im Sinne Robert Mertons, der ausführt: „ a proto-concept is an early, rudimentary, particularized, and largely unexplicated idea ...; a concept [on the other hand] is a general idea which once having been defined, tagged, substantially generalized, and explicated can effectively guide inquiry into seemingly diverse phenomena.” (Merton 1984: 267) Als kleine kritische Anmerkung zu dieser Sichtweise sei hier nur angemerkt, dass der Begriff bei Merton in kritischer Auseinandersetzung mit dem struktur-funktionalistischen MechanismenBegriff bei Parsons entwickelt wird, der mit aller Wahrscheinlichkeit ebenfalls ein ausgearbeitetes soziologisches Konzept darstellt. Sein Konzept unterscheidet sich jedoch von Mertons durch die funktionalistische Perspektive und dem Streben nach ein universalen Theorie des Sozialem. Wie Hedström und Swedberg in Anlehnung an Merton zusammenfassen: „... that it constitutes the main task of sociology to ‚identify’ mechanisms and to establish under which conditions they
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Suche nach bestimmten sozialen Mechanismen, die erklären können, wie eine bestimmte Sozialstruktur erzeugt, erhalten oder auch verändert werden kann. Dennoch ist die von Merton angebotene Definition sehr breit und inklusiv. Sie scheint keine spezielle Festlegung auf irgendeine grundlegende Theorieentscheidung jenseits ihrer mittleren Reichweite zu beanspruchen (also weder für einen methodologischen Individualismus noch für sein Gegenüber den Holismus oder für andere klassische Gegensatzpaare der Soziologie). Es geht nur um Prozesse die bestimmte Konsequenzen für bestimmte Sozialstrukturen haben, wobei der Schwerpunkt des Satzes auf dem „bestimmt“ liegt. Merton Ansatz kann demnach nicht ohne weiteres durch Vertreter bestimmter theoretischer Grundsatzentscheidungen herangezogen werden, die nichts mit der Reichweite der verfolgten Theorien zu tun haben. Nichtsdestotrotz haben wir es hier mit einem ausformulierten und klar bestimmten Konzept von sozialen Mechanismen zu tun, das auf Prozesshaftigkeit, Kausalität und mittlere Reichweite oder ein mittleres Generalisierungsniveau (Schimank 2002) setzt. Im folgenden sollen drei Ansätze angesprochen werden, die alle mit einem gewissen Einfluss in der neueren Debatte um soziale Mechanismen zu Wort gekommen sind: (1) Die Position der analytischen Ansätze, die sich in der direkten Nachfolge Mertons sehen; (2) die Position der historischen Soziologie, die mit den Konzepten von Pfadabhängigkeit und kausaler Rekonstruktion einen wesentlichen Beitrag für die Mechanismendebatte liefern können; (3) und schließlich die Position der funktionalistischen Erklärung, dem „alten Gegenspieler“ strikt kausaler Erklärungsmodelle. (1) Die stärkste und derzeit vernehmlichste Position innerhalb der Debatte nehmen wohl die unter anderem bei Hedström und Swedberg (Hedström & Swedberg 1998a) versammelten analytischen Ansätze ein, die sich durch ihr Bekenntnis zum methodologischen Individualismus auszeichnen. Diese sind zum einen durch ihre explizite Kritik an der Korrelationsanalyse hervorgetreten, die als theoriefreie Empirie oder Statistik angegriffen wird, zum anderen durch ihre Kritik der Postulierung makrosozialer Gesetze, denen jegliche Bindung an empirische Überprüfbarkeit abhanden gekommen ist.8 Das dort vertretene Konzept der sozialen Mechanismen beansprucht, den Zusammenhang von Handlungskalkülen, Prozessdynamiken und Sozialstrukturen auf neuartige Weise zu erklären, indem es von drei Prinzipien (Hedström & Swedberg 1996: 286f.) ausgeht: (a) direkter Kausalität, (b) begrenztem Geltungsbereich und (c) methodologischem Individualismus. Vergleicht man diese Position mit der von Merton, stellt man
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‚come into being’, ‚fail to operate’, and so on (Merton 1968: 43-44).” (Hedtsröm & Swedberg 1998a: 6) Hier also in der Tat in der direkten Nachfolge Mertons, der genau diese Ebene der Theoriebildung mit seinen „middle-range theories“ ansprechen wollte.
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fest, dass die Schwerpunktsetzung auf den methodologischen Individualismus bei Merton praktisch nicht erwähnt wird (Merton 1968). Dennoch ist sie für die analytischen Ansätze kennzeichnend, die in sozialen Zusammenhängen nur Individuen, Akteure als Träger der Kausalität anerkennen. Exemplarisch dafür ist diese Ansicht: „In the social sciences, however, the elementary ‚causal agents’ are always individual actors, and intelligible social science explanations should always include explicit references to the causes and consequences of their actions.“ (Hedström & Swedberg 1998a: 12) Als “kausale Agenten” stellen individuelle Akteure hiernach die Verbindung zwischen sozialen Ausgangszuständen und beobachtbaren Struktureffekten dar, ohne die eine Erklärung des Zusammenhangs nicht als vollständig angesehen werden kann. Demnach lassen sich alle makrosozialen Phänomene als Struktureffekte aus der dynamischen Aggregation von individuellem Akteurshandeln von unten nach oben ableiten, sozialer Strukturwandel lässt sich dementsprechend als „Makro-Mikro-Makro-Transition“ kausal begründen. Damit eröffnen sich neue Möglichkeiten einer kausalen Rekonstruktion, welche die „variablensoziologische“ Verkürzung von Kausalität auf Korrelation überwindet, indem sie operativ genau nachzuweisen versucht, wie soziale Struktureffekte aus dem Akteurshandeln emergent erzeugt werden. Insofern werden, und das ist der springende Punkt, Erklärungsmechanismen als Erzeugungsmechanismen konzipiert. Es wird auch häufig direkt eine Theorie der sozialwissenschaftlichen Erklärung mit diesem Ansatz verbunden. Dabei muss jede Erklärung von Effekten auf der makrostrukturellen Ebene von Sozialität dadurch erklärt werden, dass Akteure die soziale Ausgangssituation wahrnehmen und deuten. Auf der Grundlage dieser Deutungen treffen sie eine Entscheidung für eine bestimmte Handlung und zusammen mit den Handlungen anderer Akteure, welche die Situation ebenso oder ganz anders deuten, bringen sie so einen Effekt auf der makrostrukturellen Ebene zustande. Die zusätzliche Einschränkung des Konzeptes sozialer Mechanismen auf individualistisch argumentierende Theorien gibt dem Begriff sehr klare Konturen und sorgt für eine durchstrukturierte Anleitung zur Konstruktion solcher „Theorien mittlerer Reichweite“, „unvollständiger Theorien“ oder „sometimes true theories“. Allerdings kann man sich fragen, ob diese weitere Beschränkung nicht auch mit spezifischen Nachteilen erkauft wird. Diesem Punkt wird noch nachzugehen sein, wenn die anderen beiden für die hier anzustoßende Diskussion wesentlichen Positionen innerhalb der Debatte zur Sprache kommen.9 Dieser analytischen Position lassen sich ge9
Es muss hier jedoch angeführt werden, dass die Vertreter der Korrelationsanalyse oder „sozialer Gesetze“ in der Debatte nur die Rolle der Kritisierten spielen. Deshalb werden diese Positionen hier nicht ausführlich nachgezeichnet. Wie schon klar geworden sein dürfte, richtet sich die Kritik schon seit Merton gegen die Theorie- und Erklärungslosigkeit der Korrelationsanalyse, wie gegen die Unüberprüfbarkeit von aus universalen Theorieentwürfen abgeleiteter „sozialer Gesetze“.
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nereller gesprochen auch viele Rational-Choice-Ansätze mit begrenzter Reichweite sowie die strukturindividualistische Ansätze10 zurechnen. Immer sind sie in der Nachfolge Mertons mit einem expliziten Erklärungsprogramm verbunden, dessen markanteste Kennzeichen die Makro-Mikro-Makro-Struktur des Erklärungsarguments und die Mikrofundierung auf der Grundlage eines methodischen Individualismus sind. Ein wesentlicher Verdienst der analytischen Position ist es, die Diskussion über die Erklärungsansprüche der Soziologie neu befeuert und diese Debatte über das Konzept sozialer Mechanismen zwischen Gesetzen und Korrelationen neu fokussiert zu haben. (2) Neben der einflussreichen analytischen Position verdienen auch die Positionen der historischen Soziologie zu sozialen Mechanismen eine nähere Berücksichtigung. Hier findet eine ausgedehnte methodologische Diskussion statt, die sich allerdings eher implizit mit sozialen Mechanismen beschäftigt11. Dieses methodologische Interesse hängt damit zusammen, dass die Reichweite von Generalisierun-gen über historische Ereignisse als singuläre Ereignisse schon immer zur Debatte stand und damit auch die Theoriefähigkeit der Geschichtswissenschaft (Welskopp 2002) im Sinne eines sozialwissenschaftlichen Erklärungsprogramms, wie es in der analytischen Position zu sozialen Mechanismen vorgestellt wird. Zwei Kennzeichen der historischen Soziologie lassen die hier verstärkt zu findende Beschäftigung mit sozialen Mechanismen plausibel erscheinen: Zum einen geht es in der historischen Soziologie praktisch immer um Partialerklärungen, also um „Theorien mittlerer Reichweite“; und zum anderen spielt die zeitliche Abfolge von kausalen Schritten eine dominante Rolle bei der Erklärung eines historischen Ereignisses. Dieser sequentiellen Ordnung der Erklärungen kommt die grundlegende Prozessualität (Mayntz 2002: 24f und 2005: 207) des mechanismischen Ansatzes entgegen. Vielleicht ist gerade deshalb die historische Soziologie eine Fundgrube für soziale Mechanismen. Hier sollen vor allem zwei Aspekte hervorgehoben werden, die in den analytischen Positionen eine geringere Aufmerksamkeit erfahren haben: Probleme der Pfadabhängigkeit in soziologischen Erklärungen und die Bedeutung der Ordnung sequentieller Schritte in kausalen Mechanismen. Durch den Zusammenhang von Prozessualität und Historizität soziologischer Erklärungen gelten Pfadabhängigkeiten als ein wesentlicher Bestandteil des Ursache-Wirkungs-Ablaufmusters (Schimank 2002: 155), das einen sozialen Mechanismus auszeichnen soll. Mahoney weist darauf 10 Wie der von Scharpf und Mayntz vertretene akteurszentrierte Institutionalismus (Scharpf 2000 und Mayntz & Scharpf 1995) oder auch die soziologischen Erklärungsprogramme von Schimank (2000), Schmid (2004 und 2005) und Esser (zum Erklärungsprogramm 1993 und speziell zu seinem Mechanismenbegriff 2002). 11 Beispielhaft aus der Fülle von kausal-rekonstruktiven Analysen wären zu nennen McAdam, Tarrow & Tilly (2001) oder Pierson (1994).
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hin, dass dies schon seit einiger Zeit sowohl von historischen Soziologen, als auch von ökonomisch orientierten Historikern so gesehen wird (Mahoney 2000: 507). Er gibt auch eine schöne Definition des Begriffs der Pfadabhängigkeit, die diesen sehr nah an die Mechanismen-Debatte heranführt: „..., I argue that path dependence characterizes specifically those historical sequences in which contingent events set into motion institutional patterns or event chains that have deterministic properties.” (Mahoney 2000: 507) Nach dieser Maßgabe können zwei mechanismische Varianten der Pfadabhängigkeit unterschieden werden: selbstverstärkende Sequenzen und reaktive Sequenzen (Mahoney 2000: 508f), wobei das Gewicht auf der inhärenten Sequenzialität des Prozesses und einem kontingenten Auslöseereignis liegt.12 Die auslösenden Ereignisse bestimmter Pfadabhängigkeiten werden deshalb auch als „turning points“ (Abbott 1997) oder „critical junctures“ (Thelen 2002: 99) bezeichnet, denen das besondere Interesse mechanismischer Erklärungen gelten müsse. In der Diskussion über Pfadabhängigkeit wird schon deutlich, dass der Fokus kausaler Erklärungen auf der geordneten Sequenzialität des Prozesses liegen sollte: „causal analysis is inherently sequence analysis“ (Rueschemeyer, Stephens & Stephens 1992: 4). Der temporale Kern eines sozialen Mechanismus muss offen gelegt werden, Schritt für Schritt muss das kausale Zusammenwirken bestimmter Ereignisse nachgezeichnet werden, um haltbare soziologische Erklärungen zu erzeugen. Insofern sind soziale Mechanismen immer als temporale Ordnungen zu verstehen, da erst die zeitliche Schrittfolge markiert, über welchen Weg die Beziehung zwischen den strukturellen Ausgangsbedingungen und den beobachteten Effekten hergestellt wird. Die Bedeutung der Diskussionen in der historischen Soziologie für die Mechanismen-Debatte liegt demnach vordringlich in ihrer verstärkten Fokussierung auf Fragen der Zeitlichkeit, der sie mehr Aufmerksamkeit schenken als viele klassisch analytische Ansätze. Dennoch wird in den Untersuchungen zur „event history“ zumeist keine radikale Kritik an der analytischen Position geübt, wenn auch der Hinweis gestattet sein mag, dass die in der historischen Soziologie diskutierten Mechanismen häufig ohne expliziten Bezug auf den methodologischen Individualismus auskommen. Allerdings kommen in der historischen Soziologie auch kausalitätskritische Stimmen zu Wort, die für einen konsequenten Perspektivwechsel „from causes to events“ (Abbott 1992) werben und „events“ als narrative Verknüpfungen auffassen, die es typologisch zu ordnen gilt. Von hier aus lassen sich überdies auch Anschlüsse an ein systemtheoretisches Ereigniskonzept gewinnen, wonach Kommunikationsereignisse als 12 Genauer gibt Mahoney drei Definitionskriterien für Pfadabhängigkeit an: (1) kausale Prozessen mit einer starken Abhängigkeiten von frühen Ereignissen, (2) kontingentes Auftauchen der auslösenden Ereignisse und (3) relativ deterministische kausale Ablaufmuster, wenn der Prozess erst einmal gestartet wurde (Mahoney 2000: 510f).
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„Temporalatome“ des Sozialen (Luhmann 1984: 389) aufgefasst werden. Es handelt sich um Elementarereignisse, worin sich Mitteilung, Information und Verstehen zu einer Einheit verbinden. So gesehen kann es von Kommunikationsereignis zu Kommunikationsereignis nur um „Anschlussfähigkeit“ gehen, aber nicht um „Kausalität“, weil die generative Kraft der Mitteilungsselektion stets durch die generative Kraft der Verstehensselektion vermittelt und durchkreuzt wird. Dass sich in der operativen Vernetzung von Kommunikationsereignissen dennoch strukturbildende Effekte von unten nach oben einstellen können, soll damit weder ausgeschlossen noch bestritten werden. Vielmehr geht es um eine genaue Rekonstruktion dessen was operativ passiert, wenn Kommunikationen aneinander anschließen und dynamische Netzwerke bilden. Wenn man die Erzeugung von Kommunikationsnetzen als „upward causation“ interpretiert (Malsch 2005: 20), dann könnte es durchaus Berührungspunkte zu den sozialen Mechanismen geben. Auch in der neueren Mechanismen-Diskussion geht es ja um die Genauigkeit einer soziologischen Analyse, die sich nur im Rekurs auf die operativen Kleinsteinheiten des Sozialen erreichen lässt. Und wenn man soziale Prozesse operativ genau rekonstruiert, könnte sich vielleicht herausstellen, dass der Unterschied zwischen Warum- und Wie-Fragen doch nicht so erheblich ist, wie allgemein angenommen wird. (3) Eine echte Opposition zum analytischen Konzept sozialer Mechanismen bieten Ansätze, die an funktionalistischen Erklärungen orientiert sind. Schon in Mertons Kritik an Parsons (Merton 1968), die wir oben schon erwähnt hatten, wird diese Frontstellung deutlich. Mit Stinchcombe können wir funktionale Erklärungen folgendermaßen charakterisieren: „By a functional explanation we mean one in which the consequences of some behavior or social arrangement are essential elements of the causes of that behavior.“ (Stinchcombe 1987: 80) Die Folgen dienen als Ursachen innerhalb der Erklärung eines bestimmten Verhaltens. Geht man von einem strikt kausalem Erklärungsverständnis aus, ist diese Umkehr von Folgen zu Ursachen zunächst einmal problematisch.13 Dennoch haben sich funktionalistische Theorien als ausgesprochen nützlich für die Erklärung bestimmter sozialer Phänomene erwiesen, da es viele soziale Prozesse gibt, die ein Verhalten nach seinen Konsequenzen auswählen und stabilisieren. Stinchcombe spricht von Vorgängen der „reverse causation“ (Stinchcombe 1987:
13 So auch die Einschätzung von Peter McLaughlin in seiner Diskussion der möglichen Rollen von funktionalen Erklärungen: „The status of functional explanations seems inextricable bound up with the problem of teleology; and according to countless accounts of the rise of modern science, it is the rejection of final causes that characterises science in the modern age. Thus, if functional explanations involve final causality, their scientific status would seem to be open to serious doubt.” (McLaughlin 2002: 196)
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99) die im Bereich des Sozialen ubiquitär sind.14 Funktionale Erklärungen werden häufig mit Bezug auf selbsterhaltende Systeme formuliert. Bestimmte Teile des Systems erfüllen Funktionen zur Erhaltung des Gesamtsystems, die Notwendigkeit der Erfüllung dieser Funktionen wird dann zur Ursache für die Existenz dieser Systembestandteile oder eines bestimmten Systemverhaltens.15 Funktionale Erklärungen sind deshalb heute vor allem in systemtheoretischen Ansätzen verbreitet16 und häufig wird auch hier der Mechanismus-Begriff genutzt, um Problemlösungen zu charakterisieren.17 In der Systemtheorie Niklas Luhmanns ist dieser Ansatz als funktionale Analyse bekannt und ihr Erklärungswert hängt von der Möglichkeit ab, die Beziehung zwischen Problemen und Problemlösungen daraufhin zu spezifizieren, welche Lösungen denn möglich sind (Luhmann 1984: 84). Die möglichen Problemlösungen sind dabei zumeist schon durch das zu lösende Problem eng begrenzt. Dennoch kommt auch bei der funktionalen Analyse notwendig das Kausalschema zum Einsatz. „Die funktionale Analyse nutzt so die Möglichkeiten des Kausalschemas als Relationierung zweier Variablen, bei denen jeweils die eine als Bezugspunkt für die Erprobung von Variationsmöglichkeiten der anderen Variablen genutzt wird.“ (Schneider 2005: 256) Die funktionale Analyse erreicht Erkenntnisgewinne somit durch den Vergleich verschiedener möglicher Kausalitäten.18 Zur Diskussion um soziale Mechanismen trägt das funktionalistische Programm deshalb in zweifacher Weise bei: Zum einen als Projektionsfläche für die Abgrenzungsversuche der analytischen Ansätze mittlerer Reichweite gegen „grand theory“ und teleologischen Kausalitätsvorstellungen und zum anderen durch den Hinweis darauf, das die einfachen Kausalitätsunterstellungen bei sozialen Mechanismen häufig nur zum Teil tragen und zumindest Ergänzungen bedürfen, die unter den Stichworten „reverse causation“ und Problemorientierung zusammengefasst werden können. Die Er14 Auf dieses Moment der Sozialität werden wir im nächsten Abschnitt noch näher eingehen, denn das Phänomen der „reverse causation“, wenn man es so nennen will, leitet schon über zu den Fragen nach der Rekursivität und Reflexivität sozialer Mechanismen. 15 Diesen Punkt macht auch McLaughlin besonders stark, wenn er schreibt: „But I think that something like the notion of a self-reproducing system is what biologists and sociologists are in fact committed to, when they use function ascriptions with intent to explain.” (McLaughlin 2002: 211) 16 So schon beim frühen Luhmann, wenn er die Beziehung zwischen Systemtheorie und funktionaler Methode als aufeinander bezogene Elemente eines Forschungsprogramms ausarbeitet (Luhmann 1970a). 17 Als Beispiel sei nur Luhmann angeführt, der schon in einer frühen Schrift Vertrauen als Mechanismus zur Reduktion von Komplexität beschreibt. (Luhmann 1973) Und an anderer Stelle definiert er: „Unter Mechanismus soll demnach eine funktional spezifizierte Leistung verstanden werden, deren bei Bedarf wiederholte Erbringung in einem System erwartet werden kann, so dass andere Einrichtungen sich darauf einstellen können. Mechanismen lösen Systemprobleme.“ (Luhmann 1970b: 116) 18 So auch die Relationierung bei Bunge: „Because the functions-mechanisms relation is one-tomany, we should keep the two concepts distinct while relating them.“ (Bunge 2004: 194)
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klärung ist gerichtet auf Bedingungen der Möglichkeit von sozialen Phänomenen, auf die Erklärung des „Wie“ ihres Zustandekommens (Luhmann 1984: 44 und Schneider 2005: 260), hat also nicht kausalgesetzlichen Charakter, aber den reklamieren auch die sozialen Mechanismen, die mittels analytischer Ansätze gewonnen werden nicht für sich. Als Diskussionspartner über soziale Mechanismen bietet die funktionalistische Perspektive Möglichkeiten der kritischen Reflexion des Primats der Kausalorientierung und macht den notwendigen Problemfokus deutlich der zumindest implizit beim Reden von Mechanismen immer eine Rolle spielt. Wissenschaftstheoretische Erwägungen spielen in der Debatte um soziale Mechanismen regelmäßig eine zentrale Rolle. Dies haben wir schon in der Darstellung der einzelnen einflussreichen Positionen mehrfach angemerkt: Es geht um die Wissenschaftlichkeit bestimmter Erklärungsprogramme, die Rolle die Kausalität in Erklärungen spielt und um unterschiedliche Kausalitätsverständnisse. Deshalb sollen hier noch mal die zentralen wissenschaftstheoretischen Probleme herausgestellt werden auf die soziale Mechanismen antworten sollen. Wie schon deutlich geworden sein dürfte, geht es beim Konzept sozialer Mechanismen um ein wissenschaftliches Erklärungsprogramm für die Sozialwissenschaften. Ein grundlegendes Problem, das mit dem Mechanismen-Begriff bearbeitet werden soll, ist die Stellung kausaler Inferenzen in den Sozialwissenschaften. Daniel Steel stellt das Problem folgendermaßen dar: „A central problem confronting social research is that an association between two variables can often be explained by the hypothesis that one is the cause of the other or that both are effects of a common cause.“ (Steel 2004: 55) Diese doppelte Möglichkeit stellt für die Sozialwissenschaften ein Problem dar, weil es keine Möglichkeit für kontrollierte Experimente gibt19 und es sehr schwierig ist alle möglichen gemeinsamen Ursachen zu berücksichtigen. Auch wenn man bestreiten kann, dass soziale Mechanismen deshalb notwendiger Bestandteil sozialwissenschaftlicher Erklärungen sein müssten (Kincaid 1996), so zeigen doch die vielen älteren und neueren Ansätze, dass Mechanismen zumindest helfen dieses Problem zu begrenzen.20 Ein weiteres Problem, dem sich die Debatte noch zu wenig zugewandt hat, ist unter dem Stichwort „reverse causation“ schon angedeutet worden: Die Stellung von Rückwirkungen und darüber hinaus Beobachtereffekten in sozialwis-
19 Diese Beschränkung könnte durch Erfolge in den Forschungsfeldern der Sozionik (Malsch 1998) und der Sozialsimulation (Gilbert & Troitzsch 1999) zumindest teilweise aufgehoben werden. 20 So auch die abschließende Einschätzung von Steel: „What we have, then, is not an argument that mechanisms are absolutely essential to causal inference in social science. Rather, we have a variety of reasons for thinking that without process tracing, causal inference in social science would be significantly more difficult than it actually is.” (Steel 2004: 75)
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senschaftlichen Erklärungen. Damit sind wir beim Thema Reflexivität und was man unter reflexiven sozialen Mechanismen verstehen könnte. Dimensionen der Reflexivität Reflexivität ist ein Grundphänomen der sozialen Welt. So weit herrscht mehr oder weniger Einigkeit unter den verschiedensten theoretischen Lagern. Andererseits ist es keineswegs so klar und einheitlich was man unter Reflexivität in diesem Zusammenhang zu verstehen hat. Als möglichen Ausgangspunkt hatten wir oben schon das von Stinchcombe ins Spiel gebrachte Konzept einer „reverse causation“ genannt. Die Folgen einer bestimmten Ursache wirken „zurück“ auf die Be-ingungen dieser Ursache. Anders formuliert: Der Output bestimmt den Input mit. Klassischerweise ist hier an Beobachter- und Rückkopplungseffekte zu denken, wie schon in Mertons ausgearbeitetsten Beispiel eines sozialen Mechanismus, der „self-fulfilling prophesy“ (Merton 1968b). Eine Initial falsche Einschätzung der Lage begünstigt ein Verhalten, das die falsche Einschätzung immer wahr-cheinlicher macht und sie irgendwann eintreten lässt. Die Selbstverstärkung liegt dabei in der Beobachtung des Verhaltens auf der Grundlage einer bestimmten Lageeinschätzung, die zu einer ähnlichen Einschätzung der Lage beim Beobachter führt, der sein Verhalten nun ebenfalls anpasst. Doch kann dieses Beispiel mit etwas gutem Willen noch als linearer Mechanismus dargestellt werden, wenn man jeden einzelnen Beobachter, seine Lageeinschätzung und sein ausgewähltes Verhalten in einer Kette darstellt. Es ist jedoch klar, das sich die Beobachter der Vorgänge häufig parallel entscheiden müssen und nicht an ihren ersten Lagebeurteilungen festhalten müssen. Damit geht eine gewisse Linearität verloren und man muss zumindest Multikausalität zwischen den Beobachtern unterstellen, die sich demnach wechselseitig über den ganzen Prozess hinweg beeinflussen. Zumindest die Reflexivität dieser wechselseitigen Beobachtung dürfte mit Mead als soziale Tatsache festzuhalten sein (Mead 1968).21 Die Berücksichtigung von Reflexivität in sozialen Mechanismen sollte deshalb von grundlegender Bedeutung für ihre sozialwissenschaftliche Nutzbarkeit sein. Aber hier stoßen wir schon auf erste Probleme mit der konstitutiven Reflexivität sozialer Situationen. Denn hinsichtlich dessen, was Reflexivität (oder 21 André Kieserling nennt dieses für soziale Situationen konstitutive wechselseitige bzw. reflexive wahrnehmen auch den Minimalfall von Sozialität und schreibt dazu: „Nun gibt es aber durchaus eine Reflexivität auch des Wahrnehmens. Man muss sich nur soziale Situationen, nämlich Situationen mit mehr als einem Prozessor für Wahrnehmungen vorstellen, und schon sieht man, daß auch die Wahrnehmung wahrgenommen werden kann, nämlich am anderen. Man kann sehen, dass man gesehen wird, und speziell der erwiderte Blick ist durch genau diese Reflexivität der Wahrnehmung charakterisiert.“ (Kieserling 1999: 117)
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Reflexion) heißen soll, gibt es höchst unterschiedliche Vorstellungen in der Soziologie. Da wäre zum einen die aus dem Geist der Frankfurter Schule gespeiste These von der soziologischen Reflexion als Gesellschaftskritik bei Habermas (Habermas 1994). Dieser recht hoch positionierte und voraussetzungsvolle Reflexionsbegriff kann aber wohl nicht zur soziologischen Ko-Fundierung des Begriffs sozialer Mechanismus dienen. Macht aber schon auf die Selbstbezüglichkeit der Soziologie als Teil ihres Gegenstandes aufmerksam. Dann taucht der Reflexivitätsbegriff bei Beck und Giddens als Eigenart einer ihre Nebenfolgen thematisierenden Modernisierung auf (Beck, Giddens & Lash 1996). Die Moderne wird danach selbst reflexiv, weil sie sich ständig mit den oft unerwünschten Nebenfolgen ihrer Entwicklung beschäftigen muss. Dazu richtet sie teils eigenständige Institutionen ein. Man könnte auch sagen: Sie suche ständig nach Mechanismen, um mit ihren selbstgeschaffenen Problemen fertig zu werden. Auch Pierre Bourdieu nutzt den Reflexivitätsbegriff im Rahmen eines soziologischen Erkenntnisprogramms: der „Reflexiven Anthropologie“ (Bourdieu & Wacquant 1996). Auch hier mit der Maßgabe die Praxis der Erkenntnis reflexiv zu handhaben, um sich vor Theorie-Effekten zu hüten. Und schließlich ist auch der Ansatz von Niklas Luhmann zu nennen, der Reflexivität und Reflexion als besondere Formen der Selbstreferenz sozialer Systeme versteht (Luhmann 1984). Was auch immer darunter verstanden wird, so herrscht doch eine diffuse Einigkeit wenigstens in zwei Punkten: (1) Reflexivität von und Reflexion über gesellschaftliche Phänomene ist als „Beobachtung“ eingewoben in eben diese Phänomene (z.B. Rückwirkung von Wahlprognosen auf Wahlverhalten). (2) Und damit steht die Soziologie vor den Erklärungsproblemen eines „selbstimplikativen“, selbst das soziologische Theoretisieren noch in sich einschließenden Forschungsgegenstands, der mit einfacher Kausaltechnik nicht umstandslos traktiert werden kann. Oder vielleicht doch? Genau das ist die Frage, die an eine Theorie zu richten ist, die soziale Mechanismen als Erklärungsmechanismen auffasst. Wir wollen an dieser Stelle deshalb noch einmal zwei Spielarten der Reflexivitätsthematik in der soziologischen Theorie aufgreifen, an denen exemplarisch die Verbindung zur Problematik sozialer Mechanismen als Erklärungsprogramm der Sozialwissenschaften aufgezeigt werden kann. Zum einen geht es um den „reflexiven Akteur“ in den verschiedenen Spielarten individualistischer Ansätze, zum anderen um das Reflexivitätskonzept bei Niklas Luhmann, der es schon in einem frühen Aufsatz mit der Diskussion um Mechanismen verknüpfte (Luhmann 1970b). Kommen wir zunächst zum „reflexiven Akteur“, wie er in individualistischen Ansätzen vorkommen kann. Soziologische Theorien die einen methodologischen Individualismus verfolgen konzipieren ihre handlungstheoretischen Ker-
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ne22 häufig als Entscheidungstheorien. Wenn man dem Handeln von Akteuren eine solche Entscheidungstheorie zu Grunde legt, impliziert man damit schon ein minimales reflexives Moment, das in jeder Handlung vorkommt, da die Handlung strikt mit einer bewussten Handlungswahl gekoppelt ist.23 Die Akteure sind dabei ständig mit der Deutung ihrer Situation als Raum von Handlungsalternativen beschäftigt, deren Eintrittswahrscheinlichkeiten und Nutzen evaluiert werden müssen, um eine Handlungswahl zu treffen. So z. B. auch beschrieben im Akteursmodell von Hartmut Esser, der den Akteur explizit als rational, reflexiv, erwartend, evaluierend und maximierend definiert (Esser 1993: 231ff).24 Die Reflexivität sozialer Zusammenhänge wird damit also immer schon berücksichtigt, denn die Akteure selbst beurteilen ihre Situation ständig neu und reagieren auf beobachtete Situationsänderungen. Hier liegt auch einer der Gründe, warum Reflexivität in den analytischen sozialen Mechanismen häufig keine Rolle zu spielen scheint, obwohl sie sich als Weiterführung der Merton’schen Konzeption betrachten, dessen Beispiel der „self-fulfilling prophecy“ ein Paradebeispiel für einen reflexiv wirksamen sozialen Mechanismus darstellt (Merton 1968b).25 In das kausale Agens der so beschriebenen Mechanismen, den entscheidenden und handelnden Akteur, ist die Sozialität kennzeichnende Reflexivität immer schon „eingebaut“. Seine Zuwendung zur sozialen Situation und die Wahl seiner Handlung erfolgen selbst immer schon reflexiv. Kontrovers könnte nun sein, was aus dieser Grundansicht folgt. Ist die Reflexivität der Mechanismen nun nicht mehr zu thematisieren, da man voraussetzen kann, dass sowohl Situationsdeutung, als auch Handlungswahl allgemein reflexiven Charakter haben oder sollten gerade die reflexiven Anteile an der Vermittlung zwischen den situativen Kontexten und den transformatorischen sozialen Handlungsaggregationen betont werden. Letzteres liegt nahe, wenn man den Akteur als grundsätzlich reflexiv betrachtet und gleichzeitig betont, dass der Akteur es ist, der die sozialen Mechanismen antreibt. Verwunderlich bleibt dann nur, wohin die Reflexivitätsthematik in der Diskussion um soziale Mechanismen verschwindet. 22 So auch Schmid in seiner Darstellung des struktur-individualistischen Forschungsprogramms für die Sozialwissenschaften, dass einen „nomologischen Kern“ in der verwendeten Handlungstheorie hat, die also eine gesetzmäßigen Charakter aufweist, z. B. als Theorie rationaler Handlungswahlen (Schmid 2005: 133). 23 Sicherlich gilt dies hauptsächlich für Theorien der rationalen Handlungswahl, die auch am ehesten einen nomologischen Kern aufweisen und weit weniger für andere soziologische Akteursmodelle, wie den „homo sociologicus“, der sich primär an gesellschaftlichen Normen orientiert, dem „emotinal man“, dem seine Gefühle anleiten oder dem „Identitätsbehaupter“, bei dem die Darstellung eines bestimmten Selbstbildes im Vordergrund steht. (Für diese Typisierung von Akteursmodellen vgl. Schimank 2000) 24 Zusammengefasst im sogenannten RREEMM-Modell. 25 Vgl. hierzu auch den Beitrag von Michael Florian in diesem Band (S. 157ff.).
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Bei Niklas Luhmann findet man eine etwas andere Sichtweise auf die Problematik der Kombination von Mechanismus- und Reflexivitätsbegriff. In seinem Aufsatz „Reflexive Mechanismen“ (Luhmann 1970b) nennt er solche Mechanismen reflexiv, die „auf sich selbst angewandt werden.“ (ebenda: 117) „Wir lernen das Lernen, regulieren die Normsetzung (...), planen das Planen und erforschen die Forschung“ (ebenda). Reflexiv wird hier im Sinne einer Anwendung von Prozessen auf Prozesse gleicher Art benutzt. Wobei der Mechanismenbegriff, wie oben dargestellt, hier wesentlich breiter anzuwenden ist als in den analytischen Ansätzen. Reflexivität konnotiert bei Luhmann stets Prozesshaftigkeit. Selbstreferenz wird dann reflexiv, wenn sie die Vorher/Nachher-Unterscheidung nutzt, um die Zugehörigkeit zu einem Prozess zu verdeutlichen (Luhmann 1984: 601).26 Er führt weiter aus: „Reflexivität nimmt also eine Einheitsbildung in Anspruch, die eine Mehrzahl von Elementen (oft unzählige) zusammenfasst und der die Selbstreferenz selbst sich zurechnet. Das heißt vor allem, daß die selbstreferentielle Operation ihrerseits die Merkmale der Zugehörigkeit zum Prozeß erfüllen muß, also im Falle eines Kommunikationsprozesses selbst Kommunikation (Kommunikation über Kommunikation), im Falle eines Beobachtungsprozesses selbst Beobachtung (Beobachtung von Beobachtung), im Falle Eines Machtanwendungsprozesses selbst Machtanwendung (Anwendung von Macht auf Machthaber) sein muß.“ (Luhmann 1984: 601) Er spricht in diesem Zusammenhang auch von einer Selektivitätsverstärkung durch die Reflexivität. Ganz im Einklang mit der These das es sich bei „den reflexiven Mechanismen gerade um den Prozeß zu handeln (scheint; Einf. von M. S.), mit dem aus kleinen Systemen große gebildet werden.“ (Luhmann 1970b: 128) Reflexivität ist also eine Bedingung der Zurechnung zu größerformatigen Sinneinheiten. Luhmann gibt also eine klare Bedingung für Reflexivität vor, die Selbstanwendung eines Prozesses auf sich selbst. Von diesem Ansatz aus gesehen gibt es ein klares Unterscheidungsmerkmal für die Reflexivität sozialer Mechanismen und an diesem Merkmal kann man untersuchen, ob es sich um einen reflexiven Mechanismus handelt oder nicht. Es bleiben jedoch auch einige Fragen offen, denn einfache Rekursionsmechanismen, wie die oben zitierte „reverse causation“ fallen aus Luhmanns Beschreibung heraus. Auch die oben beschriebene reflexive Bezugnahme von Akteuren auf soziale Situationen würde Luhmann nicht als Reflexivität fassen, da hier die keine Selbstanwendung von Prozessen zu erkennen ist. Wie man sieht bleibt hier einiges offen und auch die Kompatibilität der unterschiedlichen Behandlungen der Reflexivitätsthematik ist keineswegs gewährleistet. Dennoch sollte klar geworden sein, dass soziale Mechanismen in den 26 Reflexion ist demgegenüber noch voraussetzungsreicher, weil hier die System/Umwelt-Unterscheidung benutzt werden muss, um die Systemzugehörigkeit, also Identitätsfragen, zu behandeln (Luhmann 1984: 601f.).
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seltensten Fällen oder gar nicht auf die Thematisierung und Einbeziehung von Reflexivität verzichten können. Weiterhin muss festgestellt werden, dass sich hier immer noch eine Lücke in der Debatte um den Mechanismenbegriff auftut, die innerhalb dieses Sammelbandes deutlich gemacht werden soll. Dennoch lässt sich von hier aus das Reflexivitätsthema in zwei Richtungen ausarbeiten: (i) als inhärente Reflexivität von Erzeugungsmechanismen und (ii) als aparte, spezialisierte Erzeugungsmechanismen von Reflexivität. (ad i) Als Eigenschaft allen sozialen Handelns verstanden, lässt sich Reflexivität als Beobachtung in einfache Mechanismen einbauen: Akteure (soziale Systeme) beobachten die Struktureffekte ihrer (Inter)Aktionen (Kommunikationen) und berücksichtigen dies in ihrem weiteren Handeln – oder auch nicht. Aber was passiert mit jenen Struktureffekten, die aus der Perspektive des Alltagsgeschehens unbeobachtbar und damit der direkten individuellen Reflexion entzogen sind? (ad ii) Dafür richtet die Gesellschaft bestimmte Institutionen ein, die auf Reflexivität spezialisiert sind und nichts anderes tun, als Struktureffekte auf Dysfunktionen hin zu beobachten (Beobachtungseinrichtungen, Frühwarnsysteme). Nimmt man die Theorie sozialer Mechanismen beim Wort, so sollte es möglich sein, die Erzeugung institutionalisierter Reflexivität aus denselben Erklärungsprinzipien abzuleiten wie alle anderen makrosozialen Struktureffekte auch. Doch wie lässt sich ein dermaßen starker Anspruch überhaupt einlösen? Lässt sich im operativen Detail zeigen, was passiert, wenn „latente“ Erzeugungsmuster sozialer Phänomene „explizit“ kommuniziert werden? Um den umfassenden Erklärungsanspruch von Erzeugungsmechanismen – der sich bislang nur an einfachen Partialerklärungen bewähren konnte – durch baukastenmäßige Verkopplung von „clean mechanisms“ zu immer komplexeren „dirty models“ (Schimank 2005) kumulativ einzulösen, bietet es sich im Anschluss an Luhmann an, zunächst zwischen primären (einfachen) und sekundären (reflexiven) Mechanismen zu unterscheiden, auch wenn Reflexivität als eine durchgängige soziale Tatsache anzusehen wäre, die jegliche Ausformung von Sozialität durchzieht. Davon ausgehend wäre operativ zu zeigen, (1) wie reflexive Mechanismen durch Primärmechanismen erzeugt werden, (2) wie reflexive Mechanismen auf ihre Primärmechanismen zurückwirken (3) und wie sich die rekursive Kopplung von Reflexions- und Primärmechanismen (auch sozionisch) modellieren lässt.
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Die Untersuchung reflexiver sozialer Mechanismen als Forschungsprogramm Soweit zur provisorischen Einführung in ein Thema, zu dem wir Beiträge aus unterschiedlichen Theorierichtungen vergleichend miteinander ins Gespräch bringen möchten. Es geht also um einen thematisch spezifizierten Theorienergleich. Ob dabei Kausaltechniken, Funktionalismen, Handlungskalküle, Selbsteferenzen oder andere Konzepte besser oder schlechter abschneiden werden, muss den Rezipienten dieses Sammelbands überlassen bleiben. Der Sammelband gliedert sich grob in zwei Blöcke: Während die Beiträge des ersten Blocks „Was leistet der Mechanismenbegriff?“ noch einmal integrative Perspektiven auf die Debatte um soziale Mechanismen werfen und das mechanismische Erklärungsprogramm für die Sozialwissenschaften prononciert, wenn auch aus unterschiedlichen Perspektiven vorstellen, wendet sich der zweite Block „ Zur Reflexivität sozialer Mechanismen“ deutlich expliziter dem Reflexivitätsthema zu und die einzelne Beiträge versuchen Antworten auf die Fragen zu finden, die diese Thematik an Konzepte sozialer Mechanismen stellt. Aus dieser Verbindung sollen sich dann die Konturen eines möglichen Forschungsprogramms abzeichnen, das vor allem zwei Vorzüge miteinander verbinden soll: Zum einen geht es darum, die dezidierten Stärken mechanismischer Erklärungen, wie den klaren Problemzuschnitt, die formale Modellierbarkeit und die Identifizierung von Eingriffsmöglichkeiten und Stellschrauben zur Steuerung sozialer Prozesse, für die Sozialwissenschaften stark zu machen und zum anderen geht es auch darum das Konzept in einer spezifischen Hinsicht auszuweiten, so dass mechanismische Erklärungen eine höhere Adäquanz und Plausibilität für die unterschiedlichsten Anwendungsfälle sozialwissenschaftlicher Theorien gewinnen, in denen Kommunikation und Reflexivität eine weit stärkere Rolle spielen, als es in der Debatte um soziale Mechanismen bisher berücksichtigt wurde. Michael Schmid leistet zur Einführung in den ersten Block mit seinem Beitrag „Zur Logik mechanismischer Erklärungen in den Sozialwissenschaften“ gleich eine umfassende wissenschaftstheoretische Verortung eines mechanismischen Erklärungsprogramms. Dabei steht für ihn die Frage im Vordergrund ob es sich bei der Soziologie um eine erklärende Wissenschaft handelt, was seit ihrer Institutionalisierung auch immer wieder bestritten worden ist. Das von ihm vorgestellte mechanismische Forschungsprogramm unter der Prämisse, „dass sozialwissenschaftliche Erklärungen unter Rekurs auf eine gehaltvolle Handlungstheorie als mikrofundierende Mehrstufenerklärungen makroskopischer Sachverhalte anzulegen sind“ (S. 30), beabsichtigt die klare Positionierung der Sozialwissenschaften als erklärende Wissenschaften. Dazu sollte jede Erklärung vier Schritte beinhalten: (i) eine mikrofundierende nomologische Handlungstheorie, (ii) An-
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gaben über die Handlungssituation, (iii) Mechanismen die nicht-reduktive Kollektiveffekte nach sich ziehen und (iv) mögliche Rekursionswirkungen dieser Effekte auf die Handlungssituation. Es wird deutlich, dass ein klar benennbares Forschungsprogramm die charakteristischste Stärke des mechanismischen Erklärungsansatzes ist. Auch der Beitrag „Transintentionale Mechanismen sozialer Selbstorganisation“ von Roman Langer interessiert sich für die integrative und grenzüberschreitende Kapazität des Mechanismen-Ansatzes. Mit einem eigenen Vorschlag auf der Basis der Konzepte Transintentionalität und Selbstorganisation versucht er diese grenzüberschreitenden Möglichkeiten zu maximieren. Dabei betont sein Ansatz die nicht-deterministische Seite sozialer Mechanismen, denn ein Mechanismen-Modell gebe nur einen „Möglichkeitsspielraum“ an (S. 83). Exemplarisch wird dies am Beispiel der Bildung und Auflösung von Institutionen dargestellt. Darüber hinaus betont der Ansatz auch die vielseitigen Kopplungsmöglichkeiten unterschiedlichster Mechanismen in Modellen, die zugleich „an allgemeinen, grundlegenden Verhältnissen ansetzen (...) und problemspezifisch und gegenstandssensibel sind.“ (S. 93). Eine sehr viel stärker sozionisch ausgerichtete Perspektive bieten zum Abschluss des ersten Blocks Thomas Kron und Christian Lasarczyk mit ihrem Beitrag „Zur sozionischen Notwendigkeit mechanistisch-soziologischer Erklärungen“. Der Schwerpunkt der Argumentation liegt auf der These, „dass soziologischen Erklärungen eine Notwendigkeit innewohnt, auf Computersimulationen zurückzugreifen.“ (S. 101) Das mechanistische Erklärungsprogramm wird dabei als optimaler Ausgangspunkt für die Übertragung soziologischer Theorien auf Computersimulationen identifiziert. Vor allem die Nicht-Vorhersehbarkeit des Zusammenwirkens verschiedener Kausalfaktoren in komplexen sozialen Mechanismen macht es den Autoren nach notwendig, auf sozionische Simulationsexperimente zurückzugreifen. Ein solches Experiment wird dann zum Abschluss des Beitrages vorgestellt und mit seinen Ergebnissen präsentiert. Der zweite Block startet mit einem Beitrag von Andrea Maurer über „Soziale Mechanismen im struktur-individualistischen Erklärungsprogramm“, der noch stark an den ersten Block angelehnt ist, indem er einen deutlichen Schwerpunkt auf die Erklärungskraft sozialer Mechanismen legt. Dabei dient das strukturindividualistische Erklärungsprogramm als Integrationsperspektive für den Vergleich und die Zusammenführung der vielfältigen Mechanismen, die bislang von der Soziologie „entdeckt“ worden sind. Das Grundmodell der Makro-MikroMakro-Erklärung oder 'Badewanne' wird jedoch hier explizit um die Möglichkeit einer „Rück-Schleife zur Anfangssituation“ (S. 146) erweitert, es findet also eine Integration von grundlegender sozialer Reflexivität in der Form einer „reverse causation“, wie sie oben dargestellt wurde, statt. Diese Erweiterung wir dann am
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Beispiel der sozialen Reperaturmechanismen 'Abwanderung' und 'Widerspruch' diskutiert und dargerstellt. Michael Florian’s Beitrag „Die Self-fulfilling prophecy als reflexiver Mechanismus. Überlegungen zur Reflexivität sozialer Praxis“ hat einen klaren Fokus auf die inhärente Reflexivität sozialer Prozesse. Diskutiert wird dies an Mertons prominentesten Beispiel eines sozialen Mechanismus, eben der 'selffulfilling prophecy'. Die bei Hedström und Swedberg eingeführte Typologie sozialer Mechanismen wird deshalb um einen reflexiven Mechanismus zirkulärer Verstärkung erweitert, der erst erklären kann, warum eine 'self-fulfilling prophecy' funktioniert. Die Selbsterfüllung ist demnach begründet „in der wechselseitigen Stimulation und 'interaktiven Rückkopplung' zwischen den AktionsReaktion-Sequenzen der Akteure“ (S. 178). Damit lässt sich die Unterscheidung von linearen und reflexiven Mechanismen stark machen, die dann am Beispiel des Vertrauens erläutert wird. Schließlich wird mit dem praxistheoretischen Instrumentarium von Pierre Bourdieu nachgewiesen, dass der „Schlüssel zum Verständnis und zur Erklärung der Self-fulfilling prophesy ... die soziale Genese und Wirksamkeit eines kollektiven Glaubens- und Wissenssystems (ist, Einf. M. S.), das in der Lage ist, die Akteure dazu zu bringen, fragwürdige oder falsche Realitätsdefinitionen für wahr zu nehmen.“ (S. 183) Die beiden folgenden Beiträge von Marco Schmitt und Rasco HartigPerschke beschäftigen sich aus einem etwas anderen Blickwinkel mit dem Konzept reflexiver sozialer Mechanismen. Beide gehen von einer dezidiert kommunikationstheoretischen Perspektive aus. Schmitt's Beitrag „Kommunikative Mechanismen. Reflexive soziale Mechanismen und kommunikationsorientierte Modellierung“ versucht darzulegen, warum es Sinn macht, das Konzept sozialer Mechanismen um eine kommunikationstheoretische Fundierung neben der akteurstheoretischen Fundierung zu erweitern. Auf der Ebene der Aggregationsbzw. Transformationsmechanismen, die zur Erklärung des Übergangs von der Mikro- zur Makroebene notwendig sind, weisen die akteursbasierten Mechanismen eine deutliche Schwachstelle auf. Hier können kommunikative Mechanismen ins Spiel kommen, die direkt aus dem kommunikativen Prozessgeschehen (re-) konstruiert werden können. Als Beispiele zur Plausibilisierung dienen der kommunikative Reparaturmechanismus der Interaktion, wie von Wolfgang Ludwig Schneider beschrieben (Schneider 2004: 293ff), der Mechanismus sozialer Sichtbarkeit zur Ordnung von Massenkommunikation und der Reflexionsmodus der Kommunikation. Ein Plädoyer für ein konstruktives Nebeneinander von akteursbasierten und kommunikationsbasierten Mechanismen beschließt den Beitrag. Hartig-Perschke geht es in seinem Beitrag „Kommunikation, Kausalität, Struktur – Zur Entstehung sozialer Mechanismen im Modus kommunikativ vermittelter Reflexivität“ um die allgemeine Analyse von Strukturemergenz auf der
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Basis kommunikativer Reflexivität. Er macht darauf aufmerksam, dass es sich bei sozialen Mechanismen, die auf Gesetzmäßigkeiten des Handelns beruhen nur um 'fungierende Ontologien' handeln könne, die immer erst auf der Basis von kommunikativen Zurechnungsprozessen möglich sind. Geht man aber von der Kommunikation aus, wird deutlich, dass es sich bei Reflexivität um ein allgemeines Strukturierungsprinzip der Sozialität handelt. Am Beispiel der Episodenbildung durch initialisierende Kommunikation wird ein reflexiver kommunikativer Mechanismus vorgestellt, der zeigt wie kommunikative Zuschreibungen reflexiv, also im Nachtrag eine bestimmte Situation als Kommunikationsepisode einordnen. In Perschke's eigenen Worten: „Selektive Sinnverkettung auf der Basis von Initialisierung ist eine distinkte Form der nachträglichen kausalen Kopplung von Mitteilungen infolge von Beobachtung und Beschreibung, und sie spielt in vielen gesellschaftlichen Bereichen mittlerweile eine wichtige Rolle.“ (S. 237) Zum Abschluss bieten Ingo J. Timm und Frank Hillebrandt in ihrem Beitrag „Reflexion als sozialer Mechanismus zum strategischen Management autonomer Softwaresysteme“ noch mal eine ausgewiesen sozionische Perspektive an, die versucht Reflexion und soziale Mechanismen direkt an die Entwicklung von Softwaresystemen zu binden. Am Beispiel der Lösung von Konflikten zwischen autonomen Programmen wird Reflexion als eigenständiger Mechanismus zur Lösung ins Spiel gebracht. Der Mechanismus bringt die Institutionalisierung einer Reflexionsinstanz ins Spiel, die in Organisationen als strategisches Management bezeichnet werden kann und schlägt eine solche Instanz auch zur Konfliktlösung in Multiagentensystemen vor. Insbesondere soll „die systemtheoretische Steigerungsformel basale Selbstreferenz, Reflexivität, Reflexion und Systemrationalität auf den technischen Prozess der Institutionalisierung des strategischen Managements im MAS angewendet werden.“ (S. 268) Dieser Sammelband und die hier versammelten Beiträge sollen die Diskussion um soziale Mechanismen in zwei Dimensionen erweitern und das dahinter stehende Forschungsprogramm damit zusätzlich befruchten. Da wäre erstens die Erweiterung um die rekursive und reflexive Dimension des Sozialen, die bislang eine eher vernachlässigte Rolle gespielt hat. Auf der anderen Seite ist auch eine theoretische Ausweitung des Konzeptes angestrebt, z. B. durch praxistheoretische, kommunikationstheoretische und systemtheoretische Anschlüsse, die über die Akteursfundierung hinausgehen oder diese doch in spezifischer Weise komplementieren können. Die hier gemachten Vorschläge weisen dafür verschiedene Richtungen, die alle vielversprechend genug erscheinen, um weiter an der Modellierung von reflexiven sozialen Mechanismen zu arbeiten.
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Teil I: Was leistet der Mechanismenbegriff?
Zur Logik mechanismischer Erklärungen in den Sozialwissenschaften
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Zur Logik mechanismischer Erklärungen in den Sozialwissenschaften Michael Schmid
Problemstellung Seit Beginn ihrer universitären Institutionalisierung leiden die Sozialwissenschaften, allen voran die Soziologie und die Geschichtswissenschaft, unter der immer noch offenen Frage, ob und, wenn ja, in welchem Sinn sie als „erklärende Wissenschaften“ gelten dürfen. Die Gründe für diese Unklarheit sind vielfältig und reichen von der Abneigung, „naturwissenschaftliche“ Methoden zur Entschlüsselung der eigenen (sachlichen wie metatheoretischen) Probleme zu nutzen, über die besonders unter Philosophen verbreiteten Vorstellung vom Sondercharakter des menschlichen Handelns, der jeden nomologischen Zugang verbiete, bis hin zur daraus gefolgerten These, dass die Sozialwissenschaften (gesetzesbasierte) Erklärungen zugunsten von „begrifflichen“1 oder semantischrhetorischen Analysen2, Typenbildung3 und Beschreibungen4, Erzählungen5 und „Rekonstruktionen“ individueller (aber kulturrelevanter) Ereignisse6 oder „Konstitutionsanalysen“ über die notwendigen Bedingungen des „Sozialen“7 oder gar zugunsten einer „eigenständigen kulturwissenschaftlichen Vorgehensweise“8 zurückzustellen hätten. Es ist hier nicht der Ort, um zur Beantwortung der Eingangsfrage die Geschichte dieser Problemstellung nach Lösungsvorschlägen abzusuchen. Statt dessen möchte ich die Problemlage umreißen, wie sie sich aufgrund der jüngeren Entwicklung der „philosophy of science“ (vor allem deren „Theorie der Erklärung“) ergeben hat, um vor dem Hintergrund der dabei identifizierten Schwierigkeiten einen Ausweg zu skizzieren, der, rückgreifend auf einige philosophische Vorarbeiten, in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend als gangbar eingestuft 1 2 3 4 5 6 7 8
Vgl. Winch 1966 Vgl. McCloskey 1998, Brown 1987 Vgl. Kluge 1999 Vgl. Luhmann 1992, S. 147ff Vgl. Danto 1965, S. 233ff Vgl. Weber 19683, kommentierend Schmid 2004a Vgl. Luckmann 1992 Vgl Abel 1983, S. 3
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wird9. Dabei sollte sich im Interesse der im Nachfolgenden verteidigten Auffassung, dass die Sozialwissenschaften durchaus eine Erkläst die folgende Ausgangsthese verteidigen lassen: Wenn es zutrifft, dass die Sozialwissenschaften sich mit (dem Bestand und der Veränderung von) Vergemeinschaftungs- und Vergesellschaftungsformen menschlicher Akteure beschäftigen (sollen), dann stehen sie vor einem doppelten Erklärungsproblem: Zum einen müssen sie die Frage beantwortet können, auf welche Weise und warum die einzelnen Akteure in sozial relevanter Weise handeln, wozu eine (erklärungsdienliche) Theorie des individuellen Handelns zur Verfügung stehen muss; zugleich aber ist die Beantwortung dieser Frage nur insoweit von Interesse, als sie den Sozialwissenschaftler in die Lage versetzt, infolgedessen Aussagen über die Entstehungs- und Wirkungszusammenhänge makrostruktureller Explananda (oder sogenannter „sozialer Sachverhalte“10 bzw. „kollektiver Phänomene“11) zu identifizieren. Aus beidem (und einigen zusätzlichen Prämissen) ergibt sich die (noch eingehender zu demonstrierende) Folgerung, dass sozialwissenschaftliche Erklärungen unter Rekurs auf eine gehaltvolle Handlungstheorie als mikrofundierende Mehrstufenerklärungen makroskopischer Sachverhalte anzulegen sind, wobei – wie sich zeigen wird – der Verweis auf (regulierte) Abstimmungsmechanismen, mit deren Hilfe Akteure ihre Handlungen erwartungssichernd aufeinander beziehen können, für das Gelingen entsprecender Erklärungen von prominenter Bedeutung ist. Die Logik von Erklärungen Den immer noch diskutierten Hintergrund meiner Themenstellung hat – lässt man den prägenden, wenn auch unglücklichen Einfluss von John Stuart Mill auf die Entwicklung einer kausalgenetischen Gesellschafts- und besonders der Geschichtswissenschaft beiseite12 – (vor allem) Carl Hempel ausgemalt, als er (auch) den Sozialwissenschaften vorschlug, Erklärungen nur dann als gelungen zu bezeichnen, wenn sie einer Reihe sogenannter „Adäquatheitsbedingungen“ genügen können13. Zu diesen zählen, dass das Explanandum aus dem Explanans 9 10 11 12 13
Für die „philosophy of science“ ist das Werk von Wesley Salmon einschlägig (vgl. Salmon 1984, Salmon 1989), für die Philosophie der Sozialwissenschaften sind vor allem die Arbeiten von Friedrich von Hayek, Mario Für einen erweiterten Überblick vgl. Schmid 2006, S. 29ff. So die Wortwahl bei Balog/Cyba 2004. Vgl. zu dieser Sprachregelung Popper 1958. Vgl. für einen Problemabriss Mandelbaum 1977, S. 203ff und Little 1991, S. 35ff. Vgl. Hempel 1965, S. 247ff und passim. Hempel diskutiert (neben der „Begriffslogik“ der Sozialwissenschaften (vgl. Hempel 1965, S. 155ff)) drei sozialwissenschaftlich relevante Erklärungsformen: funktionalistische (oder System-)Erklärungen, genetische (und d.h. historisgen und Rationalerklärungen individueller Handlungen, gelangt aber nicht zu einer diese „Komponenten“
Zur Logik mechanismischer Erklärungen in den Sozialwissenschaften
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logisch herzuleiten ist14, d.h. Erklärungen haben die (formal-syntaktische) Form eines „Arguments“; darüber hinaus sollte das Explanans zumindest einen nomologischen Satz oder ein „Gesetz“ enthalten, das für die Ableitung des Explanandums notwendig ist, was impliziert, dass Erklärungen mit Hilfe sachlich unnötiger (zumal adjunktiver) Erweiterungen unangebracht sind; zudem müssen die Sätze des Explanans gehaltvoll und wenigstens im Prinzip (durch Beobachtung oder Experiment) empirisch bestätigt werden können, womit analytische bzw. Selbsterklärungen vermieden sind; und endlich müssen die Sätze des Explanans wahr sein. Sind die Gesetze15 falsch, so lassen sich widersprüchliche Sätze ableiten; sind die Anwendungsbedingungen nicht realisiert, kann die erste Bedingung nicht erfüllt werden. In beiden Fällen scheitern Erklärungen. Diese (teils logischen, teils materialen) Festlegungen enthalten eine Reihe von Implikationen, welche die nachfolgende Kritik (fast) alle als problematisch und revisionsbedürftig eingestuft hat16. Zum ersten wurde die Implikation des Hempelschemas, wonach sich Erklärungen und Vorhersagen (wie Retrodiktionen) allenfalls pragmatisch, nicht aber ihrer logischen Struktur nach unterscheiden, mit dem Hinweis bestritten, dass Erklärungen auch dort vorgelegt werden können, wo Vorhersagen unmöglich sind17; zum Weiteren bedarf es, um die empirische Geltung der erklärenden Annahmen (vor allem von „Gesetzen“) sicherstellen zu können, einer Theorie der Bewährung, über deren Anlage noch heute gestritten wird18; und zudem wurde immer wieder die Möglichkeit in Frage gestellt, nomologische Aussagen in einer unmissverständlichen Weise zu identifizieren19. Das dahinter liegende Problem besteht darin, dass Hempel Gesetze zum einen als „general regularities“20 gekennzeichnet und zum anderen damit beauftragt hatte, „Kausalverknüpfungen“ (zwischen „events“) plausibel zu ma-
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verbindenden Auffassung. Richard B. Braithwaite, Karl Popper, Rudolf Carnap und Ernest Nagel haben parallele, aber weniger ausgearbeitete Explikationsvorschläge vorgelegt, die verschiedentlich Einfluss auf die Diskussion der Philosophie der Sozialwissenschaften erlangten. Die kommentierende und weiterführende Literatur zu dieser Thematik ist nicht zu überblicken. Späterhin kam Hempel auch auf Randbedingungen zu sprechen, die die (externe) Unbeeinflussbarkeit des beobachteten Geschehens sicher zu stellen haben, vgl. Hempel 1965, S. 303ff. Dieser Sicht liegt die Auffassung zugrunde, dass sich Gesetzesaussagen als streng „allgemeine“ Wenn-dann-Sätze kennzeichnen lassen, in denen ausschließlich universelle Prädikate Verwendung finden dürfen. Man kann diese Einwände studieren einmal anhand der Erwiderungen, die ihnen Hempel (1965, S. 331ff) zuteil werden ließ, oder anhand von Bayertz 1980 und Salmon 1989. Einen Überblick über die Grundzüge des Hempelschen Ansatzes gibt Stegmüller 1969. Vgl. Scriven 1975 u.a. Die Carnap-Hempelsche Konfirmationstheorie (vgl. Hempel 1965, Carnap 1962) hat sich nicht bewährt und Raum für (vor allem an Poppers Widerlegungsthese orientierte) Neubewertungen geschaffen, vgl. Gadenne 2001. Vgl. Psillos 2002 Hempel 1965, S. 252
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chen21. Die erste Forderung führte zu der Frage, wie sich streng allgemeine und deterministische Gesetze von sogenannten „kontingenten Verallgemeinerungen“ unterscheiden lassen, die nicht aufgrund der behaupteten „nomischen Struktur“ der in ihnen behandelten Sachverhalte, sondern aus zufälligen Gründen wahr sind, wozu rein syntaktische Bestimmungen dessen, was als ein „Gesetz“ gelten kann, offenbar nicht hinreichen, während die zweite These das doppelte Problem provozierte, woran Ursachen (und Wirkungen) zu erkennen seien22 bzw. ob es neben deterministischen auch statistische (oder stochastische) (Kausal-)Gesetze (bzw. entsprechende nicht-deduktive oder „induktiv-statistische“ Erklärungsargumente) geben könne23. Daneben entwickelte sich eine ganz anders gelagerte Kritik, die nicht die Voraussetzungen des Hempelschen Erklärungsschemas präzisieren (bzw. korrigieren) wollte, sondern die Gültigkeit der angegebenen Adäquatheitsbedingungen auszugsweise oder generell bezweifelte24 und damit auch die Fähigkeit der theoretischen Sozialwissenschaften zunehmend in Abrede stellte, Erklärungen der von Hempel verteidigten Art geben zu können. Zu den wichtigsten dieser Kritiken gehörte zum einen, dass die Angabe allgemeiner Gesetze keine notwendige Bedingung des Erklärungserfolgs sei, sondern zumal in den Sozial- und Handlungswissenschaften die Suche nach Erklärungen eines sozialen Sachverhalts dann als beendet gelten dürfe, wenn man auf seine (historisch und lokal wirksamen) Einzelursachen25 oder aber auf die (nicht-kausalen) Gründe gestoßen sei, die Akteure dazu bewogen hätten, bestimmte Handlungsverläufe in Gang zu setzen26; zum zweiten und damit zusammenhängend wurde auch behauptet, dass gültige Erklärungen keine Argumente darstellen und ihre Kennzeichnung deshalb keinen logischen Ableitungszusammenhang zwischen Explanans und Explanandum erfordere, was zur Konsequenz hatte, dass „statistische“27, prag21 Vgl. Hempel 1965, S. 348 22 Vgl. Psillos 2002 23 Hempel hat dies trotz der damit verbundenen Verletzung der ersten Adäquatheitsbedingung bejaht, vgl. Hempel 1962, Hempel 1965, S. 175ff, 301ff, 381ff u.a.. Für einen vieldiskutierten Systematisierungsversuch vgl. Salmon 1984. Dort findet sich aber auch der Hinweis, der die nachfolgende Diskussion nachhaltig vorangedrängt hatte, dass statistische Erklärungen ohne Rekurs auf einen Kausalmechanismus, der die betreffende Verteilung (als eine stochastische) „generiert“, nicht entwickelt werden können. Diese Idee geht auf einen Gedanken von Richard Jeffrey (1969) zurück. Erst hernach bestand die Möglichkeit, zwischen (einfachen oder subsumptiven) Kausalerklärungen und „mechanismischen Erklärungen“ zu unterscheiden (vgl. Kitcher 1985) und deren unterschiedliche logische Gestalt zum Gegenstand der Erörterung zu machen. 24 Vgl. für einen Überblick Beckermann 1977, Schmid 1979. 25 So noch jüngst Mayntz 2002 und Balog/Cyba 2004. 26 Vgl. Louch 1966 27 Bereits Hempel musste zur „Definition“ dieses Erklärungstypus die erste Bedingung seines DNModells der Erklärung lockern, vgl. Hempel 1962.
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matische28 bzw. normative29 und sogenannte „praktische“ Erklärungen30 zugelassen werden müssen. Alle diese Kritiken sahen sich alsbald mit (orthodoxen) Gegeneinwänden konfrontiert, was nach jahrzehntelanger, offenbar unabschließbarer Debatte31 den Eindruck verfestigte, dass die sozialwissenschaftliche Theoriebildung an der unbesehenen Übernahme des Hempelschen Erklärungsschemas ebenso leidet wie an dessen endloser Kritik. Was war falsch gelaufen? Zur Beantwortung dieser Frage beschränke ich mich auf den für die weitere Darstellung zentralen Punkt, der mir im Folgenden zu bestehen scheint: Ich würde, solange man an der Möglichkeit von (sozialwissenschaftlichen) Erklärungen festhalten möchte, von zwei eng zusammenhängenden Forderungen, die man an eine gelungene Erklärung stellen sollte, nicht abrücken: Zum einen sollte man deren deduktiven Charakter nicht bestreiten; wir erklären einen Explanandumsachverhalt in der Tat, indem wir den ihn beschreibenden Satz aus einem Explanans logisch ableiten. Zum anderen benötigen wir zur Beurteilung der Validität solcher Deduktionen Gesetze, die Aufschluss darüber geben, welche Faktoren ein interessierendes Geschehen (letztlich) „hervorbringen“ oder „generieren“32; d.h. nur wenn Gesetze angeführt werden können, kennen wir die aktivierenden „Wirkursachen“ eines Geschehens und wissen damit, weshalb oder warum wir es beobachten (oder erwarten) konnten. Wenn indessen – wie vorausgesetzt – die Aufgabe sozialwissenschaftlicher Analysen darin besteht, makrostrukturelle Verteilungen, kollektive Handlungseffekte, Organisations- und Beziehungsformen, das Funktionieren von Handlungssystemen, Handlungszusammenhänge oder kurz: „kollektive Phänomene“ zu erklären, dann stellt sich die Frage, wie die Gesetze lauten, mit deren Hilfe man solche makroskopischen Explananda (im Sinne von Hempels deduktiv-nomologischem Erklärungsschema) ableiten kann. Ich denke, dass man die möglichen Antworten auf diese Frage in der folgenden Weise klassifizieren kann. Die einen suchen nach „sozialen Gesetzen“ des makroskopischen Verlaufs der Geschichte oder des sozialen Geschehens und halten daran fest, dass eine erklärende Sozialwissenschaft nur dann entstehen könne, wenn es gelänge, die „Entwicklungs-“ oder „Bewegungsgesetze“ (bzw. die Transformations- und Transitionsgesetze33) der Gesellschaft zu finden34 oder 28 29 30 31
Vgl. Bromberger 1966 Vgl. Dray 1957 Vgl. von Wright 1971, zur Kritik vgl. Schmid 1979a Koertge 1992 beklagt nicht umsonst den wenig zufriedenstellenden Zustand der „Theorie der Erklärung“. 32 Nach Bunge 1987 besteht hierin das Wesen der „Kausalität“. 33 Nach solchen Gesetzen hatten noch jüngst und ganz vergeblich jene gesucht, die sich der Erforschung des (osteuropäischen) „System-“ oder „Regimewechsels“ zugewandt hatten, vgl. für einen Problemaufriss Merkel 1994.
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zumindest die Kausalwirkung gesellschaftlich-struktureller Gleichgewichts- oder Restabilisierungsbedingungen zu identifizieren35. Von Nachteil war nur, dass die Entdeckung solcher Struktur- und Verlaufsgesetze – wie Popper meinte, aus rein logischen Gründen36 – nicht gelingen wollte bzw. dass sich alle Kandidaten – auch die vorgeschlagenen Gesetze, die zu einer Gleichgewichtsordnung gesellschaftlicher Verhältnisse führen sollten – durchgehend als empirisch falsch erwiesen und sich keineswegs über alle zulässigen Anwendungsfälle hinweg verallgemeinern ließen37. Wenn man es nicht vorzog, diesen Befund zu ignorieren, um auch weiterhin nach solchen Gesetzen fahnden zu können38, waren zwei Reaktionen möglich: Entweder man gab die Suche nach sozialen Gesetzen auf und beschränkte sich auf die Gesetze des individuellen Handelns. Die bekannteste Version dieses Arguments vertrat der sogenannte „Reduktionismus“, demzufolge makroskopische Phänomene auf solche individuellen Handlungsgesetze „reduziert“ werden mussten39, was freilich in vielen Fällen mit der Leugnung des handlungssteuernden Einflusses von Strukturen verbunden war und zugleich (und vor allem) unterbelichtet ließ, wie jene überindividuellen Strukturen und Verteilungsverhältnisse aus dem Handeln der einzelnen Akteure entstehen konnten40 – das berechtigte Anliegen der überkommenen Makrosoziologie, das „Verhalten“ von gesellschaftlichen Systemen (oder Subsystemen) zu erklären, geriet damit fortschreitend aus dem Blick. Oder aber man verzichtete auch auf die Suche nach derartigen Gesetzen des individuellen Handelns und damit auf nomologische Zusammenhänge jedweder Art, was in logischer Konsequenz zu der methodologisch-philosophischen These führte, die Sozialwissenschaften hätten keine Erklärungsaufgaben, sondern könnten und müssten sich auf eine (eigenständige) Methode des Verstehens konzentrieren41 oder sich auf die Bildung 34 Diese zu finden war die Hoffnung der von Spencer beeinflussten Sozialtheorie (vgl. Sanderson 1990) und des Marxismus bzw. der Kritischen Theorie (vgl. Adorno 1969, S. 22). Auch Comte, Condorcet (und andere „Aufklärer“) gehörten zu den Ahnen dieser Forschungsrichtung; für eine mittlerweile „klassische“ Kritik dieser Programmatik vgl. Popper 1961. 35 Vgl. das strukturfunktionalistische Programm Parsons und das strukturalistische Programm bei Blau 1987 und Blau 1994. 36 Vgl. Popper 1961, S. V 37 Das behaupten vor allem Lindenberg, Hedström und Swedberg, Mayntz, Esser, Boudon, Fararo, Little, Bunge und Hayek, Hirschman und andere, vgl. die Zusammenstellung entsprechender Stellen bei Schmid 2006. 38 Vgl. hierfür McIntyre 1996. 39 Diesen Weg beschritt George C. Homans, vgl. Homans 1972. In Deutschland hatte sich vor allem Karl-Dieter Opp dieser Programmatik angeschlossen, vgl. Hummell/Opp 1971. 40 Die nomologisch orientierte Sozialpsychologie ging dieser Schwierigkeit dadurch aus dem Weg, dass sie ihre Forschungen auf „kleine Gruppen“ beschränkte; „gesellschaftliche“ Zusammenhänge gerieten infolgedessen kaum in den Blick. 41 Die fällige Kritik an dieser Eigenständigkeitsthese (vgl. Albert 1994) hat an der Popularität der Verstehenslehre kaum etwas geändert.
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angemessener Begriffe bzw. auf die mit deren Hilfe verfertigte Beschreibungen und „Erzählungen“ gesellschaftlicher Vorgänge beschränken42. In diesem letzteren Fall war die Gleichsetzung der Sozialwissenschaften mit einer weitgehend theorielos verfahrenden „Soziographie“43 kaum zu vermeiden. Ich glaube, dass man diese sich damit abzeichnende Selbstauflösung des sozialwissenschaftlichen Erklärungsprogramms abwehren kann, wenn man einem Vermittlungsvorschlag folgt, der sich, was die Soziologie im Besonderen angeht, auf Robert King Merton (und dessen Schüler und Nachfolger44) zurückverfolgen lässt, aber auch in deren Nachbardisziplinen auf zunehmende Zustimmung stößt45. Da ich weder an einem Vergleich der verschiedenen Empfehlungen46 noch an Prioritätsfragen interessiert bin, beschränke ich mich im Nachfolgenden auf eine systematische Rekonstruktion dieser Erklärungsalternative, die ich (in einem ersten Zugriff) unter der Überschrift: „mikrofundierende Erklärungen für die Sozialwissenschaften“, diskutieren möchte. Die Logik mikrofundierender Erklärungen in den Sozialwissenschaften In meinen Augen ist jede mikrofundierende Erklärungspraxis durch die folgende Konfrontation gekennzeichnet: Zum einen ist der Glaube an die Existenz einer allumfassenden Sozialtheorie, die (im Rahmen und auf der Grundlage eines imperialen Begriffssystems) alle Gesetze des sozialen Geschehens anzugeben wüsste47, alleine deshalb nicht zu realisieren, weil es keine derartigen Gesetze gibt; auf der anderen Seite aber reicht zur Erklärung der Eigenmächtigkeit sozialer Phänomene der Rekurs auf eine reduktiv eingesetzte Verhaltenstheorie nicht hin, weil deren Gesetze keine strukturellen Prädikate enthalten und deshalb nichts 42 Auf diese Position lassen sich vor allem Ethnologen und Historiker, Phänomenologen und – in Grenzen – Interaktionisten, aber auch Luhmanns Systemphänomenologie ein. 43 Vgl. König 1961, S. 5 44 Dazu zähle ich vor allem Stinchcombe, Coleman, Lindenberg/Wippler und Hedström und eher indirekt Boudon. In Schmid 2006 behandle ich Stinchcombe nicht (ausdrücklich), wohl aber (zusätzlich auch) Fararo, Mayntz und Esser. Auch die Gruppe „kritischer Realisten“, die sich im Gefolge von Roy Bhaskar um Margaret Archer versammelt hat, interessiert sich für die Erforschung von Mechanismen; ebenso sprechen Elias oder Bourdieu immer wieder von „Mechanismen“; aber alle diese zuletzt genannten Autoren verzichten auf eine wissenschaftsphilosophische Analyse mechanismischer Erklärungen. 45 Vgl. für die Ökonomie bzw. die Politikwissenschaft Tilly 2001, Levi 2002, Hirschman 1989 und kommentierend Schmid 2006a. Für eine Zusammenstellung entsprechender „Erklärungsangebote“ vgl. Mahoney 2001. 46 Vgl. dazu Schmid 2006 47 Das versucht zu haben, hat man immer wieder Parsons unterschoben, vgl. Merton 1948, Homans 1972 u.a.
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über „soziale Verhältnisse“ besagen; zur Erklärung derartiger „Phänomene“ bedarf es vielmehr – wie Robert K. Merton sich ausdrückte – einer Theorie über die „sozialen Wechselbeziehungen der Personen“48, wobei – seiner Programmatik folgend – Organisation und Folgen derartiger Beziehungen als das vielfach unintendierte, kollektive Produkt des Handelns zielgerichteter und absichtsgeleiteter Akteure verstanden werden soll, die sich zwischen sozial-strukturell vorgeprägten Handlungsalternativen entscheiden müssen49. Eine solche Erklärungsleitlinie ist fruchtbar, wenn die folgenden Voraussetzungen erfüllt werden können: Zunächst muss feststehen, dass das individuelle Handeln eines jeden Akteurs als Folge einer Wahl erklärt werden kann, die darauf hinausläuft, dass er sich angesichts feststehender Zielsetzungen und subjektiver Informationen über seine Handlungssituation für eine bestimmte Handlung zu entscheiden versteht. Ein Zugang zu einer solchen Theorie des individuellen Wahlhandelns ist auf verschiedenen Wegen möglich50: Die von den meisten Autoren verteidigte Theorie des Handelns benennt als wichtigste Elemente derartiger Handlungswahlen die Möglichkeit und Fähigkeit eines Akteurs, seine Ressourcen findig und kreativ zu nutzen, Zielzustände zu erwarten und zu bewerten und dabei auf einen Entscheidungsalgorithmus zurückgreifen zu können, der ihm zumindest eine der in Betracht gezogenen Handlungsalternativen als das bestmögliche oder kostengünstigste Resultat seiner Überlegungen ausweist. Im Kern einer solchen Theorie steht also ein Akteur, der über (eine relativ offene Menge entscheidungsrelevanter) „Kapazitäten“ verfügt und diese angesichts der (wahrgenommen und differenziell bewerteten) Möglichkeiten und Restriktionen, die sich ihm eröffnen, zur Planung und Durchführung (aber auch zur rückblickenden Deutung) seines Handelns einzusetzen weiß. Die RREEMM-Theorie des Entscheidens51, die Wert-Erwartungstheorie52, die Nutzen- oder Rationaltheorie der neo-klassischen Ökonomie53, verschiedene Theorien des („begrenzt“ oder unvollständig informierten) Rationalhandelns54, die Theorien kognitiver Dissonanz55 und des Lernens56, die Prospekttheorie57, die „Theorie der Frame48 Merton 1995, S. 27 49 Vgl. zur näheren Kennzeichnung dieser Vorgehensweise, Stinchcombe 1975, Schmid 1998, S. 71ff, Schmid 2006, S. 53ff. 50 Merton hatte sich auf die (sehr) allgemeinen Grundzüge einer Theorie „sinnhaften Handelns“ beschränkt, vgl. für deren Rekonstruktion Schmid 1998, S. 71ff. 51 Vgl. Meckling 1976, Lindenberg 1985 52 Vgl. Esser 1991, Esser 1993 53 Vgl. Becker 1982 54 Vgl. Hempel 1968, Simon 1983, Sen 2002 55 Vgl. Kuran 1998 56 Vgl. Homans 19742 57 Vgl. Kahneman/Tversky 1979
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Selection“58, die Theorie der „guten Gründe“59 oder des durch „Wünsche“ und „Überzeugungen“ gesteuerten Handelns60 (und all deren Varianten und Kombinationen), aber auch die Psychoanalyse61 unterbreiten erklärungsfunktional vergleichbare und – wie ich denke – (logisch) aneinander anschließbare Vorschläge62. Wie zugestanden aber sind Gegenstand sozialwissenschaftlicher Erklärungen nicht die individuellen Handlungen vereinzelter Akteure, sondern „soziale Sachverhalte“ und „kollektive Phänomene“. In meinen Augen leidet die bisherige Diskussion um den logischen Charakter und die inhaltliche Zielrichtung sozialwissenschaftlicher Erklärungen darunter, dass diese Begriffe (in verschiedenen Theorielagern anders und damit im Ergebnis) zweideutig verwendet werden. Zunächst verstehen phänomenologisch oder interaktionistisch gesinnte Theoretiker unter einem „Kollektivsachverhalt“ den Tatbestand, dass Akteure infolge der Erfordernisse einer arbeitsteiligen Organisation ihres Wechselhandelns in Interdependenzbeziehungen eintreten müssen, wobei diese Verknüpfung ihres Handelns zumindest zu zwei Arten „wechselseitiger Abhängigkeit“ führt63: Im ersten Fall beschränken sich die Akteure darauf, das Handeln anderer zu beobachten und ihr Handeln adaptiv an diesem auszurichten, wobei unterstellt ist, dass sie das unstrittige Recht haben, eigensinnig und auf eigene Rechnung zu handeln64. In anderen Fällen gewähren sich die Akteure dieses Recht nicht, weshalb sie dazu angehalten sind, die Verhaltensanforderungen anderer zumal dann zu berücksichtigen, wenn sie mit (direkten) Interventionen rechnen müssen, falls sie die Interessen ihrer Mitakteure missachten65. Implikation wie Voraussetzung dieser beiden Formen der Handlungsorientierung ist, dass Akteure ihre Beziehungsverhältnisse mit Hilfe der wechselseitigen Zuerkennung von Rechten (und logisch damit verbunden: von Normen) aufbauen und steuern können66, sodass 58 59 60 61 62
63 64 65 66
Vgl. Esser 2003, Esser 2003a Vgl. Boudon 2003 Vgl. Hedström 2005 Vgl. Alexander 1968 Ich unterstelle, dass man die verschiedenen Handlungstheorien als Partialtheorien eines umgreifenden Entscheidungsgeschehens verstehen kann, die (in letzter Konsequenz) zu einer Handlungstheorie integriert werden können bzw. die man aus einem einheitlichen „Kern“ heraus entwickeln kann. Vgl. dafür Boudon 1979, Schimank 2000. Das Paradigma dieser Wechselorientierung ist der Markt mit einem Preissystem und individuellen Handlungsrechten oder das Sich-Belauern von Kriegs-mächten, die sich das Recht zu diesem Verhalten nicht nehmen können. Diese Form der Interdependenz wird gerne mit Hilfe einer „ökonomischen“ Theorie des rationalen Wahlhandelns bearbeitet. Hier bewegen wir uns im angestammten Erklärungsgebiet soziologischer Handlungstheorien, die gerne von der Prämisse ausgehen, dass die Akteure sich den Erwartungen ihrer Mitmenschen (habituell und umstandslos oder mit „guten“ Gründen) beugen. Wie Gephart 1993 zeigt, gehört diese Einsicht zu den Prämissen jeder soziologischen Handlungs-theorie; seit Coleman 1990 dürfte klar sein, dass diese Annahme im Rahmen von Wert-
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man schließen kann, dass unter einem „sozialen Phänomen“ in erster Linie „regulierte Beziehungsverhältnisse“ verstanden werden. Als „soziale Sachverhalte“ (und entsprechend als erklärungsbedürftig) gelten aber andererseits zugleich auch die Kollektivfolgen, oder wie es heißt: die „strukturellen Effekte“67 oder „Kompositionseffekte“68 ihres interdependenten (oder kollektiv geregelten) Handelns und deren (zum Teil als „emergent“69 bezeichneten) Verteilungseigenheiten. „Soziale Sachverhalte“ dieser Art haben besonders strukturalistisch gesinnte Theoretiker im Auge, wobei sie ihre Aufmerksamkeit teils darauf richten, wie diese Effekte an Eigenmächtigkeit gegenüber den einzelnen Akteuren gewinnen können70, teils darauf, wie sie (in letzter Instanz zumindest) aus dem individuellen Handeln einer Mehrzahl von eigensinnig agierenden Akteuren entstehen71. In Anerkennung der Tatsache, dass beide Arten „sozialer Phänomene“, Interdependenzen wie deren Verteilungseffekte, eine handlungsbestimmende Rolle spielen, müssen wir (offenbar) zusehen, dass ein sozialwissenschaftlich taugliches Erklärungsmodell beide als (möglicherweise nicht-intendierte, teilweise unerwünschte und unerwartete) Konsequenz des absichtsgeleiteten individuellen Handelns eine Mehrzahl von eigensinnigen Akteuren verstehen lernen, wobei zu vermuten steht, dass die Erklärung von Kollektivfolgen des gemeinsamen Handelns die Kenntnis der betreffenden Verkehrsformen voraussetzt, diese selbst aber auch ohne Kenntnis der (erwartbaren) Kollektivkonsequenzen erklärt werden können. Ich denke, dass die bisherigen Überlegungen dazu hinreichen, die Logik eines sozialwissenschaftlichen Erklärungsarguments zu destillieren und näher zu bestimmen. Es dürfte klar geworden sein, dass wir solche Erklärungen nicht als einstufige Subsumptionserklärungen verstehen können, die erlauben würden, die Verteilungskonsequenzen des regelorientierten Handelns der Akteure direkt aus einer (wie auch immer gestalteten) Handlungstheorie abzuleiten; statt dessen sollten wir davon ausgehen, dass offenbar vier getrennte Erklärungsschritte zu unterscheiden sind. In einem ersten Schritt geht es darum, die Handlungen einzelner Akteure unter Rückgriff auf ihre internen, erworbenen wie genetisch fixierten Kapazitäten, mit deren Hilfe sie ihre Situation wahrnehmen und bewerten, zu erklären, wobei der individuelle Handlungserfolg von den Möglichkeiten und Restriktionen und d.h. den Opportunitäten abhängt, denen sich jeder einzelne Akteur gegenüber sieht. Zu deren Identifikation ist zu berücksichtigen, dass
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Erwartungstheorien, Rational- und Nutzentheorien entwickelt werden kann. Ökonomische und soziologische Handlungstheorien danach zu unterscheiden, dass die erste Rechte missachtet, die zweite aber nicht, macht keinen handlungstheoretischen Sinn, vgl. Schmid//Maurer 2003. Vgl. Blau 1977, S. 144ff, Esser 1999, S. 495 Vgl. Boudon 1977, S. 271, Boudon 1986, S. 56ff Vgl. zu diesem Thema Sawyer 2005. Vgl. paradigmatisch Blau 1977, Blau 1994. Vgl. beispielhaft Wippler 1978, Wippler 1978a.
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zu den Erfolgsbedingungen eines jeden Handelns zweierlei gehört. Zum einen müssen die Akteure zur Organisation und Projektion ihres Handeln auf (extern„materielle“) Ressourcen zurückgreifen können, die sie zur Abwägung aktueller Handlungsprobleme als unbefragte „Daten“ betrachten können72. Diese Sicherheit geht augenblicklich dann verloren, wenn sie darauf zu achten gezwungen sind, ob und in welchem Grade ihre grundsätzlich unausrechenbaren Mitakteure ihr Handlungsvorhaben mitbedingen, wenn nicht stören oder verhindern können. Oder anders: Das Handeln Anderer gehört zu den zentralen Opportunitäten des Handelns eines jeden einzelnen Akteurs, das er – abhängig von seinem Willen und seiner Macht, in unterschiedlichen Graden – in seine Überlegungen einbeziehen muss. Jedes auf diesem Weg zustande kommende „soziale Handeln“ lässt sich (wie die Spieltheorie vorschlägt) als ein „strategisches Handeln“ verstehen, wobei (im vorliegenden Fall) weniger wichtig ist, ob sich die Akteure durch direkte, erwartungsgesteuerte Interaktion oder vermittels der von ihnen produzierten „Externalitäten“ erreichen und beeinflussen73. Diese Einsicht in die Wechselabhängigkeiten ihres Handelns ist wichtig, weil von ihr die Zulässigkeit und Zwangsläufigkeit des zweiten Erklärungsschritts abhängt, der darin besteht festzulegen, wie die verschiedenen, durchweg eigeninteressierten Akteure ihr Handeln derart miteinander verknüpfen können, dass bestimmbare Erfolgskonstellationen entstehen und sich durchsetzen können. Diese Verknüpfungsprozesse nun kann man einem verbreitet diskutierten Vorschlag folgend als „soziale Mechanismen“ bezeichnen74, deren Analyse unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist. Zunächst muss man sehen, dass es unterschiedliche solcher Mechanismen gibt und dass sich die Nachfrage nach ihnen wie ihre kollektive Durchsetzungschance nach Umfang und Art der Probleme richten, auf welche die Akteure bei ihrem Versuch stoßen, ihre jeweiligen Interessen angesichts der z.T. gegenläufigen Ansprüche und unbestimmten Zulieferungsversprechen anderer durchzusetzen bzw. so aufeinander abzustimmen, dass (desaströse) Behinderungen und Schädigungen der eigenen Zielsetzungen unterbleiben (oder im Vergleich zu erreichbaren (oder drohenden) Alternativen zumindest minimiert werden können). Es hat sich, wie ich glaube, relativ deutlich gezeigt, dass man bei der fälligen Definition dessen, was als ein solches „Abstimmungsproblem“ gelten kann, auf die jeweilige Handlungstheorie, mit deren Hilfe man das individuelle Han72 Wie sie sich diese Ressourcen beschaffen können, ist dann ein vorgelagertes Erklärungsproblem, das eigens zu lösen wäre. 73 Vgl. für diesen Unterscheid Boudon 1980. 74 Vgl. Pickel 2004, Mayntz 2002, Mayntz 2004, Esser 2002, Bunge 2004 (und die anderen in Schmid 2006 behandelten Autoren, wie Merton selbst, aber auch Lindenberg, Hedström/ Swedberg, Boudon und Fararo).
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deln als ein opportunitätsbedingtes, intentional gesteuertes und zugleich an bestmöglichen Auszahlungen interessiertes Handeln erklärt, nicht verzichten kann. Oder anders ausgedrückt: Nur im Lichte einer Handlungstheorie können wir entdecken, mit welchen positiven oder negativen Kollektivfolgen die Akteure rechnen sollten, wenn sie sich angesichts der jederzeit möglichen Gegenwehr bzw. der in der Regel schwankenden Zuleistungsbereitschaft anderer in spezifischer Weise für oder gegen eine Zusammenarbeit oder Auseinandersetzung mit ihnen entscheiden. Viele Autoren halten in diesem Zusammenhang die Spieltheorie für geeignet75, die erwartbaren (oder logisch möglichen) Auszahlungskonstellationen, auf die „rational“ bzw. eigensinnig verfahrende Akteure in strategischen Interdependenzsituationen stoßen, eindeutig zu bestimmen und damit den Opportunitätsspielraum der Handlungssituation, der ihnen angesichts ihrer gegebenen Präferenzen offen steht, auszumessen. Dabei ist von besonderer Wichtigkeit sich darauf vorzubereiten, dass man im Rahmen der situationslogischen Analyse76 solcher wechselseitig verschränkter Handlungsoptionen immer wieder auf Konstellationen trifft, in denen die untersuchten Akteure wegen der antagonistischen Unversöhnlichkeit ihrer Erfolgserwartungen und Zielvorstellungen Verluste hinzunehmen haben, in denen ihre Opportunismusanfälligkeit und Hinterlistigkeiten77 die optimale Sicherung und Verteilung von Kooperationsgewinnen vereiteln oder in denen (bisweilen auch untragbare) Setup- und Verständigungskosten selbst dann anfallen, wenn die Akteure ebenso gemeinsame wie unstrittige Erträge im Auge haben78. Die genaue Bestimmung der Verteilungsprobleme, mit denen sich die Akteure konfrontiert sehen, ist indessen nur eine notwendige Bedingung dafür, dass sie sich auf die Etablierung und Aufrechterhaltung von Mechanismen bestimmter Form einlassen wollen; ebenso wichtig ist für sie, ob sie handlungsmotivierende Gründe aktivieren können, die es ihnen nahe legen, sich mit ihren Mitakteuren zu verständigen oder auseinander zu setzen. Dabei spielen neben relativ unveränderlichen Grundnachfragen79 mehrere Einflussgrößen eine Rolle: Zunächst dürfte wichtig sein, mit welcher Art von Erträgen sie für den Fall rechnen dürfen, dass sie sich dazu entscheiden, den Interessen Anderer Beachtung zu schen75 So etwa Little 1991, S. 51ff, Cowen 1998 oder Esser 2000a, S. 27ff, Mayntz 2004 u.a. 76 Der an dieser Stelle fällige Bezug auf Popper ist nur halb richtig, insofern Popper Mechanismen nicht behandelt, sondern die Situationslogik als Spiel eines Akteurs gegen die Natur modelliert, vgl. Hedström/Swedberg/Udéhn 1996. 77 Vgl. für eine hübsche Phänomenologie und „Morphologie“ solcher Hinterhältigkeiten und „Intrigen“ von Matt 2006. 78 Vgl. zu dieser Systematisierung der hinter diesen „Gefahren“ stehenden Kooperation-, Koordinations- und Verteilungsprobleme Ullmann-Margalit 1977. 79 Vgl. zur Idee derartiger fundamentaler „Produktionsfunktionen“ Lindenberg 1996 und Esser 1993, S. 299ff und andere Arbeiten dieser beiden Autoren.
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ken; damit ist (wiederum) die mehrschichtige Nachfolgefrage danach angeschnitten, ob die Akteure als Resultat ihrer wechselseitigen Abstimmungsbemühungen private oder kollektive Güter erwarten können, ob diese Güter problemlos teilbar sind oder einem konkurrierenden Konsum unterliegen, in welchem Umfang die Qualität der Güter bzw. der zu ihrer Bereitstellung erforderliche Einsatz (und Aufwand) vorweg absehbar sind oder nicht, ob die Nutzungsrechte an derartigen Gütern zur Gänze oder nur partiell transferiert werden können und anderes mehr80. Und zudem muss man die anfängliche Rechtezuteilung kennen bzw. die „Besitztümer“, die die Akteure im Gefolge ihrer regelmäßig ungleichen Machtausstattung kontrollieren, weil auch davon abhängt, auf welche Beitrags- und Verteilungsregeln81 sie sich zum Schutz ihrer Handlungsinteressen einlassen wollen oder müssen, wobei es infolge der obwaltenden Machtungleichheiten bzw. Interessendivergenzen naiv wäre anzunehmen, dass alle beteiligten Akteure mit jeder Zuteilungslösung zufrieden wären, d.h. jede Modellierung entsprechender Verhältnisse sollte mit suboptimalen und entsprechend kritik- und revisionsanfälligen Verteilungsergebnissen rechnen82. Sind diese Voraussetzungen geklärt, dann kann der Sozialanalytiker herauszufinden hoffen, ob und mit welchen Erfolgsaussichten sich spezifische Mechanismen durchsetzen lassen83; so etwa, ob sich die Etablierung von (unterschiedlich gestalteten) Tauschverhältnissen zur Abgleichung der Ertragsinteressen eignet oder ob man zur Bereitstellung von Abstimmungslösungen Herrschaftsrechte verteilen und gewähren sollte, oder ob man sich besser stellt, wenn man auf moralische Selbstverpflichtung hinarbeitet84, wobei in allen Fällen sicher gestellt werden muss, ob zur Erreichung entsprechender Lösungen kollektive Entscheidungen erforderlich sind oder private Festlegungen des Handlungskurses gestattet werden85, ob und in wie weit der Einsatz von Einfluss und Gewalt Erträge abwirft86, ob Verträge welcher Art abgeschlossen werden müssen87, ob Vertrauen oder soziales (und andersgestaltetes) Kapital akkumuliert werden kann88, ob Schädigungen vermieden werden können bzw. kompensierbar sind89 80 Die Theorie der (individuellen und kollektiven) Eigentumsrechte kümmert sich um diese handlungssteuernden Aspekte, vgl. Barzel 1989, Libcap 1989, Ostrom 1990 u.a., aber auch die Theorie des „Bescheißens“, vgl. Malho 1993. 81 Vgl. für diese beiden Regelungsprobleme Vanberg 1982. 82 Vgl. Hirschman 1974, Lichbach 1998 83 Als Problemübersicht Schmid 2004, S. 247ff 84 Vgl. für diese Typisierung von Mechanismen Wiesenthal 2000, Schmid 2004 u.a. 85 Vgl. Coleman 1986, S. 15ff 86 Vgl. Gambetta 1993, Boehm 1994, Nowosadtko 2002, S. 180ff 87 Vgl. zu diesem Thema Schweizer 1999. 88 Vgl. hierfür selbstverständlich die Arbeiten Bourdieus (z.B. Bourdieu 1992, S. 46ff). 89 Vgl. Sened 1997
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und anderes mehr90. Die offensichtliche Vielgestaltigkeit und Unabgeschlossenheit dieses Bedingungskatalogs legt die These nahe, dass die Regulierung eines jeden derartigen Mechanismus auf der relativ unstrittigen Etablierung und segensreichen Wirkung anderer, gewissermaßen „benachbarter“ Mechanismen beruht und dass das in aller Regel (theoretisch ganz) undurchsichtige Ineinandergreifen verschiedener Abstimmungsmechanismen darauf hoffen lässt, dass die Akteure – trotz ihrer unabänderlichen Ignoranzen – wenigstens auf Zeit eine befriedigende Sicherung ihrer Abstimmungserfordernisse finden können oder doch zumindest eine, die keiner für sich alleine, aber auch in Koalition mit anderen einseitig aufkündigen kann, was die an Veränderungen uninteressierten Akteure erwartbarerweise verhindern möchten91. Ob sich eine solche dauerhafte Stabilisierung der Abstimmungsverhältnisse allerdings durchsetzen lässt, ist eine offene Frage; tatsächlich ist die Sozialtheorie von ihren Anfängen an mit dem offenbar nicht abschließbar zu lösenden Problem beschäftigt, ob und unter welchen Umständen es den Akteuren gelingen kann, einmal eingefahrene (oder wie es hieß: „funktionale“ oder „organische“) Beziehungsformen aufrecht zu erhalten, oder ob sie sich dazu gezwungen sehen, sie umzugestalten oder gar aufzugeben, was seinerseits nicht unter allen Umständen zu befriedigenden Ergebnissen führen muss92. Fest steht freilich, dass es zur angemessenen Antwort auf diese Frage nach der „sozialen Ordnung“ bzw. deren „Wandel“ zweier weiterer Erklärungsschritte bedarf. Zunächst ist jener Schritt zu vollziehen, der in letzter Zeit unter der Bezeichnung „Aggregierungsproblem“ diskutiert wird93. Die Lösung dieses Problems erfordert die Entwicklung einer Vorstellung darüber, mit welchen „kollektiven Folgen“ ihrer gemeinsamen Abstimmungsversuche die Akteure zu rechnen haben. Bei deren Bestimmung tritt allerdings eine Reihe von Schwierigkeiten auf: So hat man geglaubt, hierzu ausschließlich analytische Aussagen zu benötigen, mit deren Hilfe man rechnerisch kontrolliert und entsprechend umstandslos angeben kann, wie sich die Kollektivfolgen sozialer Verkehrsverhältnisse aus den Einzelhandlungen ergeben94. Ich halte dies für unzureichend bzw. fehlerhaft. Tatsächlich resultieren die Kollektivfolgen mechanismisch organisierten Handelns nicht als Folge formal-analytischer „Transformationsregeln“, sondern als in vielen Fällen erst zu entdeckende, nicht-analytische Konsequenz der (möglicherweise auch ganz mangelhaften, ja anomischen) Rechtsregulierungen, die einem bestimmten 90 Auch an die genetische Assimilierung entsprechender Dispositionen wird bisweilen gedacht, vgl. Boyd/Richerson 2005. 91 Vgl. Lenski 1966, Stinchcombe 1998 92 Vgl. Tainter 1988 93 Vgl. Coleman 1990 94 Vgl. Lindenberg 1977, Esser 2000, Hedström 2005
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Mechanismus zugrunde liegen95. D.h. aber, man muss die regelbasierte Funktionsweise eines eingefahrenen Mechanismus bereits kennen, um seine Folgewirkungen zu identifizieren, was seinerseits dadurch erschwert ist, dass die Akteure damit rechnen müssen, dass sich diese Effekte ungewollt, gegen die vorherrschenden Absichten einzelner oder aller oder – wie es ein berühmtes Diktum weiß – „hinter ihrem Rücken“ ergeben. D.h. die Wirkungsketten, die die Kollektivfolgen mit den organisierten Handlungen der Akteure verbinden, sind unterschiedlich lang und verschieden komplex bzw. in ganz unterschiedlichem Grad durchschaubar (und damit antizipierbar). Ich würde die durchweg schwierige Untersuchung dieser Fernfolgen des Abstimmungshandelns allerdings nicht mit der Auffassung belasten, dass man dann nicht mit ihnen zu rechnen hat, wenn die Akteure überlegt96 und entsprechend erfolgssicher handeln können97; vielmehr verdanken sich auch gelungene oder zielförderliche Handlungen bzw. das Auftreten beabsichtigter (und erwarteter oder auch erwünschter) Folgen der Funktionsweise von in aller Regel undurchsichtigen Abstimmungsmechanismen oder eigens in dieser Richtung wirksamen „Mechanismen der Störungsverhinderung“98. Allerdings ist mit der Identifikation kollektiver Handlungsfolgen nicht zugleich entschieden, wie sich die Akteure ihnen gegenüber zu verhalten hätten und ob sie überhaupt dazu in der Lage sind, auf sie zu reagieren; entsprechend benötigen wir zur Vervollständigung unserer Erklärungsaufgabe einen weiteren (und letzten) Erklärungsschritt. Um zu beurteilen, wie sich die Aggregationsoder „Kompositionseffekte“ ihres gemeinsamen Handelns auf ihre Folgeentscheidungen und damit auch auf die Reproduktions- oder Umgestaltungswahrscheinlichkeit eines untersuchten Mechanismus auswirken, benötigt der Forscher zusätzliche Informationen über deren „rekursiven“ Wirkungen, die er sich, gerade weil die Akteure zumal über die verdeckten Effekte ihres Abstimmungshandelns oft nur unzureichend informiert sind, nur dort beschaffen kann, wo er in Erfahrung zu bringen weiß, in welcher Richtung sich derartige Kollektiveffekte der Abstimmungsmechanismen auf die subjektive Bereitschaft der Akteure auswirken, ihr Handeln weiterhin so auszurichten, dass sie wechselseitig vereinbarte Abstimmungserfolge erwarten dürfen99. Dabei muss er auch damit rechnen, dass die Akteure sich jenen Rückwirkungen, die in ihren Augen von zweifelhaftem Wert sind, gerne entzögen, was ihnen andererseits – wie wir wissen – keinesfalls regelmäßig und zwangsläufig gelingt, während es ihnen in anderen Fällen infol95 Dass man entsprechende Kollektivfolgen als eine statistisch gewonnene Größe beschreiben kann, ist unleugbar; eine solche Beschreibung ist m.E. aber nicht Bestandteil der Hypothese, die ihre Genese erklärt, vgl. Schmid 2006. 96 Das ist die These von Balog/Cyba 2004. 97 Diese These haben Popper, Collingwood und Hegel vertreten. 98 Mayntz 1997, S. 132 99 „Wie“ sie das tun, erklärt die unterlegte Handlungstheorie.
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ge einer Fehleinschätzung ihrer nunmehr veränderten Möglichkeiten verweigert sein mag, ihre jeweiligen Beziehungsformen weiter zu pflegen, auch wenn sie dies wollen100. Interpretationen Die Zerlegung mechanismischer Erklärungsargumente in vier Schritte erfordert einige Erläuterungen, die sich zum einen Teil auf ihre Vereinbarkeit mit dem Hempelschen Erklärungsideal beziehen und zum anderen die Heuristik näher beleuchten sollen, auf die ein derartiges Erklärungsverständnis glaubt zurückgreifen zu können. Mehrstufigkeit und Deduktion Zunächst sollte deutlich geworden sein, dass die behandelte Erklärungsfigur insoweit vom einfachen Hempelschen Modell abweicht, als sie darauf besteht, dass sozialwissenschaftliche Erklärungen gestaffelte Mehrebenenerklärungen darstellen101. Dem ursprünglichen Sinne einer Hempelschen Erklärungslogik entspricht dabei nur der erste Erklärungsschritt, in dem es darum geht, das Handeln einzelner Akteure zu erklären. Zu diesem Zweck sind zwei zusammenlaufende Erfordernisse zu erfüllen: Zum einen sollte jede Erklärung des Einzelhandelns auf nomologische Annahmen darüber zurückgreifen können, wie sich einzelne Akteure auf eine bestimmte Handlung festlegen. Die betreffenden (psychologischen) Mechanismen, die intensiv zu beforschen vor allem Jon Elster immer wieder empfiehlt102, beschreibt eine (strikt individualistische) Handlungstheorie, die Kausalcharakter insoweit besitzt, als sie bestimmte motivationswirksame, das individuelle Handeln „energetisierende“ Prozesse benennt, die angeben, mit Hilfe welcher Kapazitäten und auf der Basis welcher Sichtweise und Bewertung ihrer Problemlage und Möglichkeiten Akteure Entscheidungen fällen. Soweit zu sehen ist, behandeln alle in Frage kommenden Handlungstheorien das Wahlhandeln der Akteure als eine (rein) individuelle, intentionale und selbstgesteuerte Eigenleistung, die als solche erklärt werden muss. Ich unterstel100 In allen diesen Fällen muss der Forscher „klüger“ und „weitsichtiger“ sein als seine Probanden, was voraussetzt, dass er nicht nur die subjektive Sicht- und Handlungsweise der Akteure „rekonstruieren“ können sollte, sondern auch deren „objektive“ Situationserfordernisse und -möglichkeiten. 101 Hempels Position ist subtiler als ich sie hier referiere, vgl. Schmid 2005. 102 Vgl. Elster 1979, Elster 2000
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le, dass sich unser (im engeren Sinne sozialwissenschaftlich relevantes) nomologisches Wissen ausschließlich auf die Genese bzw. die „Selektion“ – wie Esser sagt – von individuellen Handlungen bezieht (und nicht etwa auf die daraus resultierenden „sozialen Verhältnisse“ und deren Aus- und Rückwirkungen). Diese These hat eine – wie ich denke – nicht-triviale Folge: Wenn es richtig ist, dass wir keine sozialen Gesetze kennen, die es erlauben würden, ein sozialstrukturelles Explanandum direkt aus einem Explanans abzuleiten, wie es das DN-Modell der Erklärung vorschreibt, dann besteht keine Möglichkeit, sozialwissenschaftliche Erklärungen ohne Rückgriff auf eine zu unterlegende Handlungstheorie zu konstruieren; sozialwissenschaftliche Erklärungen („sozialer Phänomene“) rekurrieren in diesem Sinn zwangsläufig auf einen handlungstheoretisch-nomologischen „Kern“103. Oder in anderer Wendung formuliert: Soziale Phänomene gelten nur in dem Umfang als erklärt, in dem es gelingt, ihre Genese, Funktionsweise und Reproduktion oder Umgestaltung (in letzter Instanz) aus dem individuell-adaptiven Handlungen einzelner Akteure zu erklären104, und zwar ohne – wozu Soziologen neigen – die Bedingungen ihres eventuellen Abstimmungserfolgs in die unterlegten Handlungskonzepte „hinein zu definieren“105. Damit ist – wie dies der basalen Vorstellung des Methodologischen Individualismus entspricht – gefordert, dass soziale oder makroskopische Explananda, die auf einer bestimmten Ebene n (oder n + x) angesiedelt sind, im Lichte einer (kausalen) Theorie des individuellen Wahlhandelns, die sich auf der Ebene n-1 bewegt, erklärt werden müssen; in diesem Sinne verfährt die sozialwissenschaftliche Erklärungspraxis mikrofundierend (oder – wie es andernorts heißt – in Form sogenannter „Tiefenerklärungen“106). Damit ist auch gesagt, dass die Verfertigung derartiger Tiefenerklärungen nur möglich ist, wenn – wie angedeutet – eine zweite Voraussetzung realisiert ist. Da Handlungstheorien ausschließlich die psychischen Mechanismen der Handlungsselektion benennen, benötigen wir zu ihrer Erklärung – neben den ablei103 Vgl. Esser 1993, S. 95, Esser 2004, S. 34, 37 104 Vgl. Lindenberg 1977, Lindenberg 1992, Little 1991, Little 1998. Wahlweise kann man auch auf gruppenbezogene Produktionsfunktionen zurückgreifen, wenn sich die entsprechenden Homogenisierungshypothesen, die den Gleichlauf bestimmter Entscheidungen unterstellen, bewähren, vgl. für diese Vorgehensweise Mayntz 2004, S. 246ff und Mayntz/Scharpf 1995, S. 50. Unter welchen Bedingungen das der Fall sein wird, müssen Theorien des kollektiven oder öffentlichen Entscheidens klären, die ihren Ausgang in der Entdeckung von „Paradoxa“ des individuellen Entscheidens genommen hatten, vgl. für die beiden bekanntesten Unstimmigkeiten Arrow 19782 und Sen 1974. 105 Damit verschafft man einem „Mythos des sozialen Handels“ Platz, vgl. Collins 1996. 106 Watkins (1992, S. 127) spricht davon, dass ein Erklärungsprogramm u.a. nach der „zunehmenden Tiefe“ (und „Weite“) zu beurteilen ist, und Bunge (1967, S. 26ff) fordert die Wissenschaftler auf, (mit Hilfe der Erforschung von Mechanismen) „tiefere Erklärungen“ zu geben. Ich habe nicht klären können, woher der Begriff „Tiefenerklärung“ stammt.
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tungsnotwendigen Antecedensbedingungen der (individuellen) Handlungstheorie – Angaben über die Handlungssituation der Akteure und die erst daraus resultierende Problemlage des Akteurs. Solche Angaben müssen in der Form von (situationsspezifischer) Zusatzhypothesen eingeführt werden, welche die (eigenständigen, überindividuellen) Einflussqualitäten struktureller Verhältnisse anerkennen und darauf verzichten, diese logisch auf Handlungs- oder Verhaltensannahmen zu reduzieren107. Statt dessen ist davon auszugehen, dass ihre externen oder situativen Umstände das (mental organisierte) Entscheidungshandeln der Akteure in kontingenter Weise restringieren oder „kanalisieren“108, nicht aber in einem direkten Sinne „kausal bewirken“, wie wir dies für die (psychisch-intern gesteuerte) Genese ihrer Handelns unterstellen109. Der erste Erklärungsschritt gelingt also nur dort, wo wir auf unabhängig von der jeweiligen Handlungstheorie prüfbare Hypothesen über die situativen (oder „strukturellen“) Opportunitäten der Akteure zurückgreifen können110. Theorietechnisch bedeutet dies, dass wir mit der Einführung derartiger Situationsannahmen die (erste) Ebene der (theoriegeleiteten) Modellierung betreten. D.h. in Anwendung der Handlungstheorie auf die aktuelle Entscheidungssituation des Akteurs verfertigen wir ein „Situationsmodell“ über (prinzipiell und unvermeidbar) kontingente, das Einzelhandeln anleitende Bedingungen und Zusammenhänge, wobei unterstellt bleibt, dass diese Modellierungsarbeit keine (deterministischen oder verallgemeinerungsbasierten) Gesetze (über die Eigenheiten sozialer Situationen) zu Tage fördern wird, sondern die höchst variantenreichen Bedingungskonstellationen zu erheben hat, die das situative Geschehen – wie die jeweils unterlegte Handlungstheorie nahe legt – für die einzelnen Akteure bedeutsam und handlungsbestimmend machen. Freilich blendet jedes Situationsmodell dieser (simplen) Form die (mögliche strategische) „Verflechtung zahlreicher Handlungen“111 aus bzw. setzt deren (erklärungslogische) Problemlosigkeit voraus. Wenn uns die Beantwortung der Frage interessiert, wie diese (in aller Regel problembehafteten) „Interdependenzen“ ihrerseits (aus dem individuell zu erklärenden Handeln einer Mehrzahl von Akteuren) entstehen, müssen wir wiederum auf Zusatzhypothesen darüber zurückgreifen, wie und unter welchen Bedingungen eine konflikt- und störungsfreie Abstimmung des Handelns mehrerer 107 Vgl. Grafstein 1992 108 Vgl. Albert 1972 109 Vgl. Lloyd 1993. Viele Deutungen mechanismischer Erklärungen leiden daran, dass sie diese Unterscheidung nicht beachten, dann aber festhalten, dass „soziale Sachverhalte durch Mechanismen zu erklären, eine Konstellation von Ursachen zu identifizieren (bedeutet), deren Wirkung durch das Handeln von Akteuren in Gang gesetzt wird“ (Balog/Cyba 2004, S. 40). 110 Dies Sachlage dürfte etwas komplizierter sein, weil wir „Situationsannahmen“ auch dazu verwenden müssen, zu prüfen, ob unsere (jeweilige) Handlungstheorie wahr ist. 111 Mayntz 1997, S. 20
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(eigenwilliger) Akteure zustande kommt. Dazu gehört nicht nur die Annahme, dass zu diesem Zweck der Rückgriff auf erwartungssichernde Regeln sinnvoll sein wird112, sondern auch eine Vorstellung darüber, unter welchen Umständen eigeninteressierte Akteure die Bereitschaft aufbringen, derartige Regeln zu etablieren und sich an sie halten bzw. – falls erforderlich und möglich – Regelrevisionen einzuleiten113. Das aber heißt, dass an dieser Stelle zumindest ein interdependenzsteuernder Mechanismus zu benennen wäre bzw. eine das Wechselhandeln regulierende Institution (im Sinne von Douglass North114), die wir aber nicht als „Sache“ (oder als einen „Gegenstand“), sondern auch dann als höchst kontingente und entsprechend variable Prozesse115 der zwischenmenschlichen Handelnsabstimmung verstehen müssen116, wenn wir davon auszugehen haben, dass sie – als „soziale Tatsachen“ wirkend – die möglichen Handlungsfreiheiten der einzelnen Akteure mit unabdingbaren Grenzen versehen. Die Aufgabe besteht somit darin, das „Prozessmodell eines Mechanismus“ zu erarbeiten, das die sozialen (oder „strukturellen“117) Rahmenbedingungen nennt, angesichts derer sich eigensinnige Akteure den wechselseitigen Verzicht abringen, ihren maximalen Nutzen auch dort zu suchen, wo dies mit der (unakzeptablen) Schädigung der Interessen ihrer Mitakteure verbunden zu sein pflegt. Im dritten und vierten Erklärungsschritt wird dann zum Thema, dass die Existenz bestimmter Mechanismen nicht-reduktive (oder „emergent“ wirkende) Kollektiveffekte nach sich ziehen wird, die ihrerseits (vermittelt) über ihren rückwirkenden Einfluss auf die Handlungsmöglichkeiten, Situationswahrnehmungen und Handlungsgründe der Akteure Auswirkungen auf ihre weiteren Entscheidungen und in deren Gefolge wiederum auf die Bestands- bzw. Umgestaltungswahrscheinlichkeiten der betreffenden Mechanismen haben sollten. Wichtig ist, dass wir wegen der Unbestimmtheiten der individuellen Handlungs-
112 Vgl. für die These von der schädigungsminimierenden Folge von Regeln Ullmann-Margalit 1977 und für die einsichtsreiche Schilderung (stabiler) anomischer Verhältnisse, in denen keine solchen Regeln gefunden werden können, Waldmann 2002. 113 Vgl. Baurmann 1996, Schmid 1998, Schmid 2004; die (in ähnlicher Richtung verlaufenden) moraltheoretischen Argumente fasst Bayertz 2004 zusammen. 114 Vgl. North 1988, North 1992, North 2005 115 Vgl. Mayntz 2004 116 Bislang hat sich meiner Beobachtung nach (noch) keine einheitliche Bezeichnung für derartige („sozialen“) Interdependenzmechanismen durchgesetzt. Ich selbst spreche von „Abstimmungsmechanismen“, weil sie funktional wichtig sind für die Lösung von dilemmatösen Abstimmungsproblemen, die die Akteure nur in dem Umfang bearbeiten können, in dem sie sich auf die Etablierung entsprechender lösungsgeeigneter Mechanismen einlassen. 117 Esser (2000, S. 27ff, und 2002, S. 144ff) spricht deshalb davon, dass die Verfertigung von soziologischen Erklärungen auf die gelingende Konstruktion sogenannter „struktureller Modelle“ angewiesen bleibt.
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entwürfe118 auch in diesem Zusammenhang nicht auf „Gesetzmäßigkeiten“ verallgemeinerungsfähiger Art stoßen werden; statt dessen benötigen wir zur Kennzeichnung der Kollektiveffekte und derer Rekursionswirkungen kontingente Hypothesen, deren Informationen wiederum über das hinausreichen, was wir über die Etablierung und Funktionsweise der Mechanismen (selbst) wissen müssen (und können)119. Die äußere logische Form des daraus zu konstruierenden Erklärungsarguments ist indessen nicht nur mehrstufig, sondern (zugleich und wie bereits angedeutet) auch – wie das Hempelmodell der Erklärung es einfordert – deduktiv. Das gilt sowohl für die Erklärung individueller Handlungen, als auch für die nächsten Erklärungsschritte, in denen wir – ausgehend von Handlungs- und Situationsannahmen bezüglich einer Mehrzahl von Akteuren – nach (logisch zwingenden) Ableitungen über ihre möglichen Interdependenzen oder über die daraus resultierenden Konsequenzen für die Ausbildung von Mechanismen und endlich über deren rückwirkenden Kollektivfolgen suchen. Indem wir diese vier Erklärungsschritte deduktiv aufeinander aufbauen, lässt sich die Argumentation vervollständigen und zugleich („rekursiv“) schließen, wobei das Durchschreiten des gesamten Arguments logisch daran gebunden ist, dass die Faktoren, die im jeweils vorherigen Erklärungsschritts behandelt wurden, als Parameter bzw. Randbedingungen der nachfolgenden Schritte fungieren können. Dabei ist – wie mehrfach angedeutet – zu beachten, dass jeder weitere Erklärungsschritt Zusatzannahmen über die Eigenheit der ebenenspezifischen Umstände erfordert, deren Auswahl wiederum nur möglich ist, wenn das Explanandum des jeweiligen nächsten Erklärungsschritts feststeht, was (erfreulicherweise) zur Präzisierung unserer (modellrelevanten) Erklärungsabsichten und -probleme zwingt120. Diese 118 Vgl. Hardin 2003 119 Um derartige Hypothesen von den übrigen abzugrenzen und Verwechslungen zu vermeiden, sollte es sinnvoll sein, Aussagen über die Genese mechanismisch produzierter Effekte von solchen über deren Rückwirkungen auf die individuellen Situationsdeutungen und den darauf aufbauenden Handlungsmotiven bzw. Handlungswahlen zu unterscheiden. Soweit ich sehe, kann man zur Bezeichnung von Aussagen über die Effekte von Abstimmungsmechanismen unter einer Mehrzahl von Bezeichnungen wählen („kollektive Effekte“ (Lindenberg), „Aggregationseffekte“ (Coleman), „Kompositionseffekte“ (Boudon) bzw. „strukturelle Effekte“ (Blau) u.a.), während sich zur Kennzeichnung ihrer rückkoppelnden Wirkungen noch kein einheitlicher Name durchgesetzt hat. Ich spreche in Anlehnung an den Luhmannschen Sprachgebrauch (vgl. Luhmann 1984 und Luhmann 1997) von „rekursiven Effekten“. 120 Hartmut Esser hat (deshalb) vermutet, dass das Gesamtargument einer mikrofundierenden Erklärung die logische Form einer – wie Hempel (1965, S. 447ff) sie nannte – „genetischen Erklärung“ wird haben müssen. Ich bin unsicher, ob ich dem zustimmen sollte: Zwar ist richtig, dass damit die Idee zum Ausdruck kommt, dass jeder weitere Erklärungsschritt zusätzliche (strukturelle) Randbedingungen benötigt, um in der Deduktion fortfahren zu können; die erforderliche Mehrstufigkeit der Mikrofundierung aber wird damit nur unzulänglich erfasst. Hempel wollte wohl in erster Linie eine mit seiner Zentralvorstellung vereinbare „Logik der historischen Narra-
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(logisch-geschlossene) Verknüpfung der verschiedenen Erklärungsschritte hat zweierlei Implikationen: Die eine besteht darin, dass auf diese Weise statische Analysen der Funktionsweise und Folgen mechanismischer Abstimmungsverhältnisse in dynamische Modelle darüber überführt werden können, wie sich entsprechende Interdependenzsysteme über die Zeit verhalten, was – wie dies Boudon oder Luhmann seit langem einfordern – „strukturelle Reproduktion“ wie „strukturellen Wandel“ im Rahmen ein und derselben Theorievorgabe bzw. Modellierungstechnik zu behandeln erlaubt; und als eine weitere Implikation wird zugleich deutlich, dass, solange die (zumeist ebenso absichtslosen wie unbestimmten) Konsequenzen ihrer Abstimmungsbemühungen (wie im übrigen auch externe Schocks, unter denen diese leiden mögen) den Akteuren immer wieder neue Handlungsmöglichkeiten und -anreize für veränderte (oder gar innovative) Reaktionen bieten, abschließende oder ultrastabile Gleichgewichte ihrer gesellschaftlichen Verkehrsformen nicht wahrscheinlich sind121. Damit kann man die Beengtheiten der überkommenen funktionalistischen „Ordnungstheorie“ (im Sinne Webers oder Parsons’ und dessen „Schule“) verlassen. Zur Heuristik mechanismischer Erklärung Ich glaube, dass man der Logik eines mikrofundierenden Erklärungsarguments der dargestellten Art und der damit verbundenen Argumentations- und Modellierungs-technik einige heuristische Regeln darüber entnehmen kann, wie vorzugehen ist, wenn man an Entwicklung und Ausarbeitung eines theoriegeleiteten und zugleich prüfungsfähigen Forschungsprogramms interessiert ist. Zunächst gilt, dass niemand sich dazu verpflichten muss, alle Erklärungsschritte zugleich zu vollziehen, oder danach zu trachten, alle Faktoren, die auf den jeweiligen Modellierungsebenen berücksichtigt werden können, zugleich als Variablen zu behandeln122. Wichtig ist nur deutlich anzugeben, welche Einflusstion“ diskutieren; das Mehrebenenproblem hingegen behandelt er an anderer Stelle (Hempel 1965, S. 258f). Man muss die Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit der Hempelschen Auffassung jedenfalls vermerken. 121 Müller-Benedict 2000, Kron 2005 u.a. haben einige der Konsequenzen identifiziert, die sich aus dieser Sachlage für die Modellierungstechnik ergeben. Dynamische bzw. evolutionäre Sozialtheorien haben die Existenz (überdauernder) Gleichgewichte immer geleugnet, vgl. Bühl 1990, Hodgeson 1993, Klüver 2000 u.a. 122 Ein solches Vorgehen würde sich nicht nur den Mangel an Eleganz vorwerfen lassen müssen, sondern wäre auch „technisch“ kaum zu verwirklichen; wo die Grenzen der Modellierungstechnik liegen, können die Simulationstechnik (vgl. Hedström 2005) bzw. die ähnlich gelagerten Versuche der „Sozionik“ (vgl. Kron 2005) zeigen, vgl. für einen Überblick bezüglich des „state of the art“ Fischer/Florian/Malsch (eds), 2005.
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größen wir konstant, gleich 1 oder vor die Klammer setzen123, weil anders weder die Folgerungstreue eines Erklärungsschritts beurteilt noch seine Prüfbarkeit gesichert werden kann124. Da wir bei jedem Erklärungsschritt zusätzliche Hypothesen einführen müssen, um mit unseren Deduktionen fortzufahren, besteht überdies Anlass darüber nachzudenken, woher wir diese Zusatzthesen beziehen können; erfinden wir sie nicht gänzlich neu, sondern entleihen wir sie aus anderen Modellen, dann besteht die Möglichkeit, die aktuelle Arbeit am eigenen Teilmodell mit entsprechenden Parallelversuchen (logisch) zu verknüpfen. Auf diesen Weisen erhält unsere Modellierungsarbeit den von Heelan beschrieben, offenen „Verbandscharakter“125. Zusätzlich stellt sich die Frage, ob wir diese Zusatzannahmen eigens überprüfen müssen oder nicht. Eine abschließende Antwort wird davon abhängen, was wir wissen möchten; bisweilen mag es hinreichen, sich Klarheit darüber zu verschaffen, dass ein erwünschtes Explanandum nur ableitbar ist, wenn die betreffenden Zusatzhypothesen wahr wären, bzw. umgekehrt können wir das Fehlschlagen eventueller Prognosen dadurch erklären, dass die betreffenden Voraussetzungen entgegen unserer verdeckten Erwartungen nicht erfüllt waren. Die Aufgabe ist es dann, sich diese Vermutungen ihrerseits näher anzusehen, womit die fortführenden Forschungsfragen in eine angebbare Richtung gelenkt werden. Jedes (halbwegs entwickelte) Teilmodell erlaubt überdies die Ableitungen von bislang unbedachten Implikationen, die wir ihrerseits testen können, um den Erklärungs- und Wahrheitswert unserer Prämissen einer Überprüfung zu unterziehen, wobei ich darauf zähle, dass – wie im Fall der im letzten Abschnitt genannten Zusatzhypothesen – die Aufmerksamkeit der empirischen Forschung von den üblichen induktiven (und entsprechend theoriefernen) Datensammlungen auf modellierungsrelevante Themenstellungen umgeleitet werden kann126. Auf diese Weise ist eine theoriegesteuerte, an empirischen Bewährungen orientierte Forschung möglich, die den üblichen Standards einer realistischen, wahrheitsgeleiteten und kritikoffenen Methodologie genügt und zugleich die Bedingung einer Lakatosschen „positiven Heuristik“ erfüllt127. 123 Vielleicht lässt sich auf diese Weise auch der Eindruck vermeiden, die Behandlung unterschiedlicher Erklärungsschritte sei als Anwendung verschiedener Erklärungsweisen zu verstehen, den Balog/Cyba 2004, S. 31 erwecken. 124 Zur Bedeutung von Ceteris-paribus-Klauseln vgl. Lakatos 1970, S. 110, Cartwright 2001 u.a. Wenn wir die „übrigen Bedingungen“ nicht benennen – darauf hat Hans Albert bereits vor Jahrzehnten hingewiesen – degenerieren unsere Modellthesen zu inhaltsleeren und entsprechend unprüfbaren Aussagefunktionen, vgl. Albert 1967. 125 Vgl. Heelan 1978 126 Vgl. dazu Esser 2004, S. 28ff. 127 Vgl. Lakatos 1970, S. 135
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Diese Forderung nach Überprüfung gilt auch für die Handlungstheorie selbst. Eine gesonderte Schwierigkeit resultiert in diesem Zusammenhang allerdings daraus, dass sich die Sozialwissenschaften bislang nicht darauf haben einigen können, welche Handlungsannahmen sie ihren Erklärungsversuchen zugrunde legen wollen und wie die unterschiedlichen Vorschläge (logisch) zusammenpassen128. Ich glaube zwar, ähnlich wie Hartmut Esser129, dass alle bisherigen Überlegungen zu einer („allgemeinen“) Theorie es menschlichen Handelns „synthetisiert“ werden können130; ob wir uns um eine solche „Integration“ der verschiedenen „Paradigmen“ bemühen sollten, hängt allerdings zu gleichen Teilen davon ab, ob wir auf eine leistungsfähige Vergleichsmethodologie zurückgreifen können131 und in wie weit wir bei unseren Versuchen, mechanismische und strukturelle Zusammenhänge (handlungstheoretisch) zu fundieren, durch die Erweiterung (oder „Verkomplizierung“) unserer Handlungsprämissen zusätzliche Einsichten auf der Ebene struktureller Zusammenhänge erwarten132. Wenn solche Zusätze möglich und erwünscht sind, dann ergibt es keinen methodologischen Sinn, den Schutz eines handlungstheoretischen „hard core“ zu übertreiben und auf denkbare „Kernerweiterungen“133 zu verzichten. Zu guter Letzt stellt uns die Heuristik eines mechanismischen Erklärungsprogramms selbstverständlich frei, jene Mechanismen zu untersuchen, an denen uns – aus welchen Gründen auch immer – gelegen ist, und man kann auch nicht ausschließen, dass es sinnvoll sein mag, Forschungsprogramme dadurch voneinander abzugrenzen, dass jedem die Aufgabe übertragen wird, sich vornehmlich einem der verschiedenen Mechanismen zu widmen. Dass diese Regel bedenkenlos befolgt wird, erklärt die relativ unstrittige, wenn auch (in neuerer Zeit) nur noch in Resten erkennbare Unterteilung der Sozialwissenschaften in Fachdisziplinen. Die derart eigenständig operierenden Disziplinen sollten aber vorsichtig sein mit der Behauptung, dass alle Abstimmungsprobleme mit Hilfe eines einzigen Mechanismus gelöst werden können134. Diese Behauptung klingt nicht nur imperialistisch, sondern sie ist angesichts der Existenz ganz unterschiedlicher Abstimmungsverfahren sehr wahrscheinlich falsch. Da andererseits die Untersuchung des Zusammenwirkens unterschiedlicher Mechanismen eine schwere Bürde darstellt135, dürfte es (jedenfalls auf absehbare Zeit) vernünftig sein, wenn sich 128 Für jüngere Klärungsversuche vgl. Etzrodt 2003, Schmid 2004, S. 61ff, Wolf 2005. 129 Vgl. etwa Esser 2003a, S. 70f. 130 Zur Vorgehensweise vgl. Schmid 2004, S. 24ff. 131 Vgl. zu einer solchen Methodologie Schmid 2005a. 132 Vgl. Stinchcombe 1993, S. 35, Lindenberg 1992, S. 19 133 Vgl. dazu Stegmüller 1980, S. 37. 134 So sind für Gary Becker alle Verkehrsverhältnisse Marktverhältnisse, vgl. Becker 1982, S. 3. Man sollte Tausch und Markt aber nicht in allen Fällen gleichsetzen. 135 Vgl. dazu Mayntz 1997
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unterschiedliche Forschungsprogramme auf die kontrollierte Ausarbeitung verallgemeinerungsfähiger „Strukturmodelle“ einzelner Abstimmungsmechanismen konzentrieren136 – was vielleicht möglich ist, ohne das eigene (höchst eingegrenzte) Forschungsinteresse mittels der These zu profilieren, die Forschungen der Nachbarprogramme seinen naiv, unvollständig oder irrelevant. Fazit Sozialwissenschaftliche Erklärungen besitzen weder die Form einer reduktiven Verhaltenserklärung (Homansschen Zuschnitts), noch erschöpfen sie sich in „reinen“ Strukturerklärungen, die zur Analyse „sozialer Assoziationen“ alle handlungsleitenden Gesichtspunkte der Akteure beiseite lassen möchten, wie sie etwa Peter Blau beabsichtigt hatte; vielmehr müssen sie den Versuch unternehmen, „makrosoziale Sachverhalte“ (gleich welcher „Ebene“) unter Rückgriff auf eine nomologische Handlungstheorie als emergente Effekte des „Zusammenspiels“ der Handlungen einer angebbaren Mehrzahl von eigeninteressierten und eigenmächtigen Akteuren zu erklären. Dabei ist das einfache DN-Modell Hempelscher Herkunft durch ein vier, nicht aufeinander zurückführbare Erklärungsschritte umfassendes Mehrebenenmodell zu ersetzen. Der mögliche Ausbau einer solchen „Ebenenverknüpfung zum Zweck der Erklärung von Makrophänomenen“137 kann sich einer Heuristik anvertrauen, welche die Erklärungsaufgabe in kontrollierbarer Weise parzelliert und auch dann auf Kurs hält, wenn sich erfahrungswidrige Befunde nicht länger abweisen lassen oder sich infolgedessen die Frage aufdrängt, ob die genauere Erklärung eines spezifischen Effekts nicht die Berücksichtigung weiterer, bislang unbeachteter Einflussgrößen erfordert. Solange wir – wie dies beispielsweise James Coleman, Siegwart Lindenberg und Hartmut Esser vorschlagen138 – mit Hilfe eines Satzes feststehender Handlungsannahmen, die wir im Verlauf der von uns beabsichtigten Strukturanalysen möglichst unverändert lassen wollen, spezifische Mechanismen modellieren und dabei so viele testbare Effekte wie nur möglich zu finden hoffen, verfolgen wir ein „Forschungsprogramm“ (im Sinne Lakatos139). Das ist legitim, sollte aber die Frage offen lassen, ob und an welchen Stellen Brücken zu alternativen Forschungsprogrammen geschlagen werden können140 und inwieweit sich zu deren 136 Vgl. Esser 2002 137 Mayntz 1997, S. 319 138 Vgl. Coleman 1991, S. 11f, Esser 2004, S. 40 und Lindenberg 1977. 139 Vgl. Lakatos 1970 140 D.h. an die Existenz (isolierter) Kuhnscher „Paradigmata“ (vgl. Kuhn 1967) in der Soziologie bzw. in den Handlungswissenschaften glaube ich nicht, vgl. Schmid 2004, S. 93ff. Immer kann
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Auf- und Ausbau (daneben auch) die Revision und Veränderung der bislang unterlegten handlungstheoretischen Annahmen empfiehlt141. Bei der Klärung dieser Fragen sind Dogmatismen fehl am Platz142. Dass die Suche nach derartigen Verbindungen zwischen verschiedenen Forschungsprogrammen zu einem („unifikationistischen“143) Globalmodell führen könnte, in dem alle bisherigen Beiträge zusammenfließen, ist nicht von vorne herein auszuschließen; beim derzeitigen Stand der (zumeist theoriepolitisch induzierten) Auseinandersetzungen und Abgrenzungsbemühungen zwischen verschiedenen Theorie- und Erklärungsprogrammen (oder Disziplinen) wäre es indessen hinreichend, wenn – was bereits, wenn auch selten genug geschieht – wenigstens einige von ihnen in losem Kontakt blieben und sich bisweilen zu klären bemühten, ob sie sich zur Lösung konkreter Forschungsfragen (oder gemeinsamer Interventionsvorhaben) ergänzen oder ob und wo sich die unterschiedlichen Modellierungen widersprechen144. Wie im letzteren Fall zu verfahren ist, um die Degeneration eines derart anomaliebehafteten Theorieprogramms zu verhindern, zeigt der auf die Grundgedanken des Kritischen Rationalismus zurückgreifende „methodologische Revisionismus“, wie ihn Hans Albert145 vertritt. Infolgedessen liegt die Einheit der Sozialwissenschaften weit weniger in ihrem Bestreben nach einer weitausgreifenden „Gesellschaftstheorie“ oder einem (um jeden Preis) vereinheitlichten Begriffsund Themenkatalog, als in der über alle Disziplinen hinweg möglichen methodologisch rationalen Forschungsheuristik, die sich um den erklärungstauglichen Auf- und Ausbau von handlungstheoretisch mikrofundierten Modellierungen der verschiedenen Abstimmungsmechanismen zu kümmern hätte, die die Akteure benötigen und kennen sollten, um zu verstehen, „in welcher Gesellschaft sie eigentlich leben“146.
sich die Frage stellen, inwieweit sich die in einem Programm analysierten Mechanismen auf die des Nachbarprogramms auswirken. 141 Vgl. Hechter 1997, S. 152 142 Insoweit unterliegt der Schilderung der paradigmatischen Vielfalt der Sozialwissenschaften im allgemeinen und der Soziologie im besonderen (vgl. Ritsert 1975, Richter 2001) eine Fehldeutung der Problemlage. 143 In diese Richtung scheint Thomas Fararo zu denken, vgl. Fararo 1987, Fararo 1989, Fararo 2001, Essers Integrationsforderungen beziehen sich nur auf den möglichen Zusammenbau verschiedener handlungstheoretischer „Ansätze“, vgl. Esser 2003, Esser 2003a. 144 Vgl. Schmid/Maurer (Hrsg.) 2003 145 Vgl. Albert 2000. 146 Diese Paraphrase entnehme ich Pongs 1999.
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Transintentionale Mechanismen sozialer Selbstorganisation
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Transintentionale Mechanismen sozialer Selbstorganisation Roman Langer
Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit einem kleinen Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar. (Franz Kafka: Die Bäume) Einleitung1 (1) Manche AutorInnen verbinden Hoffnungen mit dem mechanism-based approach, deren Vollmundigkeit an den systemtheoretischen Anspruch einer grand unified theory erinnert, obwohl sie gerade diese ablehnen. Die Identifikation und Analyse sozialer Mechanismen, so Hedström/Swedberg (1998: 7), sei “of crucial importance for the progress of social science theory and research”; sie ermögliche erst „kumulative[n] Erkenntnisfortschritt“ (Genschel 2002: 22 unter Verweis auf Scharpf und Schimank); sie steigere potenziell die „Wissenschaftlichkeit der Soziologie“ und sogar „die Wahrnehmung der Soziologie im gesellschaftspolitischen Diskurs moderner Gesellschaften“ (Mackert 2003: 417). Diese Anmutungen sind meines Erachtens nur dann gerechtfertigt, wenn der Mechanismen-Ansatz kreativ auf schwer wiegende Probleme reagiert, der sich die Sozialwissenschaft – im Besonderen die Soziologie – gegenwärtig ausgesetzt sieht. Dazu gehört, dazu beizutragen, (a) dass die Soziologie den „Modus 2“ (Gibbons et al. 1994, Nowotny/Scott/Gibbons 2004) der Wissensproduktion beherzigt und ihre empirischen, theoretischen und praxisorientierten Kräfte konzentriert (also die interne Differenzierung zwischen Theorieschulen, zwischen Bindestrichsoziologien, zwischen Empirie, Praxis- bzw. Anwendungsorientierung und Theo1
Konsequenzen vielfältiger Diskussionen mit Lars Winter, dem ich dafür herzlich danke, sind in diese Arbeit eingegangen; Rainer Greshoff hat dankenswerter Weise eine frühe, noch völlig andersartige Version kommentiert. Für Fehler zeichnet selbstverständlich allein der Autor verantwortlich. Diese Arbeit entstand im Forschungszusammenhang des DFG-geförderten SozionikProjekts Dispo an der Universität Hamburg, Institut für Soziologie und Arbeitsbereich Theoretische Grundlagen der Informatik.
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rie et cetera, ergänzend um eine integrierende Perspektive erweitert), und (b) dass die überaus zahlreichen Erklärungsmodelle unterschiedlichster sozialwissenschaftlicher Provenienz systematisch inventarisiert, verglichen, wo möglich kombiniert und in einen soziologischen Erklärungs-„Werkzeugkasten“ eingeordnet werden. (2) Diese grenzüberschreitenden Anstrengungen können dazu führen, besonders komplexen und betonierten gesellschaftlichen Problemlagen analytisch besser beikommen zu können als bisher – sie also besser erklären und bearbeiten, in glücklichen Fällen: lösen zu können. Daran ließe sich die Wirksamkeit soziologischer Instrumente und Ergebnisse öffentlich besser als bisher demonstrieren; auch dadurch, dass AbsolventInnen mit handfesten Erklärungsmodellen ausgestattet würden, deren Wirksamkeit sie in ihren Berufen nutzen und einfach durch Anwendung demonstrieren könnten (was nicht zuletzt zu befriedigenderen Erfahrungen der Selbstwirksamkeit führen würde). Sofern die kombinierten Erklärungsmodelle fachintern akzeptiert wären – dies wird nur möglich, wenn es ihnen gelingt, mehr oder minder implizite fachliche Konsense zu explizieren – würden sie zudem als eine einheitliche soziologische „Zunge“ wahrnehmbar, die es dem Fach erlaubte, in der Außendarstellung besser identifizierbar zu werden und selbstbewusster nicht nur mit der Öffentlichkeit, sondern auch interdisziplinär in Dialog und Kooperation zu treten (oder diese, wenn nötig, ebenso selbstbewusst zu verweigern), um auch hier gemeinsam komplexe Probleme zu bearbeiten. Letztlich trüge die Soziologie erfahrbar dazu bei, transintentionale Mechanismen des Sozialen stärker als vorher intentional verfügbar und dem gezielten Eingriff zugänglich, möglicherweise also auch änderbar zu machen, indem sie als Optionenheuristik (Wiesenthal 2002) auf potenzielle, aber nicht realisierte Modifikationschancen und Entwicklungsmöglichkeiten gesellschaftlicher Verhältnisse aufmerksam machte. (3) Von der Logik des aktuellen Wissenschaftsbetriebes bis zum mangelnden Interesse öffentlicher und soziologischer Akteure spricht zwar fast alles gegen die Entwicklung einer solchen „Eier legenden Wollmilchsau“, zumal sie nur in einer kollektiven Anstrengung zu erzeugen wäre,2 aber ich fürchte, gerade die Soziologie hat keine Alternative, wenn sie sich als relevante, kritische und nützliche Wissenschaft rekonstituieren will, statt ihren Untergang teilnahmslos hin2
Und nicht, wie einige Vertreter des Mechanismen-Ansatzes zu meinen scheinen, durch Einführung und Befolgung einer neuen methodologisch-technischen Vorschrift für sozialwissenschaftliche Erklärungen. „Dass eine Entdeckung die Umstrukturierung vorhandener Ansichten veranlasst, ist nie ausschließlich durch logische Erwägungen … begründbar“ (Horkheimer 1992: 211), sondern vor allem durch Rekurs auf gesellschaftliche Tendenzen. Die Wissenschaftsgeschichte ist voll von Belegen für diese These, man muss deshalb nicht erst auf Phänomene wie den Bologna-Prozess oder die eigentümliche Akzeptanz des internationalen Wettbewerbs durch Politik, Wirtschaft, Bildung usw. als alles rechtfertigender Kategorie ins Feld führen.
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zunehmen. Immerhin scheinen erste Initiativen diese Richtung einzuschlagen, und zu ihnen zählt der mechanism-based approach. (4) Freilich ist nicht leicht erkennbar, warum. Denn bislang ist auch der Mechanismen-Ansatz alles andere als einheitlich oder wohlgeformt. Schon die Verwendung des Terminus „Mechanismus“ weist in der Soziologie zwar eine lange Tradition auf – aber nur als „Proto-Konzept“ (Merton; vgl. Hedström/Swedberg 1998: 5), versehen mit ungeklärten, oft impliziten und unterschiedlichen Bedeutungen. Heute, nach seinem Wiedereintritt in die sozialwissenschaftstheoretische Debatte,3 ist „Mechanismus“ (wie andere sozialwissenschaftlichen Modebegriffe) ein umbrella concept für teilweise sehr verschiedene Phänomene.4 3
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Schmid (2005: 47-48) gibt einen kurzen Abriss des Wiedereintritts des Mechanismenbegriffs in die sozialwissenschaftliche Diskussion. Als bisherige Kulminationspunkte des MechanismenDiskurses können sicherlich der Sammelband von Hedström und Swedberg (1998) und die aktuelle Debatte in der Zeitschrift Philosophy of the Social Sciences (2003ff.) gelten. Vgl. dazu Mayntz (2003: Abschnitt 1): “But a survey of the relevant empirical and methodological literature soon bogs down in a mire of loose talk and semantic confusion about what ‘mechanisms’ are. There are not many social scientists or philosophers of science who have tried to deal with the topic more systematically. … A still incomplete list of definitions assembled by Mahoney (2001: 579-560) counts 24 different definitions by 21 authors. … The term mechanism is moreover applied to a host of highly diverse phenomena …” – Um dies zu unterstreichen, benenne ich einige der Mechanismen, die in der Literatur seit 1998 auftauchen: Hedström/ Swedberg nennen in ihrem programmatischen Einleitungsartikel folgende Mechanismen: Wie die protestantische Ethik zu einer neuen Norm für wirtschaftliches Verhalten führt (Max Weber), der lachende Dritte (Simmel), wie die Balance zwischen Individuum und Gruppe die Selbstmordrate beeinflusst (Durkheim), Zweistufenmodell der Kommunikation, self fulfilling prophecy, Matthäus-Effekt, Diffusion medizinischer Innovationen (Merton); Netzwerkdiffusion (Coleman); treshold-based behavior/band-wagon effect (Granovetter); wie maximierende Individuen einen Markt kreieren (Stinchcombe). Terpe (1999) nennt unter Rückgriff auf Durkheim vier „emotionale Mechanismen“: Schaffung sozialer Distanzen zwecks Konstitution von Bedeutungen, Differenzierende Bewertung der voneinander distanzierten sozialen „Kategorien“, Vergegenständlichung und Symbolisierung der „Klassen“ bzw. „Kategorien“ durch Zuordnung sichtbarer Zeichen, Verbergen des sozialen Ursprungs und damit der Kontingenz (Willkür) der Vergegenständlichungen /Symbolisierungen. Vier Mechanismen, die Ludwig-Mayerhofer (1998: 227-228) der Eliasschen Zivilisationstheorie entnimmt, lauten: Monopolisierung, Modernisierung („Prozesse der gesellschaftlichen Funktionsdifferenzierung sowie der Überwindung von Raum- und Zeitgrenzen“, „Ausweitung der Interdependenzketten“), Binnengruppendistinktion und Zwischen-Gruppen-Distinktion. Stichweh (2001) benennt drei Mechanismen zur Erzeugung der Weltgesellschaft: Globale Diffusion institutioneller Muster, global interrelatedness, Dezentralisierung in Funktionssystemen. Beetz (2003) veranschlagt Organisation und Öffentlichkeit als politische Koordinationsmechanismen. Als Steuerungsmechanismen für Unternehmensnetzwerke gelten bei Staber (2000) Netzwerkkultur, Unternehmensreputation, Zugangsbeschränkungen und Sanktionen. Mackert (2003) rekonstruiert aus Durkheims Theorie Mechanismen gesellschaftlicher Transformation und Stabilisierung: Institutionalisierung von Berufsgruppen, Entwicklung und Institutionalisierung moralischer Regeln, Kommunikation zwischen Individuen und Staat, Partizipation der Bürger an der öffentlichen Sphäre, Etablierung einer Machtbalance zwischen Staat und intermediären Organisationen. Mechanismen zur Erzeugung geschlechtsspezifischer Ungleichheiten finden sich bei Cyba (2002): Soziale Schließung, Ausbeutung, Öffentlicher Tra-
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(5) Dieser Beitrag will nun nicht einen Klärungs- oder Vereinheitlichungsvorschlag für den gesamten Mechanismen-Ansatz unterbreiten. Vielmehr entwickelt er eine spezifische Mechanismen-Konzeption, die meines Erachtens am ehesten in die Richtung der oben bezeichneten grenzüberschreitenden Anstrengungen weist: die Konzeption transintentionaler Mechanismen sozialer Selbstorganisation. Die Argumentation beginnt mit Erläuterungen zur Inspiration dieser Konzeption durch die ältere kritische Theorie (Abschnitt 2), klärt die grundlegenden Begriffe „Transintentionalität“ und „Selbstorganisation“ (3) und reflektiert die Relativität mechanismischer Erklärungen (4), bevor sie dann die Modellierung von Mechanismen anhand der Schwerpunkte Erklärungsproblem und Wirkungsanalyse (5) sowie Komponentenanalyse und Optionenheuristik (6) entwirft. Der letzte Abschnitt (7) gibt Beispiele und schließt mit einer notwendig nur skizzierten Aussicht auf die Kombination von Mechanismen-Modellen. Zur Inspiration durch die ältere Kritische Theorie (6) Man mag einem „Mechanismen-Ansatz“ die Neigung unterstellen, „einer Renaissance mechanistischer Gesellschaftsvorstellungen das Wort zu reden“ (Mayntz/ Nedelmann 1987: 667) und wieder zu glauben, soziale Prozesse seien allein „aus mechanischen Ursache-Wirkung-Verknüpfungen ... zu erklären“ (Elias 1977: 131). Nun beschwichtigt Luhmann zwar schon früh, der Mechanismen-begriff habe „seinen Uhrmachersinn abgestreift” (Luhmann 1966: 1), und Sawyer (2004: 260) sekundiert heuer, dass dem Mechanismenkonzept nichts Mechanistisches mehr anhafte. Doch Bunge, Vordenker des Mechanismen-Ansatzes, lässt es sich nicht nehmen, zu formulieren “A mechanism is defined as what makes a concrete system tick” (Bunge, zit. n. Mackert 2003: 417). (7) Inspiriert von der älteren kritischen Theorie sensu Adorno, Marcuse, Horkheimer schlage ich vor, diese potenzielle Schwäche des Mechanismenkonzepts in eine aktuelle Stärke zu verwandeln. Die ältere kritische Theorie folgt ditionalismus, Asymmetrische Aushandlungsprozesse und Kommunikative Abwertung. Demokratisierungsmechanismen sind bei Tilly (2001) u.a. “dissolution of coercive controls supporting current relations of exploitation and opportunity hoarding; education and communication that alter adaptations supporting current relations of exploitation and opportunity hoarding”. Weiter finden sich Mechanismen auf deutlich höherem Abstraktionsniveau: Thematisierungsformen, Handlungsroutinen, Kooperationsmuster, Reputation, Austauschmechanismen/Tausch, Geld, Macht, Wettbewerb, Gewalt, Interaktionstypen (Kooperation, Konkurrenz, Verhandlung und Unterordnung), Elias’ Königs- und Monopolmechanismus (z. B. in Mayntz/Nedelmann 1987: 650651) und der „bürokratische Teufelskreis“ (ebd.: 651-652) – Auch die neueste deutsche Diskussion selbst einander methodologisch recht nahe stehender Forscher wie Schmid (2005), Opp (2004) und Esser (2003) liefert kein einheitlicheres Bild.
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bekanntlich der marxschen Vorstellung, dass die sozialen Verhältnisse menschlicher Gesellschaften sich gegenüber ihren Produzenten, den Menschen, verselbstständigt haben; dass sie ein Eigenleben gewinnen, auf das die Menschen keinen Einfluss mehr haben, das sich über ihren Köpfen und hinter ihren Rücken vollzieht, und zwar weil sie ihnen intransparent geworden sind, sie sie also nicht mehr überblicken und verstehen, geschweige denn beherrschen können. (8) Die gesellschaftlichen Strukturen und ihre Reproduktion sind demnach in enormem Ausmaß transintentional („irrational“) – und, mehr noch, in ihren Auswirkungen auf menschliche, animalische und pflanzliche Natur zerstörerisch.5 Die Dimension dieser selbsttätig-transintentionalen Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen ist geradezu monströs: Die gesamte menschliche Gesellschaft, so Horkheimer (1992: 248) prägnant, gleiche insgesamt einem blinden und richtungslosen, natürlichen Mechanismus,6 einem „geschlossenen Kausalzusammenhang“, der den Menschen derselben Gesellschaft als gewaltiges, unabänderliches Geschehen erscheine, das sie „als ein für jeden einzelnen Blindes und Zufälliges“ erführen (Adorno 1979: 583). Den Menschen widerfahren die sozialen Verhältnisse, die doch alltäglich von ihnen selbst reproduziert werden, wie exogene Schicksale, und sie nehmen diese auch wie ein Schicksal an, nämlich als selbstverständlich und natürlich, als „zweite Natur“.7 (9) Nun mag von den Theoretikern des universalen Verblendungszusammenhanges nichts anderes zu erwarten sein. Eine ähnliche Gegenwartsdiagnose allerdings, die zwar nicht die Gesellschaft als Mechanismus konzipiert, aber verschiedene Mechanismen für die Blockade gesellschaftlicher Entwicklungen verantwortlich macht, findet man auch bei zwei Autorinnen, die allzu großer Nähe zur älteren kritischen Theorie unverdächtig sind. „Eigendynamische soziale Prozesse“8 gelten Mayntz/Nedelmann (1987: 666) in ihrem gleichnamigen Aufsatz als „Kennzeichen der Moderne“: „Wo zirkuläre Prozesse ablaufen, fin5 6
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Dieselben Strukturen würden allerdings bei „vernünftiger“ Einrichtung zur Steigerung des Glücks aller beitragen. oder einem Organismus (ebd. 224). Die Begriffe „Organismus“ und „Mechanismus“ werden bei Horkheimer synonym verwendet, sie sollen die Blindheit und Richtungslosigkeit des gesellschaftlichen Geschehens hervorheben und bilden den Gegensatz zu einer „vernünftig“, nämlich planvoll und reflektiert eingerichteten, autonom entscheidenden, selbstbestimmten Gesellschaft. Auf die Problematik dieser Vorstellung – was „vernünftig“ ist –, die zur extensiven Debatte über die „normativen Grundlagen“ einer Kritischen Theorie der Gesellschaft geführt hat, erlaube ich mir, hier nicht einzugehen. Marx hat diese Gedankenfigur am „Fetischcharakter der Ware“ entwickelt. Solche Verselbstständigungstendenzen sind ein zentrales Thema der Soziologie, das allerdings selten systematisch aufgegriffen wird – darauf jedenfalls deutet der um Systematisierung des Transintentionalitätskonzepts bemühte Band von Greshoff/Kneer/Schimank (2003) hin. Der Begriff der eigendynamischen Prozesse ist ein Vorläufer des (Mayntzschen) Mech-anismenbegriffs.
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den keine qualitativen Sprünge oder dialektischen Lösungen auf höherer Ebene mehr statt – es dominiert das Gesetz der repetitiven Bewegung. Eigendynamische soziale Prozesse mögen in diesem Sinn zur Erzeugung jenes Immobilismus beitragen, den heutige Sozialwissenschaftler wie Michel Crozier als wesentliches Kennzeichen der modernen ‚blockierten Gesellschaft’ herausgearbeitet haben.“ (10) Die Konvergenz zwischen Mayntz/Nedelmann und Adorno/Horkheimer ist kein Zufall. Dass die Diagnosen sich vorwiegend in der Reichweite unterscheiden – hier funktioniert die gesamte Gesellschaft wie ein blinder Mechanismus, dort sind es mehrere, gleichsinnige Mechanismen, die die Gesellschaft blockieren –, resultiert aus ähnlichen Erkenntnisinteressen. Der akteurzentrierte Institutionalismus, zu dessen VertreterInnen Mayntz heute zählt, und die ältere Kritische Theorie sind an der Erkenntnis transintentionaler Mechanismen interessiert, um letztlich Gesellschaft(en) und/oder ihre Teilbereiche besser gestalten zu können. Ihm geht es darum, „Dynamiken handelnden Zusammenwirkens und deren strukturelle Effekte auf gesellschaftlicher Ebene zu erfassen“, um die Frage zu beantworten: „inwieweit und auf welche Weise ist es möglich, dass sich Gestaltungsintentionen realisieren lassen, anstatt dass unvorhergesehene und ungewollte Effekte auftreten“; „Referenzpunkt“ ist die „Gegenwartsgesellschaft“ (Schimank 2004: 299; 288). Im Brennpunkt der Analysen Kritischer Theorie stehen korrespondierend „Tendenzen in den höchstentwickelten gegenwärtigen Gesellschaften“ (Marcuse 1967: 20). Ihnen geht es darum, die „Mechanismen [zu] erkennen, die die Menschen so machen, dass sie solcher Taten [die den Holocaust ermöglichten, R. L.] fähig werden, [sie] muss ihnen selbst diese Mechanismen aufzeigen und zu verhindern trachten, dass sie abermals so werden, indem [sie] ein allgemeines Bewusstsein jener Mechanismen erweckt.“ (Adorno 1969: 87). (11) Diese Orientierungen nimmt die vorliegende Konzeption auf. Explizit konzentriert sie sich auf die systematische Analyse solcher Verhältnisse, die sich gegenüber ihren menschlichen Produzenten verselbstständigt haben; die eine ihnen intransparente, unverstandene und nicht mehr beeinfluss- oder gestaltbare Eigendynamik angenommen haben. Zweck der Analyse transintentionaler Mechanismen ist es, die Selbstorganisation sozialer Phänomene besser zu begreifen und womöglich intentionaler gestalten zu können – und auch realistisch einschätzen zu können, welche Veränderungen nicht oder nicht einfach durchzuführen sind.
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Begriffe: Selbstorganisation – Transintentionalität – Emergenz (12) Eine Bestimmung des Mechanismenbegriffs der älteren kritischen Theorie betrifft das Verhältnis des Mechanismus zu einer ihm übergeordneten sozialen Struktur: Er gehört ihr als Teil zu, und sie organisiert sich durch ihn selbst. „Organisieren“ – oder „Strukturieren“, beide Begriffe können hier synonym benutzt werden – heißt, verschiedene Komponenten auf eine Weise zu relationieren, auf die sie vorher nicht zusammengefügt waren; es bezeichnet ein reproduzierendes und produzierendes Einwirken auf Strukturen (respektive Organisationsformen).9 Dieses Einwirken umfasst das Erzeugen und Aufbauen, das Stabilisieren und Erhalten, das Verändern, Modifizieren und Revolutionieren, das Abschwächen, Blockieren und Hemmen bis hin zum Abbauen und Auflösen.10 Die Konzepte des Organisierens/Strukturierens verweisen also auf das Verhältnis von Ordnung (Strukturiertheit) und Unordnung (Strukturlosigkeit) und auf das Verhältnis zwischen verschiedenen Ordnungen (Strukturen).11 (13) Selbstorganisation oder -strukturierung findet dann statt, wenn ein „Selbst“ (oder Teile von ihm) auf sich selbst, genauer: auf seine eigenen Strukturen (oder Teile von ihnen) (re-)produzierend einwirkt. Dieses „Selbst“ soll hier als Platzhalter für irgendeinen sozialen Zusammenhang, für irgendeine soziale Struktur stehen. Mechanismen sozialer Selbststrukturierung sind als Mittel zu verstehen, mit denen eine soziale Struktur – oder ein strukturierter sozialer Zusammenhang – stabilisierend und modifizierend auf sich selbst einwirken kann. In diesem Sinne sind Selbstorganisations-Mechanismen ein reflexives Moment des Sozialen: Unter Verwendung bestimmter Mechanismen strukturiert (organisiert) sich ein sozialer Zusammenhang selbst. Der Zusammenhang nimmt auf 9
Abstrakter formuliert bezeichnen „Organisieren“ und „Strukturieren“ ein Relationieren von Relationen. 10 Vgl. Mackert (2002: 417) und Schimank (2004: 288). Der Aspekt der Zerstörung oder Auflösung wird in klassischen Selbstorganisationstheorien eher wenig beachtet; ihnen zu Folge bezeichnet Selbstorganisation „den Aufbau von Strukturen des Systems durch systemeigene Prozesse“ beziehungsweise „[d]eren Änderung mit systemeigenen Mitteln“ (Luhmann 1997: 64-65; 1984: 24). Freilich ist Strukturänderung häufig damit verbunden, dass bestimmte Teilstrukturen abgebaut/aufgelöst und andere aufgebaut werden. 11 Insofern soziale Strukturen immer auch empirisch-gesellschaftliche Strukturen sind, ist es immer auch eine politische Frage, welche gesellschaftlichen (Teil-)Strukturen mechanismisch analysiert und welche darüber hinaus erhalten, verändert, geschaffen oder abgebaut werden sollen – und wessen Auffassung dieses „Sollen“ gehorcht. Auch die Frage, welche Strukturen unter welchen Bedingungen überhaupt intentional (um-)strukturiert werden können – und wer das tun kann, also die Frage nach Steuerungs- und Regulierungsmöglichkeiten, ist nichts weniger als politisch irrelevant. Es ist gesellschaftlich zu entscheiden, bis zu welcher Grenze etwas als (um)strukturierbar gilt, und wer mit welchen Mitteln und Konzepten solche Steuerungstätigkeiten durchführen soll oder darf. Sozialwissenschaftliche Mechanismenmodelle können deshalb nicht in irgend einem Sinne „wertfrei“ sein.
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sich selbst Bezug; er reflektiert sich durch den Mechanismus selbst. Diesen Rückbezug einer sozialen Ordnung (Struktur) auf sich selbst vermittels eines Mechanismus nenne ich Reflexivität I: Ein Mechanismus gehört einer übergreifenden sozialen Struktur an und dient ihr als Mittel zur Selbststrukturierung (oder Selbstorganisation). (14) Wenn man eine solche Rückbezüglichkeit annimmt, dann setzt man voraus, dass jeder Mechanismus im Verhältnis zu einer ihm übergeordneten sozialen Struktur steht, deren Teil er ist. Und das bedeutet, dass jede Mechanismen-Analyse zu bestimmen hat, welcher Art die übergeordnete Struktur ist, zu der der fokale Mechanismus gehört – respektive, welche Struktur es ist, die sich unter Verwendung des Mechanismus selbst organisiert.12 (15) Impliziert ist des Weiteren, dass jeder Mechanismus eine strukturierende Wirkung auf angebbare soziale Phänomene erzeugt. Insofern ist ein sozialer Mechanismus zu verstehen als aktiv organisierender oder strukturierender Part einer selbstorganisierenden sozialen Struktur; er bezieht sich auf spezifische rezeptive Strukturkomponenten, die genau durch ihn strukturiert werden. Der Mechanismus bleibt, so lange er wirkt, relativ zu den von ihm bewirkten strukturellen Zuständen und Prozessen empirischer Phänomene invariant (stabil, träge); er verändert sich mit geringerer Geschwindigkeit als sie und ist deshalb „übersituationell wirksam“ (Balog/Cyba 2004: 23).13 (16) Das Wirken eines Mechanismus ist prinzipiell unabhängig von den Intentionen der Akteure, die an seinem Wirken beteiligt oder von ihm betroffen sind oder die sein Wirken beobachten. Mechanismische soziale Selbststrukturierung läuft selbsttätig ab, in einem bestimmbaren Ausmaß unabhängig von den Intentionen und Deutungen von Akteuren – mit einem Wort: transintentional (vgl. zu diesem Transintentionalitätsbegriff Kneer 2003: 398-399; Schimank 2003: 443; Schneider 2003: 453; Greshoff 2003: 378).14
12 Ähnlich meint Schmid (2005: 48), dass mechanismische „Erklärungen systembezogen formuliert werden müssen“ (Herv. i. O.). Mit System ist dabei das gemeint, was hier als „übergeordnete Struktur“ bezeichnet wird. – Die hier vorgeschlagene Konzeption präjudiziert nicht, welcher Art die übergeordneten Strukturen sein müssen (etwa immer solche von Funktionssystemen oder von Feldern oder der Gegenwartsgesellschaft). 13 Nota bene, dies ist, wie alle konzeptuellen Bestimmungen dieses Beitrags, eine relative (oder relationale) Bestimmung. Generell wirken solche Strukturen als stabil, die stabiler sind als Vergleichsstrukturen – aus der Perspektive einer dritten Struktur gesehen (die aber durchaus eine der beiden verglichenen sein kann); für diese dritte Struktur gelten dann erwartbare Strukturen als stabil, unerwartbare dagegen gelten als emergent. 14 Transintentionale Effekte und Bedingungen können einer zusätzlichen Bewertung als erwünscht /unerwünscht unterzogen werden (Schimank 2003: 441). Die Bewertung ist dabei abhängig von den Bewertungsmaßstäben des/der Bewertenden. Dieser muss keineswegs identisch mit denen sein, die von transintentionalen Wirkungen betroffen sind.
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(17) Das Ausmaß der Transintentionalität kann variieren.15 Im Extremfall spezifischer Erwartungen wird eine bestimmte Wirkung geplant und kalkuliert, antizipiert und erwartet (oder: bestimmte Bedingungen eines möglichen Wirkens werden berücksichtigt). Die Erwartungen (Berücksichtigungen) können sich dann als mehr oder weniger richtig oder falsch erweisen (Schimank 2003: 441). Wenn sie falsch sind, also etwas eintritt, was nicht intendiert wurde, wird das handelnde Zusammenwirken, das die nicht-intendierten Effekte hervorgerufen hat, in der Regel als mehr oder minder „gescheitert“ bewertet (Greshoff 2003: 385), andernfalls oft als „erfolgreich“. Das andere Extrem fehlender Erwartungen besteht darin, dass eine Relation zwischen Intention und Witkung/Bedingung nicht vorhanden ist: „Dem Zustand als Ergebnis [oder als Bedingung, R. L.] entsprechen ... keine Handlungen, welche ihn hervorzubringen beabsichtigten [bzw. auf die Bedingung in irgendeiner Weise Bezug nahmen, R. L.].“ (Greshoff 2003: 385-386) Die Wirkung ist dann notwendig vollständig unvorhergesehen bzw. die Bedingung ist vollständig unbeachtet geblieben (Schimank 2003: 441).16 Eine typische „mittlere“ Ausprägung zwischen den beiden Extremen ist, dass Intendierende vermuten, dass unvorhergesehene Wirkungen eintreten (Schimank 2003: 442) respektive dass unerkannte Bedingungen sich zeigen werden. Eine dieser drei Ausprägungen von Transintentionalität muss bei sozialen Mechanismen im hier vorgeschlagenen Sinn nachweisbar sein. Anzugeben ist, wessen Intentionen als Maßstab zur Diagnose von Transintentionalität heran gezogen werden.17 (18) Eine grundlegende Form der Transintentionalität besteht darin, dass die soziale Konstitution eines Phänomens vergessen, verborgen oder einfach unbekannt ist. Das Phänomen gilt dann als „natürlich“, als „selbstverständlich so und nicht anders“, und als von sozialen Verhältnissen unabhängige Kraft eigenen Wesens – oder als emergent. Emergent sollen hier Phänomene heißen, die genuine Qualitäten aufweisen, deren Konstitution von angebbaren Beobachtern nicht durch Rückgriff auf die Umwelt(bedingungen) jener Phänomene erklärt werden können. Den Beobachtern erscheinen sie etwa als neu aufgetaucht, undurchschaubar, unvorhersehbar, unberechenbar, chaotisch; sie können diese Phänomene nicht mit anderen Aspekten der sozialen Welt, die ihnen bekannt, berechenbar, erklärlich etc. sind, in einen Begründungs- oder Ursache-Wirkungs15 Vgl. zu diesen Ausprägungen der Transintentionalität generell Kneer (2003: 402-403), Greshoff (2003: 385-386) und Brüsemeister (2003: 370). Bedingungen für Transintentionalität zählt Schimank (2003: 445-448) tentativ auf. 16 Zufällige Übereinstimmungen zwischen Intention und Wirkung mögen gleichwohl vorkommen. 17 Vollständig intendier- und kalkulierbare Eingriffe in die Selbst(re)produktion des Sozialen mögen als idealtypischer Grenzfall erscheinen und damit alles soziale Geschehen als zumindest teilweise mechanismenförmig.
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Zusammenhang bringen.18 Transintentional wirkende Mechanismen erzeugen in diesem Sinne unvorhergesehene überindividuelle Phänomene, die schwer oder gar nicht erklärlich scheinen (eben weil der jeweilige Mechanismus nicht durchschaut wird. Durch die Rekonstruktion transintentionaler sozialer Mechanismen werden entsprechend emergente soziale Phänomene erklärt (vgl. Schmid 2005: 52). Zur prinzipiellen Relativität mechanismischer Erklärungsmodelle „Das Problem beim ‚dies bewirkt das’ ist nicht so sehr … ein Irrtum in den Kausalannahmen, sondern eher: dass nur ein winziger Ausschnitt der Realität erfasst wird.“ (Luhmann 2000: 404) (19) Mit dem konstitutiven Bezug zu einer übergreifenden Struktur und der Unabhängigkeit von Akteur-Intentionen sind bislang zwei Grundmerkmale eines transintentionalen sozialen Mechanismus gekennzeichnet worden. Weitere Grundmerkmale entwickele ich im Folgenden anhand einer Reflexion der prinzipiellen Relativität mechanismischer Bestimmungen. Diese Relativität betrifft (a) die Festlegung dessen, was als Mechanismus gelten soll, (b) die Identifikation dessen, was durch einen Mechanismus erklärt wird und (c) die Festlegung des Grades zwischen empirischer Konkretion und theoretischer Abstraktion, den ein Mechanismen-Modell aufweisen soll. (20) Ad a. Betrachtet man beispielsweise das Theorem von der „Diffusion institutioneller Muster“, stellt man fest, dass es einmal als Mechanismus (Stichweh 2001), ein andermal aber auch als zu erklärende Wirkung auftaucht (Krücken/Meier 2003). Tatsächlich kann man ja „Diffusion institutioneller Muster“ sowohl als den Prozess des Diffundierens als auch als Zustand der „Diffundiertheit“ institutioneller Muster auffassen (und damit möglicherweise als Ergebnis 18 Emergent ist ein Phänomen in diesem Verständnis folglich immer nur relativ zu einem Beobachter. Was für einen ersten Beobachter emergent ist, kann für einen zweiten „reduzierbar“ bzw. erklärbar sein. Dass Phänomene und Strukturen als emergent gelten, ist auf eine „Sehschwäche“ des Beobachters zurückführbar, es ist keine substanzielle Eigenschaft irgendeines Sachverhalts. Diese Auffassung folgt im Wesentlichen Esser (1993: 404): „Das Wort 'emergent' bzw. der Begriff der Emergenz leitet sich von 'emergere' (lat.: auftauchen) ab. Es meint allgemein den Sachverhalt, daß Phänomene 'auftauchen', die man aufgrund des bisherigen theoretischen Wissens so nicht hätte erwarten können und mit diesem Wissen nicht erklärbar sind.“ Damit wird eingestandenermaßen nicht genau das wiedergegeben, was Emergenztheoretiker unter Emergenz verstehen, sondern eher eine pragmatische Begriffsfassung vorgeschlagen, die signalisiert, „emergente“ Phänomene so lange weiter zu erforschen, bis man sie entweder erklären oder aber angeben kann, warum man sie nicht erklären kann.
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eines Diffusionsprozesses).19 Aber mehr noch: „Diffusion institutioneller Muster“ kann darüber hinaus als Komponente eines Mechanismus angesehen werden. Wenn das Erklärungsproblem bspw. darin besteht, wie es zur Isomorphie organisationaler Strukturen kommt, dann ist „(Grad der) Diffusion institutioneller Muster“ ein Faktor, der – ich skizziere nur – beispielsweise zusammen mit „(Grad der) Orientierung von Organisationen an der Maxime, das eigene Handeln zu legitimieren“, „(Grad der) Wahrnehmbarkeit von als erfolgreich eingeschätzten Organisationen“ und weiteren Faktoren einen allgemeineren Isomorphie erzeugenden Mechanismus bilden könnte. Untersucht man dagegen, wie sich die Diffusion institutioneller Muster perpetuiert, so wird sie als übergreifende Struktur im oben bezeichneten Sinne veranschlagt. (21) Dieses Beispiel legt nahe, dass es eine Frage der Perspektive – des Erkenntnisinteresses oder Erklärungsproblems – ist, welche Ausschnitte der sozialen Wirklichkeit als Mechanismus konzipiert werden.20 Dieses Problem der Relativität der Unterscheidung und Bezeichnung von Wirklichkeitskomplexen als Mechanismus spiegelt sich in der Relativität dessen, was mit MechanismenModellen erklärt werden kann. Diese Relativität wird deutlich, wenn man ein typisches Argumentationsmuster des mechanism-based approach reflektiert. (22) Ad b. Der Mechanismen-Ansatz verortet sich oft in doppelter Abgrenzung einerseits zum „covering law“-Ansatz,21 der mit der deduktiv-nomologischen Erklärung nach dem H-O-Schema arbeitet, andererseits zur statistisch orientierten Variablensoziologie. Beiden wird vorgeworfen, dass sie lediglich Aussagen über Korrelationen, nicht aber über Kausalitäten treffen. Probabilistische Geset19 Insofern teilt dieses Theorem die Eigenschaft zahlreicher sozialwissenschaftlicher Konzepte, sowohl einen Prozess- als auch einen Produktaspekt aufzuweisen. 20 Hinweise auf diese Relativität finden sich auch bei Cyba (2002: 32: aus welchen einzelnen Elementen ein Mechanismus bestehe und worauf er sich auswirke, könne „erst mittels [… eines] sehr allgemeine[n] theoretische[n] Bezugsrahmen[s] […] aufgezeigt werden“) und Mayntz (2003: Abschnitt 5: es sei „not possible to build a substantive theory out of context-free, general mechanisms“.) – Die Relativität gilt nicht nur für Mechanismen-Modelle, sondern generell für sozialwissenschaftliche Konzepte. Ob man etwa noch die Veränderung von Altem oder bereits die Erzeugung von Neuem vor den analytischen Augen hat; ob man noch einen sehr veränderten Zustand desselben Systems oder schon die Ausdifferenzierung eines anderen Systems beobachtet; ob Strukturen in stabilem Zustand oder in dynamischer Bewegung begriffen sind (bzw. ob sozialwissenschaftliche Begriffe wie Institutionalisierung, Selbstorganisation, Kapitalverteilung einen aktuellen Zustand oder einen Prozess bezeichnen); ob etwas „Makro“ oder „Mikro“ ist – all das ist immer nur relativ zu Vergleichsstrukturen zu entscheiden. Abstrahiert von Kontextbedingungen werden solche Entscheidungsfragen müßig. 21 Als weiterer entscheidender Vorteil des Mechanismen-Modells gegenüber diesem Ansatz wird postuliert, dass mechanismenbasierte Erklärungen nicht, „eitel“ (Mayntz 2003: Abschnitt 2) nach raumzeitlich unbestimmten, allgemeingültigen Universalgesetzmäßigkeiten suchen, die es, mit Merton, in der sozialen Welt ohnehin nicht gebe (Hedström/Swedberg 1998: 3). Gesucht werden also raumzeitlich begrenzte Phänomene; das gilt auch für die hier vorgeschlagene Konzeption.
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zesaussagen vom Typ „wenn x dann y“ und statistische Korrelationswerte behaupten, dass ein Zusammenhang zwischen den Erklärungs-Komponenten bzw. Variablen x und y bestehe. Sie könnten aber nicht erklären, über welche einzelnen kausalen „Schritte“ die korrelierten Einheiten zusammenhängen; könnten also deren kausale Verknüpfungen nicht erfassen. Da die Kausalverhältnisse im Dunkeln blieben und „die Beziehung zwischen Input und Output nicht erklärt wird“ (Opp 2004: 365), handele es sich um „Black-box-Erklärungen“ (Hedström/ Swedberg 1998: 8). (23) Ein entscheidender Vorteil mechanismenbasierter Erklärungsmodelle wird nun darin gesehen, dass sie informativere Tiefenerklärungen erlauben, die „die ‚black box’ eines solchen Mechanismus aufhellen“ (Schmid 2005: 50), indem sie erfassen, warum und wie korrelierte Einheiten miteinander zusammenhängen, so „dass man erfährt, wie eine Beziehung zwischen“ ihnen „zu Stande kommt“ (Opp 2004: 366) und erklären kann, “how they affect each other”. Die „answer to the question of why? moves explanation down to a deeper level” (James 2004: 357; 356, Herv. im Orig.). Deshalb biete der Mechanismen-Ansatz „deeper, more direct, and more fine-grained explanations” (Hedström/Swedberg 1998: 8-9), die sich in “correspondingly complex formulations” (Mayntz 2003: Abschnitt 2) niederschlagen. (24) Diese Auffassung verdeckt aber das Problem des infiniten Regresses: Jede noch so komplexe und noch so „feinkörnige“ Erklärung erscheint aus einer „noch tieferen“ oder auch nur aus einer alternativen Perspektive selbst wiederum als potenziell erklärungsbedürftiges Rätsel. „Je mehr Mechanismen entdeckt werden, desto mehr ‚black box’ Erklärungen entstehen und desto unbefriedigender ist die Erklärung“, folgert Opp (2004: 367) so schelmisch wie zutreffend. Die Relativität von Erklärungen, auch von mechanismischen, ist genuin: „Jede Erklärung ist .. relativ, sie löst [ein] Rätsel, insofern sie es mit einem anderen verknüpft.“ (Unseld 1992: 83) Eine Erklärung ist in diesem Sinne eine konstruktive Relationierung des Explanandums mit bereits Erklärtem, beziehungsweise ein rekonstruktives Erfassen und Explizieren empirischer Relationen zwischen erklärten und zu erklärenden Wirklichkeitsaspekten.22 22 Jede „Erklärung“ ist prinzipiell sowohl rekonstruktiver Nachvollzug einer bestehenden Relation („Entdeckung“) als auch konstruktiver Erzeugungsakt („Erfindung“). Keine Rekonstruktion kann ohne ein Mindestmaß an „konstruktivem“ Zutun des Rekonstruierenden stattfinden, und sei es nur, dass er der Relation das „durch-den-Rekonstrukteur-rekonstruiert-Sein“ hinzufügt; und kein Konstrukteur kann ohne ein „etwas“, das er konstruiert – also irgendeinen nicht mit ihm identischen Sachverhalt – etwas konstruieren. – Weil dem so ist, können wir hier unter „Relationieren“ sowohl das „Erklären“ eines Beobachters verstehen als auch das „Konstituieren“ des Beobachteten: Der subjektive Erklärensakt vollzieht die objektiven konstituierenden Akte der zu erklärenden Welt nach; die Erklärung ent-deckt und expliziert dabei Relationen, die vorher als Zusammenhang noch gar nicht erkannt/thematisiert waren.
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(25) Der Mechanismen-Ansatz reflektiert die Relativität der Bestimmung von Mechanismen und der Erklärung durch Mechanismen vermutlich deswegen nicht explizit, weil er das Relativitätsproblem unter der Hand immer schon gelöst hat: durch voraus gesetzte Festlegung eines Erklärungsproblems und durch ebenfalls voraus gesetzten Bezug auf bestimmte empirische Phänomene. (26) Ad c. Aber auch empirische Sachverhalte müssen beschrieben werden, und jede Beschreibung ist nicht nur eine rekonstruktive, sondern auch eine konstruktiv-sinndeutende Tätigkeit – im Grunde schon eine einfache Theorie, die erklärt, dass das Beschriebene so ist, wie es beschrieben wird, und nicht anders. Daraus, dass empirische Wirklichkeit und theoretische Erklärung wechselseitig aufeinander verwiesen sind, folgt, dass auch der Rekurs auf Empirie Mechanismen-Modelle nicht aus ihrer genuinen Relativität rettet – und ihre Rekonstruktion nicht von seinem willkürlich-dezisionistischen Moment.23 (27) Mechanismen-Modelle müssen sich, wie alle theoretischen Modelle, dem Modellierungs-Dilemma (Esser 1993: 134) stellen. Dies Dilemma entspringt dem Sachverhalt, dass jede theoretische Erklärung bzw. Modellierung bestimmte Aspekte der von ihr erfassten Wirklichkeit akzentuiert und andere vernachlässigt (vgl. Hedström/Swedberg 1998: 14-15). Versucht man, die Wirklichkeit möglichst „getreu“ und differenziert wiederzugeben (wenig zu vernachlässigen), erzeugt man hoch detaillierte Abbildungen, deren Nachteil darin besteht, dass sie so unübersichtlich wie der modellierte Wirklichkeitsabschnitt sind und zwischen wesentlichen (erklärenden) und unwesentlichen (nicht erklärenden) Zügen dieser Wirklichkeit nicht zu unterscheiden vermögen. Das andere Extrem bestünde darin, möglichst allgemeine Züge der Wirklichkeit in eleganten, einfachen, „sauberen“ Modellen zu erfassen. Deren Nachteil aber besteht darin, dass ihr Informationsgehalt ebenfalls gegen Null tendiert: Modelle höchster Abstraktionsstufen reduzieren die konkrete Komplexität des Gegenstandes bis zur karikierenden Einseitigkeit. Genschel (2002) reformuliert das ModellierungsDilemma treffend als Balance zwischen Validität und Generalität: „Mehr Validität bedeutet in der Regel mehr Detail und reduziert dadurch tendenziell die Allgemeinheit der abgebildeten sozialen Situation. Mehr Allgemeinheit erfordert dagegen eine Abstraktion von sozialen Details und geht damit tendenziell zu Lasten des ‚Realismus’.“ (Genschel 2002: 23) 24 23 „Doch selbst bei äußerster Anstrengung, solche in den Sachen geronnene Geschichte sprachlich auszudrücken, bleiben die verwendeten Worte Begriffe. Ihre Präzision surrogiert die Selbstheit der Sache, ohne dass sie ganz gegenwärtig würde ... Daher der Bodensatz von Willkür und Relativität wie in der Wortwahl so in der Darstellung insgesamt.“ (Adorno 1966: 62) 24 Hedström und Swedberg freilich verzichten auf Validität. Ihrer Auffassung geht es nicht darum, wie realistisch, sondern wie nützlich verschiedene Modelle für gegebene Aufgaben sind (Hedström/ Swedberg 1998: 14-15); „Nominalmodelle“ also.
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(28) Das Modellierungs-Dilemma entschärft („entparadoxiert“) sich, wenn man genügend Zeit hat. Außer (forschungs-)ökonomischen Gründen (und dem Fehlen adäquater Analyseinstrumente) spricht nichts dagegen, Erkenntnisse unterschiedlichster Abstraktionsgrade festzuhalten und Stufen- oder Wechselwirkungsverhältnisse in kombinierten Modellen zu erfassen, die sowohl großen Detailreichtum als auch sehr weitgehende Generalisierungen ermöglichen, die der empirischen Komplexität und ihren abstrakten Strukturen besser als üblich gerecht werden.25 Da man aber nie genügend Zeit haben wird, wird man nur einige Schritte gehen können und den Wunsch nach maximaler Generalisierung bei gleichzeitiger maximaler Detailtreue ersetzen durch die begründete Festlegung eines optimalen Auflösungsgrades, das ein Mechanismen-Modell auf der Abstraktions-Konkretions-Skala aufweisen soll. Als pragmatische Regel schlage ich vor, dass ein Mechanismen-Modell so fein (detailliert) wie durch empirische Studien möglich und so grob (verallgemeinert) wie durch empirischen Nachweis gerechtfertigt sein soll; die „Erklärungskraft“ des Modells stiege und fiele dann mit dem Grad der gleichzeitig erreichten empirischen Validität und Allgemeinheit. (29) Die Schlussfolgerung aus diesen Argumentationen lautet meines Erachtens wie folgt. Ein sozialer Mechanismus lässt sich nicht substanziell bestimmen, sondern immer nur relativ (a) zum Erklärungsproblem, das durch die Rekonstruktion eines Mechanismus bearbeitet werden soll26 – und damit zu den Forschungspersonen und ihren Erkenntnisinteressen, (b) zu anderen Erklärungen, genauer: zu als bereits erklärt geltenden Sachverhalten und (c) zu den empirischsozialen Strukturen, in die er eingebettet ist. Ein theoretisches MechanismenModell ist dann genügend elaboriert, wenn es das Problem (den Gegenstand, den Sachverhalt, das Phänomen), das es erklären soll, gemessen am Erkenntnisinteresse der Forschenden, an bestehenden alternativen Erklärungen und an seiner empirischen Validität und Verallgemeinerbarkeit hinreichend erklärt. Ein Mechanismen-Modell soll deshalb sein Erklärungsproblem, sein Verhältnis zu bestehenden Erklärungen und seinen Bezug zur Empirie27 explizit angeben – und es soll vorwiegend nach diesen drei Kriterien analysiert und beurteilt werden. 25 Vgl. dazu Köhler/Langer/Rölke (2003), die Petri-Netze, eine sowohl grafische als auch formale Programmiersprache, als Darstellungsinstrument solcher Modelle anbieten. – Im Grunde ist der Mechanismen-Ansatz eine Aufforderung zur Genauigkeit der Analyse und dazu, sich der Komplexität zu stellen und sich mit ihr auseinanderzusetzen, statt sie viel zu schnell und umstandlos zu reduzieren auf spieltheoretische und mathematische Modelle oder auf einige wenige hypothetische Sätze, die dann durch „Tests“ mit einer ebenfalls hoch reduktiven, außerdem quantifizierten Empirie „geprüft“ werden, wobei die Interpretationen der statistischen Ergebnisse ohne Interpretationsregeln vorgenommen werden. 26 Darin folgt die vorliegende Konzeption dem akteurzentrierten Institutionalismus (Schimank 2004) 27 Empirische Begründungen bei der Konstruktion von Mechanismen-Modellen fordern Genschel (2002), Balog/Cyba (2004: 40). Empirische Prüfungen für Mechanismen-Modelle fordert Opp
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Modellierung I: Erklärungsproblem und Wirkungsanalyse (30) Ein theoretisches Modell eines sozialen Mechanismus soll sein Erklärungsproblem explizieren. Dabei erklärt das theoretische Modell ein empirisches soziales Phänomen in seinem So-Sein, indem es den empirischen Mechanismus identifiziert und rekonstruiert, der das Phänomen erzeugt beziehungsweise strukturiert: der bewirkt, dass es so ist, wie es ist.28 Wer mechanismische Erklärungen anfertigen will, muss trivialer Weise voraussetzen, dass jene rätselhaften, transintentional-emergenten sozialen Phänomene, die erklärt werden sollen (die Explananda) von einem Mechanismus in ihrem So-Sein, in ihrer strukturellen Beschaffenheit bewirkt (erzeugt, organisiert, strukturiert)29 wurden und werden. Ohne Wirken des Mechanismus, so wird unterstellt, wären die Phänomene nicht so strukturiert, wie sie sind. Die Frage, durch welchen Mechanismus jene Phänomene strukturiert wurden und werden, ist das Erklärungsproblem jedes theoretischen Modells eines sozialen Mechanismus; dies Erklärungsproblem und die sozialen Phänomene, die es in ihrem So-Sein zu erklären beansprucht, muss ein Mechanismen-Modell explizit angeben. Dabei gilt:
(2004: 373; wenngleich hier auf RC-theoretische Mechanismen-Modelle und Prüfungen durch statistische Untersuchungen begrenzt). 28 Mit dieser Aussage ist das Verhältnis von empirischen Mechanismen und ihren theoretischen Modellen geklärt. Die doppelte Bedeutung des Mechanismenbegriffs, die sich sowohl “real phenomena” als auch auf “propositions referring to such phenomena” bezieht (Mayntz 2003: Abschnitt 2), geht auf Robert K. Merton zurück. Er wies Mechanismen auf der einen Seite eine besondere Funktion für die Bildung von Theorien mittlerer Reichweite zu: Sie sollten als deren elementare Bausteine dienen. Auf der anderen Seite verstand er sie als reale soziale Prozesse, die sich auf bestehende soziale Strukturen auswirken (Hedström/Swedberg 1998: 6, vgl. auch Mackert 2002: 418). Die wohl bekanntesten Mertonschen Beispiele für soziale Mechanismen sind die self fulfilling prophecy und der Matthäus-Effekt („Wer hat, dem wird gegeben“). 29 Vgl. zu dieser Konzeption mechanismischer Erklärungen unter anderem Sawyer (2004), Mayntz (2003), Cyba (2002), Steel (2004: 56-57), Mackert (2002: 418), Hedström/Swedberg (1998: 56). Dass ein Mechanismus wirkt (beziehungsweise Wirkungen erzeugt, etwas bewirkt) ist, so weit ich sehe, in der Literatur unbestritten. Statt von „Wirkung“ ist die Rede etwa auch von Effekt (Schmid), Outcome (Mayntz; Hedström/Swedberg), Konsequenz (Balog/Cyba). Dass ein Mechanismus etwas erzeugt, ist fast genau so häufig zu lesen (mit Ausnahmen wie etwa Tilly 2001: 25-26, dem es reicht, dass Mechanismen Relationen verändern); Mechanismen werden deswegen auch als „generative mechanisms“ bezeichnet. Erzeugt werden unter anderem die Transformation der modernen Gesellschaft (Mackert 2002: 416), Systeme sozialer Ungleichheit (Mackert 2001; Cyba 2002), Demokratisierung (Tilly 2001) oder gleich die Weltgesellschaft (Stichweh 2001); Lösungen für grundlegende soziale Abstimmungsprobleme (Koordinations-, Kooperations- und Partizipationsprobleme; Schmid 2003). Einige AutorInnen benutzen „Erzeugung“ und „Erklärung“ fast synonym, etwa Opp (2004: 361) oder Balog/Cyba (2004: 22). Die Frage, ob es zutrifft, dass ein Phänomen dann erklärt ist, wenn man weiß, wie es erzeugt wird, lasse ich hier undiskutiert.
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(31) Die Wirkung eines transintentionalen Mechanismus sozialer Selbstorganisation bezieht sich immer auf soziale Strukturen; sie ist immer eine Strukturierungswirkung. Das bewirkte Resultat mechanismischen Wirkens sind strukturelle Zustände und Dynamiken, die in angebbaren empirischen Phänomenen auffindbar sind.30 (32) Als Ausgangspunkt der weiteren Analyse bietet sich die Wirkung eines Mechanismus an, genauer: die Identifikation einer Schlusssituation, in der bestimmte empirische Phänomene strukturelle Zustände aufweisen, die es ohne Einwirkung des Mechanismus so nicht geben würde. Es wird also ein empirischpraktischer Sachverhalt als Bewirktes interpretiert. – „Wirkung“ bedeutet hier immer: A bewirkt B genau dann, wenn B nicht so sein würde, wie es ist, wenn es A nicht gäbe.31 Dieser unbestimmte Begriff der Wirkung (oder Erzeugung) lässt offen, auf was sich die Wirkung bezieht und welcher Art diese Wirkung ist.32 Dies ist ein Vorteil gegenüber dem Funktionsbegriff, mit dem ein (meist an impliziten Maßstäben gemessener positiv gewerteter) Beitrag zur Bestandserhaltung einer (meist übergeordneten) Einheit assoziiert wird. Auch „Problemlösung“ (Luhmann 1966: 1) ist in diesem Sinne eine zu einseitige Konzeption. Freilich üben Mechanismen Funktionen aus und erbringen Problemlösungen, nur eben erzeugen sie dazu auch dysfunktionale und zerstörerische Folgen, Nebenund Fernwirkungen auf soziale Strukturen, die nur unter erheblichen Umdefinitionen des Problem-/Lösungsbegriffs noch als Problemlösung bezeichnet werden können, die oft sogar eher selbst Probleme darstellen mögen. Eine sensible Mechanismen-Analyse muss berücksichtigen, dass Mechanismen, die innerhalb eines strukturellen Zusammenhangs Funktionen und Problemlösungen erzeugen, gleichzeitig sich auch noch auf andere, möglicherweise sozial hoch differente oder zeiträumlich weit entfernte Strukturzusammenhänge auswirken. Insbesondere strukturzerstörende Auswirkungen sind von Belang. (33) Die Wirkung eines transintentionalen sozialen SelbstorganisationsMechanismus bezieht sich in Teilen auch als Bedingung auf ihn selbst oder Teile seiner selbst. Eine solche „zirkuläre Kopplung von Ursache und Wirkung … ist das Kennzeichen der Selbstorganisation“ (Küppers 1999: 352). Insofern Mechanismen durch positive (Abweichungsverstärkungen) oder negative Rückkopplungen (-dämpfungen) „Folgen erzeugen, die zum Bestandteil ihrer eigenen Verursachungsstruktur werden“ (Mayntz/Nedelmann 1987: 660), sich also zyklisch 30 Die Bezeichnung „strukturierender Mechanismus“ hält auch Schmid (2005: 50, Fußnote 52) für akzeptabel. 31 Eine wichtige Frage ist auch: Welche Bedingungen lösen die Aktivität oder Inaktivität eines Mechanismus aus? Man muss aber davon ausgehen, dass ein Mechanismus auch im deaktivierten/inaktiven Zustand fortbestehen kann – er muss nicht die ganze Zeit wirken (Vgl. Genschel 2002: 23). 32 Das Bewirkte kann, muss aber nicht ein Kompositions-, Aggregations-‚ Kollektiv- oder Verteilungseffekt sein.
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schließen, sind sie reflexive Mechanismen (Reflexivität II).33 Von dieser Art sind, wenn prominente Sozialtheoretiker nicht völlig irren, gerade die grundlegenden Prinzipien des Sozialen.34 (34) Anschließend an die Identifikation des Bewirkten geht man auf die Suche nach einer Initialsituation, das heißt nach einer Situation, die vor dem Wirken des Mechanismus bestanden hat bzw. dort, wo er nicht wirkt, nach wie vor besteht. Der Strukturzustand (und damit auch die Gestalt) der empirischen Phänomene in der Initialsituation unterscheidet sich signifikant von jenen in der Schlusssituation; dieser Unterschied ist explizit anzugeben. Der zu suchende Mechanismus ist dann das, was den Strukturzustand der Initialsituation in jenen der Schlusssituation transformiert. Dieser Zusammenhang ist im I=>M=>OSchema für Mechanismenmodelle ausgedrückt.35 (35) Das, worauf ein Mechanismus einwirkt, ist aber auch, und das wird im obigen Schema nicht deutlich, etwas Invariantes. Dies illustriere ich am Beispiel des institutionellen Isomorphismus. Das Erklärungsproblem hinter dem Theorem des institutionellen Isomorphismus ist die Frage, „why there is such startling homogeneity of organizational forms and practices; and we seek to explain homogenity“ (Powell/DiMaggio 1983: 148). Hier sind es die organisationalen Strukturen (= Formen und Praktiken), auf die der zu rekonstruierende Mechanismus einwirkt. Er transformiert sie vom – so ist anzunehmen – Zustand interorganisationaler Heterogenität in den Zustand der Homogenität: Der Schlusszustand besteht in großer Ähnlichkeit von Organisationen hinsichtlich „structure, climate, and behavioral focus“ (Powell/DiMaggio 1983: 154, A-1). Der Grad der Hetero- oder Homogenität interorganisationaler Strukturen ist die invariante 33 Luhmann formuliert, reflexive Mechanismen seien solche, die „auf sich selbst angewandt werden.“ (Luhmann 1966: 2) Seine Beispiele in jenem Text haben aber nicht den Charakter von Mechanismen, sondern von Tätigkeiten. Vgl. z. B. „einen Teil der Lernfähigkeit für das Lernen des Lehrens und des Lernens abzuzweigen ... heißt: den Lernprozess reflexiv zu machen.“ Normierung der Normbildung zunächst durch hierarchische Staffelung der Normen, dann durch „nichthierarchische Ordnung von Entscheidungskompetenzen“. Zuerst gelegentliche, dann geregelte Übermächtigung der Machthaber. „Reflexivität vermehrt die Macht“ und wird zu „Macht durch Organisation“ (Luhmann 1966: 4, 6, 7, 8). 34 Vgl. Giddens’ Strukturationskonzept, Bourdieus Habitus-Feld-Dialektik, Popitz’ Machtbildungsprozess, Marx’ Fetischcharakter oder Smiths invisible hand, Berger/Luckmanns Objektivierung und viele andere mehr. 35 Vgl. Hedström/Swedberg 1998: 9; Mayntz 2003: Abschnitt 3. I steht dabei für Input (oder initial conditions); M für den „eigentlichen“ Mechanismus; O für Outcome. Dass Mechanismen Relationen zwischen I und O erzeugen (Hedström/Swedberg 1998: 4, 7, 12) ist (tauto)logisch, wenn zur Definition des Mechanismus gehört, dass er selbst eine solche Relation ist. Mayntz’ äußert dazu salomonisch: “It does not make any difference for a substantive analysis whether outcomes and initial conditions are included in the formal definition of a mechanism or not, as long as we look at the whole process and recognize that ‘inputs’ and ‘outputs’ can vary, making outcomes contingent on variable initial conditions.” (Mayntz 2003: Abschnitt 3)
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Komponente, die während des Einwirkens des Isomporphie-Mechanismus stabil bleibt; die graduellen Ausprägungen sind die variable Komponente. (36) Für die Mechanismen-Rekonstruktion heißt das: Es ist anzugeben, welche Strukturen den Gegenstand des Mechanismus bilden, also das, worauf er einwirkt (vgl. Balog/Cyba 2004: 27). Diese Gegenstands-Strukturen weisen eine zwischen Initial- und Schlusssituation invariante und eine variierende Komponente auf; nur auf die letztere wirkt der Mechanismus ein.36 Modellierung II: Komponentenanalyse und Optionenheuristik
(37) Die analytische Rekonstruktion kann jetzt zum eigentlichen Kern voran schreiten: dem Mechanismus selbst. Sie sucht zu diesem Zweck nach Regeln oder Faktoren – welcher Art diese sind, bleibt ganz offen – die dazu beitragen, dass die Gegenstandsstruktur vom I-Zustand in den O-Zustand transformiert wird. Diese Regeln oder Faktoren bilden dann die Komponenten des Mechanismus. (38) In der hier bevorzugten rein relationalen Bestimmung ist ein Mechanismus jene(r Teil einer) soziale(n) Struktur, die (der) die Transformation der Gegenstandsstruktur vom I-Zustand in den O-Zustand bewirkt. Insofern er Struktur ist, besteht er aus Relationen von Verhaltensakten bzw. sich verhaltenden Relationen, kurz: Verhaltens/Relationen. Damit wird hier eine vollständig abstrakte Konzeption des Sozialen zu Grunde gelegt: Sozial ist, wenn ein Verhaltens/Relation eine andere Verhaltens/Relation bewirkt bzw. beide sich durch ihr Verhalten miteinander relationieren und sich als Relation verhalten (auch hier also realisiert sich das Soziale, wie bei der Luhmannschen Kommunikation, von hinten her). Bewirken heißt in diesem Zusammenhang: Die zweite Verhaltens/Relation hätte sich ohne die erste nicht genau auf diese Weise verwirklicht, auf die sie sich verwirklicht.37 Verhaltens/Relationen können sich zu allen möglichen Strukturen verdichten, insbesondere zu Regelmäßigkeiten des Beobachtens, Kommunizierens, Beeinflussens, Handelns, Erwartens, Bewertens, Deutens, Symbolisierens – und diese Regelmäßigkeiten, selbst Relationen, relationieren qua
36 Den einheitlichen Gegenstand nicht vorzusehen führt dann in der Literatur schnell zu unbefriedigenden Ergebnissen. Fragt man etwa nach der Ursache für den Schlusszustand der Diffusion institutioneller Muster, dann kann die Antwort lauten: „Ursache ist der Diffusionsprozess.“ Häufig werden Mechanismen auch nicht von ihren Wirkungen (Leistungen, Funktionen) unterschieden, was zur Folge hat, dass die Wirkungen dann sehr eingehend, die inneren Komponenten der Mechanismen – also letztlich: was denn nun der Mechanismus ist, woraus er besteht – aber überhaupt nicht behandelt werden. 37 Die Definition von Verhaltens/Relationen muss anderen Arbeiten vorbehalten bleiben.
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regelmäßigen Verhaltens wieder andere soziale Strukturen: Institutionen, Gebilde, Ressourcen, Restriktionen, Systeme, Akteure…38 (39) Über den Mechanismus ist damit also nicht viel mehr gesagt, als dass er alles mögliche Soziale sein kann – beziehungsweise dass, wenn ein Mechanismus wirkt, soziale Konstellationen auf soziale Konstellationen wirken. In der Literatur wird „Mechanismus“, ähnlich abstrakt, als mehr oder weniger komplexe „Kausalkette“ (Opp 2004: 362-364; Mayntz 2003 pass.; James 2004: 356), als „Ursachenkonstellation“ und „Reihe struktureller Faktoren“ (Balog/Cyba 2004: 39, 37) oder als Einheit wechselwirkender Elemente, die ein „Verbundresultat“ erzeugen (Schmid 2005: 50), begriffen. Meines Erachtens sind substanzielle Eigenschaften der Komponenten eines Mechanismus oder ihrer Beziehungen zueinander überhaupt nicht vorauszusetzen. Kette, Netz, Regelsatz, Wirkprinzip, Wechselwirkung, Faktorenkombination, einseitige Wirkungsbeziehung, Zusammenwirken, komplex oder einfach – alles ist möglich39 beziehungsweise in vielen Hinsichten eine Frage der Perspektive. (40) Der Nutzen dieser Offenheit lässt sich wiederum an der Rekonstruktion des Isomorphismus demonstrieren. Aus Wenn-Komponenten der Hypothesen A1 bis A-6 in Powell/DiMaggio (1983: 154-155) lassen sich folgende Faktoren der Transformation organisationaler Strukturen von Verschiedenheit zu Ähnlichkeit 38 Das vorgeschlagene heuristische Konzept bleibt dem Anspruch nach offen für alle existierenden theoretischen Entwicklungsrichtungen. Es präjudiziert keine inhaltlichen Vorentscheidungen, insbesondere keine „letzte“ Erklärungsursache: Weder Akteure noch Systeme, weder Handlungen noch Kommunikationen noch Interaktionen. Insbesondere ist es abstrakter als der in der Mechanismen-Debatte weit verbreitete methodologische Individualismus (MI), den folgende Sachverhalte relativieren: (a) Es gibt im Sozialen kein Individuum (Unteilbares); (b) es gibt keinen Grund, menschlichen Personen – und die sind meistens wenigstens implizit mit Individuen gemeint – eine methodologisch oder sonstwie bevorrechtigte (aber auch nicht nachrangige) Dignität gegenüber anderen sozialen Einheiten einzuräumen, zumal Personen (besondere Formen von sozialen) Strukturen sind; auch der MI behandelt selbst schon längst weit mehr denn nur handelnde Personen als „Individuen“, damit entfällt auch bei ihm der Individualismus – oder wer sollen die Individuen sein? (c) Strukturen sind weit wirkungsvollere Erzeuger und Reproduzenten des Sozialen – ihrer selbst – als menschliche „Individuen“, und der Bezug auf sie ermöglicht deshalb weiter reichende Erklärungen als der ausschließliche oder vorwiegende Bezug auf „individuelle“ Akteure. 39 Möglich heißt nicht: leicht zu rekonstruieren. Ein Blick in die Mechanismen-Literatur zeigt, dass es sich schon bei der geforderten Rekonstruktion bloßer Kausalketten bislang nur um ein Postulat handelt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wird kaum Auskunft darüber gegeben, aus welchen Schritten oder Faktoren sich die jeweils genannten Mechanismen intern zusammensetzen. Stattdessen werden die Mechanismen nur benannt – und dann wird erläutert, in welcher Weise sie sich auswirken. Ausnahmen von dieser Regel existieren natürlich auch. Vergleichsweise überzeugend, weil wenigstens einige Komponenten benennend, wirken beispielsweise die Mechanismen „soziale Schließung“ und „öffentlicher Traditionalismus“ bei Cyba (2002), die „Global diffusion of institutional patterns“ bei Stichweh (2001) und die Schließungsmechanismen bei Mackert (2001)
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– und damit Kandidaten für die Komponenten eines Isomorphie-Mechanismus – ableiten: (a) Grad der Un-/Abhängigkeit einer Organisation x [im Folgenden: Ox] von einer anderen Organisation y [Oy]. (b) Grad der Zentralisation des Angebots der Ressourcen von Ox. (c) Grad der Ein-/Mehrdeutigkeit (oder Un/Sicherheit) der Beziehung zwischen Mitteln und Zielen der Ox. (d) Grad der Zielambiguität von Ox. (e) Grad, in dem sich Ox bei der Personalauswahl auf akademische Titel verlässt. (f) Grad der Partizipation der Ox-Manager in Handels- und Berufsverbänden. (41) Die Komponenten sind hier im Verhältnis zum Original bereits skaliert und recht weitgehend neutralisiert. Skalierung/Neutralisierung ist ein Analyseschritt, der rein positive oder rein negative Formulierungen in eine Grad-Skala zwischen positivem und negativem Extrempol umwandelt, die den Raum aller möglichen Ausprägungen der Komponente beschreibt. Die Originalformulierung zu Komponente a lautet beispielsweise im Original: „The greater the dependence of an organization to another organisation“ (Powell/DiMaggio 1983: 154; A-1). Zu „größerer Abhängigkeit“ gibt es eine Alternative: geringere Abhängigkeit – oder größere Unabhängigkeit, die Negation von Abhängigkeit. Es lässt sich also eine Skala rekonstruieren zwischen den Gegensätzen absolute Unabhängigkeit und totale Abhängigkeit. Die neutrale und skalierte Version der Komponente lautet also exakt „Grad der Abhängigkeit/Unabhängigkeit einer Organisation von anderen Organisationen“. Die Neutralisierung/Skalierung erlaubt die Rekonstruktion trennscharfer Komponenten und damit auch die Untersuchung der Beziehungen dieser Komponenten untereinander. (42) Die Analyse der Komponenten auf Gemeinsamkeiten kann nämlich nicht nur zu Tage fördern, ob es sich hier um eine kausale Kette, ein komplexes Wechselwirkungsnetz, Implikations- oder Über- und Unterordnungsverhältnisse et cetera handelt, also wie die Komponenten miteinander verbunden sind,40 sondern vor allem deckt sie Basiskomponenten auf. Basiskomponenten sind hoch abstrakte, gleichwohl äußerst wirksame und sozial sehr weit verbreitete, also in verschiedensten Zusammenhängen und Situationen vorfindliche Strukturmomente. (43) Die Komponenten b, d und f, also Ressourcen-Zentralisation, Zielambiguität und Manager-Verbände-Relation, weisen beispielsweise die Gemeinsamkeit auf, dass hier Verhältnisse der Konzentration/Zerstreuung beschrieben werden: Ressourcen sind auf wenige Anbieter konzentriert oder auf zahlreiche verteilt, Ziele sind aufeinander bezogen oder voneinander isoliert, Manager sind in Verbänden oder Austauschforen organisiert oder arbeiten voneinander isoliert. Die Basiskomponente ist dann: „Konzentration (enge multilaterale Beziehungen)
40 Dies aufzuzeigen fordert nachdrücklich Schmid (2005: 48 50).
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verschiedener Strukturelemente aufeinander und/oder auf ein Drittes versus Zerstreutheit (Distraktion) dieser Elemente“, und Konzentration bewirkt Isomorphie.41 (44) In ähnlicher Weise ergeben die Komponenten a, c und e eine Hintergrundkomponente, die sich näherungsweise als „Grad der Verfügung über Variationsmöglichkeiten“ bezeichnen lässt: Kann eine Organisation in einer gegebenen Hinsicht relativ unabhängig zu verschiedenen anderen Organisationen Beziehungen eingehen oder ist sie von ihrer Beziehung zu nur einer anderen Organisation abhängig? Führt ein Mittel eindeutig zu einem bestimmten Ziel, oder bewirkt es gleichzeitig mehrere Zielzustände? Legt sich die Personalauswahl auf das Kriterium „akademische Titel“ fest, oder benutzt sie mehrere unterschiedliche Auswahlkriterien? (45) Die Gemeinsamkeiten-Analyse deckt darüber hinaus Unschärfen auf. Die Komponenten a und b sind beispielsweise nicht disjunkt: Denn bei zentralisierten Ressourcen sind ressourcenabhängige Organisationen „more subject to the whims of resource suppliers“ beziehungsweise „the stronger party … can coerce the weaker party“ (Powell/DiMaggio 1983: 145), und dies sind Beschreibungen von Abhängigkeitsverhältnissen. Wenn man solche Unschärfen entdeckt, bietet es sich an, die im Original bezeichneten Komponenten wieder aufzulösen und zu prüfen, ob man trennschärfere findet. In den erläuternden Textabschnitten zu den Hypothesen A-1 und A-2 findet man: die Chance einer Organisation, (a) eine andere zu bestimmtem Verhalten zu zwingen, (b) sich auf die Erfüllung der Bedürfnisse oder der Aufgaben einer anderen Organisation zu spezialisieren, und (c) verschiedene Unterstützungsquellen (Ressourcen anbietende Organisationen) gegeneinander ausspielen zu können oder eben nicht. Dies ergibt drei neue, vergleichbar trennscharfe Komponenten (Erzwingungspotenzial, Spezialisierungspotenzial, Chance zum Wechsel von Unterstützungsquellen), die zudem ihrerseits als Differenzierungen einer Basiskomponente konzipierbar sind, nämlich des Grades der wechselseitigen Un-/Abhängigkeit von Organisationen.42 (46) Nach durchgeführter Komponentenanalyse wird es nun möglich, jede einzelne Komponente als variablen Regler zu betrachten, den man experimentell zwischen seinen Extrempolen hinauf- und hinunterpegeln kann.43 Bekannt ist die Idee, einen „Faktor“ zu variieren und alle anderen „konstant“ zu halten. Also, wiederum am Beispiel des Isomorphismus (ich belasse es hier bei den Komponenten des Originaltexts von Powell/DiMaggio): Wenn Ox stark abhängig von 41 Um ein Implikationsverhältnis handelt es sich dabei nicht: Strukturgleichheit von Organisationen ist ja nicht identisch mit engen Beziehungen zwischen Ressourcen, zwischen Zielen und zwischen Managern von Organisationen. 42 Die Komponenten „Grad der Un-/Abhängigkeit“ und „Grad der Zentralisation des Res-sourcenangebots“ stehen in einem Verhältnis der Subordination zueinander: Angebots-zentralisation ist eine differenzierende Variante der Un-/Abhängigkeit. 43 Die Regler-Idee übernehme ich von Wiesenthal (2000).
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Oy ist, das Ressourcenangebot monopolisiert ist, die Ziel-Mittel-Relationen vieldeutig schillern, Zielwirrwarr herrscht und die Personalpolitik sich vor allem an akademischen Titeln orientiert: Welchen Einfluss hat es dann auf den resultierenden Isomorphie-Grad organisationaler Strukturen, wenn man die Verbändeund Austausch-Partizipation der Manager, also Komponente f, variiert? (47) Bei der Variation eines Faktors wird man es in der theoretischen Analyse aber nicht belassen, sondern vielmehr eine Kombinatorik verschiedenster „Pegelstände“ der verschiedenen Komponenten durchspielen; man wird verschiedene „Polaritätsprofile“ erzeugen – unterschiedliche Formen des Wirkens eines Mechanismus, und als Resultat dieses Wirkens unterschiedliche Strukturdynamiken. Strukturdynamiken (Schimank 2000) sind transintentionale Muster der Erzeugung, Stabilisierung, Veränderung oder Zerstörung sozialer Strukturen, und damit zugleich typische Muster der Transformation eines Initial-Strukturzustandes in seinen Schluss-Strukturzustand. Ein Mechanismus erzeugt und reproduziert, je nach Komponenten-Pegelung, mehrere solcher typischen Dynamiken der Strukturtransformation.44 Eine Strukturdynamik bleibt entspre-chend so lange stabil, wie der Mechanismus aktiv ist, der sie bewirkt. Jede empirische Strukturdynamik prägt ihrerseits (normalerweise) mehrere empirische Prozesse; sie kann empirisch identifiziert werden, indem verschiedene empirische Einzelprozesse auf Gemeinsamkeiten analysiert werden, bis erkennbar wird, inwiefern sie nach „immer demselben Muster“, eben einer Strukturdynamik, ablaufen.45 44 „Die Erklärung durch einen Mechanismus macht das zu erklärende Phänomen zu einem typischen Fall, was seine Entstehung oder sein Bestehen anbelangt. Ein allgemeines Muster von Verursachung wird aufgezeigt“ (Balog/Cyba 2004: 23). Der Grenzfall, dass ein Mechanismus in einer „einmalige[n] Konstellation“ (Balog/Cyba 2004: 23) nur einen einzigen empirischen Prozess bewirkt, ist durchaus denkbar – dann hat man einen historischen Einzelfall vor sich – aber vermutlich selten. 45 Mechanismen mit Prozessen zu identifizieren (James 2004; Mayntz 2003; Steel 2004; Stichweh 2001; Tilly 2001) ist deswegen zumindest missverständlich. Mechanismen sind nur insofern Prozesse, als sie dauern und historisch kontingent sind. Aber im Verhältnis zum von ihnen Bewirkten sind sie unveränderlich. Dass ein empirischer Prozess „wiederholt“ auftritt, ist übrigens selbst bereits eine Abstraktion: Insofern die Zeit weiter fließt, kann ein jetziges Phänomen nicht identisch mit einem vergangenen sein (ebenso wenig wie ein empirisches Phänomen in Düsseldorf dasselbe sein kann wie eines in Stuttgart). Was zeiträumlich mehrfach auftritt, ist vielmehr ein verallgemeinertes Muster, das verschiedene Prozesse miteinander gemein haben: eine Struktur, ihre Dynamik und ihr aktueller Zustand als Momentaufnahme dieser Dynamik. – Typische strukturelle Zustände und Dynamiken sind in einzelnen konkret-phänomenalen empirischen Zuständen und Prozessen verborgen, weil mit nicht-strukturellen Komponenten bis zur Unkenntlichkeit verschlungen und deshalb nur durch eingehende abstrahierende Analyse freizulegen. Welche allgemeinen Mechanismen einen phänomenalen Zustand oder ein phänomenales Ereignis bewirken, sieht man erst in „einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Detail“ (Genschel 2002: 22). Steel (2004: 65) weist darauf hin, dass die zu frühe Annahme plausibler Mechanismen sogar eher eine Gefahr ist.
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(48) Powell/DiMaggio (1983) geben drei Isomorphismus-Strukturdynamiken an: Isomorphismus durch normativen Druck, durch Zwang und durch Imitation. „Gepegelt“ werden hier allerdings Komponenten, die nicht in den diskutierten sechs Hypothesen, sondern an anderen Stellen jenes Textes etwas weniger systematisch angeführt werden. Die Komponenten könnten lauten (ich improvisiere): (a) Grad, in dem eine Organisation auf innere/äußere Anlässe reagiert: äußere und innere vs. äußere vs. innere; (b) „Evolutions-Grad“ der Haupthandlungen: spezialisiert (Verhandlungen), mittel (Beeinflussung durch etablierte soziale Vermögen: Gesetze), basal (wechselseitige Beobachtung).46 – Nur einige wenige der Strukturdynamiken, die durch Pegelung eines Mechanismus rekonstruiert werden können, werden real verwirklichte Prozesse wiedergeben. Umgekehrt aber gilt: Jedem empirischen Prozess, der durch einen Mechanismus bewirkt wird, ist ein bestimmtes Pegelstände-Profil zuordenbar.47 (49) Ein weiterer Schritt dieser experimentell-konstruktiven MechanismenAnalyse bestünde darin, Komponenten aufzugliedern und neuartig zu rekombinieren, zu streichen, hinzuzufügen, zu vertauschen oder durch neue zu ersetzen und zu prüfen, welche Wirkungen der veränderte Mechanismus hervor bringen könnte.48 Mit diesen experimentellen Variationen werden empirisch nicht realisierte Entwicklungsvarianten nachgezeichnet (entworfen), die durch denselben Mechanismus bei modifizierter „Pegelung“ oder bei Modifikation des gesamten Mechanismus erzeugt werden könnten. Das Mechanismen-Modell wird zum Instrument einer qualitativen Optionenheuristik (Wiesenthal 2002). (50) Ein Mechanismen-Modell gibt also einen Möglichkeitsspielraum an.49 Damit eröffnet er auch eine Weise, in der die Mechanismen-Analyse alternative Praktiken vorschlagen und – durch Feedback an und im Dialog mit betroffenen Praktikern – nicht nur zur Einsicht beitragen könnte, „dass es nicht einfach so 46 Es wären verschiedene weitere Strukturdynamiken rekonstruierbar, insbesondere solche, die eine Steigerung struktureller Heterogenität beschrieben oder solche, die die Transformation zum Erliegen brächten, unterbrächen et cetera. 47 Üblicherweise sind empirische Strukturdynamiken übrigens in verschiedene Phasen gegliedert. Die Rekonstruktion gleicher Phasen in verschiedenen empirischen Prozessen ist deshalb ein Mittel, Strukturdynamiken auf die Spur zu kommen. 48 Mit dem Ergebnis dieses Arbeitsschrittes wäre dann die Stufe der „traditionellen Theorie“ nach Horkheimer (1992: 211) erreicht: „Unter Voraussetzung der Umstände a b c d muss das Ergebnis q erwartet werden, fällt d weg …, tritt g hinzu … und so fort. Solches Kalkulieren gehört zum logischen Gerüst der … Theorie im traditionellen Sinn.“ – Vgl. zu den angegebenen Variationstechniken Kleining (1994). 49 Damit dürfte auch deutlich geworden sein, dass ein Mechanismus bei konstanter Wirkungsweise sowohl unterschiedliche Wirkungen hervorbringt, wie Mayntz (2003: Abschnitt 3) und Schmid (2005: 54) äußern, als auch „die gleichen Wirkungen hervorruft“ (Balog/Cyba 2004: 23): Der Mechanismus erzeugt Wirkungen, die allesamt in einem bestimmbaren Möglichkeitsspielraum verblei-ben und diesen rekonstituieren – also: immer die gleiche Art der Wirkung –, innerhalb dieses Raumes aber variieren und sich insofern voneinander unterscheiden.
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und nicht anders ist, sondern unter Bedingungen wurde“ (Adorno 1966: 62), sondern auch dazu, dass in der Gestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit Intentionalität werde, wo Transintentionalität ist: Die Bedingungen können verändert, „Mechanismen können variiert und Probleme können anders gelöst werden.“ (Luhmann 1966: 1) Auf diese Weise würde der Tatsache Rechnung getragen werden, „dass Mechanismen veränderlich und nicht deterministisch sind“, und dass „durch Einwirkungen auf die Mechanismen auch“ deren Wirkungen verändert, beispielsweise „Ungleichheiten verringert oder abgeschafft werden können.“ (Cyba 2002: 42)50 (51) Wo die entworfenen Alternativen über das piecemeal engineering hinaus reichten, sich auf gesellschaftliche Entwicklungen in größerem Maßstab bezögen, utopische oder dystopische Maßstäbe anlegten; wo öffentlich kommuniziert würde, welche gesellschaftlichen Verhältnisse transintentional verhärtet sind, und dass ihre Veränderung nur mit kollektiven Anstrengungen möglich und deshalb heute verbaut erscheinen: dort wäre ein Leitmotiv der älteren kritischen Theorie aufgenommen, die nach Horkheimer (1992: 244 Fn. 19) „erklärt: es muss nicht so sein, die Menschen können das Sein ändern, die Umstände dafür sind jetzt vorhanden.“ Denn womit sie „ihre verhärteten Gegenstände durchdringt, ist die Möglichkeit, um die ihre Wirklichkeit betrogen hat und die doch aus einem jeden blickt.“ (Adorno 1966: 62) Sofern man aufgeklärte und in intentionale kooperative Praxis umgewandelte Mechanismen noch Mechanismen nennen will, könnte man bei solchen gezielt eingesetzten, in öffentlicher Kommunikation reflektierten und symbolisierten Mechanismen von einer Reflexivitätsstufe III – explizit symbolisierte Mechanismen – sprechen. Beispiele für und Kombination von Mechanismen-Modellen (52) Solche in Mechanismenform rekonstruierten Erklärungsmodelle könnte dann den sozialwissenschaftlichen „Werkzeugkasten“ (Mayntz 2003; Schimank 2000) mit Instrumenten füllen, mit deren Anwendung – gerade auch durch AbsolventInnen – das „Kommunikationsproblem zwischen Sozialwissenschaften zu Staat und Gesellschaft“ (Wiesenthal 2002: 7) neu bearbeitet werden könnte. Zusätzlich könnte eine Schwäche der Werkzeugkasten-Idee bearbeitet werden. 50 Man kann natürlich auch generell fragen, was einen Mechanismus erzeugt – und zwar sowohl, wie der Mechanismus historisch gebildet wurde und welche Bedingungen (oder Mechanismen) ihn aktuell „Tag für Tag neu“ wiedererzeugen. Damit wird ein identifizierter Mechanismus aus der Position des Explanans in die des Explanandum verschoben und eine erweiterte Mechanismen-Analyse betrieben, die durchaus nicht immer notwendig sein muss. Bei der Komponentenanalyse, die notwendig eine Analyse der Relationen des Mechanismus zu anderen sozialen Strukturen ist, werden sich hier aber oft schon hineichend zahlreiche Hinweise ergeben.
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Bislang nämlich gibt es erstens keine Regeln, die angäben, welche Werkzeuge (= Mechanismen-Modelle) bei einem gegebenen Erklärungsproblem anzuwenden wären und welche nicht,51 zweitens ist der Bezug der unterschiedlichen Werkzeuge zueinander unklar. Um dieses Problem zu bearbeiten, ohne wieder eine der bestehenden empirischen oder theoretischen Forschungsperspektiven als Bezugsrahmen vorauszusetzen,52 kann man verschiedene Mechanismen-Modelle einer Analyse auf Gemeinsamkeiten ihrer Komponenten, Erklärungsprobleme und bewirkten Strukturdynamiken unterziehen.53 (53) Um die Leistungsfähigkeit der vorgeschlagenen Konzeption besser beurteilbar zu machen, rekonstruiere ich erst die Luhmannsche „strukturellen Kopplung“ als Mechanismus, dann einen Mechanismus informeller institutioneller Selbststrukturierung und deute abschließend, kursorisch und anhand sehr weniger exemplarischer Aspekte an, wie beide miteinander und mit dem oben rekonstrierten fragmentarischen Isomorphismus-Modell kombiniert werden könnten. Strukturelle Kopplung (54) Das Modell der strukturellen Kopplung scheint mir zwei Erklärungsprobleme zu bearbeiten: erstens, wie sich Systeme überhaupt aufeinander beziehen können, und zweitens, wie sie trotz jeweils völlig eigendeterminierter Entwicklung füreinander tolerabel bleiben – quasi trotz Autopoiesis ein Mindestmaß an Koordination entwickeln. 54 51 Unter diesen Bedingungen setzen sich willkürliche – und dann meist stereotype – Verwendungsweisen durch, nach dem Muster: Verhältnis von Politik und Wirtschaft Ù strukturelle Kopplung zwischen Teilsystemen; Verhältnis Kleinbürgertum und ökonomische Oberschicht Ù Habitus-Feld-Dialektik; Prozesse in Verhandlungssystemen Ù mutual adjustment. 52 und durchaus auch allgemeine Sozialtheorien hinsichtlich ihrer Erklärungsmodelle auszuwerten, entgegen Mayntz’ (2003: Abschnitt 5) Ansinnen „not to search for a general social theory à la Niklas Luhmann”. 53 Hier geht es also um das Verhältnis von Mechanismen zueinander, das sich im Prinzip immer nur so weit klären lässt, wie empirische Verbindungen zwischen Mechanismen aufgedeckt werden. 54 „Der Begriff der strukturellen Kopplung erklärt …, dass Systeme sich zwar völlig eigendeterminiert, aber im großen und ganzen doch in einer Richtung entwickeln, die von der Umwelt toleriert wird.“ (Luhmann 1997: 118) – Dass hier mit „strukturelle Kopplung“ eines der eher opaken Konzepte der konstruktivistischen Systemtheorie zur Rekonstruktion ausgewählt wurde, hängt damit zusammen, dass Leistungsfähigkeit und Grenzen des hier vorgeschlagenen MechanismenAnsatzes vielleicht besser eingeschätzt werden können, wenn er sich schwierigeren Herausforderungen stellt. Die Analyse berücksichtigt nicht alle Aussagen, die Luhmann im Zusammenhang mit struktureller Kopplung tätigt (Verhältnis von struktureller Kopplung zu Interpenetration und operativer Kopplung, die materiell-physikalische Realitätsbasis struktureller Kopplungen), auch theoriehistorische Variationen des Konzepts werden zu Gunsten einer einheitlichen Darstellung
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(55) Zur Wirkung. Strukturelle Kopplung sorgt dafür,55 dass verschiedene Systeme trotz Eigendeterminierung ihre Strukturentwicklung koordinieren (Luhmann 1992: 479)56, miteinander kompatibel bleiben (1992: 495) und einander tolerieren (1997: 118); zudem „erlauben“ sie „schnellere und besser abgestimmte Informationsgewinnung in den beteiligten Systemen“ (1997: 788).57 Die gekoppelten Systeme befinden sich dann in „Zuständen“ (Luhmann 2000: 391), die „so aussehen, als ob sie durch planmäßige Koordination zustande gekommen wären.“ (2000: 401) Dieses Resultat struktureller Kopplungen bezeichnet Luh-
vernachlässigt. Theoriehistorisch ersetzt das Konzept der strukturellen Kopplung das der Interpenetration, das in den „sozialen Systemen“ (Luhmann 1984) noch das Verhältnis zwischen Systemen beschreibt. In den Bänden über gesellschaftliche Funktionssysteme taucht strukturelle Kopplung bis 1990 („Die Wirtschaft der Gesellschaft“), unsystematisch und sporadisch auf; im „Recht der Gesellschaft“ (1992) wird ihr dann erstmals ein ganzes Kapitel gewidmet, und seitdem bleibt sie ein wichtiger Theoriebaustein. Die empirisch-historischen Erläuterungen Luhmanns zur strukturellen Kopplung weisen übrigens meines Erachtens keinen systematischen Bezug zu seinen abstrakten begrifflichen Bestimmungen auf; selbst assoziative Bezüge sind nur mit Wohlwollen zu rekonstruieren. Aber sie seien wenigstens genannt: Eigentum und Vertrag koppeln Recht und Wirtschaft (Luhmann 1992: 450, 443); Verfassung koppelt Politik und Recht (1997: 782); Steuern koppeln Politik und Wirtschaft (1992: 451 hier auch noch: die Zentralbank; 1992: 456 Fußnote 33; 1997: 781, ab hier zusätzlich: Abgaben) [aber auch weitere – Wahlergebnisse als Reaktion auf konjunkturelle Lagen; 2000; 1997]; Universität als Organisationsform koppelt Wirtschaft und Erziehung (1997: 784; allgemeine Bemerkungen zu struktureller Kopplung durch Organisation finden sich bei 2000: 396ff.); Beratung durch Experten koppelt Politik und Wissenschaft (1997: 785); Zeugnisse und Zertifikate koppeln Erziehung und Wirtschaft (1997: 786); Krankschreiben koppelt Medizin und Wirtschaft (1997: 787). 55 Luhmann formuliert oft so, als würde die strukturelle Kopplung selbst etwas „tun“, obwohl systemtheoretisch gesehen, in sozialen Systemen nur Kommunikationen etwas „tun“ können, nämlich kommunizieren – und strukturelle Kopplungen sind keine Kommunikationen. Als „Tätigkeiten“ struktureller Kopplungen tauchen auf: ein- und ausschließen, beschränken und ermöglichen/inten-sivieren, steigern, dirigieren, auslösen, produzieren, kanalisieren, wirksam werden lassen. Als „Objekte“ dieser Tätigkeiten gelten: Ereignisse, Möglichkeiten, Fremdsystemoperationen als Irritationen, wechselseitige Irritationen, Eigenschaften der Umwelt, Einrichtungen, (Beobachtungs-)Schemata. (Vgl. u. a. Luhmann 2000: 374; 1997: 103, 695, 787; 1992: 441, 495, 455; 1990: 165) 56 In diesem Abschnitt lasse ich den Namen Luhmann in den Quellenangaben weg, weil er ausnahmslos Luhmann zitiert. 57 „Was faktisch damit in Gang gesetzt wird, ist eine Geschichte der Auswirkungen wechselseitiger Irritationen, die langfristig gesehen die Richtung beeinflussen, in der die gekoppelten Systeme sich durch Aufbau und Abbau von Strukturen entwickeln.“ (1992: 479) „Auf diese Weise kommt es zu … ‚structural drift’ .., nämlich zu koordinierten Strukturentwicklungen, … . [D]ie intensive reziproke Irritation sorgt dafür, dass ausreichende Kompatibilität erhalten bleibt.“ (1992: 495) Vgl. dazu auch die – diesmal wohl unfreiwillig – paradoxe Formulierung: „Die Funktionssysteme werden durch diese Mechanismen [der strukturellen Kopplung] in der Gesellschaft gehalten, aber da sie ohnehin als Kommunikationssysteme operieren müssen, könnten sie gar nicht aus der Gesellschaft austreten.“ (1992: 481)
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mann (1992: 495) mit einem von Maturana übernommenen Begriff als structural drift.58 (56) Die Wirkung struktureller Kopplungen auf die einzelnen Systeme ist doppelsinnig: So erzeugen strukturelle Kopplungen ein „höheres Kombinationsniveau von Abhängigkeit und Unabhängigkeit“ jedes gekoppelten Systems (1990: 41). Zunächst bewirkt eine strukturelle Kopplung eine Steigerung der Freiheitsgrade eines Systems (2000: 391) und ermöglicht ihm den Aufbau von Eigenkomplexität (2000: 382); beides führt zur Abweichung des Systems von der Welt (und nicht: zur Anpassung an sie; 1990: 166). Folglich stärkt es die Autonomie eines Systems, wenn es vielfach strukturell gekoppelt ist (2000: 374): „Der wichtigste Zwang zu operativer Autonomie und Selbstorganisation dürfte jedoch in der Vielzahl struktureller Kopplungen mit verschiedenen Segmenten der Umwelt liegen, denn das hat zur Folge, dass keiner dieser Außenbeziehungen die Führung überlassen werden kann“ (1997: 780). (57) Andererseits aber werden durch strukturelle Kopplung Einflüsse der Umwelt auf das System erleichtert (1992: 441) beziehungsweise Umweltbedingungen in ihm stärker zur „Geltung“ gebracht (2000: 373).59 Für Strukturgestaltung eines Systems spielt es „eine wesentliche Rolle, mit welchen Irritationen ein System sich immer und immer wieder beschäftigen muss – und welche Indifferenzen es sich leisten kann“ (1997: 780). Bestimmte Systemzusammenhänge wirken sich dabei „irritierender“ aus als andere (2000: 382) und erzeugen damit stärkeren Umstrukturierungsdruck auf die irritierten Systeme – oder, anders formuliert, es erzeugt sich eine stärkere „Kanalisierung (und damit Steigerung) des Drucks wechselseitiger Irritation der Systeme.“ (2000: 391) Der structural drift wirkt zudem auf die Voraussetzungen der Teilnahme an weiteren Kommunikationen zurück (1997: 117; 2000: 391). Dagegen können Systeme nichts unternehmen, denn: „Kein System kann über seine strukturellen Kopplungen disponieren“, weil sie für es unsichtbar bleiben. Wahrnehmbar werden sie nur anhand einzelner Irritationen, aber nicht als ganze, da sie „keine Kommunikationen zum Systemgeschehen beisteuern (2000: 375).60 58 Die Frage, was strukturelle Kopplungen von Strukturen unterscheidet, und ob nicht gekoppelte Systeme in gewisser Weise eine einheitliche Struktur bildeten, lasse ich hier ungeklärt. 59 Dabei bleibt jedes System aber operativ geschlossen und strukturell autonom; schon weil es sich nicht auf die Ereignisse in seiner Umwelt, sondern auf seine Irritationen über diese Ereignisse bezieht – und die Ereignisse damit auf eigene Weise: nach Maßgabe eigener Strukturen und Bedarfe (und im eigenen Resonanztempo, Luhmann 1992: 441) mit eigenen Anschlusskommunikationen versieht (1992: 455; 1997: 787; 1990: 40, 166; 1997: 111). Wie immer in der Systemtheorie gilt: „Die künftige Determination der Systemzustände wird den jeweiligen Systemoperationen überlassen“ (2000: 391). 60 An anderen Stellen bekommt man freilich den Eindruck, ein System könne doch mehr oder weniger freiwillig strukturelle Kopplungen eingehen (das Religionssystem etwa geht wenige ein;
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(58) Zum Initialzustand. Man könnte vermuten, dass Systeme, die sich strukturell aneinander koppeln, vorher als voneinander getrennte existieren. Aber das wäre ein Irrtum. Nach Luhmann kann es differenzierte Systeme, die nicht strukturell gekoppelt sind, nicht geben. Vielmehr bedingen strukturelle Kopplung und Ausdifferenzierung autopoietischer Systeme einander: Zwei Systeme können sich nur dann operativ schließen und voneinander differenzieren, wenn sie sich gleichzeitig strukturell aneinander koppeln. Ein operativ geschlossenes System muss an jenes, von dem es sich ausdifferenziert hat, strukturell gekoppelt sein. Gleichzeitig können strukturelle Kopplungen nicht ent- oder bestehen, wenn sich Systeme nicht funktional voneinander differenzieren würden: Strukturelle Kopplungen sind immer Kopplungen zwischen Systemen.61 (59) So gesehen kann es eigentlich keinen Zustand ohne structural drift geben, denn strukturell gekoppelte Systeme sind immer schon vorweg aufeinander abgestimmt und funktionieren in unbemerkt koordinierter Weise.62 Als Initialzustand veranschlage ich deshalb einen vorherigen Zustand des resultierenden structural drifts. Folglich sind auch zwei voll ausgebildete soziale Systeme A und B vorauszusetzen,63 deren jedes über je eigene, spezifische Erwartungsstrukturen und Möglichkeitshorizonte verfügt. Beide Systeme operieren, das heißt sie er1997: 787), zumindest in begrenztem Ausmaß ein Anlehnungssystem wählen oder den Kopplungsgrad zwischen eng und lose variieren (1997: 780). 61 So zumindest interpretiere ich Luhmanns in dieser Hinsicht nicht sehr explizite Äußerungen im Zusammenhang mit dem Begriff struktureller Kopplung. Die einschlägigen Stellen lauten: „Entscheidend ist .., dass die Realisation von autopoietischen Funktionssystemen und die Einrichtung von strukturellen Kopplungen … nur zusammen evoluieren können.“ (1992: 495). „Ohne die Evolution solcher Kopplungen wäre die Ausdifferenzierung und operative Schließung eines politischen Systems nicht möglich gewesen.“ (2000: 374) „Gefährdung und Destruktion [struktureller Kopplungen hat] katastrophale Folgen .., auf die die Systeme nicht reagieren können, weil alle Möglichkeiten der Reaktion auf Vorwegfilterungen durch strukturelle Kopplungen angewiesen sind.“ (1997: 103) Der Begriff der strukturellen Kopplung reagiere auf „wechselseitige Angewiesenheit, Stützung und Irritation“ verschiedener Funktionssysteme (2000: 382). „Ausgearbeitete und differenzierte strukturelle Kopplungen setzen funktionale Differenzierung voraus“ (2000: 382) bzw. sind „durch Entkopplungen bedingt“ (1997: 780). Vgl. ferner Luhmann 1990: 38, 40-41; 1992: 446-449, 453, 456; 1997: 790. 62 „Bewusstseinssysteme und Kommunikationssysteme [sind] vorweg aufeinander abgestimmt, um dann unbemerkt koordiniert funktionieren zu können.“ (1997: 106 – eine Formulierung, die frappierend an Bourdieus Beschreibungen der prästabilisierten Harmonie zwischen Habitus und Feld erinnert) In dieselbe Richtung weist auch die Bemerkung, dass „jede Form der Differenzierung auf sie abgestimmte Formen der strukturellen Kopplung erfordert und ausbildet“ (1997: 695). 63 Seinem Hang zur strikten Binarität folgend, diskutiert Luhmann im Zusammenhang mit struktureller Kopplung ausschließlich dyadische Beziehungen, also die Kopplung zweier, nie dreier oder mehrerer Systeme. – Ich vernachlässige hier das Verhältnis zwischen sozialen und psychischen Systemen, das Luhmann als Standardbeispiel für strukturelle Kopplung verwendet, und beschränke mich auf die Beziehungen zwischen Sozialsystemen.
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zeugen Kommunikations-Ereignisse. Die Transformation kann konzipiert werden als Wandlung eines structural drift-Zustandes SD in einen zeitlich nachfolgenden structural drift-Zustand SD’.64 (60) Die Komponentenanalyse des Kopplungs-Mechanismus ergibt folgendes. (a) System A irritiert sich selbst unter Bezugnahme auf solche Ereignisse, die von System B, das sich in A’s Umwelt befindet, produziert wurden65 – et vice versa, auch B lässt sich von A-Ereignissen irritieren. Irritieren bedeutet, die Ereignisse mit etablierten Erwartungsstrukturen abzugleichen (1997: 791, 119; 2000: 373) und daran gemessen als Störungen, Überraschungen oder Enttäuschungen zu registrieren (1992: 442). Irritierende Ereignisse sind also solche, die von dem sich irritierenden System klassifiziert werden als „nicht ohne weiteres zu den Erwartungsstrukturen respektive Möglichkeitshorizonten passend“.66 (b) Insofern die Systeme nun keine Alternativen (mehr) wahrnehmen oder insofern sie das Etablieren dieser Alternativen für zu aufwändig oder ihre möglichen Folgen für zu gravierend halten oder nicht abschätzen können (1997: 532), bilden sie Strukturen respektive Erwartungen, die auf diese Irritationen reagieren. Und zwar wie folgt: (c) Beide Systeme sensibilisieren sich für diese Art Irritationen, die da neu aufgetreten sind: Sie werden resonanzfähiger für sie (1990: 41; 1992: 441) beziehungsweise steigern ihre diesbezügliche Irritabilität (und damit Lernfähigkeit; 1997: 790-791), indem sie sich auf die Ermöglichung/Erzeugung und Vermehrung von Irritationen dieses „neuen Typs“ irritierender Ereignisse konzentrieren (1990: 40; 1992: 443; 1997: 790).67 Dieses „Konzentrieren“ beider Systeme kommt komplementären Einschränkungen der Irritabilität auf die „Irritationen neuen Typs“ gleich; so erzeugen die Systeme eine hinreichende Spezifik wechselseitiger Überraschungen (1992: 443).68 (d) Anschließend69 bauen beide 64 Damit vernachlässige ich den Fall der Entstehung einer strukturellen Kopplung zu Beginn der Ausdifferenzierung eines zuvor von seiner Umwelt nicht unterschiedenen Systems. 65 „Es handelt sich immer … um Selbstirritation – freilich aus Anlass von Umwelteinwirkungen.“ (1997: 118) 66 Luhmann (1997: 791) spricht von „Erwartungshorizonte[n] … die … mit Wiederholung desselben in anderen Situationen rechnen. Irritationen werden dann in der Form von enttäuschten Erwartungen registriert.“ (1997: 791) Ferner heißt es: „Irritationen ergeben sich aus einem internen Vergleich von … Ereignissen mit eigenen Möglichkeiten, vor allem mit etablierten Strukturen, mit Erwartungen.“ (1997: 119) 67 Es dürfte durchaus üblich sein, dass A dabei auf tatsächlich (= von einem Beobachter C aus gesehen) neuartige Kommunikationen reagiert, denn neuartige Ereignisse – evolutionstheoretisch gesehen: Variationen – treten ja ständig und in zufälliger Weise auf. 68 So schließen strukturelle Kopplungen hoch selektiv weit mehr Ereignisse (Möglichkeiten, Operationen) aus, als sie einschließen und wirksam werden lassen. 69 Die Untergliederung des Geschehens der strukturellen Kopplung in Phasen darf nicht darüber hinweg täuschen, dass „eigentlich“ (aber: wer kann das beobachten?) alles gleichzeitig passiert. Meine Beschreibung vollzieht damit nach, was die strukturellen Kopplungen selbst „bewirken“: Sie wandeln nämlich gleichzeitige, analoge, kontinuierliche, parallel nebeneinander laufende Ereignisse
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Systeme ihre Erwartungsstrukturen um (und respezifizieren damit ihre Eigenkomplexität, 1990: 41, 165, 530; 1992: 479). Insbesondere bilden sie Erwartungsstrukturen aus, die mit Wiederholungen dieser irritierenden Ereignisse rechnen und diese somit in eine Art ‚reguläre Störungen’ umwandeln. Damit setzen sie diese sich wiederholenden irritierenden Ereignisse dauerhaft voraus und „verlassen sich strukturell“ auf ihr künftiges Auftreten (1997: 111). Eventuell bildet sich sogar innerhalb eines Systems ein endogenes Funktionssystem, das auf die Dauerirritation reagiert (1992: 443-444). (e) Die neue Form struktureller Kopplung ist dann etabliert, wenn „die Irritation [in beiden Systemen, R. L.] durch angepasste Strukturen konsumiert ist.“ (1997: 791) Institutionelle Selbststrukturierung (61) Das Erklärungsproblem lautet hier: Wie funktioniert informelle institutionelle Selbststrukturierung, und wie beeinflusst sie die Chance, institutionelle Strukturen durch gezielte kooperative Eingriffe organisationaler Akteure zu gestalten? Die übergeordnete Struktur war im Falle der zu Grunde gelegten Studie – je nach „Brennweite“ des Fokus – die Institution Universität bzw. Schule oder das Bildungssystem, jeweils samt ihres/seines Verhältnisses zur Umwelt.70 (62) Als phänomenale Wirkung kommt prinzipiell jede Umgestaltung, Restabilisierung, Reproduktion und Ignorierung institutioneller Strukturen in Betracht, die durch informelles handelndes Zusammenwirken erwirkt wird. Untersucht wurden sowohl öffentlich zugängliche Entscheidungsprozesse in formal organisierten Organen, handelndes Zusammenwirken in halb formalisierten Projektgruppen sowie Prozesse des sich Auseinander- und Zusammensetzens in informellen Sozialräumen. Diese drei Typen der Auseinandersetzung bildeten allesamt Arenen kooperativer Strukturbeeinflussung. (63) Die Initialsituation bestand logischerweise typisch in einem bestimmten Ausgangs-Zustand institutioneller Strukturen zu jenem Zeitpunkt, an dem ein Problem oder eine Aufgabe erstmals öffentlich diskutiert wird. So war beispielsweise eine vakante Stelle in bestimmter Weise innerhalb der Organisationsstruktur positioniert – durch ihr bisheriges Aufgabengebiet, ihre zugeordneten in diskrete, digitale, diskontinuierliche, kausale Verhältnisse um (1990: 39, 164; 1992: 441; 1997: 779, 101). 70 Der ursprüngliche Fokus der Untersuchungen, aus der der Strukturierungsmechanismus hervorging (vgl. Langer 2005, Langer 2006, Bastian/Combe/Langer 2005), bestand darin, einerseits Entscheidungsversagen der universitären Selbstverwaltung, andererseits die Reorganisation schulischen Unterrichts mittels SchülerInnenfeedback zu erforschen. Erst im Laufe der Forschungsprozesse wurde deutlich, dass beide Studien trotz ihrer scheinbar recht heterogenen Forschungsfelder dasselbe übergreifende Erklärungsproblem berührten.
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Ressourcen usw. – und der Entscheidungsprozess drehte sich um ihre Neubesetzung und -widmung. Oder es bestand eine tief greifende und ebenso tief verborgene Differenz zwischen den Erwartungen von SchülerInnen und denen von LehrerInnen über die wechselseitigen Aufgaben und Leistungen. (64) Die Komponenten des Mechanismus lauten wie folgt. (a) Sind die Tätigkeiten, mit denen die an der Auseinandersetzung beteiligten Akteure das fokale Problem (die Aufgabe) reproduzieren, eng aufeinander bezogen und einander ähnlich, oder sind sie sehr heterogen? (b) Sind die Erwartungen, die die Akteure an die Bearbeitung des Problems (der Aufgabe) richten, ähnlich, irgendwie aufeinander abgestimmt und deuten sie in Richtung „Machbarkeit“, oder unterscheiden sie sich stark voneinander und tendieren zu „nicht machbar“ oder „irrelevant“? (c) Teilen die verschiedenen Akteure die neuen Symbolisierungen – Ideen, Schlagworte, Ansichten –, die sie während der Auseinandersetzung erzeugen, miteinander und einander mit, und beziehen sie sie reflexiv, gewissermaßen aus beobachtender Vogelperspektive, auf ihre Auseinandersetzung? Oder verharrt jeder Akteur in seiner Teilnehmerperspektive und erzeugt seine „Privatsymbolik“? (d) Konzentrieren die verschiedenen Akteure ihre Kommunikationen und Tätigkeiten, ihre Ressourcen und Kompetenzen, ihre Reflexionen und Deutungen auf diskrete, begrenzte Aspekte des Problems/der Aufgabe, die sie dann arbeitsteilig und nacheinander abarbeiten? Oder „zerstreuen“ sie ihre genannten Qualitäten auf mehrere verschiedene größere Probleme gleichzeitig, vor denen dann jeder für sich allein steht? (e) Gelingt es den Akteuren, ihre mit in die Auseinandersetzung gebrachten Ressourcen aufzugliedern und auf neuartige Weise zu rekombinieren, sodass sie als besseres Bearbeitungswerkzeug zum Problem passen, oder wacht jeder „eifersüchtig“ darüber, seine Vermögen im doppelten Wortsinn für sich zu behalten? (f) Reflektiert die kollektiv geteilte Symbolik einigermaßen getreu die wesentlichen strukturellen Qualitäten der kollektiv geteilten Praxis – sowohl der erwarteten als auch der ablaufenden – oder sind beide weitgehend entkoppelt? (65) Für jede dieser Komponenten gilt: Wenn sie zur im Text jeweils zuerst genannten Alternative tendiert, so steigert das die Möglichkeit koordinierter Strukturbeeinflussungen. Neigt ihre Ausprägung zur zweiten Alternative, so tendiert die institutionelle Struktur dazu, unangetastet zu bleiben – also auch: nicht stabilisiert, „ungepflegt“, sie wird dann porös. – Verschiedene Komponenten-Reglereinstellungen ergeben verschiedene Strukturdynamiken. (66) Unterzieht man diese Komponenten ihrerseits einer Komponentenanalyse, so wird erkennbar, dass jede Komponente des Mechanismus ihrerseits eine bestimmte Konstellation von (Į) Kommunikationen und Tätigkeiten, (ȕ) Ressourcen und Kompetenzen, (Ȗ) Reflexionen und Symboliken verschiedener Akteure miteinander und mit dem Problem im Fokus der Auseinandersetzung dar-
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stellt. In Faktor a beispielsweise kommt es nur auf die Konstellation der ĮBasiskomponenten (der Praktiken) miteinander und mit dem Problem an. In Faktor b dagegen steht die Verknüpfung von ȕ-Basiskomponenten (der Kapitalien; ebenfalls: miteinander und mit dem Problem) im Vordergrund. Genau darin, in dieser Konstituiertheit durch die Basiskomponenten Į, ȕ und Ȗ, besteht die Verbindung der sechs Komponenten des Strukturierungsmechanismus. Zur Kombination der rekonstruierten Modelle – ein Ausblick (67) Trotz der offensichtlichen Unterschiede geht es allen drei Modellen um den Prozess der Veränderung sozialer Strukturen. Strukturelle Kopplung (SK) und Isomorphismus (ISO) zielen dabei auf Prozesse, die Strukturen verschiedener Einheiten füreinander kompatibel machen; der informellen institutionellen Selbststrukturierung (IIS) geht es um jede Art informeller Veränderung von Strukturen. (68) Die erste Strategie, Modelle aufeinander zu beziehen besteht darin, von ihrem Gegenstandsbereich beziehungsweise ihrem engeren Problemkontext zu abstrahieren. Man kürzt also heuristisch „Systeme“ (SK), „Organisationen“ (ISO) und „Institutionen“ (IIS) heraus. Dann ergeben sich folgende wechselseitigen Ergänzungen: Man kann sowohl Prozesse multilateraler Abstimmung aufeinander (SK, ISO) als auch wechselseitiger Distanzierung voneinander untersuchen (IIS ist offen dafür, aus der Systemtheorie müsste man hier das Ausdifferenzierungs-Konzept ergänzen); man kann die Wirkungen von und auf informelle (IIS) und formale (ISO) Strukturen untersuchen; man kann zwischen Wirkungen von und auf inter- und intrasystemischen (-organisationalen, -institutionellen) Strukturen unterscheiden (SK, ISO) und man kann die Frage nach der Möglichkeit und den Varianten intentionaler kooperativer (IIS) beziehungsweise individuell disponibler (SK) Beeinflussung multilateraler Strukturen stellen. – Die drei Modelle bieten also zahlreiche Perspektiven an, die einander eher ergänzen als ausschließen und deshalb kombiniert auf einen Forschungsgegenstand angewendet werden können, um ihn besser auszuleuchten als mit einem Modell allein. Das ist gemeint mit der Konzentration sozialwissenschaftlicher Kräfte. Zudem decken die Modelle wechselseitig „blinde“ Flecken oder implizit bleibende Annahmen auf; dies zwingt alle Modelle zur Selbstpräzisierung – deren Ergebnisse nach aller Erfahrung dann die Kombination der Modelle erleichtert. (69) Das eigentlich Entscheidende ist die Analyse der Komponenten auf Gemeinsamkeiten. Ein Beispiel: Der Grad der Konzentration/Zentralisation von Ressourcen spielt eine Rolle in ISOb (= ISO-Komponente b) und IISd. Da beides nicht ganz deckungsgleich ist, stünde eine präzisierende Klärung an; etwa in dem
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Sinne: Zentralisation bedeutet, dass nur die zentrale Einheit über Ressourcen verfügt, die anderen aber nicht; Konzentration bedeutet eine gemeinsame Nutzung zusammengelegter Ressourcen. Konzentriert wird bei der strukturellen Kopplung vor allem die Erwartung (Wahrnehmung), und zwar auf Irritationen (SKc). Dies findet eine gewisse Entsprechung in IISd, wo verschiedene Dinge auf „Probleme/Aufgaben“ konzentriert werden (oder eben nicht). Weiter ist es wohl nicht zu weit her geholt, Probleme oder anstehende Aufgaben als eine wahrgenommene Form irritierender Ereignisse zu konzipieren. An ISOb richtet sich dann die Frage, ob die Ressourcen dort auch auf etwas konzentriert sind. – Deutlich wird jedenfalls, dass Konzentration/Zerstreuung (ich wähle hier die Begriffe des von mir rekonstruierten Mechanismus, aber der bezeichnete Sachverhalt lässt sich in allen drei Modellen finden) möglicherweise eine Basiskomponente bilden könnten. (70) Die Rekonstruktion einer solchen Basiskomponente würde es ermöglichen, bei Analysen empirischer Gegenstände systematisch nach Konzentrationsund Zerstreuungstendenzen zu suchen, und zwar von verschiedenen Einheiten (Erwartungen, Ressourcen und weitere) auf verschiedene Einheiten (irritierende Ereignisse, Probleme, Aufgaben und weitere). Der Vorzug dieser systematischeren Analyse auf der Grundlage gefundener Basiskomponenten wird vermutlich schneller und effizienter zu tragfähigen mechanismischen Erklärungen führen – nämlich: einen schnelleren Durchgriff auf „tief“ und „verbreitet“ wirkende Mechanismen(-Komponenten) erlauben, also aufs Wesentliche – als wenn man bei den Ursprungsmodellen verbliebe. Ein weiterer Nutzen besteht darin, dass die gefundenen Basiskomponenten systematisch respezifiziert werden können bis hin zu verschiedensten konkreten empirischen Situationen (etwa dass gegnerische informelle Akteurgruppen in einem universitären Entscheidungsprozess wesentliche Informationen zurückhalten, vulgo: im Zustand der Zerstreutheit belassen und deshalb zur Unmöglichkeit kooperativer Strukturgestaltung der Universität beitragen, oder dass das Wirtschaftssystem seine Erwartungen auf internationale/globale Prozesse konzentriert und sich deshalb von nationalen Interessen gar nicht mehr irritieren lässt). (71) Wenn das Erklärungsproblem es erfordert, und wenn sich zeigt, dass durch Kombination der Basiskomponenten ein stärker generalisierter und mindestens ebenso spezifischer Mechanismus rekonstruierbar ist, der empirisch vorfindbar ist, dann kann dieser allgemeine Mechanismus modelliert werden. Dieser kombinierte Mechanismus wird dann „zum Referenzpunkt, der ansonsten heterogene Situationen vergleichbar macht“ (Genschel 2002: 22) – und wie oben zu
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vergleichsweise effizientem Auffinden wesentlicher Strukturen und Strukturdynamiken beiträgt.71 (72) Solche komplexen, empirisch und theoretisch begründeten Mechanismen-Modelle ermöglichen die Aufdeckung von Wirkungszusammenhängen, die normalerweise auch in gut erforschten Feldern nicht systematisch betrachtet werden. Man könnte den kombinierten Kopplungs-Isomorphie-StrukturierungsMechanismus etwa auf komplizierte Erklärungsprobleme anwenden, die das Bildungssystem betreffen: Warum kommunizieren Schulen und Behörden kaum oder aneinander vorbei? Warum drehen sich die Reformen in Bildungs- und Gesundheitssystem nicht um die Kernaufgaben – Steigerung der Qualität von Forschungs-, Lern- und Heilungsprozessen? Weshalb werden politisch weiterhin Top-Down-Reformen in schneller Folge angestoßen ohne Rücksicht auf deren Wirkungsarmut und Nebenwirkungsreichtum? Wie kommt es, dass die Sprache der Wirtschaft (und nicht eines anderen Systems) in anderen Systemen als Legitimationsinstrument benutzt wird? Wie und warum werden welche Ungleichheiten im Arbeitsalltag in den Bildungsinstitutionen reproduziert? Ein empirischer Mechanismus, der diese Verhältnisse reproduziert, kann nur mit komplexen integrativen theoretischen Mechanismen-Modellen entdeckt werden, die gleichzeitig an allgemeinen, grundlegenden Verhältnissen ansetzen (welche Einheiten konzentrieren welche Eigenschaften auf welche Gegenstände?) und problemspezifisch und gegenstandssensibel sind. Literatur Adorno, Theodor W. 1966: Negative Dialektik. Frankfurt/M.: Suhrkamp Adorno, Theodor W. 1969: Erziehung nach Auschwitz. In: Stichworte. Kritische Modelle 2. Frankfurt/M.: Suhrkamp Adorno, Theodor W. 1979: Diskussionsbeitrag zu „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?“ In: Ders. Soziologische Schriften I. Frankfurt/M.: Suhrkamp Balog, Andreas/Cyba, Eva 2004: Erklärung sozialer Sachverhalte durch Mechanismen. In: Gabriel, Manfred (Hg.): Paradigmen der akteurszentrierten Soziologie. Wiesbaden: VS. 21-42 Bastian, Johannes/Combe, Arno/Langer, Roman 2005 [zuerst 2003]: Feedback-Methoden. Weinheim, München: Beltz Beetz, Michael 2003: Organisation und Öffentlichkeit als Mechanismen politischer Koordination. In: Kai-Uwe Hellmann/Karsten Fischer/Harald Bluhm (Hg.): Das System der Politik: Niklas Luhmanns politische Theorie. Wiesbaden: VS; 108-120. 71 Strukturdynamiken – das Bindeglied zwischen Mechanismus und empirischen Prozessen – zu rekonstruieren scheint mir der letzte und schwierigste Akt mechanismischer Modellierungen zu sein.
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Zur soziologischen Notwendigkeit mechanistisch-soziologischer Erklärungen
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Zur sozionischen Notwendigkeit mechanistisch-soziologischer Erklärungen Zur soziologischen Notwendigkeit mechanistisch-soziologischer Erklärungen
Thomas Kron /Christian W.G. Lasarczyk
In diesem Beitrag möchten wir die These begründen, dass soziologischen Erklärungen eine Notwendigkeit innewohnt, auf Computersimulationen zurückzugreifen. Zur Nachvollziehbarkeit müssen drei Fragen geklärt werden: (1) Was leisten Computersimulationen überhaupt? (2) Was ist eine soziologische Erklärung? (3) An welcher Stelle entsteht die sozionische Notwendigkeit von Computersimulationen innerhalb soziologischer Erklärungen? Wir werden versuchen, diese drei Fragen zu beantworten und zum Schluss die soziologische Notwendigkeit an einem Beispiel zu demonstrieren. Was leisten Computersimulationen? Ein Vorteil, der im Zusammenhang sozialwissenschaftlicher Nutzung von Comutersimulationen immer wieder genannt wird, ist der Zwang zur Präzision in der Darstellung der Zusammenhänge. „Wichtiger noch als der Gewinn an Übersichtlichkeit ist der durch die Modellkonstruktion ausgeübte Zwang zur Präzision“, stelle schon Mayntz (1967: 27) fest. Dieser Zwang entsteht dadurch, dass die Modellierung direkt auf die für Simulationsexperimente notwendige Implementierung im Computer ausgerichtet ist, d.h., in eine formale, in sich kohärente Sprache übersetzt werden muss. Diese „auferzwungene“ Präzision hat Vorzüge: „Die Möglichkeit, Teile der soziologischen Theorien mathematisch zu modellieren und Konsequenzen der Annahmen formal abzuleiten, bietet die Vorteile der genaueren Spezifizierung, Redundanzvermeidung und Erhöhung der deduktiven Kraft.“ (Müller-Benedict 2003: 26). Zudem hilft die Formalisierung bei der Überprüfung der Konsistenz der Annahmen (Troitzsch 1997: 45). Dies gilt alleine schon für die auf Simulation ausgerichtete Modellierung. D.h., alleine die Überlegung bei der Modellkonstruktion, dass dieses Modell für die Computersimulation einsetzbar sein soll, erzwingt eine gewisse Disziplinierung „soziologischer Phantasie“. Auf Grund dieser Disziplinierung sind sozionische Modelle meistens einfacher als soziologische (Gedanken)-Modelle, weil die „Aura des Assoziativen“ (Mayntz 1967: 28) sprachlich formulierter Aussagen mit der notwendigen
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Formalisierung der Modelle ein Stück weit verloren geht. Dies kann durchaus ein Verlust sein, denn an den Stellen, an denen bestimmte Zusammenhänge noch unklar sind, kann die sprachliche Formulierung wenigstens Plausibilitäten bieten. Bei Schnell (1990: 118) heißt es dazu: „Der Zwang zur Präzision bei der Erstellung eines Simulationsprogramms äußert sich vor allem in der Notwendigkeit, alle theoretischen Annahmen explizit angeben zu müssen. Diese Notwendigkeit führt bei jeder Programmierung einer Simulation zur Entdeckung von Wissenslücken. Diese Wissenslücken werden meist über plausibel erscheinende, meist neue theoretische Annahmen überbrückt.“ Derartige sprachliche Plausibilisierungen bedeuten allerdings nicht immer, dass damit auch neue Einsichten gewonnen werden: „Gerade in den Sozialwissenschaften liegt die Gefahr nahe, bloße semantische Innovationen mit echtem Erkenntnisgewinn zu verwechseln.“ (Mayntz 1997a: 116) Der Verlust des „semantischen Potenzials“ in der sozionischen Modellierung ist demnach nicht zwangsläufig ein Erkenntnisverlust. Das Gegenteil kann der Fall sein, wenn der Wegfall – einhergehend mit einer zur Simulation geeigneten Modellierung – die Darstellung der Zusammenhänge mehr verdeutlicht als vorher. Die durch Formalisierung erzwungene Notwendigkeit genauer Angaben über die Wirkungsweisen bestimmter Modell-Parameter ist allerdings aus einem weiteren Grund nicht unproblematisch: „Noch wichtiger […] ist es, dass die Modellkonstruktion immer wieder dazu zwingt, auch dort präzise Annahmen zu formulieren, wo wir tatsächlich über die relevanten Zusammenhänge nichts wissen, einschließlich Annahmen über systemfremde Voraussetzungen (z.B. psychische oder biologische Mechanismen) oder über empirisch nicht fassbare Glieder von Zusammenhängen. [...] Indirekt ist damit aber wieder ein Vorteil der Modellkonstruktion verbunden: sie macht auf Lücken aufmerksam und stellt der Forschung neue Aufgaben.“ (Mayntz 1967: 28f.) Im Bereich der Sozialsimulation hat sich mittlerweile eine einfache Lösung für dieses Problem der notwendigen Implementation des nicht exakt Spezifizierbaren etabliert: Die Modellierung von Zufall (Randomisierung von Parametern). Mit Gilbert (1996a: 450f.) kann man vier für Sozialsimulationen theoretisch und methodologisch wichtige Vorteile der Implementierung einer Zufallskomponente ausmachen. Erstens modelliert man mit Zufall all jenen „internen“ Prozesse bestimmter Parameter des Akteurs bzw. Agenten, die man nicht konkret modellieren möchte oder kann, ohne dass man auf den Parameter verzichtet. Eine ähnliche Funktion übernimmt der Zufall zweitens bezüglich bestimmter Umweltprozesse, die ebenso qua Zufallskomponente in ihrem Vorkommen zwar berücksichtigt, nicht aber in allen Details modelliert werden. Drittens verhindert eine Zufallskomponente das Auftreten ungewünschter temporaler Effekte. Und viertens kann der Zufall benutzt werden, um die Robustheit des beobachteten Simulationsverhaltens zu demonstrieren.
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Es gibt aber nicht nur das Problem, dass man Annahmen explizieren muss, obwohl man nichts näheres darüber weiß, sondern ebenfalls, dass implizit theorieimmanent kritische Annahmen (z.B. bei zellulären Automaten bezogen auf die räumlich Anordnung) getroffen werden müssen: „We must always be aware that a given simulation tool may make some implicit assumptions which are not part of the theory we have in mind.“ (Troitzsch 1997: 45f.) Sehr häufig stellt man bei Simulationsexperimenten fest, dass die von einer Theorie behaupteten Annahmen und Konsequenzen nur beim Vorliegen bestimmter, bisher nicht explizit genannter zusätzlicher Hypothesen auftreten und selbst dann nur bei bestimmten Parameterwerten. Ein Austesten derartiger Annahmen ist allerdings ein wichtiger Schritt für den Gewinn weiterer Erkenntnisse. Hier helfen Techniken aus dem Simulation und Design of Experiments (DOE), mit denen systematisch der Einfluss von Parametern auch in ihren Kombinationen analysiert wird (Law/Kelton 1991). Der durch die Modellierung initiierte Zwang zur Präzision ist also für die Soziologie insgesamt nicht nur Segen, aber auch nicht zwingend ein Fluch. Gerade für die sozionische Perspektive gilt, dass sich Formalisierung und sprachliche Assoziation nicht ausschließen, sondern unabdingbar miteinander verknüpft sind. Man könnte als Maxime ausgeben: Soviel Formalisierung wie möglich und so viel sprachliche Assoziation wie nötig! Das bedeutet: zunächst sollte man sich fragen, ob eine Formalisierung möglich ist. Ist sie möglich, sollte die Formalisierung umgesetzt und dann der soziologischen Interpretation ausgesetzt werden (Kreutz/ Bacher 1991: IXff.). Das bedeutet: Formalisierung alleine genügt nicht. Stets müssen die soziologischen Bedeutungen mit aufgeführt und (erst) dann können Folgeschlüsse aus dem untersuchten Zusammenhang gezogen werden. Wenn die Formalisierung nicht möglich ist, eröffnen sich verschiedene Anschlussmöglichkeiten: erstens deutet die Unmöglichkeit der Formalisierung darauf hin, dass eventuell die Zusammenhänge noch nicht deutlich genug herausgearbeitet sind. Es müssen in Folge dessen weitere Daten generiert werden, die die analysierten Wechselbeziehungen besser beschreiben und einer (dann vielleicht formalisierbaren) Erklärung zugänglich machen. Was aber macht man mit dem Modell, wenn diese Daten nicht verfügbar sind (Gilbert 1994: 155)? Entweder man vereinfacht das Modell, etwa durch Änderungen des Generalisierungsniveaus (vgl. Schimank 2002). Oder man bildet die Formalisierungslücke im Modell mit Hilfe von „Platzhaltern“ ab. Wenn Formalisierung in diesem Sinne als Maßstab eingeführt wird1, heißt dies nicht, dass zwingend mathematische Formeln zum Einsatz kommen müssen. 1
Formalisierung bedeutet auch ein Stück weit Schutz vor einer Ideologisierung der Disziplin: „the less formal a discipline, and the more likely its representatives will act as popular opinion-
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Computersimulationen können verschiedene Formalisierungsmethoden integrieren, z.B. auch Logikbasierte Formalisierungen. Wichtig ist, dass die Zusammenhänge so klar dargelegt werden müssen, dass ein Soziologe sie z.B. mit Hilfe eines Informatikers prinzipiell in implementierbare Modelle überführen kann, die am Computer lauffähig sind – und damit bewiesenermaßen eine gewisse notwendige Stringenz aufweisen. Formalisierung meint in diesem Sinne eher die Transformation eines intuitiven Konzepts in ein exaktes Modell. Es ist eine Kunst, das angemessene Verhältnis von Präzision, mathematischer Handlichkeit und Wirklichkeitsnähe zu erzeugen und das Ergebnis läuft zumeist auf „Modelle mittlerer Kompliziertheit“ hinaus, die sich zwischen unhandlich komplizierten/komplexen und sehr vereinfachenden Modellen bewegen (Mayntz 1967: 14). Wie bei allen Werkzeugen, deren sich die Soziologie bedient, ist die Bewertung der zur Erklärung eingesetzten Werkzeuge vor allem vor dem Hintergrund der erzielten Erkenntnisse zu treffen. Aber schon an dieser Stelle, noch bevor auf den möglichen Erkenntnisgewinn durch Computersimulationen eingegangen wird, sei auf den Hinweis von Renate Mayntz verwiesen: „Aber wie bescheiden auch immer der Beitrag der Modellkonstruktion ist: der gegenwärtige Zustand soziologischer Theorie rechtfertigt es kaum, ein Mittel zurückzuweisen, das – immerhin – Klärung bringt, Folgerungen sichtbar macht und auf Wissenslücken hinweist.“ (Mayntz 1967: 30) Dies gilt – leider – u.E. gegenwärtig noch immer! Halten wir fest: Zunächst muss man, um das Werkzeug der Computersimulation nutzen zu können, den Weg der formalisierten Modellierung gehen, mit allen damit verbundenen Schwierigkeiten. Und genau dies ist ein Vorteil der Methode der Computersimulation: „Paradoxically, one of the main advantages of simulation is that it is hard to do. To create a simulation model, its theoretical presuppositions need to have been thought through with great clarity. Every relationship to be modelled has to be specified exactly, for otherwise it will be impossible to run simulation. Every parameter has to be given a value. This discipline means that it is impossible to be vague about what is to be assumed.“ (Gilbert 1994: 155) Letzteres meint, dass man gezwungen ist, die üblichen Vagheiten der soziologischen Begrifflichkeiten genau, d.h. präzise und vollständig zu definieren, damit der Computer damit rechnen kann. Die präzise und vollständige Definition ist notwendig, aber nicht hinreichend, denn man muss zudem darlegen, wie das, was mit der Formalisierung ausgedrückt werden soll, überhaupt messbar ist. Wie kann man z.B. die „Ordnung sozialer Strukturen“ messen (auf mögliche Antworten kommen wir unten zurück)? Eine Formel alleine sagt nicht viel aus, sondern muss, wie gesagt, mit der soziologischen Interpretation einhergehen und z.B. die Angemessenheit des Generalisierungsniveaus für die Fragemakers. [...] The social scientific domain, especially sociology, is from time to time jeopardised by ideological floods.“ (Conte/Hegselmann/Terne 1997: 3)
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stellung oder die Art und Weise der Messung der Variable festlegen. Damit gilt: „Der Wert eines Simulationsmodells liegt zunächst einmal darin, dass man es konstruiert, weil man sich damit dazu zwingt, seine Vorstellungen über den zu simulierenden Realitätsausschnitt zu präzisieren.“ (Dörner 1996: 508). Welchen Wert haben Computersimulationen außerdem noch – unabhängig vor der dafür notwendigen Vorbereitung? Eine Antwort gibt Mayntz (1967: 25): „der Hauptzweck der Simulation [ist] oft weniger eine quantitative Vorhersage von bestimmten Ergebnissen als die qualitative Einsicht in den sich aus verschiedenen Faktorenzusammenhängen ergebenden sozialen Mechanismus, der sie erzeugt.“ Dabei geht es nicht nur um die Feststellung von Korrelationen, sondern: „Der entscheidende Vorteil der Simulation ist, dass sie es erlaubt, dynamische Systeme darzustellen.“ (Mayntz 1967: 24). Mit Computersimulationen haben Soziologen ein Werkzeug an der Hand, um dynamische Strukturen in kontrollierten Experimenten zu untersuchen. Die Untersuchung dynamischer Strukturen ist nahezu Definitionskriterium von Computersimulationen: „Simulationsmodelle sind Operationsmodelle von Vorgängen in sozialen Systemen, die in einem Computer nachgebildet werden, so dass über Zeit ablaufende Prozesse in allen Einzelheiten reproduziert werden.“ (Mayntz 1967: 23) Computersimulationen sind weder Variablenzentriert, noch Fallbasiert, sondern „explicate the mechanisms of social processes and so perhaps could be called ‚process-centred’ analysis. It does this by studying the mechanisms which connect individual action and – the most important difference – between processes at the micro and the macro levels.“ (Gilbert 1996a: 449; vgl. Moss/Edmonds 2003)2 Zu wissen, wie sich selbst einfache dynamische Systeme verhalten werden, ist oft auch für jene Experten schwierig vorherzusehen, die an der Konstruktion des Systems beteiligt sind, z.B. bei Bauwerken, Autos usw. Soziale Systeme dagegen dürften – eben weil soziale Akteure handlungsfähig sind – meistens eher solchen dynamischen Systemen entsprechen, deren Verhalten insgesamt nahezu völlig unvorhersehbar ist (Buchanan 2001). So können sich in der Simulation neue Erkenntnisse ergeben, die bei der ursprünglichen Systemkenntnis nicht gefolgert werden konnten, etwa wenn ein System plötzlich Zusammenbrüche oder Schwingungsverhalten zeigt. Folglich, so etwa Byrne (1997: 2.4), gilt für derartige Systeme: „There is no point in establishing laws which are universal because in chaotic/complex systems only local solutions are valid. This is not a license for antirational postmodernism. Local solutions can be established and matter a great 2
Gilbert (1996a: 449) betont ebenfalls den Vorteil der Untersuchung von dynamischen Systemen mit Simulationen im Gegensatz zu anderen Formalisierungsmethoden, etwa durch mathematische Gleichungen. Letztere sind nicht leicht zu lösen, besonders wenn es um nicht-lineare Prozesse im Rahmen von Wechselbeziehungen zwischen Handlungen und Strukturen geht (vgl. Müller-Benedict 2000).
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deal, but it is precisely the evolution of nonlinear processes which can be explored by simulation and it may that we can come to local but nonetheless important solutions to problems.“ Man kann also mit Hilfe von Computersimulationen die Beziehungen der relevanten Parameter in ihren prozessualen Entwicklungen analysieren.3 Simulationen sind letztlich „opake Gedankenexperimente“ (Ezequiel/Noble/ Bullock 2000) insofern, dass die qua Simulation erzeugen Konsequenzen, z.B. bestimmte Aggregationen, ausschließlich das Ergebnis der zuvor gemachten (modellierten und implementierten) Annahmen sind. In der Simulation entsteht Neues (neue, vorher unbekannte Erkenntnisse), obwohl nur Bekanntes eingebaut wurde. Und trotzdem erscheinen diese Ergebnisse oftmals zunächst nicht offensichtlich und müssen daher zur Erklärung weiter systematisch untersucht werden. Mit anderen Worten, man entdeckt mit Computersimulationen per definitionem nichts Neues, sondern gewinnt nur eine neue Sicht über die Zusammenhänge der vorher bekannten Parameter. Computersimulationen erzeugen „explanatory opacity“ (Ezequiel/Noble/Bullock 2000: 502), deren Enthüllung zusätzliche erklärende Erkenntnis bringt. Dabei nehmen Computersimulationen eine Stellung zwischen Deduktion und Induktion ein. Induktion meint hier die Entdeckung bestimmter Muster in empirischen Daten, während Deduktion ein spezifisches Set von Axiomen voraussetzt und daraus Konsequenzen ableitet. „Simulation is a third way of doing science. Like deduction, it does not prove theorems. Instead, a simulation generates data that can be analyzed inductively. Unlike typical induction, however, the simulated data comes from a rigorously specified set of rules rather than direct measurement of the real world.“ (Axelrod 1997: 24) Zu nennen sind zudem „materielle“ Vorteile, die mehr mit dem der Art des Experiments als mit der Vorgehensweise zu tun haben. Z.B. sind die Kosten für die Anwendung von Computersimulationen allgemein wesentlich niedriger als die üblichen sozialwissenschaftlichen Labor- oder Felduntersuchungen, vor allem, wenn ein Programm bereits implementiert ist. Es könnten dann auch immer genügend analysierbare, durch den Computer erzeugte Daten produziert werden, und das bedeutet auch, dass es keine Messprobleme auf Grund fehlender Daten oder unkontrollierter Variablen gibt wie etwa oftmals in Feldstudien. Man kann ebenfalls kontrafaktische Situationen untersuchen. Zu erwähnen ist ebenfalls, 3
Dass es sich um Computersimulationen handelt, ist natürlich technisch entscheidend: „Die Tatsache, dass Computer schnell und genau jede mathematische oder logische Formulierung in beliebiger Kombination abarbeiten können, erweiterte die Möglichkeit der Modellbildung und Simulation auf alles, was sich – in welcher Form auch immer – formalisieren und damit rechenfähig darstellen lässt. Damit sind in fast allen Bereichen menschlicher Erfahrung neue Möglichkeiten entstanden, um bisher kaum überschaubare komplexe dynamische Entwicklungen auch modellhaft darzustellen, zu simulieren, besser zu verstehen und besser mit ihnen umzugehen als bisher.“ (Bossel 1994: 11)
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dass Dynamiken, die zur Systemzerstörung führen, im Computer keine Konsequenzen haben (das Simulationsprogramm wird nicht zerstört), so dass man sehr einfach auch gefährliche Situationen untersuchen kann. Eine Schwierigkeit entsteht allerdings immer dann, wenn noch kein Simulationsprogramm zur Verfügung steht, so dass Soziologen nahezu zwangs-läufig mit Informatikern zusammenarbeiten müssen, etwa um eine handhabbare Software zu entwickeln.4 Es gibt Ausnahmen, die offensichtlich sowohl die informatischen Methoden und Programmierung wie auch soziologische Theorien beherrschen. Doch für die große Mehrheit der SozialwissenschaftlerInnen dürfte gelten, dass sie zu einer angemessenen computersprachlichen Implementierung eines Modells nicht in der Lage sind. „What most people outside the field of computer simulation do not realize is how much time it takes to get reasonably fluent in computer programming in order to be productive. It takes scholars several years to train themselves to be able to adequately conduct computer simulations. To make an analogy this is if you want to drive a car you first have to learn to build one. Good drivers are not necessarily good mechanics and vice versa. The point is that computer simulation is simply too high of an entry barrier for most social scientists – especially the ones who do not have a ‘hard science’ background.“ (Bruderer/Maiers 1997: 90). Das erste Problem, das folglich überwunden werden muss, ist die Frage, wo man geeignete InformatikerInnen findet, die möglichst schon Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit SozialwissenschaftlerInnen haben. Leider ist die Gemeinschaft derjenigen, die die sozionische Perspektive kennen, äußerst fragmentiert.5 Mit dem Auffinden eines Kooperationspartners ist jedoch nicht automatisch das interdisziplinäre Glück eingekehrt. Die Zusammenarbeit ist ein schwieriger Prozess, beginnend mit dem Problem, eine gemeinsame Sprache der Verständigung über disziplinäre Grenzen hinweg zu entwickeln. Die Notwendigkeit zum „Zusammenraufen“ ist vor allem gegenwärtig gegeben, weil es an einer Standardisierung für Sozialsimulationen mangelt, d.h., man kann als Soziologe mit einer bestimmten Fragestellung nicht wie etwa bei statistischen Auswertungen auf ein bestimmtes Software-Paket zugreifen.6 Wichtig wäre auch 4 5 6
Computersimulationen erlauben (und erzwingen nahezu) die interdisziplinäre Zusammenarbeit, z.B. auch mit der Kognitionswissenschaft, wenn es um Fragen der Modellierung und Implementierung von Gedächtnissen geht. Einer der großen Vorteile des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten SozionikSchwerpunktprogramms sind denn auch die geknüpften Kontakte zu der jeweils anderen Wissenschaft. Gäbe es für die statistische Auswertung nicht eine entsprechende, auch in der Lehre eingesetzte Standard-Software, dann hätte die quantitativ ausgerichtete Soziologie eine ähnliche Notwendigkeit zur interdisziplinären Zusammenarbeit, denn es kämen wohl nur wenige auf die Idee, ihr eigenes Statistik-Programm zu schreiben. Es bleibt zu hoffen, dass sich auch auf dem Gebiet der Computersimulation in Zukunft eine oder wenige leicht zu erlernende special-purpose Systeme
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ein Konsens bezüglich der Auswertungsmethoden von Simulationsergebnissen. Aus dem jeweiligen Selbstverständnis als InformatikerIn oder SoziologIn folgt auch, dass die jeweils eigenen Verfahren, Vorgehensweisen, Methodologien usw. fast immer mit ziemlicher Vehemenz in die sozionische Zusammenarbeit eingebracht werden. Mit anderen Worten: diese Zusammenarbeit ist nahezu unausweichlich konfliktreich. Aber auch dies kann ein Vorteil sein. Man wird nämlich häufig zum Überdenken der eigenen Selbstverständlichkeiten und Routinen gezwungen und identifiziert dabei so manchen „blinden Fleck“ – bei sich selbst, was die Chance für Kreativität erhöht, oder bei dem Partner, was den Nutzen der eigenen Herangehensweise deutlicher werden lassen kann. Damit ist angedeutet, dass die notwendige interdisziplinäre Zusammenarbeit – als ein Definitionskriterium der Sozionik – zugleich wiederum vorteilhaft sein kann.7 Zusammenfassen kann man sagen, dass die sozionische Vorgehensweise zur Präzision der Darstellung sozialer Zusammenhänge zwingt, in besonderer Weise zur Analyse dynamischer Systeme geeignet ist, neue Zusammenhänge in bekannten Modellen aufzeigt und (wenigstens einige) „blinde Flecken“ durch transdisziplinäres Zusammenarbeiten beseitigt. Die Frage ist nun: kann oder muss man diese Eigenschaften im Rahmen soziologischer Erklärungen nutzen? Zu beantworten ist dies nur, wenn man eine hinreichend klare Vorstellung davon hat, was denn überhaupt eine soziologische Erklärung ausmacht. Was ist eine soziologische Erklärung? Das Hauptproblem zur Beantwortung der Frage nach dem soziologischen Erklärungsmodell ist, dass es ein solches nicht gibt. Die Soziologie hat bislang nicht mal den Kern einer Vorstellung dessen entwickelt, was das Wesen einer soziologischen Erklärung ausmacht, bzw. es gibt sehr viele Vorstellungen davon, was man für eine soziologische Erklärung halten könnte oder sollte (vgl. Schimank/Greshoff 2005). Aber weder gibt es einen sichtbaren integrierenden Kon-
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bzw. Sprachen durchsetzen. Ansätze aus der Multiagentensimulation wie z.B. Netlogo oder Starlogo scheinen vielversprechende Schritte in diese Richtung zu sein. Dadurch, dass die beteiligten WissenschaftlerInnen in ihrem Selbstverständnis hauptsächlich der Informatik oder der Soziologie zugehören und dort in der Regel auch schon eine gewisse Reputation genießen, wird zudem die Chance erhöht, dass Transfers aus der Sozionik in das jeweilige Hauptbetätigungsfeld auch gelingen können. Man ist eben auch Sozioniker, aber nicht ausschließlich. Die durch die unterschiedlichen Phasen von der Idee bis zur Ergebnispräsentation notwendig sich durchziehende (inhaltliche und zeitliche) Arbeitsteilung hat den Vorteil, dass man sich weiterhin auf die eigene Disziplin konzentrieren kann, während man sich mit sozionischen Fragestellungen beschäftigt.
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sens8, noch eine Spezifizierung der Anwendungsgebiete der einzelnen Erklärungsweisen9. Die oftmals stark philosophisch oder naturwissenschaftlich geprägten wissenschaftstheoretischen Diskurse haben der Soziologie offensichtlich nicht viel geholfen, so dass man fast immer gezwungen ist, die eigene Erklärungsanschauung darzulegen. Eine ausführliche Erörterung des von uns bevorzugten Erklärungsmodells kann hier aus Platzgründen nicht erfolgen (siehe dazu Kron 2005a: 297ff., 2005b). Es werden deshalb nur diejenigen Merkmale betont, die die sozionische Notwendigkeit verdeutlichen. In diesem Sinne gehen folgenden Überlegungen davon aus, dass das letztendliche Ziel soziologischer Arbeit die Erklärung sozialer Aggregationen ist. D.h., das soziologische Explanandum liegt auf der „Makro“-Ebene. Mit anderen Worten: das Ordnungsproblem – das Entstehen, Stabilisieren und Sich-Wandeln von sozialen Aggregationen – hat Vorrang vor dem Handlungsproblem (Alexander 1982). Die zweite Setzung folgt der empirischen Beobachtung, dass es keine „Makro“-Gesetze gibt, die die Erklärung sozialer Aggregationen leisten könnten.10 Daraus wird gegenwärtig gefolgert, dass die Konzentration auf der Erklärung mittels sozialer Mechanismen liegen sollte (Esser 2001: 362; Hedström 2005; Mayntz 2003; Müller 2001: 54f.). Mechanismen sind weniger als allgemeine Gesetze, aber mehr als Beschreibungen. Nach Schelling (1998: 32f.) ist ein sozialer Mechanismus „a plausible hypothesis, or a set of plausible hypotheses, that could be the explanation of some social phenomenon, the explanation being in terms of interactions between individuals and other individuals, or between individuals and social aggregate.“ Hedström und Swedberg (1998: 21ff.) unterscheiden dabei in Anlehnung an Colemans (1987, 1990) Erklärungsmodell drei Typen von Mechanismen: (1) Situational Mechanisms, die sich auf die Einflüsse „objektiver“ Gegebenheiten von Situationen auf die Akteure, also auf die Makro-Mikro-Verknüpfung beziehen; (2) Action-Formation Mechanisms, die sowohl die Definition der Situation der Akteure als auch die Umsetzung in das tatsächliche Handeln in den Blick nehmen und (3) Transformational Mechanisms, die das handelnde Zusammenwirken der Akteure thematisieren. Damit ist aber noch nicht ausgesagt, was Mechanismen denn ausmacht. Mit anderen Worten, man ist mit dieser Unterscheidung nicht schlauer als vorher.
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Siehe allerdings die Bemühungen von Hartmut Esser (1993, 1999, 2000a-d, 2001; vgl. Kron (2004a). 9 Siehe allerdings den Versuch von Richard Münch (1984: 30ff.; 1986: 131ff.; vgl. Kron (2004b). 10 So schon Simmel (1989: 351): „Die geschichtlichen Erscheinungen sind jedenfalls Resultate sehr vieler zusammentreffender Bedingungen und deshalb keinesfalls aus je einem Naturgesetz herzuleiten.“
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Der Kern soziologischer Erklärungen über Mechanismen ist u.E. die die Entschlüsselung des Prozesses von den verursachenden Bedingungen zum Explanandum, der sozialen Aggregation. Um diesen Prozess aufzuklären gilt es, den generativen Mechanismus aufzudecken. D.h., man darf sich soziologisch nicht mit der Aufdeckung der Kausalrelationen über die Bestimmung von Korrelationen zufrieden geben. Auch für die Sozialwissenschaften gilt: „what we need is not a science of what but a science of becoming.“ (Byrne 1997: 3.6)11 Mechanismen sind zunächst „wiederkehrende Prozesse, die bestimmte Ursachen mit bestimmten Wirkungen verbinden“ (Mayntz 2002: 10). Jeder Mechanismus ist ein Prozess, das umgekehrte gilt nicht (Bunge 1997: 416). Das Ziel der Erklärung über Mechanismen ist die kausale Rekonstruktion: „Bei der kausalen Rekonstruktion versucht man, ein Makrophänomen durch Identifikation der für sein Zustandekommen verantwortlichen Prozesse und Wechselwirkungen zu erklären. Nicht Abstraktion und maximale Vereinfachung sind dabei das Ziel, sondern Konkretisierung und hinreichende Komplexität der Erklärung.“ (Mayntz 2002: 4) Die Feststellung von Korrelationen alleine genügt nicht, sondern es muss das „Wie“ der sozialen Verlaufsformen deutlich gemacht werden.12 Wie in der Mechanik auch werden dazu „Körper“ und äußere sowie innere „Kräfte“ benötigt, deren Gleichgewichte bzw. Bewegungen geklärt werden müssen. „Mechanisms are composed of both entities (with their properties) and activities. Activities are the producers of change. Entities are the things that engage in activities. Activities usually require that entities have specific types of properties. […] The organization of these entities and activities determines the ways in which they produce the phenomenon. Mechanisms are regular in that they work always or for the most part in the same way under the same conditions […]; what makes it regular is the productive continuity between stages.“ (Machamer/Darden/Craver 2000: 2) Die „Körper“ soziologisch-generativer Mechanismen sind interdependent handelnde Akteure. Die äußeren „Kräfte“ sind Strukturen (Normen, Werte, Konstellationen, Systeme etc.), die inneren „Kräfte“ sind die Motive, der Sinnzusammenhang der Akteure.13 11 Wobei in einer soziologischen Erklärung, wie gezeigt, das „Was?“ dem „Wie?“ vorausgehen sollte. 12 Die Erklärung der Prozesse ist es, die wesentlich zur soziologischen Aufklärung beitragen: „There is nothing like the disclosure of mechanism to destroy myths and to empower us to control natural and social processes.“ (Bunge 1997: 422) 13 Wir möchten an dieser Stelle aus Platzgründen nicht ausdiskutieren, ob die „Körper“ soziologischer Erklärungsmechanismen nicht auch Kommunikationen sein könnten, so wie von der Systemtheorie Luhmann’scher Herkunft vorgeschlagen wird. Ob und in wieweit es problematisch ist, „Körper“ und „Kräfte“ ausschließlich auf ein Objekt – Kommunikation – zu beziehen, da ja nur Kommunikation kommunizieren kann, oder ob die Zurechnung auf Akteure als energetische Basis mehr Probleme aufwirft, muss letztlich die in empirischen Untersuchungen erwiesene, wie auch immer messbare Erklärungskraft zeigen.
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Geht man von der akteurtheoretischen Perspektive aus, wird mit der Analogie zur Mechanik zweierlei deutlich: Zum Einen verweisen die im generativen Mechanismus zu berücksichtigenden „äußeren Kräfte“ darauf, dass die handelnden Akteure durch Strukturen beeinflusst und diese Strukturen durch das handelnde Zusammenwirken wiederum mitgestaltet werden. Dies ist die als Schlagwort bekannte „Dualität von Handeln und Strukturen“, die hier eine besondere Bedeutung an einer konkreten Stelle der soziologischen Erklärung, nämlich als Teil des generativen Mechanismus, zugeschrieben bekommt. Zum Anderen verweisen die „inneren Kräfte“ auf die Handlungsenergie der Akteure, also darauf, was man sonst auch mit Handlungsfähigkeit, Kreativität, role making usw. beschreibt: Akteure treffen aktiv Handlungsentscheidungen unter strukturellen Bedingungen – und haben ihre Gründe dafür, dass dies so und nicht anders tun. Für manche Erklärungen sozialer Aggregationen mag es vielleicht genügen, die dem Mechanismus zu Grunde liegenden individuellen Effekte Sinne Webers ausschließlich aktuell verstehend zu berücksichtigen. Ein bekanntes Beispiel dafür ist etwa die Segregationsstudie von Schelling (1978: 147ff., siehe auch die Beispiele für die „stumme Macht der Möglichkeiten“ in Esser 2000c: 267ff., die in der Erklärung offensichtlich ohne die Rekonstruktion des Sinnzusammenhangs über das Frame-Selektion-Modell auskommen), bei der die Erklärung der Aggregation zu Grunde liegenden Handlungen durch die Formulierung einer Regel getragen wird („Wenn eine bestimmte Anzahl von Nachbarn eine andere Hautfarbe hat, ziehe ich weg.“), ohne dass der weitere Sinnzusammenhang, die Frage nach dem „Warum“ der Anwendung dieser Regel, erschlossen wird. Für viele soziologische Fälle aber muss man zur Offenlegung des Mechanismus klären, weshalb in einem Fall jene spezifischen und nicht andere Handlungen durch die Akteure gewählt wurden. Das macht u.a., so Weber (1951: 170f.), die Soziologie als „Wirklichkeitwissenschaft“ aus: „Wir wollen die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens […] verstehen, […] die Gründe ihres geschichtlichen Sound nicht anders-Geworden-seins.“ Wenn man nun nicht nur erklären möchte, dass eine bestimmte Form des handelnden Zusammenwirkens als Mechanismus zwischen einer Ursachen und einer Wirkung fungiert, sondern auch zeigen möchte, wie der Mechanismus funktioniert, dann muss man zwangsläufig die einzelnen Handlungsselektionen, die auch hätten anders ausfallen können, erklären. Dies unterscheidet die kinematische Betrachtung von der Analyse dynamischer Mechanismen (Bunge 1997: 425ff.). Kinematische Beschreibungen beziehen sich auf Prozesse, ohne Referenz zu den unterliegenden Vorgängen und sind, so Bunge (1997: 425) „devoid of explanatory power.“ Die methodologische Begründung liegt darin, dass man aus einem entschlüsselten Mechanismus die kinematischen Beschreibungen deduzieren kann, nicht aber aus der kinematischen Darstellung die unterliegenden Dynamiken. Man muss, mit anderen Worten,
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erklären, weshalb der jeweils „typische“ Akteur in der jeweiligen Situation eine bestimmte Selektion getroffen hat, um die „Mechanik“ des Mechanismus offen zu legen – und dazu muss man den Sinnzusammenhang dieses Akteurs erfassen. Insgesamt stellen Mechanismen scheinbar einen anderen Anspruch an die soziologische Erklärung als die Forderung nach der Anwendung eines Gesetzes z.B. im Sinne des deduktiv-nomologischen Modells, vor allem bezüglich des Generalisierungsgrades, der bei Mechanismen geringer scheint. Allerdings wird dabei zum Einen oftmals übersehen, dass auch die in dem deduktiv-nomologischen Modell verwendeten Gesetze nicht zwingend Universalgesetze sein müssen, sondern auch ceteris-paribus-Klauseln beinhalten können – vor allem für soziale Vorgänge. Zum Anderen können auch Mechanismen einen hohen Abstraktionsgrad erreich-en. Der Hauptunterschied zwischen Mechanismen und Gesetzen kann demnach darin gesehen werden, dass Gesetze sich auf Ko-Variationen beziehen und z.B. kausale Faktoren betonen und eben nicht kausale Generalisierungen über periodisch auftretende Prozesse. So gesehen erläutern Mechanismen sich wiederholende Sequenzen kausal verknüpfter Ereignisse unter bestimmten Bedingungen (Mayntz 2003: 3). Akzeptiert man zusammenfassend, dass eine soziologische Erklärung sozialer Aggregationen über Mechanismen erfolgen sollte, bedeutet das zu zeigen, wie ein sozialer Zustand sich über dazwischen liegende Schritte aus einer bestimmten Startbedingung heraus aggregiert. Es genügt nicht, die ursächlichen Faktoren zu beschreiben, ohne den Weg zu erläutern, der von diesen Ursachen zum Explanandum führt. Und dieser Weg führt über die Dynamik des handelnden Zusammenwirkens der Akteure und damit über die Handlungsentscheidungen der Akteure. Notwendigkeit zur Computersimulation Warum sollte man nun notwendigerweise Computersimulationen einsetzen müssen, wenn man von dieser Vorstellung einer mechanistisch-soziologischen Erklärung ausgeht? Wo doch die erfolgreichsten Computersimulationen hauptsächlich durchgeführt werden, um Menschen zu trainieren (z.B. Piloten im Flugsimulator), oder um Menschen zu unterhalten, etwa mit Computer-Spielen. Doch es gibt einen weiteren guten Grund für SozialwissenschaftlerInnen, Computersimulation als Erklärungs-Werkzeug einzusetzen. Der Hauptgrund ist sicherlich darin zu sehen, dass Menschen – auch Soziologen – Schwierigkeiten mit dem Durchdenken komplizierter und komplexer Sachverhalte haben. Gerade jene Aspekte also, die dem Menschen in der gedanklichen Durchdringung große Schwierigkeiten bereiten – zeitliche Abläufe und
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komplexe Zusammenhänge – sind mit Computersimulationen kontrolliert unter laborexperimentalen Bedingungen analysierbar. Ohne ein derartiges Werkzeug sind Erklärungen sozialer Dynamiken nur schwierig anzustellen. Es gibt schlichtweg kognitive Probleme der Gegenstandserfassung auf Grund der Komplexität des Aufbaus und der damit zusammenhängenden spezifischen Dynamiken des Untersuchungsgegenstandes (Mayntz 1997a: 17f.). Derartige kognitive Probleme treten z.B. bei der Untersuchung sozialer Dynamiken mit der Handhabung einer Vielzahl von Parametern auf. Es erscheint oftmals unmöglich, nichtlineare Dynamiken über viele einwirkende Variablen kontrolliert zu untersuchen, da etwa „[p]räzise Messungen in kleinen Zeitabschnitten […] weiten Teilen der Sozialwissenschaften aus Gründen der hohen Reaktivität ihres Gegenstands verwehrt“ (Troitzsch 1999: 321) sind. In der Alltagswelt mag die gedankliche Durchdringung von zeitabhängigen Vorgängen noch ganz gut funktionieren, denn in der Alltagswelt sind die verschiedenen Ereignisse zumeist voneinander weitgehend unabhängig, nebenwirkungsfrei, fernwirkungsfrei und von starken Kausalitätsbeziehungen geprägt (Dörner 1996: 489ff.). Viele soziale Felder aber haben andere Merkmale. Dort finden sich abhängige und schwache Kausalketten, Nicht-Linearitäten (MüllerBenedikt 2000: 101ff.), Diskontinuitäten (Mayntz 1997a), Transintentionalitäten (Greshoff/Kneer/Schimank 2003), Neben- und Fernwirkungen sowie weitere, für die beteiligten Akteure undurchsichtige Geschehnisse. Einige historische Ereignisse konnten eben aus diesen strukturellen Gründen nicht vorhergesagt werden, nicht weil eine entsprechende Prognosetechnik nicht zur Verfügung stand, sondern weil diese Ereignisse nicht vorherzusagen waren. Es liegt demnach kein theoretischer Mangel vor, sondern es sind bestimmte Charakteristika des Sozialen, die Prognosen auf Grund komplexer Wechselwirkungen erschweren. Mayntz (1997d: 330ff.) sieht für soziologische Erklärungen zwar die Möglichkeit allgemeiner Kausalaussagen gegeben, jedoch sind die ontologischen Voraussetzungen dafür durchaus von anderen Wissenschaftsfelder zu unterscheiden, vor allem auf Grund spezifisch sozialer Eigenschaften: erstens der Tatbestand der Multikausalität14, zweitens nicht-lineare Prozesshaftigkeit und drittens Interferenz (transintentionale Wechselwirkungen verschiedener Teilprozesse), einhergehend mit viertens struktureller Komplexität (mehrstufiger Aufbau und interne Differenzierung funktionaler Teilsysteme). Aus diesen Gründen unterliegen die Menschen einer „Logik des Misslingens“ (Dörner 1989), d.h., sie neigen zu falschen Abschätzungen vor allem von Prozessen: sie neigen dazu, Vergangenheit 14 Multikausalität bedeutet, dass „jeder von einer ganzen Reihe von Faktoren eine bestimmte Wirkung erzeugt, wobei die einzelnen Wirkungsquanten sich auch addieren können. Es kann auch sein, dass eine Ursache tatsächlich notwendig ist, ihre Wirkung aber nur im Beisein zusätzlicher Umstände eintritt.“ (Mayntz 1997d: 330, siehe auch 2002: 9)
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und Gegenwart in einer linearen Zu- bzw. Abnahme fortzuschreiben; sie zeigen Tendenzen zur Strukturextrapolation (lineare Extrapolation der Entwicklung von Strukturen); damit einhergehend zur Annahme einer Konstanz der Entwicklungsbedingungen sowie der Schwierigkeit, Wirkungsverzögerungen zu berücksichtigen. Weitere Beschränkungen sind die Überbetonung singulärer Variablen sowie die Konzentration auf singuläre Themen bei Vernachlässigung des Ganzen usw. Diese Denktendenzen sind auch bei Soziologen – wenigstens tendenziell, denn auch Soziologen sind Menschen – vorhanden. Und dies hat selbstverständlich auch Auswirkungen auf die rein gedanklich konstruierten und sprachlich formulierten, soziologischen Modelle.15 Für die Untersuchung sozialer Aggregationen mit Computersimulationen gelten diese Beschränkungen oftmals nicht. Zwar gilt ebenso, dass komplexe Aggregations-Dynamiken auf der Makro-Ebene oftmals kaum nachgebildet werden können (zur Beziehung von Simulation zu Komplexität siehe Edmonds 2003). So ist es z.B. äußert schwierig, den Formationsflug von Gänsen als ein Makrophänomen zu modellieren, etwa weil keine zentrale Steuerungsinstanz ausgemacht werden kann, oder weil die Dynamik des „Systems Formationsflug“ nicht-linear ist. Derartig Aggregationen können aber in vielen Fällen über das Verhalten der Elemente des Systems erzeugt werden, in dem Beispiel über das Verhalten der Gänse, das über wenige einfache Regeln beschrieben wird.16 Die Modellierung von Aggregationen über das Verhalten der tragenden Elemente wird gegenwärtig vor allem mit Hilfe von Multiagentensystemen versucht (Conte/Gilbert/Sichman 1998; Edmonds 2001).17 Damit hat, so könnte man sagen, einerseits auch in Bereichen wie computational sociology, artifical intelligence usw. der Methodologische Individualismus Einzug gehalten, denn die Erklärung sozialer Phänomene muss über die Modellierung des handelnden Zusammen15 Und dies bedeutet auch, um das Argument noch mal aufzunehmen, dass die Soziologie nur selten wird Prognosen anstellen können: „Wenn historische Prozesse durch Multikausalität, Nichtlinearität und Interferenz geprägt sind, dann sind ihre Ergebnisse pfadabhängig, d.h. sie fallen unterschiedlich aus, je nachdem welchen Fortgang der Prozess an bestimmten Verzweigungspunkten nimmt, an denen alternative Wege offen stehen, ein bestimmter Schritt mithin möglich, aber nicht zwangsläufig ist.“ (Mayntz 1997d: 336) 16 Generell wird von den „Makro-Modellierern“ die Aufmerksamkeit gerne auf die Chaos-Theorie gelenkt, während diejenigen, die auf der Basis von Multiagentensystemen arbeiten, sich eher der Komplexitätstheorie zuwenden (Hanneman/Patrick 1997: 5.3). 17 „Multiagentensimulation ist seit einigen Jahren dabei, das beherrschende Paradigma der sozialwissenschaftlichen Simulation zu werden. Es spricht vieles dafür, dass dieser Ansatz alle bisherigen in sich aufnehmen und miteinander integrieren wird.“ (Troitzsch 2000: 43) Zur Diskussionslage siehe auch Conte et al. (2001). Bemängeln könnte man allerdings das größtenteils immer noch vorhandene soziologische Defizit bei der Modellierung von Agenten, die eben oftmals lediglich auf der Basis von alltagsempirischen Erfahrungen und nicht auf dem Fundament soziologischen Theorie entwickelt werden. Siehe als Vorschlag für ein soziologisches Akteurmodell, das auch für die Agentenmodellierung geeignet ist Kron (2006).
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wirkens von Agenten erfolgen und damit auch über die Modellierung des Handelns der einzelnen Agenten. Ohne Implementierung eines Handlungsmodells läuft das Multiagentensystem nicht. Die mit Hilfe von Multiagentensystemen konstruierten mathematisch-naturwissenschaftliche Modelle zeigen ihre Relevanz vor allem in ihrem Beitrag zu Erklärungen des Mikro-Makro-Problems in der Soziologie (Mayntz 1997b: 318ff.), zumal die meisten Simulationen mit Multiagentensystemen zu sozialen Aggregationen sich gegenwärtig auf die Selbstorganisation sozialer Strukturen und die Emergenz sozialer Ordnung beziehen (Macy/Willer 2002: 148ff.). Hier treffen sich offenbar die Vorstellungen einer vollständigen soziologischen Erklärung etwa bei Coleman oder Esser mit denjenigen, die Multiagentensysteme als die Methode für Erklärungen durch Simulationen sehen (Macy/Willer 2002: 147; Schnell 1990: 122ff.). Einer der wichtigsten Erkenntnisse bei derartigen Multiagentensimulationen ist die Einsicht in das eigene beschränkte Denken bezüglich komplexer Aggregationen schon bei einfach konstruierten und handelnden Agenten, oder in anderen Worten: „The most important and pervasive conclusion that emerges from simulation research is that simple processes at the micro level can lead to complex phenomena at the macro level“ (Gilbert 1996a: 452) Das bekannteste Beispiel für derartige Simulationen ist wohl (neben Conways „Game of Life“) „Sugarscape“ von Epstein und Axtell (1996), die gezeigt haben, wie mit sehr einfachen Handlungsregeln ausgestattete Agenten (Automaten) sehr komplexe Aggregationsphänomene erzeugen. Es verwundert somit nicht, dass die Anwendung von Computersimulationen eine Reihe unterschiedlicher Untersuchungen angeregt hat, die sich besonders mit Fragen der Emergenz von Verhaltensmustern, der Selbstorganisation von Strukturen und der Entstehung von Ordnung (Strukturen, Institutionen, Netzwerke etc.) beschäftigen (Gilbert 1994, 1995, 1996b). Insgesamt scheinen multiagentenbasierte Computersimulationen äußert geeignet für die Umsetzung des Programms der Erklärung sozialer Aggregationen über die Modellierung handelnden Zusammenwirkens. „Agent-based modeling is a new tool for theoretical research at the relational level, with particular relevance for sociologists as a bridge between the micro and the macro levels.“ (Macy/Willer 2002: 161) Der große Vorteil zu den sonst üblichen Methoden ist, dass die Soziologie mit Computersimulationen Experimente durchführen kann, bei denen sie die relevanten Parameter uneingeschränkt kontrolliert. Mit anderen Worten, die Soziologie kann mit Hilfe von Computersimulationen Laborexperimente durchführen – allerdings nicht in dem sozialwissenschaftlichen Sinn, dass man Untersuchungen mit Menschen in einem Labor macht, sondern eher im Sinne naturwissenschaftlicher Experimente, bei denen die einzelnen Parameter jeweils für sich kontrolliert und ihr Zusammenwirken entsprechend systematisch experimentell ermittelt werden kann.
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Das Beispiel „LuSi“ Wir möchten hier ein Beispiel zur Untersuchung von Aggregationen mittels Computersimulationen anführen, die von uns im Rahmen eines von der DFGgeförderten Projekts durchgeführt worden sind (Dittrich/Kron/Banzhaf 2003, Kron/Dittrich 2002; Kron/Lasarczyk/Schimank 2003, Lasarczyk/Kron 2003, 2004). Es geht dabei im Kern um die Frage nach der Entstehung von Kommunikationsstrukturen durch Koordination – ein Hauptthema der Soziologie, eng verwandt mit dem Problem der Entstehung sozialer Ordnung. Die Bedingungen und Möglichkeiten der Formation sozialer Ordnung werden innerhalb der soziologischen Theorie u.a. unter die Frage gestellt, wie Situationen „doppelter Kontingenz“ bewältigt werden können. Die wichtigsten Hinweise dazu kommen sowohl von Talcott Parsons (1968) und Niklas Luhmann (1984) als auch von einer Reihe mehr oder weniger strenger Vertreter des Rational-Choice wie etwa von Robert Axelrod (1995) und auch von Hartmut Esser (2000c). Neben der Frage, wie soziale Ordnung überhaupt möglich ist, haben wir uns auf die Untersuchung eines Aspekts konzentriert, der in dem Prozess der Ordnungsbildung – im Prozess der Entstehung von Kommunikationsstrukturen – mitwirkt. Dabei handelt es sich um den Einfluss von Akteurstrukturen auf die Kommunikationsstruktur. Modelliert werden die Akteurstrukturen mit Hilfe des „Small-WorldNetwork“-Modells von Watts und Strogatz (1998; Watts 1999; 2003). Wie der Name schon andeutet, dient dieser Ansatz der Modellierung von Netzwerken mit „Small-World-Network“-Eigenschaften, Soziologen besser bekannt als „Six Degrees of Separation“ (Guare 1990).18 Wir verzichten auf die Darlegung des Simulationsaufbaus und verweisen auf die o.g. Literatur. Stattdessen sollen die Ergebnisse vorgestellt und erörtert werden. Simulations-Experimente Wir wollen uns im Folgenden bei der Durchführung und Analyse der Simulationsexperimente auf die Fragen konzentrieren, welchen Einfluss Small-World-
18 Zur Untersuchung des Einflusses von Small-World-Konstellationen im Entstehungsprozess von Kommunikationsstrukturen haben wir das Simulationsprogramm „LuSi“ benutzt. Mit diesem Programm ist es möglich, den Einfluss von Small-World-Konstellationen in der Genese von Kommunikationsstrukturen unter der Bedingung doppelter Kontingenz zu untersuchen. Auf informatischer Seite wurde LuSi von Christian W.G. Lasarczyk entwickelt, unterstützt von Oliver Flasch und Frank Roßdeutscher (Universität Dortmund). An der Entwicklung eines Prototypen des Programms war Peter Dittrich (Jena) wesentlich beteiligt. Für die soziologische Unterstützung bedanken wir uns bei Gudrun Hilles, Lars Winter und Uwe Schimank.
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Konstellationen in multikontingenten Situationen auf die Ordnungsbildung der Symbolsysteme haben. Dabei sind drei Fragen von Inmteresse: (1) Welchen Einfluss haben vor allem Small-World-Konstellationen auf die Geordnetheit des Systems? (2) Welchen Einfluss haben Störungen in Abhängigkeit der zu Grunde liegenden Agentenkonstellationen auf die Geordnetheit des Systems? (3) Welchen Einfluss hat die Skalierung der Größe der zu Grunde liegenden Agentenkonstellationen auf die Geordnetheit des Systems? Bevor wir die einzelnen Ergebnisse vorstellen, müssen wir noch darlegen, was wir überhaupt messen. Es dürfte zwar deutlich geworden sein, dass es um die Ordnungsleistung geht, aber wie kann diese gemessen werden? Wie kann man „Ordnung“ messen bzw. woran kann man diese überhaupt erkennen? Die Soziologie bietet dazu überraschender Weise nur wenige Hinweise (Greshoff/Kneer 1999; Reckwitz 1997). An dieser Stelle haben wir folglich den o.g. „Zwang zur Präzision“ zu spüren bekommen. Dementsprechend haben wir folgende Maße entwickelt, mit denen die Ordnungsleistung gemessen werden kann: (1) Ordnungsmaß Reduktionsleistung Mit diesem Ordnungsmaß messen wir die durchschnittliche Anzahl verschiedener Symbole, die in einem bestimmten Zeitintervall von den Agenten selektiert worden sind. Je geringer die Anzahl selektierter Symbole ist, desto größer ist die Reduktionsleistung der Agenten und desto größer ist die Ordnung. Es handelt sich hierbei um eine makroskopische Ordnungsperspektive. (2) Ordnungsmaß Sicherheit Ein mikroskopisches Maß zur Bestimmung der Ordnung ist das Messen der durchschnittlichen Sicherheit der Agenten über die von ihnen selektierten Aktionen. Hier wird die Sichtweise der Agenten zur Ordnungsbestimmung genutzt. Ein hoher Wert repräsentiert hohe Sicherheit und damit ein hohes Maß an Ordnung. Allerdings ist bei diesem Maß Vorsicht geboten: Da die tatsächlich selektierten Symbole und die Einschätzung der Situation durch die Agenten (die für die Sicherheit der Agenten maßgeblich ist) zwei unterschiedliche Maße sind, müssen diese nicht zwangsläufig eine ähnliche Dynamik aufweisen. Mit anderen Worten: auch unsichere Agenten können zu einer Ordnungsleistung beitragen – auch wenn ihnen dies nicht bewusst ist.
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(3) Ordnungsmaß Systemintegration Eine Synthese aus dem eher makroskopischen Ordnungsmaß der Reduktionsleistung und dem mikroskopischen Ordnungsmaß der Sicherheit stellt das Ordnungsmaß Systemintegration dar. Damit wird gemessen, wie vorhersagbar eine Aktion eines zufällig gewählten Agenten Ego ist. Dieses Maß spiegelt die Gleichförmigkeit der Reaktion der Gesamtpopulation auf eine beliebige Aktion wider. Dabei wird diese Gleichförmigkeit über alle Aktionen gemittelt und mit der Häufigkeit der Aktion in vergangenen Interaktionen gewichtet. Wenn ein Symbol in der Vergangenheit noch nicht benutzt wurde, spielt die Reaktion der Gesamtpopulation keine Rolle, da dies ein für das System unerheblicher Fall ist. Mit anderen Worten: Je häufiger ein Symbol vorkommt, desto wichtiger ist die einheitliche Reaktion der Gesamtpopulation für die Integration des Gesamtsystems. (4) Ordnungsmaß Komplexität (Gewichtete Systemordnung) Die Komplexität (Gewichtete Systemordnung) kombiniert die beiden makroskopischen Ordnungsmaße Reduktionsleistung und Systemintegration. Der Grund dafür ist, dass eine bestimmte Integrationsleistung in einer komplexen Umwelt eine andere Qualität besitzt als in einer weniger komplexen Umwelt. D.h., je geringer die Reduktionsleistung (oder: je größer die Kontingenz) bei gleicher Systemintegration ist, desto größer ist die Gewichtete Systemordnung. Soziologisch beispielhaft formuliert: Die Gewichtete Systemordnung ist bei gleicher Integrationsleistung in differenzierten Gesellschaften größer als in segmentären Gesellschaften. (5) Ordnungsmaß Individualität Eine ähnliche Gewichtung wie bei dem Ordnungsmaß Komplexität liegt auch dem Ordnungsmaß Individualität zu Grunde. Bei gleicher Integrationsleistung besitzt die Ordnung eine andere Qualität, wenn die Agenten sehr unterschiedlich sind. D.h., je größer z.B. die Streuung bei der Sicherheit der Agenten bei gleicher Systemintegration ist, desto größer ist die „Individualität“ berücksichtigende Ordnung. Wiederum an einem Beispiel: Bei gleicher Systemintegration hat die Ordnung in einer individualisierten Gesellschaft eine andere Qualität als in einem „Ameisenstaat“. Wenn wir im Folgenden die Auswirkungen von Small-World-Konstellationen simulieren, dann immer im Vergleich zum sog. Zufallsgraphen und zum regulären Gitter. Wir beginnen mit der Startkonfiguration, von der wir wissen, dass sie Ordnung ohne Vorstrukturierungen (d.h., die Agenten werden zufällig aus der Gesamtpopulation gezogen) ermöglicht. Beim regulären Gitter gibt es dagegen fest gekoppelte Nachbarschaften von Agenten. Die Anzahl der Nach-
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barn legen wir auf sechs fest. Der Unterschied zu den Small-World-Konstellationen besteht darin, dass die Nachbarschaften im regulären Gitter während der Simulation bestehen bleiben, während sich in Small-World-Konstellationen durch die Umschreibungen der Kanten die Nachbarschaften ändern. Mit anderen Worten: Wir vergleichen Small-World-Konstellationen mit den Extremkonstellationen Zufall und Geordnetheit. Ergebnisse In einem ersten Schritt werden die Ergebnisse über den Einfluss der Vorstrukturierung der Agentenkonstellation vor dem Hintergrund der sog. Referenzsituation dargestellt, die sich durch das Fehlen von Störungen bei einer Größe der Agentenkonstellation von 100 Agenten auszeichnet. Zum Vergleich zu den Vorstrukturierungen über Small-World-Konstellationen wurden sowohl reguläre Gitter (die Agenten bleiben in festen Nachbarschaften) als auch Zufallsgraphen verwendet, in der die Agenten zufällig und ohne eine Vorstrukturierung gewählt werden. Zur Wiederholung sei angemerkt, dass Small-World-Konstellationen vor allem solche Struktureigenschaften besitzen, die zwischen Ordnung und Zufall liegen. In einem zweiten Schritt wird der Frage nachgegangen, inwieweit die Agentenkonstellationen Einfluss auf die Bewältigung von Störungen – sowohl in der Genese des Symbolsystems als auch innerhalb eines stabilen Systems – haben, bevor die Konsequenzen der Skalierung der Agentenkonstellation betrachtet werden. In ungestörten Konstellationen im Vergleich von Zufallsgraph, SmallWorld-Konstellation und regulärem Gitter fallen folgende Ergebnisse auf: Während Vorstrukturierungen durch Small-World-Konstellationen und regulären Gittern relativ schnell in einen Ordnungsbereich führen, der tendenziell dann auch beibehalten wird, zeigt der Zufallsgraph einen abweichenden Verlauf. Zunächst kann man für die ersten 25.000 Simulationsschritte eine Verschlechterung im Sinne größerer Nicht-Ordnung beobachten. Dann aber wird die Ordnung allmählich größer. D.h., zunächst existiert hier eine größere Dynamik, verstanden als Abweichung vom jeweils vorherigen Zustand pro Zeiteinheit. Am Ende der 300.000 Zeitschritte hat der Zufallsgraph das geordnetste Symbolsystem generieren können.
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1. Tabelle: Ordnungsdaten der Referenzsituation im Vergleich
Reduktionsleistung Systemintegration Sicherheit
Zufallsgraph 3,44 0,90 0,65
Small-WorldKonstellationen 7,97 0,57 0,55
Reguläre Gitter 13,03 0,33 0,55
1. Abbildung: Ordnungsmaße der Referenzsituation im graphischen Vergleich
Welche Erklärung gibt es für diese Daten? Wir denken, dass hier die unterschiedlichen Zeiteffekte für Gruppenbildungsprozesse auf lokaler und globaler Ebene eine entscheidende Rolle spielen. Aus der Sicht der Agenten stellt die nicht vorstrukturierte Referenzsituation im Zufallsgraphen bereits eine Art Störung dar, weil die Agenten anfangs ausschließlich auf solche Agenten treffen, mit denen sich das Problem doppelter Kontingenz in voller Schärfe stellt. Diese Art Störung im Zufallsnetz der Referenzsituation besteht nur innerhalb weniger Zeitschritte zu Anfang für die regulären Gitter und die Small-World-Konstella-
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tionen, weil dort bereits Gruppen (Nachbarschaften) existieren, innerhalb dessen die Agenten sich sofort koordinieren und doppelkontingente Situationen beseitigen können. Da solche eher lokalen Gruppenbildungen durch Nachbarschaften im Zufallsgraphen fehlen, kommt es erst allmählich zu einer höheren Ordnung im Zuge der Annäherung aller Agenten aneinander. D.h., das Einspielen der Gesamtpopulation geht mit einer Steigerung der Ordnungsleistung einher: Ordnung ist im Zufallsgraphen nur global möglich, weil die basale Struktur global ist. Aber wenn eine solche Ordnung einmal entstanden ist, ist sie auch aus genau diesem Grunde im Zufallsgraphen höher als bei Small-World-Konstellationen und regulären Gittern. Bei Letzteren besteht auf Grund ihrer eher lokalen Struktur nämlich immer noch eine Chance, dass verschiedene Gruppen entstehen, die jeweils unterschiedliche, in sich konsistente und kaum miteinander gekoppelte Symbolsysteme verwenden. Wir werden nun untersuchen, inwiefern sich die verschiedenen Akteurkonstellationen unter der Bedingung von Störungen in der Bewältigung multikontingenter Situationen bewähren. Einfluss von Störungen Störungen auf der Ebene des Agentensystems werden dadurch modelliert, dass in jedem Zeitschritt mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ein zufällig gewählter Agent aus der Gesamtpopulation gegen einen Agenten ausgetauscht wird, der noch völlig „unsozialisiert“ ist. Man könnte auch sagen, mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit wird einem Agenten das Gedächtnis gelöscht. Auf diese Weise, so unsere Annahme, wird die Strukturierung erschwert, es werden immer wieder Fehler gemacht, die sich qua Beobachter im System und über die Interaktionen ausbreiten können. Die Frage ist: Wie bewältigen die verschiedenen Agentenkonstellationen die Störungen? In einem ersten Schritt wird gezeigt, inwieweit ein Symbolsystem durch Störungen in der Genese beeinflussbar ist. Wir vergleichen dabei wiederum den Zufallsgraphen mit den Vorstrukturierungen durch Small-World-Konstellationen und regulären Gittern. In dem zweiten Schritt wird dann der Einfluss von Störungen auf ein stabiles Symbolsystem untersucht. In diesem Fall erfolgen die Störungen erst dann, wenn dass System schon in einem hohen Maße strukturiert ist. Beginnend mit den Simulationsexperimenten zu dem Einfluss von Störungen in der Systemgenese, d.h., die Störungen wirken von Simulationsbeginn an, kann man sich zunächst auf den Bereich geringer Störungen (1 %) beschränken, da größere Störungen (5-10 %) bei allen drei Agentenkonstellationen zu einer Verschlechterung der Ordnung im Vergleich zur Referenzsituation führen (und je größer die Störung ist, desto weniger Ordnung wird erzeugt).
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An dieser Stelle möge der geneigte Leser bitte kurz innehalten und sich fragen: Welche Akteurkonstellation ist wohl in der Lage, die höchste Ordnung zu erzeugen? Sind Sie in der Lage, die entsprechende Dynamik gedanklich zu durchdringen und zu einem begründeten Ergebnis zu gelangen? Des Weiteren kann man im Vergleich zur Referenzsituation beobachten, dass diejenige Agentenkonstellation, die ohne Störungen die besten Ordnungsleistungen erbracht hat – der Zufallsgraph – nun am wenigsten Ordnung herstellen kann. Zugleich können Small-World-Konstellationen und reguläre Gitter im Vergleich zur Referenzsituation sogar noch höhere Ordnungsleistungen erzeugen! Erst mit größeren Störungen kommt es auch bei letztgenannten Agentenkonstellationen nicht zu einer ähnlich hohen Ordnung. Die folgende Abbildung zeigt die Reaktionen der verschiedenen Agentenkonstellationen jeweils für das Ordnungsmaß der Systemordnung. Erkennbar sind deutlich die beiden genannten Ergebnisse: weniger Ordnung beim Zufallsgraphen, mehr Ordnung beim regulären Gitter sowie in der Small-World-Konstellation. 2. Abbildung: Reaktionen bei Störungen in der Systemgenese
Schon kleinste Störungen führen im Zufallsgraphen dazu, dass die allmähliche Annäherung der Gesamtpopulation, die in der Referenzsituation letztlich ein hohes Maß an Ordnung ermöglicht hat, unterbrochen bzw. von vornherein vereitelt wird. Der Grund liegt in der globalen Wirkungsweise von Störungen im
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Zufallsgraphen. Wieso kommt es bei regulären Gittern und Small-WorldKonstellationen zu einer höheren Systemintegration und nicht zu einem Zusammenbruch wie beim Zufallsgraphen? Wir denken, dass die Antwort als Pendant zur Antwort zum Zusammenbruch des Zufallsgraphen gedacht werden muss. In regulären Gittern und Zufallsgraphen wirken die Störungen nämlich eher lokal und nicht global. In den lokalen Bereichen können die Störungen gut aufgefangen werden, weil in diesen Bereichen das Problem doppelkontingenter Situationen prinzipiell schneller aufgelöst wird. Dieses coping verläuft hier schneller (d.h. vor allem, bevor weitere Störungen einwirken können), weil ein von Störungen betroffener Agent sowohl im weiteren Verlauf selbst wieder mit höherer Wahrscheinlichkeit (als im Zufallsgraphen) mit denjenigen Agenten seiner Nachbarschaft interagieren wird als auch als Beobachter eher seine Nachbarn in der Interaktion beobachten wird als andere, „fremde“ Agenten. Bis zu einem gewissen Grad können lokale Beziehungen in der Agentenpopulation eine Art „Selbstheilungsprozess“ initiieren, da sich dort wesentlich schneller (im Vergleich zum Kontingenzraum kleinere) Symbolketten etablieren. Als Grund für eine derartige Erhöhung der Ordnung vermuten wir eine Art „versteckten“ Selektionsdruck: je kürzer das entstandene Symbolsystem ist, desto häufiger kann es innerhalb einer zeitlich begrenzten Interaktion wiederholt und gelernt werden. Wenn sich während des Simulationsverlaufs im Gesamtsymbolsystem Sub-Sub-Systeme ausgebildet haben (was in vielen Fällen der Fall ist)19, dann können neue, „unsozialisierte“ Agenten bei geringen Störungen diese Ausschnitte des in der gesamten Agentenkonstellation entstandenen Symbolsystems auf Grund ihrer Kürze häufiger beobachten und werden in der Folgezeit mit einer höheren Wahrscheinlichkeit nur diese Ausschnitte in ihren Interaktionen reproduzieren. Nehmen wir z.B. an, die gesamte Agentenkonstellation konnte die Anzahl der Symbole auf 10 Symbole reduzieren (Sub-System). Wenn nun in einem bestimmten Bereich nur 5 dieser 10 Symbole verwendet werden (SubSub-System) und als Störung ein neuer, unerfahrener Agent in einen solchen Bereich gerät, dann wird er nur diese 5 Symbole beobachten bzw. lernen und später auch selbst reproduzieren. Es findet, mit anderen Worten, eine Reduktion der verwendeten Symbole statt, was im Ergebnis zu einer höheren Ordnung führt. Ein weiterer interessanter Punkt ist der Unterschied zwischen den regulären Gittern und den Small-World-Konstellationen. Wie kann man erklären, dass beide Agentenkonstellationen zwar eine ähnliche Ordnung im Sinne der Sicherheit der Agenten erzeugen, aber die Systemintegration bei Small-World19 Sub-Sub-Systeme meint: Die Gesamtzahl möglicher Symbole wird als ein System aufgefasst. Wenn die gesamte Agentenpopulation diesen Kontingenzraum reduzieren konnte, ist ein SubSystem entstanden. In einzelnen Nachbarschaften können sich wiederum Teile dieses SubSystems etablieren, also Sub-Sub-Systeme entstehen.
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Konstellationen signifikant höher ist? Hier kommen nun die besonderen Eigenschaften der Small-World-Konstellationen zum Vorschein. Wir erinnern uns, dass diese zwar lokaler sind als Zufallsgraphen, aber durch die Umschreibung der Kanten auch globale Eigenschaften aufweisen. Der Grad der Lokalität reicht aus, um ähnlich hohe Sicherheiten zu erzeugen wie reguläre Gitter, zugleich sind Small-World-Konstellationen aber so global, dass die Agenten auch wissen, was in anderen Lokalitäten passiert. Auf diese Weise können alle Agenten relativ gut das Verhalten beliebiger Agenten abschätzen, woraus eine hohe Systemintegration folgt. Dieser Vorteil von Small-World-Konstellationen für kleine Störungen wird bei größeren Störungen aufgehoben. Schon bei 5 % Störungen in der Systemgenese brechen Small-World-Konstellationen in ihrer Ordnungsleistung ähnlich zusammen wie Zufallsgraphen, weil nun die integrierenden Eigenschaften der lokalen Bereiche die Diffusionsverstärkung von Störungen durch die globalen Eigenschaften nicht mehr ausgleichen können. Nur die lokal ausgelegten regulären Gitter können auf relativ niedrigem Niveau im Vergleich eine signifikant höhere Systemintegration erzeugen. 3. Abbildung: Reaktionen bei Störungen im stabilen System
Wir wollen nun schauen, ob sich diese besondere Charakteristik von SmallWorld-Konstellationen auch dann zeigt, wenn bereits stabilisierte Systeme plötzlich gestört werden. In den folgenden Experimenten erlauben wir eine Stabilisierungsphase von 200.000 Zeitschritten und führen dann die Störungen in das System ein. Wieder gilt, dass für alle drei Strukturierungsformen der Agenten durch
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Netzwerke eine Störung von 10% zum Zusammenbruch führt. Interessant sind allerdings die Ergebnisse für 1% und 5% Störungen. Betrachten wir zunächst den Zufallsgraphen, fällt sofort auf, dass dieser im Gegensatz zu den Störungen in der Systemgenese mit wenigen Störungen so gut zurecht kommt, dass diese nun nicht mehr zum Zusammenbruch führen, sondern sogar eine höhere Ordnung zur Folge haben – und dies gilt hier auch wieder für Small-World-Konstellationen und reguläre Gitter, die sogar starke Verbesserungen der Ordnung erreichen. Wie kommt es zu dieser „Verbesserung“ der Ordnung? Die Argumentation für die Begründung ist hier identisch mit der für die Verbesserung der Ordnungsleistungen bei geringen Störungen in der Systemgenese: lokale Eigenschaften ermöglichen eine unmittelbarere und schnellere Überführung doppelkontingenter Situationen in geordnetere Erwartungsstrukturen, da dort die Reduktionsleistungen schneller verlaufen. Weil der Zufallsgraph seine globale Struktur verliert, kann dieser in diesem Fall im Vergleich zur Referenzsituation den völligen Zusammenbruch der Ordnung sowohl für größere Störungen (5 %) verhindern als auch bei kleineren Störungen mit einer geringen Verbesserung fortsetzen. Im Vergleich zu den regulären Gittern und den Small-World-Konstellationen wird bei geringeren Störungen zudem deutlich, dass Zufallsgraphen und Small-World-Konstellationen eine signifikant höhere Systemintegration erzeugen können, bei etwa gleicher Sicherheit der Agenten. Verantwortlich hierfür machen wir, dass über die Nachbarschaft hinausgehende Kontakte sich bei bereits etablierten Systemen besonders günstig für die Gesamtkonstitution auswirken und lokale Eigenschaften dies nicht gleichermaßen kompensieren können. Diese „weitreichenden“ Kontakte, die für den Zufallsgraphen und für die SmallWorld-Konstellation gegeben sind, führen dazu, dass ein Agent jeden beliebigen anderen Agenten als „Nachbar“ im Rahmen des eingespielten Symbolsystems deuten kann. Kleine Störungen können hier leichter ausgeglichen werden. Im regulären Gitter fehlt dieser globale Charakter, so dass die Agenten zwar Störungen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft parieren können und somit recht hohe Sicherheit erlangen. Allerdings können sie kaum sichere Aussagen über das Verhalten jenseits ihrer Nachbarschaft, über das Gesamtsystem, treffen. Besonders interessant sind die Entwicklungen für 5%ige Störungen. Diese führen nun selbst bei Zufallsgraphen nur partiell zum Zusammenbruch, können aber auf relativ hohem Niveau aufgefangen und stabilisiert werden (mit ähnlichen Ordnungsleistungen wie reguläre Gitter und Small-World-Konstellationen). Zu beachten ist die unterschiedliche Dynamik im Vergleich zu den regulären Gittern und den Small-World-Konstellationen: Während Letztere erst partiell zusammenbrechen, diesen Zusammenbruch auffangen und dann in eine stabile höhere Ordnung als vor den Störungen überführen können, fehlt bei den Zufalls-
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graphen die Verbesserung nach der Störung, d.h., im Zufallsgraph werden die Störungen aufgefangen und die Ordnung auf einem niedrigeren Niveau als vorher etabliert. Für diese „Verbesserung“ der Ordnung nach vorherigem Zusammenbruch im regulären Gitter sowie in der Small-World-Konstellation können wir z.Z. keine Erklärung anbieten. Vermutlich erfolgt in diesem Fall eine qualitative Änderung im Symbolsystem, d.h., im Gegensatz zum Zufallsgraphen führen die Störungen im stabilen System zur Produktion eines qualitativ anderen Symbolsystems. Skalierung Den bisher gezeigten Simulationen lag immer die Annahme zu Grunde, dass sich Agenten in einer bestimmten Agentenkonstellation befinden, die selbst nicht mehr änderbar ist. Was aber passiert bei einer Skalierung der Agentenpopulation? Das Skalierungsproblem ist ein altes Thema der Soziologie, etwa in Georg Simmels famosem zweiten Kapitel in seiner „großen Soziologie“ von 1908 über die quantitative Erweiterung der Gruppe. Dort betont er, dass zum Einen bestimmte Schwellenwerte der Gruppengröße bestimmte soziale Formationen überhaupt erst möglich machen, zum Anderen fordern bestimmte Größen aber auch bestimmte Formationen. Allerdings hat Simmel weniger die formalen Konsequenzen der Skalierung der Gruppengröße als deren Einfluss auf das Verhältnis von Persönlichkeit und Gesellschaft im Blick gehabt. Trotzdem finden wir in seinen Arbeiten Argumente etwa für die Relevanz der Zahlbestimmtheit bei der Differenzierung von Gruppen, wobei lokale Unabhängigkeit und Mobilität auf der einen Seite und globale Kohärenz auf der anderen Seite zugleich möglich sind. Welche Beziehung herrscht also zwischen den von uns betrachteten Formen der Agentenstrukturen und der Anzahl der Agenten? Und noch mal: Können Sie qua Gedankenexperiment Ergebnisse vorhersagen? Folgende Abbildung zeigt diese Beziehungen auf:
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Gewichtet Systemordnung
4. Abbildung: Skalierungseffekte in Agentenkonstellationen
Anzahl Agenten Konzentrieren wir uns ausschließlich auf den Zufallsgraphen: Wie man sehen kann, entsteht in der Zufallskonstellation keine Ordnung bei einer großen Anzahl von Agenten, aber bei kleineren Populationsgrößen. Im Vergleich der Gewichteten Systemordnungen sieht man, dass Small-World-Netzwerke und reguläre Gitter auch in höher skalierenden Agentenkonstellationen Ordnungen erzeugen, die nur langsam geringer werden. Small-World-Netzwerke erzeugen im Vergleich zu den regulären Strukturen dabei die höhere Ordnung (diesen Effekt nennen wir Skalierungsresistenz von Small-World-Strukturen). Was könnte der Grund für diese Ergebnisse sein? Zunächst muss man erwähnen, dass die Agenten in Populationen mit einer Größe von N > 2 keine individuellen Erwartungen, sondern solche über einen „Generalisierten Anderen“ aufbauen. Generalisiert meint, dass die Agenten erwarten, dass andere Agenten so handeln, wie es der Durchschnitt derjenigen Agenten auch tun würde, mit denen bereits Erfahrungen gemacht wurden (durch Interaktion oder Beobachtung). Erwartungen über generalisierte Interaktionspartner werden in dem Gedächtnis der Agenten gebildet. Bei Agenten innerhalb einer Nachbarschaft im Rahmen von regulären oder Small-World-Strukturen geschieht dies durch vergleichbare Erfahrungen, so dass die Erwartungen sich mit der Zeit angleichen. Aus soziologischer Sicht evolviert eine wechselseitige Erfüllung von Erwartunsgerwartungen. Da sich die Nachbarschaften überschneiden, können die Erwartungen durch das gesamte System
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diffundieren. Je größer das Gesamtsystem ist, desto größer ist die Anzahl der Nachbarschaften, in denen sich die Erwartung etablieren muss, um in den „letzten Winkel“ des Systems vorzudringen und dort die Ordnung des „Rest-System“ zu etablieren. Verbindungen außerhalb der Nachbarschaft, wie sie Small-WorldKonstellationen vorkommen, verkürzen diesen Prozess. Oder soziologischer formuliert: Bei Höherskalierung der Population der „Gemeinschaft“ geht das „Kollektivbewusstsein“ verloren. Unter Kollektivbewusstsein verstehen wir hier die Fähigkeit zur Anpassung an Erwartungen und an Erwartungserwartungen. Im Zufallskonstellation gibt es keine derartigen Nachbarschaften, weil die Agenten mit jedem anderen, zufällig gewählten Agenten interagieren können. Der Anpassungsprozess wird in dem Augenblick der Höherskalierung der Populationsgröße zusätzlich erschwert, da im Zufallsgraphen alle Eigenschaften globale Auswirkungen haben. Deshalb können derartige Agentenkonstellationen einen hohen Ordnungsgrad erzeugen, wenn die Populationsgröße eine graduelle Konvergenz erlaubt – oder es gibt gar keine Ordnung. Hätten Sie es vorausgesehen? Schluss Insgesamt sollte damit beispielhaft deutlich geworden sein, inwieweit Computersimulationen zur Untersuchung sozialer Aggregationen auch in enger Anlehnung an soziologische Theorie möglich, nützlich und – wenn man ein mechanistischsoziologisches Erklärungsmodell zu Grunde legt – notwendig ist. Computersimulationen helfen, komplexe Dynamiken handelnden Zusammenwirkens über die Entschlüsselung des verursachenden Mechanismus zu erklären. Auf diese Weise wird die kausale Komplexität des Sozialen (Ragin 2000) wenigstens punktuell über Modelle mittlerer Komplexität analysier- und erklärbar. Epstein und Axtell (1996: 19f.) betonen in diesem Zusammenhang, dass Computersimulation zu einer generativen Soziologie führen könnten: „The broad aim of this research is to begin the development of a more unified social science, one that embeds evolutionary processes in a computational environment that simulates demographics, the transmission of culture, conflict, economics, disease, the emergence of groups, and agent coadaptation with an environment, all from bottom up. Artificial society-type models may change the way we think about explanation in the social sciences. What constitutes an explanation of an observed social phenomenon? Perhaps one day people will interpret the question, ‚Can you explain it?’ as asking ‚Can you grow it?’ Artificial society modelling allows us to ‚grow’ social structures in silico demonstrating that certain sets of
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microspecification are sufficient to generate the macrophenomena of interest. And that, after all, is a central aim. As social scientists, we are presented with ‚already emerged’ collective phenomena, and we seek microrules that can generate them. We can, of course, use statistics to test the match between the true, observed, structures and the ones we grow. But the ability to grow them […] is what is new. Indeed, it holds out the prospect of a new, generative, kind of social science.“ Diese Vorstellung einer generativen Erklärung passt zu der soziologischen Anschauung einer mechanistisch-soziologischen Erklärung, so dass – in den Worten von Schmid (1991: 24) – „die Grenzlinie zwischen Natur- und Sozialwissenschaften nicht jene Unüberwindlichkeit besitzt, die ihr manche Verteidiger einer autonomen Sozialwissenschaft zurechnen möchte. Vielleicht lassen sich deren gängige Vorbehalte durch den Hinweis entschärfen, dass der kontrollierte Einsatz formaler Modelle ein zutreffendes Verständnis historischer Singularitäten, interaktiver Effekte und prinzipiell unvorhersagbaren Verhaltens durchaus nicht behindern muss, sondern im Gegenteil vielleicht zum ersten Male die Möglichkeit eröffnet, hochkomplexes Prozessgeschehen mit Hilfe einer endlichen Anzahl von Kontrollparametern zu modellieren, womit das altehrwürdige Argument von der Einzigartigkeit des Sozialen und die daraus bezogene Forderung, auf Theorie zu verzichten und sich narrativen Darstellungsformen zuzuwenden, an Anziehungskraft verlieren könnten.“ Je zugänglicher Simulationstechniken für SozialwissenschaftlerInnen in Forschung und Lehre werden, sei es durch spezialisierte Anwendungen, wie das hier vorgestellte „LuSi“ oder durch allgemeine Simulationssysteme mit soziologischer Ausrichtung, desto mehr wird die Grenzlinie zwischen sozial- und naturwissenschaftlicher Arbeit überwunden werden, desto mehr kann nicht Inter-, sondern Transdisziplinarität an Raum einnehmen – sehr zum Vorteil soziologischer Erklärungen. Literatur Alexander, Jeffrey C. (1982): Theoretical Logic in Sociology. Volume One: Positivism, Presuppositions, and Current Controversies. Berkeley Los Angeles. Univ. of California Press Axelrod, Robert (1995): Die Evolution der Kooperation. München, Wien. Oldenbourg. Axelrod, Robert (1997): Advancing the Art of Simulation in the Social Sciences. In: Conte, Rosaria/Rainer Hegselmann/Pietro Terna (Hrsg.): Simulating Social Phenomena. Berlin et al. Sprinter: 21-40. Bossel, Hartmut (1994): Modellbildung und Simulation. Konzepte, Verfahren und Modelle zum Verhalten dynamischer Systeme. Braunschweig, Wiesbaden. Vieweg. Bruderer, Erhard/Martin Maiers (1997): From the Margin to the Mainstream: An Agenda for Computer Simulations in the Social Sciences. In: Conte, Rosaria/Rainer Hegselmann/Pietro Terna (Hrsg.): Simulating Social Phenomena. Berlin et al. Sprinter: 89-95.
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Teil II: Zur Reflexivität sozialer Mechanismen
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Soziale Mechanismen und das struktur-individualistische Erklärungsprogramm. Zur forschungspraktischen Verortung sozialer Mechanismen Soziale Mechanismen und das struktur-individualistische Erklärungsprogramm
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Gegenstand, Ansprüche und Probleme soziologischen Erklärens Bekanntermaßen haben die Klassiker die Soziologie als wissenschaftliche Disziplin in Abgrenzung zu den Naturwissenschaften und zur Philosophie begründet und ihr die Aufgabe zugewiesen, soziale Tatsachen bzw. Regelmäßigkeiten zu erfassen und zu erklären. Konkret sollte die Soziologie die Grundlagen und die Institutionen des sozialen Zusammenlebens in modernen Gesellschaften erklären und analysieren. Damit war ein eigenständiges Forschungsfeld ausgewiesen und die Forderung nach eigenen Regeln soziologischen Arbeitens erhoben, deren Formulierung jedoch, gespeist durch den expliziten oder impliziten Rückbezug auf verschiedene sozialtheoretische und -philosophische Traditionen (vgl. Jonas 1981), bereits früh durch kontroverse Positionen über die Vorgehensweise bei Erklärungen sozialer Sachverhalte geprägt war. Bekannte Dualismen sind ‚Subjektivismus versus Objektivismus’, ‚Realismus versus Idealismus’ und immer wieder auch der vermeintliche Gegensatz von ‚Verstehen versus Erklären’ (vgl. Bourdieu 1979; Boudon 1980; Alexander 1982; Esser 2002). Bis heute herrscht keine Einigkeit über die Aufgaben, die Ansprüche und die Grenzen soziologischen Arbeitens, und auch die Positionierung der Soziologie innerhalb der Wissenschaftslandschaft ist nach wie vor umstritten (vgl. Maurer/Schmid 2002). Auch ist nach wie vor umstritten, ob die Soziologie überhaupt als eine erklärende Wissenschaft zu betreiben ist, und wenn ja, wie soziologische Erklärungen sozialer Sachverhalte anzulegen sind. Diese lange, von verschiedenen methodologischen Standpunkten gezeichnete Debatte (vgl. Topitsch 121993; Adorno u.a. 41975; Hondrich/Matthes 1978) hatte auch zur Folge, dass die Soziologie gern als ‚multiparadigmatisch’ verstanden wird und dass die Unterschiede zwischen deskriptiven Beschreibungen, Typenbildungen, Gesellschaftsdiagnosen und soziologischen Erklärungen meist nicht klar benannt werden (vgl. Little 1991; Mayntz 2002a). Die Behandlung sozialer Mechanismen hat unter
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diesem Forschungsstand gelitten, und obwohl in den verschiedenen Theorietraditionen an vielen Stellen von Mechanismen und deren Typik und Logik gesprochen wird, fehlt bislang ein systematisierender Überblick. In die immer wieder aufflammende Debatte um die adäquate(n) soziologische(n) Arbeitsweise(n) kam durch die Vorschläge zu mehrstufigen, mikrofundierten Erklärungen sozialer Sachverhalte und neuerdings auch durch die Wiederentdeckung und Entschlüsselung sozialer Mechanismen Bewegung (vgl. Kron 2005; Schulz-Schaeffer 2005; Schmid 2006). Vieles deutet darauf hin, dass sich alte Dualismen aufzulösen beginnen und dass auch der Hiatus zwischen Handeln und Struktur bzw. zwischen Mikro- und Makrostrukturen längst keiner mehr ist. Eine über die verschiedenen Theorietraditionen hinausweisende Entwicklungslinie stellt die handlungstheoretische Erklärung und Analyse sozialer Mechanismen dar, die neue, attraktive Anknüpfungspunkte und Kooperationen innerhalb der Sozialwissenschaften zu eröffnen verspricht. An diese Entwicklung möchte ich hier anschließen und fragen, ob und wie durch eine handlungstheoretisch fundierte Erfassung sozialer Mechanismen ein integratives und disziplinenübergreifendes Forschungsprogramm anzulegen wäre. Mechanismen in den Sozialwissenschaften In der Soziologie und ihren sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen finden sich soziale, ökonomische und politische Mechanismen – wie Macht, Herrschaft, Tausch und Markt – verstreut in den Theorie- und Forschungsprogrammen behandelt. Bemerkenswert ist, dass die Arbeit an und mit Mechanismen weder disziplinenübergreifend noch systematisch erfolgt und dass die in der Ökonomie, in der Soziologie und in den Politikwissenschaften entdeckten Mechanismen kaum zueinander in Beziehung gesetzt werden. Begriff und Forschungsstand Der Mechanismusbegriff und Konzepte mechanismischer Erklärungen finden sowohl in den Naturwissenschaften als auch in den Sozialwissenschaften Verwendung. In den Naturwissenschaften variieren die damit verbundenen Positionen und es kann allgemein nur festgehalten werden, dass damit eine programmatische Ausrichtung bezeichnet wird, die Ausschnitte aus der natürlichen Welt als kausal determinierte Prozesse erklären will und je nach Ausgangslage diverse Kausalfaktoren vorsieht, wie z.B. Lebensgeister in der mechanistischen Naturphilosophie nach Descartes (vgl. Enzyklopädie Philosophie und Wissenschafts-
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theorie 1995: ‚Mechanismus’). Ein Mechanismus bezeichnet in diesem Sinne einen Komplex an Elementen, deren Zusammenhang und prozesshafte Entwicklung durch Einwirkung eines Elements auf die anderen Elemente verursacht wird und kausal zu erklären ist. Auch in den Sozialwissenschaften wird die Mechanismus-Metapher zur Kennzeichnung typischer Prozessverläufe gebraucht, die durch kausale Kräfte in Gang gesetzt werden. Mechanismische Erklärungen werden daher auch oft in Abgrenzung zu teleologischen bzw. funktionalistischen Erklärungen bzw. kausal-statistischen Verfahren als eine Form der Erklärung sozialer Sachverhalte vertreten. Und auch die Rekonstruktion sozialer Mechanismen hat in den Sozialwissenschaften eine gewisse Tradition. Wie in den Naturwissenschaften verstecken sich dahinter verschiedene Prämissen darüber, welche Kräfte denn nun die soziale Welt bestimmen, z.B. Handlungen oder Strukturen. Nichtsdestotrotz haben die Sozialwissenschaften eine beeindruckende Sammlung an Mechanismus-rekonstruktionen hervorgebracht und können durch deren Anwendung heute spektakuläre Verlaufsformen kollektiven Handelns, wie Paniken oder Revolutionen, aber auch die Dynamik von Verteilungsstrukturen, wie Machtaufbau, Oligarchiebildung oder Segregation, offen legen und erklären. Ein Mechanismus bezeichnet mithin eine bestimmte Form von Erklärungsargumenten sowie auch die Erklärung typischer Prozesse. „The term ‚mechanism’ is used both to designate a certain class of real phenomena (mechanisms are such and such, they do such and such) and to designate a class of (causal) propositions referring to such phenomena. Statements about social mechanisms are often considered to be the building blocks of middle-range theories, advocated by Merton (1957) to avoid the vain search for social laws.” (Mayntz 2004: 239f.) Die komplexe Begriffsverwendung hat es mit sich gebracht, dass der methodologische Status und der heuristische Ertrag von Mechanismusrekonstruktionen lange Zeit wenig beachtet wurden und daher auch ungeklärt blieb, was eigentlich mit Mechanismen gemeint sein sollte.1 In der Soziologie bezeichnen soziale Mechanismen typische, in der Realität zu beobachtende Vorgänge, und darüber hinaus aber auch eine eigenständige Arbeitsweise und Erklärungsform (vgl. Bunge 1997; 2004; Hedström/ Swedberg 1998). Vor diesem Hintergrund gewinnt die einsetzende Diskussion um sozialwissenschaftliche Erklärungslogiken einen neuen Zuschnitt und verbindet sich überdies mit der Kritik an reinen Makro- oder Mikroerklärungen, Erklärungen nach dem deduktiv-nomologischen Modell von Hempel und Oppenheim (1948) und an kausal-statistischen Verfahren. Mechanismische Erklärungen erscheinen vor diesem Hintergrund als eine 1
So auch der Sammelband Social Mechanisms von Hedström und Swedberg (1998), der die aktuelle Diskussion entscheidend inspiriert und angeregt hat. Vgl. zur Weiterführung der Diskussion Mayntz ((Hg.) 2002) und Schmid (2006).
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alternative Vorgehensweise für eine erklärende Soziologie (vgl. Hedström/Swedberg 1998a; Mayntz 2004). „The search for generative mechanisms diminishes the size of the black box and helps us distinguish between true causality and coincidental association.“ (Hedström/Swedberg 1996: 135) Als ein wichtiger Ausgangspunkt der Mechanismus-Debatte und der Darlegung mechanismischer Erklärungsargumente kann die in den achtziger Jahren einsetzende Mikro-Makro-Debatte sowie die Kritik an der Variablen-Soziologie gelten (vgl. Esser 2002). In deren Kontext werden immer wieder das Fehlen sozialer Gesetze, der Blackbox-Charakter von kausal-statistischen Verfahren sowie die Eigentümlichkeiten der sozialen Welt angeführt, die logische Gesetzesableitungen unmöglich machen (vgl. etwa European Sociological Review 1996; Hedström/ Swedberg 1996; Mayntz (Hg.) 2002). Die Entwicklung sozialwissenschaftlicher bzw. struktur-individualistischer Erklärungsmodelle, in denen explizit Handlungs- und Strukturebene verbunden und Mehrebenen-Erklärungen angelegt werden sollen, will dazu beitragen, soziale Phänomene (Makroebene) durch das Handeln der Akteure (Mikroebene) zu erklären, ohne reduktionistisch vorzugehen. Soziale Phänomene sollen zwar durch Annahmen auf der Mikroebene (eine Ebene tiefer als das Erklärungsproblem) erklärt werden, aber indem zwischen dem handlungstheoretischen Kern und der Makroebene Verbindungen hergestellt werden. Dies geschieht auf der Basis von Situationsmodellen und Transformationsregeln, die den von der Handlungstheorie benannten Parameter und relevante Situationsfaktoren so verbinden, dass sich bezogen auf typische Situationskonstellationen und typische Akteure Einzelhandlungen erklären und in soziale Phänomene transformieren lassen.2 Vor allem für die Soziologie wird dazu die Modellierung typischer sozialer Interdependenzen gefordert. Dies erlaubt eine wichtige Erweiterung gegenüber der neoklassischen Ökonomie, die mit dem homo oeconomicus und dem Wettbewerbsmarkt von autonomen, singulären Entscheidungen ausgeht und eine dezentrale Zusammenführung der Handlungen vermittels des Preis- und Wettbewerbsmechanismus in Gleichgewichte annimmt. Das struktur-individualistische Programm kann daneben auch gemeinsame Interessen modellieren und damit die Entstehung kollektiver Handlungsformen (Gruppen, soziale Bewegungen, Organisationen, Herrschaft) mitsamt ihren Folgeproblemen (Machtaufbau und -missbrauch, Verteilungskonflikte, Protest und Widerstand) in den Blick nehmen (vgl. Maurer 2004). Die Ausarbeitung handlungstheoretisch fundierter Erklärungsmodelle hat wesentlich dazu beigetragen, die Soziologie wieder stärker an die sozialwissen2
An anderer Stelle habe ich eine integrative Erklärung und Analyse des Herrschaftsmechanismus vorgenommen, die auf der Idee basiert, die typischen Funktionsweisen und Folgen von Herrschaft unter einem Dach handlungstheoretisch im Bezug auf verschiedene Situationstypiken zu erklären und zu analysieren (vgl. Maurer 2004; 2006).
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schaftlichen Nachbardisziplinen heranzuführen und deren Position darin stärker zu konturieren. Damit eng verbunden ist immer wieder die Frage nach einer genuin soziologischen Arbeits- und Erklärungsweise bzw. die Debatte um ein integratives Forschungs- und Erklärungsprogramm (vgl. Maurer/Schmid (Hg.) 2002) versus einer multiparadigmatischen Verfassung, die von den Eigenarten der soziologischen Programme ausgeht (vgl. Greshoff/Kneer/Schimank (Hg.) 2003). Konkret ist damit die Klärung des Verhältnisses der Soziologie zum ökonomischen Erklärungsprogramm, das sich mit der Politischen Ökonomie, der Neoklassik und der Neuen Institutionenökonomik im 20. Jahrhundert äußerst erfolgreich ausgebildet und von den anderen Sozialwissenschaften abgesetzt hat, verbunden. Für die Ausarbeitung eines handlungstheoretisch fundierten Erklärungsmodells3, das auf die Erklärung sozialer Sachverhalte in wirtschaftlichen, politischen oder sozial-kulturellen Handlungsfeldern abstellt, steht mit der inzwischen über die Soziologie hinaus bekannten Badewanne ein Mehrebenenmodell zur Verfügung, das dazu anhält, soziale Phänomene und/oder Prozesse aus dem Handeln sozial situierter Akteure zu erklären und dazu Situations-, Handlungs- und Transformationsmodelle zu verwenden.4 „All proper explanations explain the particular by the general, and as will be demonstrated later, there are general types of mechanisms, found in a range of different social settings, that operate according to the same logical principles. Our vision of an explanatory sociology contains an ensemble of such fundamental mechanisms that can be used for explanatory purposes in a wide range of social situations.” (Hedström/Swedberg 1998a: 2) Dass sich im Rahmen dieser Mehrebenen-Erklärungslogik auch eigendynamische Prozessverläufe aus den Rückwirkungen individuellen bzw. kollektiven Handelns auf die Anfangssituation entschlüsseln und handlungs-theoretisch erklären lassen, möchte ich im Folgenden darlegen. Markt- und Machtmechanismus Die Bibliothek der Sozialwissenschaften ist voller Mechanismen. Vom MachtMechanismus sprechen etwa Marx, Elias, Bourdieu oder Foucault und vom 3
4
Andere Erklärungsmodelle, die Handlung und Struktur zu verbinden suchen, ohne jedoch dem Methodologischen Individualismus verpflichtet zu sein, liegen der Strukturationstheorie von Anthony Giddens oder dem Habitus- und Feldkonzept Pierre Bourdieus zugrunde (vgl. dazu Maurer 2004, Kap. 5; 2006c). Die Badewanne hat verschiedene ‚Bauherrn’, die der Methodologische Individualismus und der Anspruch soziale Prozesse und Phänomene als geplantes und/oder ungeplantes Ergebnis des intentionalen Handelns von Akteuren in typischen Situationen zu erklären, verbindet (vgl. McClelland 1966; Boudon 1980; Coleman 1991; Esser 1993; Wippler/Lindenberg 1997).
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Markt-Mechanismus vor allem die Vertragstheorien und die neoklassische Ökonomie. Lange Zeit folgte die interdisziplinäre Arbeitsteilung der Zuweisung des Marktmechanismus in den Aufgabenbereich der Ökonomie (vgl. Hirschman 1974; Williamson 1990), der diversen Mechanismen kollektiven Handelns (z.B. Machtbildung bei Elias 1976; Popitz 1992) in den der Soziologie und des Verhandlungsmechanismus in den der Politikwissenschaften (vgl. Benz/Scharpf/Zintl 1992; Mayntz 1997; Tilly 2001). So verwundert es auch nicht, dass bislang kaum Bemühungen vorliegen, den Schatz an Mechanismen zu heben, der in Form vielfältiger Rekonstruktionen und Analysen in den Sozial-wissenschaften vorliegt, und auch nicht, dass es nur wenige Versuche gibt, die in sozialen, wirtschaftlichen und politischen Feldern beobachteten Mechanismen miteinander in Beziehung zu setzen, geschweige denn, ein integratives Erklärungs- und Forschungsprogramm auszuarbeiten. Die invisible hand von Adam Smith steht dem von Norbert Elias (1976) offengelegten Konkurrenzmechanismus um Macht scheinbar unverbunden gegenüber.5 Überhaupt scheint in der Soziologie eine Vorliebe für Prozesse der Selbstreproduktion und -stabilisierung von Macht- und Ungleichheitsstrukturen vorzuherrschen. Ungeklärt blieb bislang, was der Marktmechanismus mit dem Machtmechanismus und was beide wiederum mit der modellhaften Darstellung von Wettbewerbs-Märkten zu tun haben könnten. Durch den Rückbezug auf handlungstheoretisch fundierte Erklärungsmodelle wäre die Rekonstruktion von Mechanismen meines Erachtens zu systematisieren und ein integratives Erklärungsprogramm voranzutreiben, das unterschiedliche Mechanismen unter einem Dach erfasst. Zwar wird schon lange und auch an verschiedenen Stellen von Mechanismen gesprochen und geschrieben, aber erst seit kurzem scheint auch das notwendige methodologische Instrumentarium vorzuliegen. Das struktur-individualistische Erklärungsprogramm Das struktur-individualistische Erklärungsmodell bietet sich für eine systematische und interdisziplinäre Erfassung, Erklärung und Analyse sozialer Mechanismen an, da es als ein mehrstufiges Erklärungs-Modell konzipiert ist, das komplexe Prozesse aus dem Handeln der Individuen in unterschiedlichen sozialen (Interdependenz-)Situationen erklären will.
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Ullmann-Margalit (1987) hat sich dezidiert mit diesem Mechanismus-Typ beschäftigt.
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Besonderheiten des struktur-individualistischen Erklärungsprogramms Der grundlegende Anspruch des struktur-individualistischen Erklärungsprogramms ist eine analytische Theorie- und Modellbildung und eine systematische Theorie- und Modellverbesserung. Dieses Vorgehen geht von der Komplexität und Vielfalt der Realität und der daraus begründeten Notwendigkeit von Vereinfachungen und Typisierungen aus. „Soziologische Analysen und Erklärungen laufen immer (auch) auf die Konstruktion von vereinfachenden und typisierenden Modellen hinaus.“ (Esser 1993: 119; vgl. auch Hedström/Swedberg 1996; Coleman 1991). Die zentrale Prämisse besagt, dass in der sozialen Welt allein die Individuen Träger sinnhafter, intentionaler Handlungen sind (vgl. dazu auch schon Max Weber 1985/11922; Albert 1998) und dass Erklärungen sozialer Phänomene auf Annahmen auf der Handlungsebene zurückzugreifen haben. Der Methodologische Individualismus lehnt in seiner engen Fassung Annahmen auf der Makroebene grundsätzlich ab und fordert dazu auf, soziale Institutionen, Werte oder materielle Strukturen handlungstheoretisch zu erklären. In seiner weiten Fassung ist die Modellierung sozialer Situationen unter Berücksichtigung von Interdependenzen zugelassen (vgl. Hedström/Swedberg 1996). Strukturindividualistische Erklärungen gehen zwar vom methodologischen Primat des Handelns aus (Methodologischer Individualismus), wollen dieses aber als ein sozial bedingtes, aus spezifischen Interdependenzen hervorgehendes behandelt wissen. „Gerade der empirisch ‚frei’, d.h. nach Erwägungen Handelnde, ist teleologisch durch die, nach Maßgabe der objektiven Situation, ungleichen und erkennbaren Mittel zur Erreichung seiner Zwecke gebunden. Dem Fabrikanten im Konkurrenzkampf, dem Makler auf der Börse hilft der Glaube an seine ‚Willensfreiheit’ herzlich wenig. Er hat die Wahl zwischen ökonomischer Ausmerzung oder der Befolgung sehr bestimmter Maximen des ökonomischen Gebarens.“ (Weber 1988: 133) Bis in die neunziger Jahre wurde im Kontext struktur-individualistischer Erklärungen für eine Verwendung der Rationalwahltheorie plädiert, und dafür instrumentalistisch der Vorteil angeführt, aus einfachen Annahmen auf der Handlungsebene komplexe, reichhaltige Thesen auf der Makroebene zu gewinnen (vgl. etwa Coleman 1991: Kap. 1) bzw. durch Interessen als Handlungsparameter konzise an Ressourcen-Verteilungen auf der Strukturebene anschließen und über Brückenhypothesen6 zur gewünschten Verbindung von Handlungs- und Strukturebene(n) gelangen zu können (Lindenberg 1985; Opp/Friedrichs 1996; Esser 1993). Theorien der rationalen (Handlungs-)Wahl erlauben es, so das einschlägige Argument, Interessen direkt mit materiellen Situationsfaktoren verbin6
Vgl. zu den Aufgaben von Brückenhypothesen insbesondere Lindenberg (1989), Wippler und Lindenberg (1987) sowie Opp und Friedrichs (1996).
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den zu können, was mit Lern- oder Kreativitätstheorien kaum oder gar nicht möglich ist (vgl. Lindenberg 1991; Esser 1993; Kap. 7; 1999: Kap. 1).7 Es ist immer wieder zugestanden worden, dass Theorien der rationalen Wahl empirisch falsch bzw. nur eingeschränkt gültig sind (vgl. Coleman 1991; Hedström/Swedberg 1996), dass ihre Funktion aber darin besteht, das in einer Situation für ein rationales Individuum typischerweise zu erwartende rationale Handeln zu erklären. Darüber hinaus ist dann festzulegen, wann eine höhere Komplexität des handlungs-theoretischen Kerns zur Erklärung sozialer Sachverhalte angebracht ist und die Kosten der komplexeren Formulierung gerechtfertigt sind (vgl. Esser 2002; 2003a; 2003b; Lindenberg 1991). Mit dem ‚Modell soziologischen Erklärens’ wird gegenüber den Klassikern, den Gesellschaftslehren der Aufklärung, der schottischen Moralphilosophie und dem Utilitarismus, der Emergenz des Sozialen Rechnung getragen, und sollen neben erwünschten, geplanten Handlungsresultaten auch emergente, ungeplante und sogar unerwünschte Folgen eines individuell intentionalen Handelns erfasst werden. Die Eigenlogik des Sozialen steht auch im Zentrum von MechanismusRekonstruktionen, die aufzeigen wollen, wie sich hinter dem Rücken der Akteure, aber doch durch ihr Handeln erzeugt, soziale Strukturen durchsetzen – um es in der wohlbekannten Sprache von Karl Marx zu sagen. Im Neuen Institutionalismus der Soziologie, aber auch der Politikwissenschaften und der Ökonomie wird damit das erstaunliche Phänomen bezeichnet, dass es rationalen (eigennützigen oder auch reflexiv rationalen) Individuen durchaus nicht immer und ohne weiteres gelingt, zu einer vorteilhaften Gestaltung ihrer Welt zu gelangen, selbst wenn sie dies wollen und wenn keine Wert- oder Interessenkonflikte vorliegen. In den Sozialwissenschaften werden solche Dilemmata inzwischen als suboptimale Versorgung mit öffentlichen Gütern, als Allmendeproblematik oder als negative bzw. positive externe Effekte behandelt. Auf der Grundlage allgemeiner Situations-Modelle, die typische, sozial relevante Handlungs- und Abstimmungsprobleme aus Sicht rationaler Akteure formulieren und in der Spieltheorie als Kooperations-, Koordinations- oder Verteilungsdilemmata beschrieben werden (vgl. Dixit/Nalebuff 1997; Swedberg 2001), werden in Erweiterung zum neoklassischen Programm der Ökonomie soziale Interdependenzstrukturen bearbeitet und kollektive Handlungsformen und -abläufe als Problemlösungsstrategien der Individuen in den Problemhorizont der Sozialwissenschaften aufgenommen. Aus der Kombination von Situations- und Handlungsmodellen können relevante Abstimmungsprobleme dargelegt und konkretisiert werden, wie z.B. 7
James Coleman hat seine Sozialtheorie in weiten Teilen auf der Basis der Nutzentheorie aufgebaut, während sich Raymond Boudon, Hartmut Esser, aber auch Siegwart Lindenberg oder Viktor Vanberg in den letzten Jahren um die Ausarbeitung und Verwendung realistischer Handlungsmodelle und -theorien bemüht haben.
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die Etablierung und Sicherung vorteilhafter Regeln bei gemeinsamen, komplementären oder konfligierenden Interessen. In der Soziologie kann auf diesem Wege die allgemeine Problematik sozialer Ordnungsbildung in verschiedene Problemtypen übersetzt und mit verschiedenen institutionellen Lösungen verbunden werden. Verbindungslinien zwischen den sozialwissenschaftlichen Disziplinen lassen sich dann über die Konkretion allgemeiner Problemlagen und die interdisziplinäre Perspektive auf verschiedene Mechanismen und Institutionen zu deren Bearbeitung herausarbeiten (vgl. Maurer 2004; 2006a). Neben der Modellerweiterung durch die Explikation sozialer Interdependenzen und der Verwendung spieltheoretischer Modellierungen typischer Dilemmata wird auch an Transformationsmodellen gearbeitet, die in Erweiterung zum ökonomischen Wettbewerbsmarktmodell, das eine dezentrale Handlungslenkung und -koordination über Preise und Mengenanpassungen vorsieht, durch einfache Aggregationen oder mittels komplexer Schwellenwert-, Stufen- und Diffusionsmodelle die erklärten Einzelhandlungen in kollektive Effekte transformieren. Kollektive Effekte können somit als Komposition individuell intentionalen Handelns erklärt werden, die auch den Intentionen der Einzelnen zuwiderlaufen (vgl. dazu Boudon 1980; Coleman 1991; 1992).8 Die ‚Kunst’ der Modellierung besteht darin, relevante soziale Interdependenzen zu erfassen, in spezifische Handlungsmöglichkeiten zu übersetzen, die rationale Handlung zu bestimmen und diese in kollektive Handlungseffekte zu übersetzen und deren Wirkung auf die Anfangssituation aufzuzeigen. Solche Rückbindungen können einfache Wiederholungsschleifen sein, aus denen die Akteure nicht herauskommen, auch wenn sie suboptimal sind, aber auch Steigerungsdynamiken, die zu einer systematischen Umorganisation der Anfangssituation führen und sich als neue, aber typische Verteilungsstruktur von Situationsfaktoren darstellen lassen. Das Grundmodell: ‚Die Badewanne’ Die Vertreterinnen einer dezidiert erklärenden Soziologie haben in kritischem Bezug auf das Hempel-Oppenheim-Modell und die situationslogische Erklärung bei Karl Popper das Modell soziologischen Erklärens entwickelt und in Form der Badewanne9 ausgearbeitet (vgl. Boudon 1980; Coleman 1991; Esser 1993). 8 9
Vgl. für eine empirische Umsetzung z.B. Opp/Voss/Gern 1993. Meines Wissens findet sich die Form der Badewanne erstmals bei McClelland (1966: 91), der damit die Relevanz von Sozialisationsprozessen und individuellen Leistungsmotiven für die wirtschaftliche Entwicklung darstellen und damit Max Webers Protestantismus-Studie durch den Bezug auf ein ‚psychologisches Agens’ verständlich machen wollte. „Zweifellos weist Max We-
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Kennzeichen des Erklärungsmodells (vgl. Abb. 1) ist der handlungstheoretische Kern (Methodologischer Individualismus) und die 3 Verbindungsschritte, die von der Makro- zur Mikroebene (Brückenhypothesen) führen, auf der Mikroebene die Handlungswahl erklären und von der Mikroebene mit Hilfe von Transformationsmodellen wieder auf die Makroebenegehen und den Bezug zur Anfangssituation herzustellen.10 Makro
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Abb. 1 Badewanne (vgl. McClelland 1966: 91; Coleman 1991: 10ff.; Esser 1993: 98) Die Handlungstheorie benennt das allgemeine Prinzip des Handelns, im Falle von Theorien der rationalen Handlungswahl die Regel, dass aus einem Set wahrgenommener und bewerteter Alternativen keine gegenüber einer anderen Handlung als schlechter beurteilte gewählt wird. „The action mechanism of rational choice does not state what a concrete person would do in a concrete situation, but what a typical actor would do in a typical situation.“ (Hedström/Swedberg 1996: 129) Vertreter des struktur-individualistischen Programms plädieren zur Erklärung sozialer Sachverhalte für eine möglichst einfache Theorie der rationalen Wahl, etwa die Nutzentheorie (vgl. Coleman 1991) oder die Werterwartungstheorie (vgl. Esser 1993), durch die das individuelle und kollektive Wissen als Erfolgsschätzungen und Bewertungen berücksichtigt werden; und neuerdings auch bers Beschreibung des Persönlichkeitstypus, den die protestantische Reformation schuf, eine erstaunliche Ähnlichkeit mit dem von uns gezeichneten Bild einer Persönlichkeit mit hoher Leistungsmotivation auf.“ (McClelland 1966: 91) 10 Gegenüber anderen Sozialtheorien, die eine Verbindung von Handlung und Struktur anstreben, wie etwa die Strukturationstheorie von Anthony Giddens oder auch die Theorie der Praxis von Pierre Bourdieu, sind im Grundmodell drei explizite Verbindungsschritte angelegt und wird von einer bewussten Situationswahrnehmung und einer bewussten, rationalen Handlungswahl der Akteure ausgegangen (vgl. erweiternd Esser 2001-6; 2003b). Demgegenüber setzen Praxistheorien im Normalfall das halbautomatische bzw. unbewusste Ausführen und Reproduzieren von Routinen bzw. von klassenspezifischen Habitus voraus und gestehen der Handlungsebene meines Erachtens nur eine vermittelnde Funktion zu, die in der Aneignung und Umsetzung von Strukturen durch und im Denken bzw. Körper der Individuen zu sehen ist (vgl. Maurer 2004: Kap. 5).
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für integrierte Handlungsmodelle, die auch ein norm-orientiertes, interpretierendes, gewohnheitsmäßiges oder emotionales Handeln als rationale Handlungsorientierung erfassen (vgl. Esser 2003a; b; Lindenberg 1989; 1991).11 Das Modell soziologischen Erklärens versteht sich als eine Mehrebenenerklärung, die ausgehend von dem durch die Handlungstheorie angegebenen relevanten Handlungsparameter im ersten Schritt die Handlungssituation aus Sicht der Individuen erschließt (Situationslogik) und in für das Erklärungsproblem relevante Handlungsalternativen übersetzt. Entsprechend der Handlungsannahmen (Aussagen über das Wissen und die Fähigkeiten) werden diese bewertet und geordnet, so dass unter Anwendung des Handlungsprinzips dann die für diese Situation rationale Handlung erklärt wird. In einem dritten Schritt müssen dann die erklärten Handlungen der Akteure durch Transformationsregeln zu sozialen Effekten zusammengeführt werden, entweder durch einfache Addition oder durch komplexere Regeln wie Schwellenwert- oder Diffusionsmodelle. Die sozialwissenschaftliche Relevanz und die Chancen für eine disziplinenübergreifende Arbeit liegen in der Modellierung relevanter, aufeinander beziehbarer Situationen sozialer Interdependenz – etwa Abstimmungs-, Sicherungsoder Verteilungsprobleme. Die unterlegte Handlungstheorie benennt das Handlungsprinzip und verweist auf relevante Situationsfaktoren, wie etwa die Verteilung begehrter Ressourcen (Handlungsrechte, Macht, Heilsgüter, Konsumgüter). Empirisch gehaltvolle Brückenhypothesen übersetzen die Handlungssituation in Handlungsmöglichkeiten und bringen die Situationslogik zum Ausdruck wie z.B. die Unterversorgung mit öffentlichen Gütern aufgrund des Trittbrettfahreranreizes. Der Einsatz geeigneter Transformationsmodelle dient dazu, die erklärten individuellen Handlungen zu interessierenden sozialen Effekten zusammenzuführen.12 Die Schritte können beliebig wiederholt und aneinandergehängt werden (vgl. Coleman 1991; Esser 1993; 1999-1)13 Gelingt es, eine Funktion anzugeben, die eine typische Rückwirkung auf die Anfangssituation beschreibt, dann ist ein sozialer Mechanismus erkannt und es wäre von einer mechanismischen Erklärung zu sprechen.
11 Die Handhabung solcher Modelle und deren empirische Prüfung gestaltet sich dann aber als relativ schwierig, hat aber durch die Computersimulation auch in den Sozialwissenschaften neue Wege und Mittel gefunden (vgl. exemplarisch Malsch 2001; Florian/Hillebrandt 2004). 12 Während die Brückenhypothesen methodologisch relativ gut geklärt sind, besteht weitgehende Übereinstimmung darin, dass bzgl. der Transformationsregeln noch Klärungs- und Forschungsbedarf besteht (Coleman 1991; Esser 1993; 1999-1). 13 Auch eine Mesoebene, etwa in Form von Organisationen (vgl. Coleman 1992), kann berücksichtigt werden.
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Erweiterungen des struktur-individualistischen Erklärungsprogramms In den vergangenen Jahren wurde verstärkt an relevanten Situationsmodellierungen gearbeitet und konnten wichtige Problemexplikationen und -spezifikationen vorgenommen werden. So konnten etwa durch Spezifikationen des Theorems der öffentlichen Güter (vgl. Olson 31992) verschiedene Typen und Probleme eines kollektiven Handelns zur Erreichung gemeinsamer Ziele aufgedeckt und dafür mögliche Lösungen angegeben werden (vgl. zusammenfassend Maurer 2004: Kap. 4). Aber auch die Allmendethematik (vgl. Ostrom 1999) und Sicherungsund Kontrollprobleme in Organisationen (vgl. Coleman 1991; 1992, Williamson 1990) können durch entsprechende Modelle abgebildet und in politisch, ökonomisch oder soziologisch relevante Probleme übersetzt und empirisch untersucht werden. Von nicht zu überschätzender Bedeutung ist in diesem Kontext die Berücksichtigung ‚sozialer Güter’ bzw. ‚sozialer Interdependenzen’, die im Unterschied zu den in der Neoklassik behandelten privaten Gütern, die direkt auf die Bereitschaft der Akteure schließen lassen, zu ihrer Herstellung und Nutzung beizutragen, und daher gut über den Markt abgewickelt werden können und weder gemeinsamer Werte und Interessen noch kollektiver, organisierter Handlungsformen bedürfen. Die Rationalerklärung kann auf diesem Wege, und in Erweiterung durch das ökonomische Erklärungsprogramm, einen rational motivierten Bedarf an kollektivem Handeln und den dafür notwendigen Organisationsformen aufweisen. Nicht mehr nur der Markt ist dann als effizienter bzw. sozial vorteilhafter Mechanismus zu erklären, sondern auch die Formen sozialen, kollektiven Handelns (soziale Bewegungen, Religionsgemeinschaften, Wirtschafts-Organisationen, Genossenschaften, Staaten) und die dort vorzufindenden Institutionen kollektiver Entscheidungsfindung und -durchsetzung (Hierarchien, Mitbestimmung, Reformen und Revolutionen) und alle damit verbundenen Schwierigkeiten (Machtkonzentration, Trittbrettfahren, Kontrolle der Kontrolleure usw.). Wie bereits erwähnt begann die Arbeit an der realistischeren Fassung und der Integration von Handlungsmodellen und -theorien erst relativ spät. Damit sollen Werte, Gewohnheiten und Emotionen als (rationale) Handlungsorientierungen neben der zweckrationalen Handlungswahl berücksichtigt werden bzw. auch unterschiedliche Rationalitätslogiken erfasst werden (vgl. Schimank 1999; Greve 2003; Wolf 2005). Mit diesen Erweiterungen wird der herkömmlichen Kritik aus der Soziologie Rechnung getragen, dass in sozialen und politischen Handlungsfeldern eben nicht ausschließlich von einem zweckrationalen, eigennützigen Handeln ausgegangen werden kann und dass auch nicht immer von Situationen ausgegangen werden kann bzw. von Institutionen wie dem Wettbewerbsmarkt, die das Handeln der Akteure lenken. Vielmehr sollen sowohl indi-
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viduelle Wissensbeschränkungen und kollektive Wissensschätze als auch die Orientierung an Normen und Werten (vgl. Weber 1985) und/oder an Gewohnheiten und Routinen (vgl. Bourdieu 1979; Giddens 1992) bei der Entstehung und Aufrechterhaltung sozialer Phänomene und Prozesse berücksichtigt werden. Mechanismen im struktur-individualistischen Erklärungsprogramm Das struktur-individualistische Erklärungsprogramm erlaubt eine Erweiterung der ‚Badewanne’ hin zu mechanismischen Erklärungen. Dazu ist allerdings ein zusätzlicher Schritt erforderlich, der eine explizite Rück-Schleife zur Anfangssituation herstellt und eine typische Änderung in den relevanten SituationsFaktoren aus dem vorhergegangenen Handeln ableitet, so dass typische Handlungsanreize entstehen und den Ablauf in Gang halten. Dies entspricht durchaus dem Anspruch des struktur-individualistischen Erklärungsprogramms, verschiedene sozial relevante Problemlagen durch die Modellierung sozialer Situationstypiken und unter Verwendung eines Handlungsmodells theoretisch zu erschließen und nach Lösungen aus Sicht der Akteure zu suchen (vgl. auch Maurer 2006a). „Die ertragreiche Kooperation in den großen Verbänden einer offenen Gesellschaft war die einzigartige befreiende Leistung der menschlichen Zivilisation, von der David Hume – und andere Aufklärer – zu Recht so schwärmten.“ (Esser 2000-3: 224) Was dieses Vorgehen soziologisch relevant macht, ist, dass sozial prekäre, unvorteilhafte Verhältnisse aufgedeckt und erklärt werden können und auch Möglichkeiten zu deren Bearbeitung aus Sicht der Akteure erkannt und in ihren weiteren Folgewirkungen analysiert werden können. Dass damit sozial äußerst relevante Phänomene angesprochen sind, die auf vom Handeln der Akteure hervorgerufene, eigendynamische Prozesse zurückgehen, zeigen klassische Arbeiten zu Prozessen der Machtakkumulation (vgl. Elias 1976; Popitz 1992: 185ff.), und zur Verstärkung von Ungleichheitsstrukturen (vgl. Boudon 1980; Bourdieu 1992: 49ff., Popitz 1992: 190ff.). Mechanismen, einerlei ob in sozialen, ökonomischen oder politischen Kontexten, beschreiben typische Ablaufmuster und erklären diese durch das sozial gebundene Handeln von Akteuren. Eine Mechanismusrekonstruktion muss also einen Zusammenhang bzw. eine Rückkoppelung aufdecken.14 Eine Mechanismus-Erklärung in diesem Sinne gibt an, wie sich durch das situational gebundene 14 Soziale Mechanismen wären damit immer reflexiv (vgl. die Einführung zu diesem Band), da sich die rekonstruierten Prozesse grundsätzlich auf die Anfangskonstellationen zurückbeziehen (lassen), was aber keineswegs bedeuten muss, dass die beteiligten Akteure (und das wären in diesem Erklärungsprogramm die Träger einer Reflexion) den Mechanismus durchschauen und dessen Ablauflogik immer reflektieren und bewusst zu gestalten suchen.
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Handeln der Akteure (oder Akteursgruppen) die Situation auf eine typische Art und Weise verändert und in kennzeichnende Sozialstrukturen einmündet. So erklärt der Konkurrenzmechanismus bei Elias, wie aus der Konkurrenz um knappe Ressourcen (Land) durch die Nutzung zufälliger Chancen sich ein sukzessiver Machtaufbau ergeben kann, da auch wenig Macht neue Ausbeutungsund Handlungschancen zum eigenen Vorteil und zum Nachteil der anderen eröffnet. Unter genau anzugebenden Bedingungen kann damit der Aufbau von Machtmonopolen erklärt werden. Der allgemeine Mechanismus kann dann zur Erklärung und Analyse konkreter wirtschaftlicher, sozialer oder politischer Handlungsfelder genutzt werden und dabei helfen, den Aufbau von strukturellen Ungleichheiten an begehrten materiellen Gütern, Informationen, Handlungsrechten usw. zu erfassen und zu erklären. Mechanismus-Erklärungen sind so als allgemeine Modelle zu begreifen und zur Erklärung konkreter Abläufe und Strukturen in verschiedenen Handlungsfeldern einzusetzen, zu prüfen und zu verbessern (vgl. Esser 2002). Ein integratives, interdisziplinäres Forschungsprogramm würde daran arbeiten, verschiedenste Mechanismen handlungstheoretisch zu erklären und in den verschiedenen Teildisziplinen anzuwenden bzw. empirisch zu untersuchen. Abwanderung und Widerspruch ‚revisited’ Wie sich soziale Mechanismen mit Hilfe des struktur-individualistischen Erklärungsprogramms handlungstheoretisch rekonstruieren lassen und wie soziale Struktureffekte interdisziplinär mit Hilfe solcher Mechanismus-Modelle erklärt werden können, will ich abschließend anhand des für dezentrale Abstimmungen stehenden Markt- und des für kollektive Handlungsformen kennzeichnenden Widerspruchs-Mechanismus darlegen. Albert Hirschman, der sich selbst als Grenzgänger zwischen den sozialwissenschaftlichen Disziplinen sieht (vgl. Hirschman 1981), hat die Funktionslogik von Abwanderung (Markt) und Widerspruch (kollektives Handeln) modellhaft dargestellt und deren Wechselspiel thematisiert (vgl. Hirschman 1974; 1992). Das Verhältnis von Abwanderung und Widerspruch hat er als von den einzelnen Akteuren unbeabsichtigte, aber gleichwohl durch ihr intentionales Handeln herbeigeführte Wahl erklärt. Bezogen auf organisationale Leistungsschwankungen hat Hirschman so, entgegen der vorherrschenden ökonomischen Meinung, zeigen können, dass der Marktmechanismus nicht automatisch und immer eine vorteilhafte Problembehebung ermöglicht und das ‚optimale Verhältnis’ zwischen Markt und kollektiven Handlungsformen zu analysieren ist. Dies liegt an der Funktionslogik des Marktes, der durch das zu frühe oder zu umfassende ‚Weggehen’ einzelner Leistungsträger
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die Aktivierung von Lösungspotentialen und die Nutzung von deren Wissen beoder verhindert. Ein Leistungsabfall, der durch Informationsumverteilung und -gewinnung, vor allem der Organisationsleitung, behoben werden könnte, kann mit Hilfe des Wettbewerbs15 nicht grundsätzlich optimal bearbeitet werden. Grundmodell Das Vorgehen von Hirschman (1974) umfasst die Modellierung von Handlungsund Strukturebene und basiert auf der Annahme eines begrenzt rationalen Handelns der Einzelnen (Handlungsebene) und einer suboptimalen Situation16 in Form des Leistungsabfalls einer Organisationen (Strukturebene). Das Erklärungsproblem ist die Suche nach adäquaten Mechanismen der Problembearbeitung bzw. die Frage, wie es den an der Leistung interessierten Akteuren (in verschiedenen Situationen) gelingen kann, den zufälligen Leistungsabfall wieder in den Griff zu bekommen und zu einer Wiederherstellung des Leistungsniveaus zu gelangen. Die von Hirschman dafür als relevant angegebenen Handlungsalternativen sind exit (Weggehen zur Konkurrenz) oder voice (Bleiben und Widersprechen). Die beschriebene Situationslogik impliziert erstens ein gemeinsam geteiltes Interesse an dem Output und der Leistung der Organisation, dessen Stärke jedoch zwischen Einzelnen oder Gruppen unterschiedlich stark sein kann. Hirschman beschreibt das Interesse an der Organisation in Abhängigkeit von der Bedeutung der von ihr bereitgestellten Produkte und Leistungen für die Einzelnen, der antizipierten exit-Optionen und deren Erwartung, ob und mit welcher Wahrscheinlichkeit positive Änderungen herbeizuführen sind und wie wichtig der eigene Beitrag dafür ist. Die als relevant angesehenen Situationsfaktoren lassen sich danach unterscheiden, ob sie durch die ‚objektive Situation’ oder durch die Erwartungen über das Handeln der anderen bestimmt sind und werden zudem immer von den Einzelnen situationsabhängig in ihrer Erfolgswahrscheinlichkeit bewertet.
15 Hirschman (1974) setzt dazu die in der Ökonomie geläufigen Preis- bzw. Qualitätselastizitäten der Nachfrage bzw. des Angebots ein. 16 Bemerkenswerterweise verzichtet er bei der Problemdarstellung auf eine handlungstheoretische Ausarbeitung und setzt Leistungsschwankungen als ein Grundmerkmal von Organisationen an. Damit vergibt er die Chance, das Problem in Bezug auf Akteurs-Eigenschaften konturieren und variieren zu können und auch eine systematische Spezifikation von Organisationen in Bezug auf individuelle Interessen (z.B. Interessenverbände versus Wirtschaftsbetriebe) oder individuelle Handlungsrechte (z.B. Vereine versus Nationalstaaten) usw. vornehmen zu können (vgl. weiter Maurer 2006b).
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Die Problemdarstellung impliziert zum zweiten, dass der Leistungsabfall zufällig ist, d.h. keine systematische Grundlage in den Akteurs- oder Situationseigenschaften hat, sondern alle Organisationen beliebig treffen und durch Information (vor allem der Organisationsleitung) in den Griff zu bekommen ist. Daraus folgt, dass für die Problembewältigung die Handlungen und Mechanismen fokussiert werden müssen, die die Informationsbearbeitung und -erteilung betreffen. Oder anders formuliert: die zu rekonstruierende Funktionslogik der Reparaturmechanismen wird ‚irgendetwas’ mit der Gewinnung und Verteilung von Informationen zu tun haben müssen. Die Handlungswahl basiert auf der situationsbezogenen Übersetzung der zwei Handlungsalternativen in erwartete Kosten und Erträge und der Schätzung ihrer Eintrittswahrscheinlichkeiten, so dass Abwanderung und Widerspruch17 aus Sicht begrenzt rationaler, eigennutzorientierter Akteure daraufhin zu betrachten ist, welche Gewinne und Kosten für die Abwanderung und welche Gewinne und Kosten für den Widerspruch erwartet werden. Ein rationaler Akteure wird annahmegemäß die Handlung mit dem höheren oder höchsten Wert-ErwartungsWert ergreifen. Eine besondere Bedeutung kommt den Kosten und Erträgen zu, die die Akteure in Abhängigkeit vom Handeln der anderen schätzen, da sie sich im Laufe der Zeit – eben abhängig von vorherigen Handlungen – verändern und dadurch eine Wende herbeiführen können. Ebenfalls eine besondere Wirkung ist Kosten und Erträgen zuzuschreiben, die unabhängig vom Tun der anderen und von dem eigentlichen Anliegen auftreten, wie z.B. soziales Ansehen. Das sind ‚selektive Anreize’, die auch in aussichtslosen und sehr teuren Situationen eine Widerspruchshandlung erklären und als ‚Initialzündung’ gelten dürfen. Unter Anwendung eines Schwellenwertmodells kann so gezeigt werden, wie erste Widerspruchshandlungen einiger weniger die Kosten- und Ertragskalkulation wie auch die Erfolgsschätzungen der anderen verändern können. Der Abwanderungsmechanismus Aus dem Modell folgt, dass Abwanderung bei einem Leistungsabfall relativ schnell von Akteuren gewählt wird, die die Organisationsmitgliedschaft relativ gering bewerten, die über viele und günstige exit-Optionen verfügen und nur geringe Hoffnungen auf eine Besserung haben. Verschiedene Akteursgruppen können danach unterschieden werden, wie sie die Erträge und die Erfolgswahrscheinlichkeit von Widerspruch einschätzen. Die Entscheidung für Abwanderung 17 Die beiden von Hirschman benannten Handlungsalternativen erfassen die Situation jedoch nicht vollständig und eine wichtige Modellerweiterung liegt in der Berücksichtigung der Option zu bleiben und stillzuhalten bzw. zu sabotieren (vgl. ausführlicher Maurer 2006b).
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fällt dabei unabhängig von Erwartungen über das Tun der anderen, während Widerspruch meist stark davon abhängt, vor allem dann, wenn die Selbstheilungskräfte einer Organisation von einigen ihrer Mitglieder abhängen. Aus der Abwanderungsentscheidung von Leistungsträgern folgt eine Schwächung der Leistungsfähigkeit und so fort und so fort. Ist der Abwanderungsprozess in Gang gesetzt, dann kann dies zum Niedergang des ganzen Systems führen. Entscheidend für die Prozesslogik ist die geschätzte Wahrscheinlichkeit einer Wiederherstellung der Leistung. Wird durch die Abwanderung einzelner dieser Faktor in der nächsten und dann wiederum in der übernächsten und der überübernächsten Situation gesenkt, dann kommt eine Spirale aus Abwanderung und antizipiertem Misserfolg in Gang, der dazu führt, dass sukzessive die positiven Ertragserwartungen sinken und damit auch noch diejenigen gehen werden, die zunächst geblieben sind, weil der Verbleib noch günstiger war als die exit-Optionen. Es ist die durch das Handeln der anderen sukzessive gesenkte Erwartungswahrscheinlichkeit eines Erfolgs von Widerspruch, der die Dynamik in Gang hält. Entscheidend dafür sind Situationsfaktoren, die Einfluss auf die geschätzte Wahrscheinlichkeit einer Leistungswiederherstellung haben. So kann selbst eine Abwanderung weniger am Anfang die Erfolgsschätzung der anderen senken, bis sie gegen Null geht und positive Faktoren unerheblich werden lässt. Aus dem Modell folgt aufgrund des Einflusses der Erfolgswahrscheinlichkeitsschätzung in Abhängigkeit von der Abwanderungsentscheidung der anderen, dass eine (zu) frühe und (zu) starke Abwanderung, selbst wenn sie eine Reaktion auf reparable Leistungsschwankungen ist, das Ende der Organisation herbeiführen kann. Der Abwanderungsmechanismus beschreibt dann eine systematische Steigerung des Leistungsabfalls durch den sukzessiven Weggang Einzelner. Der Ökonom Hirschman folgerte daraus, dass der Markt mit seinen Anreizen des Wettbewerbs durchaus ineffiziente Folgen produzieren kann, zumal wenn er Leistungsträger zum Wechsel bewegt. Daraus zog Hirschman den institutionentheoretischen Schluss, dass der Marktmechanismus nicht immer zur effizienten Gestaltung von Leistungsschwankungen in der Lage ist und die ökonomische Theorie daher gut beraten wäre, auch andere Reparaturmechanismen in ihr Programm aufzunehmen und das jeweils effiziente Verhältnis zwischen beiden zu bestimmen. Widerspruchs-Mechanismus und Loyalitätsbindung Den alternativen, vor allem in den Politikwissenschaften behandelten Reparaturmechanismus sieht Hirschman im individuellen und kollektiven Widerspruchshandeln. Widerspruch kann auf der Basis der Rationaltheorie als ein Akt der (kollektiven) Interessenformulierung und -durchsetzung gefasst werden.
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Widerspruch hängt wiederum von den geschätzten Gewinnen und Kosten für die einzelnen ab, im Unterschied zur Abwanderung aber auch immer noch von der geschätzten Chance, auf den Missstand aufmerksam zu machen und eine positive Wende herbeiführen zu können und von der wahrgenommenen Relevanz des eigenen Tuns dafür. Widerspruch impliziert die Interdependenzstruktur eines ‚öffentlichen Gutes’, da ja die ‚Wende’ für alle Vorteile hätte, aber nur den ‚Rebellen’ Widerspruchskosten aufbürdet. Immer dann, wenn eine Leistungsverschlechterung mehrere Akteure betrifft und der Widerspruch Kosten verursacht, dann ist ein Kollektivgut gegeben, das Trittbrettfahreranreize nach sich zieht. Der Aufbau von Widerspruch hängt entsprechend entscheidend davon ab, ob und wie diese überwunden werden können. Hirschman hat die Logik der Situation darin gesehen, dass Widerspruchshandeln neben der Bedeutung der angestrebten Leistungsverbesserungen immer noch von Erwartungen über das Handeln der anderen bestimmt wird. Durch Widerspruchshandlungen insbesondere von Leistungsträgern steigen die Erfolgswahrscheinlichkeiten des Widerspruchs, was Erträge stärker zu Buche schlagen lässt und mitunter auch Widerspruchskosten senkt. Dennoch: Der Widerspruchsmechanismus bleibt prekär. Der Unterschied zum Abwanderungsmechanismus ist die Logik des Widerspruchsmechanismus durch das Trittbrettfahrerproblem und äußert sich in der Verwendung von Schwellenwertmodellen zur Zusammenführung der Einzelhandlungen. Aus den einschlägigen Arbeiten (vgl. Olson 31992; Coleman 1992: 28ff.) ist hinlänglich bekannt, dass dafür Einschätzungen über die eigene Bedeutung und das Handeln der anderen relevant und Thesen darauf zu beziehen sind. Die zentrale Aussage ist, dass Zweifel am Erfolg des Widerspruchs erwartete Erträge bedeutungslos werden lassen. Dieser Logik kollektiven Handelns unterliegt auch die systematische Leistungswiederherstellung in Organisationen18, weshalb Hirschman zwar Widerspruch als einen alternativen Mechanismus in ökonomischen Analysen berücksichtigt wissen will, aber auch nach Faktoren sucht, die dessen Eintrittswahrscheinlichkeit steigern könnten.19 Erweiterungen und interdisziplinäre Anschlüsse Das Beispiel der beiden Reparatur-Mechanismen zeigt, dass soziale Mechanismen mit Hilfe der Badewanne handlungstheoretisch entschlüsselt und der Auf18 In den Politikwissenschaften und der Soziologie wird diese Logik des WiderspruchsMechanismus gern an Revolutionen und Rebellionen jeglicher Art diskutiert, um deren seltenes Eintreten zu erklären (vgl. insbesondere Coleman 1992). 19 Eine mittelfristig kalkulierte Loyalitätsbindung an die Organisation, die mittelfristig zu erwartende Verbesserungen berücksichtigt, kann nach Hirschman (1974: 65ff.) Abwanderung rational verzögern und die Selbstheilungskräfte des Widerspruchs stärken.
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bau der Prozesslogiken durch einen vierten Erklärungsschritt innerhalb der Badewanne erklärt werden kann, der angibt, wie die Handlungsschritte auf die Situationsfaktoren immer wieder und in einer typischen Art und Weise zurückwirken. Im Falle des Abwanderungsmechanismus ist dafür die von den Einzelnen geschätzte Wahrscheinlichkeit einer Leistungswiederherstellung zentral, die angestoßen durch die Abwanderung von Leistungsträgern sukzessive ins Bodenlose fällt und damit mögliche positive Erträge zunehmend unerheblich für das Handeln werden lässt und die Abwanderungsdynamik in Gang hält, bis das System ob des Weggangs zusammenbricht. Im Falle des Widerspruchsmechanismus ist dagegen die Reparatur bzw. das Widersprechen ständig prekär und davon abhängig, ob durch die vorgängigen Handlungen das latente Trittbrettfahrerproblem reduziert wird, indem die Relevanz der individuellen Beiträge bzw. die Erfolgswahrscheinlichkeit erhöht wird. Erweiterungen und interdisziplinäre Verbindungen sind durch die Variation der relevanten Situationsfaktoren (z.B. unterschiedliche Mitgliedschaftsmotivationen und Interessenkonstellationen, den Repressionsgrad, die Zahl und die Relevanz der Leistungsträger) und/oder eine Modifikation der Handlungsannahmen (z.B. Informationsasymmetrien) möglich. Eine wichtige soziologische Problemspezifikation wäre etwa dadurch zu erreichen, dass zwischen Organisationen zur gemeinsamen Zielverfolgung (z.B. Interessenverbänden, Parteien oder Staaten) und Organisationen, die der Realisierung der Ziele einiger weniger gegen Entgelt dienen (z.B. in Wirtschaftsbetrieben) unterschieden werden würde und deren allgemeine Wirkungen auf die Wahl von Abwanderung und Widerspruch erfasst werden würden. Die interdisziplinäre Anlage und die Übertragbarkeit des Modells auf soziologische und politikwissenschaftliche Fragestellungen hat sich an vielen Stellen gezeigt (vgl. dazu Maurer 2006b). Das Anwendungsfeld reicht von Wirtschaftsbetrieben über Parteien bis hin zu Staaten und hat seine Grundlage darin, dass Hirschman das Problem der Leistungsschwankung ganz allgemein einführt und nicht über Interessenkonstellationen oder Ausstattungsunterschiede entwickelt und spezifiziert. Hirschman selbst hat eine wesentlich Modellrevision vorgelegt, um entgegen der ursprünglichen Abträglichkeitsthese von Abwanderung (Hydraulikmodell) auch deren wechselseitiges Aufschaukeln erklären zu können, wie sie die Prozesse im Herbst 1989 in der DDR belegen (vgl. Hirschman 1992). Plädoyer für ein interdisziplinäres Forschungsprogramm Mit dem struktur-individualistischen Erklärungsmodell können Mechanismen als spezifische Dynamiken beschrieben und aus typischen Rückwirkungen situati-
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onsgebundener Handlungen auf einzelne Situationsfaktoren erklärt werden. Eine Mechanismus-Erklärung umfasst die Modellierung typischer Situationen, ein handlungstheoretisches Fundament, Transformationsmodelle und die Angabe einer Rückwirkungsfunktion auf die Anfangssituation. In Mechanismus-Argumenten sind die vier Erklärungsschritte: die Übersetzung der Handlungssituation in Handlungsalternativen, die Handlungserklärung, die Transformation der individuellen Handlungen in kollektive Effekte und deren Rückübersetzung auf einzelne Situationsfaktoren und systematische handlungskanalisierende Wirkungen, zusammengefasst. Bekannte Ablaufmuster und damit allgemeine MechanismusModelle sind in der Soziologie etwa der lineare Prozess in der Konzentration knapper Ressourcen, das abrupte Ausbrechen und Abebben von Revolutionen, oder die Segregation von Gruppen. In allen Fällen wird der Aufbau einer typischen Verteilung relevanter Situationsfaktoren aus dem situational gebundenen Handeln der Akteure abgeleitet. Mechanismusrekonstruktionen sind allgemeine Modelle (vgl. Esser 2002), die handlungstheoretisch fundiert typische Ablaufmuster aufdecken und die dafür relevanten Situationsfaktoren (deren Verteilung und Ausprägung) angeben. Sie zeigen, wie zum einen Situationskonstellationen das Handeln der Individuen so kanalisieren, dass sich diese dadurch auf eine typische Art und Weise verändern, weil spezifische Handlungsanreize wirksam werden und soziale Strukturmuster hinterlassen, ohne dass diese von den Akteuren gewollt und intendiert sein müssen. Die Heuristik wie auch die interdisziplinäre Integrationskraft eines solcherart angelegten Mechanismus-Programms liegt in der Modellierung typischer Situations- und Problemkonstellationen, die sich in soziologisch, ökonomisch oder politisch relevante Fragen übersetzen lassen und damit ein allgemeines Modell für die Erklärung typischer Ablauf- und Strukturmuster in sozialen, ökonomischen und politischen Handlungsfeldern an die Hand geben. Die von den Modellen angeleitete Analyse und empirische Untersuchung verschiedener ‚Mechanismen’ in sozialen, politischen und ökonomischen Feldern sowie auch die Entwicklung komplexer Modelle, die den Zusammenhang zwischen Mechanismen behandeln, würden so einen systematischen Erklärungs- und Wissensbestand aufbauen helfen. Literatur Adorno, Th. W./Dahrendorf, R./Pilot, H./Albert, H./Habermas, J./Popper, K.R. (1975): Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 4. Aufl., Darmstadt, Neuwied Albert, H. (1998): Marktsoziologie und Entscheidungslogik. Zur Kritik der reinen Ökonomik, Tübingen
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Die self-fulfilling prophecy als reflexiver Mechanismus
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Die Self-fulfilling prophecy als reflexiver Mechanismus. Überlegungen zur Reflexivität sozialer Praxis Die Self-fulfilling prophecy als reflexiver Mechanismus
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In der Soziologie wird der Mechanismusbegriffs oft nur metaphorisch, unreflektiert und ohne explizite Definition benutzt. Gegen eine solch unbedachte Rhetorik wird seit Ende der 1980er Jahre versucht, dem Konzept des Sozialmechanismus einen methodologisch begründeten und systematischen Stellenwert in der soziologischen Epistemologie und Theoriebildung zu verschaffen. Die Bedeutung sozialer Mechanismen bei Charles Cooley (1909) oder in der funktionalistischen Soziologie (zum Beispiel bei Parsons 1964; Parsons/Shils 1962; Luhmann 1966; Merton 1968) scheint vergessen, als der Mechanismusbegriff von Jon Elster (1989: 3-10) noch mit durchaus mechanischen Assoziationen („nuts and bolts, cogs and wheels“) verwendet und später auch von Arthur Stinchcombe (1991) aufgenommen wird, um den Erklärungsanspruch soziologischer Analysen zu stärken. Das Konzept sozialer Mechanismen, das schließlich Mitte der 1990er Jahre von Peter Hedström und Richard Swedberg (1996) in systematischer Absicht wiederbelebt wird, hat inzwischen vor allem dort eine starke Resonanz erfahren, wo es um die Überwindung von Erklärungsdefiziten soziologischer Theorien geht.1 Die inzwischen recht umfangreiche Literatur zum Konzept sozialer Mechanismen hat bislang noch keine allgemein anerkannte Definition hervorgebracht. Gemeinsamkeiten hinsichtlich einer verbindlichen Bestimmung des Mechanismusbegriffs lassen sich aber vor allem im Hinblick auf drei Aspekte erkennen: Prozesshaftigkeit, Kausalrelation und Mehrebenendifferenzierung. Danach lässt sich ein sozialer Mechanismus zunächst als ein Prozess verstehen (zum Beispiel Bunge 1997; Merton 1973), der an der Erzeugung eines sozialen Phänomens aktiv beteiligt ist („generativer Mechanismus“, Erzeugungsmechanismus) und sich deshalb für die kausale Erklärung dieses Phänomens eignet (Erklärungsmechanismus). Ein Sozialmechanismus stellt zweitens eine kausale Relation her zwischen sozialen Ereignissen oder Zuständen, was sich in Form eines dreiglied1
Vgl. insbesondere die Beiträge im Sammelband von Hedström/Swedberg 1998a sowie das Symposium zu Mario Bunges Philosophie der Sozialwissenschaften in der Zeitschrift „Philosophy of the Social Sciences“ 34, No. 2 und 3, 2004; Mayntz/Nedelmann 1987, Schmid 2001, 2003, 2005; Müller 2001; Mayntz 2002a/b, 2004; Esser 2002; Schimank 2002, 2005).
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rigen Kausal- oder Prozessschemas (Input/Ursache – Mechanismus – Output/Wirkung) visualisieren lässt (zum Beispiel bei Hedström/Swedberg 1998b: 9 nach einer Idee von Bunge 1967: 509). Drittens wirkt diese Kausalrelation zwischen verschiedenen Ebenen der Sozialität, das heißt je nach theoretischer Ausrichtung bezieht sich die durch Mechanismen erzeugte Kausalität auf eine System-Komponenten-Differenz (zum Beispiel in der funktionalistischen Systemtheorie, aber auch bei Bunge) oder auf eine Mikro-Makro-Unterscheidung zwischen individuellen Ursachen und kollektiven Folgen (zum Beispiel bei rationalen Handlungstheorien). Auf dieser Grundlage möchte ich einen Vorschlag für eine Arbeitsdefinition unterbreiten, die einen sozialen Mechanismus erstens als (selbsttätigen) Ablauf eines sozialen Prozesses begreift, der Ereignisse, Prozesse oder Zustände auf verschiedenen Ebenen sozialer Aggregation kausal miteinander verbindet, der sich zweitens als Prozessverlauf regelmäßig wiederholt und der drittens intentional durch die Akteure nicht direkt manipulierbar ist, das heißt auch ohne eine unmittelbar auf ihn bezogene, willentliche oder bewusste Intention der Akteure ausgelöst und reaktiviert wird. Soziale Mechanismen verbinden die sozialen Praktiken und (intentionalen) Handlungen der Akteure mit den nicht-intendierten kollektiven Handlungsfolgen und umgekehrt, so dass es sinnvoll erscheint, für die Erklärung der jeweils unterschiedlichen Übergänge zwischen Mikro- und MakroEbene auch verschiedene Typen von Mechanismen zu verwenden (vgl. hierzu die Typologie von Hedström/Swedberg 1998b: 21f.; vgl. auch Schmid 2005). Ein Sozialmechanismus wird dann „reflexiv“, wenn ein sozialer Prozess im gerade definierten Sinne sich auf sich selbst zurückbezieht, das heißt auf seinen eigenen Verlauf einwirkt. Im Unterschied zu einem tautologischen Zirkelschluss, bei dem das zu beweisende Resultat bereits in der Voraussetzung enthalten ist, handelt es sich bei reflexiven Mechanismen um einen Prozess, in dessen Ablauf nur unter bestimmten, näher zu erklärenden Bedingungen ein sich selbst verstärkender oder vermindernder Effekt kausal wirksam wird. Angesichts der großen Aufmerksamkeit, die Sozialmechanismen in der Soziologie gewidmet wird, ist es erstaunlich, dass der Beitrag von Niklas Luhmann in der neueren Mechanismusdebatte weitgehend ignoriert worden ist. Gemeint ist die Vernachlässigung der Konzeption reflexiver Mechanismen, die Luhmann (1966) lange Zeit vor seinem autopoietischen Perspektivenwechsel ausgearbeitet hat. Nach Luhmann werden Mechanismen, die eine „funktional spezialisierte Leistung“ zur Lösung bestimmter Systemprobleme erbringen (Luhmann 1966: 1), dadurch „reflexiv“, dass sie „auf sich selbst angewendet werden“ (Luhmann 1966: 2). Das Lernen des Lernens, die Normierung des Normsetzungsprozesses oder das Entscheiden über Entscheidungen sind einige der sich auf sich selbst zurückbiegenden Prozesse, die Luhmann (1966: 3ff.) als Beispiele für reflexive Mechanismen analysiert. Die Gemeinsamkeit solcher
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Mechanismen analysiert. Die Gemeinsamkeit solcher reflexiven Prozessabläufe beschreibt Luhmann mit Hilfe der technischen Metapher der „Relaisschaltung“, die „mit geringem Aufwand an Zeit und Kraft (...) ein Vielfaches an anderen Akten motivieren und steuern“ kann (Luhmann 1966: 17, 14f.), indem sie die wachsende Komplexität sozialer Differenzierungsprozesse durch „hintereinandergeschaltete, aufeinander bezogene Selektionsvorgänge“ verringert (Luhmann 1966: 15). Aus Luhmanns funktionalistischer Sicht ermöglicht die Reflexivität sozialer Mechanismen eine Steigerung der Systemkomplexität, was sozialen Systemen dazu verhilft, ihre eigene Komplexität in ein angemesseneres Verhältnis zur Komplexität ihrer Umwelt zu bringen, so dass die soziale Ordnung „sich auf einer Ebene höherer Komplexität konsolidiert“ (Luhmann 1966: 19). Die hohe soziologische Relevanz reflexiver Mechanismen wird im Kontext der Theorie sozialer Differenzierung deutlich, wenn Luhmann in ihnen den Prozess vermutet, „mit dem aus kleinen Systemen große gebildet werden“ (Luhmann 1966: 13). Die Gründe für eine mangelnde Berücksichtigung der Konzeption reflexiver Mechanismen in der neueren Mechanismusdebatte der Soziologie können hier nicht analysiert werden. Stattdessen soll Luhmanns Konzept reflexiver Mechanismen innerhalb einer praxistheoretischen Perspektive rekonstruiert und für die Analyse der sozialen Eigendynamik sich selbst erfüllender Prophezeiungen nutzbar gemacht werden. Das von Robert Merton entwickelte Konzept der „self-fulfilling prophecy“ besagt, dass eine zunächst irrtümliche öffentliche Voraussage zukünftiger Ereignisse oder Abläufe eine veränderte Verhaltensweise motiviert, die dazu führt, dass die ursprünglich falsche Vorhersage letzten Endes doch noch richtig wird (Merton 1995: 401; zuerst Merton 1948). Die Idee der sich selbst erfüllenden Prophezeiung hat Merton in einem Gedankenexperiment als eine „soziologische Parabel“ über eine fiktive Bank formuliert, die nur deshalb zahlungsunfähig wird, weil viele Kunden einem falschen Gerücht glauben, ihre Einlagen abheben und die Bank dadurch tatsächlich in den Bankrott treiben. Schon Merton hat die Self-fulfilling prophecy als einen dynamischen Mechanismus identifiziert (Merton 1995: 124f., 405), der bei der soziologischen Erklärung des Wandels oder Zusammenbruchs eines sozialen Systems relevant wird, wie das von ihm benutzte Beispiel der Insolvenz einer an sich solventen Bank zeigt. So scheint es nur konsequent, wenn die sich selbst erfüllende Prophezeiung auch im Zuge einer Wiederentdeckung der Bedeutung sozialer Mechanismen für die soziologische Erklärung von Peter Hedström und Richard Swedberg (1998b: 17f.) als prominentes Beispiel ausgewählt wird, mit dem sich die Idee der sozialen Mechanismen besonders gut veranschaulichen und konkretisieren lässt. Die mehr als fünfzig Jahre andauernde Rezeptionsgeschichte der Konzeption sich selbst erfüllender Prophezeiung hat aber bislang noch keine allgemein akzeptierte und
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verbindliche kausale Erklärung der besonderen Wirkungsweise dieses sozialen Mechanismus hervorgebracht. So beklagt Claudio Casparis (1980: 124f.), dass der Effekt der sich selbst erfüllenden Prophezeiung zwar benannt, aber nicht wirklich erklärt wird, und neben Peter Ludwig (1991: 67f.) moniert auch Markus Schnepper (2003: 104), dass der Wirkmechanismus, der die „Selbsterfüllung“ (Ludwig 1991: 60) einer Voraussage oder Erwartung herbeiführt, immer noch „weitgehend“ unbekannt ist. Vor diesem Hintergrund möchte ich im folgenden Beitrag der Vermutung nachgehen, dass die Wirkungsweise sich selbst erfüllender Prophezeiungen durch ein Konzept linear wirkender Sozialmechanismen, das ein dreistufiges Prozessmodell vom Typ „Voraussage – Wirkmechanismus – Ereignis“ verwendet (vgl. Ludwig 1991: 57 im Anschluss an Smale 1980: 31ff.), nicht zufriedenstellend erklärt werden kann. Stattdessen benötigt die soziologische Erklärung der Wirkungsweise der Self-fulfilling prophecy ein Konzept reflexiver Mechanismen, das die soziale Eigendynamik des Selbsterfüllungsprozesses besser berücksichtigt. Diese Behauptung soll in folgenden Analyseschritten begründet werden. Erstens wird untersucht, inwieweit Mertons Idee, dass die Self-fulfilling prophecy als dynamischer Mechanismus wirksam wird, einen Beitrag für die Erklärung der sozialen Eigendynamik der Selbsterfüllung leistet. Zweitens wird am Beispiel des sozialen Statusverlustes einer französischen Elitehochschule analysiert, welchen Erkenntnisgewinn eine praxistheoretische Erklärung im Anschluss an Pierre Bourdieu bietet, um die Selbsterfüllung der Vorhersage als einen „Prozess zirkulärer Verstärkungen“ zu begreifen. Anhand der Zirkularität und Eigendynamik sich selbst erfüllender Prophezeiungen soll drittens die Bedeutung sozialer Selbstverstärkungsprozesse für die soziologische Erklärung der Self-fulfilling prophecy diskutiert werden. Viertens wird die soziale Konstruktion und Destruktion von Vertrauen als Kernproblem sich selbst erfüllender Vorraussagen identifiziert und danach analysiert, inwieweit sich die Bildung und der Verlust von Vertrauen und Reputation im Übergang von der Linearität zur Reflexivität des Vertrauensmechanismus unterscheidet. Auf dieser Basis kann die Self-fulfilling prophecy dann fünftens als ein reflexiver Mechanismus rekonstruiert werden, gefolgt von abschließenden Überlegungen zu der Bedeutung, die der Reflexivität in der soziologischen und gesellschaftlichen Praxis aus der Sicht von Bourdieu zukommt.
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Robert K. Merton: Die Self-fulfilling prophecy als dynamischer Sozialmechanismus Das Konzept sozialer Mechanismen ist bei Robert King Merton in das soziologische Erklärungsmodell seiner funktionalen Analyse eingebunden (1995: 47ff. und insbesondere 50). Dabei geht es um die Frage, welche empirisch beobachtbaren objektiven Folgen ein soziales Phänomen, das in ein übergeordnetes soziales oder kulturelles System eingebettet ist, für die Anpassung oder Angleichung (das heißt: die Funktion) dieses Systems erzeugt. In diesem Zusammenhang definiert Merton soziale Mechanismen als „Prozesse, die bestimmte Auswirkungen auf bestimmte Teile der Sozialstruktur haben“ (Merton 1973: 323; 1968: 43). Sozialmechanismen werden dabei auf eine doppelte Weise für die Soziologie interessant. Einerseits werden sie als Erklärungsmechanismen zu einem wichtigen Bestandteil einer erklärenden soziologischen Theorie, andererseits sind sie als Erzeugungsmechanismen selbst Gegenstand einer soziologischen Analyse, die empirisch ermitteln will, was soziale Mechanismen „zur Erfüllung einer bestimmten Funktion beitragen“ (Merton 1995: 50). Die enge Bindung des Mechanismusbegriffs an eine soziale Funktion wird von Merton vor allem im Rahmen seiner Rollen-Set- und Bezugsgruppentheorie verfolgt.2 Wenn wir die Verwendung des Funktionsbegriffs seiner soziologischen Dramatik berauben, dann dient der Mechanismusbegriff dazu, die Auswirkungen eines sozialen Phänomens auf einer höheren sozialen Aggregationsebene zu erklären. Auf diese Weise interpretiert, ist Mertons Mechanismuskonzept durchaus kompatibel zu einem soziologischen Verständnis, das soziale Mechanismen für die Erklärung der kollektiven Effekte individueller Handlungsweisen nutzen will, funktionale Erklärungen aber prinzipiell ablehnt (zum Beispiel Elster 1989; vgl. auch Hedström/Swedberg 1998b). Die Wirkungsweise des Mechanismus der Self-fulfilling prophecy analysiert Merton (1995: 399-413) am Beispiel der Selbsterfüllung rassistischer Vorurteile und anhand einer soziologischen Parabel, in der eine fiktive Bank durch das falsche Gerücht einer drohenden Zahlungsunfähigkeit tatsächlich insolvent wird. Die sich selbst erfüllende Prophezeiung „ist eine zu Beginn falsche Definition der Situation, die ein neues Verhalten hervorruft, das die ursprünglich falsche Sichtweise richtig werden lässt“ (Merton 1995: 401): „Die ursprünglich falsche Angst verwandelt sich in eine völlig berechtigte Befürchtung.“ Die soziologisch interessante Problemstellung ist, wie es dazu kommt, dass eine irreführende Situationsdefinition eine derart starke soziale Überzeugungs2
In der funktionalen Analyse des Rollen-Sets geht es darum zu untersuchen, wie ein sozialer Mechanismus einen „höheren Grad an sozialer Ordnung herbeiführt“ (Merton 1995: 352; Merton 1973: 325), indem die möglicherweise zu Konflikten führenden Erwartungen der Akteure in einem Rollen-Set miteinander „verschränkt“ oder integriert werden (Merton 1973: 323).
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kraft gewinnen kann, dass die objektiven Bedingungen für die Richtigkeit der falschen Vorhersage durch die Prophezeiung selbst geschaffen werden. Oder anders formuliert: Warum findet ein unbegründetes Gerücht über die Insolvenz einer Bank bei „genug“ Anlegern Glauben, dass die Zahlungsunfähigkeit der Bank tatsächlich herbeigeführt wird? Wieso lässt sich der „Glauben an die Verlässlichkeit jenes Systems der ineinandergreifenden ökonomischen Versprechungen“ (Merton 1995: 400) derart erschüttern, dass immer mehr „angstvolle“ Kunden einem bloßen Gerücht vertrauen und durch den Versuch, ihre Einlagen durch Abhebung zu retten, das Fiasko des Zusammenbruchs der Zahlungsfähigkeit auf ebenso unbeabsichtigte wie paradoxe Weise selbst produzieren? Wichtige Informationen für das Verständnis der Parabel werden von Merton nur beiläufig gegeben und nicht als ein notwendiger Bestandteil der soziologischen Erklärung eingeführt. In der Beschreibung des Szenarios enthaltene Hinweise wie die Jahreszahl (1932), die Benennung der Bank („Last National Bank“), die allegorische Rede von einem „Schwarzen Mittwoch“ (Merton 1995: 400) und die Daten über die Anzahl von Bankschließungen (Merton 1995: 411f.) deuten darauf hin, dass die Parabel nach der Weltwirtschaftskrise vermutlich in den USA zu lokalisieren ist. Diese raumzeitliche Verortung ist aber eine höchst relevante Information für die Erklärung des sozialen Geschehens, weil nur dadurch nachvollziehbar wird, warum ein falsches Gerücht über die Insolvenz einer Bank vielen Anlegern überhaupt glaubwürdig erscheint. Alle Indizien weisen darauf hin, dass Merton mit seiner Parabel an den folgenreichen Börsencrash vom 24. Oktober 1929 (den „Schwarzen Donnerstag“) erinnert, der die Weltwirtschaftskrise von 1929 ausgelöst und erst in der Baisse von 1932 seinen Wendepunkt erreicht hat. Gegen Ende seines Beitrages eröffnet Merton (1995: 411f.), dass die Zahlungsunfähigkeit von Banken zu dem Zeitpunkt, an dem seine Parabel spielt, ein weit verbreitetes Phänomen gewesen ist, weshalb wir davon ausgehen können, dass die relativ hohe Zahl von Insolvenzen auch den Bankkunden nicht verborgen geblieben sein dürfte.3 Erst die vergleichsweise hohe objektive Wahrscheinlichkeit, mit der die Zahlungsunfähigkeit einer Bank in Zeiten finanzwirtschaftlicher Krisen erwartet wird, kann die Vertrauenswürdigkeit und Reputation einer solventen Bank erschüttern und ein falsches Gerücht zu einer glaubwürdigen Information machen. 3
Dies ist selbstverständlich nur eine gut begründete Spekulation, weil Merton keine detaillierten Informationen über die Vorstellungen und das Wissen der Akteure seiner Parabel zur Verfügung stellt. Unreflektiert bleibt auch seine Aussage (1995: 411f.), warum die Zahl von durchschnittlich 2.276 Bankschließungen pro Jahr als „spektakulär“ zu bezeichnen ist, während 28 Insolvenzen als „kümmerlich“ zu werten sind. Die Vorstellungen der beteiligten Akteure über Normalität und Krise sind jedoch ein entscheidender Bestandteil ihrer Erwartungen innerhalb des sozialen Prozesses, in dem eine kollektiv geteilte „Definition der Situation“ sozial konstruiert wird.
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Nach Hedström und Swedberg (1998b) verlangt ein mechanismisches Erklärungsmodell in diesem Zusammenhang, dass die Insolvenz einer Bank als eine (nicht-intendierte) Folge des Verhaltens vieler Bankkunden zu interpretieren ist, das heißt als ein kollektiver Aggregationseffekt, der kausal aus den Handlungen vieler individueller Akteure resultiert. Im Anschluss an Mertons Beschreibung des sozialen Prozesses, der zur Insolvenz einer an sich solventen Bank führt, lässt sich die kausale Wirkungsweise der Self-fulfilling prophecy als ein „dynamischer sozialer Mechanismus“ (Merton) in Form eines Schemas veranschaulichen (Abbildung 1). Vor dem Hintergrund einer Bankenkrise besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit für den Bankrott einer bestimmten Bank. Ein falsches Gerücht über die Zahlungsunfähigkeit einer solventen Bank provoziert bei den Kunden eine neue „Definition der Situation“ (William I. Thomas) mit der veränderten Erwartung, dass ihre Bank zahlungsunfähig ist oder in Kürze sein wird. Die falsche Vorhersage wird durch den Glauben an ihre Richtigkeit zu einem neuen dynamischen Faktor, der in die Situation eingeht und damit die ursprünglichen Bedingungen verändert, unter denen die Prophezeiung ursprünglich galt (vgl. Merton 1995: 124f.; Merton 1936: 903f.). Die Vorhersage erfüllt sich selbst, weil das falsche Gerücht durch die neue Verhaltensweise der Akteure richtig wird, denn das Gerücht schafft über das veränderte Verhalten die Bedingungen für seine Erfüllung (Merton 1995: 401). Die Insolvenz der Bank ist dann eine kollektive Folge der vielen individuellen Handlungen, die sich auch ohne entsprechende Absicht zu der tatsächlichen Zahlungsunfähigkeit der Bank summieren. In dieser Rekonstruktion der Überlegungen von Merton werden drei Probleme sichtbar: (1) die Modellierung der Self-fulfilling prophecy als ein geschlossener Kreislauf, bei dem erst das Endergebnis rekursiv auf die Ausgangsbedingung zurückwirkt, (2) die Begrenzung auf nur einen Wirkungsmechanismus und (3) die Wahl der Situationsdefinition als Ausgangspunkt für die soziologische Erklärung. Erstens ist Mertons Metapher des Kreislaufs („Teufelskreis“; Merton 1995: 409, 411f.) irreführend, weil sie sich nicht auf die Zirkularität und Eigendynamik des sich schrittweise realisierenden Prozessverlaufs bezieht, durch den sich die falsche Vorhersage selbst erfüllt. Stattdessen wird nur das Endresultat (die Insolvenz) rekursiv mit der veränderten Situationsdefinition rückgekoppelt, so dass die veränderte Situationsdefinition und das „falsche“ Gerücht durch die kollektiv hergestellte Zahlungsunfähigkeit der Bank nachträglich bestätigt werden.4 Für die Erklärung der „Selbsterfüllung“ wäre es sinnvoller gewesen zu 4
Auch Ludwig (1991: 64f.) koppelt die rekursive Zirkularität des Selbsterfüllungsprozesses an das Ereignis statt an einen reflexiven sozialen Prozess, in dessen Verlauf sich die zirkuläre Dynamik der Selbsterfüllung erst schrittweise entfaltet, bevor es zur Verwirklichung des Ergebnisses in Form des Ereignisses kommt.
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untersuchen, wie und warum ein sozialer Prozess – sich selbst verstärkend (oder hemmend) – reflexiv auf seinen eigenen Ablauf einwirken kann. Ein geeignetes Konzept für die kausale Modellierung „reflexiver Mechanismen“ hat Merton nicht entwickelt, obwohl er bei der Analyse bürokratischer Dysfunktionen die Wirksamkeit von „selbstregulierenden sozialen Mechanismen“ im Kontext funktionalistischer Gleichgewichtsprozesse andeutet (Merton 1995: 120). Eine detaillierte Ausführung, wie solche „Selbstregulierungsmechanismen“ und „Rückkopplungsmechanismen“ genau operieren, bleibt Merton uns leider schuldig. Dabei hätte Mertons Beobachtung, dass „solche Mechanismen, sobald sie erkannt sind, aufhören, selbstregulierend zu sein, und für das soziale System dysfunktional werden“ (Merton 1995: 120), eine interessante Verbindung hergestellt zu Bourdieus detailreichen Analysen über die Effekte „symbolischer Gewalt“ und die Wirksamkeit des „symbolischen Kapitals“, das ebenfalls nur solange soziale Effekte hervorrufen kann, wie die Akteure die darin verborgene soziale Konstruiertheit und Willkürlichkeit verkennen (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 151; Bourdieu 1998: 108ff., 161ff.; Bourdieu 2001a: 309ff.; vgl. insbesondere das „Tabu der expliziten Formulierung“ als Voraussetzung für eine „Ökonomie symbolischer Güter“ bei Bourdieu 1998: 165ff.).
Abbildung 1: Die Self-fulfilling prophecy als dynamischer Sozialmechanismus bei Merton Zweitens behandelt Merton den gesamten Kreislauf der Self-fulfilling prophecy von seinem Ausgangspunkt einer veränderten oder neuen Definition der Situation über die geänderten Verhaltensweisen bis hin zur Insolvenz der Bank, die rückwirkend die im Gerücht enthaltene Vorhersage bestätigt, als einen einzigen Mechanismus, ohne die in der kausalen Wirkung der Prophezeiung enthaltenen
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Teilprozesse anhand entsprechender Sub-Mechanismen zu erklären. Die einzelnen Phasen oder Stufen des gesamten Prozessablaufs werden nicht als jeweils eigenständige Erklärungsprobleme identifiziert, die mit Hilfe jeweils spezifischer Typen sozialer Mechanismen zu lösen sind wie dies zum Beispiel Hedström und Swedberg (1998b: 21-23) vorschlagen. Für eine mechanismische Erklärung wäre es sinnvoller, dem komplexen Gesamtzusammenhang der kausalen Wirkungsweise einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung analytisch in verschiedene Zwischenschritte zu unterteilen, denen jeweils ein spezifischer Mechanismustyp zugeordnet wird. Dieses Vorgehen hat den Vorteil, dass die Self-fulfilling prophecy mit einer stärkeren Tiefenschärfe analysiert werden kann, sobald die zu ihrer Selbsterfüllung beitragenden Teilprozesse als black boxes markiert werden, die durch Aufklärung des jeweilig wirksamen Sub-Mechanismus adäquater erklärt werden müssen. Auf diese Weise ist ein Erkenntnisgewinn denkbar, indem immer neue black boxes durch immer feinkörniger erklärende Mechanismen „aufgehellt“ (Bunge) werden könnten. Mit der Definition der Situation hat Merton (1995: 402) drittens einen ungeeigneten Ausgangspunkt für die soziologische Erklärung der Wirkungsweise sich selbst erfüllender Vorhersagen gewählt, weil er damit nicht erklärt, warum ein falsches Gerücht so vielen Bankkunden überhaupt glaubwürdig erscheint, so dass sie ihre Situationsdefinitionen ändern. Merton benennt keinen sozialen Mechanismus, der dem falschen Gerücht die nötige Glaubwürdigkeit verleiht und kann deshalb die soziale Wirkung der Falschinformation als dem tatsächlichen Startpunkt des Prozesses, der mit der Beeinflussung der Situationsdefinitionen beginnt, nicht erklären. Es erscheint sinnvoller, die Metapher des Kreislaufs für eine Prozessbeschreibung zu reservieren, bei der die Rückkopplung bereits während des gesamten Prozessablaufs iterativ über einzelne Zwischenergebnisse erfolgt, so dass sich Zirkularität und Eigendynamik schrittweise im Prozess der Selbsterfüllung als eine Form der Selbstverstärkung entfalten können. Im Folgenden soll untersucht werden, inwieweit es im Kontext der Praxistheorie von Pierre Bourdieu gelingt, die Analyse der Wirkungsweise sich selbst erfüllender Vorhersagen als einen „Prozess der Verstärkungen“ zu begreifen und mit Hilfe unterschiedlicher sozialer Mechanismen kausal zu erklären. Pierre Bourdieu: Die Self-fulfilling prophecy als Prozess zirkulärer Verstärkungen Die sozialen Effekte der Self-fulfilling prophecy werden von Pierre Bourdieu im Kontext seiner Praxistheorie eher beiläufig zur Kenntnis genommen und nicht im Detail untersucht (zum Beispiel Bourdieu 1988: 71, 172; Bourdieu 1990: 111;
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Bourdieu 2001b: 98f.; Bourdieu 2004: 253, 290, 388f.). Eine tiefer greifende Analyse der sozialen Mechanismen und eine explizite und systematische praxistheoretische Erklärung der Wirkungsweise sich selbst erfüllender Prophezeiungen sucht man bei Bourdieu vergeblich. Eine Ausnahme bildet allerdings eine kurze Passage in seinem Buch „Der Staatsadel“, in der Bourdieu die Rivalität zweier staatlicher Elitehochschulen5 in Frankreich untersucht und dabei die Wirkungsart sich selbst erfüllender Vorhersagen als einen „Prozess zirkulärer Verstärkungen“ beschreibt (Bourdieu 2004: 253). „In dieser Logik hat die direkte Konfrontation mit der ENA, auch wenn sie nur einen kleinen Teil der Schüler der Ecole normale betrifft, eine strategische Bedeutung. Sie ist zweifellos ein Grund für die Rhetorik des Niedergangs, die sich in einem Prozeß zirkulärer Verstärkungen nach Art der Self-fulfilling prophecy aus sich selbst speist und die Katastrophen hervorruft, die sie verkündet (und dies um so sicherer, als die Verantwortlichen der Institution selbst ihre Verkünder sind, die im Glauben, ihn zu bannen, den Niedergang verstärken). Im Gegensatz zum Bluff – vorausgesetzt, er hält sich an sozial plausible Spielregeln –, der es einer Institution (oder einem einzelnen Akteur) ermöglichen kann, nach und nach das, was ihr andere zugestehen, auf das Niveau der eigenen Zuschreibungen zu erheben, begünstigt die Rhetorik des Niedergangs ein Fluchtverhalten: Jeder verhält sich entsprechend der pessimistischsten Erwartungen seiner Chancen und verstärkt dadurch den Pessimismus der Einschätzungen aller anderen; in einem Spiel, in dem wie hier (fast) alles eine Sache des Glaubens, des Vertrauens, der Selbstsicherheit, der Selbstgewißheit ist, ist das schon eine Form des Niedergangs. Die Hinweise, auf die sich die allgemeine Wahrnehmung stützt, um den Status einer Institution und ihre relative Position gegenüber anderen zu erfassen, sind widersprüchlichen und meistens völlig ungesicherten oder falschen Einschätzungen unterworfen.“ (Bourdieu 2004: 253; Druckfehler korrigiert)
Bourdieus Analyse, wie die Self-fulfilling prophecy zum Niedergang einer französischen Elitehochschule beiträgt, lässt sich als ein kausales Modell rekonstruieren, in dem die im Einzelnen wirksamen sozialen Mechanismen als nummerierte Pfeile dargestellt sind (Abbildung 2): (1) der Mechanismus, der die individuelle Wahrnehmung der Situation strukturiert, (2) der handlungsgenerierende Mechanismus, (3) der die soziale Transformation auf der Makroebene herbeiführende Mechanismus und (4) der reflexive Mechanismus, der den Prozess zirkulärer Verstärkungen antreibt und dadurch die soziale Konstruktion des kollektiven Effektes unterstützt.
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Gemeint sind die „Ecole Normale Superieure“ (ENS) und die „Ecole Normale d'Administration“ (ENA), deren Absolventen um den Zugang zu den Machtpositionen in der Staatsverwaltung, der Wirtschaft und dem öffentlichen Hochschulsystem Frankreichs konkurrieren (Bourdieu 2004).
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Abbildung 2: Der Niedergang einer Elitehochschule als „Prozess zirkulärer Verstärkungen“ (Bourdieu) Schon auf den ersten Blick offenbart das Kausalmodell eine weit reichende Analogie zur Typologie sozialer Mechanismen bei Hedström und Swedberg (1998b: 21-23). Eine gewisse Ähnlichkeit besteht auch zwischen dem praxistheoretischen Modell des Niedergangs einer französischen Elitehochschule und dem Kausalmodell der sich selbst erfüllenden Vorhersage bei der Insolvenz einer Bank, das sich im Anschluss an Merton rekonstruieren lässt (siehe Abbildung 1). Im Unterschied zu Merton wird aber deutlich, dass die Praxistheorie erstens einen Zugang zur Erklärung der Wirkungsweisen unterschiedlicher Typen von Mechanismen anbietet, die in den Gesamtprozess sich selbst erfüllender Prophezeiungen eingebunden sind. Zweitens lokalisiert Bourdieu den „Prozess zirkulärer Verstärkungen“, der die Kernidee der Selbsterfüllung ausmacht, innerhalb der iterativen Verwirklichung des Prozessverlaufs und kann deshalb Zirkularität und Eigendynamik zum Gegenstand soziologischer Erklärung erheben. Drittens gelingt es Bourdieu, die sozialen „Kräfte“ zu identifizieren, die das Geschehen antreiben, indem die Praxistheorie den sich selbst verstärkenden zirkulären Verlauf der Self-fulfilling prophecy prinzipiell in den makrosozialen Zusammenhang eines jeweils spezifischen sozialen Feldes einbettet, in dem (individuelle und korporative) Akteure sozial ungleich positioniert sind. In Mertons Insolvenzszenario spielt dagegen die ungleiche soziale Positionierung der fiktiven Bank im finanzökonomischen Feld und die soziale Stellung der Bankkunden keine Rolle. Soziologisch betrachtet dürfte es aber zweifelhaft sein, dass alle Banken ungeachtet ihrer ökonomischen Stärke und sozialen Reputation gleichermaßen durch ein falsches Gerücht bedroht sind. Ebenso fraglich ist, dass alle Bankkunden
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unabhängig von dem ihnen jeweils zur Verfügung stehenden Besitz an ökonomischem und kulturellem Kapital den gleichen Grund haben, einer Falschinformation zu trauen und mit einer „Panik“ darauf zu reagieren.6 Der Glaube an die Richtigkeit des Gerüchtes und der Verlust des Vertrauens in die Zahlungsfähigkeit der Bank setzt einen Konkurrenzkampf der Bankkunden um die immer knapper werdende Ressource Geldeinlage in Gang. Der als Bankpanik beschriebene Prozess zeigt, dass die latente Konkurrenz um das knappe ökonomische Kapital zu dem Zeitpunkt manifest wird, in dem die Bankkunden das „naive“ Vertrauen in die grundsätzliche Zahlungsfähigkeit von Banken verlieren. Sie erkennen, dass sie ihre Einlagen riskieren, falls sie zu spät versuchen, ihr Geld abzuheben und die Bank aufgrund des Wettrennens der anderen inzwischen bankrott gegangen ist. In seiner Praxistheorie geht Bourdieu davon aus, dass die Akteure in einem sozialen Feld je nach verfügbaren Ressourcen (Kapitalsorten) Konkurrenzkämpfe um den Erhalt oder die Verbesserung ihrer sozialen Positionen ausfechten und dadurch solche unbeabsichtigten kollektiven Effekte produzieren wie die Zahlungsunfähigkeit ihrer Bank oder den sozialen Abstieg ihrer Hochschule. Wie lässt sich der Prozessablauf, der zum Niedergang der Bildungseinrichtung führt, praxistheoretisch unter Einbeziehung eines differenzierten Modells sozialer Mechanismen erklären? Hervorzuheben ist zunächst, dass sich die Praxistheorie von Bourdieu grundsätzlich im Rahmen eines mechanismischen Erklärungsmodells rekonstruieren lässt, das sich an den Makro-Mikro-Makro-Übergängen der Typologie sozialer Mechanismen bei Hedström und Swedberg (1998b: 21-23) orientiert und damit auch prinzipiell kompatibel ist mit einem handlungstheoretischen Erklärungsansatz, der makrosoziale Strukturen, Prozesse und Ereignisse durch die Berücksichtigung individueller Handlungsweisen zu erklären versucht.7 Aus praxistheoretischer Sicht ist die Self-fulfilling prophecy des Niedergangs einer Elitehochschule als kausaler Ablauf eingebettet in den größeren sozialstrukturellen Zusammenhang des sozialen Feldes französischer Bildungseinrichtungen, in dem die beiden genannten Elitehochschulen als korporative Akteure miteinander konkurrieren. Nur aus der Logik einer direkten Rivalität 6
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Mangels verfügbarer Daten lässt sich diese Vermutung jedoch empirisch (noch) nicht bestätigen. Die übliche öffentliche und die soziologische Wahrnehmung von Insolvenzen ist offenbar zu stark durch Fotos, Filme und Augenzeugenberichte über panikartige Anstürme auf Banken während der Weltwirtschaftskrise beeindruckt, dass dieses Bild einer undifferenzierten „Masse“ die verborgenen Mechanismen sozial differenzierter Kausalbedingungen und ungleicher Auswirkungen verdeckt. Selbstverständlich geht es hier nur um eine grundsätzliche Vergleichbarkeit ähnlicher heuristischer Perspektiven und nicht darum, eine Konvergenz zwischen der Praxistheorie Bourdieus und Theorien rationaler Handlungswahl zu behaupten, in deren Tradition das Makro-Mikro-MakroModell soziologischer Erklärung entwickelt wurde (vgl. zum Erklärungsmodell Coleman 1991).
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und Konfrontation zwischen den beiden Hochschulen lässt sich erklären, warum und in Bezugnahme worauf sich die Erwartung eines Niedergangs begründen lässt und wieso diese pessimistische Einschätzung der Lage den beteiligten individuellen Akteuren vertrauenswürdig erscheint. Als Auslöser für den realen Abstieg einer der beiden Elitehochschulen identifiziert Bourdieu die autorisierte „Rhetorik des Niedergangs“, die von offiziellen Repräsentanten der Einrichtung verkündet wird und deshalb für die Studierenden auch glaubwürdig ist. Die Vorhersage des erwarteten symbolischen Abstiegs der Hochschule durch die Verantwortlichen, die über das (kollektive und korporative) symbolische Kapital dieser Einrichtung verfügen und dazu bevollmächtigt sind im Namen der Hochschule zu sprechen, gewinnt durch den offiziellen Charakter der pessimistischen Verlautbarungen und die Reputation der autorisierten Repräsentanten eine derart große Überzeugungskraft, dass die Studierenden sich in ihren Erwartungen darauf einstellen, ihre individuellen Chancen ebenfalls pessimistisch einschätzen und zu einem „Fluchtverhalten“ neigen, durch das dann der tatsächliche Niedergang als eine kollektive Folge des Zusammenspiels vieler individueller Verhaltensweisen herbeigeführt wird. Im Anschluss an die Typologie sozialer Mechanismen von Hedström und Swedberg (1998b: 21-23) lassen sich im Einzelnen die folgenden Typen sozialer Mechanismen unterscheiden, die in ihrem Zusammenspiel den Statusverlust der Elitehochschule kausal herbeiführen. Der die Situationswahrnehmung strukturierende Mechanismus Die pessimistische Vorhersage des Niedergangs der Hochschule erfolgt in einer spezifischen Konkurrenzsituation in dem sozialen Feld der Bildungseinrichtungen, in dem die soziale Position der betreffenden Elitehochschule durch eine starke Rivalin bedroht ist. Der erste Typ von „situativen“ Mechanismen verbindet die makrosozialen Strukturen und die pessimistische Vorhersage des sozialen Statusverlustes der Hochschule mit den individuellen Überzeugungen und Präferenzen, Interessen und Handlungsmöglichkeiten der beteiligten Individualakteure, die der Prophezeiung glauben oder nicht. Ob und inwieweit die Prophezeiung den Handelnden realistisch und glaubwürdig erscheint, muss durch Angabe geeigneter „situational mechanisms“ (Hedström/Swedberg) oder „situativer Mechanismen“ (Müller 2001: 55) gezeigt werden, mit denen die Bildung von individuellen Überzeugungen und Handlungspräferenzen sowie der Einfluss kollektiver Überzeugungs-, Glaubens- oder „Wissenssysteme“ (Douglas 1991) auf die individuelle Definition der Situation erklärt wird. Der Status und das Sozialprestige der autorisierten Repräsentanten, die dazu bevollmächtigt sind, in
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legitimer Weise im Namen der Hochschuleinrichtung zu sprechen, sind eine entscheidende Bedingung dafür, dass der Prozess der sich selbst erfüllenden Prophezeiung überhaupt in Gang kommt. Das in der Reputation der „Verantwortlichen“ akkumulierte symbolische Kapital verschafft der Rhetorik des Niedergangs genügend Glaubwürdigkeit, um zunächst eine kritische Masse an individuellen Akteuren von der Richtigkeit der Vorhersage zu überzeugen und zu einem entsprechenden Fluchtverhalten zu bewegen, das wiederum die bis dahin noch zweifelnden Akteure in ihrem Glauben bestärkt, dass die Prophezeiung wohl richtig sein muss, was den Prozess der Selbstverstärkung erst richtig entfacht. Der handlungsgenerierende Mechanismus Der zweite Typ sozialer Mechanismen ist für die Erklärung zuständig, warum die Handelnden ihren strukturellen Zwängen und Möglichkeiten entsprechend eine bestimmte Handlungsweise (wie im vorliegenden Fall das „Fluchtverhalten“) bevorzugen. Ob und inwieweit die Habitustheorie Bourdieus für sich genommen geeignet ist, als „action-formation mechanism“ (Hedström/Swedberg) die Handlungspraktiken der Akteure zu erklären, kann an dieser Stelle nicht vertiefend analysiert werden, sondern muss einer detaillierten Bewertung des theoretischen Modells und empirischen Materials von Bourdieus Studie zum Staatsadel (Bourdieu 2004) vorbehalten bleiben. Der Mechanismus sozialer Transformation Der dritte Typ sozialer Mechanismen erklärt am Mikro-Makro-Übergang, wie individuelle Praktiken und soziale Interaktionen in ein nicht intendiertes kollektives Ergebnis transformiert werden (Hedström/Swedberg: „transformational mechanisms“). Der „Niedergang“ der Elitehochschule und die Veränderungen des sozialen Kräftefeldes, die durch den symbolischen Abstieg hervorgerufen werden, sind als eine kollektive Folge (Aggregations- oder Transformationseffekt) der Handlungspraktiken der beteiligten Akteure zu begreifen, die mit ihrem „Fluchtverhalten“ den Abstieg ihrer Hochschule nicht unbedingt beabsichtigt, aber praktisch herbeigeführt haben.
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Der reflexive Mechanismus zirkulärer Verstärkungen Der vierte Typ sozialer Mechanismen, der den Prozess der zirkulären Verstärkungen erklären soll, kommt in dem linearen Kausalmodell sozialer Mechanismen bei Hedström und Swedberg nicht vor. Für die Erklärung der Selbsterfüllung der Voraussage ist aber die Erklärung dieses Prozesses, der reflexiv auf seinen eigenen Verlauf verstärkend zurückwirkt, von entscheidender Bedeutung. Leider bietet Bourdieu nur wenige explizit ausformulierte Ansatzpunkte für eine praxistheoretische Interpretation der Reflexivität des sich selbst verstärkenden Prozesses der Self-fulfilling prophecy. Ein stärker ins Detail gehendes Erklärungsmodell sich selbst erfüllender Vorhersagen muss deshalb aus dem Gesamtzusammenhang der Bourdieu’schen Praxistheorie rekonstruiert werden. Dabei sind zunächst zwei zentrale Aspekte festzuhalten. Erstens wird aus praxistheoretischer Sicht ein sozialer Effekt sichtbar, den andere soziologische Erklärungsansätze meistens vernachlässigen und den ich als „Explikationsparadox“ bezeichnen möchte. In dem Glauben, den Niedergang ihrer Hochschule zu verhindern, verstärkt die explizite Thematisierung und öffentliche Verkündigung der Möglichkeit eines drohenden Statusverlustes durch die verantwortlichen Repräsentanten paradoxerweise den Prozess des Niedergangs. Die explizite Thematisierung einer potentiellen Krise erzeugt erst den Zweifel und die Fragwürdigkeit der bis dahin selbstverständlich erscheinenden Statusposition der Elitehochschule, die als neue Situationsdefinition eine wichtige soziale Voraussetzung für den realen Niedergang bildet. Die gut gemeinten Versuche der autorisierten Sprecher der Hochschule, den Niedergang durch ihr Menetekel zu verhindern, wird paradoxerweise als Signal und Eingeständnis für eine bereits bestehende kritische Situation gewertet und führt zur symbolischen Diskreditierung, der ein relativer sozialer Statusverlust der Elitehochschule folgt. Die Wirksamkeit des symbolischen Kapitals ist jedoch, wie Bourdieu (2004: 253) ausdrücklich betont, an die Besonderheiten des sozialen Spiels gekoppelt, in dem „(fast) alles eine Sache des Glaubens, des Vertrauens, der Selbstsicherheit, der Selbstgewißheit ist“ (zur Relevanz einer überzeugenden Selbstdarstellung für die Wirksamkeit des Vertrauensmechanismus vgl. auch Luhmann 2000: 47ff., 79ff.; 87, 107ff. sowie Beckert 2002 am Beispiel der sozialen Konstruktion von Märkten). Zweitens macht das Beispiel der miteinander rivalisierenden Elitehochschulen die Relevanz sozialer Strukturen deutlich, weil die soziale Plausibilität von „Spielregeln“ und angemessenen Verhaltensweisen (vor allem auf Seiten der Repräsentanten), von der Bourdieu in der zitierten Textpassage spricht, an ein Feld konkurrierender Akteure gebunden ist, in dem nicht ohne Folgen für das Kräfteverhältnis und die wechselseitigen Interaktionen und Konkurrenzkämpfe
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einfach etwas behauptet oder zugeschrieben werden kann. Bourdieus Fallbeispiel macht deutlich, was Merton übersieht oder verschweigt: Ein korporativer Akteur ist in einem sozialen Feld miteinander konkurrierender Akteure positioniert, das heißt im Falle Mertons, dass die Bankkunden, die dem Insolvenzgerücht glauben, neben der Möglichkeit, ihr Geld vorübergehend aus dem Finanzkreislauf herauszunehmen, auch die Option haben, einer anderen Bank zu vertrauen und dort ihr Geld anzulegen. Das Insolvenzszenario ist somit aus soziologischer Sicht immer eingebettet in ein soziales Kräfte- und Kampfeld der um die Gunst der Kunden konkurrierenden Banken ebenso wie der um die beste Anlagemöglichkeit konkurrierenden Kunden. Der soziale Status einer Bank ist an ihre relative Position gegenüber anderen Banken gekoppelt. Die spezifische Struktur eines sozialen Kräfte- und Kampffeldes kann dazu beitragen, einen Teil der Dynamik der sozialen Prozesse zu begreifen, die zur Verwirklichung sich selbst erfüllender Erwartungen beitragen. Die besondere Wirkungsweise reflexiver Sozialmechanismen ist damit aber noch nicht hinreichend geklärt, weshalb im Folgenden detaillierter untersucht werden soll, worauf der Selbstverstärkungsprozess der Self-fulfilling prophecy im einzelnen beruht. Zirkularität und Eigendynamik sich selbst erfüllender Vorhersagen: Zur Relevanz des Selbstverstärkungsprozesses Um die Wirkungsweise sich selbst erfüllender Prophezeiungen zu verdeutlichen, spricht Merton von einem gesellschaftlichen „Teufelskreis“, einem paradoxen oder „tragischen Kreislauf der self-fulfilling prophecy“ (1995: 402, 409 und 411f.). Die Metapher eines Circulus vitiosus deutet bereits an, dass es sich hier um einen zirkulären sozialen Prozess handeln könnte, bei dem der Prozessverlauf reflexiv auf die Ausgangsbedingungen seines Ablaufes zurückwirkt. Merton bietet jedoch keine tiefer greifende Analyse der reflexiven Wirkungsweise sich selbst erfüllender Prophezeiungen, sondern bleibt stattdessen in der Vagheit des Metaphorischen gefangen, die irgendeine Art von Eigendynamik dunkel erahnen lässt, ohne die soziale Reflexivität des „Kreislaufs“ soziologisch erklären zu können. So bleibt es unklar, in welche Richtung Merton seine „Theorie mittlerer Reichweite“ in diesem speziellen Erklärungsfall funktionaler Analyse mechanismisch fundieren würde, um erklären zu können, welche inneren sozialen Kräfte und Mechanismen den Kreislauf sich selbst erfüllender Prophezeiungen bewegen und in Gang halten. So ist Merton in seiner Analyse der Self-fulfilling prophecy der Frage nachgegangen, auf welche Weise sich der „Teufelskreis“ der sich selbst erfüllenden Prophezeiung durchbrechen lässt. Die Idee von Merton (1995: 402) ist, dass die
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„ursprüngliche Definition der Situation, die den Kreislauf in Gang gesetzt hat“, aufgegeben und durch eine neue Definition der Situation ersetzt werden muss. Wie Merton plausibel am Beispiel rassistischer Vorurteile zeigt, ist dies jedoch leichter gesagt als getan: „Soziale Vernunft und guter Wille sind selber Produkte sozialer Kräfte“ und die „tief verwurzelten Situationsdefinitionen in Frage zu stellen, ist nicht einfach ein Willensakt“ (Merton 1995:402). Um den „tragischen Kreislauf der self-fulfilling prophecy“ zu durchbrechen benötige es „geeigneter institutioneller Veränderungen“: „Die self-fulfilling prophecy, durch die Ängste in Wirklichkeit übersetzt werden, funktioniert nur, wenn bewusste institutionelle Kontrollen fehlen.“ (Merton 1995: 412) Wie aber werden solche institutionellen Leistungen und Anreize ihrerseits sozial wirksam? Die Problematik dieser Verschiebung des Wirksamkeitsproblems hat Merton offenbar nicht erkannt, da er sich mit vagen Hinweisen zufrieden gibt, dass eine „feste Überzeugung“ (wie im Fall rassistischer Vorurteile) durch bewusste soziale Veränderungen „Lügen gestraft“ werde (Merton 1995: 412). Einen geeigneten Mechanismus, der die Wirksamkeit gezielter institutioneller Eingriffe und Kontrollen herbeiführt und deshalb soziologisch erklären kann, sucht man vergeblich. Genau solch eine mechanismische Erklärung ist aber notwendig, wenn man den empirisch belegten Rückgang der Bankinsolvenzen in den USA seit 1934 nicht einfach durch die „Einrichtung der Federal Deposit Insurance Corporation und die Verabschiedung einiger das Bankwesen betreffender Gesetze“ (Merton 1995: 411f.) funktionalistisch „erklären“ möchte.8 Merton selbst scheint auch skeptisch gewesen zu sein, was die Erklärungskraft seines institutionellen Argumentes betrifft: „Vielleicht wurden die Währungspaniken nicht geradezu per Gesetz ausgetrieben. Aber immerhin haben Millionen von Anlegern schon einfach deswegen keinen Anlass mehr, zum panischen Ansturm auf die Banken, weil der Panik durch bewusste institutionelle Veränderungen die Grundlage entzogen wurden.“ (Merton 1995: 412) Was Merton hier stillschweigend und ohne weiterführende Analyse einfach optimistisch voraussetzt, ist das Vertrauen der Bankkunden in die Effektivität institutioneller Regelungen. Dabei übersieht er allerdings, dass die Vertrauensproblematik lediglich verschoben wird von dem Glauben an die Reputation der Bank in den Glauben an die Wirkung staatlicher Maßnahmen; denn die effektive Arbeitsweise institutioneller Kontrollen ist selbst abhängig von entsprechenden „belief-systems“ (Krishna 1971: 1106). Die schnelle Zunahme der Anzahl von Bankkunden, die ihre Einlagen abheben (wollen), verstärkt zugleich den Reputa8
Die „Federal Deposit Insurance Corporation“ ist eine unabhängige Bundesagentur, die von der US-Regierung Anfang 1934 als Reaktion auf die hohe Zahl von Bankinsolvenzen eingerichtet wurde, um die Einlagen auf Bank- und Sparkassenkonten durch einen Versicherungsfonds zu schützen und das öffentliche Vertrauen in das Finanzsystem wiederherzustellen.
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tionsverlust der Bank und reduziert ihren Vertrauenskredit bei den noch unschlüssigen Anlegern, die sich in diesem eigendynamisch verlaufenden Prozess immer mehr dazu gedrängt sehen, ihr Geld ebenfalls durch Abhebung zu sichern, was schließlich zur tatsächlichen Zahlungsunfähigkeit der Bank führt. Die sich selbst erfüllende Prophezeiung wird nicht dadurch „richtig“, dass sie geglaubt wird, sondern sie wird von einzelnen Akteuren deshalb geglaubt, weil alle anderen sie anscheinend für richtig halten und daran glauben. Warum findet aber ein Gerücht überhaupt bei „genug“ Anlegern Glauben? Wie viele Akteure sind „genug“ oder anders gefragt: Wie hoch muss die Zahl der Bankkunden sein, die ihre Einlagen abheben, damit der Prozess der sich selbst erfüllenden Prophezeiung überhaupt in Gang gesetzt wird? Wer oder was lässt sich als „Öffentlichkeit“ identifizieren und welche Bedeutung hat die Konstruktion von Öffentlichkeit im sozialen Prozess der „öffentlichen Definition einer Situation“ (Merton 1995: 400)? Und schließlich: Welche Relevanz haben „soziale Überzeugungen“ bei der kollektiven Erzeugung sozialer Phänomene und durch welche generativen Mechanismen werden diese Überzeugungen bei einer großen Anzahl individueller Akteure produziert? Der Schlüssel zum Verständnis und zur Erklärung der kausalen Wirkungsweise der Self-fulfilling prophecy liegt in der zirkulären Eigendynamik der Selbsterfüllung begründet, die erstens aus der sozialen Konstruktion der von einer großen Anzahl von Kunden geteilten Überzeugung resultiert, dass die (falsche) Vorhersage der Insolvenz wahr ist, und zweitens darauf beruht, dass der Bank durch das massenhafte Abheben der Einlagen öffentlich sichtbar das Vertrauen und die Reputation als zahlungsfähiges Finanzinstitut entzogen wird. Die zentrale Annahme, dass die Selbsterfüllung der Prophezeiung auf einem Prozess der Selbstverstärkung des Vertrauens- und Reputationsverlustes basiert, soll im Folgenden detaillierter begründet werden. Die Chance zur „Selbsterfüllung“ der mit einer Voraussage verbundenen Erwartungen ist grundsätzlich an eine Reihe von Voraussetzungen gebunden, die realisiert sein müssen, damit ein soziales Phänomen als Folge einer Selffulfilling prophecy gelten kann. Prinzipiell halte ich vor allem die folgenden drei Bedingungen für eine sich selbst erfüllende Prophezeiung für notwendig: (1) die Öffentlichkeit der Vorhersage und die Möglichkeit wechselseitiger Beobachtung sowie (2) die Transintentionalität und (3) die Zirkularität eines sozialen Wirkungsmechanismus, ohne den die soziale Eigendynamik sich selbst erfüllender Prophezeiungen erst gar nicht in Bewegung geraten würde.
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Öffentlichkeit der Vorhersage und wechselseitige Beobachtung Wie Merton in seiner Bank-Parabel am Beispiel des Insolvenzgerüchtes zeigt (Merton 1995: 400), muss die veränderte oder neue soziale Definition der Situation öffentlich erfolgen, um Wirksamkeit zu entfalten und die Akteure zu einer Veränderung ihrer Verhaltensweise zu motivieren. Aus soziologischer Sicht ist aber nicht das „Verhalten“ der einzelnen Akteure der primäre Wirkmechanismus der Self-fulfilling prophecy (wie Smale 1980: 32-35 aus pädagogisch-psychotherapeutischer Perspektive annimmt), sondern die rasche Verbreitung einer bestimmten Verhaltensweise unter den Bankkunden, so dass Aggregationseffekte das von den Handelnden nicht beabsichtigte Ergebnis herbeiführen. Neben der Öffentlichkeit der Voraussage ist die wechselseitige Beobachtbarkeit des Verhaltens eine wichtige Bedingung dafür, dass der soziale Mechanismus sich selbst erfüllender Prophezeiungen wirksam werden kann (zur Relevanz der Öffentlichkeit für „reflexive Vorhersagen“ siehe auch Grunberg 1986 und zur Bedeutung von Massenmedien siehe Schnepper 2003). Die gegenseitige Wahrnehmung der Akteure kann durch unmittelbare persönliche Kommunikation oder durch Gerüchte, über Massenmedien oder durch direkte wechselseitige Beobachtung erfolgen. Entscheidend ist, dass in einem angebbaren Kreis von Akteuren jene Öffentlichkeit hergestellt wird, die für die Publikation der Vorhersage, ihre soziale Bekanntheit und potentielle Anerkennung erforderlich ist. Wie bereits kritisiert, beschäftigt sich Merton in seiner Parabel nicht explizit mit Selbstverstärkungseffekten, die bereits im Verlauf des Selbsterfüllungsprozesses wirksam werden und dadurch den „Teufelskreis“ antreiben. Plausibel ist aber, dass die soziale Dynamik der „Selbsterfüllung“ aus der wechselseitigen Beobachtung der Verhaltensweisen der beteiligten Akteure resultiert, durch die der Glaube an die Richtigkeit einer falschen Vorhersage gestärkt wird, so dass die Insolvenz schließlich als Folge einer eigenständigen Bewegung der Selbsterfüllung der Voraussage erscheint. Abgesehen von der Quelle für die Verbreitung des Gerüchtes, ist der Kreis der beteiligten Akteure in diesem Fall auf die Bankkundschaft begrenzt, so dass es sich bei dem von Merton beschriebenen Insolvenzszenario – in den Begriffen von Uwe Schimank (2000: 200ff., 207ff. und speziell 229f.) – um eine „Konstellation wechselseitiger Beobachtung“ handelt, die eine „geschlossene Strukturdynamik“ hervorbringt. Die grundlegende Bedeutung der wechselseitigen Wahrnehmung und Reaktion der Akteure innerhalb eines begrenzten Handlungssystems bei der Entstehung eigendynamischer Prozesse wird auch von Renate Mayntz und Brigitta Nedelmann (1987: 656f.) betont. Die Wechselseitigkeit kann bei den betreffenden Akteuren durch andauernde Wiederholung eine „zirkuläre Stimulation“ auslösen, wobei die wechselseitige Wahrnehmung der Verhaltensweisen anderer Akteure und die Reaktion
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auf Verhaltensänderungen sowohl in der verdichteten Form einer sich wiederholenden direkten Interaktion zwischen den Beteiligten erfolgen kann oder in abgeschwächter Form wechselseitiger Beobachtung bis hin zur bloßen „Antizipation“ möglicher Verhaltensweisen anderer Akteure (Mayntz/Nedelmann 1987: 657). Transintentionalität des Wirkungsmechanismus Für Merton ist die Self-fulfilling prophecy ein besonderer Typus der „unvorhergesehenen“ Folgen von Handlungen, Entscheidungen oder Überzeugungen, der in einem engen theoretischen Zusammenhang mit dem Begriff der latenten Funktion steht (Merton 1995: 124): Während die sich selbst erfüllende soziale Überzeugung („social belief“) aber ein Ereignis erzeugt, das sie fälschlicherweise vorhergesagt hat, sind mit der latenten Funktion unerwartete Handlungsresultate verbunden, die von den Akteuren „überhaupt nicht beabsichtigt waren“ und nicht einmal irrtümlicherweise vorausgesehen wurden.9 Für die „Selbsterfüllung“ der Prophezeiung ist es notwendig, dass das vorhergesagte Ereignis eine unbeabsichtigte Folge des Zusammenwirkens vieler Akteure ist. Die einzelne individuelle Handlung (beispielsweise das Abheben der finanziellen Einlagen von einer durch Insolvenz bedrohten Bank) erfolgt üblicherweise mit der Absicht, das eigene Vermögen zu sichern und kann dabei recht unterschiedlich motiviert sein (zum Beispiel affektiv bei einer echten „Panik“, zweckrational kalkulierend oder als pure Nachahmung des Verhaltens anderer). Der soziale Mecha-nismus einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wirkt jedoch transintentional, das heißt, das durch die vielen intentionalen Einzelhandlungen per Aggregation erzeugte Resultat (die Zahlungsunfähigkeit der Bank) wird von den Akteuren nicht ohne weiteres beabsichtigt. Mit dem Begriff der Transintentionalität10 ist hier 9
Merton unterscheidet „manifeste Funktionen“, das heißt die objektiven Folgen, die zur Anpassung eines Systems beitragen und zugleich von den Akteuren dieses Systems beabsichtigt sind und erkannt werden, von „latenten Funktionen“, die „weder beabsichtigt sind, noch erkannt werden“ (Merton 1995: 49). 10 Für Schimank beruht die „Transintentionalität sozialer Strukturdynamiken“ auf zwei Dimensionen: Das handelnde Zusammenwirken von Akteuren kann kognitiv unvorhergesehene und evaluativ ungewollte Struktureffekte hervorbringen (Schimank 2000: 186; vgl. auch Greshoff, Kneer und Schimank 2003). Da Schimank Intentionalität zu Recht nur auf solche Struktureffekte begrenzt, die zugleich wie vorhergesehen und wie gewollt entstehen, kann Transintentionalität auf drei Kombinationen der kognitiven und evaluativen Dimension beruhen: (1) auf unvorhergesehenen und ungewollten, (2) auf unvorhergesehenen und gewollten oder (3) auf vorhergesehenen und ungewollten Struktureffekten. Die Self-fulfilling prophecy wäre danach ein spezieller abgewandelter Fall des dritten Transintionalitätstyps, bei dem die strukturellen Folgen ungewollt sind und letzten Endes zwar richtig vorhergesehen wurden, aber auf der Grundlage einer falschen Voraussage.
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gemeint, dass sich der Prozess der Selbsterfüllung einer Vorhersage gegenüber den Intentionen der Akteure verselbständigt. Das kollektive Ergebnis wird von den Akteuren nicht unbedingt beabsichtigt, obwohl der Prozessablauf prinzipiell von intentionalen Handlungen individueller Akteure getragen wird. Anders als dies häufig mit dem Begriff der Nicht-Intentionalität assoziiert wird, verweist Transintentionalität darauf, dass die Handlungen der Akteure durchaus absichtsvoll erfolgen, auch wenn die strukturellen Effekte des handelnden Zusammenwirkens „jenseits der Intentionen der beteiligten Akteure liegen“ (Schimank 2000: 173). Zirkularität und Eigendynamik des Wirkungsmechanismus Mit der Transintentionalität allein ist aber immer noch nicht geklärt, auf welche Weise eine falsche Prophezeiung „sich selbst erfüllt“. Hierfür ist es notwendig, die sozialen Mechanismen zu analysieren, die das transintentionale Ergebnis des handelnden Zusammenwirkens der beteiligten Akteure kausal zustande bringen. In der einschlägigen Literatur wird in diesem Zusammenhang häufig auf Rückkopplung, Reziprozität, Reflexivität oder Zirkularität des Wirkmechanismus hingewiesen und der kausale Ablauf der „Selbsterfüllung“ einer Prophezeiung wird oft im Anschluss an kybernetische Regelkreismodelle mit der Metapher eines sich selbst stabilisierenden Kreislaufs (Teufelskreis, „circulus vitiosus“) beschrieben (zum Beispiel bei Ludwig 1991: 64).11 Im Anschluss an Schimank (2000: 200f.) etwa ließe sich die Self-fulfilling prophecy als Beispiel für eine „geschlossene Strukturdynamik“ begreifen, deren „zirkuläre Kausalität“ darauf beruht, dass die Handlungen der beteiligten Akteure in einem geschlossenen Zusammenhang kausaler Wechselwirkung ausgelöst werden. Bei einer Bankpanik ist die Handlungsweise eines beliebigen Einzelakteurs, der seine Geldeinlagen von der Bank zurückfordert, auch ohne bewusste Absicht für die anderen Akteure als ein Signal wirksam, ebenfalls ihre Einlagen 11 Smale (1980: 34) verweist auf die Reziprozität der Self-fulfilling prophecy, die ein „wechselseitig sich verstärkendes Feedbacksystem“ in Gang setzt. Der Begriff der „reflexiven Vorhersage“ hat eine ganze Reihe von Beiträgen provoziert (zum Beispiel Buck 1963, Romanos 1973, Grunberg 1986). Ludwig (1991: 64f.) führt einige äquivalent benutzte Begriffe an, die sich auf die Zirkularität sich selbst erfüllender Prophezeiungen beziehen. Schnepper nennt zur Erklärung der eigendynamischen Prozesse eine Reihe bekannter Mechanismen (Kognitive Dissonanz, Bezugsgruppentheorien, Etikettierungsansätze, Schwellenwertmodelle und zirkulärer Verbund), deren potentieller Einfluss auf den Ablauf einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung grundsätzlich nicht bezweifelt werden kann (Schnepper 2003: 106-116). Für die Erklärung speziell der Eigendynamik sind diese Mechanismen aber – mit Ausnahme des zirkulären Verbundes (Ludwig 1991: 114f.) – nicht geeignet.
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abzuheben, um den möglichen Verlust ihres Vermögens zu verhindern, wenn das Geldinstitut wie vorhergesagt insolvent werden sollte. Die wechselseitige Beobachtung und Auslösung von Akteurshandlungen ist im Fall zirkulärer Wechselwirkungen in einen geschlossenen strukturellen Zusammenhang eingebettet, in dem das handelnde Zusammenwirken der beteiligten Akteure gewissermaßen „aus sich selbst heraus dynamisch“ wird (Schimank 2000: 201), das heißt eine „Eigendynamik“ im Sinne von Mayntz und Nedelmann (1987) entwickelt. Als „eigendynamisch“ lassen sich solche sozialen Prozesse kennzeichnen, die „sich – einmal in Gang gekommen oder ausgelöst – aus sich selbst heraus und ohne weitere externe Einwirkung weiterbewegen“ (Mayntz/Nedelmann 1987: 648f.). Das entscheidende Element in der Definition sozialer Eigendynamik ist nicht das Resultat eines sozialen Prozesses, sondern die besondere „Art ihrer Verursachung, Aufrechterhaltung und Verlaufsform“ (Mayntz/Nedelmann 1987: 651), weshalb es nahe liegt, den Begriff der „Zirkularität“ zur Kennzeichnung eigendynamischer Prozesse zu verwenden (vgl. Mayntz/Nedelmann 1987: 651, 657, 658f.).12 Wie lässt sich aber der kausale Mechanismus eigendynamischer Prozesse als eine Verkettung und Umkehrung von Ursache-Wirkungs-Beziehungen soziologisch begreifen und gegenüber nicht eigendynamisch verlaufenden Prozessformen sozialen Wandels abgrenzen? Das „zentrale Kriterium“ eigendynamischer Prozesse ist für Mayntz und Nedelmann „die Erzeugung der den Prozeß tragenden Handlungsmotivation in und durch den Prozeß selbst“, (Mayntz/Nedelmann 1987: 657). Ihrem strengen Akteursbezug entsprechend möchten Mayntz und Nedelmann (1987: 659f., 656f.) den Begriff der Eigendynamik für eine besondere Form sozialer Prozesse reservieren, die sich nicht allein auf die Zirkularität der Kausalität oder der Prozesse beschränkt, sondern in der wechselseitigen Stimulation und „interaktiven Rückkopplung“ zwischen den AktionsReaktions-Sequenzen der Akteure begründet liegt. Durch ihre Zirkularität unterscheiden sich eigendynamische Prozessabläufe von bloß linear verlaufenden Phänomenen sozialen Wandels wie zum Beispiel einfachen Aggregationseffekten oder Diffusionsprozessen ohne interaktive Rückkopplung: „Zentrales Merkmal eigendynamischer Prozesse ist auf jeden Fall, dass alle an ihnen Beteiligten sowohl agieren und zugleich auf das wahrgenommene Handeln der anderen Akteure im System reagieren“ (Mayntz/ Nedelmann 1987: 657). Daraus folgt, dass für die soziologische Erklärung von Eigendynamik eine Verbindung zweier As12 Mayntz und Nedelmann benutzen den Zirkularitätsbegriff auch dort, wo es eigentlich nahe liegen würde, von Reflexivität zu reden: zum Beispiel wenn ein Prozess sich auf sich selbst bezieht (1987: 648) oder an der Stelle, wo die Regel für eine Konfliktlösung selbst zum Gegenstand der Regulierung wird (1987: 661). Die Verbindung zum Konzept reflexiver Mechanismen bei Luhmann wird von Mayntz und Nedelmann jedoch nicht bemerkt.
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pekte notwendig erscheint: Einerseits muss die Erzeugung und Erhaltung einer entsprechenden Handlungsmotivation auf Seiten der beteiligten Akteure erklärt werden, die den Prozess auf der Handlungsebene in Bewegung halten, andererseits muss ein von der Intentionalität, dem Willen und der Bewusstheit der Handelnden unabhängiger, transintentionaler Kausalmechanismus spezifiziert werden, der die erforderliche Zirkularität der Ursache-Wirkungs-Kreisläufe herstellt. Für Mayntz und Nedelmann (1987: 656-659) ist das Zusammenspiel zwischen drei Merkmalen notwendig, damit eigendynamische Prozesse als eine eigenständige soziologische Kategorie sozialer Phänomene interpretiert werden können: (1) Die andauernde „wechselseitige Stimulation“ zwischen verschiedenen Akteuren in den Aktions-Reaktions-Sequenzen eines begrenzten Handlungssystems treibt durch interaktive Rückkopplungen (2) die „zirkuläre Kausalität“ an als „kreisförmige Verknüpfung von mehreren, sich gegenseitig bedingenden Variablen“ (in unserem Fall: Verhaltensweisen) und bewirkt durch diesen zirkulären Verursachungsmechanismus (3) die Entstehung sozialer Makrophänomene, die keine Einzelereignisse darstellen, sondern „über Zeit ablaufende Prozesse der strukturierten Veränderung spezifischer Systemmerkmale“. Nach dieser Definition lässt sich die Self-fulfilling prophecy als ein eigendynamisch verlaufender Prozess begreifen, bei dem die Veränderung der Eigenschaften eines Makrophänomens allerdings zeitlich auch von relativ kurzer Dauer sein kann, wie Mertons Beispiel der Bankinsolvenz zeigt, bei dem die Eigendynamik mit dem schnellen Bankrott der Bank ziemlich abrupt endet. Noch ungeklärt ist aber, auf welchen speziellen sozialen Mechanismus sich der eigendynamische Prozess der Selbstverstärkung eigentlich bezieht und unter welchen Bedingungen ein linearer Prozess „zirkulär“ wird und sich rekursiv ohne äußere Einwirkungen selbst verstärken kann. Da Mayntz und Nedelmann diesbezüglich etwas abstrakt und vage argumentieren, soll im Folgenden am Beispiel der Self-fulfilling prophecy präziser herausgearbeitet werden, warum und wie ein sozialer Mechanismus von einer linearen Wirkung zu einer (wie ich es im Anschluss an Luhmann nennen möchte) reflexiven Wirkungsweise der Selbstverstärkung übergeht. Der besondere Sozialmechanismus, um den es bei Mertons Bankparabel geht, ist Vertrauen. Der Prozess der wachsenden Reduzierung des Vertrauens in die Zahlungsfähigkeit, Glaubwürdigkeit und Reputation der Bank ist zugleich ein Prozess der zunehmenden Verstärkung des Vertrauens in die Glaubwürdigkeit des Insolvenzgerüchtes. Wie aber wird ein linearer Prozess der Vertrauensbildung (aus Sicht des Gerüchtes) und des Vertrauensverlustes (aus der Perspektive der Bank) reflexiv? Worin unterscheidet sich die Wirkungsweise von Vertrauen als reflexivem Mechanismus von der Vertrauensbildung, die als linearer Koordinationsmechanismus wirksam wird?
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Von der Linearität zur Reflexivität von Vertrauen Im Anschluss an das Konzept reflexiver Mechanismen bei Luhmann (1966; 2000: 85ff.) möchte ich lineares Vertrauen (Kunden für sich vertrauen der Bank) und reflexives Vertrauen (Kunden vertrauen dem Vertrauen anderer Kunden) unterscheiden. Durch „Vertrauen in Vertrauen“ (Luhmann) wird das Vertrauen als ein elementarer, unreflektiert ablaufender Mechanismus sozialer Koordination in eine „reflexive Form“ gebracht, „auf sich selbst angewandt“ und dadurch in seinem Effekt potenziert (Luhmann 2000: 85). Weder bei Merton noch bei Hedström und Swedberg findet sich eine explizite Unterscheidung und eine systematische Analyse der Wirkungsweise linearer und reflexiver Sozialmechanismen. Merton (1995: 120) deutet zwar die Existenz von selbstregulierenden sozialen Mechanismen und Rückkopplungsmechanismen an, nutzt diese Unterscheidung aber nicht für eine differenziertere mechanismische Erklärung der Wirkungsdynamik der Self-fulfilling prophecy. Wie bereits gezeigt, sieht Merton die Dynamik des Mechanismus lediglich darin, dass die Rückkopplung der Insolvenz als Endergebnis die Richtigkeit der eigentlich falschen Situationsdefinition im nachhinein bestätigt. Von Merton unerkannt und deshalb auch nicht näher erklärt wird der dem Teufelskreis der schwindenden Reputation und Vertrauenswürdigkeit der Bank zugrunde liegende reflexive Mechanismus, der die unerwünschte Misstrauensspirale in Bewegung setzt und der nur durch einen anderen reflexiven Mechanismus ersetzt werden kann, der zur Wiederherstellung der Reputation und Vertrauenswürdigkeit der Bank führt: Das simple Vertrauen darin, dass eine genügend große Anzahl anderer Kunden in die Reputation der Bank, in die Glaubwürdigkeit ihrer Informationen oder in die Wirksamkeit staatlicher Regulierungsmaßnahmen vertraut, ja genau genommen stärker vertrauen muss als in möglicherweise auftauchende Gerüchte über angebliche Insolvenzen. Hedström und Swedberg identifizieren die sich selbst erfüllende Vorhersage als Beispiel für die kausale Wirkung eines allgemeineren Mechanismus der Bildung von Überzeugungen („belief-formation mechanism“), der bei der Entstehung unterschiedlicher sozialer Phänomene wirksam wird (Hedström/Swedberg 1998b: 17-21). Danach signalisiert die Anzahl der Individuen, die eine bestimmte Handlung ausführen, den anderen Akteuren den Wert oder die Notwendigkeit dieser Handlungsweise und dieses Signal beeinflusst dann deren Handlungswahl (Hedström/Swedberg 1998b: 21). Für Hedström und Swedberg ist die individuelle Überzeugung über den Wert oder die Notwendigkeit der Abhebung der Geldeinlagen eine Funktion der Anzahl anderer Individuen, die bereits vorher diese Handlung ausgeführt haben, das heißt „Merton’s bank customers based their judgements about the solvency of the bank on the number of other customers
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withdrawing their savings from the bank“ (Hedström/Swedberg 1998b: 20). Zwar beschreiben Hedström und Swedberg hier eine Art zirkulärer Verstärkung, die sich als Kennzeichen des Reflexivwerdens sozialer Mechanismen deuten ließe. Die damit verbundene neue Dimension der sich selbst verstärkenden Rückwirkung wird von ihnen aber übersehen, weil ihr lineares Kausalmodell der drei sequentiell hintereinander geschalteten Typen von Mechanismen keine Zurückbeugung eines vierten, „reflexiv“ wirkenden Sozialmechanismus vorsieht. “If a rumor of insolvency somehow gets started, some depositors will withdraw their savings. Their withdrawal will strengthen the belief in the rumor, partly because the withdrawal actually may hurt the financial standing of the bank, but more importantly because the act of withdrawal in itself signals to others that something indeed might be wrong with the bank. This produces even more withdrawals, which further reduces the trust in the bank, and so on.” (Hedström/Swedberg 1998b: 18)
Zwar erkennen Hedström und Swedberg die Bedeutung der Verhaltensweise anderer Akteure als Signal für den anwachsenden Vertrauensverlust der Bank (und den damit einhergehenden Glaubwürdigkeitsgewinn des Gerüchtes). Weil sie aber keinen reflexiven Mechanismus zur Erklärung der Entstehung und Veränderung individueller Überzeugungen heranziehen, reduzieren sie den sich selbst verstärkenden Prozessablauf letzten Endes auf die bloß linear wirksame kollektive Aggregation der vielen Einzelhandlungen der beteiligten Individuen. Das ist nicht unbedingt falsch, bleibt aber oberflächlich im Vergleich zu einer tiefer greifenden Erklärung, die das Reflexivwerden von Vertrauen als sozialem Koordinationsmechanismus integriert.13 Die Annahme, dass die Glaubwürdigkeit eine Funktion der bloßen Anzahl von Akteuren ist, übersieht, dass die Bildung und der Verlust von Vertrauen ein komplexer sozialer Prozess ist, der in der Black box der Signalisierung verborgen liegt. Der dieser Black box zugrundeliegende Mechanismus des „Vertrauens in Vertrauen“ (Luhmann) oder der Reputation der Reputation wird von Hedström und Swedberg ebenso vernachlässigt wie eine detaillierter begründete Modellie13 Es soll nicht bestritten werden, dass die Insolvenz einer Bank durch Vertrauens- und Reputationsverlust auch „linear“ erklärt werden kann. Es ist durchaus vorstellbar, dass jeder Kunde für sich und sogar ohne Berücksichtigung des Verhaltens anderer darüber entscheidet, sein Geld abzuheben oder nicht. Die außergewöhnliche Dynamik, die mit einer Bankpanik verbunden ist, lässt sich jedoch mit der Wirkung linearer Mechanismen der parallelen Aggregation vieler Einzelhandlungen zur Zahlungsunfähigkeit nur schwer erklären. Für die Erklärung der eigendynamischen Selbstverstärkung der Self-fulfilling prophecy erscheint die Nutzung eines reflexiven Mechanismus überzeugender, der kausale Rückwirkungen während des Prozessablaufes berücksichtigt. Selbstverständlich ist in jedem Einzelfall empirisch zu prüfen, inwieweit sich soziale Prozessverläufe tatsächlich „linear“ und/oder „reflexiv“ entfalten und dementsprechend erklären lassen.
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rung der Selbsterfüllung als eigendynamisch ablaufender sozialer Prozess. Wie Bourdieu am Beispiel des Niedergangs einer Elitehochschule zeigt, müssen zudem die symbolischen Dimensionen sozialer Ungleichheit stärker berücksichtigt werden, um die Wirkungsweise sich selbst erfüllender Vorhersagen erklären zu können. Nicht nur die Zahl der Akteure, sondern auch ihr symbolisches Gewicht in Form der sozialen Reputation spielt bei der Frage nach der Vertrauens- und Glaubwürdigkeit miteinander konkurrierender Informationsquellen eine entscheidende Rolle. In ihrer elementaren linearen Form sind soziale Mechanismen wie zum Beispiel das „spontane Vertrauen“ im Anschluss an Luhmann (2000: 86f.) ein beiläufiger und meist unbemerkter Nebeneffekt des Verhaltens und der Wahrnehmung seiner Folgen. Der Glaube an die Zahlungsfähigkeit einer Bank basiert als ein reines Nebenprodukt des sozialen Zusammenlebens aus der unmittelbaren Vergewisserung der Vertrauenswürdigkeit einer Bank und des Finanzsystems insgesamt. Im Gefolge einer Bankenkrise erschüttert das Gerücht über die drohende Insolvenz einer bestimmten Bank dieses beiläufige Vertrauen und macht den elementaren Mechanismus der spontanen Vertrauensbildung unwirksam, weil die Akteure nunmehr vor die Entscheidung gestellt werden, der Solvenz der Bank entweder zu misstrauen und ihr Geld abzuheben oder auch weiterhin auf die Zahlungsfähigkeit zu vertrauen, dann aber aus guten Gründen und nicht mehr auf der Grundlage der „naiven“ Erwartung, das bis dahin ja auch alles gut gegangen ist und sich deshalb nichts ändern wird. Aus Luhmanns Sicht kann die Störung der Wirksamkeit des elementaren Vertrauensmechanismus nur durch Reflexivität absorbiert werden, wenn die Akteure die Selbstdarstellung der Bank als solche durchschauen und die behauptete Solvenz trotz des Gerüchtes aus guten Gründen für wahr nehmen oder wenn sie in die grundsätzliche Funktionsweise des Finanzsystems vertrauen, das in der Lage ist, die Insolvenz einer bestimmten Bank (zum Beispiel durch die von Merton genannten institutionellen Gewährleistungen) aufzufangen. In beiden Fällen wird die Formierung von Vertrauen reflexiv, weil sie den Prozess der Vertrauensbildung auf sich selbst zurückbiegt, indem die Vertrauensvergabe an das Vertrauen anderer gekoppelt wird. Es gehört mehr dazu, als ein bloßes Gerücht, um die Linearität und Reflexivität des Vertrauensmechanismus zu brechen. Die Normalitätserwartungen müssen bereits grundsätzlich geschwächt sein (durch eine Bankenkrise), damit ein Insolvenzgerücht das Vertrauen in eine Bank fragwürdig erscheinen lässt und darüber hinaus einen eigendynamisch verlaufenden Prozess erzeugt, der den Vertrauensverlust iterativ so weit verstärkt, dass es zum symbolischen und finanziellen Bankrott einer Bank kommt. Die Self-fulfilling prophecy macht die Reflexivität des Vertrauensmechanismus sichtbar, die unter normalen Bedingungen
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verborgen bleibt, weil sie für die Akteure als fraglos gegeben erscheint: Die Kunden können nur dann in die Zahlungsfähigkeit ihrer Bank vertrauen, so lange sie darauf vertrauen, dass „genug“ andere Kunden ebenfalls der Solvenz vertrauen. Angesichts widersprüchlicher und miteinander konkurrierender Informationen wird das Vertrauen in die Solvenz, Leistungsfähigkeit, Effizienz, Rentabilität und Reputation einer Bank nicht nur durch bloßes Misstrauen ersetzt, sondern durch ein Vertrauen in die Glaubwürdigkeit des Insolvenzgerüchtes verdrängt. Die Reflexivität des Vertrauensmechanismus bleibt erhalten, sie richtet sich nur auf eine andere Informationsquelle, die glaubwürdiger erscheint. Das Vertrauen in das Vertrauen anderer orientiert sich nicht mehr an dem Renommee der Bank, sondern an der damit konkurrierenden Reputation des Gerüchtes. Meine These ist, dass der Schlüssel zum Verständnis der scheinbar paradoxen Parabel von der Insolvenz einer solventen Bank in der Reflexivität des sozialen Mechanismus sich selbst erfüllender Prophezeiungen begründet liegt. Diese Reflexivität beruht in ihrem handlungstheoretischen Kern darauf, dass die beteiligten Akteure sich in ihren Entscheidungen an den Handlungen anderer orientieren und deren Verhaltensweisen als ein Signal für die Glaubwürdigkeit des Insolvenzgerüchtes werten. Der praxistheoretische Kern der Reflexivität sich selbst erfüllender Prophezeiungen ist in dem Prozess zu suchen, in dessen Verlauf ein Vertrauen in das Vertrauen hergestellt wird. Präziser formuliert: Der soziale Mechanismus der Self-fulfilling prophecy wird genau dann reflexiv auf sich selbst „zurückgebogen“, wenn das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit des Gerüchtes darauf beruht, dass andere dem Gerücht Glauben schenken, das heißt die soziale Vertrauensverstärkung basiert auf dem Vertrauen in das Vertrauen anderer. Der dramatische Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust der Bank ließe sich demnach auch nur durch die Schaffung einer Vertrauensspirale verhindern, die das Misstrauen in die Zahlungsfähigkeit verdrängt durch einen Wiedergewinn an Glaubwürdigkeit und Reputation, der sich aus dem erneuerten Vertrauen speist, das die Handelnden in die Vertrauensvergabe anderer Akteure (Bankkunden und vertrauenswürdige Dritte wie zum Beispiel die staatliche Bankenaufsicht, unabhängige Finanzexperten oder glaubwürdige Journalisten) haben. Damit haben wir die erforderlichen analytischen Werkzeuge rekonstruiert, mit deren Hilfe sich die Self-fulfilling prophecy als reflexiver Mechanismus erklären lässt.
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Die Self-fulfilling prophecy als reflexiver Mechanismus Da die spezifischen Wirkungen der einzelnen Typen sozialer Mechanismen, die als Ensemble die Insolvenz der Bank und den Niedergang der Elitehochschule soziologisch erklären, hier aus Platzmangel nicht im Einzelnen analysiert werden können, möchte ich mich auf eine Analyse des Prozesses zirkulärer Verstärkungen konzentrieren, der aus meiner Sicht den kausalen Kern der sich selbst erfüllenden Prophezeiung bildet und der nur mit Hilfe reflexiver Mechanismen adäquat erklärt werden kann. Die Leitfrage ist, woher der Prozess zirkulärer Verstärkungen seine soziale Wirksamkeit erhält, durch die eine falsche oder zumindest voreilige oder zweifelhafte Vorhersage zur objektiven sozialen Wirklichkeit wird. In Bourdieus Beispiel des Niedergangs einer Bildungseinrichtung verstärkt das pessimistische Verhalten, das bei (vielen) einzelnen Akteuren beobachtet werden kann, den Pessimismus in den Einschätzungen aller anderen, die dann ebenfalls zu einem Fluchtverhalten tendieren. Der Niedergang ist somit eine kollektive Folge des sich selbst verstärkenden Prozesses, in dem sich pessimistische Erwartungen und Verhaltensweisen in dem begrenzten sozialen Feld der Elitehochschule in zunehmendem Maße verbreiten. Die pessimistischen Erwartungen und Praktiken der einzelnen Akteure werden somit, vorausgesetzt dass sie wechselseitig wahrnehmbar sind, durch den sich immer stärker verbreitenden Pessimismus verstärkt. Der soziale Abstieg folgt somit der Logik eines „Teufelskreises“, in dessen tragischem Verlauf der ursprünglich nur vorausgesagte Niedergang der Bildungsstätte durch die Glaubwürdigkeit der Vorhersage und die Überzeugung vieler Akteure von der Richtigkeit der pessimistischen Einschätzung tatsächlich herbeigeführt wird. Der praxistheoretische Schlüssel zum Verständnis und zur Erklärung der Self-fulfilling prophecy ist die soziale Genese und Wirksamkeit eines kollektiven Glaubens- und Wissenssystems, das in der Lage ist, Akteure dazu zu bringen, fragwürdige oder falsche Realitätsdefinitionen für wahr zu nehmen. Die Wirkungsweise sich selbst erfüllender Voraussagen ist damit an eine grundlegende Dimension der sozialen Welt gebunden, die Bourdieu mit seinen Konzepten der symbolischen Gewalt und des symbolischen Kapitals in den Blick nimmt. Der Begriff der symbolischen Gewalt (Bourdieu/Wacquant 1996: 175ff.) bezieht sich auf die kollektive Verkennung, dass ein scheinbar selbstverständlich gegebenes und fraglos vorausgesetztes soziales Phänomen wie die Solvenz einer Bank in Wirklichkeit gesellschaftlich konstruiert ist. Die Wirkung der Self-fulfilling prophecy basiert auf symbolischer Macht, durch ein (falsches) Gerücht auf die soziale Welt einzuwirken, indem man „auf die Darstellung der Welt einwirkt“ (Bourdieu/Wacquant 1996: 183). Für Bourdieu ist das symbolische Kapital „ein
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Kapital mit kognitiver Basis, es beruht auf Erkennen und Anerkennen“ (Bourdieu 1998: 151). Wenn Bourdieu, dem Metier seiner Praxistheorie entsprechend, vor allem die symbolischen (und kognitiven) Voraussetzungen und Effekte sich selbst erfüllender Prophezeiungen hervorhebt, dann ist diese Sichtweise anschlussfähig an Merton, der die Relevanz der sozialen Definition der Situation betont, dabei jedoch seiner funktionalistischen Perspektive entsprechend die moralischen Aspekte des Geschehens im Vergleich zu den kognitiven und symbolischen überbewertet. In der Tat hat auch Merton schon die enorme Bedeutung der sozialen Wahrnehmung erkannt, die mit Hilfe klassifizierender Kategorien operiert, und hat am Beispiel der Selbsterfüllung rassistischer Vorurteile einen frühen Grundstein gelegt für das kultursoziologische und anthropologische Studium von kollektiven Wissens- und Glaubenssystemen, die sich auf der symbolischen Basis fundamentaler Klassifikationen entwickeln (zur Relevanz sozialer Klassifikationen vgl. zum Beispiel Wacquant 1996: 30ff.; Douglas 1991). Merton zufolge wird die Entstehung und Reproduktion rassistischer oder religiöser Etikettierungen durch eine moralische „Alchemie“ erzeugt, durch die das gleiche Verhalten je nach Zugehörigkeit zur eigenen oder fremden Gruppe ungleich bewertet wird (1995: 405f.). Die Alltagssprache bietet mit ihrem außerordentlichen Reichtum an fein differenzierten Bedeutungsunterschieden ein breites Repertoire für moralische Klassifikationen, mit denen sich „Tugend in Laster und Laster in Tugend“ (Merton 1995: 405) verwandeln lässt. Diese moralisch ausgerichtete Praxis von Lob und Tadel, durch die soziale Phänomene wie Ehre, Ruhm und Ansehen erzeugt werden, offenbart, wie ernst Merton die symbolische Dimension bei der Wirkungsweise sich selbst erfüllender rassistischer Erwartungen nimmt. Allerdings wird der soziale Wirkungsmechanismus von Merton funktionalistisch auf eine „Moral-Alchemie“ (Merton) begrenzt. In seinen Analysen zum symbolischen Kapital, insbesondere in den Studien zur „Ökonomie der symbolischen Güter“, zeigt Bourdieu dagegen, dass die „symbolische Alchimie“ (Bourdieu 1998: 169; Bourdieu 1987: 237; vgl. auch Bourdieu 1987: 203 und 209) nicht auf moralische Aspekte sozialer Schließung oder auf die Wirkungsweise eines Mechanismus (self-fulfilling prophecy) eingeschränkt werden darf, sondern in der sozialen Welt eine viel fundamentalere, universelle Bedeutung erlangt, die von der Soziologie zu berücksichtigen ist. Die „symbolische Alchimie“ schafft ein „Kapital an Anerkennung“, mit dem in der sozialen Welt symbolische Effekte ausgeübt werden können (Bourdieu 1998: 173). Aus Bourdieus Sicht ist jedes dinglich erkennbare Objekt und jede materielle Eigenschaft in der sozialen Wahrnehmung individueller Akteure einem Klassifizierungs- und Bewertungsprozess unterworfen, durch den willkürlich Diskontinuitäten, Abgrenzungen und Unterscheidungen in die Kontinuität
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fließender Übergänge und Unterschiede eingefügt werden. „Das symbolische Kapital besteht aus einem beliebigen Merkmal [...], das wie eine echte magische Kraft symbolische Wirkung entfaltet, sobald es von sozialen Akteuren wahrgenommen wird, die über die zum Wahrnehmen, Erkennen und Anerkennen dieser Eigenschaft nötigen Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien verfügen.“ (Bourdieu 1998: 173). Die symbolische „Alchimie“ verwandelt „unedle“ oder neutrale Merkmale in „edle“ Eigenschaften (soziale Ehre, Reputation oder Prestige), was Bourdieu in seiner begrifflichen Unterscheidung zwischen materiellen Kapitalsorten und symbolischem Kapital berücksichtigt (vgl. vor allem Bourdieu 1983; Bourdieu 1987: 215-221, 222-224 und 254-258; Bourdieu 1998: 108ff., 161ff.; Bourdieu 2001a: 309ff.). Symbolisches Kapital ist für Bourdieu als eine Art von Kredit zu begreifen (Bourdieu 2001b: 98), der das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit eines Akteurs einschließt. Ist die Reputation einer Bank hoch und die Solvenz fraglos gegeben, kann sie nicht nur über das von Bourdieu materiell definierte ökonomische Kapital verfügen, das ihr die vielen Einleger als Gläubiger überlassen, sondern sie verfügt zugleich über das symbolische Kapital in Form eines ebenso latenten wie selbstverständlichen Kredits an Glaubwürdigkeit. Erst in einer Krisensituation wird der enge Zusammenhang zwischen ökonomischem und symbolischem Kapital deutlich, wenn eine Bank wie im Beispiel von Mertons Parabel zuerst ihre symbolische Solvenz einbüßt in Form des von den Einlegern stillschweigend gewährten Glaubwürdigkeitskredits, dem dann auch noch die ökonomische Zahlungsunfähigkeit folgt, sofern nur genügend Gläubiger ihre Einlagen zurückfordern. Der ökonomischen Insolvenz geht somit die symbolische Diskreditierung mit dem Verlust der Vertrauens- und Glaubwürdigkeit voraus.14 Mertons Verweis auf die Bedeutung der Definition der Situation auf Seiten der Akteure ist als soziologische Erklärung noch nicht tiefgreifend genug, auch wenn er an einer Stelle andeutet, dass die stabile Finanzstruktur der durch das Gerücht bedrohten Bank offenbar abhängig gewesen ist „von dem Glauben an 14 Die Finanzwirtschaft ist für Krisen symbolischer Diskreditierung besonders empfänglich und deshalb auch vergleichsweise stark auf die Akkumulation symbolischen Kapitals angewiesen. Dies zeigt nicht nur die hohe Sensibilität, mit der die Börse auf Gerüchte, Reputationsverluste und überhaupt auf unvorhergesehene Ereignisse jedweder Art zu reagieren pflegt, sondern auch das Marketing von Geldinstituten, das neben der ökonomischen Effizienz auch und in besonderer Weise die symbolische Leistungsfähigkeit in Form von Vertrauens- und Glaubwürdigkeit zu beweisen sucht. Ein Beispiel ist eine Werbung der Deutschen Bank vor einigen Jahren, in der sie Vertrauen als fundamentalen Wert zu vermitteln versuchte: „Vertrauen ist der Anfang von allem“. Ein anderes Beispiel, wie Banken einer drohenden Kundenpanik symbolisch zu begegnen versuchen, zitiert Dirk Baecker (1991: 109): Aufgestapelte Goldbarren sollen als „window dressing“ den Kunden Zahlungsfähigkeit demonstrieren, was aber nur solange wirkt, wie die Zurschaustellung nicht selbst als ein Krisensymptom gewertet wird (im Sinne des weiter oben behandelten Explikationsparadoxes).
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die Verlässlichkeit jenes Systems der ineinandergreifenden ökonomischen Versprechungen, von denen die Menschen leben“ (Merton 1995: 400). Worum es hier offensichtlich geht, und wofür Merton der passende soziologische Begriff fehlt, ist „Systemvertrauen“ (Luhmann 2000: 60ff.) oder „Vertrauen in abstrakte Systeme“ (vgl. Giddens 1996: 107ff.). Luhmann definiert Systemvertrauen als „Vertrauen in die Fähigkeit von Systemen, Zustände oder Leistungen innerhalb bestimmter Grenzen identisch zu halten“ (Luhmann 2000: 90). Sehr differenzierte Sozialordnungen kommen Luhmann zufolge „mit den elementaren, unreflektiert ablaufenden sozialen Mechanismen (...) des Vertrauens und der Institutionalisierung von Verhaltenserwartungen“ nicht aus: „Ihre Verhältnisse sind so komplex, daß es sich lohnt, ja daß es notwendig wird, diese Mechanismen in eine reflexive Form zu bringen. In dieser Form werden sie auf sich selbst angewandt und dadurch in ihrem Effekt potenziert.“ (Luhmann 2000: 85) Anders als bei dem spontanen personalen Vertrauen basiert Systemvertrauen auf einer reflexiven Prozessstruktur, die nach Luhmann auf dem „Vertrauen in das Vertrauen anderer“ beruht, also darauf, dass andere auch vertrauen und dass diese Gemeinsamkeit des Vertrauens den Akteuren bewusst wird (Luhmann 2000: 93f., 89f.).15 „Durchschauendes Vertrauen“ (Luhmann 2000: 89f.) reduziert soziale Komplexität durch die mehr oder weniger bewusste Übernahme eines Risikos, das beim Systemvertrauen auf der Fiktion erfahrungsgestützter Erwartungen der stabilen Funktionsweise sozialer Systeme beruht, nach denen sich die Vertrauensvergabe bislang bewährt hat und deshalb vermutlich auch weiter bewähren wird. Erst eine erhebliche Störung des sozialen Lebens, wie im hier vorliegenden Fall eine Bankenkrise, verunsichert die Vertrauensvergabe an 15 Hinsichtlich der Bedeutung von Bewusstheit scheint sich Luhmann jedoch nicht ganz sicher zu sein, da er davon ausgeht, dass im einzelnen Fall nicht bedacht zu werden braucht, „daß die Funktionsfähigkeit auf Vertrauen in Vertrauen beruht“ (Luhmann 2000: 92): „Es scheint vielmehr, daß der Umgang mit Geld, Macht und mit Wahrheit als Verhalten gelernt wird, und daß die Reflexivität dieses Mechanismus und damit auch sein hohes Risiko typisch latent bleibt. Solche Latenz kann die Vertrauensbildung erleichtern und gegen unkontrollierbare Ängste – was geschieht, wenn plötzliche alle ihr Geld abheben wollen (...) – abschirmen.“ Auch beim Misstrauen geht nach Luhmann das Bewusstsein „nicht selten“ verloren und die dem Misstrauen „zugeordneten Reduktionsstrategien werden als gewohnte Lebensauffassung, als Routine verselbständigt“ (Luhmann 2000: 93). Vielleicht kann man sich darauf einigen, dass Vertrauen (besonders bei einem Verdacht auf dessen Missbrauch) prinzipiell bewusstseinsfähig ist, aber nicht notwendig bewusst werden muss (keine Bewusstseinspflichtigkeit). Im Gegenteil: Die Authentizität der Selbstdarstellung kann sogar unter Bewusstheit leiden (wenn Berechnung und falsches Spiel unterstellt wird) und der etwas hilflose Appell „Vertrau mir!“ dürfte ebenfalls eher Misstrauen hervorrufen, weil er die Tabus der Berechnung und der expliziten Formulierung verletzt, die beide für die Glaubwürdigkeit eines nicht egoistisch kalkulierenden, „interessenfreien“ Handelns entscheidend sind, in die das Vertrauen vertraut (vgl. hierzu Bourdieu 1998: 137ff., 159ff.; vgl. auch Fley/Florian 2005 zur Relevanz der Verneinung des Selbstinteresses für die Vertrauensbildung in Anlehnung an Bourdieu).
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die Funktionsfähigkeit des Finanzsystems und kann beim Auftauchen eines Insolvenzgerüchtes die gutgläubige Fortsetzung des Vertrauens außer Kraft setzen. Das Reflexivwerden von Vertrauen als ein elementarer sozialer Mechanismus bedeutet, dass Vertrauen in das Vertrauen von dem Verhalten der anderen Akteure abhängig ist. Je größer die Anzahl der Bankkunden, die ihr Geld in der Bank belassen (abheben), desto stärker ist das Signal für die Handelnden, dass andere (nicht) vertrauen und desto größer (geringer) ist die eigene Bereitschaft, weiter in die Zahlungsfähigkeit der Bank zu vertrauen. Ist das Vertrauen durch das glaubwürdig erscheinende Gerücht erst einmal gestört, hat das entstandene Misstrauen eine „inhärente Tendenz, sich im sozialen Leben zu bestätigen und zu verstärken“ (Luhmann 2000: 98). In solch einem „Verstärkungseffekt“ sieht Luhmann (2000: 98) den wirksamen Kern der Self-fulfilling prophecy begründet. Die Glaubwürdigkeit des falschen Gerüchtes und der zunehmende Vertrauensverlust in die Reputation und Zahlungsfähigkeit der Bank sind ein entscheidender Zugang zur Erklärung der Wirksamkeit der sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Warum glauben viele Bankkunden einer durch wen auch immer in die Welt gesetzten Falschinformation? Die Erzeugung und Verstärkung der Glaubwürdigkeit eines falschen Gerüchtes beruht mindestens auf den folgenden beiden Voraussetzungen: (1) Das Vertrauen in Verlässlichkeit des Finanzsystems und die Reputation einzelner Banken ist im Jahr 1932 durch eine länger anhaltende Bankenkrise so geschwächt, dass falsche Gerüchte durchaus glaubwürdig klingen. (2) Das Verhalten anderer Akteure, die dem Gerücht Glauben schenken und ihre Einlagen abheben, verstärkt die Glaubwürdigkeit der falschen Information. Der Glaube erzeugt die Realität, solange die ursprüngliche (falsche) Definition der Situation, die aus Mertons Sicht den Kreislauf in Gang gesetzt hat, auch weiterhin gilt, weil sie durch das Verhalten anderer fortlaufend bestätigt wird und dadurch den „Prozess zirkulärer Verstärkungen“ (Bourdieu) in Bewegung hält. An dieser Stelle kommt aber auch das symbolische Kapital ins Spiel, wenn die Rechtfertigung der Vertrauensvergabe nicht nur an die Verhaltensweise einer „Mehrheit“ gebunden wird, sondern an den Reputationsverlust einer Bank und an die unterschiedliche soziale Reputation anderer Akteure, seien dies nun bekannte und anerkannte Meinungsführer unter den Bankkunden oder vertrauenswürdige Dritte wie zum Beispiel professionelle Finanzexperten, unabhängige Journalisten oder staatlich beglaubigte Repräsentanten, die institutionellen Regelungen die nötige Vertrauenswürdigkeit verschaffen. Durch die Verschiebung der Vertrauensproblematik von der unmittelbar betroffenen Bank hin zu einer Konfiguration unterschiedlichster Akteure, wird zugleich deutlich, warum es sich bei reflexiven sozialen Mechanismen um einen Prozess handelt, „mit dem aus kleinen Systemen große gebildet werden“ (Luhmann 1966: 13), und warum sich
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die Self-fulfilling prophecy nicht nur als ein Methodenproblem der empirischen Sozialforschung darstellt, sondern „als konstitutiv für Gesellschaft schlechthin“ (Luhmann 1997: 219). Reflexivität in der soziologischen und gesellschaftlichen Praxis „Die Erkenntnis der Notwendigkeit (...) macht die Möglichkeit von Wahlentscheidungen sichtbar, die in jeder Beziehung des Typs: wenn man das hat, dann wird man das haben, enthalten ist: Die Freiheit, die in der Wahl besteht, das wenn zu akzeptieren oder aber abzulehnen, ist solange sinnlos, solange man die Beziehung nicht kennt, die zwischen diesem wenn und einem dann vorliegt.“ (Bourdieu 1993: 44)
Auch wenn in der zitierten Aussage von Bourdieu der Begriff des Mechanismus nicht explizit vorkommt, ist offensichtlich, dass die kausale „Beziehung“ zwischen einem „Wenn“ und einem „Dann“ durch einen sozialen Mechanismus hergestellt wird, der ein bestimmtes Dann notwendig erzeugt. Die Schließung dieser (ebenso ontologischen wie epistemologischen) Lücke zwischen Ursachen und Wirkungen ist genau das soziologische Theorieproblem, an dem neuere Versuche ansetzen, die soziologische Erklärungsweise mit Hilfe sozialer Mechanismen zu verbessern. Während der Mechanismusbegriff von Bourdieu auch in expliziter Form häufig benutzt, aber nicht definiert wird, ist sein Reflexivitätsverständnis zwar präziser bestimmt, aber im Wesentlichen auf ein wissenschaftstheoretisches Programm „epistemischer Reflexivität“ begrenzt (vgl. Wacquant 1996: 62ff.). Unter Reflexivität versteht Bourdieu den „Rückbezug (...) der Wissenschaft auf sich selbst“ (Wacquant 1996: 63), mit dem Ziel, die „Reichweite und Zuverlässigkeit sozialwissenschaftlichen Wissens“ durch Anwendung der „Werkzeuge der Wissenschaft“ auf sich selber zu erhöhen (Wacquant 1996: 62). Der reflexive Rückbezug der soziologischen Erkenntnisgewinnung soll den „scholastischen Trugschluss“ oder „Theorie-Effekt“ der Soziologie verhindern und eine Konstruktion wissenschaftlicher Gegenstände unterstützen, in die nicht die Beziehung des Wissenschaftlers zu seinem Forschungsobjekt unbewusst hineinprojiziert wird (Wacquant 1996: 71). Am Beispiel der Self-fulfilling prophecy zeigt sich jedoch, dass die soziologische Arbeit mit der Analyse und Kontrolle möglicher Theorie-Effekte und soziologische Fehlschlüsse allein noch nicht erledigt ist, solange sich die Reflexivität nur auf die Kontrolle sozialwissenschaftlicher Aussagen und Vorhersagen konzentriert, während die Analyse der Selbsterfüllung sozialer Erwartungen innerhalb der gesellschaftlichen Praxis, das heißt die in der Sozialität wirksame Reflexivität, ausgeblendet bleibt. Damit wird ein doppelter Bezug auf Reflexivität notwendig: Einerseits ist die Reflexivität der Forschungspraxis als „Erforder-
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nis und Form soziologischer Arbeit“ (Wacquant 1996: 65) nötig für die „Selbstanalyse“ soziologischer Forschungspraktiken, andererseits muss das Reflexivitätsverständnis der Praxistheorie erweitert werden auf die Reflexivität in der erforschten Praxis, indem eigendynamisch verlaufende soziale Prozesse und reflexive Mechanismen zum Gegenstand soziologischer Analysen gemacht werden. Die Analyse der Self-fulfilling prophecy als reflexiver Mechanismus hat gezeigt, dass die übliche Begrenzung der Praxistheorie Bourdieus auf ein epistemologisch orientiertes Reflexivitätsverständnis das analytische Potential unterschätzt, dass in einer Ausweitung der Perspektive liegt, wenn von dem „TheorieEffekt“ der Soziologie auf die vielfältigen Wissens- und Glaubens-Effekte innerhalb der sozialen Praxis übergegangen wird, die aus der – nicht nur soziologisch produzierten – Beeinflussung der gesellschaftlichen Definition der Situation resultieren. Auf diese Erweiterung des Blickwinkels ist die Praxistheorie durchaus vorbereitet, wie das Beispiel der Analyse des Niedergangs einer Elitehochschule deutlich gemacht hat. Zugleich ist aber auch klar geworden, dass Bourdieus Theorie der Praxis einer stärkeren mechanismischen Orientierung bedarf, um die theoretischen Konzepte zu präzisieren und ihren Erklärungsanspruch auf eine überzeugendere Weise einlösen zu können. Literatur Baecker, D., 1991: Womit handeln Banken? Eine Untersuchung zur Risikoverarbeitung in der Wirtschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Beckert, J., 2002: Vertrauen und die performative Konstruktion von Märkten. Zeitschrift für Soziologie 31: 27-43. Boudon, R., 1998: Social mechanisms without black boxes. S. 172-203 in: P. Hedström/R. Swedberg (Hrsg.): Social Mechanisms. An Analytical Approach to Social Theory. Cambridge: Cambridge University Press. Bourdieu, P., 1976: Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bourdieu, P., 1983: Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. S. 183198 in: R. Kreckel (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten. Soziale Welt: Sonderband 2. Göttingen: Schwartz. Bourdieu, P., 1987: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bourdieu, P., 1988: Homo academicus. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bourdieu, P., 1990: Was heißt sprechen. Die Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien: Braumüller. Bourdieu, P., 1993: Die Soziologie auf dem Prüfstand. S. 36-59 in: Pierre Bourdieu: Soziologische Fragen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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Kommunikative Mechanismen. Reflexive soziale Mechanismen und kommunikationsorientierte Modellierung Kommunikative Mechanismen
Marco Schmitt
Einleitung: Wozu soziale Mechanismen? Analytische Ansätze sind in der soziologischen Theorie wieder auf dem Vormarsch. Trotz luzider Warnungen vor rein deduktiven Modellkonstruktionen, vor der „Armut des Deduktivismus“ (Gorski 2004), ist der Anspruch soziales Handeln von Akteuren oder soziale Strukturdynamiken nicht nur zu beschreiben, sondern auch zu erklären, und zwar mit kausalen Modellen zu erklären, seit einiger Zeit in der Soziologie wieder deutlich vernehmbar (vgl. die programmatischen Arbeiten von Esser 1993, Scharpf 2000, Mayntz 2002b und Schimank 2000; sowie für die internationale Diskussion vor allem Coleman 1990, Elster 1989 und Boudon 1996). Einige Prominenz hat dabei das methodische Konzept „sozialer Mechanismen“ erlangt (die paradigmatische Aufsatzsammlung ist hier sicherlich Hedström/ Swedberg 1998). Diese unterscheiden sich von „sozialen Gesetzen“ durch ihre Betonung und Berücksichtigung von kontextabhängiger Ergebnisoffenheit sozialer Prozesse, stellen aber dennoch Ursache-Wirkungs-Relationen in der Form von Ablaufmustern dar. Scharpf spricht in einem ähnlichen Sinne von „unvollständigen Theorien“ (Scharpf 2000: 66). Den Begriff des „sozialen Mechanismus“ als grundlegende Kategorie für soziologische Theorien mittlerer Reichweite eingeführt zu haben, wird dabei im allgemeinen Robert K. Merton zugeschrieben (Merton 1957). Wozu soll dieses Konzept nun innerhalb der „erklärenden Soziologie“ (speziell dazu Esser 2002 und zum gesamten Ansatz einer erklärenden Soziologie auch Esser 1993) dienen? Ein sozialer Mechanismus beschreibt das „Wie“ und das „Warum“ des Übergangs von einer oder mehreren sozialen Ursachen zu einem oder mehreren sozialen Effekten. Es geht nicht nur darum, eine Korrelation zwischen Ursache und Effekt herzustellen, sondern darum, diese kausale Verbindung durch eine plausible und hinreichend generalisierbare Theorie zu erklären. Ein sozialer Mechanismus ist genau dies: eine Erklärung und zugleich auch ein Modell des Zusammenhangs von sozialen Ursachen und Effekten. Dabei kann es durchaus
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notwendig werden, auch längere Ursache-Wirkungsketten zu identifizieren. Immer wenn solche längeren Ursache-Wirkungsketten vorliegen, kann man denn auch sehr treffend von einem sozialen Mechanismus als einem „UrsacheWirkungs-Ablauf-Muster“ (Schimank 2002: 155) sprechen. Noch einmal kurz zusammengefasst: Nach diesem Verständnis ist ein sozialer Mechanismus eine plausible und hinreichend generalisierbare Theorie über den Zusammenhang zwischen einem sozialen Ereignis/Zustand A und einem sozialen Effekt X, wobei die Theorie schlüssig darlegen muss, wie X durch A produziert wurde. Der soziale Mechanismus soll also vor allem zwei Bedingungen genügen: Zum einen soll er generativ sein, da er zeigt wie der Effekt X aus dem Ereignis oder Zustand A hervorgeht; zum anderen soll er hinreichend generalisierbar sein, um als Modell auch bei anderen Fällen wiederverwendbar zu sein. Was diese Beschreibung deutlich macht, ist zum einen der erklärende Charakter des Mechanismus, es geht um eine mechanismische Erklärung eines sozialen Phänomens, aber zum anderen auch um den erzeugenden, den generativen Charakter des Mechanismus, als einem Prozess, der in der sozialen Wirklichkeit Effekte produziert. Zwischen diesen beiden Verständnissen sollte deshalb nicht zu scharf unterschieden werden, denn sie bilden erst zusammen den tragfähigen Gehalt des Konzeptes sozialer Mechanismen. Auch und gerade für die an Modellentwicklung interessierte sozionische Forschung stellt sich die Frage nach der Tragfähigkeit dieses Konzepts. Dazu müssen zunächst die Vorzüge diese Ansatzes möglichst allgemein vorgestellt werden, wie sie von den führenden Vertretern dieses Ansatzes in der Soziologie vorgetragen werden. In einem weiteren Schritt kann dann auch besonders auf die spezifischen Anforderungen des sozionischen Forschungsprogramms nach einer für informatische wie soziologische Ansprüche produktiven und konstruktiven Zusammenarbeit näher eingegangen werden. Mit Thomas C. Schelling können drei wesentliche Vorteile mit einer Erklärung durch einen sozialen Mechanismus erreicht werden (Schelling 1998: 36f.). Erstens können Abweichungen von den Regularitäten leichter auf bestimmte Parameterwerte zugeschrieben werden, so dass der Mechanismus anzeigen kann, wo man suchen muss, um die Differenzen zu erklären (Transparenz). Zweitens ergibt sich aus der Kenntnis des Mechanismus häufig eine Möglichkeit der Intervention in die interessierenden Abläufe, denn mit einem „guten“ Mechanismus sind die wesentlichen Einflussgrößen und ihre Effekte bekannt, wodurch sich Möglichkeiten ergeben sollten, einige dieser Größen zu manipulieren und so in die Prozesse einzugreifen (Intervention). Drittens erhalten wir mit dem Mechanismus ein Muster für die Analyse weiterer Fälle und anderer Phänomene (Vergleichbarkeit). Die Reichweite und Bedeutung dieses Vorteils ist jedoch von der Generalisierbarkeit des Mechanismus abhängig. Weitere Vorzüge des Mechanismen-Ansatzes liegen in der erleichterten
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Formalisierbarkeit und in der Konzentration auf die tatsächliche „Mechanik“1 innerhalb sozialer Abläufe, die es erlaubt, Prozesse als kausale Abfolge von einzelnen Ereignissen zu beschreiben. Schließlich ist das angestrebte Ziel dieses Ansatzes, der Soziologie eine Art „Werkzeugkasten“ (Schimank 2000: 335f.) für die theoretische Modellierung von Forschungsproblemen bereitzustellen, der unterschiedlichste Mechanismen unterschiedlicher Generalisierungsniveaus (zur Unterscheidung verschiedener Generalisierungsniveaus in Theorien mittlerer Reichweite auch Schimank 2002) enthält, die je nach Problemstellung miteinander kombiniert und zu Modellen zusammengefügt werden können. All diese Pluspunkte sind auch für die sozionische Forschung relevant. In der sozionischen Forschung geht es darum eine „win-win-situation“ für Informatik und Soziologie herzustellen, die sich in folgender Weise kurz charakterisieren läßt: Die informatische Seite profitiert von den soziologischen Kenntnissen über verteilte Problemlösungsverfahren autonomer Einheiten und über die vielfältigen Unwägbarkeiten (z.B. nichtintendierter Nebenfolgen oder transintentionaler Effekte) verteilter Problemlösungsversuche in sozialen Systemen2; die soziologische Seite profitiert demgegenüber von den partiellen Präzisierungen ihrer theoretischen Kenntnisse im Konstruktionsprozess und von der Möglichkeit von kontrollierten „Sozialexperimenten“ mit künstlichen, aber dennoch autonom entscheidenden Agenten (für eine umfassendere Darstellung und Diskussion des ursprünglichen sozionischen Forschungsprogramms und seiner Weiterentwicklung vgl. den Sammelband Malsch 1998 und Malsch 2001). Es ist unschwer zu erkennen, dass die Erforschung und Konstruktion sozialer Mechanismen wie zugeschnitten auf das Forschungsprogramm der Sozionik erscheint. Die Erklärung von Prozessen der Regularitätenbildung und ihre Beschreibung als eine Abfolge kausal aufeinander folgender Schritte, unter der Angabe der relevanten Randbedingungen, die dazu führen, dass ein spezifischer Schritt im Ablaufmuster erzeugt wird, scheint genau die Bauart von Theorie zu sein, die den Anforderungen einer informatischen Umsetzung am ehesten zu entsprechen scheint. Allerdings hat sich die sozionische Forschung von Beginn an auch für Emergenzphänomene interessiert (Ellrich/Funken 1998), für Prozesse also, deren Ausgang durchaus ungewiss ist. Hier muss deshalb noch einmal dem Eindruck entgegengewirkt werden, der bei den analytischen Konzeptionen von sozialen Mechanismen häufig entsteht, dass es sich um deterministische Kopplungen handelt. Dazu sollten zwei Hinweise genügen: Zum einen ist schon oben auf die relative Er1 2
So auch Renate Mayntz zur Abgrenzung der Begriffe „Prozess“ und „Mechanismus“ (Mayntz 2002b, S. 25). Eventuell auch von techniksoziologischen Hintergrundwissen über die Nutzungs- und Anwendungskontexte von Softwaretechnologien, wenn es um die Praxisrelevanz der zu entwerfenden Systeme geht.
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gebnisoffenheit sozialer Mechanismen hingewiesen worden, bei denen es sich immer um „unvollständige Theorien“ im Sinne von Scharpf (Scharpf 2000: 66) handelt. Der Ausdruck „Ablaufmechanik“ ist aus diesem Grund auch nicht ganz wörtlich zu nehmen. Die einzelnen Schritte innerhalb der Ablaufmuster sind niemals vollständig festgelegt, sondern enthalten immer auch Potentiale, die andere Verlaufsmöglichkeiten eröffnen, wenn sie aktiviert werden. Der tatsächliche Prozess bleibt also in einem gewissen Maße kontingent. Kontingenz ist ein zentraler Bestandteil des sozialen Phänomenbereichs, den man nie außer acht lassen sollte.3 Zum anderen müssen für die meisten Erklärungen sozialer Phänomene, zumal von Phänomenen auf hochaggregierten Ebenen der Sozialität, mehrere soziale Mechanismen in Modellen kombiniert werden. Dies zieht häufig überraschende und nicht vorhersehbare Ergebnisse nach sich, da die Unsicherheit nun auch noch durch die Wechselwirkungen4 zwischen den Mechanismen erhöht werden kann. Es kommen also Ergebnisse zustande, die trotz allem als Emergenzphänomene gedeutet werden können. Trotzdem erlaubt es der Mechanismen-Ansatz stets die Bedingungen zu spezifizieren unter denen gewünschte Effekte wahrscheinlich produziert werden können, denn diese Bedingungen sind nichts anderes als die Funktionsbedingungen des generativen sozialen Mechanismus. Die Erklärungsmechanismen der Soziologie können also im Bereich des sozionischen Forschungsprogramms als Erzeugungsmechanismen für bestimmte soziale Effekte benutzt werden, wie zur Hervorbringung einer sozialen Ordnung, zur Stabilisierung einer Semantik oder zur Herstellung kooperativen Verhaltens. Auch die Etablierung eines soziologischen Werkzeugkastens aus funktionierenden sozialen Mechanismen kann die sozionische Forschung befruchten, erhöht er doch durch seinen modularen Aufbau die kombinatorischen Möglichkeiten und die Vergleichbarkeit der sozionischen Modellkonstruktionen enorm. Durch den oben angesprochenen Vorzug der sich eröffnenden Interventionsmöglichkeiten durch die Kenntnis der „generierenden Mechanismen“ und der spezifischen Mechanik des Prozessablaufs, treten die Vorteile einer an sozialen Mechanismen orientierten Herangehensweise erst dann vollständig in den Blick, wenn innerhalb der sozionischen Forschung von der Erzeugung bzw. Emergenz von Sozialität umgeschaltet wird auf die Kontroll- und Steuerungsprobleme spezifischer sozialer Phänomenbereiche. Wenn die Frage nach offenen Anwendungssystemen im Internet gestellt wird, bahnt sich eine solche Umstellung der Perspektive von Konstruktions- auf Kontrollprobleme an. Bei diesem Thema hat es die Sozionik nicht mehr mit den mehr oder weniger kleinen und ziemlich geschlossenen Einzelsystemen mit einer bestimmten Anzahl selbst erzeugter 3 4
Parsons und Luhmann sprechen sogar von „Doppelter Kontingenz“ als Grundlage von Sozialität (Parsons/Shils 1951: 16 und Luhmann 1984: 148ff.). Wie zum Beispiel positiven und negativen Rückkopplungen oder anderen Verzerrungen.
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Agenten und der Simulation von Sozialität zu tun. Nun geht es in der Tat um „large-scale open systems“ (Hewitt 1991), die von unbekannten und mobilen Agentenprogrammen bevölkert werden. Diese Systeme müssen nicht erzeugt werden, sie entstehen unter den Bedingungen des Internets wie von selbst. Designer von offenen Plattformen im Internet sind nun auf der Suche nach Mechanismen, die Kontroll- und Interventionsmöglichkeiten bieten, also auf der Suche nach sozialen Mechanismen der oben beschriebenen Form. Der prognostizierte Kontrollverlust für Gesellschaften mobiler Agentensoftware im Internet ergibt sich aus zweierlei zusammenwirkenden Entwicklungen. Zum einen erhöht sich der Entscheidungsspielraum der mehr oder weniger frei beweglichen Softwareeinheiten, was unvermeidbar mit einem Verlust an Kontrollmöglichkeiten5 von Designern und Nutzern dieser Technologien einhergeht. Zum anderen benutzen die Designer nicht unbedingt einheitliche „Mechanismen“ für die Koordination oder Kooperation zwischen den Software-Einheiten, so dass es zunehmend zu Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Mechanismen kommt, die zu unvorhergesehenen Resultaten führen können. Dies ist den Vorgängen in der Sphäre menschlicher Sozialität durchaus vergleichbar oder nährt sich deren Qualitäten zumindest an. Eine Konzentration weiterführender sozionischer Forschungsprojekte auf diese Thematik scheint somit sowohl hinsichtlich der Weiterentwicklung von soziologischen Theorien mittlerer Reichweite, als auch hinsichtlich der praktischen Relevanz für Internettechnologien von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Die Ausformulierung sozialer Mechanismen scheint somit ein wichtiger erster Schritt der soziologischen Seite der Sozionik, um sich dieser Thematik konstruktiv zu nähern. Dabei dürfen aber einige Beschränkungen dieser methodischen Konzeption soziologischer Theoriekonstruktionen nicht aus dem Blick geraten. Ich konzentriere mich im Folgenden vor allem auf die Probleme, die mit der einseitigen Fokussierung auf akteurstheoretisch fundierte soziale Mechanismen verbunden sind. Probleme der akteurstheoretischen Fundierung sozialer Mechanismen Grundlegend für die Verwendung des Konzeptes „sozialer Mechanismus“ in den analytischen Ansätzen ist die Selbstzurechnung der Autoren zum Ansatz des methodologischen Individualismus.6 Als paradigmatisch kann die folgende Aus-
5 6
Welcher sich sowohl in Beobachtbarkeitsproblemen, als auch in Interventionsschwierigkeiten niederschlägt. Es kann hier jedoch nicht darum gehen, sich abschließend mit den Pro- und Contra-Argumenten für und wieder den methodologischen Individualismus auseinander zu setzen, sondern nur mit
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sage von Hedström und Swedberg bezeichnet werden: „ Mechanism-based explanations usually invoke some form of ‘causal agent’ (...) that is assumed to have generated the relationship between the entities being observed. It is by explicitly referring to these causal agents that the relationship is made intelligible. In the natural sciences, causal agents come in a variety of forms such as organic reactions in chemistry and natural selection in biology. In the social sciences, however, the elementary ‘causal agents’ are always individual actors, and intelligible social science explanations should always include explicit references to the causes and consequences of their actions.” (Hedström/Swedberg 1998b, S. 11f.) Das eindeutige Bekenntnis zum methodologischen Individualismus legt die an Mechanismen orientierten Ansätze auf eine akteurstheoretische Fundierung fest. Ein anderes „kausales Agens“ kommt dann nicht mehr in Betracht. Der oben angeführten Vielfalt der naturwissenschaftlichen Kausalverknüpfungen steht eine einzige Verknüpfungsart in den Sozialwissenschaften gegenüber. Für diese etwas einseitige Betrachtungsweise gibt es jedoch eine sehr plausible Grundlage in der Alltagserfahrung, da sich jeder Mensch auch selbst als kausales Agens in Handlungsabläufen betrachtet. An diese im Alltag verbreitete Sichtweise schließt der methodologische Individualismus wie selbstverständlich an. Wenn es nun darum gehen soll trotz der Plausibilität einer akteurstheoretischen Fundierung sozialer Mechanismen auf einige Probleme hinzuweisen, die mit dieser Festlegung verbunden sein können, sind zwei Problemtypen zu unterschieden: Zum einen Probleme im Bereich der Sozialtheorie bzw. dem Feld sozialwissenschaftlicher Erklärungen und zum anderen daraus folgend oder auch unabhängig davon Probleme für die sozionischen Konstruktionsbemühungen. Aus dem ersten Problembereich sind vor allem das Problem der empirischen Erhebbarkeit von Entscheidungen der Akteure über Handlungswahlen, das Problem einer Vermischung sozialpsychologischer, psychologischer und soziologischer Mechanismen für die Makro-Mikro-Makro-Erklärungen der analytischen Ansätze und das Problem von Generalisierungsdefiziten auf der einen und überkomplexen Akteursmodellen auf der anderen Seite zu nennen. Der zweite Problembereich lässt sich kurz charakterisieren durch das Koordinations- und Steuerungsproblem gegenüber unbekannten Agenten und das Problem der letztlich unkontrollierten Aggregation von Handlungen. Jedes dieser Probleme soll nun kurz ausgearbeitet werden. Das Problem der empirischen Erhebbarkeit von Entscheidungskalkülen von Akteuren ist eine Grundproblematik der akteurstheoretischen Ansätze.7 Der ak-
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seiner Notwendigkeit für den Einsatz des oben vorgestellten Begriffs von sozialen Mechanismen. Experimente in der Ökonomie (wie zum Beispiel theoretisch festgehalten im Allais-Paradox bei Entscheidungen unter Unsicherheit) haben immer wieder ergeben, dass empirische Akteure aus
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teurstheoretisch formulierte soziale Mechanismus muss ein solches Kalkül angeben, um die Handlungswahl erklären zu können. Doch nur das Ergebnis des Kalküls ist empirisch zu überprüfen. Der sozialwissenschaftliche Beobachter konstruiert also ein Akteursmodell8, das im wesentlichen aus einem solchen Entscheidungskalkül besteht. Eine „situational analysis“ im Sinne Poppers setzt dieses Entscheidungskalkül dann in Gang (Popper 1994). Mit diesem Modell kann er sich zufrieden geben, wenn es die Ergebnisse der Handlungswahlen in empirischen Fällen korrekt vorhersagen kann. Gelingt dies nicht, muss das Modell entweder verworfen und ersetzt werden, oder aber man verfeinert das Entscheidungskalkül auf der Grundlage des bisherigen Modells. Das so empirisch validierte Akteursmodell ist jedoch immer nur eine funktionierende Unterstellung. Da wohl häufig ganz verschiedene Akteursmodelle ähnliche Handlungswahlen erzeugen können, entscheidet man sich forschungspraktisch im Einklang mit „Ockham’s Rasiermesser“ für das einfachste Modell. Doch auch hier trifft man wieder auf das Kontingenzproblem, dass nach Beckert auch nicht endgültig behebbar ist (Beckert 1996). Die Entscheidungskalküle sind nicht erhebbar, sie funktionieren nur als Unterstellung oder eben nicht. Und wenn sie in einem Fall funktionieren, müssen sie noch nicht für einen anderen Fall gelten. Kontingenz bedeutet hier aber auch, dass die Entscheidungskalküle empirischer Akteure offene Stellen und Inkonsistenzen aufweisen, sie verfügen weder über klar geordnete Präferenzen, noch durchleuchten sie ihre Opportunitäten und Restriktionen weitgehend. Solche Kalküle der Handlungswahl scheinen nicht nur schwer erhebbar, sondern noch schwerer konstruierbar. Ein theoretisch schwerwiegenderes Problem stellen jedoch die Vermischungen unterschiedlichster Analyseebenen dar, in die sich akteurstheoretisch formulierte soziale Mechanismen begeben müssen. Akteurstheoretisch orientierte Erklärungen nach dem Muster der Makro-Mikro-Makro-Erklärung (Coleman 1990: 6ff und Esser 1993) benötigen Mechanismen, um die folgende Übergänge kausal zu verknüpfen: 1.
8
Der Makro-Mikro-Übergang, bei Esser „Logik der Situation“ (Grundlegend zur Theorie der drei „Logiken“ in sozialen Makro-Mikro-Makro-Erklärungen vgl. Esser 1993) genannt, erfordert nach Hedström und Swedberg einen der Sicht der Theorie der rationalen Wahl zu sehr eigenwilligen Entscheidungskalkülen neigen (Allais/Hagen 1979). So auch bei Schimank, der die immer noch einschlägigen Akteursmodelle der Sozialwissenschaften wie folgt zusammenfasst: normorientierte Akteure, rational-nutzenmaximierende Akteure, emotionale Akteure und identitätsbehauptende Akteure. Alle vier Modelle sind als Idealtypen im Weberschen Sinne zu verstehen und können für spezifische Problemanalysen zu Handlungs- und Entscheidungskalkülen vermischt werden (Schimank 2000).
210
2.
3.
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tuational mechanism“9 zur Erklärung des Übergangs. Hier handelt es sich um sozial- und wahrnehmungspsychologische Mechanismen, die erklären wie Akteure Situationen zur Kenntnis nehmen und deuten. Der Mikro-Mikro-Übergang, bei Esser „Logik der Selektion“ genannt, erfordert einen „action-formation mechanism“ zur Erklärung des Übergangs. Ein psychologisches Entscheidungskalkül zur Verknüpfung von Situationsdeutungen und Handlungswahlen. Der Mikro-Makro-Übergang, bei Esser „Logik der Aggregation“ genannt, benötigt eine Erklärung durch einen „transformational mechanism“. Hier kann man von einem genuin soziologischen Mechanismus sprechen, denn hier geht es nicht mehr um die Frage, was in den Köpfen der beteiligten Akteure passiert, sondern es geht ausschließlich um aggregierte bzw. zusammenwirkende Handlungsresultate.
Wie man schnell erkennen kann, setzen diese Erklärungen immer voraus, dass psychologische und soziologische Mechanismen kombiniert werden. Dies geschieht durch unmittelbare Kausalverknüpfungen. Es ist also keineswegs so, dass hier soziale Mechanismen für eine vernünftige Erklärung ausreichen würden. Eine mindestens ebenso große Rolle spielen psychische Mechanismen. Eine Verknüpfung verschiedener Mechanismen aus Soziologie und Psychologie ist für akteurstheoretische Modelle eigentlich unumgänglich. Dies sollte jedoch hinreichend klar gemacht werden, damit es nicht zu Vermischungen zwischen den Ebenen kommt. Zumindest sind die Eigenlogiken der betroffenen Ebenen bei der Modellierung der Kausalketten zu berücksichtigen. Die meiner Einsicht nach wichtigsten Einwände, die gegen akteurstheoretische Modellierungen vorgebracht werden können, sind die Vorwürfe eines Generalisierungsdefizits hinsichtlich der Aggregationsebene, kombiniert mit dem Vorwurf, nur über immer komplexere Akteursmodelle zu gehaltvolleren Aussagen zu kommen. Während das Argument über zu komplexe Akteursmodelle häufig nicht sticht, weil bei vielen Erklärungsmodellen eher mit sehr einfachen, dann wohl aber empirisch ebenso häufig unhaltbaren Akteursmodellen gearbeitet wird10, ist das Generalisierungsdefizit hinsichtlich der Aggregation unübersehbar. Für eine Beschäftigung mit dem „außer-Kontrolle-Geraten“ von Agentengesellschaften bzw. künstlichen Sozialsystemen ist jedoch gerade diese Ebene entscheidend, denn erst hier geraten diese Systeme wirklich „außer Kontrolle“. Hier muss eine soziale Ordnung entstehen. Bis auf den Marktmechanismus der Öko9
In Anlehnung an die drei Logiken entwickeln Hedström und Swedberg drei Typen von sozialen Mechanismen (Hedström/Swedberg 1998b: 21ff.). 10 Dies steht in Zusammenhang mit dem oben vorgebrachten Argument der durchaus problematischen empirischen Erhebbarkeit von Entscheidungskalkülen der Akteure.
Kommunikative Mechanismen
211
nomie sind die auf dieser Ebene entwickelten Transformationsmechanismen aber sehr schwach entwickelt.11 Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass dieses Problem mit der strikten Orientierung am methodologischen Individualismus zusammenhängt.12 Wenn die entscheidenden Fragen auf dieser Ebene, also der Ebene transintentionaler Effekte13 () beantwortet werden müssen, ist eine akteurstheoretische Formulierung von Modellen vielleicht nicht der beste Weg, vor allem dann nicht, wenn die Zahl der beteiligten Akteure unüberschaubar wird. Zu diesen grundlegenden sozialtheoretischen Problemen treten einige Einschränkungen, die speziell für die sozionische Forschung von Bedeutung sind. Teilweise resultieren sie unmittelbar aus den oben erwähnten Restriktionen, teilweise aus dem veränderten Anforderungsprofil der Sozionik. Zum einen gibt es in technischen Systemen immer einen großen Kontrollbedarf. Funktionierende Technik wäre, wenn kontrolliert Resultate erzeugt werden können. Dies ist die besondere Pointe, wenn von Agentenpopulationen im Internet (als funktionierenden Technologien), die außer Kontrolle geraten (ohne die Resultate kontrollieren zu können), die Rede ist. Wie im ersten Abschnitt gezeigt wurde, ist ein besonderer Reiz der an Mechanismen orientierten Modellierung der Sozionik, sehr genaue Hinweise auf die Kontroll- und Interventionsmöglichkeiten in sozialen Prozessen anzubieten. Auch akteurstheoretisch fundierte soziale Mechanismen bieten hier häufig eine gute Anleitung. Eine akteursorientierte Fundierung wird jedoch immer dann zum Problem, wenn man auf der Suche nach Mechanismen ist, die gegenüber vollkommen unbekannten Agenten oder Akteuren auf kontrollierbare Resultate hinwirken. Mechanismen, die eine Wirkung über das Entscheidungskalkül der Akteure entfalten sollen, sind dann in ihren Effekten höchst unsicher. Das Problem unbekannter Agenten stellt sich bei offenen Systemen im Internet fast augenblicklich ein. Es ist nicht möglich, die Entscheidungskalküle der umherziehenden Agenten zu kennen, geschweige denn zu kontrollieren.14 Die akteurstheoretische Fundierung sozialer Mechanismen, vor allem in ihrer streng am methodologischen Individualismus ausgerichteten Variante, scheint somit in einem solchen Umfeld weniger geeignet zu sein.
11 Hedström und Swedberg führen folgende „transformational mechanisms“ an: Schellings tippingmodel (Schwellenwert-Modell), spieltheoretische Modelle (wie die „tragedy of the commons“) und den neoklassischen Marktmechanismus (Hedström/Swedberg 1998b: 23). 12 Weniger strikte akteurstheoretische Modelle, die zum Beispiel auch korporative Akteure zulassen, können dieses Problem stellenweise besser lösen (als Beispiel vgl. Schimank 2002 mit seiner Unterscheidung von Generalisierungsniveaus). 13 Zum Begriff der Transintentionalität in unterschiedlichen Sozialtheorien vgl. den Sammelband von Greshoff, Kneer und Schimank(Schimank, Greshoff, Kneer und Schimank 2003). 14 Problembewusstsein in dieser Hinsicht ist auch in der Informatik seit einiger Zeit offenkundig (als Beispiele Chia/Kannapan 1997 und Tschudin 1997).
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Zum anderen stellt sich das sozialtheoretisch schon angeführte Problem einer unkontrollierten Aggregation des handelnden Zusammenwirkens von Akteuren auch auf der Ebene der sozionischen Konstruktion. Auch hier gibt es einen unmittelbaren Bezug zum Kontrollproblem. Unkontrollierte Aggregation ist zwar einerseits Voraussetzung der Emergenz, die in der Sozionik angestrebt wird, aber andererseits auch eine großes Risiko hinsichtlich der Ergebniskontrolle, also hinsichtlich der Funktionalität der Technik. Es geht also um eine Kontrolle der unkontrollierten Aggregation, die aber Kontingenz zulässt, um Emergenz zu ermöglichen. Es ist sehr fraglich, ob akteursorientierte soziale Mechanismen hier der richtige Weg sind, denn sie unterliegen doch gewissen Komplexitätsbeschränkungen was die Masse der beteiligten Akteure angeht. Dann kann nur noch mit äußerst simplen Akteursmodellen gearbeitet werden und es stellt sich die Frage, ob diese einfachsten Akteursfiktionen überhaupt Eingang in die sozialen Mechanismen finden müssen, um substantielle Erklärungen zu erzeugen. Zu Einordnung dieser Probleme ist zu sagen, dass keines von ihnen generell gegen jedweden akteurstheoretisch formulierten Mechanismus eingewandt werden kann. Es gibt Lösungsansätze innerhalb der Akteurstheorien für jedes von ihnen. Am wenigsten überzeugend sind diese Ansätze nach meiner Auffassung jedoch bislang im Hinblick auf die Aggregationsproblematik; hier liegen vor allem die Chancen für andere, z. B. an Kommunikation orientierte, Modellierungsansätze. Vom Reiz einer kommunikationstheoretischen Fassung sozialer Mechanismen Wenn man bei der Konstruktion sozialer Mechanismen vom akteurstheoretischen Paradigma abweichen will, bietet sich dafür zunächst eine kommunikationstheoretische Fassung an. Zum einen bietet sich Kommunikation als Ausgangspunkt einer systemtheoretischen Modellierung von sozialen Mechanismen an, da Niklas Luhmann, als der wichtigste Vertreter eines systemtheoretischen Ansatzes in Deutschland, von Kommunikationen als den Basisoperationen sozialer Systeme ausgeht (Luhmann 1984); und zum anderen wird Kommunikation von den allermeisten Soziologen als der bedeutendste Typus oder zumindest als einer der bedeutsamsten Typen sozialen Handelns aufgefasst. Man geht also bei der Modellierung von der Verknüpfung von Kommunikationsereignissen aus und nicht von der Verknüpfung von Akteuren oder deren Handlungen, vor allem klammert man jedoch die Ebene der Handlungswahlen einzelner Akteure aus. Die Festlegung auf eine kommunikationsorientierte Modellierung heißt allerdings nicht, dass man sich schon auf ein spezifisches Kommunikationsmodell festlegen
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müsste. Doch bevor einige Ansätze für kommunikationsorientierte Modelle sozialer Mechanismen vorgestellt werden sollen, möchte ich noch einige weitere Vorzüge der Kommunikationsorientierung vorstellen. Ein wesentlicher Vorteil einer Konzentration von Modellen auf die Ebene von Kommunikationsprozessen ist ihre empirische Erhebbarkeit. Während man die Entscheidungskalküle von Akteuren nicht direkt beobachten kann, sind Kommunikationsprozesse in ihren materiellen Substraten konservierbar. Äußerungen können aufgenommen werden, schriftliche Kommunikation ist ohnehin an ein mehr oder weniger langlebiges Substrat gebunden. Auf diesen Vorteil stützt sich beispielsweise auch die Konversationsanalyse (Schneider 1991). Es ist also möglich, Pfadabhängigkeiten und Kausalmuster unmittelbar am empirischen Material abzulesen. Weitere unschätzbare Vorzüge sind das hohe Abstraktionspotential kommunikationstheoretischer Modelle, die Prozesse abbilden können, die über viele Agentenkonstellationen bzw. Akteurskonstellationen hinweg generalisierbar sind und die Möglichkeit, auf explizite Akteursmodelle verzichten zu können. Beide Vorzüge sind wichtige Voraussetzungen für das Modellieren von sozialen Mechanismen im Umfeld von offenen Plattformen im Internet, die mit großen Mengen an unbekannten Agenten konfrontiert werden. Gerade die Möglichkeit der Konstruktion von sozialen Mechanismen, die es einem sozialen System erlauben auch mit idiosynkratischen, nicht-rationalen und/oder „bösartigen“ Agenten umzugehen, macht den Reiz einer Modellierung von kommunikationsorientierten Mechanismen aus. Aus rein sozionischer Sicht geht es aber auch um Konstruktionsanleitungen jenseits der Agentenkonstruktion.15 Es geht um einen Ansatz, der möglichst weitgehend von Agentenmodellen absehen und dennoch Interventionsmöglichkeiten aufzeigen kann. Das ist zum einen eine Frage der Generalisierungs- und damit auch der Skalierungsmöglichkeiten16 offener verteilter Systeme und zum anderen eine Frage nach der agentenunabhängigen Robustheit von Multiagentensystemen. Diese grundlegenden Potentiale der kommunikationsorientierten Modellierung sozialer Mechanismen können vielleicht einige der Schwächen der akteursorientierten Modellierung sozialer Mechanismen, wie sie oben zusammengefasst wurden, vermeiden helfen. Im Folgenden geht es darum einige Überlegungen anzustellen, in welchen Bereichen und mit welchen Mitteln eine kom15 Auch der akteurstheoretische Ansatz zur Modellierung von sozialen Mechanismen beschränkt sich nicht auf die Agentenkonstruktion, ebenso wichtig ist hier die Konstruktion von situativen Elementen und Auszahlungs- bzw. Ergebnisräumen. 16 zum Skalierungsproblem als einem möglichen „boundary object“ innerhalb der Sozionik vgl. den Sammelband von Fischer, Florian und Malsch (Fischer, Florian und Malsch 2004); und darin insbesondere den Aufsatz von Paetow, Schmitt und Malsch (Paetow, Schmitt und Malsch 2004: 132ff.).
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munikationstheoretisch fundierte Modellierung sozialer Mechanismen diese Potentiale abrufen könnte und somit zu einer sinnvollen Ergänzung der akteurstheoretisch fundierten Modellierung im soziologischen wie sozionischen Werkzeugkasten führen könnte. Ansätze zu einer kommunikationsorientierten Modellierung sozialer Mechanismen Eine kommunikationsorientierte Modellierung sozialer Mechanismen kann nur auf der Grundlage einer ausgearbeiteten soziologischen Kommunikationstheorie gelingen. Dafür gibt es in der soziologischen Theorie verschiedene Anwärter. Ich will wollen es mit einer an Niklas Luhmanns Systemtheorie orientierten Kommunikationstheorie versuchen, die allerdings Erweiterungen und Veränderungen aus der Semiotik und dem Interaktionismus mit einzubeziehen versucht, um einige interne Schwierigkeiten des von Luhmann vorgeschlagenen Modells von Kommunikation auszuräumen.17 Ähnlich wie bei Luhmann18 oder auch bei Peirce und Mead19 wird Kommunikation als ein dreistelliger Prozess beschrieben, dessen grundlegende Elemente aber etwas anders bestimmt werden. Er umfasst eine Inzeption (als ein Mitteilungshandeln, dass Verfertigen eines Mitteilungszeichens), ein irgendwie physisch zugängliches Mitteilungszeichen und eine Rezeption (als ein Verstehen oder auch ein Erleben dieses Mitteilungszeichens). Dabei stellt das physikalische Mitteilungszeichen die eigentlich beobachtbare Ebene des Prozesses dar. Inzeptionen und Rezeptionen können nur aus dem Verweisen von Mitteilungszeichen aufeinander erschlossen werden. Die hier präferierte kommunikationsorientierte Modellierung orientiert sich deshalb an Netzwerken von Mitteilungszeichen, die aufeinander referieren. Die operative Kopplung der Mitteilungszeichen erfolgt über die Operationen Inzeption und Rezeption. Ein kommunikationsorientierter Mechanismus könnte dann zum Beispiel zeigen, wie ein Netzwerk von Mitteilungszeichen und das einzelne Mitteilungszeichen seine Anschlusswahrscheinlichkeit über Rezeptions- und Inzeptionsanlässe reguliert.
17 Diese Kommunikationstheorie ist noch in der Entwicklung begriffen; einen ersten Einstieg in die grundlegenden Konzepte bieten Malsch und Schlieder (Malsch/Schlieder 2004) und eine eingehendere Diskussion der theoretischen Grundlagen findet sich bei Malsch (Malsch 2005). 18 Bei Luhmann als Synthese der drei Selektionen Information, Mitteilung und Verstehen (Luhmann 1995a). 19 Bei Peirce als dreistelliger Zusammenhang von Objekt, Zeichenmittel und Interpretant (Eco 1995) und bei Mead als triadische Natur der Sinnkonstitution (Mead 1973).
215
Kommunikative Mechanismen
Abb. 1: Communication-Oriented Modelling (COM) (Basismodell) Referenz Zeitlauf
MZ1
I1
R1
MZ2
I2
R2
MZ = Mitteilungszeichen I = Inzeption R = Rezeption
Vorab ist noch eine kurze Bemerkung zur Reichweite der hier unternommenen Ausgestaltung von kommunikationsorientierten Mechanismen angebracht. Es geht hier vor allem um die Formulierung von Ansatzpunkten für die Modellierung solcher Mechanismen. Keiner der hier vorgestellten Ansatzpunkte ist schon ein vollendet ausgearbeiteter sozialer Mechanismus auf der Basis einer ausgereiften Kommunikationstheorie. Dennoch bieten diese Ansatzpunkte eine Grundlage, von der aus die später auszugestaltende Modellierung kommunikationsorientierter sozialer Mechanismen erfolgversprechend erscheint. Der kommunikative Reparaturmechanismus der Interaktion Im mikrosozialen Bereich, für den sich die Luhmannsche Systemtheorie scheinbar weniger interessiert zeigte20, sind vor allem in der Ethnomethodologie nach Garfinkel (Garfinkel 1967) und der Konversationsanalyse (für einen Überblick Atkinson/Heritage 1984) interessante Einsichten für die Modellierung kommunikativer sozialer Mechanismen zu gewinnen.21 Im Folgenden soll der Mechanis20 Dies steht einer erfolgreichen Anwendung auf diese Bereiche jedoch nicht im Wege, wie vor allem André Kieserling gezeigt hat (Kieserling 1999). 21 Hierauf hat insbesondere Wolfgang Ludwig Schneider immer wieder hingewiesen, auf dessen Interpretation und Ausarbeitung ich mich hier im Wesentlichen stützen will (Schneider 1994, 1997, 2000 und 2002: 13ff.).
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mus zur Produktion von Intersubjektivität in Interaktionen nach Schneider kurz vorgestellt werden, um dann in eine Modellierung nach den Vorgaben der oben beschriebenen Theorie überführt zu werden. Der Mechanismus der Intersubjektivitätsproduktion in der Kommunikation hat eine denkbar einfache Form. Als interpretative Basis dienen der Konversationsanalyse sogenannte „Nachbarschaftspaare“, wie zum Beispiel „Frage und Antwort“ oder „Vorwurf und Rechtfertigung“. Von zentraler Bedeutung für die Produktion von Intersubjektivität ist jedoch die dritte Sequenzstelle des Kommunikationsprozesses, an der routinemäßig die Möglichkeit der Korrektur des kommunikativen Verstehens, wie es aus dem Reaktionsverhalten des Adressaten aufscheint, aufgerufen wird. Die dritte Sequenzposition einer Kommunikation operiert implizit immer mit der Unterscheidung von „richtig verstanden/falsch verstanden“ aus der Sicht des Autors der ersten Sequenzstelle. Es gibt dann entweder eine bestätigende Reaktion für die Anschlussreaktion des Gegenübers, bei der die Reaktion implizit als korrektes Verstehen gewertet wird oder es wird kommunikativ Korrekturbedarf eines Missverstehens angemeldet. Meist geschieht das durch eine abgewandelte bekräftigende Darstellung der ursprünglichen Kommunikationsofferte. An jeder dritten Sequenzstelle in Kommunikationsprozessen der Face-to-face-Interaktion kommt durch den Korrekturmechanismus, der mittels der Unterscheidung „richtig verstehen/falsch verstehen“ arbeitet, die Produktion von intersubjektiven Bedeutungen in Gang, die im weiteren Verlauf der Kommunikation dann erfolgreich als gültig unterstellt werden können. Die hier entstehende Bedeutungsebene ist in der Tat transintentional (Schneider 2003), da keiner der Beteiligten diese Ebene allein kontrollieren kann und beide sogar differierende subjektive Bedeutungszuschreibungen stabilisieren können. Der kommunikative Mechanismus nimmt also die folgende Form an: Sinnangebot einer Mitteilung (1. Sequenzposition) Î Sinnverstehen durch eine Mitteilung (2. Sequenzposition) Î Aufruf der Unterscheidung „richtig verstanden/falsch verstanden“ (3. Sequenzposition). Dass diese Unterscheidung an jeder dritten Sequenzstelle in der Interaktion aufgerufen wird, ist genau deshalb als kommunikativer Mechanismus aufzufassen, weil die Erklärung der Produktion von Intersubjektivität hier ohne den Rückgriff auf spezifische Intentionen, die in der Interaktion verhandelt werden oder eine Rolle spielen, auskommen kann. Die Relevanz der dritten Sequenzposition in der Kommunikation unter Anwesenden ergibt sich in dieser Interpretation schon allein aus dem Prozess der Kommunikation selbst.22
22 Es soll damit nicht bestritten werden, dass Intentionen eine wichtige Rolle dabei spielen, wie die Unterscheidung „richtig verstanden/falsch verstanden“ an dieser Stelle gehandhabt wird, also welche Seite der Unterscheidung dann in der Kommunikation jeweils bezeichnet wird. Aber dies
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217
Für eine Modellierung mit Communication-Oriented Modelling (COM) muss die dreistellige Sequenz aus der Konversationsanalyse weiter aufgebrochen werden in eine Abfolge von Mitteilungszeichen, die mit Markern für Inzeptionsund Rezeptionsoperationen ausgestattet sind, die den Anschluss regulieren und richtiges bzw. falsches Verstehen ausweisen. Jede der drei Sequenzpositionen wird von einem Mitteilungszeichen besetzt, dem eine Inzeptionsoperation vorausgegangen sein muss. Einer solchen Inzeptionsoperation muss wiederum eine Rezeption vorangegangen sein, die eine Referenz zum vorherigen Mitteilungszeichen herstellt. Die Rezeption des zweiten Mitteilungszeichens als angemessene oder unangemessene Reaktion auf das erste Mitteilungszeichen ruft den kommunikativen Kontrollvorgang auf, der mit der Unterscheidung von „richtig verstanden/falsch verstanden“ arbeitet. Wird im Mitteilungszeichen der dritten Sequenzposition die Reaktion im vorhergehenden Mitteilungszeichen nicht problematisiert, bleibt die Verwendung der Unterscheidung „richtig/falsch“ mit der Bezeichnung der Seite „richtig verstanden“ implizit. Wird dagegen die Seite des „falsch Verstehens“ markiert, kommt es zu einem expliziten Bezug auf den mitlaufenden Kontrollvorgang. Die routinemäßige Kontrolle des Verstehens an jeder dritten Sequenzposition der Kommunikation ist der Mechanismus, der intersubjektive Bedeutungszuschreibungen produziert und zwar auch dann, wenn die subjektiven Bedeutungszuschreibungen weiterhin voneinander abweichen. Eine grafische Modellierung dieses Mechanismus mit den Mitteln von COM könnten aussehen, wie in Abb. 2 auf der folgenden Seite. Der reflexive Charakter dieses Mechanismus wird schon daran deutlich, dass hier eine Bedeutungszuschreibung eines vergangenen Ereignisses innerhalb des Prozesses für den Prozess stabilisiert werden soll. So schafft Kommunikation immer im Nachtrag eine Ebene unterstellbarer Grundlagen und Voraussetzungen ihrer selbst, also von unterstellbaren Erwartungen (Erwartungserwartungen), die den Prozess führen können.
betrifft dann nur den konkreten Inhalt der Intersubjektivitätsproduktion, nicht die verfahrensmäßige Erklärung dieser Produktion selbst.
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Abb. 2: Der Mechanismus der Intersubjektivitätsproduktion in COM IB Intersubjektive Bedeutung von MZ1, durch die Bewertung der Reaktion in MZ2 als richtiges oder falsches Verstehen von MZ1 in MZ3.
Reaktion
richtig/falsch MZ2
MZ1
I1
Akteur 1
R1
I2
Akteur 2
MZ3
R2
I3
Akteur 1
R3
usw.
MZ = Mitteilungszeichen I = Inzeption R = Rezeption IB = Intersubjektive Bedeutung (Soziale Struktur in der Interaktion)
Soziale Sichtbarkeit – Ein Ordnungsmechanismus in der Massenkommunikation In Kommunikationsprozessen mit massenhafter Produktion von Nachrichten sind schärfere Selektionsmechanismen dagegen eine schlichte Notwendigkeit. Akteurs- und kommunikationsorientierte Ansätze gleichermaßen müssen Mechanismen finden, die die Komplexität der massenhaften Nachrichtenproduktion reduzieren helfen. Dabei interessieren sich auf den Akteur bezogene Ansätze eher für das Selektionsproblem des Einzelnen, also auf die Fragen, welche Nachrichten soll der Akteur lesen und an welche sollte er möglicherweise anschließen. Es geht also weniger um soziale, denn um kognitive Mechanismen der Reduktion von Komplexität. Nimmt man dagegen die Kommunikation selbst in den Blick, geht es eher um die Reproduktion und Ordnung der Prozesse selbst, die aber ebenfalls auf die Bindung von Aufmerksamkeit angewiesen sind. Unter diesem Gesichtspunkt kann dann auch noch spezifischer angesetzt werden, wenn man fragt, ob sich bestimmte Prozessmuster stabilisieren, z.B. bestimmte Formen der Verteilung kommunikativer Aufmerksamkeit reproduziert werden.
Kommunikative Mechanismen
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Nehmen wir ein Beispiel aus der wissenschaftlichen Zitationspraxis. Wie häufig beobachtet, haben unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen auch verschieden Praxen der Zitation ausgebildet. Grob gesprochen, kann man hier zwischen den Naturwissenschaften (inklusive Informatik und Ingenieurswissenschaften) und Geisteswissenschaften differenzieren. Während erstere ihre Zitationen auf andere aktuelle Arbeiten konzentrieren, zitieren letztere in erster Linie fundierende Texte. Sicher ist diese dichotome Beschreibung eine sehr grobe Vereinfachung der viel komplizierteren wissenschaftlichen Praxis, die in den unterschiedlichen Disziplinen verfolgt wird, aber dennoch kann man eine Tendenz des Zitationsverhaltens in die angegebene Richtung verfolgen.23 Im mittleren Bereich zwischen diesen Disziplinen befinden sich die meisten Sozialwissenschaften. An diesen Zitationspraxen lässt sich deutlich eine unterschiedliche Verteilung von kommunikativer Aufmerksamkeit in den betroffenen Kommunikationsprozessen konstatieren, mehr noch ein stabiles Muster der Verteilung dieser Aufmerksamkeit. Wie könnte nun ein kommunikativer Mechanismus aussehen, der die Erzeugung und Stabilisierung solcher Muster beschreiben kann? Der Mechanismus der sozialen Sichtbarkeit ist deshalb ganz grundsätzlich an eine Ökonomie der Aufmerksamkeit gekoppelt (Franck 1998). Der zentrale Einflussfaktor zur Bestimmung der sozialen Sichtbarkeit einer Nachricht, verstanden als einer Spur der Kommunikation, hinterlassen in einem Medium mit unterschiedlichen Speicherfähigkeiten, ist die erhaltene kommunikative Aufmerksamkeit. Kommunikative Aufmerksamkeit bemisst sich dabei nach den expliziten und den impliziten Verweisen von anderen Nachrichten. In einer besonders einfachen Lesart ist es die reine Summe der Referenzen, die bestimmt, ob eine Nachricht mit einer hohen sozialen Sichtbarkeit ausgestattet ist. Von diesem Ansatzpunkt aus können dann weitere Einflussgrößen bestimmt werden, die die Verteilung kommunikativer Aufmerksamkeit in Massendiskursen steuern. Zunächst denkt man dabei sicherlich an das Alter der Nachrichten, denn bekanntlich erinnert sich niemand mehr an die Schlagzeile von vorgestern. Die Aktualität der Nachricht bestimmt ihren Informationswert und damit auch ihre Chance, kognitive und kommunikative Aufmerksamkeit zu binden. Kommunikative Bezugnahme und Nachrichtenalter bilden so das Grundgerüst des kommunikativen Mechanismus, den ich als soziale Sichtbarkeit bezeichne (Malsch/Schlieder 2004). In vielen Fällen sind diese beiden Variablen schon gute Indikatoren für eine Prognose von Anschlusswahrscheinlichkeiten in Kommunikationszusam23 Vgl. etwa die Auswertungen von Lesk, der angibt, dass in den Naturwissenschaften nur 22,4% der Publikationen des Jahres 1984 nicht innerhalb der nächsten 10 Jahre zitiert wurden, während in den Geisteswissenschaften ganze 93,1% im selben Zeitraum nicht zitiert wurden (Lesk 1997). Generalisierte Fassungen dieser Zitationspraxen zu typischen Kommunikationsmustern werden bei Schmitt (Schmitt 2004) und Malsch (Malsch et al. 2006) präsentiert.
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menhängen. Doch ebenso sicher ist damit die Liste möglicher Einflussfaktoren nicht geschlossen. Auch die Erreichbarkeit von Nachrichten spielt hier eine wichtige Rolle, die in erster Linie von der medialen Verwirklichung der Äußerung, aber auch von der Kapazität an Aufmerksamkeit, die der Prozess insgesamt aktivieren kann, abhängig ist. Hier spielen dann auch Anschlusspraxen (auf wie viele Nachrichten einzelne Nachrichten referieren) und kommunikative Aktivität (wie viele Nachrichten werden in einem bestimmten Zeitabschnitt produziert) eine Rolle. Hier zeigen verschiedene Kommunikationsprozesse signifikante Differenzen, weshalb der allgemeine Ordnungsmechanismus der sozialen Sichtbarkeit jeweils auf die spezifischen Realisierungsbedingungen anzupassen ist. Es handelt sich also, wie bei den meisten (reflexiven) sozialen Mechanismen, um einen kontextsensitiven Mechanismus. Beobachtungs- und Reflexionsmechanismen in der Kommunikation Als dritter Ansatzpunkt dient die Modellierung von Mechanismen der Umstellung von „Normalkommunikation“ auf explizite Beobachtungs- bzw. Reflexionskommunikation. Im Vergleich mit den beiden vorherigen Ansätzen zur kommunikationsorientierten Modellierung sozialer Mechanismen ist die erfolgreiche Umsetzung hier wesentlich problematischer, da es eine sehr große Zahl von Wirkungsfaktoren gibt, die eine Umschaltung von Normalkommunikation auf Reflexionskommunikation auslösen können und viele dieser kausalen Einflüsse auch noch eher agentenorientiert formulierbar zu sein scheinen. Dennoch könnte der Versuch ausgesprochen instruktiv sein, insbesondere hinsichtlich des komplementären Verhältnisses von Akteurs- und Kommunikationsorientierung bezüglich sozialer Mechanismen. Hier tritt auch das Spannungsfeld zwischen primären Mechanismen und darauf aufbauenden reflexiven Mechanismen klar zu Tage, wobei auch reflexive Mechanismen konstitutive (generative) soziale Mechanismen darstellen. Im Anschluss an Luhmann kann man Reflexion als einen besonderen Modus von Selbstreferenz deuten. Es lassen sich drei Formen von Selbstreferenz unterscheiden, wobei Referenz bei Luhmann immer schon als Beobachtungsoperation zu verstehen ist und damit als Bezeichnung nach Maßgabe einer Unterscheidung (Luhmann 1984: 600ff.). Von basaler Selbstreferenz ist die Rede, wenn die Beobachtung mit der Unterscheidung von Element und Relation arbeitet. Das Selbst der Referenz ist hier ein Element. Reflexivität (auch prozessuale Selbstreferenz) tritt dagegen immer dann auf, wenn mit der Unterscheidung von Vorher und Nachher beobachtet wird. Das Selbst der Referenz ist hier ein Prozess. Schließlich kann man von Reflexion sprechen, wenn mittels der Differenz
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von System und Umwelt unterschieden wird. Nur im Falle der Reflexion ist das Selbst der Referenz ein System. Systemreferenz und Selbstreferenz fallen zusammen. Nach Luhmann ist Reflexion also eine „Orientierung von Operationen an der Identität des Systems im Unterschied zu anderem ...“ (Luhmann 1992: 481). Man kann deshalb Reflexion auch als eine identitätsbezogene Selbstbeschreibung von Systemen betrachten. Reflexion geschieht nicht ständig, sondern ist stets als eine Sonderleistung zu verstehen. Sie ist nur unter bestimmten Umständen möglich und tritt nur unter besonderen Vorzeichen auf. Nehmen wir noch einmal den einfachsten und anschaulichsten Fall von Sozialität: Interaktionssysteme. Nach gängiger Interpretation kommen Interaktionen normalerweise ohne Reflexion aus, sie operieren im Modus der „Normalkommunikation“ und müssen sich als Kommunikation unter Anwesenden nicht ihrer Einheit versichern. Ihre Einheit ist sozusagen unterschwellig gesichert und wird unter normalen Umständen nicht zum Problem, an dem sich Reflexionsbemühungen abarbeiten müssten. Nach Luhmann gibt es vornehmlich zwei Gründe für Reflexion in Interaktionssystemen: „(1) wenn sie als System handeln müssen, also einzelne Handlungen als das System bindend auszeichnen müssen; und (2) wenn sie den Kontakt der Anwesenden unterbrechen und ihr Wiederzusammentreffen einrichten, also ihre Identität über latente Phasen durchhalten müssen.“ (Luhmann 1984, S. 617) Es muss also ein Problem vorliegen, das nur durch einen Bezug auf die Identität des Systems zu lösen ist bzw. die Einheit des Systems muss selbst zum Problem werden. Diese Problematik wird in Interaktionssystemen scheinbar in erster Linie durch Zurechnungsprobleme aufgerufen, die durch Attribuierung von Identitäten gelöst werden müssen. Auch dahinter ließe sich ein allgemeinerer, von den Intentionen einzelner Akteure abgelöster sozialer Mechanismus aufspüren. Taucht im prozessierenden Interaktionssystem das Problem der Einheit des Systems auf, schaltet die Kommunikation von Normalkommunikation um auf Reflexionskommunikation, die sich durch einen expliziten thematischen Bezug auf diese Einheit des Systems auszeichnet. Der Mechanismus hätte also die folgende Verlaufsform: kommunikative Problematisierung der Einheit des Systems Î Umschalten von Normal- auf Reflexionskommunikation. Dieses Umschalten wird erkennbar durch expliziten thematischen Bezug auf Einheitsformeln oder Garanten, die häufig erst eingerichtet werden müssen.24 Ein Beispiel für die systematische Erzeugung solcher Einheitssemantiken bieten die Reflexionstheorien der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Funktionssysteme (für die gesellschaftliche Selbstbeschreibung vgl. Luhmann 1997: 866ff. und für 24 Ein häufiger Fall ist aber auch die Einheitsgarantie bestimmter Interaktionsformen durch eine Einbettung in organisationale Zusammenhänge, die zum Beispiel Verhandlungssysteme oder Seminare über Entscheidungen einrichten und mit einer organisationalen Einheitsgarantie ausstatten. Zum Verhältnis von Interaktionen und Organisation vgl. Kieserling (1999: 335ff.).
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die Reflexionstheorien des Rechts und der Wissenschaft Luhmann 1995: 496ff. und Luhmann 1992: 469ff.). Während die oben beschriebene Reflexionsepisode als eine Art Ad-hoc-Mechanismus zu verstehen ist, könnte man in der Ausbildung von Reflexionstheorien einen Mechanismus der kontinuierlichen semantischen Stabilisierung von zunächst unwahrscheinlichen Identitätskernen sehen. Damit ist jedoch nur die Funktion beschrieben und noch nicht die Ablaufmechanik, die eine mechanismische Erklärung kennzeichnet; allerdings bietet sich hier spannendes Terrain für die Ausarbeitung von Mechanismen, die in der Lage sind, die Entstehung und Entwicklung von Reflexionstheorien zu erklären. Für die Modellierung dieser Mechanismen oder besser dieser Ansatzpunkte für kommunikationsorientierte reflexive Mechanismen in COM müssten noch einige Umstellungen vorgenommen werden, da COM die System/UmweltUnterscheidung ausblendet, die doch in Luhmanns Konzeption von Reflexion die zentrale Rolle spielt. Die Lösung dieses Problems ist zunächst recht einfach, wenn auch theoretisch vielleicht noch nicht vollständig befriedigend. Da COM sich im Wesentlichen für temporale Aspekte, also vor allem für den Prozesscharakter von Kommunikation interessiert, wird die klare Grenzziehung zwischen Reflexivität und Reflexion bei Luhmann etwas verwischt. Von Reflexion ist im Zusammenhang mit COM dann zu sprechen, wenn ein Kommunikationsprozess seine Einheit in selbstbeobachtenden Operationen explizit zum Thema macht. Der Mechanismus bleibt jedoch von grundlegend gleicher Art. Wird die Einheit des Prozesses problematisiert, erfolgt der Versuch einer Bezugnahme auf einheitssichernde Formeln und Garantien. Vom Nebeneinander akteurs- und kommunikationstheoretischer sozialer Mechanismen im soziologischen Werkzeugkasten Nachdem nun einige Möglichkeiten für die Formulierung von kommunikationsorientierten Mechanismen aufgezeigt wurden, sind anschließend noch einige Bemerkungen zum Verhältnis akteurs- und kommunikationstheoretisch begründeter Mechanismen angebracht. Diese Bemerkungen gelten zunächst allgemein für ein Verständnis soziologischer Theorie, aber auch im speziellen für den Problembereich der sozionischen Forschung. Dazu möchte ich zunächst ein Leitbild für den soziologischen Werkzeugkasten formulieren, das beiden Ansätzen gerecht werden kann, um dann etwas zum Zusammenwirken von Akteurszentrierung und Kommunikationszentrierung in der soziologischen Theoriebildung zu sagen, das sich eher als ein Verhältnis der Komplementarität darstellen lässt. Im Anschluss an Schimank will ich unter einem soziologischen Werkzeugkasten eine Sammlung von Mechanismen und Modellen verstehen, die sich nach
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bestimmten Erklärungsproblemen sortieren (Schimank 2000: 335f.). Sein Angebot lautet, diese Probleme in zwei Fächer zu differenzieren: zum einen die Erklärung von Handlungswahlen und zum anderen die Erklärung von Strukturdynamiken. Die Erklärung von Handlungswahlen könne dabei als die strikt akteurstheoretisch zu formulierende Problemebene bestimmt werden25, wohingegen sich auf der Ebene der Erklärung von Strukturdynamiken durchaus unterschiedliche theoretische Modelle anbieten, die sich nicht zwangsläufig mit der Analyse von Akteurskonstellationen beschäftigen müssen. Wenn man sich an der Sichtweise von Hedström und Swedberg orientiert, bietet sich eine Aufspaltung des Werkzeugkastens nach den drei Übergängen in der Makro-Mikro-MakroErklärung an (Hedström/Swedberg 1998b). Man kann den Werkzeugkasten dann ordnen nach situationsbezogenen Erklärungsansätzen, nach Erklärungsansätzen zur Handlungswahl und nach Erklärungsansätzen auf der Ebene der Handlungsaggregation, Selbstorganisation und Emergenz. Zentral ist die Einsicht, dass ein solchermaßen organisierter Werkzeugkasten keine einheitliche soziologische Theorie anbieten muss und auch nicht notwendigerweise zur Herausbildung einer solchen Theorie führt, sondern eine Sammlung mehr oder weniger stark gekoppelter Module von erfolgreichen Erklärungsansätzen darstellt, die sich durchaus multiparadigmatisch präsentieren kann und soll. Dabei ist es dann auch sinnvoll, unterschiedliche Erklärungsmodule für ein und dasselbe Problem im Werkzeugkasten zu belassen, sofern sie zum einen konkurrierende Erklärungsansprüche geltend machen oder zum anderen komplementäre Informationsgewinne versprechen. Dabei muss man den soziologischen Werkzeugkasten durchaus als ein work in progress betrachten, da er noch längst nicht vollständig bestückt ist. Denn dies können bislang weder die großen Universaltheorien leisten, noch die kleinformatigen Sammlungen von Theorien mittlerer Reichweite. Nicht genug betonen kann man die Bindung an bestimmte Erklärungsprobleme, die sich stellen. Sie sollten die grundlegende Ordnung des Werkzeugkastens begründen. Für theoretische Neuerungen bietet ein solcher Werkzeugkasten dann zwei Anhaltspunkte: Zum einen stellt man fest, welche Lücken noch zu füllen sind, welche Fächer bislang leer geblieben sind; zum anderen kann man feststellen, dass die Art der Füllung bestimmter Fächer noch nicht überzeugend gelungen ist und ob sich Alternativen zum bisherigen Vorgehen anbieten. Für die Beschaffenheit eines sozionischen Werkzeugkasten lässt sich sicher Ähnliches sagen. Hinzu tritt jedoch das informatische Problemlösungsinstrumentarium und schließlich auch spezifische Fächer für die Lösung genuin sozionischer Probleme. Solche Probleme sind vor allem Probleme der Umsetzung von soziologischen Problemlösungen (gelösten „soziologischen Rätseln“26) in informatische Problemlösungen.27 25 Es sei denn, es geht um reines Routinehandeln bzw. das Abspulen vorgegebener Protokolle. 26 Zum Begriff des „soziologischen Rätsels“ vgl. Schimank (Schimank 2000, S. 333ff.).
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Marco Schmitt
Der sozionische Werkzeugkasten beinhaltet also Fächer für sozionisch relevante soziologische Rätsel und Angebote für ihre Lösung, Fächer für sozionisch relevante informatische Konstruktionsprobleme und den zugehörigen Lösungsansätzen und schließlich Fächer für die Probleme der sozionischen Umsetzung von einer Seite zur anderen und mögliche Lösungsansätze. Für alle drei sozionischen Problemdimensionen kommen an Mechanismen orientierte Ansätze in Frage. Dieser Beitrag war jedoch vor allem an sozionisch relevanten soziologischen Themen und Mechanismen interessiert. Zu dieser Dimension des sozionischen Werkzeugkastens sind im Hinblick auf die Verwendung von Mechanismen auf unterschiedlicher Theoriegrundlage noch einige weitere Anmerkungen zu machen. Was hier vorgeschlagen werden sollte, ist keineswegs die Ersetzung akteurs-orientierter Mechanismen durch kommunikationsorientierte Fassungen gleicher Sachverhalte. Vielmehr geht es um eine Ergänzung des akteurstheoretischen Paradigmas, mit seinem schon sehr ausgearbeiteten Konzept sozialer Mechanismen, für ausgewählte Problembereiche, die kommunikationstheoretische Lösungen möglich machen. Beide Perspektiven können komplementäre Erklärungspotentiale erschließen und so den soziologischen wie sozionischen Werkzeugkasten „vervollständigen“ helfen. Eine akteurstheoretische Fundierung sozialer Mechanismen scheint in erster Linie für den Fall der Erklärung von Mechanismen der Handlungswahl angebracht, aber auch auf dem Gebiet der Deutung von Situationen durch Akteure ist der akteurstheoretische Ansatz stark. Eine kommunikationstheoretische Fundierung bietet sich dagegen eher für den Bereich der Transformationsmechanismen an, der gleichzeitig eine Schwäche der oder besser gesagt ein schwieriges Gebiet für die Akteurstheorien darstellt. Aber auch die strukturellen Beschränkungen der Situationsdeutungen von Akteuren können recht gut über kommunikationsorientierte Mechanismen beschrieben werden. Auch diese Einordnungen der Erklärungsansätze in das von Hedström und Swedberg vorgeschlagene Schema für die zu erklärenden Übergänge ist nicht exklusiv zu verstehen. Es gibt sehr gute akteurstheoretische Erklärungen für bestimmte Aggregationsphänomene ebenso wie auch Handlungswahlen häufig durch vorgefertigte kommunikative „scripts“28 erklärbar sind. Akteurstheoretische und kommunikationstheoretische soziale Mechanismen sind als komplementäre Perspektiven auf soziale Sachverhalte zu verstehen, die Unterschiedliches in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken und so jeweils zusätzliche Informationsgewinne hinsichtlich eines bestimmten soziologischen Rätsels gewähren können. Weder die soziologische Theorie noch die sozionische Forschung sollten auf diese Informationsgewinne verzichten, wenn sie sich produktiv und kon27 Einen Versuch der Umsetzung und der damit verbundenen Probleme gibt es bei Schmitt (Schmitt 2002). 28 Verstanden als eine Art Handlungsprogramm oder Ablaufschema.
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struktiv mit dem Phänomen der Unkontrollierbarkeit großer und mobiler Agentenpopulationen im Internet befassen wollen. Literatur Albrecht, Steffen/Lübcke, Maren/Malsch, Thomas/Schlieder, Christoph (2005): Scalability and the Social Dynamics of Communication. On Comparing SNA and COM as Models of Communication Networks. In: Michael Florian/Klaus Fischer/Thomas Malsch (Hg.): Socionics: Scalability of Complex Social Systems. Berlin: Springer, S. 242-262. Allais, Maurice/Hagen, Ole (Hrsg.) (1979) : Expected Utility Hypotheses and the Allais Paradox. Dordrecht: D. Reidel. Atkinson, J. Maxwell/Heritage, John (Hrsg.) (1984): Structures of Social Action. Studies in Conversation Analysis. Cambridge: Cambridge University Press. Baecker, Dirk (1988): Information und Risiko in der Marktwirtschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Beckert, Jens (1996): Was ist soziologisch an der Wirtschaftssoziologie. Ungewißheit und die Einbettung wirtschaftlichen Handelns. In: Zeitschrift für Soziologie 25, S. 125-146. Boudon, Raymond (1996): The ‚cognitivist model’ – a generalized ‘rational choice model’. In: Rationality and Society 8, S. 123-150. Chia, Teck-How/Kannapan, Srikanth (1997): Strategically Mobile Agents. In: Kurt Rothermel/Radu Popescu-Zeletin (Hg.): Mobile Agents. Proceedings of the First International Worshop on Mobile Agents in Berlin 1997. Berlin: Springer, S. 149-161. Coleman, James S. (1990) : Foundations of Social Theory. Cambridge (Massachusetts): Belknap Press. Eco, Umberto (1995): Zeichen: Einführung in einen Begriff und seine Geschichte. Frankfurt am Main: edition suhrkamp. Ellrich, Lutz/Funken, Christine (1998): Problemfelder der Emergenz. Vorüberlegungen zur informatischen Anschlussfähigkeit soziologischer Begriffe. In: Thomas Malsch (Hg.) (1998): Sozionik. Soziologische Ansichten über künstliche Intelligenz. Berlin: edition sigma, S. 345-387. Elster, John (1989): Nuts and Bolts for the Social Sciences. Cambridge: Cambridge University Press. Esser, Hartmut (1993): Soziologie. Allgemeine Grundlagen. Frankfurt am Main: Campus. Esser, Hartmut (2002): Was könnte man (heute) unter einer >>Theorie mittlerer Reichweite>Prozess>Mechanismus>MechanikProzesseAußung>Theorie mittlerer Reichweite